Textprofile stilistisch: Beiträge zur literarischen Evolution [1. Aufl.] 9783839419021

Die Beiträge dieses Bandes demonstrieren die Leistung von »Stil« für die Profilbildung literarischer Texte. Der Stil ein

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German Pages 420 Year 2014

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Table of contents :
INHALT
Einleitung
I Systematische und historische Grundsatzfragen
Stil im Sozialsystem ,Kunst‘
Mediävistische Stilforschung und die Präsenzkultur des Mittelalters. Mit einem Ausblick auf Gottfried von Straßburg nd Konrad von Würzburg
Textprofile zwischen Konturierung und Vagheit. Gestalttheoretische Aspekte von Stil am Beispiel von atmosphärischen Beschreibungen
II Epochenstil
Parataxe und Hypotaxe als stilbildende Elemente in der Erzählkunst
Zeitenwende – Zum Funktionswandel des historischen Präsens in der Moderne
Zeigen, wie es eigentlich gewesen ist. Objektivitätskonstruktionen im historischen Erzählen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts
Textprofil und Regiekonzept – Habitus und Denkstil. Literarische Medien der Bewusstseinsvergegenwärtigung im Kontext der Wiener Moderne
Zwischen Ideologie und Kritik: Stil als Objekt von Zuschreibungen
III Gattungsstil
Natürlichkeitsfiktion im späten 18. Jahrhundert: Gellerts Brieflehre
Stilisiertes Leben? Tagebuch-Stil um 1900
Textwelten des Vergleichs bei Rilke und George
IV Individualstil
Stilisierte Unordnung im Versuchsraum des Kunstwerks. Zur intermedialen Stilkonzeption bei Friedrich Dürrenmatt
Stilistische Textprofile in Kontexten und jenseits von Kontexten. Am Beispiel eines Gedichts von Tadeusz Borowski
V Stil lehren, Stil übersetzen
Stil lehren? Die Wahrnehmung der Stilqualität von Texten als didaktische Herausforderung in Schule und Hochschule
Ironische Stilreferenzen aus textlinguistischer Sicht
Politische Rhetorik in Textvergleich und Übersetzung. Nicolas Sarkozy und Martin Schulz
Autorinnen und Autoren
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Textprofile stilistisch: Beiträge zur literarischen Evolution [1. Aufl.]
 9783839419021

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Ulrich Breuer, Bernhard Spies (Hg.) Textprofile stilistisch

Mainzer Historische Kulturwissenschaften | Band 8

Editorial In der Reihe Mainzer Historische Kulturwissenschaften werden Forschungserträge veröffentlicht, welche Methoden und Theorien der Kulturwissenschaften in Verbindung mit empirischer Forschung entwickeln. Zentraler Ansatz ist eine historische Perspektive der Kulturwissenschaften, wobei sowohl Epochen als auch Regionen weit differieren und mitunter übergreifend behandelt werden können. Die Reihe führt unter anderem altertumskundliche, kunst- und bildwissenschaftliche, philosophische, literaturwissenschaftliche und historische Forschungsansätze zusammen und ist für Beiträge zur Geschichte des Wissens, der politischen Kultur, der Geschichte von Wahrnehmungen, Erfahrungen und Lebenswelten sowie anderen historisch-kulturwissenschaftlich orientierten Forschungsfeldern offen. Ziel der Reihe Mainzer Historische Kulturwissenschaften ist es, sich zu einer Plattform für wegweisende Arbeiten und aktuelle Diskussionen auf dem Gebiet der Historischen Kulturwissenschaften zu entwickeln. Die Reihe wird herausgegeben vom Koordinationsausschuss des Forschungsschwerpunktes Historische Kulturwissenschaften (HKW) an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

Ulrich Breuer, Bernhard Spies (Hg.)

Textprofile stilistisch Beiträge zur literarischen Evolution

Gedruckt mit Mitteln des Forschungsschwerpunktes Historische Kulturwissenschaften der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Markus Häfner, Christine Waldschmidt Redaktionelle Assistenz: Anika Brück Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1902-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

I NH ALT

Einleitung ................................................................... ULRICH BREUER / BERNHARD SPIES

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I Systematische und historische Grundsatzfragen Stil im Sozialsystem ,Kunstʻ ..................................... 21 DIRK KRETZSCHMAR Mediävistische Stilforschung und die Präsenzkultur des Mittelalters Mit einem Ausblick auf Gottfried von Straßburg und Konrad von Würzburg ........................................... 43 JENS HAUSTEIN Textprofile zwischen Konturierung und Vagheit Gestalttheoretische Aspekte von Stil am Beispiel von atmosphärischen Beschreibungen ........................ 61 PETER KLOTZ

II Epochenstil Parataxe und Hypotaxe als stilbildende Elemente in der Erzählkunst ...................................................... 79 WOLFGANG G. MÜLLER

Zeitenwende – Zum Funktionswandel des historischen Präsens in der Moderne ............... 103 IMELDA ROHRBACHER Zeigen, wie es eigentlich gewesen ist Objektivitätskonstruktionen im historischen Erzählen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ........................... 141 ANDREA JÄGER Textprofil und Regiekonzept – Habitus und Denkstil Literarische Medien der Bewusstseinsvergegenwärtigung im Kontext der Wiener Moderne .................................................. 163 MATTHIAS BAUER Zwischen Ideologie und Kritik: Stil als Objekt von Zuschreibungen ................................................. 189 CHRISTINE WALDSCHMIDT

III Gattungsstil Natürlichkeitsfiktion im späten 18. Jahrhundert: Gellerts Brieflehre ..................................................... 217 ULRIKE STAFFEHL Stilisiertes Leben? Tagebuch-Stil um 1900 ................................................ 235 JÖRG SCHUSTER Textwelten des Vergleichs bei Rilke und George ..... 267 RALPH MÜLLER

IV Individualstil Stilisierte Unordnung im Versuchsraum des Kunstwerks Zur intermedialen Stilkonzeption bei Friedrich Dürrenmatt ............................................... 285 ANETT HOLZHEID Stilistische Textprofile in Kontexten und jenseits von Kontexten Am Beispiel eines Gedichts von Tadeusz Borowski ...... 317 KAROLINA RAKOCZY

V Stil lehren, Stil übersetzen Stil lehren? Die Wahrnehmung der Stilqualität von Texten als didaktische Herausforderung in Schule und Hochschule ............................................................ 337 ULF ABRAHAM Ironische Stilreferenzen aus textlinguistischer Sicht ............................................. 365 GALINA M. FADEEVA Politische Rhetorik in Textvergleich und Übersetzung Nicolas Sarkozy und Martin Schulz .............................. 389 MICHAEL SCHREIBER Autorinnen und Autoren . 413

Einleitung ULRICH BREUER / BERNHARD SPIES

Was heißt und zu welchem Ende studiert man Textprofile? Wer so fragt, wird zunächst an die Eigentümlichkeiten denken, durch welche sich ein bestimmter Text (beispielsweise die eingangs zitierte Antrittsvorlesung Friedrich Schillers1) von anderen unterscheidet. Mit seinen sprachlichen, aber auch mit seinen metasprachlichen Charakteristika legt sich ein Text auf sich selbst fest, indem er sich gegen seine Umgebung mehr oder weniger scharf abgrenzt und sich intern konsolidiert. Erst dann kann man ihn identifizieren und auf ihn rekurrieren, ihn publizieren und archivieren, kritisieren und kommentieren, goutieren und illustrieren. Eben das aber, was die Besonderheit eines Textes ausmacht, gehört nicht ihm allein zu. Denn Texte gewinnen ihr Profil, indem sie sich auf Vorfindliches (beispielsweise die Antrittsvorlesung Friedrich Schillers) beziehen und daraus eine Auswahl treffen: aus Texten und Paratexten, Themen und Formen, Symbolen und Medien, Praktiken und Funktionen. Die jeweils getroffene Entscheidung setzt entweder Traditionen fort und kann dann zu mehr oder weniger konventionellen, mehr oder weniger standardisierten – aber auch mehr oder weniger klassischen – Textprofilen führen, oder sie bricht mit (einigen, wenigen, allen) Traditionen und bewegt sich dann im offenen Raum der Literatur, im Labor der Poesie – oder auf dem weiten Feld des Unsinns. Was im Spielraum von Text und Intertext durch die Formen des Anschlusses an 1

Friedrich Schiller hielt am 26. Mai 1789 in Jena eine Akademische Antrittsrede mit dem Titel: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?

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Ulrich Breuer / Bernhard Spies

und des Bruches mit Traditionen und Konventionen zustande kommt, ist letztlich Geschichte: Geschichte der Texte wie der Schreibweisen und Gattungen. Doch nicht (nicht nur) die großen Linien der Literaturgeschichte werden in Textprofilen sichtbar, es geht nicht noch einmal um Höhenkämme, sondern – und hier betreten wir Neuland – um die Ebenen, es geht um den Alltag, ja um die Routinen der literarischen Evolution. Das Studium von Textprofilen fordert dem Historiker der Literatur einen Blickwechsel ab, der die Mikrostrukturen der Literaturgeschichte sichtbar werden lässt. In den kleinen Abschieden von dem, was noch zu gelten scheint, im Nicht mehr und im Gerade noch, in den minimalen Verrückungen und Innovationen bereiten sich die ganz großen Umbrüche vor, die das Publikum wie die Wissenschaft in Atem halten. Der Alltag der literarischen Evolution vollzieht sich unter einer Oberfläche relativer Stabilität, und wenn die Eklats der tiefen Schnitte wieder vorüber sind, werden aus Innovationen Konventionen und die Abweichungen gefrieren – bis auf weiteres – zur kulturellen Norm. Dem Profil von Texten und den Mikrostrukturen der Literaturgeschichte gilt seit einigen Jahren das Interesse von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern mehrerer philologischer Disziplinen, die zum Zweck der Nachwuchsförderung im Rahmen des Forschungsschwerpunkts Historische Kulturwissenschaften an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz kooperieren. Im Rekurs auf Kernanliegen der Philologie geht es ihnen um die Auseinandersetzung mit Texten unter der Fragestellung, wie diese in ihrem spezifischen Profil Allgemeines und Individuelles vereinigen und dadurch zur literarischen Evolution, die sich immer auch als eine Evolution der ästhetischen Medien und der kulturellen Interpretations- und Ausdrucksmuster erweist, beitragen. Ein erster Band, der die Produktivität des Textprofil-Begriffs für die Medialitätsund Intermedialitätsforschung nachweist, liegt bereits vor.2 Die hier präsentierten Beiträge erproben nun einen zweiten, die Perspektive der Intermedialität ergänzenden Ansatz. Er geht zurück auf eine Konferenz, die unter der Frage nach dem Beitrag der Stilistik zur Profilierung von Texten im Oktober 2009 Nachwuchswissenschaftler mit etablierten Fachvertretern in Mainz zusammengeführt hat.

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VON HOFF/SPIES

(Hg.), 2008.

Einleitung

Wie also verhält sich der Stil zum Textprofil? Grundsätzlich gilt nicht nur für Texte, sondern für alles, was Stil hat,3 dass dieser etwas Generelles auf individuelle Weise ausprägt oder etwas Individuelles mit überindividuellem Geltungsanspruch darbietet. Für Texte, zumal literarische, ist dieser Umstand von besonderem Gewicht, weil ihr Stil zu den gezielt eingesetzten Mitteln der ästhetischen Präsentation gehört. Der Stil eines literarischen Textes produziert dessen Allgemeinheit gerade in seiner Singularität, weil die individuelle Prägung des Texts durch den – positiven oder negativen – Bezug auf prävalente, durch Traditionen vermittelte Verfahren der Sinnproduktion oder Sinndurchstreichung zustande kommt. Hier eröffnen sich über die Literaturgeschichte hinaus Perspektiven auf eine Stilgeschichte der Kultur.4 Die sprachliche Selbstreferenz, wie sie in der Fortführung oder Umkehrung eines etablierten Stils, aber auch in jedem Stilzitat zu beobachten ist, vermag nicht nur die oszillierende Gegenständlichkeit eines Textes, sondern auch die Verstehenserwartung zu erschließen, auf die er gegebenenfalls abgestellt ist. Makrostrukturelle Beobachtungen, mikrostrukturelle Analysen und die Interpretation para- sowie metatextueller Relationen bieten erste Proben einer historischen Stilistik des Textprofils. Gegliedert ist der Band in fünf Abteilungen. Die erste von ihnen umfasst Beiträge, in denen systematische und historische Grundsatzfragen diskutiert werden. – Dirk Kretzschmar setzt sich zunächst mit der Stiltheorie Luhmanns auseinander und hebt die entscheidende Bedeutung des Stils für die ‚Autopoiesis‘ des im späten 18. Jahrhundert entstehenden Kunstsystems hervor. In systemtheoretischer Perspektive erlaubt Stil die Selbstprogrammierung des autonomen Kunstwerks und den wechselseitigen Anschluss der Kunstwerke untereinander. Er ist daher ein wesentliches Moment der Evolution des Kunstsystems und für das einzelne Werk das maßgebliche Indiz der Zugehörigkeit zu diesem System. – Jens Haustein weitet sodann die historische Perspektive auf die ältere deutsche Literatur aus. In seinem Beitrag bezieht er die StilistikDebatte in der Literaturwissenschaft seit dem 19. Jahrhundert zurück 3

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Hans Ulrich Gumbrecht definiert Stil als „Manifestation von rekurrenten Formen menschlichen Verhaltens in den verschiedensten Materialien und Medien, insbesondere in den Künsten.“ GUMBRECHT, 2003, S. 509. Vgl. SANDIG, 2006, S. 142: „Stile sind Mittel gesellschaftlich (und damit auch kulturell) relevanter Differenzierungen von Kommunikation“.

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Ulrich Breuer / Bernhard Spies

auf das Mittelalter und fragt kritisch nach der Produktivität des Stilbegriffs für die Mediävistik. Dabei rückt vor allem der Zeitraum zwischen dem Neuansatz der höfischen Epik um 1200, der einen Traditionsbruch gegenüber antiker Tradition und frühmittelalterlicher Allegorese vornimmt, und dem stilistischen Reichtum der spätmittelalterlichen Dichtung, für die Konrad von Würzburg als Beispiel dient, in den Blick. Konrads Texte überschreiten die Grenze, die gesellschaftsbezogene Sinnmitteilung in strikt funktioneller Sprachform und individuelles Selbstzeugnis gegeneinander abgeschottet hatten. – Peter Klotz versucht schließlich, den dualen Charakter textprofilierender Stilistik von einem linguistischen Ansatz aus zu erschließen. Er beginnt mit einer sprachwissenschaftlichen Rekonstruktion des Textprofils ‚Beschreiben‘, dem er eine kommunikative und eine ästhetische Funktion zuweist. Diese Funktionen werden mit den systematisch-linguistischen Bestimmungen ,Frequenz‘ und ,Markanz‘ kombiniert und das Modell wird sodann an einem Gedicht von Rolf Dieter Brinkmann überprüft. Zur weiteren Konturierung des Modells zieht Klotz die Gestalttheorie heran und fordert, dass die durch ‚Beschreiben‘ erzeugte Kontur sinnvolle Vagheit einschließen muss. Die drei folgenden Abteilungen wenden sich Fragen zu, die in der Stilistik üblicherweise unter den Rubriken Epochen-, Gattungs- und Individualstil diskutiert werden. Sie fassen die Textprofilierung durch Stil als eine wesentliche Komponente sowohl der Veränderung wie der Konstanz auf, deren Wirkung nicht nur von stilistischen, sondern auch von weiteren, insbesondere ästhetischen und historischen Bedingungen abhängt. – In seinem die zweite Abteilung zum Epochenstil einleitenden Beitrag über Parataxe und Hypotaxe als stilbildende Elemente in narrativen Texten untersucht Wolfgang G. Müller eine kleine stilistische Einheit mit weit reichender Bedeutung. An Texten von Fielding, Wieland, Kleist und Thomas Mann zeigt er, dass die Hypotaxe der bevorzugte Satzbau auktorialer Erzählungen ist, weil sie die Zuordnung von Geschehnissen, Dingen und Meinungen zu einem umfassenden Sinnzusammenhang im Text stilistisch vorführt und einübt. Dass dann im 19. und 20. Jahrhundert die Parataxe überwiegt, führt Müller auf verschiedene historische Impulse zurück, welche die einheitliche Sinnperspektive auflösen und Formen wie den inneren Monolog, das moderne ‚Aktionserzählen‘ oder den freien indirekten Stil der Bewusst-

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Einleitung

seinsdarstellung stimulieren. – Imelda Rohrbachers Untersuchung zum Funktionswandel des historischen Präsens in der Moderne erschließt mikrostilistische Verschiebungen innerhalb einer Makroepoche. Sie untersucht ein in technischer Hinsicht invariantes Stilmittel, den Tempuswechsel vom Präteritum ins historische Präsens, im Hinblick auf die supraepochalen Entwicklungslinien zwischen den unterschiedlichen Funktionen, die dieser Wechsel übernehmen kann. Dabei entwickelt sie eine Linie, die von der ‚rhetorischen‘ Belebung des Erzählten über die Nachahmung mündlichen Erzählens bis zum Ausgeliefertsein der Figuren an eine ihnen unverständliche innere Bewegung reicht. – Während Müller und Rohrbacher die epochale Relevanz mikrostilistischer Phänomene vorführen, richtet Andrea Jäger den Blick auf makrostilistische Eigentümlichkeiten. Ihr Beitrag zu den Konstruktionsweisen von Objektivität im historischen Erzählen des 19. Jahrhunderts fragt nach den sprachlichen Mitteln, durch die historische Romane den Objektivitätsanspruch, den dieses Genre von Hauff bis Feuchtwanger geltend macht, als eingelöst suggerieren. Auf diese Weise geraten Aspekte der Einrichtung der Erzählfunktion wie der Handlungsstruktur in den Blick, aber auch Elemente bildhafter Darstellung. Durchaus unterschiedliche Stilmittel erweisen sich als gleichermaßen geeignet, die Annahme eines in der Geschichte wahrnehmbaren Sinnzusammenhangs als plausibel zu suggerieren – oder auch als unplausibel, wenn die geschichtsphilosophischen Hintergrundannahmen ins Wanken geraten. – In seinem Beitrag zu den literarischen Medien der Bewusstseinsvergegenwärtigung in der Wiener Moderne schlägt Matthias Bauer vor, die Profilierung von Texten durch ihren Stil mit Hilfe literatursoziologischer Kategorien verständlich zu machen. Am Beispiel von Rollenprosa der Wiener Moderne zeigt er, dass der Individualstil dieser Texte auf die Mentalität verweist, auf der sie beruhen, diese aber in statu nascendi vorführt und so eine epochentypische diagnostische Perspektive entwirft, die sich zeitgleich auch in der Tiefenpsychologie, etwa bei Sigmund Freud, findet. – Einem Sonderfall der textprofilierenden Leistungen des Stils wendet sich Christine Waldschmidt zu, wenn sie den Stil als Objekt von Zuschreibungen in der Klassischen Moderne untersucht. Ihr geht es dabei um die damals verbreitete Auffassung, der zufolge der Stil sämtliche Gedanken und Vorstellungen eines Menschen dirigiert, und zwar dergestalt, dass im ‚richtigen‘ Stil der Geltungsanspruch des Gedachten

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unanfechtbar erwiesen wird, im ‚falschen‘ hingegen jede Dummheit und Gemeinheit sich verrät und selbst widerlegt. Dieses Stilkonzept, in dem das aus der traditionellen aptum-Vorstellung der Rhetorik bekannte Direktionsrecht des Inhalts über die Form ins Gegenteil verkehrt wird, kann sie in jeweils unterschiedlicher Ausprägung bei Stefan George, Georg Lukács und Karl Kraus nachweisen. Von den drei Beiträgen der dritten Abteilung, die dem Gattungsstil gewidmet sind, beschäftigt sich nur einer mit einer Großgattung; die beiden anderen thematisieren Genres am Rande des literarischen Kanons, den Brief und das Tagebuch. Das mag daran liegen, dass in beiden vor allem stilistische Eigentümlichkeiten zur Konstituierung des Genres beitragen. – Diese Annahme bestätigt sich in Gellerts Brieflehre, die Ulrike Staffehl analysiert. Sie zeigt, dass Gellerts Forderung einer ‚natürlichen‘ Beschaffenheit der Briefe zwischen Privatpersonen ein Textprofil umreißt, das nicht in einen Kanon von Regeln zu fassen ist. Die Natürlichkeitsforderung kann zwar fixieren, was abgelehnt, aber nur vage andeuten, was angestrebt wird. Darum benötigt Gellert, so Staffehl, seine Stilbeispiele, die er sammelt, redigiert oder auch erfindet. Der Beitrag erläutert Gellerts Strategie der Anstiftung durch Vorbilder und demonstriert, wie rasch und rigide die entstehende Briefkultur den Autor an seinem eigenen Maßstab gemessen und überboten hat. – Dem Tagebuch um 1900 widmet sich die Untersuchung von Jörg Schuster. Er zeigt, dass damals das Subjekt in seiner Position als Stifter und Einheitsgarant des Textes vom Stil abgelöst wurde. Der Stil sollte nun das innere Zentrum des Geschriebenen bilden, und zwar gerade im Tagebuch, das doch als Domäne des privaten, ganz individuellen Subjekts galt. Programmatisch verankert Schuster seine Untersuchungsperspektive im Selbstverständnis des Jugendstils, der Lebensreform und weiterer Strömungen um 1900. Stilistisch analysiert werden Tagebücher von Rilke, Franziska von Reventlow und Harry Graf Kessler. – Ralph Müllers Beitrag zum Einsatz des Vergleichs bei Rilke und George operiert mit Befunden aus der Mikrostilistik und leitet daraus weit reichende Aussagen über Textprofile und die von ihnen angeregten Rezeptionsweisen ab. Der Beitrag beginnt mit einer kontrastiven Untersuchung des expliziten Wie-Vergleichs in Politikerreden, in Rilkes euen Gedichten und in Georges Jahr der Seele. Da der Vergleich nach Müller in eine Textwelt stets eine zweite, eigene Textwelt einführt, ist es

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Einleitung

bedeutsam, ob er mit dem bestimmten oder dem unbestimmten Artikel verwendet wird. Die Verwendung des unbestimmten Artikels ist nach Müller die Norm, an welche die Politiker sich ausnahmslos halten und von der Rilke selten, George jedoch sehr häufig abweicht. Aus diesen Befunden leitet Müller Aussagen zum Ausmaß der Selbstidentifikation ab, zu dem Gedichte einladen, bzw. zu den Erfahrungswelten, die in ihre Vergleiche involviert sind. In der vierten Abteilung geht es um Probleme des Individualstils. – Zuerst thematisiert Anett Holzheid die intermediale Stilkonzeption Friedrich Dürrenmatts. Zur Unordnung des permanenten Stilbruchs, wenn nicht der Stillosigkeit, bekennt sich Dürrenmatt in zahlreichen programmatischen Äußerungen. Der Beitrag zeigt, dass die sprachlichästhetische Unordnung von Anfang an stilisiert ist, da sie sich direkt aus einer umfassenden Weltdiagnose rechtfertigt und eine Entsprechung von Welt und Kunstwerk postuliert. Die Untersuchung demonstriert, dass dieses sehr anspruchsvolle ästhetische Postulat den Stil als sicheres Zugriffsmittel auf das auffasst, was die Welt (nicht mehr) zusammenhält, und wie die daraus entwickelte Stilistik das Werk des Autors medienübergreifend prägt. – In ihrem Beitrag über stilistische Textprofile in und außerhalb von Kontexten widmet sich schließlich Karolina Rakoczy am Beispiel eines Gedichts des polnischen Lyrikers Tadeusz Borowski der Frage, wie ein lyrischer Text die Unangemessenheit seiner Sprache angesichts des Objekts, von dem die Rede ist – der Text handelt vom KZ Auschwitz –, wie auch angesichts der nationalen Gedächtniskultur Polens und Deutschlands zum Ausdrucksmittel machen kann. Parallel dazu diskutiert sie methodologische Fragen der Stilanalyse, der unterschiedlichen Gedächtniskultur in Polen und Deutschland sowie die (Un-)Möglichkeit einer historische Zäsuren und kulturelle Grenzen überschreitenden Rezeption. Die fünfte und letzte Abteilung des vorliegenden Bandes erörtert die Frage nach dem Zusammenhang von Stil und Textprofil im Kontext didaktischer Perspektiven. – Die Frage, ob man Stil lehren kann, gehört nach Ulf Abraham zu den großen didaktischen Herausforderungen in Schule und Hochschule. Dass im Stil etwas Allgemeines eine individuelle Ausprägung erfährt, fasst Abraham didaktisch als Kompetenz, das Verhältnis von Adäquanz eines Textes an eine Textsorte oder an ein Medium zugleich mit der Abweichung davon ästhetisch wahrzuneh-

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Ulrich Breuer / Bernhard Spies

men. Ausführlich stellt er einen Unterrichtsversuch dar, der sich auf die Wahrnehmung stilistischer Phänomene beschränkt. Er demonstriert, dass Stilmerkmale umso leichter als solche aufgefasst werden, je stärker die Grade der Devianz vom zu Erwartenden ausfallen. – Galina M. Fadeeva nähert sich in ihrem Beitrag über ironische Stilreferenzen der stilistisch anspruchsvollen Redeform der Ironie zunächst textlinguistisch und dann aus dem Blickwinkel des Unterrichtens einer fremden Sprache. Die Kombination beider Perspektiven verdeutlicht erstens, dass nicht nur die Abweichung von Norm oder Struktur einer Textsorte, sondern auch die Entsprechung – erst recht die vollständige Entsprechung – stilistisch von Belang ist. Zweitens wird erkennbar, dass die Ironie sich verschiedenster Textsorten bedienen und sehr unterschiedliche Textprofile hervorbringen kann. Fadeeva präsentiert Beispiele, die von der Gattung Märchen über einen polemischen journalistischen Text bis zur simulatio einer Textsortenstruktur bei Heine reichen. – Noch näher am Problem des Übersetzens von Stilformen in eine andere Sprache bewegt sich der abschließende Beitrag von Michael Schreiber über die politische Rhetorik von Nicolas Sarkozy und Martin Schulz. Schreiber vergleicht den Redestil zweier expressiver Rhetoriker der europäischen Politik vor dem Hintergrund der jeweiligen nationalen bzw. nationalsprachlichen Tradition. Erkennbar wird, dass beide sich persuasiver Techniken bedienen, die ausnahmslos schon in der antiken Rhetorik bekannt sind; Unterschiede ergeben sich aus der jeweils gewählten Perspektive der Darstellung und Selbstdarstellung. Der Beitrag bestimmt die wichtigsten Übersetzungsprobleme, die sich aus der Überschneidung unterschiedlicher nationaler Traditionen der Rhetorik wie auch aus dem Unterschied der Sprachen, zumal ihrer Bildlichkeit, ergeben. Als Lösung für das Problem, die Bündelung individueller wie allgemeiner Differenzen zu bestimmen, empfiehlt er den Begriff des Textprofils. Wir bedanken uns beim Schwerpunkt Historische Kulturwissenschaften für die Förderung der Tagung, die Aufnahme des Bandes in die Reihe „Mainzer Historische Kulturwissenschaften“ und den freundlich gewährten Druckkostenzuschuss. Unseren Mitarbeitern Markus Häfner und Christine Waldschmidt danken wir für ihren vorbildlichen Einsatz

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Einleitung

bei der Vorbereitung und Durchführung der Tagung sowie für die sorgfältige Einrichtung des Bandes.

Literatur HOFF, DAGMAR/SPIES, BERNHARD (Hg.), Textprofile intermedial, München 2008. GUMBRECHT, HANS ULRICH, Stil, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, hg. von JAN-DIRK MÜLLER u. a., Bd. III, Berlin/ New York 2003, S. 509-513. SANDIG, BARBARA, Textstilistik des Deutschen, 2., völlig neu bearb. und erw. Aufl., Berlin/New York 2006. VON

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I Systematische und historische Grundsatzfragen

Stil im Sozialsystem ,Kunstʻ DIRK KRETZSCHMAR

„Kultur ist einer der schlimmsten Begriffe, die je gebildet wurden“. Dieses bekannte Verdikt Niklas Luhmanns nimmt unter anderem die moderne Diffusion des Kulturbegriffs in höchst heterogene Kontexte und Kommunikationssituationen sowie die damit einhergehende semantische Unschärfe des Redens über Kultur kritisch in den Blick.1 Das Problem semantischer und pragmatischer Ubiquität bzw. Disparatheit teilt der Kulturbegriff mit dem Begriff des Stils, der im aktuellen wissenschaftlichen wie alltäglichen Sprachgebrauch der Bezeichnung jeder „rekurrente[n] Form[] der Manifestationen menschlichen Verhaltens“ dient.2 Die Tatsache, dass der Stilbegriff somit längst den kontextuellen Rahmen ästhetisch-künstlerischer Kommunikation gesprengt hat, veranlasst Literatur- und Kunstwissenschaftler gelegentlich dazu, ihn ähnlich argwöhnisch zu betrachten wie der Soziologe Luhmann die ,Kulturʻ. „Stil“, so beispielsweise Hans-Martin Gauger, „ist eine ärgerliche Kategorie“.3 Das Unbehagen am Stilbegriff speist sich zudem – wiederum analog zum Fall ,Kulturʻ – aus den zahlreichen ideologieverdächtigen Altlasten seiner langen Bedeutungsgeschichte. In diesem Zusammenhang sind zum einen die Inkonsistenzen aller Konzepte vermeintlich essenzialistischer ,Nationalstile‘, zum anderen die normativ-teleologischen Stil-

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LUHMANN, [1995a], S. 398. Im Folgenden zitiert als KG. GUMBRECHT, 2003, S. 509. Zur gegenwärtigen Reichweite des Stilbegriffs außerhalb von Kunst und Kunsttheorie siehe: Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaften der Gegenwart. In: FIX u. a. (Hg.), 2009, Kapitel X, S. 1783-1979. GAUGER, 1992, S. 9.

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Dirk Kretzschmar

begriffen folgenden literatur- und kunsthistorischen Unterscheidungen sogenannter ,Blüte-ʻ oder ,Verfallsepochenʻ zu erwähnen. Schließlich setzt die literatur- und kunstwissenschaftliche Theoriebildung der letzten Jahrzehnte die Beschäftigung mit Stilfragen aus unterschiedlichen Richtungen unter starken Legitimationsdruck. Kulturwissenschaftliche Interdisziplinarität, poststrukturalistische und dekonstruktivistische Kritik an den in traditioneller Stilbegrifflichkeit mitlaufenden Konzepten von ,Autorschaftʻ und ,Werkʻ und, nicht zuletzt, der postmoderne Stilpluralismus und -eklektizismus tragen erheblich zu Plausibilitäts- und Relevanzverlusten stilanalytischer und -theoretischer Fragen bei. Die soziologische Systemtheorie in der Version Niklas Luhmanns, auf die sich die folgenden Ausführungen primär stützen, zieht sich angesichts dieser Schwierigkeiten mit ,Stilʻ und ,Kulturʻ zunächst einmal auf die Position eines Beobachters zweiter Ordnung zurück, von der aus die historisch kontingente Semantik beider Begriffe, einschließlich all ihrer Inkonsistenzen und Aporien, mit dem Evolutionsverlauf der modernen, funktionsdifferenzierten Gesellschaft funktional korreliert und erklärt wird.4 Auf diese Weise beobachtet die Systemtheorie auch das Kunstsystem bei der Organisation und Reflexion seiner funktionalen Ausdifferenzierung zu einem selbstreferenziellen, operativ geschlossenen und autopoietischen Sozialsystem, das, wie alle übrigen Funktionssysteme auch, sich und seine gesellschaftliche(n) Umwelt(en) ausschließlich mit Hilfe eigendirigierter Unterscheidungen beobachtet.5 Zu den Reflexionsprozessen des Kunstsystems gehören unter anderem regelmäßige, dem jeweiligen Ausdifferenzierungsstand korrespondierende bzw. die Ausdifferenzierung weiter dynamisierende Neujustierungen der Stilsemantik, die schließlich zu einem Stilbegriff führen, der Kriterien für eine ausschließlich systeminternen Erfordernissen folgende Kunstkommunikation zur Verfügung stellt.

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Zur theoretischen Basis dieser Forschungsperspektive siehe LUHMANN, 1980, sowie KNOBLAUCH, 2005, darin: Systemtheorie und Semantik, S. 190-197. Zur Operationsweise sozialer Systeme und zum Theorem gesellschaftlicher Funktionsdifferenzierung siehe grundlegend: LUHMANN, 1997.

Stil im Sozialsystem ‚Kunst‘

Im Hinblick auf die Koevolution von Stilsemantik und kunstsystemischer Ausdifferenzierung ragen aus der Gesamtgeschichte des Stilbegriffs folgende markante Zäsuren heraus.6 Die frühe Neuzeit kennt bereits den Kollektivsingular ,Kunstʻ, mit dem ein spezifisches Sinn- und Kommunikationsareal der Gesellschaft bezeichnet wird, das unterschiedliche Kunstarten, Gattungen, Genres und Medien übergreift. Dementsprechend wird unter ,Stilʻ nicht länger nur die Schreibart von Texten, sondern die Machart von Kunstwerken jeder Art verstanden. Zudem wird der auf die Kunstproduktion bezogene Begriff des ,Stilsʻ – bzw. der funktional äquivalente Terminus ,manieraʻ – an ein rezeptionsseitiges Supplement, beispielsweise an den Geschmacksbegriff, gekoppelt, um Kunst als spezifische Form der Kommunikation zwischen Künstler und Betrachter bzw. Autor und Leser beschreiben zu können. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts reagiert die gesamte kunsttheoretische Semantik mit massiven Umwertungen auf die Erfordernisse des nun bereits weitgehend ausdifferenzierten Kunstsystems. Die den neuen Verhältnisses angepassten personen- wie werkbezogenen Kategorien wie ,Genialitätʻ, ,Originalitätʻ, ,Neuheitʻ und ,Einmaligkeitʻ sowie der Verfall des imitatio-Postulats – und zwar gleichermaßen von imitatio naturae wie von imitatio auctorum antiquorum – verschaffen der Kunst im Hinblick auf ihr fremdreferenzielles Verhältnis zur außerkünstlerischen Wirklichkeit die Lizenz zu uneingeschränkter Fiktion und, im Hinblick auf ihr selbstreferenzielles Verhältnis zu anderen Kunstwerken, die Lizenz zu ebenso uneingeschränkter Produktion des ,So-noch-nicht-Dagewesenenʻ. Der Stilbegriff des 18. Jahrhunderts schaltet dementsprechend von rhetorisch-regelpoetischen Normierungen und Perfektibilitätserwartungen an Kunst und Kunstwerke auf Individualisierung und Innovation um. Damit verliert „Stil“, so Luhmann, seine vormalige Funktion als „Rezept und […] Entscheidungsprogramm, anhand dessen man die Richtigkeit der Ausführung und die Richtigkeit der Beurteilung eines Kunstwerks beurteilen könnte. Dies zu steuern nimmt in historisch zu-

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Zur allgemeinen Geschichte des Stilbegriffs siehe GUMBRECHT, 1986. Der gegenwärtig umfassendste Überblick zur Geschichte des Stilbegriffs findet sich in den Beiträgen des Kapitels Theoriegeschichte der Rhetorik und Stilistik (FIX u. a. (Hg.), 2009, Kapitel I, Bd 1, S. 1-283).

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Dirk Kretzschmar

nehmendem Maße das Kunstwerk selbst in Anspruch.“ Und an anderer Stelle: „Stilwechsel zielt nicht mehr auf Besseres, sondern auf Anderes.“7 Die mit Johann Joachim Winckelmanns Schriften zur Historisierung künstlerischer Stile ebenfalls auf die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts zu datierende Verschiebung des Stilbegriffs in die Zeitdimension entspricht zudem der Abkopplung autonomer Kunst von allen alteuropäischen Repräsentations- und Imitationsanforderungen in der Sachdimension. Während die Rhetorik, „der allgemeinen Tendenz zur Hierarchisierung folgend“, eine „Rangordnung der Stile vorgegeben und die Stile entsprechend der Würdigkeit der Gegenstände vorgeschrieben [hatte]“, wird nun der historisierte Stilbegriff „für das Erkennen (und dann gleich auch: für das Bewirken) historischer Unterschiede in Anspruch genommen“, so Luhmann (KG: 211). Aus systemtheoretischer Sicht stellt sich die Geschichte des Stilbegriffs mithin auch als sukzessive Entfaltung der ihm seit jeher inhärenten Dimension der Kontingenz dar, die jedoch erst in der Stilsemantik des späten 18. Jahrhunderts, also im Rahmen eines ausdifferenzierten Sozialsystems ,Kunstʻ, vollständig beobachtbar, tolerabel und system(re)produktiv umsetzbar wird. Ein auf historische Vergleiche sowie das Kommunizieren entsprechender Differenzen abzielender Stilbegriff sichert nun – retrospektiv – die Einheit des Kunstsystems und durch seine Kopplung an das Neuheits- und Originalitätspostulat – prospektiv – den Fortgang der systemischen Autopoiesis. Die Unterschiede, das ,Wogegen‘ in der Machart der Kunstwerke geraten in den Sogbereich des Neuerungsdrucks. […] Vom Stil erwartet man jetzt zugleich, daß er sich selbst die Regeln gibt, sich also nicht einem vorgegebenen Kanon fügt, sondern sich in bezug auf Vorgaben durch Andersartigkeit auszeichnet. Auch verlängert ein Stil die Ver-

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LUHMANN, 1986, S. 636 und 644f. Im Folgenden zitiert als KuS. Die primär formalästhetisch definierte Neufassung des Stilbegriffs befördert zugleich die Genese einer an Kunstkennerschaft – und nicht länger an außerkünstlerischen Standeskriterien einer stratifizierten Gesellschaft – orientierten Kommunikation über Kunstwerke. Ferner steigt in allen gesellschaftlichen Funktionssystemen der modernen Gesellschaft, also nicht nur im Kunstsystem, die Akzeptanz von ,Innovationʻ und ,Neuheitʻ signifikant an. Siehe dazu: LUHMANN, 1999.

Stil im Sozialsystem ‚Kunst‘ fallszeit des Interesses am Kunstwerk; man wird auf Ähnlichkeiten in anderen Kunstwerken aufmerksam und kann jedes Werk neu beobachten im Hinblick auf Ähnlichkeiten und Differenzen. Tradition wird im Stil durch Abweichung respektiert. Abweichung ist dabei eine spezifische Form der Anerkennung von Relevanz, also keineswegs Indifferenz oder Ignoranz. Sie erfordert Sachkenntnis, Umsicht und Genauigkeit in der selektiven Bestimmung der Hinsichten, in denen es auf Abweichung ankommt, und dazu oft eine Reformulierung der Einheit des Vorgängerstils ohne Rücksicht auf das, was für diesen wichtig und zugänglich gewesen war. (KG: 211)8

Die weiteren kunstsysteminternen Modifikationen des Stilbegriffs der Moderne zielen aus systemtheoretischer Sicht vor allem auf die semantische Absicherung der Selbstreferenzialität der Kunst und des Kunstwerks ab. Die anthropologisch-ubiquitäre Stilsemantik im Sinne von Buffons „Le style c’est l’homme même“, die immer auch Möglichkeiten bereithielt, vom Kunstwerk ausgehend, spekulative Überlegungen zur individuellen Persönlichkeitsdisposition des Künstlers anzustellen, wird nun endgültig, wie Wolfgang Müller formuliert, von der Auffassung „Le style c’est l’œuvre même“ abgelöst. Wiederum systemtheoretisch gewendet: Dieser Stilbegriff ist nur noch innerhalb des Kunstsystems anschlussfähig, wo er ausschließlich der produktiven wie rezeptiven Beobachtung künstlerischer Formen dient.9 Bislang wurde gezeigt, wie die Systemtheorie das Kunstsystem bei seinen regelmäßigen, dem jeweiligen Ausdifferenzierungsstand angepassten Neusemantisierungen des Stilbegriffs beobachtet. Ebenso lässt sich beobachten, wie Umweltsysteme der Kunst aus ihren Beobachtun8

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Parallel zu forcierter Innovationserwartung, dynamisiertem Stilwandel und temporalisierter Stilsemantik bildet das Kunstsystem spezifische Vorrichtungen für den Erhalt der nun ,historisiertenʻ Kunstwerke aus. Auf institutioneller Ebene übernehmen Museen, auf reflexiv-semantischer Ebene Epochenkonstruktionen und -begriffe wie beispielsweise ,Klassikʻ diese Aufgabe. Vgl. MÜLLER, 1981. Die insbesondere für narrative Texte der literarischen Moderne charakteristischen Verfahren nicht auktorialen Erzählens wie personales Erzählen oder erlebte Rede ließen sich aus dieser Perspektive ebenfalls mit dem Bestreben des modernen Künstlers erklären, so weit wie möglich hinter sein Werk zurückzutreten, um allein dessen stilistische Formung zum rezeptiven Beobachtungsvollzug freizugeben.

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gen des Kunstsystems spezifische Stiltheorien und -paradigmata ableiten. Auf diese Weise geraten insbesondere die literaturtheoretischen und -methodologischen Ansätze der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als zeitversetzte Rekurse des Wissenschaftssystems auf die Stilsemantik des ausdifferenzierten Kunstsystems in den Blick. Dies gilt vor allem für das ,poetologische Stil-Paradigmaʻ der sogenannten werkimmanenten Methoden sowie für das ,linguistische Stil-Paradigmaʻ von Formalismus und Strukturalismus. Beide übersetzen die selbstreferenzielle Stilsemantik des ausdifferenzierten Kunst- bzw. Literatursystems in eine literaturwissenschaftliche Metasprache, die ,Stilʻ ausschließlich als Manifestation der artistischen Struktur des individuellen Einzelwerks beschreibbar machen soll.10 Stand bis jetzt die Frage im Zentrum, wie aus einer systemtheoretischen Position heraus die Stilkonzepte des Kunstsystems sowie der dieses System wiederum beobachtenden Literatur- und Kunstwissenschaft funktional rekonstruiert werden können, soll es im Folgenden genauer um die von Luhmann selbst im Rahmen seiner Theorie der Kunst als einem autonomen Subsystem der modernen, funktionsdifferenzierten Gesellschaft entwickelte Stiltheorie gehen. Diese erstreckt sich (1.) auf das einzelne Kunstwerk sowie (2.) auf die Funktion des Stils zur Sicherstellung der Autopoiesis des gesamten Kunstsystems.

1. Stil und Kunstw erk Die systemtheoretische Kunst- und Stiltheorie setzt zunächst auf der Ebene des singulären Kunstwerks an, ohne dabei jedoch auf den Stand traditioneller, emphatischer Vorstellungen vom Werk als Resultat souverän-subjektiven Schöpfertums zurückzufallen. Die Herstellung eines Kunstwerks wird vielmehr als eine sich im Produktionsverlauf zunehmend selbst programmierende und restringierende Sequenz von Beobachtungen gedacht. ,Beobachtung‘, daran sei noch einmal kurz erinnert, bedeutet in systemtheoretischem Verständnis die Bezeichnung einer Seite im Rahmen einer Unterscheidung. Etwas – und damit zugleich

10 Zu diesen Stilparadigmen siehe ROSENBERG u. a., [2003b], S. 657-661. Ausführlich in ROSENBERG, [2003a].

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alles andere nicht – wird aus einem Möglichkeitshorizont selegiert und bezeichnet, um anschließend an dieser bezeichneten Seite der Unterscheidung mit weiteren Operationen anzuschließen. „Es ist“, so Luhmann (KG: 72) „ein allgemeines Gesetz des Beobachtens: Wer etwas beobachten will, muss etwas beobachten wollen und dies von anderem unterscheiden.“ Bezogen auf die Produktion eines Kunstwerks bedeutet das: An eine beliebige, zufällige Anfangsunterscheidung – an einen (und keinen anderen) Satz, an einen (und keinen anderen) Sachverhalt, an eine (und keine andere) Tonfolge, an einen (und keinen anderen) Pinselstrich – schließt eine zweite, von der ersten vorgegebene, und damit schon nicht mehr beliebige Operation an, die dann wiederum den Möglichkeitsspielraum der dritten Operation einschränkt usw.; auf diese Weise geht es weiter bis zum Abschluss des Werks. Dazu Luhmann: Man zeichnet eine Linie auf ein Stück Papier und sagt dann: Was fordert die Linie jetzt für den leeren Raum? Man schränkt die Beliebigkeit ein. Das ganze Kalkül ist eine Einschränkung von Beliebigkeit des Hinzufügens zu einer ersten Unterscheidung. Das macht die Sache faszinierend, weil es eine Art Ordnungsaufbau beschreibt, wo man – wie immer willkürlich man anfängt – nicht willkürlich weitermachen kann.11

Ein sich derart selbst programmierendes Kunstwerk besteht also aus einer Reihe von zunehmend eigendirigierten und selbstreferenziellen Entscheidungen über Auswahl, Formung und Anordnung von Sinnsequenzen. Das Kunstwerk führt an sich selbst vor, dass und wie das kontingent Hergestellte, an sich gar nicht Notwendige schließlich als notwendig erscheint, weil es in einer Art Selbstlimitierung sich selbst alle Möglichkeiten nimmt, anders zu sein. (KuS: 625)

Die jeweils neu hinzukommenden Formen müssen allerdings zu den bereits festgelegten passen, so dass die jeweiligen Formentscheidungen ausschließlich dem kunstsystemeigenen Code passt/passt nicht oder stimmig/unstimmig folgen. Der Stilbegriff eines ausdifferenzierten Kunstsystems ist wiederum konstitutives Elements dieses Codes, da er, 11 LUHMANN, 1994, S. 83.

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wie oben ausgeführt, Formentscheidungen sowohl von heteronomfremdreferenzieller Normierung als auch von mechanistischer richtig/falsch-Differenzierung freihält. Obwohl Luhmann auf entsprechende Parallelen nicht explizit verweist, ist seine Theorie autonomer Kunstproduktion als selbstreferenzielles und selbstcodiertes Formenarrangement bislang noch weitgehend kompatibel mit formalistisch-strukturalistischen Aussagen zur Immanenz und Eigengesetzlichkeit des Herstellungsprozesses eines, in diesem Fall literarischen, Kunstwerks. Weitere partielle Übereinstimmungen bestehen, wie später noch zu zeigen sein wird, in den systemtheoretischen und strukturalistischen Auffassungen zur künstlerischen bzw. literarischen Evolution. Die markantesten, gerade auch in stiltheoretischer Hinsicht weitreichendsten, Differenzen zwischen Systemtheorie und Formalismus/Strukturalismus ergeben sich hingegen aus der jeweiligen Konzeption des Begriffs der Form. So ersetzt die Systemtheorie die herkömmliche Dichotomie Form-Inhalt durch die – ebenfalls zur Beobachtungstheorie gehörende – Dichotomie Form-Medium. Demnach wird immer dann, wenn im Rahmen einer Beobachtung eine Unterscheidung getroffen wird, etwas – und nicht etwas anderes – aus einem Medium von Möglichkeiten selegiert. Somit entsteht eine Form, genauer, eine ZweiSeiten-Form aus bezeichneter, weil selegierter Seite und unbezeichneter, weil nicht selegierter Seite. Noch einmal anders formuliert: Eine konkrete Form ist immer die selektive Aktualisierung dessen, was die Potentialität des Mediums zulässt. Die Übertragung dieses Formbegriffs auf den Bereich der Kunst fasst Luhmann folgendermaßen: [Mit] Form meine ich immer die Produktion einer Differenz, also einer Grenzlinie. Das kann natürlich ein Kreis sein oder eine schnell oder langsam, gerade oder gestrichelt gezeichnete Linie. Aber immer mit dem Effekt, dass es zwei Seiten unterscheidet. Und mit der Folge, dass man Zeit braucht, um die Grenze zu überschreiten, also nur mit einer besonderen gedanklichen oder faktischen Operation zur anderen Seite kommt. Und das bedeutet, dass man bei allen Entscheidungen, die man bei der Anfertigung eines Werks oder auch bei der Analyse oder der Beobachtung eines Kunstwerks trifft, immer auch die andere Seite der Form mitsehen muss; dass man also, wenn man sich um eine bestimmte

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Stil im Sozialsystem ‚Kunst‘ Seite, einen bestimmten Teil eines Bildes oder eine bestimmte Szene eines Dramas besonders kümmert, immer mitüberlegen muss, was passiert denn woanders, wenn ich hier Intensität, Emphase, Farbe, Aufregung oder was immer hineinstecke. Der Formbegriff soll also diese Zeitstruktur […] bewusst machen, aber auch anspielen auf die Frage: Wo steckt denn der Zusammenhang, wenn ich etwas Bestimmtes tue und dabei etwas anderes passiert oder ich anderes tun muss, um meinen Anfang zu korrigieren, sei es zu vollenden, zu ergänzen oder zu zerstören. Das ist der Sinn des Formbegriffs, die Fragen nach Zeit, Differenz und der Einheit eines Zusammenhangs […] zu stellen.12

Aus diesem Formbegriff leitet die Systemtheorie nun drei weitere, alle um den Faktor ,Kontingenzʻ kreisende, Subtheoreme ab: zum einen eine Theorie der Rezeption des Kunstwerks und seiner (kontingenten) Formen als Beobachtung zweiter Ordnung, zum zweiten eine die Kontingenz von Formentscheidungen profilierende Stiltheorie und zum dritten eine aus solchen Kontingenzerfahrungen abgeleitete Funktionsdefinition der Kunst. Die Rezeption eines Kunstwerks erfolgt als Beobachtung zweiter Ordnung durch den Betrachter/Leser, der die Beobachtungsstruktur – und das heißt die (kontingente) Unterscheidungsstruktur – des Werkes nachvollziehen muss. Man muss Formen so beobachten können, als ob über ihre andere Seite noch nicht disponiert worden wäre, um dann feststellen zu können, wie, das heißt: durch welche anderen Formen, der Dispositionsspielraum ausgenutzt worden ist. Anders gesagt: Es geht um Rekonstruktion der Kontingenzen und ihrer wechselseitigen Reduktionen, und ein Zeitschema kann zu der Vorstellung verhelfen, es könnte alles anders gemacht werden – aber nicht so überzeugend, wie es im Kunstwerk tatsächlich entschieden ist. Jede festgelegte Form verspricht also etwas anderes, ohne es zu bestimmen. (KG: 54f.)

Eine der Grundvoraussetzungen für derlei Kontingenzbeobachtungen ist ein Begriff von und ein Umgang mit künstlerischen Stilen, der – wie in einem ausdifferenzierten Kunstsystem moderner Gesellschaften üb12 Das Kabelkalb, 1990, S. 55.

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lich – von ,opting-inʻ (= Erfüllung von Stilvorgaben) auf ,opting outʻ (= Nichterfüllung und Abweichung von Stilvorgaben) und damit auf die Beobachtung von Temporalisierung und Stilwandel (= Kontingenz und Differenz) umprogrammiert wurde. Daraus ergibt sich wiederum die Relation zwischen differenzorientierter Stilbegrifflichkeit bzw. Kunstpraxis und der gesellschaftlichen Funktion der Kunst. Eine beschleunigtem Stilwandel unterliegende und dem Rezipienten entsprechende Beobachtungsleistungen abverlangende Kunst verweist nämlich nicht nur auf die potenzielle Gleichwertigkeit von Sehweisen in der Kunst sondern auch auf die Prämissenabhängigkeit – also Kontingenz – jeder Wirklichkeitserfahrung. Die Historisierung und Pluralisierung der Stile, verbunden mit einem darauf abgestellten Stilbegriff, tragen demnach entscheidend zur Funktionserfüllung der Kunst in einer modernen, funktionsdifferenzierten Gesellschaft bei. Denn die Funktion der Kunst besteht laut Luhmann ja gerade „in der Herstellung von Weltkontingenz“, in der „Konfrontation der (jedermann geläufigen) Realität mit einer anderen Version derselben Realität“, mit dem Ziel, die festsitzende „Alltagsversion […] als auflösbar [zu erweisen]“ und die Wirklichkeit „zu einer polykontexturalen, auch anders lesbaren Wirklichkeit“ zu machen (KuS: 622f.). Anders als Stiltheorien und -analysen, die auf der Ebene reiner Werkimmanenz verbleiben, nimmt die systemtheoretische Stiltheorie den Konnex zwischen der modernen Bedeutungsentwicklung des Stilbegriffs, der modernen Kunstpraxis und einer sich daraus ergebenden Funktionsdefinition der Kunst gleichzeitig in den Blick. Der über die Grenze des Einzelwerks hinausgehende Beobachtungsradius systemtheoretischer Stiltheorie erfasst zudem den Bereich des gesamten Kunstsystems. Die Produktion individualisierter Einzelwerke, denen man die Direktiven ihrer Herstellung und Rezeption nur noch selbst entnehmen kann, erfordert vom Kunstsystem die Entwicklung neuer Mechanismen zur Aufrechterhaltung seiner Kohärenz und Reproduktionsfähigkeit. Zu diesem Problem heißt es bei Luhmann: In mindestens einer Hinsicht vermag die Auffassung, das einzelne Kunstwerk programmiere sich selbst, nicht zu befriedigen. Es hinterläßt die Frage, ob Kunstwerke völlig zusammenhanglos zu denken seien oder ob es eine Programmierung der Programmierung geben müsse, die

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Stil im Sozialsystem ‚Kunst‘ doch, wenn auch in veränderter Form, auf so etwas wie eine RegelKunst zurückführe. Vielleicht war es denn auch diese offene Frage, die es nicht zuließ, das Einzelwerk ganz in die Autonomie zu entlassen. Müsste das dann nicht heißen: Zufallsentstehung oder mindestens: Neubeginn in jedem Einzelfall? (KG: 336)

Bei der Lösung dieses Problems kommt, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, der Kategorie des Stils ebenfalls eine herausragende Bedeutung zu.

2. Stil und Kunsts ystem Die Tatsache, dass Begriff und Konzept des Stils trotz ihrer normativen, regelpoetisch-rhetorisch ,kontaminiertenʻ Verwendungstradition auch im autonomen Kunstsystem der funktionsdifferenzierten, modernen Gesellschaft ihren Platz behaupten, ist ebenso signifikant wie erklärungsbedürftig. Seinen Fortbestand verdankt der Stilbegriff zum einen der Notwendigkeit, auch nach dem Wegfall des imitatio-Gebots ein Kriterium verfügbar zu halten, dass die Zuordnung der unter Neuheits- und Originalitätsanforderungen entstehenden Artefakte zum Kunstsystem erlaubt. Es bietet sich […] an, den Begriff des Stils funktional zu definieren, mit Bezug auf das Problem, wie ein Zusammenhang verschiedener Kunstwerke und damit Kunst als System hergestellt werden kann. […] Dies […] zeigt […] an, daß die zunehmende Betonung der Originalität, wenn nicht Einzigartigkeit eines ,authentischen‘ Kunstwerks und mit ihr die Kritik des Copierens den Stil in diesem Funktionsbereich übrig läßt und […] dazu auffordert, Kunstwerke […] im Hinblick auf Stil zu beobachten. Wenn sie weder Copien sein dürfen, noch Stil haben, verlieren sie ihre Bedeutung als Kunstwerk. Singularia lassen sich nicht einordnen, also auch nicht als Kunst verstehen und beobachten. In Stilzuordnungen macht sich mithin die Zugehörigkeit eines Kunstwerks zur Kunst kenntlich. (KG: 338)

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Die persistente Fokussierung auf Stile sorgt demnach gerade nach der „Souveränitätsproklamation des Kunstwerks“ (KuS: 636) dafür, dass keine völlig beliebigen und voneinander isolierten „Einzelstücke“ produziert werden. Stilbezüge stellen sicher, dass das gesamte Kunstsystem nicht mit jedem neuen Werk immer wieder von vorn beginnen muss, sondern auch weiterhin auf die eigene Vergangenheit zurückund damit zugleich auf die eigene Zukunft vorgreifen kann. Der seit dem späten 18. Jahrhundert für entsprechende Historisierungen und kunsthistorische Periodisierungen operationalisierbare Stilbegriff befördert die notwendige „Beobachtung größerer Zusammenhänge“ sowie die Erkenntnis, dass „Kunstwerke die Entstehung weiterer Kunstwerke beeinflussen“ (KG: 336). Der Stil eines Kunstwerks ermöglicht es, zu erkennen, was es anderen Kunstwerken verdankt und was es für weitere, neue Kunstwerke bedeutet. […] Die Funktion des Stils ist es, den Beitrag des Kunstwerks zur Autopoiesis der Kunst zu organisieren und zwar in gewisser Weise gegen die Intention des Kunstwerks selbst, die auf Geschlossenheit geht. Der Stil entspricht und widerspricht der Autonomie des Einzelkunstwerks. […] Er belässt dem Kunstwerk seine Einmaligkeit und zieht gleichwohl eine Verbindungslinie zu anderen Kunstwerken. (KuS: 632)

In einem ausdifferenzierten Kunstsystem übernimmt der Stil als diachrones Vergleichsprogramm zugleich die Funktion eines Katalysators der systemischen Autopoiesis, indem innerhalb der beobachtungsleitenden Differenz für Stilvergleiche – Konfirmierung versus Abweichung – die Präferenz zugunsten der Werte ,Innovationʻ und ,Distanzierung von etablierten Stiltraditionenʻ verschoben wird. Auf der Ebene von Stilformen kann das Kunstsystem selbst evoluieren, kann ausprobierte Formenkombinationen auswechseln oder aus der Ablehnung des üblich Gewordenen neue Formen entwickeln, ja die Ablehnung selbst zur Form werden lassen, die man nur noch verstehen kann, wenn man mitweiß, was vorher üblich war und was demgemäß die Erwartung ist, die enttäuscht werden soll. (KG: 198)

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Daher erklärt sich für Luhmann die besondere Entwicklungsdynamik moderner Kunst vor allem damit, dass sie „nach dem Ausprobieren der Möglichkeiten eines Stils zu einem anderen übergeht“ (KG: 337). Ähnlich hatten bereits die russischen Formalisten argumentiert, indem sie – am Beispiel der Literatur – die Evolution der Kunst auf den beständigen Wechsel von Automatisierung und De-Automatisierung künstlerischer, in diesem Fall poetischer, Verfahren zurückführten. Insbesondere Jurij Tynjanovs Begriff der ,Autofunktionʻ, der sich auf die Funktion literarischer Verfahren vor dem Vergleichshintergrund ihrer Verwendung in der bisherigen Literaturgeschichte bezieht, ist kompatibel mit Luhmanns Verkopplung von funktionaler Stiltheorie und Evolutionstheorie der Kunst.13 Mit Hilfe ihrer Beobachtungsschemata ,System/UmweltDifferenzʻ und ,gesellschaftliche Funktionsdifferenzierungʻ ist die Systemtheorie darüber hinaus jedoch in der Lage, die – im Vergleich zu vormodernen Evolutionsstadien der Kunst – erheblich ansteigende Evolutionsdynamik des modernen Kunstsystems plausibler zu erklären als Formalismus und Strukturalismus, die dem evolutionären Mechanismus ‚Automatisierung versus Deautomatisierung künstlerischer Verfahren‘ eine in allen Kunstepochen und Gesellschaftsformationen nahezu identische evolutionäre Wirkmächtigkeit zuschreiben. Deautomatisierung und Innovation müssen jedoch zunächst einmal gegenüber Konsistenz und Persistenz als neue Werte geschätzt, anschlussfähig kommuniziert und evolutionssteigernd produktiv gemacht werden können, was erst in einem autonomen Kunstsystem der funktionsdifferenzierten modernen Gesellschaft – flankiert unter anderem von einem entsprechend (um)semantisierten Stilbegriff – möglich ist. Wie nun noch zu zeigen sein wird, entfaltet die Systemtheorie ihr vollständiges stiltheoretisches Innovationspotenzial im Zusammenhang mit einer Reihe weiterer Theoreme. Dabei geht es vor allem um die Beobachtung des Ornaments als Ursprung und Spezifikum der Kunst, um die Verbindung zwischen Stil- und Gedächtnistheorie sowie um die Rekonstruktion koevolutionärer semantischer Bezüge zwischen den Begriffen ,Stilʻ und ,Kulturʻ. Zur Bedeutung des Ornaments und des Ornamentalen als Initialimpulse für die Genese der Kunst heißt es bei Luhmann: 13 Zur formalistischen Evolutionstheorie der Literatur siehe: TYNJANOV, [1971a]; DERS, [1971b]; ALT, 1986.

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Dirk Kretzschmar Die Grundform des Entwickelns von Formen aus Formen ist das […] Ornament. Allen Ornamenten liegt […] das Problem der Form [zugrunde]. Ornamente sind Rekursionen, Rückgriffe und Vorgriffe, die sich als solche fortsetzen. Sie lassen die Einheit von Redundanz und Varietät erscheinen. […] jede Stelle im Ornament ist zugleich die andere einer anderen. […] immer ist der laufende Anschluss das Prinzip, mit dem das zunächst Ausgeschlossene aufgegriffen, als Anlaß definiert und zur Wiederholung desselben oder zur Anknüpfung von anderem verwendet wird. Und hier kommt ganz deutlich heraus, daß Kunst weder Zeichen für etwas anderes sein kann noch bloße Form des Materials. Das Ornament erzeugt seinen eigenen imaginären Raum durch eine laufende Verwandlung von Formgrenzen in mehrdeutige Übergänge. Als bloße ,Verzierung‘ kann man dies nur begreifen in gesellschaftlichen Lagen, in denen die Ausdifferenzierung der Kunst schon in Gang gebracht ist […], so dass man bloße Dekoration von Kunst unterscheiden muss. Der ornamentalen Struktur kann dann nur eine dienende Funktion zuerkannt werden. (KG: 194ff.)

Der Konnex zwischen Kunst und Ornamentalität liegt also zum einen darin, an Ornamenten kunstspezifisches Beobachten, also den produktiven Vollzug und den rezeptiven Nachvollzug selbstreferenzieller Formenentstehung, zu erproben, noch bevor es Kunstwerke und ein Sozialsystem ,Kunstʻ im eigentlichen Sinn gibt. Anders gesagt: Ornamente fungieren als „preadaptive advances“ für Kunst und Kunstkommunikation avant la lettre.14 Zum zweiten lässt sich die Theorie der Ornamentalität als Grundform selbstreferenzieller Formenarrangements mit der Theorie der Kunstevolution als ebenso selbstreferenziellem Prozess verknüpfen. Luhmann dazu: Ein gewohntes Muster verlangt geradezu nach Variation. Eine kleine Veränderung hat Konsequenzen, sie muss weitergeführt und ergänzt, oder als unpassend wieder eliminiert werden […]. Form greift nach Form […] mit einer die Ausführung determinierenden Eigenlogik […].

14 „Preadaptive advances sind sozusagen Lösungen für Probleme, die noch gar nicht existieren“, so LUHMANN, 1981, S. 191.

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Stil im Sozialsystem ‚Kunst‘ Das Ornament bestimmt für sich selbst, was passt und was nicht passt. (KG: 366f.)

Beide Aspekte des Theorems vom Ornamentcharakter der Kunst – Ornamentalität sowohl als genuin selbstreferenzielle als auch besonders evolutionsaffine Struktur – lassen sich nun wiederum an die Funktion des Stils für das singuläre Kunstwerk wie für das Kunstsystem anbinden. Versteht man unter Ornamentalität die Ebene der selbstreferenziellen Formverweise des Kunstwerks, ist der Begriff des Ornaments funktional äquivalent mit dem Begriff des Stils in der herkömmlichen ästhetischen Semantik: Stil als dasjenige, was die ,Formʻ des Kunstwerks – im Gegensatz zu seinem ,Inhaltʻ – ausmacht. Für Luhmann stellt sich diese funktionale und semantische Gemengelage aus Ornamentalität, Form und Stil als Kategorien zur Erfassung derjenigen Ebenen des Kunstwerks, die die Aufmerksamkeit auf seine Morphogenese und seine Organisationsprinzipien lenken, folgendermaßen dar: Wenn man Kunstwerke als Kunstwerke auf ihr Formenspiel hin beobachten will, muss man nach ihrem Ornament fragen. Erst dann kann man zurückkommen auf die Frage, wie es gemacht ist und welche Nebenbedeutungen dem Ornament dienen und zugleich durch das Ornament jene Aufladung erhalten, die ihre künstlerische Qualität ausmacht. […] Aus der Beobachtung, wie es gemacht ist, [entsteht] ein Ordnungstypus allgemeinerer Art, der üblicherweise mit dem Begriff des ‚Stils‘ bezeichnet wird. (KG: 360)15

An dieser Stelle erfolgt der Zirkelschluss zwischen den Theorieelementen Stil, Evolution, Kunstwerk und Kunstsystem. Nur durch rekursiven Bezug neuer Kunstwerke auf die Formenkombinationen (=Stile) bereits bestehender Kunstwerke kommt die Evolution des Kunstsystems in Gang – und zwar als selbstorganisierter Prozess, der sich der Steuerung anderer Systeme, psychischer oder sozialer, entzieht. Dazu Luhmann – lapidar jede subjektzentrierte (Evolutions-)theorie der Kunst verabschiedend: 15 Man fühlt sich hier an die Theorie des Ornaments als paradigmatischer Form für die begriffslose, freie Schönheit der Kunst in Kants Kritik der Urteilskraft erinnert. Vgl. dazu ausführlich: WACHTER, 2006, v. a. S. 179ff.

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Dirk Kretzschmar Die Evolution der Kunst ist ihr eigenes Werk. Sie kann nicht durch Eingriffe von Außen bewirkt werden: weder durch die spontane Kreativität genialer Künstler noch […] durch [die] gesellschaftliche Umwelt. […] Wenn Kunstwerke ihre eigenen Programme sind, dann überzeugen sie erst nach ihrer Fertigstellung. Erfolgreiche Kunst lässt sich immer erst nachträglich auf Kriterien hin beobachten, und dann mit der Frage, ob man es nachahmen und besser machen will, oder ob die Innovation sich auf die Ablehnung bisher geltender Kriterien gründen soll. (KG: 370; 379)

Als Generatoren der Autopoiesis und Evolution des Kunstsystems bilden Stile zugleich zentrale Elemente des Systemgedächtnisses. Das Gedächtnis sozialer Systeme entsteht, wenn die eigenen Operationen einer Beobachtung zweiter Ordnung unterzogen werden. Solche Reflexionen des Wie ihres Operierens eröffnen Systemen die Möglichkeit zur Selbstbeschreibung sowie zur Rekonstruktion ihrer Vergangenheit und Projektion ihrer Zukunft. Luhmann spricht in diesem Zusammenhang von der „memory function“ und der „oscillator function“ innerhalb sozialer Systeme: Mit der memory function bindet sich das System an die eigene, nicht mehr zu ändernde Vergangenheit. Es erzeugt auf diese Weise eine Gegenwart mit Vergangenheitshorizont, um sich selbst zu motivieren, vom gegenwärtigen Weltzustand auszugehen und nicht in jedem Moment alles als neu und unbekannt vorauszusetzen und von vorne anzufangen. […] Die Differenz der gleichzeitig benötigten memory und oscillator functions macht es nötig, […] Vergangenheit und Zukunft zu unterscheiden und dazwischen eine Gegenwart vorzusehen, in der allein das System operieren kann.16

Auch das Kunstsystem ist – wie jedes andere System – nach seiner selbstreferenziellen Schließung allein auf die eigene Geschichte als Ausgangsbasis für gegenwärtige und zukünftige Operationen verwiesen. Dabei bilden Stile entscheidende Elemente sowohl der Gedächtnisfunktion (memory) als auch der Variabilitätsfunktion (oscillation) des Kunstsystems, indem sie Rückgriffe auf dessen Vergangenheit erlauben 16 LUHMANN, 1996, S. 330f.

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und zugleich dessen Zukunft offenhalten, indem jedem neuen Kunstwerk die Option auf Konfirmierung, Neukontextualisierung oder völlige Negierung bestehender Stilvorgaben offensteht. Dieser Beitrag hatte einleitend auf die engen Beziehungen zwischen den Begriffen ,Stilʻ und ,Kulturʻ verwiesen und dabei zunächst ihre gemeinsamen Inkonsistenzen und Aporien aufgrund ihrer komplexen Verwendungs- und Bedeutungsgeschichte in den Blick genommen. Abschließend soll es nun um einen weiteren Aspekt ihrer Verflechtung gehen, und zwar um ihre semantische Koevolution im Prozess der gesellschaftlichen Funktionsdifferenzierung und Modernisierung. Die semantische und funktionale Schnittmenge zwischen ,Stilʻ und ,Kulturʻ bildet der Beobachtungsmodus des Vergleichs. Entsprechend nähern sich Mitte des 18. Jahrhunderts – also zum Zeitpunkt forcierter Modernisierung und Funktionsdifferenzierung der Gesellschaft – die Semantiken beider Begriffe als Kategorien für Vergleiche und Beobachtungen zweiter Ordnung einander an. Die Konsequenzen für das Kunstsystem sind im Beitrag ausführlich dargestellt worden. Der Rekurs auf Stile ermöglicht den zeitlichen, räumlichen und sachlichen Vergleich zwischen Kunstwerken, der nach der Ausdifferenzierung des Kunstsystems für die Feststellung und Prämierung der Programmwerte ‚Neuheitʻ und ,Originalitätʻ unverzichtbar geworden ist. In anderen kommunikativen Kontexten kondensieren derartige Vergleiche – samt den dazugehörigen Kontingenzerfahrungen – am Begriff ,Kulturʻ. Die Ausdifferenzierung in unterschiedliche Funktionssysteme, die massenmediale Speicherung und Verbreitung disparater Kommunikationen und Beobachtungen sowie die zunehmende weltgesellschaftliche Vernetzung von Kommunikationen und Beobachtungen führen dazu, dass die moderne Gesellschaft sich selbst nur als polyperspektivisch, ohne Rückzugsmöglichkeiten in eine allgemein verbindliche Weltsicht, mit einem Wort, als kontingent erfahren kann – und dies unter dem Label ,Kulturʻ registriert und reflektiert. In diesem Sinne und in dieser Funktion ist ,Kulturʻ ein Kontingenzbegriff, der offenlegt, dass jede Beobachtung, jede gesellschaftliche Praxis und jede Kommunikation immer auch anders ausfallen kann. Dazu Luhmann: Nach wie vor kann man mit einem Messer schneiden, kann man zu Gott beten, zur See fahren, Verträge schließen oder Gegenstände verzieren.

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Dirk Kretzschmar Aber außerdem lässt sich all das ein zweites Mal beobachten und beschreiben, wenn man es als kulturelles Phänomen erfasst und Vergleichen aussetzt.17

In dieser funktionalen und semantischen Engführung der Begriffe ,Stilʻ und ,Kulturʻ als Kategorien für Vergleiche mitsamt der damit einhergehenden modernen Kontingenzerfahrungen liegt auch die eigentliche Ursache für die eingangs erörterte Diffusion beider Begriffe in nahezu alle Bereiche moderner gesellschaftlicher Kommunikation sowie mittlerweile auch für ihre Synonymität. Bekanntlich kann man heute ebenso von Denkstilen, Politikstilen und Diskussionsstilen sprechen wie von Denkkulturen, Politikkulturen und Diskussionskulturen. Selbst Bezeichnungen wie „kulturelle Stile“ oder „Kultur als Stil“ sind möglich, wie man dem Beitrag Angelika Linkes zur Stilbegrifflichkeit in kulturhermeneutischer und -komparatistischer Perspektive entnehmen kann. Auf die systemtheoretisch beobachtbare semantische und funktionale Korrelation beider Begriffe im Zuge fundamentaler gesellschaftsstruktureller Umbrüche und Modernisierungsschübe als Voraussetzung dieser Bedeutungsidentität verweist sie allerdings nicht.18 Kommen wir abschließend noch einmal auf das Kunstsystem zurück. Hans Ulrich Gumbrecht schließt seinen Stil-Artikel im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft19 mit folgendem Hinweis auf den stiltheoretischen Forschungsbeitrag von Luhmanns Systemtheorie: […] gegen Ende des 20. Jhs. [wurden] noch einmal verschiedene Bemühungen unternommen, durch konzeptuelle Systematisierung das Versprechen von der interdisziplinären Relevanz des Stilbegriffs einzulösen. Während sie zuletzt nur erneut den Verdacht bekräftigten, dass die Kehrseite der universellen Verwendbarkeit des typologischen Stilbegriffs in seiner vergleichsweise geringen analytischen Trennschärfe liege (was ließe sich nicht als Ausdruck eines Stils beschreiben?), entwickelt N. Luhmann […] vor dem Hintergrund seiner Konzeption der Kunst als ‚autopoietischem sozialen System‘ […] eine Definition von

17 LUHMANN, [1995b], S. 41f. Siehe auch BAECKER, 2000. 18 LINKE, 2009. 19 GUMBRECHT, 2003, S. 512.

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Stil im Sozialsystem ‚Kunst‘ ,Stilʻ, welche aufzunehmen und weiterzuführen Programm für die historische Stilforschung der Zukunft werden könnte.

In diesem Sinne war es das Ziel des vorliegenden Beitrags, die in unterschiedlichen Texten Luhmanns entwickelten systemtheoretischen Beiträge zum Stilbegriff noch einmal systematisch zusammenzuführen und zu kommentieren.

Literatur ALT, PETER-ANDRÉ, Theorien literarischer Evolution bei Šklovskij, Tynjanov und Mukařovsky, in: Arcadia 21 (1986), Heft 1, S. 1-22. BAECKER, DIRK, Wozu Kultur?, Berlin 2000. Das Kabelkalb. Ein Gespräch über Kunst, in: LUHMANN, NIKLAS u. a., Unbeobachtbare Welt. Über Kunst und Architektur, Bielefeld 1990, S. 51-66. FIX, ULLA u. a. (Hg.), Rhetorik und Stilistik. Ein internationales Handbuch historischer und systematischer Forschung (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 31.2), Berlin/New York 2009. GAUGER, HANS-MARTIN, Zur Frage des Stils, in: Stilfragen, hg. von WILLI ERZGRÄBER/HANS-MARTIN GAUGER, Tübingen 1992, S. 927. GUMBRECHT, HANS ULRICH, Schwindende Stabilität der Wirklichkeit. Eine Geschichte des Stilbegriffs, in: Stil, Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements, hg. von HANS ULRICH GUMBRECHT/K. LUDWIG PFEIFFER, Frankfurt a. M. 1986, S. 726-788. DERS., Stil, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, hg. von JAN-DIRK MÜLLER u. a., Bd. 3, Berlin/New York 2003, S. 509513. KNOBLAUCH, HUBERT, Wissenssoziologie, Konstanz 2005. LINKE, ANGELIKA, Stil und Kultur, in: Rhetorik und Stilistik. Ein internationales Handbuch historischer und systematischer Forschung (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft, hg.

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Dirk Kretzschmar

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Mediävistische Stilforschung und die Präsenzkultur des Mittelalters Mit einem Ausblick auf Gottfried von Straßburg und Konrad von Würzburg JENS HAUSTEIN

Bernhard von Clairvaux war, als ihm einmal sein Siegel nicht zur Hand war, der Überzeugung, dass der Empfänger den Briefschreiber schon am Stil erkennen werde („sigillum non erat ad manum; sed qui legit agnoscat stilum“).1 Dies Beispiel scheint die gängige Vorstellung von stilistischer Unverwechselbarkeit als Errungenschaft der Moderne seit der Renaissance zu unterlaufen – einer stilistischen Unverwechselbarkeit, die vor dem Hintergrund des rhetorischen Regelwerks mit dem Regelbruch arbeitet, in dem dann personale Individualität (Buffon: „le style est l’homme même“) oder die Individualität des Einzelwerks (Riffaterre: „le style, c’est le texte même“) zum Ausdruck kommt.2 Aber: Das Bernhard-Beispiel wird so oft zitiert, weil es so vereinzelt dasteht und – gegen den Strich gelesen – auf ein Problem verweist, das die mediävistische Stildiskussion und Stilforschung immer schon begleitet hat, nämlich die Frage, was es denn sei und wie man es begrifflich fassen könne, was den Stil vormoderner Texte über Rhetorik und 1 2

Vgl. VON MOOS, Einleitung, S. 13, dort auch der Nachweis des Zitats. Zu den gängigen Topoi der Stildiskussion s. W. MÜLLER, 1981. Zur strukturalistischen Stilforschung s. auch GÖTTERT/JUNGEN, 2004, S. 30f.; speziell zu Riffaterre auch SCHÄFER, 1992, S. 163-181.

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Stilistik hinaus denn nun eigentlich zum individuellen Werkstil mache. Die Frage stellt sich schon deshalb, weil im analysierenden Umgang die Regeln der Rhetorik und das Individuelle des Stils ständig ineinander gespiegelt werden. Dies hat auch seinen guten Grund nicht nur im Grad der nach Zeiten und Gattungen unterschiedlich hohen Verbindlichkeit des rhetorischen Regelwerks, sondern auch darin, dass sowohl die Rhetorik jedenfalls in ihrem elokutionellen Teil als auch die Stilistik Textgestalt und Wirkung aufeinander beziehen und der Stil stets mit eben diesen Begriffen in Verbindung gebracht wird. Darüber hinaus hat es selbstverständlich auch damit zu tun, dass die Regeln der Rhetorik und Stilistik historisch greifbar und in ihrer Umsetzung beschreibbar sind, während jede über die Explikationen der Handbücher3 hinausgehende allgemeinere Antwort auf die Frage, was denn Stil sei, ins Metaphorische abgleitet oder aber verweigert wird – dies freilich nicht erst in der jüngeren Stildiskussion. Schon der Jurist und Lyriker Cino da Pistoia hat im frühen 14. Jahrhundert auf die Frage, was unter Stil zu verstehen sei, geantwortet: „Das können wir nicht recht wissen.“4 Wunderbar bildhaft, ja allegorisierend wird Wilhelm Wackernagel in seinen Vorlesungen zur Poetik, Rhetorik und Stilistik von 1836/37,5 wenn er Stil zu beschreiben versucht: [D]er Stil ist keine todte Maske, die über den Inhalt gedeckt wird, sondern er ist die lebensvolle Gebärde des Angesichts, zu welcher Fleisch und Bein sich in der Weise gestalten, wie die Seele von innen heraus wirkt; er ist freilich nur eine Einkleidung des Inhalts, nur ein Gewand, aber der Faltenwurf des Gewandes ist hervorgebracht durch die Stellung

3

4 5

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GUMBRECHT, 2003, S. 509: „Manifestation von rekurrenten Formen menschlichen Verhaltens in den verschiedenen Materialien und Medien, insbesondere in den Künsten“. Vergleichbar, aber noch stärker soziologisch ausgerichtet SOEFFNER/RAAB, 2003. Zitiert nach STRÄTZ, 1987, S. 63. WACKERNAGEL, 1873. Ganz auf die Syntax möchte Richard M. Meyer in kritischer Auseinandersetzung mit Wackernagel die Stilistik beschränkt sehen. MEYER, 1906, S. 3: „Die Stilistik ist also im letzten Sinne nichts anderes als eine vergleichende Syntax, d. h. Lehre von den normalen Gestaltungen der syntaktischen Möglichkeiten“. In § 9 heißt es hingegen sehr viel allgemeiner: „Stilistik ist die Lehre von der kunstmäßigen Anwendung der deutschen Sprache“.

Mediävistische Stilforschung der Glieder, die das Gewand verhüllt, und den Gliedern hat wiederum nur die Seele grade diese Bewegung und Stellung gegeben.6

Was hier, vor dem Hintergrund einer beeindruckenden ToposGeschichte,7 als Bewegung von der Seele über die Glieder bis in den Faltenwurf des Stils imaginiert wird, lautet, jedenfalls was das Resultat dieser Bewegung anbelangt, an anderer Stelle desselben Werks nüchterner: Der Stil „ist die Oberfläche der sprachlichen Darstellung, nicht die Idee, nicht der Stoff, sondern lediglich die Form, die Wahl der Worte, der Bau der Sätze.“8 Im Gegensatz zu dieser Charakterisierung des ästhetisch fundierten alten Stilbegriffs legen die neueren Definitionsbemühungen (Gumbrecht, Soeffner/Raab) einen Begriff von Stil zugrunde, der die Tendenz zeigt, sich auf alle möglichen Lebensbereiche auszubreiten, und so noch unschärfer zu werden droht. Wer nun meint, einem solchen Stilbegriff sei nur eine begrenzte Lebensdauer beschieden, sieht sich mit der Tatsache konfrontiert, dass der Stilbegriff zu den Wiedergängern gehört. Schon vor über 20 Jahren hat Ludwig Pfeiffer diesen Umstand treffend beschrieben: Theoretisch immer wieder totgesagt, von permanenten Definitionsschwierigkeiten bedrängt, hat sich der Stilbegriff praktisch zäh gehalten und bislang jeden Verschleiß mit Funktionsgewinnen in anderen Bereichen ausgeglichen [...]. Wer den Begriff verwendet, verstößt nur allzu leicht gegen elementare Regeln der Begriffsbildung. Aber auch mit solchen Bedenken sind Erfassungs- und Beschreibungsbedürfnisse, deren sich der Stilbegriff immer wieder annehmen muß, nicht abzuschaffen.9

Pfeiffer bringt dann die wechselnde Konjunktur des Stilbegriffs in den Zusammenhang epistemologischer Prozesse: Der Stilbegriff stellt sich überall da ein, wo andere Begriffe zu versagen drohen. Er verschwindet umgekehrt immer dann, wenn wissenschaftli-

6 7 8 9

WACKERNAGEL, 1873, S. 311. Zu Stil als Maske und Stil als Gewand s. W. MÜLLER, 1981, S. 52ff. WACKERNAGEL, 1873, S. 311. PFEIFFER, 1987, S. 685f. [Herv. i. O.].

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Jens Haustein che Theorien das Erklärungspotential härterer Begriffe (wie System, Struktur, Zwang, Macht, Ordnung, Norm, Regel, Sitte, Konvention, Strategie, Erwartung, Diskurs usw.) höher einschätzen.10

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob in einer Zeit konjunkturellen Verfalls des ‚hartenʻ Strukturbegriffs und nachdem der Kreis kulturwissenschaftlich-mediävistischer Zugriffe auf Texte dreifach abgeschritten zu sein scheint, eine epistemologiegeschichtliche Lücke entstanden ist, in die der Stilbegriff (wieder) einziehen könnte. Bevor ich diese durchaus offen gemeinte Frage auf zwei speziell mediävistische, aktuelle Diskussionszusammenhänge zuspitze, sei noch ein forschungsgeschichtliches Problem angesprochen. In den mediävistischen Kunstwissenschaften trägt der Stilbegriff eine – übrigens je nach Fach unterschiedlich hohe – Hypothek, die immer wieder vor ihm zurückschrecken lässt, die, so könnte man sie vielleicht nennen, Athetesen-Hypothek. Mit vorwiegend stilistischen Argumenten sind in der Germanistik bekanntlich die Œuvres v. a. der Lyriker so zugeschnitten worden, dass sie den in sie gesetzten Erwartungen entsprachen. Epochal waren in dieser Hinsicht die Untersuchungen von Carl von Kraus zu Walther von der Vogelweide und zu den Dichtern aus Des Minnesangs Frühling.11 Nachdem von Kraus beispielsweise die stilistischen Ungeschicklichkeiten zweier Strophen, die unter Walthers Namen überliefert sind, aufgelistet hat, schließt er lapidar: „Walther gewinnt, wenn man ihm beide Sprüche nimmt.“12 Übrigens gibt es auch, wenngleich seltener, den umgekehrten Fall. Walthers berühmtes Kaiserlied (La 62,6) enthält, so von Kraus, „bekanntlich allerlei was sonst bei Walther nicht vorkommt“13 – u. a. den Reim „genam“ : „spileman“. Derart harte Kriterien, die sonst umstandslos für Athetesen in Anspruch genommen werden, gelten hier, bei diesem so sehr gelungenen Gedicht, nicht. Man darf eben Walther und seine Sprache „nicht mit dem Maßstab messen [...], den man bei andern Dichtern mit Erfolg anzulegen pflegt, und gewinnt dadurch mehr Bewegungsfreiheit in Echtheitsfragen.“14 Oder in einem andern Fall, nachdem die Argumente gegen die 10 Ebd., S. 711. 11 VON KRAUS, 1939; DERS., 1935. 12 VON KRAUS, 1935, S. 97. 13 Ebd., S. 259. 14 Ebd., S. 259f.

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Echtheit einer Strophe ausführlich zurückgewiesen wurden, abschließend: „Sonst kann ich nichts finden was gegen Walthers Art wäre.“15 Für ,Artʻ hätte von Kraus auch ,Stilʻ sagen können, denn seine Urteile sind immer wieder, und das oft in wechselnden Formationen, sowohl philologisch wie stilistisch begründet. „Er war“, so Hugo Kuhn treffend über Carl von Kraus, „ein Künstler der Philologie!“16 Seit den siebziger Jahren und bis heute ist es eine beliebte Übung im Fach, von Krausʼsche Stilurteile zu ridikülisieren und das auf der Basis des ‚hartenʻ Begriffs (s. o.) der Überlieferung: Was unter Walthers Namen überliefert ist, stammt, wenn nicht andere ‚harte‘ Kriterien dagegen sprechen, von einem Autor, den wir Walther von der Vogelweide nennen. Jeder Versuch der wertenden Zu- oder Abschreibung vor allem auf der Grundlage von Stilbeobachtungen ist Ausdruck einer unverantwortbaren Willkür. Es bleibt abzuwarten, ob vor dem Hintergrund einer Historisierung der Überlieferung deren Behauptungsanspruch bröckeln und damit ein weniger belasteter Blick auf die Stilanalysen von Carl von Kraus und anderen wieder möglich sein wird. Momentan jedenfalls dürfte die oben erwähnte Hypothek des Stilbegriffs aus diesem Moment seiner Geschichte heraus noch ziemlich hoch sein. Die beiden eben angesprochenen Diskussionszusammenhänge der germanistischen Mediävistik, in deren Kontext der Stilbegriff möglicherweise eine neue Konjunktur erfahren könnte, möchte ich gern unter die Überschriften Verbindlichkeit und Differenz bzw. Präsenz und Performanz stellen.

1. Verbindlichkeit und Differenz Zu den vermutlich unabschließbaren, in einer Phase der Wiederentdeckung des Ästhetischen jedoch hoch virulenten Diskussionsformationen des Faches gehört die Frage nach Prägekraft und Verbindlichkeit des rhetorischen und poetologischen lateinischen Schrifttums der Spätantike und des 12. Jahrhunderts für die volkssprachliche Literatur der höfischen Klassik. Die Positionen liegen weit auseinander und sind auch

15 Ebd., S. 99. 16 Zitiert nach BEIN, 1998, S. 297.

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nicht miteinander harmonisierbar. Diejenigen, die diesen Zusammenhang favorisieren, können für sich volkssprachliche Texte oder in der Regel Textausschnitte – etwa Schönheitsbeschreibungen – geltend machen, deren Aufbau, Vokabular und Bildlichkeit vor dem Hintergrund der rhetorisch geprägten Poetiken deutlich wird. Der klassische Text, wenn man diese Traditionslinie stärken will, ist Gottfrieds von Straßburg Literaturexkurs, der auch in der Einführung in die Stilistik von Karl-Heinz Göttert und Oliver Jungen als Illustrationsmaterial für die reichlich optimistische, jedenfalls unzulässig verallgemeinernde These herhalten muss, dass es „seit langem erwiesen“ sei, „dass die (!) höfischen Dichter die lateinischen Poetiken kannten oder doch den in ihnen verarbeiteten Stoff auf entsprechenden Schulen erlernt hatten“.17 Die Gegenposition hat jüngst Katharina Philipowski18 in wünschenswerter Eindeutigkeit auf den Punkt gebracht. Da es mir nur um eine Gegenüberstellung dieser unterschiedlichen Positionen geht, werde ich nicht die Philipowskiʼsche Herleitung referieren, sondern nur die Resultate: Als Ergebnis ihres Durchgangs durch die einschlägigen Passagen der höfischen Literatur um 1200 hält sie ein hohes Maß an „Formalismus und Verfremdung als Reflexion von Erzählformen“ fest, das sich aber an keine der lateinischen Diskursformation anbinden lasse: Mit keinem der Diskurse, die wir mit Dichtung in Zusammenhang bringen, unterhält die höfische Erzähldichtung erkennbare Beziehungen: Weder die Diskussion um das Schöne, noch die Auseinandersetzung um die Kunst oder die Künste noch die traditionsreichen literarischen Techniken der artes dictaminis, artes praedicandi oder artes poeticae bilden einen theoretischen Bezugsrahmen, in den die höfische Dichtung sinnvoll eingeordnet werden kann.19

Und weiter: Mittelalterliche Erzählliteratur vermag an keine der etablierten literarischen Traditionen und an kein durch Autoritäten abgesichertes Legitimationsmuster anzuknüpfen, kann sich nicht über Terminologien de-

17 GÖTTERT/JUNGEN, 2004, S. 155. 18 PHILIPOWSKI, 2007. 19 Ebd., S. 217f.

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Mediävistische Stilforschung finieren, die zur Beschreibung des lateinischen oder heidnischen Schrifttums konzipiert sind. Sie setzt sich durch ihre Sprache, ihren Wahrheitsanspruch [...], ihre Form und ihren Erzählgegenstand zwischen alle etablierten Klassifikationsschemata und Systematisierungen und entzieht sich allen bestehenden Konzepten und Terminologien.20

Den Grund für diesen solipsistischen Zug volkssprachlicher Literatur sieht Philipowski im Instabilen und Okkasionellen dieser Literatur: Was sie ist und will, wen sie anspricht, wovon sie erzählt und woraus sie ihren Geltungsanspruch ableitet, muss sie in sich und durch sich selbst artikulieren, sie muss sich gleichsam selbst definieren, stabilisieren und institutionalisieren, muss die Sonderformen des Sprechens, die sie darstellt, über ‚unsystematische poetologische Aussageformen im Medium der Dichtung selbstʻ verhandeln.21

Unabhängig also von jeder wie auch immer gearteten gelehrten Handreichung formiert sich diese Literatur als Dichtung und sie tut dies mit all den Aufmerksamkeitssignalen, die ihr Irritationspotential bis heute ausmachen, mit den Exaltationen der Sprache, dem Kruden ihrer Motive, den Abwegen ihrer Handlungsverläufe, aber eben auch mit den textinternen Hinweisen auf die eigene Künstlichkeit und den gehäuften intertextuellen Verweisen auf die Texte des eigenen Raumes, eines Raumes, in dem eben das ibelungenlied und der Parzival, dieser und der Tristan, wiederum dieser und die Romane Hartmanns usw. so über Zitate, Parallelen und Differenzen miteinander verwoben wurden, dass ein Textensemble entstehen konnte, das wir als höfische volkssprachliche Literatur um 1200 wahrnehmen. Die Philipowskiʼsche Position ist zwar auf Probleme von Form und Ästhetik zugespitzt, aber durchaus auch auf andere Diskussionszusammenhänge beziehbar. So zielt ja letztlich die Haugʼsche Idee von der unableitbaren Erfindung der Fiktionalität durch Chretien und Hartmann auf einen vergleichbaren Bruch mit der Tradition. Wollte man an diese Position anknüpfen, ließe sich vielleicht Folgendes sagen: Der Stil der Literatur um 1200, begriffen als Manifestation rekurrenter Sprachver20 Ebd., S. 222. 21 Ebd.

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wendungsweise auf der Oberflächenstruktur von Texten,22 musste – bei allen Differenzen im einzelnen und ganz unterschiedlichen Ergebnissen – nach der Abkehr vom allegorisierenden, heilsgeschichtlich orientierten Dichten ebenfalls neu erfunden werden und lässt sich allenfalls punktuell und damit nicht signifikant an Rhetorik und Poetik anbinden. Zudem lässt er sich auch nicht als eine Repräsentationsform der Idee vom schönen adeligen Leben semantisieren. Er ist die Maske oder schöner noch: das Kleid, um das Wackernagelʼsche Bild aufzunehmen, eines Textes, der sich seinen Geltungsraum erobern will und in diesem zuerst einmal Text zu sein beansprucht, bevor er sich auf die pragmatische Seite seiner Existenz einlassen oder sich der Hermeneutik anvertrauen kann. Der Faltenwurf dieses Kleides, die Oberfläche des Textes, wäre das Objekt jeder Anstrengung um Stil. Der weiche, unscharfe Begriff ‚Stilʻ könnte also jene epistemologische Leerstelle besetzen, die entsteht, wenn das Erklärungspotential des rhetorischen und poetologischen Handbuchwissens für die ästhetische Fraktur der höfischen Literatur versagt.

2. Präsenz und Perf ormanz 23 Die neuere Literaturtheorie begreift ganz allgemein, so Christian Kiening jüngst, „Kunstwerke nicht als gegebene, fixierte Größen, die interpretativ zu erschließen, sondern als ereignishafte, bewegliche, die performativ zu erfahren sind“.24 Auch wenn die Frage wohl vorerst offen bleibt, wie und ob sich unter dieser Paradigmenverschiebung die „Alterität sowohl mittelalterlicher als auch postmoderner Gegebenheiten“25 zueinander in Beziehung setzen lässt, könnte die neuere Betonung mittelalterlicher Kultur als einer Kultur der Präsenz und Performanz – diese als inszenierte Präsenz begriffen – auch ein neues Interesse am Stil begründen. Man kann diese Bewegung ins Nicht-Herme22 In Abwandlung der Gumbrechtʼschen Formulierung, s. Anm. 3. 23 Es ist hier nicht der Ort, den mediävistischen oder gar den weiteren allgemeinen Diskussionsstand zu referieren. Ich nenne nur weniges aus der jüngeren Zeit: LECHTERMANN, 2005; KIENING, 2006; KRAGL, 2008. 24 KIENING, 2007, S. 171. 25 Ebd., S. 174.

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neutische und Nicht-Semiotische bedauern, weil wir doch immer gern wissen wollen, welche Falte des Kleides auf welche Bewegung der Knochen oder gar auf welche Seelenregung zurückgeht. Aber es geht ja auch nicht um ein Entweder-Oder, um hier Präsenz- und dort Sinneffekte (Gumbrecht), um hier Mittelalter (Präsenz), dort Neuzeit (Hermeneutik), sondern darum, im Abtasten der Oberfläche, und das meint in diesem Zusammenhang: der Beschreibung des Stils, eine neue Sensibilität und womöglich sogar Begrifflichkeit für die Präsenz und Gegenwärtigkeit des Werks zu entwickeln und dabei das Äußere nicht stets vorschnell als Ausdruck von etwas, das an die Oberfläche drängt, fassen zu wollen. Selbstredend sind Stilphänomene stets auch Zeichen für Bedeutungsgehalte, aber sie haben auf der anderen Seite auch ihre eigene Äußerlichkeit. Dies heißt, um noch einmal Kiening aufzugreifen, das Spezifische der Literatur darin zu sehen, dass in ihr jedes Zeigen-von-etwas zugleich ein Sich-selbst-zeigen wäre – eine Selbstbezüglichkeit nicht im Sinne metasprachlicher Reflexivität, sondern im Sinne sprachlicher Auffälligkeit. Die Zeichen und Worte, deren Bedeutung nie ganz ablösbar ist von ihrer Materialität, besäßen in der literarischen Rede ihre Besonderheit darin, dass die Materialität immer schon mitthemantisch wäre.26

Wenn oben die Vorstellung der Unableitbarkeit volkssprachlichhöfischer Literatur oder zumindest des kühnen Umgangs mit der traditionellen Ästhetik in ihr in Verbindung gebracht wurde mit der Haugʼschen Konzeption der Fiktionalität, ist jetzt hier, im Kontext von Präsenz, Gegenwärtigkeit und Performanz, auch auf die Verluste hinzuweisen, die mit diesem beeindruckenden Konzept verbunden sind. Indem Haug nämlich „Ästhetik primär im Zusammenspiel von Struktur (Doppelweg) und Figurenbeziehung (Liebe) begriff“, ließ er, bildhaft gesprochen, die Falten des Gewandes außer Betracht. Noch einmal Kiening: Die Oberflächenphänomene sind es aber, in denen sich das Ästhetische als sinnliches, wahrnehmbares, erscheinendes konkret manifestiert. Die Texte thematisieren Materialitäten und präsentieren sich als Materialitäten, als Erscheinungsflä26 Ebd., S. 175.

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Jens Haustein chen einer körpergeprägten Kommunikation. Sie gestalten ausführliche descriptiones von Festen, Zeremonien und Ritualen, Körpern und Kleidern, Bauten und Kunstwerken, bei denen Glanz und Schein, Farblichkeit, Stofflichkeit und Beweglichkeit sinnliche Effekte erzeugen. Sie elaborieren komplexe Form- und Klangstrukturen – bis hin zu den Manierismen des geblümten Stils.27

Es gibt eben neben motivierten Gewandfalten horribile dictu auch solche, die auf nichts unter dem Kleid hinweisen, die aber zur Eindrücklichkeit und Singularität des Gewands beitragen. Der erste unter den Stichwörtern Verbindlichkeit und Differenz behandelte Zusammenhang thematisiert ein historisch fixierbares Problem, die Frage, ob mit der Abkehr von einer metaphysisch gegründeten Textproduktion, die ihren vornehmsten Zweck in der allegorischen Aufschlüsselung der Dinge sieht, hin zu einer Dichtung, in der der metaphysische Überbau allenfalls in der Frömmigkeit der Protagonisten aufscheint, ob mit dieser Abkehr auch eine radikale Abwehr der rhetorischen und poetologischen Tradition und die Entwicklung eines neuen Stils einhergeht. Der zweite Diskussionszusammenhang – Präsenz und Performanz – verbindet sich mit dem ersten durch die Frage, ob und wie diese im 12. Jahrhundert entstehende laikale Literatur, die in der neueren Theoriediskussion mit Begriffen wie Präsenz, Performanz, Sichtbarkeit, Körperlichkeit u. a. in Verbindung gebracht wird, um das nötige Wahrnehmungspotential zu erreichen und sich selbst zum Ausdruck bringen zu können, auch stilgeschichtlich innovativ wird.

3. Ausblick auf Gottfried von Straßburg und Konr ad von Würzburg 28 Das Gumbrechtʼsche Plädoyer für ein Verhältnis zu den Dingen dieser Welt, das zwischen Präsenz- und Sinneffekten oszilliert,29 hat jüngst

27 Ebd., S. 178. 28 Ich bin mir bewusst, dass das Folgende noch essayistischer geraten ist als das Vorhergehende! 29 Vgl. GUMBRECHT, 2004, S. 12.

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Bruno Quast30 auf eine Textikone der Mediävistik projiziert, den schon erwähnten Literaturexkurs Gottfrieds von Straßburg, in dem es über Hartmann von Aue bekanntlich heißt: âhî, wie der diu maere / beide ûzen unde innen / mit worten und mit sinnen / durchverwet und durchzieret! / wie er mit rede figieret / der âventiure meine! / wie lûter und wie reine / sîniu cristallînen wortelîn / beidiu sint und iemer müezen sîn (vv. 4622-4630)31

Gottfried lobt die Kongruenz von außen und innen; „der Ausdruck“, so Quast, „das Materiale, das Nichthermeneutische gewährt einen ungehinderten Einblick in das Innen, in den Sinn. [...] Gottfrieds literarästhetische Position reflektiert eine epistemologische Konstellation, die jedem Ding, also auch jedem Wort, eine klare inhärente Bedeutung beimisst.“32 Man könnte vielleicht auch sagen: Er behauptet die Möglichkeit, durch das Wort hindurch auf den Sinn zu blicken. Oder sensualistisch und mit Gottfried formuliert: „daz sint diu wort, daz ist der sin. / diu zwei diu harpfent under in“ (v. 4707f.) – Wort und Sinn harmonieren also im selben (Harfen-)Ton. Quast sieht Gottfried damit als „ein Kind seiner Zeit“33 und darin in der rhetorischen Tradition stehend. Darüber hinaus kann man sich freilich auch fragen, wie Gottfried dieses ideologische Programm der Wort-Sinn-Relation stilistisch umsetzt. Welche der für ihn typischen Stilfiguren – Chiasmus, figura etymologica oder die beliebte Adjektivbildung mit dem Partizip Präsens etwa – tragen eigentlich wann und wie dazu bei, die Oberfläche so transparent zu schleifen, dass sie den Blick auf den Sinn freigibt? Dass diese Wort-Sinn-Relation nicht nur arbeitsintensiv ist, sondern im Rezeptionsvorgang prekär bleibt und notfalls auf den Ausschluss der Unverständigen angewiesen sein könnte, weiß übrigens Gottfried ganz genau: „swer guote rede ze guote / und ouch ze rehte kan verstân, / der muoz dem Ouwaere lân / sîn schapel und sîn lôrzwî“ (vv. 4634-4637). Unmittelbar an diese Verse anschließend kommt Gottfried auf einen zu sprechen, der offenbar nicht „guote rede[…] ze rehte kan verstân“

30 31 32 33

QUAST, 2004. GOTTFRIED VON STRASSBURG, 1984. QUAST, 2004, S. 252 u. 260. Ebd., S. 260.

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und hinter dem man bekanntlich mit guten Gründen Wolfram von Eschenbach vermutet. Die Wort-Sinn-Relation sieht Gottfried in Wolframs Text zerstört, die Transparenz bis zur Undurchsichtigkeit getrübt. Das Herumhüpfen auf der Wortheide produziert kein geschliffenes kristallines Wort und auch kein feines gleichmäßiges Textgewebe wie bei Bligger von Steinach, sondern ein Außen des Textes, das nicht für sich selbst spricht, sondern gedeutet werden muss und damit zum Objekt der Hermeneutik wird: „die selben wildenaere / si müezen tiutaere / mit ir maeren lâzen gân. / wirn mugen ir dâ nâch niht verstân, / als man si hoeret und siht“ (vv. 4683-4687). Weil die Sichtbarkeit gestört ist, bedarf es der Auslegung, die Gottfried, der sich hier selbst in die Rolle des unwilligen Rezipienten imaginiert, in polemischer Wendung mit dunkler Magie in eins setzt: „sone hân wir ouch der muoze niht, / daz wir die glôse suochen / in den swarzen buochen“ (vv. 4688-4690). Quast sieht einen entscheidenden Schritt zur Neuzeit dann getan, „wenn Bedeutung aus den Dingen erst herausgeholt werden muss, sie nicht genuin den Dingen zugeordnet ist“ und nimmt diesen Schritt für Gottfrieds Gegner, also auch für Wolfram, an, weil sich in ihren Texten „das Beharren auf einer Produktion von Bedeutung unter der Bedingung fehlender Sinnevidenz“34 zeige. Dies hieße allerdings, Wolfram aus der polemischen Perspektive Gottfrieds modernisieren zu wollen. Der entscheidende Unterschied besteht darin, dass Sinnevidenz bei Wolfram nicht durch das Wort und seine Ableitungsmöglichkeiten entstehen soll, sondern in Bild und Metapher, im Finden und – auf der Seite des Rezipienten – im Entschlüsseln des Bildes. Das klingt dann aus der polemisierenden Warte Gottfrieds bekanntlich so: vindaere wilder maere, / der maere wildenaere, /[neues Bild] die mit den ketenen liegent / und stumpfe sinne triegent, /[neues Bild] die golt von swachen sachen / den kinden kunnen machen / und [neues Bild] ûz der bühsen giezen / stoubîne mergriezen: / die [neues Bild] bernt uns mit dem stocke schate, / niht mit dem grüenen meienblate, / mit zwîgen noch mit esten. / ir schate der tuot den gesten / vil selten in den ougen wol (vv. 4665-4677).

34 Ebd.

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Wolfram kommt gewissermaßen auch auf der Ebene des Stils in Gottfrieds Text, er wird dadurch inkorporiert, dass Gottfried hier die Techniken bildhaften Sprechens aufgreift, die für Wolframs Stil charakteristisch sind: das Ineinanderfügen von Bildern und Vergleichen unterschiedlichster Ebenen, ohne dass die ‚glôse‘, die Erläuterung, hinzugefügt wird. Ob das schon bei Wolfram die Fußangel für die Hermeneutik sein sollte, wie man angesichts kiloschwerer Literatur allein zu den wenigen Versen des Parzival-Prologs mit Quast annehmen könnte, möchte ich nicht entscheiden. Vielleicht geht es hier auch nur um unterschiedliche Formen der Wort-Sinn-Relation. Was mir aber als Stilbeobachtung wichtig zu sein scheint, ist, dass Gottfried dem Gewand seines Textes an dieser Stelle durch das für ihn sonst eher untypische Springen von Bild zu Bild eine außergewöhnliche Falte verleiht. Man könnte sagen: Wolfram ist an dieser Stelle auch stilistisch in Gottfrieds Text präsent. Was nur scheinbar den Eindruck einer Neuformierung der Attizismus-Asianismus-Debatte unter den Bedingungen der Volkssprache macht, wird mit dem Werk Konrads von Würzburg – dies das zweite Beispiel – deshalb komplexer, weil sich das Stilproblem mit dem Gattungsproblem verbindet und sich eben nicht in zwei Werkstile zweier Autoren diversifizieren lässt. Konrad von Würzburg, einem der produktivsten, gattungsgeschichtlich vielgestaltigsten Autoren des 13. Jahrhunderts, steht ein ganzes Set an Stillagen zur Verfügung, das vom schlichten Beschreibungsstil zum hochrhetorischen geblümten Stil reicht – bei vielen Übergangsformen im einzelnen. Auf dieses Set lässt sich übrigens nicht das antike Schema der drei Stillagen applizieren. Dem ja geradezu provozierend schlichten Stil der drei Legenden steht die geblümte Rede der Goldenen Schmiede kontrastiv im Feld der geistlichen Dichtung entgegen. Auch die Erzählungen kennen stilistisch gesehen unterschiedliche Stillagen – die des Heinrich von Kempten unterscheidet sich erkenn- und beschreibbar etwa von der des Herzmaere. Gleiches gilt für die Lyrik, die, um nur diesen Gesichtspunkt hier zu thematisieren, im Bereich der Syntax mit elaborierten Hypotaxen arbeiten kann, aber eben auch mit Klang und Reim gehorchendem Satzbruch. Das alles ist bekannt und in einem der immer noch besten Bücher über Konrad von Würzburg, in Wolfgang Moneckes35 Studien zu dessen epischer Technik einlässlich beschrieben. Im Geleitwort Ulrich 35 MONECKE, 1968.

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Pretzels heißt es übrigens ganz zeittypisch: Bei der Betrachtung des Konradʼschen Stils gelte es, über die einzelnen elementaren rhetorischen Stilkategorien [...] zu jenen inneren Schichten vorzustoßen, aus denen selbst sehr bewußt schaffende Dichter wie Gottfried und Konrad ihre künstlerische Kraft schöpfen, wo also das Zentrum ihrer Persönlichkeit, das in der Form ‚besiegeltʻ wird, liegt.36

Wenn es aber, anders als Pretzel meinte, nicht Konrads Persönlichkeit ist, die im Artifiziellen seines Stils zum Ausdruck kommt, was dann? Und kommt überhaupt etwas zum Ausdruck? In ihrem Buch über Konrads Trojanerkrieg37 schreibt Elisabeth Lienert: „Es wäre verfehlt, jede descriptio nur auf thematische Funktionen hin lesen zu wollen. Die worte lûter unde glanz [der schöne Ausdruck, Anm. JH] gehören zum dichterischen Programm, mit eigenem Wert, um nicht zu sagen zum Selbstzweck.“38 Stilmitteln der Ästhetisierung – und Jan-Dirk Müller hat etwa ‚schîn‘ und Verwandtes im Trojanerkrieg als solche beschrieben39 – wird ihr Zweck in der Selbst-Darstellung des Werks zugewiesen. Sie zielen nicht (jedenfalls nicht immer und grundsätzlich) auf historisch referentialisierbare Inhalte, lassen sich gelegentlich weder quellen- noch entstehungsgeschichtlich anbinden und schon gar nicht drückt sich in ihnen irgendetwas von Konrads Persönlichkeit aus. Man könnte vielleicht sogar umgekehrt sagen, dass sie immer wieder dazu beitragen, die Referenz, etwa die zur Geschichte des Kampfes um Troja im Trojanerkrieg, abschnittsweise zu kappen. Sie sind die Oberfläche des Textes, der schön sein und so auf sich aufmerksam machen will.

36 PRETZEL, in MONECKE, 1968, S. X. Le style est l’homme même! Pretzel steht mit dieser Einschätzung in einer Tradition, die die Voraussetzung bildete für die oben erwähnte Geschichte der Athetisierung. Wenn für Wackernagel der Faltenwurf des Textes noch seine eigene ästhetische Dignität hatte, war Wilhelm Scherer schon 1868 der Auffassung: „Daß der Stil ein Abbild des Charakters sei, giebt jedermann zu“ (zitiert nach W. MÜLLER, 1981, S. 176). Die Geschichte dieser Vorstellung bis in die jüngste Vergangenheit ist bei W. MÜLLER, 1981, nachzulesen. 37 Der Trojanische Krieg von Konrad von Würzburg, 1858. 38 LIENERT, 1996, S. 272. 39 Vgl. J.-D. MÜLLER, 2006.

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Mediävistische Stilforschung

Auffälligerweise hat Karl Heinz Bohrer für die Anfangsszene ausgerechnet der Ilias deren haptische, selbstreferentielle Bildlichkeit hervorgehoben: „Gerade weil es keine teleologische Anspannung gibt, das heißt keine Sinnfunktionalisierung, geht von den Bildern der homerischen Szene der Glanz inkommensurabler Intensität aus“.40 Für Konrad von Würzburg müsste man entsprechend modulieren: Im forcierten Stil des schönen Scheins erhalten Personen und Szenen den Glanz ihrer Gegenwärtigkeit. Es versteht sich von selbst, dass etwa der Trojanerkrieg, aber auch anderes von Konrad, nicht im schönen Schein aufgeht und es unproduktiv wäre, die Sinneffekte, also Moral und Geschichte, durch Präsenzeffekte des Scheins überblenden zu wollen. Das umgekehrte Bedürfnis jedoch, das Äußere nach dem verborgenen Sinn zu befragen, ist uns professionellen Lesern so vertraut und zum Bedürfnis geworden, dass wir uns kaum noch „unseres Fasziniertseins [...] durch die schiere Gegenständlichkeit“41 der Sprache bewusst sein mögen. Dies ist wohl auch deshalb so, weil wir meinen, dann unserer professionellen Aufgabe der Entschlüsselung des Sinns nicht mehr in vollem Umfange gerecht zu werden. Aber könnte es nicht auch Sinn machen, die schiere Gegenständlichkeit der Sprache, insofern sie in rekurrenten sprachlichen Mitteln des Stils zum Ausdruck kommt, vorzuführen und damit in einer von Präsenzeffekten dominierten Gegenwartskultur etwa mehr von der Präsenz mittelalterlicher Literatur als Effekt ihrer stilistischen Möglichkeiten zu zeigen, von ihrem Klang und Schall und damit ihrer äußeren Schönheit, die gelegentlich nur reine Gegenwart sein will? Konrad von Würzburg vermochte sich jedenfalls eine Kunst jenseits gesellschaftlicher Bezüge vorzustellen, eine Kunst, deren Potential er offenbar in ihrer reinen Gegenwart sah: „ob nieman lepte mêr, denn ich, / doch seite ich und sünge, / dur daz mir selben clünge / mîn rede und mîner stimme schal“ (Trojanerkrieg vv. 188-191).

40 BOHRER, 2007, S. 105. 41 Ebd., S. 82.

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Jens Haustein

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Jens Haustein

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Textprofile zwischen Konturierung und Vagheit Gestalttheoretische Aspekte von Stil am Beispiel von atmosphärischen Beschreibungen PETER KLOTZ

Begonnen sei mit einem Gedicht, das man in einem weiten Sinne als Raumbeschreibung, aber freilich nicht nur so, lesen bzw. hören kann: Rolf Dieter Brinkmann (1940-1975) Einen jener klassischen schwarzen Tangos in Köln, Ende des Monats August, da der Sommer schon ganz verstaubt ist, kurz nach Laden Schluß aus der offenen Tür einer dunklen Wirtschaft, die einem Griechen gehört, hören, ist beinahe ein Wunder: für einen Moment eine Überraschung, für einen Moment

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Peter Klotz Aufatmen, für einen Moment eine Pause in dieser Straße, die niemand liebt und atemlos macht, beim Hindurchgehen. Ich schrieb das schnell auf, bevor der Moment in der verfluchten dunstigen Abgestorbenheit Kölns wieder erlosch. [1975] 1

Wie so oft: Gedichte können eigenartige Textprofile haben. Ich komme darauf zurück. Meine Ausführungen sind in zwei unterschiedliche Vorgehensweisen aufgeteilt. Zunächst möchte ich auf Stil und Textprofil, das Tagungsthema, zu sprechen kommen, indem ich nicht nur Allgemeines sage, sondern dies an dem Gedicht von Brinkmann entwickle und verdeutliche. Sodann möchte ich mich, nach allgemeinen Reflexionen zur Beschreibung, auf einen literarischen Prosatext konzentrieren, um auch dort das allgemeinstilistische und spezifische Textprofil zu skizzieren. Beiden Beispielen ist gemein, dass sie auf eine eigenartige Weise Deskription und Narration verbinden, wobei die beschreibenden Komponenten besonders interessieren.

I Zunächst also möchte ich auf Aspekte eingehen, die für die Entfaltung eines stilistischen Textprofils, genauer des Beschreibens, heranzuziehen sind; im Vordergrund stehen zuerst pragmatische Aspekte; später werden systemlinguistische, genauer morphosyntaktische Aspekte überwie-

1

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BRINKMANN, 1975, S. 25.

Textprofile zwischen Konturierung und Vagheit

gen, weil es hier vor allem um die Sprachlichkeit gestalttheoretischer Komponenten von Stil und Textprofilen geht. Stil erscheint fassbar mit Hilfe von vier Kategorien, nämlich ‚Markanz‘, ‚Frequenz‘ und ‚Funktion‘, wobei der Funktionsbegriff hier zweimal zum Tragen kommt, nämlich als ‚kommunikative Funktion‘ und als ‚ästhetische Funktion‘. Diese vier Kategorien sind in doppelter Weise heranzuziehen, zum einen bezogen auf die linguistisch fassbare Sprachlichkeit eines Textprofils, zum anderen auf die Pragmatik, die Sprachhandlungsweisen von Textsorten. Textprofile sprachsystematische Aspekte ………

Markanz

pragmatische Aspekte ………

………

Frequenz

………

………

kommunikative Funktion

………

………

ästhetische Funktion

………

Wenn nun zuerst der pragmatische Aspekt herausgestellt wird, so ist das ein Bekenntnis zu sehr alten Stilvorstellungen wie „le style est l’homme même“ von Buffon: Wie jemand handelt, ist und bleibt eine ‚StilFrage‘. In der pragmatischen Linguistik wird sie u. a. in der politenessForschung diskutiert, dort vor allem freilich im Sinne eines glatten Auskommens miteinander, einer „polishedness“2 des Umgangs, einer gewissen Urbanität also, wenn das Etymon ‚polis‘ ins Lateinische und somit für die urbs Roma übertragen wird. Raffiniert-kluge imperiale Herrschaft operiert besser mit solcher polishedness, wie an manchen Praktiken des römischen Imperiums und der amerikanischen Herrschaft abzulesen ist; und diese polishedness verfügt neben einem Achten auf ‚face saving‘ auch über ‚face threatening‘ und ‚face losing‘. Politeness steht also prinzipiell der ‚courtesy‘, der ‚Höflichkeit‘ fern, geht es ihr doch vor allem um das Funktionieren des Miteinander. Wenn aber Stil in einen solchen Zusammenhang gebracht wird, dann könnte auch Höf2

WATTS, 1992, S. 21f.

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Peter Klotz

lichkeit, wie wir sie gemeinhin verstehen, wieder relevant werden, etwa wenn – um nur beispielhaft daran zu denken – wenn ‚Takt‘ zu einem wichtigen Element kommunikativen Handelns wird,3 etwa – um das Beispiel hier sogleich heranzuziehen – wenn beim Beschreiben behutsam auf das Vorwissen und die Wissensvoraussetzungen des kommunikativen Partners geachtet wird. Das tut das eingangs zitierte Gedicht kaum, aber eben doch, indem eine respektvolle, eine fürs Erstaunen offene Rezeption eingefordert wird. Das initiale „Einen jener klassischen“ ist/wäre ja ein Verweis auf hoffentlich geteiltes Vorwissen. Gleichzeitig erinnert die graphische Organisation mit ihrer Zweizeiligkeit an Distichen. Die syntaktische Organisation des Gedichts hält sich aber genau nicht an die Zweizeiligkeit, so dass beim Vortrag – nimmt man die graphische Gestalt ernst – fast so etwas wie ein Tango-Rhythmus zu versuchen ist, nämlich bestehend aus geschmeidigen Textanläufen und raffinierten Verzögerungen. Pragmatisch beginnt der Text also mit einer Einladung, die zu einer kurzen textuellen Verführung wird und die sich dann in ein Erstaunen wandeln muss, wenn von einer griechischen Wirtschaft die Rede ist. Dies Gedicht ist kein glatter, kein ‚*politer‘ Text; er fordert genaue und spezifische Aufmerksamkeit. Solchermaßen lassen sich für ein Textprofil pragmatische Teilhandlungen ausmachen, die markant und frequent das kommunikative Miteinander prägen. Allgemeiner gesagt: Takt bzw. sein Gegenstück Rücksichtslosigkeit wären also z. B. jene stilistische Markanz, die beim Beschreiben Teilhandlungen wie ‚Hinweisen‘, ‚Entfalten‘, ‚Erläutern‘, ‚Bewerten‘ begleitend prägen würden. Dass sich damit eine kommunikative Funktion verbindet, mag sofort einsichtig sein. Dass damit auch eine ästhetische Funktion mit in Betracht kommt, bedarf vielleicht einer ersten Erläuterung. Versteht man nämlich Ästhetik sowohl im Sinne von aisthesis als Wahrnehmungsfähigkeit als auch im Sinne von gewachsener kultureller Tätigkeit, dann ist die ästhetische Funktion im Rahmen von Kommunikation eine Komponente der Bewusstheit, die letztendlich, wenn man so will, auch wieder eine Komponente von Takt werden kann. – Für unser Gedicht wäre dies rezeptiv-pragmatisch eine sensible Aufmerksamkeit, die den syntaktischen Spannbogen vom vorausgestellten Objekt der Faszination, dem Tango, bis zur Wahrneh3

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KLOTZ, 1999, S. 155-162.

Textprofile zwischen Konturierung und Vagheit

mung, dem Hören, und der Faszination, die Bezeichnung als „Wunder“, mitvollzieht. Der andere hier bereits mitvollzogene relevante Blick, nämlich der auf die Sprachlichkeit von Texten bzw. von Textsorten braucht die Aspekte Markanz und Frequenz, um aus dem Variantenreichtum sprachlicher Möglichkeiten Stil herauszuschälen. Sprachliche Markanz ergibt sich durch morphosyntaktische Auffälligkeiten.4 Typisch hierfür sind etwa die Wortneuschöpfungen und eigenartigen Kollokationen expressionistischer Gedichte. Aber natürlich gibt es vielfach auch – wenn ich das so paradox ausdrücken darf – verhaltenere stilistische Markanz, man denke beispielsweise an Fontane. Das Anfangsgedicht spannt eine komplexe syntaktische Struktur auf, um einen spezifischen Augenblick gewissermaßen gesamtheitlich zu konturieren, wobei diese Kontur nicht zuletzt deshalb so deutlich hervortritt, weil der selbstreflexive Schluss etwas einfacher, etwas alltäglicher sprachlich gestaltet ist. Vorangestellt wird ungewöhnlicherweise das Akkusativobjekt des komplexen ersten Satzes, das erst als solches durch das späte Verb „hören“ ganz erkannt wird. Dabei ist es so, dass dies eigentlich gar kein Satz ist, sondern ein Subjektsinfinitiv – doch darüber anschließend mehr. Noch ungewöhnlicher ist der komplexe Ausbau des Ortsadverbiale „in Köln“, das mit dem Zeitadverbial raffiniert, ja fast unauflöslich wie eine attributive Apposition verschränkt ist und so – wenn man es recht bedenkt – wird der Ausdruck insgesamt (von „in Köln“ bis „Griechen gehört“) eher zu einem Modaladverbiale. Das lässt sich deshalb so gut behaupten, weil eine solche modale ‚Wie‘-Formulierung zu dem angesprochenen „Wunder“ passt, das selbst wieder durch mehrere Appositionen attribuiert bzw. erläutert wird. Weiterhin ist auffällig für die Struktur des ersten Satzes, dass jenes komplexe Gebilde des Tango-Hörens Subjekt – jetzt komme ich darauf zurück – zu dem an sich einfachen Satz „ist ein Wunder“ ist: also ‚Hören ist ein Wunder‘. – Eine solche systemlinguistische, hier syntaktische Analyse mag auf den ersten Blick überzogen erscheinen. Sie ist es aber nicht, denn wir lernen hier eine häufige deskriptive Struktur5 kennen: Ein oder zwei komplex gebaute Satzglieder treffen auf höchst einfache Prädikate (hier z. B. ist-Kopula und Nomen: „ist ein Wunder“). Eine solche 4 5

Vgl. KLOTZ, 1991; CHRISTMANN, 2008; KÖLLER, 2009. Vgl. KLOTZ, 2005, S. 87ff.

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Peter Klotz

Struktur ist nicht verwunderlich, denn Beschreiben bedeutet immer auch Aufmerksamkeits- und Blicklenkung. Und: Falls das Gedicht gut vorgetragen wird, wird auch seine Ästhetik, seine sprachliche und inhaltliche Attraktivität, deutlich: Der Spannbogen des ungewöhnlichen Erlebens, des auf einmal so gefüllten Raumes, sowohl inhaltlich als auch rhythmisch auf der einen Seite, das Verzögern, das Innehalten – veranlasst durch die Zweizeiligkeit, die man bei so deutlicher Formalisierung ernstnehmen sollte – auf der anderen Seite. Und nun versteht sich das fast alltagssprachliche „Ich schrieb das schnell auf“ erst recht. Ein Raum, seine Atmosphäre und in vielleicht spiegelnder Weise der Tango-Rhythmus wurden für einen Augenblick dargestellt, der sonst, im Alltag, im Vagen bliebe und sich verflüchtigte – wie so Vieles. Aber es geht ja um einen Augenblick, der – und nun gelangen wir zu den Übergängen von Deskription und Narration – irgendwie erzählenswert ist. Dass dies so ist, legt die viermalige Erwähnung des Wortes „Moment“ nahe: dieser Moment verbindet in der Mitte des Textes „Überraschung“, „Aufatmen“ und „Pause“, wobei Aufatmen und Pause wohl deshalb besonders relevant sind, weil sie sich auf eine „Straße“ beziehen, die typisch für die „verfluchte dunstige Abgestorbenheit Kölns“ zu sein scheint. Die deskriptive Attribuierung dieser Straße spielt, sowie der ganze Text, stilistisch mit Syntax: Der doppelte Relativsatz fordert besondere Aufmerksamkeit ein – übrigens ein gutes Beispiel für die Verknüpfung pragmatischen und syntaktischen Stils! –, denn das Relativpronomen „die“ ist zunächst syntaktisches Objekt und dann – elliptisch weggelassen – syntaktisches Subjekt: „die […] atemlos macht [Herv. P. K.]“. Die letzte Erwähnung von „Moment“ geschieht dann syntaktisch gewissermaßen unaufgeregt, aber inhaltlich im Kontrast zur „verfluchten […] Abgestorbenheit Kölns“. – Pragmatisch ist dieses Gedicht die deskriptive Beschwörung eines fast unglaublichen Augenblicks, und es ist der Bericht eines wohl fast verzweifelten Aufschreibemoments, deutlich gemacht durch den Tempuswechsel („schrieb“) ins Präteritum. Stilistische Textprofile scheinen also durch Erfüllung und Veränderung von kommunikativen Erwartungen und dem Spiel mit ihnen zu funktionieren. Schlussendlich kann über Stil – auch über Funktionsstil – nur gesprochen werden, wenn sprachliche Angemessenheit, Schönheit, auch Pfiffigkeit seine Ästhetik erkennbar machen. Das ist eigentlich ei-

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Textprofile zwischen Konturierung und Vagheit

ne Selbstverständlichkeit – es sei denn, man will sich hinter ein Diktum zurückziehen, das etwa lautet, über Geschmack könne man nicht streiten. Freilich: Nimmt man aber ein solches Diktum ernst, wird daraus eine Frage sprachlicher Bildung und Bewusstheit, denn erst die wahrnehmbare Form schafft ästhetisches Erkennen.6 Und so kommt es auch, dass Textualität Inszenierung braucht bzw. ist. Solche Inszenierung entsteht durch absichtsvolle Thematisierung und durch absichtsvolle Vagheit, denn einem guten Text wohnt eine gewisse Theatralität inne – wenn ich bei der einmal begonnenen Metaphorisierung bleiben darf. Solchermaßen werden stilistische Textprofile relevant, ja sie entstehen durchaus im Sinne eines In-Szene-Setzens. Das scheint für alle ‚guten Texte‘ zu gelten, d. h. für Texte, die nicht nur akzeptiert werden, sondern denen eine gewisse Attraktivität und Bedeutung in etlichen differenten Rezeptionsvorgängen zugeschrieben wird. Mir scheint darüber hinaus, dass dies sowohl für individualstilistische Textformen relevant ist als auch – in einem allgemein kommunikativ-pragmatischen Sinne – für Textsorten.

II Damit sind wir wieder bei dem engeren Thema ‚Beschreibenʻ bzw. den ,Beschreibungen‘, über das zunächst einiges Allgemeines gesagt werden soll, um dann stilistische Einzelbeobachtungen an einem völlig anderen Text zu machen, wiederum um zu einem Textprofil zu gelangen. Warum dies noch einmal im Themabereich ‚Raum‘ und seiner ‚Atmosphäre‘ geschehen soll, hat vor allem zwei Gründe: Zum einen soll das Gesagte dadurch eine gewisse Binnenfestigkeit erhalten, so dass der Inhaltsbereich begrenzt bleibt. Zum anderen ist mir Raum jene Metapher, durch die die Konstruiertheit allen Textens besonders deutlich wird: ‚Bühnenraum‘ also, wenn der Inszenierungsgedanke hier gelten soll; und auch der Fokus auf Atmosphärisches hat für mich hier eine metaphorische Bedeutung: Atmosphärisches ist eine sowohl soziokulturelle als auch naturwissenschaftliche, aber schwer fassbare, eben vage Konstruktion im Gesamt von Welt und Natur, so wie auch Beschreibungen

6

Vgl. KLOTZ, 2009, bes. 162ff.

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Peter Klotz

durch ihre Thematisierungen bemühte Konstrukte des schwer Fassbaren im Gesamt der wahrnehmbaren und beschreibbaren Welt, auch der fiktiven, sind. Aber nun doch die Frage: Warum gerade ‚Beschreiben‘? Eine ebenso notwendige wie langweilige Textsorte, so mag manche Erfahrung im Umgang mit Texten gehen. Das ist vielleicht gar nicht zu leugnen, und doch soll der Versuch neuer Entdeckungen hier gemacht werden – deshalb auch das anfängliche Gedicht. Befreit man erst einmal die Vorstellungen über das Beschreiben von vorgeblich ‚musterhaften Maximen‘ (wie objektiv, genau, vollständig, anschaulich) und hält sich dafür an ‚pragmatische und ästhetische Maximen‘ (wie absichtsvoll, informativ, pointierend, charakterisierend, spezifizierend), dann werden gewichtige Fragen nach den Interessen und Absichten der Mitteilenden relevant. Lässt man sich weiterhin darauf ein, dass nahezu alle Texte, alle Textsorten, nicht zuletzt durch deskriptive Komponenten mitkonstruiert werden, dann wird z. B. eine gewisse Affinität zwischen lyrischem Sprechen und deskriptivem Gestus wahrscheinlich. Was aber das Beschreiben ganz grundständig bedeutend macht, ist ein Weiteres, das sich aus einer Parallelität mit dem Erzählen ergibt: Der Mensch hat sich, so scheint mir, zwei grundständige Sprachhandlungen für seine unmittelbare Begegnung mit der Welt geschaffen. Die eine ist das Erzählen, mit der er seine Erfahrungen, real und/oder imaginativ, im Spiel von erzählter Zeit und Erzählzeit fasst. Die immerfort verlaufende Zeit hat diese Sprachhandlung, diese Weise zu reden und zu schreiben, in ihren textuellen Formen erheblich mit geprägt (man denke nur an die Zeitspiele in Kleists Marquise von O). Die andere Sprachhandlung betrifft die Begegnung mit der Welt, wiederum real oder auch imaginativ, sie betrifft das Wahrnehmen, und indem über diese Wahrnehmung gesprochen oder geschrieben wird, verändert bzw. verbessert sich die Wahrnehmung von Welt, es entsteht eine Art Blicklenkung auf die Welt durch den Text – das gilt sogar für die einfachste Wegbeschreibung. Worin sich aber das Beschreiben vom Erzählen unterscheidet, ist der schlichte Umstand, dass sich Erzählen immer in irgendeiner Weise der Kategorie Zeit stellen muss, während das Beschreiben sich seine Struktur gewissermaßen erst suchen bzw. soziokulturell gewachsenen Mustern sich anvertrauen muss; Strukturfragen sind zu klären wie etwa: Funktion vor der Form, Material vor

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Textprofile zwischen Konturierung und Vagheit

Funktion und Form, vom Gesamt zum Detail, vom Detail zum Gesamt und zurück? Die Frage nach den Textprofilen ist gestellt, nach sprachlichen Mikro- und Makroformen, nach Sprachhandlungsfolgen, nach kommunikativen und ästhetischen Zusammenhängen, wie sie sich stilistisch durch Markanz, Frequenz, kommunikative Funktion und ästhetische Funktion sprachlich und pragmatisch erfassen lassen. Dabei muss insgesamt bei solchen Strukturfragen mit erwogen werden, dass sich durch die Kommunikationspraxis gewisse ‚Muster‘ herausgebildet/konventionalisiert haben. Sie sind aber keinesfalls absolut – etwa im Sinne einer Formulierungspräskription – zu setzen. Sie zu kennen oder auch nur sie zu hypostasieren, bedeutet zum einen, Einsichtsmöglichkeiten zu schaffen, und somit – dies zum zweiten – das kommunikative, rhetorische Variantenspiel in seinen Modi zu durchschauen und darzustellen. Solche Muster bzw. Konventionen bestehen, wie J. Ossner gezeigt hat: Möglichkeiten sind: - vom Anfang zum Ende (zeitlich) - vom Auffälligen zum Unauffälligen - vom Hervorstechenden zum Unscheinbaren - vom Bedeutsamen/Wichtigen zum Unbedeutenden… - direktional von links nach rechts, - vom allgemein Bekannten zum Unbekannten; - vom gesellschaftlich Anerkannten zum Tabuisierten, - vom erwartet Unterstelltem zum Unbekannten und jeweils umgekehrt, wobei diese Liste vermutlich ergänzbar ist.7

Brinkmanns Gedicht beginnt mit dem Hervorstechenden, hört aber nicht mit dem Unbedeutenden auf, im Gegenteil. Aber dies ist der Akzent seines lyrischen Spiels. Neben Ordnungsversuchen, wie sie Jakob Ossner aufgelistet hat, scheint mir vor allem die Gestalttheorie wesentliche Hinweise für die ‚Gestaltung‘ von Beschreibungen zu liefern (zu überlegen wäre auch, inwieweit dies für das Erzählen und dort auch für eingelagerte deskriptive Textstellen gilt). Es erweist sich nämlich, dass unsere Wahrnehmung bestimmten Routinen folgt, die einer – ironisch gesagt – gewissen 7

OSSNER, 2005, S. 70.

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Peter Klotz

Ordnungssucht folgt, welche freilich recht erklärbar ist. Das zeigt sich z. B. an den Reaktionen auf einen klassischen gestalttheoretischen Test:

Die Beispiele I-IV und unsere üblichen Reaktionen zeigen, wie sehr wir gemeinhin auf Orientierung aus sind: Wir organisieren unsere Wahrnehmung nach Mustern und schließen damit andere Möglichkeiten erst einmal aus. Mit Beispiel I ist das gestalttheoretische ‚Gesetz der Nähe‘ veranschaulicht – wir sehen eben nicht acht Striche, sondern vier Parallelen; mit Beispiel II das ‚Gesetz der Ähnlichkeit‘ – wir stellen horizontale Linien her und eben nicht variierende vertikale; Beispiel III verweist auf das ‚Gesetz des glatten Verlaufs‘ – wir hätten Mühe, uns auf die schrägen Dreieckskonfigurationen einzulassen; und Beispiel IV steht für das ‚Gesetz der Geschlossenheit‘ – wir phantasieren beim größeren Kreis für das verdeckte Segment eben nicht eine zackige Linie;

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Textprofile zwischen Konturierung und Vagheit

die Möglichkeiten IIIa und IVa bedürfen eines besonderen denkenden Bemühens. Wenn solche Wahrnehmungsgesetzmäßigkeiten fast immer gelten und wirken, dann hat das für das Gestalten – auch von Texten! – zwei Konsequenzen: (1) Darstellungen müssen, wollen sie gut und glatt funktionieren, sich an solchen – und anderen – Routinen bzw. Erwartungen orientieren. (2) Und: Wer das Besondere darstellen und eine komplexe Aufmerksamkeit erreichen will, durchbricht solche Gestaltungsroutinen. Gestalthaftes kann aber nur in seiner spezifischen Eigenart aufscheinen, wenn Anderes, vielleicht auch Dazugehöriges im Vagen bleibt. Vagheit8 des Übrigen ist Teil und notwendige Bedingung einer Thematisierung. Da dies so ist, brauchen wir sowohl allgemein als auch textlinguistisch den Begriff des Kontextes9, der selbst wiederum so schwer zu fassen ist. In Brinkmanns Gedicht spielt das allgemein bekannte Köln mit Rhein und Dom eben doch eine Rolle, auch wenn es nicht thematisiert wird, schemenhaft, vage, und umso deutlicher und markanter wirkt die In-Szene-Setzung des „schwarzen Tangos […] in dieser Straße, / die niemand liebt und atemlos / macht […]“. Vagheit also als die Unschärfe (vagari – umherschweifen), die die Spannung zum Eigentlichen, zum Thema spürbar macht. Man muss nur die Probe machen: Köln müsste nicht unbedingt in diesem Text genannt werden; lässt man das „Köln“ im Gedicht weg, fehlt eben doch Wichtiges. Dieser Augenblick muss konkret beschrieben werden, und deshalb die zweifache Erwähnung Kölns in der ersten und vorletzten Zeile. – Texte sind Makrozeichen, und das Verhältnis von Denotat, Konnotat und Assoziationen bedarf der bewussten Klärung. (3) Schließlich ist m. E. noch eine dritte Konsequenz zu ziehen: Mikroformen und Makroform bilden einen funktionalen, gestalthaften Zusammenhang, so wie er beispielsweise immer auch bei systemlinguistischen Stiluntersuchungen hergestellt wurde und wird. Nicht zuletzt unser Wort ‚Text‘, mit ‚Textur‘ oder z. B. mit ‚Teppich‘ in Verbindung gebracht, verweist darauf, dass gewissermaßen jeder Faden ein notwendiges Teil des Ganzen ist und seine Wirkung tut. Das alles mag ein wenig mechanistisch klingen, bleibt aber unter kognitionswissenschaftli8 9

VON HAHN, 1998, S. 383-390; vgl. auch www.de.wikipedia.org/wiki/vagheit, 16.12.2010. PORTMANN-TSELIKAS/WIEDACHER, 2010.

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cher Perspektive gewichtig: Unser Denken, Schreiben und Rezipieren operiert sehr stark Gestalt-orientiert. Vorläufig zusammenfassend lässt sich für die noch anstehenden stilistischen Textbeobachtungen festhalten: Es interessieren markante pragmatische und systemlinguistische Aspekte der Konturierung von gestalthaften Textprofilen, unter Akzeptanz von sinnvoller Vagheit, eben damit die Thematisierung eines Textes umso deutlicher als Textinszenierung hervortritt.

III Dazu wird ein literarischer Prosatext herausgegriffen, der inhaltlich weit ab von Brinkmanns Gedicht liegt: Die Schilderung einer Schneekatastrophe, wie man heute sagen würde, aus dem Schnee-Kapitel in Thomas Manns Zauberberg10. Ich konzentriere mich bei der folgenden Textbeschreibung und -analyse auf diesen Textabschnitt und versage mir hier die symbolischen und metaphorischen Bezüge: Statt der Sonne jedoch gab es Schnee, Schnee in Massen, so kolossal viel Schnee, wie Hans Castorp in seinem Leben noch nicht gesehen. Der vorige Winter hatte es in dieser Richtung wahrhaftig nicht fehlen lassen, doch waren seine Leistungen schwächlich gewesen im Vergleich mit denen des diesjährigen. Sie waren monströs und maßlos, erfüllten das Gemüt mit dem Bewusstsein der Abenteuerlichkeit und Exzentrizität dieser Sphäre. Es schneite Tag für Tag und die Nächte hindurch, dünn oder in dichtem Gestöber, aber es schneite. Die wenigen gangbar gehaltenen Wege erschienen hohlwegartig, mit übermannshohen Schneewänden zu beiden Seiten, alabasternen Tafelflächen, die in ihrem körnig kristallischen Geflimmer angenehm zu sehen waren und den Berggästen zum Schreiben und Zeichnen dienten, zur Übermittlung von allerlei Nachrichten, Scherzworten und Anzüglichkeiten. Aber auch zwischen den Wänden noch trat man stark auf gehöhten Grund, so tief auch geschaufelt war, das merkte man an lockeren Stellen und Löchern, wo plötzlich der Fuß einsank, tief hinab, wohl bis zum Knie; man hatte

10 MANN, 1958, S. 429f.

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Textprofile zwischen Konturierung und Vagheit gut achtzugeben, dass man nicht unversehens das Bein brach. Die Ruhebänke waren verschwunden, versunken; ein Stück Lehne etwa ragte noch aus ihrem weißen Begräbnis hervor. Drunten im Ort war das Straßenniveau so sehr verlegt, dass die Läden im Erdgeschoß der Häuser zu Kellern geworden waren, in die man auf Schneestufen von der Höhe des Bürgersteiges hinabstieg. […] [M]an frühstückte beim künstlichen Schein der Lüstermonde im Saal mit den lustig schablonierten Gewölbegurten. Draußen war das trübe Nichts, die Welt, in grauweiße Watte, die gegen die Scheiben drängte, in Schneequalm und Nebeldunst dicht verpackt. Unsichtbar das Gebirge; vom nächsten Nadelholz allenfalls mit der Zeit ein wenig zu sehen: beladen, stand es, verlor sich rasch im Gebräu, und dann und wann entlud eine Fichte sich ihrer Überlast, schüttelte stäubendes Weiß ins Grau.

Prosatexte zeigen ihren Stil, ihr Profil nicht so offen wie Gedichte. Die Formen harren der Entdeckung. Doch bestätigt sich allemal das bisher Beobachtete: die Informationsverdichtung durch Attributhäufung, die kommunikativ ja nur gelingen kann, wenn die übrige syntaktische Struktur einfach bleibt. Dafür ist sogleich der erste Satz der eigentlichen Beschreibung ein guter Repräsentant: „[…] Wege erschienen hohlwegartig […].“ Und es bestätigt sich, was man über Thomas Manns Stilgebaren gemeinhin weiß, nämlich die komplexe Syntax, die eben hier durch die Attribuierungen entsteht. So wird das Vergleichswort „hohlwegartig“ einerseits sofort erläutert (durch „Schneewände“), andererseits wird die Beschreibung weiter bebildert durch eine Mischung aus Vergleichen („alabastern“) und deskriptiv metaphorisierender Sprachsuche („Tafelflächen“), und schließlich wird pragmatisch neben das Deskriptive das Bewertende gesetzt („angenehm zu sehen“). Gerade dieser pragmatische Einschub des Bewertens leistet textuell die Kontinuität des Narrativen: die Berggäste und ihr Verhalten werden in die Darstellung integriert. Der Fortgang des Textes führt über die Darstellung der Gefahren, denen die Berggäste nun durch den Schnee ausgesetzt sind, zurück zur reinen Beschreibung („Die Ruhebänke waren verschwunden“). In solchem pragmatischen Wechsel geht der Text fort und ist natürlich das geeignete Szenario, um Hans Castorp schließlich durch die amorph gewordene Schneelandschaft taumeln und sich fast

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verlieren zu lassen. – Thomas Manns Sprachkunst galt viele Jahre als vorbildlich und kaum wieder erreichbar, und Stillehren gefielen sich bis in die Schule hinein, sogenannte verbale ‚Verlebendigungen‘ zu feiern, wie sie auch in unserem Abschnitt zu finden sind: da ragt ein Stück aus dem Schnee, oder „die Welt, in grauweiße Watte, die gegen die Scheiben drängte“ [Herv. P. K.] sind dafür Beispiele. Auch dies letztlich eine Sprachsuche, die auf einen ganz eigentümlichen Fragenzusammenhang des Beschreibens verweist, nämlich: Wer beschreibt da bzw. nimmt der Beschreibende einen Sehepunkt und somit eine Perspektive ein, oder entwickelt er vom zu beschreibenden Objekt her relevante Aspekte? Auch dies sind Stilfragen, nämlich im Sinne Buffons (s. o.).

IV Das Deskriptive ist jener Sprachgestus, der jenseits von reinem Benennen und jenseits von z. B. aktionistischem Heruntererzählen oder logischem Argumentieren einerseits mit attributhaften Zuschreibungen seine Sprach-Bilder formen und der andererseits über Vergleiche, Metaphern, Bildähnlichkeiten und gestalthafte Nähe seine Sprache gewinnen muss. Dieser Gestus ist eine Suche, die vom Benennen zwar ausgehen kann („Tango“; „Schnee“), aber dann mit höher vertrauter Welterfahrung jene andere, nämlich die thematisierte Weltumgebung darstellen oder imaginieren und immer wieder zu gut fassbaren Ganzheiten führen muss. Ganzheiten, die ich immer wieder Blick- und Aufmerksamkeitslenkungen nennen möchte. Und so mag sich erklären, warum Einsicht ins Deskriptive dann gelingen kann, wenn man – fast systematisch – auf Thematisierung und ihre ‚Ausstattung‘, also ihre Attribute im weitesten, und nicht nur grammatischen Sinne, in der Weise ihrer Gestalthaftigkeit achtet. Ebenso kann der Blick auf die Mikropragmatik lohnen, wenn z. B. im Brinkmann-Gedicht ein einziger Augenblick geradezu beschworen und später festgehalten wird oder wenn im Textabschnitt aus dem Zauberberg ein plüschiger Frühstücksraum – so meine angeregte Phantasie – und der Gebirgswinter deskriptiv kontrastiert werden. – Pragmatisch kommt hinzu, dass das Deskriptive fast immer in der Nähe von ‚Hinweisen‘, ‚Abgrenzen‘, ‚Hinzufügen‘, ‚Kontrastieren‘, ‚Erläutern‘ und ‚Bewerten‘ (u. a. m.) steht.

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Textprofile zwischen Konturierung und Vagheit

Ich könnte mir zum Schluss nun vorwerfen, dass ich noch längst nicht zu dominant beschreibenden Texten, insbesondere nicht zu Alltagstexten gekommen bin. Ich bedaure dies, aber ich nehme dafür in Anspruch, gerade über deskriptive Grenzfälle in Lyrik und Prosa, die dem Narrativen nahe stehen, mich auf das eigentlich Deskriptive und somit auf wesentliche Konstituenten des Beschreibens zubewegt zu haben. Selbstkritisch kann man noch fragen, war das alles nicht so schon bekannt? – Die Antwort lautet: Vielleicht; vielleicht aber noch nicht so gebündelt. Zum einen scheint mir das mäeutische Prinzip für die Beschreibung geradezu notwendig, nämlich das eigentlich Gewusste (wieder) ins Bewusstsein zu heben. Zum anderen lohnt für das Beschreiben die Distanz zu allen Vorstellungen von Vollständigkeit, Objektivität und vielleicht zu einem zu umfassenden Begriff von Anschaulichkeit; stattdessen gilt es, auf die perspektivisch11 inszenierten Thematisierungen und ihre aspekthaften Spezifizierungen zu achten, sprachsystematisch und pragmatisch. Und mit genau diesen Behauptungen mag die eigentliche Suche nach dem Deskriptiven und seiner oft übersehenen Attraktivität beginnen.

Literatur BRINKMANN, ROLF DIETER, Einen jener klassischen, in: Westwärts 1&2, Reinbek 1975, S. 25. CHRISTMANN, URSULA, Rhetorisch-stilistische Aspekte moderner Verstehens- und Verständlichkeitsforschung, in: Rhetorik und Stilistik (HSK 31.1), hg. von ULLA FIX u. a., Berlin/New York 2008, S. 1092-1106. KLOTZ, PETER, Syntaktische und textuelle Perspektiven zu Stil und Textsorte, in: Stil, Stilistik, Stilisierung, hg. von EVA NEULAND/HELGA BLECKWENN, Frankfurt a. M. u. a. 1991, S. 39-54. DERS., Politeness and political correctness, in: Pragmatics 9,1 (1999), S. 155-162. DERS., Die Wahrnehmung, die Sinne und das Beschreiben, in: Beschreibend wahrnehmen – wahrnehmend beschreiben. Sprachliche

11 KÖLLER, 2005, S. 25-44.

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Peter Klotz

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II Epochenstil

Parataxe und Hypotaxe als stilbildende Elemente in der Erzählkunst WOLFGANG G. MÜLLER

1. Das Problem Dass Ausmaß und Grad der Verwendung von Parataxe und Hypotaxe Stile von Autoren, Epochen und Gattungen charakterisieren können, ist seit der Antike bekannt. So steht der Periodisierungskunst eines Cicero der bündige, parataktische Stil des Tacitus gegenüber. Und dem auch auf syntaktische Expansion gerichteten Stilideal des Asianismus wurde der Attizismus entgegengesetzt, der einen schlichten, klaren und einfachen Stil forderte. Die Auseinandersetzung zwischen Attizismus und Asianismus lebte in der Renaissance im Streit über die Cicero-Nachahmung wieder auf, als die Imitatoren Ciceros von Befürwortern eines natürlicheren Ausdrucks wie Erasmus von Rotterdam angegriffen wurden. Dass sich auch literarische Gattungen durch unterschiedliche Grade der syntaktischen Komplexität in der Sprachverwendung unterscheiden, macht die rhetorische und poetologische Theorie der drei Stilarten deutlich, die dem leichten Stil (genus humile), dem mittleren Stil (genus medium) und dem erhabenen, schweren Stil (genus sublime/grande) jeweils verschiedene literarische Gattungen zuordnete (rota Vergilii). Dabei ist der Satzstil ein wesentliches Definiens des Gattungsstils. Die Frage von Parataxe und Hypotaxe oder – anders ausgedrückt – von syntaktischer Nebenordnung (Koordination) und Unterordnung (Subordi-

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Wolfgang G. Müller

nation), die für die Profilierung des Satzstils, so die These dieses Beitrags, von zentraler Bedeutung ist, nimmt in der Rhetorik relativ breiten Raum ein, während sie in neueren Stillehren und Stilistiken eine geringere Rolle spielt. Die Rhetorik behandelt die unterschiedlichen Bauprinzipien der Syntax unter dem Begriff compositio, wobei die oratio soluta (eine lockere Folge von kurzen (meist Haupt-) Sätzen), die oratio perpetua (die steigernde Aneinanderreihung von Sätzen) und die Periode (ein Satzgefüge, das sich aus Haupt- und Nebensätzen zusammensetzt), unterschieden werden.1 In den ersten beiden Gestaltungsformen herrscht die Parataxe vor, in der dritten die Hypotaxe. Im Folgenden soll nicht der grundsätzlichen und sicher wichtigen Frage nachgegangen werden, ob und inwiefern Parataxe und Hypotaxe dazu beitragen können, Stile in Texten und Diskursen im Allgemeinen zu konstituieren oder zu profilieren. Die Fragestellung wird eingeschränkt auf die Erzählliteratur, in der ein deutliches Forschungsdesiderat vorliegt. Darstellungen zum Stil in der Erzählliteratur wie das viel benutzte Werk von Leech und Short2 lassen die Syntax als eigenen Untersuchungsgegenstand unberücksichtigt. Im Übrigen zeigt auch die linguistische Stilistik kaum Interesse an Fragen der Syntax.3 Die der hier vorgelegten Untersuchung zugrunde liegende These lautet, dass sich Erzählstile in hohem Maße als Satzstile verstehen lassen und dass bei der Konstitution von Satzstilen in der Erzählliteratur das Kriterium von Parataxe und Hypotaxe eine bedeutende Rolle spielt.4 Wenn die Rede von einer Interdependenz von Satz- und Erzählstil ist, muss allerdings stets auch der Anteil, den der Individualstil des Autors bei der Konstitution eines Stils hat, mit bedacht werden, und unter Umständen auch der Einfluss eines Epochenstils. Eine Vorbemerkung zu Gebrauch und Verständnis der Begriffe ,Parataxeʻ/,Koordinationʻ und ,Hypotaxeʻ/,Subordinationʻ ist noch zu machen. Die Begriffe werden hier weitgehend als syntaktische Phänomene im traditionellen Sinne verstanden, Parataxe als Aneinanderreihung von Hauptsätzen nach dem Prinzip der Gleichordnung (Koordina1 2 3 4

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Vgl. LAUSBERG, 1963, S. 147-151 (§§ 449-456). LEECH/SHORT, 1981; dasselbe gilt für das folgende, ebenfalls beliebte Studienbuch: SIMPSON, 2004. Vgl. z. B. ESSER ,1993. Die Untersuchung knüpft an eine frühere Arbeit des Verfassers an, die freilich nicht auf den Begriff des Stils bezogen ist: MÜLLER, 1993.

Parataxe und Hypotaxe als stilbildende Elemente

tion), Hypotaxe als Abhängigkeit eines oder mehrerer Nebensätze von einem Hauptsatz nach dem Prinzip der Unterordnung (Subordination). Für die syntaktische Analyse europäischer und amerikanischer narrativer Texte vom 18. bis zum 20. Jahrhundert sind diese Kategorien durchaus angemessen. Ein Satzgefüge wie „Nachdem sie den Wein getrunken hatte, legte sie sich schlafen“ kann also als eine Wiedergabe der Relation zweier Ereignisse in einer Beziehung von einem temporalem Nebensatz und einem Hauptsatz verstanden werden. Für kognitivfunktional orientierte Sprachwissenschaftler, die wie Sonia Cristofaro ein die Einzelsprachen übergreifendes Modell der Subordination entwickeln, das auch auf Sprachen mit einer anderen morpho-syntaktischen Struktur als die der europäischen Sprachen anwendbar ist, gründet sich die Vorstellung der Unterordnung auf eine Beziehung zwischen Ereignissen und nicht besonderen Satztypen.5 Im Rahmen unserer Untersuchung reicht dagegen die konventionelle Grammatik aus. Zu beachten ist allerdings, dass die Begriffe Subordination und Koordination mit Vorsicht zu verwenden sind. Es ist durchaus nicht selten, dass in einem Satzgefüge das semantische Gewicht im Nebensatz liegt und der Hauptsatz nur Nebensächliches oder Akzidentelles aussagt, wie z. B. in dem Satz „Die Nacht war gerade angebrochen, als der Mörder mit gezücktem Dolch unter dem Mantel in das abgelegene Haus eindrang.“ Ein entsprechender Fall ist die cum invers(iv)um-Konstruktion des Lateinischen, die dadurch gekennzeichnet ist, dass die übliche Gewichtung zwischen Haupt- und Nebensatz umgekehrt (,inversʻ) ist. Hier ist ein Beispiel einer deutschen Entsprechung dieser Konstruktion: „Kaum war er um die Ecke gebogen, als er die lang gesuchte Geliebte vor sich sah.“ Diese Konstruktion kann mit großer Wirkung als Stilistikum gebraucht werden. Der Hauptsatz bezeichnet einen eher belanglosen Sachverhalt, wodurch das Augenmerk auf das überraschend eintretende Ereignis gelenkt wird, das der Nebensatz wiedergibt. Wenn es sein kann, dass ein Nebensatz semantisch stärker gewichtet ist, als der damit verbundene Hauptsatz, wird die vielfach behauptete Hierarchisierung, die schon in

5

Vgl. CRISTOFARO, 2003, S. 2-3, passim.

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der Bedeutung des Begriffs der Subordination (Unterordnung) beschlossen ist, in Frage gestellt.6 Auch beim Umgang mit dem Begriff der Parataxe hat man sich vor einer unzulässigen Vereinfachung zu hüten. Keineswegs muss mit einer syntaktischen Gleichordnung (Koordination) eine semantische Gleichordnung einhergehen. Der Logisierung der Beziehungsverhältnisse zwischen Haupt- und Nebensätzen, die im Satzgefüge explizit markiert ist, kann in der Parataxe eine implizite Logisierung entsprechen, die vom Rezipienten entschlüsselt werden muss. Insofern kann man der Parataxe vielleicht ein größeres Suggestions- und Stimulationspotential zuschreiben als der Hypotaxe. Als ein Beispiel für die logische Kraft, die der Parataxe innewohnen kann, sei der Syllogismus angeführt, etwa in der Form: Sokrates ist sterblich. Alle Menschen sind sterblich. Sokrates ist ein Mensch. (Ergo) Sokrates ist sterblich. Diese parataktisch organisierte Schlussfolgerungsstruktur könnte auch in einem Satzgefüge ausgedrückt werden: „Wenn alle Menschen sterblich sind und wenn Sokrates ein Mensch ist, dann ist auch Sokrates sterblich.“ Der syntaktischen Periode fehlt jedoch die in der Parataxe gegebene Profilierung der Einzelaussagen, die den Leser/Hörer zum Mitdenken auffordert. Wenn im Folgenden von Parataxe gesprochen wird, ist sowohl die syndetische Parataxe (Koordination von gleich geordneten Sätzen markiert durch Partikeln wie ,undʻ) und die asyndetische Parataxe (Gleichordnung von unverbundenen Sätzen) gemeint. Wenn es auch plausibel erscheinen mag, dass die Parataxe historisch älter ist als die Hypotaxe, so lassen wir unsere Darlegungen dennoch mit der Hypotaxe beginnen. In dem Zeitraum, dem die herangezogenen Texte entstammen, lässt sich eine – wenn auch nicht lineare – Entwicklung von der Hypotaxe zur Parataxe erkennen. Der Siegeszug der Parataxe, der im 19. und 20. Jahrhundert stattfindet, schließt allerdings nicht 6

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Vgl. zu diesem in der Sprachwissenschaft viel diskutierten Problem etwa die beiden Sammelbände LEFÈVRE, 2000; FABRICIUS-HANSEN/RAMM, 2008.

Parataxe und Hypotaxe als stilbildende Elemente

aus, dass sich Autoren immer wieder auch der Hypotaxe als eines Stilmittels bedienen.

2. Der hypotaktische Stil im auktorialen Erzählen Als Beispiel für den charakteristischen Satz- und Erzählstil im auktorialen Erzählen wählen wir einen Ausschnitt aus der Darstellung einer der vielen Prügelszenen in Henry Fieldings Tom Jones (1749) (IX. Buch, 3. Kapitel). Fielding ist der wichtigste Begründer des auktorialen Romans in Europa, der einen allwissenden Erzähler geschaffen hat, der von einem (olympischen) Standpunkt über der Welt seiner Figuren aus erzählt und immer wieder Kontakt mit dem Leser aufnimmt, wobei die Beziehung von Erzähler (narrator) und Adressat (narratee) Bestandteil des fiktionalen Rahmens des Romans ist. In einer auf die Wiedergabe von physischer Aktion ausgerichteten Szene würde man eigentlich keine Auktorialität erwarten. Dies ist aber mitnichten der Fall. Beteiligt an dem in Rede stehenden Geschehen sind der Wirt des Gasthauses („[m]y landlord“) und seine Frau, die beide über den Protagonisten herfallen, und dessen Gefährte Partridge, der helfend herbeieilt. My landlord, whose hands were empty, fell to with his fist, and the good wife, uplifting her broom and aiming at the head of Jones, had probably put an immediate end to the fray, and to Jones likewise, had not the descent of this broom been prevented – not by the miraculous intervention of any heathen deity, but by a very natural though fortunate accident, viz., by the arrival of Partridge; who entered the house at that instant (for fear had caused him to run every step from the hill), and who, seeing the danger which threatened his master or companion (which you chuse to call him), prevented so sad a catastrophe, by catching hold of the landlady’s arm, as it was brandished aloft in the air.7

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Zitiert nach: The Works of Henry Fielding, 1903, Bd. 44, S. 263f.

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Die Passage präsentiert sich als eine komplexe syntaktische Periode in der ciceronianischen Tradition, die aus zwei Hauptsätzen („My landlord fell to with his fist“, „the good wife had probably put an immediate end to the fray“) und einer Vielzahl von Nebensätzen unterschiedlicher Art (Relativsätze, Temporalsätze, Partizipialsätze) besteht. Die Präsenz des Erzählers manifestiert sich in der Gestaltung der Periode, die sorgfältig zwischen wichtigen und weniger wichtigen Dingen unterscheidet und alle Aspekte des Geschehens innerhalb eines übergreifenden Beziehungssystems zur Sprache bringt. Das komplexe Satzgebilde stellt sich gewissermaßen als eine Handlung im Kleinen dar.8 So wie die Periode in souveräner Gestaltungskunst zu Ende geführt wird, also eine Spannung aufbaut, die sich am Ende löst, rundet sich auch die wiedergegebene Handlung ab, indem der Schluss der Passage zu ihrem Anfang zurückkehrt. Wenn es auch in den beiden ersten Zeilen der Passage so aussieht, als sei der Erzähler ganz nahe am Geschehen – es werden konkrete Aktionen benannt und es kommen nur konkrete Substantive wie „hand“, „fist“ und „head“ vor – so zeigt sich in der gesamten Peri8

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Als „little complex ,plotsʻ in themselves“ werden viele von Fieldings Sätzen bezeichnet in DOROTHY VAN GHENT, 1953, S. 18. Dass ganze Handlungseinheiten oder Episoden innerhalb eines komplizierten Satzgefüges wiedergeben werden, tritt bei Heinrich von Kleist markant auf. Es sei zumindest eine Passage aus Michael Kohlhaas zitiert. Sie gehört zu der Phase der Handlung, in der Michael Kohlhaas mit seinen fünf Kindern auf einem Wagen von Dresden nach Berlin gebracht wird und unterwegs auf die Jagdgesellschaft des Kurfürsten von Sachsen trifft. Kleist schiebt die Geschichte dieses Jagdtreffens unmittelbar in die Handlung um Michael Kohlhaas ein und kommt erst in einem Temporalsatz am Schluss wieder zu der Haupthandlung zurück: „Es traf sich dass der Kurfürst von Sachsen auf die Einladung des Landdrosts, Grafen Aloysius von Kallheim, der damals an der Grenze von Sachsen beträchtliche Besitzungen hatte, in Gesellschaft des Kämmerers, Herrn Kunz, und seiner Gemahlin, der Dame Heloise, Tochter des Landdrosts und Schwester des Präsidenten, andrer glänzenden Herren und Damen, Jagdjunker und Hofherren, die dabei waren, nicht zu erwähnen, zu einem großen Hirschjagen, das man, um ihn zu erheitern, angestellt hatte, nach Dahme gereist war; dergestalt, dass unter dem Dach bewimpelter Zelte, die quer über die Straße auf einem Hügel erbaut waren, die ganze Gesellschaft vom Staub der Jagd noch bedeckt unter dem Schall einer heitern vom Stamm einer Eiche herschallenden Musik, von Pagen bedient und Edelknaben, an der Tafel saß, als der Roßhändler langsam mit seiner Reuterbedeckung die Straße von Dresden daher gezogen kam.“ KLEIST, 2003, S. 82f. Leider ist eine Analyse dieses Satzes an dieser Stelle nicht möglich.

Parataxe und Hypotaxe als stilbildende Elemente

ode doch die Distanz9 dessen, der aus überlegener Perspektive ein Gesamtbild überblickt und wiedergibt, in dem nichts unverbunden und unerklärt bleibt. Das heißt, in der Gestaltung der Periode drückt sich Auktorialität aus. In einem noch profunderen Sinne manifestiert sich Auktorialität in den quasi parenthetischen Teilen der Periode, die eine Kommentarfunktion haben und den Leser einbeziehen. In einem dieser Einschübe ist die Rede davon, dass das Erscheinen von Partridge als Retter in der Not nicht die wunderbare Folge der Intervention einer heidnischen Gottheit („the miraculous intervention of any heathen deity“) sei, sondern eines ganz und gar natürlichen, wenn auch glücklichen Zufalls. Diese Hinzufügung hat poetologischen Charakter. Fielding weist das Wunderbare als Erklärung des dargestellten Geschehens zurück und spielt damit auf die zeitgenössische Romantheorie an, der zufolge im Roman als einer realistischen Gattung im Unterschied zur ,Romanzeʻ (romance) kein Platz für das Wunderbare ist. Ein anderer quasi parenthetischer Einschub bezieht sich auf das Verhältnis von Partridge zu dem Protagonisten, der als sein Herr oder Gefährte bezeichnet wird. Dem Leser wird in direkter Du-Anrede die Wahl gelassen, welche Benennung er wählen will – „(which you chuse to call him)“. Es lässt sich also erkennen, dass sich Auktorialität in der vorliegende Periode nicht nur in der Gestaltung des Satzgebildes mit ihrer konsequenten Logisierung aller Beziehungen manifestiert, sondern auch in dem innerhalb des Satzes erfolgenden Einbezug des Lesers, der angesprochen und dem hier eine eigene Urteilsfindung überlassen wird. Ein Stil liegt vor, wenn ein Text rekurrente sprachliche Elemente aufweist. Der hypotaktische Satzstil ist bei Fielding ständig präsent. Er ist das herausragende stilbildende Element in seinen Romanen. Diese Eigenschaft ist unlöslich mit dem auktorialen Erzählen verbunden, das Fielding als erster Romancier in der Literaturgeschichte in vollem Umfang und zugleich in beispielhafter Vollkommenheit realisiert hat. Der hypotaktische Satzbau ist in diesem Fall auch ein Zeichen des Individualstils. Fielding hat eine Vorliebe für den ciceronianischen Periodenbau. Bei ihm trägt somit die persönliche Neigung zu einem komplexen Satzstil zur Entwicklung des auktorialen Erzählens bei, das stilistisch in 9

Mein Kollege Claus Ensberg spricht mit Bezug auf die Hypotaxe in der Erzählung von einem „Instrument der Distanz“.

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hohem Maße durch die Hypotaxe bestimmt ist. Um diese Erkenntnis zu bestätigen, ist selbstverständlich ein breiteres Textkorpus zu berücksichtigen. Ich beziehe mich deshalb noch auf einen deutschen Erzähler. Ein Beispiel könnte Christoph Martin Wieland sein, dessen Romane gerade auch stilistisch ohne Fieldings Modell gar nicht denkbar wären. Besser geeignet ist aber Thomas Mann, ein unbestrittener Meister des syntaktischen Periodenbaus, der wohl nicht in der Nachfolge Fieldings steht und in seinem ironisch-abwägenden Stil sein eigenes Profil findet. An einer Stelle im Zauberberg (1924) verkündet der Erzähler, dass er jederzeit das Recht hat, sich mit seinen eigenen Überlegungen und Kommentaren in die Erzählung einzumischen: Wie jedermann, nehmen wir das Recht in Anspruch, uns bei der hier laufenden Erzählung unsere privaten Gedanken zu machen, und wir äußern die Mutmaßung, daß Hans Castorp die für seinen Aufenthalt bei Denen hier oben ursprünglich gesetzte Frist nicht einmal bis zu dem gegenwärtig erreichten Punkt überschritten hätte, wenn seiner schlichten Seele aus den Tiefen der Zeit über Sinn und Zweck des Lebensdienstes eine irgendwie befriedigende Auskunft zuteil geworden wäre.10

Hier wird das auch bei Fielding vertretene Prinzip auktorialen Erzählens zum Ausdruck gebracht, das darin besteht, dass der Erzähler nicht nur aus überlegener Position als Allwissender vorträgt, sondern dass er sich selbst mit seinen Überlegungen und Kommentaren in die Erzählung integriert. Das ist nun wie bei Fielding nicht nur so zu verstehen, dass der Erzähler sich jederzeit mit eigenen Kommentaren und – wie hier – mit „Mutmaßung[en]“ einmischt, sondern auch so, dass das auktoriale Element auch in die berichtenden und beschreibenden Passagen eindringt. Als Beispiel sei eine Passage zitiert, die sich dem Humanisten Settembrini widmet: Ein Blinder hätte bemerken müssen, wie es um ihn stand: er selbst tat nichts, um es geheimzuhalten, eine gewisse Hochherzigkeit und noble Einfalt hinderte ihn einfach, aus seinem Herzen eine Mördergrube zu machen, worin er sich immerhin – und vorteilhaft, wenn man will – von

10 MANN, 1928, S. 388.

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Parataxe und Hypotaxe als stilbildende Elemente dem dünnhaarigen Verliebten aus Mannheim und seinem schleichenden Wesen unterschied.11

Dass es der Erzähler ist, der in der Beschreibung Settembrinis eine Wertung abgibt, wird deutlich im ironischen Stil, der zum Beispiel Winckelmanns „edle Einfalt“ zu „noble[r] Einfalt“ macht, und vor allem in dem mit „worin“ eingeleiteten Relativsatz und mehr noch in der in den Nebensatz eingelagerten Parenthese „und vorteilhaft, wenn man will“. Auf eine Analyse eines längeren Satzgebildes wird hier verzichtet.12 Es soll nur noch auf den „Vorsatz“ der den Zauberberg eröffnet, hingewiesen werden, der nicht ein gewöhnlicher Paratext im Sinne von Gérard Genette ist: Er ist nämlich kein außerfiktionaler Textteil. In ihm spricht nicht die Autor-Person Thomas Mann, sondern bereits der auktoriale Erzähler: Die Geschichte Hans Castorps, die wir erzählen wollen, – nicht um seinetwillen (denn der Leser wird einen einfachen, wenn auch ansprechenden jungen Menschen in ihm kennenlernen), sondern um der Geschichte willen, die uns in hohem Maße erzählenswert scheint (wobei zu Hans Castorps Gunsten denn doch erinnert werden sollte, daß es s e i n e Geschichte ist und daß nicht jedem jede Geschichte passiert): diese Geschichte ist sehr lange her, [...].13

Hier zeigt sich markante auktoriale Präsenz, die sich vor allem im Gebrauch der Hypotaxe manifestiert. Der Erzähler sagt, sehr vereinfacht formuliert, dass er seine Geschichte nicht um des Helden, sondern um der Geschichte willen erzählt. Diesen Sachverhalt drückt er aber mit vielen Einschränkungen und Nuancierungen aus, die in der Form von Nebensätzen geäußert werden. Im ersten Nebensatz, einem Relativsatz, erfolgt ein Bezug auf das Erzähler-Ich. Im zweiten Nebensatz, einem Kausalsatz, der mit „denn“ eingeleitet wird und also streng genommen kein Nebensatz ist, dessen untergeordnete Bedeutung hier allerdings durch die Einklammerung signalisiert ist, wird die Erzähler-LeserBeziehung (narrator-narratee relation) aufgerufen. Im dritten, eben11 Ebd., S. 398. 12 Siehe z. B. MARSCHALL, 2000, S. 141f. 13 MANN, 1928, S. 9.

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falls in Klammern gesetzten Nebensatz, einem weiterführenden Relativsatz mit zwei folgenden Objektsätzen wird das abwertende Urteil über den Protagonisten abgeschwächt. Daraufhin bricht der mäandernde Satz ab und der Erzähler setzt in für Thomas Mann charakteristischer Weise mit dem Subjekt des Satzes neu an: „diese Geschichte [...]“ Diese Passage illustriert in nuce das Verfahren der auktorialen Selbstkundgabe bei Thomas Mann. Es handelt sich dabei um ein ständiges Urteilen und Abwägen, das immer wieder Modifikationen der Aussagen, Nuancierungen, Einschränkungen und Abschwächungen einschließt. Auktorialität äußert sich hier in einer ganz anderen – einer modernen – Weise als bei Fielding, dessen Erzähler gewissermaßen als Souverän über seine Erzählung herrscht und, selbst wenn er seine Allwissenheit für einen Moment verbirgt, kaum einmal die Zügel aus der Hand lässt. In beiden Fällen ist es aber die Syntax und speziell der hypotaktische Stil, in dem sich Auktorialität bekundet.

3. Die Par ataxe im modernen Aktionserzählen Nach der Erläuterung der Kunst des hypotaktischen Stils bei Fielding und Mann mag der parataktische Stil, mit dem wir uns jetzt befassen wollen, wie ein Rückfall in die Barbarei erscheinen. In der Tat ist die Parataxe in der Erzählkunst des 20. Jahrhunderts, wenn es die betreffenden Autoren auch nicht wissen oder nicht wissen wollen, eine Rückkehr zu früheren Formen des Erzählens.14 Dass der parataktische Stil auf seine eigene Art höchste Kunst repräsentieren kann, soll zunächst an einer Passage aus Dashiell Hammets Detektiverzählung Fly Paper veranschaulicht werden: „Babe liked Sue. Vassos liked Sue. Sue liked Babe. Vassos didn’t like that.“15 Hier sind gleich gebaute Hauptsätze lakonisch nebeneinander gestellt. Die Prädikate sind in den Sätzen identisch, nur der letzte Satz ist mit einer Negationspartikel versehen. Die Subjekte und Objekte werden allerdings wie in einem Puzzle-Spiel hin und her geschoben. In den ersten beiden Sätzen beziehen sich jeweils verschiedene Personen auf dasselbe Subjekt. Im dritten übernimmt das 14 MÜLLER, 1993, S. 81f. 15 HAMMETT, 1979, S. 56.

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Parataxe und Hypotaxe als stilbildende Elemente

Objekt die Subjektrolle und das Subjekt des ersten Satzes wird zum Objekt. In der denkbar knappsten Weise wird eine Dreiecksbeziehung dargestellt und eine Spannung aufgebaut, die im letzten der zitierte Sätze einen kritischen Punkt erreicht und, wie sich in der Folge zeigt, in Gewalttätigkeit umschlägt. Die Parataxe wird in diesen Sätzen auf ihre Essenz zurückgeführt. Die auf das Elementarste reduzierte Syntax ist hier gleichsam Narration. Die Passage lässt erkennen, welches semantische Potenzial der Parataxe innewohnen kann. Vom Leser wird dabei ein kognitiver Akt verlangt. Er (oder sie) muss das Puzzle lösen und die in der Konstellation von Hauptsätzen liegende Spannung erkennen. Zur Semantik der Parataxe gehört in diesem Fall noch, dass die in den Sätzen aufgebaute Spannung sich, wie die Erzählung weiter zeigt, in einer Gewalthandlung entlädt. Dabei ist das behavioristische Muster von Reiz und Reaktion zu erkennen. Noch deutlicher ist dieses Muster von stimulus and response in der folgenden Darstellung einer Schießerei aus derselben Detektivgeschichte zu erkennen: ,Hell with that,‘ he said and charged. I shot his right knee. He lurched toward me. I shot his left knee. He tumbled down. ,You would have it,‘ I complained.16

Das Gesetz des Handelns, das sich hier zeigt, ist das von Reiz und Reaktion. Das Anlegen der Waffe durch seinen Gegner veranlasst den Protagonisten und Ich-Erzähler der Geschichte zu einer Reaktion. Er schießt dem Gegner ins rechte Knie. Dessen nochmaliger Angriffsversuch provoziert einen zweiten Schuss, nun ins linke Knie. Da der Mechanismus von Reiz und Reaktion im Sinne des Behaviorismus nicht von Gedankenprozessen begleitet wird, ist es folgerichtig, dass keine logische Beziehung zwischen den Sätzen kenntlich gemacht wird. Es ist, nebenbei erwähnt, eine Erkenntnis der Verhaltenspsychologie, dass die Reaktion immer schneller und intensiver ist als die Aktion, womit übereinstimmt, dass in Schießduellen in Western-Filmen immer der Bandit zuerst zieht und der Held mit seiner Gegenreaktion erfolgreich 16 HAMMETT, 1979, S. 80.

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ist.17 Was die Beziehung zwischen Satz- und Erzählstil betrifft, so fällt hier der Einzelsatz mit dem Handlungsereignis zusammen. Stärker als hier könnte die Syntax wohl kaum mit der dargestellten Handlungsfolge interagieren. Das Erzählen als Abfolge von in Einzelsätzen wiedergegebenen Ereignismomenten wird dadurch noch intensiviert, dass jeder Hauptsatz einen eigenen Absatz bildet. Um wenigstens ein zeitgenössisches deutsches Beispiel für den Gebrauch der Parataxe anzuführen, sei Erich Maria Remarques Kriegsroman Im Westen nichts eues (1928) zitiert, in dem sich ebenfalls das Muster von ,Angriff, Gegenangriff, Stoß, Gegenstoßʻ findet:18 Wir sehen die Stürmenden kommen. Unsere Artillerie funkt. Maschinengewehre knarren. Gewehre knattern. Von drüben arbeiten sie sich heran. Haire und Kropp beginnen mit den Handgranaten. Sie werfen, so rasch sie können [...].19

Um das behavioristische Erzählen, das Romanciers wie Hemingway, Hammett und Chandler dem psychologischen Roman des Modernismus (James Joyce, Virginia Woolf, Dorothy Richardson) entgegenstellen, auch an einem Roman zu veranschaulichen, sei noch eine Kampfszene aus Hammetts The Maltese Falcon (1929) zitiert. Sie illustriert einen wichtigen Sachverhalt. Da der Mechanismus von Reaktion und Gegenreaktion nicht von Gedankenprozessen begleitet wird, ist es folgerichtig, dass das Subjekt als Agens und denkendes Ich von der Darstellung von Handlungsfolgen eliminiert ist und es – wie früher schon im Naturalismus – zur Tendenz kommt, dass Körperteile in der Rolle grammatischer Subjekte (Agentien) erscheinen: Spade’s elbow dropped as Spade spun to the right. Cairo’s face jerked back not far enough: Spade’s right heel on the patent-leathered toes anchored the smaller man in the elbow’s path. The elbow struck him beneath the cheek-bone, staggering him so that he must have fallen had he not been held by Spade’s foot on his foot. Spade’s elbow went on past

17 Dass dieses Verhaltensmuster auch eine moralische Dimension hat, sei damit nicht ausgeschlossen. 18 REMARQUE, 1984, S. 121. 19 Ebd., S. 106f.

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Parataxe und Hypotaxe als stilbildende Elemente the astonished dark face and straightened when Spade’s hand struck down at the pistol. Cairo let the pistol go the instant that Spade’s fingers touched it. The pistol was small in Spade’s hand. Spade took his foot off Cairo’s to complete his about-face. With his left hand Spade gathered together the smaller man’s coat lapels – the rubyset green tie bunching out over his knuckles – while his right hand stowed the captured weapon away in his coat pocket. Spade’s yellowgrey eyes were sombre. His face was wooden, with a trace of sullenness around the mouth. [...] Then Spade smiled. His smile was gentle, even dreamy. His right shoulder raised a few inches. His bent right arm was driven up by the shoulder’s lift. Fist, wrist, forearm, crooked elbow, and upper arm seemed all one rigid piece, with only the limber shoulder giving them motion. The fist struck Cairo’s face, covering for a moment one side of his chin, a corner of his mouth, and most of his cheek between cheekbone and jaw-bone. Cairo shut his eyes and was unconscious.20

Die Parataxe ist hier nicht so extrem realisiert wie in den zuvor analysierten Textpassagen, da vor allem die Darstellung von gleichzeitigen Handlungen eine – allerdings sehr sparsame – Verwendung auch der Hypotaxe erforderlich macht. Aber hier liegt insgesamt doch ein sehr gedrängter, auf die Wiedergabe physischer Aktion ausgerichteter parataktischer Satzstil vor. Auffällig ist, dass Körperteile – Ellbogen, Gesicht, Hand, Schulter, Arm, Faust – zu grammatischen Subjekten werden. Dies ist ein Zeichen eines reduktionistischen Menschenbilds, das Bewusstseinsvorgänge aus der Darstellung von Menschen und Handlungen eliminiert. Ein derartiger Erzählstil kann in Beziehung gesetzt werden zu der behavioristischen Psychologie als einer Psychologie ohne Seele, die sich in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts in Opposition zu der Tiefenpsychologie Sigmund Freuds entwickelte.21 Dies ist ein Beweis dafür, dass Erzählstile, deren Profil sich 20 HAMMETT, 1986, S. 43f. 21 Siehe MÜLLER, 1981.

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unserem Urteil zufolge wesentlich aus dem Satzstil ergibt, auch in kulturellen Kontexten gesehen werden können und müssen.

4. Freier indirekter Sti l, Bew usstseinsstrom: Zur Synt ax der Bew usstsei nsdarstellung Im freien indirekten Stil, der das figurengebundene Erzählen (figural narration) mit seiner Standpunkttechnik (point-of-view technique) kennzeichnet, ist die Hypotaxe schon deshalb eingeschränkt, weil das bei der indirekten Gedankenwiedergabe übliche verbum sentiendi (,er/sie dachteʻ) entfällt und es deshalb zu keiner syntaktischen Unterordnung der wiedergegebenen Gedanken unter die Erzählerstimme kommt. Die freie indirekte Wiedergabe der Gedanken einer Figur ist somit der expliziten Kontrolle des Erzählers entzogen, wobei es allerdings indirekte Formen der Einflussnahme gibt. So kann der Erzähler Ironie in die Gedankendarstellung einfließen lassen und er kann ein Vokabular benutzen, das der Figur nicht gemäß ist. Ein Beispiel für die ironische Darstellung der Gedankengänge einer Figur im freien indirekten Stil wäre die folgende Passage aus Jane Austens Emma, welche die illusionären Pläne wiedergibt, die die Protagonistin mit der unbedarften Harriet Smith hat: She would notice her; she would improve her; she would detach her from her bad acquaintance, and introduce her into good society; she would inform her opinions, and introduce her into good society. It would be an interesting, and certainly a very kind undertaking; highly becoming her own situation in life, her leisure, and her powers.22

Es gibt in dieser Passage kein Wort und keine Aussage, die nicht der Denkweise Emmas entsprechen. Aber in der Abfolge der parataktisch gereihten und meist anaphorisch mit „She would“ eingeleiteten Sätze lässt sich eine rhetorische Klimax (Gradation) erkennen, welche die übersteigerte Urteilsposition der Heldin ausdrückt, und in der Verwendung der Adverbien „certainly“, „very“, „highly“ im letzten der zitier22 AUSTEN, 1983, S. 54 (Kapitel 3).

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Parataxe und Hypotaxe als stilbildende Elemente

ten Sätze werden Selbstverliebtheit und Selbstlob deutlich. Die intensive Darstellung der Gedankenprozesse, die im Inneren der Figur stattfinden, ist somit ironisch gefärbt. Der Leser wird zur Einfühlung eingeladen und zugleich in Distanz gehalten. Was unser Thema betrifft, lässt sich sagen, dass die Syntax der in freier indirekter Form gehaltenen Passage parataktisch ist. Das gilt für den gesamten Roman. In einer späteren Passage, als Emma – irrtümlich – fürchtet, dass es zu einer Verbindung zwischen Harriet Smith und Mr. Knightley kommt, macht sie sich die heftigsten Vorwürfe, was wiederum im freien indirekten Stil ausgedrückt wird: Alas! Was not that her own doing too? Who had been at pains to give Harriet notions of self-consequence but herself? – Who but herself had taught her, that she was to elevate herself if possible, and that her claims were great to a high wordly establishment? – If Harriet, from being humble, were grown vain, it was her doing too.23

In dieser Folge von an sich selbst adressierten Fragen ist wiederum eine Klimax zu erkennen. Das wesentliche syntaktische Bauprinzip ist die Parataxe Es findet sich nur ein Ansatz zur Hypotaxe, der sich aus dem reflexiven Charakter der Passage erklärt. Es ist eine These dieses Beitrags, dass mit der Verwendung des freien indirekten Stils die Hypotaxe – und damit die syntaktische Komplexität des Stils – reduziert wird. Dabei ist allerdings zu beachten, dass die freie indirekte Gedankenwiedergabe eine große Amplitude aufweist zwischen eher reflexiven und durchaus auch hypotaktischen und eher emotionalen asyndetisch-parataktischen Verwendungsweisen. Die erstere Form findet sich in der folgenden Passage aus Jane Austens Persuasion (1816), deren Gegenstand die Reflexionen sind, welche die Protagonistin des Romans Anne Elliot angesichts der Möglichkeit eines Wiedersehens mit ihrem ehemaligen Verlobten Captain Wentworth anstellt: She would have liked to know how he felt as to a meeting. Perhaps indifference, if indifference could exist under such circumstances. He must be either indifferent or unwilling. Had he wished ever to see her again, he need not have waited till this time; he would have done what 23 AUSTEN, 1983, S. 403 (Kapitel 47).

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Wolfgang G. Müller she could not but believe that in his place she could have done long ago, when events had been early giving him the independence which alone had been wanting.24

Den Mutmaßungen der Heldin über die Gefühle Wentworths und sein Verhalten haftet Spekulatives und Unsicherheit an, was sich in dem hypotaktischen Satzbau mit den Konditionalsätzen und der Verwendung des Konjunktivs manifestiert. Eine derartige Verwendung des freien indirekten Stils weist auf Henry Jamesʼ Romankunst, etwa The Ambassadors (1903), voraus. Ganz anders aber ist die Verwendung des freien indirekten Stils in der Wiedergabe von Annes Reaktion auf das tatsächliche Wiedersehen mit Wentworth: „She had seen him. They had met. They had been once more in the same room.“25 In der parataktischasyndetischen Darstellung mit unverbunden nebeneinander gestellten Hauptsätzen spiegelt sich die Erregung der Heldin. Der hochemotionalen Verfassung, in der sich die Heldin befindet, wäre die Hypotaxe nicht gemäß.26 In der Darstellung von Annes Gefühlen nach einer Geste der Fürsorglichkeit von Seiten Wentworths ist die Parataxe im freien indirekten Stil ähnlich emotional gefärbt: „She understood him. He could not forgive her, – but he could not be unfeeling.“27 Stärker noch wird die Hypotaxe eingeschränkt und die Syntax gewissermaßen aufgelöst im inneren Monolog, wie ein Zitat aus dem im Allgemeinen als ersten inneren Monolog bezeichneten Roman Les lauriers sont coupés (1887) von Édouard Dujardin, der auch den Begriff ,monologue intérieurʻ prägte und 1931 auch eine theoretische Abhandlung – Le monologue intérieur – schrieb. Le garçon. La table. Mon chapeau au porte-manteau, retirons nos gants. Il faut les jeter négligemment sur la table, à côté de l’assiette; plutôt dans la poche du par-dessus; non, sur la table; ces petites choses sont de la tenue générale. Mon par-dessus au porte-manteau; je m’assieds; ouf; j’étais las. Je mettrai dans la poche de mon par-dessus mes gants. Illu-

24 AUSTEN, 1990, S. 59. 25 Ebd., S. 60. 26 Für derartige Satzfolgen wurde der Begriff „emotionales Asyndeton“ geprägt. Vgl. MÜLLER, 1992. 27 AUSTEN, 1990, S. 89.

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Parataxe und Hypotaxe als stilbildende Elemente miné, doré, rouge, avec les glaces, cet étincellement; quoi? le café; le café où je suis.28

Das Beispiel illustriert Dujardins Verständnis des inneren Monologs als eine alogische, inkohärente, assoziative Abfolge von Gedanken und Bewusstseinsinhalten, Gedanken in statu nascendi, das Rohmaterial des Bewusstseins, das, was dem Protagonisten in einer Alltagssituation, hier beim Betreten eines Cafés, durch den Kopf geht, aber nicht ausgesprochen wird oder als laut ausgesprochen intendiert ist. Ein Zeichen dafür, dass nicht kontinuierliche Gedankenprozesse abgebildet werden, sondern der Fluss dessen, was dem Protagonisten in den Sinn kommt – körperliche Empfindungen, Wahrnehmungen, Gefühle und auch Gedanken – ist die gelockerte Syntax, die isolierte Nominalphrasen, Fragen, Imperative, Exklamationen und auch einige vollständige Sätze einschließt. Dass hier ein Stil vorliegt, der die Figur charakterisiert, ist offensichtlich. Die Einstellung des Protagonisten drückt sich besonders deutlich in den beiden Hauptsätzen aus, welche seine Vorstellungen von vornehmem Verhalten, das negligéance-Ideal („Il faut les [gants] jeter négligemment sur la table“) und von stilvollem Benehmen („ces petites choses sont de la tenue générale“) ausdrücken. Das heißt, Residuen der normalsprachlichen Syntax sind in diesem Monolog noch vertreten. In dem Zitat zeigt sich eine geradezu totale Eliminierung der Hypotaxe, und auch die Parataxe wird zersetzt. Es finden sich zwar einzelne Hauptsätze, aber mehrheitlich isolierte Nominalphrasen, Ellipsen, Ausrufe etc. Der Grund dafür liegt darin, dass es sich nicht um die Wiedergabe einer kontinuierlichen inneren Rede, sondern um die Darstellung eines Gedanken-, Gefühls- und Assoziationsprozesses handelt, der im Bewusstsein eines Menschen abläuft, der sich in einer Alltagssituation befindet, die ihn allerdings auch emotional belastet. Dieses Verfahren ist jedoch nicht so weit getrieben, dass es etwa um die Verbalisierung vor- oder subsprachlicher Phänomene geht, an die sich der später entwickelte Bewusstseinsstrom (stream-of-consciousness) annähert.

28 Zitiert nach Project Gutenberg Literary Archive Foundation. Release Date: September 17, 2008 [EBook 26648].

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Wenn wir hier von einem Stil sprechen wollen, dann in dem Sinne, dass es sich um einen gänzlich vom etwaigen Erzähler losgelösten Stil handelt und natürlich auch nicht um einen Stil, den die Figur, deren Gedanken präsentiert werden, bewusst kultiviert. Es ist vielmehr ein Stil, der sich in der Darstellung des spezifischen Funktionierens von Bewusstseinsvorgängen konstituiert, also ein Phänomen, das in der Narratologie als ,mind-styleʻ bezeichnet wird und das man deutsch etwa als ,Bewusstseinsstilʻ bezeichnen könnte.29 Dass Romanciers Bewusstseinsstilen jeweils ein besonderes Profil verleihen können, bei dem auch die Syntax eine Rolle spielt, sei noch an zwei Beispielen aus James Joyces Ulysses (1922) veranschaulicht. Im ersten wird dargestellt, was Leopold Bloom, vor dem Schaufenster der Belfast and Oriental Tea Company stehend, durch den Kopf geht (Ulysses, Teil V: The Lotos Eaters) So warm. His right hand once more more slowly went over again: choice blend, made of the finest Ceylon brands. The far east. Lovely spot it must be: the garden of the world, big lazy leaves to float about on, cactuses, flowery meads, snaky lianas they call them. Wonder is it like that. Those Cinghalese lobbing around in the sun, in dolce far niente. Not doing a hand’s turn all day. Sleep six months out of twelve. Too hot to quarrel. Influence of the climate. Lethargy. Flowers of idleness. The air feeds most. Azotes. Hothouse in Botanic gardens. Sensitive plants. Waterlilies. Petals too tired to. Sleeping sickness in the air. Walk on rose leaves. Imagine to eat tripe and cowheel. Where was the chap I saw in that picture somewhere? Ah, in the dead sea, floating on his back, reading a book with a parasol open. Couldn’t sink if you tried: so thick with salt. [...]30

Diese Passage gibt den Strom von Vorstellungen, Assoziationen und Bildern wieder, die kaleidoskopartig im Kopf des Protagonisten ablaufen. Die einzige narrative Äußerung in der Passage ist der zweite Satz, der sich auf die Kartoffel bezieht, die Bloom in der Hosentasche als Talisman mit sich führt. Ein Merkmal der syntaktischen Gestaltung der Passage ist die starke Interpunktion, die dem Text einen Stakkato-Stil 29 Vgl. FOWLER, 1977; LEECH,/SHORT, 1981; NISCHIK, 1991. 30 JOYCE, 2000, S. 86f.

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verleiht: Elliptische Sätze, meistens in der Form von Nominalphrasen, oft auch Ein-Wort-Sätze, folgen rasch aufeinander. Prinzip der Folge von Vorstellungen ist die Metonymie. Bloom kommt von einer Vorstellung zu einer anderen nicht durch metaphorisches Denken, sondern er geht metonymisch von einer zu einer benachbarten oder angrenzenden Vorstellung über, anders als Stephen Daedalus, der eher metaphorisch denkt.31 Charakteristisch für den Bewusstseinsstil in der Darstellung von Blooms Innenleben ist der Nominalstil. Dieser ist einer Wahrnehmung gemäß, die sich an konkrete Gegenstände haftet, von denen aus er assoziativ zu immer neuen konkreten Bildern und Vorstellungen gelangt. Das Ganze ist die subjektive Evokation einer exotischen Welt. Dass Joyce dem Bewusstseinsstrom seiner Hauptfiguren – Stephen Daedalus, Leopold Bloom, Molly Bloom – in Ulysses jeweils ein eigenes stilistisches Profil gegeben hat, zu dessen Konturierung auch die Syntax beiträgt, sei zuletzt noch an einer Passage aus dem den Roman abschließenden, über fünfzig Seiten langen inneren Monolog der Molly Bloom (Penelope) gezeigt: […] that was a relief wherever you be let your wind go free who knows if that pork chop I took with my cup of tea after was quite good with the heat I couldnt smell anything off it Im sure that queerlooking man in the porkbutchers is a great rogue I hope that lamp is not smoking fill my nose up with smuts better than having him leaving the gas on all night I couldnt rest easy in my bed in Gibraltar even getting up to see why am I so damned nervous about that though I like it in the winter its more company O Lord it was rotten cold too that winter when I was only about ten I yes I had the big doll [...]32

Der Bewusstseinsstrom in dieser Passage leitet sich von dem Symptom einer kleinen Verdauungsstörung ab. Es handelt sich um einen Fluss der Vorstellungen, der sich aus Sinnesempfindungen, Assoziationen, Erinnerungen zusammensetzt und durchaus auch emotionale Zuspitzungen (wie in dem Ausruf „O Lord it was rotten cold“) aufweist und dessen Verständnis u. a. durch die Verwendung referenzloser (exophorischer) Pronomen („him“ in Zeile 5 etwa bezieht sich auf Leopold Bloom) er31 Vgl. LODGE, 1979. 32 JOYCE, 2000, S. 906.

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schwert wird. Betrachten wir die Passage nun unter syntaktischem Gesichtspunkt. Zunächst ist der totale Verzicht auf Interpunktion zu bemerken, was man als ikonisches Zeichen für den endlosen Fluss des Bewusstseins verstehen kann. Ein Satz kann definiert werden als eine in sich geschlossene sprachliche Einheit, die aus mehreren Wörtern (und elliptisch vielfach auch aus einem Wort) besteht und eine Sprechhandlung vollzieht. In älteren Definitionen wird oft gesagt, dass der Satz im schriftlichen Diskurs mit einem Punkt endet. Dadurch, dass Joyce Molly Bloom in ihrem inneren Monolog ohne Punkt und Komma reden lässt, wird das Prinzip der Abgeschlossenheit des Satzes aufgehoben. Zugleich wird das Wesen des Satzes als Aussage oder Sprechakt dadurch, dass sich die Figur in einem halbwachen Zustand befindet, negiert. Joyce hat dem Bewusstseinsstrom seiner Figur syntaktisch – geradezu durch den Verzicht auf die üblichen Eigenschaften der Syntax – ein bestimmtes stilistisches Profil mitgeteilt, das sich scharf vom interpunktionsreichen, abgehackt wirkenden Stil ihres Mannes unterscheidet. Es finden sich durchaus auch Teile in Molly Blooms Monolog, die sich als vollständige Sätze verstehen lassen wie „that queerlooking man in the porkbutchers is a great rogue“ oder „I couldnt rest easy in my bed in Gibraltar“, aber ihre Schlüsse sind nicht markiert und der Monolog wechselt ständig die Kontexte und die Zeitebenen, weil das gesamte Leben und besonders Mollys Liebes- und Eheleben simultan in ihrem Bewusstsein präsent ist. Wenn wir den gesamten Monolog Mollys im Hinblick auf die Frage von Hypotaxe und Parataxe in den Blick nehmen, ist zu sagen, dass die Hypotaxe in Ansätzen durchaus zu beobachten ist – man denke nur an den Anfang ihres Monologs – , dass es aber immer wieder zu Übergängen in neue Kontexte kommt, die syntaktisch nicht explizit an das Vorausgehende angebunden sind. Dass die Hypotaxe dem Bewusstsein der Figur fremd ist, zeigt sich auch darin, dass Konjunktionen wie „because“, die eigentlich Zeichen von grammatischer Subordination sind, von Molly alogisch gebraucht werden.33 Auch von der Parataxe im Sinne einer Koordination von Hauptsätzen lässt sich in diesem Text schwerlich reden, da keine Konsistenz und Konsequenz in der Aufeinanderfolge von syntaktischen Einheiten vorliegt. 33 Vgl. MÜLLER, 1993, S. 87-90.

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Es kann also festgestellt werden, dass das Problem von Parataxe und Hypotaxe für die Analyse von Leopold und Molly Blooms Bewusstseinsströmen weitgehend ohne Relevanz ist. Die traditionelle Rhetorik, Grammatik und Syntax sind hier im Großen und Ganzen außer Kraft gesetzt. Dass die inneren Monologe dieser Figuren jeweils in hohem Maße ein eigenes Stilprofil besitzen, das auch syntaktisch bestimmt ist, dürfte allerdings zweifelsfrei nachgewiesen worden sein.

5. Der kogniti ve Aspekt der Verw endung von Parataxe und Hypot axe in der Erzähl kunst Die Frage, welche Kognitionsleistungen bei der Produktion und Rezeption der unterschiedlichen Satzstile in der Erzählkunst im Spiel sind, scheint noch nicht gestellt worden zu sein. Peter Stockwells sehr nützliche kognitive Poetik34 etwa enthält ein Kapitel über Cognitive Grammar und eines über arrative Comprehension, aber die Syntax bleibt unberücksichtigt. Die folgenden abschließenden Bemerkungen können dieses Thema nur anreißen. In der Verwendung von Parataxe und Hypotaxe in narrativen Texten zeigen sich unterschiedliche Formen der Strukturierung. Während die Hypotaxe logische Zusammenhänge und Abhängigkeitsverhältnisse explizit bezeichnet, verzichtet die Parataxe auf die ausdrückliche Logisierung der Relationen zwischen den Einzelsätzen. Aus diesem Gegensatz ergeben sich unterschiedliche kognitive Leistungen, die der Leser erbringen muss. Der hypotaktischperiodische Satzbau fordert zu einer intellektuellen Anstrengung heraus: der Durchdringung und dem Nachvollzug der vorgegebenen Strukturen. Das ist für den Rezipienten, selbst wenn ein Erzähler wie bei Fielding sich der Ironie bedient und mit dem Leser spielt, eine wenn auch fordernde, so doch letztlich unproblematische Aufgabe, da der allwissende Erzähler keinen Zweifel an seiner Deutungshoheit lässt und selbst seine komplizierteren Satzgebilde transparent für die Bedeutung sind. Bei einem modernen Erzählkünstler wie Thomas Mann, der mit Hilfe der Hypotaxe Einschränkungen, Nuancierungen und vielfach eine ironische Subversion der Urteilsposition des Erzählers vornimmt, ist der 34 Vgl. STOCKWELL, 2002.

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Leser intellektuell anders gefordert. Er muss sich auf das Spiel, das der Erzähler mit ihm treibt, einlassen, auch wenn letztlich epistemologische Unsicherheiten bleiben mögen. Die Parataxe stellt auf den ersten Blick weniger Anforderungen an den Leser. Während bei der Lektüre eines Texts, der wie etwa bei Fielding, Kleist und Mann in einem periodischen Satzstil geschrieben ist, erst einmal das Satzgefüge durchdrungen und verstanden werden muss, verlangt der parataktische Stil nicht eine derartige intellektuelle Anstrengung. Die Parataxe, welche die Beziehungen zwischen den Einzelsätzen nicht explizit logisiert, beansprucht den Leser aber anders. Sie verlangt insofern eine imaginative Leistung, als die nicht ausdrücklich kenntlich gemachten logischen Beziehungen zwischen den Sätzen im Verstehensprozess selbst hergestellt werden müssen. Das ist in gesteigerter Form in der parataktischen Asyndese der Fall, die eine eher expressive oder eine eher kognitive Funktion haben kann. In der Entwicklung der Bewusstseinsdarstellung im Roman vom 19. bis ins 20. Jahrhundert lässt sich eine Zunahme des parataktischen Satzstils feststellen, dessen Konsistenz allerdings zunehmend brüchig wird. In der Wiedergabe der Gedanken einer Figur im freien indirekten Stil ist die Hypotaxe eingeschränkt. Eine Voraussetzung für das Verständnis des freien indirekten Stils in der Erzählliteratur ist das Erkennen dieses Wiedergabemodus, der sich oftmals nicht markant vom Erzählerbericht abhebt. Unterschiedliche Rezeptionsmöglichkeiten zeichnen sich ab: In der reflexiven Form der freien indirekten Gedankenwiedergabe, die vielfach hypotaktisch gestaltet ist, muss der Leser die Gedankenbewegung der Figur mit vollziehen. Beim ironischen Gebrauch der freien indirekten Gedankenwiedergabe, die zwischen parataktischem und hypotaktischem Stil changiert, wird der Leser zwar nahe an das Bewusstsein der Figur geführt, aber gleichzeitig in Distanz gehalten. Die Parataxe ist in den Passagen stärker ausgeprägt, die emotionale Zustände im freien indirekten Stil wiedergeben. Hier kommt es vielfach zu einer Empathie des Lesers mit der Figur, die im so genannten emotionalen Asyndeton am stärksten ausgeprägt ist. Hohe Anforderungen an das Verständnis des Lesers stellen der innere Monolog und der Bewusstseinsstrom als Extremform des inneren Monologs. Ein Grund dafür ist das Prinzip der freien Assoziation, das im Bewusstseinsstrom herrscht und vom Leser verlangt, im Text nicht deutlich gemachte assoziative Bezüge und

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Parataxe und Hypotaxe als stilbildende Elemente

Übergänge zwischen unterschiedlichen Lebens- und Wissenskontexten der Figur aufgrund der Kenntnis des Gesamttexts selbst herzustellen. Ein weiterer Grund liegt darin, dass die Grammatik und Syntax als Garanten verständlichen Ausdrucks von Sinn nur noch eingeschränkt gegeben sind, was sich z. B. in Molly Blooms Monolog darin zeigt, dass die Satzgrenzen nicht markiert sind. Die Bewusstseinsstile (mind styles), die sich in Ulysses abzeichnen, sind in hohem Maße durch die Art und Weise gekennzeichnet, wie sie jeweils von den Vorschriften der konventionellen Grammatik und Syntax abweichen.

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Wolfgang G. Müller

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Zeitenwende – Zum Funktionswandel des historischen Präsens in der Moderne IMELDA ROHRBACHER

Der folgende Beitrag geht einem Stilphänomen der deutschen Literatur nach, das sich – so die These – im Laufe des „langen 19. Jahrhunderts“ (Eric Hobsbawm) in zentralen Werken der Epoche manifestiert und wesentlich zur Psychologisierung des Erzählens bis hin zu den expressionistischen Darstellungsmodi um 1900 mit ihrer Betonung von Wahrnehmungs- und Interpretationsprozessen durch die Figuren beiträgt. Als wichtiges Moment dieser Entwicklung kann ein spezifischer Einsatz der Tempora beobachtet werden, der die kanonische Rolle des ,epischen Präteritums‘ stark verändert und verkürzt gesagt, vor allem aus der als klassische Stilfigur wohletablierten Form des Praesens historicum eine die veränderte Weltsicht der Moderne und deren Wiedergabe tragende und so gleichsam repräsentierende Einheit macht. Indem der Gebrauch des traditionellen Stilmittels grundlegend dessen Erscheinen und Funktion im narrativen Text erweitert und differenziert, sodass etwa lange Präsenserzählpassagen in Werken des 20. Jahrhunderts eine selbstverständliche Erscheinung sind, wird aus der zuvor eher im Segmentbereich wirkenden Figur ein zentrales Stilelement und Signal modern erzählender Texte; als wichtiger Impuls wird hier Goethes Einsatz der Tempora gesehen. Er inszeniert im Präsens komplexe Gedankenberichte und Gefühlskonflikte der Figuren, mithin Kernstücke des modernen Romans als Gattung.

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Imelda Rohrbacher

Roland Barthes beschreibt in Am ullpunkt der Literatur für den französischen Roman eine ganz ähnliche Öffnung des narrativen Tempussystems, allerdings erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts, und interpretiert den zunehmenden Ersatz des Passé simple als kanonische Erzählform durch „weniger ornamentale“,1 weil etwa nur der Schriftsprache vorbehaltene Formen, als eine Metapher für die Erneuerung von Intention und Wirkungsabsicht des Romanschaffens an sich, für ihn geht es konkret um eine Absage an den Roman als in sich geschlossenes Abbild der Hochblüte der bürgerlichen ,Ordnung‘ und Ausdruck ihrer ideologischen Einheit.2 Eine solche Lesart der Sprengung eines tradierten narrativen Systems soll auch für die analysierten Beispiele vorgeschlagen werden, sie stellt die Stilfigur in die Spannung zwischen individuellem Autor- und Epochenmerkmal und verweist damit auf die Reichweite stilistischer Innovation und Interpretationsmöglichkeit. Auch auf ein Problem in der deutschen Stilistik und Literaturwissenschaft soll so hingewiesen werden, in der sich eine weitgehend monotone Sicht auf das Thema Tempus und Literatur eingebürgert hat. Hier wird, dem gängigsten Muster zufolge, Tempus als direkt korreliert mit der „Vertextungsstrategie“ bzw. einem „deskriptiven Muster“3 gesehen, was es erschwert, den skizzierten Stilwandel als solchen zur Kenntnis zu nehmen und seine vielfältigen Facetten zum Untersuchungsgegenstand zu machen. Dies beruht auf einer Engführung, die vor allem den häufig im Märchen anzutreffenden Einsatz der Tempora als prototypisch für die erzählenden Gattungen überhaupt (außerdem notorisch die Wiedergabe von „Sachverhalte[n] der Vergangenheit“ als für das Erzählen archetypisch) ansieht.4 Der Einsatz des Präteritums wird so oft zum Zeichen von Fiktionalität schlechthin gemacht oder zum „obligatorische[n] Erzähltempus“ bei schriftlichen Texten im Deutschen, mithin zum Gattungsmerkmal, erklärt5. Damit wird ein zwar zweifellos starkes, aber eben nicht das einzig produktive narrative Muster zum Modell erhoben, wohingegen moderne Erzählungen und Romane sich oft gerade durch den häufigen und in der Postmoderne schließlich sogar grammatikalischen Mustern 1 2 3 4 5

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BARTHES, 1985, S. 41. Vgl. ebd., 1985, S. 8f., 37f., 40f. EROMS, 2008, S. 83ff. Ebd., S. 82. Ebd., S. 84.

Zeitenwende – Zum Funktionswandel des historischen Präsens

zuwiderlaufenden Tempuswechsel (z. B. Plusquamperfekt als absolut gebrauchtes Erzähltempus bei Thomas Bernhard) auszeichnen. Auch dies ist kein singuläres Merkmal der deutschen Literatur, so beschreibt der Linguist Pier Marco Bertinetto eine grundlegende Veränderung in der italienischen Literatur besonders des 20. Jahrhunderts, deren Wurzeln aber im 19. Jahrhundert liegen. Tempusformen werden nach Bertinetto nun generell zu Trägern einer neuen Funktion, sie verlassen gleichsam ihre Positionen im traditionellen Muster mit einer fürs Erzählen reservierten Vergangenheitsform als Haupterzähltempus (und der consecutio temporum) und werden so frei für neue Bedeutungen und Anwendungsweisen. Jedes Element in dieser Kette kann und muss nun immer wieder neu in seiner Funktion für den Text bestimmt werden. Dementsprechend beschreibt Bertinetto Tempusformen als die nunmehr prominentesten Spieler im Feld der Stilistik, er bezeichnet sie als „ingredienti stilistici primari“ und ihren neuen Einsatz als „chromatischen Tempusgebrauch“ („uso ,cromatico‘ dei Tempi“).6 Ein lebhaftes, individuell gestaltetes Tempusprofil gehört also zu den zentralen Merkmalen vor allem der Literatur des 20. Jahrhunderts – ,Textprofil‘ ließe sich hier als äußerst konkreter Terminus lesen. Mit Bertinetto kann man daher sagen, dass die Annahme einer Funktionskonstanz dieser Zeichen, egal ob aus dem Blickwinkel der Linguistik oder der Literaturwissenschaft und egal ob im Sinne der Untersuchung der Mikrostilistik oder der psychosozialen Stilwirkung des Textgebildes gedacht, gerade den wichtigsten Innovationsbereich modernen Erzählens aus den Augen verliert und so in der Konzentration auf Modellhaftigkeit nur mehr bestimmte Ausformungen beschreibt, ja gleichsam eine präskriptive Grammatik des Erzählens entwirft. Es kann hier freilich nur ein Teilbereich dieser Veränderung beleuchtet werden, die, wie gezeigt wird, auch für die englische Literatur Relevanz hat, und die Textbeispiele müssen sich zwangsläufig als Schlaglichter verstehen, dennoch verweisen die herangezogenen Quellen klar auf die Notwendigkeit, diesen eigentlichen Kernbereich der Stilistik neu zu bearbeiten und eingefahrene Sichtweisen einer Revision zu unterziehen, unter kritischer und vorsichtiger Einbeziehung der sprachenübergreifenden Dimension dieses Stilwandels, die nicht in erster Linie nach Universalismen sucht. 6

Vgl. BERTINETTO, 2003, S. 48ff.

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Imelda Rohrbacher

In der deutschen Literaturwissenschaft sind es vor allem zwei Darstellungen, die nach wie vor als Klassiker auf dem Gebiet der literarischen Tempusstilistik gelten und immer wieder genannt werden. Es ist zum einen Käthe Hamburgers Logik der Dichtung von 1957, der einige Aufsätze, darunter vor allem 1953 Das epische Praeteritum, in der Deutschen Vierteljahrsschrift vorausgingen, und zum anderen Harald Weinrichs Tempus – Besprochene und erzählte Welt von 1964, das sich explizit als Fortführung und Erweiterung von Hamburgers These der Nichtzeitbezogenheit der Tempora im fiktionalen Erzählen verstand und deren Konzept einer nichtdeiktischen Verwendung des Präteritums im Erzählkontext auf alle Tempora der von Weinrich so bezeichneten „erzählten Welt“ ausdehnte.7 Weinrich gelangt so zu zwei „Sprechhaltungen“, die nach seiner Auffassung jeweils von zwei verschiedenen „Tempus-Gruppen“ signalisiert werden, nämlich im Fall der „besprochenen Welt“ von den Tempora der Tempus-Gruppe I mit dem Präsens als so genannter „Null-Stelle“ (außerdem Perfekt und Futur), und eben jenen der Tempus-Gruppe II, die neben dem Präteritum als „NullStelle“ Plusquamperfekt und Konditional umfasst. (HW: 29-33, 47-53, 76) An Weinrichs Auffassung hat es einige Kritik gegeben, vor allem daran, dass sie als umfassend geltend präsentiert wird, dem individuellen Gebrauch, so der Tenor der Kritik, werde auf diese Weise unterstellt, dass er stets denselben Gesetzmäßigkeiten folge und vor allem stets mit denselben Mitteln dieselbe Wirkung erzielen wolle. Scharf kritisiert wurde dieser universalistische Anspruch etwa vom Romanisten Wolfgang Pollak, der Weinrich unter anderem eine vereinfachende bzw. verabsolutierende Beschreibung der Vordergrund-HintergrundOpposition zwischen Imparfait und Passé simple im Französischen und seiner These der zwei Tempus-Gruppen allgemein „phonologische[n] Binarismus“ vorwarf.8 Diesen Vorwurf einfach behaupteter Gebrauchsnormen und einer zu konventionellen Tempusauffassung verstärkt auch eine der wenigen auf der systematischen Analyse eines Textkorpus basierenden Studien, die Tempusverwendung in der deutschen Literatur

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Vgl. WEINRICH, 2001, hier bes. S. 33 und 39f. Im Folgenden zitiert als HW. Vgl. POLLAK, 1988, S. 220.

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thematisieren.9 Noch viel umfangreicher fiel die linguistische Debatte aus, die Weinrichs These facettenreich als Tempustheorie diskutierte. Obwohl dies viel dazu beitrug, sie auch zu relativieren, scheint es dennoch geboten, sie in Erinnerung zu rufen, nicht zuletzt hat Weinrichs Auffassung Eingang in die Grammatiken und breite Rezeption in der Stilistik gefunden und die Konzeption seiner Textgrammatik der deutschen Sprache mitbegründet, nach wie vor wird außerdem Tempus als erfrischender Ansatz zur Wiederlektüre empfohlen.10 Ein spezifischer Einwand aus der Linguistik sei daher aufgegriffen, um auf ein besonderes Problem dieser kanonisierten Thesen zu Tempus in der Literatur hinzuweisen.11 Heinz Vater kommentiert in seiner Einführung in die Zeit-Linguistik Weinrichs System der acht Tempora, die den zwei „Sprechhaltungen“ zuzuordnen seien, nur relativ kurz als linguistisch nicht haltbare Tempustheorie und bezeichnet diese als eindeutig „untergegangen“.12 Zu viel, so Vater, spreche aus linguistischer Sicht gegen die Sprechhaltungs-Auffassung, als dass sie sich habe durchsetzen können. Bei aller sprachwissenschaftlichen Detaildiskussion, ob Tempora Zeitrelationen ausdrückten oder nicht, sieht Vater letztere Position von Weinrichs Vorgehen keineswegs belegt, ähnlich wie Hauser-Suida/Hoppe-Beugel wirft er Weinrich willkürliche Textwahl und -schnitte vor, um seine These zu stützen.13 Eine Fußnote Vaters führt uns dabei zur problematischen Darstellung des historischen Präsens bei Weinrich und Käte Hamburger. So verweist Heinz Vater darauf, dass Weinrich leider nicht auf die Textsorte Witz eingehe und vermerkt etwas boshaft, dass ein Blick darauf genügen hätte müssen, um zu merken, „daß das Präsens kaum als besprechendes Tempus charakterisiert werden kann; schließlich ist der Witz eine charakteristische Erzählgattung, für die zudem gerade Fiktion wesentlich ist“14. Und er fügt hinzu:

9 HAUSER-SUIDA/HOPPE-BEUGEL, 1972, bes. S. 184f. 10 Vgl. http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=4210&ausgabe=200110 (30.3.2010). 11 Zur Detailproblematik bei Weinrich und zur Neubewertung seiner These vgl. ROHRBACHER, 2009, S. 28-68. 12 VATER, 1994, S. 56. 13 Ebd. S. 55f. 14 Ebd. S. 65 [Herv. i. O.].

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Imelda Rohrbacher Insofern kann man auch HAMBURGER […] nicht beipflichten, wenn sie das Präteritum (als sogenanntes „episches Präteritum“) mit dem Merkmal „fiktional“ versieht, wo doch das Präsens genausogut in fiktionalen Gattungen verwendbar ist und beim Witz sogar überwiegt.15

Tatsächlich stellt der Umgang mit den erzählend eingesetzten Formen des Präsens bei beiden Autoren eine signifikante Schwachstelle dar, wenn man den Fokus der jeweiligen Textauswahl etwas verschiebt bzw. hinterfragt. So thematisiert Tempus – Besprochene und erzählte Welt das Präsens im literarischen Einsatz kaum, sondern beruft sich auf die Formen des Praesens tabulare und des synoptischen Präsens als Belege für dessen stets „besprechenden“ Charakter (vgl. HW: 57-62). Darüber hinaus wird auf das Präsens in den Hauptzügen nur kursorisch im Zusammenhang des ,Nouveau roman‘ (HW: 59) und der Ausführungen zur antiken Rhetorik eingegangen. Als bloßes „Stilisticum“ sei es aber im Tempussystem nicht zu berücksichtigen, so Weinrich (HW: 284), dessen These hier eine ähnlich paradoxe Verengung wie die Hamburgers aufweist, wie weiter unten dargestellt wird. Demgegenüber verweist Franz K. Stanzel schon 1959 in Auseinandersetzung mit Hamburger auf den sehr unterschiedlichen Einsatz des historischen Präsens bei verschiedenen Autoren, mithin auf die schwankende Rolle des Stilmittels, das nicht in gleichem Maße ein „gattungsmäßig gebundenes Element der Erzählung“ wie das epische Präteritum sei.16 Stanzel vermutet dabei signifikante Veränderungen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts mit der Zurückdrängung des persönlichen Erzählers und betont die Notwendigkeit umfassender Untersuchungen, um Epochen- wie Autorengebrauch sinnvoll darlegen zu können. Diese Position greift eine besonders ertragreiche Studie des Anglisten Christian Paul Casparis auf und belegt einen solchen zentralen Funktionswandel in der englischen Literatur des 19. Jahrhunderts,17 eine wichtige Differenzierung dieser Studie wird unten aufgegriffen. Als zentrales Problem bei Weinrich wie Hamburger muss dagegen in Argumentation wie Textauswahl die Ausrichtung auf eine bestimmte 15 Ebd. 16 Vgl. STANZEL, 1959, S. 8f. 17 CASPARIS, 1975. Im Folgenden zitiert als CC. Wichtige Daten zum Präsens in der italienischen Literatur liefert Pier Marco Bertinetto in: Due tipi di Presente ,narrativoʻ nella prosa letteraria, BERTINETTO, 2003, S. 65-88.

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Norm des Erzählens gesehen werden. Bei beiden steht letztlich Thomas Mann im Mittelpunkt, dem Hamburger ihre Studie widmet, den Weinrich aber eher implizit zur Richtschnur erhebt, indem er vor allem der Darlegung seiner Haupttermini einen Text Thomas Manns zugrunde legt und wiederholt auf den Vorsatz des Zauberberg eingeht. Genau diese Auswahl liefert aber auch Beispiele für eine Dimension der Verwendung, die über die Beschreibung bei Weinrich hinausgeht und als Beleg für eine Entwicklung gesehen werden kann, die seine Generalisierung der Tempusfunktionen kaum wiedergibt. Weinrichs These sei daher keineswegs abgelehnt, es ist nur wichtig zu sehen, dass sie kaum diachron verfährt und zudem ein zu großes Raster ansetzt, das bestimmte und oft auffällige Korrelationen zwischen bestimmten Textelementen gar nicht berücksichtigt. Eine solche Korrelation findet sich im Zauberberg als Verbindung zwischen Tempus und Figurencharakterisierung. So ist eine bemerkenswerte Übereinstimmung zwischen der Wiederkehr des historischen Präsens und den Zusammentreffen zwischen Hans Castorp und Clawdia Chauchat festzustellen, die diesen Strang der Romanhandlung deutlich herausstellt und ihm so eine ganz eigene Relevanz in der psychologischen Entwicklung des Helden hin bis zur eigentlichen Bekanntschaft der Protagonisten am Ende des fünften Kapitels gibt. In dessen letztem Abschnitt Walpurgisnacht geht schließlich Hans, der Clawdia sieben Monate lang aus der Ferne bewundert hat, während der Fastnachtsfeier unbekümmert auf Clawdia zu und gesteht ihr noch am Ende dieses ersten Abends seine Liebe. Bis dorthin wird immer, wenn es zwischen Hans und Clawdia zu einer zufälligen Begegnung im Haus oder zu einer Episode der Kontaktaufnahme im Speisesaal kommt, zumindest eine längere Passage dieser Beziehungsanbahnung im szenischen Präsens wiedergegeben. Der wiederholte Einsatz dieses Musters schafft eine enge Verbindung zwischen dem Motiv des Gefühlsaufruhrs, der für den jungen Helden mit allem verbunden ist, was Clawdia betrifft, und der gleichsam heranzoomenden Form des Präsens mit seiner Simulation einer aktuell ablaufenden Handlung: Es kam zu folgendem. In einer Eßpause wandte Frau Chauchat sich nachlässig um und musterte den Saal. Hans Castorp war auf dem Posten gewesen: ihre Blicke trafen sich. Indes sie einander ansahen – die

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Imelda Rohrbacher Kranke unbestimmt spähend und spöttisch, Hans Castorp mit erregter Festigkeit (er biß sogar die Zähne zusammen, während er ihren Augen standhielt), – will ihr die Serviette entfallen, ist im Begriffe, ihr vom Schoße zu Boden zu gleiten. Nervös zusammenzuckend greift sie danach, aber auch ihm fährt es in die Glieder, es reißt ihn halbwegs vom Stuhle empor, und blindlings will er über acht Meter Raum hinweg und um einen zwischenstehenden Tisch herum ihr zu Hilfe stürzen, als würde es eine Katastrophe bedeuten, wenn die Serviette den Boden erreichte ... Knapp über dem Estrich wird sie ihrer noch habhaft. Aber aus ihrer gebückten Haltung, überquer zu Boden geneigt, die Serviette am Zipfel und mit verfinsterter Miene, offenbar ärgerlich über die unvernünftige kleine Panik, der sie unterlegen, und an der sie ihm, wie es scheint, die Schuld gibt, – blickt sie noch einmal nach ihm zurück, bemerkt seine Sprungstellung, seine emporgerissenen Brauen und wendet sich lächelnd ab. Über dies Vorkommnis triumphierte Hans Castorp bis zur Ausgelassenheit. Jedoch blieb der Rückschlag nicht aus [...].18

Da Mann im Zauberberg im Sinne der Tempusverwendung deutlich ,traditionell‘ erzählt, d. h. ganz klar jenes Präteritum als Haupterzähltempus einsetzt, dessen gleichsam fiktionstaugliche und -unterstützende Qualitäten er im Vorsatz ausführlich und gleichzeitig ironisch diskutiert, gewinnt diese Herausstellung der allerinnersten Regungen der Hauptfigur besonderes Gewicht, und freilich wird dadurch die Bedeutung gerade des emotional-sexuellen Moments ihres Entwicklungsgangs und persönlichen Reifeprozesses besonders betont. Es unterstreicht wesentlich die den Roman durchlaufende Reflexion über die besondere Rolle, die Sinnlichkeit und Sexualität für die Berghofgesellschaft spielen und vor deren aufmerksamkeits- und vitalitätshemmenden Auswirkungen Settembrini Hans Castorp im Abschnitt Enzyklopädie so eindringlich warnt. (vgl. ZB: 339f.) Auch mit dem prominenten Motiv der unterschiedlich verrinnenden Zeit, der je nach Situation anders empfundenen Zeitwahrnehmung, ist natürlich die Verlangsamung und gleichsam sekundengenaue Darlegung des Geschehensablaufs zu verbinden. Ähnlich wie beim Fiebermessen oder wie bei der detaillierten Schilderung der physiologischen Prozesse, die Hans Castorp im Ge18 MANN, 1993, S. 197. Im Folgenden zitiert als ZB.

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spräch mit dem Oberarzt Behrens zu interessieren beginnen, verlaufen die Begegnungen mit Clawdia Chauchat für Hans Castorp als eine Reihe winziger Begebnisse, bei denen eines das andere bedingt und hervorbringt. Dieser Prozess der Entstehung und des Wachsens der Zuneigung und erotischen Faszination wird also genau beleuchtet; der Vergleich mit der Erforschung der „chemischen Elemente […], aus deren vielfältiger Mischung und Verbindung sich alles menschliche Leiden zusammensetzt“ (ZB: 338f.) und die sich Settembrinis Lexikonprojekt vornimmt, liegt nahe. Das Moment der detailgetreuen und wie in slow motion-Technik verlangsamten Wiedergabe des Geschehens der Präsensszenen spiegelt sich schließlich im launigen und immer intensiver werdenden Dialog zwischen Clawdia und Hans in der Walpurgisnacht in direkter Rede, deren Unmittelbarkeit die häufigen erlebten Reden, die etwa die Dialoge bei Tisch oder Hans Castorps Patientenbesuche wiedergeben, konterkariert. Ähnlich lange Dialogpartien in direkter Rede finden sich bis dorthin bei den Unterhaltungen, die Hans mit Settembrini und mit Hofrat Behrens führt, also mit seinem ,geistigen‘ und seinem praktisch-naturwissenschaftlichen Lehrer; neben dem erotisch-sinnlichen repräsentieren sie die anderen zwei Interessensgebiete Hans’. Die Heraushebung der Clawdia-Schiene über die Schilderung der ersten Kontaktaufnahmen im Präsens kann daher auch in diesem Trio als Betonung der Macht des Faktischen und sinnlich Wahrnehmbaren für Hans’ Entwicklung gelesen werden, als Hinweis auf die Wichtigkeit eigener Erlebnisfülle und Erfahrung. Der Zauberberg zeigt also ein Kalkül im Einsatz der Tempora, das keineswegs zufällig erscheint und so den Überlegungen des Vorsatzes zur ,richtigen‘ Tempuswahl beim Erzählen korrespondiert – und gleichzeitig diese ironisiert. Der Vorsatz betont bekanntlich die „hochgradige Verflossenheit der Geschichte“, zu deren Wiedergabe unbedingt die „Zeitform der tiefsten Vergangenheit“ zu wählen sei: Sie [die Geschichte, I.R.] spielt, oder, um jedes Präsens geflissentlich zu vermeiden, sie spielte und hat gespielt vormals, ehedem, in den alten Tagen, der Welt vor dem großen Kriege, mit dessen Beginn so vieles begann, was zu beginnen wohl kaum schon aufgehört hat. (ZB: 7)

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Mit allen Mitteln weist also Mann auf die später von Käte Hamburger ausgeführte relative Natur des Zeitbezugs der Tempora beim Erzählen hin, verzichtet jedoch gleichzeitig nicht auf den systematischen Einsatz des Präsens zur Beleuchtung eines ganz spezifischen „Beginn[s]“ der Entwicklung Hans Castorps. Vor allem gehen aber Manns Bestärkung der entrückenden Kraft des Imperfekts im Vorsatz bereits bedeutende formale Änderungen in dieser Hinsicht voraus, die auch andere Traditionslinien in Gang gesetzt haben, deshalb ist es wichtig zu sehen, dass seine Reflexion über die Wahl des ,richtigen‘ Erzähltempus auch vor diesem konkret erzähltechnischen Hintergrund steht. Sehr viel experimenteller, das Moment formaler Abwechslung per se betonender und damit expressionistischer präsentiert sich etwa Joseph Roths fünf Jahre später erschienener Roman Hotel Savoy (1929), bei dem die Ich-Erzählung an vielen Stellen ins Präsens springt und dann nicht nur kurze, sondern oft längere Passagen umfasst, sodass diese einen Gutteil des Gesamttextes ausmachen. Diese Technik spiegelt aber ihrerseits das Verfahren in einer zentralen Ich-Erzählung der Moderne, in Kafkas Landarzt (1917). In deutlicher Abkehr von einer gewohnten Aufteilung der Tempusportionen werden hier Präteritum- und Präsenspassagen so abgewechselt, dass letztere weit über die Hälfte des Textes ausmachen. Dem ,ewigen Präsens‘ im Landarzt, das sich besonders im berühmten Ausklang „es ist niemals gutzumachen“ manifestiert, ist daher eine der wenigen einzeltextspezifischen Untersuchungen, die es zu Tempus in der Literatur gibt, gewidmet.19 Eine weitere spezifische Leistung der Präsensverwendung in dieser Erzählung ist darüber hinaus besonders hervorzuheben. Der Kafka-Interpret Friedrich Beißner hat wiederholt die so oft als beklemmend beschriebene Qualität des Kafka’schen Erzählens untersucht und begründet diese mit der Konstitution einer „Monoperspektive“, auf die sich die Sicht der Erzählerfiguren zumeist einschränke. Strikt werde jeweils die Blickrichtung einer einzigen Person übernommen, aus ihrer Sicht alle Wahrnehmung erlebt und festgehalten: Der Erzähler verwandelt sich – und den Leser – dem Innenraum seiner Hauptperson gleichsam ein, eines geschundenen Menschen, dessen 19 COHN, 1968.

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Zeitenwende – Zum Funktionswandel des historischen Präsens Vorstellungen die verläßliche Orientierung in Raum und Zeit abhanden kam, da seine Wahrnehmungen mit den Koordinaten der meßbaren Außenwirklichkeit nicht oder nur punktuell übereinstimmen. Der Erzähler stellt also, und darin dokumentiert sich Kafkas unverwechselbare Erzählhaltung, eine völlig subjektive Bewußtseinssituation einer Person ohne jede objektive Korrektur dar, so daß die kategoriale Korrelation von Innen- und Außenwelt zerfällt. Wie die Hauptfigur verstrickt sich der Leser in den völlig widersprüchlichen Mutmaßungen über Fakten und ihre Interpretation: Die Bezüge zu Menschen und Dingen zerbrechen darüber, die Desorientierung wächst mit dem Versuch, sie zu überwinden.20

Gemäß diesem nach Beißner „einsinnigen“ Erzählen ist auch der Erzähler des Landarztes näher zu fassen; in unserem Zusammenhang zentral ist die Tatsache, dass dessen Wahrnehmungskonstitution auch und entscheidend vom Einsatz des Präsens lebt. Der unvermittelte Tempuswechsel begleitet und betont hier die Beobachtungsprozesse des IchErzählers und lässt einen gleichsam noch tiefer in dessen Wahrnehmungshorizont hineingleiten: „Holla, Bruder, holla, Schwester!“ rief der Pferdeknecht, und zwei Pferde, mächtige flankenstarke Tiere, schoben sich hintereinander, die Beine eng am Leib, die wohlgeformten Köpfe wie Kamele senkend, nur durch die Kraft der Wendungen ihres Rumpfes aus dem Türloch, das sie restlos ausfüllten. Aber gleich standen sie aufrecht, hochbeinig, mit dicht ausdampfendem Körper. „Hilf ihm“, sagte ich, und das willige Mädchen eilte, dem Knecht das Geschirr des Wagens zu reichen. Doch kaum war es bei ihm, umfaßt es der Knecht und schlägt sein Gesicht an ihres. Es schreit auf und flüchtet sich zu mir; rot eingedrückt sind zwei Zahnreihen in des Mädchens Wange. „Du Vieh“, schreie ich wütend, „willst du die Peitsche?“, besinne mich aber gleich, daß es ein Fremder ist; daß ich nicht weiß, woher er kommt, und daß er mir freiwillig aushilft, wo alle andern versagen. Als wisse er von meinen Gedanken, nimmt er meine Drohung nicht übel, sondern wendet sich nur einmal, immer mit den Pferden beschäftigt, nach mir um. „Steigt ein“, sagt er dann, und tatsächlich: alles ist bereit. Mit so schönem Gespann, das 20 BEISSNER, 1983, S. 12f.

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Imelda Rohrbacher merke ich, bin ich noch nie gefahren, und ich steige fröhlich ein. „Kutschieren werde aber ich, du kennst nicht den Weg“, sage ich. „Gewiß“, sagt er, „ich fahre gar nicht mit, ich bleibe bei Rosa.“ „Nein“, schreit Rosa und läuft im richtigen Vorgefühl der Unabwendbarkeit ihres Schicksals ins Haus; ich höre die Türkette klirren, die sie vorlegt; ich höre das Schloß einspringen; ich sehe, wie sie überdies im Flur und weiterjagend durch die Zimmer alle Lichter verlöscht, um sich unauffindbar zu machen. „Du fährst mit“, sage ich zu dem Knecht, „oder ich verzichte auf die Fahrt, so dringend sie auch ist. Es fällt mir nicht ein, dir für die Fahrt das Mädchen als Kaufpreis hinzugeben.“ „Munter!“ sagt er; klatscht in die Hände; der Wagen wird fortgerissen, wie Holz in die Strömung; noch höre ich, wie die Tür meines Hauses unter dem Ansturm des Knechtes birst und splittert, dann sind mir Augen und Ohren von einem zu allen Sinnen gleichmäßig dringenden Sausen erfüllt.21 [Herv. I. R.]

Die Textstelle zeigt den Sprung, der den langen Mittelteil im szenischen Präsens einleitet. Er geht einher mit der Intensivierung der Wahrnehmungen, die die Ich-Figur hat, nicht zufällig häufen sich hier also „merke ich“, „ich höre“, „ich sehe“. So wird etwa auf die Male auf Rosas Wange hingewiesen, die der Biss des Knechts hinterlässt, und der Erzähler folgt ihrem verzweifelten Lauf durch die Zimmer. Wichtig ist auch, dass die Reihe der akustischen und visuellen Eindrücke am Schluss in eine veritable Sinnenbetäubung mündet, die bezeichnenderweise Augen und Ohren gleichzeitig erfüllt. Gleich im nächsten Satz findet sich der Erzähler vor den Hof des Kranken versetzt, zu dem er gerufen wurde, der Betäubung seiner Sinne entspricht also eine Aussparung von Weg und Zeit. Die traumhafte Aufzeichnung, die ab nun die Erzählung bestimmt, lebt stark von der Unmittelbarkeit der Grundform; die Bezeichnung des ,ewigen Präsens‘ trifft zwar die Zeitenthobenheit dieser Schilderung, zentral ist aber auch seine Kraft der Hineinversetzung. Im Präsens teilen wir den Blick des Ichs in verstärktem Maß, es trägt entscheidend dazu bei, die Perspektive des verunsicherten Individuums, wie sie Beißner beschreibt, zu einer Art klaustrophobischem Wahrnehmungstunnel zu steigern. All dies verläuft parallel zur Zunahme der unheimlichen oder widersprüchlichen Motive der Erzählung wie 21 KAFKA, 1993, S. 42f.

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des Verhaltens der Eltern oder der Entdeckung der todbringenden Wunde des Jungen, den der Arzt zuerst nur harmlos erkrankt glaubt. Dieses Präsens der Unmittelbarkeit und intensiv gesteigerten Wahrnehmung bei Kafka hat seinerseits Vorläufer in den Romanen eines für die Moderne um 1900 (zudem besonders für Thomas Mann) zentralen Autors. Zwei kurze Textstellen aus Knut Hamsuns Hunger (1891) sollen auf das auch hier auffallend mit dem Präsens korrelierende Motiv der Wahrnehmungsakte der Hauptfigur hinweisen. Hamsun stellt besonders das Motiv eines unwillkürlich genauen Hinschauens heraus, das hier ähnlich wie später bei Kafka oft zwanghafte Züge gewinnt, so, wenn der Protagonist auf der Straße einem verkrüppelten Mann folgt und sich dem Eindruck dieses Anblicks nicht entziehen kann: Ich gehe und sehe auf dieses verquälte Wesen und werde immer mehr mit Erbitterung erfüllt; ich fühlte, wie es nach und nach meine helle Stimmung zerstörte und den reinen, schönen Morgen auf einmal mit sich in Häßlichkeit hinunterzog. Er sah wie ein großes hampelndes Insekt aus [...].22

In ähnlicher Weise unterzieht der Ich-Erzähler von Hunger eine junge Frau, die ihm auf der Straße auffällt und zum Objekt seiner Sehnsucht wird, seiner hypersensitiven Aufmerksamkeit und seinem stets wachen, vivisektierenden Blick. Die Lust des Helden in Hunger ist so aufs engste mit Schaulust und kontrollhaftem Registrieren assoziiert: Auf einmal nehmen meine Gedanken durch eine launenhafte Vorstellung eine merkwürdige Richtung, ich fühle mich von einer seltsamen Lust ergriffen, dieser Dame Angst zu machen, ihr zu folgen und sie auf eine irgendeine Weise zu ärgern. Ich hole sie wieder ein und gehe an ihr vorbei, wende mich plötzlich um und begegne ihr, Antlitz in Antlitz, um sie zu beobachten. Ich stehe und sehe ihr in die Augen und erfinde auf der Stelle einen Namen, den ich niemals gehört habe, einen Namen mit einem gleitenden nervösen Laut: Ylajali. […] Ich ergötze mich grausam an ihrer Verwirrung, diese Ratlosigkeit in ihren Augen berückt mich. Ihr Denken kann meine kleine desperate Anrede nicht fassen; sie hat durchaus kein Buch dabei, nicht ein einziges Blatt eines Buches, 22 HAMSUN, 1995, S. 9.

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Imelda Rohrbacher und trotzdem sucht sie in den Taschen, sieht sich wiederholt in die Hände, wendet den Kopf und untersucht die Straße hinter sich, strengt ihr kleines Gehirn auf das äußerste an, um herauszufinden, von welchem Buch ich spreche. Ihr Gesicht wechselt die Farbe, hat bald den einen, bald den andern Ausdruck, und sie atmet hörbar; selbst die Knöpfe an ihrem Kleid scheinen mich wie eine Reihe erschreckter Augen anzustarren.23

Als hauptsächlich registrierende Instanz ist der Protagonist von Hunger also gleichsam hilflos dem Beobachten ausgeliefert, das Motiv verknüpft sich auch mit den starken Stimmungsschwankungen und quälenden Phantasien seiner Hungerphasen. Wie die Stelle zeigt, richtet sich hier überdies die Waffe des Beobachtens auch gegen andere. Dies unterscheidet den Hamsunʼschen Ich-Erzähler vom Landarzt, der späteren Erzählung ist aber mit der Angst des Ich-Erzählers um Rosa als Grundantrieb eine ebenso starke Emotion eingeschrieben. Teils von der Handlungsmächtigkeit des Knechts überwältigt und teils durch seine eigenen von Vernunft und Mitleid geprägten Überlegungen behindert, kann der Protagonist des Landarzt aber diesem Impuls nicht folgen und den Umständen, die ihn in Form der Forderungen der Familie des Patienten immer mehr einkreisen, kaum Handlung entgegensetzen. In beiden Fällen haben wir also von ihren Wahrnehmungsakten, dem Beobachten und der nur scheinbar überlegenen Haltung des Reflektierenden stark affizierte Protagonisten vor uns. Die Darstellung des fasziniert an seinem Opfer klebenden Hamsunʼschen Protagonisten, der seinen Schauzwang in fast sadistischer Manier auf das begehrte weibliche Objekt ausdehnt, und die im Verfolgen der Geschehnisse sich zunehmend klaustrophobisch verengende Wahrnehmung des Ich-Erzählers in Kafkas Landarzt sind also aufs engste mit dem Präsens verbunden und schlagen so die Brücke zu den um 1900 stark diskutierten Themen des Funktionierens von Wahrnehmung bei Ernst Mach oder der Prekarität von Wahrnehmung und den Fragen der Veränderung des Objekts unter den Augen des Wahrnehmenden wie in Robert Musils Triëdere. Bei näherem Hinsehen ist es also gar nicht so einfach zu klären, wie ,traditionell‘ der Zauberberg wirklich erzählt oder wie gewöhnlich oder ungewöhnlich sein Präsenseinsatz ist. Das ergibt sich nur aus dem inter23 Ebd., S. 12-14.

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textuellen Vergleich und als Vergleichsbeispiel kann hier ebenfalls eine Er-Erzählung herangezogen werden, die, ähnlich wie der Zauberberg, einen zentralen, wenn nicht vielleicht im Sinne der anhaltenden Beschäftigung den zentralsten Platz in der deutschen Romanliteratur einer weiter gefassten Moderne einnimmt. Käte Hamburger konstatiert in ihrer Logik der Dichtung den häufigen Wechsel zwischen Präsens und Präteritum als „periodische Erscheinung in der erzählenden deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts bis ein gutes Stück in das 19. hinein“24 und verweist darauf, dass er oftmals im selben Satz geschehe. Dies demonstriert sie an einem Beispiel aus Eduard Mörikes Maler olten mit der Bemerkung, hier wie etwa in Wielands Versepen „keine sinnvolle Ordnung“ erkennen zu können; das Zitat folgt dem Schnitt Hamburgers: Er faßte sie schonend an beiden Schultern, und sanft rückwärts gebeugt lehnte sie den Kopf an ihn, so daß die offenen schwimmenden Augen unter seinem Kinne aufblickten. Freundlich gedankenlos schaut sie hinan, freundlich senkt er die Lippen auf die klare Stirne nieder. Lang unterbrach die atmende Stille nichts. Endlich sagt er heiter […] Constanze schüttelte, als wollte sie sagen […] Abermals versagt ihm ein weiteres Wort […]25

Aus Hamburgers Sicht besteht in Bezug auf die Signalisierung der Fiktionalität des dargestellten Geschehens kein Unterschied zwischen Präsens und Präteritum, in Bezug auf die performative Kraft der Transportierung des Verbinhalts räumt sie daher dem Präsens keine besondere Rolle ein. Der gängigen Beschreibung der ,Verlebendigung‘ oder ,Vergegenwärtigung‘ des Geschehens durch den Gebrauch des historischen Präsens kann sie daher wenig abgewinnen, nach Hamburger vermitteln qua prinzipieller Zeitaufgehobenheit der Tempora in der Erzählung in der dritten Person beide Formen dieselbe Art der Distanz, laufen in derselben fiktiven Vergangenheit oder Entrücktheit ab (KH: 54f.). Worauf es für sie ankommt, ist, dass ein Sachverhalt genannt und geschildert wird, der Hinweis auf einen wie immer gearteten zeitlichen Abstand

24 HAMBURGER, 1957, S. 62. Im Folgenden zitiert als KH. 25 MÖRIKE, 1987 [Erstfassung], S. 174.

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interessiere schlicht nicht, so Hamburger (KH: 56). Demonstriert wird das sehr einleuchtend an einem Beispiel: Lese ich in Anna Karenina: „Alles ging drunter und drüber im Hause Oblonsky“ erfahre ich nicht, daß es irgend wann einmal drunter und drüber ging sondern daß es drunter und drüber ging, und steht dieser Satz im historischen Präsens, erfahre ich genau dasselbe: einen Sachverhalt, aber keine Zeit. (KH: 56) [Herv. i. O.]

Vor diesem Hintergrund ist klar, dass Hamburger der Beschäftigung mit den genauen Bedingungen des Präsenseinsatzes wenig Interesse entgegenbringt, irritierend dennoch ihr Insistieren auf der „ästhetisch wohltuender[en]“ Wirkung des Präteritums (KH: 61), das das Präsens qua logischer Überdeterminierung (es könne gar nicht stärker als das Präteritum auf den Fiktionscharakter der Erzählung hinweisen) auch ästhetisch überflüssig mache. Selbst in einem Goetheroman, so Hamburger, sei daher „die Wirkung solcher Schreibmoden wie des unaufhörlichen Wechsels von Imperfekt und Präsens“ eher „störend als sinndeutend“ (KH: 64). Dies zielt auch auf eine nicht lange zuvor erschienene Studie von Henning Brinkmann zum Präsens in den Wahlverwandtschaften,26 deren These, das szenische Präsens, das im Roman in teilweise sehr langen Portionen auftritt, sei jeweils ein Zeichen des „Dämonischen“, das Macht über die Figuren gewinne, von Hamburger als Überfrachtung des Sinngehalts der Tempusformen im Erzählen kritisiert wird (KH: 62f.). Brinkmanns Aufsatz hingegen bringt mit dieser Interpretation genau jene Funktion des Tempusgebrauchs ins Spiel, die für uns im Mittelpunkt steht, da er sich auf die immanente Deutung des Mittels einlässt. Er lenkt die Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass die Gestaltung der Wahlverwandtschaften in so auffälliger Weise vom Gebrauch des historischen Präsens lebt, dass auf Brinkmanns Deutung der Dimensionen des Tempuswechsels im Erzählen nicht genug hingewiesen werden kann. Einen solchen Zusammenhang zeigt zudem der von Hamburger öfter erwähnte Maler olten, dessen tragischer Grundkonflikt in der

26 BRINKMANN, 1954.

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Forschung als Parallele zu den Wahlverwandtschaften gilt;27 unter dem Gesichtspunkt der Tempusverwendung erhärtet sich diese Parallele. Schon die Erstfassung von 1832, viel deutlicher noch aber jener Teil der Neufassung, den Mörike selbst noch verfasst hat, lassen eine klare Zuordnung des Präsenseinsatzes zur unglücklich endenden Liebesgeschichte zwischen der titelgebenden Hauptfigur und der gesellschaftlich weit über Nolten stehenden Constanze von Armond erkennen. Das Präsens verbindet hier besonders das von turbulenten Umständen begleitete erste Liebesgeständnis Noltens mit der Szene von Constanzes unerwarteter Reaktion (sie möchte trotz der gesellschaftlichen Barrieren Nolten heiraten) und zeigt schließlich Constanzes Verzweiflung, als sie (gefälschte) Briefe Noltens an seine vermeintliche Verlobte entdeckt.28 Wenn auch in einigen Details anders gewichtet, zeigt sich Maler olten als deutliche Variation auf die Wahlverwandtschaften, weist doch das Präsens mit der Heraushebung der Constanze-Handlung auf die Möglichkeit einer privat wie beruflich erfüllenden Verbindung Noltens mit der kunstsinnigen Gräfin hin und verschränkt damit die zentralen Themen des Romans. Die entscheidenden Konflikte stellt das Präsens auch in den Wahlverwandtschaften heraus, daher bietet sich in Bezug zu Brinkmanns These eine Erweiterung dieser Lesart an. Zwei Textstellen aus den Wahlverwandtschaften sollen daher als Beispiel dienen, um die enge Verknüpfung von Präsens und Emotion aufzuzeigen, die dieser wichtige Roman der Moderne inszeniert und damit derselben Verbindung in den Er-Erzählungen bei Mörike und Thomas Mann ein Muster vorauszeichnet. Die Wahlverwandtschaften zeigen ein deutliches Kalkül in der Verteilung der Präsensszenen, die sowohl im ersten als auch im zweiten Buch schwerpunktmäßig um das jeweils 13. Kapitel angeordnet sind; vor allem die Szenen des Ertrinkungstodes des Kindes und Ottilies und Eduards Sterben werden im zweiten Buch in langen Präsenspassagen dargestellt. Demgegenüber sind aber etliche andere Szenen im historischen Präsens, vor allem jene im ersten Teil, kaum mit Episodenhöhepunkten in Verbindung zu bringen, sondern schildern vornehmlich Momente kurz vor oder nach einem 27 Vgl. dazu das Nachwort von Heide Eilert im zitierten Band (Anm. 25), S. 464f. 28 Vgl. MÖRIKE, 1970 [Neufassung], S. 74, 118, 139. Die Neufassung ist 1853-1875 entstanden und postum 1877 in der ergänzenden Bearbeitung durch Julius Klaiber erschienen.

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Handlungshöhepunkt. So werden zum Beispiel im ersten Teil weder die fatale Liebesnacht zwischen Eduard und seiner Frau Charlotte, noch die beiden Szenen, als die jeweiligen neuen Paare einander ihre Gefühle offenbaren, auf diese Weise markiert. Stattdessen stellt besonders der erste Teil immer wieder in auf den ersten Blick unscheinbaren Szenen Detailfolgen der Gefühlsverwirrungen im Präsens heraus, die das Ehepaar Eduard und Charlotte spalten, und lenkt den Blick auf die Reaktionen der Figuren auf die neue Situation der über Kreuz verliebten Paare. Charlottes Reaktionen stehen dabei im Mittelpunkt, und hier wiederum sind zentrale Motive Charlottes zirkelartiger Blick in „ihr eigen Herz“, der ihr kurzschlussartig die Gefühle Ottilies auf der Folie eigener Verliebtheit erklärt, und die daraus resultierende Handlungshemmung, die sich als eine der entscheidendsten Folgen interpretieren lässt. Diese Mini-Dramen verweisen damit auf Charlottes frühe Nicht-Reaktion als auf ein entscheidendes Moment der Handlung, das in einer ganzen Kette ähnlicher Detailszenen im Präsens steht und in seinem Kern an die Inszenierung der rational-emotionalen Ausweglosigkeit erinnert, die die Ich-Erzähler bei Hamsun und Kafka kennzeichnet. – Nach Peter von Matt sind die Wahlverwandtschaften ein „Ehebruchsroman ganz ohne Eifersucht“, und zwar „aufs unheimlichste ohne Eifersucht“:29 Im innern Herzen beharrt indessen Charlotte bei dem, was sie bedacht und sich vorgesetzt, und männlich steht ihr der Freund [der Hauptmann, I. R.] mit gleichem Sinn zur Seite. Aber eben dadurch wird ihre Vertraulichkeit nur vermehrt. Sie erklären sich wechselseitig über Eduards Leidenschaft; sie beraten sich darüber. Charlotte schließt Ottilien näher an sich, beobachtet sie strenger, und je mehr sie ihr eigen Herz gewahr worden, desto tiefer blickt sie in das Herz des Mädchens. Sie sieht keine Rettung, als sie muß das Kind entfernen.30 Wie sehr wünschte sie jenen beiden auch zu Hülfe zu kommen. Entfernung, fühlte sie wohl, wird nicht allein hinreichend sein, ein solches Übel zu heilen. Sie nimmt sich vor die Sache gegen das gute Kind zur Sprache zu bringen; aber sie vermag es nicht; die Erinnerung ihres eig-

29 Vgl. VON MATT, 2001, S. 266. 30 GOETHE, 2003, S. 93. [Der Text folgt der Gedenkausgabe.] Im Folgenden zitiert als WV.

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Zeitenwende – Zum Funktionswandel des historischen Präsens nen Schwankens steht ihr im Wege. Sie sucht sich darüber im Allgemeinen auszudrücken; das Allgemeine paßt auch auf ihren eignen Zustand, den sie auszusprechen scheut. Ein jeder Wink, den sie Ottilien geben will, deutet zurück in ihr eignes Herz. Sie will warnen und fühlt, daß sie wohl selbst noch einer Warnung bedürfen könnte. Schweigend hält sie daher die Liebenden noch immer auseinander, und die Sache wird dadurch nicht besser. […] So setzen alle zusammen, jeder auf seine Weise, das tägliche Leben fort, mit und ohne Nachdenken; alles scheint seinen gewöhnlichen Gang zu gehen, wie man auch in ungeheuren Fällen, wo alles auf dem Spiele steht, noch immer so fortlebt, als wenn von nichts die Rede wäre. (WV: 95f.)

Die Präsenspassagen der Wahlverwandtschaften thematisieren immer wieder Fragen einer verzerrten oder beeinträchtigten Wahrnehmung der Protagonisten und stellen deren Interpretation der Umwelt in Form von Täuschung und Selbsttäuschung und vorgefassten Ideen zur Debatte. So kann der erste Einsatz des szenischen Präsens im Roman als deutlicher Hinweis auf jenen Moment gelesen werden, in dem als Ergebnis von Charlottes Gefühlsaufruhr, kurz nachdem sie bei einer Kahnfahrt der Hauptmann geküsst hat, in ihr eine fatale Überzeugung Platz greift, nämlich die, dass ein Kind ihre Ehe mit Eduard retten und auch ihre eigene Gefühlsverstrickung lösen kann. (WV: 91) Die nächste Szene im Präsens zeigt die Folgen der am selben Abend zwischen Eduard und Ottilie offenbar gewordenen Gefühle, die als eine Art Blendung Eduards geschildert und am Schluss in das Bild eines Dammbruchs gefasst werden: Er findet sich in seinem eigenen Hause nicht mehr. Ottiliens Gegenwart verschlingt ihm alles: er ist ganz in ihr versunken; keine andre Betrachtung steigt vor ihm auf, kein Gewissen spricht ihm zu; alles, was in seiner Natur gebändigt war, bricht los, sein ganzes Wesens strömt gegen Ottilien. (WV: 92)

Analysiert man also die Präsensverwendung der Wahlverwandtschaften in Verbindung mit den Romanmotiven, ergibt sich eine wichtige Parallele zur späteren Verwendung bei Mörike und Thomas Mann. Auch hier sind es die allerinnersten Gefühlsprozesse und psychologischen Motiva-

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tionen, die die Präsenspassagen beleuchten und deren sukzessive Entfaltung und – im Fall der Wahlverwandtschaften – immer dramatischere Verkettung über das szenische Präsens herausgestellt wird. Noch weit intensiver als bei Thomas Mann eingesetzt, inszeniert der Präsensgebrauch bei Goethe einen Blick ins Innere der Figuren, der der Monoperspektivierung im Werther und der Psychologisierung des Genres durch den Briefroman31 nicht nur kaum nachsteht, sondern diesen auch in den Roman in der dritten Person und ins 19. Jahrhundert transponiert. Goethe schafft damit in seinem, wie die 200jährige intensive Rezeption zeigt, für die Moderne zentralen Roman ein Erzählmuster, das Psychologisierung und Präsenserzählung aufs engste verbindet und schon am Beginn des 19. Jahrhunderts eine ähnliche Wende einläutet, wie sie Roland Barthes für die Zeit um 1850 beschreibt. Wie eingangs angedeutet, interpretiert er das Auftauchen der „frischeren, dichteren Formen“, wie er es nennt, des Präsens und des Perfekts im Inneren der Erzählung als Bruch mit der alten „Schreibweise“ des klassischen Romans und als Hereinholen der „Dichte der Existenz“.32 In diesem Sinn kann Goethes Präsensverwendung als Zeichen einer neuen „Schreibweise“ gelesen werden, die dem Roman des neuen Jahrhunderts und seiner von Käte Hamburger konstatierten „Schreibmode“ einige Impulse voraussetzt, zumindest ist z. B. zu konstatieren, dass dem Tempuswechsel mitten im Satz, den Hamburger als unsinnig empfindet und den später Kafka so wirkungsvoll einsetzt, gewichtige Vorgänger vorausgehen. Möglich ist also hier genauso eine direkte Beeinflussung Kafkas durch Goethe wie dessen expressionistische ,Neuerfindung‘ des Mittels, die auf den ersten Blick naheliegt. Hamburgers Rede von der „Schreibmode“ verharmlost in diesem Sinn großzügig die Möglichkeit intertextueller Phänomene dieser Art, auch ist kaum zu erwarten, dass Autoren wie Wieland und Mörike gar so willkürlich rhetorische Figuren einsetzen oder eine Tradition ignorieren, die schon ganz bestimmte Mittel bereitgestellt hat. Im Sinne Roland Barthes’ ist diese „Schreibmode“ als Mittel der „Schreibweise“ einer Epoche ernst zu nehmen, die ja gerade das bevorzugte Mittel als sinnvoll empfindet, um ihrer Haltung zur Welt (und zur Rolle des Erzählens in ihrer Darstellung) Ausdruck zu geben. 31 Vgl. dazu bes. HUBER, 2003. 32 BARTHES, 1985, S. 41.

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Fast die gleiche Epochengrenze in Bezug auf die Erneuerung der Tempus-Erzählschemata wie Roland Barthes setzt Christian Paul Casparis an. Seine umfassende und umsichtige Studie zur Präsensverwendung in der englischen Literatur konzentriert sich zwar hauptsächlich auf das 20. Jahrhundert, beleuchtet aber auch dessen Wurzeln, geht diachron vor und betont und belegt die zentrale Rolle der immanenten Deutung der Tempusverwendung. Dies führt vor allem zu einer Differenzierung der selten hinterfragten Kategorien der ,Verlebendigung‘ oder ,Vergegenwärtigung‘, die zumeist die Präsensfunktionen beschreiben. Casparis richtet das Augenmerk vor allem auf einen wichtigen Markstein als Ergebnis seiner Untersuchung. So unterscheidet er grundlegend zwischen einem älteren, ,traditionellen‘ und weitgehend dem mündlichen Erzählen entnommenen oder angeglichenen Präsensgebrauch („oral/traditional hist.Pres. usage“), der bis heute im Einsatz sei, und dem literarisch-schriftlichen und experimentellen („literate/experimental“) Einsatz des Präsens seit Charles Dickens: „The one is typically erratic and often quite unconsciously employed, while the other displays in its consistency a conscious stylistic or narrativetechnical choice.“ (CC: 12) Casparis untersucht systematisch sowohl die Präsensverwendung in Ich- wie Er-Erzählung; auch hier sticht für ihn Dickens heraus, der beiden Formen in seinen Romanen innovatorische Impulse gibt. So kritisiert er z. B. eine ähnliche Einschätzung wie die Käte Hamburgers zum angeblich nicht interpretierbaren Tempuswechsel des 18./19. Jahrhunderts aus einer Studie des Linguisten F. Th. Visser, der in Bezug auf Moll Flanders dessen „18th-century mish-mash of verb forms […] an example of now obsolete usage“ heraushebt (CC: 21). Beides weist Casparis scharf zurück und plädiert demgegenüber für eine Gesamtsicht auf das Phänomen, das in diesem wie vielen anderen Fällen als besonders wirksame Beglaubigungsstrategie gesehen werden müsse: Rather than try and identify the meaning of the single hist.Pres. forms over against the single Preterite forms, it seems more reasonable to interpret these „mish-mash“ passages as a whole. The total effect is always of a spontaneous, uninhibited narrator who cares not for purism; indeed, sounds more „genuine“ if he does not. We need only look at the variety of narrative „techniques“ displayed by, say, Dicken’s internal

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Imelda Rohrbacher narrators to see that alternation is more effectively mimetic than sustained hist.Pres. usage. Moreover, an author may allot different tense mixtures to his internal narrators to set them off against each other as well as against the principal narrator. Or he may have the principal narrator use the device himself, thus meeting the unsophisticated reader on familiar ground. (CC: 21)

Die hier herausgestrichene Qualität der erhöhten Glaubwürdigkeit eines Erzählers, der seine persönliche Involvierung oder Anteilnahme über das in diesem Zusammenhang vielleicht unverdächtige Mittel des Tempuswechsels verrät, sei übrigens explizit auch auf die Präsenspartien in den Wahlverwandtschaften bezogen. Die Einstreuung der Präsenspartien bewirkt dort auch in der auktorialen Erzählhaltung, zusammen mit anderen Signalen, sozusagen eine emotionale Unterwanderung und starke Unterströmung des als ,kühl‘ und ,sachlich‘ berühmten Erzählers, der so markante Züge eines ,unreliable author‘ gewinnt. Eine weitere und aus unserer Sicht besonders wichtige Unterscheidung, die Casparis trifft, sei daher hier auch aus dieser Perspektive beleuchtet und anschließend für die Einordnung zweier Beispiele aus der deutschen Literatur fruchtbar gemacht, die ihrerseits als eine Art Epochenmarker der Ich-Erzählung vor und um Goethe, im eben genannten Sinn aber mit innerer Beziehung zu ihr gesehen werden sollen. Eine besonders interessante Darlegung bietet Tense without Time in Hinblick auf das Konzept der Erzählerdistanz oder „narrativen Distanz“, die oft mit der Frage gleichgesetzt wird, aus welchem zeitlichen Abstand eine Erzählerfigur über ihre Geschichte spricht. Die Art der Beziehung des Erzählers zum Geschehen, so Casparis, ergebe sich jedoch auf keinen Fall aus der wie immer scheinbar festlegbaren Bestimmung eines zeitlichen Referenzpunktes, von dem aus sich der Erzähler auf die Geschichte bezieht (vgl. CC: 77). Vielmehr sei sie eine der individuellen Erzählerfigur je anders unterlegte bzw. inhärente Qualität, die dessen Einstellung zu den geschilderten Ereignissen betreffe, innerhalb der Erzählung daher auch Variationen unterliegen könne. Dies drängt für Casparis die Frage, ob die Ereignisse von einem kurz nachher liegenden Standpunkt oder aus dem Abstand von Jahren berichtet werden, in ihrer Relevanz für die Erzählung in den Hintergrund:

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Zeitenwende – Zum Funktionswandel des historischen Präsens Narrative distance is not a question of time. A. A. Mendilow […] defines narrative distance as a corollary of the time lag between experience and narrative performance. But I think that one misses the point if one conceives of memory and experience as a homogeneous storage and retrieval system. It hardly takes a psychologist to confirm that every experience has its unique qualities which, depending on personality, cause the experience to be either repressed, or retained as significant without being understood, or fitted reflectively into a pattern of the past, or accepted once and for all as, shall we say, fate. Time is a factor only insofar as experiences take time to run through either of the latter two processes. But the actual time it takes depends on the specific experience, as well as on he who undergoes it. It is wrong to see narrative distance as a quantity measurable on the scale of chronological time. Memory is not a tape-recording of the past which can be reeled back to a point where experiences fall into a pattern. (CC: 77f.)

Nach Casparis gibt es daher zwei Arten der narrativen Distanz in der Ich-Erzählung. Entweder präsentiert das Ich seine Erfahrungen als solche, die es in irgendeiner Weise selbst interpretiert und so etwa in ein Ursache-Folge-Schema einbaut, sich mithin dieser Ereignisse rational bemächtigt und sie erklärt, oder die Ereignisse werden lediglich vom Erzähler-Ich als Episoden seiner ,Vergangenheit‘ repräsentiert. Es reiht sie gleichsam aneinander, ohne sie für den Leser zu interpretieren und so zu fassen, dass man von einer ,Bearbeitung‘ dieser Fakten im Sinne einer reflektierenden Beobachtung oder Bewältigung sprechen kann. Der Effekt der Distanzierung liegt für Casparis in der Fähigkeit des Erzählers […] to see life „as falling into a pattern or subserving some great end or proving a thesis“ (ibid.). If he lacks this capacity he simply lacks narrative distance whether he writes immediately, or years after the event. A narrator may be disposed to interpret and know his experience while it happens, a week, or ten years after it has happened. Or he may never get beyond merely taking it in and later remembering that it has happened. This knowing […] can take place in two specific ways. Either the narrator gets to the point where he knows and understands the meaning of his experience in terms of the causality of his existence. In this case narra-

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Imelda Rohrbacher tive distance becomes a corollary of self-knowledge. In the other case he narrates his experience before he has reached this point of understanding. He relinquishes to the facticity of his past, and rejects the expectation of ever being able to understand. In both cases experience has lost its surprise value, both narrators have given up wondering. Only the former narrator has gained full narrative distance. (CC: 78) [Herv. i. O.]

Diesen zweiten Fall demonstriert Casparis an einem Beispiel aus The Ragman’s Daughter (1963) von Allan Sillitoe. Dieser Ich-Erzähler hat die Fakten seiner Geschichte akzeptiert, ohne sie ganz zu verstehen, deren Interpretation, so Casparis, ist also bis zu einem gewissen Grad dem Leser überlassen. Der Erzähler betont zwar die lange Wirkung der Begegnung, definiert diese aber nicht genau: I’d learned a lot as well since meeting Doris, though to be honest I even now can’t explain what it is. But what I learned is still in me, feeding my quieter life with energy without my noticing it. (zit. nach CC: 78)

Besonders eine Erinnerung ist es jedoch, die dem Ich-Erzähler selbst noch immer so rätselhaft ist, dass er sie gesondert hervorhebt, weil er sie in das Schema der akzeptierten Fakten, die er wiedergibt, nicht einordnen kann. Hier hebt Casparis den Tempuswechsel hervor: My last real sight of Doris was of her inside the shoe shop trying on shoes [this he knows as part of the ,plotʻ] … But there’s another and final picture of her that haunts me like a vision in my waking dreams. I see her coming down the street, all clean and golden-haired on that shining horse […]. (zit. nach CC: 78f.) [Herv. CC]

Der Erzähler von The Ragman’s Daughter, so Casparis, erzählt also zwar einerseits aus dem Gefühl heraus, mit den dargelegten Ereignissen zu Rande gekommen zu sein („has come to terms with a memorable episode in his life“), auch wenn er nicht alle ihre existentiellen Implikationen durchdringe (vgl. CC: 79). Was passiert ist, legt er dar und muss oder möchte nicht sich selbst oder den Leser von der Faktizität seiner Geschichte überzeugen. Auf der anderen Seite aber, so Casparis, ist da ein unerklärbarer Rest, etwas um die Person der Doris, das über diese

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Darlegung hinausgeht („something […] which is more than memory“) und mit ein Grund sei, warum das Ich die Geschichte überhaupt erzählt. Der Sprung ins Präsens im Resümee des Erzählers markiert also für Casparis genau die im Tagtraum sich manifestierende Komponente des ,Etwas‘, das dem Erzähler selbst unerschlossen bleibt und das er deswegen mit dem seine anhaltende Faszination und Emotion freigebenden Wechsel des Tempus wiedergibt: It is simply there, beyond analysis and explanation. He can but state it as a purely perceptual phenomenon (in the Pres.) whose recurrence is indicative of its remaining cognitively unresolved. The reader is left to supply an interpretation in not very profound but nevertheless dreamsymbolic terms. Something like this: the vision as a whole reflects the impact on this working-class boy of the, then, unknown girl’s first appearance. She is at that point the mysterious beauty of a boy’s dreamland. She is beyond him, „all clean and golden-haired“, and „on a shining horse“. But later she „comes down the street“ to him – and turns real. Etc. (CC: 79) [Herv. i. O.]

Diesen Gebrauch des Präsens nennt Casparis auch einen „emotionalen“ oder „emotiven“ im Unterschied zu einem „affektiven“ Einsatz des Tempuswechsels, der im Dienste der rhetorisch ausgefeilten Gestaltung des Erzählers zur bewussten Affizierung des Zuhörers steht; letzteres ist nach Casparis häufig im satirischen Erzählen zu finden und prototypisch im Witz, der, ganz von den Emotionen des Erzählers abgehoben, stets auf die Wirkung beim Zuhörer hin konzipiert ist (vgl. CC: 17-23, 81f., 94f.). Zusammen mit der Frage der narrativen Distanz sollen diese beiden Kategorien nun die unterschiedlichen Effekte der Präsensverwendung in zwei Ich-Erzählungen beleuchten helfen, um den Sprung deutlicher werden zu lassen, den die Psychologisierung des Erzählens im 18./19. Jahrhunderts bewirkt und den die Ich-Erzählung zum stark emotionalisierten Erzähler der Moderne um 1900 macht, wie er prototypisch bei Hamsun und Kafka auftritt. Auf die Tradition der ,älteren‘, mehr rhetorisch gesetzten und bei Casparis als „affektiv“ bezeichneten Verwendung des historischen Präsens verweisen Beispiele aus dem Barockroman auch im Deutschen. In Christian Reuters Schelmuffsky (1696/97) finden sich zur Mitte des ers-

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ten Buchs hin einige Textstellen, in denen das historische Präsens eingesetzt wird, um kleinere Szenen lebendiger zu machen. Das Beispiel zeigt auch die speziell in der älteren Erzähltradition typische Bevorzugung von Wahrnehmungsverben, die solche Episoden oft einleiten33: Damit so wanderte ich zur Stubenthür hinaus und wollte eiligst die Treppe hinauf lauffen. Ich werde es aber nicht gewahr, daß eine Stufe ausgebrochen ist und falle da mit den rechten Beine hinein in die Lücke, wo die Stufe fehlt, und breche der Tebel hohlmer das Bein flugs mursch entzwey! O Sapperment! wie fing ich an zu schreyen! Sie kamen alle […] darzu gelauffen […]34

Wie in Bezug auf Goethe, Mörike und Mann angeklungen, wie aber vor allem der Vergleich zu Eichendorff zeigen soll, wirkt hier insgesamt die Verteilung der Präsenseinschübe im Sinne einer Verbindung der und zu den Themen und Motiven, die die Entwicklung der Hauptfigur betreffen, zufälliger, als es dort der Fall ist. Neben der eben zitierten Szene, bei der deutlich der Tempuswechsel das unvorhersehbare Pech des Beinbruchs betont, wird auch verschiedentlich bei Dialogwiedergaben das Präsens eingesetzt. Ähnlich wie bei der Szene des Beinbruchs geht es aber in der signifikantesten Präsensstelle um die Hervorhebung des Höhepunkts der geschilderten Begebenheit. Der bramarbasierende Schelmuffsky ist Gast einer vornehmen Hochzeit und brüstet sich, trotz seines derben Benehmens Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu sein. Er tut sich besonders als Trinker hervor; die Folgen bilden in ihrer lustvoll zur Schau gestellten Ungehörigkeit den Höhepunkt seiner Heldentaten beim Fest der Brautleute und werden entsprechend herausgehoben: Flugs hierauf ließ ich mir den Aufwärter noch eine solche Kanne voll Wein einschencken […], die soff ich nun eben wie die vorige […] hinein. [...] Kurtz darauf kam mir so ein unverhoffter und geschwinder Schlaff an [...] Ich war her und legte mich die Länge lang hinter die Taffel auf die Banck. [...]

33 Vgl. HEMPEL, 1966, S. 424 u. 427f. Hempel gibt auch einen konzisen Überblick über das historische Präsens in der älteren deutschen Literatur. 34 REUTER, 1997, S. 68.

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Zeitenwende – Zum Funktionswandel des historischen Präsens Indem ich nun so eine halbe vierthel Stunde etwan lag, Sapperm., wie wurde mir übel u. fing an zu kruncken [stöhnen, ächzen]. Die Braut, welche mir vor andern sehr gewogen war, will nach mir sehen und fragen was mir ist. Sie versieht sichs aber nicht und ich versehe michs auch nicht, daß mir das speyen so nahe ist und fange da an zu speyen und speye der Tebel hohlmer der Braut den Busen gantz voll, daß es immer unten wieder durchlieff. Sapperment! was war da vor ein Gestanck, daß sie davon alle aufsahen und weggehen musten. […] Als solches die andern Standes-Personen mercken mögen, daß ich voll bin, lassen sie mich ins Quartier schaffen, daß ich den Rausch ausschlaffen muß. Auf den morgenden Tag wie ich wieder erwachte, wuste ich der Tebel hohlmer nicht, was ich vorigen Abend gethan hatte […]35

Die Präsensstellen im Schelmuffsky sind kurze Einschübe, die den Zweck haben, die Aufmerksamkeit auf bestimmte Momente eines TeilEreignisses zu lenken, um solcherart die Mitte eines kleinen Spannungsbogens zu kennzeichnen. In diesem Sinn ist ihre Kürze essentieller Bestandteil ihrer Funktion und Grundbedingung ihrer Anwendung die durchgehende Verwendung des Präteritums als Haupterzählzeit. Diese Art der Unterbrechung eines Erzählstroms verbindet die Anwendung des historischen Präsens im Schelmuffsky mit jener in Eichendorffs Aus dem Leben eines Taugenichts, beide nützen die Allusion auf die Grundstruktur eines Märchens mit seiner Und-dann-Reihung und den eng dazugehörigen, ja sie ergänzenden Elementen der Überraschung. Deutlich fühlbar ist es auch die Qualität einer Bachtinʼschen Abenteuerzeit, die für diese Art des Erzählens konstitutiv ist und aus deren Ablauf einzelne Momente herausgehoben werden. Diese wirken zwar strukturierend, aber nur auf die Mikro- oder Teilhandlung, die gerade erzählt wird. Es geht dabei im Sinne Casparis’ aber kaum um die Frage, welcher Art die „narrative Distanz“ ist, also die Beziehung, die der Erzähler zu den dargebrachten Geschichten hat, dieses Motiv steht hier nicht im Mittelpunkt. (Auch wenn Schelmuffskys bescheidenes Ende als Gegensatz zu seinen Abenteuern eine Rolle spielt.) Ähnlich wie später bei Eichendorff genügt hier allemal ein geseufzter Hinweis darauf, wie lange 35 Ebd, S. 82ff.

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alles her ist, eine genauere Beschreibung der Verbindung zwischen der ,Gegenwart‘ des Ich-Erzählers und dem von ihm Erzählten findet sich hier daher nicht. Auf diese Weise wirken die märchenhaften Einschübe im Präsens, die die Überraschung betonen und das Unvorhergesehene begleiten, geradezu als Bestätigung der ,zeitlosen‘ Grundstruktur dieser Darstellungen, bei denen vor allem die Lust des Erzählens im Vordergrund steht. Sie kümmert sich um den Moment und um den Effekt, mit dem dieser herausgestellt werden kann, die Problematisierung der Beziehung des Ich zum Dargestellten ist nicht wichtig. Das unterscheidet diese Verwendung des szenischen Präsens fundamental von jener modernen bei Hamsun und im Landarzt, die mit dem Paradigma der Verunsicherung die Emotionen des Ich-Erzählers ins Spiel bringt und dessen Darstellungsmodus und -möglichkeiten hinterfragt. Das szenische Präsens bei Kafka entspricht also viel mehr der „emotiven“ Verwendung nach Casparis, in der das Präsens mehr auf die Affiziertheit des Erzähler-Ichs selbst hinweist als auf dessen Souveränität in Bezug auf die Ausgestaltung der Episoden für den Leser, wie sie die Rhetorik Schelmuffskys zeigt. Casparis vermerkt im Zusammenhang der emotiven Verwendung, die er für The Ragman’s Daughter beschreibt, dass auch sie häufig in Form von Einschüben in Ich-Romanen mit Präteritum als Erzählzeit zu finden ist (vgl. CC: 78).36 Wie gezeigt, verdeutlicht hier die Präsensverwendung die spezifische Qualität der narrativen Distanz, während die rhetorisch-affektive Anwendung des Schelmuffsky dem anderen Ende dieser Skala zuzuordnen ist. Im Zusammenhang der Präteritum-Präsens-Opposition sowohl bei affektivem wie emotivem Präsens kann aber vor allem eine Ergänzung zur Terminologie geleistet werden. Den meisten Beschreibungen des historischen Präsens in Grammatiken liegt das Oppositionsmodell, wonach das Präteritum als Grundtempus von Präsenseinschüben unterbrochen wird, zugrunde, wenn auch nicht immer ausgesprochen. Der Duden erweist sich bei aller Knappheit in dieser Hinsicht als relativ genau 36 Casparis’ Korpus umfasst mehrere Romane mit Präsens als Haupterzählzeit, sowohl in der ersten wie in der dritten Person, darunter etwa Romane von Christopher Isherwood oder Muriel Spark, Casparis vermutet einen Zusammenhang mit dem Aufkommen des ,Nouveau roman‘ Ende der fünfziger Jahre (vgl. CC: 206). Sein frühestes Beispiel ist aber aus dem Jahr 1890, Rhoda Broughtons Alas!.

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und bringt das Moment der Unterbrechung der Präteritumserzählung als Unterscheidungskriterium ein. Nach dieser Definition dürfte man im Zusammenhang der fiktionalen Erzählung nur vom „szenische[n] Präsens“ sprechen: Das Präsens bezieht sich auf ein bereits vergangenes Geschehen und wird an der Stelle des Präteritums verwendet, um die stilistische Wirkung einer stärkeren Verlebendigung und Vergegenwärtigung zu erzielen (historisches Präsens oder Praesens historicum): Da liege ich doch gestern auf der Couch und lese, kommt Ingeborg leise ins Zimmer und gibt mir einen Kuß.

Dieses Präsens wird auch gerne in Schlagzeilen (Lokomotive kollidiert mit Lastwagen) oder in Geschichtstabellen (49 v. Chr.: Cäsar überschreitet den Rubikon) gebraucht. Wenn dieses Präsens in einer „präteritalen Umgebung“ steht, d. h., wenn präsentische Formen das Präteritum als Erzähltempus nur unterbrechen, spricht man von szenischem Präsens: Und aus einem kleinen Tor, das ... sich plötzlich aufgetan hatte, bricht – ich wähle hier die Gegenwart, weil das Ereignis mir so sehr gegenwärtig ist – etwas Elementares hervor ... (Th. Mann).37

Casparis verwendet in seiner Arbeit mit Verweis auf die wenig systematisierte Terminologie zu den vielfältigen Arten der literarischen Präsensverwendung die Bezeichnung „historisches Präsens“ als Generalterminus für alle Arten der narrativen Präsensverwendung (vgl. CC: 10f.). Das gilt auch für unsere Zwecke, denn die Auffassung, die hier in der Duden-Grammatik Niederschlag gefunden hat, stellt keineswegs eine allgemein verbreitete Definition dar. Auf den ersten Blick scheint mit der hier implizit eingebrachten Unterscheidung zwischen fiktionaler und nicht-fiktionaler Anwendung des historischen Präsens, das im Erzählkontext zum „szenische[n] Präsens“ werden soll, eine gangbare terminologische Entscheidung getroffen. Genau besehen ist diese Unterscheidung aber prekär, denn die Konnotation der Szenen- oder Bildhaftigkeit kommt beiden Anwendungen zu. In beiden Kommunikationsmodi geht es als Grundmerkmal um die Verlebendigung des Erzählten und darum, die Aufmerksamkeit des Hörers/Lesers zu erhöhen. Aus 37 Duden Grammatik der deutschen Gegenwartssprache, 1995, S. 146.

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diesem Grund ist zwar, auch im Lichte des soeben Dargestellten, der Hinweis auf die „präteritale[] Umgebung“ wichtig, der Unterschied jedoch zwischen dem ersten Duden-Beispiel und dem letzten nicht systematisch erklärbar. Deswegen werden auch hier die beiden Termini weitgehend bedeutungsgleich verwendet. Die Bezeichnung ,szenisches Präsens‘ mag im literarischen Kontext oft treffender wirken, doch heißt dies umgekehrt nicht, dass der Begriff im Zusammenhang einer nichtfiktionalen Präsensverwendung, die den gleichen Zweck verfolgt, nicht zutrifft. Die romantische Qualität des Erzählens ist an der Präsensverwendung des Taugenichts deutlich abzulesen. Harald Weinrich verwendet in seiner Textgrammatik der deutschen Sprache38 als Beispiel für das historische Präsens folgende Textstelle: Als ich die Augen aufschlug, stand der Wagen unter hohen Lindenbäumen, hinter denen eine breite Treppe zwischen Säulen in ein prächtiges Schloß führte. Seitwärts durch die Bäume sah ich die Türme von W. Die Damen waren, wie es schien, längst ausgestiegen, die Pferde abgespannt. Ich erschrak sehr, da ich auf einmal so allein saß, und sprang geschwind in das Schloß hinein, da hörte ich von oben aus dem Fenster lachen. In diesem Schlosse ging es mir wunderlich. Zuerst, wie ich mich in der weiten, kühlen Vorhalle umschaue, klopft mir jemand mit dem Stocke auf die Schulter. Ich kehre mich schnell herum, da steht ein großer Herr in Staatskleidern, ein breites Bandelier von Gold und Seide bis an die Hüften übergehängt, mit einem oben versilberten Stabe in der Hand und einer außerordentlichen langen, gebognen, kurfürstlichen Nase im Gesicht, breit und prächtig wie ein aufgeblasener Puter, der mich frägt, was ich hier will. Ich war ganz verblüfft und konnte vor Schreck und Erstaunen nichts hervorbringen. Darauf kamen mehrere Bedienten die Treppe herauf und herunter gerennt, die sagten gar nichts, sondern sahen mich nur von oben bis unten an. Sodann kam eine Kammerjungfer (wie ich nachher hörte) grade auf mich los und sagte: ich wäre ein charmanter Junge und die gnädige Herrschaft ließe mich fragen, ob ich hier als Gärtnerbursche dienen wollte?39 38 Vgl. WEINRICH, 2003. 39 EICHENDORFF, 1978, S. 5f. Im Folgenden zitiert als LT.

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Das historische Präsens kommt im Taugenichts an etlichen Stellen zum Einsatz, es dient wie hier zumeist der Heraushebung einer überraschenden Begegnung oder plötzlichen Begebenheit und ähnelt darin einerseits stark der rhetorischen Verwendung im Schelmuffsky oder dem häufig zitierten Beispiel von Thomas Mann (siehe Duden-Zitat oben).40 Zum anderen zeigen aber diese Präsensszenen und -einsätze eine interessante innere Verknüpfung, indem sie über diese Strukturierung, bzw. deren kanonische Anwendung ausnützend, das Motiv der inneren Reise des Helden stützen; im Zusammenhang der Entpuppung des jungen Toren hin zum heiratsfähigen jungen Mann spielen im Taugenichts die Begegnungen als Wendungen eine besondere Rolle. Sie führen ihn jeweils in neue Richtungen, allen voran natürlich die Begegnung mit der „schönen Dame“ gleich zu Beginn auf der Landstraße, hier setzt auch das Präsens in der Novelle ein: „Indem, wie ich mich so umsehe, kömmt ein köstlicher Reisewagen ganz nahe an mich heran […] und zwei vornehme Damen steckten die Köpfe aus dem Wagen und hörten mir zu.“ (LT: 4) Diese Verknüpfung zwischen Präsens und dem zentralen Liebesmotiv wird einige Male wiederholt, dazu kommen gleichsam als dramaturgische wie persönlichkeitsbildende Entwicklungsmarker die Begegnungen mit den vermeintlichen Räubern, die sich als die Maler Leonhard und Guido (die verkleidete Gräfin des Schlosses, dessen Gärtner der Taugenichts zu Beginn ist) entpuppen und den Helden als ihren Kutscher mit nach Italien nehmen, und jene mit einem neugierigen Italiener, dem „buckligen Männlein“, der sich am Ende als Häscher der Gräfin erweist, aber vor allem durch seine Fragen und seine unheimliche Erscheinung den Taugenichts mit dem Fremdsein konfrontiert, indem er ihn in einen „babylonischen Diskurs“ verwickelt und seine Reise als Schatten begleitet (vgl. LT: 33f., 36, 39, 41). Auch die Wiederbegegnung mit der Stimme der „schönen gnädigen Frau“, dann mit ihrer Zofe, mit der schon eine Anfangsbegegnung im Präsens geschildert wird, gehören in diese Reihe und leiten die Umkehrbewegung aus Rom ein (vgl. LT: 7, 61, 78). Die Prager Studenten, die den Taugenichts an die einsame Seite seines Musikerlebens erinnern, aber nach den Römer 40 Das Überraschungsmoment wird in Bezug auf das historische Präsens am häufigsten hervorgehoben, vgl. auch HEMPEL, 1966, S. 427. Auf das Motiv der Begegnung im Taugenichts verweist auch WEINRICH, 2003, S. 218.

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Künstlern auch eine Begegnung mit dem Bücherwissen darstellen, lernt er am Rückweg kennen, mit ihnen reist er zurück nach Österreich (vgl. LT: 81). Alle diese Aufeinandertreffen werden durch Präsenseinschübe als Abschnittssignale eingeführt oder von kürzeren Präsensszenen begleitet, sodass diese kohärente Kette von Etappen der äußeren wie inneren Reise einen für die Komposition der Erzählung wichtigen Chronotopos der Begegnung ergibt. Der Ich-Erzähler problematisiert hier seine Reise freilich nicht, wie es Casparis für The Ragman’s Daughter schildert, aber das Präsens im Taugenichts hebt sich auch deutlich von der affektiven Verwendung im Schelmuffsky ab. Über die Kreisstruktur, die es bezeichnet und die das Moment von Vertrautheit und Fremdheit thematisiert, indem bei den Begegnungen immer wieder die Elemente des Heimlichen und Unheimlichen betont werden, wobei sich die zuerst unheimlichsten Figuren zum Schluss als die vertrautesten erweisen, wird die Frage der Emotionen des Helden immer mitgeführt. Die auf den ersten Blick ähnlich rhetorisch motivierte Präsensverwendung wie bei Schelmuffsky geht hier so deutlich in Richtung einer psychologisierenden bzw. emotiven Verwendung wie von Casparis beschrieben, auch wenn der Held des Taugenichts es vor allem beim Wundern belässt und im Zusammenhang der romantischen Erzählung gerade das Nichtverstehen der Zusammenhänge seiner Geschichte ein zentrales Motiv ist. Aus diesem Motiv heraus ist das Verstehen auch gar nicht wichtig, die wunderbare Lösung am Schluss erweist schließlich die Aufgehobenheit des Helden, die nie wirklich in Gefahr war. Dennoch sind gerade zur Darstellung genau dieser Verfasstheit des Helden gleichzeitig die innere Reise und das emotionale Moment wichtige Elemente. In diesem Sinne spielen seine Naivität, außerdem Verblüffung und die Schamhaftigkeit des Helden eine Rolle: In dem Garten war schön leben, ich hatte täglich mein warmes Essen vollauf und mehr Geld, als ich zu Weine brauchte [...] So sang ich auch einmal, wie ich eben bei einem Lusthause zur Arbeit vorbei ging, für mich hin: […] Da seh ich aus dem dunkelkühlen Lusthause zwischen den halbgeöffneten Jalousien und Blumen, die dort standen, zwei schöne, junge, frische Augen hervorfunkeln. Ich war ganz erschrocken, ich sang das Lied

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Zeitenwende – Zum Funktionswandel des historischen Präsens nicht aus, sondern ging, ohne mich umzusehen, fort an die Arbeit. (LT: 7)

Zum Märchenton des Taugenichts tragen die anfängliche Spärlichkeit der Figurennamen und vor allem auch das unbestimmte Zeitgefühl bei, das den Eindruck entstehen lässt, der Held bewege sich in einem naturhaften Zeitkontinuum, innerhalb dessen ihn die unvermittelten Begegnungen immer wieder von neuem treffen. Dazu gehört, dass die Abstände zwischen Ereignissen nicht genau bezeichnet werden. Vor allem am Beginn der Erzählung werden mehrere Ereignisse im Präsens herausgestrichen, sie stehen fast alle im Zusammenhang der Verliebtheit des Helden in die schöne Unbekannte. Um einen Blick von ihr zu erhaschen, streicht er oft durch den Garten und versteckt sich unter ihrem Fenster: Dorthin ging ich dann immer am frühesten Morgen und duckte mich hinter die Äste, um so nach den Fenstern zu sehen, denn mich im Freien zu produzieren hatt’ ich keine Courage. Da sah ich nun allemal die allerschönste Dame noch heiß und halb verschlafen im schneeweißen Kleide an das offne Fenster hervortreten. Bald flocht sie sich die dunkelbraunen Haare […] oder sie nahm auch die Gitarre in den weißen Arm und sang dazu so wundersam über den Garten hinaus, daß sich mir noch das Herz umwenden will vor Wehmut, wenn mir eins von den Liedern bisweilen einfällt – und ach, das alles ist schon lange her! So dauerte das wohl über eine Woche. Aber das eine Mal, sie stand grade wieder am Fenster und alles war stille rings umher, fliegt mir eine fatale Fliege in die Nase, und ich gebe mich an ein erschreckliches Niesen, das gar nicht enden will. Sie legt sich weit zum Fenster hinaus, und sieht mich Ärmsten hinter dem Strauche lauschen. – Nun schämte ich mich und kam viele Tage nicht hin. (LT: 8f.)

Obwohl in Ironie aufgelöst, markiert die Stelle eine nicht unwichtige Etappe. Sie steht sinnbildlich für die anfängliche Schüchternheit und Tölpelhaftigkeit des jungen Mannes, auch für sein Gefühl der Unterlegenheit, das sich im Laufe der Erzählung immer mehr auflöst. Besonders das gleich zu Beginn eingeführte Motiv des Erblickens ist mit dem Präsens verknüpft und begleitet seine zunehmende Verliebtheit. Gleich-

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zeitig macht der Held auch irritierende Erfahrungen mit der neuen Welt, die er im Umkreis seiner Angebeteten kennenlernt und die ihm zu Beginn unerreichbar und fremd ist. Bei einer Szene am Ende des ersten Kapitels soll er die Gesellschaft bei einer Kahnfahrt über den See rudern. Er hat freilich nur Augen für seine vornehme Schöne, dennoch übersieht und überhört er nicht die Bemerkungen der anderen Gäste: Einer der jungen Herren, der ganz vorn stand, fing unmerklich an zu schaukeln. Da wandten sich die Damen furchtsam hin und her, einige schrien gar. Die schöne Frau, welche eine Lilie in der Hand hielt, saß dicht am Bord des Schiffleins und sah stillächelnd in die klaren Wellen hinunter, die sie mit der Lilie berührte, so daß ihr ganzes Bild zwischen den wiederscheinenden Wolken und Bäumen im Wasser noch einmal zu sehen war, wie ein Engel, der leise durch den tiefen blauen Himmelsgrund zieht. Wie ich noch so auf sie hinsehe, fällt’s auf einmal der andern lustigen Dicken von meinen zwei Damen ein, ich sollte ihr während der Fahrt eins singen. Geschwind dreht sich ein sehr zierlicher junger Herr mit einer Brille auf der Nase, der neben ihr saß, zu ihr herum, küßt ihr sanft die Hand und sagt: „Ich danke Ihnen für den sinnigen Einfall! Ein Volkslied, gesungen vom Volk in freiem Feld und Wald, ist ein Alpenröslein auf der Alpe selbst – die Wunderhörner sind nur Herbarien –, ist die Seele der Nationalseele.“ Ich aber sagte, ich wisse nichts zu singen, was für solche Herrschaften schön genug wäre. (LT: 10f.) [Herv. i. O.]

Dieser Stelle folgt noch eine Präsensverwendung im Nebensatz, die das Ergebnis der peinsamen Szene im Kahn zusammenfasst, ein innerer Ausruf des Helden zeigt die Macht seiner Verliebtheit und die Stärke seiner Demütigung: Die schöne Frau hatte während meines ganzen Liedes die Augen niedergeschlagen und ging nun auch fort und sagte gar nichts. – Mir aber standen die Tränen in den Augen schon wie ich noch sang, das Herz wollte mir zerspringen von dem Liede vor Scham und vor Schmerz, es fiel mir jetzt auf einmal alles recht ein, wie sie so schön ist und ich so arm bin und verspottet und verlassen von der Welt –, und als sie alle hinter den Büschen verschwunden waren, da konnt’ ich mich nicht län-

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Zeitenwende – Zum Funktionswandel des historischen Präsens ger halten, ich warf mich in das Gras hin und weinte bitterlich. (LT: 12) [Herv i. O.]

Diese Szenen bezeichnen das vorläufige Ende der Begegnung des Taugenichts mit Aurelie. Er verlässt den Schlossgarten und tritt nach einer kurzen Periode als Zolleinnehmer seine Reise in den Süden an. Im Kontext seiner dargelegten weiteren Gefühlsentwicklung sind diese Vorkommnisse aber grundlegend und von metaphorischer Tiefe. Dass er sich verliebt, erschließt dem Jüngling einen Weltzugang, über Euphorie, Nachdenklichkeit und Schmerz erwacht er nicht zuletzt in romantischer Manier selbst zum Künstler, auf seinen Reisen wird er zunehmend von seiner Umgebung als Musiker wahrgenommen. Auch in diesem Sinn stehen die Präsensszenen zu Beginn also in einem für diese Ich-Erzählung deutlich existentiellen Zusammenhang und gehen in Richtung einer emotiven Verwendung nach Casparis. Gegenüber dem Rest der Novelle sind die Präsenseinschübe im ersten Kapitel häufiger und betonen so den Beginn der Liebe als Ursprung der Bewusstwerdung des Helden. Dennoch ist freilich der Unterschied dieser romantischen Emotivität zu jener der zitierten Beispiele aus Ich-Erzählungen der Moderne um 1900 leicht zu sehen. Das historische Präsens im Taugenichts entspricht dem Novellencharakter der Erzählung und unterstützt dessen formale Umsetzung, indem es eine Mikro-Reihe von unerhörten Begebenheiten kennzeichnet. Sein Gebrauch trägt Elemente einer rhetorischen Tradition der Heraushebung bestimmter Handlungsmomente zur Portionierung eines Erlebnisses des Ich-Erzählers. Nicht unwesentlich ist dabei das Moment der rhetorischen variatio, das auch die Kürze dieser Präsenspassagen bestimmt. Es geht aber bei dieser Textstrategie nicht so sehr um jene Art der Beglaubigung der Erzählerfigur, wie sie Casparis für den Tempuswechsel bei und nach Dickens beschreibt. Zwar wird auch in den späteren Texten das Motiv der Begegnung der Helden mit ihrer Umgebung in Präsenseinschüben angesprochen, ganz anders zielen aber diese auf existentielle Anschaulichkeit im Sinne einer unheimlichen Ausgeliefertheit vor allem an die eigene Wahrnehmung, die im Fall von Hunger und Der Landarzt jeweils den ganzen Text durchzieht und grundlegend strukturiert. Casparis bezeichnet den modernen Einsatz der

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Präsenspassagen bei Dickens als „tense-structural experimentation“ (CC: 71). Was also bei Hamsun und Kafka ausgenützt wird, ist die Möglichkeit einer Intensivierung der Darstellung von Perzeption, die ebenso über das Präsens erreicht werden kann, aber nicht so sehr abwechslungsreiche Rede inszeniert, sondern den Wahrnehmungsprozess, dem das Individuum hier ausgesetzt ist, selbst thematisiert. Die Länge und der insistierende Einsatz dieser Präsenspassagen signalisieren so ihren Charakter als Darstellungsmittel, das über die klassische Stilfigur hinausgeht und auf grundlegende Motive der Moderne um 1900 verweist. Sie stellen nicht so sehr die Kunst des Erzählens heraus, sondern vor allem die Möglichkeit der Aussage in Frage. Die Kurzanalysen zeigen, wie wichtig die genaue Bestimmung der Textfunktionen der Tempora in ihrer individuellen Ausprägung ist. Gleichzeitig soll in der Gegenüberstellung ein Bild davon gegeben werden, dass ein spezifischer Einsatz wie der des historischen Präsens durch Goethe als Kernstück einer Entwicklungslinie gelesen werden kann, das mit der formalen wie inhaltlichen Abhandlung von Grundfragen eines ganzen Genres dieses nachhaltig prägt, die stilistische Wahl ist hier klares Zeichen einer Evolution der Gattung. Goethe sprengt deutlich den als kanonisch geltenden Gebrauch des Mittels, steht damit konträr zur vermeintlich traditionellen Erzählweise seines Romans, was als intendierter Bruch der Romanform interpretiert werden kann, und bietet in seiner Detailgestaltung des Gedankenberichts wie der thematischen Fokussierung ein Paradigma, das sowohl in der Darstellung der psychischen Gespaltenheit der Figuren wie in der Korrelation von Präsensgebrauch und Gefühlsdiskurs in auffallender Weise wiederaufgenommen wird. Mit Barthes kann dieser Einsatz als grundlegend neuer literarischer Habitus gelesen werden, der die „psycho-narration“ (Dorrit Cohn) des modernen Romans insgesamt miterfindet und die direkte innere Verbindung zur literarischen Moderne um 1900 vorgibt.

Literatur BARTHES, ROLAND, Am Nullpunkt der Literatur, aus dem Frz. von HELMUT SCHEFFEL (st 762), Frankfurt a. M. 1985.

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Zeigen, wie es eigentlich gewesen ist Objektivitätskonstruktionen im historischen Erzählen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ANDREA JÄGER

Es ergibt sich auch aus dem Gesagten, dass es nicht die Aufgabe des Dichters ist, zu berichten, was geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte und was möglich wäre nach Angemessenheit oder Notwendigkeit. Denn der Geschichtsschreiber und der Dichter unterscheiden sich nicht dadurch, dass der eine Verse schreibt und der andere nicht […]; sie unterscheiden sich vielmehr darin, daß der eine erzählt, was geschehen ist, der andere, was geschehen könnte. (Aristoteles)1

Man kann sagen, dass für den klassischen historischen Roman des 19. Jahrhunderts gilt, er habe versucht, diesen Unterschied zwischen Geschichtsschreiber und Dichter zu tilgen. Das, was gewesen sein könnte, sollte in den Dienst genommen werden, um darzustellen, was gewesen ist.2 Die paradoxe Einheit von Fiktion und Faktum beruhte da1 2

ARISTOTELES, 1987, S. 403. Der historische Ausgangspunkt dieser Annäherung war ein anderer als bei Aristoteles. Dieser wusste die Dichtkunst der Geschichtsschreibung überlegen: „Darum ist die Dichtung auch philosophischer und bedeutender als die Geschichtsschreibung. Denn die Dichtung redet eher vom Allgemeinen, die Geschichtsschreibung vom Besonderen. Das Allgemeine besteht darin, darzustellen, was für Dinge Menschen von bestimmter Art reden

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rauf, dass es schließlich nicht nur darum ging, eine schlichte Chronologie der Ereignisse zu verfassen. Vielmehr wollte man – und darin war man sich mit der Geschichtsphilosophie und der Historiographie prinzipiell einig – den Gesetzmäßigkeiten der Geschichte auf die Spur kommen, und das galt als gleichbedeutend damit, ihren Sinn zu finden und diesen zur Anschauung zu bringen. Man interpretierte den Geschichtsverlauf, suchte nach Maßgabe des zeitgenössischen philosophischen und wissenschaftlichen Geschichtsverständnisses diesen Verlauf in seiner inneren Folgerichtigkeit zu erfassen, erblickte in der Möglichkeit dazu die prinzipielle Geist- und Subjektgemäßheit der Geschichte, verschaffte dieser Deutung im Roman eine fiktive Anschauungswelt und wollte diese Fiktion zugleich als Ausdrucksweise eines der Literatur vorausgesetzten, in der historischen Realität wirksamen und die Geschichte determinierenden Telos verstanden wissen. Im 19. Jahrhundert selbst, aber auch noch über weite Strecken des 20. Jahrhunderts wurden die in diesem Sinne verfassten historischen Romane ihrem Anspruch entsprechend rezipiert. Man verglich sie mit den historischen Quellen, stellte allenthalben Abweichungen fest, die man dem Autor oder seinem Werk im einen Fall zum Vorwurf machte, im anderen als – vielleicht sogar notwendige – Mittel zur Darstellung der historischen Wahrheit konzedierte. Beispielhaft das Vorwort des Herausgebers von Wilhelm Hauffs Lichtenstein für die Ausgabe von 1868,3 als das Werk bereits Klassikerstatus besaß: Es seien hier „geschichtliche Charaktere mit freien Schöpfungen der dichterischen Phantasie zu einem anmuthigen Bilde vereinigt“ (WH: III), das freilich „zu einer Prüfung seiner historischen Wahrhaftigkeit“ auffordere (WH: VII). Mit der sei es nun nicht unbedingt zum Besten bestellt, jedenfalls meldet der Herausgeber viereinhalb Seiten lang Korrekturbedarf an in Bezug auf die historische Figur des württembergischen Herzogs Ulerich, um am Ende dem Werk dennoch zu attestieren, dass letztlich, wolle man nicht „pedantisch“ sein, „Hauffs liebenswürdige Erzählung auch vor einer geschichtlichen

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oder tun nach Angemessenheit und Notwendigkeit, das Besondere aber, zu berichten, was Alkibiades tat oder erlebte.“ (Ebd., S. 403f.) Die Schriftsteller im 19. Jahrhundert hatten es mit der entgegengesetzten Wertschätzung zu tun. Sie versuchten sich deshalb des Renommees der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung zu versichern, um die noch junge und nach wie vor umstrittene Gattung des Romans salonfähig zu machen. HAUFF, 1868. Im Folgenden zitiert als WH.

Zeigen, wie es eigentlich gewesen ist

Betrachtung der Dinge bestehen“ könne. (WH: XII) Der Abgleich mit den historischen Fakten als Bewertungskriterium, das die historischen Erzählungen im Ausgangspunkt als Variante der Geschichtsschreibung ernst nimmt, wurde in der jüngeren Vergangenheit im Zuge der Diskussionen über den Zusammenhang von Dichtung und Geschichtsschreibung und der Entdeckung der Historiographie als einem narrativen Genre nicht etwa verworfen, sondern in einem sehr prinzipiellen Sinne entschieden, und zwar mit dem Verweis auf die Konstruiertheit jeglicher Realitätsdarstellung. So produktiv dieser Gedanke auch ist – wie die Fülle von Untersuchungen und Forschungsprojekten, die sich ihm widmen, belegt –, in Bezug auf die Analyse des historischen Erzählens verliert er die Werke aus dem Blick, die gerade auf der Objektivitätsbehauptung beruhen.4 Deren Textprofil besteht freilich in ausgefeilten 4

Im Anschluss an die Analysen von Hayden White, die er 1973 in seinem Werk Metahistory. The historical Imagination in nineteenth-Century Europe (in deutscher Übersetzung WHITE, 1994) veröffentlicht hat, ist in den letzten zwei Jahrzehnten eine Flut von Arbeiten erschienen, die den Zusammenhang von Dichtung und Geschichtsschreibung untersuchen. Diese greifen Whites Vorschlag auf, die ästhetischen Verfahren der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts als konstruktive Verfahren der Historiographie schlechthin zu generalisieren. Vor allem aus konstruktivistischer Sicht und aus der Perspektive des New Historicism erscheint jeder Text – analytisch oder fiktional – als eine kulturelle Konstruktionsleistung, deren Referenz bestenfalls im Bezug auf ihresgleichen liegt. Einschlägig ist hier die Neuausrichtung der Mimesisdiskussion, die Ansgar Nünning in seinem für die Forschung zum modernen historischen Roman wichtigen Werk zusammengefasst hat. Vgl. NÜNNING, 1995, insbesondere die ersten beiden Kapitel. Im Unterschied dazu fassen die hier angestellten Überlegungen das Phänomen der Sinnkonstruktion enger, das heißt inhaltlich auf. Hier geht es um die für das 19. Jahrhundert zentrale Behauptung, die Geschichte sei ein wesenhafter und darin zustimmungsfähiger Prozess, der die Menschen – in welcher funktionalen Bestimmung auch immer – nicht nur ergreife und präge, sondern dessen Determinationsleistung – zumindest letztlich – als den Menschen und den gültigen sittlichen Maßstäben entsprechende Bestimmung aufgefasst werden könne. Dieser positive Blick auf die Geschichte wollte sich nicht als Idealismus verstanden wissen, sondern als Nachvollzug des Wesenskerns der Realität selbst. Literatur und Geschichtsschreibung arbeiteten gemeinsam an der Absicherung dieses Blicks als objektiv, und zwar solange, bis die ersten Einwände, wie etwa die von Nietzsche in Vom utzen und achteil der Historie für das Leben 1874 (NIETZSCHE, 1922) vorgebrachten, wirksam wurden. Ausführlich zu dieser Entwicklung die Kapitel über das Geschichtsdenken im 19. Jahrhundert in: JÄGER, 1998.

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erähltechnischen und stilistischen Verfahren, ihren Objektivitätsanspruch zu untermauern. Im Folgenden sollen einige dieser Verfahren betrachtet werden. Welche Mittel bietet der historische Roman des 19. Jahrhunderts auf, die Behauptung zu beglaubigen, das literarischfiktive Geschichtsbild sei mehr als ein möglicher Entwurf von Geschichte, es sei vielmehr ein Entwurf, der Objektivität für sich reklamieren könne, der also jenseits des Textes und in Bezug auf die historische Wirklichkeit gültig sei?

1. Das Wackelbildprinzip. Hauffs Lichtenstein Zuerst stellt sich die Frage, wie sich der Objektivitätsanspruch in den Romanen artikuliert; woran bemerkt man überhaupt, dass es ihn gibt? Die einfachste Form besteht darin, dass ein auktorialer Erzähler auftritt, der den Objektivitätsanspruch explizit vertritt. Genau zu diesem Mittel greift der erste deutschsprachige Roman, der nach dem Vorbild Walter Scotts entstanden ist. Es handelt sich um den bereits erwähnten Roman Lichtenstein von Wilhelm Hauff aus dem Jahre 1826. Dieser Roman spielt im frühen 16. Jahrhundert und handelt von dem wegen seiner Niederlagen und wegen seiner Rücksichtslosigkeit gegenüber seinen Untertanen in der Geschichtsschreibung umstrittenen Herzog Ulerich von Württemberg. Der Untertitel des Romans – Romantische Sage aus der württembergischen Geschichte – unterstreicht zunächst einmal dessen fiktionalen Charakter. Doch dieser Eindruck wird zu Beginn in einer „Einleitung“ widerrufen: Bevor der Erzähler mit seiner Geschichte beginnt, legt er seine Erzählabsichten dar – er will das Bild des Herzog Ulerichs korrigieren – und verknüpft diese mit der Behauptung, seine Geschichte stelle die „historische Wahrheit“ (WH: 9) dar. Das ist zwar die einfachste Art und Weise, die objektive Gültigkeit der im Folgenden dargebotenen Lesart der Geschichte für sich zu reklamieren, allerdings auch eine folgenreiche. Denn nun steht die gesamte Erzählung unter einer Art Beweiszwang, die Objektivitätsbehauptung zu stützen. Welche Strategien entwickelt der Roman, diesen Beweiszwang zu bedienen? Schon der Anspruch selbst ist eigentümlich, entspricht doch die Denotation des Begriffs ‚historische Wahrheit‘ einem echten Wackelbild:

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Je nachdem, wie man es hält und darauf schaut, springt und wechselt das Bild zwischen zwei Bildern hin und her. ‚Historische Wahrheit‘ meint nicht unbedingt ‚Faktizität‘: Die erzählte Geschichte selbst muss sich nicht ereignet haben, wie sie erzählt wird. ‚Historische Wahrheit‘ meint aber auch nicht das Gegenteil, also ‚Fiktionalität‘: Denn was immer erzählt wird, muss der Objektivität entsprechen. Der Widerspruch hat – wie oben schon angedeutet – seine Quelle in dem Geschichtsbild des ästhetischen Historismus, der seine Sinnstiftung der Geschichte als deren Sinn ausweist. Dieser Widerspruch nun wird von Hauff in Lichtenstein als eine Art ‚Wackelbild-Prinzip‘ geradezu stilbildend eingesetzt. Das beginnt bereits mit der Position der Einleitung. Diese steht zwar in einem eigenen Kapitel, doch das Kapitel ist – anders etwa als bei Scheffel, der mit einem inhaltlich ähnlichen Vorwort arbeitet – integriert in den ersten Teil der Erzählung. So erhält diese Einleitung eine ambivalente Position. Inhaltlich außerhalb der erzählten Geschichte stehend, ist sie formal deren Bestandteil. Dieselbe Wackelbildlichkeit weist der Erzähler auf. In der Einleitung wird er als ein nichtdiegetischer Erzähler aufgebaut,5 der die Geschichte aus großem historischem Abstand erzählt. Dabei inszeniert sich der Erzähler als eine Instanz, deren Parteinahme für Land und Geschichte Württembergs sowie für seinen umstrittenen Landesfürsten Herzog Ulerich nicht nur glaubwürdig, sondern auch wohlbegründet ist, und die deshalb Allgemeingültigkeit beanspruchen darf. Als Mittel dafür greift er zunächst zu einer rhetorischen Finte: Er wirft den Kritikern Ulerichs Parteilichkeit vor, und zwar im Sinne des Macht-Konkurrenten Hutten: „Und doch möchte es die Frage sein, ob man nicht in Beurtheilung dieses Fürsten nur seinem erbittertsten Feinde, Ulerich von Hutten, nachbetet, der, um wenig zu sagen, hier allzusehr Partei ist, um als leidenschaftsloser Zeuge gelten zu können“. (WH: 5) Der Vorwurf, ein partikulares Interesse walte in dem Urteil derjenigen, die den Herzog kritisieren, soll umgekehrt den Eindruck erwecken, als sei der Erzähler selbst in seiner Parteinahme für den Herzog eine neutrale Instanz. Damit nicht genug. Um die Seriosität seiner Erzählung abzusichern, verweist er zusätzlich auf ein ausführliches Quellenstudium: „Wir haben 5

Ich verwende diese Begriffe im Sinne von Wolf Schmid, der die Begrifflichkeiten von Genette ein wenig vereinfacht hat. Siehe SCHMID, 2008.

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fast alle gleichzeitigen Schriftsteller, die Stimmen eines längstvergangenen vielbewegten Jahrhunderts, gewissenhaft verglichen und fanden keinen, der ihn geradehin verdammt.“ (WH: 5) Daraus wiederum leitet er unmittelbar das Recht auf sein freundlicheres Bild des Herzogs ab, das letztlich der Besonderheit der historischen Verhältnisse Rechnung trage: Und wenn man bedenkt, welch gewaltigen Einfluß Zeit und Umgebungen auf den Sterblichen auszuüben pflegen, wenn man bedenkt, daß Ulerich von Württemberg unter der Vormundschaft schlechter Räthe aufwuchs, die ihn zum Bösen anleiteten, um ihn nachher zu mißbrauchen, wenn man sich erinnert, daß er in einem Alter die Zügel der Regierung in die Hände bekam, wo der Knabe kaum zum Jüngling reif ist, so muß man wenigstens die erhabenen Seiten seines Charakters, hohe Seelenstärke und einen Muth, der nie zu unterdrücken ist, bewundern, sollte man es auch nicht über sich vermögen, die Härten damit zu mildern, die in seiner Geschichte das Auge beleidigen. (WH: 5)

Als letzter Hinweis auf die Fähigkeit, im Modus der Fiktionalität die Wahrheit der historischen Wirklichkeit zu zeigen, dient dem Erzähler der ironische Verweis auf die verbreitete Rezeptionshaltung: Im Falle von Walter Scotts Romanen sei es keine Frage, sie als Auskunft darüber zu lesen, wie es einmal gewesen war. In der erzählten Geschichte selbst wechselt der Erzähler die Rolle. Er ist nicht länger derjenige, der aus dem historischen Abstand von 300 Jahren mit einem analytisch gebildeten Blick die Ereignisse im frühen 16. Jahrhundert rekonstruiert, er springt vielmehr nach dem Wackelbild-Prinzip in die Rolle des diegetischen Erzählers. Seine Teilnahme an der erzählten Geschichte besteht darin, dass er Augenzeuge wird, der die Ereignisse so erzählt, dass seine Urteile und Emotionen unmittelbar als Maßstab der Geschehnisse selbst erscheinen: „Nach den ersten trüben Tagen des März 1519 war endlich am zwölften ein recht freundlicher Morgen über der Reichsstadt Ulm aufgegangen.“ (WH: 11) Das „endlich“ ist die Stellungnahme eines Betroffenen. Die personale Sicht, die der Erzähler hier einnimmt, referiert aber auf keine bestimmte Figur der erzählten Geschichte, sie drückt vielmehr die Stimmung des Erzählers selbst aus, der freilich sein Empfinden hier so verobjektiviert, als

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folge es notwendig aus den geschilderten Umständen und als sei es das allgemeine Empfinden der Zeit. Im Vollzug der Erzählung kippt der Erzähler nun fortwährend hin und her zwischen seinen beiden Rollen, der des sich erinnernden Augenzeugen und der des Historikers. Als Historiker meldet er sich in den zahlreichen in den Text eingestreuten Fußnoten mit Quellenverweisen und Erläuterungen zu Wort, die das Dargestellte unmittelbar verobjektivieren. (Wie sehr ihm diese Verobjektivierungsabsicht gelungen ist, belegen spätere Ausgaben des Romans, die die als wissenschaftlichen Apparat missverstandenen Anmerkungen dem historischen Kenntnisstand der gegenwärtigen Leserschaft angepasst und erweitert haben.6) Auch innerhalb der Erzählung gibt sich der Erzähler als Historiker zu erkennen, um beispielsweise kundzutun, dass und inwiefern die Geschichte nur der Überlieferung folge. So beginnt etwa das sechste Kapitel mit der Nachricht über einen glücklichen Buchfund in einem Antiquariat, dem es zu verdanken sei, dass der Erzähler nun wirklichkeitsgetreu den Abendtanz im Ulmer Rathaus 1519 zu schildern vermag. Der Übergang vom diegetischen zum nichtdiegetischen Erzählen findet oftmals fließend in einem Satz statt, wie folgende Passage aus dem ersten Kapitel zeigt: Das anmuthigste Bild gewährte wohl ein Erkerfenster im Hause des Herrn Hans von Besserer. Dort standen zwei Mädchen, so verschieden an Gesicht, Gestalt und Kleidung, und doch beide von so ausgezeichneter Schönheit, daß, wer sie so von der Straße betrachtete, eine Weile zweifelhaft war, welcher er wohl den Vorzug geben möchte. Beide schienen nicht über achtzehn Jahre alt zu sein. Die eine, größere, war zart gebaut, reiches, braunes Haar zog sich um eine freie Stirne, die gewölbten Bogen ihrer dunkeln Brauen, das ruhige, blaue Auge, der fein-

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So geschehen in der in Zürich erschienenen Ausgabe aus dem Jahr 1987. Mit der editorischen Gewissenhaftigkeit historisch-kritischer Ausgaben erläutert der Verlag den Anmerkungsapparat, der nun nicht mehr als Fußnoten geboten wird, sondern sich im Anhang befindet: „Diese Ausgabe entspricht der ‚kritisch durchgesehenen und erläuterten Ausgabe‘ von Wilhelm Hauffs Werken, die Max Mendheim [...] 1891 herausgab. [...] Die Anmerkungen Hauffs (*) wurden in ihrem ursprünglichen Wortlaut belassen, mit denjenigen Mendheims zusammengefaßt und wenn nötig ergänzt.“ HAUFF, 1987, S. 393.

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Andrea Jäger geschnittene Mund, die zarten Farben der Wangen – sie gaben ein Bild, das unter unsern heutigen Damen für sehr anziehend gelten würde, das aber in jenen Zeiten, wo noch höheren Farben, volleren Formen der Apfel zuerkannt wurde, nur durch seine gebietende Würde neben der anderen Schönen sich geltend machen konnte. (WH: 11)

Ist hier der Rollenwechsel noch erkennbar, so verschmelzen wenig später die beiden Erzählerrollen: Sie hüpfte hinaus und ließ ihre Base allein bei ihren Gedanken; und auch wir stören sie nicht, wenn sie jetzt die schönen Bilder der Erinnerung durchgeht, die jene Erscheinung mit einem Mal aus dem tiefen, treuen Herzen hervorgerufen hatte, wenn sie jener Zeit gedenkt, wo ein flüchtiger Blick von ihm, ein Druck seiner Hand, ihre Tage erhellte, wenn sie jener Nächte gedenkt, wo sie im stillen Kämmerlein, unbelauscht von der seligen Muhme, jene Schärpe flocht, deren freudige Farben sie heute aus ihren Träumen weckten. Wir lauschen nicht, wenn sie erröthend und mit niedergeschlagenen Augen sich fragt, ob Bäschen Bertha den süßen Mund des Geliebten richtig beschrieben habe? (WH: 17)

Der Erzähler als Historiker und der Erzähler als sich erinnernder Augenzeuge einer fiktionalen Geschichte sind hier zu einer Figur zusammengeschlossen. So löst sich auf der Ebene der Erzählperspektive der Gegensatz von Fiktion und Faktum auf, das historisch Vergangene und deshalb nur noch Rekonstruierbare erscheint gleichermaßen als gegenwärtiges Geschehen. Für den fälligen Objektivitätsbeweis für die im Roman als historische Wahrheit behauptete Revision des Bildes vom Herzog Ulerich folgt daraus: Er wird nicht an dem Geschichtsbild selbst geführt, sondern indirekt, vermittelt dadurch, dass die Fiktionalität der Erzählung dementiert wird. Indem die Fiktion als Faktum erscheint, die Erzählung als faktentreu, beglaubigt sich die transportierte Geschichtsdeutung als objektiv gültige.

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2. Die Ver gleichstechnik. Scheffels Ekkehard Das Verfahren, den Objektivitätsnachweis der narrativen Geschichtsdeutung dadurch zu führen, dass auf die Faktentreue des Erzählten – also auf die Existenz des historischen Gegenstandes, auf den sich die Deutung bezieht – verwiesen wird, findet sich in den meisten historischen Romanen des 19. Jahrhundert, im sogenannten ‚Professorenroman‘ ist es sogar genrebildend geworden.7 Doch nicht immer ist dieses Verfahren derart stilprägend wie bei Hauff. In dem 1855 erschienenen Roman Ekkehard von Victor von Scheffel spielt es nur eine nebengeordnete Rolle, und zwar in Form von Fußnoten, in denen Begriffe erklärt und Quellen genannt werden. (Insgesamt gibt es 285 solcher Fußnoten. Auch in diesem Fall haben die Herausgeber einer jüngeren Ausgabe sie als bloß fachliches Beiwerk der Geschichte betrachtet und sie deshalb kurzerhand reduziert auf die „von allgemeinem Interesse und zum Verständnis des Textes notwendigen“8 89 Stück.) Für Schef7

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So erklärt etwa der Ägyptologe Georg Ebers, Verfasser vieler historischer Romane, im Vorwort seines Romans Der Kaiser aus dem Jahr 1881: „Wie oft war ich genötigt, wenn bei der Wiederbelebung einer fernen Vergangenheit die Mittel der Wissenschaft versagten, von der Einbildungskraft Rat und Hilfe zu fordern und mich des Wortes zu erinnern, daß der Dichter ein rückwärts schauender Prophet sein soll. Ruhig durfte ich der Phantasie gestatten, die Flügel zu entfalten, denn ich blieb Herr über sie und kannte die Grenzen, bis zu denen ich ihr erlauben durfte, sich aufzuschwingen. Ich hielt es für mein Recht, viel frei Erfundenes zu zeigen, aber nichts, das nicht in der darzustellenden Zeit möglich gewesen wäre. Die Rücksicht auf diese Möglichkeit hat überall der Phantasie Schranken gesetzt; wo die vorhandenen Quellen gestatteten, völlig treu und wahr zu sein, bin ich es stets gewesen, und die vorzüglichsten unter meinen Fachgenossen in Deutschland, England, Frankreich und Holland haben dies mehr als einmal bezeugt. Aber ich brauche wohl kaum hervorzuheben, daß die dichterische Wahrheit eine andere ist als die historische, denn diese soll möglichst unberührt bleiben von der Subjektivität ihres Verkünders, jene kann nur durch das Medium der Phantasie des Künstlers zur Wirkung gelangen. Wie meine beiden letzten Romane, so lasse ich auch den ,Kaiser‘ ohne Anmerkungen. Ich tue es in dem frohen Bewußtsein, durch gelehrte und andere Arbeiten einiges Recht auf das Vertrauen der Leser gewonnen zu haben. Nichts hat mich mehr zu immer neuem poetischem Schaffen ermutigt als der Umstand, daß durch diese Dichtungen meiner Wissenschaft mehrere Jünger zugeführt worden sind, deren Namen jetzt unter den Ägyptologen mit Achtung genannt werden.“ Zitiert nach: EBERS, 1881. VON SCHEFFEL, 1989. Die editorische Anmerkung findet sich auf S. 388.

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fels Roman bedeutender ist ein anderes Verfahren der Objektivierung, das sich aus der Art und Weise ergibt, wie dieser den Objektivitätsanspruch überhaupt etabliert. Wie schon erwähnt, hat auch Scheffel seinem Roman ein Vorwort voranstellt, in dem er sich über das Verhältnis von Historiographie und historischem Roman äußert. Scheffel nimmt darin eine noch deutlichere Position als Hauff ein. Er sieht in der literarischen Vergegenwärtigung überhaupt erst die Einlösung der Aufgaben der Historiographie: Auf der Grundlage historischer Studien das Schöne und Darstellbare einer Epoche umspannend, darf der Roman auch wohl verlangen, als ebenbürtiger Bruder der Geschichte anerkannt zu werden, und wer ihn achselzuckend als das Werk willkürlicher und fälschender Laune zurückweisen wollte, der mag sich dabei getrösten, daß die Geschichte, wie sie bei uns geschrieben zu werden pflegt, eben auch nur eine herkömmliche Zusammenschmiedung von Wahrem und Falschem ist, der nur zuviel Schwerfälligkeit anklebt, als daß sie es, wie die Dichtung, wagen darf, ihre Lücken spielend auszufüllen.9

Dieses Vorwort ist – anders als bei Hauff – von der Erzählung deutlich getrennt. Als Sprecher tritt hier nicht der Erzähler, sondern der Autor selbst auf. Der Objektivitätsanspruch, die fiktionale Geschichte sei die adäquate Darstellungsform der realen, steht also neben und getrennt von der erzählten Geschichte und wird in ihr auch nicht mehr explizit artikuliert. Anders als in Hauffs Roman wird das Dementi der Fiktionalität nicht mehr thematisch, es findet vielmehr implizit statt in der Form eines die Geschichte fortwährend durchziehenden Vergleichs. Verglichen werden die erzählten Zeiten „vor beinahe tausend Jahren“ mit den gegenwärtigen des Jahres 1855: „Es war vor beinahe tausend Jahren. Die Welt wußte weder von Schießpulver noch von Buchdruckerkunst.“ (VS: 13) So beginnt der Roman. Der Verweis auf Gegenstände und Fertigkeiten, die der Zeit vor tausend Jahren fehlen, der Gegenwart aber selbstverständlich sind, erscheint hier noch als eine bloße Einleitung in den Exotismus der früheren Verhältnisse. Tatsächlich aber hat dieser Vergleich System. Mit ihm weist sich der Erzähler als Historiker aus, der nicht nur aus großem zeitlichen Abstand, sondern auch kundig er9

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VON SCHEFFEL,

[1916]. Im Folgenden zitiert als VS. Hier S. 7.

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zählt. Die in seiner Gegenwart unbestreitbare Existenz von Schießpulver und Buchdruckerkunst beweist ex negativo die Faktentreue seiner Vergangenheitsdarstellung, in der diese Dinge fehlen. Die Vergleichstechnik von Scheffels Erzähler lebt dabei nicht nur von der Differenz der historischen und der gegenwärtigen Verhältnisse. Ebenso gut funktioniert der Vergleich als Ausweis der historischen Kundigkeit des Erzählers, wenn er Kontinuität ausdrückt: „Zur Zeit, da unsere Geschichte anhebt, trug der hohe Twiel schon Turm und Mauern, eine feste Burg.“ (VS: 14) Schließlich bezieht sich der Vergleich nicht nur auf materielle Gegenstände und Einrichtungen. Scheffels Erzähler wendet ihn auch und gerade auf psychische Vorgänge an, wenn er die historischen Figuren individualisiert und ihnen ein fiktives Leben einhaucht: Es gibt Tage, wo der Mensch mit jeglichem unzufrieden ist, und wenn er in den Mittelpunkt des Paradiesgartens gesetzt würde, es wär’ ihm auch nicht recht. Da fliegen die Gedanken mißmutig von dem zu jenem und wissen nicht, wo sie anhalten sollen – aus jedem Winkel grinst ein Fratzengesicht herfür, und wenn einer ein fein Gehör hat, so mag er auch der Kobolde Gelächter vernehmen. Man sagt dortlands, der schiefe Verlauf solcher Tage rühre gewöhnlich davon her, daß man frühmorgens mit dem linken Fuß zuerst aus dem Bett gesprungen sei, was bestimmtem Naturgesetz zuwider. Die Herzogin hatte heute ihren Tag. Sie wollte zum Fenster hinausschauen, da blies ihr ein feiner Luftzug den Nebel ins Angesicht; das war ihr nicht recht. Sie hub einen zürnenden Husten an. Wenn Sonnenschein weit übers Land geglänzt hätte, sie würde auch an ihm etwas ausgesetzt haben. (VS: 15f.)

Und noch ein zweites Beispiel zeigt, wie variantenreich diese Vergleiche eingesetzt werden: Wenn einer im Wald sich umgeschaut hat, so hat er sicher schon das Getrieb eines Ameisenhaufens angesehen. Da ist alles wohlgeordnet und geht seinen gemeinsamen Gang und freut sich der Ruhe und der Bewegung: itzt fährst du mit deinem Stab darein und scheuchest die Vordersten: da bricht Verwirrung aus, Rennen und wimmelnder Zusammenlauf – alles hat der eine Stoß verstört. Also und nicht anders fuhr der Stoß aus Romeias Horn aufjagend ins stille Kloster. (VS: 25f.)

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Die Objektivierung läuft in beiden Fällen gerade nicht darüber, Faktizität zu behaupten. Im Gegenteil: die Fiktion gibt sich als solche zu erkennen, aber in der Form der Möglichkeit. Diese Möglichkeit – die literarische Erfindung – als Wahrscheinlichkeit zu denken, bietet der Erzähler dem Leser an, und zwar dadurch, dass er ihm mittels des Vergleichs einen Gesichtspunkt liefert, der die Fiktion plausibel macht. Die Vergleichstechnik macht hier den Leser zum Kumpan des Erzählers (wohlgemerkt: hier ist nicht von der Rezeption die Rede, sondern vom Verfahren der Plausibilisierung). Verlangt ist nämlich, dass einmal die beschriebene psychische Stimmung als allgemeinmenschlich, das andere Mal das dargebotene metaphorische Bild des Ameisenhaufens als zeitlos und damit als überhistorisch gültig gedacht wird. Der Leser hat sich selbst – d. h. sein Wissen über seelische Vorgänge und seine Fähigkeit, sich eine Vorstellung aufgrund sprachlicher Bilder zu machen – an die Stelle des fehlenden Faktums zu setzen und damit zugleich dessen Funktion zu übernehmen: die erzählte Geschichte mit Glaubwürdigkeit auszustatten. So macht die Erzählung den Leser selbst zum Zeugen der erzählten Geschichte.

3. Sprache der Augenzeugenschaft. Stifters Witiko Die dritte Variante der Objektivitätskonstruktion besteht darin, die Augenzeugenschaft zu radikalisieren. Sie findet sich als durchgängiges stilistisches Prinzip in dem monumentalen historischen Roman Witiko (erschienen 1865-67) von Adalbert Stifter. Stifter stellt den Objektivitätsanspruch der erzählten Geschichte nicht mehr getrennt von dieser Geschichte aus. Dennoch zeugt die gesamte Erzählung von nichts anderem als diesem Anspruch. Verkörpert ist er in der Figur des Erzählers, einer Kunstfigur von außergewöhnlichem Format. Dieser Erzähler inkarniert regelrecht das Prinzip neutraler, objektiver Darstellung. Er ist stets vor Ort, sieht alles, hat keinen Einblick in das Innenleben seiner Figuren und betrachtet alles mit äußerster Kälte. Wenn der Erzähler eine Landschaft beschreibt, dann mit einer farblosen Nüchternheit, als würde eine Landkarte in Sprache übersetzt:

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Zeigen, wie es eigentlich gewesen ist Zwischen beiden Bergen ist eine Schlucht, durch welche ein Wasser hervorkömmt, das von oben gesehen so schwarz wie Tinte ist. Es ist die Ilz, es kömmt von dem böhmisch-bayerischen Walde, der überall die braunen und schwarzen Wässer gegen die Donau sendet, und vereinigt sich hier mit der Donau, deren mitternächtliches Ufer es weithin mit einem dunkeln Bande säumt. Das Oberhaus und das Nonngütlein sehen gegen Mittag auf die Stadt Passau hinab, die jenseits der Donau auf einem breiten Erdrücken liegt. Weiter hinter der Stadt ist wieder ein Wasser, das aus den fernen mittäglichen Hochgebirgen kömmt. Es ist der Inn, der hier ebenfalls in die Donau geht, und sie auch an ihrer Mittagsseite mit einem Bande einfaßt, das aber eine sanftgrüne Farbe hat. Die verstärkte Donau geht nun in der Richtung zwischen Morgen und Mittag fort, und hat an ihren Gestaden, vorzüglich an ihrem mitternächtigen, starke waldige Berge, welche bis an das Wasser reichende Ausgänge des böhmischen Waldes sind. Mitternachtwärts von der Gegend, die hier angeführt worden ist, steigt das Land staffelartig gegen jenen Wald empor, der der böhmisch-bayerische genannt wird.10

Nirgends findet man Attribute, die sich einer Einschätzung, Beurteilung oder Empfindung verdanken oder auf eine solche hinweisen würden. Der Maßstab der sprachlichen Darstellungsmittel ist das Ideal unmittelbarer Sichtbarkeit. Explizit äußert der Erzähler diesen Maßstab, wenn er das erste Mal die Hauptfigur des Romans auftreten lässt. Minutiös werden alle Details seiner äußeren Erscheinung aufgeführt. Nur bei der Beschreibung des Haars scheitert der Erzähler an der Kopfbedeckung des Protagonisten, der er sich dann stellvertretend widmet: Das Haupthaar konnte nicht angegeben werden; denn es war ganz und gar von einer ledernen Kappe bedeckt, welche wie ein Becken von sehr festem und dickem Stoffe gebildet, so daß ein ziemlich starker Schwerthieb kaum durchzudringen vermochte, dergestalt auf dem Kopfe saß, daß sie alles Haar in ihrem Innern faßte, und an beiden Ohren so gegen den Rücken mit einer Verlängerung hinabging, daß sie auch einen Hieb auf den Nacken unwirksam zu machen geeignet schien. (AS: 13)

10 STIFTER, 1997. Im Folgenden zitiert als AS. Hier S. 11.

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Handlungen werden beinahe im Sekundenstil zerlegt und regelrecht pedantisch genau beschrieben. Die Dialoge sind völlig entindividualisiert. Kinder oder Erwachsene, Fürsten und Untertanen, alle sprechen im gleichen Sprachduktus: Sie „reden“, „sagen“, „antworten“, „entgegnen“, „erwidern“, „rufen“. Ein Ausschnitt aus dem dritten Kapitel, in dem Witiko den todkranken Herzog Sobeslaw aufsucht, zeigt, wie der Erzähler vom dramatischen Inhalt seiner Erzählung unbeeindruckt bleibt, indem er sich semantisch schwacher Prädikate bedient: „Hoher Herr“, entgegnete Witiko, „wenn ich dir die wahre Nachricht zurückbringe, wirst du dann gegen die deines Landes, die dir zuwider handeln, feindlich verfahren?“ „Nein, mein junger Reitersmann“, erwiderte der Herzog, „ich werde nur wissen, was es ist, und werde dann sterben.“ „So werde ich gehen, und werde dir die rechte Botschaft bringen“, antwortete Witiko. „Gott geleite dich“, sagte der Herzog. Nach diesen Worten langte er in den hölzernen Schrein, der hinter dem Bette stand, und zog ein Beutelchen von rotem Sammet hervor. Dann öffnete er das Beutelchen, und tat ein sehr kleines goldenes Kreuzlein heraus. „Hier ist das Kreuzlein“, sagte er. Dann steckte er es wieder in das Beutelchen, und reichte dasselbe an Witiko. Witiko nahm es, und barg es in seinem Wamse. Dann neigte er sich gegen den Herzog und die Frau, und schritt gegen die Tür. Die Frau erhob sich, trat zu ihm, und sagte: „Geht mit Gottes Segen, junger Reiter, und übet Treue, so lange Ihr lebt.“ Witiko antwortete nichts. Die Frau ging vor ihm zur Tür, und vor ihm durch dieselbe hinaus. In dem Gemache, in welches sie kamen, spielten drei Knaben auf mehreren Hirschfellen, die man auf den Fußboden gebreitet hatte. Auf einer Bank saß ein Priester. „Sobeslaw“, sagte die Frau zu einem der Knaben, „sieh in der Stube, ob Boreš dort ist, und rufe ihn her. Dein Vater will diesen Mann da versenden.“ „Ja, Mutter“, rief der Knabe, sprang empor, und lief zur Tür hinaus. Ein anderer Knabe fragte: „Mutter, schläft der Vater?“

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Zeigen, wie es eigentlich gewesen ist „Nein, Wenzel“, antwortete die Frau, „aber er muß Ruhe haben.“ „Wir sind immer stille“, sagte der Knabe. „Ihr müßt noch eine Zeit stille sein“, entgegnete die Frau. Der fortgesendete Knabe kam zurück, und brachte einen bewaffneten Mann. (AS: 88f.)

Die dem Roman allenthalben attestierte Künstlichkeit und Umständlichkeit11 ist freilich das Resultat des Anliegens, die Darstellung sprachlich dem Ideal des Beobachtbaren anzupassen und so im Vollzug der Narration Objektivität zu inszenieren. Stifters Erzähler dementiert die Fiktionalität der Geschichte, indem er stilistisch die Distanz eines unbeteiligten Beteiligten erzeugt, der kein weiteres Interesse zu haben scheint, als die Ereignisse wiederzugeben, wie sie sich ereignet haben. In dieser Erzählhaltung unterscheidet sich Witiko von anderen historischen Romanen, die ebenso wenig wie er das Erzählen selbst zentral thematisieren. Von solchen Romanen gibt es viele, die bekanntesten historischen Romane des 19. Jahrhunderts zählen dazu wie etwa Gustav Freytags sechsbändiger Roman Die Ahnen (1872-1880), etliche Romane von Georg Ebers, aber auch Felix Dahns Ein Kampf um Rom (1876).12 In diesen Romanen wird die Geschichte derart unmittelbar gegenwärtig und offensichtlich fiktional erzählt, dass auf den ersten Blick der Eindruck entstehen kann, sie würden sich dem zeitgenössischen Objektivitätsanspruch des historischen Erzählens entziehen. Doch leben diese Romane nicht nur von dem großen kulturhistorischen Wissen, das sie verarbeiten. Freytag z. B. bedient sich im ersten Band seiner Ahnen für die Erzählerstimme wie auch für die Figurenrede einer an das Altgermanische erinnernden allegorischen Sprechweise, die die Erzählung verfremdet und dadurch mit Authentizität auflädt. In dieser Unmittelbarkeit wird der Gegensatz von Fiktion und Faktum dergestalt aufgehoben, dass die Erzählung den Anschein erhält, selbst historische Quelle zu sein. 11 In Wikipedia heißt es dazu in ulkiger Ahnungslosigkeit: „In epischer Breite werden die zeremoniellen Dialoge der Versammlungen wiedergegeben, und auch die mittelalterlichen Höflichkeitsformen finden sich in detailgetreuer Umständlichkeit wieder. Stifters sorgfältig ausgefeilter Stil wirkt aus heutiger Sicht behäbig und teilweise fremd.“ http://de.wikipedia.org/wiki/ Witiko (18.3.2011). 12 FREYTAG, 1872-1880; DAHN, 1876.

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4. Die Rahmener zählung. Meyers Der Heilige Bekanntlich läutet 1874 Nietzsches Schrift Vom utzen und achteil der Historie für das Leben das Ende des ästhetischen Historismus ein. In dieser Schrift bricht Nietzsche mit der Geschichtsphilosophie und Geschichtsschreibung seiner Zeit, indem er zeigt, dass der historische Sinn, dem sich die Geschichtserzählung verschrieben hatte, nichts als eine Projektion war. Damit bestreitet er den Objektivitätsanspruch der Geschichtsschreibung. Die Idee des Zusammenfallens von materiellem und geistigem Prozess ist aufgekündigt. Das gilt auch für die Literatur. Im Modus des historischen Erzählens wird im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zunehmend die Objektivität der Sinndeutung hinterfragt. Zu den wichtigsten Autoren zählen diesbezüglich Conrad Ferdinand Meyer und Wilhelm Raabe. Doch die beiden Autoren schlagen ganz unterschiedliche Wege ein. Der historische Roman Das Odfeld von Raabe, erschienen 1888,13 gilt als einer der ersten Texte, die dem Historismus und seinem Objektivitätsanspruch einen prinzipiellen Erkenntniszweifel entgegensetzen und den vermeintlichen Sinn der Geschichte mit einer Erzählweise des Polyperspektivismus kontern, in dem sich die Fakten nicht nur einer Erklärung entziehen, sondern in ihrer Konsistenz als Quellen selbst fraglich werden. Darin liegen die Ursprünge einer Entwicklung des historischen Erzählens im 20. Jahrhundert, die bis zur Auflösung des Faktischen in den verschwommenen Fotografien in W. G. Sebalds Roman Austerlitz (2001) reicht.14 Conrad Ferdinand Meyers historische Erzählungen hingegen bestreiten den im ästhetischen Historismus prägenden Sinngedanken, dem zufolge dem Geschichtsverlauf eine höhere Vernunft innewohne, und zwar unter Berufung auf eine – erzählerisch inszenierte – Objektivität, die einen solchen Sinngedanken nicht bestätige. Ein wichtiges stilistisches Mittel für die Objektivitätsbehauptung, die den Maßstab der Zurückweisung der Sinninterpretation bildet, ist bei Meyer die Rahmenerzählung, wie er sie in vielen seiner Erzählungen verwendet. Hier soll ein Beispiel reichen: Meyers Novelle Der Heilige von 1879.15 Die historische Überlieferung berichtet von Thomas Becket als dem treu erge13 RAABE, 1889. 14 SEBALD, 2001. 15 MEYER, 1962.

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benen Kanzler des englischen Königs Heinrich II., der sich nach seiner Ernennung zum Erzbischof von Canterbury und Primas der anglikanischen Kirche plötzlich zum frommen Christen wandelt und sich von nun an allen königlichen Versuchen, die kirchliche Macht einzudämmen, entschieden widersetzt, bis er vom König verbannt wird und schließlich 1170 durch die Hand von vier Gefolgsleuten des Königs den Märtyrertod erleidet. Diese Geschichte wirft beinahe zwangsläufig die Frage auf, wie der Gesinnungswandel des ehemaligen Kanzlers zu erklären sei, und auch Meyers Novelle arbeitet sich an dieser Frage ab. Ganz in der Tradition des historischen Erzählens konstruiert Meyer einen Augenzeugen, dessen authentische Eindrücke Aufklärung versprechen. Die Technik der Rahmenerzählung, in der der Bogner Hans Armbruster einem Zürcher Chorherrn die Geschichte vom Heiligen, dessen Ermordung 21 Jahre zurückliegt, erzählt, dient Meyer dazu, diesen Augenzeugen immer wieder auf seine Objektivität hin zu prüfen. Mehrfach interveniert der Chorherr mit Zweifeln, ob Armbruster nicht übertreibe oder hinzudichte. Ebenso klassisch führen diese Interventionen dazu, die Zweifel zu entkräften und die Erzählung als objektive zu beglaubigen – allerdings, und darin liegt der prinzipielle Unterschied zu den Vorläufern, ohne dass es dem Erzähler gelingen würde, zu einer schlüssigen Erklärung des Heiligen Thomas Becket zu kommen. Dies führt die Novelle implizit darauf zurück, dass der Erzähler wie auch sein Zuhörer die Geschichte nur auf eine Erklärungsalternative hin befragen: Entweder es bestätige sich in ihr die christliche Deutung einer heiligen Wandlung oder das Gegenteil, sie decke ein menschliches Kalkül, irgendeine Form der Berechnung auf. Dieser Deutungsalternative entzieht sich die dargestellte Realität allerdings. Meyers Novelle operiert geradezu damit, eine Objektivität der Historie zu rekonstruieren, um den Zweifel an der Objektivität des historischen Sinns vorzutragen. Bei Meyer trennt sich die Geschichtsdeutung von der dargestellten Objektivität ab – die narrativ beglaubigte Faktizität der Erzählung setzt nicht länger die Deutung ins Recht, um derentwillen die Objektivitätskonstruktion der klassischen Geschichtserzählung des 19. Jahrhunderts stattgefunden hat. Dieses Verfahren ist durchaus kein Einzelphänomen des historischen Erzählens geblieben, wenngleich es bislang von der Forschung kaum beschrieben wurde. Viele historische Romane des 20. Jahrhunderts schreiben die Objektivitätsbehauptung der Geschichts-

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erzählung fort, ohne die damit ursprünglich verknüpfte Geschichtsidee zu bedienen, im Gegenteil, deren Destruktion ist nicht selten der Zweck der Romane wie etwa in den expressionistischen Geschichtsromanen Döblins Die drei Sprünge des Wang-lun (1915) und Wallenstein (1920) oder in Bertolt Brechts Roman Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar.16

5. Sprachliche Bilder. Feuchtw angers Jud Süß Ein letztes Beispiel soll zeigen, wie auf der Grundlage der Kritik des Historismus Deutung und Objektivitätskonstruktion wieder zusammengeführt worden sind. Das Beispiel stammt aus dem 1925 erstmals erschienenen Roman Jud Süß von Lion Feuchtwanger. Der Roman beginnt nicht mit einem Faktum, sondern mit einem sprachlichen Bild: einer zur Allegorie erweiterten Metapher. Ein Netz von Adern schnürten sich Straßen über das Land, sich querend, verzweigend, versiegend. Sie waren verwahrlost, voll von Steinen, Löchern, zerrissen, überwachsen, bodenloser Sumpf, wenn es regnete, dazu überall von Schlagbäumen unterbunden. Im Süden, in den Bergen, verengten sie sich in Saumpfade, verloren sich. Alles Blut des Landes floß durch diese Adern. Die holprigen, in der Sonne staubig klaffenden, im Regen verschleimten Straßen waren des Landes Bewegung, Leben und Odem und Herzschlag.17

Das allegorische Bild des Stoffwechsels steht kontrafaktisch zum Bildempfänger, einem Straßennetz, das weniger den Zusammenhang als vielmehr die Zerrissenheit des Landes dokumentiert. Die Allegorie hat hier die Funktion einer These: Im sprachlichen Bild wird die Gemeinschaftlichkeit als der unverwüstliche Wesenskern einer desolaten gesellschaftlichen Verfasstheit bestimmt. Mit dieser These eines existentiellen natürlichen Zusammenhangs wird zugleich eine Beweisnotwendigkeit gestiftet. Handelt es sich bei ihr um ein leeres Ideal oder gibt es 16 DÖBLIN, 1915, und DERS., 1920; BRECHT, 1989. Zur Objektivitätskonstruktion bei Brecht siehe: JAKOBI, 2005. 17 FEUCHTWANGER, 1965. Im Folgenden angegeben als LF. Hier S. 5.

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Zeigen, wie es eigentlich gewesen ist

an der Wirklichkeit Anhaltspunkte für ihre Gültigkeit? Der folgende Absatz des Romans liefert den Beweis, und zwar in der Beschreibung einer zentralen Straße: Es zogen auf ihnen gewöhnliche Postwagen, dachlose Karren, ohne Polster, ohne Lehne, humpelnd, oft zusammengeflickt, und die schnelleren Wagen der Extrapost, viersitzige, mit fünf Pferden, die bis zu zwanzig Meilen im Tag fahren konnten. Es zogen auf ihnen die Eilkuriere der Höfe und Gesandten, auf guten Pferden, oft wechselnd, mit versiegelten Taschen, und die langsameren Boten der Thurn- und Taxis’schen Post. Es zogen Handwerksburschen mit Ranzen, biedere und gefährliche, und Studenten, hager und sanft die einen, die andern fest und verwegen, und eng schauende Mönche, verschwitzt in ihren Kutten. Es zogen die Planwagen der großen Kaufleute und die Handkarren hausierender Juden. Es zog in sechs soliden, etwas schäbigen Kutschen der König von Preußen, der den süddeutschen Höfen Besuch gemacht hatte, und sein Gefolge. Es zogen, ein endloser Wurm von Mensch und Vieh und Wagen, die Protestanten, die der Salzburger Fürstbischof geifernd aus seinem Land verjagt. Es zogen bunte Komödianten und Pietisten, nüchtern von Tracht und in sich verloren, und in prächtiger Kalesche mit Vorreiter und großer Bedeckung der hagere, hochmütig blickende venezianische Gesandte am sächsischen Hof. Es zogen auf dem Weg nach Frankfurt unordentlich auf mühsam zusammengestapeltem Fuhrwerk vertriebene Juden einer mitteldeutschen Reichsstadt. Es zogen Magister und Edelleute und seidene Huren und tuchene Referenten des Kammergerichts. Es zog behaglich in vielen Kutschen der dicke, schlau und fröhlich schauende Fürstbischof von Würzburg, und es zog abgerissen und zu Fuß ein Professor der bayrischen Universität Landshut, der wegen aufsässiger und ketzerischer Reden entlassen worden war. Es zogen mit den Agenten einer englischen Schiffahrtsgesellschaft und mit Weib, Hund und Kind schwäbische Auswanderer, die nach Pennsylvanien wollten, es zogen fromm, gewalttätig und plärrend niederbayrische Wallfahrer auf dem Weg nach Rom, es zogen, den huschenden, scharfen, behutsamen Blick überall, Silberkäufer und Vieh- und GetreideAufkäufer des Wiener Kriegsfaktors, und es zogen abgedankte kaiserliche Soldaten aus den Türkenkriegen und Gaukler und Alchimisten und Bettelvolk und junge Herren mit ihren Hofmeistern auf der Reise von

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Andrea Jäger Flandern nach Venedig. Das alles trieb vorwärts, rückwärts, querte sich, staute sich, hetzte, stolperte, trottete gemächlich, fluchte über die schlechten Wege, lachte, erbittert oder behaglich spottend, über die Langsamkeit der Post, greinte über die abgetriebenen Klepper, das gebrechliche Fuhrwerk. Das alles flutete vor, ebbte zurück, schwatzte, betete, hurte, lästerte, bangte, jauchzte, atmete. (LF: 5f.)

Nimmt man diese Beschreibung von ihrer inhaltlichen Seite, dann stellt man fest, dass sich auf dieser Straße alle Schichten und Stände, Herrscher und Untertanen, Verfolgte und Verfolger usw. – also die Repräsentanten aller denkbaren gesellschaftlichen Antagonismen bewegen. Stilistisch aber sind diese Antagonismen als solche dementiert und – quasi kontrafaktisch – zur Einheit gebracht. Dies geschieht vor allem durch die Anaphernbildung und den durch Nachträge und asyndetische Reihungen hervorgerufenen einheitlichen Rhythmus der Erzählung. Die stilistischen Mittel zwingen sprachlich die konträren Gruppen samt der sie charakterisierenden Fortbewegungsarten in eine einheitliche Bewegung und am Ende sogar zusammen zu einem amorphen Ganzen. Am empirischen Material – dessen Objektivität ganz fraglos gesetzt wird – weist sich die Sinndeutung als objektiv aus, insofern es ihr mittels der Sprache gelingt, sich der Fakten zu bemächtigen und sie zum Anschauungsmaterial der Deutung umzuformen. Die Sprache hat hier keine Referenzfunktion mehr, sondern weist sich selbst als Quelle des Sinngedankens aus. Diese Selbstreferentialität der Sprache beruht aber – zumindest bei Feuchtwanger – auf der Gewissheit einer objektiv beschreibbaren historischen Realität, die als Kontrast dient und zum Material eines freien sprachlichen Zugriffs wird. Darin bleibt zu guter Letzt dann doch noch erhalten, dass auch so über die Wirklichkeit gesprochen wird und zwar mit dem Anspruch auf Gültigkeit, nicht im Modus der Beliebigkeit subjektiver Anschauung.

Literatur ARISTOTELES, Von der Dichtkunst, in: DERS., Vom Himmel. Von der Seele. Von der Dichtkunst, hg. und übers. von OLOF GIGON, 2. Aufl., München 1987.

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Zeigen, wie es eigentlich gewesen ist

BRECHT, BERTOLT, Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar, in: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, hg. von Werner Hecht u. a., Bd. 17, Berlin u. a. 1989. DAHN, FELIX, Ein Kampf um Rom, 4 Bde, Leipzig 1876. DÖBLIN, ALFRED, Die drei Sprünge des Wang-lun. Chinesischer Roman, Berlin 1915. DÖBLIN, ALFRED, Wallenstein, 2 Bde, Berlin 1920. EBERS, GEORG, Der Kaiser, Stuttgart 1881. Zitiert nach: http://gutenberg.spiegel.de/buch/2686/1 (18.3.2011). FEUCHTWANGER, LION, Jud Süß, Reinbek b. Hamburg 1965. FREYTAG, GUSTAV, Die Ahnen, 6 Bde, Leipzig 1872-1880. HAUFF, WILHELM, Lichtenstein. Romantische Sage aus der württembergischen Geschichte. Mit Zeichnungen von Paul Thumann, in Holz geschnitten von R. Brend’amour, Berlin 1868. HAUFF, WILHELM, Lichtenstein. Romantische Sage aus der württembergischen Geschichte. Mit einem Nachwort von Friedrich Pfäfflin, Zürich 1987. JAKOBI, CARSTEN, Die epische Form als Kritik der Geschichtsschreibung. Bertolt Brechts Roman die Geschäfte des Herrn Julius Caesar, in: literatur für leser 28,4 (2005): Antike-Rezeption in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts, hg. von CARSTEN JAKOBI, S. 295-311. JÄGER, ANDREA, Die historischen Erzählungen von Conrad Ferdinand Meyer. Zur poetischen Auflösung des historischen Sinns im 19. Jahrhundert, Tübingen/Basel 1998. MEYER, CONRAD FERDINAND, Der Heilige, in: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, hg. von HANS ZELLER/ALFRED ZÄCH, Bd. 13, Bern 1962. NÜNNING, ANSGAR, Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion. Bd. 1, Theorie, Typologie und Poetik des historischen Romans, (Literatur – Imagination – Realität. Anglistische, germanistische, romanistische Studien 11), Trier 1995. NIETZSCHE, FRIEDRICH, Unzeitgemäße Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, in: DERS., Gesammelte Werke. Bd. 6, München 1922. RAABE, WILHELM, Das Odfeld. Eine Erzählung, Leipzig 1889.

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Andrea Jäger

SCHMID, WOLF, Elemente der Narratologie, 2. verbesserte Aufl., Berlin 2008. SEBALD, W.G., Austerlitz, München/Wien 2001. STIFTER, ADALBERT, Witiko, München 1997. Stichwort: Witiko. http://de.wikipedia.org/wiki/Witiko (18.3.2011). VON SCHEFFEL, JOSEPH VICTOR, Ekkehard. Eine Geschichte aus dem zehnten Jahrhundert. Bd. 1 (Joseph Victor von Scheffels sämtliche Werke. Hg. von Johannes Franke, Bd. 5), Leipzig [1916]. VON SCHEFFEL, JOSEPH V ICTOR, Ekkehard. Eine Geschichte aus dem zehnten Jahrhundert, Hanau, vermutlich 1991. Lizenzausgabe des Verlags Neues Leben Berlin (DDR) 1989. WHITE, HAYDEN, Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa. Aus dem Amerikanischen von Peter Kohlhaas, Frankfurt a. M. 1994.

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Textprofil und Regiekonzept – Habitus und Denkstil Literarische Medien der Bew usstseinsvergegenw ärtigung im Kontext der Wiener Moderne MATTHIAS BAUER

Im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft bestimmt HansUlrich Gumbrecht ‚Stil‘ als „Manifestation von rekurrenten Formen menschlichen Verhaltens in den verschiedenen Materialien und Medien, insbesondere in den Künsten.“1 So schlüssig diese Definition auf Anhieb wirkt, so ergänzungsbedürftig erweist sie sich angesichts der Tatsache, dass fiktionale Texte „inszenierte Diskurse“ sind,2 deren wiederkehrende Elemente keineswegs Rückschlüsse auf den Stil des Autors zulassen. Das gilt insbesondere für das Genre der Rollenprosa, in der sich der Verfasser einer Stilmaske bedient, also gleichsam als Stimmenimitator auftritt. Selbstverständlich trifft die zitierte Definition in diesem Fall auf den Stil der Figur zu. Doch handelt es sich dabei offenkundig nur um ein Oberflächenphänomen. Wer in die Tiefe dringen und die Pointe der Stimmenimitation erfassen will, kann nicht bei den rekurrenten Formen stehenbleiben, die sich in der Rollenprosa manifestieren. Vielmehr müssen die Eigenarten des Textes, die sich mit signifi-

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GUMBRECHT, 2003, S. 509. Vgl. WARNING, 1982.

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kanter Häufigkeit wiederholen, als Zeichen aufgefasst und ausgelegt werden, die über den Personalstil der Figur hinaus auf etwas anderes verweisen. Das kann, muss aber nicht unbedingt ein Gruppen-, Epochen- oder Funktionsstil sein. Rollenprosa operiert mit einer wenigstens zweistufigen Art der Bezugnahme, bei der rekurrente Formen als Indizien oder Symptome, bedingte Reflexe oder traumatische Spuren gedeutet werden, die z. B. Rückschlüsse auf eine bestimmte Mentalität zulassen. Die Stil-Definition, die das Reallexikon bietet, wird dadurch nicht falsch, sie bedarf jedoch – um analytisch fruchtbar zu werden – einer Spezifikation, die hier aus Gründen, die alsbald einleuchten dürften, exemplifikatorisch geleistet werden soll.

1. Zur display-Funktion von erlebter Rede, innerem Monol og und Bew usstseinsstrom Ein Grund für diese Verfahrensweise ergibt sich aus dem performativen Charakter jedes menschlichen Verhaltens, das unter Beobachtung steht und sich in rekurrenten Formen manifestiert.3 Tatsächlich dürfte die rezente Renaissance des Stilbegriffs nachhaltig mit der anhaltenden, wenn auch abflachenden Konjunktur des Performanzbegriffs zusammenhängen. Von Performanz ist immer dann die Rede, wenn es um den Vollzug oder Nachvollzug, vor allem aber um die Zurschaustellung und Vorführung kommunikativer und kreativer Akte geht, wenn Texte zur Aufführung gebracht und Prozesse der Selbst- und Weltdarstellung in Szene gesetzt werden.4 Dass Performanz ein Komplementärbegriff zu Kompetenz ist, kann man übrigens gerade an Stilphänomenen zeigen. In der Rhetorik werden diese Phänomene seit jeher auf der Ebene der elocutio verortet und damit dem Bereich der Eloquenz zugeordnet. Einerseits zeigt sich in der Eloquenz das Ausdrucksvermögen, also die Kompetenz des Redners, andererseits bewährt sich diese Kompetenz immer nur performativ im Ausdrucksverhalten, also Sprechakt für Sprechakt. Obwohl man Kom3 4

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Das gilt unabhängig davon, ob die Rekurrenz der Formen intentional oder nicht-intentional ist. Vgl. GUMBRECHT, 2003, S. 509. Zum Begriff der Performanz vgl. AUSTIN, 2002; WIRTH (Hg.), 2002; KRÄMER (Hg.), 2004.

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petenz und Performanz nicht gegeneinander ausspielen kann, beziehen sie sich auf unterschiedliche Aspekte der Praxis. Unter dem Gesichtspunkt der Performanz wird das Subjekt der Rede zum Objekt der Beobachtung. Am Ausdrucksverhalten zeigt sich nicht nur die rhetorische Begabung eines Menschen, sondern auch, wie er denkt und empfindet. Aus diesem Gedanken folgt zum einen, dass der Stil tiefer reicht als das, was man in der Rhetorik ornatus oder decorum nennt. Obwohl scheinbar nur die Außenseite der Performanz ins Auge springt, kann prinzipiell jedes Stilphänomen als Indiz oder Symptom für die seelische Verfassung einer Person (Individualstil) und manchmal sogar als bedingter Reflex der Denk- und Verhaltensweisen eines Kollektivs (Gruppen- oder Epochenstil) aufgefasst werden. Als Schnittstelle von Individual- und Gruppenstil erscheint dabei der Habitus eines Menschen, da sich der Habitus aus der Prägung durch den sozialen Kontext ergibt. Der Habitus ist einerseits das Resultat eines Prozesses der Übernahme und Verinnerlichung von Verhaltensgewohnheiten im Rahmen der (lebenslangen) Sozialisation und andererseits die zumeist nicht näher reflektierte Prädisposition des eigenen Verhaltens.5 Folgerichtig erlaubt der Habitus einer Person Rückschlüsse auf die Mentalität der Epoche. Zum anderen wird die Aufmerksamkeit des Betrachters durch die Rückkopplung von Stil- und Performanzbegriff auf den ästhetischen Aspekt der Anmutungsqualität gelenkt. Wenn man nämlich sagt, dass der Stil die wahrnehmbare Außenseite der Innenwelt darstellt, die eigentlich nicht wahrnehmbar ist, sondern immer nur über Zeichen erschlossen werden kann, erfüllt der Stil eine Funktion, die man in der Rhetorik als illustratio oder evidentia auffasst. Entscheidend ist nun, wie man diese Funktion der Veranschaulichung und Vergegenwärtigung konzipiert: Naheliegend ist zunächst die Auffassung, dass mit sprachlichen Mitteln etwas illustriert wird, was unabhängig von dieser Gestaltung besteht. So wird zum Beispiel angenommen, dass man einen Gedanken so oder so ausdrücken könne. Bei genauerer Betrachtung erhebt sich allerdings die Frage, ob mit zwei verschiedenen Formulierungen nicht auch zwei verschiedene Gedanken entstehen. In dieser Hinsicht erscheint die Sprache nicht als neutrales Medium der Gedankenwiedergabe. Vielmehr muss man, frei nach Kleist, von 5

Zum Begriff des Habitus vgl. BOURDIEU, 1997, insb. S. 132 und S. 143.

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einer allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden ausgehen – eine Verfertigung, die den Urheber der Rede selbst überraschen und auf Gedanken bringen kann, die seine Vorstellung übertreffen oder seiner Absicht zuwider laufen. Bezeichnenderweise kommen beide Auffassungen in der klassischen Bestimmung des inneren Monologs durch den französischen Schriftsteller Edouard Dujardin vor: Der innere Monolog ist – wie jeder andere Monolog – die Rede einer Person, die wiedergegeben wird, um uns mit dem Innenleben dieser Gestalt bekannt zu machen, ohne daß ein Autor durch Erklärungen und Kommentare vermittelt. Wie jeder Monolog ist er eine letztlich unausgesprochene Rede ohne Hörer. Vom traditionellen Monolog unterscheidet er sich jedoch dadurch, daß er seinem Inhalt nach Ausdruck der intimsten Gedanken ist, dem Unbewußten so nahe wie möglich; seinem Gehalt nach, weil er eine Rede ist, die – jenseits aller logischen Konstruktion – dieses Denken im Zustand des Entstehens und in Bewegung begriffen erfaßt; was endlich seine äußere Gestalt angeht, so verwendet er direkte Sätze, die ein Minimum an syntaktischer Formung aufweisen [...].6

Einerseits besagt diese Begriffsbestimmung, dass eine Rede wiedergegeben wird, deren Gegenstand das Innenleben der Figur ist; andererseits enthält sie die Behauptung, dass der innere Monolog das Denken im Zustand des Entstehens und in Bewegung begriffen erfasst. Nicht anders als Kleist geht also auch Dujardin von einer Verfertigung der Gedanken beim Sprechen aus. Der innere Monolog zeigt ihre syntaktische Formung auf und damit die dynamische Wechselwirkung von Sprache und Denken. Genau dies ist der tiefere Sinn der evidentia, der Veranschaulichung von Kräften in ihrer Wirksamkeit. So gesehen verwundert es nicht, dass schon Aristoteles die Funktion der bildlichen Rede darin gesehen hat, dass sie Wirksamkeit vor Augen führt.7 Zudem kann man unter dieser Voraussetzung einen Bogen von der antiken Rhetorik zur modernen Semiotik schlagen. Sie ist genau in dem Zeitraum entstanden, 6 7

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Edouard Dujardin, zit. nach STEPHAN, 1962, S. 29; Herv. M. B. Vgl. ARISTOTELES, 1993, S. 193: „Hiermit ist also dargelegt, daß der Esprit auf den analogisch gebildeten Metaphern und dem Vor-Augen-Führen basiert. [...] Ich verstehe aber unter Vor-Augen-Führen das, was Wirksamkeit zum Ausdruck bringt.“

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in dem sich die Fortentwicklung der erlebten Rede – erst zum inneren Monolog und dann zum Bewusstseinsstrom – abgespielt hat, und auch sie hat ein Modell für die Verfertigung der Gedanken entwickelt. Allerdings verschiebt dieses Modell den Akzent von der Sprache auf die Einbildungskraft, die Vorstellungen erzeugt. Diese Vorstellungen hat der Begründer der modernen Semiotik, der amerikanische Philosoph Charles Sanders Peirce, ,Interpretanten‘ genannt. Die wichtigste unter diesen Vorstellungen ist der sogenannte dynamisch-energetische Interpretant, der zwischen Wahrnehmung und Urteil vermittelt.8 Diese Vermittlung ist eine Aufgabe der Einbildungskraft, die für solche Fälle, die häufig wiederkehren, Schemata entwickelt, die den Hiatus zwischen Sinnlichkeit und Verstand überbrücken. Das Schema, das schon Kant als Produkt der Einbildungskraft bestimmt hatte,9 ist, so gesehen, das kognitive oder mentale Analogon des Habitus, der sozial oder kulturell geformt wird. Dort aber, wo das Subjekt noch nicht auf Schemata zurückgreifen kann, muss es ad hoc Vorstellungen erzeugen, die zwischen Wahrnehmung und Urteil, Anschauung und Begriff vermitteln. Es ist dieser kreative Akt, der den energetisch-dynamischen Interpretanten als den Zustand des Bewusstseins erscheinen lässt, in dem etwas Neues entstehen kann. Von daher ist das Stilprinzip der evidentia tatsächlich ein zentrales Wirkungsmoment rhetorisch oder poietisch verfasster Texte. Wer andere Menschen überzeugen und verändern will, muss dort ansetzten, wo es kreativ zugeht, wo die eingefleischten Routinen, die Habitualitäten und Mentalitäten disponibel werden. Allerdings muss man auch die Kehrseite dieser Wirkung im Auge behalten, nämlich die Trägheit aller Verhaltensgewohnheiten, seien sie nun solche des Empfindens und Denkens oder solche des Sprechens und Handelns. In der Semiotik wird diese Dialektik mit den beiden Be8

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Peirce unterscheidet immediate, dynamisch-energetische und logische Interpretanten. Der immediate Interpretant, d. h. die ad hoc-Vorstellung, die ein Zeichen auslöst, erfährt im Wechselspiel von Einbildungskraft und Erinnerungsvermögen eine Gehaltsanreicherung durch die dynamischenergetischen Interpretanten bis der Prozess der schlussfolgernden Zeichen-Auslegung (Semiose) zu einer begrifflichen Klärung der Zeichenbedeutung – i.e. der logische Interpretant – gelangt ist, die im pragmatischen Zusammenhang der Diskurssituation ausreichend erscheint. Vgl. NAGL, 1992, S. 39f. Vgl. dazu den Abschnitt „Von dem Schematismus der reinen Verstandesbegriffe“ in KANT, 1993, S. 196-205.

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griffen des ,habit-taking‘ und ,habit-breaking‘ erfasst,10 wobei die Erfahrung lehrt, dass die Tendenz, einmal angenommene Gewohnheiten beizubehalten, wesentlich stärker ist als die Tendenz, mit ihnen zu brechen. Wer sich mit Stilphänomenen befasst, hat es folglich mit mehreren Ebenen der Beobachtung zu tun: dem Wechselspiel von individueller Psyche und kollektiver Mentalität, von sozialem und kognitiven Verhalten – also von Habitus und Schema – sowie mit der Tatsache, dass Stilphänomene emergente Eigenschaften sein können, die nicht intentional sind. Ein Beispiel, das diese emergenten Eigenschaften der Rede verdeutlichen kann, stammt von Angela Merkel: Mit der Behauptung, der Aufschwung sei inzwischen unten angekommen, wollte die Bundeskanzlerin offenbar sagen, dass auch diejenigen, die nicht unbedingt zu den Reichen zählen, von der Wiederbelebung der Wirtschaft profitieren. Das ist der Aspekt der Intention, der Aussage-Absicht. In der Wahl des Ausdrucks „unten“, der synonym zu ‚bei den Armen‘ gebraucht wird, reflektiert sich die Sozialisation der Sprecherin. Sie hat nur zu gut verinnerlicht, dass man in der Öffentlichkeit nicht von Armen spricht. Merkels Diktion ist nicht nur politisch korrekt, sie ist vor allem Ausdruck einer sprachlichen Selbstbeherrschung, in der sich die dreifache Prägung der Sprecherin durch die Leitgedanken der sozialen Marktwirtschaft, durch den Parteijargon und durch den Einfluss der PR-Berater offenbart. Das ist der Aspekt des Habitus. Kontraintentional und gewiss nicht im Sinne der Parteistrategen und PR-Berater bleibt der Umstand, dass die Aussage doppeldeutig ausgefallen ist, weil man sie auch dahingehend verstehen kann, dass der Aufschwung so weit abgeflacht ist, dass man eigentlich schon von einem ‚Abschwung‘ sprechen müsste. Diese unfreiwillige Pointe ist ein Emergenzphänomen, das sich aus der Metaphorizität der Sprache ergibt. Diese Metaphorizität ist, wie Hans Blumenberg und andere überzeugend dargelegt haben, unhintergehbar.11 Man kann nicht sprechen, ohne bildliche Ausdrücke zu verwenden und Tropen oder Figuren zu benutzen, deren Bedeutungsumfang die eigenen Intentionen übersteigt. Man kann aber sehr wohl die sachliche Angemessenheit von Metaphern reflektieren und sich bewusst dafür entscheiden, einen bestimmten bild10 Vgl. NAGL, S. 123ff. 11 Vgl. BLUMENBERG, 1998.

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lichen Ausdruck gegenüber anderen zu favorisieren, die weniger prägnant sind. So ist es auch mit der Metapher vom Bewusstseinsstrom. Sie geht auf den amerikanischen Psychologen und Philosophen William James zurück. James hat der Metapher vom Bewusstseinsstrom den Status eines wissenschaftlichen Begriffs verschafft. Sein Kernargument besagt, dass unser Bewusstsein nicht, wie man denken könnte, aus einzelnen Sensationen besteht, die miteinander verkettet werden, sondern Sensationen umgekehrt aus dem unaufhörlichen Fluss der Wahrnehmungen und Empfindungen herausgefiltert werden.12 Folgerichtig sei das Bild vom Bewusstseinsstrom eine Anschauungsform, die der Art und Weise, wie wir die Welt erleben, wesentlich angemessener sei als die Vorstellung, die das Wort ‚Gedankenverknüpfung‘ nahelegt. Denn obwohl es selbstverständlich eine intentionale, diskursive Form der Gedankenverknüpfung gibt – die Argumentation von James wäre ein Beispiel dafür –, folgt das subjektive Erleben nicht dem Plan, den eine Gedankenverknüpfung, die diesen Namen verdient, voraussetzt. Ausschlaggebend ist also zum einen, dass die Metapher wissenschaftliche Erkenntnisse ratifiziert, zum anderen aber auch, dass sie dem Forschergeist, der über diese Erkenntnisse hinausgelangen will, auf die Sprünge hilft. Wer das Bewusstsein als Strom konzipiert, kommt weiter als mit dem Begriff der Gedankenverknüpfung, der zu mechanisch ist und weder der Dichte und Fülle des menschlichen Erlebens noch der Tatsache gerecht wird, dass der Einzelne, weit davon entfernt, seine Empfindungen jederzeit steuern zu können, von ihnen immer wieder davongetragen und getrieben wird. Entscheidend für James war somit der heuristische Mehrwert der Metapher. Man kann das Bild vom Bewusstseinsstrom auslegen und auf diese Weise zu weiterführenden Vermutungen gelangen – Vermutungen, die dann wiederum empirisch geprüft werden müssen.13 Der wissenschaftliche Diskurs läuft, so 12 Vgl. JAMES, 1950, S. 239: „Consciousness, then, does not appear to itself chopped up in bits. Such words as ‚chain‘ or ‚train‘ do not describe it fitly as it presents itself in the first instance. It is nothing jointed; it flows. A ‚river‘ or a ‚stream‘ are the metaphors by which it is most naturally described. In talking hereafter, let us call it the stream of thought, of consciousness, or of subjective life [Herv. i. O.]“. 13 Nach Peirce startet ein wissenschaftlicher Erkundungsprozess mit einer mutmaßlichen Erklärung (Abduktion), aus der bestimmte Schlussfolgerungen abgeleitet werden können (Deduktion), die dann wiederum empirisch geprüft oder getestet werden können (Induktion), was wiederum zu

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gesehen, hin und her zwischen metaphorischen Begriffsbildungen, die als Schemata der Auslegung von Beobachtungen fungieren, und Versuchen, die Reichweite dieser Schemata zu testen, was mitunter dazu führen kann, dass man sie als Fehlrahmungen der Wirklichkeit erkennt. Um die spezifische Art der Inszenierung und Illustration, die gerade die erlebte Rede, der innere Monolog und der Bewusstseinsstrom leisten, von anderen Formen der Veranschaulichung abzuheben, spreche ich von einer display-Funktion.14 Das Wort display ist zunächst wörtlich, im technischen Sinne, als Anzeige zu verstehen. So wie ein Thermometer etwas sichtbar macht, was eigentlich unsichtbar ist – nämlich Kälte oder Wärme –, so machen auch die erlebte Rede, der innere Monolog und der Bewusstseinsstrom etwas intersubjektiv wahrnehmbar, was an sich weder wahrnehmbar noch objektivierbar ist. Sie geben dem Prozess der Gedankenbildung eine Anschauungsform und zeigen, wie dynamisch und energetisch das menschliche Vorstellungsvermögen ist. Vor allem aber vergegenwärtigen sie, wie sprunghaft und widersprüchlich Empfindungen sind. Wer den inneren Monolog oder den Bewusstseinsstrom eines Menschen beobachtet, erlebt das Denken wie ein Drama, in dem der Einzelne zahlreichen Einflüsterungen unterliegt und sich nur mühsam eine eigene Meinung bilden kann. Genau das ist die eigentliche Pointe, wenn man von einer display-Funktion spricht. Denn der Bedeutungsumfang des Wortes display geht über den technischen Sinn hinaus. Man muss das Wort nur mit einem Bindestrich schreiben und nicht als Substantiv, sondern als Verb lesen, um diese Pointe zu begreifen: (to) dis-play bezeichnet dann genau jene Tätigkeit des Auseinanderlegens und Durchspielens, die literarische Texte auszeichnet, weil sie einen Sachverhalt nicht einfach nur wiedergeben, sondern zeigen, wie er entstanden ist, sich entwickelt hat und geändert werden kann. Die display-Funktion der Literatur favorisiert eine indeterministische Sicht der Dinge und legt dem Betrachter eine genealogische, mitunter sogar diagnostische Perspektive nahe. Wer auf den Stil, die Diktion und den Habitus eines Menschen achtet, spürt der Entwicklung seiner Empfindungen nach und kann anhand des sprachlichen Verhaltens einer Modifikation der Ausgangshypothese führen kann – solange bis ein Phänomen ausreichend erklärt zu sein scheint. Vgl. NAGL, 1992, S. 107ff. 14 Vgl. PRATT, 1977, S. 136.

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die Leitmotive, aber auch die Traumata entdecken, die das Denken auf bestimmte Bahnen lenkt – Gedankenbahnen, die sich mitunter als Sackgassen der Persönlichkeitsentwicklung erweisen. Exakt dieses Kalkül liegt der psychoanalytischen Praxis der sogenannten talking cure zugrunde, bei der die Patienten dem Arzt in einer enthemmten Rede mehr oder weniger unfreiwillig Anzeichen und Hinweise auf seelische Konflikte liefern, die anschließend sprachlich durchgearbeitet werden in der Hoffnung, sich auf eine neue Verhaltensdisposition verständigen zu können, die es jenseits der therapeutischen Sitzungen zu ratifizieren gilt. Dabei sind es oft die scheinbar nebensächlichen, geringfügigen und randständigen Details, die auslegungsrelevant werden – der ‚Abhub‘, wie sie Freud genannt hat.

2. Textpr ofil und Regi ekonzept I: Sigmund Freud und Katharina Nun muss man allerdings einen grundlegenden Unterschied zwischen der psychoanalytischen und der literarischen Praxis machen. Die talking cure zerfällt ja, idealtypisch betrachtet, in zwei Phasen: eine monologische, in der eigentlich nur der Patient redet, und eine dialogische, in der die Befunde erörtert und aufgrund der Diagnose bestimmte Vereinbarungen zwischen Klient und Therapeut getroffen werden. Im Unterschied dazu kann man die literarische Praxis weder auf den diagnostischen Blick verengen noch behaupten, dass sie selbst dann, wenn Texte eine Anamnese leisten, therapeutische Wirkung entfaltet. Es scheint aber zumindest einen Teilbereich der Erzählliteratur zu geben, in dem die Texte dadurch profiliert werden, dass sie Bewusstseinszustände und -vorgänge so aufzeigen und durchspielen (display-Funktion), dass die Leser gar nicht umhin können, einen diagnostischen Blick für Leitmotive und Traumata, für Habitualitäten und Mentalitäten zu entwickeln, die im weitesten Sinn des Wortes pathogen sind. Zu denken ist dabei weniger an die Krankengeschichten, die der Begründer der Psychoanalyse selbst geschrieben hat, als an Werke wie Lieutenant Gustl oder Fräulein Else. Diese von Arthur Schnitzler verfassten Texte werden in der Forschung als Monolog-Novellen bezeichnet, weil sie das Prinzip der Rollenprosa mit dem Prinzip des (stum-

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men) Selbstgesprächs verbinden und dem Leser den poietischen Charakter der Gedankenerzeugung vor Augen führen. Demgegenüber könnte man die Krankengeschichten von Freud, ihrer Struktur nach, als Dialog-Novellen bezeichnen, weil sie zuweilen in direkter, mehrheitlich jedoch in indirekter Rede Gespräche wiedergeben, die einer der Gesprächspartner, nämlich der Erzähler, in seinen nachträglichen Kommentaren zu schlüssigen Fallbeschreibungen verdichtet. Tatsächlich hat Freud in den gemeinsam mit Josef Breuer veröffentlichten Studien über Hysterie (1895) bemerkt, es berühre ihn eigentümlich, dass die Krankengeschichten, die er schreibe, „wie Novellen zu lesen sind und daß sie sozusagen des ernsten Gepräges der Wissenschaftlichkeit entbehren.“15 Nimmt man das Wort ‚Gepräge‘ als Synonym zu ,Ausdrucksgeste‘ oder ,Stil‘, reklamiert Freud für seine Krankengeschichten ein Textprofil, das sich durch wenigstens zwei Charakteristika auszeichnet: das Narrative und das Nicht-Ernsthafte, das nicht unbedingt das Unseriöse sein muss. Darüber hinaus steckt im Begriff der Novelle die Erinnerung an den Neuigkeits- oder Überraschungswert der Erzählung – ein Wert, der nun wiederum durchaus zum Anspruch eines Forschers passt, nicht nur Altbekanntes zu verbreiten. Schaut man sich unter diesen Vorzeichen Freuds Beiträge zu den Studien über Hysterie an, erweist sich einer von ihnen als besonders überraschend, narrativ und nicht ganz ernsthaft. Dieser Beitrag beschäftigt sich mit einer jungen Frau, die Freud Katharina nennt, und beginnt wie eine beschauliche Urlaubsanekdote „In den Ferien des Jahres 189* machte ich einen Ausflug in die Hohen Tauern, um für eine Weile die Medizin und besonders die Neurosen zu vergessen“16 – also den Ernst des Berufslebens. Kaum ist der Sommergast auf den ersten Berg geklettert, wird er jedoch in seiner Eigenschaft als Arzt angesprochen von einem „etwa 18jährigen Mädchen“,17 das sich selbst als „nervenkrank“ bezeichnet,18 woraufhin der Ich-Erzähler halb resigniert, halb amüsiert feststellt: „Da war ich also wieder in den Neurosen, denn um etwas anderes konnte es sich bei dem großen und kräftigen Mädchen mit der vergrämten Miene kaum handeln. Es interessierte mich, daß Neurosen

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BREUER/FREUD, 2000, S. 180. Ebd., S. 143. Ebd. Ebd.

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in der Höhe von über 2000 Metern so wohl gedeihen sollten, ich frage also weiter.“19 Der ironische Gestus dieser Zeilen betrifft nicht nur Katharinas Erscheinung, die so ganz und gar nicht zum Typus der Frauen passen will, dem Freud in seinen Sprechstunden begegnet; er betrifft auch die Neurosen, die offenbar überall, selbst im Gebirge, eine Ökonische finden. Das Erzählprofil der Krankengeschichte, die dieser novellistischen Einleitung folgt, wird nun wesentlich dadurch geprägt, dass Freud zwei Szenen übereinander schiebt: die Szene des Dialogs und die Szene des Bewusstseins, die ihrerseits wiederum in einzelne Erinnerungsmomente zerfällt, deren Zusammenhang Katharina nicht durchschaut. Der Dialog wird in wörtlicher Rede wiedergegeben und jeweils dort, wo es dem Erzähler geboten scheint, durch Reflexionen wie die folgende ergänzt: Sollte ich hier einen Versuch der Analyse machen? Die Hypnose zwar wagte ich nicht in diese Höhen zu verpflanzen, aber vielleicht gelingt es im einfachen Gespräche. Ich mußte glücklich raten. Angst bei jungen Mädchen hatte ich so oft als Folge des Grausens erkannt, das ein virginales Gemüt befällt, wenn sich zuerst die Welt der Sexualität auftut.20

Damit ist Freud bei seinem Thema. Interessant ist nicht nur, dass er dieser Reflexion, wie in wissenschaftlichen Texten üblich, eine Fußnote hinzufügt, die Auskunft darüber gibt, wie sein diagnostischer Blick entstanden ist. Interessant ist vor allem, dass er erneut ironisch verfährt, wenn er suggeriert, dass man die Methode der Hypnose nicht aus den Niederungen Wiens in die Hohen Tauern verpflanzen könne. Nicht minder interessant als die Isotopie, die der Text auf der Ebene seiner botanischen Metaphern entfaltet, erscheint Freuds Eingeständnis, Katharinas Geheimnis durch Raten auf die Spur gekommen zu sein – zweifellos eine Form der Erklärung, die nicht unbedingt zum ernsten Gepräge der Wissenschaftlichkeit passt. Insofern entspricht die Performanz des Textes ziemlich genau Freuds ironischer Selbst-Stilisierung zum Novellenautor, die bereits zitiert wurde.

19 Ebd., S. 143f. 20 Ebd., S. 145.

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Im Verlauf der Unterredung, die Freud mitteilt, berichtet Katharina, warum sie an Beklemmungen leide. Sie habe nämlich während eines Aufenthalts bei ihrer Tante entdeckt, dass der Onkel ein Verhältnis mit einer gewissen Franziska eingegangen sei, was schließlich zur Ehescheidung geführt habe. Worauf es bei der entscheidenden „Szene der Entdeckung“, wie Freud sie nennt,21 ankommt, ist das Textprofil: „Das war so“, beginnt die Binnenerzählerin: Vor zwei Jahren sind einmal ein paar Herren heraufgekommen und haben zu essen verlangt. Die Tant’ war nicht zu Haus’, und die Franziska war nirgends zu finden, die immer gekocht hat. Der Onkel war auch nicht zu finden. Wir suchen sie überall, da sagt der Bub, der Alois, mein Cousin: ‚Am End’ ist die Franziska beim Vatern.‘ Da haben wir beide gelacht, aber gedacht haben wir uns beide nichts Schlechtes dabei. Wir gehen zum Zimmer, wo der Onkel gewohnt hat, das ist zugesperrt. Das war mir aber auffällig. Sagt der Alois: ‚Am Gang ist ein Fenster, da kann man hineinschauen ins Zimmer.‘ Wir gehen auf den Gang. Aber der Alois mag nicht zum Fenster, er sagt, er fürcht’ sich. Da sag’ ich: ‚Du dummer Bub, ich geh hin, ich fürcht’ mich gar nicht.‘ Ich habe auch gar nichts Arges im Sinne gehabt. Ich schau hinein, das Zimmer war ziemlich dunkel, aber da seh ich den Onkel und die Franziska, und er liegt auf ihr.22

Beim Anblick dieses Paares habe sie das erste Mal jene bedrängende Atemnot empfunden, die sie seitdem quäle, behauptet Katharina. Außerdem habe sie sich kurz darauf erbrechen müssen.23 Ihre Vergegenwärtigung der Entdeckungsszene zeichnet sich durch die für das mündliche Erzählen charakteristischen Tempuswechsel, durch deiktische Ausdrücke und elliptische Sätze sowie durch die Nachstellung von Relativsätzen aus. Ebenfalls charakteristisch für das mündliche Erzählen ist die Auflösung des Vorgangs in einzelne Erinnerungsmomente und die scheinbar mimetische Wiedergabe von Äußerungen und Gedanken, die der Sprecherin im Gedächtnis geblieben sind. Sowohl der mehrfach verwendete Partikel „da“ als auch die mehrfache Verwendung der di21 Ebd., S. 149. 22 Ebd., S. 146. 23 Vgl. ebd., S. 147.

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rekten Rede verleihen der Erinnerung Anschaulichkeit und Gegenwärtigkeit. Es ist, als erlebe die Sprecherin den Vorgang noch einmal im Augenblick der Mitteilung, als werde sie während des Vortrags zurückversetzt in jene Szene, die sie mit den ihr zur Verfügung stehenden sprachlichen Mitteln illustriert. Wäre die Krankengeschichte ein fiktionaler Text, würde man von der Stilmaske des skaz sprechen, in die ein Autor schlüpft, um im schriftlich niedergelegten Text die Illusion spontaner, mündlicher Ausdrucksweise zu erzeugen. Neben diesem Kunstgriff verdienen zwei weitere Aspekte der Passage besondere Aufmerksamkeit: Da ist zunächst der Umstand, dass die präsentische Schilderung der Entdeckungsszene in die ebenfalls präsentische Schilderung des Dialogs eingebettet ist, den Freud mit dem Mädchen führt. Außerdem ist sich Freud vollauf bewusst, dass er in seiner Rolle als Vermittlungsinstanz die Aufgabe übernommen hat, Ordnung in die Mitteilungen des Mädchens zu bringen. Als er noch von anderen Szenen erfährt, in denen sich der Onkel nicht nur an Franziska, sondern auch an Katharina selbst herangemacht hat, erklärt er dem Leser: Nachdem sie diese [...] Erzählungen beendigt, hält sie inne. Sie ist wie verwandelt, das mürrische, leidende Gesicht hat sich belebt, die Augen sehen frisch drein, sie ist erleichtert und gehoben. Mir aber ist unterdes das Verständnis ihres Falles aufgegangen; was sie mir zuletzt anscheinend planlos erzählt hat, erklärt vortrefflich ihr Benehmen bei der Szene der Entdeckung. Sie trug damals zwei Reihen von Erlebnissen mit sich, die sie erinnerte, aber nicht verstand, zu keinem Schlusse verwertete; beim Anblicke des koitierenden Paares stellte sie sofort die Verbindung des neuen Eindruckes mit diesen beiden Reihen von Reminiszenzen her, begann zu verstehen und gleichzeitig abzuwehren. Dann folgte eine kurze Periode der Ausarbeitung, der ‚Inkubation‘, und darauf stellten sich die Symptome der Konversion, das Erbrechen als Ersatz für den moralischen und psychischen Ekel ein. Das Rätsel war damit gelöst, sie hatte sich nicht vor dem Anblicke der beiden geekelt, sondern vor einer Erinnerung, die ihr jener Anblick geweckt hatte, und alles erwogen, konnte dies nur die Erinnerung an den nächtlichen Überfall sein, als sie ‚den Körper des Onkels spürte‘.24 24 Ebd., S. 150. Ausdrücklich spricht Freud in dieser Passage davon, dass Katharina ‚planlos‘ erzählt.

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Freud meint also, dass sich das Mädchen in der Szene der Entdeckung an jene andere Szene erinnert habe, in der es selbst von ihrem Onkel bedrängt worden war. Entscheidend für seine Diagnose ist jedoch, dass er das körperliche Verhalten, nämlich das Erbrechen, nicht nur auf ein Ekelgefühl zurückführt, sondern dieses Gefühl wiederum als Ausdruck einer Abwehr deutet, nämlich einer Abwehr von Lustempfindungen. Folgerichtig fragt er das Mädchen weiter über die Szene ihrer Verführung aus: „Sagen Sie mir genau, was haben Sie denn in der Nacht eigentlich von seinem Körper verspürt?“25 Dieser Frage folgt eine Passage, die man wiederum im Wortlaut zitieren muss, um die Raffinesse – respektive die Perfidie – ermessen zu können, die Freud, den Geschichtenerzähler, auszeichnet: Sie gibt aber keine bestimmtere Antwort, sie lächelt verlegen und wie überführt, wie einer [sic], der zugeben muß, daß man jetzt auf den Grund der Dinge gekommen ist, über den sich nicht mehr viel sagen läßt. Ich kann mir denken, welches die Tastempfindung war, die sie später deuten gelernt hat; ihre Miene scheint mir auch zu sagen, daß sie von mir voraussetzt, ich denke mir das Richtige, aber ich kann nicht weiter in sie dringen; ich bin ihr ohnehin Dank dafür schuldig, daß sie so viel leichter mit sich reden läßt als die prüden Damen in meiner Stadtpraxis, für die alle naturalia turpia sind.26

Raffiniert bzw. perfide ist diese Passage, weil Freud im Text eine doppelte Verführungsszene arrangiert: Der Leser wird mit einer Verlockungsprämie geködert, die auf seine eigene Lust spekuliert – zum einen die Lust des Voyeurismus und zum anderen die Lust des Narzissmus. Der Leser soll sich in der Rolle des Dr. Watson gefallen, der schlau genug ist, zu erkennen, was der Meisterdetektiv der Seelenforschung suggeriert – dass Katharina eigentlich Gefallen an der haptischen Sensation der Erektion gehabt und sich diese Lustempfindung lediglich aus moralischen Bedenken versagt habe, auf die sie nun, im intimen Dialog mit Sherlock Freud, keine Rücksichten mehr nehmen

25 Ebd. 26 Ebd.

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müsse.27 Weder muss der Arzt – was ja ausgesprochen zweideutig klingt – „weiter in sie dringen“ – noch muss er mehr sagen, um sich über den Kopf der Betroffenen hinweg mit dem Leser darauf zu verständigen, dass sich das Mädchen in Wahrheit mehr von der sexuellen Berührung gewünscht habe. Wie problematisch diese Suggestion ist, die mit der erotischen Imagination des Lesers rechnet, wird allerdings spätestens dann klar, wenn Freud in einem Zusatz, der aus dem Jahr 1924 stammt, bekennt, „daß Katharina nicht die Nichte, sondern die Tochter der Wirtin war, das Mädchen war also unter den sexuellen Versuchungen erkrankt, die vom eigenen Vater ausgingen.“28 Dieser Zusatz könnte bei so manchem Leser Anlass einer Konversion von Lust in Ekel sein. Da es hier jedoch nicht um die Moral der Geschichte, sondern um den Stil ihrer Vermittlung geht, mag es genügen, den Fall Katharina mit zwei Bemerkungen zu Freuds Diskurs abzuschließen. Erstens fällt auf, dass Freud keine Äußerung des Mädchens mitteilt, die seine Diagnose bestätigt. Vielmehr erweckt er den Eindruck, dass er Katharina allein mit seiner mäeutischen Fragetechnik überführt und zum mimischen Eingeständnis ihrer Selbstverleugnung gebracht habe. Dass seine Gesprächspartnerin vielleicht nur deshalb verlegen wurde, weil sie die Lust bemerkt hatte, mit der ihr Freud seine Vermutung aufdrängen wollte, scheint dem Arzt nicht gekommen zu sein. Zweitens geht das Regiekonzept dieser Novelle nur auf, wenn der Leser die Rolle des Dr. Watson spielt und den Satz „Ich kann mir denken, welches die Tastempfindung war“ gleichsam zu sich selbst spricht. Man muss nicht unbedingt weiblich sein, um zu erkennen, dass Freud mit der Inszenierung des narrativen Diskurses seiner eigenen Eitelkeit schmeichelt, indem er sich wie ein zweiter Holmes gebärdet und so eine Pose einnimmt, die zwar des ernsten Gepräges der Wissenschaftlichkeit entbehrt, gleichwohl aber mit ihrer Grundidee kokettiert. Denn so wie der Detektiv auf seine Weise ein Forscher ist, so ist ja auch die Psychoanalyse dem Indizienparadigma der sogenannten Konjekturalwissenschaften verpflichtet, die sich Ende des 19. Jahrhunderts bilden.

27 Zu den Parallelen zwischen Sigmund Freud und Sherlock Holmes vgl. SHEPHERD, 1986; ROHRWASSER, 2005; BAUER, 2009, S. 59-76. 28 BREUER/FREUD, 2000, S. 153.

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3. Textpr ofil und Regi ekonzept II: Art hur Schnitzler und Fräul ein Else Schnitzlers Monolog-Novelle Fräulein Else, die fast drei Jahrzehnte nach den Studien über Hysterie, nämlich 1924 veröffentlicht wurde, scheint zunächst in allem das Gegenstück zum Fall Katharina zu sein. Denn hier ist es keine Dorfschönheit, sondern eine mondäne, junge Frau aus der Stadt, die in die Sommerfrische versetzt wird und dort von Zumutungen heimgesucht wird, die sie mit niemandem außer mit sich selbst bereden kann. Man kann jedoch zeigen, dass die Diktion dieses Textes in vielerlei Hinsicht der Vergegenwärtigungsprosa von Katharina ähnelt und dass auch Schnitzler ein Regiekonzept verfolgt, das auf voyeuristische und narzisstische Motive setzt. Gemeint ist damit zum einen, dass sich Else als „sinnlich“29 charakterisiert und darin gefällt, nackt vor dem Spiegel zu posieren.30 Gemeint ist damit zum anderen, dass die Szene der öffentlichen Entblößung, in der Elses Geschichte kulminiert, sowohl ihre eigenen narzisstischen und exhibitionistischen Gelüste als auch den Voyeurismus der Leser reflektiert. Um diese Szene zu erläutern, muss man den Text allerdings zunächst anhand seiner Performanz profilieren. Nachdem Else von ihrer Mutter einen Brief erhalten hat, heißt es: Nun ist er offen, der Brief, und ich hab’ gar nicht bemerkt, daß ich ihn aufgemacht habe. Ich setze mich aufs Fensterbrett und lese ihn. Achtgeben, daß ich nicht hinunterstürze. Wie uns aus San Martino gemeldet wird, hat sich dort im Hotel Fratazza ein beklagenswerter Unfall ereignet. Fräulein Else T., ein neunzehnjähriges bildschönes Mädchen, Tochter des bekannten Advokaten ... Natürlich würde es heißen, ich hätte mich umgebracht aus unglücklicher Liebe oder weil ich in der Hoffnung war. Unglückliche Liebe, ah nein.31

Geschickt werden hier verschiedene Diskurs- und Medienformate ineinander geschoben: der innere Monolog und der Tagtraum, die Zeitungsnachricht und die Seifenoper, die fokalisierte Schilderung und ihre 29 SCHNITZLER, 1987, S. 474. 30 Vgl. ebd., S. 511. 31 Ebd., S. 477.

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Transgression in der Figurenimagination. Der Text vermittelt die äußere und innere Bewegung Elses, vor allem aber, wie sie sich zu einer begehrenswerten Frau stilisiert. Gerade an den Tagträumen Elses wird die display-Funktion des Textes anschaulich: Indem das Fräulein Wunschund Todesfantasien durchspielt, zeigt der Text, wie sie ‚tickt‘. Ein Freudianer würde sofort hinzufügen, dass Elses selbstgefälliger Tagtraum eine poetische Lizenz erfordert, die sich das Fräulein verschafft, indem es Eros und Thanatos verschränkt. Nur unter der eingebildeten Voraussetzung, dass sie selbst es gar nicht mehr erleben würde, gestattet sie sich den Gedanken, unwiderstehlich zu sein. Gleichzeitig ist die Idee der Liebe mit dem Empfinden, totunglücklich zu sein, verknüpft. Der Brief, den Else empfangen hat, enthält bekanntermaßen die Aufforderung, einen gewissen Dorsday, der ebenfalls im Hotel Fratazza wohnt, um Geld zu bitten. Ansonsten werde der Papa daheim in Wien wegen seiner Schulden eingesperrt. Else vergegenwärtigt sich die Szene, in der sie sich vor Dorsday demütigen soll. Ihre Demütigung liegt nicht nur darin, dass sie einen fremden Mann um Geld bitten muss. Vielmehr stellt sich Else vor, wie lüstern Dorsday sie dabei mustern wird. „Seine Augen werden sich in meinen Ausschnitt bohren.“32 Als es tatsächlich zu dieser Szene kommt, ertappt Else sich dabei, wie sie ihre Knie an den Körper des Mannes drückt.33 Erneut kommt es also zu einer Tastempfindung, wenn auch unter ganz anderen Vorzeichen als im Fall Katharina. Zumindest sollte man das vom Handlungsverlauf her denken. Schnitzler arrangiert den inneren Monolog jedoch so, dass wiederum Momente der Lust ins Spiel kommen, die der Szene eine zusätzliche Bedeutung verleihen. Zwar weicht Else erschrocken zurück, als Dorsday von ihr verlangt, sich vor ihm auszuziehen – der Text stellt aber gerade die Ambivalenz ihrer Gefühle heraus, wenn es heißt: „Nackt willst du mich sehen? Das möchte mancher. Ich bin schön, wenn ich nackt bin. Warum schlage ich ihm nicht ins Gesicht?“34 Überdeutlich exponiert werden so die beiden Lustmomente des Voyeurismus und des Narzissmus, die Else empfindet. Trotzdem ist es vor allem ein Prozess der Selbstüberredung, in dem sie zu dem folgenreichen Entschluss gelangt, aus der Defensive in die Offensive zu gehen 32 Ebd., S. 481. 33 Vgl. ebd., S. 490. 34 Ebd., S. 494.

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und aus der klammheimlichen Selbstentblößung einen öffentlichen Akt der Bloßstellung zu machen, bei dem mit ihrem eigenen Körper sichtbar wird, wozu man ihn missbrauchen will. Bezeichnenderweise trägt auch hier wiederum eine Todesfantasie nachhaltig zu Elses Enthemmung bei: Wer wird weinen, wenn ich tot bin? Oh, wie schön wäre das, tot zu sein. Aufgebahrt liege ich im Salon, die Kerzen brennen. Lange Kerzen. Zwölf lange Kerzen. Unten steht schon der Leichenwagen. Vor der Haustür stehen Leute. Wie alt war sie denn? Erst neunzehn. Wirklich erst neunzehn?35

Aufschlussreich an dieser Fantasie ist nicht nur, wie der Tagtraum das Selbstmitleid in eine Szene übersetzt und wie diese Szene nach und nach ausgemalt wird im Sinne der Evidenz (Kerzen – lange Kerzen – zwölf lange Kerzen). Aufschlussreich ist vor allem, dass die Todesfantasie zwei Einstellungen verschränkt, die scheinbar unvereinbar sind: Die fokalisierte Erzählperspektive des inneren Monologs und die exotopische Sicht der Dinge, die sich dadurch ergibt, dass Else sich in ihrer Imagination in eine tote Heldin und eine transzendentale Beobachterinstanz spaltet. Sie sieht sich als Leiche gleichsam von außen, so wie es eigentlich nur einem heterodiegetischen Erzähler möglich wäre. Vorstellbar wird so eine fiktive Abrundung ihrer Existenz, die den eigenen Narzissmus illusionär befriedigt und kurzschließt mit einem vorbewussten Todeswunsch. Unter dem Gesichtspunkt des Textprofils entscheidend ist freilich die Erkenntnis, dass dem Leser diese psychoanalytische Interpretation durch den Wortlaut und Handlungsverlauf auf eine Weise nahegelegt wird, die ganz anders als der Kommentar in Freuds Krankengeschichte funktioniert und doch auf die Diskursformation der Hysterie-Studien rekurriert. Auf der einen Seite gibt es in Schnitzlers Monolog-Novelle keine andere Stimme als die von Fräulein Else; auf der anderen Seite stellt ihre Rede einen inszenierten Diskurs dar, zu dem ein spezifisches Regiekonzept gehört. Dieses Konzept manifestiert sich primär nicht in den einzelnen Äußerungen bzw. Gedanken Elses, sondern in ihrer Konfiguration. Während sich Else zu einer gleichermaßen erotischen wie tragischen Persönlichkeit stilisiert, veranstaltet der Leser eine Konjek35 Ebd., S. 499f.

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tur, die ihre Worte in Indizien und Symptome verwandelt. Unentwegt erscheinen die Zeichen, aus denen der Text zusammengesetzt ist, in einer Doppelbeleuchtung, die dem Leser zugleich das Selbstbild Elses und den engen Rahmen ihrer Betrachtungsweise vor Augen führt. Mehr noch: Elses gesamtes Ausdrucksverhalten wird erklärbar als StigmaManagement und Trotz-Reaktion. Einerseits muss Else unentwegt kaschieren, dass sie als Tochter eines Bankrotteurs eigentlich nicht zu der vornehmen Gesellschaft im Hotel gehört; andererseits versucht man sie in gewisser Weise zu prostituieren, was schließlich dazu führt, dass Else ihre seelische Vergewaltigung gleichsam körperlich ausagiert – also genau die Konversion betreibt, die so charakteristisch ist für die Ätiologie der Hysterie. Damit nicht genug, verwickelt Else sich in einen performativen Widerspruch. Gerade weil sie insgeheim begehrt, das Objekt der Begierde, insbesondere der Schaulust, zu sein, ist die demonstrative Darbietung ihrer Reize kein autonomer Akt. Weit davon entfernt, die Urheberin ihrer eigenen Lebensgeschichte zu sein, erweist sich Else im doppelten Sinn des Wortes als subjectum, als ein anderen unterworfenes Individuum, dass noch im stummen Selbstgespräch den Einflüsterungen unterliegt, in denen sich mit dem Habitus die Mentalität der Epoche bemerkbar macht. Schließlich verhindert ihr Selbstmord jede identifikatorische Lesart des Textes. Spätestens als Else das Veronal schluckt und dem Leben entgleitet, muss jede emphatische Lektüre umschlagen in aporematische Reflexion. Wie konnte es soweit kommen? Warum hat niemand rechtzeitig die Anzeichen des hysterischen Anfalls und Elses Todessehnsucht erkannt? Mit diesen Fragen wird die paradoxe Rückkopplung von Psyche und Habitus, von Hysterie und Indolenz auslegungsrelevant. Das macht nicht zuletzt die Szene der öffentlichen Entblößung klar: Nackt stehe ich da. Dorsday reißt die Augen auf. Jetzt endlich glaubt er es. [...] ‚Ha, ha, ha!‘ Wer lacht denn da? Ich selber? ‚Ha, ha, ha!‘ Was sind denn das für Gesichter um mich? ‚Ha, ha, ha!‘ Zu dumm, daß ich lache, Ich will nicht lachen, ich will nicht. ‚Haha!‘ – ‚Else!‘ – Wer ruft Else? Das ist Paul. Er muß hinter mir sein. Ich spüre den Luftzug über

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Matthias Bauer meinem nackten Rücken. Es saust in meinen Ohren. Vielleicht bin ich schon tot?36

Vergegenwärtigt wird in diesen Zeilen ein Schwellenbewusstsein: ein Zustand zwischen Tagtraum und Erwachen, zwischen somnambuler Aktion und Depersonalisation, der selbst durch den Weckruf des eigenen Namens nicht aufgehoben wird. Vergegenwärtigt wird zugleich, was man – auch wenn es pathetisch klingt – als sozialen Tod bezeichnen muss. Der Stupor, in den Else verfällt, ist nur ein Indiz dafür. In die gleiche Richtung weist der Umstand, dass Else nach ihrem exhibitionistischen Akt nicht mehr kommunizieren kann. „Ich bin nicht ohnmächtig. Ich bin bei vollem Bewußtsein“,37 sagt sie sich, bringt aber keinen Ton heraus. Paul, der sie in ihr Zimmer bringt, kann weder Elses Anklagen – „Alle sind sie Mörder“38 – noch die Hilferufe hören, die in ihrem Kopf verhallen. Schließlich, nachdem Else das bereitliegende Gift genommen hat, gerinnt der innere Monolog in den letzten Zeilen des Textes zu einem dünnen Bewusstseinsstrom, der alsbald versiegt. „Ich fliege ... ich träume ... ich schlafe ... ich träu ... träu ... ich flie ....“39 Performativ negiert wird damit die Formel Cogito ergo sum. Wenn Freuds Diskurs davon lebt, dass der Erzähler dem Leser die Bedeutung der Figurenrede erläutert, die im Text wiedergegeben wird, läuft das Regiekonzept des inneren Monologs, den Schnitzler inszeniert, darauf hinaus, dass der Leser für diese Form der Rollenprosa einen diagnostischen Blick entwickelt. Seine Konjektur macht ihn zwar nicht zu Elses Therapeuten, aber doch zu einem Detektiv der Seele, der bestimmte Indizien zusammenliest und von der individuellen Psyche über den Habitus zurückschließt auf die Kultur und Mentalität der Epoche, der das Fräulein verhaftet ist. Freilich kann sich der literaturwissenschaftlich geschulte Leser nicht auf diesen Part beschränken. Wenn man nämlich von Rollenprosa spricht und weiß, dass die erlebte Rede, der innere Monolog und der Erlebnisstrom Fokalisationsverfahren sind, die dazu führen, dass der Autor eines Textes ganz und gar hinter die Fi-

36 37 38 39

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Ebd., S. 519. Ebd. Ebd., S. 524. Ebd., S. 526.

Textprofil und Regiekonzept – Habitus und Denkstil

gurenstimme zurücktritt, stellt sich die Frage, woran man seinen Stil festmachen soll? Die Frage nach dem Stil eines Autors, der Monolog-Novellen verfasst, ist auch deshalb wichtig, weil sie auf die Unzulänglichkeit der analytischen Trias von Tempus, Modus und Person verweist, an der die Narratologie das Profil eines Textes festmacht.40 Da es in der Monolognovelle keine Zeile gibt, in welcher der Regisseur der Rollenprosa selbst zu Wort kommt, wäre es nicht nur ein Fehlschluss, von Elses Diktion zurückzuschließen auf die Intention des Autors. Genauso irreführend wäre es, in ihrem Diskurs eine Manifestation seines Stils zu sehen. Trotzdem merken die Leser sehr wohl, dass Schnitzler die Figurenrede inszeniert und jede Bewusstseinsszene so arrangiert hat, dass sie nicht willkürlich, sondern nur in seinem Sinne ausgelegt werden kann. Wie kann das sein? Wie stimuliert und reguliert der Text die Vorstellungen, vor allem die dynamisch-energetischen Interpretanten der Leser?41 Offenbar ausschließlich durch die Konfiguration der Denk- oder Sprechakte, die dem Fräulein zugeschrieben werden. Sie müssen – um es mit einem Fachausdruck der Semiotik zu sagen – so diagrammatisiert werden, dass der Leser nicht umhin kann, ganz bestimmte Schlussfolgerungen aus der Selbst- und Weltdarstellung der Figur und dem Verlauf ihrer Geschichte zu ziehen.42 Mit anderen Worten: Obwohl Else die tonangebende Person ist, muss der Leser auf die Partitur achten, der ihre Stimme folgt, also insbesondere auf die von Schnitzler arrangierten Querbezüge und Leitmotive sowie auf das, was man den Notenschlüssel der Rollenprosa nennen könnte: die Erkenntnis nämlich, dass Else (unfreiwillig) sich und die Mentalität ihrer Epoche entlarvt. Um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, muss der Leser offenbar den diagnostischen Blick, das heißt: den Habitus der Psychoanalyse übernehmen, der ebenfalls in der Partitur des Textes angelegt ist. Schnitzlers Monolog-Novelle transportiert nicht nur das Wissen um die Ätiologie der Hysterie, sie gewinnt ihr Textprofil vielmehr im Rahmen einer Performanz, die interdiskursiv verfasst ist: als Derivation der Diskursformation, die Freuds Krankengeschichten auszeichnet. Dieser Performanz 40 Vgl. GENETTE, 1994. 41 Vgl. ECO, 1987, S. 5. 42 Vgl. BAUER/ERNST, 2010.

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kommt man nicht über die einzelnen Figuren und Tropen an der Oberfläche des Textes, sondern nur über die Tiefengrammatik ihrer Konfiguration auf die Spur.

4. Rekurrenz und Exemplifikation Das Zusammenspiel von Textprofil und Regiekonzept, das hier am Beispiel der literarischen Bewusstseinsvergegenwärtigung aufgezeigt wurde, belegt, dass die Zeichenfunktion des Stils über die Rekurrenz der Formen hinausgeht, die dem Leser eines literarischen Textes ins Auge springt. Mit der Rekurrenz würde man nur den Stil von Else, nicht aber den eigentlichen Witz der Rollenprosa erfassen, die Schnitzler inszeniert hat. Erforderlich ist über die Identifizierung wiederkehrender Formen hinaus die Analyse ihrer display-Funktion. Dazu aber bedarf es – komplementär zur Koppelung von Textprofil und Regiekonzept – einer Verklammerung des Stilbegriffs mit dem terminus technicus der Exemplifikation. Diese Verklammerung hat Nelson Goodman geleistet, dessen Einlassungen in der Stilforschung bislang nicht ausreichend oder gar nicht bedacht worden sind. „Exemplifikation ist Besitz plus Bezugnahme“,43 erklärt Goodman kurz und bündig. Sein Paradebeispiel ist die Stoffprobe: „Das Stoffmuster exemplifiziert nur die Eigenschaften, die es hat und auf die es zugleich Bezug nimmt.“44 Pragmatisch betrachtet, tritt eine Exemplifikation häufig in Verbindung mit einer Ostension auf – theoretisch muss man die beiden Prozeduren jedoch auseinanderhalten: „Ostension hat es wie Exemplifikation mit Proben zu tun; aber während Ostension der Akt des Zeigens auf eine Probe ist, ist Exemplifikation die Beziehung zwischen einer Probe und dem, worauf sie Bezug nimmt.“45 Diese Differenzierung ist wichtig, weil der Akt des Zeigens eine Implikatur des Diskurses sein kann, der exemplifikatorisch verfährt. Eben dies ist in einer Monolog-Novelle wie Schnitzlers Fräulein Else der Fall. Dort gibt es keine Vermittlungsinstanz, die ausdrücklich auf 43 GOODMAN, 1995, S. 60. 44 Ebd. 45 Ebd., Fußnote auf S. 60.

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die Eigenschaften der Figurenrede hinweist, die der Text ausstellt, also exemplifiziert. Vielmehr gehört es zu den stillschweigenden Voraussetzungen – zu den Präsuppositionen – der Rollenprosa als inszeniertem Diskurs, dass die Ausdrucksweise der Figur (respektive die Gestaltung der Erzählstimme) im Dienste der display-Funktion steht. Die Leser müssen nicht nur bestimmte, mehr oder weniger stereotype Formen in Elses Verhalten (wieder-)erkennen, sie müssen vor allem bemerken, dass diese Formen als Indizien oder Symptome für Zusammenhänge fungieren, die der Figur gar nicht oder nur undeutlich bewusst sind. Wenn daher ein Stilmerkmal für Goodman ein Merkmal darstellt, „das durch das Werk exemplifiziert wird“,46 bedeutet dies, dass sich der Leser eine Idee vom Sinn und Zweck der literarischen Inszenierung gebildet haben muss, um ihre Pointe zu begreifen. Folgerichtig weist Goodman ausdrücklich darauf hin, dass der bloße Besitz einer Eigenschaft noch keine Exemplifikation ist.47 „Ist Besitz intrinsisch, so ist es Bezugnahme nicht; und welche Eigenschaften eines Symbols nun gerade exemplifiziert werden, hängt davon ab, welches besondere Symbolsystem in Kraft ist.“48 Mittels der Ersetzung eines Symbolsystems durch ein anderes lässt sich leicht die Probe aufs Exempel machen: Man muss sich nur vorstellen, dass zum Beispiel die folgende Formulierung nicht, wie im Kontext von Schnitzlers Monolog-Novelle, die Symptome der Hysterie exemplifiziert, sondern – etwa im Kontext einer Einführung in die Stilkunde – die Eigenarten von Alliteration, Prosodie und Binnenreim veranschaulichen soll: „[...] ‚Ha, ha, ha!‘ Wer lacht denn da? Ich selber? ‚Ha, ha, ha!‘ [...].“ In jedem Fall gilt: „Was ein Symbol exemplifiziert, das muß auf es zutreffen.“49 Die Reihung der Silben „Ha, ha, ha“ besitzt sowohl die Eigenschaften, die es erlauben, sie im Symbolsystem der Stilkunde als Anschauungsbeispiel für eine Alliteration einzusetzen, als auch die Eigenschaften, die es gestatten, sie im Symbolsystem einer sozialkritischen ‚psycho-narration‘ (Dorrit Cohn) als Anschauungsbeispiel für ein hysterisches Lachen zu verwenden. Was diese Silben in einer bestimmten Diskurssituation tatsächlich bedeuten sollen, hängt nicht von der

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GOODMAN, 1987, S. 187. Vgl. DERS. 1984, S. 48. DERS. 1995, S. 60. Ebd., S. 61.

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Rekurrenz ab, sondern von der display-Funktion des Textes bzw. von dem Regiekonzept, das sein Profil bestimmt. Das gilt erst recht, wenn die Exemplifikation metaphorisch eingesetzt wird und dadurch einen bestimmten Ausdruckswert erhält. Um bei dem gewählten Vergleich zu bleiben: Metaphorisch ist die Exemplifikation nur in der Monolog-Novelle, in der das hysterische „Ha, ha, ha“ einen Ausdruck der Verzweiflung darstellt – nicht im Kontext der stilkundlichen Verwendung. Die positivistische Feststellung dessen, was mit schöner Regelmäßigkeit wiederkehrt, genügt nicht. Das hat Folgen für den Begriff des Textprofils: Er sollte nicht einfach nur als die Summe stilistischer Eigenarten, sondern als ein pragmatisches Konzept verstanden werden, das über seine Funktionen und Implikaturen50 beschrieben werden muss.

Literatur ARISTOTELES, Rhetorik. Übersetzt, mit einer Bibliographie, Erläuterungen und einem Nachwort von FRANZ G. SIEVEKE, 4. Aufl., München 1993. AUSTIN, JOHN L., Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with Words), Stuttgart 2002. BLUMENBERG, HANS, Paradigen zu einer Metaphorologie, Frankfurt a. M. 1998. BAUER, MATTHIAS, Der unheimliche Fall der Psychoanalyse. Wie Sigmund Freud im historischen Kriminalroman erst als Detektivfigur eingesetzt und dann des ‚Seelenmords‘ verdächtigt wird, in: Geschichte im Krimi. Beiträge aus den Kulturwissenschaften, hg. von BARBARA KORTE/SYLVIA PALETSCHEK, Köln u. a. 2009, S. 59-76. DERS./ERNST, CHRISTOPH, Diagrammatik. Einführung in ein kulturund medienwissenschaftliches Forschungsfeld, Bielefeld 2010. BOURDIEU PIERRE, Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt a. M. 1997. BREUER, JOSEF/FREUD, SIGMUND, Studien über Hysterie, Einleitung von STAVROS MENTZOS. Frankfurt a. M. 2000.

50 Zum Begriff der Implikatur vgl. GRICE, 1975.

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Textprofil und Regiekonzept – Habitus und Denkstil

ECO, UMBERTO, Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten, München/Wien 1987. GENETTE, GIRARD, Die Erzählung/Neuer Diskurs der Erzählung, München 1994. GOODMAN, NELSON, Weisen der Welterzeugung, Frankfurt a. M. 1984. DERS., Vom Denken und anderen Dingen, Frankfurt a. M. 1987. DERS., Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie, Frankfurt a. M. 1995 GRICE, H. PAUL, Logic and Conversation, in: Syntax and Semantics, Bd. 3: Speech Acts, hg. von PETER COLE/JERRY L. MORGAN, New York u. a. 1975, S. 41-58. GUMBRECHT, HANS-ULRICH, Stil, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, hg. von JAN-DIRK MÜLLER, Bd. 3, Berlin/ New York 2003, S. 509-513. JAMES, WILLIAM, The Principles of Psychology, autorisierte Ausgabe in zwei Bänden, Bd. 1, New York 1950. KANT, IMMANUEL, Kritik der reinen Vernunft. Nach der ersten und zweiten Original-Ausgabe, hg. von RAYMUND SCHMIDT, Hamburg 1993. KRÄMER, SYBILLE (Hg.), Performativität und Medialität, München 2004. NAGL, LUDWIG, Charles Sanders Peirce, Frankfurt a. M./New York 1992. PRATT, MARIE LOUISE, Towards a Speech Act Theory of Literary Discourse, Bloomington/London 1977. ROHRWASSER, MICHAEL, Freuds Lektüren. Von Arthur Conan Doyle bis zu Arthur Schnitzler, Gießen 2005. SCHNITZLER, ARTHUR, Fräulein Else, in: DERS., Erzählungen, Frankfurt a. M. 1987. SHEPHERD, MICHAEL, Sherlock Holmes und der Fall Sigmund Freud, Rheda-Wiedenbrück 1986. STEPHAN, DORIS, Der Roman des Bewußtseinsstroms und seine Spielarten, in: Der Deutschunterricht 14 (1962), S. 24-38. WARNING, RAINER, Der inszenierte Diskurs. Bemerkungen zur pragmatischen Relation der Fiktion, in: Funktionen des Fiktiven, hg. von DIETER HENRICH/WOLFGANG ISER, München 1982, S. 186-206. WIRTH, UWE (Hg.), Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M. 2002.

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Zwischen Ideologie und Kritik: Stil als Objekt von Zuschreibungen CHRISTINE WALDSCHMIDT

Ein Blick auf die historischen Auseinandersetzungen um Stilfragen führt bereits anhand eines der ältesten und prominentesten Beispiele, der von Platon in seiner Kritik an den Sophisten formulierten Ablehnung des rhetorischen Ornatus zugunsten einer Einfachheit der Rede, zu einem bemerkenswerten Befund: Diskussionen über Stilfragen entstehen nicht nur dort, wo es um die Aussageleistung von bestimmten Redeweisen geht, sondern mindestens genauso häufig in Kontexten, in denen in der Beschäftigung mit Stil etwas ganz anderes verhandelt und entschieden werden soll als allein Modi des ästhetischen Gelingens von Aussageweisen, nämlich weltanschauliche bzw. moralische Implikationen der Mitteilung. Die dabei erfolgenden Zuschreibungen von bestimmten Inhalten an stilistische Phänomene funktionieren zumeist auf ähnliche Weise wie jener Vorwurf an die Rhetorik, den Platon gegen die Sophisten erhob, und ließen sich ebenso einfach widerlegen: Selbstverständlich kann mit entsprechendem rhetorischen Aufwand einem wenig überzeugenden Gedanken zur Anerkennung verholfen werden, die Umkehrung aber muss deshalb noch lange nicht gelten: Nicht jeder rhetorische Aufwand weist auf einen nicht haltbaren Inhalt hin. Damit die Umkehrung gelten soll, muss man zuerst einen ethischen Anspruch an die rhetorische Übermittlung von Inhalten herantragen, ist es nötig, dass längst nicht mehr nur an eine Angelegenheit des Gelingens von

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Redeweisen gedacht wird.1 Dieselbe Konsequenz ergibt sich für den Übergang von Stil, der eigentlich eine Gelingensvorstellung von Rede, die Mittel eines rhetorischen Erfolgs beschreibt, bzw. von Stilphänomenen, denen in dieser Funktion nichts Verbindliches eigen ist, zu einem Medium bzw. Schauplatz von Konflikten über Gültigkeit oder Geltung, über an die Literatur herangetragene Anforderungen der Legitimation vor einer nicht mehr ästhetischen, sondern moralischen oder ideologischen Verbindlichkeit. Auffällig an solchen Übergängen von Stil zu weltanschaulichen Inhalten ist vor allem, mit welcher Selbstverständlichkeit sie als Gegebenheit, d. h. als faktische Eigenart von Stil, hingenommen und fortgeschrieben werden, obgleich sie merkwürdig genug anmuten könnten. Im Folgenden soll deshalb zumindest die Frage eröffnet werden, auf welche Weise und mit welcher (rhetorischen) Absicht sich an stilistische Phänomene Zuschreibungen vornehmen lassen, die in der Verwendung eines Stils sogleich die Manifestation einer bestimmten Haltung zur Welt erkennen. Zu diesem Zweck kommen die Ausführungen nicht umhin, zu differenzieren zwischen dem Thema Stil und seiner ideologischen Funktionalisierung: Die stilistische Gestaltung von Texten für einen oder bisweilen für den bedeutungskonstituierenden Faktor einer Mitteilung zu halten, ist sicherlich eine ebenso banale wie berechtigte Annahme jeder Stilanalyse. Stil transportiert einen Gedanken zum Gesagten, eine Hinsicht auf den Inhalt oder dessen Modifikation, in jedem Fall aber eine Mitteilung, die entweder den Inhalt unterstützt, ihm eine eigene Richtung gibt, einen übergeordneten Aspekt hinzufügt oder ihn überhaupt erst hervortreten lässt. Die hier zu behandelnden Zuschreibungen an Stil jedoch unterscheiden sich von diesen, der stilistischen Gestaltung selbst möglichen Aussageleistungen in einer normativen Wendung: Es wird 1

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Anhand der platonischen Kritik an den Sophisten veranschaulicht auch GUMBRECHT, 1986, S. 732-734, die Wendung von einer ästhetisch-rhetorischen hin zu einer ethischen Stilauffassung, die sich am Wahrheitsbegriff ausrichtet. Dabei tendiert Gumbrecht aber dazu, daran nicht die Zuschreibung abzulesen, die aus Stil hier den Schauplatz von ganz anderen als stilistischen Konflikten macht, sondern diesen historischen Wandel als einen Beleg dafür zu werten, dass Stil durch die gesamte Stilgeschichte hindurch tatsächlich in einem Verhältnis zu Wahrheitskonzepten steht und deshalb auch das Medium ist, in dem Wahrheitsbegriffe sich äußern bzw. ermittelt werden können.

Zwischen Ideologie und Kritik

das Wissen um den gedanklichen, bedeutungsstiftenden Beitrag stilistischer Aspekte aufgegriffen, aber sowohl vom konkreten Anwendungsfall der Gestaltung als auch von jedem Bezug auf einen in ihnen geäußerten Inhalt abgelöst. Die Zuschreibung gelingt einerseits in dieser Abstraktion von jeder konkreten Darstellungsabsicht, sie besteht andererseits in einer Gleichsetzung oder Festlegung, im Schluss, immer wenn ein bestimmter Stil vorkommt, so transportiere er den nämlichen Inhalt – ein Übergang, der vom jeweiligen Inhalt der Äußerung fürderhin stets absehen kann. Ganz offensichtlich wird dann mit Stil keine Darstellungsform mehr verhandelt, die – im Idealfall auf besonders treffende Weise – einer bestimmten Weltanschauung Ausdruck zu verleihen vermag und sich deshalb als geeignet oder der Mitteilung angemessen erweist. Ebenso offensichtlich ist aber an dieses Wissen über Stil und seine Leistungen noch gedacht, ist die Vorstellung einer Angemessenheit von Stil und Inhalt, von Sujet, Darstellungsabsicht und stilistischen Mitteln, die stets zum rhetorischen Kalkül von Stilformen gehört, vorausgesetzt, um sie in die notwendige Verknüpfung eines Inhalts mit einem Stil zu verwandeln, wodurch dann auch die Umkehrung – man könne in jedem stilistischen Verfahren (und bereits allein in diesem) eine in Sprache geronnene Weltanschauung erkennen – möglich sein soll. Die Zuschreibungen lassen immer eine dem Stil mögliche Mitteilungsleistung hinter sich zugunsten einer Funktion, von der sie behaupten und von der sie gerne hätten, dass Stil sie erfüllen kann.2 Einerseits ist es also erforderlich, an etwas anderes als an Stil zu denken, um die solchen Verwendungen zugrundeliegenden Abgrenzungen und Mitteilungen ausbuchstabieren zu können, andererseits sollte dabei nicht vergessen werden, was die Verschiebung der Mitteilung in Diskussionen über Stilfragen intendiert, d. h. welche Funktion es haben kann, nicht nur den Anschein einer Argumentation, sondern ihre ganze Plausibilität in die sprachliche, ästhetische Überlegung zu verlagern. Für Zuschreibungen an Stil ließen sich zahlreiche Beispiele heranziehen, das Augenmerk der Betrachtung soll sich im Folgenden aber auf einige exemplarische Analysen von Auseinandersetzungen mit Stilfragen richten, welche am Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden sind, 2

Dementsprechend setzen sich die anschließenden Überlegungen weniger mit den Aussageleistungen des Stils als mit deren Behandlung in der Rede über stilistische Phänomene auseinander.

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und damit auf Texte einer Moderne, die sich auf solche Übergänge weiterhin versteht, obwohl oder weil sie den normativen Gehalt der Übertragungen nicht mehr explizit hervorkehrt und gerade der impliziten Vermittlung von Inhalten über die stilistische Betrachtung eine eigene persuasive Qualität zutraut.

1. Stilistische Verhandlung ästhetischer Gültigkeitsansprüche: Stil als Kunstnorm Wenn Stefan George zur Einleitung der 10. Folge der Blätter für die Kunst 1914 einen Rückblick auf die „dichtung der jüngsten vergangenheit“ hält, so bedient er sich einer Unterscheidung von Stilrichtungen für die Artikulation der eigenen dichterischen Anspruchshaltung: Als im lezten viertel des vorigen jahrhunderts die deutsche poesie in süssliches nachfahrentum und theaterhafte rednerei verfiel · folgte in den achtziger jahren jene äusserliche gegenbewegung der sogenannten wirklichkeitskunst. Sie kam aus keiner gestaltenden not · sie war verneinend oder auflösend und änderte nur die stoffe. Es ist heute nur als geschichtliche tatsache begreiflich dass damals die Jugend wie die Gebildeten in den lyrischen epischen und dramatischen erörterungen über gesellschaftliche übelstände und den missbrauch gegorener getränke eine neue kunst erblickten – ihrer sprachlichen leistung und ihrer geistigen haltung nach unterschied sie sich in nichts von schlechten Sturmunddrang-liedern den vorelterlichen leihromanen und der bekannten bürgerlichen komödie. Erst in den neunziger jahren begann mit dem erwachen der bildenden künste auch die wiedergeburt der dichtung. Der neue ton drang langsam in alle vers-erzeugnisse so sehr dass das gedicht vor und nach 90 sofort zu erkennen war und der neue sinn wurde wenn auch abgeschwächt in den entlegensten winkeln des schreibewesens wahrnehmbar.3

In Georges „überblick“ über die literarischen Strömungen am Ende des 19. Jahrhunderts erscheinen in Form einer zeitlichen Abfolge stilisti3

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Blätter für die Kunst, 10. Folge, 1914, I.-V. Bd., S. 1.

Zwischen Ideologie und Kritik

sche Unterschiede, durch die aus dem bloßen Nacheinander der verschiedenen Strömungen deren Einordnung wird. Zunächst erfolgt diese Einordnung, indem die Ausführung mehrfach ein Verhältnis von Inhalt oder, wie George es nennt, Stoff und Form thematisiert, und zwar stets im Hinblick auf ein sich darin manifestierendes ästhetisches Defizit: Jenes „süssliche[..] nachfahrentum“ enthält ganz direkt den Vorwurf, es handle sich um epigonales Schreiben, doppelt kritikwürdig, weil es einen nicht relevanten Inhalt und eine nicht originelle Form vereint. Noch heftiger fällt die Ablehnung des Naturalismus aus: Die Kritik lautet im Grunde genau gleich – auch hier beharrt der Vorwurf auf einer Epigonalität des Dichtens, das sich nicht von Sturm und Drang und bürgerlicher Komödie unterscheide –, die Begründung aber hat sich verschoben. Sie zielt sowohl auf die unveränderte Form bei gleichzeitigem Austausch ,nur‘ der Stoffe, also ein Missverhältnis von Form und Inhalt oder zumindest eine falsche Betonung des Stofflichen, als auch auf eine Inadäquatheit oder Kunstwidrigkeit der Inhalte; der Text wechselt daraufhin ganz in die inhaltliche Polemik. Über die entworfene Reihe der literarischen Richtungen hat der Text bis zu diesem Punkt Gedanken zu Inhalt und Form eingeführt, die beides im Hinblick auf Vorstellungen von Angemessenheit und Gültigkeit (ästhetischer Anliegen) behandeln. Die dann folgende Abgrenzung der genannten Strömungen von einer Dichtung der 1890er Jahre, die natürlich auch und gerade die eigene Produktion Georges meint, beruft sich noch einmal auf den stilistischen Unterschied als Merkmal: Am „neuen ton“ lasse sich diese Dichtung der 90er Jahre erkennen, wobei jetzt nur noch das Identifizieren des Neuen als ,neuer Stil‘ vorkommt. Während der Text die anderen Strömungen mit Gedanken zu Form und Inhalt verbunden hat, ist in der Charakterisierung dieser Dichtung allein durch ihren Stil nun von allen möglichen Inhalten des ästhetischen Gelingens abgesehen. Mitgeteilt ist die gelungene ästhetische Gestaltung, die Kunstform, aber abstrahiert von allem darin Gesagten. Stil wird hierbei zum Mittel der Abgrenzung und zugleich zu ihrem ganzen Inhalt.4 Dass Stil die einzige Aussage 4

Dass auch bei der neuen Dichtung noch an eine inhaltliche Komponente gedacht ist, die als Sinn der Form vorkommt, zeigt die an das obige Zitat anschließende Fortsetzung der Bestandsaufnahme dichterischer Tendenzen. Denn nur daher ist verständlich, warum die Fortschreibungen allein der formalen Verfahren erneut in eine Bewegung des Niedergangs der

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über Dichtung, deren einziges Kennzeichen darstellt, ist nicht einfach eine leere Aussage, vielmehr erhält die Feststellung von Stil damit den Inhalt einer Charakterisierung von Kunst sowie einer Gültigkeit der nur noch abstrakten Formvorstellung. Darin liegt eine Gleichsetzung von Stil und Kunstnorm, die einen wertenden Stilbegriff etabliert, an dem sich ein Verwerfen und Befürworten von literarischer Produktion vollziehen lässt. Durch diese Verschiebung fällt die zuvor vorgenommene Abgrenzung mit einer Wertung zusammen, für deren Deutlichkeit es der expliziten Polemik gegen den Naturalismus nicht bedurft hätte.5 Denn was als Unterscheidung von epigonalem Stil und dem Stil Georges beginnt, läuft auf eine Gleichsetzung des Letzteren mit Dichtung schlechthin, mit einer „wiedergeburt der dichtung“, hinaus. Stil und sein Wert sind an dieser Stelle gegeneinander austauschbar geworden, anders formuliert: der Stil ist von der Zuschreibung eines Wertes an ihn nicht mehr zu trennen. Die Aspekte der formalen Gestaltung, wie George sie auch an anderer Stelle hervorhebt,6 kommen dabei immer doppelt vor: als Kriterien des Kunstcharakters von Dichtung und seine Einlösung. Wo ästhetisches Gelingen als Norm gesetzt wird und die Formvorstellung die Gültigkeit des Gesagten umfasst, ist jedoch das Primat der Form keinesfalls gleichbedeutend mit einer Lizenz für jeden beliebigen Inhalt,7 es spricht stattdessen von einer Unterordnung aller anderen Normen unter die ästhetische Norm bzw. von ihrer Einordnung, die ihnen den Rang sekundärer Aspekte zuweist. Unverkennbar wird hier die Stilfrage für eine Legitimation von Kunst, genauer gesagt der eigenen Kunstproduktion, funktionalisiert: Zum einen fällt im „neuen ton“ die Nennung des Maßstabs mit seiner Erfüllung durch die eigenen Gedichte zusammen und die Gültigkeit der

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Kunst münden bzw. die Unterscheidung zwischen wahrer Kunst und Spielerei weiterhin zulassen. Es gibt noch einen Inhalt, von dem die Form getrennt werden kann, wenngleich er nirgends genannt wird. Die zuvor ausgewiesenen Defizite geben sich im Nachhinein als Anwendung des im Stil gewonnenen Maßstabs zu erkennen. Vgl. Blätter für die Kunst, 2. Folge, 1894, IV. Bd., S. 122 sowie 2. Folge, 1894, II. Bd., S. 34: „auswahl klang maass und reim“ werden zu Kriterien für den Kunstcharakter der Dichtung. Die Differenz zwischen poetischen Mitteln und Qualitätsaussage verschwindet zusehends. Im Gegenteil enthält es das Verwiesensein auf den Inhalt dieser Form, der in nichts anderem als ihrer Bekräftigung und damit der Thematisierung eines ganzen Kunstideals besteht.

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eigenen Kunstproduktion wird nicht nur diskutiert, sondern gleich erwiesen; zum anderen lässt sich auf diese Weise die Position des Dichters als die einer uneingeschränkten Autorität ableiten, deren Aussagen und ästhetische Urteile Gültigkeit besitzen und hinsichtlich derer man an alle dazugehörigen Vorstellungen von Unterordnung unter diese Autorität denken soll. Alle hier genannten Übergänge aber gilt es nachzuvollziehen, um zu verstehen, wie ein programmatischer Text mit einer stilistischen Unterscheidung ansetzen und bei einem Ausweis der Geltung von Kunst ankommen kann. Der Schlusssatz von Georges Einleitung Unsere Blätter · die eine warte für die dichtkunst waren und sein wollen · haben heute erst recht die aufgabe zu zeigen was als mindestes geleistet werden muss […]. Sie haben zu zeigen dass in zeiten eines kräftigen gesamtlebens die Dichtung keine gelegenheitsmache und spielerei · sondern innerste seele des volkes ist.8

enthüllt die Tragweite der intendierten Legitimation, wo die Wahrheit des Dichters und die Geltung des dichterischen Wortes sich mit der Mahnung, der Bereich des Ästhetischen sei die einzig entscheidende Sphäre, gegen die Bedeutung einer zur Zeit der Veröffentlichung 19149 nicht gerade belanglosen Aktualität des Weltgeschehens behaupten will.

2. Sinngedanken in der Form: Stil als Medium w eltanschaulicher Aussagen Wurde bei George ein neuer Inhalt der Stilfrage produziert, indem sich darin eine Kunstnorm einführen und ein Anspruch auf höchste Autorität 8 9

Blätter für die Kunst, 10. Folge,1914, I.-V. Bd., S. 2. Im Kontext einer Artikulation von Geltungsansprüchen zu verstehen ist auch Georges Bemerkung, an jener 10. Folge der Blätter für die Kunst gäbe es, obgleich sie bereits im Vorsommer 1914 zusammengestellt worden sei, auch zum Erscheinungszeitpunkt (nach Beginn des Ersten Weltkriegs) nichts zu ändern. Die Kunst weist hier in einem Unbeeindrucktsein von den Zeitereignissen ihre Überlegenheit und Gültigkeit aus, vgl. Blätter für die Kunst, 10. Folge, 1914, I.-V. Bd., S. 156.

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der Dichtung verteidigen ließ, so weisen die beiden folgenden Beispiele unmittelbar auf die Verhandlung weltanschaulicher Prämissen als Stilfragen. Georg Lukács’ frühe Schrift Die Theorie des Romans10 (entstanden 1914/1915) veranschaulicht eine ideologische Aufladung von Stilphänomenen, welche im Kontext einer Sinnkrise der Moderne stattfindet. Die häufig betonte geschichtsphilosophische11 Wendung, die Lukács mit diesem Werk vollzieht, bedeutet (neben einer deutlichen Orientierung an Hegel12) nicht viel anderes als die in der Theorie des Romans allenthalben durchgeführte Konstruktion eines Entsprechungsverhältnisses von Zustand der Wirklichkeit und Kunstform, in der schlichtesten Übersetzung gedacht als eine Zeitgemäßheit der Kunst. Ausgeführt wird der Gedanke in einer Beschreibung, die den historischen Prozess eines Verlusts von Sinnimmanenz entwirft und ihn mit dem Wandel der literarischen Formen verbindet, zuvorderst mit der von Hegel übernommenen epochebestimmenden Gegenüberstellung von Epos und Roman:13 Nachdem diese Einheit zerfallen ist, gibt es keine spontane Seinstotalität mehr. […] Eine nur hinzunehmende Totalität ist für die Formen nicht mehr gegeben: darum müssen sie das zu Gestaltende entweder so weit verengen und verflüchtigen, daß es von ihnen getragen werden kann, oder es entsteht für sie der Zwang, die Unrealisierbarkeit ihres notwendigen Gegenstandes und die innere Nichtigkeit des einzig möglichen polemisch darzutun, und so die Brüchigkeit des Weltaufbaus dennoch in die Formenwelt hineinzutragen. (TR: 30) 10 LUKÁCS, 1981; im Folgenden zitiert mit TR und Seitenzahl. 11 Vgl. z. B. JANZ, 1978, S. 676. Lukács beschreibt seinen Ansatz im Rückblick als „Historisieren der ästhetischen Kategorien“ (TR: 9). 12 Lukács’ Vorwort von 1962 betont diese Orientierung: Die Theorie des Romans enthalte die erste konkrete Anwendung von Hegels Philosophie auf ästhetische Probleme (TR: 9). Zu den Übereinstimmungen mit Hegels Ansatz sowie zu den Differenzen, insbesondere zur bei Lukács verweigerten Rechtfertigung der bestehenden Verhältnisse und zur unterschiedlichen Relevanz des Ästhetischen, vgl. u. a. JUNG, 1989, S. 74f.; DERS., 1981, S. 74; MICHEL, 1972, S. 109; DUHR, 1992, S. 197f.; SIMONIS, 1998, S. 136f. 13 Die Stilisierung von Antike und Epos fungiert als der – den Gedanken von einer Einheit erst einführende – Maßstab für das in der Moderne zu ermittelnde Defizit, vgl. TIETZ, 1989, S. 572; sie birgt zugleich eine historische und eine normative Bestimmung, vgl. RENNER, 1976, S. 29.

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Allein ein Blick auf die Formulierung („müssen“, „entsteht […] der Zwang“, „das zu Gestaltende“, „notwendigen Gegenstandes“) zeigt, dass die Entsprechung von Sinnverlust der Welt und dichterischer Form der Gestaltungsmöglichkeiten als Konstatieren von lauter Notwendigkeitsbeziehungen vorliegt14 – denjenigen von Weltzustand und dem Vorkommen seiner Aufnahme in die ästhetische Form, von Weltzustand und Darstellungsweise, von Form und einem ihr eigentlich notwendigen Gegenstand, dem der Weltzustand jedoch widerspricht15. Diese Notwendigkeiten sind Inhalte von Setzungen, mit denen die Theorie des Romans im Folgenden argumentiert, die sich aber nirgends erläutert finden. Trotz dieser offensichtlichen Fragwürdigkeit des Postulierten beschränkt sich die Forschung nicht selten auf die schlichte Paraphrase16 und Übernahme17 des Notwendigkeitsgestus, ohne zu fragen, 14 Dies gilt nicht nur für diese Stelle, vgl. die zahlreichen Formulierungen mit demselben Gestus, z. B. „Alle Risse und Abgründe, die die geschichtliche Situation in sich trägt, müssen in die Gestaltung einbezogen und können und sollen nicht mit Mitteln der Komposition verdeckt werden.“ (TR: 51) oder: „[…] wie sehr der Roman die notwendige epische Form unserer Tage ist“ (TR: 131). 15 Dabei enthält wiederum die Unmöglichkeit, den Forderungen der Form zu entsprechen, hier den Verweis auf den Weltzustand, vgl. FOHRMANN, 2008, S. 117. Das Misslingen ist gerade ein Gelingen des Weltausdrucks. 16 Vgl. RENNER, 1976, S. 26: Lukács erkläre formale Besonderheiten aus der historischen Situation, um die Ergebnisse zu einem Schema der Beziehung von Weltzustand und Ästhetik auszuweiten. In die andere Richtung gelesen wird das Verhältnis bei TIETZ, 1989, S. 562: Lukács unternehme den „Versuch, über die Kritik ästhetischer Probleme generelle geschichts- und kulturphilosophische Auffassungen zu formulieren“. 17 Vgl. JUNG, 1981, S. 75, bei dem Zitat und Kommentar ständig ineinander übergehen, oder MICHEL, 1972, S. 108, 115ff., der ganz hermeneutisch der Erläuterung auch der theoretischen Widersprüche seine Gedanken leiht; JANZ, 1978, S. 682; DEMBSKI, 2000 S. 85ff.: Hier finden sich die Zusammenhänge von Romanform und Aussage über die Welt einfach paraphrasiert, wobei die bei Lukács formulierte Notwendigkeit der Entsprechung schlicht übernommen wird: „[…] der Roman [muß] konsequent die Spannungen und Dissonanzen seiner Zeit in die Formung mit aufnehmen.“ oder tautologisch: „Der Roman […] ist für Lukács Ausdrucksmittel des aktuellen Weltzustands, da seine formale Problematik Widerschein einer problematischen Wirklichkeit ist.“ (ebd., S. 87). Auch SIMONIS, 1998, S. 149ff., die detailliert auf die Rhetorik der Theorie des Romans eingeht, bemerkt zwar das Bemühen um die Darlegung einer Notwendigkeit des geschichtlichen Ablaufs, diejenige der ideologischen Zuschreibung wird dagegen nicht erwähnt.

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wie er zustande kommt bzw. welche Implikationen durch ihn vermittelt werden. Hingegen sollte sich klären lassen, dass die formulierten Notwendigkeiten natürlich keine sind, sondern eine weltanschauliche Aussage und ihre Zuschreibung an die stilistischen Kennzeichen literarischer Werke. In der Theorie des Romans erscheint die Wirklichkeit einerseits als direkte Aufforderung an die Kunst, den Zustand der Welt darzustellen, andererseits reagiert die Kunst auf die Wirklichkeit,18 und ihre Reaktion besteht nach Lukács in der Ausprägung oder Prägung bestimmter stilistischer Formen, wobei mit Stil hier vor allem seine abstrakte und übergeordnete Variante, der Gattungsstil (das „principium stilisationis der Gattung“, TR: 31, Herv. i. O.), gemeint ist, aber auch die Differenzierung von Gestaltungsweisen innerhalb der Gattungen erfolgen kann (dies gilt bezüglich realistischem, biographischem und ironischem Schreiben und natürlich hinsichtlich der paradigmatischen Typologie der Romanformen). Die Mitteilung der Notwendigkeiten ergibt als Bedingungsverhältnisse gedacht einen Zirkel, denn wer die Wirklichkeit als Ursache einer Form denkt, muss von der weltanschaulichen Relevanz der Kunstform bereits überzeugt sein. Darin liegt der Hinweis, dass entscheidend eigentlich das Verhältnis selbst ist: Konstruiert wird eine unmittelbare Übertragbarkeit von Form in eine Auskunft über die Welt. Die Entsprechung legt die weltanschauliche Relevanz der ästhetischen Form fest, und spätestens in der Formulierung von der ,Totalität‘ als Anspruch an die Darstellungsweise der Epik ist die ästhetische Darstellungsmethode von einer Aussage über die Welt gar nicht mehr zu trennen.19 18 Für die Epik soll die Behauptung des Bezugs sogar in verstärktem Maße gelten: „Diese unzerreißbare Gebundenheit an das Dasein und das Sosein der Wirklichkeit, die entscheidende Grenze zwischen Epik und Dramatik, ist eine notwendige Folge des Gegenstandes der Epik: des Lebens.“ (TR: 38) 19 Totalität meint sowohl ein Weltbild, die Idee einer sinnhaft geordneten Wirklichkeit und den Einbezug des Subjekts in diese, als auch das Gestaltungsideal des Epischen, sein Formgesetz. Lukács unterscheidet hier nicht mehr zwischen Gestaltung und aus ihr erkennbarer „gestaltender Gesinnung“ (vgl. DEMBSKI, 2000, S. 89), ebenso wenig zwischen Formproblem und Sinnproblem, vgl. DUHR, 1992, S. 206. (DUHR diagnostiziert eine „philosophische und stilgeschichtliche Begriffe verschmelzende[..] Ausdrucksweise“, ebd. S. 207); in der Tat handelt es sich eher um ein Zu-

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Auch die Aufladung von ästhetischen Formen mit weltanschaulichem Gehalt läuft in letzter Instanz auf einen Gültigkeitsausweis der Kunst hinaus, wenn „[…] die normative Unvollendung und Problematik des Romans eine geschichtsphilosophisch echtgeborene Form ist und als Zeichen ihrer Legitimität ihr Substrat, den wahren Zustand des gegenwärtigen Geistes, erreicht“ (TR: 63). Die Entsprechung ist einerseits das Mittel der Zuschreibung, also die Grundlage, auf der sich Formen überhaupt als Inhalt verstehen lassen, zugleich aber bildet sie den Inhalt selbst, nun gesagt als ästhetische Wahrheit einer Welt bzw. als eine Welt, die der Kunst bedarf, um diese Wahrheit fassbar zu machen. Hier offenbart sich zudem, warum gerade die Form, der Gattungsstil, das der Wirklichkeit entsprechende Moment und damit das weltanschaulich besetzte Element der Dichtung abgibt: Derjenige Aspekt, welcher der Wirklichkeit entspricht, muss gerade das sein, was Kunst ausmacht, denn nur so kann gewährleistet werden, dass insbesondere der Kunst der Gewinn und die Mitteilung der Wahrheit über die Welt möglich ist.20 Zum Kunstverständnis bei Lukács gehört deshalb untrennbar eine Rechtfertigung der Kunst, in der festgeschrieben wird, dass der künstlerische Ausdruck zur Welt nicht nur passt, sondern gerade am besten zu ihr passt, d. h. als „zuverlässigste[r] Indikator“21 für die Wahrheit der Welt fungiert. Damit einher geht eine inhaltliche Festlegung der weltanschaulichen Zuschreibung an Stil: Sie offenbart sich in dem, was hier unter ,Welt‘ oder ,Wirklichkeit‘ verstanden wird, nämlich immer gleich ein Weltverhältnis, ein Sinngedanke zur Welt. Wenn die negative Diagnose der eigenen Zeit überall nur noch ein Auseinanderfallen, eine Disparität aller Dinge feststellen kann, dann zeigt sich eindeutig, unter welchem Maßstab Wirklichkeit hier erscheint: Verhandelt ist ein Sinngedanke gleich als um einen semantischen Wechsel von der ontologischen Bestimmung zu einem Konzept der Gestaltung, wie es SIMONIS, 1998, S. 139, annimmt. 20 „Literatur gilt Lukács durchweg als Medium theoretisch richtiger und moralisch gültiger Weltsicht, und zwar allein durch ihre Form als Kunst, also unabhängig vom Inhalt des Bewusstseins, das der Schriftsteller von seiner Welt hat, und unabhängig von der bestimmten Intention, die er schreibend objektiviert.“ [Herv. i. O.], SPIES, 1991, S. 36. 21 DANNEMANN, 1997, S. 29. Mit dem Gelingen der ästhetischen Form ist dann stets garantiert, dass die Wirklichkeit auch zutreffend erfasst wird, vgl. SPIES, 1991, S. 37.

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zur Welt, und der ästhetischen Form wird deshalb eine Vorstellung von der Sinneinheit des Subjekts mit seiner Welt zugeordnet. Auf diese Weise kann jede Änderung des Stils im Folgenden dafür in Anspruch genommen werden zu bezeugen, dass hier nicht nur ein Stil wechselt, und es kann von formalen, gattungsästhetischen Unterscheidungen die Rede sein, um darin einen ganz umfassenden Inhalt zu vermitteln, einen Sinngedanken, konkretisiert als Einheit oder Totalität, in der jedes Einzelne nicht nur in der Summe das Ganze ergibt, sondern als Einzelnes in diesem schon aufgehoben ist.22 Aus der als Stil gefassten Sinnkategorie geht eine Perspektive hervor, die sich jeder Betrachtung der Welt aufzwingt; die Vermittlung des Inhalts über die Beschäftigung mit der ästhetischen Form enthebt der Auseinandersetzung über diese weltanschaulichen Inhalte. Von der Thematisierung eines Verhältnisses von Subjekt und Welt soll Kunst auch in der Negation des Sinngedankens nicht Abstand nehmen können.23 Dies bestätigen Konstruktionen wie: „[…] das Formwerden der abstrakten Grundlage des Romans ist die Folge des Selbstdurchschauens der Abstraktion; die formgeforderte Immanenz des Sinns entsteht gerade aus dem rücksichtslosen Zu-EndeGehen im Aufdecken ihrer Abwesenheit“ (TR: 62), welche eine Selbstbestätigung der Zuschreibung inszenieren, worin die Formvorgabe einmal im Widerspruch zu ihr24 und als Verweis, auf den dieser Widerspruch zielt, auftaucht. Ist die Zuschreibung eines ganzen Weltbildes an die ästhetische Form einmal erfolgt, erlaubt sie eine Fortschreibung der Notwendigkeiten, diesmal im Verhältnis von Form und ihrem weltanschaulichen Inhalt: Aus der Bedingtheit des Gattungsstils durch die 22 Zu Lukács’ Totalitätsbegriff, dessen Herleitung aus Hegels Beschreibung der literarischen Gattungen als epochespezifisches Verhältnis zur Totalität und dessen ästhetischer Fassung, vgl. RÜCKERT, 1973. 23 Was JANZ, 1978, S. 686, für die Ironie festhält, gilt für den Roman überhaupt: Die Suche oder Sehnsucht nach der Totalität, die zwar abwesend, „doch auf die Sinngebung der Welt bezogen“ bleibt, „hält dem Sinn darum die Treue, weil sie ihn als nichtseiend darstellt.“ Dass die „Gesinnung zur Totalität“ (TR: 47) erhalten bleibt („[d]er Roman hält am Totalitätsideal fest“, JUNG, 1981, S. 77.), macht die Welt nicht sinnvoll, gewährleistet aber, dass es weiterhin um Sinn, d. h. die Unterscheidungen von sinnhaft und sinnlos, geht, vgl. FOHRMANN, 2008, S. 116. 24 Bei Lukács enthält der Roman auf diese Weise einen Widerspruch zwischen seiner Form, die sich von der Sinnimmanenz des Epos herleitet, und seinem Gegenstand, der Unmöglichkeit der Totalität, vgl. JANZ, 1978, S. 677.

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Wirklichkeitssicht wird die Bedingung für seine jeweilige Ausfüllung, für einen nicht mehr aufhebbaren Eigensinn der Form. Wenn Lukács’ Text von der „Formapriorität“ (TR: 37) oder vom „gattungsbestimmende[n] Apriori“ (TR: 45) spricht, hat sich die vollständige Ablösung des Gedankens von seiner Umsetzung vollzogen: Mit der Verlagerung des Inhalts des Romans in seine Form, in seine Merkmale als Roman, ist die Verselbständigung des weltanschaulichen Gehalts von seiner Durchführung behauptet und zugleich die unhintergehbare Determination des Inhalts durch die Gattungsvorgabe. Die Mitteilung der Form erscheint wie ein Sachgesetz, das ohne Willen der Autoren in dem Gesagten waltet, ein weniger der Gestaltung Verfügbares als eine von ihr zu erfüllende Vorgabe. Die weltanschauliche Fixierung der Stilaussage bewirkt die Trennung von ihrer jeweiligen Erscheinung, die Loslösung des Gedankens von seiner Gestaltung und seine Verselbständigung: ein Schon-Bescheidwissen über den Gedanken, bevor er noch artikuliert wird. Darüber hinaus verzichtet der Text nicht auf die normative Qualität der Festlegung. Die Argumentation macht an zahlreichen Stellen deutlich, dass die Entsprechung von Weltbild und epischer Form nicht nur als Notwendigkeit auftaucht: Vielmehr ist sie die Norm eines Gelingens oder Misslingens von ästhetischer Praxis, ein Qualitätskriterium25, und produziert insofern eigentlich einen Widerspruch, da sie die Möglichkeit des Abweichens von der Entsprechung miteinbezieht; so kann beispielsweise von einer „Stillosigkeit des modernen Dramas, Ibsens vor allem“ (TR: 78) die Rede sein, weil dessen Helden die Bewährungsstrukturen der alten Epik aufgriffen, oder Flauberts Education sentimentale als besonders gelungene Erfüllung der Romanform im 19. Jahrhundert gewertet werden (vgl. TR: 115). Es sind bekanntermaßen die Zuschreibungen an Stilformen und Schreibweisen auch dem späteren Werk Lukács’ nicht abhanden gekommen, im Gegenteil kann ein Blick beispielsweise auf Lukács’ Beteiligung an der Expressionismusdebatte die Fortführung der Rhetorik einer Verselbständigung des weltanschaulichen Inhalts gegenüber seinen konkreten Artikulationen mittels seiner Verlagerung in die stilistische Seite jeder Äußerung nur bestätigen. Stil, in diesem Falle die Abstraktion, durch die sich der expressionistische Stil auszeichne, sein 25 Totalität ist der Maßstab und das Qualitätskriterium der literaturwissenschaftlichen Betrachtungen, vgl. DEMBSKI, 2000, S. 88.

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Absehen von den konkreten und d. h. für Lukács zu jener Zeit: von Klassengegensätzen bestimmten Verhältnissen der Wirklichkeit, wird zu einer in diesen Aussageweisen nicht hintergehbaren inhaltlichen Festlegung – sogar entgegen aller ausdrücklich revolutionären Verlautbarungen expressionistischer Literatur: Selbst ihnen lässt sich über den Stil die Konformität zur bürgerlichen Gesellschaftsordnung nachweisen. Umgekehrt aber garantiert nun, da Realismus eine Stilanforderung darstellt, deren Inhalt eine Parteinahme sein soll, jedes ästhetische Gelingen realistischer Darstellungsweisen auch gleich den Beitrag zur Geschichte der Klassengegensätze und ihrer Entwicklung; mit der Schreibweise ist dann schon entschieden, dass bezüglich der Gesinnung nichts Falsches geäußert sein kann.26 Bereits hier deutet sich an, dass es zu den weltanschaulichen Zuschreibungen an Stilfragen eine Fortführung gibt, die das in der ideologischen Zuschreibung verwendete Entsprechungsverhältnis nun rückwärts liest: die Stilkritik.

3. Fortführung und Umkehrung der Zuschreibung: Die Stilkritik Die stilkritische Betrachtung setzt voraus, was die vorherigen Texte mit ihrem rhetorischen Aufwand zu erzeugen versuchten, nämlich die Aufladung von stilistischen Verfahren mit legitimatorischen, weltanschaulichen Inhalten, sie geht bereits davon aus, dass in Stil eigentlich etwas anderes als nur eine sprachliche Problematik in Erscheinung tritt.27 Die Stilkritik hat sich mit dieser Voraussetzung zugleich ihrer eigenen Wirksamkeit versichert: Wenn sich ideologische Vorgaben oder Ansprüche von Autorität bis in den Stil hinein erstrecken oder im Stil geltend machen, kann dort auch der Einwand gegen sie erfolgen oder – ein wenig abgeschwächter formuliert – sind diese Ansprüche und Anschau26 In der sprachlichen Form, dem Stil, wird damit sogar eine Ideologie korrigiert, die der Schreibintention des historischen Autors eigentlich zugrunde lag, vgl. SPIES, 1991, S. 36. 27 SOWINSKI, 1999, S. 15f., erfasst dies unter dem Zusammenfallen von Stilund Sprachkritik, ohne aber die Implikationen und Inhalte der Maßstäbe von Stilkritik zu reflektieren.

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ungen auf der stilistischen Ebene zu entlarven. In dieser Vorstellung produzieren stilistische Eigenarten nicht allein ihren eigenen Inhalt, sie gewähren auch den kritischen Zugriff darauf und damit auf die Gesinnung des diesen Stil verwendenden Sprechers. Als Beispiel für Stilkritik erscheint ein Blick auf das Werk von Karl Kraus so geeignet wie beinahe unumgänglich. Betrachtet man jene Artikel aus der Fackel, die größtenteils aus den 20er und frühen 30er Jahren stammen und die Kraus zu einer Sammlung mit dem Titel Sprachlehre bzw. später Die Sprache28 zusammenzufassen plante (veröffentlicht wird sie erst posthum 1937), so fällt vor allem Akribie und Emphase (oder Polemik) einer Stilkritik auf, der Sätze aus Presse und Alltag, aus Literatur (inklusive Editions- und Übersetzungspraxis) sowie Formulierungen kritisierende Zuschriften von Fackel-Lesern den quasi unerschöpflichen Anlass bieten. Die schon allein in der Konzentration auf die stilistischen Verfahren liegende Emphase behauptet die Relevanz von stilistischen Betrachtungen, die nur selten expliziter Erwähnung bedarf,29 und sie verweist auf eine Bedeutungszuschreibung an die sprachliche Sphäre, welche in der Stilkritik als Prämisse veranschlagt sein muss, damit diese Stilkritik überhaupt ein anderes Objekt als nur sprachliche Formulierungen erhält. Im Negativen hat Kraus den Klartext der Relevanzbehauptung mehrfach formuliert: Von einer schlechten Sprachverwendung nimmt alles Übel der Welt seinen Ausgang oder: „Wenn die Menschheit keine Phrasen hätte, brauchte sie keine Waffen. Man muß damit anfangen, sich sprechen zu hören, darüber nachdenken, und alles Verlorene wird sich finden“ (S: 225). Hier nennt Kraus den Grund für das Erfordernis und zugleich die Wirksamkeit von Stilkritik – die Begründung ist einfach, der darin vollzogene Übergang allerdings erklärungsbedürftig: Mit einer Verbesserung der Sprache und des Stils soll nichts weniger als eine Rettung des geistigen und moralischen Zustands der Welt erreicht werden können. Der wahrscheinlich als Schlusswort der Sammlung konzipierte Text Die Sprache greift diesen Gedanken noch einmal auf:

28 KRAUS, Bd. 7, 1987; im Folgenden zitiert mit S und Seitenzahl. Im Oktober 1932 kündigt Kraus in Die Fackel 876-884 das Erscheinen des Buchs unter dem Titel Die Sprache an. 29 Vgl. z. B. „Meinungen, Richtungen, Weltanschauungen – es kommt doch zuerst und zuletzt auf nichts anderes an als auf den Satz“ (S: 276).

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Christine Waldschmidt Diese Gewähr eines moralischen Gewinns liegt in einer geistigen Disziplin, die gegenüber dem einzigen, was ungestraft verletzt werden kann, der Sprache, das höchste Maß einer Verantwortung festsetzt und wie keine andere geeignet ist, den Respekt vor jeglichem andern Lebensgut zu lehren. Wäre denn eine stärkere Sicherung im Moralischen vorstellbar als der sprachliche Zweifel? Hätte er denn nicht vor allem materiellen Wunsch den Anspruch, des Gedankens Vater zu sein? (S: 372)

Ohne im Einzelnen auf das Sprachideal bei Kraus eingehen zu können, gilt es den Inhalt der Zuschreibung an Sprache und damit an ihre Ausdrucksweisen festzuhalten: Sprache wird als Träger eines moralischen Wertes verstanden, als Medium von Wahrheit und Wahrhaftigkeit, 30 und deshalb können stilistische Mängel zu Zeugnissen einer geistigen und moralischen Verfassung der Gesellschaft werden und ein Stilfehler zu einem Verfehlen von Wahrheit im emphatischen Sinne.31 Auch die Methode der Kritik, die Möglichkeit, von Stilfehlern zu reden, unterstellt einen normativen Inhalt von Stil. In den Texten geht es jedoch weniger darum, die richtige Verwendung von Wörtern, Artikeln, Präpositionen, Modi und Konjunktionen zu erörtern, und schon gar nicht um einen Nachweis von grammatischen oder syntaktischen Fehlern, die sich durch Heranziehen der entsprechenden Regeln einfach berichtigen ließen. Es ist wiederholt festgestellt worden, dass Kraus sich mit Vorliebe derjenigen sprachlichen und stilistischen Probleme annimmt, die „nicht durch einen Blick in ein Wörterbuch oder eine Grammatik“32 zu klären sind; aber nicht nur auf diese Weise ist seine Stilkritik darauf bedacht, sich immer wieder als gerechtfertigt durch eine andere Instanz denn die grammatischen Regeln auszuweisen. Was ist 30 In jeder Kritik der Sprachverwendung als Unwahrheit liegt der Verweis auf dieses Sprachideal als Maßstab des Urteilens, vgl. ARNTZEN, 1967, S. 256. 31 Führt man sich das Sprachideal vor Augen, wird zudem deutlich, dass Stilkritik hier durchaus in der Konsequenz einer Sprachkritik liegt, die stets Sprachverwendungskritik ist: Die moralischen Defizite werden nämlich dem Sprachgebrauch und gerade nicht der Sprache selbst angelastet. 32 QUACK, 1976, S. 122. Zu Recht konstatiert Quack, es gehe nicht um den Nachweis der sprachlichen Unkorrektheit per se, sondern als Teil einer weiterreichenden Kritik; was diesem Übergang zugrunde liegt, ist mit ,Kontrast zum Anspruch der Pressesprache‘ jedoch nur sehr ungenau umschrieben, ebd., S. 123.

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dann der Inhalt der normativen Wendung von Stilfragen? Häufig ist das ausschlaggebende Argument das „Stilgefühl“, die „stilistische Absicht“ (S: 104), zumeist in Fällen, in denen die grammatisch nicht korrekte, nicht regelkonforme Formulierung präferiert wird, mit dem Hinweis, guter Stil habe gerade die Lizenz sich über solche Regelwerke hinwegzusetzen. „Der Stil holt sich seine Erlaubnis nicht vom grammatikalischen Aufpasser; seine Freiheit beruht auf einem Gesetz, dem sich schließlich auch die syntaktische Norm verdankt.“ (S: 88)33 Dieses Argument mutet wie ein schlichter Austausch der normativen Instanzen an, mitgeteilt wird darin eine Hierarchie, worin durch den Vergleich dem Stilwillen nicht nur die höchste, sondern auch die bestimmende Position zugewiesen ist. Daneben enthält die tautologische Bestimmung von Stil(gefühl) als Inhalt einer Norm für Stilverwendung die Erklärung, der Maßstab von Gültigkeit liege in nichts der Sprache Äußerlichem, sondern in der sprachlichen Verfasstheit selbst. Der moralische Inhalt soll dem sprachlichen Verfahren, seinen Produktionsregeln immanent sein34 und der sprachlich angemessene Ausdruck, der richtige Stil sogleich die Korrektheit des Gedankens garantieren. Der einzelnen Stilanalyse kommt nicht zuletzt die Funktion zu, diese Gleichsetzung zu belegen. Ein (recht beliebig gewähltes) Beispiel bilden die Ausführungen zum Zusammenziehen von Präposition und Artikel. Es braucht im Grunde gar nicht erwähnt zu werden, dass es sich nicht allein um einen „Etikettefehler“ handelt, sondern um „nichts

33 Vgl. auch S: 72, 95, 111, 127-128, 132. Zur Unterscheidung von Grammatik und Stil bei Kraus, die sich häufig der „Berufung auf den künstlerischen Stil“ bedient und gerade den dichterischen Ausdruck als Zeugnis eines Nichtgebundenseins an die grammatischen Regeln verwendet, vgl. QUACK, 1976, S. 123, 125ff. Für die Literaturkritik ist der Maßstab dann vollends mit einem klassischen Dichtungsideal, einem „sakralisierten Kanon“ besetzt, worin z. B. Goethes Verse die Rolle einer Norm und eines Arguments für bestimmte stilistische Freiheiten einnehmen; dazu und zu Goethe als Maßstab der satirischen und polemischen Auseinandersetzung mit literarischen Werken vgl. STIEG, 1989. 34 Insofern trifft die Bemerkung: „Die Kraussche Ästhetik ist in Wahrheit eine Ethik der sprachlichen Genauigkeit.“ (STIEG, 1989, S. 76) durchaus den Kern der – im Übrigen nicht nur an dichterische Sprachverwendung – erfolgenden Zuschreibung. Vgl. ebenso ARNTZEN, 1967, S. 261: „Sprachlehre zu treiben […], gilt Kraus nicht als Anleitung zum guten Stil […], sondern als Ethik“.

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geringeres […] als eine völlige Verschiebung des Gedankens“; die Argumentation der Stilanalyse verdeutlicht dies an jedem ihrer Beispiele: Es ist ein Unterschied, ob ich sage: ,Vom ältesten Wein, den –‘ oder ,Von dem ältesten Wein, den –‘. Dieses, offenbar das richtige, will von dem ältesten unter jenen Weinen, die ich gekostet habe, etwas besagen. […] Das andere würde von dem ältesten Wein handeln, den es gibt und den ich gekostet haben will. […] Es kann noch eine stärkere Diskrepanz eintreten als die zwischen Merkmal und Wesen. ,Am Tage, als ich den Brief schrieb‘ oder ,An dem Tage, als ich den Brief schrieb‘. Jenes: ich habe den Brief bei Tag und nicht in der Nacht geschrieben, und da ist noch anderes geschehen. Dieses: ich habe den Brief an demselben Tage geschrieben, von dem ich etwas aussagen will. […] Sein Schreiben kann in einen ursächlichen Zusammenhang mit der Haupthandlung eintreten, die geradezu ihr Motiv von ihm empfängt. In solchem Fall ist die Einbeziehung des Artikels, die nur jenen andern Sinn zuläßt, unmöglich. Die Auflösung ist der eigentliche Behelf des Gedankens, den die Sprache nicht immer so zur Verfügung hat. (S: 62, 63)

Der einzelne Nachweis von fehlerhaftem Stil beruft sich auf den semantischen Unterschied.35 Jede noch so geringfügige sprachliche Variation bedeutet eine des semantischen Gehalts, des inhaltlichen Verhältnisses (hier die Unterscheidung von Wesen und Merkmal, Über-/Unterordnungsverhältnisse, Zweck-Mittel-Relationen oder solche von Ursache und Wirkung). Hier liegt nicht die Entsprechung von Stil und einem bestimmten weltanschaulichen Gehalt, sondern die abstraktere Version, von Stil und der Verfertigung geistiger Bezugnahmen, die Herstellung geistiger Ordnungen der Dinge. Zurückgegriffen wird auf eine Möglichkeit, über stilistische Verfahren einen Gedanken zum Ausdruck zu bringen, gemeint ist aber, dass der Stil den Gedanken quasi unwillkürlich erst produziert. Die Zuschreibung gründet sich auf eine Übertreibung, sie erfolgt in der Abstraktion von der konkreten Möglichkeit der Bedeutungskonstitution hin zu einer Gleichsetzung mit Denken36, mit 35 Bei allen Stilanalysen der Sprachlehre geht es Kraus darum, an die stilistischen Differenzen geknüpfte Bedeutungs- und Sinnunterschiede herauszustellen, vgl. QUACK, 1976, S. 123, 125. 36 Vgl. ARNTZEN, 1967, S. 256: „Sprache ist immer Denken […], – das ist der […] werkbestimmende Ansatz des Schriftstellers Karl Kraus.“

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den Verfahren der Gedankenproduktion überhaupt.37 In der Demonstration am sprachlichen Detail sowie in deren wiederholter Durchführung liegt die Universalisierung dieser Gleichsetzung von Stil und Gedanke. Es nimmt nicht wunder, dass die meisten der Artikel zur Sprachlehre mehr die Zuschreibungen herstellen müssen und auf diese verweisen, als dass im Einzelnen eine Übertragung auf einen kritikwürdigen Inhalt stattfände,38 ist doch die Zuschreibung selbst die grundsätzliche Gewähr für das Funktionieren und zugleich die allgemeinste, aber auch allgemein gültige Mitteilung von Stilkritik. Die Gleichsetzung von Sprechen und Denken muss lediglich in negativer Hinsicht ausbuchstabiert werden: „Sprechen und Denken sind eins, und die Schmöcke sprechen so korrupt, wie sie denken; […]“ (S: 17). Die Möglichkeit mit stilistischen Variationen gedankliche Unterschiede zu implizieren, muss dann als Aufforderung begriffen werden, jeden Stilfehler als gedanklichen Fehler39 und darüber hinaus als ungeistiges Sprechen aufzufassen. Alle einzelnen Nachweise sprachlicher Besonderheiten und Fehler werden eingeordnet in eine Kritik an dem Geist, der in ihnen waltet und sich durch sie ausspricht.40 Über diese allgemeine Richtung hinaus kommt die Kri37 Stil bedeutet dann eine in der Sprache waltende geistige Ordnung und Durchdringung (vgl. „Daß Stil nicht der Ausdruck dessen ist, was einer meint, sondern die Gestaltung dessen, was einer denkt und was er infolgedessen sieht und hört; […]“, S: 278). Das Entsprechungsverhältnis lässt sich in mehrere Richtungen entwickeln: Die Identität von Sprach- und Denkform erlaubt die Rede vom Sprachgedanken und seiner Modifikation über den sprachlichen Ausdruck, vgl. QUACK, 1976, S. 130ff.; sie erscheint bisweilen auch als Stilideal, das ,Adäquatheit von Stil und Gedanke‘ heißt oder „Einheit von Sinn und Form“, WAGENKNECHT, 1965, S. 133. 38 In diesem Punkt ist WAGENKNECHT, 1965, S. 135ff., zuzustimmen: Die sprachmystischen Paraphrasen des Entsprechungsverhältnisses sind nicht der gemeinte Inhalt, sondern die Absicherung der kritischen Ansätze und ihrer Relevanz. 39 „Bei den stilkritischen Reflexionen sollen Mängel der Gedankenführung“ dargelegt werden, so BÄHR, 1977, S. 96. Kraus „will über die Entlarvung sprachlicher Unrichtigkeiten auch das damit verbundene Denken entlarven“. „Das korrupte Denken findet seinen Widerhall in einer falschen Anwendung der Grammatik, oder umgekehrt: die grammatischen Fehler sind Ausdruck eines korrupten Denkens.“ SCHIEWE, 1998, S. 200. 40 Es führt deshalb bei Kraus ein direkter Weg von der Bestimmung eines Werkstils oder des Pressestils zu einer Kritik der Gesinnung: „Ich gehe in der Schätzung stilistischer Vorzüge weiter und mache sie zum Maßstab moralischer Werte. Daß einer ein Mörder ist, muß nichts gegen seinen Stil

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tik am schlechten Stil als Zugriff auf Gesinnung und Denkmuster des Sprechers bei Kraus in hauptsächlich zwei Ausprägungen vor. Erstens: Die Kritik liest dem stilistischen Defizit unmittelbar ein ideologisches Defizit ab,41 wozu es ausreicht, dass der Fehler schlicht ein sprachliches Produkt dieser Ideologie ist: Aber der Verfasser der Notiz hat vollständig vergessen, daß die Anschrift ihre postalische Funktion bereits erfüllt hat und nur mehr die Adresse übrig blieb, an die ein Ausspruch gerichtet ist. Oder er dachte – wenn er überhaupt etwas dachte –: lieber ein Unsinn auf deutsch als eine welsche Metapher, und griff mit jenem stolzen Behagen, das jetzt für die Niederlage an den Fremdwörtern Revanche übt und in dem eigenen Besitz an Mißgeburten Entschädigung findet, nach dem Wort ,Anschrift‘. (S: 13)

Der Fehler verweist hier zunächst auf den ideologischen Willen, der seine Entstehung verursacht hat, er verrät den Charakter der Gesinnung, wo der Vorzug des einen Wortes vor dem anderen nicht inhaltlich begründet sein kann, indem er die Missachtung des Bedeutungsunterschiedes einer Präferenz zuschreibt, welche die Sprache als Manifestation nationaler Identität und einer Bekräftigung patriotischer Gesinnung versteht. Zugleich wird aber diese Gesinnung eines geistigen Defizits überführt, weil ihre sprachliche Praxis nichts anderes als Fehler und Unsinn produziert. Die sprachliche Manifestation soll gerade die Substanzlosigkeit des Inhalts der Ideologie belegen. Dass die ideologische Ableitung hier durchaus zutreffend ist, liegt allerdings weniger an der Findigkeit der stilkritischen Methode, sondern an der Tatsache, dass sie eben auch auf eine schon vorliegende spezielle Funktionalisierung von Sprachverwendung zurückgreifen kann. Zweitens, und nur scheinbar konträr dazu, zeugen die stilistischen Mängel immer von einer umfassenden Gedankenlosigkeit der Sprachverwender. Weshalb diese Kritik zur ersteren sehr wohl passt, zeigt die beweisen. Aber der Stil kann beweisen, dass er ein Mörder ist!“ KRAUS, Bd. 2, 1987, S. 55. 41 Diese Identität von Stil- und Ideologiekritik ist zwar stets aufgefallen, die Art des Übergangs jedoch oft nicht beleuchtet worden; man muss aber deshalb nicht gleich darauf schließen, es sei ein „rätselhafter Sprung“ von der Stilanalyse zur Gesellschaftskritik, so aber BÄHR, 1977, S. 99.

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Analogie zu Kraus’ Phrasenkritik. Gedankenlosigkeit bedeutet nicht schlichte Unaufmerksamkeit oder fehlerhaftes Sprechen, sondern die Reproduktion und Aktualisierung von Inhalten, wo eigentlich nur der gängige (evtl. defizitäre) Stil reproduziert ist. Mit Stil verbindet sich darin die Vorstellung einer umfassenden Möglichkeit der Manipulation, die jede sprachliche Äußerung durchziehend auf umfassende Weise Inhalte geltend machen kann, wo sie gerade nicht reflektiert werden.42 Die Kritik spürt damit hinter allen rhetorischen Anliegen der Verlagerung ideologischer Kontroversen in eine Auseinandersetzung über Stil im Grunde ein Manipulationsideal43 auf. Am Beispiel Kraus lässt sich ermessen, inwiefern eine solche Stilkritik ihren eigenen Stil ausbildet: Die Auseinandersetzung mit den einzelnen Stilphänomenen und -fehlern erfolgt zwar argumentativ, aber ebenso regelmäßig in einer Häufung von Beispielen, welche die jeweiligen stilistischen Besonderheiten in ihrer Anwendung gleich mehrfach reproduziert. Solche Rede setzt auf die Evidenz von Unterschieden, und das wiederholte Vorführen soll bereits für sich selbst sprechen, es soll, wo derselbe Stilfehler in einem anderen Anwendungsfall wiederholt wird, die Widerlegung durch das Vorführen schon geleistet sein. Das Ideal dieser Methode ist eindeutig: Die jeweilige sprachliche Wendung soll sich selbst widerlegen, sich selbst des Unsinns, der Dummheit oder doch der Wahrheit über das in ihr waltende Denken überführen. Deshalb soll es ausreichen, diese Sprache selbst sprechen zu lassen, um die ihr zugrundeliegende Denkart zu enthüllen. Eine Begründung für die

42 Nur insofern wird die Behauptung nachvollziehbar, sprachliche Fehler wiesen für Kraus darauf hin, dass die Sprecher „ungenügend und falsch gedacht haben“, vgl. SCHIEWE, 1998, S. 200 [Herv. C. W.], oder aber die Überlegung, Ideologien (also die Übermittlungen weitreichender Inhalte) seien bei Kraus der Modus eines Sprechens, das sich gerade nicht begriffen habe, vgl. ARNTZEN, 1975, S. 46. Bei der Phrase ist zudem immer daran gedacht, dass eine durch die unbedachte Reproduktion verhinderte Reflexion auf die Inhalte diese entlarven würde. 43 Solche Vorstellungen lassen sich bis hin zu einer Verselbständigung des Inhalts gegenüber dem Sprecher fortführen, der dann von den im Stil verfestigten Klischees beherrscht erscheint, vgl. ARNTZEN, 1975, S. 42f. Unter Rückgriff auf diese Manipulationsvorstellung argumentiert BOHN, 1974, vgl. z. B. S. 15.

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Kraus’ Werk durchgängig kennzeichnende Zitattechnik44 ist, neben der parodistischen Intention, hierin zu suchen. Diese Praxis der Stilkritik hat zwei Konsequenzen: Zum einen bietet Kraus’ Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur ein Beispiel dafür, dass eine solche Stilkritik Gefahr läuft, die inhaltliche Kritik für obsolet zu halten bzw. sich diese zu sparen. Die kritische Funktion in das reine Vorweisen des Stils zu verlagern, hat angesichts einer Vermittlung von Ideologie, in der mehr als jeder Stil die aufgenommenen Inhalte für viele das Einnehmende darstellten, durchaus eine problematische Seite.45 Brecht hat zur „Methode des kommentarlosen Zitierens“ bei Kraus durchaus treffend angemerkt, es müsse noch ein nicht im Text Enthaltenes (eine Autorität, d. h. eigentlich eine schon bekannte Haltung des Autors) hinzutreten, damit es möglich ist, „aus dem Schweigen ein Urteil zu machen“.46 Die andere Richtung veranschaulicht die literarische satirische Gestaltung in Die letzten Tage der Menschheit; sie wiederum führt zurück zur rhetorischen Umsetzung stilistischer Bedeutungskonstitution, welche in den satirischen Verfahren auf den Inhalt als Verhältnis zum Stil weiterhin angewiesen bleibt. Nur erinnert sei an jene bekannte patriotische Rede auf einer Bank am Wiener RingstraßenKorso in der ersten Szene des ersten Aktes,47 deren Sprecher eine einzige Demonstration des Missverhältnisses von Pathosformeln und Floskeln oder sprachlichen Fehlern bietet, worin das Pathos insofern bezeichnet wird, als es auf den darin formulierten bzw. bekräftigten Ge44 Kraus’ Technik der Satire ist meist das Zitat, also die simulatio. Dieses Verfahren setzt ganz auf die Selbstentlarvung einer Wirklichkeit, deren Reproduktion – so lautet das Selbstverständnis – bereits die Satire ergeben soll, „da die Wirklichkeit mit ihr bis an den Rand kongruent schien und nur von dem, der sie zu sehen und zu hören verstand, zitiert zu werden brauchte.“ Die Fackel 800-805, 1929, S. 2. 45 Die Problematik liegt in der Abstraktion, welche die Zuschreibung vornimmt, sicher nicht in ihrem Inhalt bzw. darin, dass hier ein Sprachidealismus zum Tragen kommt oder ein Verhaftetbleiben in bürgerlichen Ideologien, was nur durch ein anderes, mehr marxistisch gesellschaftliches Konzept von Sprache ersetzt werden müsste. Zu einer solch einseitigen, selbst ideologische Zuschreibungen vornehmenden Kritik vgl. BÄHR, 1977, S. 91ff. Eine Zustimmung zum bloßen Zitat als angemessenste Reaktion auf die NS-Diktatur und als Vollendung von Kraus’ Satire formuliert dagegen ARNTZEN, 1967, S. 264ff. 46 Vgl. BRECHT, 1993, S. 34. 47 KRAUS, Bd. 10, 1986, S. 71f.

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danken gar nicht mehr ankommt, sondern allein auf die in der Akzentuierung des bisweilen auch leeren Gestus sich kundgebende sprachliche Gemeinschaftsstiftung, die in der Rede beschworen und durch sie de facto hergestellt wird. Nicht ein Gedanke, sondern die Parteilichkeit selbst soll hier Zustimmung erfahren, eine Zustimmung, die sich durch die Ausführung gerade als unhinterfragte Übernahme erweist. Für die den Charakter dieses Pathos enthüllenden Katachresen und Missgriffe ist es nötig, ein Verhältnis von Stil und Inhalt festhalten zu können:48 So offenbaren für Ausrufe eigentlich unpassende Wörter wie „Dementsprechend!“49 den Affirmationsgestus der Rede zugleich als gegenstandslos und als einzigen Inhalt. Dem falschen oder unkundigen Verwenden von Wörtern kommt hingegen die Aufgabe zu, die unreflektierte Zustimmung als Kalkül einer Ideologie zu entlarven, neben der Inkompetenz des Sprechers (s. die Verwechslung von ,Unbilden‘ und „Unbildung“) werden zugleich die Strategien der von ihm affirmierten Gesinnung enthüllt: Hinter allen Gedanken von Verpflichtungen stehen handfeste ökonomische Interessen (enthüllt in der Verwendung von „Verteilungskrieg“ statt ,Verteidigungskrieg‘), und in der Verwechslung von Perfekt und Passiv („die Sache, für die wir ausgezogen wurden“ statt ,ausgezogen sind‘) wird die Zustimmung als eine Willensbekundung des Subjekts als bloße Umdeutung eines Ausnutzungsverhältnisses erkennbar. Anhand der drei Beispiele Stefan George, Georg Lukács und Karl Kraus ließen sich die einzelnen Schritte der Zuweisung von Wahrheitsund Legitimationsgedanken an stilistische Verfahren verfolgen, aus denen stets zweierlei resultiert: Einerseits eine Überschätzung von Stil 48 Eine ausführliche Darstellung zu den stilistischen Besonderheiten der Rede, welche die Zugehörigkeit zur pathetischen Sprachverwendung in Wortschatz, Syntax und rhetorischen Mitteln detailliert nachweist, und zu den jeweiligen Verfahren der Durchbrechung dieses Pathos findet sich bei SCHEICHL, 1990, S. 169-172. Der ganz bewusst inszenierte Stilbruch als ein wirksames Mittel der Entlarvung funktioniert hier vor dem Hintergrund der rhetorischen Forderung des aptum, die den Widerspruch von Inhalt und Stilebene erst zum (satirischen) Verweis auf ein Defizit und eine darin enthaltene Kritik macht. Zum rhetorischen Mittel des Stilbruchs bei Kraus vgl. SCHEICHL, 1986, der die Durchbrechungen des pathetischen und des hohen Stils behandelt, sie allerdings mehr konstatiert als nach ihrer semantischen Funktion befragt. 49 SCHEICHL, 1990, S. 170.

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hinsichtlich seiner Verbindung zu Fragen von Wahrheit, Moral und Gültigkeit, andererseits eine stark einseitige Festlegung seiner Aussageleistungen, eine Fixierung, die im Grunde einer Reduktion gleichkommt. Funktionalisierbar werden solche Zuschreibungen als Möglichkeit, mit einer Auseinandersetzung über stilistische Fragen Inhalte zu behandeln, ästhetische oder ideologische Programme zu vermitteln, ohne diese selbst zu diskutieren, oder als Medium eines jeder Konkretion vorgeordneten Geltendmachens von Gedanken und Weltanschauungen. Allen diesen Zuschreibungen gemeinsam ist die grundsätzliche Annahme einer Relevanz von Stil, die sich im Einzelfall nicht erst erweisen muss, sondern die Voraussetzung des Umgangs mit Stilfragen bildet.

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Christine Waldschmidt

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III Gattungsstil

Natürlichkeitsfiktion im späten 18. Jahrhundert: Gellerts Brieflehre ULRIKE STAFFEHL

1. Einführung Ich will einmal setzen, ein guter Brief muss natuerlich, deutlich, lebhaft, und nach der Absicht der Sache ueberzeugend geschrieben seyn.1

Für Christian Fürchtegott Gellert stellt die natürliche Darstellung der Gedanken in einem privaten Brief die eigentliche Herausforderung des Verfassers dar. Sein Briefsteller Briefe, nebst einer praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen (1751) steht zwar in der Tradition der sich seit dem siebzehnten Jahrhundert in Deutschland und Frankreich entwickelnden Briefsteller, markiert mit seiner Forderung nach Natürlichkeit aber zugleich einen Neubeginn. Im siebzehnten Jahrhundert haben sich zwei Grundtypen von Briefstellern herausgebildet: Zunächst dominierten solche für den bürokratischen Schriftverkehr, die ganz dem Kurialstil, der Schriftsprache der Kanzleien, verpflichtet waren;2 in der zweiten Jahrhunderthälfte entstanden zudem Briefsteller für den höfischen Schriftverkehr, die den Briefschreibern die Nachahmung des Tonfalls galanter Gespräche empfahlen. Beide Briefstellertypen forderten einen sehr strengen, an der an-

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GELLERT, 1989a, S. 101. Im Folgenden zitiert als G1. Maßgebend für diesen Stil waren z. B. die Briefsteller von Johann Rudolph Sattler. Vgl. REINLEIN, 2003, S.63f.

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Ulrike Staffehl

tiken Rhetorik orientierten Aufbau des Briefs: die Chrie.3 Diesen Regelwerken des bürokratischen und höfisch-galanten Schreibens setzt Gellert einen Briefsteller für den privaten bürgerlichen Brief entgegen. An der normgebenden Funktion der alten Briefsteller hält er fest, lehnt aber die Verwendung der Chrie und des galanten Kommunikationstons ab. Stattdessen entwirft er ein neues, eigenes Stilideal – ein Ideal natürlichen Schreibens – für das Bildungsbürgertum, das er mithilfe einer dem Briefsteller angefügten Sammlung von dreiundsiebzig Musterbriefen veranschaulicht. Gellert war nicht der einzige Theoretiker des privaten Briefs,4 von seinen Schriften ging jedoch die nachhaltigste Wirkung aus, so dass er gemeinhin als Wegbereiter des natürlichen Briefstils gilt.5 Gerade indem Gellert jedoch den natürlichen Schreibstil normiert und musterhaft vorführt, erweist sich dessen fiktiver Gehalt. Gleichzeitig lässt Gellerts Musterbriefsammlung erkennen, dass dieser den privaten Brief zugleich immer auch als öffentliches Dokument betrachtet.6 Beides wird aus der nachfolgenden Analyse deutlich werden, die die Konturen eines gemeinsamen Textprofils nachzeichnet, das hinter dem Gellertʼschen Briefsteller Briefe, nebst einer praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen erkennbar wird. Der Aufsatz 3

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Die Chrie verlangt die Einleitung eines Briefs durch eine These, gefolgt von einer Beweisführung und einem sich daraus ergebenden Schluss. In den älteren Briefstellern wird ein fünfgliedriger Aufbau vorgeschrieben, erst gegen Ende des siebzehnten Jahrhunderts reduziert Christian Weise die Chrie in seinem Briefsteller auf einen dreigliedrigen Aufbau, bestehend aus Antecedens, Connexio und Consequens, der für alle weiteren Brieftheoretiker, die sich an der Chrie orientieren, maßgebend ist. Vgl. REINLEIN, 2003, S. 66. Neben Gellerts Briefsteller erschienen 1751 noch Johann Christoph Stockhausens Grundsätze wohleingerichteter Briefe und Johann Wilhelm Schauberts Anweisung zur regelmäsigen Abfassung Teutscher Briefe. Vgl. NICKISCH, 1991, 81ff. Vgl. hierzu z. B. den Forschungsüberblick von ARTO-HAUMACHER, 1996, 16f. Dass der private Brief im achtzehnten Jahrhundert an der Schnittstelle von privater und öffentlicher Kommunikation steht, zeigen die vielen nicht autorisierten Nachdrucke privater Briefwechsel dieser Zeit. Reinhard Nickisch spricht in diesem Zusammenhang von „mehr oder minder befugten Editoren“. (NICKISCH, 1991, S. 108) In Brieffreundschaftszirkeln wurden private Briefe zudem oft gemeinsam rezipiert. Vgl. hierzu z. B. REINLEIN, 2003, S. 57.

Natürlichkeitsfiktion im späten 18. Jahrhundert

wird zudem der Frage nachgehen, welche Absicht Gellert damit verfolgt, ein solches reproduzierbares Muster für den privaten Brief zu erstellen, und wie diese Natürlichkeitsfiktion von seinem Rezipientenkreis – dem sich etablierenden gehobenen Bürgertum – aufgenommen wird.7

2. Die Abhandlung Im ersten Teil seines Briefstellers Briefe, der Praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen, diskutiert Gellert die Eigenschaften eines gelungenen Briefs. Er führt hier Beispielbriefe an, die nach seinem Urteil besonders schwach ausfallen, da sie im höfischgalanten Stil verfasst sind und dem starren Aufbau der Chrie folgen.8 Als Beispiel für die Chrie zitiert Gellert das Skelett eines Kondolenzbriefs aus dem Briefsteller Christian Junckers:9 Satz: Ich habe mit Betruebnis vernommen, daß dessen Eheliebste gestorben sey. Beweis: Denn sie war ihrer Tugenden wegen von jedermann, und dahero auch von mir geliebt und werth gehalten. Amplificatio per distributionem: a) Wegen ihrer Gottesfurcht, b) Haeuslichkeit, c) Kinderzucht, d) Liebe gegen ihren Eheherrn, e) Freundlicher Bezeugung gegen jedermann. Beschluß: Darum ist es kein Wunder, wenn er, so wohl als ich, nebst andern Freunden, darueber gar sehr bekuemmert worden. 7

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Dass die Entwicklung des privaten Briefs als Kommunikationsmedium insbesondere für das Bürgertum von Bedeutung ist, ergibt sich auch aus außerliterarischen Voraussetzungen: So wurde erst 1868 durch den Norddeutschen Postbund ein niedriges Einheitsporto einführt – um 1760 entsprach ein einfacher Brief noch dem Wochenlohn eines einfachen Arbeiters. VELLUSIG, 2000, S. 56, Anm. 1. Zu den medialen Voraussetzungen für die Entwicklung des privaten Briefs vgl. ebd., S. 21ff. Zum Aufbau der Chrie vgl. Anm. 3. JUNCKER, 1709. Gellert bezieht sich auf die Seiten 73-75.

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Ulrike Staffehl Endlich setzet man einen Trost nach gegenwaertigem Exempel, bey, und beschließet den Brief mit einer beliebigen Schlußformel. (G1: 128)10

Das Beispiel Junckers liefere viele überflüssige Informationen, die sich durch die Dreigliedrigkeit ergeben und durch die der Brief unnatürlich würde: Das heißt, deucht mich, einen Gedanken nicht erweitern, sondern durch ueberfluessige Begriffe beschweren, und durch eingeschobne Worte aus einander dehnen. Man sieht dieser Erweiterung das Studirte, das Muehsame, auf allen Seiten an; und eben dieses Muehsame, und Gesuchte ist wider den Affekt der Traurigkeit […]. (G1: 129)

Neben der Chrie verurteilt Gellert insbesondere die galante Ausdrucksweise der höfischen Rede. Exemplarisch führt er einen Auszug aus dem Briefsteller Benjamin Neukirchs an.11 Sowohl Neukirch als auch Gellert repräsentieren mit ihren jeweiligen ästhetischen Konzepten zwei Positionen des rasanten gesellschaftlichen Wandels. Als Hofpoet war Neukirch dem höfischen Milieu verpflichtet, Gellert dagegen vertrat eine auf städtischem Boden gewachsene bürgerliche Kultur12 – sein Anspruch auf Natürlichkeit und Deutlichkeit im privaten Brief hebt sich daher vehement von dem Neukirchs ab, der vorschlägt, den galanten Stil auch in der bürgerlichen Sphäre schriftlicher Kommunikation zu verwenden.13 Den Unterschied zwischen seinem und Neukirchs ästhetischem Ideal zeigt Gellert in seinem Briefsteller auf, indem er einen Brief Neukirchs an seinen Gönner exemplarisch zitiert, um dessen einzelne Glieder zu kommentieren:

10 Gellert gibt ebenfalls den entsprechenden Brief als Beispiel an; hier soll die Chrie als Beispiel genügen. 11 Benjamin Neukirch gibt bereits um die Jahrhundertwende einen Briefsteller und eine Musterbriefsammlung heraus. Gellert zitiert Neukirch aus dessen Musterbriefsammlung von 1695. Vgl. NEUKIRCH, 1695. 12 Zudem finden in den Jahren zwischen 1700 und 1750 entscheidende stilistische Entwicklungen von der Zweiten Schlesischen Dichterschule über die Galanten bis hin zu den Dichtern der Aufklärung statt. Vgl. ARTOHAUMACHER, 1996, S. 62. 13 Vgl. hierzu ANTON, 1995, S. 27ff.

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Natürlichkeitsfiktion im späten 18. Jahrhundert „Wenn ich so verschwenderisch mit Worten, als Ew. Excellenz mit Wohltaten waere, so wuerde ich schon nichts mehr haben, womit ich mich fuer Dero heutige Gnade bedanken koennte.“ Wenn dieser Gedanke auch nicht unter diejenigen Spitzfindigkeiten gehoerte, welche anfangs mit der Mine schmeicheln, und wenn man sie untersucht, zum Lachen bewegen […]: so wuerde er doch des Ausdrucks wegen verwerflich seyn. Welche Klugheit, einem großen Herrn zu sagen, daß er mit seinen Wohltaten verschwenderisch ist! Ist das die bedachtsame Sprache eine Clienten? Und wenn nun auch Neukirch so verschwendrisch mit Worten waere, als sein Goenner, nach seiner Meynung, mit Wohltaten ist, wuerde er sich denn deswegen heute nicht mehr bedanken koennen? Kann man denn die Worte nicht wieder gebrauchen, die man einmal gebracht hat? Kann man sich nicht mehr bedanken, wenn man sich zwanzigmal bedankt hat? Kein Gedanke ist natuerlich, der im Grunde falsch ist. (G1: 116f.)

Insgesamt kritisiert Gellert an Neukirchs Brief vor allem den Überschwang der Lobsprüche, die auf das „Possierliche und Abentheuerliche treiben“ (G1: 116), also gerade das, was den Schreibstil der Galanten ausmacht. Gellerts Auffassung zufolge können „[d]ie meisten von den neukirchischen galanten Briefen […] zu Mustern dienen, wie ein Brief nicht beschaffen seyn muß, wenn er natuerlich seyn soll.“ (G1: 119) Gellerts Vorbilder für das Verfassen guter Briefe sind die antiken Rhetoriker.14 So diskutiert er explizit Briefe des Cicero und des Plinius, an denen er beispielhaft den Aufbau und den Ausdruck hervorhebt.15 Vor allem lobt Gellert an diesen Briefen, dass ihnen ihr Kunstcharakter nicht anzusehen ist – sie also natürlich wirken. Einen Brief Ciceros an dessen Mündel Trebatius kommentiert er wie folgt: Die Einfalt und Richtigkeit der Gedanken lehrt uns, daß Cicero ohne Kunst sein Herz hat reden lassen, und daß er an nichts gedacht, als dem Trebatius seine Liebe zu zeigen. Ein Gedanke reicht dem anderen frey14 Eine Ausnahme bildet Johann Christoph Stockhausen: „Unter den deutschen Anweisungen haben sich des Herrn Magister Stockhausens Grundsätze den meisten Beyfall erworben.“ (G1: 128, letzte Fußnote der vorherigen Seite) 15 Vgl. G1: 123ff.

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Ulrike Staffehl willig die Hand. Der Ausdruck ist so einfaeltig, als die Gedanken sind, und eben so gefaellig, weil er richtig und nicht weiter, oder enger ist, als die Vorstellung es erfordert. (G1: 125)

Während Cicero sich darauf verstehe, den Kunstcharakter nicht erkennbar zu machen, werde dieser in den Briefen Junckers und Neukirchs durch Aufbau und Ausdruck sichtbar. Wenn Gellert sein Ideal eines natürlichen Briefs als ein Kunstwerk beschreibt, dem man seinen Kunstcharakter nicht ansieht, orientiert er sich an dem ästhetischen Ideal, das sich bereits bei den antiken Rhetorikern findet und dem gerade im achtzehnten Jahrhundert wieder größere Bedeutung zukommt:16 Zuweilen kostet eben das Leichte, das Natuerliche in einem Gedanken, das sich bey seiner Zubereitung nicht gleich geben will, die meiste Muehe, und gefaellt doch dem Leser am Ende aus dem Grunde, weil es keine Muehe gekostet zu haben scheint. Man hat alle Arbeit, alle Kunst versteckt. Man hat den Gedanken mit dem Vorhergehenden oder Nachfolgenden so zusammen gefugt, daß man glaubet, er gehoere nothwendig da hinein. (G1: 115)

Diesem Kunstbegriff fügt Gellert eine entscheidende Perspektive hinzu, die ebenfalls für das achtzehnten Jahrhundert kennzeichnend ist: den engen Zusammenhang von Moral und Kunsthaftigkeit, wie er später insbesondere auch von Lessing gefordert wird. Der Begriff atürlichkeit ist für Gellert eng mit Moralität verknüpft.17 Tugendhaftigkeit und

16 So findet sich dieses ästhetische Ideal bereits bei Aristoteles: „Deswegen muss man (die Rede) unmerklich komponieren und nicht den Anschein des gekünstelten, sondern des natürlichen Redens erwecken – diese nämlich ist I überzeugend, jenes aber das Gegenteil, denn (die Zuhörer) lehnen es ab, wie gegenüber jemandem, der etwas im Schilde führt, wie bei den gemischten Weinen […]“ (ARISTOTELES, 2002, S. 131). Dieser Gedanke wird von Kant in seiner Kritik der Urteilskraft wieder aufgenommen und konkretisiert: „Die Natur war schön, wenn sie zugleich als Kunst aussah; und die Kunst kann nur schön genannt werden, wenn wir uns bewußt sind, sie sei Kunst, und sie uns doch als Natur aussieht.“ (KANT, 1922, S. 381) 17 Spätestens seit dem Beginn der siebzehnhundertfünfziger Jahre legt Gellert immer mehr Wert auf die pädagogische Intention von Literatur. Rafael Arto-Haumacher nennt hierfür als Wegmarke die dritte Auflage von Gellerts Lustspielsammlung (1755), die entscheidend auf die Verbreitung

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Natürlichkeitsfiktion im späten 18. Jahrhundert

Moral des Verfassers, so Gellerts These, werden in einem guten Brief ebenso sichtbar, wie ein schlechter Brief auf den Charakter des Verfassers schließen ließe: Und mich deucht, wenn junge Leute bedenken wollten, daß Briefe wider unsern Willen Verraether unsers Verstandes, und oft unsers ganzen Charakters sind; daß sie Mittel sind, andern eine gute oder schlechte Meynung von unsrer Geschicklichkeit beyzubringen; daß sie Beweise sind, ob es dunkel oder helle, ordentlich oder unordentlich, gesund oder krank in unserm Geiste aussieht, ob wir zu leben wissen oder nicht […]. (G1: 151)

In diesem Sinne erklärt Gellert Frauen, denen ein Sinn für Moral und guten Geschmack angeboren sei, als prädestiniert zum Verfassen guter Briefe. Jeder sei aber dazu aufgefordert, sich guten Geschmack, zum Beispiel durch das Übersetzen gelungener Briefe aus anderen Sprachen anzueignen.18 Gellerts Ruf als Lehrer der Nation entsprechend ist der pädagogische Tonfall der theoretischen Abhandlung nicht überraschend. Die Beispiele guter und schlechter Briefe haben Lehrbuchcharakter, ebenso wie die vorgeschlagenen Methoden zum Einüben und Aneignen des guten Geschmacks. Eine genaue Definition, was einen guten Brief ausmacht, stellt Gellert nicht auf. Es lassen sich jedoch einige Eckpfeiler für das Erstellen eines guten Briefs zusammenfassen: Ein guter Brief, so Gellerts wohl wichtigste These, „ist eine freye Nachahmung des guten Gespraechs“ (G1: 111) – dabei sollte ein allzu umgangssprachlicher Ausdruck unbedingt vermieden werden: „Was seiner Natur nach, in der Art zu denken und sich auszudruecken, unrichtig, mueßig, ekelhaft ist, das wird dadurch in einem Briefe nicht gerechtfertigt, weil es im gemeinen Leben oft ungehoert wird.“ (G1: 112) Andererseits würde [u]nsere Schreibart […] oft sehr unverstaendlich und schmutzig, oder gezwungen, platt, weitlaeufig und gemein werden, wenn wir ohne Ausnahme so von buergerlichen und haeußlichen Angelegenheiten in Brie-

von Tugend und Moral hin zugespitzt ist. Vgl. ARTO-HAUMACHER, 1996, S. 106. Vgl. zu Gellerts Moralischen Vorlesungen SPÄTH, 1990. 18 Vgl. G1: 133ff.

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Ulrike Staffehl fen so reden wollten, wie die Niedrigen, oder die Vornehmen, im gemeinen Leben davon zu sprechen pflegen. (ebd.)19

Dennoch sollten die Redensarten, die im Brief verwendet werden, unbedingt dem normalen Sprachgebrauch entsprechen. Sie dürfen also ebenso wenig künstlich und hochgestochen sein wie in der Bürokratieschriftsprache der Kanzleien oder wie in den Galanten Briefen Neukirchs. Gellert plädiert für eine alltägliche Ausdrucksweise im gehobenen Stil, die stets dem Anlass entsprechen soll, zu dem der Brief verfasst wird.20 In einem gelungenen Brief müssen einzelne Gedanken klar und deutlich formuliert werden, Durchsichtigkeit und Verständlichkeit dürfen aber keinesfalls zulasten der Lebhaftigkeit gehen. Gellert beschreibt sein Ideal des Natürlichen als ein in sich stimmiges Gesamtgefüge, das sich aus dem Gedankenfluss des Schreibenden ergibt: Man darf nur an die Ordnung denken, die man beobachtet, wenn man im Umgange von solchen Dingen spricht, die man in einem Briefe vortragen will. Man bedient sich im Umgange keiner weitlaeufigen Eingaenge. Man faengt bald von der Sache an. Man setzt gemeiniglich das, was in der Sache das erste ist, voran. Man faehrt mit den Vorstellungen fort, wie sie sich darbieten, und man hoert auf, wenn man glaubt, das

19 Vgl. dagegen aber Eiermann, der schon 1911 den Beweis erbringt, dass Gellert entsprechende Passagen für seine Musterbriefsammlung seinem ästhetischen Ideal entsprechend stilistisch korrigiert hat: „Diese Varianten [Eiermann vergleicht einen in der Musterbriefsammlung aufgeführten Brief mit einer älteren Fassung desselben Briefs] (es sind nur einige angeführt), und die Tatsache, daß Gellert den ursprünglichen Brief als zwei (Nr. 14 und 24 der ‚Briefe‘) mit den durch das Zerreißen bedingten Änderungen drucken ließ, beweisen zur Genüge, daß er für den Druck eine Überarbeitung vorgenommen; die Varianten zeigen, nach welcher Richtung hin: der Text ist verallgemeinert, persönliche Beziehungen, spezielle Tatsachen sind ausgemerzt, desgleichen zum größten Teil die humoristischen Reden im Dialekt, die teils gemildert, teils in indirekte schriftsprachliche Rede übertragen worden sind. Der Schluss des Originals ist stark reduziert.“ (EIERMANN, 1911, S. 49f.) 20 „Ein Brief soll eben nicht einem armseligen Zimmer gleichen, das an allen Wänden leer ist; aber er muß auch kein pralendes Putzzimmer seyn, darinnen man einen Menge von Kostbarkeiten zur Schau ausgesetzt, die vielleicht an zehn andre Orte gehören, und welche die Aufmerksamkeit ermueden, an statt, daß sie dieselbe beqvem saettigen sollten.“ (G1: 114)

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Natürlichkeitsfiktion im späten 18. Jahrhundert Nothwendigste gesagt zu haben. Dieses ist auch der Plan zu einem Briefe. Man bediene sich also keiner kuenstlichen Ordnung […], keiner muehsamen Einrichtungen, sondern man ueberlasse sich der freywilligen Folge seiner Gedanken [Herv. U. S.], und setze sie nach einander hin, wie sie in uns entstehen: so wird der Bau, die Einrichtung, oder die Form eines Briefs natuerlich seyn. (G1: 126)

3. Die Musterbrief sam mlung Die dem Briefsteller anliegende Musterbriefsammlung beinhaltet dreiundsiebzig private Briefe, die bis auf vier Ausnahmen von Gellert selbst verfasst sind. Die Briefe sind soweit zensiert, dass sich nicht aus ihrem Wortlaut ergibt, an wen sie gerichtet und von wem sie geschrieben sind, ebenso fehlen die Titularen.21 Dennoch können die meisten Briefe inzwischen bestimmten Adressaten zugeordnet werden.22 Zwar gibt Gellert vor, dass es sich bei seiner Sammlung um authentische Briefe handelt. Diese wurden von ihm für die Sammlung aber zum Teil so stark auf sein Ideal des Natürlichen hin stilisiert, dass nicht mehr von authentischen Texten ausgegangen werden kann. In der Sammlung finden sich einfache, freundschaftliche Briefe, Reise- und Kurberichte, Gratulationsschreiben, Kondolenzbriefe, Tadel über die Schreibfaulheit des Briefreundes, Liebesbriefe und Literaturkritiken. Trotz der offensichtlichen Vielfalt – Gellert umschreibt diese mit dem Bild einer unzulänglichen Landkarte23 – offenbaren die einzelnen 21 „Diejenigen, welchen der Name und die Titulatur an einem Briefe das merkwuerdigste sind, werden unzufrieden seyn, daß ich beides die meisten male weggelassen habe.“ (G1: 109) 22 U. a. gehen sieben Briefe an den sich an der Kriegsfront befindenden Rittmeister Christian August Friedrich von Bülzingsleben, drei an den Pastor Johann Jacob Mack, der Gellert in einem vorherigen Schreiben um die Kritik seiner Gedichte bat, ebenso drei an eine Angebetete Gellerts, die er mit dem Namen Aemilie anspricht. Zwei Briefe sind an Johann Adolf Schlegel, den Herausgeber der späteren Werkausgabe Gellerts, gerichtet, mehrere an Johanna Charlotte Cramer, geb. Radicke (die Ehefrau des Herausgebers der Briefe, die Gellert durch die Sammlung seiner Briefe zur Herausgabe derselben ermutigte), und an Moritz Ludwig Kersten. 23 „Es ist wahr, daß in der Schreibart auch die besten Regeln immer noch eine unzulängliche Landkarte sind; aber es laeßt sich mit einer unvollkomme-

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Briefe viele Gemeinsamkeiten und Aspekte, die sich trotz des breiten Spektrums wiederholen. Obwohl die Briefe tatsächlich keinen straffen Aufbau haben, zeigt sich schon beim Vergleich der Anfänge und Schlusssätze ein einheitliches Muster. Fast jeder Brief beginnt entweder mit einer Aussage über den Autor oder mit einer Aussage über den Adressaten – exemplarisch sei hier auf den achtzehnten Brief der Sammlung verwiesen, der an den Pastor Johann Jakob Mack gerichtet ist:24 Hochzuehrender Herr Pastor, Ich kann ihnen nicht genug sagen, was ich fuer ein Verlangen nach ihrem naehern Umgange habe, und wie oft ich Sie mitten unter meinen andern Freunden vermisse! (G1: 171)

Verfasser und Adressat werden in diesem Anfang sogar gleichermaßen thematisiert. Was sich in der Briefsammlung hingegen überhaupt nicht findet, ist ein in-medias-res-Beginn oder ein Anfang, der von einer dritten Person handelt. Nicht nur der Beginn der Briefe zeigt ein wiederkehrendes Profil. Auch der Schluss wird fast immer, wie hier im Beispiel des achtzehnten Briefs, durch Formeln der Höflichkeit eingeleitet: Empfehlen Sie mich Ihrer Frau Liebste und allen, die zu Ihrer Freundschaft gehoeren, und schreiben Sie mir ja bald wieder. (G1: 172)

Ein Kriterium, das Gellert bereits in seinem eingangs zitierten Aufsatz Gedanken von einem guten deutschen Briefe nennt, nämlich die Lebhaftigkeit, durchzieht in der Tat alle seine Musterbriefe auf unterschiedliche Weise. So steht die direkte Anrede nicht nur auf dem Briefkopf, sondern wird im Fließtext immer wieder aufgenommen. Im neunten Brief der Sammlung, den Gellert vermutlich an Johanna Charlotte Cramer verfasst,25 heißt es u. a.: Sagen Sie mir nur, Madam, ob ich etwa krank bin? […] Sagen Sies auf Ihr Gewissen, meine Freundin, koennen Sie mir aus meinem ganzen nen Karte besser reisen, als mit gar keiner; und was ist zu thun, wenn keine zulaengliche moeglich ist?“ (G1: 109f.) 24 Die einzelnen Briefe werden ausschließlich anhand ihrer Nummerierung in der Musterbriefsammlung zitiert. Zum Briefwechsel zwischen Gellert und Johann Jacob Mack vgl. ARTO-HAUMACHER, 1996, S. 122. 25 G1: 319 (Kommentar).

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Natürlichkeitsfiktion im späten 18. Jahrhundert Briefe etwas anders schließen, als daß ich muerrisch bin, daß ich selbst nicht weis, was ich will, und wenn es hoch koemmt, daß ich hypochondrisch bin. (G1: 165)

Indem der Adressat durch direkte Anrede in die Gegenwärtigkeit des Verfassers geholt wird, wirkt der Brief lebhaft und kommt der Unmittelbarkeit des Gesprächs sehr nahe. Ein weiteres Beispiel, der dreizehnte, an drei Schwestern gerichtete Brief, soll illustrieren, wie Gegenwärtigkeit, und damit Lebhaftigkeit erzeugt werden, indem die sich zum Zeitpunkt des Schreibens ereignende Szene im Brief präsentisch wiedergegeben wird. Ja, sagte er, weil sie noch Caffee haben, so will ich eine Pfeife Taback bey Ihnen rauchen; doch, so bald die Pfeife aus ist, so muß der Brief [dieser Brief] fertig seyn […]. Ach! der boese Mensch! Itzt klopft er den Knaster aus. Er steht gar auf. Ich moechte so gern noch mit Ihnen reden. (G1: 168)

Der Brief gewinnt dadurch an Lebhaftigkeit, dass die drei Schwestern nicht nur direkt angesprochen, sondern vielmehr in die Szene der Briefproduktion hineinversetzt werden und in ihr auch noch eine, wenn auch passive, Rolle spielen – der Verfasser beschreibt die einseitige Kommunikation des Briefschreibens als ein Gespräch. Im dreiundzwanzigsten Brief formuliert der Verfasser einen Dialog zwischen sich und seiner Mutter, indem er sich für das Verschenken einer Miniatur seines Portraits rechtfertigt: Wo hast du’s denn hingethan? Wo ich’s hingethan habe? Ich habe es – – soll ichs Ihnen sagen, meine liebe Mama? Ich habe es – – – Sie nehmen es doch nicht uebel? Ich habe es meinem Maedchen gegeben. Geschwind laß dirs wieder geben, und schicke mirs. Nein, meine gute Mama, das geht nicht an. (G1: 176)

Gellert nimmt hier seine These der Nachahmung eines Gesprächs wörtlich. Wie einer literarischen Figur werden der Adressatin Worte in den Mund gelegt, um Lebhaftigkeit zu erzeugen – Gellert verwebt den Brief

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mit fiktionalen Elementen.26 In persuasiver Weise stellt der Schreiber einen Dialog, wie er sich auch real abspielen könnte, künstlich dar und macht mit diesem Mustergespräch seinen eigenen Standpunkt deutlich. Wie Gellert durch seinen humorvollen Tonfall Druck auf die Adressatin ausübt, soll ein zweiter Ausschnitt desselben Briefs zeigen: Aber, Mama, reden Sie nicht etwan im Eifer ein Wort wider das arme Kind, wenn Sie mir antworten; ich moechte ihr vielleicht den Brief zeigen. (ebd.)

Innerhalb des Briefs findet ein Wechsel vom fiktiven Gespräch zur schriftlichen Kommunikation statt. Mit der Aufforderung an die Adressatin, sich im Antwortschreiben nicht negativ über das Mädchen zu äußern, übt der Verfasser einen scherzhaft formulierten Druck auf sie aus. Diese beiden unterschiedlichen Adressatenbezüge – fiktiv und realistisch – illustrieren durch ihre ästhetischen und ihre moralischen Wirkungsweisen den Stellenwert des Briefs im Spannungsfeld zwischen Fiktion und Kommunikationsmedium. Lebhaftigkeit wird aber nicht nur durch einen starken Adressatenbezug inszeniert. Auch Berichte gestalten einen Brief lebhaft, indem sie auf eine spannende, romanhafte Art geschildert werden. Im zweiten Brief, der möglicherweise an Friederike Sophie Louise von Zedtwitz, der Ehefrau eines Freundes von Gellert, gerichtet ist,27 schildert Gellert eine recht anstrengende Kutschenreise über Land, wobei er jedes Detail bis ins letzte ausschmückt. Dabei setzt er, zugunsten der Unterhaltsamkeit, gezielt das Mittel der Hyperbel ein: Kaum hatte ich mich auf das Stroh geworfen, und den Fuhrmann gebeten, sich neben mich zu legen, […] als man die Tische aus der Stube schaffte. Hierüber wurden alle die jungen Huehner, Gaense, Schweine,

26 In diesem Zusammenhang sei auf die Begeisterung Gellerts für französische und englische Briefromane verwiesen. Literarische Figuren wie Samuel Richardsons Clarissa oder Pamela sind auf ein ideales Bild hin modelliert, das Vorbildcharakter für tugendhaftes Verhalten aufzeigt. Vgl. ARTO-HAUMACHER, 1996, S. 133 und G1: 150 (Fußnote), sowie ANTON, 1995, S. 67 ff. 27 Vgl. G1: 318 (Kommentar).

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Natürlichkeitsfiktion im späten 18. Jahrhundert und was zeither unter dem Ofen geschlafen hatte, lebendig, und besuchten mich, eins um das andre, auf meinem Lager. (G1: 157)

Die Atmosphäre des Nachtlagers wird nicht nur stark anschaulich geschildert. Vielmehr erfährt die Passage durch Übertreibung einen scherzhaften Tonfall, der sich auch in anderen Briefen der Sammlung findet. Ein Brief kann also durch einen spannenden und humorvollen Erzählstil lebhaft gestaltet werden. Alle diese Beispiele zeigen, dass Gellert den Einsatz rhetorischer und erzählerischer Mittel keineswegs scheut. Die Musterbriefsammlung weist zudem deutliche Unterschiede zwischen den einzelnen Brieftypen auf. Je förmlicher der Schreibanlass ist, desto poetischer wird der Text. Die zweckgebundenen Schreiben wie Kondolenz-, Gratulations- und Dankesschreiben verdeutlichen dabei aber nur in offenerer Form, was auch das versteckte Gerüst des freundschaftlichen Briefs ist: ein wohlüberlegter strategischer Schreibstil. Dies sei kurz an einem Ausschnitt aus dem dritten Musterbrief skizziert, einem Gratulationsschreiben zur Hochzeit: Ich denke noch mit einer Art der Entzueckung an die vergnuegten Augenblicke, die ich in Ihrer Gesellschaft und an der Seite Ihrer vortrefflichen Gemahlinn zugebracht habe. Ich sehe noch jede kleine Mine, mit der sie einander liebkosen, und einander tausend schoene Dinge sagen. Ich hoere noch alle die aufrichtigen Lobsprueche, mit denen Sie mir Ihre Gemahlinn beschrieben. (G1: 159)

Die Anhäufung der Ich-Anaphern mit Verben des Denkens und Fühlens offenbart ein wohlüberlegtes stilistisches Kalkül hinter der scheinbar so unmittelbaren Schilderung des Eindrucks, den das Brautpaar auf den Verfasser gemacht hat. Nicht nur durch Wortfiguren, auch durch Bildlichkeit setzt Gellert den Schreibstil in den zweckgebundenen Schreiben der Sammlung von den freundschaftlichen Briefen ab. So heißt es in einem Kondolenzschreiben, dem zweiundfünfzigsten Brief: Was muß ein Geist, von der Erde weggenommen, bey dem ersten Eintritte in das Land der Vollkommnen, fuehlen; welche goettliche Wollust! (G1: 202)

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Diese schwärmerische Ausdrucksweise greift hier bereits den Tendenzen vor, die den privaten Brief in den siebzehnhundertziebziger Jahren – der Zeit der Stürmer und Dränger – prägen werden. Hier weicht der Ausdruck allerdings stark von Gellerts Gebot des mittleren Stils ab, den er für den natürlichen Ausdruck als prägend erachtet. Wie die Beispiele der rein freundschaftlichen Briefe gezeigt haben, ist diese Stilisierung eher auf Schlichtheit angelegt. Wortspiele und betonter Redeschmuck treten nur vereinzelt auf, so dass der deutliche Ton alltäglicher Wörter und Redewendung den Ausdruck stets dominiert. Aus den einzelnen, hier angesprochenen Aspekten ergibt sich das folgende Textprofil, das grundsätzlich für alle der dreiundsiebzig Musterbriefe des Briefstellers gültig ist:

• • •



am Anfang stehen stets der Verfasser, Adressat oder beide im Vordergrund, es gibt keinen in-medias-res-Beginn der Schluss wird durch Sentenzen der Höflichkeit eingeleitet der Corpus ist von Lebhaftigkeit geprägt - durch engen Adressatenbezug - durch fingierte Gegenwärtigkeit - durch romanhaften Erzählstil - durch humorvollen Tonfall - durch Übertreibung Worte und Redewendungen entsprechen der gehobenen Alltagssprache - Ausnahme: zweckgebundene Schreiben weisen einen poetischeren Stil auf

Es lassen sich also die meisten der Kriterien, die Gellert im Theorieteil seines Briefstellers für das Gelingen eines guten Briefs nennt, in den Musterbriefen wiederfinden. Allerdings steht die Tatsache, dass diese sich zu einem mustergültigen Profil zusammenfügen, seinem Gebot der Formlosigkeit entgegen. Mittels dieses Textprofils und seiner theoretischen Abhandlung will Gellert das Schreiben privater Briefe schulen. Ein Briefschreiber, der Gellerts Schreibverständnis folgt, konstruiert seine Gedanken nach übersubjektiven Normen, anstatt sie frei zu entfal-

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ten. Die Natürlichkeit seines Schreibens bleibt stets ein ästhetisches Ideal – eine lediglich fingierte Natürlichkeit.

4. Schlussbemerkungen und Ausblick Gellerts Texte stehen nicht nur in einem Spannungsverhältnis von Natürlichkeit und Kunst, sondern auch in einem Spannungsverhältnis zwischen öffentlicher und privater Sphäre. Ein Verständnis von Privatsphäre im Hinblick auf schriftliche Dokumente beginnt sich im achtzehnten Jahrhundert erst zu entwickeln. Zunächst werden private Briefe mit Vorliebe im bürgerlichen Freundeskreis gemeinsam rezipiert und beurteilt – auch mit nicht autorisierten Publikationen ihrer Briefe mussten die Verfasser rechnen – so ging es etwa Gellert selbst und Rabener, deren Briefwechsel ohne ihr Wissen veröffentlicht wurde.28 Dass ein Brief, der der Öffentlichkeit preisgegeben wird, nicht zwangsläufig für diese bestimmt sein muss, erklärt die Notwendigkeit des Gellertʼschen Briefstellers. Die Schreiber waren sich stets bewusst, dass über ihren Brief, insbesondere den ästhetischen Gehalt, ein Urteil gefällt werden konnte, und nahmen die Möglichkeit zu Anleitungen und Mustern daher an.29 In den siebzehnhundertsiebziger Jahren wird der gemäßigte Tonfall der Gellertʼschen Musterbriefe nicht mehr überall bedingungslos akzeptiert – es entsteht ein neues Ideal des natürlichen Ausdrucks, das von Unmittelbarkeit und emphatischem Stil gekennzeichnet ist. Sowohl die Empfindsamen, die den Anspruch erheben, dass Empfindungen und Gedanken „in der privat-intimen Briefkommunikation […] ohne jeden Rest, ohne Brechung mit dem Gesagten übereinstimmen“ sollen,30 als 28 Zu der unberechtigten Veröffentlichung der Briefkorrespondenz Gellert – Rabener vgl. VELLUSIG, 2000, S. 297ff. 29 „Wenn es als Lob gilt, Briefe zu verfassen, die ‚bis zum Druck schön‘ (Gellert) sind, muß die Vorstellung noch wenig vertraut sein, durch die Veröffentlichung freundschaftlicher Briefe Grenzen der Diskretion zu überschreiten.“ (ebd., S. 64f.) Vgl. auch WEGMANN, 1988, S. 80, der die Problematik des nachlässigen Umgangs mit der Intimsphäre im ausgehenden 18. Jahrhundert thematisiert. 30 WEGMANN, 1988, S. 76. Zum Brief der Empfindsamen vgl. auch ebd., Kapitel 6: Ausformulierung, Expansion, Geltungsgewinn – das Feld der empfindsamen Rede, S. 71-97.

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auch der Sturm und Drang31 wenden sich von Gellerts Briefideal ab. Ungeachtet dieser Distanzierungen stellt Gellerts Briefsteller mit seiner Forderung nach natürlichem Ausdruck ein Fundament für alle weiteren Entwicklungen des privaten Briefs dar. Die Entwicklung der Brieffreundschaften, die sich auch in jenen Kreisen bildeten, ist nicht zuletzt auf den Erfolg und die Verbreitung von Gellerts Briefsteller zurückzuführen.32

Literatur ANTON, ANNETTE C., Authentizität als Fiktion: Briefkultur im 18. und 19. Jahrhundert, Stuttgart/Weimar 1995. ARISTOTELES, Rhetorik, in: Aristoteles Werke in deutscher Übersetzung, hg. von HELLMUT FLASHAR, Bd. 4,1: Rhetorik, Berlin 2002. ARTO-HAUMACHER, RAFAEL, Gellerts Briefpraxis und Brieflehre. Der Anfang einer neuen Briefkultur, Heidelberg 1996. BEHRENS, JÜRGEN, Briefwechsel zwischen Klopstock und den Grafen Christian und Friedrich Leopold zu Stolberg, Neumünster 1964. VOSS, JOHANN HEINRICH, Brief an [Ernst Theodor Johann] Brückner vom 17. November 1774, in: DERS.: Briefe. Nebst erläuternden Beilagen, Bd. 1, hg. von ABRAHAM VOSS, 2. Aufl., Leipzig 1840, S. 177-187. EIERMANN, WALTER, Gellerts Briefstil, Greifswald 1911.

31 In einem Brief von Johann Heinrich Voß an [Ernst Theodor Johann] Brückner vom 17. November 1774 heißt es: „Gellert schreibt leicht, aber nicht schoen. Er nimt von unsrer starken Sprache nur den kleinen Theil von Worten, die man gebraucht, ein franzoesisches Buch (nicht zu uebersezen) zu parafrasiren; naehert sich dem Ton der Gesellschaft, der durchaus nichts taugt, wo der Schriftsteller nicht eben das im Sinn hat, diesen, wie jede andre Sache aus der Natur um uns, nachzuahmen; nimmt leicht zu fassende Gegenstaende, und gießt dann sein ewiges unausstehliches Wassergeschwaez in solchem Überflusse darueber, daß die dumme Eitelkeit, die doch auch gern viel und schnell verstehn oder lesen will, vollkommen befriedigt wird.“ (VOSS, 1840, S. 185) 32 Musterbeispiel für eine derartige, von emphatischem Stil gekennzeichnete Brieffreundschaft ist die Korrespondenz von Ludwig Gleim und J. G. Jacobi, ebenso die frühe Korrespondenz der Brüder Stolberg. Vgl. hierzu BEHRENS, 1964, S. 123ff.

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GELLERT, CHRISTIAN FÜRCHTEGOTT, Moralische Vorlesungen, Bd. 2, hg. von JOHANN ADOLF SCHLEGEL und GOTTLIEB LEBERECHT HEYERN, Leipzig 1770. GELLERT, CHRISTIAN FÜRCHTEGOTT, Gedanken von einem guten deutschen Briefe, an den Herrn F. H. v. W, in: DERS., Gesammelte Schriften. Kritische, kommentierte Ausgabe, Bd. 4: Roman, Briefsteller, hg. von BERND WITTE u. a., Berlin/New York 1989a, S. 99104. GELLERT, CHRISTIAN FÜRCHTEGOTT, Briefe, nebst einer praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen, in: DERS.: Gesammelte Schriften. Kritische, kommentierte Ausgabe, Bd. IV: Roman, Briefsteller, hg. von BERND WITTE u. a., Berlin/New York 1989b, S. 105-221. JUNCKER, CHRISTIAN, Der wohl-informierte Briefsteller, Oder Gründl. Anleitung, wie ein Brief geschickt abzufassen; Vermittelst Kurtzen Regeln und Deutlichen Exempeln, Zu besonderem Nutzen der studirenden Jugend auf Gymnasiis und andern Schulen, in Fragen und Antworten genzeiget, Leipzig 1709. KANT, IMMANUEL, Kritik der Urteilskraft, in: Immanuel Kants Werke, Bd. 5: Kritik der Praktischen Vernunft, hg. von OTTO BUEK, Berlin 1922. NEUKIRCH, BENJAMIN, Benjamin Neukirchs galante Briefe und Getichte, Coburg 1695. NICKISCH, REINHARD M. G., Brief (Sammlung Metzler 260), Stuttgart 1991. REINLEIN, TANJA, Der Brief als Medium der Empfindsamkeit. Erschriebene Identitäten und Inszenierungspotentiale (Epistemata 455), Würzburg 2003. SCHAUBERT, JOHANN WILHELM, Anweisung zur regelmäsigen Abfassung Teutscher Briefe und besonders der Wohlstandsbriefe, hg. von M. JOHANN WILHELM SCHAUBERT, Jena 1751. SPÄTH, SIBYLLE, Vom beschwerlichen Weg zur Glückseligkeit des Menschengeschlechts. Gellerts Moralische Vorlesungen und die Widerstände der Realität gegen die empfindsame Gesellschaftsutopie, in: „Ein Lehrer der ganzen Nation.“ Leben und Werk Christian Fürchtegott Gellerts, hg. von BERND WITTE, München 1990, S. 151171.

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STOCKHAUSEN, JOHANN CHRISTOPH, Johann Christoph Stockhausens Grundsätze wohleingerichteter Briefe, nach den besten Mustern der Deutschen und Ausländer; nebst beygefügten Erläuterungen und Exempeln, Helmstädt 1751. VELLUSIG, ROBERT, Schriftliche Gespräche. Briefkultur im 18. Jahrhundert (Literatur und Leben 54), Wien/Köln/Weimar 2000. WEGMANN, NIKOLAUS, Diskurse der Empfindsamkeit. Zur Geschichte eines Gefühls in der Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1988. WITTE, BERND u. a. (Hg.), Einzelkommentare. 3. Briefe, nebst einer praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen, in: CHRISTIAN FÜRCHTEGOTT GELLERT, Gesammelte Schriften. Kritische, kommentierte Ausgabe, Bd. 4: Roman, Briefsteller, hg. von BERND WITTE u. a., Berlin/New York 1989, S. 272-327.

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Stilisiertes Leben? Tagebuch-Stil um 1900 JÖRG SCHUSTER

Der Begriff ‚Stil‘ erfährt um 1900 eine erstaunliche Um- und Aufwertung. In der Antike als rhetorischer Terminus auf die elocutio, die sprachliche Ausgestaltung der Rede, bezogen und erst um 1600 auf Bildende Kunst und Musik übertragen, wird ‚Stil‘ nun allgegenwärtig. Ins Blickfeld rücken – als soziologische Kategorie etwa bei Georg Simmel – Phänomene wie ‚Lebensstil‘ oder ‚Stil des Daseins‘.1 Insbesondere von den Theoretikern des Jugendstils wird der ‚Stil‘ auf geradezu messianische Weise zum Programm erhoben. So proklamiert der Maler und Architekt Peter Behrens in seiner Schrift Feste des Lebens und der Kunst 1900: Wir gehen einer – Unserer Kultur entgegen. Darum werden wir einen neuen Stil haben, einen eignen Stil in allem, was wir schaffen. Der Stil einer Zeit bedeutet nicht besondere Formen in irgendeiner besonderen Kunst; jede Form ist nur eines der vielen Symbole des inneren Lebens, jede Kunst hat nur teil am Stil. Der Stil aber ist das Symbol des Gesamtempfindens, der ganzen Lebensauffassung einer Zeit, und zeigt sich nur im Universum aller Künste.2

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Vgl. ROSENBERG, 2003, S. 648f. BEHRENS, 1984, S. 101.

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Mit dem ‚Stil‘ ist somit ein Ganzheitsanspruch verbunden: Es handelt sich auf emphatische Weise um einen Singularbegriff, der das Partikulare, die „besondere[n] Formen in irgendeiner besonderen Kunst“, transzendiert. An die Stelle des Eklektizismus, des Nebeneinanders heterogener Stilarten im vorausgegangenen Historismus des späten 19. Jahrhunderts tritt der Jugendstil als „Einheitsstil“3 mit seiner homogenen, als zeitgemäß-dynamisch empfundenen Formensprache aus Linien und abstrakt-floralen Ornamenten und mit seinem Anspruch, auf die Herausforderungen der industriellen Moderne mit einer adäquaten Ästhetik zu reagieren; Architektur und Kunstgewerbe übernehmen, wie Harry Graf Kessler schreibt, die Aufgabe, „die neue, noch ungeschlachte Welt den Sinnen und Gefühlen an[zu]passen, den Gegensatz zwischen ihr und dem Fühlen auf[zu]heben, die Wirklichkeit lieben [zu] lehren.“4 Der emphatische Glaube an die Einheit geht aber weit über das Überwinden eines anachronistischen Eklektizismus hinaus; der Singularformulierung „Stil einer Zeit“ entspricht bei Peter Behrens die Einheit dessen, was er symbolisiert, ihm entspricht das Statuieren eines „Gesamtempfindens, der ganzen Lebensauffassung einer Zeit“: „Die Vorstellung vom Einheitsstil“, so konstatiert Georg Bollenbeck im Blick auf die Jahrhundertwende, „ist Teil einer Ganzheitsmentalität“.5 Das Telos ist „eine organisch und harmonisch verfasste Wirklichkeit, wo alles in einem einheitlichen, als monistisch gedachten Lebensstrom verwoben sein soll und die Menschen und Dinge sich in den Rhythmus des Ganzen einzuschwingen haben.“6 Es ist alles andere als ein Zufall, dass ‚Stil‘ um 1900 häufig mit einem anderen monistischen Zentralbegriff der Zeit, dem ‚Leben‘, verknüpft ist. Eng ist der Jugendstil als künstlerische Erneuerungsbewegung mit der ‚Lebensreform‘ und deren heroisch-ganzheitlichem Körper- und Naturkult, ihrer Suche nach neuen, zeitgemäßen Lebensformen verknüpft, die sich radikal vom protzigphiliströsen und repressiven Klima des Wilhelminismus abheben sollen. Bei genauerem Hinsehen sind ‚Leben‘ und ‚Stil‘ jedoch auf problematische Weise miteinander verknüpft. So schildert Hugo von Hof-

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BOLLENBECK, 1986, S. 216. KESSLER, 1903, S. 315f. BOLLENBECK, 1986, S. 218. FRITZ, 1994, S. 221.

Stilisiertes Leben?

mannsthal in seinem Essay Algernon Charles Swinburne einen scharfen Kontrast zwischen der Realität und einer stilisierten Kunstwelt: „In Wirklichkeit“, so schreibt er, „rollt draußen das rasselnde, gellende, brutale und formlose Leben.“7 Dem „formlose[n]“ wirklichen Leben steht das ästhetizistisch stilisierte Leben als schroffe Antithese gegenüber: Swinburne und dem Kreis der Praeraffaeliten, so Hofmannsthal, werde „das Leben erst lebendig, wenn es durch irgendeine Kunst hindurchgegangen ist, Stil und Stimmung empfangen hat.“8 Nur als bereits Kunst gewordenes, als „formgewordenes“9 interessiert hier das Leben. Ästhetizismus erscheint nach diesem Verständnis als ein „kunsttheoretisches Konzept […], das die Formalisierung und die ästhetische Stilisierung als Mittel ansieht, ‚Leben‘ erfahrbar zu machen.“10 Dabei ist das Programm, eine neue lebendige Schönheit zu schaffen und Kunst neu zu beleben, […] in erster Linie auf stilistische Mittel angewiesen. Die ‚Beseelung‘ der Dinge kann der Künstler nur durch eine Stilisierung erreichen, die seinen Gegenstand als Symbol des ‚Lebens‘ ausweist.11

Deutlich handelt es sich hier um eine Reduktion des Lebens-Begriffs. Auch wenn der Jugendstil durch Dynamik und geschwungene Linien geprägt ist, auch wenn die symbolistische Poesie wirkungsvoll enigmatische Bilder und Stimmungen evoziert – immer geht es um eine artifizielle (und elitäre) Stilisierung, die weit entfernt ist vom dionysischen Rausch, wie ihn Nietzsche in der Geburt der Tragödie idealisiert hatte – obwohl die philosophisch-ästhetische Glorifizierung des ‚Lebens‘ um 1900 sich zumeist auf Nietzsche beruft. Vor diesem Hintergrund scheint es sinnvoll, auf die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs ‚Stil‘ im Sinne der Schreibart, der spezifischen Gemachtheit von Texten zurückzukommen. Was bedeutet ‚Stil‘ als Beschreibungskriterium für Texte im Hinblick auf die Stilisierung des Lebens um 1900, wie ist das Verhältnis von ‚Leben‘ und ‚Stil‘ in Texten der Jahrhundertwende konkret zu fassen – auf welche Weise wird hier ‚Leben‘ textuell inszeniert? Diese Fragen wurden bislang zumeist in 7 8 9 10 11

HOFMANNSTHAL, 1979, S. 144. Ebd., S. 143. STREIM, 1996, S. 2. Ebd., S. 25. Ebd., S. 29.

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Bezug auf literarische Werke wie etwa Hofmannsthals frühe lyrische Dramen (Der Tod des Tizian, Der Tor und der Tod) gestellt, in denen die Stilisierung des Lebens explizit thematisiert wird. Kritisch gefragt wurde ferner, ob der Begriff ‚Jugendstil‘ auf literarische Texte der Jahrhundertwende übertragen werden könne.12 Demgegenüber sind ‚Gebrauchs‘-Texte wie Tagebücher, die traditionell als Darstellung des Lebens gelten und in stilistischer Hinsicht über keine festen Gattungsnormen verfügen,13 bislang kaum auf das Problemfeld hin analysiert worden. Wurde für die Diaristik der Zeit um 1800 die textuelle Erfindung und Inszenierung von Subjektivität als spezifische Strategie herausgearbeitet,14 so wurde nach der Machart und Funktion von Tagebüchern um 1900 bislang kaum gefragt;15 vielmehr wurden sie als bloße Dokumente für die gesellschaftliche Krisensituation um 1900 sowie für das Problem der Identität bzw. Diskontinuität des Ich herangezogen.16 Gerade was die Abgrenzung der Diaristik um 1900 gegenüber der Tagebuchkultur von der Empfindsamkeit bis zur Romantik betrifft, sollte der Stil als maßgebliche Kategorie in den Blick genommen werden, löst er doch bereits bei Flaubert als „manière absolue de voir les choses“17 das Subjekt als höchste Instanz der Wahrnehmung ab. Der Frage, inwiefern an die Stelle des Subjekts um 1900 der Stil als konstitutives Element der Diaristik tritt, soll im Folgenden in der Analyse exemplarischer Passagen aus Tagebüchern Rainer Maria Rilkes, Franziska zu Reventlows und Harry Graf Kesslers nachgegangen werden. Zu untersuchen ist dabei im genauen Blick auf die Texte insbesondere, in welchem Zusammenhang bisherige Stereotypen der Forschung wie

12 Vgl. BLASBERG, 1998. 13 Vgl. SCHÖNBORN, 1999, S. 21. 14 Vgl. ebd. Allgemeine einführende Literatur: BOERNER, 1969; WUTHENOW, 1990; DUSINI, 2005; GOLD, 2008. 15 Ansätze wie der Aufsatz von MILLER, 1992, der Wahrnehmungstechniken und Literarisierungstendenzen bei Diaristen wie Edmond und Jules de Goncourt, Jules Renard sowie Harry Graf Kessler in den Blick nimmt, sowie bemerkenswerte Einzelstudien zu den Tagebüchern Franz Kafkas (vgl. GUNTERMANN, 1991; ROTHER, 1995; MARKEWITZ, 2006) oder Robert Musils (vgl. WAGNER-EGELHAAF, 1991) stellen Ausnahmen dar. 16 Vgl. LE RIDER, 2002. 17 Brief von Gustave Flaubert an Louise Colet vom 16.1.1852 (FLAUBERT, 2001, S. 8); vgl. hierzu GUMBRECHT, 1986, S. 762.

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Subjekt-Krise und Ich-Zerfall mit dem Ganzheits-Anspruch des Lebens-Stils um 1900 stehen.18

1. „ Alles w urde stilvoller“ – Ein Eintrag aus Rai ner Maria Rilkes ‚Schmargendorfer Tagebuch‘ Rainer Maria Rilke ist von der literaturwissenschaftlichen Forschung bislang kaum als Tagebuchautor wahrgenommen worden. Verantwortlich dafür sind editorische Gründe: Außer den bereits 1942 publizierten, teilweise an die Freundin Lou Andreas-Salomé gerichteten frühen Diarien, den sogenannten ‚Florenzer‘, ‚Schmargendorfer‘ und ‚Worpsweder‘ Tagebüchern der Jahre 1898 bis 1900,19 wurde bislang nur eines der von Rilke geführten „Taschenbücher“ herausgegeben.20 Im Folgenden wird Rilkes Tagebuchaufzeichnung vom 10. September 1900 analysiert, die im sogenannten ‚Schmargendorfer Tagebuch‘ enthalten ist. Seit Ende August hielt sich Rilke als Gast des Malers Heinrich Vogeler in dessen Haus „Barkenhoff“ in Worpswede auf, wo er Beziehungen zu den Mitgliedern der Künstlerkolonie, insbesondere zu Paula (Modersohn-) Becker und zu seiner späteren Frau Clara Westhoff, aufbaute. Der Eintrag beginnt folgendermaßen: „10. September / Ich gebe wieder eine Gesellschaft. Einen schönen Augenblick gab es … ganz in Weiß kamen die Mädchen vom Berg aus der Heide.“ (RMR: 214) Fasst der erste Satz den Eintrag inhaltlich zusammen und stellt durch das

18 In diesem Zusammenhang bemerkt Edmund Husserl in seiner zwischen 1913 und 1917 entstandenen Abhandlung Die Konstitution der geistigen Welt: „Freilich gibt es einen Sinn, von Individualität als Gesamtstil und Habitus des Subjekts zu sprechen, der als eine zusammenstimmende Einheit durch alle Verhaltungsweisen […] hindurchgeht […]. […] wirklich einheitliche Person ist das Ich […], wenn es einen gewissen durchgängigen einheitlichen Stil hat“ (HUSSERL, 1984, S. 108 [Herv. i. O. durch gesperrten Druck]); vgl. auch GUMBRECHT, 1986, S. 765. 19 RILKE, 1942; im Folgenden zitiert als RMR; Ausschnitte wurden bereits in der Ausgabe Briefe und Tagebücher aus der Frühzeit 1899 bis 1902 (RILKE, 1931) veröffentlicht; vgl. SCHOOLFIELD, 1994; ENGEL, 2004, S. 498f., S. 533. 20 RILKE, 2000.

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temporale Adverb „wieder“ die Verbindung zu vorhergehenden Aufzeichnungen dar,21 so nimmt der folgende Satz, vom Präsens ins Präteritum wechselnd, proleptisch den Höhepunkt der Schilderung vorweg: „Einen schönen Augenblick gab es …“ In nuce sind in diesen ersten Sätzen bereits zentrale Momente des gesamten umfangreichen Tagebucheintrags vorhanden: Mit dem Subjekt „Ich“ und der „Gesellschaft“ stehen sich die beiden Pole gegenüber, die im Folgenden eine spannungsvolle Konstellation bilden; indizierend ist jedoch, dass Subjekt und „Gesellschaft“ hier zu Beginn noch keine Antithese bilden, da das Ich das soziale Ereignis initiiert und arrangiert. Durch die Erwähnung des „schönen Augenblick[s]“ wird ferner bereits angedeutet, auf welche Weise die bald zutage tretende Spannung zwischen dem diaristischen Ich und der „Gesellschaft“ schließlich gelöst werden wird. Dabei wird der „eine[] schöne[] Augenblick“ durch die Inversion sowie durch das Stilmittel der reticentia („gab es …“) emphatisch hervorgehoben. Stilistisch miteinander verknüpft sind das arrangierende Subjekt und der antizipierte Höhepunkt des „schönen Augenblick[s]“ schließlich durch das Polyptoton „gebe“/„gab“. Auffallend ist in den ersten Sätzen des Eintrags ferner die ausgeprägte, an lyrisches Sprechen erinnernde rhythmische Bewegung. Der wiederum mit einer Inversion beginnende Satz: „ganz in Weiß kamen die Mädchen vom Berg aus der Heide“ enthält drei Daktylen; jede der ersten drei zitierten Phrasen endet rhythmisch auf die gleiche Weise, mit einem Daktylus und einem Jambus („eine Gesellschaft“; „Augenblick gab es“; „Berg aus der Heide“). Der Eindruck lyrischen Sprechens wird noch unterstützt durch die Assonanz der Vokale „e“ und „i“. Stilisiert wie die Sprache ist aber auch der Gegenstand der Beschreibung: Durch ihre weißen Kleider wirken die „Mädchen“ wie Gestalten eines Jugendstilgemäldes. Die gesamte Szenerie, wie sie vom diaristischen Subjekt wahrgenommen wird, erweckt den Eindruck einer Choreographie. Der Text wirkt dabei auch in dem Sinne rhythmisch, dass er immer im Wechsel Gruppen und Einzelpersonen wie die mit der Antonomasie „die blonde Malerin“ (RMR: 214) benannte Paula Becker vorführt. Vorläufiger Höhepunkt ist das Eintreten Clara Westhoffs: „Als wir eben in der dunkeln Diele standen und uns aneinander gewöhnten, 21 So heißt es am 4. September 1900: „Ich gebe Gesellschaften.“ (RMR: 198).

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kam Clara Westhoff.“ (RMR: 214) Wird ihr Erscheinen bereits sprachlich hervorgehoben, indem es durch den ersten innerhalb des Eintrags auftretenden temporalen Nebensatz („als…“) spannungsvoll vorbereitet wird, so gilt ihrem Äußeren im Folgenden eine ausführliche, an Epitheta reiche Beschreibung, in der die Adjektive ‚weiß‘ und ‚schön‘ aus der Anfangspassage leitmotivisch wieder aufgegriffen werden: „Sie trug ein Kleid aus weißem Batist ohne Mieder im Empirestil. Mit kurzer, leicht unterbundener Brust und langen glatten Falten. Um das schöne dunkle Gesicht wehten die schwarzen, leichten, hängenden Locken, die sie, im Sinn ihres Kostüms, lose läßt zu beiden Wangen.“ (RMR: 214) Durch die „langen glatten Falten“ ihres Kleids und die Rahmung des Gesichts durch die „hängenden Locken“ wird Clara Westhoff als Jugendstilgestalt par excellence geschildert. Gesteigert wird das Lob Claras noch, indem, wiederum in Verbindung mit einem durch die Konjunktion „als“ eingeleiteten temporalen Nebensatz, ihre Wirkung auf die Umgebung beschrieben wird: „Das ganze Haus schmeichelte ihr, alles wurde stilvoller, schien sich ihr anzupassen, und als sie oben bei der Musik in meinem riesigen Lederstuhl lehnte, war sie Herrin unter uns.“ (RMR: 214) Diese Passage verfolgt durch Begriffe wie „das ganze“, „alles“, „Herrin“ nicht nur die rhetorische Strategie der amplificatio; vorgeführt wird hier – durch stilistische Mittel wie die Anthropomorphisierung – auch jene Ganzheitswirkung, wie sie um 1900, insbesondere von Vertretern des Jugendstils, dem ‚Stil‘ zugesprochen wird: „[A]lles“ passt sich der schönen „Herrin“ an, „schmeichelt[]“ ihr, wird „stilvoller“ – Claras ‚Ausstrahlung‘ wird als Emanation von Schönheit und Stil geschildert. Tatsächlich projiziert der Diarist hier durch den Kunstgriff der Anthropomorphisierung seine eigenen Emotionen auf die Objekte – nicht das Haus, sondern seine Wahrnehmung des Hauses ist durch Clara Westhoff verändert.22 Wie das diaristische Ich sie auf der Handlungsebene inthronisiert, indem es ihr den Platz auf seinem „riesigen Lederstuhl“ überlässt, so glorifiziert es sie im Tagebuchtext durch die Art seiner Beschreibung. Die ‚reale‘

22 Es handelt sich somit bei Rilkes diaristischer Technik bezeichnenderweise um exakt das gleiche auf der Entreferentialisierung der Sprache beruhende Spiel der Umkehrungen, das Paul de Man als spezifisch für Rilkes Lyrik bezeichnet hat. Vgl. DE MAN, 1994, S. 52-90.

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Inszenierung der abendlichen Gesellschaft antizipiert das textuelle Arrangement und steht in engem Zusammenhang mit ihm. Dabei geht Rilke noch einen Schritt weiter, indem er Claras Schönheit wiederum als abhängig von etwas noch Höherem beschreibt: Ich sah sie an diesem Abend wiederholt schön. Im Lauschen, wenn die manchmal zu laute Charakteristik des Gesichtes gebunden ist an Unbekanntes. Dann prägt sich der Rhythmus des unterdrückten horchenden Lebens in ihrer Gestalt, leise wie unter Falten, aus. Sie wartet, ganz hingegeben, auf das, was sie nun erleben soll … (RMR: 214)

Wie sich die Umgebung der „Herrin“ anpasst, so ist diese „hingegeben“, abhängig von ‚etwas Unbekanntem‘. Durch die Musik werden die Grenzen des Subjekts transzendiert: An die Stelle des Gesichts, in dem sich das Individuell-Charakteristische „zu laut[]“ manifestiert, tritt in der Beschreibung der ‚ganzheitliche‘ Begriff der „Gestalt“, in der sich etwas ‚Höheres‘, das „Leben[]“ als Zentralbegriff der Epoche, rhythmisch artikuliert.23 Wiederum in der Stilfigur des Polyptoton wird der Begriff „Leben[]“ gleich noch einmal mit dem Verb „erleben“ aufgegriffen. Doch was Clara ‚erlebt‘, ist nicht das Leben, sondern – Rilkes kurz zuvor in der elitären Jugendstil-Zeitschrift PA erschienene lyrisch-dramatische Szene Die weiße Fürstin, die er der Gesellschaft vorträgt: „Da war es sehr gut, ‚Die weiße Fürstin‘ zu lesen. Ich hatte selbst einen starken Eindruck von Klang und Kraft“. (RMR: 214)24 Das „Leben[]“, an das sie sich hingibt, ist die Kunst in Gestalt von Rilkes Dichtung; das Resultat dieser Hingabe ist wiederum Claras Schönheit, wie sie Rilke wahrnimmt und kunstvoll im Tagebuch festhält. Unterstrichen wird die artifizielle Szenerie durch den archaisch-poetischen Stil der Beschreibung mit der einleitenden Konjunktion „Da“ und der Alliteration „Klang und Kraft“. Doch die ästhetizistisch stilisierte Einheit ist nicht von Dauer, die Idylle wird durch einen Antipoden, den Schriftstellerkollegen Carl 23 Vgl. LUBKOLL, 2002. 24 Das in Bezug auf Clara formulierte Credo der passiven Hingabe wird, in klanglich-poetisch höchst virtuoser Ausgestaltung, bezeichnenderweise auch in der Weißen Fürstin proklamiert: „Man soll nicht weinen und man soll nicht lachen; / hingleiten soll man wie ein sanfter Nachen / und horchen auf des eignen Kieles Spiel.“ (RILKE, 1996, S. 117)

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Hauptmann gestört: „es war nur schade, daß das sofort einsetzende Theoretisieren Carl Hauptmanns mich zwang zu reden, wobei denn auch nichts herauskam.“ (RMR: 214) An die Stelle der Einheit tritt die scharfe Antithese von „Klang und Kraft“ auf der einen und fruchtlosem „Theoretisieren“ auf der anderen Seite. Dem kann – aus der Perspektive der idealisierten Mädchen – nur mit die Sprache transzendierendem Glauben begegnet werden: „Die Mädchen sprachen nicht mit. Sie glaubten alle an die ‚Weiße Fürstin‘.“ (RMR: 214f.) Dennoch ist die Antithese fortan das entscheidende Textprinzip. Es wird nicht mehr chronologisch erzählt, vielmehr geht es um die Entfaltung der Antithese zwischen dem Diaristen und dem Dichterkollegen Carl Hauptmann bzw. der „Gesellschaft“. Hierzu werden zunächst exempla in Form intertextueller Verweise angeführt. Goethes MignonLied „So laßt mich scheinen, bis ich werde…“ wird einem „Lied mit schauerlichem Text“ (RMR: 215), Franz von Schobers von Schubert vertontem Lied An die Musik („Du holde Kunst…“), gegenübergestellt. Beide Lieder stehen paradigmatisch für zwei einander entgegengesetzte Kunstauffassungen: Während Mignon die künstliche Erscheinung ist, wirkt die Kunst bei Schober als äußerliche Kompensation, „entrückt“ sie in die bloße Illusion einer „beßre[n] Welt“.25 Entsprechend handelt es sich, wenn Rilke das Mignon-Lied hört, um ein singuläres, existenzielles Kunsterlebnis: „Ich habe nur eines mitgelebt am ganzen Abend, das war das Goethegedicht mit dem großen, geheimnisvollen Anfang: ‚So laßt mich bleiben [scheinen], bis ich werde …‘“ (RMR: 215)26 Der zentrale Begriff des ‚Lebens‘ wird hier durch einen bewussten Verstoß gegen die latinitas, die Sprachrichtigkeit, in den Vordergrund gerückt: Das Verb ‚mitleben‘ wird transitiv gebraucht, was – wie die Inthronisierung Claras und das ihr zugeführte Kunst-Erlebnis der Weißen Fürstin – 25 Die erste Strophe lautet: „Du holde Kunst, in wieviel grauen Stunden, / wo mich des Lebens wilder Kreis umstrickt, / hast du mein Herz zu warmer Lieb entzunden, / hast mich in eine beßre Welt entrückt!“ SCHOBER, 2007, S. 9. 26 Dieses Lied Mignons aus Goethes Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre (GOETHE, 1989, S. 515f.) ist mit dem Tagebucheintrag in mehrfacher Hinsicht intertextuell verbunden, so allein schon durch das Motiv des weißen Kleids („Zieht mir das weiße Kleid nicht aus!“); von den Versen „Und keine Kleider, keine Falten / Umgeben den verklärten Leib“ lässt sich ein Bezug zur Aussage über die ‚horchende‘ Clara herstellen, in deren Gestalt sich das eigentliche Leben „leise wie unter Falten“ (RMR: 214) auspräge.

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den aktiven Charakter des Diaristen innerhalb dieser Kunstwelt unterstreicht. Wie der am Beginn des Eintrags erwähnte ‚eine schöne Augenblick‘ impliziert dabei auch das ‚eine am ganzen Abend mitgelebte Gedicht‘, dass das ‚Leben‘ in seiner emphatischen Form ekstatisch aus dem alltäglichen Verlauf der Zeit herausgehoben ist. Demgegenüber möchte der Gegenspieler Carl Hauptmann, der sein Drama Die Waldleute „seit Wochen um und um schreibt“, das „schauerliche[..]“ Lied „immer wieder“ (RMR: 215) hören. Die Musik dient seiner literarischen Produktion auch nur als äußerliches Stimulanzmittel. Wie profan Hauptmanns Kunstverständnis ist, äußert sich für den Tagebuchschreiber vor allem darin, dass er „um Mitternacht“ nach einem Trinklied verlangt. Die Schilderung wird an dieser Stelle zur Philistersatire, die in Form einer prägnanten Ellipse mit dem Befund: „schauerliches Ende deutscher Geselligkeit“ (RMR: 216) schließt. Dem von Hauptmann verlangten Trinklied kontrastiert dabei wiederum, dass Rilke sich mit der Sängerin über Giacomo Leopardi unterhält und diese „mit ihrer noch vom Gesange bereiten Stimme schwermütige italienische Worte wiederholte aus einem schönen Gedicht.“ (RMR: 215) Generell besteht die Antithese zwischen der tanzenden und Wein trinkenden Gesellschaft und dem einsam beobachtenden Außenseiter: „Ich war unglaublich einsam. Mir schien, als gingen die Worte gar nicht auf mich zu, als liefen sie immer im Kreis um die Lachenden herum.“ (RMR: 216) An die Stelle der Einheit im Zeichen der Kunst, des hingegebenen Horchens tritt der gesellschaftliche Leerlauf, das Beisammensein entgleitet dem Arrangeur und wird „zufallsvoll, dumm und ulkig“ (RMR: 215). Glücklicherweise klingt der Abend aber doch noch den Vorstellungen des Diaristen entsprechend aus, was allein schon durch die beiden leitmotivischen Adjektive ,schön‘ und ,weiß‘ signalisiert wird: „Aber das Ende war doch noch schön, und die Mädchen in Weiß haben das gemacht.“ (RMR: 216) An die Stelle des Zufalls tritt wieder das Gemachte, Hervorgebrachte, die poiesis. Doch aktiv in Sachen Schönheit sind wiederum nicht nur die Mädchen, auch der Gastgeber trägt entscheidend dazu bei, indem er nun den zu Beginn bereits erwähnten „schönen Augenblick“ arrangiert:

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Stilisiertes Leben? Ich öffnete die Tür meines Zimmers, welches blau und kühl wie eine Grotte dunkelte. Ich stieß mein Fenster auf, und da kamen sie zu dem Wunder und lehnten hell in die Mondnacht hinaus, die ihre lachheißen Wangen kalt umgab. […] … Und so standen sie an meinem Fenster, und alle sie, die ich vor einer Weile nur ungern in meine Stube gelassen hätte, als ihre Lustigkeit sie verzerrt hatte, sie brachten jetzt ein Geheimnis herein mit dem, was sie lebten, und ich war ihnen dankbar für ihre Schönheit, die mein großes Fenster weiß, einfach umfaßte. – (RMR: 216)

Der mystisch-sakrale Charakter des Tagebucheintrags erreicht hier, durch die Evokation von „Wunder“ und „Geheimnis“ wie durch den biblischen Stil („und da kamen sie“, „und so standen sie“, „und alle sie“), einen Höhepunkt. Das durch die Stilfigur der Anapher hervorgehobene „ich“ wirkt dabei wie ein Priester oder Tempelwärter, der Zugang zum Allerheiligsten gewährt – durch das Öffnen von Tür und Fenster initiiert er gleich auf doppelte Weise eine Schwellenüberschreitung. Der sakrale Bereich ist allerdings kein Tempelinneres, sondern die Außenwelt der Mondnacht. Wieder werden hier Menschen und Umgebung als eng aufeinander bezogen geschildert. Passte sich zu Beginn die Umgebung der „Herrin“ Clara Westhoff an, so führt nun die Außenwelt eine Veränderung der Gäste herbei. Die „kalte Mondnacht“ kühlt die „lachheißen Wangen“, nach der ‚Verzerrung‘ durch die „Lustigkeit“ herrscht nun heiliger Ernst, indem die Gäste in die kühle, dunkle Atmosphäre erst der Zimmer-Grotte, dann der Mondnacht getaucht werden. Das sich so offenbarende „Geheimnis“ ist wiederum mit dem transitiv aufgefassten ‚Leben‘ verknüpft: „sie brachten jetzt ein Geheimnis herein mit dem, was sie lebten“. Dabei erscheint die Außenwelt, die ähnlich ausführlich geschildert wird wie zu Beginn Clara Westhoff, als das aktive Moment, das nun die Einheitserfahrung herbeiführt: „die Stimmung [fasst] sie [die Gäste], der ganze Ton dieser Nebelnacht mit dem fast vollen Monde über den drei Pappeln, diese Stimmung von mattem beschlagenem Silber macht sie wehrlos“. (RMR: 216) Was als Einheit und Ganzheit der Natur geschildert wird, erscheint bei genauerem Hinsehen aber wiederum höchst artifiziell. Bereits die „Stimmung von mattem beschlagenem Silber“ wirkt kunstgewerblich. Die gesamte Szene ist als

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Bild arrangiert; das Verb „lehnen“ ist nicht in der üblichen, Aktivität implizierenden reflexiven Form („sich lehnen“) gebraucht, die Gäste „lehnen“ vielmehr wie Karyatiden „hell in die Mondnacht hinaus“. Insbesondere indem die Szene vom Fenster gerahmt wird, wirkt sie wie ein Gemälde, es handelt sich, wiederum durch das Doppelleitmotiv ‚schön‘ und ,weiß‘ markiert, um ein Bild von großer künstlicher Schönheit: „und ich war ihnen dankbar für ihre Schönheit, die mein großes Fenster weiß, einfach umfaßte.“ (RMR: 216) Die hierauf folgende Abschiedsszene stellt eine erneute Klimax dar, sie ist in höchstem Maße sakral-erhaben stilisiert. Der „Vorplatz mit den kleinen Urnen“ liefert das geeignete ,setting‘, der Himmel wird zu „den […] Himmeln“ amplifiziert, das Schlagwort „weiß“ wird zum Neologismus „überweiß“ (RMR: 217) gesteigert. Fand zuvor, ganz konkret durch das Aufstoßen von Tür und Fenster, eine Öffnung zur Umgebung der Natur hin statt, so schließt diese sich nun auf magische Weise als Raum ab: „Gleich dahinter hatte sich der Nebel geschlossen. Wie vor einer mattsilbernen Türe in seiner Wand standen die Bäume.“ (RMR: 217) Und war im bisherigen Verlauf der Eintragung durch den Vortrag von Dichtung und Musik sowie durch die artifiziellen Arrangements des Diaristen ein poetisch-ästhetischer Sonderbereich etabliert worden, so wird dieser nun auf die Ganzheit der Umgebung projiziert. Die Welt ist selbst zur Poesie, zum „Mondmärchen“ (RMR: 217), geworden, das auch die partizipierenden Akteure in fiktive Gestalten transformiert. Eine universale Verwandlung ins Ätherisch-Unwirkliche hat stattgefunden, die Umgebung ist zur transzendenten, unzugänglicharkanen Region geworden, die aber auf paradoxe Weise die Betrachter mit umfasst: Alle waren leicht und schlank. Schritte und Stimmen störten nicht mehr; nicht berührt von uns, stand die silberne Welt, von anderen Wesen bewohnt, unter den kühlen Himmeln, und wir waren nicht wirklich, solange dieses Mondmärchen, mit seinen Sternen und Gestalten, dauerte. (RMR: 217)

Die Schilderung der von Rilke gegebenen Gesellschaft ist damit beendet. Ist diese durch Ästhetisierung und Sakralisierung bereits in höchstem Maße stilisiert, so ist im Folgenden nochmals eine ästhetische

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Überhöhung und Idealisierung zu konstatieren, zunächst durch die Integration einer anderen Textsorte, eines Gedichts („Mädchen, Dichter sind, die von euch lernen…“; RMR: 217f.). Auch wenn der Text damit Züge eines Werkstatt-Tagebuchs annimmt – ein Teilaspekt, der für Rilkes frühe Diarien durchaus relevant ist –, handelt es sich keineswegs um einen ersten, unausgearbeiteten Entwurf, sondern um ein fertiges Produkt, das ohne größere Änderungen 1902 in Rilkes Buch der Bilder veröffentlicht wurde. Inwiefern das zuvor geschilderte Erlebnis konkret als Inspiration für dieses Gedicht angesehen werden kann, muss dahingestellt bleiben; auf der Ebene des Textes bilden die vorausgegangene Schilderung und das Gedicht eine komplexe Responsionsstruktur. Insbesondere wird das Motiv der (weißen) „Mädchen“ aufgegriffen, die nun apostrophiert werden, hinzu kommen Momente wie die „Stube“ und die „Sterne“ der nächtlichen Szenerie. Von zentraler Bedeutung ist wiederum das „Leben“, das das lyrische Ich an den „fernen“ Mädchen „lernt“. Allerdings ist die Situation des Gedichts gegenüber der vorhergehenden Beschreibung radikalisiert, indem das Ich hier programmatisch einsam bleibt: „Laßt ihn einsam sein in seinem Garten, […] seine Sinne suchen / eure weiße Führerschaft nicht mehr“. (RMR: 217) Im gleichen Maße wie die Entfernung steigt aber auch die Idealisierung der Mädchen als „Ewige“ und der Wunsch, dieses Ideal von der profanen Menge fernzuhalten: Das „zärtliche Gedenken[..]“ „leidet / im Gefühle, daß euch viele sehn …“ (RMR: 218) Die „Mädchen“ werden somit als reines poetisches Ideal ausgestellt, das von der Realität und von der Zeitlichkeit fern gehalten wird, sie dürfen – auch für das lyrische Ich – nicht zu „Frauen“ werden. Diese Argumentation wird im Gedicht „Dies schien mir lang wie eine Art von Tod …“, das den Tagebucheintrag abschließt (RMR: 219-221), mutatis mutandis auf das lyrische Ich selbst übertragen, das seinen Sonderstatus als „Jüngling“ nicht verlieren möchte. Dass es sich thematisch um komplementäre Gedichte handelt („Mädchen“, „Jüngling“), unterstreicht nochmals das innerhalb des Tagebucheintrags immer wieder angestrebte Ideal der Ganzheit. Nach dem Gedicht „Mädchen, Dichter sind, die von euch lernen…“ wird das Motiv der Mädchen nochmals auf den Bereich der „Erfahrung“ zurückübertragen: „Das ist so herrlich als Erfahrung, und dafür lieb ich Mädchen so sehr, daß man sie schauen muß wie wachsende Blumen. Nicht allein, für sich; neben anderen und immer eingefügt in

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das Land und in große himmlische Zusammenhänge“. (RMR: 218) Es geht somit, wenn auch auf einer ähnlichen Stilhöhe wie am Schluss der vorhergegangenen Nachtschilderung, nur auf einer sehr abstrakten Ebene um „Erfahrung“; vielmehr wird hier das Credo vom Zusammenspiel von Mensch und Umgebung, das im ersten Teil des Eintrags entfaltet wurde, nochmals reflektiert. Abermals wird, insbesondere durch die hierauf folgenden exempla, die Nähe zum Ganzheitskonzept des Jugendstils deutlich: Die „Mädchen“ sind Teil einer Gesamtkomposition, „in Wiesen und an Wassern, die voll zitternder Bilder sind, unter rauschendem Regen und in klar gewordenen weiten Abenden. Man kann keine Mädchen sehen ohne eine ganze Landschaft“. (RMR: 218) Die Poetisierung, etwa durch die „W“-Alliteration und den Archaismus „an Wassern“, ist hier wiederum ebenso deutlich wie die sakrale Stilisierung, etwa wenn die Mädchen mit den „seligen Wiesen“ (RMR: 218) verglichen werden. Bevor der Tagebucheintrag mit dem bereits erwähnten zweiten Gedicht endet, kehrt der Diarist noch einmal zur Ausgangssituation, seinem Aufenthalt im Haus Vogelers, in dem er Gesellschaften gibt, zurück; auch das zur Beschreibung der Mondnacht angeführte Motiv des Märchens („Mondmärchen“) und die leitmotivischen Adjektive ,weiß‘ und ,schön‘ werden wieder aufgegriffen: „Eigentlich ist das ein Märchen. Ich sitze in einem ganz weißen, in Gärten verlorenen Giebelhaus unter schönen und würdigen Dingen“. (RMR: 218) Abermals werden diese „Dinge“ der häuslichen Umgebung anthropomorphisiert: „Ich sitze in seinen [Vogelers] träumerischen Stühlen, […] und seine Uhren sprechen mich an wie den Herrn“. (RMR: 218) Wie zu Beginn Clara Westhoff ist nun das sich im fremden Haus aufhaltende diaristische Subjekt „Herr[]“ der Umgebung, genauer: es ist „wie“ der Herr. Mit feierlicher Regelmäßigkeit wie die Uhren huldigen aber auch die Gäste dem Herrn. Die Schilderung dieses Rituals bildet, auf den Beginn des Eintrags zurückweisend, den Abschluss der Überlegungen: Da wohne ich einsam, wartend immer, sechs Tage lang. Und am siebenten empfange ich im weißen Saal bei zwölf Kerzen, die in hohen silbernen Leuchtern stehn, die ernstesten Männer der Gegend und sehr schöne schlanke Mädchen in Weiß, die, wenn ich sie bitte, Lieder spielen und singen und sich zusammensetzen, in feinen Empirestühlen, und die

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Stilisiertes Leben? vornehmsten Bilder sind und der köstlichste Überfluß und die süßesten Stimmen dieser flüsternden Zimmer … (RMR: 218)

Noch einmal werden hier sämtliche Register der Stilisierung gezogen, nicht nur durch das Aufgreifen des Leitmotivs der „sehr schöne[n] schlanke[n] Mädchen in Weiß“ und durch die Fülle an superlativischen Epitheta („ernstesten“, „vornehmsten“, „köstlichste“, „süßesten“). Das Warten auf den siebten Tag und die zwölf Kerzen sind von einer geradezu aufdringlichen religiösen Symbolik; abermals ist die Umgebung anthropomorphisiert (,flüstern‘) und wird auf diese Weise die Einheit zwischen ihr und den Menschen, die sich in ihr aufhalten, hergestellt. Und wie in der Fensterrahmenszene sind die Gäste – nun explizit – „die vornehmsten Bilder“. Überdeutlich wird hier aber auch nochmals die Funktion des Diaristen. Sie besteht darin, dem „Zufall“ der Wirklichkeit Herr zu werden, die Gesellschaft zum Bild zu arrangieren – als Akteur innerhalb der geschilderten Handlung, aber insbesondere auch als Diarist, der sie im Nachhinein artifiziell stilisiert. Die Stilisierungsstrategien auf der Handlungsebene und auf der Ebene der Beschreibung sind dabei kaum auseinanderzuhalten; das Ergebnis ist ein Text, der durch eine Fülle von Stilmitteln wie Anthropomorphismus, Archaismus, Anapher, Polyptoton, Rhythmus und Klang eine artifiziell-sakrale Ganzheit des Lebens erzeugt.

2. „Ich halte mich noch grandi os zusamm en“: Franziska zu Reventlow s Tagebuchaufzeichnungen aus dem Her bst 1902 Das Tagebuch Franziska zu Reventlows wirkt auf den ersten Blick weitaus weniger stilisiert und weitaus ‚lebenshaltiger‘ als die analysierten Aufzeichnungen Rilkes. Hier wird kein sakral-ästhetizistisches Gemälde arrangiert, sondern das Leben der Münchner Bohème um 1900 in seiner Intensität und Vitalität wiedergegeben. Dies äußert sich bereits in der Vielzahl der geschilderten Beziehungen; allein in den im Folgenden interpretierten Aufzeichnungen von September bis Dezember 1902 tauchen der Philosoph Ludwig Klages, der Kunstgewerbler Bohdan von Suchocki, der Geologe Albert Hentschel und der Rechtsanwalt Alfred 249

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Friess als ehemalige oder gegenwärtige Liebhaber auf, hinzu kommen unzählige Freunde und Bekannte. Es gibt neben Reventlow sogar noch eine weitere veritable Hauptperson, ihren fünfjährigen Sohn Rolf; durch ihn erfährt das Tagebuch eine perspektivische Erweiterung, die kindliche Sicht der Dinge ist, teilweise durch wörtliche Rede, in den Text integriert. Auch die thematische Spannbreite der Aufzeichnungen ist enorm, sie reicht von der eigenen literarischen Produktion (hier: der Fertigstellung des Romans Ellen Olestjerne) über Gespräche etwa mit Klages bis hin zur Schilderung von Alltagssorgen wie krankhafter Nervosität, teilweise handgreiflichen Auseinandersetzungen mit dem Sohn, Geldmangel, Wohnungslosigkeit und Kälte. Der inhaltlichen Vielfalt entspricht eine gegenüber Rilkes Aufzeichnungen weitaus größere stilistische Heterogenität. Generell ist die Stilebene mit dem genus medium weniger hoch als dort; es finden sich umgangssprachliche Wendungen wie: „auch wieder so ein angenehmes Gefühl“27 oder: „So geht es nicht – habe nicht genug Ruhe Herrgott“ (FR: 274), daneben zumeist ironisch gewendete religiöse oder biblisch konnotierte Redensarten wie „Mein Gott erlöse mich von dem Roman“ (FR: 271), „noch einmal wieder der Kelch, den ich schon vorüber glaubte“ (FR: 274) oder „Heulen und Zähneklappen“ (FR: 276). Daneben gibt es aber auch Passagen, die sich durch einen höheren, pathetisch-hyperbolischen Stil auszeichnen, etwa: „Ein Tag mit tiefem Glück“ (FR: 267), „Alles wie ein sonniger Festtag […]. Göttertier unendlich geliebtes“ (FR: 270) oder: „um alles in der Welt noch ein paar stille Tage bleiben und es in mich trinken.“ (FR: 273) Vor allem entspricht der Stil weitaus eher dem, was man herkömmlich unter ‚tagebuchartig‘ versteht, als dies bei Rilke der Fall ist. Es 27 REVENTLOW, 2007, S. 275. Im Folgenden zitiert als FR. Es grenzt an einen editorischen Skandal und spricht für die Nachlässigkeit, mit der das Genre ‚Tagebuch‘ noch immer häufig behandelt wird, dass ein so wichtiges Dokument wie Reventlows Tagebuch bis zum Erscheinen dieser Ausgabe im Jahr 2006 nur in Editionen vorlag, die einen gegenüber dem handschriftlichen Original völlig entstellten Text präsentierten. Dies gilt noch für die Ausgabe des Tagebuchs in den Sämtlichen Werken in fünf Bänden (REVENTLOW, 2004), die lediglich eine leicht überarbeitete Fassung der von Reventlows Schwiegertochter Else Reventlow herausgegebenen, auf manipulative Weise unvollständigen und fehlerhaften Ausgabe von 1971 darstellt. Auf diese bezieht sich naturgemäß auch noch die als Einführung trotzdem brauchbare Monographie von SZÉKELY, 1979, S. 215-258.

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handelt sich um einen Notizstil, der sich insbesondere durchgehend durch Ellipsen auszeichnet, hinzu kommen Aufzählungen und ein häufig parataktischer Satzbau. Die zahlreichen Antonomasien und Spitznamen für die erwähnten Personen („Maus“ und „Bubi“ für den Sohn, „Monsieur“ für Alfred Friess, „Rodi“ für Roderich Huch, „Baschl“ für Helene von Basch, „Adam“ für Albert Hentschel), weisen auf den privaten Charakter der Aufzeichnungen hin, oder, genauer formuliert: sie etablieren einen eigenen Text-Kosmos. Auch die Funktion des Tagebuchs entspricht, zumindest teilweise, gängigen gattungstheoretischen Vorstellungen; es dient der exhortatio, der Selbstermahnung, so etwa, wenn sich Reventlow vornimmt, den Sohn nicht unter ihrer literarischen Arbeit leiden zu lassen: „Ich will die wenige Zeit wo ich mit ihm bin mich an ihm freuen und ihn froh machen, ihm Märchen […] und Göttergeschichten erzählen, mit ihm spielen.“ (FR: 268) Ganz pragmatisch geht es auch um Fragen der Lebensorganisation, die im Tagebuch überdacht werden: „Andere Einrichtung gemacht – bringe Morgens die Maus in den Kindergarten, gehe dann zu Brockdorffs und schreibe dort“. (FR: 274) Und noch ein anderes Klischee, speziell zum Tagebuch um 1900, scheint sich hier zu bestätigen: die Zerrissenheit und Inkohärenz des diaristischen Subjekts, das insbesondere unter seiner mit der literarischen Produktion zusammenhängenden Nervosität leidet: „Schrecklich nervös manchmal, fürchte mich am hellen Tage, diese Schreiberei richtet mich sicherlich zu Grund, wenn ich nicht rechtzeitig herauskomme.“ (FR: 268) Auch in diesem Zusammenhang praktiziert das Tagebuch die Strategie der Selbstüberredung: „‚Kommst du denn nimmer hinaus über die hohen hohen Berge?‘ – Es scheint nicht, denn Alles zersplittert wieder – nach Klages neuer Theorie bin ich das, wo [sic!] zersplittert aber es ist nicht wahr – aber ich halte mich noch grandios zusammen“. (FR: 275) In der Tat gibt es einige textuelle Strategien, die der im Tagebuch selbst thematisierten Zerrissenheit entgegenwirken. Insbesondere ist der Text um den Zentralbegriff der ‚Liebe‘ organisiert. Bereits der Eintrag vom 17. September 1902 verbindet mit diesem Begriff die Stilmittel Antithese, Polyptoton, Hyperbel und Klimax: „Kl[ages] meint, ich hätte wenig Liebe, aber ich möchte vergehen vor Liebe zu dem kleinen Geschöpf und auch zu den großen.“ (FR: 267) Ähnlich hyperbolisch heißt

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es über „Monsieur“ Alfred Friess: „wenn ich nur dürfte, ich wollte ihn überschütten mit Liebe.“ (FR: 267) Auch in Bezug auf den Sohn Rolf ist „Liebe“ der Schlüsselbegriff: „Wie haben wir zwei uns lieb, o Gott meine Maus“. (FR: 278) In enger Verbindung damit stehen Begriffe wie Freude („Ganz zerstreut und abwesend vor lauter Freude“, FR: 269) und Glück („Ein Tag mit tiefem Glück“, FR: 267; „Ich bin ganz schwindlig vor Glück“, FR: 267; „In einer Art glückseligem Rausch“, FR: 272). Vor allem aber scheinen Heterogenität und Zerrissenheit durch die für den Text konstitutive Dynamik überdeckt. Inhaltlich werden Bewegung und Vitalismus als Ideale proklamiert, insbesondere als pädagogisches Prinzip gegenüber dem Sohn: Manchmal bin ich auch unzufrieden mit der dicken bequemen stabilen Maus, ich möchte daß er klettern und springen sollte wie eine Katze, er muß morgens mit mir Turnübungen machen und da werde ich leicht ungeduldig, wenn er gar so schwerfällig ist. Eines Morgens erfreut er mich durch Purzelbäume, ich war einen ganzen Tag glücklich darüber. (FR: 268)

Andauernd ist im Text vom „Laufen“ die Rede: „ein ewiges Hin und Herlaufen, aber es ist nicht anders zu machen und das viele Laufen thut mir ganz gut.“ (FR: 274) Der Tagebuch-Stil entspricht genau der Dynamik des geschilderten Lebens. Schon allein indem sich die Aufzeichnungen, anders als bei Rilke und vielen anderen Tagebuchschreibern, häufig nicht jeweils auf einen Tag beziehen, sondern die Ereignisse mehrerer Tage oder sogar Wochen wiedergeben und dabei nur manchmal durch eine Datumsangabe unterbrochen werden, entsteht der Eindruck von Dynamik und Atemlosigkeit. Auch die auffälligste Stilfigur, die Ellipse, ist in diesem Zusammenhang zu interpretieren. Generell dient dieses Stilmittel, im Tagebuch wie etwa auch im Telegramm, „der Sprachökonomie“,28 sie reduziert den Zeitaufwand für das vermeintlich ohnehin nur zum privaten Gebrauch vorgesehene Schreiben. So ist in einem Tagebuch die ständige Wiederholung der ersten Person Singular verzichtbar, auch Hilfsverben können oft wegfallen. Die Funktion der Ellipse geht aller28 MATUSCHEK, 1994, Sp. 1017.

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dings weit über diesen pragmatischen Aspekt hinaus. Ihr Verwenden bedeutet zwar das „Auslassen […] all dessen, was für die Aussage nur formal-syntaktischen, aber keinen semantischen Wert hat“, 29 sie besitzt selbst jedoch durchaus semantischen Wert, insbesondere als „Ausdruck der Emotionalität“, der „Erregung“.30 Im Falle des Tagebuchs dient sie, unabhängig vom Affekt, vor allem als Gattungs-Signal; völlig unabhängig davon, ob ein Text tatsächlich flüchtig und für den privaten Gebrauch geschrieben wurde, wird durch dieses Stilmittel der Eindruck erweckt, als handle es sich um eine flüchtige Notiz. Analog ist die Tatsache, dass Reventlows Tagebuch wirkt, als würde es an der Dynamik ihres Lebens geradezu partizipieren, auf stilistische Phänomene wie insbesondere die Ellipse zurückzuführen, die den Effekt absoluter Dynamik und Atemlosigkeit erzielen – unabhängig davon, ob die Notizen tatsächlich in Eile entstanden.31 Bei aller inhaltlichen Heterogenität vermittelt somit der Stil des Tagebuchs die Einheit eines vitalistischen Grundgefühls. Was das Problem der Heterogenität und Zerrissenheit betrifft, ist ferner die Häufung adversativer Konjunktionen und Adverbien auffallend. Ein zentrales Schlagwort lautet „doch“; so heißt es über die Liebe zu „Monsieur“: „es wühlt mich auf und macht mich doch still und froh“ (FR: 267), oder: „Ich bin ganz schwindlig vor Glück – über nichts eigentlich und doch.“ (FR: 267) Und auch vom Sohn Rolf heißt es, „daß er doch immer weiß daß ich ihn so lieb habe.“ (FR: 268) Das adversative „doch“ ist weit davon entfernt, unüberbrückbare Antithesen oder die Zerrissenheit des diaristischen Subjekts zum Ausdruck zu bringen. Vielmehr tragen die adversativen Konstruktionen als Stilmittel entscheidend zur Dynamik des Textes bei, das „und doch“ perpetuiert immer wieder den Text und steigert die Intensität des geschilderten Lebens. Erst durch die Darstellung gegensätzlicher oder komplementärer Momente wird der Eindruck einer spannungsvollen Fülle und Ganzheit erzeugt, die immer wieder auseinanderzufallen droht, sich aber doch „grandios zusammenhält“. 29 Ebd. 30 Ebd. 31 Dass die Ellipse im Tagebuch auch einen völlig anderen Effekt erzielen kann, demonstriert etwa ein Blick auf die Diarien Thomas Manns, wo sie häufig eher den Charakter des buchhalterisch-redundanten Protokollierens des täglichen Lebens zum Ausdruck bringt.

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So erscheinen im September, am Übergang der Jahreszeiten, Sommer und Herbst als Einheit: „Herbstduft in der Ferne aber in der Sonne ist es noch Sommer“ (FR: 267) – eine Feststellung, die sofort auf die eigene „Lebensjahreszeit“ übertragen wird: „es ist doch erst Mitte Juli.“ (FR: 267) Immer wieder verbinden sich die Gegensätze zur Einheit, in Phasen des Wohlbefindens etwa wird „jede Last zum allerhöchsten Plaisir.“ (FR: 269) Insbesondere die Schilderungen von Gefühlen neigen zu höchster Komplexität, so subsumiert Reventlow in Bezug auf Klages ein „Gemisch von Sehnsucht, Zorn, Abneigung, Abgestoßensein etc. pp. Last not least das Gefühl daß man mich nicht mehr braucht, bei Seite gelegt hat, und etwas Bitternis, die nicht mit Wollust gemischt ist.“ (FR: 275) Durch den gesamten Tagebuchtext ziehen sich hyperbolische Formulierungen, die auf Ganzheit zielen: „Sehe alle Morgen vom Bett aus die Sonne aufgehen“ (FR: 267), „ich war einen ganzen Tag glücklich darüber“ (FR: 268), „mit der Maus in sämtliche Schaukeln und Caroussels“ (FR: 269), „einen ganzen dunklen Regensonntag auf dem Sopha“ (FR: 269), „Möchte den ganzen Tag singen“ (FR: 273), „was für eine Unsumme von Verstimmtheit, Nervosität, Unruhe etc.“ (FR: 273). Dennoch bleiben Antithesen bestehen, wie etwa die Spannung zwischen dem die Nerven schädigenden literarischen Schreiben und dem ‚Leben‘: „Möchte hinaus, hinaus ins Gebirge mit Bubi und Rucksack von einem Ort zum andern laufen, und muß schreiben.“ (FR: 271) Bei näherem Hinsehen stellen allerdings auch Dichtung und Leben keineswegs einen unversöhnlichen Widerspruch dar, vielmehr wird die eigene Situation der Ruhelosigkeit und Unbehaustheit auch immer schon im Medium des Literarischen wahrgenommen, wie allein schon das integrierte Hölderlin-Zitat „auf keiner Stätte zu ruhen“ (FR: 273)32 belegt. Problemlos scheint auch der Leseunterricht, den Reventlow dem Sohn erteilt, mit dem vitalistischen Lebenskonzept zu harmonieren, da Sinnlichkeit und Körperlichkeit auch hier im Vordergrund stehen: „Meine Erläuterungsmethode: wenn man einen Finger in Tinte steckt und ein Tipferl draufthut, ist es ein i. 2 Finger in Dinte ohne ein Tipferl e, etc.“ (FR: 271)33 Generell spielen Dichtung und antike Mythologie 32 Es handelt sich um ein Zitat aus Hyperions Schicksalslied: „Doch uns ist gegeben, / Auf keiner Stätte zu ruhn“ (HÖLDERLIN, 1992, S. 745.) 33 Reventlows Beschreibung bezieht sich auf die Kurrentschrift.

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eine zentrale Rolle im gemeinsamen Leben mit dem Sohn Rolf. Ständig werden „Märchen […] und Göttergeschichten“ (FR: 268) erzählt, wird „das ‚Götterbuch‘ durch[geschaut]“ (FR: 272) oder der „trojanische[..] Krieg […] erzähl[t]“ (FR: 273). In diesem Zusammenhang kommt es zu ernsthaften Streitigkeiten, da Rolf monotheistische Anwandlungen zeigt, an Allerseelen mit der Nachbarsfamilie in die Kirche gehen möchte und gerne Geschichten über das „Jessas Kindl“ (FR: 272) hört. Es kommt daraufhin zur „große[n] Auseinandersetzung über lieben Gott und Götter. Male ihm vor wieviel schöner die sind, so viele, so schön, überall und dafür nur ein greulicher lieber Gott mit langem Bart“. (FR: 272) Dass Rolf schließlich einlenkt und verspricht, nicht mehr in die Kirche zu gehen, ist im Kontext der sonstigen Schilderungen keine Überraschung – zu sehr ist die heidnische Mythologie ein Teil des mütterlichen Lebensentwurfs. Insbesondere die Spiele des „Göttertiers“ sind stark von diesen poetisch-mythologischen Vorgaben beeinflusst: „Bubi klettert auf einen Steinblock und ist Zeus, wir die Titanen“. (FR: 269) Im Grunde genommen liefert Rolf so gar keine zweite Perspektive innerhalb des Tagebuchs, sondern fungiert als Spiegel der Mutter. Rolf ist nicht nur wie sie ‚literarisch‘ tätig, sondern teilt in seinem im Tagebuch wiedergegebenen ersten Gedicht auch ihr heidnisches Credo: „Es giebt keinen Gott / Hi ha hi / Es giebt nur Götter“. (FR: 270) Den Adversativkonstruktionen vergleichbar, handelt es sich auch beim Sohn Rolf um einen nur scheinbaren Widerpart. Deutlich äußert sich dies in der sprachlichen Gestaltung der Dialoge: „Maus, wenn ich kein Geld mehr hab, muß ich mich aufhängen. – Aber dann hängst du mich auch mit auf.“ (FR: 268) Durch die Wiedergabe der kindlichen Perspektive werden noch Geldnot und Selbstmord zum Bestandteil eines heiteren Spiels. Der Witz dieser Dialogsequenz verdankt sich in stilistischer Hinsicht einer Paronomasie, einem Wortspiel. Durch dieses Stilmittel wird aber nicht nur ein komischer Effekt erzielt, es zeugt vielmehr abermals davon, wie sehr der Sohn gerade in sprachlicher Hinsicht ein reines Spiegelbild der Mutter ist – eine Komplementärgestalt, die in der sprachlichen Inszenierung einer vitalistischen, heidnisch-heiteren Lebenswelt mit der Diaristin zur Einheit verschmilzt. Das grandiose „Zusammenhalten“, das die Gefahr des Ich-Zerfalls bannt, verdankt sich dem Etablieren einer Textwelt, in der Mutter und Sohn, spielerisch in

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eine mythologische Götterwelt eingebettet, alle Widerstände des harten Alltagslebens überwinden.

3. „Ein seltsames Ballett, in dem über die Physi onomie der Zeit bestimmt w ird“: Harry Graf Kesslers Tagebucheintrag vom 26. November 1907 Harry Graf Kesslers umfangreiches, von 1880 bis 1937 geführtes Tagebuch ist eher mit den Aufzeichnungen Franziska zu Reventlows zu vergleichen als mit denjenigen Rilkes. Es zeichnet sich nicht wie diese durch sakrale Stilisierung, sondern wie jene durch Dynamik und Lebensfülle aus. Und wie im Fall Reventlows schließt dies keineswegs aus, dass das Tagebuch am modernen Diskurs des Ich-Zerfalls teilnimmt, ganz im Gegenteil: „Ich habe Zeiten“, notiert Kessler am 10. September 1900, in denen mein Interesse an meinem Gesamtleben, an aller Zukunft und Vergangenheit, auf Null steht, während die Augenblicksinteressen ebenso lebhaft anziehen wie jemals; die Existenz verläuft dann in einer Aufeinanderfolge von Anregungen ohne Zusammenhang; galvanisierte Froschschenkel. Fragmentarisches Auflodern der Lebenslust auf einem eintönig grauen Untergrunde.34

Diese „Aufeinanderfolge von Anregungen“ charakterisiert Kesslers Diaristik; bei weitgehendem Aussparen des eigenen ‚Innenlebens‘, der eigenen Emotionalität, brilliert sein Tagebuch in der exakten Schilderung des sinnlich Wahrgenommenen – so in den virtuosen Reiseschilderungen oder in den scharfen Porträts der illustren Zeitgenossen, mit denen er verkehrte. Daneben stehen gleichberechtigt luzide zeit- und kulturgeschichtliche Reflexionen. Kesslers Zeitdiagnostik und seine spezifische Form der Wahrnehmung sind dabei aufs engste miteinander verbunden. Ein – gerade in stilistischer Hinsicht – besonders eindrucks34 KESSLER, 2004, S. 317f. [Herv. i. O. durch Unterstreichung]. Zu Harry Graf Kesslers Tagebuch vgl. NEUMANN, 1997; SCHUSTER, 2006.

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volles Beispiel dafür ist der Eintrag vom 26. November 1907. Hier wird eine Modenschau, die er zusammen mit seiner Schwester Wilma in Paris besucht, ästhetisch als Ballett rezipiert – als ein Ballett, aus dem der Diarist den Charakter der Zeit abzulesen vermag. Der Eintrag setzt mit einer stichwortartig-elliptischen Zusammenfassung ein: „Den Tag bei den Schneiderinnen mit Gee [Wilma]: Sœurs Callot, Worth, Doucet, Drecoll.“35 Es handelt sich um die exakte und vermutlich vollständige namentliche Auflistung der Modeschöpfer, die Kessler an diesem Tag mit seiner Schwester zusammen besucht hat, in Form einer asyndetischen Reihung. Zu diesem kargen Aufzählungscharakter bildet die Fortsetzung des Eintrags mit der detailgenauen Schilderung einer beobachteten Modenschau einen deutlichen Kontrast: Schöne Mädchen in den neusten Moden gehen langsam vorüber, kehren um, wenden sich nach allen Seiten, verschwinden. Das byzantinisch orchideenhafte der jetzigen Abend Mode, die weichen, schleierartigen Gewänder, die seltenen, raffinierten, blassen Farben stehen diesen schlanken, blassen Mädchen gut. (HGK: 371)

Es gibt in dieser Passage kein Substantiv ohne Epitheton, teilweise werden zwei oder drei Adjektive aneinandergereiht. Die Choreographie der Szene ist genau dargestellt, es entsteht sogar der Eindruck, als würden ihre Tempiwechsel wiedergegeben: Den schnellen Bewegungen entsprechen die kurzen, jeweils nur dreisilbigen Phrasen „kehren um“ und „verschwinden“, den langsameren oder länger dauernden choreographischen Szenen entsprechen die längeren Phrasen „gehen langsam vorüber“ und „wenden sich nach allen Seiten“. Die Genauigkeit der Darstellung manifestiert sich ferner darin, dass unterschiedliche Aspekte wie Bewegung, Farbe und Material berücksichtigt werden und dass zur Beschreibung verwendete Begriffe wie „byzantinisch“ und „orchideenhaft[]“ unterschiedlichen Wissensbereichen, in diesem Fall der Kunstgeschichte und der Botanik, entstammen. Nicht nur durch die Rhythmisierung der Beschreibung, sondern auch durch die semantische Übereinstimmung etwa zwischen dem „orchideenhafte[n]“, den „seltenen, raffinierten, blassen Farben“ und den „schlanken, blassen Mädchen“ wird dabei der Eindruck der Harmonie vermittelt. Unterstrichen 35 KESSLER, 2005, S. 371.

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wird dieser Eindruck durch die klangliche Gestaltung, das Überwiegen der hellen Vokale „e“ und „a“ sowie des Konsonanten „n“. Von dieser eindringlichen sinnlichen Schilderung wird im weiteren Verlauf des Eintrags zunehmend abstrahiert: „Man sitzt“, so wird das Gesehene unmittelbar anschließend gedeutet, „wie vor einem seltsamen Ballett, in dem über die Physionomie [sic!] der Zeit bestimmt wird.“ (HGK: 371) Das unpersönliche Pronomen „man“, der Vergleich („wie“), die abstrakten Begriffe „seltsam[]“, „Ballett“, „Physiognomie“ und „Zeit“ sowie die Genitivmetapher weisen auf eine distanziertere, reflexive Haltung hin, die das Beobachtete in einen größeren Kontext stellt. Das Moment der Sinnlichkeit wird jedoch auch auf dieser reflexiven Ebene beibehalten, indem dem Abstraktum „Zeit“ metaphorisch eine „Physiognomie“ zugesprochen wird. Das Ereignis ,Modenschau‘ wird hier auf doppelte Weise aufgewertet und semantisch aufgeladen. Durch den Vergleich mit der elitären Kunstgattung „Ballett“ wird sie zunächst zu einer Form der ‚Hochkultur‘ stilisiert,36 der aber, in einem zweiten Schritt, eine entscheidende Bedeutung generell für ‚die Zeit‘, insbesondere für die Alltagskultur, zugesprochen wird: Die vorgeführte Kleidung prägt das Gesicht der Zeit. Möglich wird diese Erkenntnis aber nur durch die Perspektive des Betrachters: Nur indem die Modenschau als ästhetisch konzentrierte Form, als „Ballett“ wahrgenommen wird, sagt sie etwas über die Zeit aus. Die theoretische Aussage über den Zusammenhang zwischen der vorgeführten Mode und der Zeit wird daraufhin sofort durch eine weitere sinnliche Schilderung belegt: „Zwischen den Traumgewandungen für den Abend werden unvermittelt knappe, fesche Strassenkleider gezeigt, Stoffe und Linien genau berechnet auf Regennasse Strassen, Eisenbahnen, Yachting, Automobil, eine Art von eleganten Ingenieur Arbeiten.“ (HGK: 371f.) Durch die Epitheta und asyndetischen Reihungen knüpft diese Beschreibung in ihrer stilistischen Intensität an den Beginn der Darstellung an. Die Schilderung wird hier noch genauer, indem die ‚unvermittelte‘ Antithese zwischen verschiedenen Formen der Kleidung, „den Traumgewandungen für den Abend“ und den „Strassenklei36 Bezeichnenderweise wird das ganz am Schluss des Eintrags erwähnte tatsächliche „Ballett“ weit weniger positiv beurteilt als die zum Ballett umgedeutete Modenschau. Über einen Auftritt der amerikanischen Tänzerin Loïe Fuller heißt es: „Bis auf einen Tanz auf einer von unten erleuchteten Glasscheibe Enttäuschungen.“ (HGK: 372)

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der[n]“, in den Blick gerät. Zur rhythmischen Bewegung der Modelle kommt nun also die rhythmische Abfolge verschiedener Arten von Mode hinzu. Wieder erweist sich der Diarist als höchst kompetenter Beobachter und Interpret, indem er die Funktionszusammenhänge, für die die vorgeführten Kleidungsstücke konzipiert sind, gewissermaßen ‚mitsieht‘, hinzudenkt und mit exempla wie „Strassen, Eisenbahnen, Yachting, Automobil“ belegt. Deutlich spielen hier kunsttheoretische Konzepte des Jugendstils eine Rolle. Kesslers Überlegungen entsprechen völlig dem Credo van de Veldes und seiner Kollegen, eine neue, der modernen Technik adäquate Formensprache zu finden und das Design von Gebrauchsgegenständen nach ihrer Funktion zu entwerfen. Es ist alles andere als ein Zufall, dass in diesem Zusammenhang einer der Zentralbegriffe des Jugendstils, die „Linie[]“, erwähnt wird. Indem die „Linien genau berechnet“ auf Funktionszusammenhänge, „auf Regennasse Strassen, Eisenbahnen, Yachting, Automobil“ sind, wird ein weiteres Mal durch ein stilistisches Element, die „Linie[]“, eine universale Einheit, eine Einheit zwischen Mensch und Umgebung hergestellt. Wiederum erfolgt daraufhin eine Abstrahierung von den konkreten Gegenständen der Beobachtung; aus der Antithese von „Traumgewandungen“ und „Strassenkleider[n]“ wird eine generelle Aussage über die Mode und, in einem weiteren Schritt, über die Zeit selbst abgeleitet: In diesem Gegensatz zwischen einem bis zum Perversen gehenden Esoterismus und einer schmucklosen aber eleganten Nützlichkeit scheint mir der Charakter der jetzigen Mode und vielleicht der Zeit selbst zu bestehen [...]. Das Besondre ist weder dieses Raffinement noch das ausschliesslich Praktische, sondern das gleichzeitige Ja und einsagen zur modernen Wirklichkeit; Ja und ein gehören zum Zeitcharakter wie zur modernen Mode: sie sind die zwei Seiten der Modernität. Vandevelde hat Unrecht, wenn er blos das Ja als ‚modern‘ gelten lässt. Die eine Achse der Modernität geht vom brutal Praktischen bis zur Eleganz, die andre vom brutal Protzigen bis zur Mystik; unten findet man den Autobus und den Kaiser, oben Vandevelde oder Whistler und Baudelaire oder Monticelli. Die Zeit umfasst Byzanz und Chicago, Hagia Sophia und Maschinenhalle; man versteht sie nicht, wenn man blos die eine Seite sehen will. (HGK: 372; Herv. i. O. durch Unterstreichungen)

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Aus der beobachteten Modenschau werden somit tatsächlich weitgehende zeitdiagnostische Befunde über das Miteinander der Gegensätze, die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in der Epoche vor dem Ersten Weltkrieg abgeleitet. Zur Verdeutlichung wird vor Hyperbeln (‚pervers‘, „brutal“) nicht zurückgeschreckt und werden zeitliche („das gleichzeitige“) und räumliche, zugleich eine Wertung implizierende Ordnungsmuster („unten“, „oben“) miteinander verbunden. Vor allem wird das sehr grundsätzliche Urteil über die eigene Zeit wiederum durch exempla plastisch illustriert, seien es Künstler wie van de Velde, Whistler, Baudelaire oder Monticelli, die hier metonymisch für die von ihnen vertretenen Kunstrichtungen stehen, sei es Kaiser Wilhelm II. oder seien es als kulturhistorische Chiffren verwendete Orte, Bauwerke oder Räume wie „Byzanz und Chicago, Hagia Sophia und Maschinenhalle“. Es handelt sich um einen Eintrag, der paradigmatisch für Kesslers Art des Tagebuchschreibens ist. Der Diarist begibt sich bewusst in eine bestimmte Situation, er nimmt an einer kulturell-sozialen Praxis, in diesem Fall einer Modenschau, teil, um sie exakt zu beobachten und anschließend in einer brillanten sinnlichen Beschreibung im Tagebuch festzuhalten. Die Schilderung hat mit ihrem parataktischen Stil, ihrer asyndetischen Reihung wie das Defilee der schönen, blassen Mädchen selbst etwas Rhythmisches und dadurch Leichtes, Schwebendes. Sofort erfolgt aber eine Abstraktion von der konkreten Situation. In der aktuellen Mode sieht Kessler die Gegensätze der Zeit verkörpert, das Miteinander von Esoterisch-Überfeinertem oder Protzigem auf der einen und modernem Utilitarismus auf der anderen Seite. Erst das Miteinander der Gegensätze ergibt dabei ein vollständiges Bild der Zeit, das aber nur als ästhetisches fassbar ist: in der als Ballett rezipierten Modenschau und in der artifiziellen Tagebuchschilderung. Vollständigkeit, Ganzheit und Einheit sind auch in theoretischer Hinsicht ein zentrales Thema in Kesslers Tagebüchern jener Zeit. Ob es sich um Kunstwerke, Personen oder Gesellschaftsformen handelt, Kesslers Urteil steht und fällt mit der Antwort auf die Frage, ob sie homogen erscheinen oder formlos in Teile zerfallen. Den Zentralbegriff der Epoche, das ‚Leben‘, aufgreifend, lautet seine Maxime:

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Stilisiertes Leben? Alles unter dem Gesichtswinkel des Lebens, der Form des Daseins, zu der es in Beziehung steht, ansehen; es bewerten, je nachdem das Leben, in das es sich einreiht, geschlossen ist oder auseinanderflattert, ([…] rein morphologisch im Hinblick auf die in der Zeit sich abzeichnende Form: ob die verschiedenen Momente einander widersprechen oder nicht, d. h. einander schwächen oder nicht ob es eine Einheit oder eine Vielheit ist.) (HGK: 503; 2.10.1908)

Unter diesem Gesichtspunkt erscheint Kesslers eigenes Leben, das er zumindest zeitweise als „Aufeinanderfolge von Anregungen ohne Zusammenhang“ empfindet, problematisch. Umso mehr gilt es, der Heterogenität im Tagebuch als ästhetischer Form Herr zu werden, denn: „Kultiviertsein heisst Herr Werden“,37 während ‚Barbarei‘ definiert wird als ein „Reichtum, dessen man nicht Herr wird.“38 Dies gilt insbesondere für die Kunst; dort „ist jede Wirkung, die sich nicht rhythmisch oder harmonisch ganz dem Werk einordnet, barbarisch. Diese Definition ist der Kontrastbegriff zu dem der Kultur als Ordnung, Harmonie, Rhythmus.“39 Genau mittels Ordnung, Harmonie und Rhythmus versucht Kessler in seinem Tagebuch als kultiviert-ästhetischem ‚Kunstwerk‘ der Heterogenität, Fülle und Widersprüchlichkeit ‚Herr zu werden‘, versucht er, die Gegensätze der Zeit zu erfassen und in ein kohärentes, artifiziell stilisiertes Gesamtbild zu integrieren. So unterschiedlich die analysierten Tagebuchtexte Rainer Maria Rilkes, Franziska zu Reventlows und Harry Graf Kesslers auch sind, so erweist sich doch für alle drei das komplexe Spannungsfeld von Leben und ästhetischer Stilisierung als konstitutiv. Alle drei Texte zeichnen sich durch Antithesen und Widersprüche aus. Bei Rilke handelt es sich um die Antithese zwischen dem einsamen ernsten Dichter und seiner durch weinselige Fröhlichkeit ‚entstellten‘ Umgebung; Franziska zu Reventlow fühlt sich aufgrund ihrer krankhaften Nervosität selbst zerrissen zwischen der literarischen Produktion und den Sorgen des Alltags; auch Harry Graf Kessler leidet unter der Ich-Dissoziation, doch reflektiert er

37 KESSLER, 2004, S. 527, 1.1.1903, [Herv. i. O. durch Unterstreichung]. 38 Ebd., S. 526. 39 Ebd., S. 526f.

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das Problem der Zerrissenheit und Widersprüchlichkeit zudem als Epochenproblem. In allen drei Texten werden diese Widersprüche jedoch ästhetisch aufgehoben – am deutlichsten bei Kessler: Hier wird versucht, die Zeit mit ihren Gegensätzen ‚als ganze‘ in den Blick zu nehmen, indem sie als ästhetisches Phänomen gefasst wird. Dies gilt gleichermaßen für die als Ballett wahrgenommene Modenschau wie für die Tagebuchaufzeichnung mit ihren Epitheta und asyndetischen Reihungen. Insbesondere das zentrale Moment des Rhythmus,40 durch das sich sowohl das Ballett als auch der Tagebuchstil auszeichnen, erlaubt es, die Gegensätze der Zeit als harmonisch-lebendiges Ganzes zu arrangieren. Auf ähnliche Weise ist für Rilkes und Reventlows Aufzeichnungen die Stilisierung des Lebens auf zwei unterschiedlichen, aber eng miteinander verknüpften Ebenen konstitutiv: Das Leben ist, wie die als Ballett wahrgenommene Modenschau, zum einen immer schon stilisiert, ästhetisch hergerichtet – bei Rilke, indem er als Gastgeber seine Gäste zum sakral-ästhetizistischen Gemälde arrangiert, bei Reventlow etwa, indem sie den Sohn im Zeichen antiker Mythologie vitalistisch-sinnlich erzieht. Ästhetisch hergerichtet ist das Leben zum anderen aber auch durch seine sprachliche Stilisierung in der Textwelt des Tagebuchs, durch Stilmittel wie Anthropomorphismus, Archaismus, Anapher, Klang und Rhythmus bei Rilke, durch dynamische Bewegung evozierende Ellipsen, asyndetische Reihungen und parataktischen Satzbau bei Reventlow. In allen drei Fällen antizipiert die Artifizialität der Erfahrung die ästhetizistische Stilisierung des Tagebuchtextes; und in allen Fällen wird somit auf doppelte Weise Heterogenes und Widersprüchliches zur ästhetischen Ganzheit stilisiert. Die analysierten Tagebuchtexte sind aus diesem Grund mit dem Konzept des Jugendstils in der Kunst und im Kunstgewerbe der Zeit vergleichbar. Sie teilen mit diesem nicht nur die ausgeprägte Tendenz zur Stilisierung; es handelt sich in beiden Fällen vielmehr auch um Formen der Gebrauchskunst mit einer konkreten pragmatischen Funktion. Der Stil dient in der Diaristik wie in Kunst und Kunstgewerbe dazu, die Umgebung, das Leben so zu gestalten, dass sie dem Subjekt erträglich, angenehm sind. Es geht darum, wie Harry Graf Kessler es ausdrückte, mittels Stilisierung die „Welt den Sinnen und Gefühlen 40 Vgl. LUBKOLL, 2002.

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an[zu]passen, den Gegensatz zwischen ihr und dem Fühlen auf[zu]heben, die Wirklichkeit [zu] lieben.“41 Nietzsches Maxime, „das Dasein und die Welt“ seien „nur als aesthetisches Phänomen […] ewig gerechtfertigt“,42 lautet, ins Lebensweltliche übersetzt, für die Zeit um 1900: Nur als stilisiertes ist das Leben unter den Bedingungen der Moderne erträglich.

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266

Textwelten des Vergleichs bei Rilke und George RALPH MÜLLER

Das Erlebnis der ersten Rilke-Lektüre beschrieb Robert Musil mit einer „beinahe schmerzlichen Spannung, wie eine gewagte Zumutung“.1 Für eine Feier des „größten Lyrikers, den die Deutschen seit dem Mittelalter besessen haben“2 mögen dies überraschend negative Worte sein. Andererseits ist „Zumutung“ ein interessanter Begriff, um die Herausforderungen des kreativen Sprachgebrauchs in Gedichten zu beschreiben. Insofern kann man kreative Abweichungen vom gewohnten Sprachgebrauch als eine besondere Art des Pflegens sozialer Beziehungen betrachten: Um als poetischer Text wahrgenommen zu werden, müssen Gedichte etwas im Leser auslösen.3 Gedichte erreichen dies insbesondere, indem sie den Lesern mehr zumuten als andere, stilistisch oder inhaltlich weniger anspruchsvolle Gattungen. Wird die Zumutung von Lesern angenommen, dann kann außergewöhnlich kreativer Sprachgebrauch ein Gefühl von Intimität und Vertrautheit zum Äußerungssubjekt erzeugen. Die Zumutung kann aber auch als Frechheit aufgefasst werden und zu schroffer Ablehnung führen. Diese Studie zeigt anhand der Konstruktion von Vergleichen in Gedichten diese Effekte auf. Hierzu werden die Konstruktionen von ,wie‘Vergleichen in politischen Reden und in Gedichten untersucht, um vor diesem Hintergrund darzustellen, wie sich Gedichte tendenziell gegen1 2 3

MUSIL, 2009, Bd. 9, S. 11. Ebd., S. 5. Vgl. COOK, 1994, S. 174.

267

Ralph Müller

über weniger kreativem Sprachgebrauch abheben. Weiterhin wird gezeigt, wie die dichterischen Werke von Rainer Maria Rilke und Stefan George bezüglich der Art und Weise des Zumutens in Vergleichen unterschiedliche Textprofile aufweisen.

1. Theor etische Grundlagen Die theoretische Grundlage dieser Studie ist die kognitive Poetik bzw. cognitive poetics.4 Die kognitive Poetik zieht auf der Grundlage der Kognitionswissenschaften Schlüsse bezüglich des Funktionierens von Literatur. Für die Analyse von uneigentlichen Vergleichen bietet sie nützliche theoretische Ansätze. So haben Studien zur Uneigentlichkeit dazu beigetragen, die Verbreitung von Uneigentlichkeit in Rede und Gedanken aufzudecken.5 Für diese Studie ist insbesondere relevant, dass die Grundstruktur von metaphorisch-analogischer Uneigentlichkeit im kognitiven Übertragen von Elementen eines Erfahrungsbereichs auf einen ganz anderen Erfahrungsbereich liegt (cross-domain mapping).6 Weniger bekannt sind kognitive Beiträge zur Analyse von Textwelten. Textwelten werden hauptsächlich in narrativen Texten untersucht7 und schon lange mithilfe von Begriffen wie ,erzählte Welt‘, ,Diegese‘8 oder im Rahmen einer ‚möglichen Welten-Semantik‘ diskutiert.9 Doch auch Gedichte (abgesehen von wenigen Fällen abstrakter Dichtung) erzeugen Textwelten.10 Das gilt nicht nur für erzählende Gedichte wie Balladen. Die meisten lyrischen Texte können als Textwelten gelesen werden. Der Begriff ,Textwelt‘ bedarf in dieser Hinsicht allerdings noch einer gewissen Präzisierung. Thomas Anz beschreibt Textwelten als mentale Repräsentationen bzw. „Vorstellungszusammenhänge“, die

4 5

Vgl. WINKO/KÖPPE, 2008, S. 300-312. Vgl. STEEN, 1994; STOCKWELL, 2002, S. 105-119; TSUR, 1987; TURNER, 1987. 6 Vgl. LAKOFF/TURNER, 1989. 7 Vgl. DENNERLEIN, 2009. 8 Vgl. GENETTE, 1994, S. 162f. 9 Vgl. DOLEŽEL, 1989; DERS., 1998; RYAN, 1991b; DIES. 1991a. 10 Vgl. ANZ, 2007.

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Textwelten des Vergleichs bei Rilke und George

von Texten in uns evoziert werden.11 Literarische Texte geben uns sozusagen nicht nur etwas zu denken, sondern auch etwas vorzustellen. Es gibt zwei unterschiedliche Herangehensweisen, um Textwelten zu beschreiben. Einerseits wird im Rahmen der empirischen Leserpsychologie untersucht, welche Details in einer Textwelt von Lesern verfolgt werden und wie gut sie erinnert werden.12 Andererseits gibt es Forschungen im Rahmen der kognitiven Poetik, die sich zwar typischerweise auf empirische Erkenntnisse stützen, aber gleichzeitig die Priorität auf den Text unter Berücksichtigung kognitiver Verarbeitungsmechanismen legen.13 Mit anderen Worten: kognitive Ansätze rekonstruieren, was Leser wissen können bzw. müssten, um einen Text zu verstehen. Beiden Herangehensweisen an Textwelten ist gemeinsam, dass sie davon ausgehen, dass wir mentale Modelle über räumliche Verhältnisse in Texten bilden: Es scheint, wir Leser können uns kaum zurückhalten, wenn wir ein Gedicht (oder irgendeine andere Form von Text) lesen, uns in eine Textwelt hineinzudenken. Man könnte von einer Art ‚Textwelttrieb‘ sprechen. Interessant wird ein solcher Textwelttrieb besonders dann, wenn man untersucht, wie manche literarischen Texte sich unsere kognitiven Automatismen zunutze machen. Insofern stellt diese Studie ebenfalls die Frage, wie in Gedichten mit unserem Textwelttrieb gespielt wird. Um solche allgemeine Formen der Abweichung zu erfassen, lohnt es, sich auf Wörter und Wortarten zu konzentrieren, die relativ häufig in Texten vorkommen. In dieser Hinsicht bietet sich bei der Analyse des Vergleichs der Gebrauch des bestimmten und unbestimmten Artikels an.

11 Ebd., S. 111. 12 Vgl. z. B. DIXON/BORTOLUSSI, 2003, S. 186-188; EMMOTT, 1997. 13 Vgl. HERMAN, 2004; GAVINS, 2007.

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Ralph Müller

2. Standardmodell des uneigentlichen Vergleichs Die Analyse bestimmter und unbestimmter Artikel gehört zum Standardrepertoire der Stilistiker.14 Welche Aussagekraft so unauffällige Worte haben, erweist sich gerade mit Blick auf den Textwelttrieb. So drückt der bestimmte Artikel aus, dass etwas als bekannt vorausgesetzt wird. Damit ist ein Muster vorgegeben, nach dem neue Informationen eingeführt werden: Neue Gegenstände oder Personen in einer Textwelt werden mit einem unbestimmten Artikel eingeführt und danach mit bestimmten Artikeln oder gar mit Demonstrativpronomen erwähnt.15 Robert Musil hat dieses Schema treffend ironisiert: Es ist zu drollig, wenn einem alles unter den Händen zum Schema wird, zur abgezirkelten Silhouette oder zur Erinnerung, so daß man immer glaubt sagen zu müssen: Es war einmal. Zum Beispiel. Es war einmal ein großes ernstes Haus in einer breiten stillen Gasse. In diesem Hause ein Saal mit gelbgrünen charakterlosen Tapeten. In diesem Saale eine kleine Variétébühne. Auf dieser Bühne eine kleine Sängerin, in dieser Sängerin ein ganz-ganz kleines verwickeltes Gemütsleben, in diesem Gemütsleben ein Punkt, der den Namen führt: wenn mir einer doch heute das Abendessen zahlen würde – und das alles empfindet man in blassen, verschwimmenden Farben, gewissermaßen als: es war einmal.16

Das Beispiel illustriert mit den vielen Wiederholungen überdeutlich, wie die neue Information (z. B. „ein großes ernstes Haus“) zunächst mit unbestimmtem Artikel versehen und nach dieser Einführung mit dem Demonstrativpronomen („In diesem Haus“) aufgegriffen wird. Von diesem Muster kann abgewichen werden, indem zum Beispiel von Anfang an ein bestimmter Artikel verwendet wird. Damit würde den Lesern unterstellt, dass sie mit der neuen Information längst vertraut sind.17 Diese Verwendung des bestimmten und unbestimmten Artikels ist relevant für die Analyse von Vergleichen. So werden ,wie‘-Vergleiche 14 15 16 17

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Vgl. auch die Bezüge auf Artikel in KAYSER, 1992. Vgl. WEINRICH u. a., 2003, S. 406. MUSIL, 2009, Bd. 11, S. 1. Vgl. SEMINO, 1997, S. 13-30.

Textwelten des Vergleichs bei Rilke und George

typischerweise mit unbestimmtem Artikel formuliert.18 Dieses Standardmodell des Vergleichs kann mit Beispielen aus einer weniger poetischen Textsorte leicht belegt werden. Im deutschen Sprachraum bieten sich hierzu politische Reden an, denn sie zeichnen sich durch einen Gestus stilistischer Nüchternheit aus und verzichten (auch im internationalen Vergleich) in auffälliger Weise auf traditionelle rhetorische Stilmittel.19 Ein typischer uneigentlicher Vergleich in politischen Reden sieht dann folgendermaßen aus: Schließlich besteht Konsens darüber, dass wir in der einen oder anderen Form so etwas wie eine Avantgarde, ein Gravitationszentrum oder einen Kern brauchen.20

Gerade in der Massierung dürfte das häufige Verwenden des unbestimmten Artikels auffallen („wie eine Avantgarde, ein Gravitationszentrum oder einen Kern“). Das Beispiel folgt der zumeist unbewussten stilistischen Tendenz zum unbestimmten Artikel. Tatsächlich könnte man syntaktisch auch den bestimmten Artikel wählen, nur würde das Publikum sich verwundert fragen, von welcher Avantgarde der Redner sprechen könnte. Der Grund für diese Tendenz zum bestimmten Artikel lässt sich relativ leicht im Rahmen von Textwelten formulieren: In jedem Vergleich wird eine eigene Textsubwelt eröffnet, die relativ unabhängig vom Inventar der eigentlichen Textwelt ist. Indem in der Textsubwelt des Vergleichs ein neues Element eingeführt wird, ist der unbestimmte Artikel die „Quasi-Norm“.21 Dass dementsprechend keine Notwendigkeit besteht, immer den unbestimmten Artikel zu verwenden, zeigt der Vergleich von politischen Reden mit Gedichten von Rainer Maria Rilke und Stefan George. Die Analyse, deren Resultate in der Tabelle unten zusammengefasst sind, stützt sich einerseits auf eine Auswahl von 21 politischen Reden

18 WEINRICH u. a., 2003, S. 786. 19 Verwiesen sei hierzu auf den Beitrag von Michael Schreiber in diesem Band. 20 PFLÜGER, 2000, S. 9986f. 21 Vgl. FRICKE, 1981, S. 163f.

271

Ralph Müller

aus dem deutschen Bundestag.22 Gleichzeitig wurden ,wie‘-Vergleiche in Rilkes euen Gedichten I23 sowie in Stefan Georges Jahr der Seele24 untersucht.

Korpusumfang Anz. Vorkommnisse von „wie“ Einfache uneigentliche Vergleiche [EUV] EUV mit unbestimmtem Artikel EUV mit bestimmtem Artikel; In Klammern: mit stilistischer Wahl EUV mit Possessiv-Pronomen Singular, ohne Artikel Plural, ohne Artikel

Korpus politischer Reden 41.389

R. M. Rilke: eue Gedichte I (1907) 10.729

S. George: Jahr der Seele (1897) 8099

140

239

62

425

135

29

3

61

5

0 (0)

16 (11)

3 (2)

0

5

6

1

28

6

0

25

9

22 15 Reden aus einer aktuellen Stunde vom 19. Mai 2000 über eine Rede des damaligen Außenministers Joschka Fischer (12.708 Wortvorkommnisse; Verhandlungen des deutschen Bundestages, 14. Periode, 106. Sitzung); 3 Reden aus der Debatte über den Schumann-Plan vom 13. Juni 1950 (16.111 Wortvorkommnisse; ADENAUER, 1950; SCHUMACHER, 1950; WESSEL, 1950); 3 Reden zum Europäischen Gipfel in Luxemburg vom 5. Dezember 1985 (12.570 Wortvorkommnisse; KELLY, 1985; KOHL, 1985; SCHMIDT, 1985). 23 Vgl. RILKE, 1996. Im Folgenden zitiert als RMR. 24 Vgl. GEORGE, 2000, Bd. 1, S. 117-167. Im Folgenden zitiert als SG. 25 Das oben zitierte Beispiel wurde als drei unabhängige ,wie‘-Vergleiche bewertet.

272

Textwelten des Vergleichs bei Rilke und George

Bezüglich der Zahlen in der Tabelle sollte beachtet werden, dass die Korpora nicht gleich groß sind. So ist das Korpus der politischen Reden fast viermal größer als der Umfang von Rilkes euen Gedichten und fünfmal größer als Georges Jahr der Seele. Wenn also in Rilkes Gedichten der Ausdruck ,wie‘ häufiger vorkommt als in den Reden, dann liegt ein signifikanter Unterschied vor. Es wird deutlich, dass ,wie‘ in den Gedichten überhaupt häufiger vorkommt. Wenn man sich schließlich auf einfache ,wie‘-Vergleiche konzentriert, dann zeigt sich, dass politische Reden auffällig wenig uneigentliche Vergleiche verwenden. Um aber die Unterschiede der Konstruktionen des ,wie‘-Vergleichs näher zu diskutieren, sind einige allgemeine Anmerkungen notwendig: Die Analyse konzentrierte sich auf einfache uneigentliche Vergleiche, bei denen ein Sachverhalt oder ein Prozess mit der koordinierenden Konjunktion ,wie‘ in ein Verhältnis zu einem substantivisch ausgedrückten Sachverhalt gestellt wird. Dementsprechend wurden alle folgenden ,wie‘-Verwendungen von der Analyse ausgeschlossen:



• • • • •

26 27 28 29

,wie‘ als Fragewort: „Wie soll ich meine Seele halten, daß / sie nicht an deine rührt?“ (RMR: 450) Zu dieser Klasse wurden ebenso indirekte Fragen gezählt: „Deshalb sollte man […] prüfen, ob Fehler vorliegen und wie sie für die Zukunft vermieden werden können.“26 ,wie‘ zur Markierung von Ausrufen: „Wie ist das billig!“27 ,wie‘ als temporale Konjunktion: „Doch wie er wartet, spricht sie;“ (RMR: 505) Aufzählung und offene Beispielreihe: „und solche wie Italien, Deutschland, Belgien und Holland“.28 Bezüge auf Vorredner und vorangegangene Argumente: „[Gründe] wie sie auch von den Vorrednern dargelegt worden sind“.29 Vermittlung von innerer Wahrnehmung oder Interpretation einer Wahrnehmung: „Wir fühlen dankbar wie zu leisem brausen / Von wipfeln strahlenspuren auf uns tropfen“ (SG: 122) In Gedichten

SCHMIDT, 1985, S. 13776. ADENAUER, 1950, S. 2465. SCHMIDT, 1985, S. 13775. WESSEL, 1950, S. 2487.

273

Ralph Müller



sind solche Konstruktionen (auch häufig eingeleitet durch ,als ob‘) uneigentlich. Eigentliche Vergleiche: „Sie haben alle ihre Positionen nach wie vor voll besetzt gehalten.“30

Die Tabelle unterscheidet bei ,wie‘-Vergleichen, ob eine stilistische Wahl vorliegt. Der Grund liegt darin, dass die Gedichte – allein aufgrund der größeren Bandbreite von Vergleichen – auch Beispiele aufweisen, bei denen die Kombination von ,wie‘ mit einem unbestimmten Artikel ungewöhnlich oder ungrammatisch wäre. Wenn im Zyklus Traurige Tänze des Jahrs der Seele eine „welle zischt wie im verdruss“ (SG: 161), dann ist die Konstruktion nicht markiert. Denn einerseits wird ,Verdruss‘ typischerweise mit bestimmtem Artikel verwendet, und andererseits deutet das Zusammenziehen mit der Präposition darauf hin, dass keine Akzentuierung auf dem Artikel liegt. Doch auch unter Berücksichtigung solcher Fälle bleiben genügend Beispiele, bei denen sich sehr wohl eine stilistische Wahl zum bestimmten Artikel begründen lässt. Bei einer solchen Konzentration auf einfache uneigentliche Vergleiche werden weitere Unterschiede zwischen Gedichten und politischen Reden deutlich.

3. Zumutende Verglei che Überwiegend wurden in politischen Reden Vergleiche nach dem Muster ,wie ein‘ verwendet. Selbst der eine artikellose Fall ist insofern keine Ausnahme, da „wie Dynamit“31 auf etwas Unzählbares Bezug nimmt und eine artikellose Verwendung angemessen ist. Somit verwenden Rilke und George nicht nur mehr Vergleiche, bei ihnen treten zudem häufiger Formen auf, die nicht dem Standardmodell des Vergleichs mit unbestimmtem Artikel entsprechen. Dies gilt insbesondere für die Verwendung des bestimmten Artikels, der eine Bekanntschaft mit dem neu eingeführten Element voraussetzt. Rilke etwa lässt im Gedicht Josuas Landtag nicht irgendeinen Strom seine Dämme durchbrechen: 30 SCHUMACHER, 1950, S. 2471. 31 ADENAUER, 1950, S. 2462.

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Textwelten des Vergleichs bei Rilke und George So wie der Strom am Ausgang seine Dämme durchbricht mit seiner Mündung Übermaß, so brach nun durch die Ältesten der Stämme zum letzten Mal die Stimme Josuas. (RMR: 457)

Wie bereits erwähnt, unterstellt die Verwendung des bestimmten Artikels eine Vertrautheit oder Bekanntheit mit der Information. Dies kann allerdings (zumal man es hier mit den ersten Zeilen eines Gedichts zu tun hat) nicht der Fall sein. Im Prinzip wird auf diese Weise dem Leser zugemutet, sich einen ganz bestimmten Strom vorzustellen. Diese Wirkung könnte noch stärker für die Wahl des Possessivpronomens gelten. Ein Beispiel aus Georges Jahr der Seele: Das lied das jener bettler dudelt Ist wie mein lob das dich vergeblich lädt Ist wie ein bach der fern vom quelle sprudelt Und den dein mund zu einem trunk verschmäht. (SG: 154, Herv. R. M.)

Die Traurigen Tänze richten sich an ein nicht genauer bezeichnetes weibliches Du. Die Rekonstruktion der Textwelt geht aber den Leser ebenso an. Sofern Leser die Einladung in Georges Gedicht nicht nur annehmen, sondern sich darauf einlassen, entsteht so etwas wie Intimität zwischen dem Ich und dem Du. Der Erfolg der Einladung ist allerdings unsicher. Es bleibt fraglich, welche Leser sich dieses Abwesende vorstellen. Gleichzeitig illustriert die Fortsetzung des Vergleichs im parallelen „wie ein Bach“, dass der Einsatz von Possessivpronomen und unbestimmtem Artikel eine Art Hierarchie der Nähe herstellt. Die vorangegangenen Analysen machen insbesondere Unterschiede zwischen Rilkes euen Gedichten und Georges Jahr der Seele deutlich, und dies ist der Punkt, an dem individuelle Textprofile zu erkennen sind. Zwar scheint Rilke eine größere Vorliebe für Vergleiche aufzuweisen. Rilke verwendet die Form des ,wie‘-Vergleichs (im Vergleichskorpus) häufiger als George. Selbst die Vermutung, George könnte andere Formen des Vergleichs häufiger verwenden, bestätigt sich nicht. Dieser erste, oberflächliche Befund wird aber von einem zweiten Befund kontrastiert: Rilke weist immer noch einen deutlichen Vorzug für den einfachen ,wie‘-Vergleich mit unbestimmtem Artikel

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Ralph Müller

auf. Bei George finden wir dagegen so etwas wie eine breite Verteilung. So lassen sich bei George auch mehr Vergleiche mit Possessivpronomen ermitteln.

4. Erw eiterungen Die bisherigen Betrachtungen konzentrierten sich auf sehr einfache Vergleiche. Man könnte einerseits weitere Formen einbeziehen, die einen Vergleich signalisieren können: ,gleichsam‘, ,gleichwie‘, ,nahezu‘, ,als‘, ,als ob‘, ,wie wenn‘ oder die Verben ,gleichen‘ und ,ähneln‘. Interessanter aber ist es, die bisherigen Erkenntnisse für die Analyse der Gestaltung von umfangreicheren analogischen Textsubwelten zu verwenden. Die Treppe der Orangerie Versailles Wie Könige die schließlich nur noch schreiten fast ohne Ziel, nur um von Zeit zu Zeit sich den Verneigenden auf beiden Seiten zu zeigen in des Mantels Einsamkeit –: so steigt, allein zwischen den Balustraden, die sich verneigen schon seit Anbeginn, die Treppe: langsam und von Gottes Gnaden und auf den Himmel zu und nirgends hin; als ob sie allen Folgenden befahl zurückzubleiben, – so daß sie nicht wagen von ferne nachzugehen; nicht einmal die schwere Schleppe durfte einer tragen. (RMR: 487f.)

Wie dieses Beispiel zeigt, können Vergleiche syntaktisch und inhaltlich ausgebaut werden, sodass in der Textsubwelt nicht nur ein Vergleichsobjekt abgelegt wird, sondern sich dort auch noch eine Handlung abspielt, die in ein Analogie-Verhältnis zu Ereignissen in der eigentlichen

276

Textwelten des Vergleichs bei Rilke und George

Textwelt selbst gestellt werden. In diesem Fall wird eine analogische Welt evoziert, in der die Treppe königlich dem Gefolge befiehlt zurückzubleiben, um mit der schweren Schleppe von dannen zu schreiten. Das einleitende „wie“ mit artikellosem Plural entspricht oberflächlich dem Standardmodell des einfachen Vergleichs. Man würde aber zögern, diesen Vergleich deshalb als einfach zu bezeichnen. Dabei ist in diesem Fall gerade die unvermittelte Einleitung durch das zweite Glied des Vergleichs (die Quelle des Vergleichs) auffällig. Das Ziel des Vergleichs – die Treppe der Orangerie – wird dadurch gleichsam in den Hintergrund gedrängt. In der letzten Strophe wird abermals die Quelle des Vergleichs in den Vordergrund gerückt. Interessant an der ,als ob‘-Struktur ist, dass sie häufig verwendet wird, um vage Wahrnehmungen32 oder aber eine Form der Verstellung (,so tun, als ob…‘) zu beschreiben. Aufgrund der offenkundig uneigentlichen Situation ist an dieser Stelle wohl die Interpretation der vagen Wahrnehmung zu bevorzugen, mit der eine Situation im Rahmen einer uneigentlichen Textsubwelt veranschaulicht wird. Die Umkehrung der typischen Abfolge der Informationen im Vergleich (also, dass vor dem „wie“ das Ziel und erst danach die Quelle genannt wird) verdient gerade darum Aufmerksamkeit, da sie die spontane Interpretation des Vergleichs beeinflusst. Glucksbergs empirische Untersuchungen zum Verstehen von Metaphern und Vergleichen haben gezeigt, dass typischerweise dem Ziel eines Vergleichs die Funktion zukommt, die Dimensionen vorzugeben, nach denen kontextuell relevante Merkmale der Quelle ausgewählt werden.33 Indem die Quelle vorangestellt wird, ist aber zunächst unklar, welche Merkmale gefiltert werden könnten. Diese Umkehrung der Reihenfolge deutet darauf hin, dass Ziel und Quelle nicht notwendigerweise immer auf die festen Rollen eingeschränkt sind, wie dies etwa Glucksberg vermutet. Dies gilt ebenso für Rilkes Gedicht Der Panther, in dem die an und für sich anschaulicheren Bewegungen des Panthers verglichen werden mit einem sehr abstrakten „Tanz von Kraft um eine Mitte“:

32 Duden, 2005, S. 1056. 33 Vgl. GLUCKSBERG, 2001.

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Ralph Müller Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte, der sich im allerkleinsten Kreise dreht, ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte, in der betäubt ein großer Wille steht. (RMR: 469)

Typischerweise dienen Vergleiche dazu, etwas Abstraktes oder Komplexes mit etwas Anschaulichem zugänglicher zu machen. In diesem Fall ist es umgekehrt: Kraft und Wille sind abstrakte Begriffe, die nicht der erhöhten Anschaulichkeit dienen. Die von empirischen Untersuchungen etablierte Unterscheidung von Ziel und Quelle mit deutlich differenzierten Rollen lässt sich gerade in Rilkes Gedichten nicht immer vollziehen. Rein formal konstituieren die ersten zwei Zeilen der zweiten Strophe das Ziel, das mit dem im Vergleich eingelassenen Quellbereich in einen Zusammenhang gestellt wird. Die Allgemeinheit der verwendeten Begriffe macht aber genauso die umgekehrte Analogie möglich. Damit deutet sich ein Unterschied der impliziten Poetologien Georges und Rilkes an: Wie die häufigere Verwendung von bestimmten Artikeln und Possessivpronomen im einfachen Vergleich andeutet, unterstellen Georges Gedichte dem Leser gern Vertrautheit mit der Quelle des Vergleichs. Dies entspricht Georges elitärem Kunstverständnis, denn die Formulierungen richten sich sogar in der Konstruktion der einfachen Vergleiche dem Gestus nach an einen kleinen Kreis von Eingeweihten. Es scheint, dass für Rilke, zumindest in den euen Gedichten, der Vergleich eine herausragende Rolle spielt. Dies steht im Einklang mit der Poetik des Dinggedichts. Dinggedichte beziehen sich insbesondere auf die Vermittlung von Erfahrungen am intensiv wahrgenommenen Ding. Rilkes Gedichte unterstellen – zumindest im Vergleich zu George – weniger häufig Vertrautheit mit implizitem Wissen. Dies könnte auch die anhaltende Popularität der euen Gedichte erklären. Die Vergleichserfahrungen, die Rilke heranzieht, sind insgesamt nicht besonders unzugänglich oder ungewöhnlich. Ebenso bevorzugt er das Standardmodell, nach dem neu Eingeführtes mit dem unbestimmten Artikel signalisiert wird. Das bedeutet nicht, dass seine Konstruktionen simpler sind. Die typische Abfolge der Information im Vergleich wird bisweilen umgekehrt und Rilke zeigt einen Vorzug für Abstraktheit des Vergleichs. Auffällig ist somit, dass bei Rilke die fixen Rollen von Quelle

278

Textwelten des Vergleichs bei Rilke und George

und Ziel in Vergleichen aufgelöst werden. Ein Prinzip, dass man als wechselseitige Erhellung der Erfahrungen zusammenfassen könnte.

5. Schluss Es ist eingangs angemerkt worden, dass kreativer Sprachgebrauch Intimität und gegenseitige Vertrautheit voraussetzt oder herstellt, sofern sich gegenseitiges Verstehen einstellt. Vergleiche mit bestimmten Artikeln oder Possessivpronomen muten dem Leser zu, sich auf ein Spiel einzulassen, als seien die Leser mit Elementen der Textsubwelten längst vertraut. Dies führt zur Frage, ob wir und inwieweit wir uns in die Textwelten und Textsubwelten einbringen. Solches Sich-Einbringen ist relevant für unser Erleben von Lyrik. Vermögen wir die Vergleichswelten zu rekonstruieren, haben wir das Gefühl, nahe an der Vorstellungswelt des Dichters zu sein. Dies beeinflusst auch unsere Selbstwahrnehmung. Ein erfolgreiches Sich-Einbringen führt dazu, dass wir unsere eigenen Erfahrungen im Lichte des Gelesenen neu betrachten. Man kann in dieser Beziehung zwei unterschiedliche Modelle des Sich-Einbringens unterscheiden: Selbst-Identifikation mit dem Aussage-Subjekt oder aber Vergleich der Erfahrungen.34 Es ist wohl nicht zufällig, dass diese beiden Modelle zwei unterschiedliche Formen analogischer Uneigentlichkeit spiegeln. Die Selbst-Identifikation funktioniert quasi nach dem Muster der Metapher und postuliert ein „Ich bin ja X!“ Der Vergleich der Erfahrungen dagegen stellt partielle Übereinstimmungen fest: „Das ist ja wie bei mir, als ich …“35 Es ist nicht so, dass alle Leser sich auf solche Weise in Texte einbringen, und viele Literaturwissenschaftler vermeiden es sogar. Was man aber empirisch zeigen kann, ist die Verbindung solcher Reaktionen mit erhöhten Emotionen. Mit solchen emotional besetzen Lese-Erfahrungen kann Lyrik unsere Sicht der Dinge verändern.36 Lyrische Zumutungen setzen hohe Anforderungen, bevor solche Formen des Sich-Einbringens möglich werden. Im Falle des Erfolgs dürfte aber die Wirkung umso intensiver sein.

34 Vgl. KUIKEN u. a., 2004. 35 Ebd., S. 182ff. 36 Vgl. ebd., S. 194-196.

279

Ralph Müller

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Textwelten des Vergleichs bei Rilke und George

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IV Individualstil

Stilisierte Unordnung im Versuchsraum des Kunstwerks Zur intermedialen Stilkonzeption bei Friedrich Dürrenmatt ANETT HOLZHEID

In Friedrich Dürrenmatts Werk wird die Welt bekanntlich als Folge von Fällen reflektiert, denen es auf den Grund zu gehen gilt, wobei eine kausale Ordnung durch einen möglichen Zufall außer Kraft gesetzt werden kann. Der homonym aufgeladene ,Fallʻ bei Dürrenmatt ist dabei stets als semantische Dynamik wiederum in einer Doppeldeutigkeit aus Bewusstem und Unbewussten – aus Unfall oder moralischem Sturz – sowie als hereinbrechende kreative Einbildung (,Einfallʻ) in diesen fiktionalen Entwürfen mitzudenken. Indem mit diesem Fall von poetischer Ambiguität bereits auch ein erstes textstilistisches Charakteristikum Dürrenmatts aufgeworfen ist, kann die für diesen Beitrag zu beantwortende zentrale Gretchenfrage gestellt werden. Wie es Dürrenmatt mit Stil hält, erweist sich gleichermaßen als konstitutiv mehrdeutig. Ein merkwürdiges Indiz bietet bereits die Tatsache, dass Dürrenmatts Werk ein Gedicht über Stil aufweist, das sich gegen Stil ausspricht. Sofern unter Stil eine bewusste „Entscheidung von Fall zu Fall“1 für oder gegen bestimmte sprachliche oder bildnerische Mittel zu verstehen ist, wird über die äußere Form und den Gattungstyp Gedicht ein Rahmen aufgerufen, der für Stil steht. Innerhalb dieses Rahmens rät das lyrische 1

DÜRRENMATT, 1966, S. 102. Im Folgenden zitiert als TSR 1.

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Ich in einer Autoreflexion jedoch: „Ergreife die Feder müde / schreibe deine Gedanken nieder / wenn keine Frage nach Stil dich bedrängt […].“2 Ebenso ist mehrfachen theoretischen Äußerungen Dürrenmatts eine kritische Haltung gegenüber Stil zu entnehmen. Dem gegenüber stehen sowohl Eigenaussagen eines sorgsamen Stilisten als auch philologische Textanalysen, die Dürrenmatt als Sprachkenner und Sprachartisten charakterisieren, dem es in besonderer Weise um Sprachwirkung geht. Werner Oberle etwa beschreibt Dürrenmatts Sprache als „dicht, manchmal gewaltig, manchmal gewalttätig vielleicht“ und verfällt dabei selbst in eine bildhafte Schilderung, die wiederum auf die eingangs erwähnte unkontrollierte Bewegung rekurriert: „[S]ie kugelt durch die Bereiche des Erhabenen und des Lächerlichen, sie enthält die ironischweltschmerzliche Dialektik mancher Shakespeare-Szenen und die Wucht der Luthersprache, sie umspannt Makamen und gassenhauerische Chansons“.3 Wie Oberles Sprachbeschreibung zeigt, die ihren Verfasser selbst als einen durch Dürrenmatts Sprache zur Sprache Verführten ausweist, geht von Dürrenmatts literarischem Werk eine ästhetische Sogkraft aus, die nach einer stilistischen Analyse verlangt, um der Konstruiertheit ihrer dramaturgischen Wirkung auf die Spur zu kommen. Im Folgenden ist die These zu belegen, dass Dürrenmatts StilKoketterie den Ausdruck eines hohen stilistischen Anspruchs manifestiert. Die Aufladung der Bedeutung von stilistischer Arbeit sowie die Negierung eines reinen ästhetisierten Manierismus resultiert aus einem von Dürrenmatt entwickelten Funktionalstilverständnis, bei dem der sprachliche Stil einem Denkstil entspricht und somit keine geringere Aufgabe zugewiesen bekommt, als ein Weltverständnis zum Ausdruck zu bringen. Die Erschöpfung, die im oben genannten Gedicht als müde Grundstimmung und Resultat einer ,Stilsucht‘ anklingt, erklärt sich aus eben dieser anspruchsvollen Funktionalisierung und der Erkenntnis, dass in der Praxis eine Gefahr des Misslingens droht und den Verlust eines erstrebten verständigen Zusammenhangs bedeutet: „Die Sucht nach Perfektion / zerstört das meiste. Was bleibt / sind Splitter / an denen sinnlos gefeilt wurde.“4 2 3 4

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DÜRRENMATT, 1993, S. 95. OBERLE, 1962, S. 29; vgl. auch HELBLING,1986. DÜRRENMATT, 1993, S. 5.

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Getrieben ist dieser Funktionalstil, der grundlegend konfrontativ angelegt ist, von der konsequenten Hervorbringung des Grotesken. Dürrenmatts poetologischer Annahme zufolge dient die groteske Gestaltung der sinnlichen Entsprechung einer zeitgemäßen paradoxalen Denkhaltung. Da die Darstellung des Grotesken bei Dürrenmatt auf erzählerischem Einsatz des Perspektivierungsrepertoires optischer Dimensionierung und greller Ausleuchtungsapparaturen gründet, um Nahaufnahmen bis zur schmerzhaften Verzerrung zu erzeugen und übergriffig Sequenzen dekontextualisierter Detailaufnahmen zu exponieren, wird grundaussagend die ästhetische Kategorie eines angemessenen Maßes aufgegeben. Die Intensität dieses experimentellen Verfahrens bewusst ungesicherter Schieflagen und gewagter instabiler Bezugsetzungen des Heterogenen bestätigt sich bei Dürrenmatt über das Einzelwerk des literarischen Textes hinaus und konturiert sprachlich einen Personalstil, der im Folgenden herausgearbeitet werden soll. Dabei interessiert, wie der Stil des Grotesken im Falle Dürrenmatts auf einer radikalen Konsequenz der Engführung von Weltbild und Kunstwerk begründet wird und wie sich die Notwendigkeit, Kunst als Experiment aufzufassen, offenbart. Der analytische Zugang erfolgt über eine Darlegung der stiltheoretischen Reflexionen des Autors und führt exemplarisch zu Dürrenmatts weitgehend vernachlässigter Kurzprosa des Frühwerks. Ausgehend von stilistischen Verfahrensweisen in der Kurzprosa Die Wurst werden Vergleiche zu anderen medialen Kunstformen Dürrenmatts angestellt, um aufzuzeigen, dass die stilisierte Unordnung als ein Konstituens der grotesken Darstellung und als ein zentrales Charakteristikum der Text- und Bildwerke gelten kann und somit auch ein intermediales Phänomen begründet.5 Unter der Prämisse einer Äquivalenzbeziehung zwischen Dür5

Dürrenmatt selbst fasst in der Gruppe der erzählenden Künste die Genres Prosa, Drama und Film zusammen, die „zur Fiktion und damit zur Illusion verdammt“ (DÜRRENMATT, 1980, Bd. 26, S. 130. Im Folgenden wird aus der Werkausgabe zitiert mit WA und der jeweiligen Bandangabe) und durch Handlung oder Geschehen dem Dynamischen verpflichtet sind, während die bildenden Künste, zu denen entsprechend Lyrik und Bildwerke zu zählen wären, den Eindruck des Statischen erwecken. Sobald jedoch in Dürrenmatts Werk der Verlust menschlicher Ordnungskategorien als Katastrophen szenische Präsenz erhalten, werden gerade diese beiden entgegengesetzten Wahrnehmungs- und Wirkungskategorien gleichermaßen in Anschlag gebracht. Er selbst macht zur Bedingung, dass „der Raum, in welchem sich alles abspielt, zu Beginn so real als nur möglich sein [muss]“

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renmatts literarischer und bildnerischen Tätigkeit gilt für die transmedial angelegte Betrachtung, was Johannes Anderegg für die literarische Stiluntersuchung beschreibt: Der analytische Blick ist mit charakteristischen Wiederholungsphänomenen eines Textes oder Bildes befasst, sofern mit diesen Zeichenhaftigkeit und Sinn verbunden werden kann.6

1. Dürrenmatts Stilkonzeption und -reflexion Stil ist heute nicht mehr etwas Allgemeines, sondern etwas Persönliches, ja, eine Entscheidung von Fall zu Fall geworden. Es gibt keinen Stil mehr, sondern nur noch Stile, ein Satz, der die Situation der heutigen Kunst überhaupt kennzeichnet, denn sie besteht aus Experimenten und nichts außer dem, wie die heutige Welt selbst. (TSR 1: 102)7

Dieses Diktum von 1954, hinter dem die bereits mehrjährige experimentelle Auseinandersetzung eines jungen Autors mit der Frage nach zeitadäquaten künstlerischen Ausdrucksformen steht, enthält eine Radikalisierung dessen, was zuvor in den verschiedenen Stilrichtungen der Avantgardebewegungen artikuliert worden war. Angesichts einer kriegsbedingten Zuspitzung existentieller Grenz- und Kontingenzerfahrungen innerhalb der Moderne hat auch die Kunst keinen allgemeingültigen Entwurf mehr zu bieten. Stattdessen müssen künstlerische Möglichkeitsentwürfe auf den situationsgebundenen Einzelfall bezogen bleiben, da in Orientierung an dem außerfiktionalen Erfahrungsraum normative Richtgrößen und Stabilisierungsgaranten ihre Glaubwürdigkeit verloren haben. Mit dem bezeichneten symptomatischen Einzelfall wird bei Dürrenmatt auf der Ebene des Stoffes die Verstrickung eines Menschen in die Welt thematisiert, die stilistisch zum Ausdruck zu bringen ist, um die Wirklichkeit als ein „unermessliche[s] Feld menschlicher Konflik-

6 7

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und folgert „[n]ur so wird er auch zerfallen können.“ Anmerkung DÜRRENMATTS, 1958, S. 169. Vgl. ANDEREGG, 1997; DERS., 2003, S. 7. Die Überzeugung, dass es in der zeitgenössischen Dramatik Stilpluralität anstelle eines verbindlichen Stils geben müsse, brachte Dürrenmatt bereits in Bekenntnisse eines Plagiators [1952] ein, abgedruckt in TSR 1: S. 246.

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te“ (WA 12: 196) in „immer neue[n] Gleichnisse[n] und Bilderfolgen […] durchschaubar“ (WA 26: 131) zu machen. Dabei lassen die stofflichen Reihen aus Einzelfällen, die sich in Dürrenmatts Werk zu einer episodischen Sequenz bzw. zum semantischen Netz eines Weltganzen zusammenfügen, einen Zusammenhang erkennbar werden, der ein spezifisches Denken voraussetzt. In seinem Spätwerk Stoffe, einer autobiografischen Reflexion, schreibt Dürrenmatt rückblickend: „Stoffe sind die Resultate meines Denkens, die Spiegel, in denen, je nach ihrem Schliff, mein Denken und damit auch mein Leben reflektiert werden.“8 In dieser ungewöhnlichen Betrachtung des Stoffes als Kristallisation des Denkens kommt ein bildbasiertes Denken zum Ausdruck, das die Stoffe als Spiegel fasst und den Stil als Art des Schliffs ausweist. Das Fragen aufwerfende Leben liefert den Stoff zum Denken und dieser Denkstoff wird zum Werkstoff stilisiert. In Dürrenmatts Produktionslogik fungiert der Schriftsteller als „Gedankenkonstrukteur“ (STOFFE: 12), dessen Schreiben bei bildhaften Visionen beginnt, die zu Gedanken führen und in Sprache überführt werden müssen. Dies erinnert wieder an den Prozess des Schleifens und einer Widerspiegelung von Bildern in den Stoffen als Spiegel. Stoffe werden „gefiltert, umgeformt, verformt“ und „immer wieder neu gestaltet“ und im Versprachlichungsprozess der Sprache „angenähert“. (STOFFE: 13) Dieses Ringen um die Bewältigung des Stoffes durch die Sprache betrifft die Verarbeitung von Zufällen und Einfällen, die in der Sprache selbst angelegt sind und zu Sprachspielen „verführen“. (TSR 1: 114) Der skizzierte Schaffensprozess liefert bereits einen Hinweis auf eine produktive Nähe von literarischer Text- und malerischer Bildgestaltung.9 Diese Äquivalenzbeziehung lässt sich auch am stilbildenden Trägermaterial Papier erkennen, das Dürrenmatt im relativ kleinen Format von 36 x 25,5 cm bevorzugt für seine Bildwerke nutzte, um fließend vom Schreiben zum Zeichnen übergehen zu können, ohne physisch den Produktionsort Schreibtisch zu wechseln.10 Die Ähnlichkeit besteht fort in der Arbeitsweise, die der opifex Dürrenmatt als ein „Abschleifen“ und „Korrigieren“ (STOFFE: 37f.) bereits bestehender Teile auffasst. Auch ist da8 9

DÜRRENMATT, 1981, S. 11. Im Folgenden zitiert als STOFFE. Zu den ästhetischen Analogien zwischen Bildern und Texten in Dürrenmatts Œuvre, die „tendenziell gegeneinander austauschbar“ (S. 23) wirken, ausführlich SCHMITZ-EMANS, 2004. 10 Vgl. GASSER, 1978, o. Seiten.

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mit gemeint, dass „die bildschöpferische Phantasie“, so Anton Krättli, Motive oder Figuren hinzufügt oder Einzelheiten verändert.11

2. Der experimentelle Versuchsr aum Die gesellschaftliche Ordnung als problematische Größe auszuweisen, ist Movens zahlreicher literarischer Texte der Moderne, die sich als Topos der Entfremdung durch die Gattungen ziehen.12 Dürrenmatt zufolge gelte es hierbei, Entfremdung und Ordnungsverlust gemäß der „Dramaturgie des Experiments“ (TSR 1: 103) als eine Versuchsanordnung zu inszenieren. Diese Auffassung verbindet sich mit der Funktion von Kunst, die Vorstellungswelt des Rezipienten zu aktivieren. Auf Darstellungsebene bietet sich in diesem Sinne als ein wesentliches Mittel das Groteske an. Hierunter versteht Dürrenmatt „ein[en] sinnliche[n] Ausdruck, ein sinnliches Paradox, die Gestalt […] einer Ungestalt, das Gesicht einer gesichtslosen Welt“ (TSR 1: 122). Zugleich ist der benannte Anspruch des Transparentmachens und Erklärens innerhalb der sinnfälligen Versuchsanordnung des Einzelwerks in seiner Durchführbarkeit zu relativieren. Dürrenmatt verabschiedet die olympische Erzählposition mit der Einsicht: „Die Welt ist größer denn der Mensch, zwangsläufig nimmt sie so bedrohliche Züge an, die von einem Punkt außerhalb nicht bedrohlich wären, doch habe ich kein Recht und keine Fähigkeit, mich außerhalb zu stellen“ (TSR 1: 123). Um zugleich eine Wirkungsschärfung zu erzielen, wählt Dürrenmatt einen dramaturgischen Standpunkt, von dem aus die Architektonik des (Bühnen-)Raums sowie die Rolle des Rezipienten als Beobachter dieses Bühnengeschehens (als denkbares Weltgeschehen) zu konstitutiven Größen werden. Die Analyse im Hinblick auf die stilistische Erzeugung grotesker Wirkung kann zeigen, dass naheliegende Mustererwartungen strategisch unerfüllt bleiben. Dies gilt sowohl für den Text wie das Bild. Mit 11 Hierzu KRÄTTLI, 1991, S. 154. 12 Intertextuelle literaturgeschichtliche Bezüge zu dem Topos der Entfremdung von Ich und Welt mit spezifischer Orientierung an kafkaesker Parabolik und an drastischen Märchen nach Büchner sind in der DürrenmattForschung nachgewiesen worden. Hierzu besonders KNAPP, 1993, S. 26.

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Der Sohn und Die Wurst, die beide im Winter 1943 entstanden13, stehen zwei Texte einander gegenüber, die über eine lakonisch gestaltete Titelei nicht nur unvermittelt auf ihren jeweiligen ‚Erzählgegenstand‘ zielen, der sich als Objekt einer Versuchsanordnung erweist, sondern eine intertextuelle Betrachtung veranlassen. Beide Texte sind im Bachtinschen Sinne „Körper-Dramen“14; sie setzen inhaltlich auf Gewaltszenarios und sind perspektivisch ähnlich motiviert, wenn sie zu einer grotesken Verzerrung des Menschlichen aufspielen. In beiden Fällen ist das Handeln einer männlichen Figur (Vater, Mann) auf die unmittelbare ihn umgebende Leibwelt (Sohn, Frau) gerichtet. Gleichermaßen trägt die jeweilige Schauplatzgestaltung dazu bei, beide Texte als zwei Episoden einer mehrteiligen Sequenz zu lesen: Ist es im ersten Fall einmal mehr der vor Beobachtungen geschützte exklusive Privatraum einer Arztvilla, so bietet der öffentliche Gerichtsraum als der symptomatische Beobachtungsraum im anderen Fall den schlüssigen Folgeraum, um das vormals abgründige Tatgeschehen dort zu erhellen. Angesichts dieser thematischen Parallelen zeichnet sich eine stilistische Variation der beiden Texte umso deutlicher ab, wobei die syntaktische Gestaltung den maßgeblichen Unterschied ausmacht. An dieser Stelle ist jedoch lediglich darauf hinzuweisen, dass in beiden Fällen von einer erwartbaren moderaten literarischen Satzlänge und -komplexität auffällig abgewichen wird. Der Sohn mit 481 Wörtern besteht makrostrukturell aus einer einzigen komplexen Periode ohne Absatzgliederung: Ein Chirurg, der sich sowohl als Chefarzt einer berühmten Klinik als auch durch wissenschaftliche Forschungen einen großen Namen erworben und […] allgemeine Beliebtheit erlangt hatte, gab, auf der Höhe seiner Laufbahn, den Beruf zur Bestürzung und Verwunderung der Freunde und Kollegen auf, […]. (WA 18: 29)

13 Die Erstveröffentlichung dieser Texte erfolgte 1978. Im Folgenden werden beide Texte zitiert nach WA 18. 14 Hierzu Michail M. Bachtin, der einen besonderen Zusammenhang zwischen dem grotesken Leib mit dessen topografisch betrachteten ausgestülpten Höhen- und Tiefenöffnungen und der Architektur (hier besonders Türme und Kellergewölbe) erkennt, was wiederum bei Dürrenmatt dramaturgisch inszeniert wird (z. B. in Der Folterknecht, Der Tunnel oder in den Turmbau-Zeichnungen). Vgl. BACHTIN, 1996, S. 17.

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Wenn dieses rasante Tempo, mit dem über das radikale Experiment eines bis dato für gesellschaftliche Verantwortung stehenden Menschen berichtet wird, wie ein forciertes und zügiges Ausatmen des heterodiegetischen Berichterstatters anmutet, so wird durch diese Äußerungsweise die anmaßende Machtgebärde dieser Vaterfigur als Schöpfer und Vernichter seines Sohnes auch mit der göttlichen Schöpfungsgeste vom Einhauchen des Lebendigen parabelhaft verknüpft. Zugleich wird mit dieser Berichtsart die Demaskierung des Wissenschaftlers als ein archaisches Wesen betrieben. In Anspielung auf das biblische Gleichnis vom verlorenen Sohn wird der megalomanische Chirurg als ein verlorener Sohn der modernen Gesellschaft erkennbar. Dieser Erzähldynamik gegenüber steht Die Wurst aus 720 Wörtern mit 162 Elementarsätzen oder Satzäquivalenten sowie zwei Absätzen, auf die im Folgenden noch genauer einzugehen ist. Festzuhalten ist zunächst, dass die äußere solide Form beider Kurztexte jeweils konterkariert wird von einer prekären Destabilisierung auf Inhaltsebene, wo – in kleistscher Manier15 durch ein Arsenal an Zerstörungsapparaten und Beißmaschinen wie Maschinengewehre, Handgranaten und Hunde in der einen Geschichte, durch Schwert, Guillotine, Fallbeil und Verwurstungsinstanz in der anderen – ein Angriff auf soziale und moralische Ordnungsgefüge inszeniert wird. Dieses bemerkenswerte energetische Gefälle zwischen formaler Statik und inhaltlich destruierender Dynamik, das sich als Widerspruch innerhalb des Textgefüges manifestiert, klingt in Dürrenmatts Stilkonzept selbst an, wobei Stil ein engagiertes Ringen um Form voraussetzt. Wenn es zudem heißt: „Stil wird in der Kunst benötigt, um Motive zu bewältigen“ (WA 26: 197), ergibt sich die Frage nach Dürrenmatts spezifischen Stoffen, die nicht nur insofern stilbildend sind, als sie wiederholt in unterschiedlichen Texten auftauchen, sondern eben auch als künstlerisch unbezwingbar ausgewiesen werden, wenn sie erneut zum Gegenstand der Darstellung werden. Ein grundlegendes Thema stellt, wie bereits eingangs erwähnt, für Dürrenmatts Kunstwelten das vereinzelte Individuum dar, das sich einer undurchschaubaren Welt gegenüberstehend wahrnimmt. Um es herum werden Szenarien errichtet, in denen das als konventionell gut und böse Konnotierte aufeinander an15 Dürrenmatt selbst ist sich über die in seinem Werk aufscheinende Nähe zu Kleists inszeniertem Zusammenhang von Fall und Zufall bewusst. Siehe ARNOLD, 1982, S. 90.

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gesetzt werden. Diese gestifteten Mesalliancen konstituieren sich zwischen Himmel und Hölle, Licht und Dunkelheit, Innen- und Außenraum, Sakralem und Profanem, sozial in der Begegnung von Prostituierten und Männern der akademischen und staatlichen Macht, ontologisch zwischen Belebtem und Unbelebtem, fiktional zwischen dem Kalkül der Protagonisten und der Einschaltung des Zufalls durch den Autor. Dabei werden keine moralischen Botschaften stabilisiert, sondern subjektive Positionen als energetische Entladungen in unterschiedlichen staatlichen oder privaten Macht-Räumen choreographiert, die für den Rezipienten spürbar werden. Dass jene Begegnungen des Einzelnen mit der belebten Mitwelt sich als Doppelung aus physischer Annäherung und psychischer Distanzierung gestalten, ist symptomatisch. Eine grundlegende Entfremdung zeigt sich dergestalt, dass die Kategorie des sozialen Umgangs absent zu sein scheint und jede Begegnung in ein Antun, in Tätlichkeiten mündet. Es geht um ein Aneignen, Auslöschen oder um ein In-Bewegung-Versetzen fremder Körper im Raum. Stilistisch griffig wird dies bei Dürrenmatt einmal mehr in der Semantik des Schlachtens: Dramentheoretisch macht Dürrenmatt das Unzeitgemäße der Tragödie an der herrschenden Politik fest, „die von Weltmetzgern inszeniert und von Hackmaschinen ausgeführt“ (TSR1: 119) würde, wobei die Macht insgesamt nicht mehr an Personen gebunden und dadurch gesichtslos und unsichtbar würde. Innerhalb der literarischen Welt figuriert der Weltmetzger16 neben dem Mediziner, der ein bestialisches Sohn-Wesen zeugt und dieses wie ein Tier aufzieht und schließlich hinrichtet, sowie neben dem Privatmann, der seine Frau verwurstet. In dieser letztgenannten Groteske präsentiert die Wurst aus Frauenfleisch ein sinnliches Lustobjekt, dem nicht widerstanden werden kann.17 Inwieweit damit auch der Genussdrang als Lebenswille zu deu16 Zum Metzger als dramatische Figur vgl. auch den Würste anpreisenden Schlachter in Der Besuch der alten Dame (1955) sowie in Die Wiedertäufer (1966), wo im Umfeld einer Hinrichtung der Metzger in grotesker Simultanität eine Wurstsortenlitanei herunterbetet, während die Gemüsefrau im derben Feilbiete-Wettstreit den vegetarischen Genuss mit dem menschlicher Fleischeslust gleichsetzt: „Birnen! […] Lecker wie Weiberfleisch! Saftig wie Hurentitten“ (99). DÜRRENMATT, 1971, hier bes. S. 98101. 17 Das Verhältnis des Menschen zur Leibspeise wird bei Dürrenmatt bekanntlich mehrfach thematisiert (so zum Beispiel die Funktion von Speisen und Alkohol als Machtmittel in der Geschichte Der Sturz). Hierzu LIDE,

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ten ist und auf die Verwandlungsmagie angespielt wird, wonach man zu dem wird, was man verspeist, kann hier nicht weiter verfolgt werden. Festzuhalten ist, dass Dürrenmatt anstelle einer psychologischen Erklärung den Verhandlungsfall als Rätsel anbietet.

3. Die Situati vität des (Schluss-)Bildes Unmittelbar kommt die funktionale Nähe der beiden Medien Text und Bild in Dürrenmatts Auffassung von Bildern zum Ausdruck, die nicht notwendigerweise Texte illustrieren,18 die aber als „die gezeichneten und gemalten Schlachtfelder [dienen], auf denen sich […] schriftstellerische Kämpfe, Abenteuer, Experimente und Niederlagen abspielen“. (WA 26: 201) Für den Betrachter dieser Schlachtfelder ergibt sich die Position des aufmerksamen Beobachters. Mit grellen Farbkontrasten wird die Aufmerksamkeit gewonnen, mit dem Scheitern des Musterabgleichs wird das Interesse aktiviert. Wie ein Kulissenwerk präsentieren sich Dürrenmatts Gemälde mit Schauplatz und Protagonisten, wobei die Handlung der Imagination dem Betrachter überantwortet wird. Mit dem Gemälde Porträt eines Planeten I: Der Weltmetzger (1965) lässt sich diese Bildwirkung verdeutlichen. (Abb. 1)

1992, S. 215. Ferner diagnostiziert der Erzähler in Dürrenmatts Romanprojekt Justiz (1957–1985), dass „im allgemeinen aus handfesten Motiven“, „[a]us Hunger oder aus Liebe“ und im besonderen „aus Wissenschaftlichkeit“ gemordet würde. DÜRRENMATT, 1998, S. 82. 18 Die Gouache Porträt eines Planeten I: Der Weltmetzger (Abb. 1) diente Dürrenmatt als illustratives Entwurfskonzept für das geplante Theaterstück Porträt eines Planeten.

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Abb. 1: Porträt eines Planeten I: Der Weltmetzger (1965) Das „chaogene Potential“, das sich für Monika Schmitz-Emans19 durch die Art der Linienführung in Dürrenmatts Zeichnungen andeutet, wird in den Gemälden durch eine Überlagerung von Farben generiert. Durch mehrfach übereinander geschichtete kräftige und zugleich durchlässige Farbflächen der Gouache entsteht der Eindruck von mehrfarbig aufgebrochenen ‚fleckigen‘ Oberflächen, durch die farblich fixierte Konfron19 SCHMITZ-EMANS, 2004, S. 28.

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tationen exponiert werden. Getragen wird diese Darstellungsweise motivlich von Versatzstücken des Grotesken, wozu neben körperlichen Innenansichten (Blut, Gehirn vgl. Abb. 1) schamlos entblößte Leibstücke gehören. Allem voran ist hierzu Bachtin zufolge der aufgerissene Mund zu zählen, der als ein „klaffende[r] und verschlingende[r] leibliche[r] Abgrund“20 das groteske Gesicht dominiert. Als Schauplatz wird der Erdball im planetaren All gezeigt, wobei im Vordergrund ein Platz und im Hintergrund eine aus griechischen Tempelkonstruktionen angedeutete Stadt zu sehen sind. Dieser überzeitlichen Statuarik entgegengesetzt ist auf der Mittelachse im Vordergrund ein fülliger Zwitter postiert. Seine besudelte Haube gleicht einem Säulenkapitäl und verbindet bei einem formanalogen Mustervergleich den Vordergrund mit dem Hintergrund. Die Kopfbedeckung des Schlächters evoziert damit einen destruierenden Bildkommentar auf die Tempelanlage. Ob mit dieser formbedingten Zusammenrückung ein Angriff auf den Sitz der Götter impliziert und auf die Übertretung des 5. Gebots angespielt wird, sei dahingestellt. Entscheidender ist die ‚syntagmatische‘ Strategie auf formaler Ebene des Bildes, mit der Ungleiches verbunden wird. Eine Diagonale entsteht aus dem schiefen Säulenstumpf der Schlächtermütze, die zwischen dem Tempeldach links unterhalb und der Säule rechts oberhalb platziert ist. Diese Diagonale kreuzt mit der Diagonale in Gestalt der Brustschärpe links, die an einem weiteren Missverhältnis nach Maßstab der konventionellen Kleiderordnung teilhat. Die im Verhältnis von dekoriertem Oberkörper des Diplomaten und dessen nacktem Unterleib zum Ausdruck gebrachte Ordnungsverletzung liefert die Spiegelfolie für den weit geöffneten beschmutzten Kittel des Zwitters als Zentrum des Entblößungsthemas. Damit bildet der Metzger nicht nur geometrisch eine Art Kreuzungspunkt zwischen dem Herrn links und der von Rundungen geprägten weiblichen Gestalt zur Rechten. Ebenso werden wie in einer Verwechslung männliche Geschlechtsteile mit den Saumspitzen des weißen Arbeitsmantels zusammengebracht. Schließlich erscheint die Darstellung der weiblichen Person selbst wie eine Überblendung aus Vorder- und Hinteransicht, zum einen in Analogie zur Planetenkugel, zum anderen aufgrund der Rundung, in der Bauch und Po zusammenzukommen scheinen. Ähnlich wie durch die wiederholt genutzten Formen (z. B. der Kreis als Erdkugel, Bauch, Brust, Gesäß20 BACHTIN, 1996, S. 16.

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teil, Kopf, Nabel) werden durch Farbregie und grelle Details Möglichkeiten der Blickführung erzeugt und die vier isolierten Körper zueinander in Bezug gesetzt: Die aus aufgebrochenen blauen und gelben Pinselstrichen grünliche Färbung der Haut des Metzgers, durch die partiell auch eine Rötung durchscheint, wird noch einmal in der Hautfarbe des männlichen Würdenträgers reflektiert. Die rote Schärpe des Hosenlosen führt farbanalog in den Vordergrund zurück, in der die monströse Gestalt mit breitem und geöffnetem roten Mund in der erhobenen Linken einen herausgerissenen roten Zungenlappen präsentiert und an der Rechten den dazugehörigen Mädchenkopf an seinem roten Schopf hält. Neben ihm ist ein mit Blut gefüllter Eimer abgestellt, aus dem ein nacktes Unterbein herausragt, das sich wie in einem grotesken Zerrspiegel zu den mit blauen Pumps bekleideten Beinen der Frau fügt. Über das Farbspiel wird ein Gemeinsames dieser städtischen Mitspieler signalisiert, ohne dass dieses genau erfassbar wäre. Das auffällige Ensemble aus zusammengekniffenen Mündern, der isolierten Zunge und dem weit geöffneten Schlund legt schließlich auch nahe, dass diese sichtbaren Indizien für erfolgte Verstöße gegen die kulturelle Ordnung von Verstummen und Stummheit begleitet werden und Erzählbarkeit selbst für unmöglich erklärt wird. Erläuterungsbedürftig ist schließlich das im Gemälde angelegte situative Moment. Gekennzeichnet durch stilisierte Unordnung wird der Zustand des Grotesken in diesem ausschnittsbetonten „Porträt“ geradezu als naturalisiert und alltäglich präsentiert. Erfasst wird, was nach der Handlung vorliegt. Deplaziertes und Entstelltes verweisen auf ein exzessives Vergreifen. Ein verständiges Begreifen der Situation im Sinne einer nachvollziehbaren Erzähllogik bleibt ausgeschlossen. Der Betrachter des Bildes, das wie ein Schlussbild anmutet, kommt gleichsam zu spät, denn er hat jene Handlung verpasst, die die schlimmstmögliche Wendung21 eingeleitet hat. Die Bildwirkung ist bekannt: Das Bild fordert zum Unmöglichen auf, zu der Rekonstruktion des nicht erzählten Falls und wird als Rätsel stilisiert. Damit wird eine grundlegende Einsicht über die Verrätselung des Weltganzen offenkundig, die analog

21 Dürrenmatt schreibt programmatisch: „Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmst-mögliche Wendung genommen hat“, wobei diese „nicht voraussehbar“ sei, sondern „durch Zufall ein[trete]“ DÜRRENMATT, 1967, S. 353.

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auch das Schlussbild des Textes Die Wurst prägt. Ebenfalls wie in der Wurst-Geschichte, wo, wie nachfolgend zu erläutern ist, das Weltganze zu einem Fragezeichen mutiert, enthüllt sich im obigen Gemälde die für Dürrenmatt typische und auch von Monika Schmitz-Emans nachgewiesene „Ästhetik des Schweigens und des Verschwiegenen, eine Ästhetik der Andeutung, bei welcher Visuelles in Wort-Lücken eintritt oder Wörter auf Unsichtbares verweisen.“22 Texte und Bilder, die Momentaufnahmen ausschnittartig und in grellen Kontrasten aus den Primärfarben Gelb, Blau, Rot ins Bild rücken und vom Betrachter als „Dokumentationen extremer […] Katastrophen“23 wahrgenommen werden, sind Kondensationsmedien. Beide entspringen einem Denken,24 das sich in sprachlicher oder bildlicher Darstellung niederschlägt: „Jedes Darstellen, in welchen Medien auch immer, setzt einen Hintergrund voraus, der aus Eindrücken, Bildern und Denken besteht.“ (WA 26: 214) An anderer Stelle betont Dürrenmatt die visuelle Grundlage seines Denkens und Schreibens: „Auch beim Schreiben gehe ich nicht von einem Problem aus, sondern von Bildern, denn das Ursprüngliche ist stets das Bild, die Situation – die Welt.“ (WA 26: 216) Schreiben, Zeichnen und Malen sind Prozesse der fortwährenden Suche nach „bildnerischen Endformen“ (WA 26: 207) und der schlimmstmöglichen Wendung. Weiterhin resultiert Dürrenmatts Kunstverständnis unmittelbar aus seiner Zeitgenossenschaft in einer Welt der Katastrophen. So wie es die Motive zu bewältigen gilt, ist der gegenwärtigen Welt „mit Bildern standzuhalten“ (WA 26: 200), mit dem Wort allein käme man dieser nicht bei (vgl. WA 26: 214). Dieses Aushalten wird zur Aufgabe des Künstlers wie auch zu der des Rezipienten: [M]it dieser Zeit, die sich zersetzt, indem sie heranbricht, mit dieser Anarchie, die stärker ist als unsere pedantischen gesellschaftlichen Leitbilder und unsere geglaubten und herbeigesehnten Utopien, müssen heute alle leben, wir, gleichgültig, ob einer sich aus der Zeit zu stehlen sucht oder sich ihr stellt! (WA 26: 200)

22 SCHMITZ-EMANS, 2004, S. 39. 23 KRÄTTLI, 1991, S. 156. 24 „Ich male aus dem gleichen Grund, wie ich schreibe: weil ich denke.“ (WA 26: 216).

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4. Die Bildlichkeit der Handlung in Di e Wurst Die Tätigkeit des Künstlers ist „ein ständiges Auseinandersetzen mit dem Gesetzten, mit dem Nächsten, mit der Umgebung, in einer Zeit, in der alles, schlagartig, zum Nächsten werden kann, zu dem, was uns unmittelbar bedroht.“ (WA 26: 198) Auf das Schreiben und somit auf die stilistischen Such- und Findeprozesse bezogen heißt dies für Dürrenmatt: „Schreiben hat mit Phantasie zu tun, mit Vorstellungskraft, mit Beobachtung, mit Spieltrieb und mit viel Unbewusstem auch beim Bewußtesten.“ (WA 26: 168) Die Arbeit an der Sprache ist dabei nicht Selbstzweck, es kommt auf die Darstellung von Handlung an, wobei Handlung weniger als kausallogischer Begründungskomplex denn als aktionsbildende Momenthaftigkeit zu verstehen ist: „Darum kann man auch nicht an der Sprache an sich arbeiten, sondern nur an dem, was Sprache macht, am Gedanken, an der Handlung etwa, an der Sprache an sich, am Stil an sich arbeiten nur Dilettanten.“25 Diese für das Drama gültige Grundformel ist auch für die epische Skizze Die Wurst strukturbildend, die in nuce als fiktiver Entwurf einer Kunstkonzeption gelesen werden kann. Die modellhafte Nähe zum Theatersaal mit Zuschauern, einer Bühnenanordnung und einer nach einem Skript ablaufenden Handlung spiegelt sich im Gericht mit der sensationsgierig versammelten Menschenmenge, dem erhabenen Podest des Richters und dem streng regulierten Ablauf der Gerichtsverhandlung. Bedeutsam ist vor allem, dass der Gerichtssaal als der wörtlich zu nehmende ‚Verhandlungsraum‘ Platz für das Dialogische bietet, um das Unaufgeklärte, die kriminelle Tat, in eine neue Situation, in Aufklärung, zu überführen. Die Pointe an dieser Geschichte ist nun, dass die Situation innerhalb des Gerichtssaals selbst durch das konventionell undenkbare Verhalten des Richters zu einer Situation führt, die keine dialogischen Mittel der Verhandlung und der Aufklärung mehr zulässt. Dürrenmatt bringt das mit der Schlussformulierung zum Ausdruck „Die Welt wird ein ungeheures Fragezeichen.“ (WA 18: 25) Bezeichnenderweise wird in der Geschichte nicht der Inhalt des Gesprächs im Gerichtsaal zwischen Verteidiger, Richter und Angeklagtem wiedergegeben, stattdessen werden rein veräußerlicht das Wie und die Wirkung dieser Sprechakte beschrieben, die 25 Anmerkung Friedrich Dürrenmatts zu Der Besuch der alten Dame in: DÜRRENMATT 1951, S. 357.

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auf einer Ebene mit den interjektionalen Lauten der anwesenden Zuschauermenge als unverständlich dargeboten werden. Ähnlich einem surrealen Erlebnis mit Augen- und Ohrensinn gelingt es nicht, aus den durch Beobachtung ermittelten Wahrnehmungsdaten ein Verständnis zu synthetisieren. Die Bedeutsamkeit der sinnlich wahrnehmbaren Erscheinung zeigt sich in der beschreibenden Darstellung des Erlebten durch Gleichsetzungen oder Vergleiche. Durch dieses Verfahren wird der Leser zum Beobachter, der sich in einer ähnlichen Position befindet, wie der Erzähler in Das Bild des Sisyphos (1945). Dieser hat „von einer winkligen Treppe aus, die sich irgendwo im Dunkel verlor, durch ein halbvereistes Fenster in eine hellerleuchtete Stube geschaut“, „wo sich alles deutlich, aber völlig lautlos abspielte“ (WA 18: 41-56, hier 43). Die durch Beobachtung generierte Bildlichkeit ist die Voraussetzung für eine weitere poetologische Konsequenz, nämlich die Konzentration auf Wirkung. Diese lasse sich, so Dürrenmatt, mit Worten beschreiben. (vgl. WA 26: 220) Für die Prosaskizze Die Wurst ist dies beispielhaft nachzuweisen. Die Vorgeschichte wird expositorisch als Information über ein Delikt in einem kurzen Einführungsparagraphen im berichtenden Präteritum enthüllt, ehe im zweiten Paragraphen und Hauptteil des Textes mit szenischem Präsens der Ablauf einer Gerichtsverhandlung geschildert wird. Diese aktualisierende Darstellung szenischer Präsenz drängt dem Leser die Zeugenrolle auf und bietet die Momentaufnahme einer Gerichtsverhandlung zu einem Fall von Kannibalismus. Zu Textanfang steht die unerhörte Begebenheit: „Ein Mensch erschlug seine Frau und verwurstete sie“. (WA 18: 23) Mit diesem auch syntaktischen Aplomb wird der Täter bei Satz- und Texteröffnung unmittelbar grammatisch als Agens ausgewiesen – und eine Situation generiert, die dem obigen Gemälde Porträt eines Planeten I: Der Weltmetzger sehr ähnlich ist. Beachtenswert ist lexikalisch, dass bereits mit dem ersten Nominalsyntagma des Textes auf das Muster des öffentlichen Skandalons angespielt wird und der Zuschauer damit seine Rolle erhält. Dieser stilistische Kniff funktioniert dadurch, dass bei dezidiert emotionslosem Berichtsduktus durch die lexikalische Substitution von ,Mann‘ durch ,Mensch‘ die konventionell zu erwartende emphatische Reaktion auf einen solchen Informationsreiz imaginiert wird. Während durch Verwendung von Basislexik und Elementarsyntax der Eindruck von kon-

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trollierbarer Ordnung entsteht, deutet dieser beinahe unmerkliche Austausch zweier Substantive auf eine heillose Unordnung der fiktiven Welt hin: Das Eigentliche wird verschwiegen, findet im Verborgenen statt. Demzufolge ist nicht das Hören, sondern das stille Beobachten der vermeintlich erkenntnisleitende Sinn. Diese logische Schlussfolgerung wird am Ende des Einführungsparagraphen, der als ein Botenbericht gelesen werden kann, auch bestätigt: Ein Beweismittel, das corpus delicti und zugleich auch corpus delicati – ein Reststück Wurst – wurde gefunden, die Tat öffentlich bekannt. Daraufhin setzt mit dem zweiten Paragraphen die Gerichtsverhandlung ein, die sich als dramaturgische Steigerung des Unerhörten entwickelt. Entgegen der aus der Sachlichkeit des Eröffnungsparagraphen gestifteten Erwartung, dass diesem Vorfall von moralischem Ausfall nun eine geordnete Gerichtsverhandlung gegenübergestellt würde, um die Ordnung zu restituieren und den Ausfälligen innerhalb des Ordnungssystem sanktionierend aufzufangen, offenbart der Verhandlungsverlauf, dass der Angeklagte unbeeindruckt von der Strenge der Gerichtsinszenierung und dem anstehenden Todesurteil an seinem Wunsch festhält, auch dieses letzte, im Gerichtssaal verbliebene Wurststück verzehren zu dürfen. Zudem bemerkt aufgrund der empörten Stimmung auf den Zuschauerbänken während der Verhandlung niemand, dass, als dieser unfassbare Wunsch des Angeklagten geäußert wird, der Richter selbst das Beweisstück als Beißstück bereits verzehrt hat. Dass hier prototypisch Dürrenmatts Prinzip der schlimmstmöglichen Wendung durchexerziert wird, steht außer Frage. Wie dies stilistisch bewerkstelligt wird, ist genauer aufzuschlüsseln.

5. Zur Stilistik der Wurst Welche sprachlich-stilistischen Verfahren nutzt Dürrenmatt, um das Groteske dramaturgisch für den Leser der Wurst in Szene zu setzen? Dürrenmatts Ausgangsmaterial ist der Grundwortschatz, der repetitiv eingesetzt wird (z. B. 9 x aus der Wortfamilie ,Mensch‘, 8 x das Lexem ,Wurst‘). Damit triggert er regieartig ein etabliertes semantisches Wissen und kann zu wirkungsintensiven Vorstellungsräumen beim Leser anregen, ohne diese Szenerien selbst auszumalen. Auf unterschiedliche Weise arbeitet Dürrenmatt dabei gegen etablierte semantische Abgren-

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zungen (die im Ordnungsgefüge des sprachlichen Lexikons angelegt sind) an und amalgamiert mehrere konventionell als distinkt wahrgenommene Bedeutungen. Ergebnis ist ein Sprachduktus, der im ersten Moment bei inhaltlich orientierter Lesart plakativ überzeichnet erscheint, bei genauerer syntagmatischer Lesart des Textes jedoch eine doppelsinnige Dramaturgie erkennbar werden lässt. Auf Ebene des Textes werden durch morphologisch und phonologisch ähnliche Wörter neue semantische Schnittmengen generiert. So etwa wenn über den erwähnten paradigmatischen Austausch (,Mannʻ/,Menschʻ) eine semantische Ähnlichkeit suggeriert wird, tatsächlich jedoch damit auf den abseitigen Bereich außerhalb der semantischen Schnittmenge der beiden Lexeme fokussiert wird: eben genau dorthin, wo der Mann nicht Mensch ist – da, wo der Mann dafür sorgt, dass ein Mensch nicht länger Mensch ist. Andererseits führen Dürrenmatts szenische Beschreibungen zu gedanklichen Vorstellungsbildern: 1. Durch die textlich erzeugten Bildinhalte werden semantisch inkongruente Bezüge aufgrund morphologischer Ähnlichkeiten innerhalb des lexikalischen Feldes evoziert (z. B. der Biss des Richters in den Beweis). 2. Einzelbedeutungen homonymer oder polysemer Wörter werden zu semantischen Kipp- oder Zwitterfiguren des Sowohl-als-auch zusammengezogen (der Fall als Verhandlungsgegenstand und der moralische Fall des Richters; das Gericht/Mahlzeit im Gericht/judikativer Machtraum). Im Hinblick auf die Satzgestaltung ist zunächst darauf hinzuweisen, dass die Kategorie ,Satz‘ als eine zentrale Größe zu begreifen ist. Nach grammatikalischem Verständnis repräsentiert der Satz die Einheit eines Gedankens. Diese durchaus angreifbare Normvoraussetzung wird bei Dürrenmatt in ästhetischer Wendung als Darstellungsproblem fruchtbar gemacht. Das ausgeprägte Bewusstsein vom Satz als Baustein für Gestaltung verrät der Titel einer Novelle, die jenen beiden Texten aus dem Frühwerk 43 Jahre später folgt: Der Auftrag oder Vom Beobachten des Beobachters der Beobachter. ovelle in vierundzwanzig Sätzen.26 26 Der Untertitel dieser Novelle bietet einen metastrukturellen Kommentar auf tradierte epische und dramatische Formen. Zu denken ist etwa an

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Reinhold Grimm nennt diese Novelle mit 24 Kapiteln, jeweils bestehend aus einer komplexen Periode, „eine schier unglaubliche tour de force aus lediglich zwei Dutzend Mammutsätzen“ und erkennt darin „eine eisern durchgehaltene Radikalisierung des Kleistschen Prosastils“27. Wenn hingegen der stilbewusste Erzähler aus Justiz zu einem „vorsichtigen Stil“ mahnt, also zu „[k]urze[n] Sätze[n]“, denn „Nebensätze können gefährlich werden“28, so scheint die reduzierte Syntax des Wurst-Textes ein solides Ordnungsgefüge für inhaltliche Turbulenzen nahezulegen. Aus der An-Ordnung dieser einfachen Sätze in parataktischer asyndetischer Reihung schert in Die Wurst lediglich der Initialsatz als zweiteilige Satzreihe mit additiver Konjunktion aus, wobei auch in diesem Fall das Minimalismusprinzip in den Teilsätzen greift, die auf semantisch und syntaktisch notwendige Bestandteile reduziert sind. Es scheint, als würde nach diesem Satz auch grammatikalisch jede weitere Möglichkeit sinnvoller Zusammenhänge im Sinne syndetischer Konstruktionen aufgekündigt. Ein Blick auf die Struktur der Satzfolgen innerhalb des zweiten Paragraphen zeigt ein Textgebilde, das einen lyrische Anschein hat, so als wären die Verszeilen aufgelöst und zeilenfüllend angeordnet. Die einzelnen Sätze spiegeln sich in Parallelismen, wobei der Satzbeginn jeweils besonders hervorsticht. Satzinitial wird durch anaphorischen Gebrauch der Artikel, Pronomina und Präpositionen eine Melodik wiederkehrender Konsonanten und Vokale erzeugt und eine Grundrhythmik durch die gleich gebauten Sätze etabliert. Dieser Wiederholungscharakter der Funktionswörter zu Satzbeginn wird im Text zu einer lexikalischen Rekurrenz von Substantiven und Verben ausgeweitet. Auffällig wird auf die literaturtypischen Wechsel synonymer Ausdrucksvarianten verzichtet. Textübergreifend werden Denkfiguren von Dürrenmatt mit denselben oder ähnlichen Verbalisierungen

Homers Epen mit 24 Gesängen oder Kleists Penthesilea mit 24 Auftritten. Einen expliziten formalen Bezug hat Dürrenmatt selbst jedoch zu Johann Sebastian Bachs Wohltemperiertem Klavier aus 24 Präludien und Fugen gestiftet. Vgl. hierzu HELBLING,1988, S. 178. Mit der Substitution der dramaturgischen Gliederungseinheit Präludium, Fuge, Auftritt, Gesang durch den Satz offenbart sich durch Anspielung eine ironische Distanzierung von normpoetischen Kunstgenres. 27 GRIMM, 2000, S. 92. 28 DÜRRENMATT, 1998, S. 89.

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und syntaktischen Fügungen arrangiert, wie sich bereits anhand von kurzen Textpassagen verdeutlichen lässt: 1a „Die Wände waren halbhoch braun getäfelt. Der ungetäfelte Teil der Wände und die Decken waren weiß. Die Sitzordnung war nach der Hierarchie des Systems geregelt. A saß oben. Über ihm […] hing die Parteifahne.“ (Der Sturz, 1971)29 1b „Die Wände dröhnen.“ (Die Wurst, WA 18: 24) 1c „Die Wände keuchen.“ (Der Folterknecht, 1943; WA 18: 15) In den Beispielen 1 liegt jeweils eine Beschreibung des Beobachterund Stimmungsraums vor. Im syntaktischen Vergleich der beiden Äußerungen 1b und 1c zeigt sich eine partielle Rekurrenz des Syntagmas mit identischem Grundrhythmus, der formal die inhaltliche Aussage bestätigt. Ebenso wie geradezu echohaft paradigmatisch gleiche Syntagmen oder Satzkonstruktionen Dürrenmatts Texte durchziehen, werden Motive in situativer Variation durch das Text-Bild-Werk hindurch gespiegelt, man denke nur an die oben erwähnten blauen Pumps (Weltmetzger-Gemälde), an die roten Schuhe des Mädchens in der Erzählung Der Hund30 oder die viel zitierten gelben Schuhe in der tragischen Komödie Der Besuch der alten Dame. Die Beispiele in 2 zeigen das Spiel um Licht, Blicke, gestörte Beziehungen und Erkenntnislosigkeit, Sinnenschwindel und Orientierungsverlust auf: 2a „Sie fand ihn in einem […] Saal, dessen Fenster weit offen waren, durch die das Licht der Sonne flutete […] Es war nichts in diesem Blick, das bedrohlich war, aber auch keine Frage, woher sie komme.“ (Der Alte, 1944/45, WA 18: 37) 2b „Der Gerichtssaal ist hell. Durch die Fenster stürzt die Sonne. Die Wände sind grelle Spiegel. […] Der höchste Richter sieht auf den Teller. […] Die Menschen schauen den höchsten Richter an. Die Augen des Verdammten sind groß. In ihnen steht ein Frage. Die Frage ist entsetzlich.“ (Die Wurst, WA 18: 23) 2c „Sie betreten einen Saal. Die Schatten fliegen über die Wände. Die Fenster sind leer. An der Decke hängen Fledermäuse. Der Boden ist 29 DÜRRENMATT, 1991, S. 351f. 30 Ebd., 168.

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ein Spiegel. […] Das Licht wird dunkel […] Die Fenster drehen sich“ (Der Folterknecht, WA 18: 17) Die Beispiele 3 generieren den surrealistischen Eindruck einer Verlebendigung im Moment der Beobachtung und des Gewahrwerdens der Stimmung im Raum: 3a „Die Flamme flackerte. Sie wurde kleiner und größer, und mit ihr wurde der Raum wie ein atmendes Wesen lebendig.“ (Die Falle, 1946; WA 18: 71-95, hier 91) 3b „Die Wurst vor dem höchsten Richter ist rot. Sie ist still. Sie schwillt. […] Die Wurst ist warm. Ihre Form ist mollig.“ (Die Wurst, WA 18: 24) Diese Textproben belegen eine nonkonforme Geste gegenüber literarischen Konventionen, deren Ziel es ist, mit raffiniert gebrauchter Lexik und elaborierter Syntax genau zu beschreiben. Wenn Dürrematt an anderer Stelle äußert: „Die Sprache wird irrelevant, die Handlung ist die Wäscheleine, an der die Sprache im tragischen Winde knattert“31, so könnte man versucht sein, einen programmatischen Appell herauszulesen, dem auch Die Wurst folgt. Mit diesem sprachlichen Bild kritisiert der Autor jedoch eine einseitige Handlungsorientiertheit auf Kosten der Sprache. Auch erweist es sich als unzureichend, in dem simpel anmutenden Reihenstil der Wurst eine lediglich expressionistisch-dynamische Vitalität auszumachen. Zunächst wird in der Tat eine forcierte Triebkraft syntaktisch unterstützt, die sich aus der Gewaltthematik zu Beginn der Geschichte (Ermordung und Verwurstung) speist und die turbulente Empörung des Volkes im Gerichtssaal bedingt. Mit zunehmenden Referenzen auf gewaltsame Zerstückelung und Fragmentierung auf Inhaltsebene (Teilkörperansichten) wirkt der Text durch die exzessive Punkturierung und ebenmäßige Unterteilung in kleinste syntaktische Einheiten selbst gewaltsam aufgebrochen. Zwar wird Dynamik teilweise noch durch Bewegungsverben satzintern erzeugt („Die Brille tanzt“, „Die Türen rütteln an den Angeln“; WA 18: 24), doch diese Kraft scheint nun in jedem Satz selbst verkapselt zu sein, so dass mit jedem Satzende erneut eine Gegenkraft aufgewendet werden muss, um 31 DÜRRENMATT, 1971, S: 178.

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die Stille, die zwischen Satzende und Satzanfang folgt, zu überwinden und den nächsten Satz zu beginnen. Die bleierne Schwerfälligkeit, die auf Inhaltsebene wahrgenommen wird („Der Richter horcht“, „Der Lungen sind voll Blei“, „Die Stille ist dumpf“; WA 18: 23-25), wirkt auch auf die Rezeptionsgeschwindigkeit ein. Die Gestaltung von sistierter Bewegung gilt in gleichem Maße für das bildnerische Werk. Manuel Gasser schreibt, dass „der Zeichner Dürrenmatt dieses Gerinnen der dynamischen Handlung zur Statik sucht und genießt.“32 Zudem wird eine zusätzliche Bedeutung der Satzformen über die bildhaften metasprachlichen Kommentare erreicht, mit denen die Wirkung der Sprache des Richters beschrieben wird („Seine Sätze sind Stricke. Sie geißeln. Sie würgen. Sie töten.“; WA 18: 24). Diese Wirkung überträgt sich auf die Lesart der Sätze der Geschichte, indem so dramaturgisch Mündlichkeit und Schriftlichkeit überblendend zusammengeführt werden. Das Prinzip der aggressiven Fusion von Heterogenem zeigt sich ebenso satzintern, da die Sätze häufig als verbale Gleichungen konzipiert sind, die bisweilen zu Vergleichen gelockert werden: X ist Y („Sein Mund ist ein Schnabel“; WA 18: 24) oder X ist wie Y („Seine Augen sind wie Sonnen“; WA 18: 24). Diese Setzungen konstituieren nicht nur einen Möglichkeitsentwurf. Diese Gleichungskonstruktionen fungieren wie das, was visuell durch Spiegelungen oder Doppelungen erzeugt wird: eine Bezugsetzung von Bild und Abbild, Objekt und Schatten. In dieser Geschichte wird gezeigt, wie durch die Gleichsetzungen von konventionell als ungleich und ungleichwertig Kategorisiertem mit verbalen Ist-Prädikationen sowie aus der Aneinanderreihung dieser Charakterisierungssetzungen zu syntagmatischen ,Widersprüchen‘ („Die Wurst ist weich. Sie ist hart“; WA 18: 24) das Monströse erwächst. Es entsteht somit ein Gewalteffekt auf Aussageebene, indem konsequent Inkongruentes zusammengezwungen wird. Diese Gewaltförmigkeit spiegelt sich ein weiteres Mal im Verhältnis von Inhalt und Form. Während auf Inhaltsebene dieser kleinen Geschichte parabelhaft die Zivilisation auf dem Spiel steht, wird auf formal-sprachlicher Ebene Einfachheit insinuiert. Diese Einfachheit kaschiert das Furchtbare nicht in naiver Verstellung, im Gegenteil, sie ist das künstlerische Mittel, um die Unbegreiflichkeit des Weltgeschehens zu exponieren. 32 GASSER, 1978, o. Seiten.

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6. Intermediale Stilisti k Wenn im Text Die Wurst ein statisches Moment die Syntax regelt, so setzt sich dies inhaltlich dort fort, wo die gewohnte lineare Darstellung zu einem optischen traumartigen Bild gerinnt. Eine makrostrukturell chronologisch angelegte Darstellung der Gerichtsverhandlung wird mikrostrukturell als ein blitzlichtartiges Einfangen des Geschehens umgesetzt. Das Verfahren der unvermittelten Wechsel auf Detailansichten erzeugt eine Unruhe, die mit der wogenden Menschenmenge im Gerichtssaal korrespondiert. So als müsse der Beobachter seine Aufmerksamkeit für viele Geschehensmomente zugleich bereithalten. Die Mobilisierung der Blicke und der Körper steht in antagonistischen Gegensatz zur Statik ordnungsgebender Architektur.33 Noch einmal kommt hier das für Dürrenmatt typische Strukturmoment des Gegeneinanderstellens zum Ausdruck. Was oberflächlich als machtsichernd erscheint, wird im Inneren einer extremen Belastungsprobe ausgesetzt. So wie der Gerichtssaal als erschütterbare Architektur ausgewiesen ist, wird in der Federzeichnung Beim Bau eines Riesen (Abb. 2) die gigantische Höhle entsprechend als fragile Konstruktion dargestellt. Im Inneren des kathedralenhaften Baus wird ein überdimensionierter Kopf erschaffen, dessen Augen wie Suchscheinwerfer zwei Szenen gleichzeitig in den Blick nehmen. Kommt hier auf ikonographischer Ebene die konstatierte Blickmobilität zum Ausdruck, offenbart sich darin eine hilflose Machtgeste, denn wiederum ist ein Gegensatz markant: Dominiert zunächst die physische Größe des Kopfes, und scheint diese Apparatur alles in den Blick nehmen zu können, so erweist sich doch auch, dass die Augen fixiert sind und dieser Leviathan Teil einer hochgradig instabilen Architektur ist.34 Das Motiv des kühlen Beobachters,35 der letztlich machtlos ist, entspricht der Rolle des Lesers des Prosastücks Die Wurst. 33 Schmitz-Emans konstatiert, dass mit der Raum-Thematik a priori die Thematik der Ordnungen von Welt und Erfahrung verbunden sei. SCHMITZEMANS, 2003, S. 197. 34 Weitere illustrierende Beispiele hierfür bieten die Turmbau-Federzeichnungen, insbesondere Turmbau III (1968). Diese sind abgebildet in CHRISTIAN STRICH (siehe Anm. 10). 35 Dürrenmatt weist in seiner Beobachter-Novelle Der Auftrag (1986) seinem Protagonisten Otto von Lambert die „Methode der kühlen Beobachtung“ zu. In: DÜRRENMATT, 1991, S. 455.

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Abb. 2: Beim Bau eines Riesen (1952) Um das Spiel mit Inkongruenzen als strukturelles Prinzip über die medialen Genres hinweg abschließend zu verdeutlichen, soll das Gedicht Kronenhalle36, dessen Nähe zu vorliegender Argumentation sich erst auf den zweiten Blick eröffnet, als Ausgangspunkt genommen werden. Auch hier ist es ein Beobachter, in diesem Fall das lyrische Ich, das seine Wahrnehmung eines Innenraums vermittelt. Kontrapunktisch zu den üblichen Explosivräumen wird in diesem zweistrophigen Gedicht ein 36 Zitiert wird nach der Ausgabe: WA 26: 217-218.

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Speisesaal als sakrosankter Ort und leerer Bühnenraum dargestellt.37 Das lyrische Ich (es darf hier mit Dürrenmatt identifiziert werden), das im Restaurant über den Auftritt der Schauspielerin Therese Giehse38 reflektiert, ist ein tendenziell unbehaustes, das eher einsame Orte anerkennt: das „Haus über dem See“39, die „ander[e] Seite des Monds“, die von Kulissen umstellte Bühne und das sinnliche, mütterlich geprägte kulinarische Lustreich, in dem die Leberknödelsuppe der „Mutter Zumsteg“ dampft. Dieses sucht er habituell auf in der stillen Nachmittagszeit „zwischen drei und vier“. Die Ruhe dominiert den Raum und nur die Vorhänge bewegen sich manchmal bei vorbeifahrenden „blauen Tramwagen“. ,Traumwagen‘ möchte man meinen, denn auch die Katze – wiederum das Weiche, Friedliche, den freien Willen symbolisierend – findet hier den Ort der Ruhe, schläft ungestört auf der Bank „wie hinter Silberstaub“. Das lyrische Ich ist ebenso optisch gebannt: In der zweiten Strophe nimmt es von seinem Platz zwischen Glasscheiben eine Perspektivenverzerrung war; es bemerkt eine Spiegelung, in der das eigene Gesicht und der Tresen übereinander geblendet werden – der Hintergrund schiebt sich vor den Vordergrund: Geisterhaft auf die gleiche Scheibe gespiegelt Erscheint aber auch Mein Gesicht und die fernere Theke Schiebt sich Der Hintergrund vor den Vordergrund. (WA 26: 218)

Auf Bildebene wird der Gast mit dem Ort, der für das Gastmahl steht, zusammengebracht. Diese Distanzverringerung wird mit der Schrift auf dem Papier nachvollzogen, wo die Makrostruktur des Gedichts eine zunehmende Verdichtung der Verszeilen aufweist. In der ersten Strophe korrespondieren die isoliert angeordneten Verszeilen mit dem einsamen 37 Mit der als Heimat umschriebenen „Kronenhalle“ wird Bezug genommen auf das von Hulda Zumsteg geleitete Züricher Restaurant, in dem Dürrenmatt sich unter anderem mit Max Frisch und Walter Mehring traf. 38 Die Bühnen- und Filmschauspielerin Therese Giehse (1898-1975) übernahm am Zürcher Schauspielhaus die Rolle der Claire Zachanassian (1956) und der Mathilde Zahnd (1961). 39 Dürrenmatts Bieler Adresse.

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Ich, die sich in einer Art heimischer Vergesellschaftung zu Doppelzeilen und schließlich zu einem triadischen Zeilencluster zusammenschließen. In der zweiten Strophe sind die Verszeilen zu 3er- und 2er-Clustern gebündelt, wobei nun zusätzlich die jeweils zweite Zeile durch Einrückung nach rechts horizontal verschoben ist. Auf lexikalischer Ebene wird wieder einmal die Atmosphäre eines Stilllebens erzeugt, wenn das Dampfen des Gerichts, die Ruhe und die Bewegung der Vorhänge beschrieben werden. Entscheidend ist jedoch vor allem die optische Reflexion, die ebenfalls bereits in Die Wurst angelegt ist. Die beobachtete Spiegelung, bei der sich das Hintergründige in den Vordergrund drängt, ist wiederum das, was auch in der Kannibalismus-Geschichte als semantisches Prinzip wirksam ist. Während auf der Ebene des Signifikanten am Lexem ,Gerichtʻ festgehalten wird, kommt es zu einer beinahe unmerklichen Signifikatsverschiebung: Gleichfalls drängt sich der Hintergrund (der Richter stellvertretend für das Gericht) in den Vordergrund, in dem das sanktionswürdige Gericht (die Wurst) bisher platziert war. Mit dieser durch Homonymie erzeugten Ambiguität von ,Gerichtʻ wird die Spiegelung noch einmal auf Wortebene vollzogen: Es schiebt sich ähnlich wie in der Spiegelung im Gasthaus die Person des Richters über die Person des Angeklagten, nehmen beide doch die Position des Leib-Verspeisenden und des Schuldigen ein. Was für die Homonymie gilt, gilt zum Teil auch für den Satz. Heißt es im Text: „Die Augen des Verdammten sind groß.“ (WA 18: 25), geht weder aus dem Satz noch aus dem Kotext eindeutig hervor, wessen Augen gemeint sind – die des Angeklagten oder die des Richters. Mit dem Stichwort des Doppelgängers ist ein weiterer Topos benannt, der nicht im herkömmlichen Sinne als Indiz des Unheimlichen gilt, sondern in das Repertoire des Grotesken gehört. Wie der Rollenwechsel zählt auch das Motiv des Einverleibens zum Komplex des Grotesken. Barbara Lide verweist darauf, dass das Essen in Komödien eine wichtige Funktion erfüllt. Es wird mit diesem Motiv angezeigt, ob eine alte Ordnung gefestigt oder eine neue errichtet wird.40 In dieser Groteske jedoch fungiert das Essen als endgültige Aufhebung von Ordnung ohne Neuordnung, da sich der Repräsentant der Ordnung lustgetrieben an der Wurst vergeht und zum Kannibalen wird. Einmal mehr ist eine existentielle Spielart des monströsen Wucherns hin zu unkontrollier40 Vgl. LIDE, 1992, S. 216.

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barer Situativität inszeniert. Wie ist dieses Schlussbild der Geschichte Die Wurst zu verstehen, in dem die Welt final zu einem überdimensionalen Fragezeichen erwächst? Der höchste Richter sieht auf den Teller. Die Wurst ist weg. Er schweigt. Die Stille ist dumpf. Die Menschen schauen den höchsten Richter an. Die Augen des Verdammten sind groß. In ihnen steht eine Frage. Die Frage ist entsetzlich. Sie strömt in den Saal. Sie senkt sich auf den Boden. Klammert sich an die Wände. Hockt oben an der Decke. Nimmt Besitz von jedem Menschen. Der Saal weitet sich. Die Welt wird ein ungeheures Fragezeichen. (WA 18: 25)

Nicht geheuer ist das Aufkommen eines Zeichens als statuarisches Schlussbild. Das Ungeheure ergibt sich durch die Größenverhältnisse, eine Größe, der sich niemand entziehen kann, die nicht zu relativieren ist. Was geschieht hier? Die Ebene des Signifikanten in Form des Satzzeichens schiebt sich auf die Ebene des Signifikats des Textes. Das Satz- und Textzeichen, der Finalmarker und formale Schlusspunkt wird auf Inhaltsebene überblendet vom Fragezeichen, so dass am Ende der Geschichte ein Vortex eröffnet wird und anstelle einer Antwort eine Ausgangslage konstituiert wird, mit der ein Denken beginnt und die zu einer Vorstellung werden kann. Abermals wird in dieser Setzung des Fragezeichens, die sich als offener Schluss zeigt, die Dramaturgie Dürrenmatts sichtbar: „Die Welt [die Bühne somit, die diese Welt bedeutet] steht für mich als ein Ungeheures da, als ein Rätsel an Unheil, das hingenommen werden muß, vor dem es jedoch kein Kapitulieren geben darf.“ (TSR 1: 123)

7. Schlussbemerkung Verfolgt wurde bei der Analyse der Stilkonzeption Dürrenmatts anhand eines exemplarischen Ausschnitts aus dem fiktionalen, essayistischen und bildnerischen Werk ein offener Stilbegriff, wie er in der neueren Kulturwissenschaft verwendet wird, wo Stil auf unterschiedliche Zeichensysteme zu beziehen ist und somit heute auch für die Intermedialitätsforschung relevant ist. Damit soll nicht die kategorial begründete Verschiedenheit von Text und Bild in Frage gestellt werden, sondern 311

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vielmehr eine neue Blickposition eingenommen werden, bei der das stilistische Profil eines Werkes greifbar wird. Dabei geht es im Sinne Jacques Rancières eben nicht darum, „die Wörter den sichtbaren Bildern entgegenzuhalten“,41 sondern eine Wirkung zu entfalten, die über das Einzelwerk und Einzelmedium hinaus profilbildend ist. In der Zusammenschau von Texten und Bildern lassen sich Stil-Isomorphien ermitteln, die eine gegenseitige Verstärkung bewirken. In theoretischer Perspektive wäre daran anschließend die Frage nach der Abschließbarkeit oder Offenheit von Einzelwerken zu stellen. Der intermediale Stilbegriff wäre ein Instrument, um formale und hermeneutische Grenzziehungen neu zu bedenken. Gezeigt werden konnte, dass der Stil des Grotesken bei der Textund Bildkomposition Dürrenmatts auf unterschiedlichen Ebenen aus einer strategischen Synthetisierung und einer poetologischen ‚Einverleibung‘ gängiger Ordnungskategorien resultiert. Durch Spiegelungs-, Überblendungs-, Verschiebungsverfahren, Rollentausch und Kippfiguren werden formale, motivische und inhaltliche Ähnlichkeiten des Unähnlichen gestaltet und kontrastierende Eigenschaften einer Sache konfiguriert. Dies geschieht durch räumliche, farbliche sowie – im engeren Sinne der literarischen Texte – durch sprachliche Gleichsetzungen auf formaler und semantischer Ebene. Die Stilisierung der Unordnung motiviert sich schließlich aus Dürrematts Welt- und Kunstsicht: „Gegensätzliches häuft sich auf Gegensätzliches“. (WA 12: 196) Erscheint zunächst plausibel, dass der gigantische Stoff nur durch gigantische Mittel bezwingbar wäre („Filmmontagen, die sich jagen, Drehbühnen, Simultanszenen, Stereophonien, Lichteffekte, elektronische Zaubereien“, WA 12: ebd.), so findet Dürrenmatt am Ende seiner Bühnenerfahrung den dramaturgischen Kniff gerade in der Reduktion der Mittel. Wenn er schreibt: „Je älter ich werde, desto mehr […] sind mir die schönen Sentenzen und schönen Sätze verhasst. […] Ich versuche […] immer mehr auszulassen, nur noch anzudeuten. Die Spannung zwischen den Sätzen ist mir wichtiger geworden als die Sätze selbst“ (WA 12: 197), so gilt dies bereits, wie gezeigt, in Teilen für das Frühwerk. Ersichtlich wird damit abschließend, dass Dürrenmatts Streben nach einer dramaturgischen Sprache die mehrfache funktionale Relativierung der stilistischen Ergebnisse und das kokette Spiel gegen den ,Satz‘ pa41 RANCIÈRE, 2008, S. 115.

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Stilisierte Unordnung im Versuchsraum des Kunstwerks

radigmatisch beinhaltet. Die in dem eingangs erwähnten Gedicht Ergreife die Feder müde formulierte Schlussfolgerung des lyrischen Ich „Es kommt nie auf die Sätze an“42, womit radikal insinuiert wird, es käme in der ästhetischen Produktion in keinem Fall auf die stilistische Gestaltung an, markiert eine produzentenlogische Perspektive, die auf eine intellektuell-ethische Position verweist. Grundsätzlich ist mit dieser engagierten Position verbunden, dass einem noch zu Denkenden und Unmöglichen gegenüber einem bereits Gedachten und Möglichen der Vorzug gegeben wird und dass ein Kunstwerk hierfür als temporärer gedanklicher Möglichkeitsraum fungiert. Aus diesem intellektuellen Ordnungsgefüge heraus, das mit den höchsten Ansprüchen an die stilistische Angemessenheit verbunden ist, da von ihr das denkbare Weltbild abhängt, wird verständlich, dass produktionsbegleitend ebenso die Funktionalität des Stils gerade in seiner untergeordneten Rolle zu reflektieren ist, wie auch der Erschöpfung emphatisch Ausdruck verliehen werden muss, die symptomatisch aus der für Selektion und Kombination der Ausdrucksmittel erforderlichen „ständigen unsäglichen Konzentration“ (STOFFE: 39) folgt.

Literatur ANDEREGG, JOHANNES, Statement zum Begriff des Stils in der Literaturwissenschaft, in: Stile, Stilprägungen, Stilgeschichte (Sprache – Literatur und Geschichte 15), hg. von ULLA FIX/HANS WELLMANN, Heidelberg 1997, S. 269-272. DERS., Über Lesen, Stil und Zeit, in: Sprachstil – Zugänge und Anwendungen (Sprache – Literatur und Geschichte 25), hg. von IRMHILD BARZ u. a., Heidelberg 2003, S. 1-8. ARNOLD, ARMIN (Hg.), Zu Friedrich Dürrenmatt (Literaturwissenschaft – Gesellschaftswissenschaft. Materialien und Untersuchungen 60), Stuttgart 1982 BACHTIN, MICHAIL M., Die groteske Gestalt des Leibes, in: DERS., Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. Übers. aus d. Russ. von ALEXANDER KAEMPFE, Frankfurt a. M 1996, S. 15-23. 42 DÜRRENMATT, 1993, S. 95.

313

Anett Holzheid

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314

Stilisierte Unordnung im Versuchsraum des Kunstwerks

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Abbildungen Abb. 1: Friedrich Dürrenmatt Porträt eines Planeten I: Der Weltmetzger 1965, Gouache, 101,8 x 72,5 cm Freundliche Abbildungsgenehmigung und Copyright © Schweizerische Eidgenossenschaft/Centre Dürrenmatt Neuchâtel. Abb. 2: Friedrich Dürrenmatt Beim Bau eines Riesen 1952, Federzeichnung, 36 x 25 cm Freundliche Abbildungsgenehmigung und Copyright © Schweizerische Eidgenossenschaft/Centre Dürrenmatt Neuchâtel.

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Stilistische Textprofile in Kontexten und jenseits von Kontexten Am Beispiel eines Gedichts von Tadeusz Borow ski KAROLINA RAKOCZY

1. Zur Hypothese eines stilistischen Textpr ofils Die Frage nach Kontext oder Nicht-Kontext verändert notwendig die Parameter bei der Lektüre und Interpretation eines Textes, es verändert auch die Rezeption der Stilmittel oder des Stils im betrachteten Text. Die Hypothese eines stilistischen Textprofils impliziert, dass die Besonderheiten eines Textes, vielleicht sogar seine Einzigartigkeit, anhand seiner stilistischen Merkmale erfasst und beschrieben werden können. Zugleich ist es naheliegend davon auszugehen, dass der Wechsel der Perspektive – einerseits stilistische Fragen unabhängig von den Spezifika der Textentstehung und/oder des Rezeptionskontexts zu betrachten und andererseits dieselben Fragen gezielt in Hinsicht auf eben diese zu stellen – für die Beschreibung eines stilistischen Textprofils notwendig wichtig ist, einen solchen Begriff aber womöglich auch problematisch macht. Zur Verdeutlichung der Fragestellung gehe ich von zwei wichtigen Begriffen in der Stilistikforschung aus: dem aptum und der ,Abweichung‘, wie sie vor allem für die Devianzstilistik von Interesse sind.

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Karolina Rakoczy

Können aus diesen zwei Leitideen gewonnene stilistische Befunde durch eine Kontextualisierung erweitert werden?

2. (Dis-)Kontinuitäten in l yrischen Texten als Gegenstand und Kontext Die Untersuchung von (Dis-)Kontinuität erscheint in diesem Zusammenhang als plausible und lohnende Eingrenzung der Fragestellung. Ausgangspunkt ist die Zäsur: Eine Zäsur markiert ein Vorher-Nachher, dabei kann sie gesamtgesellschaftlich aufgefasst werden (Krieg als Zusammenbruch der bisherigen Strukturen und Verbindlichkeiten in politischer, wirtschaftlicher, sozialer Hinsicht etc.), aber auch in einzelnen Aspekten, z. B. den oben genannten, aber auch, in einem engeren, ästhetische Gestaltungen betreffenden Verständnis, in der Verwendung von Neologismen oder neuen Metaphern. In der meinem Forschungsprojekt vorangegangenen Magisterarbeit Die Zeitzäsuren 1945 und 1989 in ausgewählten deutschen und polnischen Gedichten ging ich probeweise von einer Unterscheidung aus, die helfen sollte, literarische Darstellungen von Zäsuren in ihrer Widersprüchlichkeit zu erfassen: der Unterscheidung von Zeitgedicht und Zäsurengedicht.1 Mit dem Zeitgedicht nahm ich v. a. Bezug auf Jürgen Wilkes Definition: Das Zeitgedicht als Neologismus markierte einen seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufkommenden Anspruch an literarische „Zeitgemäßheit“ von Gedichten, die im Zusammenhang mit der „Politisierung der Lebensverhältnisse“ gesehen werden kann.2 Diesen Begriff ergänzte ich in meiner Arbeit mit der Wortschöpfung ,Zäsurengedicht‘, um Gedichte auszuzeichnen, die in mehrfacher Hinsicht eine Zäsur markieren: 1. Das betreffende Gedicht markiert im ,Wie‘ der Darstellung einen Bruch zu bisherigen, v. a. aber zeitgenössischen literarischen Formen; 2. markiert es einen Bruch im Werk des betreffenden Autors; 3. markiert das Gedicht eine biographische Zäsur des Autors; 4. wurde es als Darstellung bzw. Auseinandersetzung mit einer Zäsur rezipiert und kanonisiert. Das 1

2

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Vgl. RAKOCZY, 2003. Im genannten Forschungsprojekt erprobe ich unterschiedliche gedächtnistheoretische Ansätze für die Gedichtanalyse und -interpretation im deutsch-polnischen Vergleich. WILKE, 1974, S. 1ff.

Stilistische Textprofile in Kontexten

Beispiel par excellence hierfür ist Paul Celans Die Todesfuge. Für die hier gestellte Frage, inwiefern eine gedächtnistheoretische Perspektive etwas zur Stilistikforschung beitragen bzw. grundsätzlich literaturwissenschaftliche Betrachtungen erweitern kann, erscheint v. a. das erste der genannten Kriterien hilfreich, das ich ergänzen möchte wie folgt: Im ,Wie‘ der literarischen Darstellung lässt sich ein Bruch mit bisher tradierten Konventionen feststellen; dieser Bruch kann stilistischer Natur sein oder aber von einer ungewohnten Verbindung von Thema und formaler Gestaltung herrühren. Nicht selten kann das Ungewohnte in der Art der Darstellung Irritationen auf Seiten der Rezeption provozieren, so dass das vierte Kriterium durchaus eine Rolle spielen kann, insofern manche Texte, wie eben der genannte von Paul Celan, erst mit Verspätung eine angemessene (sic) Würdigung erfahren. Diese Beobachtung aber verweist potentiell nicht nur auf Rezeptions-, sondern auch auf kollektive Gedächtnisprozesse, die durch Literatur mitgestaltet werden. Eine Erörterung vor einem gedächtnistheoretischen Hintergrund erscheint deshalb im Rahmen stilistischer Betrachtungen lohnend. Gedächtnis als Schlagwort und Untersuchungsgegenstand hat in den letzten Jahren zu einer breit gefächerten Forschung geführt. Von kulturwissenschaftlichen Ansätzen inspiriert, gibt es literaturwissenschaftliche Überlegungen, Gedächtnis in literarischen Texten zu untersuchen, die über die Untersuchung von in der Literatur und Literaturwissenschaft selbstverständlichen Phänomenen wie Gedächtnismetaphorik hinausgehen.3 Eine Operationalisierbarkeit für die Literaturwissenschaft haben Astrid Erll und Ansgar Nünning versucht, indem sie die Forschungsbereiche zu Gedächtnis und Literatur eingrenzten als Gedächtnis in der Literatur, Gedächtnis der Literatur und Literatur als Medium des Gedächtnisses.4 Am Beispiel des Gedichts *** (O, poetą byłem wielu obozów) (*** [O, ich war ein Dichter vieler Lager]) von Tadeusz Borowski möchte ich diese Unterscheidungen erläutern, um davon aus-

3

4

Zur grundsätzlichen Plausibilität bzw. einem Forschungsdesiderat im Bereich der Literaturwissenschaft vgl. ERLL, 2002, und zu einem Überblick möglicher Fragestellungen: ERLL/NÜNNING, 2005. ERLL/NÜNNING, 2005, S. 2-5.

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gehend eine Antwort auf die eigentliche Frage dieses Aufsatzes zu versuchen.5 Die Brisanz von Borowskis Text wird dabei vor dem Hintergrund der Rezeptionsforschung ersichtlich werden, gedächtnistheoretisch wird er interessant, wenn man die Abwehr gegen einen solchen Text in der Nachkriegszeit mit dem Potential des Textes aus heutiger Sicht in Beziehung setzt.6 Erweitert man den rezeptionsgeschichtlichen Ansatz kulturwissenschaftlich um die Kategorie ,Gedächtnis‘, kann dieser Rezeptionsprozess reflektiert werden: Was wurde zu einem bestimmten Zeitpunkt kritisiert oder favorisiert? Von welchem zeithistorischen Hintergrund setzt sich ein bestimmter Text ab, und zwar literarisch ebenso wie in Hinsicht auf außerliterarische Referenzen? So umstritten die Definition eines ,kollektiven Gedächtnisses‘ auch ist, ist es ein hilfreiches theoretisches Konstrukt, um manche Inhalte in einem Text überhaupt erst sichtbar zu machen. Die gedächtnistheoretische Reflexion fungiert dabei als epistemologische Stütze, sofern man von dem Leitgedanken ausgeht, dass etwas nur gesehen wird, wenn man weiß, worauf man den Blick richten will. Literaturwissenschaftlich muss der Fokus natürlich klar eingegrenzt sein, denn mit der Kategorie ,Literatur als Medium von Gedächtnis‘ kann im Prinzip jeder Text als eine Form von Erinnerung aufgefasst werden, und zwar in jeder Hinsicht. Für den literarischen wie für den außerliterarischen Kontext sind Fragen wie die folgenden denkbar: Was wird thematisiert, was nicht? Gibt es die schlichte Benennung oder den kryptischen Verweis? Ist das eigentliche Thema eines Textes ggf. impliziert, da das Selbstverständliche zu einem gegebenen Zeitpunkt der Erwähnung nicht für nötig befunden wird? Für die in diesem Aufsatz gestellte Frage ist es denkbar zu untersuchen, welche der Stilmittel als Bruch mit Konventionen erst durch Kontextualisierung erkennbar werden. Für das Interesse an kollektiven Gedächtnisprozessen spielt, wie bereits erwähnt, eine Rolle, wie sich die Bewertung von Themen, die ein Text behandelt, seit der Textentstehung gewandelt hat; ich vermute, dass dies den wichtigsten Anreiz für die kultur- und literaturwissenschaftliche Gedächtnisforschung darstellt, v. a. wenn es sich 5

6

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BOROWSKI, 2003, S. 395f. Der Text ist in Polen erstmals 2003 veröffentlicht worden, es gibt bis dato meines Wissens auch noch keine Übersetzung ins Deutsche. „Gegen einen solchen Text“ meint hier natürlich die Abwehr gegen diesen im Sinne vergleichbarer Texte von Borowski, vgl. Anm. 5 und 9.

Stilistische Textprofile in Kontexten

um Themen handelt, die zentral für eine Erinnerungskultur sind (oder waren). Im Falle der polnischen Erinnerungskultur ist dies z. B. die Frage, wie der eigenen Täterschaft unter der Besatzungsmacht gedacht wurde bzw. wird. Für die erste Kategorie nach Erll/Nünning, Gedächtnis in der Literatur, sind Texte von Interesse, in denen Gedächtnis oder Erinnerung eine thematische und inhaltliche Rolle spielen. In dem hier vorgestellten Gedicht taucht der Verweis auf Erinnerung oder zu Erinnerndes explizit auf: in der 3. Strophe „dziś wspominam o tym“ („heute erinnere ich daran“), in der 8. Strophe „w pamiętnym maju“ („im denkwürdigen Mai“). Häufiger sind die impliziten Verweise, die den Text im Grunde strukturieren, z. B. bereits in der ersten Zeile mit dem Präteritum „O, poetą byłem wielu obozów“ („O, ich war ein Dichter vieler Lager“); zusätzlich wird in dem nicht weiter erläuterten Verweis auf „obozów“ die Tatsache ausgesprochen, dass das lyrische Ich Lager überlebt hat. Wie, davon berichten die folgenden Strophen. Vergleichbare implizite Verweise auf Gedächtnis im Text finden sich auch in der 5. Strophe, wenn dem lyrischen Ich etwas Gutes angerechnet werden soll; hier wird Gedächtnis mit Gewissen verbunden: Das Erinnerungswürdige soll vor dem weniger Erinnerungswürdigen Vorrang haben („Ale niechaj na moje dobro / choć to jedno będzie policzone“; „Aber es möge mir zum Guten / zumindest dies eine gezählt sein“). Zugleich werden dabei mindestens zwei Gedächtnisdimensionen angesprochen: neben der individuellen die kollektive, denn das lyrische Ich beichtet vergangene Taten. Gedächtnis spielt dafür eine wichtige Rolle, da das kulturelle Gedächtnis der Orientierung in der Gegenwart dient;7 die Beichte in der katholischen Kirche erlaubt dem Sünder die Rückkehr in die Gemeinschaft der Gläubigen, derjenigen, die die ,rechten‘ Tugenden befolgen. So wird eine weitere Gedächtnisdimension impliziert, da nicht nur ein (imaginäres) Publikum angesprochen wird, sondern auch die kulturell geprägten Standards, die dieses Publikum vermutlich anlegen soll, um über das lyrische Ich zu urteilen. In Verzahnung mit der zweiten und dritten Gedächtniskategorie nach Erll/Nünning wird allerdings deutlich, wie ambivalent diese Beichte ist. Zur zweiten Kategorie nach Erll/Nünning, dem Gedächtnis der Literatur, gehören intertextuelle Verweise, aber auch die Gattungszugehö7

Vgl. ASSMANN, 2005, S. 30.

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rigkeit oder formale Prinzipien. Im Rahmen der Fragestellung nach stilistischen Textprofilen ist diese Kategorie am ehesten einleuchtend. Am Beispielgedicht fallen die vierzeiligen Strophen auf, Reim, unreiner Reim oder fehlender Reim. Auch die explizite Nennung von rhetorischen Figuren in der 3. Strophe fällt darunter („bez przenośni, elips i porównań“; „ohne Übertragung, Ellipsen und Vergleiche“); sie kommentiert zugleich literarische Stilmittel, die durch Auslassung oder Übertragung Sachverhalte nicht benennen, und steht in Beziehung zur Selbstanklage des lyrischen Ichs, das vorher, vermutlich mit eben diesen Verfahren, mit der eigenen Dichtung belog. Die vorrangig gereimte vierzeilige Strophe, die nicht von ungefähr an Liedstrophen erinnert, verweist nicht nur auf eine literarische Tradition, sondern auch auf ein bekanntes literarisches Muster des polnischen Untergrunds. Dass damit die eigene Tradition in Frage gestellt wird, wird in der 2. Strophe mit einem doppelten intertextuellen Bezug angedeutet: zum einen mit dem Bezug auf einen grotesk-satirischen Text von Konstanty I. Gałczyński von 1929, Porfirion Osiełek, czyli Klub Świętokradców, zum anderen auf einen Text von Borowski selbst, der sich wiederum auf eben jenen bezieht (Spacer z Profirionem) und mit den Zeilen endet „Chodźmy za Porfirionem w dół rzeki a Pan Bóg grzechy odpuści / tobie i mnie — szarlatanom...“ („Folgen wir Porfirion den Fluss abwärts und Gott der Herr wird vergeben / dir und mir – den Scharlatanen...“)8. Während die Sünde der Scharlatanerie in jenem Text noch mit einer relativen Unbeschwertheit eingestanden wird, hat sie sich in dem hier vorgestellten Text in das Gegenteil verkehrt. So erinnert Literatur an Literatur, ein wichtiger Aspekt dieser Kategorie, doch ist diese Erinnerung offensichtlich gebrochen und steht nicht im Dienst einer einfachen Kanonisierung. Hinzu kommt die satirische Ebene des Textes: Gerade die beschriebenen Reaktionen der Zuhörenden in der zweiten und vierten Strophe lassen vermuten, dass sie sich als der Satire enthoben betrachteten – sie trifft sie umso mehr in dem Gedicht von Borowski, doch sie gilt nicht nur dem Publikum, sondern auch den Wertmaßstäben, nach denen es ihn beurteilen könnte. Diese Beobachtungen stehen in Zusammenhang mit der dritten Gedächtniskategorie nach Erll/Nünning, derzufolge Literatur als ein Medium von Gedächtnis betrachtet werden kann: Literatur vermittelt Wer8

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BOROWSKI, 1991, S. 97f. [Eigene Übersetzung].

Stilistische Textprofile in Kontexten

te und gibt Orientierung; implizit handelt der Text Borowskis von einem trügerischen Glauben an eben jene mit der Literatur in Verbindung gebrachten Werte, die Scharlatanerie ist zur Prostitution geworden. Dass diese Werte die tatsächliche Korruption verdecken, ist die uneigentliche Beichte des Gedichts: uneigentlich, weil das lyrische Ich keinen Ausweg aus dieser Situation sieht, es mit der Beichte keine Rückkehr in die ,Gemeinschaft der Gläubigen‘ gibt. So trifft die härteste Kritik im Text das lyrische Ich selbst: Der Lageralltag, in dem das lyrische Ich sich mit Gedichten einen zusätzlichen Teller Suppe zu verdienen bemüht war („zdobywałem / drugą miskę obozowej zupy“ / „errang ich [...] /eine zweite Schüssel Lagersuppe“), korrumpiert sowohl das dichtende Individuum als auch die Dichtung, bzw. das, was im Positiven mit Dichtung – zumal in Polen! – konnotiert ist. Diese Lyrik, von der man doch eigentlich vermuten könnte, dass sie vielen Menschen im Lager das Unerträgliche für Momente erträglicher machte, ist nach Ansicht des lyrischen Ichs nur Lüge und Betrug. So endet das Gedicht mit einer Umkehrung der Musenanrufung, einer Konterkarierung, die den Lageralltag konsequent bis in die Gegenwart fortsetzt („Łaskę wiersza ześlij na mnie, Boże, / bom jest głodny i zupy pragnę...“ / „Die Gnade eines Gedichtes sende mir, Gott, / denn ich bin hungrig und Suppe brauch ich...“). Die Konterkarierung findet auf mehreren Ebenen statt, auf der poetologischen ist es die Zweckrationalisierung der Dichtung, was wiederum eine Umkehrung heroischer Dichtung über den polnischen Widerstand einschließt, aber auch die Konterkarierung religiösen Glaubens. Im Gedicht von Borowski steht die Selbstbezeichnung und Selbstanklage des lyrischen Ichs als Täter und Opfer im Mittelpunkt (als Betrüger in der 2. Strophe, als Denunziant in der 9., als Verurteilter in der 10.). Bereits eingangs stellte ich fest, dass die Formulierung „poetą byłem wielu obozów“ („ich war ein Dichter vieler Lager“) nicht weiter ausgeführt wird: Das Selbstverständliche muss nicht ausgesprochen werden. Das Nicht-Selbstverständliche dagegen ist das Aussprechen selbst: „Mogę to teraz wyznać szczerze, / jak to mówią, grać w otwarte karty“ („Ich kann all dies jetzt aufrichtig bekennen, / wie man so sagt, mit offenen Karten spielen“). Dass dies auch nicht selbstverständlich zur Zeit der Textentstehung war, wird an den Vorwürfen des Nihilismus

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gegen Tadeusz Borowski deutlich.9 Die mutige Konstatierung Borowskis in lyrischer Form, wie sehr das Ziel zu überleben im Lageralltag korrumpieren konnte, passte nicht zur Heroisierung der Widerstandskämpfer und Überlebenden; gerade Lyrik spielte zur Stärkung des Widerstandsgeistes, aber auch als Gedenken an die Gefallenen eine wichtige Rolle. Sie zu hinterfragen, kam in der polnischen Erinnerungskultur nach 1945 einem Tabubruch gleich. Diesen Diskurs untergräbt Borowski gezielt mit eben jenen stilistischen Mitteln, die aus der Untergrundlyrik bekannt waren, sei es die Anrufung Gottes oder die Liedstrophe. Mit dieser Feststellung komme ich nun zur eigentlichen Frage nach einem stilistischen Textprofil in Kontexten und jenseits von Kontext.

3. Stilistik und Kontext Der Begriff des Stils bewegt sich zwischen dem Versuch einer Verallgemeinerung bzw. Abstrahierung und der Hervorhebung von Einzigartigkeit. Mit Abstrahierung ist der Versuch gemeint zu beschreiben, was ein gegebenes Werk oder auch eine gegebene Epoche charakterisiert, so dass es in Folge möglich wird, Gemeinsamkeiten oder Unterschiede zwischen Texten prägnant zu fassen – und zwar am Text selbst.10 Umgekehrt beschreibt Stil die Eigenarten eines Autors, einer literarischen Strömung oder eines Werkes, also eine Eigenständigkeit und Einzigartigkeit, die einen Autor oder einen Text unverkennbar machen. Man könnte an dieser Stelle vermuten, dass diese Unverkennbarkeit potentiell stilbildend ist, als eine Art Stilvorlage gilt oder gelten kann, folglich als paradigmatisch angesehen werden kann. Ganz zu Anfang wies ich auf die entscheidende Bedeutung der Devianzstilistik für meine Fragestellung hin, also der Abweichung von der Norm. Grundsätzlich gilt, dass jede stilistische Untersuchung und somit auch jede wie auch immer geartete Beschreibung eines stilisti9

Vgl. zur schwierigen Situation und Rezeption von Tadeusz Borowskis Poesie wie Prosa in Polen: WERNER, 1991. 10 Vgl. SPILLNER, 1989, S. 242. Spillner selbst betont, wie fragwürdig die Konzeption von Stilistik allein auf Basis der Abweichung sei; vgl. SPILLNER, 1997, S. 243f.

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Stilistische Textprofile in Kontexten

schen Textprofils von der Feststellung einer stilistischen Ähnlichkeit/ Abweichung wenn nicht abhängt, so doch wesentlich geleitet ist. Welche Werke kanonisiert werden bzw. als musterhaft gelten, hängt nicht nur von den behandelten Themen oder Motiven ab, sondern insbesondere von deren Gestaltung. Zwei wesentliche Seiten der Stilanalyse bedingen sich in diesem Falle wechselseitig: die rhetorische Tradition des aptum, d. h. des Angemessenen, das sich an gegebenen Normen orientiert, und die Entwicklung des Individualstils.11 Deshalb spricht Spillner von der dynamischen Kategorie Stil, „die historischen Veränderungen unterworfen ist und bei der Lektüre jeweils bis zu einem gewissen Grad unterschiedlich aktualisiert werden kann.“12 Grundsätzlich geht er davon aus, dass mindestens drei Aspekte bzw. „Komponenten“ bei der Untersuchung des literarischen Stils berücksichtigt werden müssen: die „linguistische Komponente“, die „kommunikationswissenschaftlich-pragmatische“ und die „literaturwissenschaftlich-ästhetische“.13 Die linguistische Komponente kann die Stilmittel abstrahierend als Objektivationen des kulturellen Gedächtnisses (hier: des Gedächtnisses der Literatur) erfassen, die kommunikationswissenschaftlich-pragmatische berücksichtigt dagegen Kommunikationssituationen, sei es zur Zeit der Textentstehung oder aus größerem zeitlichem Abstand.14 Wenn ich diese beiden Komponenten diachron miteinander verzahne, entsteht eine Kopplung von den zwei Aspekten, um die es hier geht: die Betrachtung eines Textes unabhängig von Kontext und innerhalb von Kontext(en). Setzt man Spillners grundsätzliche Überlegung in Beziehung zu den vorgestellten Kriterien eines Zäsurgedichts, wird die Idee der Devianzstilistik erweitert: Nicht der formale Stilbruch allein markiert notwendig eine Abweichung. Im hier vorgestellten Text ist es die Thematik, die durch Rückbezüglichkeit auf konventionelle Formen zu einer Normabweichung wird, und zwar in der gesellschaftlichen und literarischen Situation in Polen nach 1945. Borowskis Anerkennung als Lyriker ist u. a. durch seinen konsequenten Verstoß gegen das aptum bis heute marginal geblieben. Dabei markieren seine Texte, gerade auch in einem deutsch-polnischen Ver11 12 13 14

Vgl. EROMS, 2008, S. 16-18. SPILLNER, 1997, S. 247. Ebd., S. 235. Dies entspricht in etwa der Unterscheidung von kulturellem und kommunikativem Gedächtnis von Jan Assmann, vgl. ASSMANN, 2005, S. 53.

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gleich, die Zäsur des Zweiten Weltkrieges prägnant. Die Unangemessenheit der Sprache aus der Zeit des Nationalsozialimus nach 1945 ist für Deutsche wie für Polen durchaus vergleichbar, der Bruch zum Vorherigen auch politisch gewünscht. Nur bedingt vergleichbar ist jedoch die Vorstellung einer Trümmerlyrik mit dem stilistischen Bruch, den Różewicz paradigmatisch für die polnische Lyrik setzt. Der Imperativ, mit bestimmten Formulierungen brechen zu sollen, ist nicht vergleichbar gegeben, v. a. nicht auf literarästhetischer Ebene. Im Gegenteil (und auch das verweist bereits auf den von mir gewählten Text): Worte wie ,Vaterland‘ oder ein heroisch-siegreiches ,Wir‘ sind in Polen nicht unmöglich oder verpönt – Różewicz verwendet sie nur nicht. Borowski dagegen macht sich über sie lustig und wird als Nihilist beschimpft, u. a. von Czesław Miłosz. Alle Stilmittel, die Borowski einsetzt, sind um etwas zentriert, das ich mit dem polnischen Wort „żal“ zumindest annähernd erfassen kann. Ins Deutsche übersetzt werden kann es als: Leid, Schmerz, Kummer, Reue, Groll. Wesentlich ist die Verbindung sich z. T. widersprechender Emotionen, eine mit Trauer vermengte Wut als Ausdruck von Ausweglosigkeit und Überlebenswillen, jedoch nicht fassungslos genug, um nicht noch ironisch zu sein. Zynismus als Charakterisierung ist hierfür nicht angemessen. Die Idee einer Lyrik des Überlebens oder der Zeugenschaft wird auf Textebene demontiert und mit poetologischen Mitteln zugleich bestätigt und reflektiert. Wollte man von einem stilistischen Textprofil sprechen, so ist für eine Vergleichbarkeit – hier am Beispiel der Übersetzung ins Deutsche – auf der mikrostilistischen Ebene keine Verständnisschwierigkeit gegeben, wohl aber auf der Ebene der Deutung bzw. Charakterisierung von Stil auf der Textebene. So gelange ich zu einer Spezifizierung der gestellten Frage und beziehe mich dabei auf Bernd Spillner: Nicht die Benennung von Stilmitteln ist ein Problem, sondern die Einschätzung dieser Stilmittel.15 Dabei ist unbestritten, dass erst die Einschätzung stilistischer Merkmale zu Aussagen über ein stilistisches Textprofil führen können: Aus den obigen Ausführungen wird hoffentlich ersichtlich, dass die Bezeichnung ‚nihilistisch‘ verständlich, aber zumindest problematisch ist. Aus heutiger Sicht ist der normative Kontext noch weiter und international geprägt, betrachtet man den Wandel in der Auseinandersetzung 15 Vgl. SPILLNER, 1989, S. 245.

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Stilistische Textprofile in Kontexten

mit dem Zweiten Weltkrieg. Dass im Zweiten Weltkrieg Menschen gemordet wurden, ist seitens eines Deutschen formuliert (noch) etwas anderes als seitens eines Polen, leider gänzlich unabhängig von persönlicher Schuld oder Unschuld. Dass dies zum Thema wird, ist als Problem relativ neu und in der deutschen Literaturwissenschaft vorrangig bekannt aus der Auseinandersetzung mit den Texten deutschsprachiger jüdischer AutorInnen.16 Auch hinsichtlich der gedächtnistheoretischen Perspektive ist diese Auseinandersetzung ein Novum: Seit Theodor W. Adornos Verdikt von 1951, v. a. aber seit den 1980er Jahren sind für die deutsche Erinnerungskultur in Bezug auf den Holocaust und in Folge auch den Zweiten Weltkrieg Paradigmen der jüdischen Erinnerungskultur gültig geworden. Für die ästhetische Einschätzung von Gedichten nach 1945 ist die Frage nach ihrer Angemessenheit angesichts des Kontextes wesentlich.17 Umgekehrt hat(te) diese normative Bezugnahme Folgen im Rahmen des deutsch-polnischen Austausches für die polnische Erinnerungskultur. Auschwitz ist zwar bereits seit 1946 eine Gedenkstätte, doch die Betonung v. a. der jüdischen Opfer erfolgte erst seit der Wende 1989/1990 – und nicht nur in Auseinandersetzung mit der jüdischen Sicht auf den Holocaust, sondern eben auch der deutschen. Die Wahrnehmung von Auschwitz als einer Gedenkstätte für ermordete jüdische EuropäerInnen entstand vorrangig in den Jahren 1995-2000.18 Die gedächtnistheoretische Perspektive, von der ich ausgehe, richtet die Aufmerksamkeit somit v. a. auf zwei Sachverhalte: die Bedingungen des Wandels für kollektive Erinnerungsprozesse im internationalen Austausch und gegenwärtige Anforderungen an das (offizielle) Erinnern. Es handelt sich folglich, allgemein gesprochen, um Fragen nach der Angemessenheit im ,Wie‘ der Vermittlung, prinzipiell einer stilistischen Frage, aus größerem zeitlichen Abstand. Die Entwicklungen seit etwa 2002, v. a. auch im Zusammenhang mit den Diskussionen um ein Zentrum gegen Vertreibungen in Deutschland, lassen vermuten, 16 Vgl. LAMPING, 1996. 17 Vgl. KIEDAISCH, 1995. 18 Vgl. den sehr empfehlenswerten Aufsatz von KOSMALA, 2004. Kosmala weist zugleich darauf hin, dass das Stammlager Auschwitz zunächst für polnische Häftlinge errichtet worden ist. An dieser Stelle ist ebenfalls die politische Dimension wichtig, denn die Verpflichtung zur Vermittlung des Holocaust ist in den Kopenhagener Kriterien festgeschrieben, d. h. als Bedingung für den EU-Beitritt formuliert.

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dass der deutsch-polnische Austausch insbesondere seit den 1990er Jahren nun eine neue Differenzierung bestehender Standpunkte erlaubt. Diese Differenzierung würde den neuen Opferdiskurs in Deutschland (z. B. in Fernsehproduktionen wie Die Gustloff) und den neuen Täterdiskurs in Polen (z. B. um Jedwabne) ebenfalls erfassen. Diese Entwicklungen sind es, die geradezu dazu auffordern, einen anderen Blick auf die Täter-Opfer-Dichotomie zu wagen. Für beide Erinnerungskulturen stellt, so meine These, die eigentliche Herausforderung die Auseinandersetzung mit der engen Kopplung von Täterschaft und Opfer dar, wie sie beispielhaft in dem hier zitierten Gedicht zum Thema wird. In dieser Hinsicht halte ich Tadeusz Borowski für einen Lyriker, der, nicht nur in Polen, als ein paradigmatisches Beispiel für den Umgang mit der Erinnerung an den Lageralltag in KZs und den Zweiten Weltkrieg gelesen werden kann, und zwar gerade auch durch die Deutung, die seine Texte nach Kriegsende erfahren haben.19 Die Frage, die sich aus diesen Überlegungen ergibt, ist, ob man von einem zeitunabhängigen stilistischen Textprofil sprechen kann und auf welcher Untersuchungsbasis bzw. von welcher Perspektive aus? Die Probleme der stilistischen Einschätzung ergeben sich im diachronen Vergleich und im Vergleich von zwei Erinnerungskulturen, deren Austausch bis heute von nationalsozialistischer Besatzungszeit und Zweitem Weltkrieg mitgeprägt ist. Es ist zu vermuten, dass besonders für paradigmatische Texte innerhalb einer Erinnerungskultur in verstärktem Maße gilt, dass eine bestimmte Deutung von Stilmitteln mit den Stilmitteln tradiert wird, ohne dass diese Deutung in eine andere Erinnerungskultur übertragbar wäre, selbst wenn die stilistischen Mittel es sind.

Literatur ASSMANN, JAN, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, 5. Aufl., München 2005. 19 Im Vortrag betonte ich den Aspekt des Lytischen in der Auseinandersetzung mit einem Text wie dem von Borowski, d. h. der Idee des Wandels durch Erinnern anstatt eines Erinnerns, das Bewahren allein zum Ziel hat. Diese Überlegungen gehören zu den Ergebnissen meiner Dissertation, so dass ich sie in diese Textfassung nicht aufgenommen habe.

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Stilistische Textprofile in Kontexten

ERLL, ASTRID, Literatur und kulturelles Gedächtnis. Zur Begriffs- und Forschungsgeschichte, zum Leistungsvermögen und zur literaturwissenschaftlichen Relevanz eines neuen Paradigmas der Kulturwissenschaft, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 43 (2002), S. 249-276. DIES./NÜNNING, ANSGAR, Literaturwissenschaftliche Konzepte von Gedächtnis: Ein einführender Überblick, in: Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven, hg. von ASTRID ERLL/ANSGAR NÜNNING, Berlin u. a. 2005, S. 1-9. EROMS, HANS-WERNER, Stil und Stilistik. Eine Einführung, Berlin 2008. BOROWSKI, TADEUSZ, Spacer z Profirionem, in: DERS., Utwory wybrane, hg. von ANDRZEJ WERNER, Wrocław u. a. 1991. DERS., Poezja, in: Pisma. W czterech tomach, hg. von TADEUSZ DREWNOWSKI/JUSTYNA SZCZĘSNA/SŁAWOMIR BURYŁA, Bd. 1, Kraków 2003. LAMPING, DIETER, Sind Gedichte über Auschwitz barbarisch? Über die Humanität der Holocaust-Lyrik, in: DERS., Literatur und Theorie. Über poetische Probleme der Moderne, Göttingen 1996, S. 100-136. KIEDAISCH, PETRA, Einleitung, in: Lyrik nach Auschwitz? Adorno und die Dichter, hg. von PETRA KIEDAISCH, Stuttgart 1995, S. 9-25. KOSMALA, BEATE, Polen. Lange Schatten der Erinnerung: Der Zweite Weltkrieg im kollektiven Gedächtnis, in: Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerungen. Eine Ausstellung des Deutschen Historischen Museums. Begleitbände zur Ausstellung: 2. Oktober 2004 bis 27. Februar 2005, hg. von MONIKA FLACKE, Bd. II, Mainz 2004, S. 509-540. RAKOCZY, KAROLINA, Die Zeitzäsuren 1945 und 1989 in ausgewählten deutschen und polnischen Gedichten, Magisterarbeit Mainz 2003 (unveröff. Manuskript). SPILLNER, BERND, Stilistik, in: Grundzüge der Literaturwissenschaft, 2. Aufl., hg. von HEINZ LUDWIG ARNOLD/HEINRICH DETERING, München 1997, S. 234-256. SPILLNER, BERND, Termini stilistischer Wertung, in: Zur Terminologie der Literaturwissenschaft, hg. von CHRISTIAN WAGENKNECHT, Stuttgart 1989, S. 239-256.

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Karolina Rakoczy

WERNER, ANDRZEJ, Wstęp, in: BOROWSKI, TADEUSZ, Utwory wybrane, hg. von ANDRZEJ WERNER, Wrocław u. a. 1991, S. IV-CXLII. WILKE, JÜRGEN, Das ,Zeitgedicht‘. Seine Herkunft und frühe Ausbildung, Meisenheim am Glan 1974.

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Stilistische Textprofile in Kontexten

Anhang:

Tadeusz Borowski (***)20 O, poetą byłem wielu obozów, wiersz i życie składałem do rymu, znali dobrze wszyscy prominenci moje wiersze w lagrze Oświęcimiu. Swoim bólem ujętym w rytmy wielum ludzi oszukał i ołgał, (zachwycali się na Krankenbau mym Spacerem z Porfirionem Osiołkiem). Dobrą funkcją płacili za to, miałem sławę u mądrych i durniów, dziś wspominam o tym prostym wierszem bez przenośni, elips i porównań. Mogę teraz to wyznać szczerze, jak to mówią, grać w otwarte karty, przecież rzekną „o, mówi poeta, bo ma humor i lubi żarty“. Ale niechaj na moje dobro choć jedno będzie policzone, żem w obozie nie skłamał wierszem swej dziewczynie, mojej przyszłej żonie.

20 Um eine Publikationsgenehmigung wurde gebeten. Der betreffende Verlag konnte bisher nicht erreicht werden. So wurden aus urheberrechtlichen Gründen weder das Original noch die Übersetzung vollständig abgedruckt.

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Karolina Rakoczy

A gdy zamilkł mój dom i ojczyzna, gdy z Warszawy powiało trupem, znów poezją swą zdobywałem drugą miskę obozowej zupy. […] A gdy w maju, w pamiętnym maju śnieg na ziemię obozu upadł, zapachniały bzy i zapachniała moja druga obozowa zupa. […] […] […] I przegniło we mnie i spróchniało poetyckie me serce jak w bagnie. Łaskę wiersza ześlij na mnie, Boże, bom jest głodny i zupy pragnę...

(***) O, ich war ein Dichter vieler Lager, Gedicht und Leben fügte ich zum Reim, es kannten gut alle Prominente meine Gedichte im Lager Auschwitz. Mit meinem Schmerz in Rhythmen gefasst habe ich viele Leute betrogen und belogen, (sie waren begeistert im Krankenbau* von meinem Spaziergang mit Porfirion dem Eselchen).

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Stilistische Textprofile in Kontexten

Sie zahlten mit guter Funktion dafür, ich genoss Ruhm bei den Klugen und den Dummen, heute erinnere ich daran mit schlichtem Gedicht ohne Übertragung, Ellipsen und Vergleiche. Ich kann all dies jetzt aufrichtig bekennen, wie man so sagt, mit offenen Karten spielen, denn sie werden ja sagen „o, ein Dichter spricht, weil er Humor hat und Witze mag.“ Aber es möge mir zum Guten zumindest dies eine gezählt sein, dass ich im Lager mit dem Gedicht nicht log meiner Geliebten, meiner zukünftigen Frau. Und als mein Haus und meine Heimat in Schweigen fielen, als es aus Warschau leichenhaft herüberwehte, errang ich wieder mit Lyrik eine zweite Schüssel Lagersuppe. […] Als im Mai, im denkwürdigen Mai der Schnee auf die Erde des Lagers fiel, duftete der Flieder und duftete meine zweite Lagersuppe. […] […] […] Und es verfaulte in mir und wurde morsch mein lyrisches Herz wie im Morast. Die Gnade eines Gedichtes sende mir, Gott, denn ich bin hungrig und Suppe brauch ich… *dt. im Or.

333

V Stil lehren, Stil übersetzen

Stil lehren? Die Wahrnehmung der Stilqualität von Texten als didaktische Herausforderung in Schule und Hochschule ULF ABRAHAM

1. ‚Stil‘ als Auf gabe des Deutschunterrichts Stil kann im Deutschunterricht Unterrichtsgegenstand oder -medium sein – allerdings schon längst nicht mehr verstanden als ‚gutes Deutsch‘ und auch nicht mehr nur als Textsortenadäquanz im Sinn einer kommunikativen Sprachdidaktik, sondern als Medium ästhetischer Erfahrung mit allen Ausdrucksmöglichkeiten, die Sprache und Literatur bieten: Eine Kompetenz des Stilverstehens und -gestaltens ist Entwicklungsaufgabe im Rahmen ästhetischer Erziehung.1 Thematisiert werden sollte Stil dabei weniger als Summe von Merkmalen eines Textes denn als Resultat von Gestalten, das als „ästhetisierendes Handeln“ auf innersprachliche Einheitlichkeit zielt2 – im Gegensatz zum Handeln, das auf außersprachliche Ziele gerichtet ist. Stile wären, wenn das erwähnte Ziel der Kompetenzförderung erreicht werden soll, allerdings differenzierter wahrzunehmen als nach dem seit dem 19. Jahrhundert bekannten Konzept der ‚Angemessenheit‘. Einschätzen zu können, was angemessen ist, darf man zwar Er1 2

Vgl. z. B. schon FRITZSCHE, 1994, S. 239-241; SPINNER, 1997. Vgl. FIX, 1996, S. 317f.

337

Ulf Abraham

wachsenen zutrauen, erst recht, wenn sie erfahrene Leser/-innen und Schreiber/-innen sind. Lernende dagegen lässt die Belehrung, der Stil müsse ‚angemessen‘ sein, erfahrungsgemäß oft ratlos zurück: Sie müssen einen Maßstab dafür erst noch entwickeln. Es nützt auch nicht viel, ihnen einzelne sprachliche Merkmale zu nennen, die im Rahmen einer bestimmten Textsorte (z. B. eines Berichts) als angemessen gelten können. Mit Fix haben Texte, stilistisch betrachtet, „andere Eigenschaften, als sie sich aus der Summe der Eigenschaften ihrer Teile ergäben“:3 Das stiltheoretisch durchaus erkannte, aber praktisch kaum bearbeitete Problem ist, dass Stil eine ganzheitliche Erscheinung ist, deren Eigenschaften schwer analytisch zu fassen sind. Ein empirischer Versuch4 ergab, dass sich für Stilbeurteilung im Korrekturhandeln von (zwanzig) Deutschlehrer/-innen (verschiedener Gymnasien in Bayern) immerhin drei Ebenen von nach unten wachsender Konsensfähigkeit, aber gleichzeitig schrumpfender methodischer Reichweite unterscheiden lassen:



• •

Verstöße gegen allgemein sprachästhetische Normen wurden häufig, aber an sehr unterschiedlichen Stellen desselben Schülertextes von verschiedenen Korrektoren moniert: Sprachästhetische Kriterien („Das klingt nicht gut“) waren also nicht sehr konsensfähig. Verstöße gegen das von der jeweiligen Textsorte Geforderte („Das kann man in einem sachlichen Brief nicht schreiben“) wurden etwas weniger häufig, dann aber konsensfähiger beanstandet. Rhetorisches Gestalten wurde selten und dann fast immer negativ kommentiert: In ihrer Rigidität gegenüber (auch intentionalen) Abweichungen waren sich die Deutschlehrer/-innen viel einiger als in ihren positiven Vorstellungen von gutem Stil.

Dass die Konsensfähigkeit negativer Urteile über stilistisches Gelingen größer ist als die positiver Urteile, ist eine interessante Beobachtung, die praktische Folgen haben sollte: Deutsch-Lehrende müssen üben, Stil weniger wertend wahrzunehmen, sachlicher zu beschreiben und weniger rigide an einer – bei näherem Hinsehen oft überholten – Vorstellung von gutem Deutsch zu messen.

3 4

338

Ebd., S. 314f. Vgl. ABRAHAM, 1993, bes. S. 170.

Stil lehren?

Vorgeschlagen seien (in Fortführung älterer Überlegungen5) dazu vier Perspektiven für die Thematisierung von Stil(en) im Deutschunterricht:









Im Bereich des Kommunikationsmediums (Mündlichkeit / Schriftlichkeit) ist Stil als Entscheidung für eine ‚Sprache der Nähe / Sprache der Distanz‘ zu begreifen. Schon hier gibt es aber nicht nur ein Entweder-Oder, sondern die Möglichkeit einer Abstufung: Man kann mehr oder weniger ‚schriftsprachlich‘ reden oder schreiben. Im Bereich der Behandlung eines Gegenstandes ist Stil als Folge von Entscheidungen für oder gegen Prägnanz, und damit gegen oder für Explikation (Ausführlichkeit) zu begreifen. In darauf reagierenden Randbemerkungen wie „zu breit“ / „etwas knapp“ steckt die richtige Vorstellung, dass auch in diesem Bereich Grade oder Abstufungen vorkommen. (Der traditionelle Begriff der ‚Angemessenheit‘ meinte u. a. das.) Abhängig ist das einerseits von Thema und Textsorte (vgl. 3.), andererseits aber vom Autor. Auf der Ebene der Kommunikationsmuster ist Stil als immer wieder neu zu riskierende ‚Einwahl‘ in eine Textsorte zu begreifen. (Auch diese ist ein gradueller Vorgang, d. h. die Textsorte kann sehr deutlich oder eher weniger dezidiert erfüllt werden.) Auf der Ebene der Intention ist Stil als Zeichen (oder, im Fall der Nichtintentionalität, An-Zeichen) zu begreifen: Der „Stilsinn“ (Sandig) einzelner markierter Textstellen oder -passagen und ihre Funktion für das Textganze ist zu bedenken. Erst Recht ist auf dieser Ebene der Markierungshandlungen davon auszugehen, dass die ‚Dosierung‘ den Sprecher oder die Schreiberin ausmacht. (Wie viele markierte, und damit originelle oder expressive, Formulierungen riskiert er oder sie?)

Diese Liste versteht sich als ‚top-down‘-Bewegung – von den zum Teil medial bedingten stilistischen Entscheidungen (wie viel durch Mündlichkeitssignale hergestellte ‚Nähe‘, wie viel durch Schriftsprachlichkeit erzeugte ‚Distanz‘?) insgesamt bis herunter zum ‚Sinn‘ einzelner stilistischer Entscheidungen im konkreten gesprochenen oder geschriebenen

5

Neben der in Anm. 4 genannten Quelle vgl. auch DERS., 2003.

339

Ulf Abraham

Text. (Dass auch geschriebene Texte sprechsprachlich und auch gesprochene konzeptionell schriftlich sein können, wissen wir.) Die Skalierung, die ich aus diesen Überlegungen entwickelt habe, kann ich hier nicht ausführlich begründen:6 Neben eine sachbezogene Skala (prägnant – explizit) treten eine autorbezogene (markiert – neutral) eine rezipientenbezogene (nah – distant) und eine sprachbezogene (konstant – variant):

• • • •

sachbezogene Skala: prägnant – explizit autorbezogene Skala: markiert – neutral rezipientenbezogene Skala: nah – distant sprachbezogene Skala: konstant – variant

2. ‚Stilkönnen‘ und ‚St ilver stehen‘ als Kompet enzen im Sinne der Bildungsstandar ds Obwohl niemand ernstlich bestreitet, dass die Rezeption und Produktion von ‚Stil‘ eine Aufgabe des Deutschunterrichts ist und bleibt, klafft in neueren Überlegungen zur Vermittlung von Kompetenzen im Fach Deutsch eine beredte Lücke, wo von ‚Stilkönnen‘ (Fähigkeit der Stilvariation) und ‚Stilverstehen‘ (Fähigkeit der Stilwahrnehmung) die Rede sein müsste: Da die Bildungsstandards der KMK, in denen erstmals länderübergreifend festgelegt wird, was an bestimmten Schnittstellen des Bildungssystems jeweils gekonnt werden soll (KMK-Papiere vom 5.10.2004), alle Lernbereiche des Deutschunterrichts abdecken, müsste man erwarten, dass ‚Stil‘ vielleicht noch nicht in den Standards für die 4. Jahrgangsstufe auftaucht und nicht unbedingt in den Standards für den Hauptschulabschluss (Kl. 9), aber doch wohl in denen für den Mittleren Bildungsabschluss (Kl. 10). Ich habe alle drei Papiere ausgewertet; das Ergebnis ist ernüchternd. Begrifflich jedenfalls ist ‚Stilkompetenz‘ so gut wie nicht da. In der Sache allerdings gibt es durchaus relevante Vorgaben. „Die mündliche Sprache ist ein zentrales Mittel aller schulischen und außer6

340

Vgl. aber DERS, 1996, S. 257.

Stil lehren?

schulischen Kommunikation“, heißt es in den Primarstufenstandards. Und weiter: Sprechen ist immer auch soziales Handeln. Die Kinder entwickeln eine demokratische Gesprächskultur und erweitern ihre mündliche Sprachhandlungskompetenz. Sie führen Gespräche, erzählen, geben und verarbeiten Informationen, gestalten ihr Sprechen bewusst und leisten mündliche Beiträge zum Unterricht. Sie drücken ihre Gedanken und Gefühle aus und formulieren ihre Äußerungen im Hinblick auf Zuhörer und Situation angemessen, hören aufmerksam und genau zu, nehmen die Äußerungen anderer auf und setzen sich mit diesen konstruktiv auseinander.7

Das läuft auf eine Art innere Mehrsprachigkeit auf der Ebene von Sprechstilen hinaus: Sich auf Partner, Situation und Kommunikationszweck einstellen zu können, erwartet man schon von Grundschülern beim Übertritt in eine weiterführende Schule. Allerdings wird dabei – und das liegt ganz in der Logik eines Kompetenzbegriffs, der einseitig die Alltags- und vor allem Berufstauglichkeit zu bildender junger Menschen im Blick hat und sich um ästhetische Bildung nicht kümmert! – recht unreflektiert von der fraglosen Gültigkeit einer sprachlichen Norm ausgegangen, die über allen Textsorten und Sprachhandlungen schwebt. Die Hauptschulabschluss-Standards und diejenigen für den Mittleren Bildungsabschluss fügen den zitierten Ausführungen nämlich gleichlautend hinzu: Die Schülerinnen und Schüler bewältigen kommunikative Situationen des persönlichen, beruflichen und öffentlichen Lebens angemessen und adressatengerecht. Sie benutzen die Standardsprache. Sie achten auf gelingende Kommunikation und damit auch auf die Wirkung ihres sprachlichen Handelns.8

Obwohl „Standardsprache“ eine durchaus akzeptable und auch eingeführte Abstraktion für sprachliche Erwartungsnormen des Alltags ist, 7 8

KMK-Bildungsstandards Primarstufe, 2004, S. 9. KMK-Bildungsstandards Hauptschulabschluss, 2004, S. 10; bzw. KMKBildungsstandards Mittl. Schulabschluss, 2004, S. 10.

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Ulf Abraham

bleibt die Frage, wie sich Lernende ein Bild von Stil eben nicht nur als Einwahl, sondern auch als Ausdruck und (bewusster) Abweichung machen sollen. Das Problem lohnt einen genaueren Blick. Da die Standards für den Mittleren Schulabschluss erwartungsgemäß die meisten stilistisch relevanten Vorgaben enthalten, sollen sie im Folgenden herangezogen werden:9 über Schreibfertigkeiten verfügen



einen Schreibprozess eigenverantwortlich gestalten; Texte planen und entwerfen





Texte schreiben





9

342

Texte dem Zweck stilentsprechend und adressaten-gerecht gestalten, sinnvoll aufbauen und strukturieren: z. B. Blattaufteilung, Rand, Absätze [...] gemäß den Aufgaben und der Zeitvorgabe einen Schreibplan erstellen, sich für die angemessene Textsorte entscheiden und Texte ziel-, adressaten- und situationsbezogen, ggf. materialorientiert, konzipieren; Informationsquellen gezielt nutzen, insbesondere Bibliotheken, Nachschlagewerke, Zeitungen, Internet […] formalisierte lineare Texte/nichtlineare Texte verfassen: z. B. sachlicher Brief, Lebenslauf, Bewerbung, Bewerbungsschreiben, Protokoll, Annonce/ Ausfüllen von Formularen, Diagramm, Schaubild, Statistik; zentrale Schreibformen beherrschen und sachgerecht nutzen: informierende (berichten, beschreiben, schildern), argumentierende (erörtern, kommentieren), appellierende, untersuchende (analysieren, interpretieren), gestaltende (erzählen, kreativ schreiben)

Die nachfolgende Tabelle orientiert sich an den KMK-Bildungsstandards Mittl. Schulabschluss, 2004, S. 10-13. Die relevantesten Passagen habe ich in dieser Übersicht, die sich auf Aussagen zu Kompetenzen im Lernbereich „Schreiben“ beschränkt, kursiv hervorgehoben.

Stil lehren?

Ergebnisse einer Textuntersuchung darstellen

• •

• • • • • • • • • • • •

Inhalte auch längerer und komplexerer Texte verkürzt und abstrahierend wiedergeben; Informationen aus linearen und nichtlinearen Texten zusammenfassen und so wiedergeben, dass insgesamt eine kohärente Darstellung entsteht; formale und sprachlich stilistische Gestaltungsmittel und ihre Wirkungsweise an Beispielen darstellen; Textdeutungen begründen; sprachliche Bilder deuten; Thesen formulieren; Argumente zu einer Argumentationskette verknüpfen; Gegenargumente formulieren, überdenken und einbeziehen; Argumente gewichten und Schlüsse ziehen; begründet Stellung nehmen; Texte sprachlich gestalten; strukturiert, verständlich, sprachlich variabel und stilistisch stimmig zur Aussage schreiben; sprachliche Mittel gezielt einsetzen: z. B. Vergleiche, Bilder, Wiederholung; Texte mit Hilfe von neuen Medien verfassen: z. B. E-Mails, Chatroom

Es ergibt sich, dass die Orientierung an Sprechakten (erzählen, berichten, argumentieren usw.) und mehr oder weniger standardisierten Textsorten (sachlicher Brief, Bewerbung, usw.) vorherrscht und die hinter den Standards steckende Vorstellung von Stilkönnen stark dominiert. Typisch dafür ist die Formulierung: „Texte dem Zweck stilentsprechend und adressatengerecht gestalten“. Die Fähigkeit, den Stil bewusst zu wechseln, Stilwechsel wahrzunehmen und den ‚Stilsinn‘ markierter Formulierungen expressiv zu nutzen, tritt dahinter stark zurück. Fast

343

Ulf Abraham

immer, wenn Stil hier begrifflich überhaupt vorkommt, ist interessanterweise nicht von eigener Textproduktion die Rede, sondern von den Ergebnissen einer Textuntersuchung, die „darzustellen“ sind: „stilistische Gestaltungsmittel und ihre Wirkungsweise“ sind da zu erfassen und dann „stilistisch stimmig“ zu beschreiben. Eine Analyse auch noch der auf Literaturunterricht bezogenen KMK-Standards würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen; ältere Beobachtungen an der Rede vom Stil in der Deutschdidaktik10 legen aber die Vermutung nahe, dass Stil im Grunde auch noch für die Standards des Jahres 2004 etwas ist, was professionelle Autor/-innen beherrschen und was sich Lernende bewundernd und beschreibend, nicht aber produktiv und gestaltend, erarbeiten. Die Formulierung „produktive Schreibformen nutzen: z. B. umschreiben, weiterschreiben, ausgestalten“11 ist in der Tabelle nicht enthalten, weil sie in dieser Form stildidaktisch irrelevant ist; sie würde sofort relevant, wenn da auch stünde: ‚imitieren, parodieren, Précis schreiben‘. Die Fachdidaktik ist an diesem unbefriedigenden Befund sicher nicht schuldlos. Sie hat sich seit der ‚Kommunikativen Wende‘ der 1970er Jahre insgesamt erstaunlich wenig mit Sprech- und Schreibstilen beschäftigt. Immerhin hat sich – nicht zuletzt als Folge der Diskussion um das ‚kreative Schreiben‘ – die Einsicht durchgesetzt, dass ‚Stilbildung‘ im Deutschunterricht12 weniger auf Vermittlung von Begriffswissen als auf Erprobung eines Repertoires setzen sollte. Lernen kann man von der Soziologie; dort wird Stil als ‚expressive Ungleichheit‘ beschrieben.13 Auch in Bezug auf die Art, wie Menschen sich kleiden, gibt es ja durchaus Erwartungsnormen, die sich aus Situation, Tageszeit, Institution und Grad der Öffentlichkeit herleiten; aber dennoch käme niemand auf die Idee, die immense Bedeutung von Kleidung und Accessoires als Mittel der Selbstdarstellung und -stilisierung zu leugnen. Angemessenheit ist zwar auch hier ein Thema; man denke an Diskussionen über Touristinnen, die in kurzen Hosen oder Bikinitops Kirchen besichtigen, oder über Nacktbaden an griechischen Stränden. Aber Angemessenheit als Normvorstellung geht hier einher mit einer Vor-

10 11 12 13

344

Vgl. ABRAHAM, 1996. KMK-Bildungsstandards Mittl. Schulabschluss, 2004, S. 12. Einen auch historischen Überblick gibt FRITZSCHE, 1994, S. 239ff. Vgl. LÜDTKE, 1989.

Stil lehren?

stellung von Selbstbestimmung und Freiheit des Persönlichkeitsausdrucks. (Kommt es zur Klage wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses, sind beide Güter abzuwägen.) Für sprachliche Selbstdarstellung in Wort und Schrift sind uns solche Überlegungen weit weniger geläufig. Zur Stilkompetenz, wenn denn eine solche begrifflich zu modellieren ist, würde aber nicht nur die Kenntnis und gekonnte Anwendung rhetorischer Figuren in geschliffener Rede gehören, sondern auch die Bereitschaft und Fähigkeit, individuelle Stilunterschiede als expressiv wahrzunehmen und zu akzeptieren, wenn schon nicht zu würdigen: Dieser Beitrag geht davon aus, dass Stile – nicht nur, aber eben auch Sprachstile – homogenisierend nach innen und als Abgrenzungsstrategie nach außen wirken, dass Schüler/innen dies aus anderen (nicht-sprachlichen) Bereichen durchaus wissen und es auf die Wahrnehmung sprachlicher Stilistik übertragen (lernen) können. Letztendlich sollte Stil begriffen werden können „als Strategie, das Verhalten anderer zu organisieren“.14 Wendet man diese Einsicht auf (mündlichen und schriftlichen) Sprachgebrauch an, so ergibt sich, dass Stil erst aus einem Zusammenspiel von ‚Adäquanz‘ und ‚Devianz‘ entsteht: Zum einen wird unter der Perspektive eines funktionalen Stilkonzepts die Textsorte zur Referenzgröße für stilistische Entscheidungen. Die Textsorte, gelegentlich auch ‚Textmuster‘ genannt, ist als anzunehmende Erwartungsnorm, aber nicht mehr als der kommunikative Rahmen für die je konkrete Handlung, ermittelbar aus der Frequenz bestimmter sprachlicher Erscheinungen auf lexikalischer, idiomatischer und syntaktischer Ebene. Häufig hat ein Text aber mehrere Textsorten als Referenzgrößen. Zum andern ist Stil, im Sinn einer ‚Abweichungsstilistik‘, als expressive Devianz zu fassen, d. h. als Abweichung von einer Erwartungsnorm. Deskriptiv ist dagegen nichts einzuwenden, normativ kann es zum Problem werden: Das Ausmaß, in dem man beim Schreiben ein ästhetisches ‚Wagnis‘ eingeht,15 sollte jedenfalls nicht unter Berufung auf die Textsorte (oder gar auf ‚das gute Deutsch‘) von vornherein unter den Verdacht mangelnder Stilkompetenz gestellt, sondern hermeneu-

14 RECK, 1986, S. 143. 15 Vgl. NUSSBAUMER, 1991, S. 303.

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tisch gewürdigt werden: Abweichung können intentional sein; (nur) als solche haben sie stilistischen Zeichenwert.16

Abb. 1 Erst dieses Zusammenspiel (vgl. Abb. 1) lässt sprachliche Handlungen als mehr oder weniger markiert erscheinen und treibt, wie eine pragmatische Stilistik17 sagt, ‚Stilsinn‘ aus sich hervor: Im Spannungsfeld von ‚Typisieren‘ und ‚Unikalisieren‘ entsteht ‚Zusatzbedeutung‘.18 Dass Stil das Ergebnis einer Auswahl unter verschiedenen Möglichkeiten der Formulierung ist, wird dann in der Sekundarstufe I zum Lernziel. Nach dem Medium selbst (Mündlichkeit oder Schriftlichkeit, neuerdings auch die ‚Oraliteralität‘ von sms, email oder chat) ist es dann die Entscheidung für eine Textsorte und deren prototypische sprachliche Mittel, die eine Stilwahl darstellt. Und mit dieser wiederum geht die Entscheidung einher, auch gegen eine Textsortennorm in bewusster Abweichung zu formulieren, d. h. stilistisch markiert. Abb. 1 fasst diese drei Dimensionen von Stil (Auswahl, Abweichung und Intentionalität) zusammen. Es bleibt allerdings Sache des Sprechers bzw. Schreibers, abzuschätzen, wie deutlich eine stilistische Markierung sein muss, um von einem bestimmten Adressatenkreis als intentional erkannt zu werden. ‚Opting-in‘ (Erfüllung eines Textmusters) und ‚opting-out‘ (bewusste Nichterfüllung) sind nach Sandig die stilistisch relevanten Handlungs16 Vgl. dazu auch materialreich MACHEINER, 1991. 17 SANDIG, 1986. 18 Übersicht nach ABRAHAM, 1996, S. 282.

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Stil lehren?

typen beim Sprechen und Schreiben.19 Sie sind aber darauf angewiesen, im Rezeptionsvorgang – und damit auch vorgreifend im Formulierungsprozess – als zeichenhaft erkannt zu werden. ‚Stilistische Kompetenz‘ setzt damit nicht nur die Kenntnis von Textsortennormen voraus, sondern auch das Verfügen über Ausdrucksalternativen und das Reflektieren früherer Kommunikationserfahrungen.

3. ‚Stil G/gestalten‘ Die im vorigen Abschnitt umrissene stilistische Kompetenz zeigt sich im sprachlichen Handeln, d. h. in einer Folge mehr oder weniger bewusst getroffener Formulierungsentscheidungen beim Sprechen und Schreiben. Insofern solche Entscheidungen (für/gegen Ausdrucksalternativen, Satzbaumuster usw.) bewusst fallen, kann von (Stil-)Gestalten gesprochen werden. Die Frage ist nun, wie ein solches – und zwar vor aller Bewertung und ggf. ‚Korrektur‘! – im Unterricht wahrgenommen und beschrieben werden kann. In einer – auf konkrete Textsorten unten noch anzuwendenden – Weise habe ich20 stilistische Gestaltungshandlungen beschrieben als variierbar auf vier ‚Achsen‘: prägnant vs. explizit: Elaborationsgrad konstant vs. variant: Grad der Einheitlichkeit nahe vs. distant: Grad der Schriftsprachlichkeit neutral vs. markiert: Ausdrucksstärke Jeder Text, so die der im Folgenden dargestellten Unterrichtsanregung zu Grunde liegende Annahme, lässt sich in einem dadurch entstehenden Raster irgendwo verorten. Konzeptionell schriftsprachliche Texte werden in Abb 2. eher in der unteren Hälfte (‚distant‘), konzeptionell sprechsprachliche in der oberen Hälfte (‚nahe‘) zu finden sein, und dann wiederum entweder eher in der linken Hälfte (‚konstant‘) oder in der rechten (‚variant‘). Ein durchgängig schriftsprachlich formulierter und dabei stilistisch einheitlicher Text zum Beispiel wie der eines 19 Vgl. SANDIG, 1986, S. 147. 20 ABRAHAM, 1996, S. 231ff., Grafik 257.

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Nachrichtensprechers im heutejournal wäre in diesem Raster links unten einzuordnen, und das heißt: Bittet man eine Gruppe von Rezipient/ -innen wie etwa eine Schulklasse, je ein entsprechendes Kreuz zu setzen,so dürften diese Kreuze massiert im linken unteren Viertel platziert werden. Hält man den von Anchorman oder Anchorwoman derselben Sendung gesprochenen Text dagegen, so ist er auf Grund seiner Stilsignale deutlich weniger weit links und deutlich weniger weit unten im Raster platziert: Marietta Slomka oder Claus Kleber reden weniger distant und auch deutlich weniger einheitlich als ihr(e) Nachrichtensprecher(in). Dasselbe gilt nun für Stilwahrnehmung an schriftlichen Texten, die ja in den Deutschunterricht leichter zu integrieren sind. An den drei benachbarten Textsorten Kommentar – Rezension – Glosse habe ich es beispielhaft erläutert.21

Abb. 2

21 Vgl. ABRAHAM, 2009.

348

Stil lehren?

4. Möglichkeiten für den Deutschunterricht: ein Versuch „Mit der Schaffung von Stilbewusstsein muss schon in der Grundschule begonnen werden.“22 Diese Forderung von Kaspar H. Spinner ist nicht so zu verstehen, als hielte der Deutschdidaktiker es für sinnvoll, auf der Primarstufe Stilunterricht im Sinn einer Vermittlung von Kategorien der Stilistik zu betreiben. Vielmehr geht es darum, im Sinn des ‚language-awareness‘-Ansatzes ein Bewusstsein dafür anzubahnen, dass Sprache nicht einfach ein Transportmittel für Inhalte ist, sondern über Ausdrucksmittel für Nuancen und Schattierungen der intendierten Bedeutung verfügt. Da bereits Grundschüler/-innen in ihrer Erstsprache kommunikativ sehr kompetent sind, wissen sie intuitiv, dass man in Rede und Gespräch Ziele auf unterschiedliche Weise erreichen und Inhalte verschieden vermitteln kann. An diese Anfänge von Sprachbewusstsein kann man anknüpfen, wenn es um die Reflexion von Schriftlichkeit geht: Die Schriftsprache lädt zur genauen Wahrnehmung sprachlicher Ausdrucksmittel in besonderer Weise ein. So betrachtet, ist die Thematisierung von Stilistischem in Texten ein Beitrag zur ästhetischen Erziehung als fächerübergreifender Aufgabe. Der Unterrichtsversuch, aus dem im Folgenden Resultate berichtet werden, ist in der 9. Jahrgangsstufe angesiedelt, sozusagen im ‚PISAAlter‘. In diesem Fall war es die 9. Klasse eines Mädchengymnasiums:23 Was nehmen 15jährige Schülerinnen an stilistischen Unterschieden und Markierungen wahr? Wie deutlich markiert müssen Texte sein, wie stark die Abweichungen von unmarkiertem Sprachgebrauch, damit sie als stilistisch auffällig eingestuft werden? Die Reaktionen der Schülerinnen auf inhaltlich recht ähnliche, stilistisch denkbar unterschiedliche Texte sollen sowohl miteinander als mit einer Gegenprobe verglichen werden, die unter Expert/-innen (Bamberger Deutschdidaktiker/-innen) zu diesem Zweck erhoben wurde. Versuchgrundlagen waren sechs Texte aus F. C. Delius, Die Minute mit Paul McCartney (2005). Die Aufgabe (vgl. Anhang 1) lautete: „Finde für jeden der sechs Texte einen Punkt im Raster, wo er Deinem Gefühl 22 SPINNER, 1997, S. 277. 23 Maria-Ward-Gymnasium Bamberg, Schuljahr 2009/10. Ich danke meiner Frau Birgit Abraham für die Durchführung des Versuchs.

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nach hingehört. Markiere diese Punkte mit ‚A‘ / ‚B‘ / ‚C‘ / ‚D‘ / ‚E‘ / ‚F‘.“ In meiner Analyse, die der Konstruktion des Erwartungshorizonts (Anhang 2) vorausging, sieht der Vergleich der Texte so aus: Auffälligkeiten auf …

… Wortebene

… Satzebene

… Textebene

A „Memo“

konkrete Substantive: Eigennamen, Artennamen („Fiat 500“, „Rhododendron“); gelegentlich nahe an der gesprochenen Sprache („Gekicke“, „Vieh“)

meist lange Sätze; hypotaktischer Satzbau

erzählend (Erzähler-Ich bzw. -Wir)

B „Super“

ungewöhnliche Adjektivhäufung; gelegentlich altmodische Wendungen („aufs Fleißigste“, „das Weite suchten“, „trefflich“); abstrakte Substantive („ins Vergessen“, „Sportgerät“, „Aufbruchszeit“)

meist lange Sätze; hypotaktischer Satzbau

berichtend und schildernd

C „Girls“

Jagdmetaphorik („auf der Lauer liegen“, „umzingeln“, „in Sichtweite“)

meist kurze Sätze; oft parataktischer Satzbau; Ellipsen („Mündlichkeit“)

erzählend (Erzähler-Ich bzw. -Wir)

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Stil lehren?

D „Unbeschreiblich“

unauffällig

kurze, parataktische Sätze („Mündlichkeit“)

erzählend (Erzähler-Ich); Wiederholungen („Sowas […]“, „sprachlos“, „fehlen die Worte“)

E „Konjunktiv“

unauffällig

Konjunktivsätze

reflexiv; rhetorische Fragen

F „Beatologisch“

Fremdwörter („musikologisch“, „semantisch“, „visuell“, „Intervention“, „Kontroverse“); Abstrakte Substantive: „Gesichtspunkt“, „Aspekt“, „Fragestellung“)

meist lange Sätze; hypotaktischer Satzbau

erörternd: Vermutungen; Belege; Fragen und Antworten

Die Auswertung des von den Schülerinnen ausgefüllten Arbeitsblattes und der Vergleich mit den Angaben der Expert/-innen (vgl. Anlage 3) ergibt, dass sich diese in ihren Einschätzungen zwar wesentlich einiger sind als die Schülerinnen, jedoch auch sie nicht bei allen Texten ein klares Bild produzieren (von einem klaren Bild würde ich dann sprechen, wenn alle oder doch fast alle Kreuze im selben Viertel des Rasters wären): Offensichtlich hängt es nicht nur vom Sprachhandlungswissen und -bewusstsein der Probanden ab, wie sie die Stilwirkung der Textproben einschätzen, sondern auch von diesen selbst. Relativ unklar waren die Texte A, B und D (breite Streuung); relativ klar die Texte C, E und F (weniger Streuung): A „Memo“: Einordnung nicht konsensfähig B „Super“: Einordnung wenig konsensfähig

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Ulf Abraham

C „Girls“: Einordnung bedingt konsensfähig D „Unbeschreiblich“: Einordnung strittig E „Konjunktiv“: Einordnung recht konsensfähig F „Beatologisch“: Einordnung recht konsensfähig Die bedingt oder recht konsensfähigen Texte sind aber auch diejenigen, die besonders auffällig von der standardsprachlichen Erwartungsnorm abweichen: Viele Leser/-innen empfinden sie auf Grund der Massierung textsortenspezifischer Mittel als künstlich. Gerade solche Textproben eignen sich aber, dem Resultat meines Versuchs nach zu schließen, in besonderer Weise dazu, die noch ungeschulte Wahrnehmungsfähigkeit für Stile anzusprechen und eine intersubjektive Verständigung über ihre stilistische Beschaffenheit gelingen zu lassen. Im Deutschunterricht wird man solche gleichsam hochdosierten Texte nicht häufig einsetzen. Man sollte aber überlegen, ob es nicht – um in der Metapher zu bleiben – die Mühe lohnt, mit einer starken Dosis zu beginnen und sich dann langsam auszuschleichen, weil man darauf setzen kann, dass Lernende, deren Wahrnehmung auf Stil gerichtet worden ist, im Lauf der Zeit auch schwächere Abweichungen und weniger deutliche Markierungen wahrnehmen und beschreiben können – und zwar zunächst so, wie Stil wirkt, nämlich ganzheitlich. Die Begründung für eine in der Lerngruppe festgestellte Stilwirkung, in Form einer Beschreibung der sprachlichen Mittel, sollte erst der zweite Schritt sein.

5. Offene Fragen Ein Unterrichtsversuch ist kein Forschungsdesign. Es drängen sich Fragen auf, die systematischere Forschung in diesem Bereich als gewinnbringend erscheinen lassen:

• •

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Haben diejenigen Proband/-innen, deren Zuordnungen nicht das Cluster getroffen haben, die Aufgabe nicht verstanden oder die Texte zu oberflächlich gelesen? Würde ein vorausgehender ‚Stilunterricht‘, der Differenzerfahrungen ermöglicht, solche Resultate verändern (konsensfähiger machen)?

Stil lehren?

• • • •

Würden sich andere ‚Skalen‘ (z. B.: ‚abstrakt vs. konkret‘) empirisch besser darstellen lassen? Welche Skalenkombinationen funktionieren in der Unterrichtspraxis gut? Hätte die akustische Rezeption der Texte andere Resultate erbracht? Wie stark ist die ‚Treffsicherheit‘ der Schülerinnen, gemessen an den Ergebnissen der ‚Expert/-innen‘, abhängig von ihrer Lesesozialisation und/oder ihren Leistungen im Fach Deutsch?

Literatur ABRAHAM, ULF, „Mit diesem Stil bekommen Sie auch keine Arbeit“. ‚Stil‘ als vorbewußte Wahrnehmungskategorie im Korrekturhandeln von Deutschlehrern, in: Sprache gebrauchen, Sprachwissen erwerben, hg. von PETER EISENBERG/PETER KLOTZ, Stuttgart 1993, S. 159-178. ERS D ., Sprech- und Schreibstile Lernender fördern und beurteilen, in: Der Deutschunterricht 61, 1 (2009), S. 57-69. DERS., StilGestalten. Geschichte und Systematik der Rede vom Stil in der Deutschdidaktik, Tübingen 1996. DERS., Stil und Stilistik, in: Didaktik der deutschen Sprache, hg. von URSULA BREDEL u. a., Bd. 1, Paderborn 2003, S. 237-248. FIX, ULLA, Gestalt und Gestalten. Von der Notwendigkeit der Gestaltkategorie für eine das Ästhetische berücksichtigende pragmatische Stilistik in: Zeitschrift für Germanistik N. F. 6 (1996), S. 308-323. FRITZSCHE, JOACHIM, Didaktik und Methodik des Deutschunterrichts. Schriftliches Arbeiten, Bd. 2., Stuttgart 1994. KMK-Bildungsstandards Primarstufe, http://www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/20 04/2004_10_15-Bildungsstandards-Deutsch-Primar.pdf, 10.01.2011, S. 9. KMK-Bildungsstandards Hauptschulabschluss, http://www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/20 04/2004_10_15-Bildungsstandards-Deutsch-Haupt.pdf, 10.01.2011, S. 10 bzw.

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KMK-Bildungsstandards Mittl. Schulabschluss, http://www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/20 03/2003_12_04-BS-Deutsch-MS.pdf, 10.01.2011, S. 10. LÜDTKE, HARTMUT, Expressive Ungleichheit. Zur Soziologie der Lebensstile, Opladen 1989. MACHEINER, JUDITH, Das grammatische Varieté oder die Kunst und das Vergnügen, deutsche Sätze zu bilden, Frankfurt a. M. 1991. NUSSBAUMER, MARKUS, Was Texte sind und wie sie sein sollen. Ansätze zu einer sprachwissenschaftlichen Begründung eines Kriterienrasters zur Beurteilung von schriftlichen Schülertexten, Tübingen 1991. RECK, HANS ULRICH, Stilnotate zwischen Lebensform, Subversion und Funktionsbegriff, in: Stilwandel als Kulturtechnik, hg. von B AZON BROCK/HANS ULRICH RECK, Köln 1986, S. 100-151. SANDIG, BARBARA, Stilistik der deutschen Sprache, Berlin/New York 1986. SPINNER, KASPAR H., Thesen zur Didaktik der Stilanalyse. in: Stile, Stilprägungen, Stilgeschichte, hg. von ULLA FIX/HANS WELLMANN, Heidelberg 1997, S. 277-279.

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Stil lehren?

Anhang 1

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Anhang 2

Die Erwartung für Text B „Super“ musste ich auf Grund der Expert/inneneinschätzung korrigieren.

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Stil lehren?

Anhang 3 Ergebnisse der 20 befragten Schülerinnen (der Kl. 9 des Maria-WardGymnasiums Bamberg) im Vergleich mit denjenigen der 5 Expert/innen der Universität Bamberg, Deutschdidaktik), nach Textproben geordnet

Kl. 9, Maria-Ward-Gymn. Bamberg

Experten: Universität Bamberg

Ergebnisse für Text A

Ergebnisse für Text A

Kl. 9, Maria-Ward-Gymn. Bamberg

Experten: Universität Bamberg

Ergebnisse für Text B

Ergebnisse für Text B

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Kl. 9, Maria-Ward-Gymn. Bamberg

Experten: Universität Bamberg

Ergebnisse für Text C

Ergebnisse für Text C

Kl. 9, Maria-Ward-Gymn. Bamberg

Experten: Universität Bamberg

Ergebnisse für Text D

Ergebnisse für Text D

Stil lehren? Kl. 9, Maria-Ward-Gymn. Bamberg

Experten: Universität Bamberg

Ergebnisse für Text E

Ergebnisse für Text E

Kl. 9, Maria-Ward-Gymn. Bamberg

Experten: Universität Bamberg

Ergebnisse für Text F

Ergebnisse für Text F

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Anhang 4 Die 6 Textproben des Versuchs (Auszüge aus: F. C. Delius: Die Minute mit Paul McCartney. Memo-Arien. Transit-Verlag 2005)24 (A) An einem Londoner Samstagnachmittag im Frühjahr, Anfang bis Mitte März 1967, fuhren mein Freund Bruno und ich von unserer Wohnung in der Victoria Road in Kilburn zum Regent’s Park. Das Auto, einen alten Fiat 500, stellte ich an der östlichen Parkseite ab, Bruno trug den Lederball, und wir liefen zu den Fußballfeldern, mittelgroße Plätze mit einfachen Torstangen ohne Netze. Wir schossen und kickten den Ball hin und her, mal ging der eine ins Tor, mal der andere. Auf einmal kam uns ein Hund dazwischen, ein großes, zotteliges, weißes Vieh, und schnappte nach dem Ball vor meinen Füßen, wollte mitspielen, und ich, kein Freund dieser Tiere, wich zurück, der Hund blieb am Ball. Nun trat ein junger Mann auf zu uns, dessen Mantel ähnlich zottelig war wie das Fell seines Hundes, rief einen Namen und sagte, sich mit einem freundlichen Lächeln entschuldigend, „Don’t be afraid, she’s a coward!“ Unsere Sprachkenntnisse waren mäßig, wir verstanden die Bedeutung von „coward“ nicht. Erst in diesem Augenblick, als er schon abdrehte, erkannte ich das Gesicht, es war Paul McCartney. Auch Bruno hatte den Beatle identifiziert. Aber selbst ihm gelang keine Antwort, nicht einmal ein Gruß oder ein „Good luck, Paul!“. Der hatte es eilig weiterzugehen, der Hund folgte ihm. Denn neben uns, hinter Rhododendronbüschen (oder Haselnussbüschen?), war ein Schwarm junger Mädchen aufgetaucht, die juchzend und kichernd hinter McCartney und seinem Hund herjagten. Auf dem gewundenen Weg zwischen Bäumen und Zierbüschen sahen wir den Beatle immer schneller werden, auf der Flucht vor den aufdringlichen Verehrerinnen, die auch schneller wurden, aber ihn, soweit mein Auge reichte, doch nicht erreichten und dafür umso lauter kreischten. Es dauerte also ein wenig, bis wir begriffen: Das war wirklich Paul McCartney! Und wir setzten das Gekicke noch eine Weile fort. Zu Hause schauten wir ins Lexikon: coward heißt Feigling! Sie ist ein 24

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Transit-Verlags.

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Stil lehren?

Feigling, hatte er gesagt! Eine Anekdote, nichts weiter, aber genau aus den Wochen, in denen nebenan in der Abbey Road die LP Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band produziert wurde. Auch das ahnten wir nicht. (B) An einem der lausigsten, langweiligsten, märzigsten Londoner Nachmittage bei grauestem Wolkenbehang nahmen zwei junge Männer den rundesten und lederigsten Gegenstand, den sie finden konnten, und suchten die freiste, grünste und zum Spielen geeignetste Rasenfläche im Regent’s Park. Sie kickten aufs Fleißigste und amateurhaft Sportlichste herum, bis das weißeste, zotteligste und frechste große Hundetier, das sie je gesehen hatten, ihnen das Sportgerät entriss. Sie wichen aufs Ängstlichste zurück, sahen sich jedoch sogleich von einer der lieblichsten Stimmen beruhigt: „Don’t be afraid, she is a coward!“ In dieser Situation der tröstlichste und witzigste aller denkbaren Sätze, der vielleicht längst ins dunkelste Vergessen abgesunken wäre, wenn sein Urheber nicht der romantischste Komponist, genialste Songwriter, göttlichste Sänger und trefflichste Gitarrist der weltweit berühmtesten Band jener wildesten, drogensüchtigsten und sinnesdurstigsten Aufbruchszeit der mittleren sechziger Jahre gewesen wäre. Während Hundebesitzer und Hund mit dem allergrößten Eifer das Weite suchten, wurden sie verfolgt von einer Gruppe schönster und schamlosester junger Mädchen, die nichts Wichtigeres im Sinn hatten, als in die allernächste Nähe jener Berühmtheit zu gelangen, zu Paul McCartney. (C) Also, wir waren meistens fünf oder sechs, manchmal auch zu siebt oder acht, Jane, Maggy, Liz, Sarah, Janet, Debby, Cathy und ich. Jane wohnte ja schräg gegenüber von Paul, sie lag fast jedes Wochenende auf der Lauer. Wenn er dann mit seinem Hund aus der Tür trat, rief sie sofort bei Maggy und bei mir an, sie ließ es nur zweimal klingeln, das war das Zeichen. Ich rief dann bei Debby und Sarah an, zweimal klingeln, um keine Zeit zu verlieren, Maggy informierte Liz und Cathy, und dann rannten wir aus unsern Häusern. Manchmal, besonders an langweiligen Samstagen, trafen Maggy, Liz und ich uns bei Jane und hielten abwechselnd Wache, dann ging alles natürlich noch schneller. Nein, seine Freundin kam selten mit, und es waren noch die schönen Zeiten, als ein

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berühmter Mann ohne Bodyguard auf die Straße und in den Park gehen konnte. Ich glaube, es war Sarah, die irgendwann mal sagte: Wir sind Pauls Bodyguards. So nannten wir uns dann, und wenn wir ihn mal erwischten, sagten wir: We want to be your bodyguards. Na ja, wir waren fünfzehn, sechzehn, was hat man da nicht alles für hübsche Phantasien! Nein, in der Woche hatten wir ja Schule und die Beatles waren im Studio, da bekamen wir Paul eigentlich nie zu sehen. Umso mehr freuten wir uns auf das Wochenende. Wir waren schnell, wir trafen fast immer rechtzeitig am Park ein und hatten Paul in Sichtweite vor uns. Aber zu rennen wie in der Sportstunde, das wäre peinlich und irgendwie unsportlich gewesen. Also gewöhnten wir uns einen sehr schnellen Schritt an, machten Abkürzungen über den Rasen, durch die Büsche, und so gelang es uns meistens, Paul zu erreichen und zu umzingeln. An jenem Samstag im März, ich erinnere mich, war die Gelegenheit besonders günstig, weil Pauls Hund zwei fußballspielenden Jungens den Ball wegnahm und Paul stehenblieb und mit denen redete. Leider nur kurz, aber immerhin, wir gewannen ein gutes Stück und erreichten ihn früher als gewöhnlich. Was wir von ihm wollten? Na, hören Sie mal! (D) Also, das kann man nicht beschreiben. Das muss man erlebt haben. Sowas passiert ja nur einmal im Leben. Also, wir spielen ganz harmlos ein bisschen Fußball im Park. Und dann springt so ein Hund dazu, und auf einmal steht da ein Mann vor uns wie vom Himmel gefallen. Ein junger Mann, so unser Alter. Dir fehlen die Worte. Du weißt nicht gleich, wer es ist, aber du ahnst sofort, das ist kein gewöhnlicher Sterblicher. Dann merkst du, das ist doch einer von den Beatles. Paul McCartney. Kein Geringerer als die Nummer eins der Beatles. Oder die Nummer zwei, ist auch egal, spielt keine Rolle, wirklich nicht. Du bist sprachlos. Und der sagt was zu dir, einen ganzen Satz sagt der, zu dir, ja. Es ist nicht zu fassen. Der spricht mit uns. Also, man muss das erlebt haben. Wie er aussah, wie er uns anschaute, wie er seinen Hund rief, das kann man nicht beschreiben. So gebannt bist du, so verzückt, ich würde fast sagen erleuchtet. Alle Wörter sind kümmerlich gegen das, was wir da erlebt haben. Es gibt keine Wörter dafür. Und wie er dann weiterlief mit dem Hund, erst da hab ich mir den Satz, den er zu uns

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sagte, richtig ins Herz sinken lassen: „Don’t be afraid, she is a coward!“ Seid nicht ängstlich, sagt der zu uns. Persönlich. Kein Geringerer als Paul, du fasst es nicht. Sowas passiert einem nur einmal im Leben. Das ist einfach unbeschreiblich. Mir fehlen die Worte. (E) Stellen wir uns vor, es kämen zwei junge Burschen in London mit dem Auto zum Regent’s Park gefahren, tobten mit einem Ball auf dem Rasen herum und kickten friedlich vor sich hin. Was für Möglichkeiten könnten sich entwickeln, wenn nun ein großes Hundetier hinzuspränge, den Ball schnappte und die jungen Männer erschreckte? Und wenn vom Parkweg her die Stimme eines weltbekannten Musikers erklänge, mit dem Refrain des damals entstehenden, später so berühmten Songs „Don’t be afraid, she’s a coward.“ Ginge dieser junge Mann, Paul McCartney von den Beatles, nicht zu weit, seine Hündin vor fremden Leuten als Feigling zu bezeichnen? Oder wäre es ihm zuerst, ohne Ansehen des Rufs seiner Hündin, um die Fürsorgepflicht zu tun gewesen, den Fußballspielern die Angst zu nehmen? Es führte vielleicht doch zu weit, darüber zu spekulieren, was Paul McCartney mit seinen Worten, seien sie schon zur Songzeile verdichtet oder noch ein roher Spontangedanke, gemeint haben mochte, zumal Gerüchte besagen, er sei von einer Gruppe weiblicher Fans verfolgt und sogleich vom Schauplatz des Geschehens mitsamt seiner Hündin verjagt worden. (F) Unter beatologischen Gesichtspunkten erscheint der Vorfall im Regent’s Park auf den ersten Blick unergiebig. Paul McCartney Begegnung mit zwei deutschen Freizeitsportlern sowie die Intervention seines Hundes beim Fußballspiel mit dem anschließenden Kurzdialog (Zitat: „Don’t be afraid, she’s a coward.“ – Zitat Ende) hat, darüber waren sich bis in die 90er Jahre alle Beatologen einig, im Werk der Beatles keine auffälligen Spuren hinterlassen. Inzwischen ist die Forschung jedoch vorangeschritten, und es sind insbesondere bei den musikologischen, semantischen und visuellen Aspekten der LP Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band ganz neue Fragestellungen entwickelt worden. Warum das Hundebellen am Ende von „Good morning, good morning“? Hat McCartney diesen Mix-Vorschlag kurz nach jener Begegnung im

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Regent’s Park mit ins Studio gebracht? Und in „A day in the life“, dem berühmten Gemeinschaftswerk von Paul und John, das unstreitig im Januar 67 begonnen wurde, ist die Zeile „The English Army had just won the war“ nicht doch erst nach dem 9. März vollendet worden? Weil die beiden harmlosen, ängstlichen jungen Deutschen McCartney daran erinnerten, dass die Sieger seit 1945 eben doch die Engländer seien, und steht „army“ nicht auch für die englische Fußballmannschaft, die kurz zuvor bei der Weltmeisterschaft 1966 die Deutschen schlug? Hieße es sonst „English Army“ statt „British“? Und warum begannen die Aufnahmen für Pauls Liebeslied „Getting better“ ausgerechnet am 9. März? Und endlich: Warum sollte zuerst auch eine Pappfigur von Adolf Hitler auf das berühmte Cover kommen? Warum wurde sie dann – ebenso wie die von Jesus Christus – entfernt? Wirklich nur, um heftige Kontroversen zu vermeiden? Oder nicht auch, weil die Beatles in Deutschland – in Hamburg – ihre Karriere beschleunigt hatten und nicht deutschfeindlich wirken wollten? Oder weil die jungen Deutschen dem wichtigsten Ideengeber des Covers, Paul McCartney, in der Meinung bestärkt hatten, dass es albern sei, nach Art der Boulevardpresse auf alle Deutschen immer nur mit dem Hitlerreflex zu reagieren? Alles hochrelevante, differenzierte Fragen, die der genaueren Untersuchung harren.

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Ironische Stilreferenzen aus textlinguistischer Sicht GALINA M. FADEEVA

1. Vorbem erkungen Der Beitrag thematisiert den Anteil des Phänomens ‚ironische Stilreferenz‘ an der Ausbildung von Textprofilen. Mit dem Stichwort ‚Textprofile‘ sind sämtliche – sprachliche wie metasprachliche – Mittel angesprochen, die Texten ihre Gestalt und Unterscheidbarkeit nach außen wie ihre spezifische innere Struktur verschaffen.1 Einige Ausführungen des Beitrags greifen z. T. frühere Veröffentlichungen der Autorin auf.2 Die Rolle des Textes im Gefüge der mündlichen oder schriftlichen Kommunikation ist heute allgemein anerkannt. Daraus schließen die Sprachwissenschaftler, dass die Kommunikationsteilnehmer Wissen über den Text, d. h. Wissen über Textregularitäten haben müssen. Dieses Wissen liegt im Normenwissen einer Sprachgemeinschaft bereit, wenn man darunter Richtigkeits-, Angemessenheits- und Wohlgeformtheitsnormen versteht, und diese wiederum sind in der für die jeweilige Textsorte typischen Kombination im Textmusterwissen fixiert. Textmuster vermitteln Maßstäbe. Darüber hinaus kann das Textmuster, das wir an einem Text erkennen, als Textmusterwissen in unsere Wissensbestände eingehen und künftiges Umgehen mit Texten beeinflussen.

1 2

Siehe hierzu www.textprofile-stilistisch.tagung.uni-mainz.de. Vgl. FADEEVA, 2006.

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Galina M. Fadeeva

Wir erfahren das Nötige über zentrale Merkmale einer Textsorte, was uns befähigt, selbst mannigfaltige Textexemplare herzustellen.3 Man findet innerhalb eines Musters Elemente des Normativen, Vorgaben, und man findet Nichtgenormtes, Freiräume, die es individuell zu füllen gilt. Muster sind demnach immer ein unabdingbarer Zusammenhang von Konventionellem und Individuellem, Festlegung auf Verbindliches und Möglichkeit für Abweichungen. Von besonderer Bedeutung ist die These, dass jedes Muster ein ‚Möglichkeitsfeld‘ ist, in dem es sowohl einige überindividuelle Handlungsanweisungen gibt als auch Ermessensspielräume.4 Die Termini ‚Textmuster‘ und ‚Textsorte‘ werden von Stilforschern unterschiedlich definiert. So erfasst Ulla Fix mit ihnen den Sachverhalt, dass wir aus unserer Alltagserfahrung heraus Wissen über Textkonventionen haben und Merkmale kennen, die Gruppen von Texten eigen sind. Mit ‚Textmuster‘ soll dieser qualitative Aspekt einer Textgruppe erfasst werden. Es informiert über die jeweiligen inhaltlichen, formalen und funktionalen Gebrauchsbedingungen für Texte einer Textsorte, also über gemeinsame thematische und handlungstypische Grundelemente sowie über gemeinsame stilistisch-formulative Mittel. Mit dem Terminus ‚Textsorte‘ wird der quantitative Aspekt des Phänomens erfasst, nämlich der, dass es Gruppen von Texten mit gemeinsamen Mustern gibt. Unter einer Textsorte ist demnach eine Klasse von Texten zu verstehen, die einem gemeinsamen ‚Textmuster‘ folgen. Das Musterwissen nun bietet die nötige Orientierung sowohl für das Textherstellen als auch für das Textverstehen und Textbewerten.5 In der bekannten Definition von Klaus Brinker dagegen werden diese Begriffe gleichgesetzt: Textsorten sind konventionell geltende Muster für komplexe sprachliche Handlungen und lassen sich als jeweils typische Verbindungen von kontextuellen (situativen), kommunikativ-funktionalen und strukturellen (grammatischen und thematischen) Merkmalen beschreiben. Sie haben sich in der Sprachgemeinschaft historisch entwickelt und gehören zum Alltagswissen der Sprachteilhaber, sie besitzen zwar eine normierende Wirkung, erleichtern aber zugleich einen kommunikativen Um-

3 4 5

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Vgl. FIX, 2008, S. 2-7. Vgl. ebd., S. 9f. Vgl. ebd., S. 10.

Ironische Stilreferenzen aus textlinguistischer Sicht gang, indem sie den Kommunizierenden mehr oder weniger feste Orientierungen für die Produktion und Rezeption von Texten geben.6

An dieser Stelle sei auch die Arbeit der Moskauer Stilforscherin Elise Riesel Über die Hierarchie der Stilsysteme und grundlegender textologischer Einheiten (1975) erwähnt, in der sie am Beispiel des Funktionalstils des öffentlichen Verkehrs ein übersichtliches hierarchisches System von Funktionalstilen, Substilen, Gattungsstilen, Textsortenstilen, Subtextsortenstilen sowie die entsprechenden schriftlichen und mündlichen Texte (Textklassen/Textsorten/Textexemplare) vorstellt. Sie stützt sich dabei auf die Linguistische Stiltheorie von Willy Sanders (1973), der betonte, dass: 1) eine Typologie der Textsorten nur auf textpragmatischer Grundlage, d. h. im Kontext ihrer kommunikativen Einbettung, erfolgen kann und dass 2) Funktionalstile eine Reihe von Textsorten mit gemeinsamen Stilmerkmalen unter einem übergeordneten Gesichtspunkt zusammenfassen.7 Leider ist diese anregende aber nur in russischer Sprache publizierte Abhandlung Elise Riesels den deutschen Kollegen unbekannt geblieben, im Unterschied zu ihren Buchpublikationen und Aufsätzen, die seit den fünfziger Jahren in dichter Folge in den Zeitschriften wie Deutschunterricht, Sprachpflege, Deutsch als Fremdsprache, Sprachkunst. Beiträge zur Literaturwissenschaft, Zeitschrift für Germanistik erschienen und „ihr zu dem Ruf verholfen [haben], eine der wichtigsten Vertreterinnen der Stilistik zu sein und wesentliche Erkenntnisse und neue Fragestellungen in das Fach eingebracht zu haben“.8 Den konkreten ‚Text‘ kann man in seinen prototypischen Eigenschaften an seinem Muster ‚messen‘. Muster von Texten zu kennen, heißt also über bestimmte Wissensbestände zu verfügen, die für die Produktion und Rezeption von Texten dieser Textsorten gelten und die sich als Textmusterwissen zusammenfassen lassen.9 Vor allem stark normierte (formelhafte) Textsorten wie das Protokoll, das Gutachten, das Kochrezept, der Wetterbericht, der Vertrag, die Todesanzeige u. a. erscheinen als weitgehend vorgeprägt.10 Dies sollte 6 7 8 9 10

BRINKER, 2001, S. 135. Vgl. RIESEL, 2006, S. 67-81. FIX, 2006, S. 35. Vgl. DIES, 2008, S. 11. Vgl. BRINKER, 2001, S. 135.

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Galina M. Fadeeva

bedeuten, dass stark normierte Texte als solche ohne Schwierigkeiten von Germanistikstudierenden auf dem Niveau C1, C2 des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens erkannt werden. Anders verhält es sich hingegen bei Texten, die zwar alle textspezifischen Merkmale aufweisen, zugleich aber die Gegenposition des Autors zum Dargestellten sichtbar machen wollen. Gemeint sind ironische Texte, die auch dem Мuttersprachler oft Schwierigkeiten bereiten.11

2. Linguistische Ironi esignal e Heinrich Plett schreibt im Zusammenhang mit dem Phänomen ‚Ironie‘: Das zentrale Problem bei der Analyse von Ironie-Vorkommen sind Kriterien, die das intuitiv Erspürte intersubjektiv greifbar machen. Dazu bedarf es einer Signal-Lehre, die auf die unterschiedlichen Grade ironischer Evidenz anzuwenden ist. Wir unterscheiden deren zwei: Der Ironiker kann seine Maske verheimlichen, um desto sicherer zum Sieg zu gelangen: verdeckte Ironie. Oder er kann sie seinem Publikum (auch dem Gegner) demonstrativ zur Schau stellen: offene oder theatralische Ironie. [...] Die verdeckte Ironie ist in der Regel signallos, weil sie sich aus handlungstaktischen Gründen nicht entlarven will. Anders die offene Ironie, deren Reiz gerade im Erkennen derselben besteht. Die Signale setzt der Kontext, sei es nicht-sprachlicher oder sprachlicher Art.12

Auch Wolf Schneider greift das Thema auf: Wir kommen nun zu dem schmerzlichen Punkt, an dem Verständlichkeit und gutes Deutsch, bisher Hand in Hand, getrennte Wege gehen – teils ohne Beziehung, teils in Feindschaft zueinander. Da ist die Ironie: ein legitimes Stilmittel, das sich verführerisch anbietet und doch eine Quelle von Missverständnissen ist. Jean Paul hat [...] die Einführung von Ironiezeichen (parallel zu Fragezeichen) vorgeschlagen,

11 Vgl. FADEEVA, 2006, S. 79. 12 PLETT, 2001, S. 120f. [Herv. G. F.].

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Ironische Stilreferenzen aus textlinguistischer Sicht damit jeder wisse, ob das Gegenteil gemeint sei. Preisfrage: Ist das eine ironische Empfehlung?13

Man könnte einwenden, dass z. B. die Anführungszeichen in schriftlichen Texten zu den bewährten Ironiesignalen gehören, neben weiteren bekannten Indikatoren. Ein Katalog solcher Signale an und für sich ist aber wenig hilfreich, denn bei der Wahrnehmung der Ironie spielen Größen wie das Vorwissen, die Intertextualität, ein kontrastiver außerlinguistischer Kontext und viele andere mehr eine entscheidende Rolle. In seiner Arbeit Linguistik der Lüge, die Harald Weinrich 35 Jahre später ein „verstecktes Manifest der Textlinguistik“ und „eine prinzipiell textlinguistisch angelegte Betrachtung“ nannte,14 ordnet er die Ironiesignale in ihrer Vielfältigkeit in den Untersuchungsgegenstand der Linguistik ein: Zur Ironie gehört das Ironiesignal; man tut klein, und man gibt gleichzeitig zu verstehen, dass man kleintut. Man verstellt sich, gewiß, aber man zeigt auch, daß man sich verstellt. [...] Wenn nämlich der Ironie unbedingt ein Ironiesignal beigegeben werden muss, wofern sie überhaupt Ironie sein will, dann wird man sich bei dem Ausdruck Signal sogleich der Zeichenfunktion der Sprache erinnern. Nun gibt es Ironiesignale von vielerlei Art. Das mag ein Augenzwinkern sein, ein Räuspern, eine emphatische Stimme, eine besondere Intonation, eine Häufung bombastischer Ausdrücke, gewagte Metaphern, überlange Sätze, Wortwiederholungen oder – in gedruckten Texten – Kursivdruck und Anführungszeichen. Immer sind es Signale, das heißt Zeichen. Meistens, und dafür interessiert sich die Linguistik natürlich in besonderem Maße, sind es sprachliche Zeichen: Wörter, Laute oder prosodische Besonderheiten. In geschriebenen Texten bilden die vielfältigen Arten von Ironiesignalen ein wichtiges Kapitel in der Stilistik der Ironie.15

Weinrich betrachtet die Ironie textlinguistisch, d. h. in Text, Kontext und Situation: 13 SCHNEIDER, 2001, S. 139 [Herv. i. O.]. 14 WEINRICH, 2000, S. 80f. 15 Ebd., S. 63f. [Herv. G. F.].

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Galina M. Fadeeva Als ihr Ausgangspunkt gilt in einem gegebenen „Sprachspiel“ (im Sinne von Wittgenstein) der mündlich oder schriftlich geäußerte „Text-inder-Situation“. Von ihm geht die textlinguistische Analyse sodann absteigend zu kleiner dimensionierten Einheiten der Sprachbetrachtung über, wobei jeweils unterschiedliche Sprachstrukturen der „Textsyntax“ (nicht bloß „Satzlehre“!) und „Textsemantik“ (nicht bloße „Wortlehre“) in den Blick kommen.16

Im Rückblick bemerkt Weinrich, dass ihm seinerzeit in den Kapiteln zur Metaphorik, zur Ironie und zur (poetischen) Fiktion klargeworden sei, dass zum Verständnis der untersuchten Phänomene die Grenzen auch der Textlinguistik noch überschritten werden müssen. Er kam zu dieser Einsicht, weil er in großem Umfang auf literarische und allgemein kulturelle Verstehensmuster, insbesondere der Hermeneutik, zurückgegriffen hat.17 Die meisten Linguisten stimmen darin überein, dass das Erkennen von Ironie und ihrer sprachlichen Signale in schriftlichen Texten nicht leicht ist, insbesondere dann, wenn die Kontextbedingungen wenig bekannt sind. Die ironische Rede wird von Weinrich als Sprechakt zwischen einem Sender und einem Empfänger angesehen, der durchaus Fallen für ein Missverstehen birgt: Das Ironiesignal [...] ist von solcher Art, daß es sowohl vernommen als auch überhört werden kann. Es gehört nämlich einem Code zu, der nicht mit dem allgemeinen Code der Grammatik identisch ist und an dem nur diejenigen Anteil haben, die Witz haben. Die Halbgebildeten und Süffisanten überhören es, und das Ironiesignal kommt nicht zum Ziel. Das ist aber nicht die Schuld des Sprechers, sondern die Schuld des Hörers.18

Besonders wichtig sind in diesem Zitat die Worte von der Schuld des Rezipienten, wenn die Ironiesignale ihre Wirkung verfehlen. Die Ironiesignale müssen auf einen vorbereiteten, ‚ironisch kompetenten‘, mit Welt-, Menschen- und Kommunikationskenntnissen ausgestatteten Rezipienten treffen. Weinrich katalogisiert zwar die Ironiesignale in Über16 Ebd., S. 81. 17 Ebd., S. 82. 18 Ebd., S. 66.

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Ironische Stilreferenzen aus textlinguistischer Sicht

einstimmung mit dem rhetorisch-stilistischen Paradigma, betont aber zugleich eine besondere Rolle des Vorwissens und anderer notwendiger Kompetenzen.19 Das Textverstehen ist ein Prozess, in dem der Textrezipient sich nicht passiv verhält, sondern sich aktiv betätigt. Bei der Interpretation des Gehörten bzw. Gelesenen benötigt er sowohl Sprach- als auch Weltwissen, die dabei aufeinander einwirken. Die neuere systematische Textsortenforschung hat gezeigt, dass der Aufbau von Texten weitgehend textsortentypisch ist, dass hier situative und soziale Bedingungen eine Rolle spielen und dass die verwendeten Merkmale in ihrer Kookkurrenz und Gewichtung zu analysieren sind.20 Die an bestimmte Sprach- und Situationskontexte gebundenen, aber zur allgemeinen sprachlichen Erfahrung zählenden Normen werden auch ‚Register‘ oder ‚Stilregister‘ genannt. Darunter versteht man die in einem bestimmten Kontext als normal, neutral, angemessen, angebracht bewerteten Sprachmerkmale, die aber gleichzeitig diesen Kontext von anderen Kontexten abheben. Der Begriff ‚Register‘ ist breiter als ‚Textsorte‘ und kann z. B. Sachgebiete, Sprechhaltung je nach Beziehung zwischen den Kommunikationspartnern (höflich, offiziell, informell) umfassen, aber auch Dialekte, Soziolekte, archaische Formen usw. könnten als ‚Register‘ klassifiziert werden. In einer bestimmten Kombination können diese Merkmale ein spezifisches ‚Stilregister‘ bilden.21 Irritationen ergeben sich für den Leser dann, wenn er gewisse Störfaktoren wahrnimmt und diese zu identifizieren sucht. Ein Störfaktor wäre beispielsweise, wenn sich die Stilmittel des Textes als überraschende Kontrastelemente von einem für die betreffende Textsorte typischen Register abheben. Wirken mehrere vom Register abweichende Stilmittel an einer Textstelle konzentriert zusammen, so kann man in Anlehnung an Frey von einer geschickten Manipulation der Stilregister und Stilmittel reden. Diese stilistische Konvergenz sichert die Hervorhebung einer Textstelle auch für Leser mit weniger ausgeprägtem Stilempfinden und schärft deren Aufmerksamkeit für weitere, weniger hervorgehobene, aber verwandte Textstellen und Stilelemente.22

19 20 21 22

Vgl. MÜLLER, 1994, S. 120. VATER, 2001, S. 186f. FREY, 1980, S. 5. Vgl. ebd., S. 4f.

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Das Letzte kann als linguodidaktischer Hinweis für die Auswahl von ironischen Texten betrachtet werden, die im DaF-Unterricht für Fortgeschrittene eingesetzt werden können. Hier sei aber ausdrücklich betont, dass ‚Stil‘ nicht unbedingt eine „spezifische Abweichung von der Sprachnorm“, eine „Beigabe gewisser Stilzüge zu einer stilistisch neutralen oder unmarkierten Ausdrucksweise“, „eine Konnotation, ein Assoziationswert“ ist, wie wir das bei Frey finden.23 In Anlehnung an Elise Riesel wird im Beitrag die Meinung vertreten, dass eine neutrale Ausdrucksweise auch ein ‚Stil‘ ist und durchaus keine negative Einschätzung bedeutet, etwa wie ‚blasse, ausdruckslose Rede‘. Das heißt nur, dass die betreffende Mitteilung objektiv-konstatierend ist und in ihrer neutralen Sachlichkeit dem Kriterium ‚Situationsangemessenheit‘ Rechnung trägt.24 Das Musterwissen bietet die nötige Orientierung sowohl für das Textherstellen als auch für das Textverstehen und Textbewerten. Man kann den konkreten Text in seinen prototypischen Eigenschaften an seinem Muster ‚messen‘, womit schon ein Verstehensprozess und zugleich ein immanenter Bewertungsprozess vollzogen werden.25

3. Ironische Stilreferenzen aus textlinguistischer Sicht Die ironische Stilreferenz bildet ein Bindeglied zwischen der klaren Einzeltextreferenz und der klaren Systemreferenz. Stilistisch kann sowohl auf ein einzelnes Werk als auch auf einen Autor oder eine bestimmte Epoche angespielt werden. Stets liegt die ironische Signalwirkung darin, dass eine stilistische Prägung den konkreten Erscheinungsbedingungen eines aktuellen Textes in seinem Kontext unangemessen ist und somit die Botschaft einer Selbstwidersprüchlichkeit aussendet. Es können eingeblendete Fachsprache, Archaismen, Bibelsprache und andere Stilbrüche im Dienste der ironischen Stilisierung auftreten. In intertextueller Hinsicht handelt es sich um Formen der Stilreferenz auf vorgängige prätextuelle Muster, die auf ein bestimmtes historisches, 23 Vgl. ebd., S. 2. 24 Vgl. RIESEL, 1959, S. 29. 25 Vgl. FIX, 2008, S. 10.

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Ironische Stilreferenzen aus textlinguistischer Sicht

gesellschaftliches oder auktoriales Feld verweisen und dieses ‚einblenden‘. Hier lässt sich auch eine Nähe zum ironischen Zitat feststellen. Die ironische Systemreferenz verweist auf Textkollektiva und deren allgemeine Strukturen, seien sie formaler oder semantischer Art. Mitunter findet sich auch eine Systemreferenz auf das abstrakte Textprinzip einer Gattung (Märchen, Fabel u. a.). In dem Maße, in dem ein Text in seiner stilistischen Prägung den konkreten Erscheinungsbedingungen unangemessen ist, sendet er Ironiesignale aus.26 Im Folgenden soll die Relevanz textlinguistischer Erkenntnisse für die Wahrnehmung der Ironiesignale an einigen exemplarischen Beispielen aufgezeigt werden. Das erste Beispiel veranschaulicht eine Systemreferenz auf das abstrakte Textprinzip der Gattung. Der Begriff ‚Gattung‘ wird hier zur Bezeichnung spezifischer, anhand sehr verschiedener Kriterien definierter literarischer Texttypen verwendet und kann somit aus linguistischer Sicht als Textsorte betrachtet werden: So wie die verschiedenen Textsorten in der täglichen Sprachpraxis Untersysteme der Sprache mit eigenen Regeln und Konventionen darstellen, deren Kenntnis für die erfolgreiche Kommunikation unabdingbar ist, so setzt auch die literarische Kommunikation bei einer Reihe von Textgruppen die Vertrautheit mit spezifischen, nur für diese Textgruppe gültigen Spielregeln voraus.27

Die Märchengattung bildet einen Architext-Typus. Die Formelhaftigkeit, die stereotypen Figuren (die böse Stiefmutter und ihre arme, weichherzige Stieftochter) und Requisiten (Zauberspiegel, Brunnen, Ring), der Aufbau, der Stoff und die Motive dieser Gattung, die strukturbildenden Symbolzahlen (drei Wünsche) sind jedem muttersprachlichen Leser bekannt. Die formelhaften Wendungen: ‚Es war einmal ...‘, ‚Vor langer, langer Zeit ...‘, ‚Nun trug es sich einmal zu, dass ...‘, ‚Da weinte sie bitterlich und sagte ...‘, ,Und wenn sie nicht gestorben sind ...‘ sowie der einen mündlichen ‚Ammenton‘ nachahmende Stil gehören zu den obligatorisch-primären Merkmalen der Gattung.28

26 Vgl. MÜLLER, 1994, S. 190ff. 27 Vgl. NÜNNING, 2004, S. 209. 28 Vgl. GFREREIS, 1999, S. 121.

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Zu Recht schreibt Marika Müller über die Systemreferenz auf die Gattung ‚Märchen‘: „Ein Autor kann sich somit ohne weiteres der Systemreferenz auf die Gattung Märchen bedienen, ohne Mißverständnisse erwarten zu müssen.“29 Das allgemeine Schema, das dem europäischen Märchen zugrunde liegt, ist ‚Schwierigkeiten und ihre Bewältigung‘: Dabei ist die Hauptfigur, die den Konflikt bewältigen muß, kein Halbgott wie in der Mythologie und kein Heiliger wie in der Legende, sondern ein Mensch, meist sogar ein armer und zurückgesetzter: ein armer Handwerksbursche, eine schlecht behandelte Stieftochter und dgl. [...] der Held jedoch gelangt zu Glück und Reichtum. Dieses Glück wird meistens mit einer kurzen Formel (Heirat mit Prinz oder Prinzessin, Königreich, Reichtum) zusammengefasst.30

Märchen sind von den Kulturen der Länder geprägt, in denen sie erzählt und aufgeschrieben werden. Ganz offensichtlich ist aber, dass Märchen Grenzgänger sind, dass ihre Motive und Erzählstoffe supranationale Verbreitung gefunden haben.31 Sehr beliebt ist eine ironische Referenz auf die Gattung ‚Märchen‘ in der modernen Mediensprache. Ein Beispiel für viele: Der FAZ.NETText Die Märchen der Macht vom 29.05.2009 berichtet von erfolgreichen Karrieren einiger gegenwärtigen Politiker, darunter von Nicolas Sarkozy, dessen Bild mit der Unterschrift „Ein König unter den Märchenerzählern“ vom folgenden Text begleitet wird: Es war einmal ein kleiner Junge. In der Schule wurde er gehänselt, auch wegen seiner geringen Körpergröße. Wenn er nach Hause kam, wartete niemand auf ihn. Er wohnte in der Vorstadt – einer ganz vornehmen allerdings, in Neuilly. Und im Kühlschrank, aus dem er sich allein bedienen musste, war Lachs, allerdings aus dem Supermarkt. Das Schlüsselkind hat viel gelitten und ist dadurch stark geworden. Diese Legende – Legenden müssen keineswegs Lügen sein – von der Herkunft eines Jungen, der Präsident werden wollte, verbreiteten Nicolas Sarkozys Kommunikationsberater im Wahlkampf vor zwei Jahren.

29 MÜLLER, 1994, S. 190. 30 Lüthi (1990) zit. nach LENZEN, 1993, S. 15. 31 Vgl. ebd.

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Ironische Stilreferenzen aus textlinguistischer Sicht

Ergänzt wurde die Story, deren Dramaturgie den Sieg einplante, mit der ebenso gezielt lancierten Erinnerung an sein heroisches Verhalten anlässlich der Geiselnahme in einer Schule fünfzehn Jahre vor der Wahl. Sarkozys Geschichte entschied die Wahl32 Den Kampf zwischen Ségolène Royal und Nicolas Sarkozy hat das bessere „Storytelling“ entschieden. Christian Salmon, der ihm ein Buch gewidmet hat, nennt das Storytelling „eine Maschine, die Geschichten fabriziert, mit denen die Gehirne formatiert werden“.33

Bei allen Merkmalen der Gattung Märchen, die wir im FAZ-Beispiel finden: formelhafter Einstieg, die nach Gegensätzen angelegten stereotypen Figuren (der König/ein kleiner Junge), das Präteritum als Erzähltempus u. a., gibt es ironische Signale, die zeigen, dass das Märchen vom armen Jungen, der Präsident geworden ist, sowie weitere „stor[ies]“ (Legenden) aus der Sicht des Autors nur Lügen sind. In den fiktiven Rahmen eines Märchens bricht die aktuelle Wirklichkeit ein. Die sich wechselseitig ausschließenden Sichtweisen (die des Märchenerzählers Sarkozy und seiner Berater und die des Textautors) werden ironisch relativiert dank der Schlag- und Schaltsätze, die dem Vorangehenden widersprechen, zu Inkongruenzen führen und dadurch eine ironische Wirkung erzielen. Die Lügen werden ironisch-euphemistisch „Legenden“ oder „stor[ies]“ benannt, der Autor distanziert sich von einer offenen Ablehnung und Verurteilung, seine Gegenposition zum Dargestellten ist aber ausgedrückt. Die beiden Überschriften kann der Leser nur als ironisch gemeint auffassen. Sie bereiten den Leser auf den ironischen Ton des Textes, auf die Wahrnehmung der linguistischen Ironiesignale vor. Gerade der ironische Ton und die ironische Stilreferenz machen ein spezifisches Profil dieses Zeitungstextes aus und heben ihn von weiteren Zeitungstexten zum gleichen Thema ab, die dieselbe Textsorte repräsentieren. Der Verfasser spart am Textanfang nicht mit Signalen, die dem Leser

32 Herv. dieser Zwischenüberschrift im Original durch Fettdruck. 33 ALTWEGG, 2009, o. S.

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eine gewisse Distanz und Heiterkeit als adäquaten Modus der Rezeption nahelegen.34 Ein weiteres Beispiel aus dem Spiegel veranschaulicht die ironische Einzeltextreferenz auf das allgemein bekannte Märchen von Hans Christian Andersen Des Kaisers neue Kleider, zugleich aber stellt es eine Systemreferenz auf die Gattung Märchen dar. Die Textüberschrift lautet: Dickwanst im Dunst. Ein (im Original fettgedruckter) Aufhänger führt den Leser in das Thema ein: Amerikas jüngster Versuch, die Welt zu verbessern, bewegt nun auch die Europäer: „Political Correctness“ (PC), die Sprache, die Konflikte vermeiden will – etwa zwischen Mann und Frau, Schwarz und Weiß. Hebt mit ihr eine „neue Zivilität“ an, oder droht ein altes „Repressionsinstrument“?

Weiter folgt der Hauptext, dessen referentielle Analogien für die meisten Spiegel-Leser (nicht nur für Muttersprachler) leicht erkennbar sind und die ablehnende Distanzierung des Autors, der eine ironische Bloßstellung des behandelten Themas anstrebt, deutlich machen: Es war einmal ein Märchen: In einem Land der unbegrenzten Möglichkeiten ließ sich der Kaiser von hergelaufenen Schlingeln einreden, er müsse mit der Mode gehen und brauche dazu neue Kleider; die wollten sie ihm wohl spinnen und schneidern. Gesagt, angetan. Als die frisch kostümierte Majestät vor Hof und Volk paradierte, staunten alle und gaben sich im Jubel einig: Gut sehen Sie aus, die neuen Kleider. Nur ein kleines Mädchen, das von Wahn und Heuchelei noch nichts vernommen hatte, rief: „Aber der Kaiser ist ja nackt!“ Das war nun, leider, ein Verstoß gegen den neuesten kategorischen Imperativ, weithin unerfreulich bekannt als „Political Correctness“, kurz „PC“. Um politisch korrekt zu sein, hätte die Göre entweder sehen sollen, was alle vorgaben zu sehen. Oder sie hätte ihren Worten krumme Beine machen müssen, etwa so: Der Nackerte sei eine „Person mit einem alternativen Körper-Image“. Das wäre O-Ton PC, und im richtigen Land der unbegrenzten Möglichkeiten ließen sich damit, ohne Ärger zu kriegen, 34 Vgl. Weinrich, hier nach MÜLLER, 1994, S. 115.

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Ironische Stilreferenzen aus textlinguistischer Sicht auch solche Personen umschreiben, die in direkter Rede „fetter Kerl“ oder „dürres Weib“ heißen; falls der Dickwanst zudem besoffen ist und die Schmuddelnudel blau – per PC sind sie lediglich „chemisch unpäßlich“.35

Die These Weinrichs von der Rolle der Ironiesignale, die am Anfang oft konzentriert vorkommen und den Leser auf eine adäquate Textrezeption vorbereiten, trifft auch auf das nächste Beispiel für die ironische Textmustermischung mit Irreführungen zu. Die Rede ist von einer Rezension Hans Habes (1974) zur Böll-Erzählung Die verlorene Ehre der Katharina Blum. Mit den so genannten ‚hybriden Genres‘ verbindet eine Textmustermischung als ironische Stilreferenz nur die Eigenschaft, dass es ein Text ist, der Merkmale unterschiedlicher Gattungen (Textsorten) in sich vereint. Es ist aber kein Phänomen der literarischen Genreüberschreitungen, wenn konventionelle Gattungstypologien gesprengt werden, sondern ein bewusst eingesetztes Mittel der Ironie. Die literaturkritische Rezension wird aus textlinguistischer Sicht als eine Textsorte definiert, die eine spezifische kommunikative Funktion besitzt und durch eine Reihe von Merkmalen gekennzeichnet ist, wie z. B.:

• • • • • •

eine großgliedrige funktional-inhaltliche textsortenspezifische Makrostruktur, die obligatorische Inhaltselemente enthält; vielfältige objektsprachliche Zitate bzw. Teilzitate, die die fachliche Aussage des Literaturkritikers illustrieren; literaturwissenschaftliche Termini, die sich durch einen relativ hohen Grad an Allgemeinverständlichkeit auszeichnen; textstrukturierende Stilmittel, die mit großem Wirkungsgrad eingesetzt werden; das Streben nach Sprachökonomie, sprachlicher Überzeugungskraft und Expressivität; eine besonders ausgeprägte pragmatische Textdimension, die vor allem über Kontaktformulierungen realisiert wird.36

35 [OHNE AUTOR], 1994, S. 160. 36 KLAUSER, 1992, S. 146.

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Die Makrostruktur der Textsorte ‚literaturkritische Rezension‘ enthält in der Regel folgende Inhaltselemente:

• • •

Überschrift; Name des Rezensenten; Name des Autors, Titel des Werkes, Seitenanzahl, Verlag, Preis, Bestellnummer; Textkörper, der sich in: a) Einleitungsteil; b) Hauptteil; c) Schlussteil gliedert.



Der Einleitungsteil stellt einen Einstieg dar über:

• • • • • • •

sachliche Information zum Werk; ‚Aufhänger‘/Zitat; referierende oder beschreibende Inhaltsangaben; Eindruckswert des Werkes und erstes Urteil des Rezensenten; früheres Werk des Autors; biographische/künstlerische Daten des Autors; Einordnung des Werkes in bisheriges Gesamtschaffen des Autors u. a.37

Die Rezension von Hans Habe weist alle relevanten Merkmale dieser Textsorte auf. Zugleich sehen wir, dass der Rezensent für den Einleitungsteil die Form der stark normierten Textsorte ‚Todesanzeige/Traueranzeige‘ gewählt hat. Es handelt sich somit im vorliegenden Fall um eine intendierte ‚Textmustermischung‘. Geradezu auffällig ist die Überschrift „Requiem auf Heinrich Böll“ als ein paratextuelles Ironiesignal. Requiem auf Heinrich Böll I. Von Schmerz gebeugt, berichten wir vom schriftstellerischen Hinscheiden unseres lieben literarischen Vaters, Großvaters, Onkels, Vormunds und Idols Heinrich Böll, geboren am 21. Dezember 1917 zu Köln, verblichen im Juli 1974 bei Kiepenheuer&Witsch, Nobelpreisträger, Präsident des Internationalen PEN a. D., Träger hoher und höchster Adjekti-

37 Vgl. KLAUSER, 1992, S. 205.

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Ironische Stilreferenzen aus textlinguistischer Sicht ve, guter Mensch von Köln, der nach schweren, mit Ungeduld ertragenen Leiden an den Folgen seiner Erzählung „Die verlorene Ehre der Katharina Blum oder: Wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann“ im Herrn unsanft entschlafen ist.38

Die Merkmale der Textsorte ‚Todesanzeige‘ sind auch ohne graphische Aufmachung auffällig: Man erwartet die Textsorte ‚Traueranzeige‘, wenn man formelhafte Ausdrücke liest wie etwa: ‚Von Schmerz gebeugt‘, ‚in tiefer Trauer und Dankbarkeit ...‘. Mit dieser Signalisierung stellt sich das alltagssprachliche Wissen über die Textsorte ein, das Wissen darüber, dass die Textsorte ‚Traueranzeige‘ sowohl inhaltlich Bestimmtes fordert, als auch die unbedingte Verfolgung ihrer Intention, ein trauriges Ereignis einem großen Personenkreis bekannt zu machen, und die dadurch bedingten sprachlichen Routinen. Auf der anderen Seite aber gewährt auch diese Textsorte Freiräume bei der Ausführung: U. a. gibt es, wenn auch begrenzt, Spielräume in der Wortwahl und im Satzbau, in der Strukturierung und beim Umfang des Textes.39 Obwohl gewisse Abweichungen von dem prototypischen Modell auch bei stark normierten Textsorten wie der ‚Todesanzeige‘ möglich sind, lässt sich diese Textsorte an den konventionellen Merkmalen immer leicht erkennen. Die Gegenposition des Rezensenten zum Dargestellten und seine offensichtliche Ironie können aber dem ‚naiven‘ Rezipienten entgehen. Dies hat zur Folge, dass einige Germanistikstudierende die ‚Traueranzeige‘ als eine wörtlich gemeinte analysieren.40 Der zitierte Auszug aus der Buchrezension stellt ein anschauliches Beispiel für eine intendierte Abweichung von der Norm zur Erzielung bestimmter funktionaler/stilistischer Effekte dar, auf die nichtmuttersprachliche Leser erst einmal aufmerksam gemacht werden müssen. Es handelt sich um eine ironische Systemreferenz auf die Textsorte ‚Traueranzeige‘. Zu den textsortentypischen Merkmalen gehören der Textaufbau und Formeln wie:



‚nach langer, mit großer Geduld ertragener Krankheit‘

38 HABE, 1984. 39 Vgl. FIX, 2008, S. 10. 40 Vgl. FADEEVA, 2006, S. 82.

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• • • • • •

‚ist nach schwerem Leid sanft entschlafen‘ ‚Gott hat ihn in seine ewige Herrlichkeit gerufen‘ ‚wir werden ihm ein dankbares und ehrendes Gedenken bewahren‘ ‚in tiefer Trauer und Dankbarkeit‘ ‚von Beileidsbezeugungen am Grabe bitten wir Abstand zu nehmen‘ ‚anstelle zugedachter Kranzspenden wird um eine Spende an den Verein/Kindergarten gebeten‘ u. a. m.

Zahlreiche Stilmittel der Rezension heben sich als überraschende Kontrastelemente von einem für die betreffende Textsorte typischen Register ab und wirken konzentriert in einem kurzen Textauszug als Störfaktor zusammen.41 Die Wortwahl der Buchrezension zeigt, dass ein jedes Wort in einem geeigneten Kontext ironisch eingesetzt werden kann. In unerwarteten, unkonventionellen Kontexten werden neutrale Adjektive und Substantive zu Ironiesignalen:

• • • •

das „schriftstellerische[] Hinscheiden unseres […] literarischen Vaters, Großvaters, Onkels, Vormunds und Idols Heinrich Böll“ „Träger hoher und höchster Adjektive“ „an den Folgen seiner Erzählung […] entschlafen ist“ „verblichen […] bei Kiepenheuer&Witsch“

Auch die folgenden gehobenen, formelhaften Wendungen schlagen kraft unauffälliger wortbildender Elemente oder normabweichender Verbindungen in ihr Gegenteil um:

• •

„nach schweren, mit Ungeduld ertragenen Leiden“ „im Herrn unsanft entschlafen ist“ [Herv. G. F.].

An dieser Stelle muss man die Bedeutung einer mikrostilistischen (oder, wie man heute oft sagt, einer ‚mikroskopischen‘) Analyse hervorheben, weil oft gerade ein mikrostilistisches Element als Ironiesignal auftritt. Es lassen sich häufig solche Wörter ironisch einsetzen, die einen Wert ausdrücken, der zwar normativ gültig ist, innerhalb einer Gesell41 Vgl. FREY, 1980, S. 4.

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schaft aber nicht von allen unumstritten anerkannt wird. Dazu gehören z. B. bestimmte Tugenden wie Ehrlichkeit, Sparsamkeit und Fleiß.42 Ein Beispiel dafür ist die ironische Charakteristik des Ex-Ehemanns von Katharina Blum: Unser bescheidenes Glück genügte ihr nicht. Sie wollte hoch hinaus, und wie soll schon ein redlicher, bescheidener Arbeiter je zu einem Porsche kommen [...] einen Porsche hätte ich dir wohl nie bieten können, nur ein bescheidenes Glück, wie es ein redlicher Arbeitsmann zu bieten hat, der der Gewerkschaft mißtraut. Ach, Katarina [Herv. G. F.].

Auch eine Diplom- oder Doktorarbeit gehört zu den Texten mit strengen Festlegungen, zu den musterbefolgenden Texten.43 Jedoch bieten diese Festlegungen ein breites Möglichkeitsfeld sowohl hinsichtlich der Inhalte als auch der Funktionen und der sprachlichen Form. Hochtypische Elemente mit Signalfunktion im formalen Bereich genügen, um die Textsortenzugehörigkeit zu markieren.44 Einer der bedeutendsten ironischen Schriftsteller Deutschlands, Heinrich Heine, beherrschte meisterhaft alle bekannten Typen der Ironie: von der witzig-urbanen, die auf eine unverbindlich kultivierte Art unterhalten will, über charmante bis hin zur bitteren Ironie, die mit beißender Schärfe ins Fleisch schneidet.45 Hier ein Beispiel für die ironische Stilreferenz auf die Textsorte ‚Diplomarbeit (Doktorarbeit)‘ aus Heinrich Heines Die Harzreise: Obzwar ich gegen den Verfasser [...] die heiligsten Verpflichtungen hege, so kann ich doch sein Werk nicht unbedingt empfehlen, und ich muss tadeln, daß er jener falschen Meinung, als hätten die Göttingerinnen allzu große Füße, nicht streng genug widerspricht. Ja, ich habe mich sogar seit Jahr und Tag mit einer ernsten Widerlegung dieser Meinung beschäftigt, ich habe deshalb vergleichende Anatomie gehört, die seltensten Werke auf der Bibliothek exzerpiert, auf der Weender Straße stundenlang die Füße der vorübergehenden Damen studiert, und in der

42 43 44 45

Vgl. MÜLLER, 1994, S. 149. SANDIG, 2006, S. 313. Vgl. FIX, 2008, S. 10. Vgl. PLETT, 2001, S. 118f.

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Galina M. Fadeeva grundgelehrten Abhandlung, so die Resultate dieser Studien enthalten wird, spreche ich 1. von den Füßen überhaupt, 2. von den Füßen bei den Alten, 3. von den Füßen der Elefanten, 4. von den Füßen der Göttingerinnen, 5. stelle ich alles zusammen, was über diese Füße auf Ullrichs Garten schon gesagt worden, 6. betrachte ich diese Füße in ihrem Zusammenhang und verbreite mich bei dieser Gelegenheit auch über Waden, Knie usw., und endlich 7., wenn ich nur so großes Papier auftreiben kann, füge ich noch hinzu einige Kupfertafeln mit dem Faksimile göttingischer Damenfüße [Herv. G. F.].46

Man erwartet die Textsorte ‚Diplom- bzw. Doktorarbeit‘, wenn man die vorgeschriebene nummerierte Gliederung einer wissenschaftlichen Untersuchung erkennt. Mit dieser Signalisierung stellt sich das Wissen darüber ein, dass diese Textsorte sowohl die Stellungnahme zum Gegenstand der Untersuchung fordert als auch die unbedingte wertende Schlussfolgerung und die dadurch bedingten sprachlichen Routinen.47 Das Profil des Textauszuges und somit der angedeuteten Textsorte ist bestimmt durch Heines Spott über die Philister, die weltfremden Gelehrten, ihren Notizendünkel, den Universitätsbetrieb, die Heine in ihrer ganzen Lächerlichkeit bloßstellt. Den intendierten Effekt erzielt er gerade dadurch, dass er Vorgaben und Anforderungen genau befolgt, wie man sie auch heute in unzähligen Ratgebern für Studenten und Doktoranden findet und dementsprechend seine „grundgelehrte[] Abhandlung“ gliedert. Durch die Übertreibung, die Karikatur, das Nichtentsprechen von einer akademisch-wissenschaftlichen Form und einem provozierenden Inhalt, also durch den Widerspruch zwischen Stilebene und Inhalt, schafft Heine seinen ironischen Text.

4. Zusammenfassung Das Phänomen ‚Ironie‘ besitzt aufgrund seines hohen emotionalen Wirkungsgrades ein ausgeprägtes persuasives Potenzial und ist von faszinierender Komplexität, weist Überschneidungen mit manchen Topoi

46 HEINE, 1968, S. 215. 47 Vgl. FIX, 2008, S. 10.

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auf, entspricht also bestimmten Argumentationstechniken.48 Wirkungsvolle ironische Texte können durch funktional bzw. stilistisch bedingte Abweichungen von normativ geprägten Erwartungen der Rezipienten entstehen. Das Spektrum ironischer Abweichungen reicht von einer scheinbaren Verletzung der Textualitätsmerkmale bis zur Brechung oder Mischung von Textmustern. Als Stilverfahren dient das Abweichen dem Unikalisieren und Originalisieren und bewirkt eine unkonventionelle Stilwirkung. Bei bestimmten literarischen Genres wie z. B. Parodie oder bei Textmustermischungen kann das gesamte Textmuster betroffen sein. Solche Texte beziehen ihre Wirkung vor allem aus Abweichungen.49 Die Fähigkeit, Ironiesignale wahrzunehmen und somit ironische Texte zu verstehen, zu bewerten und herzustellen, kann nur auf der Grundlage vieler Kompetenzen entwickelt werden. Der Rezipient muss die Zugehörigkeit des Textes zum jeweiligen Funktionalstil bestimmen, verschiedene Typen von Texten identifizieren und nicht nur die denotative, sondern auch die konnotative Bedeutung des Wortes bestimmen können sowie die Fertigkeiten für die Analyse der struktur- und bedeutungsmäßigen Architektonik des Textes sowohl im Rahmen des Gesamttextes als auch auf der Ebene der Mikrostrukturen beherrschen. Es müssen Sprachsensibilität, differenzierte Wahrnehmung der Texte, Sensitivität für ironische Referenzen entwickelt werden. Die Stilkompetenz einschließlich ironischer Kompetenz setzt die genannten Teilkompetenzen voraus. Die Rolle des Vorwissens sei hier besonders betont.50 Daraus ergeben sich viele Fragen für den kompetenzorientierten Deutschunterricht, denn bekanntlich greifen auch zeitgenössische Autoren sehr gerne zur Ironie. Sie nehmen eine distanzierte Position ein, relativieren diese zugleich skeptisch oder halten sie kritisch in der Schwebe, sofern sie nicht mit Mitteln der Ironie, der Übertreibung, der Verzerrung oder der Karikatur eine satirische Bloßstellung des Dargestellten anstreben.51 Bei jeder Entscheidung über den Signalwert einer Einheit muss der gesamte Text- und Kontextzusammenhang berück-

48 49 50 51

Vgl. MAYER, 2007, S. 109. Vgl. FIX, u. a. 2003, S. 193, 197. FREY, 1980, S. 6f. Vgl. SOWINSKI, 1999, S. 86.

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sichtigt werden. Der Ansatz muss kontextuell und signalbezogen, ganzheitlich und detailhaft sein.52 Bei der Arbeit im DaF-Unterricht mit scheinbar normierten, jedoch ironischen Texten kann man unterschiedlich vorgehen.53 Folgende Schritte erscheinen sinnvoll:

• • • •

kurze Beschreibung von unterschiedlichen Arten der Ironie; kurze Beschreibung frequenter sprachlicher Ironiesignale anhand von Beispielen; detaillierte Analyse und komplexe Interpretation von stark normierten Textsorten anhand von Mustertexten; Analyse und Interpretation exemplarischer Beispiele für intendierte Normabweichungen (Registerabweichungen) in ironischen Texten: auf graphischer, phonetisch-phonologischer, lexikalischer, syntaktischer und textueller Ebene.

Kreative Aufgaben können die Arbeit abschließen:

• • •

eine Textmustermischung interpretieren; eigene ironische Textmustermischungen verfassen; eine stark normierte Textsorte ironisch verfassen.

Abschließend lässt sich resümieren:





Die Ironie verleiht dem Text ein besonderes Profil. Durch die intendierte Textsortenmischung entsteht ein neuer Text mit seinem spezifischen (in unserem Fall ironischen) Profil. Würden wir etwa weitere (auch sehr positive) Rezensionen zur Erzählung von Heinrich Böll Die verlorene Ehre der Katharina Blum analysieren, würden wir unterschiedliche ‚Profile‘ einer Buchrezensionen zu demselben literarischen Werk feststellen können. In den satirischen Werken von Heinrich Heine ist sein Individualstil, also sein ‚Autorprofil‘ unverkennbar, was wiederum ironische Stilreferenzen auf Heine mit seiner unerbittlichen, oft spielerischen und provozierenden Ironie möglich macht. Somit kann das Text-

52 Vgl. MÜLLER, 1994, S. 173. 53 Vgl. ebd., S. 173; FIX, 2003, S. 192-197.

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profil der Harzreise als Schnittpunkt zwischen dem Individualstil Heines und der literarischen Gattung ‚Reisebilder‘ als etabliertem Muster mit bestimmten Textstrukturen betrachtet werden. Es bedarf aber einer gründlichen makro- und mikrostilistischen Analyse, um die Verflechtung des Poetisch-Lyrischen mit dem Ironischen und Satirischen, die Übergänge von der romantischen Naturbeschreibung zu ironischen Erörterungen zu durchschauen, Wendepunkte und Ironiesignale festzustellen. Bei der Auswahl der Beispieltexte empfiehlt Harald Weinrich „Texte von kulturellem Rang“, wann immer es möglich ist, zu bevorzugen.54 In Bezug auf die literarischen Texte kann diese These nur unterstützt werden. Jedoch müssen im kompetenzorientierten Unterricht Texte aus allen Bereichen analysiert werden. In der Mediensprache, Werbung, Alltagsrede gehört die ironische Stilreferenz dank ihrem persuasiven Potenzial und ihrer Attraktivität für viele Autoren und Leser zu den beliebtesten Mitteln. Die ‚ironische Inkompetenz‘ kann zu Störungen in der Kommunikation führen. Bei der interkulturellen Kommunikation steigt diese Gefahr. Den Begriff ‚Textsortenprofile‘ findet man bei Rosemarie Gläser, die damit die durch den integrativen Analysemodus gewonnenen Charakteristiken von Textsorten unterschiedlicher Kommunikationsbereiche bezeichnet.55 Damit werden die Begriffe ‚Textsorten‘ und ‚Textprofile‘ in ein Wort zusammengefasst.

Im vorliegenden Beitrag wird die Meinung vertreten, dass ‚Textsorten‘ und ‚Textprofile‘ nicht gleichgesetzt werden können. Ein Profil ist mehr als nur eine Summe von Textregularitäten, die eine Textsorte von anderen unterscheidet. Eine Textsorte, die einem Muster folgt, kann unterschiedliche Profile haben. Das betrifft nicht nur originelle, mustervariierende und musterbefolgende, sondern auch formelhafte Texte wie z. B. Arbeitszeugnis, Stellenangebot, Bewerbungsbrief, Todesanzeige. Die Ironie verleiht dem Text ein spezifisches Profil unabhängig davon, welches Textmuster einem ironischen Text zugrunde liegt, welche Textsorte er repräsentiert.

54 Vgl. WEINRICH, 1993, S. 19. 55 GLÄSER, 1998, S. 206.

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Galina M. Fadeeva

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Politische Rhetorik in Textvergleich und Übersetzung Nicolas Sarkozy und Martin Schulz MICHAEL SCHREIBER

Bei den beiden Politikern, die im Mittelpunkt meines Beitrags stehen, handelt sich um Redner mit einer expressiven, individualstilistisch geprägten Rhetorik. Der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy verwendet z. B. sehr häufig Wiederholungen, die aus deutscher Sicht übertrieben pathetisch wirken und daher in Übersetzungen oft abgemildert werden. Die Reden von Martin Schulz, dem Vorsitzenden der sozialdemokratischen Fraktion im Europäischen Parlament, fallen u. a. durch ihre Nähe zur gesprochenen Umgangssprache auf, die die Dolmetscher und Übersetzer des Europäischen Parlamentes vor die Entscheidung stellt, die Stilebene in dieser Form wiederzugeben oder sie normgerecht anzuheben. Bevor ich mit der Beispielanalyse beginne, möchte ich einige methodologische Fragen erörtern. Eine Frage, die sich bei der stilistischen Analyse von politischen Reden in noch höherem Maße stellt als bei der Analyse literarischer Texte, ist die Frage nach der Unterscheidung zwischen dem Individualstil des Redners und dem entsprechenden Kollektivstil, d. h. den in der jeweiligen Kultur verwurzelten rhetorischen Traditionen. Um die Rhetorik der beiden Redner, um die es im Folgenden geht, wenigstens partiell historisch einzuordnen und somit zu einem Kollektivstil in Verbindung zu setzen, möchte ich in Bezug auf die herausgearbeiteten Stilmerkmale einen punktuellen Vergleich mit einigen

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französischen und deutschen Politikern (nach 1945) durchführen. Da der Kollektivstil jedoch nicht im Mittelpunkt meiner Ausführungen steht und ich nicht beabsichtige, allgemeingültige Aussagen über ‚den‘ Stil deutscher oder französischer politischer Reden zu machen, spreche ich im Folgenden nicht von ‚Sprachvergleich‘, sondern von ‚Textvergleich‘.1 Als Linguist und Übersetzungswissenschaftler werde ich im Wesentlichen mit Kategorien aus der Rhetorik und der ‚sprachenpaarbezogenen Übersetzungswissenschaft‘2 arbeiten. Die Anwendung von Kategorien der klassischen Rhetorik auf die politische Kommunikation der Gegenwart ist von Vertretern der modernen ‚Sprache-und-PolitikForschung‘3 zuweilen kritisiert worden. J. Klein4 führt z. B. eine Reihe von Charakteristika moderner politischer Reden auf, die vom Instrumentarium der klassischen Rhetorik nicht erfasst werden. Ich greife hier nur zwei der von Klein genannten Charakteristika heraus: So gehe die antike Rhetorik von einem homogenen Adressatenkreis aus, während für die zeitgenössische politische Rede unter den Bedingungen der Massenmedien die so genannte „Mehrfachadressierung“5 konstitutiv sei. Und in Bezug auf die Funktion der politischen Rede konzentriere sich das klassische Paradigma auf die Persuasion, während moderne politische Kommunikation auch andere Funktionen erfüllen könne, z. B. Imagepflege oder ritualisierte, symbolische Funktionen.6 Es ist sicher richtig, dass sich z. B. Reden vor dem Deutschen Bundestag nicht nur an die anwesenden Abgeordneten richten, sondern auch an Journalisten oder Fernsehzuschauer. Und es ist auch richtig, dass diese Reden in der Regel nicht primär dazu dienen, die anwesenden Abgeordneten ad hoc vom Standpunkt des Redners zu überzeugen, da das Abstimmungsverhalten der Fraktionen meist schon im Voraus feststeht. Die Rhetorik muss daher sicher u. a. um pragmatische, soziologische und politologische Kategorien erweitert werden, um alle Facetten der modernen politischen Kommunikation zu erfassen. Für eine stilistische Analyse politischer Reden – um die es ja im Folgenden gehen soll – 1 2 3 4 5 6

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Vgl. ASCHENBERG, 2006. Vgl. SCHREIBER, 2006, S. 73ff. Vgl. GIRNTH, 2002, S. 9ff. Vgl. KLEIN, 1995. Ebd., S. 79. Vgl. ebd., S. 92f.

Politische Rhetorik in Textvergleich und Übersetzung

sind diese Erweiterungen jedoch von sekundärer Bedeutung. Am Rande sei noch erwähnt, dass das Europäische Parlament, aus dem mehrere der hier zu diskutierenden Beispiele stammen, trotz seiner Größe den Kommunikationsbedingungen der klassischen Rhetorik näher kommt als z. B. der Bundestag: Reden vor dem Europäischen Parlament werden seltener im Fernsehen übertragen als Reden vor dem Bundestag, de facto richten sich die Europaabgeordneten daher in den meisten Fällen tatsächlich nur an die anderen anwesenden Abgeordneten; bei einigen Rednern äußert sich dies auch in einem eher umgangssprachlichen Stil, den man im Bundestag nicht erwarten würde. Zudem ist das Abstimmungsverhalten im Europäischen Parlament aufgrund der zahlreichen (nationalen und internationalen) Gruppierungen weniger leicht vorhersehbar und daher weniger ritualisiert als etwa im Bundestag, was wiederum der klassischen persuasiven Funktion der Rede mehr Raum lässt.

1. Nicolas Sarkozy Nun aber zu unseren beiden Rednern. Ich beginne mit Nicolas Sarkozy, dem wohl auch in Deutschland bekannteren von beiden. In Frankreich ist der derzeitige Staatspräsident nicht nur aufgrund seines Hangs zu politischem Aktionismus als ‚hyperprésident‘ bekannt, sondern hat auch schon durch sprachliche Ausrutscher für Schlagzeilen gesorgt. So ließ er sich gegenüber dem Besucher einer Landwirtschaftsausstellung zu einer Beleidigung hinreißen: Eingeklemmt zwischen Sicherheitsbeamten, seinem Landwirtschaftsminister und der Prominenz der Bauernschaft, kämpft sich Sarkozy, lächelnd aber sichtlich nervös, an ausgestreckten Händen vorbei. Bis sich ein älterer Herr dem präsidialen Händedruck verweigert. „Fass mich nicht an“, grummelte der ältere Herr mit Brille. „Hau ab“, raunzt Sarkozy zurück. „Du machst mich schmutzig“, entgegnet der Gaffer provozierend. Und Sarkozy reagiert mit einem pampigen „Casse-toi, pauv’con!“ – Hau ab, du Idiot.7

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SIMONS, 2008.

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Das Video, das die verbale Entgleisung des Präsidenten, die hier noch relativ freundlich übersetzt wurde, wiedergibt, wurde im Internet zu einem Publikumsrenner. Sarkozys politische Reden sind dagegen weniger durch Vulgärsprache geprägt als durch pathetisch wirkende Stilfiguren.8 Ich werde mich hier nur auf ein besonders auffälliges Merkmal beschränken, das in nahezu allen Reden Sarkozys auftritt: den Hang zu Wiederholungen, und zwar insbesondere Wiederholungen am Satzbeginn, d. h. Anaphern im Sinne der klassischen Rhetorik. Auf die Vielzahl der Wiederholungsfiguren, die in der Rhetorik unterschieden werden9 kann ich nicht im Einzelnen eingehen, zumal eine feingliedrige formale Klassifikation den Blick auf übergreifende Funktionen auch verstellen kann. Für die folgenden Analysen genügt es, zwischen Anaphern und sonstigen Wiederholungen zu unterscheiden, wobei ich davon ausgehe, dass Anaphern aufgrund der stärkeren Betonung emphatischer wirken als Wiederholungen im Satzinnern. Da die Häufigkeit von Anaphern bei Sarkozy sehr auffällig ist, verwundert es nicht, dass dieses Charakteristikum bereits beschrieben wurde. Bertrand u. a. weisen auf die Häufigkeit anaphorischer Ketten bei Sarkozy in seinen Reden zum Präsidentschaftswahlkampf 2007 hin. Sie zitieren in diesem Zusammenhang u. a. das folgende Beispiel: Je veux être le président qui réconcilie les Français avec la France. Je veux être le président qui réconcilie les Français avec la République. Je veux être le président qui réconcilie les Français avec le monde, avec l’Europe, avec la Méditerranée. Je veux être le président qui réconcilie les Français avec leur État. Je veux être le président qui réconcilie les Français avec leur école et avec leur université. Je veux être le président qui réconcilie la France de la fonction publique avec la France du privé. Je veux être le président qui réconcilie les croyants avec la laïcité et les laïcs avec les croyants. Je veux être le président qui réconcilie la France qui souffre avec la France qui réussit. Je veux être le président qui réconcilie les Français entre eux, quelles que soient leurs origines, leur couleur de peau, leur religion.10

8 Vgl. KLUMP, 2008. 9 Vgl. FRÉDÉRIC, 1985. 10 SARKOZY, [2007a], S. 127.

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Auf einen Leser oder Hörer, der nicht mit dem Pathos französischer Politikerreden vertraut ist, mag diese Rede (für die leider keine publizierte deutsche Übersetzung vorliegt) mit ihrer zehnfachen Anapher wie eine ungewollte Parodie auf Martin Luther Kings berühmte I have a dreamRede wirken. Französische Leser oder Hörer kennen Wiederholungen in politischen Texten jedoch bereits von anderen Politikern der V. Republik, wenn auch nicht in dieser extremen Häufung. Hier ein Beispiel aus einer Pressekonferenz von Charles de Gaulle aus dem Jahre 1965, gefolgt von der publizierten deutschen Übersetzung [alle Herv. M. S.]: Il s’agit que la Russie évolue de telle façon qu’elle voie son avenir, non plus dans la contrainte totalitaire imposée chez elle et chez les autres, mais dans le progrès accompli en commun par des hommes et par des peuples libres. Il s’agit que les nations dont elle a fait ses satellites puissent jouer leur rôle dans une Europe renouvelée. Il s’agit qu’il soit reconnu, avant tout par l’Allemagne, que le règlement dont elle pourrait être l’objet impliquerait nécessairement celui de ses frontières et celui de ses armements, par accord avec tous ses voisins, ceux de l’Est et ceux de l’Ouest. Il s’agit que les six États qui, espérons-le, sont en voie de réaliser la communauté économique de l’Europe occidentale, parviennent à s’organiser dans le domaine politique et dans celui de la défense afin de rendre possible un nouvel équilibre de notre Continent. Rußland muß sich so entwickeln, daß es seine Zukunft nicht mehr in dem ihm und anderen Völkern auferlegten totalitären Zwang sieht, sondern im Fortschritt, der gemeinsam von freien Menschen und freien Völkern vollbracht wird. Die Nationen, die es zu seinen Satelliten gemacht hat, müssen wieder die Möglichkeit bekommen, in einem erneuerten Europa die ihnen gebührende Rolle zu spielen. Vor allen Dingen von Deutschland muß anerkannt werden, daß jede Regelung notwendigerweise auch die Regelung seiner Grenzen und seiner Bewaffnung in Übereinstimmung mit seinen Nachbarn im Osten wie im Westen mit einbezieht. Die sechs Staaten, die im Begriff sind, die Wirtschaftsgemeinschaft Westeuropas zu verwirklichen, wie wir hoffen, müssen sich auf dem Gebiet der Politik und der Verteidigung zusammenschließen und so ein neues Gleichgewicht auf unserem Kontinent ermöglichen.11 11 DE GAULLE, [1965], zit. nach Deutschland-Frankreich, 1993, S. 40f.

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Die vierfache Anapher aus de Gaulles Text wurde in der deutschen Übersetzung nur abgeschwächt wiedergegeben: Zwar wird das Verb „müssen“ jeweils wiederholt, doch nicht am Satzbeginn und nicht immer in der gleichen Form. Auch bei anderen französischen Politikern finden sich ähnliche rhetorische Figuren. In den Reden des ehemaligen Staatspräsidenten Mitterrand findet man z. B. häufig parallele Aufzählungen, die schon allein aus syntaktischen Gründen nicht immer ohne Weiteres nachgeahmt werden können, wie bei der Aufzählung nachgestellter Adjektive im folgenden Beispiel: Sachons ce que nous voulons, une Allemagne et une France fortes, prospères, libres, assurée, solidaires, maîtresses autant qu’il est, qu’il sera possible de leurs destins, dans une Europe qui n’est pas celle des règlements et des frontières, dont le passé est incomparable et dont l’avenir dépend beaucoup de nous. Wir sollten wissen, was wir wollen. Ein starkes Deutschland, ein starkes Frankreich, zwei Länder, die wohlhabend, frei und in Sicherheit leben, die solidarisch handeln und so weit wie möglich ihr Schicksal bestimmen in einem Europa, das nicht nur durch Verordnungen und Grenzen bestimmt wird, in einem Europa mit einer unvergleichlichen Vergangenheit und einer Zukunft, die in hohem Maße von uns abhängt.12

Durch die Auflösung des syntaktischen Parallelismus geht die emphatische Wirkung der Aufzählung weitgehend verloren. Eine gewisse Kompensation ergibt sich dadurch, dass die Übersetzung zwei Wiederholungen enthält, die im Original nicht vorhanden sind: die Wiederholung des Adjektivs ‚stark‘ und der Adverbiale „in einem Europa“. Wiederholungen im Satzinnern scheinen die Übersetzer vor geringere Probleme zu stellen, solange sie einen gewissen Umfang nicht überschreiten, wie das folgende Beispiel aus dem Jahre 1987 von Jacques Chirac (dem damaligen Premierminister) illustriert:

12 MITTERRAND, [1983], zit. nach Deutschland-Frankreich, 1993, S. 72f.

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Politische Rhetorik in Textvergleich und Übersetzung Les choses ne seront jamais normales tant que Berlin demeurera une ville divisée, tant qu’un mur séparera un même peuple, tant que des hommes paieront encore de leur vie un lourd tribut à leur quête de liberté. Die Dinge sind so lange niemals normal, solange Berlin eine geteilte Stadt ist, solange eine Mauer ein gleiches Volk teilt, solange die Menschen noch mit ihrem Leben einen schweren Tribut zahlen müssen, wenn sie die Freiheit suchen.13

Doch bei keinem der oben zitierten Politiker finden sich Wiederholungen in einem solchen Ausmaß wie bei dem derzeitigen Präsidenten Sarkozy. Kehren wir also zu ihm zurück und schauen wir, was die Übersetzer aus seinen anaphorischen Ketten machen. Ich zitiere zunächst die Rede bei seiner Amtsübernahme vom 16. Mai 2007. Hier beginnt Sarkozy kurz hintereinander zehn Sätze mit „Je pense“. Alle Anaphern wurden in der publizierten deutschen Übersetzung übernommen. Aus Platzgründen zitiere ich hier nur einen Ausschnitt: Je pense à tous les Présidents de la Ve République qui m’ont précédé. Je pense au Général de Gaulle qui sauva deux fois la République, qui rendit à la France sa souveraineté et à l’État sa dignité et son autorité. Je pense à Georges Pompidou et à Valéry Giscard d’Estaing qui, chacun à leur manière, firent tant pour que la France entrât de plain-pied dans la modernité. Je pense à François Mitterrand, qui sut préserver les institutions et incarner l’alternance politique à un moment où elle devenait nécessaire pour que la République soit à tous les Français. Je pense à Jacques Chirac, qui pendant douze ans a œuvré pour la paix et fait rayonner dans le monde les valeurs universelles de la France. Ich denke an alle Präsidenten der V. Republik, die mir vorausgegangen sind. Ich denke an General De Gaulle, der die Republik zweimal gerettet hat, der Frankreich seine Souveränität und dem Staat seine Würde und Autorität zurückgegeben hat. 13 CHIRAC, [1987], zit. nach Deutschland-Frankreich, 1993, S. 88f.

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Michael Schreiber Ich denke an Georges Pompidou und Valéry Giscard d’Estaing, die – jeder auf seine Weise – dafür gesorgt haben, dass Frankreich entschlossen den Schritt ins Zeitalter der Moderne vollzog. Ich denke an François Mitterrand, der es verstanden hat, die Institutionen zu erhalten und – zu einem Zeitpunkt, wo ein politischer Wechsel erforderlich war, um die Republik zur Republik aller Franzosen zu machen – diesen politischen Wechsel zu verkörpern. Ich denke an Jacques Chirac, der sich zwölf Jahre lang für den Frieden eingesetzt und den universellen Werten Frankreichs weltweit Ausstrahlung verliehen hat.14

Eine ähnlich pathetische Antrittsrede würde man von einem deutschen Bundeskanzler oder Bundespräsidenten sicher nicht erwarten. Dennoch hat der Übersetzer der Versuchung widerstanden, den pathetischen Duktus dieser feierlichen Rede zu reduzieren. Dies sieht bei dem nächsten Beispiel etwas anders aus. Am gleichen Tag, dem 16. Mai 2007, hielt Präsident Sarkozy eine kurze Ansprache anlässlich der Ehrung der von der Gestapo 1944 im Bois de Boulogne ermordeten französischen Widerstandskämpfer. Auch in dieser Ansprache finden sich einige Wiederholungsfiguren. Die deutsche Übersetzung weicht davon an mehreren Stellen ab: Ici en ce 16 août 1944, ces 35 jeunes Français qui vont mourir incarnent ce qu’il y a de plus noble dans l’homme face à la barbarie. Ici en ce 16 août 1944 ce sont les victimes qui sont libres et les bourreaux qui sont esclaves. […] Ils [= les résistants] ont dit ‚non‘, ‚non‘ à la fatalité, ‚non‘ à la soumission, ‚non‘ au déshonneur, ‚non‘ à ce qui rabaisse la personne humaine, et ce ‚non‘ continuera d’être entendu bien après leur mort parce que ce ‚non‘ c’est le cri éternel que la liberté humaine oppose à tout ce qui menace de l’asservir. Ce cri nous l’entendons encore. Ce cri, je veux que dans les écoles on apprenne à nos enfants à l’écouter et à le comprendre.

14 SARKOZY, [2007b].

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Politische Rhetorik in Textvergleich und Übersetzung Die 35 jungen Franzosen, die am 16. August 1944 an dieser Stelle ihr Leben lassen müssen, verkörpern das Edelste, was der Mensch im Angesicht der Barbarei in sich trägt. An diesem 16. August 1944 im Bois de Boulogne sind es die Opfer, die frei sind, und die Scharfrichter unfreie Sklaven. […] Sie [= die Widerstandskämpfer] haben ‚ein‘ gesagt, haben sich gewehrt gegen ein unabwendbar scheinendes Schicksal, gegen Unterwerfung, gegen Entehrung, gegen alles Erniedrigende, und dieses ‚ein‘ wird lange nach ihrem Tod weiter hörbar bleiben, denn dieses ‚ein‘ ist der immerwährende Aufschrei, mit dem sich die menschliche Freiheit allem widersetzt, das sie zu versklaven droht. Diesen Aufschrei hören wir noch heute. Ich wünsche mir, dass unseren Kindern in den Schulen beigebracht wird, diesen Aufschrei zu hören und zu verstehen.15

Bei dieser Übersetzung fallen zwei Dinge auf: Die beiden Anaphern mit „Ici en ce 16 août 1944“ und „Ce cri“ werden durch syntaktische Umstellungen abgeschwächt. Außerdem wird die Zahl der Vorkommen von „non“ in der Übersetzung von sechs auf drei halbiert. Beide Verfahren tragen zu einer Reduktion des Pathos bei. Möglicherweise war die in hohem Maße pathetische Ausdrucksweise auch vor dem Hintergrund des Themas für den deutschen Übersetzer ein Problem (hierfür sprechen weitere Indizien, wie die Übersetzung von „vont mourir“ durch „ihr Leben lassen müssen“ – was den fatalistischen Charakter der Aussage betont). Problematisch wird die Übersetzung aus rein sprachlichen Gründen, wenn die wiederholten Segmente länger und stärker in den Satz integriert sind. Hierzu möchte ich eine Passage aus der Rede von Nicolas Sarkozy bei der Präsentation der Ergebnisse des so genannten GrenelleTreffens zitieren (eines Runden Tisches zum Thema Umwelt). In dieser Rede wiederholt Sarkozy kurz hintereinander neun Mal den Satz „C’est un succès“, an mehreren Stellen noch erweitert durch einen Relativsatz, der z. T. auch noch wiederholt wird. Auch dieses Beispiel gebe ich aus Platzgründen gekürzt wieder:

15 SARKOZY, [2007c].

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Michael Schreiber Le Grenelle, c’est la réflexion et la proposition partagées. C’est un succès. C’est un succès que nous devons aux organisations non gouvernementales de l’écologie qui ont su être à la hauteur de ce rôle inédit. […] C’est un succès que nous devons aux syndicats qui ont su se saisir de ce sujet […]. C’est un succès que nous devons à l’ensemble du monde agricole qui a eu le courage de revenir sur ses positions anciennes. C’est un succès que nous devons aux entreprises qui ont su elles aussi au rendez-vous. C’est un succès que nous devons aux élus qui ont compris les exigences de la population. Dieses Grenelle-Treffen – das sind gemeinsame Überlegungen und Vorschläge. Das ist ein Erfolg. Ein Erfolg, den wir den Nichtregierungsorganisationen des Umweltschutzes verdanken, die diese einzigartige Rolle wahrzunehmen vermochten. […] Ein Erfolg, den wir den Gewerkschaften verdanken, die sich dieses Themas anzunehmen vermochten […]. Ein Erfolg, den wir der Landwirtschaft verdanken, die den Mut hatte, alte Positionen aufzugeben. Ein Erfolg, den wir den Unternehmen verdanken, die ebenfalls bereit waren mitzuwirken. Ein Erfolg, den wir den gewählten Volksvertretern verdanken, die die Erwartungen der Bevölkerung verstanden haben.16

In dieser Übersetzung können wir sehr gut das Ineinandergreifen von stilistischen und syntaktischen Faktoren sehen: Der Übersetzer hat vermutlich aus stilistischen Gründen davon abgesehen, den Hauptsatz „Das ist ein Erfolg“ stets in voller Länge zu wiederholen, da er dem deutschen Leser eine solch monotone Wiederholung nicht zumuten wollte. Was den Relativsatz angeht, der im Französischen stets mit „que nous devons“ beginnt, so ist das Verb „verdanken“ in der deutschen Übersetzung aus syntaktischen Gründen an die letzte Stelle gerückt, wodurch die Anapher auseinandergezogen wurde.

16 SARKOZY, [2007d].

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Politische Rhetorik in Textvergleich und Übersetzung

2. Martin Schulz Soweit zu Nicolas Sarkozy. Es wäre nun ein Leichtes, das Pathos seiner Reden zu vergleichen mit dem nüchtern-sachlichen Stil der Reden Angela Merkels und eklatante Unterschiede zu dokumentieren. Stilistisch interessanter erscheint mir jedoch der Vergleich mit einem Redner, der ebenfalls eine expressive Rhetorik pflegt. Hierbei ist meine Wahl auf den Europapolitiker Martin Schulz gefallen. Auf Martin Schulz bin ich gestoßen bei Untersuchungen zu verschiedenen Verfahren politischer Rhetorik am Beispiel von Reden im Europäischen Parlament:17 Ob es um rhetorische Fragen, Ausrufe oder Aufforderungen ging, die Reden von Martin Schulz waren immer eine dankbare Quelle. Bevor ich die Textbeispiele aus dem Europäischen Parlament zitiere, hier einige Vorbemerkungen zu diesem Korpus: Es handelt sich um die schriftlichen Endversionen der Reden und deren schriftlich erstellte Übersetzungen. Quelle sind die Verhandlungen des Europäischen Parlaments, d. h. die ausführlichen Sitzungsberichte der Plenarsitzungen. Eine Besonderheit dieser Übersetzungen besteht darin, dass aufgrund der Vielzahl der Amtssprachen der EU nicht immer direkt von der Ausgangssprache in die Zielsprache übersetzt wird, sondern in manchen Fällen als ‚Relais-Übersetzung‘ über den Umweg einer so genannten Pivot-Sprache (meist Englisch oder Französisch). Trotz dieses Störfaktors gehören die Verhandlungen des Europäischen Parlaments zu den sprachlich interessantesten mehrsprachigen Korpora, nicht zuletzt auch, weil die Texte stilistisch variabler sind als z. B. die stark standardisierten EU-Rechtstexte. Einen guten Einblick in den Stil der Reden von Martin Schulz gibt die folgende Passage, die ich im deutschen Original sowie in Übersetzungen ins Englische, Niederländische, Französische, Spanische und Italienische wiedergebe, wobei nicht alle Übersetzungen stilistisch adäquat sind: Wer Herrn Poettering aufmerksam zugehört hat, kommt eigentlich nur zu einem Schluss. Es wäre besser, Herr Poettering, Sie würden sagen, wir wollen die Türkei nicht als Vollmitglied in der Europäischen Union.

17 Vgl. SCHREIBER, 2009a; DERS., 2009b; DERS., 2010.

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Michael Schreiber Denn das ist die Botschaft Ihrer Rede. Dann sagen Sie es doch! Das, was Sie hier machen, ist doch ein Eiertanz um die Kernaussage herum. Sie wollen die Türkei nicht in der Europäischen Union als Vollmitglied, sagen Sie das doch! […] listening attentively to Mr Poettering, there is only one conclusion to which one can come, and that is that it would be better if he were to say that he and his group do not want Turkey as a full member of the European Union. That is the message contained in his speech, so let him say so, rather than pussyfooting around the issue. If he does not want Turkey to be a full member of the European Union, then let him say so. […] wie goed heeft geluisterd naar de heer Poettering, kan slechts één conclusie trekken. Het zou beter zijn, mijnheer Poettering, wanneer u zou zeggen dat u niet wilt dat Turkije volwaardig lid wordt van de Europese Unie. Dat is immers de boodschap van uw woorden. Zegt u dat dan ook! U draait nu om de hete brij heen. Zegt u toch gewoon dat u niet wilt dat Turkije volwaardig lid wordt van de Europese Unie. […] après avoir écouté attentivement M. Poettering, on ne peut arriver qu’à une seule conclusion: il ferait mieux de dire que lui et son groupe ne veulent pas que la Turquie devienne un membre à part entière de l’Union européenne. C’est le message qu’envoie son discours, alors qu’il le dise sans ambages au lieu de tergiverser. S’il ne veut pas que la Turquie devienne un membre à part entière de l’Union européenne, qu’il le dise clairement. […] al escuchar atentamente al señor Poettering solo puedo llegar a una conclusión y es que convendría que él y su Grupo dijeran que no quieren que Turquía sea miembro de pleno derecho de la Unión Europea. Ese es el mensaje contenido en su intervención, así que dígalo y no maree más la perdiz. Si no quiere que Turquía sea miembro de pleno derecho de la Unión Europea, dígalo. […] dopo aver ascoltato con attenzione l’onorevole Poettering, si può giungere a una sola conclusione e cioè che sarebbe meglio se dicesse che lui e il suo gruppo non vogliono che la Turchia diventi membro a

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Politische Rhetorik in Textvergleich und Übersetzung pieno titolo dell’Unione europea. Questo è il messaggio contenuto nel suo intervento. Lo dica quindi chiaramente, anziché tergiversare! Se non vuole che la Turchia diventi membro a pieno titolo dell’Unione europea, lo dica!18

Hier kritisiert Schulz als Vorsitzender der sozialdemokratischen Fraktion heftig eine Rede seines damaligen christlich-demokratischen Kollegen Poettering. Der expressive Charakter der Rede wird durch den wiederholten Gebrauch eines Aufforderungssatzes unterstrichen, welcher wiederum durch die Partikel „doch“ verstärkt wird. Die gleiche Partikel verwendet Schulz, um eine Aussage zu verstärken, die durch den Gebrauch des metaphorischen Ausdrucks „Eiertanz“ eine stark umgangssprachliche Komponente erhält. Mehrere Übersetzer haben die Expressivität des Textes z. T. deutlich reduziert: 1. Im Englischen sowie in den romanischen Sprachen wird Poettering nicht persönlich angesprochen. Möglicherweise hat hier das Englische als Pivot-Sprache gedient, was dazu führte, dass die britische Zurückhaltung auf die romanischsprachigen Übersetzungen abgefärbt hat. Nur im Niederländischen bleibt die Direktheit der Aufforderungen erhalten. 2. Der französische und der italienische Übersetzer haben zudem die umgangssprachliche Wendung mit dem metaphorischen Ausdruck „Eiertanz“ durch ein standardsprachliches Verb ersetzt („tergiverser“, „tergiversare“ = ‚zaudern‘). Die anderen Übersetzer haben sich um eine metaphorische Wiedergabe bemüht, wenngleich in keiner der Zielsprachen eine wörtliche Entsprechung zur Verfügung stand. Der umgangssprachliche Stil konnte trotz unterschiedlicher Bildbereiche beibehalten werden: Während man im Englischen ‚herumschleicht wie eine Katze‘ und sich im Niederländischen ‚um den heißen Brei dreht‘, wird im Spanischen ‚das Rebhuhn schwindelig gemacht‘. 3. Schwierigkeiten bereitete (wie so häufig bei Übersetzungen aus dem Deutschen) die Wiedergabe der Modalpartikel „doch“. Nur im Niederländischen fand sich eine äquivalente Partikel („toch“). Der französische und der italienische Übersetzer sind mangels Äquivalent auf ein gewöhnliches Adverb ausgewichen („clairement“, „chiaramente“ = 18 Europäisches Parlament, 2005ff., 28.09.2005. Im Folgenden zitiert als EP, Datum.

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‚klar, deutlich‘) bzw. auf eine adverbiale Wendung („sans ambages“ = ‚ohne Umschweife‘). In den anderen Übersetzungen finden sich keine explizite Entsprechungen. 4. Die diskutierten stilistischen Merkmale finden sich nur in der niederländischen Übersetzung in ihrer Gesamtheit wieder. Hierzu hat sicher die enge Verwandtschaft mit der deutschen Sprache beigetragen sowie die Affinität zwischen der niederländischen Schriftsprache und der deutschen Umgangssprache.19 Da ich bei den weiteren Beispielanalysen nicht alle Stilfiguren, die Schulz in seinen Reden verwendet, im Einzelnen diskutieren kann, möchte ich speziell auf die bei Schulz häufig vorkommenden Metaphern eingehen, die die Übersetzer zuweilen noch vor größere Probleme stellen als in dem oben zitierten Beispiel. Schauen wir uns hierzu eine Passage an, die kurz hintereinander mehrere Metaphern enthält. Die Rede stammt aus der Aussprache zum deutschen Ratsvorsitz im ersten Halbjahr 2007. Schulz diskutiert darin die Erfolge der deutschen Ratspräsidentschaft und wendet sich dabei direkt an die anwesende Bundeskanzlerin und lobt deren Verhandlungsführung: Ich habe mitbekommen, dass Sie in der Nacht erklärt haben, wenn es keine Einstimmigkeit gibt, dann berufen wir die Regierungskonferenz mit qualifizierter Mehrheit ein, dann gibt es eine Kampfabstimmung. Als dieser Geist der Sezession, den einige in dieses Europa tragen wollen, durch den Raum waberte, haben Sie Mut besessen, sind aufgestanden und haben gesagt, dann soll sichtbar werden, wer will und wer nicht. Dann sind einige eingeknickt und dann gab es das einstimmige Ergebnis. I have learnt that during the night you explained that if there were no unanimity you would convene the intergovernmental conference by a qualified majority and there would be a vote. As this spectre of secession hung over the room – and some in this Europe wish to support it – you held your nerve, stood up and said that countries needed to put their cards on the table. At this, several gave ground and then there came the unanimous result.

19 Vgl. SCHREIBER, 1992.

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Politische Rhetorik in Textvergleich und Übersetzung Mij kwam ter ore dat u ’s nachts verklaarde dat u, wanneer er geen unaniem besluit zou vallen, de Intergouvernementele Conferentie met gekwalificeerde meerderheid bijeen zou roepen en er zou worden gestemd. Toen deze geest van afsplitsing, die enkelen in dit Europa graag steunen, door de zaal waarde, hield u het hoofd koel, stond op en zei dat de lidstaten hun kaarten op tafel moesten leggen. Op dat moment zijn enkelen gezwicht en rolde er een unaniem resultaat uit. J’ai appris que, durant la nuit, vous aviez expliqué qu’en l’absence de consensus, vous convoqueriez la conférence intergouvernementale à la majorité qualifiée et qu’un vote serait organisé. Alors que le spectre d’une sécession planait dans l’air – idée que certains soutiennent en Europe –, vous avez gardé votre calme, vous vous êtes levée et avez déclaré que les pays devaient jouer carte sur table. Plusieurs ont alors fait certaines concessions, ce qui a permis d’aboutir à l’unanimité. Me he enterado de que durante la noche usted proclamó que si no había unanimidad, convocaría la Conferencia Intergubernamental por mayoría cualificada y que entonces se procedería a votar. Mientras este fantasma de secesión flotaba en la sala – y algunos en esta Europa se muestran favorables a apoyarla –, usted se mantuvo serena, se levantó y dijo que era necesario que los países pusieran las cartas sobre la mesa. Ante tal situación, algunos se achantaron y entonces se produjo el resultado por unanimidad. Ho sentito che quella notte lei ha dichiarato che, se non si fosse raggiunta l’unanimità, avrebbe convocato la Conferenza intergovernativa a maggioranza qualificata, così si sarebbe svolta una votazione. Quando nell’aria aleggiava questo spirito di secessione che alcuni vogliono introdurre in Europa, lei si è fatta coraggio, si è alzata e ha detto che tutti i paesi dovevano giocare a carte scoperte. A quel punto alcuni hanno fatto marcia indietro e alla fine si è avuto un risultato unanime. (EP, 22.6.2007)

Einige Bemerkungen zu den zitierten Übersetzungen: 1. Für den Ausdruck „Kampfabstimmung“, im Deutschen eine lexikalisierte Metapher, gibt es in den zitierten Zielsprachen keine lexikali-

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sierten Entsprechungen. Die Übersetzer sprechen daher einfach von ‚Abstimmung‘ bzw. ‚abstimmen‘, wodurch nicht nur die Metaphorik verloren geht, sondern auch die durch sie ausgedrückte Bedeutungsnuance ‚(Abstimmung) mit ungewissem Ausgang‘. 2. Für den „Geist der Sezession, […] [der] durch den Raum waberte“, haben alle Übersetzer metaphorische Entsprechungen gefunden. Lediglich der umgangssprachliche Stil des Verbs ‚wabern‘ kommt nicht in allen Übersetzungen zum Ausdruck. 3. Für das ebenfalls umgangssprachliche Verb ‚einknicken‘ gibt es sehr unterschiedliche Lösungen: Während etwa der italienische Übersetzer eine idiomatische Redewendung bemüht (‚den Rückwärtsgang einlegen‘), begnügt sich der französische Übersetzer mit einem Funktionsverbgefüge ohne metaphorischen Gehalt (‚Konzessionen machen‘). 4. In allen Übersetzungen finden sich metaphorische Ausdrücke, die nicht im Ausgangstext enthalten sind, z. B. im englischen Text die Redewendung „to put their cards on the table“, die in relativ wörtlichen Entsprechungen in den anderen Übersetzungen wiederzufinden ist, was die Vermutung nahe legt, dass hier wieder einmal eine Relais-Übersetzung stattgefunden hat. 5. Die höchste Dichte an metaphorischen Ausdrücken und anderen Stilfiguren enthält wiederum die niederländische Übersetzung, u. a. mit den zusätzlichen Redewendungen „mij kwam ter ore“ (‚mir kam zu Ohren‘) und „hield u het hoofd koel“ (‚Sie behielten einen kühlen Kopf‘). Dies deckt sich mit der Beobachtung, dass Metaphern in der entgegengesetzten Übersetzungsrichtung (Niederländisch-Deutsch) oft abgeschwächt übersetzt werden.20 Interessant ist an der eben zitierten Rede auch, dass Martin Schulz im späteren Verlauf einen Hinweis darauf gibt, wem er sich offenbar rhetorisch (wenn auch nicht politisch) verbunden fühlt. Er zitiert nämlich Konrad Adenauer und verweist anhand eines Beispiels auf dessen plastische, „vereinfachende[] Redeweise“. Auch hier schauen wir uns die Übersetzungen an: Denen, die diesen grenzenlosen Eigennutz, diesen permanenten Appell an die nationale Eigensucht in die Union tragen wollen, will ich ein 20 Vgl. SCHREIBER, 2003.

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Politische Rhetorik in Textvergleich und Übersetzung Wort Ihres Amtsvorgängers Konrad Adenauer entgegenhalten: Die Kuh, die ich melken will, darf ich nicht schlachten, hat er in der ihm eigenen vereinfachenden Redeweise gesagt. To those who only want to represent their own interests in Europe, who only want to appeal to national interests, I say, as your predecessor, Konrad Adenauer, did with characteristic bluntness: I must not slaughter the cow that I wish to milk. Aan hen die slechts hun eigen belangen willen behartigen in Europa, die alleen aan nationale belangen denken, zeg ik in navolging van uw voorganger Konrad Adenauer, die op de hem kenmerkende, korte en krachtige, wijze verklaarde: de koe die je wilt melken, moet je niet slachten. À ceux qui ne veulent représenter que leurs propres intérêts en Europe, qui ne jurent que par les intérêts nationaux, je dirai, comme le faisait votre prédécesseur, Konrad Adenauer, avec le franc-parler qui était le sien: on ne tue pas la vache à lait. A quienes solo desean representar sus propios intereses en Europa, que solo desean apelar a los intereses nacionales, les digo, como ya hizo su predecesor, Konrad Adenauer, con su característica franqueza: „o voy a sacrificar la vaca que quiero ordeñar“. A coloro che vogliono solo difendere i loro interessi in Europa, che si appellano unicamente al tornaconto nazionale, vorrei ribattere con le parole del suo predecessore Konrad Adenauer, che con la schiettezza che gli era propria ha detto che non dobbiamo squartare la mucca che vogliamo mungere. (EP, 22.6.2007)

Hier wird Adenauers Zitat in allen Zielsprachen relativ wörtlich wiedergegeben, vermutlich weil die darin ausgedrückte Metapher („Kuh […] melken“ = ‚Profit erzielen‘) selbsterklärend ist (auch wenn die Re-

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alität der Milchpreise derzeit dagegen spricht).21 Ein Übersetzungsproblem hätte es dann gegeben, wenn in der Zielkultur der Übersetzung das Schlachten einer Kuh eine abwegige Idee wäre, wie z. B. in Indien. Schaut man sich Reden von Konrad Adenauer im Original an, so findet man auch Fälle mit längeren metaphorischen Reihen. Das folgende Beispiel stammt aus einer Regierungserklärung aus dem Jahre 1962. Adenauer rekapituliert hier die Aufbauarbeit im Deutschland der Nachkriegszeit: Zielbewusste Arbeit ist das beste, ja vielleicht das einzige Mittel, um ein zu Boden gestrecktes, aus tausend Wunden blutendes Volk wieder aufzurichten, ihm innere Stärke und Selbstbewusstsein, einen klaren Blick für die Realität der Dinge zu geben und damit auch die Kraft zur geistigen Regeneration und zum geistigen Aufbau. Travailler pour un objectif précis c’est le meilleur, sinon le seul moyen de remettre sur pied un peuple abattu, saignant de mille plaies, de lui rendre sa force d’âme et la confiance en lui-même, de lui donner la lucidité pour voir les choses telles qu’elles sont, et de lui insuffler ainsi la force de régénération spirituelle et de redressement moral.22

Die französische Übersetzung, die im Sprachendienst des Auswärtigen Amtes angefertigt wurde, hält sich bei der Wiedergabe der Metaphern eng an den deutschen Ausgangstext. Sie fügt sogar eine Metapher hinzu, die im Original nicht enthalten war: das Verb „insuffler“ (‚einhauchen‘), wo im Deutschen nur von „geben“ die Rede war. Umgangssprachliche Metaphern finden sich bei Adenauer jedoch nur selten. Vergleicht man Martin Schulz’ Rhetorik mit der von deutschen Politikern der Gegenwart, so lassen sich gewisse Parallelen zu Franz Müntefering nicht verleugnen.23 Bereits 2005 hatte dieser durch seinen Ver21 Adenauers Zitat könnte auch als eine Modifikation des im Deutschen verbreiteten, auf La Fontaine zurückgehenden Phraseologismus ‚das Huhn, das goldene Eier legt, schlachten‘ verstanden werden (Hinweis von Ulrich Breuer). Vgl. Duden, 2002. 22 ADENAUER, 1962. 23 Diese Parallelen könnten in einer sozialdemokratisch geprägten Affinität zu einer stärker umgangssprachlichen Rhetorik begründet sein (Hinweis von Bernhard Spies).

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gleich von Finanzinvestoren mit Heuschrecken eine heftige Debatte ausgelöst.24 Bei seinem politischen Comeback im September 2008 während des Landtagswahlkampfs der bayerischen SPD zündete Müntefering geradezu ein Metaphernfeuerwerk: Franz Müntefering ging in seiner Rede sofort in die Offensive gegen Ministerpräsident Günther Beckstein (CSU) und CSU-Chef Erwin Huber. „Was sind denn das für Waschlappen?“, rief Müntefering unter Johlen in den mit 400 Zuhörern voll besetzten Saal im Hofbräukeller. Das CSU-Führungsduo habe „Angst vor der Verantwortung, Angst vor dem Regieren“. Das sei bei der SPD ganz anders: „Lieber heißes Herz und klare Kante als Hose voll“, spottete der Westfale.25

Markant an diesem Zitat ist neben dem Reichtum an umgangssprachlichen Metaphern übrigens auch die stakkatohafte Syntax, die Müntefering häufig verwendet. Leider habe ich zu diesem Beispiel keine publizierte französische Übersetzung gefunden. Immerhin findet sich in einer französischen Online-Presseschau eine stilistisch adäquate Wiedergabe für den metaphorischen Ausdruck „Waschlappen“: Devant 500 auditeurs – et 100 journalistes – il [= Müntefering] s’est livré à une défense flamboyante de la politique mise en œuvre sous Schröder et a critiqué avec virulence les „poules mouillées“ qui sont selon lui les dirigeants de la CSU […].26

Aus Waschlappen sind hier ‚nasse Hühner‘ (= ‚Angsthasen‘) geworden. Mit dieser Metamorphose schließe ich die Beispieldiskussion ab. Zur Metaphernübersetzung in politischen Texten möchte ich abschließend festhalten, dass man im Hinblick auf die Übersetzbarkeit zwei Arten von Metaphern auseinander halten muss: 1. Politische Metaphern im engeren Sinne: Diese sind in der Regel relativ leicht übersetzbar, da in diesem Bereich „die europäischen Metaphernfelder im wesentlichen homogen sind“.27 Aus dem oben zi-

24 25 26 27

Vgl. ZIEM, 2008. MEYER, 2008. VERRIER, 2008. RIGOTTI, 1994, S. 22.

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tierten Beispielmaterial könnte man in diesem Zusammenhang die Metaphern aus der Regierungserklärung Adenauers erwähnen, die sich problemlos ins Französische übertragen ließen. 2. Umgangssprachliche Metaphern: Hier ist die Übersetzbarkeit eingeschränkt, da diese Metaphern oft stärker einzelsprachlich gebunden sind, was die Zitate von Martin Schulz belegen.

3. Schlussbemerkungen Wie die Beispiele gezeigt haben dürften, ist die Rhetorik der beiden Redner, die im Mittelpunkt der Untersuchung standen, einerseits im Kontext der jeweiligen rhetorischen Traditionen zu sehen, anderseits finden sich in den Reden individualstilistische Elemente, die sich nicht allein aus diesen Traditionen heraus erklären lassen. Für die Übersetzung stellt sich nun die Frage, wie mit diesen individualstilistischen Elementen umzugehen ist: Soll der Übersetzer jede von Sarkozys Anaphern und Schulz’ Metaphern möglichst wörtlich wiedergeben? In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass in einer Übersetzung selbstverständlich nie alle Elemente des Originals erhalten bleiben können, sondern dass Übersetzer immer (meist implizit) mit einer „Hierarchie der Invarianzforderungen“28 arbeiten. Bei politischen Reden ist zu bedenken, dass stilistische Elemente in der Regel kein Selbstzweck sind, sondern im Dienste einer höherrangigen Invariante, nämlich der (meist persuasiven) Textfunktion, stehen. Im Sprachenpaar Französisch-Deutsch kann dies z. B. dazu führen, dass nicht alle Anaphern Sarkozys wörtlich wiedergegeben werden, da die Übersetzung ansonsten Gefahr laufen würde, übertrieben pathetisch zu wirken und dadurch ihre intendierte Wirkung zu verfehlen. Als Invariante der Übersetzung würde dann nicht ein einzelnes rhetorisch-stilistisches Verfahren, sondern eine semiotisch komplexere Einheit (z. B. das ‚Textprofil‘)29 dienen. 28 ALBRECHT, 1998, S. 266. 29 Hinweis von Winfried Eckel. Um den Begriff des Textprofils für die Übersetzungswissenschaft nutzbar zu machen, müsste allerdings geklärt werden, in welchen Fällen man eine (annähernde) Äquivalenz auf der Ebene des Textprofils in der Zielsprache annehmen kann und in welchen Fällen nicht.

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Literatur ADENAUER, KONRAD, Regierungserklärung vom 9. Oktober 1962 vor dem Deutschen Bundestag, [Französische Übersetzung:] Déclaration gouvernementale faite par le Chancelier fédéral Dr Konrad Adenauer devant le Bundestag le 9 octobre 1962, Bonn 1962 (Typoskript). ALBRECHT, JÖRN, Literarische Übersetzung. Theorie – Geschichte – Kulturelle Wirkung, Darmstadt 1998. ASCHENBERG, HEIDI, Textvergleich – Perspektiven für die romanische Sprachwissenschaft, in: Was kann eine vergleichende romanische Sprachwissenschaft heute (noch) leisten? Romanistisches Kolloquium XX, hg. von WOLFGANG DAHMEN u. a., Tübingen 2006, S. 341359. Deutschland-Frankreich: Ein neues Kapitel ihrer Geschichte. 1948 – 1963 – 1993, France-Allemagne: Un nouveau chapitre de leur histoire. Chronologie – Documentation, Bonn 1993. Duden, Redewendungen, Mannheim 2002. Europäisches Parlament, Verhandlungen des Europäischen Parlamentes, Luxemburg 2005ff. [DVD-ROMs, mehrsprachig,] FRÉDÉRIC, MADELEINE, La répétition. Etude linguistique et rhétorique, Tübingen 1985. GIRNTH, HEIKO, Sprache und Sprachverwendung in der Politik, Tübingen 2002. KLEIN, JOSEF, Politische Rhetorik. Eine Theorieskizze in Rhetorikkritischer Absicht mit Analysen zu Reden von Goebbels, Herzog und Kohl, in: Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht 26 (1995), S. 62-99. KLUMP, ANDRE, „Il faut garder son calme et ses nerfs et utiliser des mots qui ne blessent pas.“ (N. Sarkozy). Aktuelle Aspekte des politischen Sprachgebrauchs in Frankreich, in: Zeitschrift für Romanische Sprachen und ihre Didaktik 2 (2008), S. 97-106. MEYER, ULRICH, Münteferings Comeback: „Lieber heißes Herz als Hose voll“, in: Tagesspiegel, http://www.tagesspiegel.de/politik/ deutschland/Franz-Muentefering, 03.09.2008.

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RIGOTTI, FRANCESCA, Die Macht und ihre Metaphern. Über die sprachlichen Bilder der Politik, Frankfurt/New York 1994. SARKOZY, NICOLAS [2007a], [zit. nach] BERTRAND, DENIS u. a., Parler pour gagner. Sémiotique des discours de la campagne présidentielle de 2007, Paris 2007. DERS. [2007b], Allocution de M. Nicolas Sarkozy, Président de la République, à l’occasion de la cérémonie d’installation, Palais de l’Elysée, http://www.elysee.fr/elysee/root/bank/print/76633.htm, 16.05.2007, [Deutsche Übersetzung:] Rede von Staatspräsident Nicolas Sarkozy anlässlich seiner Amtsübernahme, Paris, http://www. elysee.fr/elysee/root/bank/print/77051.htm, 16.05.2007. DERS. [2007c], Allocution de M. Nicolas Sarkozy, Président de la République, lors de la cérémonie d’hommage aux martyrs du Bois de Boulogne – Paris, http://www.elysee.fr/elysee/root/bank/print/7667 2.htm, 16.05.2007, [Deutsche Übersetzung:] Ansprache von Staatspräsident Nicolas Sarkozy anlässlich der Ehrung ermordeter Widerstandskämpfer im Bois de Boulogne, Paris, http://www.elysee.fr/ elysee/root/bank/print/77057.htm, 16.05.2007. DERS. [2007d], Discours de M. le Président de la République à l’occasion de la restitution des conclusions du Grenelle de l’environnement, Paris, http://agriculture.gouv.fr/sections/presse/discours/discours-m-president6956, 25.10.2007, [Deutsche Übersetzung:] Rede von Staatspräsident Nicolas Sarkozy bei der Vorstellung der Schlussfolgerungen des Grenelle-Treffens zum Thema Umwelt, Paris, http://pmv4.premier-ministre.gouv.fr/pm_article. php3?id_article=57904, 25.10.2007. SCHREIBER, MICHAEL, Stilistische Probleme der niederländisch-deutschen Übersetzung, in: Linguistica Antverpiensia 26 (1992), S. 103126. DERS., Metaphernübersetzung ohne Schiffbruch (NiederländischDeutsch), in: Lebende Sprachen 48 (2003), S. 60-64. DERS., Grundlagen der Übersetzungswissenschaft. Französisch, Italienisch, Spanisch, Tübingen 2006. DERS., [2009a] Rhetorische Fragen in politischen Reden. Textsortenspezifik und Übersetzung, in: Kultur übersetzen. Zur Wissenschaft des Übersetzens im deutsch-französischen Dialog, hg. von ALBERTO GIL/MANFRED SCHMELING, Berlin 2009, S. 153-163.

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Politische Rhetorik in Textvergleich und Übersetzung

DERS., [2009b], „Jetzt hältst du mal die Klappe!“. Zur Übersetzung von Aufforderungen in politischen Reden, in: Perspektiven Drei. Akten der 3. Tagung Deutsche Sprachwissenschaft in Italien, hg. von CLAUDIO DI MEOLA u. a., Frankfurt a. M. 2009, S. 429-439. DERS., „Quelle hypocrisie!“ La traduction des exclamations dans les discours politiques, in: Actes du XXVe Congrès International de Linguistique et de Philologie Romanes, Bd. 1, hg. von MARIA ILIESCU u. a., Tübingen 2010, S. 655-664. SIMONS, STEFAN, „Hau ab, du Idiot“. Sarkozys Ausraster liefert Gegnern neue Munition, in: Spiegel online, http://www.spiegel.de/ politik/ausland/0,1518,537570,00.html, 28.02.2008. VERRIER, MICHEL, Revue de la presse allemande, http://www.michelverrier.com/revue-presse-allemagne, 04.09.2008. ZIEM, ALEXANDER, „Heuschrecken“ in Wort und Bild: Zur Karriere einer Metapher, in: Muttersprache 118 (2008), S. 108-120.

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A UTO RINNEN

UND

A UTO REN

Prof. Dr. Ulf Abraham, Promotion 1982 in Erlangen über Recht und Schuld im Werk Kafkas, Habilitation 1994 in Bamberg über die Rede vom Stil in der Deutschdidaktik. Professuren (Lehrstühle): 1995-2005 in Würzburg, seither in Bamberg. Schwerpunkte: Literarisches Lernen und AV-Medien im Deutschunterricht, Schreibforschung und Schreibunterricht. [email protected] Prof. Dr. Matthias Bauer, Promotion 1992 in Mainz zur Geschichte des Schelmenromans. Habilitation 2002 zur Wissenschaftsgeschichte und Semiotik. Seit 2007 Professur für Neuere Literaturwissenschaft an der Universität Flensburg. 2009-2011 Vizepräsident für Studium und Lehre. Schwerpunkte: Erzählforschung, Diagrammatik, Film- und Wissenschaftsgeschichte. [email protected] Prof. Dr. Ulrich Breuer, Promotion 1994 in Münster über Individualität im Roman des 18.-20. Jahrhunderts, Habilitation 2000 in Helsinki über literarische Bekenntnisse. Nach Professuren in Jyväskylä und Helsinki seit 2006 Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft in Mainz. Schwerpunkte: Klassik, Romantik (besonders Friedrich Schlegel), Ästhetische Theorien, Texttheorie, Melancholie, Autobiographisches Schreiben. [email protected]

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Textprofile stilistisch

Dr. Phil. Galina M. Fadeeva, Promotion 1978 in Moskau über Stilistik der deutschen Sprache. Seit 1980 Dozentin an der Moskauer Staatlichen Linguistischen Universität (MGLU). 2001-2004 Prodekanin der Fakultät für deutsche Sprache an der MGLU. Seit 2004 Leiterin des Lehrstuhls für Lexikologie und Stilistik der deutschen Sprache an der MGLU. Schwerpunkte: Stilistik der deutschen Sprache, Textstilistik, aktuelle Probleme der Lexikologie, interkulturelle Kommunikation. [email protected] Prof. Dr. Jens Haustein, Promotion in Göttingen über die Erforschung deutscher Heldendichtung im 18. und 19. Jahrhundert, Habilitation 1992 in Göttingen über den Marner. Hochschuldozent in Köln 1993. Seit 1993 Professor für Germanistische Mediävistik in Jena. Schwerpunkte: Lyrik des Hoch- und Spätmittelalters, Heldendichtung, mittelalterliche Literatur Thüringens, Wissenschaftsgeschichte. [email protected] Dr. Anett Holzheid, Promotion 2008 in Würzburg über das Medium Postkarte. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Institut der Universität Mainz, zuvor wissenschaftliche Mitarbeiterin und LfbA in der Germanistik der Universitäten Erfurt und Würzburg. Schwerpunkte: Literatur des 19. und. 20. Jahrhunderts, Schriftästhetik, Mediengeschichte, Bild-Text-Forschung. [email protected] Prof. Dr. Peter Klotz, Promotion in München über Tempus und Modus; Habilitation in München über die funktionale Verknüpfung von Grammatikwissen und Textgestaltungskompetenz, linguistisch theoretisch und didaktisch empirisch; 1998-2008 Professor für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur in Bayreuth; pensioniert 2008. Schwerpunkte: Syntax und Textwissenschaft, Schreibdidaktik, Grammatikdidaktik und im Bereich textnaher Literaturrezeption. [email protected] Prof. Dr. Andrea Jäger, Promotion 1986 in Marburg über die Dramen von Peter Hacks, Habilitation 1997 in Bochum darüber, wie Conrad Ferdinand Meyer in seinem Prosawerk die Sinnkonstruktion des histori-

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Autorinnen und Autoren

schen Erzählens im 19. Jahrhundert auflöst. Seit 2002 Professorin für Neuere und neueste deutsche Literaturwissenschaft in Halle/Saale. Schwerpunkte: Ästhetischer Historismus, stilistische und rhetorische Verfahren ästhetischer Wahrnehmung, Diskurs und Ästhetik von Massenphänomenen, Literatur der DDR und der Nachwendezeit. [email protected] PD Dr. Dirk Kretzschmar, Promotion 1992 in Bochum über sowjetische Kulturpolitik zwischen 1970 und 1985, Habilitation 2001 in Bochum über gesellschaftliche Funktionsdifferenzierung und ästhetische Kommunikation in Deutschland und Russland im 18. und 19. Jahrhundert. Gastprofessuren für Literatur- und Kulturwissenschaft 2003-2008 in Breslau und Stettin. Seit 2008 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Schwerpunkte: Literatur- und Kulturtheorie; Deutsche, russische und polnische Literatur; Mediengeschichte und Medientheorie; Interkulturalität. [email protected] Prof. Dr. Ralph Müller, Promotion 2003 in Freiburg/Schweiz über die Theorie der Pointe, Habilitation 2009 in Freiburg über politische Metaphern. Seit 2010 Professor für germanistische Literaturwissenschaft und ihre Didaktik in Freiburg. Schwerpunkte: Rhetorik, Komik, Kognitive Poetik, Korpusstilistik. [email protected] Prof. Dr. Wolfgang G. Müller, Promotion 1971 in Mainz über Rainer Maria Rilkes eue Gedichte, Habilitation 1977 in Mainz über das lyrische Ich, Professuren in Mainz 1978-1991, in Jena 1992-2007, in Vechta 2009-2011 (Vertretung). Seit 2007 Professor im Ruhestand an der Universität Jena (mit Lehr- und Prüfungstätigkeit und Leitung eines DFG-Projekts). Schwerpunkte: Lyriktheorie, Erzähltheorie, Literatur und Poetik der Renaissance, Rhetorik. [email protected] Karolina Rakoczy M.A., seit 2006 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft in

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Textprofile stilistisch

Mainz. Schwerpunkte: Literarische Kulturvermittlung, Literatur im 20. Jahrhundert, Zweiter Weltkrieg und Holocaust, Gedächtnis- und Traumaforschung. [email protected] Dr. Imelda Rohrbacher, Promotion 2009 in Wien zu Konfliktdarstellung und Tempusgebrauch in Goethes Wahlverwandtschaften. 19982000 Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Österreichischen Nationalbibliothek, 2000-2001 Herausgeberassistentin für Modern Austrian Literature und Fulbright Research Assistant; 2001-2004 Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften; 2007-2009 Assistentin am Institut für Germanistik der Universität Wien, seit Oktober 2009 ÖAD-Lektorin an der Abteilung für Germanistik, Universität Zagreb. Schwerpunkte: Literatur des 18. Jahrhunderts, Literaturtheorie und -ästhetik, Österreichische Literatur des 20. Jahrhunderts. [email protected] Prof. Dr. Michael Schreiber, Promotion 1993 in Mainz/Germersheim über die Differenzierung und Abgrenzung des Übersetzungsbegriffs, Habilitation 1998 in Heidelberg über Textgrammatik des gesprochenen Französischen und Deutschen. Professur 2004 in Köln. Seit 2005 Professor für Französische und italienische Sprach- und Übersetzungswissenschaft in Mainz/Germersheim. Schwerpunkte: Übersetzungswissenschaft, romanisch-deutscher Sprachvergleich, Textlinguistik, Rhetorik. [email protected] Dr. Jörg Schuster, Promotion 2001 in Tübingen über die ‚klassische‘ deutsche Elegie, Habilitationsprojekt zu Brief und Tagebuch um 1900. Wissenschaftlicher Mitarbeiter seit 2001 am Deutschen Literaturarchiv Marbach, seit 2007 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, seit 2010 an der Philipps-Universität Marburg. Schwerpunkte: Literatur und Ästhetik des 18. Jahrhunderts, Literatur und Kultur der Jahrhundertwende 1900, Kulturpoetik der deutschen Literatur 1930-1960, Gegenwartsliteratur. [email protected]

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Autorinnen und Autoren

Prof. Dr. Bernhard Spies, Promotion 1978 in Würzburg über Gottfried Kellers Der grüne Heinrich, Habilitation 1990 in Mainz über bürgerliche Subjektivität im Roman des 18. Jhds. Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und für Neuere deutsche Literatur in Mainz und Halle-Wittenberg. Seit 1998 Prof. für Neuere deutsche Literaturwissenschaft in Mainz. Schwerpunkte: Literatur des 18. Jahrhunderts, Literatur des 20. Jahrhunderts (Weimarer Republik, Exilliteratur, BRD und DDR), Formen des Komischen, Rhetorik und Ästhetik mimetischen Erzählens. [email protected] Ulrike Staffehl M.A., Magisterarbeit 2009 zum inneren Monolog und zur Tiefenpsychologie bei Arthur Schnitzler. Promotion seit 2010 in Mainz über den historischen Roman im frühen 20. Jahrhundert. Seit Mai 2011 Volontariat bei den Cornelsen Schulverlagen in Berlin. Schwerpunkte: Historie und Narratologie. [email protected] Dr. Christine Waldschmidt, Promotion 2010 in Mainz über deutschsprachige hermetische Lyrik im 20. Jahrhundert. Seit 2008 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Institut der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Schwerpunkte: Lyrik des 20. Jahrhunderts, Sprachkritik. [email protected]

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Mainzer Historische Kulturwissenschaften Matthias Däumer, Annette Gerok-Reiter, Friedemann Kreuder (Hg.) Unorte Spielarten einer verlorenen Verortung. Kulturwissenschaftliche Perspektiven 2010, 382 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1406-0

Karen Joisten (Hg.) Räume des Wissens Grundpositionen in der Geschichte der Philosophie 2010, 236 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1442-8

Jan Kusber, Mechthild Dreyer, Jörg Rogge, Andreas Hütig (Hg.) Historische Kulturwissenschaften Positionen, Praktiken und Perspektiven 2010, 386 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1441-1

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Mainzer Historische Kulturwissenschaften Ricarda Matheus, Elisabeth Oy-Marra, Klaus Pietschmann (Hg.) Barocke Bekehrungen Konversionsszenarien im Rom der Frühen Neuzeit November 2011, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1771-9

Erika Meyer-Dietrich (Hg.) Laut und Leise Der Gebrauch von Stimme und Klang in historischen Kulturen Oktober 2011, ca. 200 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1881-5

Volker R. Remmert, Ute Schneider Eine Disziplin und ihre Verleger Disziplinenkultur und Publikationswesen der Mathematik in Deutschland, 1871-1949 2010, 344 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1517-3

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