244 5 6MB
German Pages 219 [224] Year 2000
Linguistische Arbeiten
421
Herausgegeben von Hans Altmann, Peter Blumenthal, Hans Jürgen Heringer, Ingo Plag, Heinz Vater und Richard Wiese
Mathilde
Hennig
Tempus und Temporalität in geschriebenen und gesprochenen Texten
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2000
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Hennig, Mathilde: Tempus und Temporalität in geschriebenen und gesprochenen Texten / Mathilde Hennig. - Tübingen : Niemeyer, 2000 (Linguistische Arbeiten; 421) Zugl.: Leipzig, Univ., Diss., 1999 ISBN 3-484-30421-9
ISSN 0344-6727
© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2000 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt Einband: Industriebuchbinderei Nädele, Nehren
Inhalt
Vorwort 0
IX
Einleitung: Warum schon wieder Tempus
1
0.1 Ausgehen von authentischem Material
1
0.2 Ausgewogene Verknüpfung von Theorie und Empirie
3
0.3 Gleichrangige Berücksichtigung gesprochener und geschriebener Sprache
4
0.4 Anwendbarkeit für Deutsch als Fremdsprache
5
1 Theoretische Vorüberlegungen 1.1
Zur Auswahl der theoretischen Grundlagen
1.2 Tempus und Temporalität 1.2.1 Die Darstellung von Tempus und Temporalität in deutschen Grammatiken 1.2.1.1 Grammatiken, die von sechs Tempora ausgehen und diesen eine Grundbedeutung zusprechen 1.2.1.2 Grammatiken, die den sechs Tempora verschiedene Bedeutungs- oder Gebrauchsvarianten zuordnen 1.2.1.3 Grammatiken, die sechs Tempora annehmen und die Tempora in einfache und zusammengesetzte unterteilen 1.2.1.4 Grammatiken, die eine andere Anzahl als sechs Tempora annehmen 1.2.1.5 Grammatiken, die die temporale Kategorie Tempus ablehnen 1.2.2 Tempus in der Tempusforschung 1.2.2.1 Tempus als verbale Kategorie 1.2.2.2 Textfunktionen der Tempora - eine neue Tendenz bei der Beschreibung des Zusammenhangs von Tempus und Text 1.2.2.3 Statistische Untersuchungen zu Tempusverteilungen in bestimmten Textsorten 1.2.2.4 Perfekt und Präteritum - gibt es einen Unterschied? 1.2.2.4.1 Eine Auswahl von Ansätzen zu dieser Frage 1.2.2.4.2 Exkurs: Wird der Unterschied zwischen Perfekt und Präteritum von Muttersprachlern noch empfunden? 1.2.2.5 Das funktional-semantische Feld der Temporalität 1.2.3 Keine neue Tempustheorie - Prämissen für die weiteren Untersuchungen 1.3 Text und Textsorten 1.3.1 Text 1.3.2 Textsorte 1.3.3 Die ausgewählten Textsorten 1.3.3.1 Fußball-live-Reportage
7 7 7 7 9 9 10 12 13 14 15 18 21 26 26 29 31 33 39 39 42 43 43
VI 1.3.3.2 Talkshow 1.3.3.3 Brief 1.3.3.4 Rezension 2
3
4
44 46 48
Korpusbeschreibung
49
2.1
Gründe für die Erstellung eigener Korpora
49
2.2
Vorgehensweise bei der Korpussammlung
51
2.3
Die Korpora 2.3.1 Korpora der gesprochenen Sprache 2.3.2 Korpora der geschriebenen Sprache
52 52 53
Textsorten und Tempusgebrauch - gibt es Unterschiede zwischen geschriebener und gesprochener Sprache?
54
3.1
Tempus - gesprochene und geschriebene Welt?
54
3.2
Zur prinzipiellen Unterscheidbarkeit gesprochener und geschriebener Sprache - bilden .gesprochene Sprache' und .geschriebene Sprache' eigene Sprachvarietäten?
57
3.3
Hypothesen
61
3.4
Ergebnisse der Korpusanalysen 3.4.1 Fußball-live-Reportage 3.4.2 Talkshow 3.4.3 Brief 3.4.4 Rezension 3.4.5 Gesamtergebnis
62 62 65 69 72 73
3.5
Exkurs: Doppelte Perfektbildungen (DPF) 3.5.1 Einordnung von Perfekt II und Plusquamperfekt II in Grammatiken 3.5.2 Perfekt II und Plusquamperfekt II in der Tempusliteratur 3.5.3 Perfekt II und Plusquamperfekt II - geschriebene und/oder gesprochene Tempora? 3.5.3.1 Belegkorpus und Hypothese 3.5.3.2 Unterschiede im Formeninventar 3.5.3.3 Unterschiede bei der Realisierung temporaler Bedeutungen 3.5.3.4 Schlussfolgerungen
78 80 81
Temporalität in komplexen verbalen Strukturen
87 87 91 92 96 99
4.1
Komplexe verbale Strukturen
100
4.2
Temporalität in komplexen verbalen Strukturen in der Tempusforschung 4.2.1 Konjunktiv 4.2.2 Modalverben 4.2.3 Passiv
101 102 103 105
4.3
Temporalität in komplexen verbalen Strukturen in ausgewählten Grammatiken
'05
VII 4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.3.4
5
6
Passiv Modalverbkomplex Konjunktiv Exkurs: Handelt es sich bei hätte/wäre + Partizip II um eine Perfekt- oder eine Plusquamperfektform?
106 107 108
4.4
Hypothesen zur temporalen Bedeutung von komplexen verbalen Strukturen
112
4.5
Korpusanalysen 4.5. l Vorgehensweise 4.5.2 Passiv 4.5.2.1 Vorgangspassiv 4.5.2.2 Zustandspassiv 4.5.2.3 Schlussfolgerungen 4.5.3 Modalverbkomplex 4.5.3.1 Die Modalverben im Einzelnen 4.5.3.2 Textsortenbezogene Auswertung der Modalverbstrukturen 4.5.3.3 Zur Relevanz der Unterscheidung epistemischen und deontischen Modal verbgebrauchs für Fragen der Temporal ität 4.5.3.4 Schlussfolgerungen 4.5.4 Konjunktiv 4.5.4.1 Konjunktivstrukturen und temporale Zuordnungen 4.5.4.2 Schlussfolgerungen 4.5.5 Gesamtauswertung und Schlussfolgerungen
113 113 115 115 119 121 123 125 129
110
131 132 134 137 141 143
Temporalität in tempuslosen Sätzen
148
5.1. Zum Eilipsenbegriff
148
5.2
Ein Ellipsentyp: .Tempusloser Satz' - Sätze ohne finite Verbform
150
5.3
Temporalität in tempuslosen Sätzen
153
5.4
Temporalität in tempuslosen Sätzen in der Textsorte Fußball-live-Reportage ... 154 5.4.1 Die Darstellung von Brandt und Quentin 154 5.4.2 Hypothesen 156 5.4.3 Korpusauswertung 157 5.4.3.1 Vorgehensweise 157 5.4.3.2 Verteilung der tempuslosen Sätze in drei Fußball-live-Reportagen 159 5.4.3.3 Typen tempusloser Sätze in der Fußball-live-Reportage 160 5.4.3.4 Zeitliche Einordnung der tempuslosen Sätze 161 5.4.3.5 Zur Rolle der Adverbiale bei der zeitlichen Einordnung tempusloser Sätze 166 5.4.4 Auswertung '69
Tempusbedeutung und Tempusverteilung
173
6.1
Allgemeines
'73
6.2
Tempusbedeutungen in den Textsorten Talkshow und privater Brief
173
VIII
6.3
6.4
6.2.1 Vorbemerkung 6.2.2 Talkshow 6.2.3 Privater Brief
173 174 176
Verben mit Präteritum- bzw. Perfektneigung in den Textsorten Talkshow und privater Brief 6.3.1 Vorbemerkung 6.3.2 Talkshow 6.3.3 Privater Brief 6.3.4 Vergleich der Ergebnisse mit bisherigen „Hitlisten"
179 179 179 184 186
Exkurs: Besonderheiten der gesprochenen Sprache am Beispiel der Talkshow 6.4.1 Vorbemerkung 6.4.2 sein als Vergangenheitstempus der Fortbewegung 6.4.3 Die temporale Entwertung von jetzt
189 189 189 190
7
Gesamtauswertung und Ausblick
192
8
Abkürzungsverzeichnis
198
9
Literatur
199
Vorwort
Die vorliegende Arbeit ist die ieiciit überarbeitete Fassung meiner Dissertationsschrift, die ich im Juli 1999 an der Philologischen Fakultät der Universität Leipzig verteidigt habe. Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich meinen wissenschaftlichen Lehrern danken. Ich danke meiner Betreuerin Frau Prof. Dr. Barbara Wotjak für die vorzügliche Begleitung, die nicht nur die Belange der Arbeit, sondern auch meinen darüber hinausgehenden beruflichen und wissenschaftlichen Werdegang betraf. Ich danke Herrn Prof. Dr. Gerhard Heibig dafür, dass er die Arbeit durch regelmäßige Konsultationen mit betreut hat. Vor allem aber hat er in seinen Lehrveranstaltungen mein Interesse für die Sprachwissenschaft geweckt bei ihm habe ich gelernt, wie spannend die Beschäftigung mit diesem Wissenschaftsgebiet ist. Beiden, Frau Prof. Wotjak und Herrn Prof. Heibig, verdanke ich die Lenkung zur Toleranz gegenüber verschiedenen Beschreibungsansätzen und Meinungen. Nicht zuletzt danke ich Herrn Prof. Dr. Heinz Vater, der als Drittgutachter auch den Werdegang der Arbeit begleitet und diese mit vielen Hinweisen voran gebracht hat. Vor allem danke ich ihm für die Betreuung der Überarbeitung des Manuskripts für die Druckfassung. Dank gebührt auch dem Verlag M a x Niemeyer für die Begleitung der Erstellung der Druckfassung und die Aufnahme in die Reihe „Linguistische Arbeiten". Zuletzt sei mir noch ein Hinweis an die Leser gestattet: Der Arbeit liegen nicht veröffentlichte Korpussammlungen zu Grunde. Wer sich dafür interessiert, möge sich bitte an den Verlag wenden und meine derzeitige Anschrift erfragen - ich stelle die Textsammlungen gern zur Verfügung.
Timijoara, im März 2 0 0 0 Mathilde Hennig
0 Einleitung: Warum schon wieder Tempus?
Das Tempus gehört zu den am meisten diskutierten und kontrovers bewerteten Phänomenen nicht nur der deutschen Grammatik. Seit Weinrichs „Paukenschlag" ist eine kaum noch überschaubare Anzahl an Beiträgen und Monographien zu Tempus allgemein, zu einzelnen Tempora und zu Temporalität verfasst worden und immer wieder kommen neue hinzu.' Angesichts dieser Menge an Literatur bedarf es einer „Rechtfertigung": Warum schon wieder Tempus?^ Das Entstehen der vorliegenden Arbeit lässt sich - aus meiner Sicht - mittels der ihr zu Grunde liegenden vier methodischen Grundprinzipien rechtfertigen:
0.1 Ausgehen von authentischem Material
Mit der Forderung nach einem kritischen Umgang mit Sprachmaterial schließe ich mich Weydt (1993: 247f) an, der seine Sorge darüber zum Ausdruck bringt, ob „das, was in Grammatiken abgebildet wird, auch mit der sprachlichen, erfahrbaren Realität übereinstimmt, und nicht die Erfmdung von Linguisten darstellt". Er betont: „primär ist auf jeden Fall die Sprache, nicht das Beschreibimgssystem".' Weydt plädiert deshalb für Korpusanalysen und Informantenbefragungen - beides sind Methoden, die in der vorliegenden Arbeit angewendet wurden. So standen die Korpusanalysen im Mittelpunkt der folgenden Untersuchungen - Tempus und Temporalität wurden hier strikt textsortenbezogen analysiert. In dieser Hinsicht möchte die Arbeit bisherige Tempusbeschreibungen ergänzen, in denen Tempora in der Regel nur mit Hilfe von Satzbeispielen beschrieben werden." Dies ist insofern verwunderlich, als schon Weinrich (1971: 10) in der zweiten Auflage seines Tempusbuches für eine Beschreibung von Tempus im Text plädiert hat: „[...] soll nicht vergessen sein, daß die Tempus-Formen demjenigen, der sie untersuchen will, zuerst und zumeist in Texten begegnen [...]" und der Text seit den 70er Jahren ohne Zweifel in den Mittelpunkt linguistischen Interesses gerückt ist.' Vergleicht man die Aussagen zu Tempus und Tempo-
Engel (1988:495) bezeichnet Weinrichs Buch von 1964 als „Paukenschlag". So formuliert auch Mugler (1988: 11): „Wer über Tempus und Aspekt arbeitet, sollte sich wohl besonders eingehend Gedanken darüber machen, ob seine Bemühungen überhaupt nötig sind. Denn angesichts der unübersehbaren Fülle von Publikationen, die sich in irgendeiner Form bereits mit diesem Gegenstand befaßt haben, erscheint die Möglichkeit, wirklich etwas Neues zu sagen, auf den ersten Blick sehr gering." Weydt bezieht sich mit seinen Aussagen nur auf das Sprachmaterial in Grammatiken; m.E. kann man aber seine Forderungen auf die linguistische Forschung ausdehnen. Für die Ermittlung von Tempusbedeutungen mag dies zum Teil auch ausreichen; diese sorgföltig ermittelten Bedeutungen können aber an Glaubwürdigkeit verlieren, wenn sie nicht anhand der tatsächlichen Verteilung und Anwendung der Tempora im Text überprüft werden. Vgl. Heibig (1988), S. 152ff.
ralität allgemein mit der Anzahl der Beiträge zu Tempus und Text, so ist diese sehr bescheiden.® In Anlehnung an Weinrichs Postulat - Tempus begegnet uns in Texten - scheint mir eine stärkere Einbeziehung textueller Aspekte in die Tempusforschung unerlässlich. Die vorliegende Arbeit möchte zeigen, dass eine empirische Arbeit mit Texten zu neuen Erkenntnissen über Gebrauchsregularitäten der Tempora führen kann. Da es nicht den Text gibt, sondern Texte immer Exemplare einer Textsorte sind, kann es keine allgemeine Beschreibung von Tempus im Text geben, sondern nur von Tempusgebrauch in verschiedenen Textsorten. Weil eine zusammenhängende Beschreibung von Tempus und Textsorte m.W. noch nicht geleistet wurde, sollen hier anhand von vier Textsorten exemplarisch entsprechende Verbindungen aufgezeigt werden, um somit die Notwendigkeit einer textsortenabhängigen Tempusbeschreibung zu begründen.' Nach einer theoretischen Fundierung (Kapitel 1) und der Korpusbeschreibung (Kapitel 2) erfolgt in Kapitel 3 die Analyse der Tempusverteilung in den vier Textsorten auf der Grundlage folgender Fragen: Welche Tempora werden in welchen Textsorten verwendet? Gibt es Unterschiede zwischen der gesprochenen und geschriebenen Sprache? Reicht diese Unterscheidung aus? Ist Tempusgebrauch textsortenabhängig? Die auf Temporalität bezogene Besonderheit der einzelnen Textsorten ergibt sich aber nicht aus dem Tempusgebrauch allein - nicht alle Textsorten schöpfen die Möglichkeiten des Tempussystems zur zeitlichen Einordnung von Sachverhalten voll aus, d.h., es werden darüber hinaus andere sprachliche imd außersprachliche Mittel zum Ausdruck von Temporalität genutzt, wobei der Einsatz dieser Mittel wiederum textsortendifferenzierend sein kann. In den Kapitehi 4-6 stehen deshalb folgende Fragen im Mittelpunkt: Welche weiteren Mittel zum Ausdruck von Temporalität stehen den jeweiligen Textsorten zur Verfügung bzw. sind textsortenspezifisch? Haben die Textsorten Affinitäten zu bestimmten temporalen Bedeutungen? Welche temporalen Bedeutungen werden in den jeweiligen Textsorten durch die verschiedenen Mittel ausgedrückt?
Zu nennen wären hier Dorfmüller-Karpusa (1985), Ter2an-Kopecky (1995, 1998), Marschall (1995), Vater (1996) sowie die textsortenbezogenen Analysen von Hauser-Suida / Hoppe-Beugel (1972), Latzel (1977), Brons-Albert (1982), Brandt (1983) und Sieberg (1984). Bisherige statistische Untersuchungen zu Tempusverteilungen sind mehrheitlich nur anhand von einer Textsorte vorgenommen worden - so z.B. Telefongespräch (Brons-Albert 1982) und freies Gespräch (Sieberg 1984). Hauser-Suida / Hoppe-Beugel (1972) haben zwar verschiedene Textsorten untersucht, aber lediglich aus der geschriebenen Sprache. Latzel (1977) hat sowohl Mannheimer als auch Freiburger Korpora ausgewertet, aber keine Textsortenvergleiche bzw. Schlussfolgerungen bezüglich textsortenabhängigen Tempusgebrauchs vorgenommen. Ter2an-Kopecky (1995, 1998) bezieht Textsorten der geschriebenen und der gesprochenen Sprache in ihre TempusAspekt-Analysen ein; auf dem Hintergrund ihres Interessenschwerpunlrtes (Grammatikalisierungsprozesse, Zusammenhang zwischen Aspektualität [additive vs. nonadditive Verben] und Komplexität [synthetische vs. analytische Tempora]) hat der Textsortenvcrgleich bei ihr nur marginalen Charakter.
Nur durch die Einbeziehung der Unterschiedlichkeit von Textsorten und der anderen Mittel zum Ausdruck von Temporalität kann m.E. eine differenzierte Beschreibung von Tempus im Text erfolgen. Da eine Arbeit nicht den gesamten Bereich von Tempus und Temporalität in verschiedenen Textsorten abdecken kann, finden hier nur ausgewählte Textsorten und neben dem Tempus nur einige weitere Temporalität ausdrückende sprachliche Mittel Berücksichtigung (Passiv, Konjunktiv: Kapitel 4; Ellipsen: Kapitel 5). Viele sich dabei ergebende Probleme können nur angedeutet und kurz illustriert werden, da die Frage nach dem Zusammenhang von Temporalität und Textsorten immer im Mittelpunkt steht. Die Arbeit soll damit auch anregen, bisher wenig berücksichtigte Themen weiter zu bearbeiten (z.B. Temporalität in Ellipsen), ohne dass sie den Anspruch einer erschöpfenden Analyse erhebt. Zusammengefasst bedeutet das, dass Weydts Forderung nach authentischem Material zur Beschreibung sprachlicher Phänomene und Weinrichs Hinweis darauf, dass uns Tempus immer in Texten begegnet, hier verknüpft werden. Das Ergebnis ist folgendes Prinzip: Sprachwissenschaftliche Untersuchungen, die auf konstruierte Beispiele verzichten wollen, sollten Texte zum Ausgangspunkt haben, da Sprache uns in Texten begegnet. Da es wiederum nicht den Text gibt, müssen einzehie Textsorten ausgewählt werden.
0.2 Ausgewogene Verknüpfung von Theorie und Empirie
Die Forderung nach einem Ausgehen vom Text als empirisch zu untersuchende Beschreibungseinheit bedeutet aber nicht, dass sich Sprachwissenschaft auf Empirie reduzieren ließe. Empirische Forschung kann theoretische Überlegungen nicht ersetzen und umgekehrt beide sollten in einem ausgewogenen Verhältnis stehen und einander ergänzen. So beschreibt Schlobinski (1997: 9) Theorie und Empirie als komplementär: „Komplementär insofern, als es keine Theorie ohne Bezug auf sprachliche Daten und keine Empirie ohne theoretische Vorannahmen gibt (bzw. geben sollte) [...]". Schlobinski (1997: 12) bezeichnet es als „fatal", dass in der Sprachwissenschaft beide Seiten sich „viel zu oft ignorieren" und fordert: „[...] jede theoriegeleitete Frage sollte immer den Bezug zur empirischen Basis mitreflektieren, wie jede deskriptiv-empirische Analyse immer die expliziten oder impliziten Modellannahmen mitreflektieren muß." In diesem Sinne will die vorliegende Arbeit zu einem Miteinander von deduktiven und induktiven Methoden beitragen. Das bedeutet in Bezug auf die Erforschung von Tempus und Temporalität im Deutschen: Es hat in den letzten Jahrzehnten mehr theoretische Untersuchungen zu Tempusbedeutungen und dem Zusammenspiel von Tempus und anderen Mitteln zum Ausdruck von Temporalität als textbezogene Korpusauswertungen gegeben. Die Wichtigkeit dieser Arbeiten soll hier keineswegs in Frage gestellt werden, sie sollten aber in stärkerem Maße durch textsortenbezogene Untersuchungen ergänzt werden. Für die folgenden Untersuchungen ergibt sich daraus: Wenn auch die Korpusanalysen im Mittelpunkt stehen, so heißt das nicht, dass auf theoretische Fundierung und Schlussfolgerungen verzichtet werden soll. Im Gegenteil: Empirische Analysen ergeben m.E. erst einen Sinn, wenn sie einer theoretisch relevanten Fragestellung nachspüren. Eine bloße Be-
Schreibung von Sprachmaterial ohne Einbettung in einen theoretischen Zusammenhang und die entsprechenden Schlussfolgerungen ist wenig aussagekräftig.' Auch Schlobinski (ebd.) warnt vor „unzulässigem Induzieren". So habe ich mich darum bemüht, prinzipiell beide Blickwinkel zu berücksichtigen. Das Ergebnis ist, dass in der vorliegenden Arbeit Theorie und Empirie einander bedingen: die Korpusanalysen werden in den jeweiligen theoretischen Zusammenhang eingebettet; gleichzeitig werden aus ihnen theoretische Schlussfolgerungen gezogen.
0.3 Gleichrangige Berücksichtigung gesprochener und geschriebener Sprache
Im Bereich der Tempusforschung und der Tempusdarstellungen in einschlägigen Grammatiken des Deutschen ist festzustellen, dass eine Beschreibung der Tempusverhältnisse im Gesprochenen faktisch nicht erfolgt. Die wenigen Ausnahmen - vor allem Brons-Albert 1982 und Sieberg 1984 - bilden nur einen Bruchteil der fast nicht zu übersehenden Fülle an Arbeiten und Beiträgen zum Tempus. Die meisten Darstellungen des deutschen Tempussystems gehen von den Gegebenheiten der geschriebenen Sprache aus, wobei der Leser darüber normalerweise nicht informiert wird. Die konsequente Einbeziehung gesprochener Sprache ist ein Grundprinzip, das Ausgangspunkt für das Entstehen der folgenden Untersuchungen war - die Verärgerung über Darstellungen, die von Überlegungen zur geschriebenen Sprache auf das gesamte Sprachsystem schließen, war der Anlass dafür, gesprochene Sprache zum Untersuchungsgegenstand zu machen. Auch Weinrichs Textgrammatik (1993) bildet hier keine Ausnahme, obwohl er einleitend verspricht, die Kanäle des mündlichen und schriftlichen Sprachgebrauchs gleichrangig zu berücksichtigen. Im Tempuskapitel stehen zehn schriftsprachlichen (meist belletristischen) Texten nur drei gesprochene Texte gegenüber - und auch diese haben nur Alibifunktion, d.h., sie wurden so ausgewählt, dass sie seine Theorie nicht gefährden.' Es wird sich zeigen, dass eine pauschale Gegenüberstellung gesprochener und geschriebener Sprache nicht ausreicht, da es auch innerhalb der beiden Register Textsortenunterschiede gibt und somit nur die Pole der Nähe- und Distanzkommunikation sinnvoll miteinander verglichen werden können, wenn es um Unterschiede zwischen den beiden Registern geht.'" Dennoch wird die Einbeziehung gesprochener Sprache hier als wichtig angesehen, da in diesem Bereich Defizite in der Tempusforschung bestehen. Wenn auch die Übergänge zwischen geschriebener und gesprochener Sprache fließend sind, so lassen sich doch Tendenzen erkennen, die folgendermaßen zusammengefasst werden können: Geschriebene Sprache folgt stärker den traditionellen Normen des Tempusgebrauchs, während in der ge-
Die Gefahr, sich bei empirischen Analysen zu „verzetteln", zeigt sich z.B. bei Brandt (1983). Dies verwundert auch nicht - bei umfangreichem Textmaterial findet man immer noch einen Aspekt, unter dem die Untersuchungen fortgesetzt werden könnten. Das Ergebnis bei Brandt ist eine Vielzahl an Tabellen, die nicht genügend Raum für theoretische Schlussfolgerungen lassen. Diese Kritik wird in 3.1 genauer ausgeführt. Dieses Problem wird in 3.2 diskutiert.
sprochenen Sprache die Regeln bezüglich der Wahl eines Tempus - besonders zur Bezeichnung von Vergangenheit - nicht so strikt sind. Das führt bis hin zu beliebiger Austauschbarkeit, wenn die Bedeutung E=RE). Thieroff (1992: 80) und Mugler (1988: 188) weisen zu Recht daraufhin, dass die Reichenbach'sehen Termini immer wieder Erweiterungen und Interpretationen erfahren haben. Dass die Reichenbach'sehen Kategorien dennoch nach wie vor aktuell sind, lässt sich daran erkennen, dass eine Diskussion dieser Begriffe auch heute noch in einer Arbeit zum Tempus unverzichtbar zu sein scheint (vgl. z.B. Kurt 1995: 15ff.).
39 Allgemeingültigkeit Referenzzeit und Ereigniszeit vor, nach und gleich Sprechzeit (9) Die Erde dreht sich um die Sonne.
1.3 Text und Textsorten
Bei dem Versuch der Klärung dieser Termini begibt man sich auf ebenso unsicheres Terrain wie im Bereich des Tempus. Deshalb muss auch hier festgehalten werden: Ziel der Arbeit ist die Beschreibung von Temporalität im Textsortenvergleich und nicht eine neue bzw. umfassende Defmition dieser Termini.
1.3.1 Text Der Text ist in den 70er Jahren in den Mittelpunkt linguistischen Interesses gerückt.^^ Seitdem sind eine Vielzahl von Einführungen, Gesamtdarstellungen und Analysen von Einzelproblemen entstanden, die Zeugnis davon ablegen, dass der Text als Beschreibungseinheit hochaktuell ist." Ein weiteres Indiz für die allgemeine Hinwendung zum Text ist die zunehmende Beachtung, die er in den Grammatiken des Deutschen erfährt. Die erste ausfuhrliche Darstellung in einer Grammatik fand sich in Engel (1988: 33-176); es folgten Götze/Hess-Lüttich (1989: 431-476), die Dudengrammatik (1995: 802-826) und die IDSGrammatik (1997: 98-591) mit einem Kapitel zu Diskurs und Text.'® Auch die Lemergrammatik von Häussermann/Kars (1988: 232-245) beinhaltet ein Kapitel zum Text. Dieser Tendenz scheinen folgende Einsichten zu Grunde zu liegen: 1. Der Satz reicht als Beschreibungseinheit nicht aus; nicht alle sprachlichen Erscheinungen können bei einer Beschränkung auf die Satzebene erfasst werden. 2. Sprache begegnet uns grundsätzlich in Texten; deshalb ist es sinnvoll, sprachliche Regularitäten im Textzusammenhang zu beschreiben. Insofern erscheint es nur logisch, dass den Bemühungen, Texte als solche und sprachliche Erscheinungen im Text zu beschreiben, eine Textgrammatik folgen musste. Weinrich (1993: 17) beschreibt in seiner „Textgrammatik der deutschen Sprache" einleitend das
'' Die Beispiele 1, 2, 3, 5, 6 und 7 sind Dieling/Kempter (1983: 20) entnommen, wobei in (1) und (2) ein Adverbial hinzugefügt wurde. Dass sich 4, 8 und 9 in dieser Form bei Dieling/Kempter nicht finden, zeigt die Schwierigkeit des Aufbaus eines Tempussystems ausgehend von temporalen Bedeutungen. Die Unterschiede gegenüber Dieling/Kempter ergeben sich dadurch, dass Dieling/Kempter von den Bedeutungsvarianten der Tempusfbrmen ausgehen und diese als Tempora bezeichnen. Hier wiederum wurden den angenommenen vier temporalen Grundbedeutungen die Nuancierungsmöglichkeiten (z.B. Vergangenheit vs. Vorvergangenheit) zugeordnet. '' Zur wissenschaftsgeschichtlichen Einbettung vgl. Heibig (1988: 152ff.). Genannt seien hier vor allem die folgenden: de Beaugrande/Dressler (1981), Brinker (^1988), Heinemann/Viehweger (1991),Vater (^1994) und Rolf (1993). '' Dabei wurde in der Dudengrammatik das Kapitel zum Text in der neuesten Auflage ergänzt.
40 „Prinzip Text": „Diese Grammatik versteht die Phänomene der Sprache von Texten her, da eine natürliche Sprache nur in Texten gebraucht wird." Weinrichs Textgrammatik unterscheidet sich von früheren Grammatiken grundsätzlich dadurch, dass hier nicht Satz-, sondern Textbeispiele die Erklärungen illustrieren. Ohne Zweifel kann diese Grammatik dadurch einigen sprachlichen Erscheinungen besser gerecht werden. Als Beispiele seien die Funktionswörter (insbesondere die Artikelwörter und die Partikel) sowie die indirekte Rede genannt, die ja keineswegs in jedem Satz neu eingeleitet wird. Dennoch gibt es auch grammatische Schwerpunkte, für deren Beschreibung es nicht der Ebene des Textes bedarf. Das zeigt sich darin, dass diese auch in Weinrichs Textgrammatik nicht „textgrammatisch kommentiert" werden (z.B. die Adjektivdeklination). Weinrichs Grammatik ist keine Textgrammatik in dem Sinne, dass von Texten als Beschreibungseinheit ausgegangen wird." Sie ordnet sich vielmehr in die Reihe der traditionellen Grammatiken ein, indem sie die einzehien Wortarten beschreibt, wobei hier allerdings Texte in die Beschreibung einfließen, um das jeweils besprochene Problem zu dokumentieren. Die Frage, was ein Text sei, hat die Textlinguistik seit ihrem Entstehen beschäftigt. Es hat fast in jeder Darstellung zum Text eine neue Textdefinition gegeben. Diese sind immer im Zusammenhang mit ihrem Hintergrund zu sehen - dementsprechend gibt es syntaktische, semantisch-funktionale und pragmatische bzw. integrative Textdefmitionen. Zusammenstellimgen und Einordnungen verschiedener Defmitionsansätze finden sich in Brinker (^1988: 12flf.), Heibig (1988: 158ff.), HeinemannA^iehweger (1991: 126ff.), Vater (1992: 16flf.) und Rolf (1993:2ff.). Sinnvoll ist der Versuch von de Beaugrande/Dressler (1981: 3ff.), dem Text nicht mittels einer Definition, sondern mit Hilfe von sieben „Standards" beizukommen - cohesion, coherence, intentionality, acceptibility, informatmty, situationality und intertextuality. Einzelne dieser Merkmale sind verschiedentlich kritisiert worden (vgl. Rolf 1993: 26), da z.B. die Standards Kohäsion und Kohärenz auch relevant für die Satzebene sind. Das macht sie allerdings nicht minder wichtig für den Text. HeinemannA^iehweger (1991: 126) haben kritisch angemerkt, dass Texte nicht „per se kohärent" seien, sondern dass es die Handlungsbeteiligten sind, „die in einem Text den Zusammenhamg stiften imd diesen in der Textstruktur manifestieren". Auch sie bieten in Abgrenzung von eindimensionalen Textdefmitionen eine umfassende Charakterisierung an, die sowohl handlungstheoretische Aspekte als auch Funktion und Struktur berücksichtigt. Die Autoren vertreten eine „dynamische Textauffassung", die davon ausgeht, „daß Texte keine Bedeutung, keine Funktion an sich haben, sondern immer nur relativ zu Interaktionskontexten sowie zu Handlungsbeteiligten, die Texte produzieren und rezipieren." (126) Eine zentrale Frage bei der Beschäftigung mit Texten ist die, ob der Text an das Medium der geschriebenen Sprache gebunden ist.'" Während im Allgemeinen eine Tendenz zu ei-
Es erscheint fraglich, ob ein solches Vorgehen überhaupt möglich wäre, da es bekanntlich nicht den Text gibt. se Diese Frage ist für die vorliegende Arbeit besonders wichtig; zu weiteren interessanten Aspekten, wie z.B. der Frage der Länge von Texten oder der Gebundenheh des Textes an das Medium Sprache siehe Vater (^1994: 16ff.).
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nem weiten, Mündlichkeit einbeziehenden, TextbegrifF zu verzeichnen ist," spricht sich Rolf (1993: 27ff.) für eine Beschränkung dieses Terminus auf Äußerungseinheiten des Geschriebenen aus, bzw. akzeptiert nur solche gesprochene Gebilde als Texte, die im Sinne einer Definition der gesprochenen Sprache mittels des Kriteriums der Spontaneität gar nicht als „gesprochen" angesehen werden.'^ Hauptargumente seiner Ablehnung von „Großraumtexten" wie Telefongespräch, Alltagsdialog etc. sind die fehlende Monotypie und die nicht vorhandene einheitliche Intention. Dementsprechend schlussfolgert Rolf, solche Textsorten „sollten als Untersuchungsobjekte anderer Disziplinen, etwa der Dialoggrammatik oder der Gesprächsforschung, betrachtet werden [...]" (35). Rolfs Einwände sind zwar auf Grund der schlüssigen Argumentation des Autors nachvollziehbar; dennoch wird seine Auffassung hier nicht geteilt. Zum einen gibt es keine hinreichende Begründung dafür, warum ein Text monotyp im Sinne von Rolf sein muss und ihm nur eine Intention zu Grunde liegen darf Dieses scheint das entscheidende Kriterium zu sein; löst man sich davon, so spricht nichts dagegen, auch ein Telefongespräch als einen Text anzusehen. Zum anderen verschiebt ein Transfer gesprochener dialogischer Texte aus der Textlinguistik in die Dialoggrammatik oder Gesprächsforschung die Schwerpunkte linguistischer Forschungen. Es liegt auf der Hand, dass in der Gesprächsanalyse handlungstheoretische Aspekte in den Vordergrund geraten, d.h. Fragen nach dem Aufbau des Dialogs, Interaktionen der Dialogpartner etc. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit erscheint es aber als besonders wichtig, gerade die Bereiche gesprochener Sprache zu untersuchen, die sie mit geschriebenen Texten verbinden (Morphologie imd Syntax), um somit die Unterschiedlichkeit gesprochener und geschriebener Sprache pointierter herausstreichen und im Sinne eines für Unterrichtszwecke nutzbaren Regelwerks umsetzen zu können. Für einen Vergleich gesprochener und geschriebener Sprache, d.h. gesprochener und geschriebener Texte, ist ein gemeinsamer Ausgangspimkt sinnvoller als eine grundsätzliche Trennung der Bereiche in Textlinguistik und Diskursanalyse. Ein weiterer Einwand von Rolf (1993: 29) bezieht sich darauf, dass ,Text' im Verständnis der Alltagssprache an die geschriebene Sprache gebunden ist. Diesem Problem wird Vater (^1994) gerecht, indem er zwischen „'Text' im vorwissenschaftlichen Verständnis" (lOff.) und „'Text' in der Textlinguistik" ( 1 6 f f ) unterscheidet. Ähnlich formuliert Brinker (^1988: 10/12): „Zur Verwendung des Wortes ,Text' in der Alltagssprache"/„Der linguistische TextbegrifF'. Daraus lässt sich folgende Quintessenz ableiten: In der Alltagssprache versteht der Nicht-Linguist unter einem Text ein geschriebenes Produkt; die linguistische Forschung geht häufig davon aus, dass Texte sowohl geschrieben als auch gesprochen sein
Eine Ausnahme bildet auch die Unterteilung in „Diskurs" und „Text" in der IDS-Grammatik. Darauf deuten bereits die Überschriften der Teilkapitel hin - „Diskurs und Mündlichkeit" und „Text und Schriftlichkeit". Als mündliche „Texte" werden nur „überliefernde" Formen wie Witze, Lieder, Mythen und Sagen angesehen - gemäß der Textdefinition, die besagt, Texte seien darauf angelegt, „abgelöst von der Entstehungssituation an anderen Orten und zu anderen Zeiten (immer neu) rezipierbar zu sein." (249) Diskurse dagegen hätten „singulären Charakter", sie würden „lokal erzeugt und lokal rezipiert" (161). Diese Unterteilung erweist sich insbesondere als problematisch, wenn man die neuen Medien des 20. Jahrhunderts berücksichtigt - wiederholte Rezipierbarkeit ist nicht mehr an das Medium Schrift gebunden. 82 Vgl. dazu Kapitel 3.2.
42 können, da beide Textformen trotz aller Unterschiede als Bestandteil sprachlicher Konununikation betrachtet werden."
1.3.2 Textsorte Die Bestimmung des Terminus ,Textsorte' steht im engen Zusammenhang mit der Definition des Textes. Dimter (1981: 2) bezieht sich auf diese Verbindung, indem er daraufhinweist, dass ein Text sowohl Merkmale trägt, „die seine Textualität ausmachen", als auch Merkmale, „die ihn als Text einer bestimmten Sorte" kennzeichnen. Gleichzeitig zieht er es vor, von „Klasse" zu sprechen, „da dieser Terminus linguistisch nicht so vorbelastet ist." Dimters Kapitulation vor ,Textsorte' ergibt sich aus der vielfältigen Begriffsbestimmung und der großen Anzahl von Termini, die mit dem ,Text' verknüpft sind: Textsorte, Textart, Textformen, Textmuster u.v.m. (vgl. Rolf 1993: 43ff.). Wichtig ist in diesem Zusammenhang vor allem Isenbergs Unterscheidung der Termini ,Texttyp' und ,Textsorte' (1983: 308). ,Textsorte' ist nach Isenberg eine „bewußt vage gehaltene Bezeichnung für jede Erscheinungsform von Texten, die durch die Beschreibung bestimmter, nicht für alle Texte zutreffender Eigenschaften charakterisiert werden kann." ,Texttyp' dagegen ist eine „theoriebezogene Bezeichnung für eine Erscheinungsform von Texten, die im Rahmen einer Texttypologie beschrieben und defmiert ist." Der Unterschied zwischen ,Textsorte' und ,Texttyp' besteht demzufolge in der Theoriebezogenheit - gegenüber dem Texttyp ist die Textsorte vortheoretisch. Dieser Status wird auch von HeinemannA'iehweger (1991: 144) beschrieben. Die Autoren weisen daraufhin, dass die Termini ,Textsorte' und ,Textklasse' auf empirisch vorfmdliche Klassifizierungen von Texten und Gesprächen bezogen werden. Es handelt sich um Alltagsklassifikationen, da sie „innerhalb einer menschlichen Gemeinschaft erreicht und mit Lexikanzeichen belegt wurden". Rolf (1993: 45) hebt mit einem bildhaften Vergleich das „Vorhandensein" hervor: „'Textsorte' betont (wie etwa ,Brotsorte' oder .Kaffeesorte') den Aspekt des Vorhandenseins bestimmter charakteristischer Merkmale." Wenn man in diesem Sinne unter .Textsorten' empirisch vorfindliche Exemplare von Texten versteht, so leuchtet es ein, dass de Beaugrande (1990: 173ff.), ausgehend davon, dass eine Textsorte vor allem als gespeichertes und abrufbares Wissensmuster existiere, eine zu starke Theoretisierung der Linguistik vehement kritisiert. Mit dem Titel seines Beitrages „Textsorten im Mittelpunkt zwischen Theorie und Praxis" weist der Autor darauf hin, dass „mit ,Textsorten' eine Fragestellung aufkommt, die ein integratives Vorgehen in Theorie und Praxis weit stärker erfordert als viele andere Fragen in der bisherigen Linguistik." Ähnlich wie de Beaugrande wendet sich auch Adamzik (1992: 105) gegen eine Vernachlässigung des Alltagswissens bei der Textsortenbeschreibung und tritt für eine Berücksichtigung von Alltagskonzepten ein. Ihre Schlussfolgerung ist eine Hinwendung zur Empirie (106): „Die beschränkte historisch-soziale Gültigkeit dieser konventionalisierten Muster, ihre Unsystematik und Unvorhersehbarkeit - also genau die Eigenschaften, die dazu führen, daß Textsorten nur empirischer Forschung zugänglich sind - sind es nun aber auch gerade, die ihre empirische Erforschung so notwendig machen."
Vgl. Vater (^1994: 16f).
43 Die logische Konsequenz dieser mehrfach geäußerten Forderung nach Empirie bei der Textsortenbeschreibung ist die Verlagerung von abstrakten Textsortenklassifikationsversuchen zu solchen Klassifikationen, die sich am realen Bestand der Textsorten orientieren.'" Dementsprechend besteht für Rolf (1993: 51) das Ziel einer Klassifikation darin, „eine Orientierung im Hinblick auf einen Gegenstandsbereich, eine Übersicht über die darin enthaltenen Einheiten zu verschaffen." Die skizzierten Problemfelder sollten andeuten, in welchem Zusammenhang die Einbeziehung von einzelnen Textsorten in die Beschreibung von Tempus und Temporalität, die in dieser Arbeit erfolgt, zu sehen ist. Adamziks Forderung nach Empirie eröffnet ein weites Betätigungsfeld; in diesem Bereich sollen die folgenden Korpusanalysen zur Textsortenbeschreibung beitragen. Den Korpusanalysen wird nun eine knappe Beschreibung der untersuchten Textsorten vorangestellt. Zimi einen wird dadurch gezeigt, ob und inwiefern diese Textsorten bereits Gegenstand sprachwissenschaftlicher Untersuchungen waren. Zum anderen wird davon ausgegangen, dass einzelne Eigenschaften der jeweiligen Textsorten Erklärungen für textsortenspezifischen Tempusgebrauch und Ausdruck von Temporalität bieten können.
1.3.3 Die ausgewählten Textsorten Die analysierten Textsorten wurden unter folgenden Gesichtspunkten ausgewählt: 1. Geschriebene und gesprochene Sprache sollten gleichermaßen berücksichtigt werden. 2. Monologische und dialogische bzw. dialogisch orientierte Textsorten sollten gegenübergesteUt werden. Dementsprechend wurden aus den Registern geschriebene und gesprochene Sprache jeweils zwei Textsorten herausgegriffen; diese sollen nun kurz charakterisiert werden.
1.3.3.1 Fußball-live-Reportage Die Fußball-live-Reportage ist eine in der linguistischen Forschung vergleichsweise wenig beschriebene Textsorte. So ist sie z.B. in der kommentierten Bibliographie zu Textsorten von Adamzik (1995) nicht angeführt. Interessant für die vorliegende Arbeit ist, dass sich die wenigen linguistischen Untersuchungen zur Fußball-live-Reportage mit Tempus und Temporalität beschäftigen (Brandt 1983, Quentin 1989); deshalb wird auf diese in 5.4.1 genauer eingegangen. Es muss grundsätzlich unterschieden werden zwischen einer Fußball-live-Reportage des Hörfunks und einer Fußball-live-Reportage des Femsehens. In dieser Hinsicht setzen auch die genannten Autoren andere Schwerpunkte: Brandt untersucht Fußball-live-Reportagen des Hörfunks, Quentin solche des Femsehens. Diese Differenziemng ist für die folgenden Untersuchungen insofern wichtig, als in einer Live-Reportage des Hörfunks generell mehr versprachlicht werden muss, da dem Hörer der Bildkontext fehlt, der in der Live-Reportage des Femsehens oft Lexikalisierungen bzw. Verbalisierungen schlechthin unnötig macht. Vgl. dazu de Beaugrandes Kritik (1990: 172), Heibig (1988: 172ff.) und Rolf (1993: 51ff.).
44 Für den Tempusgebrauch und den Ausdruck von Zeitbedeutung generell bedeutet das, dass zeitliche Einordnungen in der Live-Reportage nur sprachlich ausgedrückt werden müssen, wenn sie vom Bildkontext abweichen - d.h. insbesondere Verweise auf vorangegangene Handlungen oder Spiele. Gegenwartsbezug muss in der Regel nicht sprachlich markiert werden, da er sich durch den Bildkontext ergibt. Anders in der Live-Reportage des Hörfunks - hier muss Gegenwartsbezug wenn auch nicht immer, so doch häufiger durch eine Tempusform oder ein Adverbial verdeutlicht werden. Quentin (25f.) beschreibt verschiedene Typen der Fußballberichterstattung im Femsehen. Den Typ, der in die dieser Arbeit zu Grunde liegenden Korpora einbezogen wurde, nennt sie ,vollständige Direktreportage' und bezeichnet diese als „ausfuhrlichste Form der Fußballberichterstattung." Wichtig ist ihr Hinweis darauf, dass die Informationsübermittlung „mit Hilfe des Fernsehbildes, des Sprecherkommentars und der Stadionakustik" geschieht. (26) Brandt (1983: 20ff.) beschreibt die Sportreportage als narrative Textsorte, da der Reporter wie ein „Narrator emes Romans oder einer Novelle" darüber entscheidet, welchen Teil des Geschehens er dem Zuschauer vermittelt und wie, d.h. unter Einsatz welcher sprachlichen Mittel, er diese Aufgabe erfüllt. Dazu gehört auch, dass er „die zeitliche Einordnung des wiedergegebenen Geschehens" gewährleistet. Die Besonderheit des Erzählens in dieser Textsorte besteht darin, dass der Reporter „ebensowenig wie seine Zuhörer das Ergebnis der Gesamthandlung" kennt und dass er das Geschehen „unmittelbar, simultan in Sprache umsetzen" muss; d.h., er muss „spontan sprechen". Sein sprecherstrategischer Spiehaum ist somit eingeengt. In dieser Hinsicht bestehen Gemeinsamkeiten zwischen der Reportage des Hörfunks und der des Femsehens. Die beschriebenen Einschränkungen führen zu einer erzwungenen Ökonomie, d.h., der Reporter muss zuweilen in sehr kurzer Zeit sehr viel Handlung sprachlich wiedergeben. Das Resultat sind Häufungen von Ellipsen und somit auch eine Nichtversprachlichung der Zeitbedeutungen. Deshalb nimmt die Fußball-live-Reportage eine Sonderstellung unter den hier untersuchten Textsorten ein; ihr soll aus diesem Grund ein eigenes Kapitel gewidmet werden (Kapitel 5). Die Fußball-live-Reportage ist eine monologische Textsorte; Brandt (1983: 21) bezeichnet sie deshalb als „eindimensional" bzw. als „Hinweg-Kommunikation". In dieser Hinsicht stellt sie ein interessantes Gegenstück zur Talkshow, der zweiten Textsorte aus dem Bereich der gesprochenen Sprache, dar.
1.3.3.2 Talkshow Anders als die Fußball-live-Reportage hat die Talkshow vielfach linguistisches Interesse hervorgerufen. Schwitalla (1993: 21) begründet dies so: „Die Talk-Show war im deutschen Femsehen eine ganz neue Schöpfung und sie wurde auch als solche aufmerksam in der allgemeinen Öffentlichkeit und in der Pragmalinguistik kommentiert." So bot die Talkshow in der linguistischen Forschung hauptsächlich Stoff für gesprächsanalytische Forschungen (Mühlen 1985, Schlosser 1996). Schwitalla befasst sich mit dieser Textsorte in seinem Beitrag „Textsortenwandel in den Medien nach 1945 in der BRD". Dabei ordnet er die Talkshow gesprächstypologisch als Mischform ein, „in der Interview- und Diskussionspassagen dominieren, daneben aber auch
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Alltagserzählungen, Teile von biographischen Erzählungen, Berichte und Informationen, Streitgespräche und Frotzelsequenzen ihren Ort haben." (22) Dieser Status macht die Talkshow zum einen schwer erfassbar, zum anderen aber auch reizvoll für die journalistische und linguistische Beschreibung. Die Talkshow erlebt derzeit zweifelsohne einen Boom im deutschen Fernsehen; immer mehr Talkshows auf immer mehr Sendern kommen hinzu, über alles und nichts wird geredet.®' Das liegt an der besonderen Charakteristik dieser Gattung, die Kalverkämper (1982: 182) beschreibt: „Die Talk-Show will nicht Scheinkommunikation, weil Einweg-Kommunikation (vom Fernsehgerät zum Zuschauer) sein, die die vermißte Geselligkeit nur suggeriert. Vielmehr reizen in den TalkShows mit ihrem unbestimmten Verhältnis von Talk und Show [...] die lockeren Gespräche wie auch die sie begleitende Gestik/Mimik und Haltung der Gesprächspartner (Talk + Show!) das anwesende Studio-Publikum zu [...] Eigeninitiativen, bzw. das Femseh-Publikum zu engagierten Diskussionen und Erörterungen des Gehörten und Gesehenen. Was also kurzweilig unterhält, ist primär die Erwartung des Unerwartbaren, ist die reizvolle Nichtkalkulierbarkeit, ist der Peinlichkeitsreiz für den Zuschauer, der auf den Patzer, auf die Entlarvung der Persönlichkeit, auf das spontane Ablegen eines Rollenverhaltens beim Gast und beim Gastgeber wartet. So werden die Absichten von Talk-Shows als verbaler Seelen-Striptease, als öffentliche Demontage und Inspektion, als Exhibitionismus gelobt wie auch getadeh. Der inhaltliche Anspruch von Talk-Shows ist eben nicht sach- und fachorientiert, sondern personenbezogen und zielt auf das, was dem Menschen das Aufregendste und Interessanteste ist - den öffentlichen Menschen."
Was genau ist eine Talkshow? Steinbrecher/Weiske (1992: 19f) machen darauf aufmerksam, dass es die Talkshow nicht gibt: „Vielmehr verbergen sich hinter dem Begriff ,Talkshow', der von Kritikern und Programmachem für verschiedene Programmangebote verwendet wird, ganz unterschiedliche Sendeformen, denen teilweise nur das Gesprächselement gemeinsam ist." Die Autoren (1992: 21) unterteilen die Talkshows in vier Klassen: „Promi-Talk" (prominente Gäste stehen im Mittelpunkt), „Themen-Talk" (ein vorgegebenes, oft aktuelles Thema wird von meist prominenten Gästen diskutiert), „Portrait-Talk" (Einzelgespräch zwischen Moderator und Gast) und „Konfro-Talk" (emotionale Streitgespräche vor einer angeheizten Kulisse). Die in den hier zu untersuchenden Korpora erfassten Talkshows lassen sich kaum mit Hilfe dieser Klassifizierung beschreiben; das wiederum zeigt die rasante Entwicklung dieses Genres. So hat sich in den 90er Jahren eine weitere Talkshow-Klasse herausgebildet,'' die zwischen Themen-Talk und Konfro-Talk anzusiedeln ist. Geläufig ist die Bezeichnung „Nachmittagstalkshow"; sie kann diese Talkshowform allerdings nicht mehr exakt erfassen, da deren Boom die Ausdehnung auf den Vormittag mit sich brachte. Mittlerweile ist es einem Anhänger dieses Femsehgenres möglich, von 10 bis 17 Uhr ununterbrochen diese Klatschsendungen zu konsumieren. Schilcher (1996: 8) bezeichnet diese Art der Talkshow als „Tages-Talk", da ihre Exemplare in der Regel täglich, d.h. zumindest werktags, zu sehen sind. Bildhaft charakterisiert sie diese:
'' Fley (1997) untersucht Talkshows des ersten Quartals 1996. In diesem Zeitraum gab es insgesamt 76 (!) Talkshows. 86 Nach Fley (1997: 33) war die erste dieser Talkshows im deutschen Femsehen „Hans Meiser" im Herbst 1992.
46 „Diese Talkshows sind eine von der Femsehkritik meist verächtlich behandelte und von der Wissenschaft weitgehend ignorierte Programmform. Glaubt man den Kritikern, geht es dabei um oberflächliche Psycho-Plaudereien, bei denen exhibitionistische Talkgäste gegen gute Bezahlung Lebensbeichten ablegen und so die voyeuristischen Gelüste von Hausfrauen und Rentnern befriedigen. Glaubt man den Programmverantwortlichen, sind die Sendungen Foren filr die unterschiedlichsten Themen, zu denen sich - im Unterschied zu traditionellen Talkshows - .Menschen wie du und ich' äußern können und die den Zuschauem neben guter Unterhaltung und Information auch noch Lebenshilfe bieten."
Fley (1997: 112) nennt diese Form der Talkshow ,Trivial-Talk'. Damit meint er die „täglichen Nachmittagstalkshows, deren thematische Palette sich von ganz alltäglichen Themen wie .Schnarchen' oder .Einzelkinder' über Gesundheits- und Beziehungsthemen bis hin zu .Sex & Crime' erstreckt." (112) Die schnelle Ausbreitung dieser Talkshowform innerhalb weniger Jahre brachte auch eine thematische Erweiterung mit sich - inhaltlich ist alles Denkbare und Undenkbare möglich, es scheint keine Tabus mehr zu geben. Im Gegensatz zu den bei Steinbrecher/Weiske beschriebenen Talkshowklassen zeichnet sich diese Talkshowform durch die Abwesenheit prominenter Gäste aus. Teilnehmen kann jeder - die Talkshows bieten gewissermaßen ein Auffangbecken für jeden, der einmal im Femsehen auftreten möchte. Jede Geschichte und jede Banalität wird hier vermarktet. Die beschriebenen Eigenschaften haben mich zur Auswahl dieser Textsorte für diese Arbeit bewogen, in der sie als typisches Beispiel gesprochener Sprache der funktionalstilistisch markierten Fußball-live-Reportage gegenübergestellt werden soll. Die Alltäglichkeit der Sendungen und der Themenbereiche auf der einen Seite und die Alltäglichkeit dieser ..normalen". sonst nicht im Rampenlicht stehenden Gäste, die in der Regel aus unteren und mittleren Schichten der Gesellschaft kommen, auf der anderen Seite führen zu einer Textsorte, in der Umgangssprache gesprochen wird. Schwitalla (1993: 22) bezeichnet dies als „Unterhaltungsstil der Nähekommunikation [...] (Duzen, scherzhafte Vorwürfe, witzige Nebenbemerkungen)"; es ist also ein betont lockerer Umgangston, der sich sprachlich dadurch bemerkbar macht, dass der offizielle Charakter des Femsehens einer privaten Atmosphäre weicht.
1.3.3.3 Brief Briefe sind seit einigen Jahrzehnten ein beliebtes Forschungsobjekt der Linguistik. Die Hinwendung zu dieser Textsorte begründet Langeheine (1983a) mit der Pragmatisiemng und Empirisierang der germanistischen Linguistik in den 70er Jahren, die mit sich brachte, dass der Brief nicht mehr als „'Werk', sondern Bestandteil der Alltagskommunikation" gesehen wird. Dementsprechend wird der Brieftext im Rahmen einer linguistischen Textpragmatik „als Folge von Sprachhandlungen (Schreibhandlungen) definiert und in konkreten kommunikativen Verwendungszusammenhängen (Situationen) beschrieben, analysiert und interpretiert." (1983a: 303) Ausgehend davon, definiert Langeheine (1983b: 193) nicht den Brief, sondem die Briefkommunikation und kennzeichnet diese „in kommunikativ-pragmatischer Sicht als räumlich und zeitlich getrennte Interaktion in schriftlicher Form zwischen zwei fest bestimmten Kommunikationspartnera (Einzelpersonen oder Institutionen) mit wechselnder Schreiber-/ Leserrolle".
47 Die logische Konsequenz ist die Zuordnung des Merkmals ,Dialogizität' (1983b: 193f.): „Der Dialogizitätsbegriff kann nicht nur auf mündlich konstituierte Kommunikationsformen wie das Gespräch, sondern auch auf schriftlich konstituierte Kommunikationsformen wie den Brief bezogen werden." In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Textsorte Brief von der Rezension, die hier als zweite Textsorte der geschriebenen Sprache untersucht wird. Auf Grund der Zuordnung des dialogischen Charakters verwundert es auch nicht, dass verschiedentlich auf die Nähe des Briefes zu mündlichen Kommunikationsformen hingewiesen wird, wie z.B. durch Härtung (1983: 217): „Briefe haben einen Überschneidungsbereich zu mündlichen Kommunikationsformen: Hinweise, Mitteilungen, Anfragen, Absprache, Rückfragen usw." Darin unterscheidet sich der Brief prinzipiell von anderen geschriebenen Texten. Aus diesem Grund wurde er in der vorliegenden Arbeit der Rezension gegenübergestellt. Ennert (1979: 87) beschreibt als charakteristisch, „daß der Brief als Kommunikationsform für fast alle sprachlichen Formen offen ist." Der Brief ist zwar ein schriftlicher Text, läßt aber auch „sprachliche Strukturen zu, die [...] eigentlich für mündliche Texte typisch smd, wie die temporalen und - noch mehr - die lokalen Kleinraumdeiktika". Wichtig ist die grundlegende Einsicht, dass ,Brief nur der Oberbegriff für verschiedene Kommunikationsformen sein kann. Ennert, der „Briefsorten" als „Textsorten im Bereich der Kommunikationsform Brief definiert (66), stellt in seiner Arbeit Ansätze zu einer Brieftypologie vor. Es handelt sich dabei um ein Merkmalsystem, das helfen kann, Briefsorten näher zu beschreiben, wobei allerdings Brieflypen imd Briefsorten nicht gleichzusetzen sind - die „ausgeführte Brief^'/io/og/e" stellt nur eine „Vorstufe, sozusagen das Rohmaterial für ein noch zu erstellendes Brie&or^ewsystem" dar (195)." Besondere Bedeutung für den Kontext der folgenden Analysen haben Ennerts „Differenzierungskriterien für Briefsorten" (70). Neben den Kriterien Intention, Partnerbezug und Handlungszusammenhang nennt er den Handlungsbereich. Hier unterscheidet er den privaten und offiziellen Handlungsbereich (76), wobei im privaten Handlungsbereich die Kommunikationspartner sich als Privatpersonen gegenübertreten; im offiziellen Handlungsbereich dagegen handelt wenigstens einer der beiden Kommunikationspartner im Dienste einer Institution. Ermert (76f.) unterscheidet weiterhin zwischen „halboffiziellem" und „volloffiziellem" Handlungsbereich, wobei „volloffiziell" bedeutet, dass beide Partner in institutionalisierten und formellen „Rollen" handehi; im „halboffiziellen Handlungsbereich" ist es nur einer - der zweite Briefpartner handelt als Privatperson. Die beschriebenen Unterteilimgen haben Verbreitung gefunden. So hat auch Engel (1988: 173ff.) in sein Kapitel zur Beschreibung einzelner Textsorten den „offiziellen Brief und den „Privatbrief aufgenommen, wobei er bei ersterem zwischen „offiziellem Brief mit privatem Absender" und „offiziellem Brief mit Firma als Absender" unterscheidet. Für eine verstärkte Berücksichtigung auch privater Briefe plädiert Härtung (1983: 225): „Durchaus zu Unrecht finden persönliche Briefe als spezifisch gestaltete Texte eine sehr viel geringere Aufmerksamkeit als institutionell veranlaßte Briefe. Es ist keineswegs so, daß sie weniger normiert als andere Briefe sind." Auf Grund der Vermutung, dass die unterschiedlichen Handlungsbereiche, in denen offizielle und private Briefe entstehen, auch Unterschiede in der sprachstrukturellen Ausfüh" Die Unterscheidung zwischen Brieftypen und Briefsorten entspricht Isenbergs Differenzierung zwischen Texttypen und Textsorten.
48 rung mit sich bringen, wurde diese Unterteilung auch in der vorUegenden Arbeit vorgenommen. Ausgehend von der Annahme, dass sich der Tempusgebrauch in beiden Briefsorten unterscheidet und dass eventuell unterschiedliche Mittel zum Ausdruck von Temporalität eine Rolle spielen, werden hier offizielle und private Briefe zu etwa gleichen Anteilen gegenübergestellt.
1.3.3.4
Rezension
Im Gegensatz zum Brief ist die Rezension eine monologische Textsorte in dem Sinne, dass sie sich nicht an einzelne bestimmte Personen richtet. Eine ausführliche Definition findet sich bei Ziller (1982: 199): „Die Textsorte .Rezension' ist dadurch bestimmt, daß der Gegenstand, der in den Exemplaren dieses Texttyps behandelt wird, immer ein veröffentlichter Text ist. Für diesen Texttyp ist ein Autor verantwortlich, der sich an seine (potentiellen) Leser wendet, und wir können den Rezensenten als einen ,besonderen Leser' einführen, als einen Leser nämlich, dessen Aufgabe es ist, andere Leser des Texts in einem eigenen Text, eben der Rezension, über das Werk zu informieren und gleichzeitig das Werk in verschiedenen Aspekten zu beurteilen. Mh dieser Charakterisierung der situativen Eingebundenheit von Rezensionen sind zugleich auch schon die beiden einfachen Textakttypen genannt, die zunächst für die Textsorte ,Rezension' konstitutiv sind: Es geht in Rezensionen um informieren und beurteilen." Hintze (1989: 132) ordnet der Rezension zwei „invariante Merkmale" zu: J M ,Bezugnahme auf den Inhalt der rezensierten Publikation'/2/, Stellungnahme des Rezensenten zu dieser Publikation'". Sie geht aber davon aus, dass der Rezensent mit diesen Merkmalen relativ frei umgehen kann; dementsprechend gibt es für die wissenschaftliche Rezension keine einheitliche Textstruktur (142). Unumgänglich ist die prinzipielle Unterscheidung zwischen wissenschaftlicher und künstlerischer Rezension. Dallmann (1979: 7 8 f ) beschreibt ausführlich die Unterschiede zwischen beiden Rezensionstypen. Während der Publizist als Kunstrezensent ein sehr heterogenes Publikum durch eine pointierte Zwiesprache mit dem Leser zu gewinnen versucht, bewertet der Rezensent wissenschaftlicher Werke diese für einen engen Kreis von Fachleuten. Dabei folgt er streng den Normen wissenschaftlichen Schreibens, da von einer solchen Darstellung Sachlichkeit, Anschaulichkeit und Logik erwartet werden. Die beschriebenen Eigenschaften haben zur Auswahl der wissenschaftlichen Rezension für die folgenden Korpusanalysen geführt; die wissenschaftliche Rezension soll in ihrer Sachlichkeit und Normiertheit als Gegenstück zum Brief und den Textsorten der gesprochenen Sprache dienen. Es wh-d vermutet, dass sich die Sachlichkeit und Normiertheit auch im Tempusgebrauch widerspiegeh und dass sich der Rezensent bei der Tempuswahl am stärksten an den traditionellen Normen orientiert.
2 Korpusbeschreibung
2.1 Gründe für die Erstellung eigener Korpora
Die Korpusanalysen bilden den Hauptteil der vorliegenden Arbeit; deshalb wurde auf die Zusammenstellung der Korpora besonderer Wert gelegt. Diese erwies sich als schwieriger als zu Beginn erwartet, was vor allem daran lag, dass nicht nur Textbeispiele der geschriebenen Sprache in die Arbeit einfließen sollten - Textsorten der geschriebenen und der gesprochenen Sprache sollten gleichermaßen berücksichtigt werden. Nun kann man unter beliebigen Kriterien geschriebene Texte auswählen; es gibt aber keine Bibliothek der gesprochenen Sprache; nur vereinzelt werden gesprochene Texte gesammelt. Die umfangreichste Sammlung findet sich in Mannheim am Institut für Deutsche Sprache. Auf weitere Korpora stößt man häufig nur zufällig. Eine Bibliographie gesprochener Texte ist mir erst seit 1997 bekannt.' Es ist bezeichnend, dass sie nur eine Seite umfasst - ein Bruchstück von den Möglichkeiten, die sich bei der Zusammenstellung von Korpora der geschriebenen Sprache bieten. Des Weiteren ist auffällig, dass sich auf dieser Seite neben den so genannten Freiburger Korpora nur ein Titel aus den siebziger Jahren findet - alle anderen Transkriptionen stammen aus den Achtzigern und Neunzigern - ein Indiz dafür, wie ,Jung" das Interesse am Dokumentieren und Erforschen gesprochener Sprache ist. Zum Zeitpunkt der Zusammenstellung der Korpora für die folgenden Analysen (1995) war mir neben den Maimheimer/Freiburger Sammlungen nur Ehlich/Redder (1994) bekannt. Keine dieser Textsammlungen erwies sich als geeignet für diese Arbeit. Dafür gab es folgende Gründe: 1 Freiburger Korpus^ Das Freiburger Korpus, das 224 Texte umfasst, ist nach Textsorten geordnet. Dabei werden die unterschiedlichsten Textsorten von Vortrag über Diskussion und Alltagsgespräch bis hin zu Beratung und Dienstleistxmg erfasst. Doch genau darin liegt das Problem für die vorliegende Arbeit: Man hat sich in Freiburg um eine repräsentative Sammlung gesprochener Sprache bemüht; demnach ging es hier eher um eine große Bandbreite an Textsorten als um eine hohe Anzahl der entsprechenden Belegtexte. Damit eine Analyse einzelner Textsorten wirklich repräsentativ ist, ist aber Letzteres erforderlich - eine genaue Beschreibung des Zusammenspiels von Tempus und Temporalität kann z.B. nicht anhand von 18 kurzen Beispieltexten der Textsorte Alltagsgespräch durchgeführt werden. Das zweite, mindestens ebenso schwerwiegende Problem des Freiburger Korpus für die Interessen dieser Arbeit liegt darin, dass es im Zeitraum von 1968 bis 1974 zusammengestellt wurde. Da man davon ausgehen muss, dass gesprochene Sprache einem schnellen
' ^
In Schwitalla (1997: 199). Eine weitere Aufzählung findet sich in Hoffinann (1998: 1 9 f ) . Wurde am Institut für deutsche Sprache, Forschungsstelle Freiburg i.Br., erarbeitet und in vier Bänden in der Reihe „Heutiges Deutsch" veröffentlicht.
50 Entwicklungsprozess unterworfen ist, erweist sich dieses Korpus für eine Arbeit, die Ende der neunziger Jahre geschrieben wird, als nicht aktuell genug. 2 Dialogstrukturenkorpus' Dieses Korpus wurde ebenfalls Ende der 60er/Anfang der 70er erarbeitet. Die Angaben des Informationsmaterials des IDS deuten darauf hin, dass es sich ebenfalls um eine größere Anzahl von Textsorten handelt und nicht um umfangreiches Material zu emer Textsorte. Dieses Korpus liegt nicht in Buchform vor. Auf eine Überprüfiing wurde aus den genannten Gründen verzichtet. 3 Pfeffer-Korpus" Auch dieses Korpus ist keine aktuelle Textsammlung, es wurde Anfang der sechziger Jahre zusammengestellt. Im Gegensatz zum Dialogstruktiu-enkorpus ist es aber in Buchform einsehbar. Dieses Korpus wurde auf einem Hintergrund erstellt, der nicht mit dem der vorliegenden Arbeit vergleichbar ist - es ging offenbar vor allem um Dialektunterschiede. Das hat zur Folge, dass die Texte nicht nach Textsorten oder Themen geordnet sind, sondern nach den Gebieten, aus denen die Interviewten stammen. Verschiedene Dialektgruppen zu berücksichtigen würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Vor allem aber sprach gegen eine Einbeziehung, dass diese Texte „gestellt" sind, d.h., sie wurden speziell für dieses Korpus aufgenommen; ein authentisches Sprachverhalten der Sprecher kann nicht (oder nur zum Teil) vorausgesetzt werden. 4 Ehlich/Redder (1994): Gesprochene Sprache. Transkripte und Tondokumente Auf diesen Band wird - wie auch auf die anderen von Schwitalla angeführten Sammlungen - leider im Informationsmaterial des IDS nicht verwiesen. Im Gegensatz zu den dort verzeichneten Korpora handelt es sich hierbei um eine aktuelle Dokumentation gesprochener Sprache. Es geht Ehlich/Redder vor allem um die Transkription unterschiedlicher Diskursarten (von juristischer Kommunikation über Betriebskommunikation bis hin zu homileischer Kommunikation); das Ziel ist eine Typologie der Diskurse. Das heißt, auch hier sind die Texte nicht nach Kriterien zusammengestellt, die sich mit den Erfordernissen der vorliegenden Arbeit decken.
Erarbeitet im Rahmen des Projektes „Dialogstrukturen" (1974-78) einer Forschungsgruppe am Deutschen Seminar der Universität Freiburg; Bestandteil des Informationsmaterials zu Textkorpora des IDS. Auf dieses Korpus wird ebenfalls im Informationsmaterial des IDS verwiesen.
51 2.2 Vorgehensweise bei der Korpussammlimg
Bei der Korpuszusammenstellung kam es auf ein möglichst ausgewogenes Verhältnis zwischen gesprochener und geschriebener Sprache an. Da zum einen statistisch relevante Ergebnisse erreicht werden sollten und zum anderen die Analyse in mehreren Schritten durchzuführen war, musste ich mich auf wenige Textsorten beschränken. Auf der anderen Seite ging ich davon aus, dass eine einfache Gegentlberstellung geschriebener und gesprochener Sprache ohne Berücksichtigung mehrerer Textsorten nicht zu wirklich aussagekräftigen Schlussfolgerungen führt, weil innerhalb der beiden Register der Sprachgebrauch je nach Kommunikationssituation und Textsorte stark variieren kann. Deshalb habe ich mich für insgesamt vier Textsorten entschieden. Ich wollte aus beiden Registern jeweils eine dialogische und eine monologische Textsorte gegenüberstellen.' Dies geschah in der Hoffnung, Unterschiede nicht nur zwischen den Registern, sondern auch zwischen verschiedenen Textsorten eines Mediums zu finden. Für die Erfassung gesprochener Texte erwies es sich am unkompliziertesten, auf die Medien zurückzugreifen. Ich habe mich für den „Trivial-Talk" entschieden,® weil die emotionale Beteiligung der Talkshowgäste dazu führt, dass sie „Alltagsdeutsch" sprechen; eben dieses gilt es m.E. verstärkt in linguistische Analysen einzubeziehen. Die Fußbaü-live-Reportage bildet ein interessantes Gegenstück zur Talkshow, weil hier nur ein (geschulter) Sprecher vorhanden ist. Die gesprochenen Texte zu computerisieren und bearbeitbar zu machen, war äußerst aufwändig. Da es im Interesse einer statistischen Relevanz der Analysen auf eine hohe Quantität ankam und nicht auf eine genaue Erfassung der Besonderheiten der gesprochenen Sprache, wurde auf eine wissenschaftlich fiindierte Transkription, die sämtliche Geräusche (inklusive Räuspern, Lachen etc.) sowie suprasegmentale Besonderheiten (Intonation, Pausen etc.) erfasst und durch das Partitursystem auch Simultanäußerungen verdeutlicht, verzichtet. Nach Ehlich/Redder (1994) dauert eine solche Transkription für eine Minute gesprochener Sprache ca. 60 Minuten (und dies auch nur bei einem eingearbeiteten Transkribenden). Ein solcher Aufwand war im Rahmen dieser Arbeit weder möglich noch erforderlich, geht es doch bei der Analyse des Tempusgebrauchs und anderer sprachlicher Mittel, die Temporalität ausdrücken, um morphosyntaktische und nicht um phonologische bzw. suprasegmentale Besonderheiten. Die Talkshows und Fußball-live-Reportagen wurden des-
Ich gehe davon aus, dass der Brief eine dialogische Textsorte ist, da es sich um zwei konkrete Kommunikationsteilnehmer handelt. Im gewissen Sinne ist jeder Text dialogisch orientiert, da sich in den meisten Texten Produzenten an Rezipienten wenden (Ausnahmen bilden wenige Textsorten wie z.B. Tagebucheintragungen). Der wesentliche Unterschied zwischen z.B. Brief und Rezension besteht aber darin, dass beim Brief die Kommunikationsteilnehmer einander zumindest namentlich bekannt sind (auch, wenn es nur der Name einer Institution ist; auch hier gibt es Ausnahmen wie z.B. der offene Brief). Aus diesem Grunde erscheint es mir wenig sinnvoll, den Begriff der Dialogizität zu weit zu fassen. Bezeichnung von Fley (1997: 112); siehe Kapitel 1.3.3.2.
52 halb lediglich „abgeschrieben", d.h., die einzelnen geäußerten Worte wurden als solche erfasst.' Es ergaben sich vereinzelt Probleme in der Verstehbarkeit der Texte, die zum einen auf simultanes bzw. stark umgangssprachlich gefärbtes Sprechen in den Talkshows, zum anderen auf Unkenntnis besonders ausländischer Namen in den Fußball-live-Reportagen zurückzuführen sind. In diesen Fällen wurde versucht, wenigstens die Anzahl der nicht verstandenen Wörter zu ermitteln. Auch dies war nicht immer möglich, wenn z.B. in den Talkshows mehrere Sprecher gleichzeitig sprachen. Die gesprochene Sprache himdertprozentig genau zu erfassen, erwies sich trotz mehrmaliger Korrektur und Abhören durch unterschiedliche Personen als unmöglich. Dennoch gehe ich davon aus, dass die erreichte Genauigkeit für die Zwecke meiner Arbeit ausreicht, da es um eine morphosyntaktische Analyse geht und nicht um ein genaues Erfassen sämtlicher Besonderheiten gesprochener Sprache.
2.3 Die Korpora 2.3.1 Korpora der gesprochenen Sprache
1 Fußball-live-Reportage Reportage 1 Reportage 2 Reportage 3 Gesamt
7 117 6 330 5 814 19 261
Wörter Wörter Wörter Wörter
2 Talkshow Talkshow 1 Talkshow 2 Talkshow 3 Talkshow 4 Gesamt
8 102 7 976 7 228 8 040 31 346
Wörter Wörter Wörter Wörter Wörter
Gesamt gespr. Sprache
50 607
Wörter
Bei der Beschreibung von tempuslosen Sätzen in Kapitel S wird sich allerdings zeigen, dass der Wortlaut des Textes allein nicht ausreicht, um Satzgrenzen und temporale Bedeutungen festzulegen. Deshalb wurden die Untersuchungen dieses Kapitels unter Berücksichtigung des Bildkontextes durchgeführt. Diese Vorgehensweise erwies sich allerdings als angemessener als eine detailliertere Transkription - in einer solchen können zwar Sprechpausen und intonatorische Besonderheiten erfasst werden, es ist aber kaum möglich und sinnvoll, den Bildkontext in eine Transkription zu Ubertragen.
53 2.3.2 Korpora der geschriebenen Sprache 1 Brief offizieller Brief privater Brief
15 997 Wörter 17 262 Wörter
Gesamt
33 259 Wörter
Spektrum der Wissenschaft Deutsch als Fremdsprache
15 327 Wörter 15 361 Wörter
Gesamt
30 688 Wörter
Gesamt geschr. Sprache
63 947 Wörter
2 Rezension
Insgesamt wurden 114 554 Wörter erfasst.
3 Textsorten und Tempusgebrauch - gibt es Unterschiede zwischen geschriebener und gesprochener Sprache?
3.1 Tempus - gesprochene und geschriebene W e h ?
Es ist im Rahmen dieser Arbeit bereits mehrfach darauf hingewiesen worden, dass die Tempusforschung sich häufig auf die geschriebene Sprache beschränkt und dass Tempus im gesprochenen Deutsch noch nicht ausreichend erforscht ist - angesichts der Fülle an Beiträgen und Monographien zu Tempus und Temporalität ist die Anzahl an Arbeiten zu Tempus im Gesprochenen sehr gering.' Andererseits beziehen sich Tempusdarstellungen auch selten ausdrücklich auf die geschriebene Sprache.^ Ich gehe davon aus, dass die meisten Autoren, die sich nicht unmittelbar auf eines der beiden Register festlegen, die geschriebene Sprache zum Untersuchungsgegenstand haben. Zu diesem Eindruck komme ich auf Grund der Schlussfolgerungen, die diese Tempusforscher treffen, da sie in der Regel Gesetzmäßigkeiten dieses Mediums beschreiben. Er wird bestärkt durch die Feststellung Schwitallas (1997: 10): „Fast immer denken Sprachwissenschaftler an Geschriebenes, wenn sie von ,der Sprache' reden oder schreiben. [...] Gesprochenes zieht im Vergleich zum Geschriebenen meist den Kürzeren." Betrachtet man einschlägige Grammatiken, so stellt sich die Situation ähnlich dar. Engel (1988: 496) benutzt, wie in 1.2.2.4 zitiert und aufgegriffen, ein Textbeispiel aus Goethes Werther zur Illustration des Unterschieds zwischen Perfekt und Präteritum. Er schlussfolgert daraus: „Die Konkurrenz zwischen Perfekt und Präteritum ist zu allen Zeiten übertrieben worden." In Weinrichs Textgrammatik (1993) fällt auf, dass, trotz des eingangs formulierten Anspruchs „Die beiden Kommunikationskanäle des mündlichen und des schriftlichen Sprachverkehrs [...] in dieser Grammatik gleichrangig" zu berücksichtigen (1993: 17), Textbeispiele aus der Belletristik im Tempuskapitel, das immerhin 57 Seiten umfasst, deutlich überwiegen. (Zehn Textbeispiele der geschriebenen Sprache, von denen nur eines nicht-belletristisch ist, stehen lediglich drei gesprochenen Texten gegenüber.) Man kann sich deshalb des Eindrucks nicht ganz erwehren, Weinrich hätte seine Beispiele sorgföltig zur Illustration seiner Tempustheorie ausgewählt. In dem Teilkapitel „Ein Sonderfall: Erzählen ohne Erzähltempora" (235ff.) kommentiert Weiiu-ich zwei mündliche Textbeispiele, in denen das Perfekt Erzähltempus ist. Er erklärt dies aber durch mundartlichen Gebrauch (Text 1 - süddeutscher Präteritumsschwund) und frühkindlichen Sprachgebrauch (Text 2 Bericht eines achtjährigen (!) Kindes). „Erzählen ohne Erzähltempus" stellt Weinrich somit als Ausnahmefall dar - dass dies in der gesprochenen Sprache im gesamten deutschen Sprachgebrauch üblich ist, wird verschwiegen. Bemerkenswert ist außerdem, dass nicht nur mehrheitlich Beispiele aus der geschriebenen Sprache zitiert, sondern dass daraus auch sogar Rückschlüsse auf das gesamte Sprach-
'
Tempusmonographien, die ausdrücklich überregionale gesprochene Sprache untersuchen, sind m.W. nur Brons-Albert (1982) und Sieberg (1984). Eine regionale Arbeit ist z.B. Gersbach (1982). ^ Wie z.B. Hauser-Suida/Hoppe-Beugel (1972).
55 system gezogen werden, so z. B. in der Duden-Grammatik ("1984, 'l995: 143):^ „Die Tempora bilden als Ganzes ein Gefüge, in dem Präsens und Präteritum wegen der Häufigkeit ihres Vorkommens den Kern darstellen. Man bezeichnet sie deshalb als Haupttempora, die anderen als Nebentempora.'"' Worin nun liegen die Ursachen für ein solches Missverhältais? Diese Frage hat die Gesprochene-Sprache-Forscher immer wieder beschäftigt. Klein (1985a: 13) weist zimächst darauf hin, dass den meisten Sprachwissenschaftlern wahrscheinlich gar nicht bewusst ist, „wie sehr ihr Bild von der Sprache durch ihren Niederschlag in schriftlichen Texten geprägt ist". Dieser Hintergrund wiederum führt dazu, dass Besonderheiten der gesprochenen Sprache „zwangsläufig als Abweichungen von den in der GSCHS vorgefundenen Verhältaissen beschrieben" werden (Fiehler 1994: 176).' Geschriebene Sprache wird höher bewertet als gesprochene Sprache; Fiehler führt als einen der Gründe dafür die schulische Sozialisation an, da in der Schule das Erstellen schriflicher Texte ein deutliches Übergewicht hat und geschriebene Sprache somit das Primat besitzt. Klein (1985a: 14) sieht eine weitere Ursache darin, dass die geschriebene Sprache die „Sprache der Gesetze, der religiösen Zeremonien, der kaiserlichen Botschaften" ist, die gesprochene Sprache dagegen die der „alltäglichen Verrichtungen". Diese Höherbewertang der geschriebenen Sprache hat nun wiederum dazu geführt, dass in der Sprachbetrachtung die geschriebene Sprache lange Zeit als alleiniges Forschungsobjekt angesehen vrarde. Koch/Österreicher (1985: 25) sehen dafür „sprachtheoretische (unhistorische Normfixiertheit, literarisiertes Sprachideal)" sowie „methodologische Gründe (.Flüchtigkeit' gesprochener Äußerungen)". So ist es ungleich schwieriger, gesprochene Sprache zu untersuchen, da man sie zunächst verschriftlichen muss, während geschriebene Sprache uns in unüberschaubarer Fülle zur Verfügung steht. Eine genaue Transkription gesprochener Sprache ist bekanntlich sehr aufwändig und führt nie zu einem hunderprozentigen Ergebnis - weshalb das im deutschen Sprachraum bekannteste Verfahren der Transkription als ,halbinterpretativ' bezeichnet wurde. Außerdem darf dabei auch nicht übersehen werden, dass es vor dem 20. Jahrhundert noch keine Möglichkeiten gab, gesprochene Sprache aufzuzeichnen. Deshalb konnte es vorher nur Andeutungen bezüglich der Unterschiede zwischen gesprochenem und geschriebenem Deutsch geben (z.B. bei Behaghel 1899). Aber auch nach der Einführung des Tonbandes dauerte es noch einige Jahrzehnte, bis man sich der Erfassung und Beschreibung gesprochener Sprache zuwandte. Ein Grund hierfür wird mehrfach in der Dominanz des Chomskyschen Strukturalismus in der Linguistik gesehen, so z.B. bei Biber (1988: 7): „[...] speech is regarded as unsystematic and not representative of the true linguistic structare of a language. This view is especially prominent within the generative-transformalist paradigm [...]". Auswirkungen auf die Beschreibung der deutschen Tempora ergaben sich m.E. hauptsächlich aus dem durch die Schriftsprache geprägten Normverständnis. Das Ausgehen von Der Verweis auf zwei Auflagen des Duden soll hier andeuten, dass das Tempuskapitel bei der Überarbeitung der Dudengrammatik keine Veränderung erfahren hat. Im Weiteren wird hier zwar erklärt, dass man auf Grund der Auswertung geschriebener Texte aus den Mannheimer Korpora zu diesem Ergebnis gekommen ist; aber dieser Satz steht erst einmal in dieser Form da. Auch die Frage, ob es überhaupt angemessen ist, aus ausschließlich geschriebenen Texten solche Schlussfolgerungen zu ziehen, bleibt dabei unberührt. Meine Verärgerung über Darstellungen dieser Art war einer der Anlässe für das Entstehen der vorliegenden Arbeit. GSCHS = geschriebene Sprache. GSPS = gesprochene Sprache.
56 schriftsprachlichen Normen filhrt dazu, dass sprachliche Erscheinungen, die hauptsächlich in der Umgangssprache üblich sind, als Normverstoß empfunden und bezeichnet werden. So urteilen Hoberg/Hoberg im „Kleinen Duden" (1988: 188) über das Perfekt II: „In der Umgangssprache und in Mundarten werden zuweilen Perfektformen mit zusätzlichem Gehalt verwendet. Dieses ,doppelte Perfekt', das meist als Ersatz für das Plusquamperfekt steht, ist nicht korrekt." Die negative Wertung wird durch ein Warndreieck unterstrichen. Auch Weinrich (1993: 238) bezeichnet das doppelte Perfekt als „nicht normgerecht". Eine solche Darstellung suggeriert zum einen, dass Sprachnormen sich an der geschriebenen Sprache orientieren, und zum anderen, dass eine Grammatik eben deshalb Beispiele geschriebener Sprache bevorzugt, weil diese „korrektes Deutsch" ist. Sandig (1976: 94) schlussfolgert: „Von der Warte schriftsprachlicher Norm aus wird spontan gesprochene Sprache abgewertet." Für die „Salonfähigkeit" gesprochener Sprache muss demnach weiterhin gearbeitet werden. Einen wesentlichen Beitrag dazu dürfte Schwitalla mit seiner Einführung in gesprochenes Deutsch (1997) geleistet haben. Mit seinem Buch, das als Plädoyer für dieses Medium aufgefasst werden kann, will Schwitalla dem Leser die gesprochene Sprache näher bringen, ihn an seiner Begeisterung teilhaben lassen: „In 30 Jahren linguistischer Erforschung der gesprochenen Sprache wurden so viele, zunächst erstaunliche, inzwischen aber verallgemeinerbare Erkenntnisse gewonnen, daß wir heute ein genaueres Bild, nicht nur von den sprechsprachlichen Phänomenen, sondern von mündlicher Kommunikation überhaupt haben. Vieles, was anfangs als überflüssig und als verwirrend angesehen wurde, hat eine präzis zu beschreibende kommunikative Funktion. Alhagssprache ist nur so stereotyp und formelhaft wie ihre Sprecher. Beim genauen Hinhören steckt sie voller Überraschungen. Sie ist voller Lebendigkeit und Geschmeidigkeit, hat zuweilen Witz und ästhetische Reize" (11).
Angesichts der skizzierten Normprobleme wird es schwer sein, die „ästhetischen Reize" der gesprochenen Sprache als solche zu etablieren. Ein weiterer Grund für die Skepsis, die gesprochener Sprache als Beschreibungsgegenstand entgegengebracht wird, könnte die ungenügende wissenschaftliche Beschreibung dieses Mediums sein. Schwitalla, der in seinem Schlusswort (194f) verschiedene Forschungsdesiderate nennt, betont mehrfach das Defizit im morphosyntaktischen Bereich: „Eine großangelegte empirische Analyse syntaktischer Kategorien, in der mehrere vergleichbare Textsorten aus dem mündlichen und schriftlichen Bereich einbezogen werden, steht aber noch aus." In diesem Sinne möchte die vorliegende Arbeit einen Beitrag zur Erforschung des gesprochenen Deutsch leisten. Bevor mit den Korpusauswertungen begonnen werden kann, scheint es aber unumgänglich, die Frage nach wesentlichen Unterschieden zwischen gesprochener und geschriebener Sprache aufzugreifen.
57 3.2 Zur prinzipiellen Unterscheidbarkeit gesprochener und geschriebener Sprache - bilden »gesprochene Sprache' und .geschriebene Sprache' eigene Sprachvarietäten?®
Schon Behaghel (1899: 13) hat festgestellt, dass zwischen gesprochener und geschriebener Sprache gravierende Unterschiede bestehen: „Da zeigt denn schon ein fltlchtiger Blick, daß zwischen den Voraussetzungen für das geschriebene Wort und denen für das gesprochene Wort tiefgreifende Unterschiede bestehen. Das eine hat auf das Auge zu wirken, das andere auf das Ohr; und so sind schon die Mittel andere, über die beide gebieten." Dennoch hat es, wie bereits angedeutet, noch einige Jahrzehnte gedauert, bis man begonnen hat, der Frage nachzugehen, wie diese Unterschiede zu beschreiben sind. Berücksichtigt man diese vergleichsweise junge Forschungsgeschichte, so verwundert es kaum, dass es noch Defizite in diesem Bereich gibt. Fiehler (1994: 180), der die Meinung vertritt, für die Beschreibung der gesprochenen Sprache müsse ein „eigenständiges, phänomenangemessenes Kategoriensystem" erarbeitet werden, hält dies im Moment noch nicht für möglich: „Angesichts der Zeit, seit der eine systematische Analyse der GSPS erst möglich ist, ist dieser Entwicklungsstand nicht vervmnderlich, zumal wenn man sich den Zeitraum vor Augen stellt, m dem das Kategoriensystem zur Analyse OSCHS bis zu seinem heutigen Stand entwickelt wurde." Dementsprechend darf die Frage, ob es ein System der geschriebenen und eines der gesprochenen Sprache gibt, auch noch nicht als beantwortet angesehen werden.' Wichtig ist dabei Kleins (1985a: 11) Hinweis darauf, dass diese Frage prinzipiell einzelsprachlich diskutiert werden sollte. Koch/Österreicher (1985: 27) präzisieren, indem sie von „universalen Merkmalen der Sprache der Nähe (gesprochen)" sprechen (das wären z.B. im morphosyntaktischen Bereich Nachträge, Anakoluthe, sparsamer Umgang mit der Hypotaxe) und diesen jene Erscheinungen der gesprochenen Sprache gegenüberstellen, „denen in der jeweiligen Einzelsprache lediglich der Status historischer Kontingenz zukommt, die also allein in der Perspektive der individuellen Sprachgeschichten begriffen werden können". Das bedeutet, dass hier nur für das Deutsche diskutiert werden kann, ob die Unterschiede zwischen gesprochener und geschriebener Sprache, die über die von Koch/Österreicher beschriebenen universalen Merkmale hinausgehen, eine hinreichende Begründung dafür bieten, von zwei Sprachsystemen auszugehen. Klein (1985a: 27f) beurteilt die Frage, ob „die Syntax des gesprochenen Deutsch und die Syntax des geschriebenen Deutsch zwei verschiedene sprachliche Systeme darstellen", als in dieser Form zu allgemein - es kann nicht die Syntax des gesprochenen Deutsch geben, da es nicht das gesprochene Deutsch gibt. Deshalb schlussfolgert er:
Dies ist der Titel eines Beitrags von Steger (1987). Zu verschiedenen Hypothesen zu dieser „Systemdebatte" vgl. Ratii (1994: 384f.).
58 „Sinnvoll ist es allemal zu fragen, ob es Fälle mündlicher Kommunikation gibt, die in ihrer Syntax von der Schriftsprache - einmal unterstellt, diese sei syntaktisch einheitlich - so sehr abweichen, daß man von einem eigenen System reden würde. [...] Die Unterschiede können verschieden groß sein, und die Frage ist, wie groß sie sein müssen, damit man von ,zwei Systemen' statt ,einem System mit kleinen Varianten' reden kann. Das ist eine Frage, die sich nicht ohne Willkür beantworten läßt: die Übergänge sind kontinuierlich, und die Entscheidung ist eine Frage des Geschmacks oder der Ideologie. Keine Frage ist jedoch, daß es zwischen manchen Fällen gesprochener und geschriebener Sprache strukturelle Unterschiede gibt, die nicht nur auf „Performanzebene" liegen, sondern das zugrundeliegende System - oder die zugrundeliegenden Systeme - betreffen."
Steger (1987: 57) sieht diese Unterschiede als „Typisierungen auf der Ebene der Situationen und Texte" an, die „damit Stil" seien. Einleuchtend ist seine Begrtlndung (56f.) durch die Verfügbarkeit der Mittel eines Mediums für das jeweils andere - wenn eine Struktur, die sich in einem Medium ausgebildet hat, prinzipiell auch verfügbar für das andere Medium wird, so bedeutet dies, dass es kerne eigenen Sprachvarietäten ,gesprochene Sprache' vs. .geschriebene Sprache' gibt. Wenn auch die beiden Register ,gesprochen' und .geschrieben' nach Steger keine eigenen Sprachvarietäten bilden, so bleibt dennoch zu fragen, ob nicht - wegen der schon von Behaghel formulierten Unterschiede zwischen gesprochener und geschriebener Sprache - „für einzelne Beschreibungsebenen der gesprochenen Sprache ein von der geschriebenen Sprache unterschiedliches System angesetzt werden muß." (Schank/Schoenthal ^1983: 57) Ob dies für die Tempora zutrifft, soll anhand der folgenden Korpusanalysen diskutiert werden. Dabei ergibt sich allerdings die Frage, inwiefern man aus einzehien Texten/Textsorten allgemeine Rückschlüsse auf das jeweilige Register ziehen kann, bzw. wie gesprochene und geschriebene Sprache überhaupt voneinander abzugrenzen sind. Um es etwas anders zu formulieren: Nicht alles, was mündlich realisiert wird, ist typisch gesprochen und nicht alles, was aufgeschrieben wird, enthält Merkmale der Schriftsprache. Diesem Problem ist durch verschiedene Ansätze begegnet worden. In der Regel wird von einer Definition der gesprochenen Sprache ausgegangen, die diese mit dem Kriterium der Spontaneität von solchen Äußerungen abgrenzen, die in ihren Formulierungen bereits geplant waren.' Koch/Österreicher (1985: 19) begegnen diesem Abgrenzungsproblem, indem sie ein konzeptionelles Kontinuum annehmen, das sich zwischen den Polen .geschrieben' und ,gesprochen' bewegt. Dieses Kontinuum ist keineswegs linear, sondern ein mehrdimensionaler Raum. Die beiden Pole werden folgendermaßen charakterisiert: „Die Kombination ,Dialog', ,freier Sprecherwechsel', ,Vertrautheit der Partner', Jace-to-faceInteraktion', ,freie Themenentwicklung', ,keine Öffentlichkeit', .Spontaneität', ,starkes Beteiligtsein', ,Situationsverschränkung' etc. charakterisiert den Pol .gesprochen'. Die ihm entsprechende Kommunikationsform läßt sich am besten auf den Begriff Sprache der Nähe bringen. Analog charakterisiert die Kombination von .Monolog', .kein Sprecherwechsel'. .Fremdheit der Partner', ,räumliche und zeitliche Trennung', ,festes Thema', ,völlige Öffentlichkeit', .Reflektiertheit', ,geringes Beteiligtsein', ,Situationsentbindung' etc. den Pol ,geschrieben'. Die ihm entsprechende Kommunikationsform definieren wir als Sprache der Distanz." (21)'
Mit der Charakterisierung der Sprache der Nähe und der Sprache der Distanz als Pole, zwischen denen es etliche Zwischenformen gibt, und mit der darüber hinausgehenden Einsicht, dass eine Transposition vom graphischen in den phonischen Kode und umgekehrt prinzipi-
Vgl. dazu Schank/Schoenthal (^1983: 7) und Schwitalla(1997: 16). Kaiser (1996) diskutiert Möglichkeiten der Anwendung dieses Konzepts für den DaF-Unterricht.
59 eil immer möglich ist, wird die die prinzipielle Unterscheidbarkeit zwischen gesprochener und geschriebener Sprache erheblich eingeschränkt. Dies ist auch ein Ergebnis der Studien von Biber (1986, 1988),'° der das Dilemma bisheriger Forschungen zu Unterschieden zwischen gesprochener und geschriebener Sprache darin sieht, dass in der Regel nur ein Textexemplar aus beiden Registern ausgewählt und nur aus einer Perspektive (eindimensional) verglichen wurde. (1986: 385f.)" Dies fllhrte zu widersprüchlichen Ergebnissen, „[...] because the text types chosen were to similar or too different; because the linguistic features chosen belonged to different textual dimensions; and because researchers relied on inadequate analytical techniques." (1986: 409) Biber (1988:24) schlussfolgert deshalb, dass die Frage „[...] is there a linguistic dimension of cooccuring features that distinguishes between spoken and written texts?" nur beantwortet werden kann, wenn man mehrere linguistische Dimensionen in möglichst vielen Texten berücksichtigt. Deshalb untersucht Biber in seiner Studie von 1986 41 linguistische Merkmale (1988 sind es 67), die auf der Grundlage bisheriger Forschungen zusammengestellt wurden. Diese linguistischen Merkmale werden, wenn sie häufig in Texten gemeinsam auftreten, zusammengefasst. Daraus ergeben sich die nun im Mittelpimkt stehenden „textual dimensions".'^ Diese werden definiert als „bimdles of linguistic features that co-occur in texts" (1988: 55). Das Ergebnis der Studie wird bereits in der Einleitung vorweggenommen (1988: 24): „It shows that the Variation among texts within speech and writing is often as great as the Variation across the two modes. No absolute spoken/written distinction is identified in the study." Damit wird eigentlich der Sinn einer vergleichenden Untersuchung geschriebener und gesprochener Sprache prinzipiell in Frage gestellt. So räumt Biber am Ende ein (1988: 200): .Although this study began as an investigation of speech and writing, the final analysis presents an overall description of the relations among texts in English". Nicht gesprochene und geschriebene Sprache können verglichen werden, sondern nur einzelne Textsorten. Angesichts der Ergebnisse dieser gründlichen Untersuchung muss man sich fragen, ob man überhaupt von einer Vergleichbarkeit geschriebener und gesprochener Sprache ausgehen kann, und ob es sinnvoll ist, sich ein solches Ziel zu stellen. Wenn in dieser Arbeit nun dennoch gesprochene und geschriebene Sprache gegenübergestellt werden, so hat das folgende Gründe: 1. Bibers 67 linguistische Merkmale sind ein Konglomerat aus bisherigen Forschungsschwerpunkten - hätten die Forscher andere Schwerpunkte gesetzt, so wären es andere Auch wenn hier bewusst vorrangig auf das Deutsche bezogene Ansätze berücksichtigt werden, weil es in dieser Arbeit um einzelsprachliche und nicht universale Unterschiede zwischen geschriebener und gesprochener Sprache geht, soll hier auf Bibers Ansatz eingegangen werden, da er wichtige Impulse für textvergleichende Analysen gibt. Biber bezieht sich damit auf die Forschung zum Englischen. Auch für das Deutsche lassen sich methodische Inkonsequenzen feststellen. So kritisiert z.B. Rath (1994: 385) an frühen kontrastiven Untersuchungen (wie z.B. Höhne-Leska 1975), dass die gesprochene Sprache zunächst von Fehlem gereinigt und erst anschließend mit der geschriebenen verglichen wurde. 1986 sind diese: ,Interactive vs. Edited Text'; ,Abstract vs. Situated .Content' und ,Reported vs. Immediate Style'. 1988 wurde der Ansatz erweitert und es wurden weitere linguistische Merkmale einbezogen. Es ergeben sich nun sechs Dimensionen: ,Involved vs. Informational Production', .Narrative vs. Non-Narrative Concems', .Explicit vs. Situation-Dependent Reference', ,Overt Expression ofPersuasion', .Abstract vs. Non-Abstract Information' sowie ,On-Line Informational Elaboration'.
60 Merkmale gewesen. Deshalb ist kritisch zu hinterfragen, ob diese nun wirklich die optimalen Merkmale zur Überprüfimg der Ausgangsfrage sind. Fraglich scheint mir dabei auch, wie man überhaupt die wichtigsten linguistischen Merkmale einer möglichst umfangreichen und repräsentativen Anzahl an Textsorten ermitteln will." Wenn man nun ähnlich wie Biber die zu untersuchenden linguistischen Merkmale filr das Deutsche aus der bisherigen Forschungsliteratur heraussuchen würde, so wäre es wahrscheinlich, dass man zu völlig anderen Ergebnissen käme, weil die Forscher andere Bereiche interessiert h a b e n . D i e Wichtigkeit von Bibers Studien soll damit keineswegs angezweifelt werden. Mit dem Infragestellen, ob die linguistischen Merkmale wirklich in ausreichendem Maße objektiv und repräsentativ sind, soll lediglich begründet werden, dass hier trotz der Kenntnis von Bibers Einwänden von einer Vergleichbarkeit gesprochener und geschriebener Sprache ausgegangen wird. 2. Es wäre sicher illusorisch, alle Textsorten eindeutig einem der beiden Register zuordnen zu wollen. Eine solche prinzipielle Unterscheidbarkeit von gesprochener und geschriebener Sprache in dem Süme, dass alle Textsorten entweder dem einen oder anderen Register zuzuordnen seien oder dass linguistische Merkmale entweder Merkmale des einen oder anderen Mediums wären, gibt es nicht. Deshalb scheint es mir eher sinnvoll, die von Koch/Österreicher (1985: 23) beschriebenen Pole zu charakterisieren. Dazu sollte man Textsorten auswählen, die sich dem jeweiligen Medium gegenüber neutral verhalten, die also entweder die Merkmale der von Koch/Österreicher beschriebenen Nähekommimikation oder der Distanzkommunikation aufweisen. Textsorten, die im Zwischenbereich liegen, kämen für eine solche Merkmalsbestimmung nicht in Frage." Dieser Zwischenbereich kann dann aber anhand dieser Kriterien überprüft werden, um zu ermitteln, welchem Pol solche strittigen Textsorten näher stehen. 3. Prinzipielle Unterschiede zwischen mündlicher und schriftlicher Kommunikation sind verschiedentlich in einleuchtender Weise beschrieben worden, z.B. bei Klein (1985a: 15), der die wichtigsten Unterschiede im Medium, im Grad der Situationsgebundenheit, in der Verarbeitungszeit und im Grad der Normierung sieht. Biber (1988: 72) räumt dazu ein: „Not a priori commitment is made conceming the importance of an individual linguistic feature er the validity of a previous functional Interpretation during the selection of features. Rather, the goal is to include the widest possible ränge of potentially important linguistic features." Hier muss zunächst darauf hingewiesen werden, dass eine solche Untersuchung zum Deutschen zur Zeit noch nicht möglich ist, da es noch keine computerisierte Datenbank der gesprochenen Sprache gibt - am IDS wird zur Zeit noch an einer solchen gearbeitet. Biber betont, dass seine Untersuchung nur möglich war, weil solche Korpora zur Verfügung standen. Was die Auswahl der linguistischen Merkmale für das Deutsche anbelangt, so müsste eines z.B. das Vorhandensein von Partikeln sein, da dies der Bereich der Grammatik der gesprochenen Sprache ist, zu dem bisher am meisten geforscht wurde (zu diesem Ergebnis kommt man, wenn man in Hoffmanns Studienbibliographie 1998 die Einträge zu den einzelnen Themen zählt). Das Vorhandensein von Partikeln wird also offenbar in der Forschung zur gesprochenen Sprache im deutschen Sprachraum als Merkmal dieses Registers schlechthin verstanden. Die Fußball-live-Reportage und der Brief sind solche Textsorten, die Merkmale beider Kommunikationsformen aufweisen. Sie wurden für die vorliegende Arbeit ausgesucht, da es hier nicht nur um prinzipielle Unterschiede zwischen gesprochener und geschriebener Sprache ging, sondern gerade auch darum, zu zeigen, dass die Übergänge zwischen beiden Registern fließend sind. Will man die beiden Pole gegenüberstellen, so könnte man aus den hier untersuchten Textsorten nur die Talkshow und die Rezension auswählen.
61 4. Der für das Entstehen der vorliegenden Arbeit entscheidende Grund für die bewusste Beschäftigung mit gesprochener Sprache ist, dass bei der Auseinandersetzung mit dem hier behandelten Thema bisher die geschriebene Sprache im Mittelpunkt stand. Wenn nun hier also trotz verschiedener Einwände gesprochene und geschriebene Sprache gegenübergestellt werden, so geschieht dies, um darauf aufmerksam zu machen, dass es nicht ausreicht, eine sprachliche Erscheinung lediglich aus dem Blickwinkel des Geschriebenen zu betrachten. Es geht hier um eine differenziertere Beschreibung eines viel diskutierten Phänomens, ohne dass dabei der Anspruch erhoben wird, damit nun den entscheidenden Beitrag zur Unterscheidung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit zu leisten.
3.3
Hypothesen
Den ersten Schritt in den Korpusanalysen dieser Arbeit bildet eine statistische Auswertung des gesamten vorliegenden Textmaterials. Dabei werden zunächst nur die Tempusformen, nicht ihre Bedeutungen, ausgezählt.'' Mit Hilfe der Ergebnisse werden die bereits angesprochenen Fragen nach der Unterscheidbarkeit zwischen gesprochener und geschriebener Sprache diskutiert, die in den folgenden Hypothesen zusammengefasst sind. Hypothese 1 Der Tempusgebrauch in gesprochener und geschriebener Sprache ist unterschiedlich. Hypothese 2 Im Bezug auf das Tempussystem bilden „gesprochene" und „geschriebene" Sprache eigene Sprachvarietäten, d.h., es gibt ein Tempussystem der geschriebenen und eines der gesprochenen Sprache. Hypothese 3 ^^ Präsens und Präteritum sind nicht die „Haupttempora".
Dies geschieht aus verschiedenen Gründen: Zunächst einnial geht es hier um rein statistisches Zahlenmaterial, das Textsortenunterschiede und Unterschiede zwischen gesprochener und geschriebener Sprache dokumentieren soll. Gegen eine Auszählung von Tempusbedeutungen muss hier vor allem die Praktikabilität angeführt werden: Es sollten möglichst große Korpora ausgewertet werden, um statistisch relevante Ergebnisse zu erzielen. Eine Berücksichtigung von Bedeutungsvarianten hätte deshalb zu weit geführt. Ein weiterer Grund liegt darin, dass es m.E. nicht immer möglich ist, Bedeumngsvarianten zu ermitteln. Zum Beispiel wäre es interessant, zu sehen, wie es um die Verteilung der beiden wichtigsten Perfektvarianten (als reines Vergangenheitstempus und als relatives/besprechendes Tempus) steht. Meines Erachtens lässt sich dies aber, gerade im Bereich des Gesprochenen, nicht immer strikt trennen - wo hört Erzählen auf und fängt Besprechen an? Eine Darstellung der Tempusbedeutungen in zwei Textsorten (Talkshow und privater Brief) erfolgt in Kapitel 6.2. Bezeichnung im Duden, siehe oben. Der Begriff „Haupttempora" wird hier und im Weiteren rein quantitativ verstanden; d.h., es wird keine Wertung im Sinne von wichtigen und weniger wichtigen Tempusformen vorgenommen.
62 Hypothese 4 Perfekt und Präteritum sind in der gesprochenen Sprache beliebig austauschbar.
3.4 Ergebnisse der Korpusanalysen 3.4.1 Fußball-live-Reportage Präsens Präteritum Perfekt Plusquamperfekt Futur I Futur II Modales Perfekt
1 095 246 244 24 59 4 4
Gesamt
1 676
65,30 14,70 14,60 1,40 3,50 0,24 0,24
% % % % % % %
8,70 %
Tabelle 1: Tempusformen aller Verben in Fußball-live-Reportagen"
Es handelt sich hierbei um drei Ganzreportagen des Femsehens aus dem Jahr 1996. Auffällig ist in der Fußball-live-Reportage - besonders im Vergleich zur Talkshow - der niedrige Anteil an „reinen" Tempusformen (d.h. fmiten Verbformen im Indikativ Aktiv) im Vergleich zur Gesamtwortzahl, welcher auf das häufige Auftreten elliptischer Satzformen zurückzufuhren ist. Deshalb wird in Kapitel 5 der Frage nachgegangen, wie Temporalität in diesen Sätzen realisiert wird. Bereits hier wird deutlich, dass das Präsens eindeutig gegenüber den anderen Tempusformen überwiegt. Man kann also, bezogen auf diese Textsorte, durchaus das Präsens als Haupttempus bezeichnen, nicht aber Präsens und Präteritum. Präteritum und Perfekt treten in der Fußball-live-Reportage zu ca. gleichen Anteilen auf, wobei das allerdings von den einzelnen Sprechern abhängt: In den untersuchten drei Fußball-live-Reportagen überwiegt in zwei Reportagen das Präteritum gegenüber dem Perfekt (eiimial mit 15,5 gegenüber 11,8 % und einmal mit 16,7 gegenüber 14,6 %) und in einer das Perfekt gegenüber dem Präteritum, was hier allerdings fünf Prozent ausmacht - 17,2% Perfektformen stehen 12,5 % Präteritumformen gegenüber. Für die Abhängigkeit des Tempusgebrauchs vom Sprecher spricht auch ein Vergleich der hier vorliegenden Ergebnisse mit denen von Brandt und Quentin (Brandt 1983: 82, 208; Quentin 1989: 83). In den von ihnen untersuchten Ganzreportagen überwiegt das Perfekt im Allgemeinen um ca. 5 %, wobei leider nicht zu ersehen war, ob die Modalverben und haben und sein als Hilfsverben in die Auszählung mit einbezogen wurden. Das soll nicht heißen, dass die Wahl eines Perfekts oder Präteritums nur vom Sprecher abhängt - natürlich gibt es, wie in 1.2.2.4 diskutiert wurde und wie sich auch im Weiteren zeigen wird, auch andere Bedingungen, die den Gebrauch dieser
" Die angegebenen Prozentzahlen bei der Gesamtsumme der Tempusformen beschreiben das Verhältnis der Anzahl der Tempusformen (Indikativ Aktiv) zur Anzahl der Wörter.
63 beiden Vergangenheitstempora determinieren. Allerdings haben Sprecher im Bereich der Überschneidungen, d.h., wenn keine Restriktionen bezüglich des Perfekts- oder Präteritumgebrauchs vorliegen, die Möglichkeit, zwischen diesen beiden Tempora zu wählen. Der Unterschied zwischen Perfekt und Präteritum kam in diesen Fällen stilistischer Art sein. Bei dem fast gleichen Anteil an Perfekt- und Präteritumformen der hier vorliegenden Untersuchung sind zwei Aspekte zu beachten: 1. Dieses Ergebnis schließt alle nichtpassivischen und nichtkonjunktivischen Verbalkomplexe ein. Bei einer Auszählung ohne die grundsätzlich zu Präteritumgebrauch neigenden Modalverben und haben und sein verschiebt sich das Ergebnis folgendermaßen:" Präsens Präteritum Perfekt Plusquamperfekt Futur I Futuril
685 117 229 24 50 3
61,80% 10,56 % 20,67 % 2,16% 4,51 % 0,27 %
Tabelle 2: Tempusformen aller Verben außer haben/sein/ Modalverben in Fußball-live-Reportagen
Da die Modalverben und haben und sein in der Mehrzahl der Fälle im Präteritum gebraucht werden (129:15), bietet sich eine solche getrennte Auszählung an, gibt sie doch ein realistischeres Bild vom Tempusgebrauch aller anderen Verben. Zählt man also nur die Verben, die nicht aus morphosyntaktischen Gründen zu Präteritumgebrauch neigen,^" so verschiebt sich das Ergebnis drastisch, indem das Perfekt doppelt so häufig auftritt wie das Präteritum. 2. Für eine Dominanz des Perfekts (obwohl die Zahlen in Tabelle 1 zunächst nicht darauf hingedeutet hatten) spricht außerdem das häufige Auftreten von Perfektellipsen, die hier bei der Auszählung nicht mit einbezogen wurden - im Gesamtkorpus treten immerhin 99 Ellipsen auf, die nur ein Partizip II enthalten und kein Hilfsverb.^' Interessant ist eine Erscheinung, die in Tabelle 1 als ,modales Perfekt' eingeordnet wurde: (1) Otto Rehagel, aus der Formation, die am Samstag 4:2 gegen die 60er Lokal Derby gewann, hat er nur einen einzigen herausnehmen müssen, [...] Hat lange pausieren müssen in dieser Saison, [...]
Bei Heibig/Buscha ('^1994: 137f) wird diese Kombination einer finiten Form von haben, eines Modalverbinfinitivs und eines weiteren Infmitivs parallel zur Perfektbildung der Mo19 Zu Präteritum bei haben und sein und den Modalverben siehe A.Buscha (1981:131f).
20
Die morphosyntaktischen Gründe, die bei diesen Verben zu Präteritumgebrauch führen, sind folgende: 1. In Bezug auf haben und sein: Bei der Perfektbildung ist das Auxiliar das gleiche Verb wie das Vollverb. 2. In Bezug auf die Modalverben in Verbindung mit einem Infinitiv: Diese Struktur ist bereits mehrgliedrig; eine Perfektform zur Realisierung der lUr die deutsche Sprache typischen Satzklammer wird nicht benötigt. Vgl. dazu die Ausführungen zu Sieberg (1984); hier zitiert in Kapitel 1.2.2.3. Zur genaueren Beschreibung vgl. Kapitel 5.4.3.3.
64 dalverben unter der Überschrift „Vergangenheit mit haben"' erfasst, ohne auf die Besonderheiten gegenüber dem Gebrauch von Modalverben als Vollverben, bei dem sie das Perfekt mit einem regulären Partizip II bilden, einzugehen. Ebenso bei Götze/Hess-Lüttich (1989: 50): „Die Formen von Perfekt oder Plusquamperfekt als Ausdruck vergangenen Geschehens werden mit haben gebildet: - bei allen modalen Hilfsverben (2) Sie hat die Arbeit machen müssen. (3) Sie hat das nicht gewollt." Die dreigliedrige Form mit müssen wird hier gleichrangig mit einer Perfektform mit Partizip II genannt. Der entscheidende Unterschied zwischen beiden Beispielen ist, dass in (3) wollen ein Vollverb, müssen in (2) dagegen modales Hilfsverb ist. Festzuhalten ist hier, dass das Partizip II bei Modalverben als Hilfsverben durch den Infinitiv ersetzt wird. Engel/Tertel (1993: 76) bezeichnen den modalen Infinitiv als Partizip: „Die Modalverben brauchen, dürfen, können, mögen, müssen, sollen, wollen haben ein Partizip II, das mit dem Infinitiv formgleich ist: (4) Das hat er nicht herausnehmen können." Sie räumen selbst ein: „Werden diese Verben jedoch ohne Infinitiv, also als Hauptverben, verwendet, so hat ihr Partizip II ,normale' Form: (5) Das hat er nicht gekonnt." (ebd.) Die Folge dieses Herangehens ist die Aimahme, die Modalverben hätten zwei verschiedene Partizipien. Die formalen Unterschiede von Sie hat die Arbeit machen müssen gegenüber Sie hat das nicht gewollt sollten m.E. in einer Grammatik genauer beschrieben werden. Sie hat die Arbeit machen müssen ist trotzdem im Bereich des Perfekts richtig eingeordnet. Auch wenn das perfektübliche Partizip fehlt, so sprechen zwei Faktoren filr die Ansiedlung im Perfektbereich: 1. Das Vorhandensein des Hilfsverbs haben 2. Die Bedeutung Ereigniszeit vor Referenzzeit gleich Sprechzeit. Dagegen ist die Bedeutung Ereigniszeit vor Referenzzeit nach Sprechzeit, die eine Bedeutungsvariante des Perfekt darstellt, nicht möglich; auch das spricht gegen eine völlige Gleichstellung mit dem Perfekt. Da diese Möglichkeit und das Partizip II fehlen - also Unterschiede gegenüber einem regulären Perfekt vorliegen, die Konstruktion jedoch trotzdem „perfektnah" ist, habe ich mich zur Bezeichnung ,modales Perfekt' entschlossen. Gegen die Annahme einer eigenständigen Tempusform spricht, dass sich die diskutierte Konstruktion auf die Modalverben beschränkt. Deshalb bietet sich - in Anlehnimg an das Perfekt, aber bei Andeutung des formalen Unterschieds - eine Bezeichnung .modales Perfekt' an. In diesem Sinne ist die Darstellung in der einzigen mir bekannten Grammatik (Genzmer 1995: 109), die das Perfekt der Modalverben als Einzelphänomen beschreibt, zu sehen: „Das Perfekt der Modalverben bildet man mit einer Form von haben. Darauf erscheinen beide in der Reihenfolge Vollverb Modalverb im Infinitiv. Haben und der Infinitiv des Modalverbs bilden eine Satzklammer.
65 (6) Sie haben seit gestern nicht mehr im Paradies bleiben können. (7) Beim Verlassen haben sie am grausen Erzengel vorbeigehen müssen.'^
Vor allem für die Belange von Deutsch als Fremdsprache ist eine differenzierte Beschreibung des modalen Perfekts wünschenswert.
3.4.2 Talkshow Präsens Präteritum Perfekt Plusquamperfekt Futur I Futuril Perfekt II Modales Perfekt
2 304 765 971 24 44 1 8 8
55,90 % 18,60% 23,60 % 0,58 % 1,07 % 0,02 % 0,19 % 0,19 %
Gesamt
4 125
13,10 %
Tabelle 3: Tempusformen aller Verben in Talkshows
Untersucht wurden vier thematische Nachmittags-Talkshows („Trivial-Talk"). Die Gesprächsteilnehmer aus allen sozialen Schichten sind persönlich betroffen. Da sie emotional beteiligt sind, kann man davon ausgehen, dass ihr Sprachverhalten nicht maßgeblich durch die Präsenz im Femsehen geprägt ist. Zum Teil ist zwar ein Bemühen um stilistisch hochwertiges Deutsch zu beobachten; dies wird aber dadurch, dass die Gäste persönliche Schicksale oder Meinungen zur Sprache bringen, während die Moderatoren sich um eine salopp-familiäre Atmosphäre bemühen, relativiert. Deshalb handelt es sich um eine Textsorte, in der trotz der medialen Öffentlichkeit Umgangssprache gesprochen wird. Man kann deshalb in diesem Ergebnis die Dominanz des Perfekts gegenüber dem Präteritum in der Umgangssprache bestätigt sehen. In der Umgangssprache wird das Perfekt auch als Erzähltempus verwendet, wie das folgende Beispiel zeigt: (8) Also mein Mann hatte eine Freundin, mit der mich ja betrogen hat schon 1988 und hatte dann auch meine Versicherungsgelder einigermaßen mitgenommen, was ich ihm nicht erlaubt hätte wollen, und hatte hatte denn also wie immer gedroht mit meiner Tochter und hat mich dann auch geschlagen und also fix undfertiggemacht?^
Hier muss zunächst angemerkt werden, dass das Textbeispiel in der Diskussion z.T. großes Befremden ausgelöst hat. So wurde mir nahe gelegt, auf dieses Beispiel zu verzichten, weil es ungrammatisch sei. Ich habe es dennoch beibehalten, weil es sich keineswegs um einen Einzelfall handelt und weil hier verschiedene relevante Phänomene deutlich werden: sowohl der Gebrauch des Perfekts als Erzähltempus der gesprochenen Sprache als auch der
^^ Das in der ersten Zeile fehlende „er" wurde weder bei der Verschriftlichung vergessen noch von der Sprecherin mit „der" zusammengezogen - offensichtlich erregt, hat sie das „er" nicht realisiert.
66 Gebrauch des Plusquamperfekts als einfaches Vergangenheitstempus. Dieser Textabschnitt steht hier als Beispiel für in der gesprochenen Sprache üblichen Tempusgebrauch. Es wurde vermutet, dass es sich um die Äußerung einer Nichtmuttersprachlerin handele." Außerdem wurden der Sprecherin Performanzschwierigkeiten unterstellt. Dem möchte ich mit Hoffmann (1998: 3) entgegenhalten: „Kein Wunder, daß Lehnstuhl-Grammatiker die Mündlichkeit für chaotisch und ,irregulär' halten und als bloße ,Performanz' aus dem Gegenstandsbereich verbannen. Sie befassen sich lieber mit dem in den Köpfen .intemalisierten' Sprachsystem, d.h. mit dem, was sie selbst über Grammatik wissen. Doch auch das scheinbare Chaos folgt beschreibbaren Regularitäten, wenn man Zwecke, Wissen, Planungsprozesse und Notwendigkeiten eines durch Flüchtigkeit des Gesagten bestimmten Diskurses systematisch mit einbezieht."
Fiehler (1994: 176) hat daraufhingewiesen, dass es noch kein Beschreibungssystem für die gesprochene Sprache gibt, und beklagt die Folgen: „So werden Besonderheiten der GSPS zwangsläufig immer als Abweichungen von den in der OSCHS vorgefundenen Verhältnissen beschrieben." Er warnt davor, die gesprochene Sprache durch die Brille der geschriebenen zu betrachten: „Die richtige Brille für die GSPS gibt es noch nicht." Das hat folgende Konsequenzen für dieses und die weiteren Beispiele aus der gesprochenen Sprache: Das Talkshowkorpus kann nicht in grammatisch korrekte und grammatisch nicht korrekte Sätze gegliedert werden, weil es noch kein eigenständiges grammatisches Beschreibungssystem für die gesprochene Sprache gibt. Wenn man einen Beitrag zur Erstellung eines solchen leisten möchte, muss man der gesprochenen Sprache unvoreingenommen begegnen, d.h. ohne die Normbrille der geschriebenen Sprache. Dieses Textbeispiel soll deutlich machen, dass das Plusquamperfekt in der gesprochenen Sprache als einfaches Vergangenheitstempus verwendet werden kann: hatte mitgenommen und hatte gedroht ist nicht vorzeitig gegenüber hat betrogen, hat geschlagen und hat gemacht. Im Gegenteil: hat betrogen ist eigentlich vorzeitig zu hatte mitgenommen - dies wird deutlich durch das Adverb dann. Das lässt vermuten, dass die Grenzen zwischen Plusquamperfekt und Perfekt in der Umgangssprache nicht mehr exakt zu ziehen sind. Die umgangssprachliche Bedeutungsverschiebung des Plusquamperfekts zu einem „reinen" Vergangenheitstempus spricht gegen Thieroffs These (1992: 289) vom mit dem Präteritumsschwund einher gehenden „Schvmnd des Plusquamperfekts". Zu beobachten ist außerdem ein verstärkter Plusquamperfektgebrauch bei den Hilfsverben haben und sein, die eigentlich aus morphosyntaktischen Gründen vorzugsweise im Präteritum verwendet werden: (9) Diese Zeit war meine Tochter bei meiner Mutter, am ersten Tag, wo der Unfall passierte, passte da auf, weil ich weggehen wollte, zum Arzt nächsten Tag und sie war auch da gewesen.
sie
Der Wechsel von Präteritum zu Plusquamperfekt ist hier völlig unmotiviert. Interessant ist die Frage, warum haben und sein nicht häufiger im Perfekt verwendet werden, sondern eher im Plusquamperfekt.^"* Es lässt sich folgender Grund vermuten: Der allgemeinen Tendenz, in der Umgangssprache eher Perfekt als Präteritum zu verwenden, steht die traditionelle Neigung der genannten Verben zu Präteritumgebrauch entgegen. Zieht man nun beide
Bei den vorliegenden Korpusanalysen wurden grundsätzlich nur Muttersprachler berücksichtigt. In den Talkshows gab es auch Äußerungen von Nichtmuttersprachlem; sie wurden nicht mit transkribiert. Hierbei handelt es sich um eine Beobachtung, die sich leider noch nicht statistisch belegen lässt.
67 Komponenten zusammen - Präteritum + Tempusform mit Partizip II - so ergibt sich das Plusquamperfekt. Diese Erklärung steht im Gegensatz zu Breuers 0 9 9 6 ) Bemühen, die absoluten Verwendungsweisen des Plusquamperfekts durch eine Erklärung als „Hintergrundtempus" auf die Grundbedeutung (Vorvergangenheit) des Plusquamperfekts zurückzuführen. Er kommt zu dem Ergebnis (54): „[...]daß auch der sog. .absolute' Gebrauch des Plusquamperfekts sich bei näherem Hinsehen als absolut-relativer herausstellt." Dies mag für die von Breuer beschriebenen Varianten des absoluten Plusquamperfekts zutreffen,^' fraglich scheint mir allerdings, ob man von diesen drei Möglichkeiten verallgemeinernde Schlussfolgerungen ziehen kann - die Beispiele (8) und (9) sprechen dagegen. Die insgesamt begrüßenswerte Studie Breuers zu diesem - häufig vernachlässigten - Tempus müsste m.E. durch eine korpusbezogene Untersuchung der Verwendung des Plusquamperfekts im gesprochenen Deutsch ergänzt werden.^' Ebenso spricht die Möglichkeit, in der gesprochenen Sprache das Plusquamperfekt für die einfache Vergangenheit zu verwenden, gegen Kleins (1995: 129) These zu den aspektuellen Anteilen des Plusquamperfekts: „The aspectual function of the perfect is entirely intact in the case of Plusquamperfekt and Futur II. They simply combine a tense meaning with an aspectual meaning." Man sollte hier lieber von einer Möglichkeit als von einer prinzipiell zutreffenden Tatsache sprechen. Generell bekommt man den Eindruck, dass es schwer ist, Kriterien zu erkennen, nach denen in der gesprochenen Sprache zwischen Präteritum und Perfekt gewählt wird. Warum nun in Textbeispiel (8) Perfekt, in Beispiel (9) Präteritum dominiert, lässt sich mit traditionellen Erklärungen wie Abgeschlossenheit, Vollzug, Relevanz für die Gegenwart, Besprechen und Erzählen nicht begründen - beide Textbeispiele könnte man sowohl erzählend als auch besprechend deuten. Überhaupt sind Weinrichs „Erzählen" und „Besprechen" oft eine Frage der Interpretation: Wo hört Erzählen auf und fängt Besprechen an? Der Unterschied zwischen Präteritum und Perfekt scheint in der gesprochenen Sprache mehr eine Frage des Sprecherstils als der Bedeutung zu sein - im zweiten Textbeispiel hat sich die Sprecherin offensichtlich auf ihre Präsenz im Femsehen rückbesonnen und um eine gehobene Sprache bemüht: „Das Präteritum gehört in eine höhere Stilebene als das Perfekt." (Hentschel/Weydt 1990: 101)" Dass Präteritumgebrauch in der gesprochenen Sprache wiederum „gehobenen Stil" bedeutet, spricht für die eigentliche Dominanz der analytischen Vergan-
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Diese Varianten sind adversativer Gebrauch, Ausdruck einer Distanzhaltung sowie Plusquamperfekt als Höflichkeitsform. Siehe dazu Breuer (1996:48-54). Eine solche Untersuchung kann an dieser Stelle nicht geleistet werden, weil zum einen - wie in 1.2.3 dargestelh - aus Gründen der Praktikabilität auf eine semantische Beschreibung aller Tempusformen verzichtet werden muss (das zu untersuchende Korpus umfasst immerhin 10 613 Indikativ-Aktiv-Formen) und zum anderen der Schwerpunkt auf den Zusammenhängen zwischen Tempusgebrauch und Textsorten liegt - Probleme der semantischen Beschreibung einzelner Tempusformen können deshalb hier nur angedeutet und nicht zentriert werden. Dies soll nicht bedeuten, dass sich der Unterschied zwischen Perfekt und Präteritum auf die Stilebene reduzieren ließe - vgl. dazu Kapitel 1.2.2.4. „Stil" wird hier als „die Art und Weise des Schreibens, die Art und Weise des mündlichen Ausdrucks" (Lewandowski ®1994: 1099) verstanden, in dem Sinne, dass ein Stil „implizit - immer ein von anderen Stilen verschiedener Stil eines Textes" ist (Sandig 1986: 18), oder, anders formuliert „Genau dies stellt aber den Grundsatz von Stiltheorie und Stilistik dar, daß nämlich dasselbe auf vielfach verschiedene Art ausgedrückt werden bzw. sein kann" (Sanders 1977: II). Es ist hier nicht der Ort, um in die Stildiskussion einzugreifen; angemerkt werden soll lediglich, dass der hier gewählte Terminus ,Sprecherstir keine bewusste Sprachhandlung voraussetzt.
68 genheitsformen in der Umgangssprache - Präteritum ist die markierte Form, Perfekt die neutrale. Außerdem hängt - wie auch bei der Fußball-live-Reportage - die Tendenz zu Präteritum oder Perfekt von den einzelnen Sprechern ab. Wenn Sprecher stärker zu Präteritum oder Perfekt neigen, so ist das eine Frage des persönlichen Stils, des Hintergrunds und auch des Alters.^' Einzelne Sprecher können aber auch willkürlich die beiden Tempusformen gewissermaßen abwechselnd gebrauchen.^' Wenn aber ein Sprecher relativ frei zwischen Perfekt und Präteritum wählen kann, so zeigt dies eindeutig, dass es für die gesprochene Sprache keine regelhafte Unterscheidungsmöglichkeit gibt. An dieser Stelle muss noch einmal betont werden, dass diese Emschätzung nicht heißen soll, dass sich der Unterschied zwischen Perfekt und Präteritum auf Fragen des Stils reduzieren ließe. Die Annahme einer freien Wahlmöglichkeit gilt nur filr die Bedeutungsvariante E=R