Gattungserneuerung und Laienunterweisung in Texten des Strickers 9783110928105, 9783484104204


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German Pages 259 [260] Year 1981

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Table of contents :
EINLEITUNG
1. ›DIEFRAUENEHRE‹
1.1 Das Programm des erniuwens
1.2 Frauendienst und Frauenpreis als Recht: Zusammenhang von nennen, loben, bekennen und scheiden
1.3 Die Absicherung des literarischen Kompetenzanspruchs in Verbindung mit der Fahrenden-Rolle
2. ›DIE MINNESÄNGER‹
3. ›DANIEL VON DEM BLÜHENDEN TAL‹
3.1 Die Reflexion über die Beziehung von materiellem guot, muot und werk im Prolog
3.2 Das Verhältnis von Artushof und Protagonist
3.3 Die Auflösung der Doppelweg-Struktur im Zusammenhang mit der programmatischen Bedeutung des list-Handelns
4. DIE MÄREN
4.1 Die Kategorie kündikeit als Konstituens eines neuen Texttyps
4.2 Die Ehemären: Das Vermögen der kündikeit im Zusammenhang mit der literarischen Tradition der Minnethematik
4.3 Die Thematisierung von Herrschaftsbeziehungen in den Mären: gevüegiu kündikeit als Bedingung rechtsgemäßen Sozialverhaltens
4.4 gevüegiu kündikeit als Element der Verwirklichung von Ordo: ›Der Richter und der Teufel‹
4.5 Zur Funktion von Märenerzählen
4.6 Die richtige Einschätzung der Bedeutung von materiellem guot als Ausdruck gevüeger kündikeit: ›Der junge Ratgeber‹
5. ›DER PFAFFE AMIS‹
5.1 Die Funktion gevüeger kunst in Zeiten der Wertverkehrung als Thema des Prologs
5.2 Die Konfrontation des Pfaffen Amis mit dem Bischof: Die Bedeutung der Eingangsgeschichte
5.3 Amis’ Auszug zum guot-Erwerb: Der Umschlag von gevüeger kündikeit in liegen und triegen
5.4 Amis’ »Bekehrung« und Klosterleben (Epilog)
6. DIE BISPEL
6.1 Das Programm des Bispels: wisheit leren
6.2 Zur Funktion des Bispels: Die Handlungsrelevanz der lere und der ihr immanente Aktualitätsbezug
7. ›DIEKLAGE‹
7.1 Der Treubruch der richen und der damit verbundene Funktionsverlust höfischer Kunst als Anlaß eines Rechtsverfahrens
7.2 Das Einklagen des Orientierungsanspruchs der göttlichen Rechtsordnung: Literarisches Handeln als Medium der Rechtssprechung
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Gattungserneuerung und Laienunterweisung in Texten des Strickers
 9783110928105, 9783484104204

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STUDIEN UND TEXTE ZUR SOZIALGESCHICHTE DER LITERATUR

Herausgegeben von Günter Hess, Georg Jäger, Dieter Langewiesche, Alberto Martino

Band 1

Hedda Ragotzky

Gattungserneuerung und Laienunterweisung in Texten des Strickers

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1981

Als Habilitationsschrift auf Empfehlung der Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaften der Universität Regensburg gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Redaktion

des Bandes:

Georg

Jäger

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Ragotzky, Hedda: Gattungserneuerung und Laienunterweisung in Texten des Strickers / Hedda Ragotzky. Tübingen : Niemeyer, 1981. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur ; Bd. 1) ISBN 3-484-10420-1 NE: G T

ISBN 3-484-10420-1 © Max Niemeyer Verlag Tübingen 1981 Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege zu vervielfältigen. Printed in Germany. Satz und Druck: Maisch & Queck, Gerlingen

Inhaltsverzeichnis

Seite EINLEITUNG

1

1 . >DIEFRAUENEHRE
DIEMINNESANGER
DANIELVONDEMBLÜHENDENTAL
Das erzwungene Gelübde< 4.2 2 >Der begrabene Ehemann< 4.2 3 >Der Gavatterin Rat
Edelmann und Pferdehändler< 4.3 2 >Der wunderbare Stein< 4.3 3 >Der arme und der reiche König
Der Richter und der Teufel< 128 4.5 Zur Funktion von Märenerzählen 133 V

4.6 Die richtige Einschätzung der Bedeutung von materiellem guot als Ausdruck gevüeger kündikeit: >Der junge Ratgeber< 137 5. >DER PFAFFE AMIS
Der Kater als Freier< >Der Weidemann< >Der Juden Abgott< >Die Gäuhühner
DIE KLAGE
FrauenehreFrauenehreFrauenehre< »die Gesamtkonzeption empfindlich (störe)« (S. 53). Die Vorstellung von dieser Gesamtkonzeption jedoch, für die Fischer mit einer ursprünglich geschlossenen Fassung der >Frauenehre< rechnet, ist wesentlich von der Erwartung einer literarischen Qualität und einer Stringenz des Argumentierens bestimmt, wie sie für den Minnesang der höfischen Klassik

zum Gradmesser ihrer sozial-ethischen Verfassung. Die Bedeutung, die literarischer Aktivität hier indirekt zugesprochen wird, steigert sich noch in der Entgegnung des herzen. Während das Ich aus dem intensiven Abhängigkeitsverhältnis zwischen Literatur und Gesellschaft seine Entscheidung des Verzichts ableitet, zieht das herze daraus genau den umgekehrten Schluß: da wider sprach daz herze min: >nu lobe si unz si guot sin; die noch in hohem muote sten und iht mit vröuden umbe gen, der leben la dir wol behagen. du solt in tihten unde sagen, du maht si wol von schulden loben. diu werlt beginnet noch so toben: die dich nu dunkent ungemuot, die diuhten danne harte guot, so si noch baz verkerent sich.< (11-21) tihten erscheint hier als Medium, das den postulierten Zustand intakter Wertreali-

2

charakteristisch ist. Allerdings weist auch Fischer schon darauf hin, daß die >Frauenehre< bereits Züge spätmittelalterlicher Minnereden vorwegnimmt. Die Möglichkeit eines entsprechenden Perspektivewechsels für das Verständnis der >Frauenehre< deuten sich in Ingeborg Gliers Untersuchungen zur Entwicklung und Typologie der deutschen Minnereden an. Sie beschreibt die >Frauenehre< als einen Vorläufer der neuen literarischen Gattung, die Ende des 13. Jahrhunderts in Deutschland scheinbar unvermittelt auftaucht und von da ab unübersehbar in die Breite wuchert. Die Chancen dieses Ansatzes, die >Frauenehre< gewissermaßen aus der Retrospektive zu interpretieren, werden in der Arbeit von Klaus Hofmann zu wenig genutzt. Bei seinem Bemühen, die literarhistorische Stellung der >Frauenehre< besser als bisher bestimmen zu können, arbeitet er im wesentlichen mit literarhistorischen Denkmustern, die kaum dazu angetan sind, dem Werk neue Aspekte abzugewinnen. So übernimmt er unreflektiert die immer wieder an Stricker-Texte herangetragene Vorstellung vom »Einbruch der Realität« in die höfisch-»idealistische« Welt (vgl. Hofmann S. 235f.). Wichtiger als dieser Bewertungsversuch jedoch ist die von Hofmann erarbeitete breite Sammlung von Parallelstellen aus Texten der höfischen Klassik. Sie macht noch einmal eindringlich die Souveränität bewußt, mit der der Stricker über das Angebot der literarischen Tradition verfügt. Die jüngste Äußerung zur >Frauenehre< stammt von Hans-Herbert S. Räkel. Bei seiner Darstellung des Forschungsstandes hebt er zu Recht hervor, daß mit dem Verweis auf die spätere Tradition der Minnerede das Gattungsproblem noch nicht als gelöst gelten kann. Eine Gattungsbestimmung der >Frauenehre< muß nach Räkel vielmehr auch die beiden zunächst heterogen wirkenden Bestandteile, Minnerede und Bispel, mit berücksichtigen. Dieser Forderung entspricht Räkel jedoch selbst nicht, da er sich bei seiner eigenen Interpretation der >Frauenehre< darauf beschränkt, einige wenige Textstellen unter der Perspektive der inzwischen vielfach kritisierten Entgegensetzung von ritterlicher und bürgerlicher Wertethik zu beleuchten. Hanns Fischer: Strickerstudien. Ein Beitrag zur Literaturgeschichte des 13. Jahrhunderts. Diss, (masch. schriftl.) München 1953; Ingeborg Glier: Artes amandi. Untersuchungen zu Geschichte, Überlieferung und Typologie der deutschen Minnereden. München 1971 (MTU 34), S. 35ff. Zur Frage des Traditionsbezugs dieses Streitgesprächs vgl. Glier S. 22, 40,405; Hofmann S. 207, bes. Anm. 203.

11

sierung (wieder)herstellen kann.3 Mit dieser Forderung wird die Beziehung zwischen Autor und Publikum mit einem nicht mehr zu überbietenden Anspruch aufgeladen: tihten vermittelt gwoi-Sein. Die Verwirklichung dieses Anspruchs wird - gemäß dem oben skizzierten Bezug zwischen Literatur und Gesellschaft - nicht einseitig dem Werk bzw. seinem Autor angelastet, beim Publikum ist eine Disposition zum gwof-Sein vorausgesetzt, die durch Resignation verschüttet sein mag, jedoch aktiviert werden kann und sich im aktuellen Vorgang von loben als Realität erweisen muß. Der Verständigungsvorgang zwischen Autor und Publikum erhält damit den Charakter einer »Offenbarung«: Er scheidet die valschen von den rehten,4 er macht den ethischen Wert der Zuhörenden evident, indem er sich für die einen als segen, für die anderen als vluoch erweist (vgl. 170ff.). Diese Wechselbeziehung zwischen der Qualität des Werks bzw. dem Anspruch und Niveau seines Autors, der Verständnisleistung des Publikums und dem Offenbar-Werden von dessen sozialethischem Wert ist am Modell einer Verständigung orientiert, das bereits aus der Literatur der Klassik bekannt ist.5 Vor diesem massiven Verbindlichkeits- und Bedeutungsanspruch spielt sich der weitere Dialog zwischen dem Ich und dem herzen ab. Thema ist nun die eigene literarische Leistungsmöglichkeit im Verhältnis zur Normativität der Tradition. Das Ich, angesichts der Bedeutungsschwere der gestellten Aufgabe immer noch zögernd und pessimistisch gestimmt, führt die modeorientierte Labilität des Publikumsgeschmacks an, mit der wertbewußtes tihten in der Gegenwart zu kämpfen hat. Seine literarischen Produkte, so klagt das Ich, werden verbraucht in Fehlrezeptionen, schon nach wiederholter flüchtiger Oberflächenberührung hat sich ein mcere für das Publikum überlebt: da wider sprach aber ich: >swie nahen mir ir erge ge, mir tuot ir unvröude we; des ist min tihten ein wint. und daz si niugerne sint, daz tuot mir groze swtere. swenne ich gemache ein mcere daz wol ze hceren zimt, swer ez danne vernimt ζ wir oder dristunt, der giht ez si im wol kunt, dem ist ez alt sa zehant. wie han ich danne gewant min arbeit diu dar an lit, sit ez in so kurzer zit alt wirt und ungenceme?< >ist dir daz widerzceme?< sprach min herze iesa. ich sprach vil ernstlichen >jadaz sol din vröude wesen, wilt du mit tihten genesen, des ich dich wol berihte. du solt din alt getihte verklagen in vil kurzer vrist, sit ez allez ungenceme ist, swaz ie von tiutschen zungen gesaget wart oder gesungen. du solt ez gerne übersehen, sit ez allen den ist geschehen, die tihtens hant unz her gepflegen. wcere daz alte niht gelegen, wes wcere daz niuwe danne wert? daz man der niuwen meere gert, daz sol dir ringen den muot. diuhten si geliche guot die alten und die niuwen, daz möhte dich wol riuwen. so hant si, daz geloube mir, so wol gesprochen vor dir, die do tihtcere hiezen, ez muoz dich bedriezen, wan dich niemer din sin den tumbesten under in geliehen möhte an werdikeit. nu sich daz dich der arbeit niemer mer betrage, swenne man dich vrage, ob du iht niuwes künnest, unz du dir eren günnest, du entsprechest vrtxlichen >jaParzivalTristan>; die kritische Unterscheidung der höfischen Gesellschaft in Walthers Liedern (z. B. L. 45, 13ff.; 48, 25ff.; 58, 35ff.; 91, 9ff.). 13

Mit dem Ende dieser Rede des herzen ist der Begriff niuwe neu gefüllt. Während sich das Ich noch verzweifelt an der Neuigkeitssucht des zeitgenössischen Publikums abmüht, führt das herze diese Klage mit der sukzessiven Erklärung des Sinns, den erniuwen tatsächlich haben kann und soll, ad absurdum. Neu zu machen, was die alten bereits vorbildlich geleistet haben und was auf den ersten Blick jeden Versuch einer Wiederholung zu verbieten scheint, ist das Prinzip literarischer Entwicklung, erniuwen verpflichtet zu einer Erneuerung des höchsten literarischen Anspruchsniveaus und bedeutet in diesem Sinne selbstbewußtes Sicheindefinieren in die Tradition.6 Wenn sich das Ich in der letzten Phase des Dialogs noch einmal ratsuchend an das herze wendet, um nach der Bestimmung von Anspruch und Traditionsbezug nun auch den Gegenstand seines tihtens festzulegen, so argumentiert es bereits auf der Ebene dieses erweiterten Sinnverständnisses: niuwe ist nicht mehr einfach das, was die Willkür modebedingter Geschmacksschwankungen diktiert; muwe-Machen heißt nun, die Neuigkeitssucht des Publikums geschickt durch die Erneuerung des alten zu unterwandern und damit Anspruch und Wertschätzung von Literatur wieder zur Deckung zu bringen. Auf diese Weise wird niuwe identisch mit dem, was aller langest töhte (vgl. 82). do mir min herze

vertreip

den zwivel daz ich stcete beleip an minem tihten alsam e, dannoch tet mir diu sorge we, waz ich nu tihten möhte, daz aller langest töhte.

(77-82)

Konsequenterweise reagiert das herze auf diese Frage mit der Nennung genau des Themas, das vom Prinzip der Variation lebt und mit dem sich die höfische Gesellschaft seit der Klassik wohl am stärksten identifiziert hat, dem Frauenpreis. Do sprach min herze aber zuo, daz ich daz wxgeste tuo und ein lop den vrouwen gebe, daz in den sinnen hohe swebe und iedoch in der maze, daz ichz niht vliegen laze nach sinem wilden muote, daz ich ez so habe in huote, daz man ez rinclichen sehe und im doch der hashe jehe, daz ez niht an schrien weder die kran noch die Wien. ez hat mir vür die warheit bi sinen triuwen geseit, ichn künde niht gemachen von werltlichen Sachen, daz langer belibe niuwe. (83-99) 6

Auch im Prolog des >Karl< wird das Verhältnis zur Vorlage und damit zur Karlstradition in der gleichen Weise entworfen und formuliert: Diz ist ein altez mcere. I nu hät ez der Strickeere / erniuwet durch der werden gunst, / die noch rrtirment hoveliche kunst: / den sol hie mit gedienet sin (115-119). Vgl. dazu Johannes Singer: Der Eingang von Strickers >Karl dem GroßenFrauenehre< befaßt. Das Autor-Ich beginnt die Kompetenzdebatte mit der Inszenierung des ihm feindlich gesonnenen, unverständigen und deshalb irrelevanten Gegners.9 Dabei kann sich der argumentative Aufbau der Negativfigur unmittelbar auf das zuvor erarbeitete anspruchsvolle Kommunikationsgerüst stützen. Die Feinde werden eingeführt als ein Teil des Publikums, der dem geplanten literarischen Unternehmen zwar zum Schein öffentlich applaudiert, aber doch nur, um seine grundsätzlich böswillige und zerstörerische Einstellung zu Frauendienst und Frauenpreis zu verdecken. Wenn Frauenpreis aber gerade als die literarische Aktivität benannt wurde, die dazu befähigt, den Zustand der Wertverwirklichung wiederherzustellen, so verkörpert die Haltung der Feinde den anfangs beklagten gegenwärtigen Verlust von Wertbewußtsein. Dies ist das massive Fundament, das jedes Argument des Gegners von vornherein disqualifiziert. die minnent ane triuwe, die beginnent ez loben umbe daz, 7

8 9

Das Thema nicht sinem wilden muote (vgl. 89) zu überlassen, sondern in huote zu halten, ist ein Anspruch, der parallel zu der Auo/e-Funktion rehter minne formuliert ist. Sie zeichnet sich dadurch aus, daß die vrouwen den wilden gedanken des Mannes ir vriheit und ir wanken (...) benemen kunnen (vgl. 1524ff.; vgl. auch 1398ff., 1447ff.). Dieser Anspruch wird dann 155ff., 1857ff., 1874ff. explizit formuliert. Ebenso geht der Stricker auch im Prolog des >Karl< vor. Thema ist hier das Uterarische Programm eines listes, der fähig ist, den muot eines Menschen offenbar zu machen, das heißt dieser kann als übel oder guot erkannt werden (1-10). Auch hier wird dieser Erkenntnisprozeß mit dem Nachvollziehen der ere der Hauptfigur des Werks, Karls des Großen, gleichgesetzt. Dieses lop wird den, der ein valschez herze hat (vgl. 17), so reizen, daß er seinen Ärger an dem Autor abreagiert. Er wird alles daransetzen, dessen Integrität zu zerstören, indem er ihm nachsagt, daß er liege oder tobe (vgl. 25). Diese falsche Kritik wiederum dient dann als Kontrastfolie, auf der das richtige Werkverständnis skizziert werden kann (vgl. 32-38).

15

daz man niht merke den haz, den si der rehten minne tragent: des si den vrouwen niht ensagent. die sich der minne hant ergeben und rehte nach ir willen leben und dienent gerne umbe ir solt, die sin mir dar umbe iemer holt, daz ich in liebe ir minne. (100-109)

Die negative Kontur dieser Kontrastrolle wird noch dadurch verstärkt, daß sie die Funktion, die die lügencere und nidcere in der typischen Konstellation im Minnesang innehaben, übernimmt. Im Minnesang sind die lügeruBre bzw. nidcere durch ihr minnefeindliches Verhalten, durch Entzweiung und mißgünstige Verleumdung {haz und nit), definiert. Mit den gleichen, immer wiederholten Formeln werden die Feinde in der >Frauenehre< gekennzeichnet, boesiu mcere über die vrouwen zu verbreiten, ist ihr hauptsächliches Geschäft (vgl. 371ff.), und auf das rehte mcere (vgl. 488), den hier beginnenden Frauenpreis, konzentrieren sich - wie wenig später explizit gemacht wird - ihr nit und ihr haz (vgl. 133ff.).10 Ihre moralische Unzulänglichkeit läßt eine Auseinandersetzung mit ihnen sinnlos erscheinen, denn ihre Kritik ist ebenso böswillig wie inkompetent. Nu enkunnen mine sinne dem willen niht gevolgen. wtere ich in des erbolgen, dar an tcete ich in gewalt. si sint mir, wil ich, einvalt, si sint mir manicvaltic. ich bin ir so gewaltic: swaz si hant daz han ouch ich. ich enbite niht uf sich durch minen willen borgen. solte ich die not besorgen, swaz sie sprechen begunden, die niht gemerken künden, waz ich sagete oder sprceche, unz ich die schulde gerceche, daz borgen und daz gelten, die brcehten lihte ein schelten, da von wil ich mich strecken, als ich mich kan bedecken. weiz ich selbe waz ich sage und welcher verte ich nach jage, so endarf manz tiutschen liuten niht anderstunt bediuten. (110-132)

Erst an dieser Stelle der Argumentation, an der der Gegner ethisch bereits total disqualifiziert ist und damit das Recht des Zuhörens verwirkt hat, wird sein Einwand referiert; es ist ein fundamentaler Einwand gegen die literarische Kompetenz des Autors: 10

16

Vgl. auch 102, 135, 158, 173, 178, 768, 1479.

ist ieman der vor nide ditz mcere unsanfte lide, der durch des hazzes süeze also gedenken müeze: >ditz ist ein schanez mcere, daz ouch nu der Strickcere die vrouwen wil bekennen. ern solde si niht nennen an sinen mceren, wtere er wis. sin leben unde vrouwen pris, die sint ein ander unbekant. ein pfärt unde alt gewant, die stüenden baz in sinem lobe.
Frauenehre< herangezogen werden, in der die Gegner bzw. (...) valsche minncere, / dieguote liute rüegentl und in unvröude vüegent (758ff.), als gelichsencere (vgl. 711) charakterisiert werden. 13 11

12

13

Es ist anzunehmen, daß die Selbstdarstellung des Autors in der >Frauenehre< als Literat, der auf die milte seines Publikums angewiesen ist, der realen Existenzform des Strickers entspricht. Da diese Selbstäußerungen jedoch literarischen Status und Funktion haben und außerhalb dessen keine Belege verfügbar sind, ist diese Annahme nur wahrscheinlich zu machen, entzieht sich jedoch dem Beweis. Dies ist allen Aussagen über den Stricker entgegenzuhalten, die unbedenklich von seiner literarischen Selbststilisierung auf seine biographisch-soziale Existenz zurückschließen. Vgl. HMS 2, S. 173 II.; HMS 2, S. 263 VI. 3. Zur Existenzform des gernden Literaten und ihrer Bedeutung für dessen literarisches Selbstverständnis vgl. Gerhard Hahn: Möglichkeiten und Grenzen der politischen Aussage in der Spruchdichtung Walthers von der Vogelweide. In: Deutsche Literatur im Mittelalter. Kontakte und Perspektiven. Gedenkschrift für Hugo Kuhn. Hrsg. von Christoph Cormeau. Stuttgart 1979, S. 338-355. Hedda Ragotzky: Die kunst der milte. Anspruch und Funktion der m/fte-Diskussion in Texten des Strickers. In: Gesellschaftliche Sinnangebote mittelalterlicher Literatur. Mediävistisches Symposium an der Universität Düsseldorf. Hrsg. von Gert Kaiser. München 1980 (Forschungen zur Geschichte der Älteren Deutschen Literatur 1), S. 77-99. Gegen die Verfälschung der Minne mit glihsenheit unt mit gebärden, wie sie ein tumbe rüemic man zur Schau trägt, polemisiert auch Reinmar von Zweter (vgl. Reinmar von Zweter, ed. Roethe, Nr. 254); zur Warnung vor küniclicher glihsenheit vgl. auch Nr. 141. 17

Sie sind dadurch gekennzeichnet, daß sie die vrouwen mit gebcerden betrügen. Geschickt stellt ein gelithsencere sein Verhalten darauf ein, swaz ein vrouwe gerne wil / von im hceren unde sehen (712f.). Hat er mit der Imitation des äußeren Erscheinungsbildes eines vorbildlichen Minnedieners sich die vrouwe geneigt gemacht, so bringt er sie um ihre ere, indem er öffentlich mit heimlich genossener Minne prahlt, auch wenn sie ihm tatsächlich vielleicht gar nicht gewährt worden ist. Die zerstörerische Wirkung dieses rüemens gilt weniger der jeweiligen vrouwe, es ist vielmehr gegen die rehte minne gerichtet, sie zu kompromittieren und damit vröude zu verhindern, ist das Ziel der gelichsencere (vgl. 709ff.). Wenn den vrouwen in diesem Zusammenhang geraten wird, sich nicht an gebcerden (vgl. 710), sondern an dem wirklichen Wert, wie er sich in zuht, were unde wort eines Ritters offenbart (vgl. 720), zu orientieren, so fordert der Autor die gleiche Fähigkeit zur Werterkenntnis von seinem Publikum auch für sich selbst. Zugleich wird damit sein Anspruch auf die höchste Kompetenz, die Frauenpreis fordert, objektiviert: Wer ihm die Kompetenz abspricht, operiert mit Scheinargumenten. Er macht sich bewußt am Oberflächenphänomen der materiellen Bedürftigkeit der Fahrenden-Existenz fest, er schließt wider besseres Wissen von diesem äußeren Erscheinungsbild auf Wertstatus 14 und literarisches Können. Den Schein aber für das Wesentliche zu erklären, von ihm aus Folgerungen über das Sein abzuleiten, ist gleichbedeutend mit dem Versuch, Erkenntnis, die auf die Substanz, auf die Erschließung und Wahrnehmung des Sinns abzielt, zu verhindern. Unter dieser Perspektive kehrt sich der vom Gegner aufgestellte Argumentationszusammenhang zwischen Lebensform, deren sozialer Geltung und dem Rang des Themas bzw. der ihm traditionell entsprechenden Gattung um. Der Wertstatus eines Literaten berechtigt ihn zur Wahl des Themas und erweist sich im ethischliterarischen Anspruchsniveau des Werks, er zwingt zu entsprechender sozialer wie materieller Anerkennung, die eine angemessene Lebensform ermöglicht. Mit dieser Umkehrung der Logik des Gegners ist die abschätzige Taxierung der Rolle des Fahrenden als möglicher Makel bei der Bestimmung literarischer Kompetenz hinwegargumentiert, und es erscheint nur konsequent, wenn der Autor dieses Problem kurzerhand mit einem Appell an das Publikum abschließt: Statt voreilig zu kritisieren, solle man sich zunächst der Anstrengung verantwortlichen Zuhörens unterziehen. swen also dunke daz ich tobe, der swige doch unz er vememe, wie min lop den vrouwen zeme; dar nach entslieze sinen munt.

(146-149)

Im Anschluß an diese Wendung kommt der Autor noch einmal auf das Kompetenzproblem zurück. Wenn seine Kritiker ihm mit dem Hinweis auf seine Lebensform das Recht auf Frauenpreis absprechen, dann setzt dies voraus, daß nur das Integriert-Sein in die höfische Lebensform wie die Vertrautheit mit der Situation 14

18

Das gleiche Problem der Werterkenntnis aufgrund der Diskrepanz von Erscheinungsbild und tatsächlichem Wertsein behandelt der Stricker wiederholt in seinen Bispein, besonders eindringlich in >Die freigebige Königin·«.

am jeweiligen Hof, die zu den Privilegien der Hofzugehörigkeit einer Minnesängerexistenz gehören, zu Frauenpreis befähigen. Obwohl er also nicht über solche privilegierenden Vorgaben der Lebensform verfügt, wisse er - so erklärt der Autor in der Pose selbstbewußter Bescheidenheit - hinlänglich über die vrouwen Bescheid. Wie er dieses Wissen begründet, kann erst am Schluß der >Frauenehre< im Zusammenhang mit der nochmaligen Aufnahme des Kompetenzthemas geklärt werden. An dieser Stelle aber wird bereits die absolute Überlegenheit dieses Bescheid-Wissens behauptet, sie wird gerechtfertigt mit dem Verweis auf Gott, den so viele loben und den doch keiner je gesehen hat. Damit ist folgendes gemeint: Der unsichtbare Gott offenbart sich in seinen Werken, an den Werken seiner güete ist Gott zu erkennen. Die Erkenntnis Gottes setzt damit ein entsprechendes Interpretationsvermögen voraus: Wer Gott an seinen Werken erkennen kann, weist sich selbst als erkenntnis- und interpretationsfähig aus, sein lop hat den Anspruch auf höchste Kompetenz. Durch dieses Beispiel erscheint die Berechtigung des Autors, aus der Distanz des sehens über die vrouwen sprechen zu können, über jeden Zweifel erhaben. Sein Frauenpreis gründet auf der Erkenntnis ihres gwof-Seins durch die Wahrnehmung ihrer güete, er ist auf diese Weise objektiv verbürgt, und deshalb kann der Autor die den vrouwen zugesprochene Wertbedeutung als summum bonum besser zur Geltung bringen, als es die Tradition - und das heißt in diesem Fall der Minnesang - vermochte. si ensint mir niht gar unkunt. got den lobet manic man, der in doch niht gesehen kan. so han ich vrouwen vil gesehen und hcere in maniger tugende jehen, die ich baz ze lobe laze komen denne ich si selbe han vernomen, und baz denne in die günnen, die vrouwen niden künnen. (150-158)

Mit dieser Bestimmung literarischer Kompetenz eröffnet sich ein Horizont ihrer Legitimation, der ihr Anspruch und Verbindlichkeit von reht verleiht. Ein reht ist allen rehten obe, daz man die vrouwen iemer lobe.

(429f.)

Wer dieses Recht vollzieht, ist dazu befähigt allein durch sein Wertbewußtsein und dessen Konkretisierung in Verstandesvermögen und künstlerischer Gestaltungsfähigkeit. ez was ie guot unde sieht und ist ein lobelichez reht, daz ein ieslich sinnic man, der vrouwen lop gesprechen kan, den vrouwen lobes si bereit. (199-203)

Im Anschluß an diese höchste Steigerung und gleichzeitige Rechtfertigung des Kompetenzanspruchs kehrt die Argumentation noch einmal an ihren Ausgangspunkt zurück. Die anfänglich resignative Einstellung des Ichs, angesichts des 19

mangelnden Interesses an vröude habe tihten seinen Sinn verloren, wird nun ausgewiesen als weitverbreitete Fehlinterpretation des gegenwärtigen Zustande, in dem sich vrouwen ere befindet. Viele sind der Ansicht, tugent und ere der vrouwen seien, gemessen an früher, jetzt verkommen, sie zu loben entbehre folglich jeder Grundlage. Diese pessimistische Einschätzung der Lage erscheint als der valschen liute wan (vgl. 167).15 Sie, die dem Autor seine Kompetenz bestreiten und den vrouwen feindlich gesonnen sind, haben dieses Gerücht in die Welt gesetzt und behaupten, es wäre die allgemeine Meinung. Ihr Ziel ist es, mit solchen Trugbildern, die geschickt Schein als Sein suggerieren sollen, diesen Frauenpreis, der guotSein vermitteln und vröude wiederherstellen kann, zu verhindern. Dies aber ist für den Autor das Signal, hier und jetzt dieses Unternehmen zu beginnen und damit den Prozeß evidenten Werterweises einzuleiten. der vrouwen viende ist so vil, daz des maniger wcenen wil, der vrouwen ere diu zerge, si ensi nu niender als e; ir lop verswunde sere, ir lügende und ir ere si hiure minner denne vert, si enwerden schiere nihtes wert. daz ist der valschen liute wan, ir lop daz welle ein ende han und si vil nach zergangen. Nu wirt uns an gevangen durch aller vrouwen ere und den ze herzesere, die si hazzent ane ir schulde; und durch der rehten hulde, der herze in den vröuden swebent, die in der vrouwen ere gebent, den müeze es werden ein segen. die vrouwen ze hazzen pflegen, den muoz ez werden ein vluoch. als us hebet sich ditz buoch. (159-180)

1.2 Frauendienst und Frauenpreis als Recht: Der Zusammenhang von nennen, loben, bekennen und scheiden Der Frauenpreis, der sich nun anschließt, macht von Anfang an deutlich, welche Relevanz der Diskussion über das mwwe-Machen im Prolog rückwirkend zuzurechnen ist. Die hier vorgeführte Variante von Frauendienst steht außerhalb des Regelsystems, das für Minnesang konstitutiv ist. m'uwe-Machen heißt nicht, eine neue, in ihrer Raffinesse gegenüber dem Vorhergehenden noch gesteigerte 15

20

Den gleichen Situationstyp spricht der Marner an, wenn er die resignative Feststellung, sang unt vröude si vervam, als Deutung der zwivelcere bezeichnet und deshalb um so mehr auf der Bestätigung und Unterstützung derer beharrt, die sich noch an der vröude zu orientieren bereit sind (HMS2, S.245 XTV. 16).

Variante des bekannten Schemas vorzustellen, wuwe-Machen bedeutet hier das Experiment eines gattungsmäßigen Novums.16 In genauer terminologischer Entsprechung zur höchsten Absicherung der Kompetenz des Autors beginnt der Frauenpreis mit dem Begriff des rehts. Nicht die eine, einzigartige vrouwe ist es, die in der Rolle der Minnedame die höchsten irdischen Wertsetzungen verkörpert und damit den Sänger in der Rolle des Minnepartners in die existentielle Verbindlichkeit einer Werbung durch Dienst hineinzwingt, sondern ganz abstrakt von den vrouwen, von ihrem reht (vgl. 192,195), ihrer art (vgl. 197), ihrem ordert (vgl. 300) ist hier die Rede. Mit dieser begrifflichen Fixierung ist eine Ebene des Argumentierens gewählt, die - im Gegensatz zum Minnespiel und seiner Verstrickung in die klassischen Paradoxien - auf die Erklärung des Wertstatus abzielt, der den vrouwen durch ihren namen zugeschrieben ist. Das hat zur Folge, daß das, was im Minnesang zu den Voraussetzungen gehört, mit denen jeder operiert und die selbst nicht der Erwähnung bedürfen, hier argumentativ vollzogen wird. In genauer Anknüpfung an den eingangs geäußerten Anspruch, die vrouwen baz zu loben, und als Manifestation des rehts setzt der Frauenpreis mit der Ableitung des höchsten irdischen Wertstatus der vrouwen, dem summum bonum, ein (vgl. 204ff.).17 Mit dem feierlichen Nachzeichnen des von Gott den vrouwen zuerkannten Wertstatus verändert sich auch das Argumentationsfeld, in dem die Anstrengungen und der existentielle Zwang des Dienstes im Minnesang motiviert werden. Die erotische Grundstruktur der Werbung ist für die hier vorgeführte Konzeption von Frauendienst weitgehend bedeutungslos. Nicht das Einfordern der Minneerfüllung ist es, aus dem heraus die Kontinuität des Dienens begründet wird, die prinzipielle Unendlichkeit des Dienstes wird abgeleitet aus der prinzipiellen Unerschöpflichkeit des Wertstatus der vrouwen. Indem so aber beharrliches Einfordern oder Hoffen auf Erfüllung als eine der Triebkräfte von Minnedienst wegfällt und sich die ganze Argumentation auf die Möglichkeiten ethischer Vervollkommnung im Dienen konzentriert, löst sich auch das klassische Dilemma des Minnesangs, wie es Reinmar in seinem Preislied (MF XIV = 165,10ff.) formuliert, auf: Zwei dinc han ich mir vür geleit, diu stritent mit gedanken in dem herzen min: ob ich ir höhen wirdekeit mit mtnen willen wolte läzen minre sin, Oder ob ich daz welle, daz si groezer si und si vil saelic wip beste min und aller manne vri. siu tuont mir beide we: ich wirde ir lasters niemer vrö; vergit siu mich, daz klage ich iemer me. (MF XIV, 4,1-9 = 165,37-166,6)

Auch Reinmar operiert in diesem Lied mit den Möglichkeiten des Frauenpreises, die sich durch die Konzentration auf den Wertanspruch des Gattungsnamens 16 17

Vgl. dazu Glier S. 40, bes. Anm. 52. Vgl. auch 589ff.

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eröffnen; und er offeriert diesen Abstraktionsschritt, der aus der paradoxen Grundstruktur seiner Minnebindung heraus auf die Ebene des namen führt (MF XIV, 3ff. = 165,28ff.), seinem gelangweilten, überdrüssigen Publikum als niuwe mcere (vgl. MF XIV, 1,1 = 165,10).18 Aber auch diese neu erschlossene Dimension des Preisens dient ihm nur dazu, den Wertstatus seiner Dame soweit zu steigern, daß sich die paradoxe Grundstruktur des Minneverhältnisses nun als klassisches Dilemma der Sängerrolle fassen läßt. Der Sänger aber wiederum begründet die Glaubwürdigkeit von seinem singen unde sagen (vgl. MFXIV, 5,6 = 166,12) gerade mit der unauflöslichen Bindung an die paradoxe Situation, mit der existentiellen persönlichen Betroffenheit im Minneverhältnis zu seiner Dame. Während Reinmar die Abstraktion, die der Preis des namen bedeutet, gerade wieder überwinden muß, um sich gegen den Vorwurf seiner Kritiker, seine klage sei reine Rhetorik, zu verteidigen (vgl. MF XIV, 5,5ff. = 166,llff.), legt sich der Stricker in der >Frauenehre< demonstrativ auf diese Ebene der Abstraktion fest, um den für ihn wesentlichen Sinn von Frauendienst herauszustellen und zu bewahren. Zum Kern der >FrauenehreFrauenehre< direkt Bezug. Die Strophe, in der Waither geschickt die Kategorie wip, die als name des Geschlechts die oberste Stufe in einer Begriffshierarchie möglicher Verallgemeinerung darstellt, nun als die Kategorie ausweist, die zugleich die höchste Stufe in einer Hierarchie ethischer Werthaftigkeit bezeichnet, hat im Kontext des Liedes (L. 47,36ff.) die Funktion eines argumentativen Zwischenstücks.20 Thema des Liedes ist das Problem gevüegen singens. Zunächst wird die Qualität des singens von der jeweiligen sozial-ethischen Verfassung der höfischen Gesellschaft abhängig gemacht: Hie vor, dö man so rehte minneclichen warp, do wären mine spräche fröiden riche: sit daz diu minnecliche minne alsö verdarp, sit sane ouch ich ein teil unminnecliche. iemer als ez danne stät, alsö sol man danne singen. (L. 48, 12-17)

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Zur Bedeutung des namen vgl. Christoph Huber: Wortsint der dinge zeichen. Untersuchungen zum Sprachdenken der mittelhochdeutschen Spruchdichtung bis Frauenlob. München 1977 (MTU 64), S.22ff.; zu Reinmars Preislied S.26ff. Zur Fortsetzung des wip-lvrouwe-Stteits in der Spruchdichtung des 13. Jahrhunderts vgl. Burghart Wachinger: Sängerkrieg. Untersuchungen zur Spruchdichtung des 13. Jahrhunderts. München 1973 (MTU 42), S. 188-246; Karl Bertau: Zum wip-vrowe-Streit. GRM28 (1978), S. 225-232. Vgl. Huber S. 36ff.; Gerhard Hahn: Zum sozialen Gehalt von Waithers Minnesang. Einige Beobachtungen am Text. In: Medium Aevum deutsch. Beiträge zur deutschen Literatur des hohen und späten Mittelalters. Festschrift für Kurt Ruh. Hrsg. von Dietrich Huschenbett u.a. Tübingen 1979, S. 121-138.

Dieses Abhängigkeitsverhältnis zwischen Sänger und Gesellschaft kehrt sich mit der Zuspitzung des Urteils über die gegenwärtige Situation der unvuoge um. Der Geltungsanspruch der höfischen Damen beruft sich auf die Befähigung, guot und übel scheiden zu können, aber sie erweisen sich diesem Anspruch gegenüber jetzt als unfähig. Das ermächtigt den Sänger, die Aufgabe des scheidens zu übernehmen, und er zieht damit gleichzeitig die gesamte Autorität auf sich, die an dieser Funktion haftet. Diesen Vorgang des scheidens, dem die höfischen Damen nun selbst unterzogen werden, leistet die Definitionsstrophe: Wip muoz iemer sin der wibe höhste name, und tiuret baz dan frowe, als ichz erkenne. swä nü deheiniu st diu sich ir wipheit schäme, diu merke disen sanc und kiese denne. under frowen sint unwip, under wiben sint si tiure. wibes name und wibes lip die sint beide vil gehiure. swiez umb alle frowen var, wip sin alle frowen gar. zwivellop daz hcenet, als under wilen frouwe: wip dest ein name ders alle krcenet. (L. 48, 38-49,11)

In diesem Definitionsprozeß zeigt sich die zunächst wertneutral erscheinende Kategorie wip der mit scheinbar selbstverständlichem ethischen Anspruch ausgestatteten Kategorie vrouwe überlegen, da sich die bisher allgemein vorausgesetzte Identität von ständischem Rang und Wertstatus als nicht existent herausstellt. Während also die weitaus abstraktere Kategorie wip als so konkret ausgewiesen wird, daß ihr allein die Funktion desscheidens zukommt, wird der zunächst sehr viel konkreter erscheinenden Kategorie vrouwe jedes ethische Unterscheidungsvermögen abgesprochen, weil sie sich als ethisch nicht definiert zu erkennen geben muß. An diesem Ergebnis korrigiert der Sänger unmittelbar darauf sein eigenes Verhalten beim dienen durch sanc und der entsprechenden /on-Erwartung. Er sagt den vrouwen den dienst auf und wendet sich von nun ab nur noch an die wip, an die also, die ihren ethischen Wert im Erkennen und Unterscheiden von guot und übel, und das heißt auch in angemessenem danc (vgl. L. 49,23), unter Beweis stellen. Wenn in diesem Lied die Argumentation aus der vuoge-Diskussion heraus auf die Ebene des namen abhebt, so gewinnt diese Abstraktion jedoch keinen Eigenwert, sie bleibt bezogen auf die - wenn auch hier aufs Äußerste angespannte - kritische Reflexion der Bedingungen und Möglichkeiten von Minnedienst und Minnesang. Der Schritt bis zu einer Selbstaufhebung des ganzen Systems scheint allerdings nicht mehr groß. Das Ausmaß an Autorität, das sich der Sänger zu eigen macht, distanziert ihn selbst so weit von dem Spiel, daß er sich bereits nur noch generell über die vrouwen bzw. die wip äußern kann. Dies ist die Stelle in der Entwicklung der Minnesangdiskussion, an der sich der Stricker einschaltet. Die Erörterung des wip-/vroMwe-Themas in der >Frauenehre< setzt ein mit dem fingierten Einwand eines Kritikers: Durch die undifferenzierte Verwendung des 23

namen vrouwe »mache« der Autor mehr vrouwen als es tatsächlich gebe (vgl. 852ff.). Mit diesem Einwand wird Walthers polemische Entscheidung, der Kategorie vrouwe gerade nicht den Rang des namen zuzuerkennen, ins Gedächtnis gerufen und als Ausgangspunkt der eigenen Argumentation eingesetzt. Die Auseinandersetzung mit diesem Einwand beginnt mit der banal wirkenden Feststellung, daz ein vrouwe und ein wip / wol beide habent einen lip (861f.). Diese Feststellung erweist sich jedoch als durchaus nicht banal, da aus ihr - logisch glatt - die Forderung resultiert, daß sich die vrouwen des namen wip nicht zu schämen hätten (vgl. 863ff.). Damit steht wie bei Walther das Problem der vrouwen zur Debatte, aufgrund ihrer ständischen Exklusivität automatisch einen exklusiven Wertstatus zu beanspruchen und so in arroganter Selbstüberzogenheit den namen wip für sich abzulehnen. Auch das ist Walther-Zitat (vgl. L.49,1). Anders aber als Walther, der die Kategorie vrouwe gerade deshalb für untauglich erklärt und statt dessen die Kategorie wip einführt, hält der Stricker zunächst an der ständisch vorbelasteten Kategorie vrouwe fest und arbeitet im folgenden mit der Unterscheidung zweier möglicher Bedeutungen: Mit der ersten Verwendungsweise des Begriffs vrouwe bezeichnet er diejenigen, die Walther als wip klassifiziert hat: Den namen vrouwe verdient nur, wer die privilegierenden Vorgaben adeliger Standeszugehörigkeit nicht als Selbstzweck genießt, sondern als Verpflichtungsanspruch begreift und in entsprechendem Verhalten bewährt. die vrouwen sint zweier hande: die einen vrouwen die sint beidiu vrouwen und vrouwen kint: vrouwen tugent und vrouwen muot, vrouwen geburt und vrouwen guot, daz hant si unde vrouwen namen. dannoch suln si sich niht schämen, daz si ze wiben sint gezalt. ein wip si junc oder alt, sine hat niht einer vrouwen lip, sine si alrerste ein biderbe wip. (866-876)

Die zweite Bedeutungsmöglichkeit des Begriffs vrouwe macht mit der zuvor geforderten absoluten Priorität wertethischen Verhaltens Ernst. Den armen wiben,21 die nicht über den Vorzug standesgemäßen Besitzes (guot) verfügen, sich aber dennoch durch zuht und ere auszeichnen, gebührt gleichfalls der name vrouwe. Ihr vorbildliches Verhalten macht sie zum Orientierungsmuster für die vrouwen, die durch die Freiheit von den Zwängen materieller Existenzsorgen (richeit) zu entsprechendem Handeln prädestiniert sind.22 21

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Im Gegensatz zu Hartmanns »Unmutslied« (MF XV, Iff. = 216,29), wo die armen wip nicht nur als wertethische, sondern auch als ständische Kontrastfigur zur vrouwe eingesetzt werden, sind hier mit armen wiben eindeutig adelige Damen gemeint, denen von den wichtigsten Attributen ständischer Geltung allein das verschwenderische Verfügen-Können über Reichtum fehlt. Vgl. dazu auch Waljher L. 42,31ff., wo außer den jungen gerade die riehen angesprochen werden, ihr unbetwungen-Sein in der Freiheit der richtigen sozialen Selbstbestimmung zu dokumentieren. Vgl. Hahn, Walthers Minnesang (s. S. 22 Anm. 20), S. 134f.

die andern vrouwen sol man da bi schouwen: swelch wip sich so versinnet, daz si zuht und ere minnet, swie arm si si des guotes, sit si des reinen muotes durch nieman wil bedriezen si sol des so vil geniezen, swer ir fugende erkenne, daz er si vrouwe nenne. die hant niht wan vrouwen namen. des suln sich niht die vrouwen schämen, die vrouwen heizent unde sint. (877-889)

Mit dieser Konfrontation von sin und heizen ist das Problem, das den wip-lvrouweStreit ausmacht, nun auch begrifflich noch einmal genau bezeichnet. Die prinzipielle Bedeutung dieses Verhältnisses von sin und heizen zu bestimmen, ist das Ziel, auf das diese Diskussion in der >Frauenehre< ausgerichtet ist. Während in dem entsprechenden Lied Walthers der Sänger durch den mit der Definitionsstrophe geleisteten Vorgang des scheidens zu einer neuen radikalen Fassung der dienst-lonBeziehung ermächtigt wird, mündet der Definitionsteil in der >Frauenehre< ein in die Formulierung einer Sentenz. Die Erörterung dieser Sentenz bildet sowohl von ihrer kompositorischen Stellung wie von ihrem Gehalt das Kernstück der hier geleisteten Auseinandersetzung mit dem wip-lvrouwe-Thema. Wenn die armen wip mit der ere, die sich mit dem namen vrouwe verbindet, ausgestattet werden, so erscheint das in den Augen der werlde, so wie sie gegenwärtig beschaffen ist, eine ere arte vrumen. ez dunket leider ein wint, als nu der werlde muot stat, der ere ane vrumen hat. (890-892)

Unter vrumen aber versteht man dabei allein einen Nutzen, der sich materiell dokumentiert, und das heißt vollen Genuß der ständischen Privilegien beinhaltet, ohne daß diese Potenz als Verpflichtung zu entsprechendem Handeln begriffen werden müßte. Was damit gemeint ist, wird mit der auch im Minnesang immer wieder auftauchenden Vorstellung des Kaisers ohne Land23 veranschaulicht: wcere ich ein keiser genant und enhcete liute noch lant, so wolde ein künic sin leben umbe daz mine niht geben, der ein landesherre wcere. im wcere diu ere unmcere, da niht vrumen von quteme. diu weere mir doch geneeme und wolde da mit beliben. also ist den armen wiben: diu niht ein vrouwe wesen sol, der tuot doch vrouwen name wol. 23

Vgl. z . B . Morungen M F XXVIII, Iff. = 142,19ff.

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man sol in vrouwen namen geben, die so wol zierent ir leben, daz si die tugent begant, die grozen vrouwen ere hant. die fügende sol man eren und sol dar gerne keren vrouwen namen umbe daz. (893-911)

Am Ende dieser Erörterung hat sich die einleitend zitierte landläufige Meinung von der ere ane vrumen als gravierende Fehleinschätzung erwiesen. Wenn sin und heizen bzw. nennen nicht mehr identisch sind, dann ist die postulierte Deckungsgleichheit der hierarchischen Verteilung der Privilegien und einer Hierarchie des entsprechenden Wertverhaltens nicht mehr gewährleistet, dann verkehrt sich die normative Rangfolge der ere in die Willkür einer Über- und Unterordnung aufgrund unterschiedlicher Verfügungsgewalt über Besitz und Herrschaft. Die Identität von sin und heizen ist aber nur dann garantiert, wenn standesspezifischem Wertverhalten die absolute Priorität bei der Einordnung in die Ständehierarchie zukommt, wenn vrumen als vrumen der tugent verstanden wird.24 Die Anwendung auf das Funktionieren der Ständeordnung macht deutlich, daß es hier darum geht, die prinzipielle Bedeutung des wip-lvrouwe-Streits zu bestimmen. Was als Prinzip formuliert ist, wird gleich darauf noch einmal in seiner konkreten Wirksamkeit vorgeführt. Die Demonstration gipfelt im Spiel mit der Doppeldeutigkeit des Begriffes guot: Nur wenn das Verfügen über großes guot sich als güete erweist, leitet die Bezeichnungsfunktion der ständischen Attribute nicht fehl, ist die postulierte Deckungsgleichheit zwischen signalisiertem Wertanspruch (gwoi-Besitz), Wertsein und dessen Aktivierung zu sozialer Wirksamkeit (güete) gegeben.25 ein vrouwe erkennet dester baz, sit man die armen eret, diu sich an fügende keret, daz ir die fugende sere vrument. sit ir ze ganzer helfe koment geburt, schcene und richeit, irn sol daz niemer werden leit, daz man si heizet ein wip. der name liebet vrouwen lip. swie hoch si si des muotes und swie riche des guotes, si sol wipliche güete, kiusche und diemüete

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Diese Interpretation widerspricht der Auffassung Räkels, er sieht die programmatische Bedeutung der wip-/vrouwe-Debatte in der >Frauenehre< darin, daß der Stricker einer adeligen Dame den Adel abspricht, »wenn sie keine Bürgertugend besitzt« (S. 171). Eine solche Deutung aber läßt sich meiner Meinung nach schon deshalb nicht halten, weil der Begriff biderbe wip (vgl. 851ff.) hier gerade nicht als ständische Entgegensetzung zum höfischen Milieu konzipiert ist. Vgl. auch 261ff., 656ff. Zur literarischen Verbreitung dieses Argumentationsmusters vgl. S. 53 Anm. 16 und 17.

der werlde zeigen da bi, daz si vil gerne ein wip si. sine ware niemanne guot ane güete und ane diemuot.

(912-928)

So verstanden wird Frauendienst zum Muster gelungener sozialer Interaktion. Im adäquaten Zusammenspiel der Rollen von vrouwe und Ritter werden beanspruchter und zugesprochener Wertstatus identisch, und mit diesem Identisch-Werden entsteht Wertharmonie. Was diese Wertharmonie bedeutet, teilt sich mit im feierlichen sprachlichen Vollzug der Wertbedeutungen. So wird ζ. Β. die genade der vrouwen, die Eigenschaft also, die ihre Gott analoge Position bezeichnet, in ständig wechselnden morphologischen, syntaktischen und semantischen Beziehungen so lange variiert, bis sich die Bedeutung dieser Eigenschaft als gelungene Balance der Rollenbeziehungen im Frauendienst sprachlich abbildet: dem ist ouch ir genade guot, der so gencedicliche tuot, daz er durch sine vrouwen lat solchen willen schouwen und ir genaden also gert, daz er die umbe ir genade wert, die so gencediclichen gernt,

da von sin ere wuocher bernt.

(253-260)

Das konstruktive soziale Potential, das in einer solchen Beziehung der Gegenseitigkeit wirksam wird, zeigt die Charakteristik der rehten minncere. In ihrer Minne ist die Erkenntnis des Wertstatus der vrouwen gleichbedeutend mit dessen Verwirklichung in entsprechendem Handeln, und diesem Handeln wiederum ist die Zuerkennung des Wertstatus adäquat, den sie sich selbst handelnd erwirken. die minncere sint überladen mit liebe und mit leide. swer die bekennet beide, dem ist diu ere heimlich, der ert die vrouwen unde sich. er weiz wol daz si ere gebent und alle die mit eren lebent, die sich an die ere kerent,

daz sie vrouwen ere merent.

(774-782)

Daher ist es konsequent, wenn richtig verstandener Frauendienst als Bedingung und Garantie höfisch ritterlicher Gesellschaft verstanden und gewürdigt wird. Ohne vrouwen gäbe es keine Ritterschaft. Was dieser Zusammenbruch höfischer Kultur bedeutete, wird drastisch vorgestellt: Ihrer Selbstbestimmung durch Frauen- und Waffendienst beraubt, bliebe den Rittern nur noch die taverne als leitstern ihres irdischen Heils (vgl. 580ff.). Diese kulturerzeugende und kulturtragende Bedeutung von Frauendienst wird unmittelbar im Anschluß an die wip-/ vrouwe-Diskussion noch weiter ausgedehnt und verallgemeinert: Die Existenz des ganzen laikalen Bereichs wird von den vrouwen abhängig gemacht, sie sind der 27

werlde lebene (vgl. 932), anders als durch sie kann sich die werlt nicht definieren (vgl. 929f.). 26 Vor diesem Bedeutungshorizont ist nun der Sinn der programmatischen Festlegung auf die Ebene des namen noch einmal genauer zu bestimmen. Mit dem Abstraktionsschritt von der Ebene eines fingierten persönlichen Minneverhältnisses auf die Ebene des Gattungsnamens löst sich die Diskussion von der Verkörperung des Werts in der einen, einzigartigen vrouwe. Demgegenüber repräsentiert der Gattungsname »das Allgemeine, Bleibende, der Veränderung nicht Unterworfene«, 27 er bezeichnet den Anspruch, der mit der von Gott gesetzten Ordnung gegeben ist. Damit wird der Vorgang des nennens zum Beweis für die Fähigkeit ordobezogenen Erkennens: Im nennen dokumentiert sich das Wissen um den von Gott zuerkannten Wertstatus und dessen Verpflichtung zur Konkretisierung im Handeln. Den namen der vrouwen zur Geltung zu bringen, setzt also höchstes Wertbewußtsein sowohl beim Autor wie auch beim Publikum voraus, nennen bedeutet, die Identität von sin und heizen herzustellen bzw. Pseudoidentitäten von sin und heizen aufzudecken und als Trugbilder zu zerstören. Auf diese Weise ist der Vorgang des nennens identisch mit dem Prozeß des scheidens: Die rehten liute werden ebenso kenntlich wie die valschen, die ihr ungevüege- Sein hinter der Maskerade trügerischer Zustimmung zu verbergen suchen. Gemäß dem höchsten irdischen Wertstatus, den der name vrouwe verkörpert, kann sich nennen im Kontext von Frauendienst nur als loben vollziehen. Im Vorgang des lobens wird das konstruktive Potential von Frauendienst entfaltet, wird der vrumen der vrouwen unmittelbar wirksam.28 Damit wächst dem Prozeß der Verständigung zwischen Autor und Publikum eine fundamentale Bedeutung zu: Er hat den Anspruch, den Wertstatus der vrouwen »kommunizierend« zu vergegenwärtigen, und diese Verständigung ist so angelegt, daß sie die Identität der rehten wie der valschen liute offenbar macht. Dem loben diametral entgegengesetzt ist das sich rüemen, die im Zusammenhang mit dem Minnethema immer wieder kritisierte Rollenpose des Liebhabers, der mit heimlich genossener Minne öffentlich prahlt und damit seine Partnerin kompromittiert. 29 Statt ein Muster harmonischer Gegenseitigkeit zu sein, verkommt Minne in dieser Prahlerei zum Objekt narzißtischer Projektionen. In der >Frauenehre< sind es die gelichsenare, die als rüemcere charakterisiert werden. Ihre schon eingangs erwähnte zerstörerische Funktion läßt sich nun als Gegenposition zu der sozial 26

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Wie in der eingeschalteten wip-/vrouwe-Dcbatte der Anspruch des namen an der richtigen Aktivierung von standesgemäßem Besitz erläutert wird, so beginnt auch die Typologie derer, die sich zu Unrecht von der werlde zurückgezogen haben und damit die vröude mindern, mit dem guor-Thema: Wer durch die gitikeit des guotes, und das heißt durch haz und durch nit, der werlde mißtrauisch den Rücken kehrt, der hat jedes Recht auf soziale Zugehörigkeit verwirkt (vgl. 951ff.). Huber S. 30. Zum Zusammenhang von nennen und loben vgl. Huber S. 44ff. Zur Polemik gegen die rüemare vgl. u.a. Waither L.41,16ff.; Thomasin von Zirclaere >Wälscher Gast< (ed. Rückert) 227ff.; Ulrich von Lichtenstein >Frauenbuch< (ed. Lachmann) S. 600; Reinmar von Zweter Nr. 254.

positiven Wirkung von loben fassen. Die gelichsencere sind die valschen minncere, die Feinde rehter minne, und damit zugleich die falschen Kritiker, die dem Autor seine Kompetenz absprechen wollen und dabei bezeichnenderweise mit seiner Unfähigkeit zu loben argumentieren, um so ihre wahren Ambitionen zu verschleiern. Den Autor zum Schweigen zu bringen bzw. lop zu verhindern, aber ist schedelich (vgl. 494). Noch ein dritter Begriff ist heranzuziehen, der die Bedeutung von loben konstrastiv verdeutlicht, das schelten. In genauer Entsprechung dazu, daß Frauenpreis ein reht darstellt, das allen rehten obe ist (vgl. 429), bedeutet Frauenschelte Rechtsbruch, rquplichen schaden (vgl. 1790). Wer über die vrouwen spottet und schimpfet (vgl. 1794), der versucht, den vrumen ihrer tugent zu verhindern. Indem sich der Prozeß des lobens, der das adäquate Zusammenspiel sozialer Rollen vorführt und initiiert, ins Gegenteil verkehrt, wird die werlt um den aller hoehesten gewin gebracht (vgl. 1782), wird die Entfaltung von vröude hintertrieben (vgl. 1784f.).30 Mit dem Programmwort der vröude ist der Moment bezeichnet, in dem sich die normative Vorgabe des namen in der Praxis sozialen Handelns konkretisiert, in dem individueller Wertanspruch, Wertsein und kollektiv zugestandene Wertschätzung zusammenfallen. In diesem Sinne ist vröude gleichbedeutend mit dem Zustand intakter Wertrealisierung, der das Ergebnis richtig verstandenen Frauendienstes ist. Das Spiel mit den Programmworten vrouwen und vröude durchzieht die gesamte >Frauenehrevrouwe< nenne und wa bi man daz bekenne, daz ir lip, ir lop, ir name wol si ein rehtiu gemeinsame, daz vrouwen lip und ir leben sol vröude haben unde geben, des ist ir nam erkenniclich. daz an in ist daz nennet sich: die vröuwent unde sint vro, da von heizent si also, daz vrouwen an in ist bekant, des sint si vrouwen genant, sit si ze vrouwen sint geborn und sint ze vrouwen erkorn und ganzer vröuden gewin niemen vindet wan an in, 30

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Zur Kritik von Frauenschelte als Zeichen von unvuoge vgl. Walther L. 24,3; Freidank (ed. Bezzenberger) 103,25f. Vgl. dazu Uwe Ruhberg: Verfahren und Funktionen des Etymologisierens in der mittelhochdeutschen Literatur. In: Verbum et Signum. Beiträge zur mediävistischen Bedeutungsforschung. Hrsg. von Hans Fromm u.a. Bd. 1. München 1975, S. 295-330, bes. S. 329f.

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swer daz kan bekennen, der muoz si vrouwen nennen. im was ir vröuwen wol bekant, der vrouwen vrouwen namen vant.

(1069-1090)

Die Etymologie beginnt mit dem Verweis auf die Voraussetzung, auf der sie beruht: Das Wertpotential, mit dem das Sein der vrouwen ausgestattet ist, und die ihm angemessene soziale Geltung dokumentieren sich im namen; lip, lop und name der vrouwen sind ein rehtiu gemeinsame. Aufgrund dieser Prämisse wird die etymologische Erklärung des namen zum Erkenntnisinstrument, das Wort erschließt die Bedeutung des Sinnträgers, der name ist erkenniclich. nennen bedeutet ordogemäßes Erkennen. Der Objektivitätsanspruch dieses Vorgangs wird nun auch sprachlich fixiert: Die vrouwen vröuwent unde sint vro, und diese entscheidende Qualität ihres Seins artikuliert sich im namen: daz an in ist daz nennet sich, nennen erhält damit Offenbarungscharakter. Im Vorgang des nennens offenbart sich der Status der Vollkommenheit, in den Gott die vrouwen eingesetzt hat, der Frauendienst zum Medium irdischen Heilserwerbs prädestiniert. Die Sinnfindung arbeitet mit der Ähnlichkeit der Lautbilder des namen vrouwen und ihrer zentralen Wertqualität vröuwen bzw. vröude. »Das wichtigste Ziel des mittelalterlichen Etymologisierens ist das Ding, das mit Hilfe des bezeichnenden Wortes in einem wesentlichen Aspekt erkannt und ausgedeutet werden soll. Dieser Zugriff läßt sich über den Lautklang gewinnen, da Lautklang auf sachliche oder ideelle Nähe führt. Die lautlichen oder inhaltlichen Korrespondenzen setzen einen Denkanreiz frei, der das etymologische Aufdecken von Wahrheit als einen voranzutreibenden Prozeß erfährt.«32 Mit der etymologischen Erklärung des namen ist die Erschließung der Wertbedeutung, die den vrouwen zukommt, jedoch nur eingeleitet. Die vröude, die sie vermitteln, ist das Resultat ihrer tugende, diese aber sind unerschöpflich und entziehen sich damit jedem Versuch einer vollständigen Aufzählung. In dieser Situation scheinbarer Ratlosigkeit des Autors erweist sich die Erklärung des namen auch von der Darstellungsweise her als programmatischer Ansatz. Mit der Methode des Etymologisierens ist die Basis geschaffen für ein allegorisches Deutungsverfahren, der Prozeß der Sinnfindung setzt sich fort in der Tugendbaum-Allegorie (1093-1392). Auch diese Phase des Deutungsgeschehens beginnt mit einer Charakteristik der Intention des Verfahrens: Hie sol man sinne unde wort von anegenge unz an den ort mit gedanke rehte schouwen.

(1201-1203)

Was zuvor dem Versuch, den tugenden der vrouwen im Sinne einer vollständigen Aufzählung gerecht zu werden, als Möglichkeit kategorisch abgesprochen wird, ist hier erreicht: Die allegorische Deutung wird angekündigt als ein Verfahren, das imstande ist, das Wertpotential der vrouwen vollständig (von anegenge unz an den ort) zu erschließen. Es erschließt sich der Deutungsaktivität (mitgedanke), die das 32

30

Ruhberg S. 330.

allegorische Verfahren mobilisiert; es wird so, wie es ihm gemäß ist (rehte), anschaulich und damit erkennbar (schouwen) im Bild des Tugendbaums. Das Bild des Tugendbaums bietet die Möglichkeit einer gliedernden, ordnenden Darstellung; sie wird hier genutzt, um die werterzeugende und wertstabilisierende Leistung von Frauendienst und Frauenpreis systematisch zu entfalten und zu vergegenwärtigen. Die Deutung beginnt mit dem Stamm, ihm entsprechen lip, herze und muot der vil minneclichen wibe (vgl. 1207ff.). Wie aus dem Stamm die

Äste wachsen, so zeigt sich die Identität der vrouwen an ihren tilgenden. Diese werden - der Vorstellung folgend, die sich mit dem Astwerk eines Baums verbindet - hierarchisiert: An der Spitze, über zuht, schäme und triuwe, steht die minne, sie ist der tugende küniginne (1260). Aus dem Bildelement der Verzweigung der Äste wird die angemessene gesellschaftliche Wertschätzung entwickelt, die die tugende der vrouwen mit Notwendigkeit »hervortreiben«. Es ist die ere, mit der die werlt auf die Repräsentanz von Vollkommenheit reagiert, es sind diu meere, die sich von landeze lande ausbreiten (vgl. 1324f.), der rechte Frauenpreis. Den Blättern des Baums entspricht - angeregt durch die Ähnlichkeit des Lautbildes von gelouben und loup (vgl. 1328f.) - die Wirkung dieser mcere. Sie realisiert sich in den Blüten, in der minne, die der Anblick einer vollkommenen vrouwe im herzen und in den sinnen

eines Mannes entzündet (vgl. 1358). Den Früchten schließlich wird die Steide gleichgesetzt, die rechtem Minnedienst in freiwillig gewährter Minneerfüllung zuteil wird. Was diese scelde bedeutet, wird mit dem Stichwort der huote charakterisiert. Mit dieser Charakteristik schließt die allegorische Deutung ab, sie kennzeichnet zusammenfassend die Bedeutung von Frauendienst. Frauendienst erscheint als ein Prozeß, in dem die Vollkommenheit einer vrouwe sich immer neu umsetzt in richtiges Wertbewußtsein und Handeln des Mannes, er wird zum Muster eines adäquaten Zusammenspiels der Rollen, das Wertharmonie erzeugt, die tugende der vrouwe werden wirksam im Zentrum jder Person, im herzen des Mannes. Sie mobilisieren und lenken dort jene Deutungsaktivität (gedanc), die Voraussetzung richtiger Lebensführung ist. Die zuht der vrouwe z.B. realisiert sich als sines herzen lere und als geleite von sinen gedanken allen (vgl. 1401ff.), ir schäm wird zum lop des

herzen sin, zur ere siner gedanke (vgl. 1405ff.) usw. In einem solchen Zusammenspiel der Rollen sind Verpflichtung und subjektive Intention des Handelns nicht mehr zu unterscheiden. Die vrouwe verwirklicht ihre Funktion als normsetzende Instanz, indem sie ir sinne, ir wille und ir muot (1450) ganz dem gebot des Mannes unterstellt, ihre huote besteht gerade darin, daß sie ihn zur vollen Entfaltung seines Wertes freisetzt. Die w/p-/vroM)ve-Diskussion als das Kernstück der >Frauenehre< wird eingeleitet durch die Erklärung, die vrouwen seien der werlde herze (vgl. 812). Im Anschluß an die Bestimmung des Wertgehalts des namen wird dieses Thema erneut aufgegriffen und variiert, die vrouwen werden als der werlde leben (vgl. 932) bezeichnet. Die Bedeutung von Frauendienst als Lebensprinzip der höfischen Gesellschaft zu entfalten, ist das Ziel der Tugendbaum-Allegorie. Das Muster des Tugendbaums nimmt auf diese Weise Züge des Lebens- und des Weltenbaums an. Er spendet und 31

erhält das Leben, er ist der Baum, von dem Erkenntnis entspringt, er trägt das Weltengebäude. Das Ende des allegorischen Deutungsprozesses lenkt zurück auf die Auseinandersetzung mit den Gegnern, auf die, die Frauendienst und Frauenpreis hazzen und deshalb das hier ablaufende literarische Geschehen durch Zweifel an der Kompetenz des Autors sabotieren wollen. Die Etymologie und die Tugendbaum-Allegorie sind Deutungsprozeduren, die im Sinne gemeinsamen Zelebrierens den Wertstatus der vrouwen erkenniclich machen. Der Stand der Erkenntnis, der damit erreicht ist, ermöglicht nun eine Klärung der Situation: Es geht darum offenzulegen, wer dieses Deutungsgeschehen verbindlich mitvollzogen hat, wer zu den vriunden, wer zu den vienden zu rechnen ist. Dies provoziert die Einführung eines neuen Texttyps, bei dem sich die Erkenntnisleistung allegorischer Deutung mit dem expliziten Anspruch gesellschaftskritischer Unterscheidung verbindet, das Bispel.33 Das Bispel vom Ackermann wird angekündigt als Teil des Kommunikationsprozesses, der endgültig die valschen von den rehten scheiden und die schuldigen riiegen wird (vgl. 1608ff.). Im Gegensatz zu den vorausgehenden literarischen Deutungsverfahren wird in dem Bispel das Verhalten der viende selbst zum Thema gemacht. Der Bildteil (1615-1690) erzählt die Geschichte von einem Bauern, der sein Korn vor der Reife zerstört. Mit haz und nit betrachtet er die heranreifende Ernte der anderen und kommt dabei voll Verbitterung zu der Überzeugung, daß die arbeit, die er investiert, und die werdikeit, die er dadurch gewinnt, immer in einem eklatanten Mißverhältnis stehen werden. Stets wird es einen anderen Bauern geben, der ebensoviel Korn wie er oder sogar noch mehr erntet, nie wird ihm ein für allemal der Vorrang vor allen anderen sicher sein. er sprach >da ist diu arbeit ze groz und ist diu werdikeit da wider gar ze kleine. ich sage iu wie ich daz meine: swie vil ich kornes ie gewan, so het ein ander buman wol als vil oder me. nu tuot mir graezlichen we, daz man uns niht danc seit umbe unser grozen arbeit und umb den michelen vrumen, der muoz von uns den liuten komen. sol ich groze arbeit an gan und sol niht grozer eren han, so bin ich unwise; sol ich bi miner spise grozer eren entwesen, so wil ich ane arbeit genesen. korn wirt iemer genuoc. man muoz den acker und den pfluoc mit solcher arbeite han, daz ich mich beider wil erlan.< (1635-1656) 33

32

Vgl. S. 184f.

Während den baesen liuten diese Überlegung guot dünkt (vgl. 1658) und sie seinem Beispiel folgen, bringen die übrigen Bauern den Fall vor den Richter. Dieser erkennt, daß es sich um ein todeswürdiges Verbrechen handelt, und richtet die Angeklagten, indem er sie der Konsequenz ihres eigenen Verhaltens ausliefert: Er ordnet an, daß keiner den Betreffenden Korn leihen oder schenken soll, und vollstreckt auf diese Weise das Todesurteil, das sie sich mit der Vernichtung ihrer Ernte und der kategorischen Absage an jede arbeit selbst erwirkt haben. Die Auslegung (1691-1804) setzt ein mit der Deutung des Gerichtsurteils, es wird unmittelbar bezogen auf die angekündigte Situation der Unterscheidung der Hörer. Der Urteilsspruch des Richters wird als richtig erklärt, er hat Modellcharakter: Das Publikum ist aufgefordert, in der gleichen Weise über die zu richten, die uns verderbent daz korn (1703). Das damit einsetzende Rechtsgeschehen beginnt mit der Bestimmung der hier zu verhandelnden Straftat, mit der Definition des valschs der valschen (vgl. 1614). Das Korn, das der Bauer vor der Reife vernichtet, wird identifiziert als die vröude, mit der Gott die vrouwen ausgestattet hat. Der valsch der valschen besteht darin, daß sie die vröude zerstören, indem sie sich weigern, dieses Wertpotential in der arbeit des Frauendienstes sozial wirksam werden zu lassen. Der Feststellung des Tatbestands folgt die Klärung seiner Bedeutung. Die Zerstörung der vröude durch die valschen wird konfrontiert mit der Bestimmung der Ritter und der vrouwen, der vröuden bildcere (1743) zu sein. man solte an in zwein schouwen der vröuden bildcere, wan ez vil billich wcere, daz si die lere vor trüegen. (1742-1745)

Gemessen an diesem Anspruch exemplarischer Verkörperung von gevüegem Verhalten, von Wertharmonie, erscheinen die valschen als monströses Zerrbild der Verfehlung, als die ungevüegen. Die ungevüegen sind die, die gegen die Anforderungen standesgemäßen adeligen Verhaltens verstoßen. Wer aufgrund von Herkunft und Besitz dem Ritterstand angehört, der ist verpflichtet, den damit verbundenen Geltungsanspruch in vorbildlichem Minnedienst einzulösen, denn diese arbeit der Wertbewährung ist es, die ihn rehte leben lehrt und ihm die Anerkennung der Gesellschaft einbringt (vgl. 1755f.). Diese Deutung der Rechtsverletzung, der sich die valschen schuldig gemacht haben, knüpft an die Erörterung des Mottos ere ane vrumen an, das im Zentrum der wi/7-/vrauwe-Debatte steht. Wer meint, ere ane vrumen tauge nichts, der negiert den Grundsatz, daß sich der Geltungsanspruch adeliger Standeszugehörigkeit in entsprechendem Wertbewußtsein und Handeln erweisen muß. Wenn dieses Postulat aber nicht gilt, ist die höfische Gesellschaft im Kern ihres Funktionierens gestört. Der soziale Rang einer Person, ihre ere bzw. werdikeit, ist dann nicht mehr das Resultat ihres wertethischen Verhaltens, ere bzw. werdikeit werden beliebig, ζ. B. durch die Größe des Besitzes oder durch die Quantität investierter arbeit, definierbar. Gerade Minne jedoch ist ein Bereich, der sich selbstgewissem Einfordern von Lohn wie jeder Kalkulation von Leistung und Verdienst per definitionem entzieht. 33

Die Zusicherung grozer eren bzw. grozer werdikeit, die der Bauer und damit die valschen vor jeder arbeit garantiert sehen möchten, ist dem Postulat des Werterweises durch die Anstrengung der Wertbewährung diametral entgegengesetzt. Ein solches Fehlverhalten wird als extreme Rechtsverletzung gewertet, dies zeigt die Verkündigung des Urteils: Wie der Bauer und die, die seinem Beispiel folgten, haben sich die valschen selbst gerichtet. Mit ihrer Absage an die arbeit der Wertbewährung zerstören sie vröude und schließen sich damit selbst aus der vröude aus. Das Urteil fordert auf zu ihrer gesellschaftlichen Isolierung, es bestimmt ihnen den sozialen Tod. Mit diesem Urteilsspruch ist das Recht der vrouwen, das die valschen verletzt haben, wiederhergestellt. Das Urteil hat den Charakter einer Aufforderung. Es wendet sich an die rehten, es verpflichtet sie, gemäß der Urteilskriterien, die der Autor in der Richterrolle vorgeführt hat, die valschen öffentlich namhaft zu machen und zu richten. Damit wird die angekündigte Unterscheidung der rehten und der valschen zum hier und jetzt gemeinsam zu vollziehenden Faktum. Was diese dem Publikum rechtsverbindlich abverlangte Leistung sozialer Selbstbestimmung bedeutet, bezeichnet die Zusammenführung der namen von werlt und vröude: Diu werlt ist vröude genant: so ist vröude vür die werlde erkant. die zwene namen sint ein dinc, daz heizet der eren ursprinc. swem die namen an gesigent, die wile unz si im obe ligent, so bekennet er wol besunder diu manigen süezen wunder, diu der vrouwen tilgende gebernt, da von die hochgemuoten wernt. (1805-1814)

Mit dem eindringlichen Bild, daß der, den die beiden namen besiegt haben, im Moment vollständigen Ausgeliefert-Seins den Wert der vrouwen bekennet, erreicht die Verständigung zwischen Autor und Publikum ihr Ziel: Im gemeinsamen Zelebrieren der Wertbedeutung, die Frauendienst und Frauenpreis innewohnt, erweist sich das Publikum als Gemeinschaft der rehten, stellt sich die normative Verfassung der höfischen Gesellschaft her.

1.3 Die Absicherung des literarischen Kompetenzanspruchs in Verbindung mit der Fahrenden-Rolle Diese abschließende Bestimmung des Ziels des literarischen Geschehens kennzeichnet das Anspruchsniveau, auf dem der Autor am Ende des Werks noch einmal die Frage seiner Kompetenz aufgreift. Der unerschöpfliche Wertstatus der vrouwen spiegelt sich in der Unendlichkeit des lobend, da er nie vollends zu erfassen ist, fordert er zu ständig neuem lobe heraus. Wer vorgibt, den Verpflichtungsanspruch dieses Wertpotentials begriffen zu haben, muß notwendigerweise auch einer Fortsetzung des lobes durch diesen Autor zustimmen. Abgesichert durch die 34

Geltung des Unsagbarkeitstopos wird erneut die Fahrenden-Rolle ins Spiel gebracht. Sie wird zunächst indirekt eingeführt, als Begründung der Unsagbarkeit: swer wisheit habe unde sin, den bile ich des vil sere durch aller vrouwen ere, daz er ditz lop also verneme, als ez den vrouwen wol gezeme, und ez niht anders verste, wan daz wol tusent stunt me an vrouwen guoter dinge won denne ich iu iemer da von gesagen mac oder kan. mir ist rehte als einem man, der über mer nie bequam und sagete iedoch als er vernam, swaz dort ienhalbe was geschehen. ich han die vrouwen gesehen und ir rede ein teil vernomen: ich ensol in ouch niht naher komen. da von mac ich noch enkan so wol niht wizzen als ein man, dem herzeliep von in geschiht, waz in ir güete tugende giht. (1836-1856)

Mit dieser Betonung des Bescheid-Wissens und Sprechens über die vrouwen aus der Distanz ist die Rückverbindung zur Diskussion der Kompetenzfrage im Prolog hergestellt. Dort blieb der genaue Sinn der Behauptung, trotz des Mangels der Privilegien, über die ein Minnesänger verfügt, sehr wohl über die vrouwen Bescheid zu wissen, noch vage. Jetzt wird dieser polemische Kompetenzvergleich noch einmal aufgenommen und explizit gemacht. Abgesichert durch den Objektivitätsanspruch, mit dem diese Form des Frauenpreises auftritt, behauptet der Autor nun, besser als die ganze Zunft der Minnesänger zusammen das Minnethema zu beherrschen. sit ich vrouwen kume erkenne und si mit vorhten nenne und doch wol an in vinden kan mer lobes denne zweinzic man volsüngen unde sageten, ob si niemer gedageten, da sol man wol gelouben bi, daz vil an in ze loben si. si habent vil maniger güete me denne mich ze wizzen beste. (1857-1866)

Dieser Anspruch auf absolute Überlegenheit wird noch einmal wiederholt und mit einer Perspektivität des Erlebens begründet, die zur Fahrenden-Rolle gehört. Gegen die privilegierende Hofzugehörigkeit eines Minnesängers spielt der Autor die Erfahrung dessen aus, der weit herum gekommen ist, der viel gehört und gesehen hat.34 Dieser Authentizitätsanspruch des Augenzeugen hat den Status 34

Vgl. Walther L.9,16ff.; 56,14ff., bes. 56,30f.; Freidank 115,12ff. 35

eines rechtlichen Beweises. Der Augenscheinbeweis gilt in der mittelalterlichen Rechtspraxis als eines der zuverlässigsten Beweismittel, mit denen der Kläger die Richtigkeit seiner Behauptungen vor Gericht belegen kann und so den Sieg über die Gegenpartei davonträgt.35 Swer daz gerne vernimt, daz mir ze sagen wol gezimt und mir niht muotet vürbaz, der siht an mir ein vollez vaz, daz vrouwen iemer top birt und iedoch niemer leere wirt. ich sage iu wa von ich des gihe: da hcere ich so vil und sihe an vrouwen daz man loben sol, daz mir daz herze wirt so vol durch die oren und der ougen tür; swaz zweinzig möhten bringen viir, so horte ich und sähe me. (1867-1879)

Wenn der Autor auf diese Weise die eigene Kompetenz absichert, so hat er damit zweierlei erreicht: Erstens ist der Einwand seiner Kritiker, die im Vollzug des Frauenpreises bereits aus dem Kreis der adäquaten Zuhörer ausgeschlossen worden sind, nicht nur endgültig entkräftet, sondern geschickt ins Positive gewendet: Nicht die Hofzugehörigkeit eines Minnesängers, sondern die Erfahrungsbreite und die Zeugenschaft eines Fahrenden befähigen und berechtigen dazu, sich des »klassischen« Themas zu bemächtigen bzw. - um noch einmal die Analogie zum Vorgang einer leiblichen Beweisung vor Gericht zu pointieren - die dem Thema zukommende Wertbedeutung mit der Evidenz sinnlicher Wahrnehmung (»blickender Schein«) zu rekonstruieren. Zugleich ist mit dieser Aufwertung der Fahrenden-Rolle der Stand in der Argumentation erreicht, auf dem der Autor am Ende des Frauenpreises den Bittgestus des Fahrenden einsetzen kann, ohne daß diesem noch etwas Demütigendes anhaftet. Wenn anfangs die Gegner meinten, ihre Taktik, den Frauenpreis durch den Hinweis auf die soziale Bedürftigkeit des Autors zu verhindern, sei mit Sicherheit erfolgreich, so hat sich die Lage nun verkehrt. Der Schritt auf die Abstraktionsebene des namen verleiht dem literarischen Unternehmen gleich zu Beginn den Charakter von Recht. Wenn der Autor am Schluß dazu auffordert, seinen Frauenpreis angemessen zu honorieren,36 so ist diese Forderung die selbstverständliche Konsequenz des rechtsgemäßen Anspruchs, der das Publikum zur Wiederherstellung des verlorenen Zustands der vröude verpflichtet. Der Bittgestus des Fahrenden stellt das letzte Glied in der Kette der Prozeduren dar, in denen das Publikum sein Wertbewußtsein, seine Fähigkeit, guot und übe/erkennen und scheiden zu können, unter Beweis zu stellen hat. Der richtige Umgang mit dem Faktor guot wird so zum Indiz für das gnoi-Sein der Zuhörer. 35

36

36

Vgl. dazu Erich Holderfleiß: Der Augenscheinsbeweis im mittelalterlichen deutschen Strafverfahren. Stuttgart 1933 (Deutschrechtliche Forschungen 6). Mit der Evidenz des Arguments, daß man einen Autor bei so richer kunst nicht armen lassen dürfe, operiert bereits Walther (vgl. L. 28,Iff.).

Daz ist iedoch ein michel kraft und ist ein groz geselleschaft, daz si vil sceligen kint der ander got der werlde sint. von ir minniclichen gotheit wirt noch vil Wunders geseit, wirt mir min armuot verjaget; daz si den vrouwen geklaget, daz mich ir lobes niht enirret, wan daz mir armuot wirret: armuot kan wol zestceren daz ze vröuden solde hceren.

(1891-1902)

Die Lohnforderung stellt noch einmal den Zusammenhang mit dem Kernstück der >FrauenehreFrauenehreMinnesängernDie Minnesängen

>Die Minnesängen1 beginnen mit einer Rekapitulation dessen, was hie vor, in der »klassischen« Zeit des Minnesangs, als hohgemutiu minne (vgl. 7) galt, und dies geschieht so, daß die typische Minnesituation unter umgekehrtem Vorzeichen der Bewertung erscheint: Hie vor do man die huote schalt und des sumlich wirt sere engalt, daz er lie sin husfrowen die geste gerne schowen, do si ir triwe ubersach und ir reht und ir e zebrach, daz hiez hohgemutiu minne. hete sumlich wirt die sinne, daz erz mit huote understuont, als noch die wisen gern tuont, den begunde man do schelten und liez in des engelten, daz er was ein merchcere; daz er toup und blint wcere, des wnschte man im lange mit rede und mit gesange. (1-16)

Dieser Perspektivenwechsel kommt dadurch zustande, daß die Situation nicht - wie üblich - aus dem Blickwinkel des Minnesängers und der von ihm umworbenen verheirateten Dame entworfen wird, sondern aus dem Blickwinkel dessen, der nicht an der Erfüllung der Minne, sondern an deren Verhinderung interessiert sein muß, des Ehemanns. Er ist durch das Werben des Sängers in seiner Rechtsposition bedroht, er ist der Betroffene. Diese kontrastive Anordnung der Rollen geschieht im Sog eines Stichworts, das bereits im Hohen Minnesang nicht nur als Störfaktor außerehelicher Minne, sondern auch als ambivalentes Faktum diskutiert wird, des Stichworts der huote? Mit der Institution der huote ist die Funktion derer bezeichnet, die die Einhaltung der gesellschaftlichen Norm überwachen. Für die Darstellung und Bewertung der Minnesituation bedeutet dies eine entscheidende qualitative Veränderung: Das Minneproblem wird zum Rechtsproblem, mit seiner 1

2

Zitiert nach: Die Kleindichtung des Strickers. Hrsg. von Wolfgang Wilfried Moelleken. Bd. 5. Göppingen 1978 (GAG 107 V). Z.B. Friedrich von Hausen MF XII, Iff. = 50,19ff. Zur Tradition und Bedeutung des Auoie-Themas in der Schwankdichtung vgl. auch Karl-Heinz Schirmer: Stil- und Motivuntersuchungen zur mittelhochdeutschen Versnovelle. Tübingen 1969 (Hermaea N.F. 26), S. 204f. 39

heimlichen Werbung um die Dame des Hauses verstößt der Minnesänger sowohl gegen das ihm gewährte Gastrecht wie gegen die von Gott gesetzte Rechtsnorm ehelicher triwe (vgl. 19f.). Wenn das Rollenspiel der Minne hier als Rechtsbruch charakterisiert wird, dann bedeutet das zugleich, daß die genuine Form des Ich-Reflexionsliedes aufgegeben ist. An die Stelle des Ichs des Minnesängers, der im höchsten Grade persönlich in das Geschehen involviert ist, tritt das Ich des Erzählers, der aus zeitlicher Distanz (hie vor) und aus der objektiven Perspektive des Rechts mit allen Details epischer Vollständigkeit schildert, wie ein solcher Fall damals in der Regel abgelaufen ist. In dieser Schilderung werden die kontrastiv angeordneten Rollen nun kontrastiv realisiert. Der Ehemann, vom Minnesänger in seinem Werbungslied hinterhältig als merchcere3 verteufelt (vgl. 13ff.), wird zum Repräsentanten des Rechts. Während er dem Gebot der Gastfreundschaft vorbildlich nachkommt und dem Fremden Unterhaltung und alle Bequemlichkeiten bietet, nutzt der Minnesänger hinter seinem Rücken frech die Vorzüge seiner Gastrolle aus und macht sich an die Hausfrau heran. Wie sich der Minnesänger als geschickter Ganove entpuppt, so ist auch die Dame nur allzu bereit, sich durch lockere Reden betrügen zu lassen und ihren Mann zu betrügen. Auch die vriunde schließlich erweisen sich als korrupt; gemäß ihrer Funktion, im Gegensatz zu den merchceren das Minnepaar zu unterstützen, raten sie der Frau sofort und ohne Bedenken zum Ehebruch zu und zeigen sich damit als ungetriwe ratgeben (vgl. 111). Entsprechend dieser kontrastiven Besetzung der Rollen verliert die Minnewerbung jeden Anspruch auf ethische Qualifikation. Statt mit der arbeit des Dienstes wirbt der Minnesänger mit der Überlegenheit seiner erotischen Potenz. Was er auf diese Weise vorführt, ist die Rollenpose des sich rüemens. Auch in der >Frauenehre< hat diese Pose, wie gezeigt wurde, die Funktion eines Negativmodells: Minne schlägt in dieser Prahlerei in ihr Gegenteil um, statt ein Muster harmonischer Gegenseitigkeit zu sein, wird sie pervertiert zum Objekt narzißtischer Projektionen. Diese Pervertierung von Minne verdeutlicht der Schwärm typischer Begriffe, den der Minnesänger zur Charakteristik von hoher tougen minne (vgl. 63) aufbietet und als sinnentleerte Kette von Formeln herunterrasselt: si edelt die gebare, si vertribet alle swcere, si chan den gedanchen ere geben, si tiuret den lip und daz leben, si ist der seiden vor louf, si git an frouden guten chouf, si leet gedenchen, swes man wil, und git wol vierstunt als vil, si chan den man zieren und daz herce furrieren mit niwen frouden alle zit. weit ir der richeit, die si git, 3

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Den gleichen Fluch gegen die mercheere äußert Heinrich von Morungen MF XIa l,3f. = 131,27f.

einen ganzen hört, gewinnen, so rucket mich, frowe, minnen. ich wil durch iuch wnder began, des ir immer frum muzet han.

(67-82)

Wenn der Minnesänger auf die arbeit des Dienstes verzichtet, wenn der Dame damit jeder Anhaltspunkt zur Beurteilung der ethischen Qualität ihres Liebhabers fehlt, rückt das versprochene Minneglück ein unter die Kategorie des wnders (vgl. 81f.). Die Verkehrung des Sinns, die damit erreicht ist, wird noch durch ein weiteres typisches Argumentationselement aus dem Minnesang veranschaulicht. Wenn der »klassische« Minnesänger die Erfolglosigkeit seines Dienens auf seine Unfähigkeit, sich vor der Dame zu artikulieren, zurückführt, wenn er paradoxerweise deshalb sogar beschließt, künftig besser zu schweigen,4 dann begründet der Minnesänger hier mögliche Mängel seiner Rede mit dem unverblümten Bekenntnis, daß er leider keine state besitze: ich mac niht, als ich solte gereden und als ich wolte. ich sage iu, wa von daz geschiht: ich enhan der stcete leider niht.

(83-86)

Aber auch dieses offenherzige Geständnis hat nur die Funktion klarzumachen, daß man angesichts der begrenzten Macht der Worte und der ungenützt verrinnenden Zeit besser gleich zur Tat schreiten, und das heißt der seiden funt (vgl. 99) in praxi genießen solle. Ein Minnesänger, der damals in dieser Weise warb, konnte sich auf seinen Erfolg verlassen, ein bose wip (vgl. 109) - so resümiert der Erzähler - fiel auf ein solches Täuschungsmanöver sofort herein. Bestärkt durch ihre ungetriwen ratgeben war sie nur allzu geneigt, den ganzen Wortzauber für bare Münze zu nehmen. Wenn die Instanz des Rats solchermaßen korrumpiert ist, dann sind auch gegenwärtig solche Fälle von Rechtsbruch nicht ausgeschlossen. Mit dem Ende der Schilderung, was sich hie vor ereignet hat, wechselt die Erzählperspektive aus der Vergangenheit in die Gegenwart. Der Autor in der Rolle des Erzählers übernimmt selbst die Funktion des Ratgebers; er ist fähig, einen Ehemann, der in eine ähnlich verzwickte Lage gerät, so zu unterweisen, daß dieser trotz alledem erfolgreich huote praktizieren und damit sein Recht wahren kann (vgl. 129f.). Um die Intention dieser nun einsetzenden Unterweisung richtig bestimmen zu können, greife ich noch einmal auf die >Frauenehre< zurück. Auch hier taucht das Stichwort der huote wiederholt auf, und zwar dann, wenn Minne als Zusammenspiel der Rollen charakterisiert wird, das Wertharmonie erzeugt und auf diese Weise den Anspruch des namen bzw. Recht realisiert. 5 Angesichts dieses Sinns von huote gewinnt der Rat des Autors in den >Minnesängern< eine umfassende Bedeutung. Wenn der Autor den Ehemann im folgenden belehrt, wie er in der scheinbar ausweglosen Situation huote bewerkstelligen kann, dann nimmt er damit 4 5

Z.B. Heinrich von Morungen MF XVI, 3ff. = 135,29ff.; ders. MF XVII, 2,6ff. = 136,14ff. Vgl. >Frauenehre< 1393ff., 1531ff.

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gleichzeitig Stellung zu dem im ersten Teil des Gedichts entworfenen Kontrastmodell von Minne und Minnesang. Sein Rat hat zugleich den Anspruch, zu zeigen, was geschehen muß, damit sich Minne im Medium von Minnesang wieder als huote, als werterzeugender und wertstabilisierender Prozeß, verwirklicht. Die Unterweisung beginnt mit der Erörterung einer Reihe von Maßnahmen, die jedoch alle am Unverstand des Gegenübers scheitern. Eine Frau, die blind einer pseudohöfischen Eleganz der Redeweise aufsitzt und jederzeit bereit ist, ihre eheliche triwe für einen leichtfertigen Liebhaber aufs Spiel zu setzen, besitzt weder Erkenntnisvermögen noch Rechtsfähigkeit. Sie weiß die huote ihres Mannes nicht zu schätzen (vgl. 209ff.) und wird sich weder durch die stellvertretende Bestrafung ihres Gesindes, noch durch den Versuch ihrer totalen Abschirmung vor frivolen Minnesängern und deren kupplerischen Boten von amourösen Abenteuern abhalten lassen. Wenn solche Versuche direkter Verhinderung des drohenden Rechtsbruchs fehlschlagen, dann muß sich der Ehemann an den Urheber des Übels, an den ungebetenen Gast selbst wenden. Die Strategie, die der Autor ihm nun vorschlägt, entspricht dem Handlungskonzept, das im >Daniel< mit dem Stichwort der list, in den Mären mit dem Begriff gevüegiu kündikeit bezeichnet wird. Ziel dieses listHandelns ist die Wahrung bzw. Wiederherstellung von Recht, und das bedeutet hier, daß der Ehemann den Minnesänger dazu zwingen muß, die Grenzen der Rolle zu akzeptieren, die ihm angemessen, die sin reht (vgl. 228) ist. swelch gast daz hat fur hofscheit, ob einem wirt ein herceleit von sinem hofschen libe gescheehe an sinem wibe, dawider wtere ouch daz vil sieht, tcete der wirt dem gaste sin reht und erzeiget im diu mcere, wes sin hofscheit wert ware. (223-230)

Um dies zu erreichen, schlägt der Autor dem Ehemann folgendes vor: Wenn sich der Minnesänger nach seinen Darbietungen siegessicher und stolz auf seine hofscheit (vgl. 223) zu Tisch setzt und darauf wartet, daß ihm nun gute Getränke und Speisen aufgetragen werden, so soll der Hausherr ihm nichts anderes bringen lassen als die ganzen traditionellen Requisiten des sommerlichen Natureingangs, die er eben in seinen Liedern so liebevoll und immer neu herbeizitiert hat, um die Frau des Hauses zu heimlichen Minnefreuden zu gewinnen: Blumen, Blätter und Gras, das Vöglein, der Quell, die unvermeidliche Linde (vgl. 235ff.). Solchermaßen konfrontiert mit dem ganzen artifiziellen Aufgebot seines Metiers wird der Minnesänger zur Einsicht in den literarischen Status seiner Rolle und damit in das, was sin reht ist, gezwungen. Er muß das Selbstverständnis, das ihm gemäß ist, annehmen, er muß erkennen, waz er wrbe od wer er wcer (254).6 Eine solche Unterweisung ist garantiert erfolgreich, denn sie nimmt dem Gast, selbst 6

Mit einem parallelen Fall kündeclicher Unterweisung in rechts- bzw. ordogemäßer Selbsteinschätzung operiert das Bispel >Der Kater als FreierFrauenehre< formuliert ist. erniuwen bedeutet auch hier - wie in der >Frauenehre< - keine Minnesangkritik. Die Frage, wie Minnedienst im Medium des Singens zu verwirklichen ist, damit Minne als werterzeugendes Zusammenspiel der Rollen gelingt, ist das »klassische« Problem, das im Minnesang selbst immer wieder reflektiert wird und die Entwicklung der Gattung entscheidend bestimmt. 7 Mit den >Minnesängern< nimmt der Stricker Stellung zu dieser Gattungsdiskussion, und zwar aus einer Darstellungsperspektive heraus, die mit der typischen Darstellungsform und den entsprechenden Darstellungsmitteln des Minnesangs nichts mehr zu tun hat, die aber - gewissermaßen durch gattungsmäßige »Verfremdung« - eine neue Sicht und Thematisierung des Gattungsproblems ermöglicht. Das erniuwen der Gattung Minnesang ist auch hier - wie in der >Frauenehre< identisch mit der Etablierung eines neuen Texttyps , muwe-Machen vollzieht sich auch hier als Gattungssprung. 8 Die Fähigkeit des erniuwens basiert in den >Minnesängern< auf dem Vermögen der list. Dies ist die Kompetenz, die den Autor zum Unterweisen ermächtigt und seinen Rat garantiert erfolgreich macht. Die Bedeutung von foi-Handeln zu entwickeln und kenntlich zu machen, ist das Ziel des Romans >Daniel von dem Blühenden TalMinnesängerMinnesängern< aber bezieht die Minneperversion, die die dörper vorführen, ihren Reiz gerade daraus, daß sie ein Rollenspiel ist, das innerhalb der Gattung Minnesang bleibt. Wie die >Minnesänger< gattungsmäßig einzuordnen sind, ist ungeklärt. Im Spektrum der verschiedenartigen Texttypen der kleineren Reimpaardichtung stehen sie durch das Handlungskonzept der list bzw. gevüeger kündikeit dem Typ des Märes am nächsten, sind jedoch von diesem zugleich unterschieden durch die - für das Märe ungewöhnliche Zweiphasigkeit des Erzählens (hie vor, heute) wie auch durch die zentrale Bedeutung, die der Autorrolle im Erzählgeschehen zukommt. Da den >Minnesängern< im Rahmen der Strickerschen Kleinepik kein anderer Text entspricht, setzt eine befriedigende Bestimmung ihres gattungsmäßigen Sonderstatus zumindest eine präzise Charakteristik der drei dominanten Texttypen, des Märes, des Bispels und der Rede, voraus; auch diese ist bisher weitgehend ein Desiderat. (Vgl. dazu S. 83f. Anm. 1, S. 181 Anm. 16.)

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3. >Daniel von dem Blühenden Tal
DanielIwein< orientiert, ist bekannt und durch den Nachweis zahlreicher paralleler sowie bewußt abgewandelter bzw. antithetisch gesetzter Motive und Erzählelemente belegt.2 Die hier vorgeführte Untersuchung des >Daniel< geht von der an der >Frauenehre< erarbeiteten Fragestellung aus: Was bedeutet «/wwe-Machen in diesem Artusroman, der sich so demonstrativ auf den >Iwein< bezieht, und - wie es scheint - so bewußt das Modell der Weg-Ziel-Struktur aufgibt? 1

Einen Überblick über die Forschung zum >Daniel< bietet die jüngst erschienene Arbeit von Ingeborg Henderson, so daß ich mich hier auf die Aspekte der Forschungsdiskussion beschränken kann, die meine eigene spezifische Untersuchungsperspektive betreffen. Das in den letzten Jahren neu erwachte Interesse an diesem Roman des Strickers äußerte sich in einer Folge von Publikationen, die mit einer von Wolfgang W. Moelleken und Henderson gemeinsam verfaßten Studie zum Phänomen der list beginnt. Daniels listHandeln wird hier als bewußte Betonung der Verstandesleistung begriffen und als neues Ethos des Handelns gewertet. Diese neue rationale Handlungsethik wie auch die wiederholte Reflexion über den Wert von materiellem guot sprechen nach Auffassung der Autoren dafür, eine Erklärung in der »Problematik des besitzlosen Adels und Bürgertums« zu suchen. Daniel - so behaupten sie - repräsentiere »den Menschen äne guot, der sich nur mit Hilfe außerordentlicher Mittel, der liste, um seinen Herrn verdient machen kann und dadurch lop, ere und das ersehnte guot erlangt« (S. 199). Abgesehen davon, daß sich diese Behauptung schon rein handlungsmäßig nicht halten läßt, da Daniel nie des Besitzes bedürftig erscheint, ist eine so allgemeine Charakteristik der list kaum dazu angetan, die komplexe Bedeutung dieses Handlungsmodells kenntlich zu machen. Dem entspricht, daß auch der Rekurs auf die historische Situation der Textanalyse äußerlich bleibt. So gelingt es Henderson auch in ihrer später erschienenen Arbeit über den >Daniel< nicht, das eigentliche Ergebnis ihrer Untersuchung, »die Aufstellung eines Ritterideals (...), das (der Stricker) in der Verbindung eines kontemplativen und eines aktiven Moments sieht« (S. 134), mit der angeführten problematischen Lage des Adels und des Bürgertums zu vermitteln. Zu einer vollkommen anderen Einschätzung des >Daniel< kommt Helmut Brall, dessen Interpretation methodisch wie argumentativ wesentlich genauer und umfassender angelegt ist. Brall bezieht die Veränderung der Konzeption des hochhöfischen Artusromans im >Daniel< auf die tiefgreifenden sozialen Umstrukturierungen, die mit dem Ausbau der Landesherrschaft im 12. und 13. Jahrhundert generell und speziell in Österreich verbunden waren. Unter dieser Perspektive interpretiert er Konfliktkonstellationen im >DanielIwein< beginnt mit dem Prolog, der teils direkt paraphrasierend, teils in freier Variation an den >IweinDaniel< setzt ein mit einem äußerst knappen, skizzenhaften Entwurf der Beziehung zwischen Autor und Publikum. Dies geschieht in einer Sentenz, die möglicherweise auf die FormulieSituation gegenüber einem übermächtigen Landesherrn wiederzufinden und zwar aus einer Sicht, die eindeutig ihrem Rechtsstandpunkt und ihrem Rechtsbewußtsein entspricht. Unter der Programmformel der Verteidigung von fri und eigen können sich sowohl alter Dynastenadel wie avancierte Ministerialität vereinen, denn mit dem Aufstieg in den Herrenstand und neuem Sozialprestige läßt sich der Makel rechtlicher Unfreiheit nur schwer vereinbaren (S. 252).« So betrachtet wird der Artusroman zum Instrument politischer Auseinandersetzung: Der Stricker appelliert an den krisenbedrohten Dynastenadel und an die neue Ministerialität, sich gemeinsam gegen die Übermacht des Landesherren zur Wehr zu setzen. Eine detaillierte Auseinandersetzung mit dieser These hätte vor allem folgendes zu überprüfen: Der Territorialisierungsprozeß zieht sich über einen sehr viel längeren Zeitraum hin, er wird daher ζ. B. ebenso - wie die jüngst erschienene Interpretation von Bernd Thum zeigt - für eine sozialgeschichtliche Erklärung von Hartmanns >Erec< und >Iwein< benutzt. Deshalb müßte Brails Behauptung, verglichen mit Hartmanns Artusromanen sei der >Daniel< sehr viel »realitätsbezogener und direkter« (S. 252f.), noch genauer aus den Besonderheiten der österreichischen Situation entwickelt werden. Ist eine solche Erklärung aber überhaupt möglich? Das zweite Bedenken gegen diese These ist grundsätzlicher. Brails Argumentation liegt die Prämisse zugrunde, daß auch im 13. Jahrhundert mit einer gruppenspezifischen politischen Interessenfixierung der Literatur zu rechnen sei. Brall erörtert diese Prämisse selbst nicht. Es ist jedoch eine Prämisse, die der Interpretation neuerer Literatur entstammt, ihre Geltung auch für das Mittelalter scheint mir keineswegs selbstverständlich. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf die Interpretation des Bispels >Die GäuhühnerDaniel< unter der Perspektive seines Verhältnisses zum Artusroman der höfischen Klassik interpretieren. Der eine Aufsatz stammt von Peter Kern; er macht es sich zur Aufgabe, die Bedeutung des >Iwein< für den >Daniel< herauszuarbeiten. Kern kommt zu dem Ergebnis, daß der Stricker im >Daniel< durch Übernahme wie durch Variation gattungsspezifischer Merkmale bewußt die Kontinuität des Artusromans wahrt und mit diesem Wechsel von »Bestätigung und Durchbrechung« die Gattung »um eine neue Spielart des literarischen Typs erweitert« (S. 41). Das wesentliche neue Moment des >Daniel< sieht auch Kern im Handlungsmodell der list. Bei seinem Vergleich von Erzählelementen im >Iwein< und im >Daniel< berücksichtigt er jedoch nicht die Bedeutung, die der Symbolstruktur bei der Fixierung des Sinns einzelner Erzählelemente zukommt. Da so aber /«/-Handeln nicht strukturell abgeleitet und auf diese Weise plausibel gemacht werden kann, greift auch Kern an dieser Stelle auf das »Bürgertum« als außerliterarischen Erklärungsfaktor zurück: »Das entscheidend Neue am >DanielDaniel< wäre dann als Versuch zu werten, die im höfischritterlichen Raum wurzelnde Gattung einem neuen Pubükum anzupassen« (S. 41). Der Autor des zweiten Aufsatzes, Moelleken, setzt an der immer wieder registrierten Tatsache an, daß sich Stellenwert und Bedeutung der Minne im >Daniel< verändert haben. Nach Moelleken tritt die Minnehandlung jedoch nicht einfach zurück; er bemüht sich

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rung zurückgeht, mit der Hartmann im >IweinFrauenehre< bereits bekannt, hier ist der Anspruch noch weit radikaler gefaßt: Richtiges Zuhören beweist sich im Entschluß zum Handeln (muot) und dessen konsequenter Realisierung (werk). Wer sich nicht so verhält, wird dem Qualitätsanspruch des literarischen Werks nicht gerecht, er macht auf diese Weise unfreiwillig seine fehlende Verständnisbereitschaft, sein mangelndesguot-Sein (vgl. 2), evident. Der Prozeß des Werkverständ-

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vielmehr nachzuweisen, daß sich der Stricker bewußt mit dem Phänomen der Minne auseinandersetzt, um Minne dann am Schluß des Romans »einem höheren, sittlichen Erfahrungsbereich, der Ehe, unter(zuordnen)« (S.50). Auch für die hier versuchte Deutung eines Einzelaspekts des Werks, der auffälligen und erklärungsbedürftigen Relativierung der Minnehandlung, ist - wie ich meine - die Analyse der programmatischen Veränderung, die die Doppelweg-Struktur vom >Iwein< zum >Daniel< erfährt, notwendige Voraussetzung des Gelingens (vgl. dazu auch S. 70 Anm. 54). Peter Kern: Rezeption und Genese des Artusromans. Überlegungen zu Strickers >Daniel vom blühenden TalDaniel vom blühenden TalErec< und >IweinIweinIweinIwein< Hartmanns von Aue. In: Deutsche Literatur im Mittelalter (s. S. 17 Anm. 12), S. 211-253.

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durchzieht leitmotivisch das Geschehen der Eingangsszene, und dieses Thema wird immer neu bezogen auf das Problem der richtigen Aufnahme des mceres, das vernemen mit guotem site (vgl. 245). Ich rekapituliere kurz die wichtigsten Stadien der Entfaltung dieses Diskussionszusammenhangs. Vor ein paar Artusrittern, die sich von den Anstrengungen des Pfingstfestes ausruhen, erzählt Kalogrenant, was ihm einst passierte, und macht damit die wenig rühmliche Tatsache seines mißlungenen Aventiure-Handelns erneut präsent in der Erzählwirklichkeit eines mceres. Während des Erzählens gesellt sich leise die Königin zu den Zuhörern. Kalogrenant beweist seine zuht, indem er das Erzählen unterbricht und sie ehrerbietig empfängt. Keie, der zuhtlöse (vgl. 90), dem Kalogrenants ere ein Ärgernis ist, spottet über dessen formvollendetes Benehmen (zuht), die Königin greift ein und tadelt Keie. Aber auch als Keie selbst Kalogrenant bittet fortzufahren, winkt dieser ab. Es sei verlorene Liebesmühe, vor jemandem erzählen zu wollen, dessen herze so beschaffen sei, daß es sich vom Vorgang des Erzählens prinzipiell nicht berühren lasse (vgl. 194-205).6 Keie bittet Kalogrenant erneut weiterzuerzählen, doch erst bete und gebot der Königin (vgl. 238) bewegen diesen, die abgebrochene Geschichte wieder aufzunehmen. Er tut es jedoch nicht, ohne das Publikum noch einmal zu richtigem vernemen aufzufordern, und diese Aufforderung gewinnt an Bedeutung, indem sie sich auf die biblische Unterscheidung von »Gesetz« und »Evangelium« bezieht: Nicht die, die mit den Ohren hören und doch nichts begreifen, nur jene, die hören und mit dem herzen verstehen, erweisen sich als adäquates Publikum des mceres, nur bei ihnen wird die Erzählung zur lebendigen Wahrheit, geht nicht verloren in der Unzulänglichkeit »buchstäblichen« Fehlverständnisses. 'Swaz ir gebietet, daz ist getan. sit ir michs niht weit erlän, so vernemet ez mit guotem site, unde mietet mich dä mite: ich sag iu deste gerner vil, ob manz ze rehte merken wil. man verliuset michel sagen, man enwellez merken unde dagen. maneger biutet diu ören dar: ern nemes ouch mit dem herzen war, sone wirt im niht wan der döz, und ist der schade alze grdz; wan si verliesent beide ir arbeit, der dä hceret und der dä seit. (243-256)

Vor diesem Horizont gewinnt die Formulierung des Problems vom vernemen mit guotem site programmatische Schärfe, und das mcere von der Aventiure kann nun ohne Unterbrechung ablaufen. Als sich Iwein im Anschluß an die Erzählung Kalogrenants sofort bereit erklärt, das blamable mcere durch neuerliche AventiureTat nun hoffentlich erfolgreich zu Ende zu bringen, ist es wieder Keie, der Iweins rede als voreiliges Getue mit Worten verspottet und - ohne es zu wollen - diesen 6

Vgl. Lc 6,45.

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damit nur um so sicherer auf den handelnden Nachvollzug des soeben Gehörten festlegt. Noch zweimal wird der direkte Umschlag von Erzählen in Handlungsentschluß bzw. Handeln vorgeführt: Als die Königin vor Artus Kalogrenants mcere wiederholt, plant dieser spontan, mit seinem ganzen Gefolge zur Quelle zu ziehen, so daß sich Iwein gezwungen sieht, sofort heimlich und alleine zu dieser Aventiure aufzubrechen, nicht jedoch ohne sich vorher noch einmal in aller Eile die wichtigsten Handlungsetappen des mceres zu vergegenwärtigen (923-937). Am Ende dieser ersten Szene ist ein Netz von Leitbegriffen ausgebreitet, die einen immer umfassender in Erscheinung tretenden Anspruch an das Publikum wie an die zuhörenden Artusritter signalisieren: Im Zentrum steht das Postulat des richtigen vernemens, das erst dann verwirklicht ist, wenn Erzählen realitätsmächtig wird, wenn sich das Anhören eines mceres in were verwandelt. 7 Was im >Iwein< verschlüsselt als Problem bezeichnet und dann als Thema des Handlungsbeginns in Szene gesetzt wird, löst der Stricker aus der Schwebe des Handlungszusammenhangs und bringt es mit der Eingangssentenz des >Daniel< auf den Begriff: Wie im >Iwein< geht es im >Daniel< um die Fähigkeit, die die Zuhörer wie den stellvertretend handelnden Protagonisten instand setzt, die Intention der worte in der Wirksamkeit der entsprechenden werke zu realisieren. An die kompakte Sentenz, mit der der Stricker gleich zu Beginn des >DanielIwein< abstrahiert und als Anspruch des eigenen Werks geltend macht, schließen sich Quellenangaben und Autornennung an: Von Bisenze meister Albrich, der brähte ein rede ane mich üzer welscher zungen. die hän ich des betwungen, daz man si in tiutsche vernimet, swenne kurzwtle gezimet. nieman der enschelte mich: louc er mir, so liug ouch ich. sus hebet sich diz mcere. hie wil der Strickcere mit werten zeigen sine kunst und hät des gerne iuwer gunst, daz irz mit zühten heeret und niht mit rede zerstaeret. zuht ist ein so reiniu tugent, si eret alter unde jugent. (7-22)

Daß diese Quellenangabe - eine nahezu wörtliche Nachbildung der Vorlagennennung aus dem Prolog von Lamprechts > Alexander - als bewußtes Plagiat aufzufassen ist, ist seit Rosenhagen unbestritten. 8 Unklar aber blieb bisher, was der Autor damit beabsichtigte. Ich versuche eine Deutung: Die eigentümliche Ambivalenz, 7

>Iwein< (ed. Lachmann) meere/werk 54ff.; rede/äventiure 816ff.; mcere erzählen im Zusammenhang mit zuht, ere bzw. schände HOff., 116, 124,130, 141,156ff., 165ff., 180,185ff., 196, 226ff., 235, 238f., 795ff., 835, 852, 866, 890ff.; mcere hären bzw. mit guotem site

8

50

vernemen 153ff., 193ff., 245ff. Rosenhagen, Untersuchungen, S.48f.

die der Alexanderfigur im Mittelalter eigen ist,9 dokumentiert sich in der volkssprachlichen Literatur des 11. und 12. Jahrhunderts unter anderem in dem Stichwort der list,10 das immer wieder im Zusammenhang mit Alexander auftaucht. In der Vorauer Fassung des Alexanderliedes, aus der der Wortlaut der Quellenberufung im >Daniel< stammt, beherrscht die Fähigkeit der list zusammen mit dem Attribut wunderlich das Alexanderbild.11 In der Straßburger Bearbeitung rückt die Charakteristik Alexanders als ein listich man (vgl. 7) sogar in die ersten Verse des Prologs ein und erweist sich damit als Eigenschaft von identifizierender Bedeutung.12 Diese Eigenschaft der list wird als wesentliche Qualität für das erfolgreiche Ausüben des Herrscheramtes verstanden. Alexander steht am Ende einer Reihe griechischer Könige, die sich durch list und kundecheit ausgezeichnet haben (vgl. V53 = 5,4, S58), er übertrifft sie alle. Zu seinen Lehren gehört Aristoteles, der ihn in Astronomie unterrichtet, in der Wissenschaft also, die auch im 13. Jahrhundert noch im Zwielicht zwischen legitimem Sachwissen und vermessenem Übergriff auf die Bereiche, die allein Gott vorbehalten sind, steht.13 Die gleiche Ambivalenz haftet u. a. auch jenen geheimen listen an, die Alexander befähigen, »griechisches Feuer« herzustellen, einen Brennstoff, den er bei der Belagerung schwerbefestigter Städte erfolgreich einsetzt. So ist es vor allem seine list, die seine Feinde fürchten, denn sie setzt ihn instand, auch scheinbar ausweglose Situationen zu seinem Vorteil zu entscheiden;14 mit listen unt mit mähten (V563 = 50,3) regiert er sein Reich und vergrößert es durch Eroberung ins Unermeßliche. Wenn er dabei schließlich von der indischen Märchenkönigin Candacis selbst überlistet wird, dann ist auch dieses Besiegtwerden nur 9

10 11

12

13

14

Vgl. dazu Wolfgang Fischer: Die Alexanderliedkonzeption des Pfaffen Lambreht. München 1964 (Medium Aevum 2); Herwig Buntz: Die deutsche Alexanderdichtung des Mittelalters. Stuttgart 1973 (Sammlung Metzler 123); Walter Haug: Das Mosaik von Otranto. Darstellung, Deutung und Bilddokumentation. Wiesbaden 1977, S. 94f. >Annolied< (ed. Opitz) XV,1; >Kaiserchronik< (ed. Schröder) 579. Vorauer >Alexandere In: Die religiösen Dichtungen des 11. und 12. Jahrhunderts. Hrsg. von Friedrich Maurer. Bd. 2. Tübingen 1965, S. 536-566. Zum Stichwort der list vgl. ζ. B. 5,5f. (= 57), 22,2 (= 223); 50,3 (= 563); 64,2 (= 779). Irene Ruttmann: Das Alexanderlied des Pfaffen Lamprecht. (Straßburger Alexander). Text, Nacherzählung, Worterklärungen. Darmstadt 1974, Text: S. 2-201. Zum Stichwort der list vgl. ζ. B. 7, 254, 1079, 1306, 1365, 2953, 3160, 4455, 6162f.; vgl. auch Ruttmann S. 31 Iff. Eine vollständige Zusammenstellung aller Textstellen aus dem Vorauer und dem Straßburger >Alexander bzgl. list bzw. listic sowie wunder bzw. wunderlich liefert R. A. Wisbey: A complete concordance to the Vorau and Straßburg Alexander. Leeds 1968 (Compendia 1), S.218f., 409f. er lert in al die kundicheit, / wie der himel umbe get, lunt stach ime die liste in sinen gedanc / zerkennen daz gestirne unt ouch sinen ganc (V 19,2f. = 192ff.; S219ff.). Im Baseler >Alexander< ist dieser Aspekt der Alexanderfigur noch schärfer herausgearbeitet: Alexander ist in Wahrheit der Sohn des zaubermächtigen Königs Nektanibus, er beherrscht die Schwarze Kunst, die nigromanzie. Vgl. Straßburger >Alexander« 4452ff. In diesen Zusammenhang gehört auch die Episode, die sowohl im >Annolied< wie auch in der >Kaiserchronik< berichtet wird: Es ist die Fähigkeit der list, mit der sich Alexander aus der zunächst aussichtslos erscheinenden Situation in der Glaskugel auf dem Meeresgrund rettet. 51

Anlaß, durch Candacis Alexanders wesentliches Kennzeichen noch einmal bewundernd hervorzuheben: 'ih weiz wol, wer du bist. / dih ne hilf it neheine dine list, / di du canst, helit bait, / du ne stis an miner gewalt (S 6161-6164). Unter der Perspektive dieses fof-Attributs der Alexanderfigur kommt dem Plagiat im >DanielDaniel< von entscheidender Bedeutung, denn es bezeichnet genau den Aspekt, unter dem der Stricker die Tradition des Artusromans aufgreift, unter dem er seine eigentliche »Quelle«, Hartmanns >IweinParzival< bewußt verrätselnd auf Flegetanis und Kyot als seine »Quellen« verweist, dann bezeichnet er auf diese Weise die entscheidend neuen Deutungsaspekte, durch die sich seine Interpretation des Stoffes von der Chretiens unterscheidet. Auf die Quellenberufung folgt die Nennung des Autors, die an die Eingangssentenz und damit an den dort aufgebauten literarischen Leistungs- und Erwartungsanspruch anknüpft. Das Aufnehmen der Sentenz aber macht auch die eigentliche »Quelle« wieder präsent: Mit der Bitte, das folgende Werk mit zühten zu haeren und nicht mit rede zu zerstaeren, mit der nochmaligen Betonung der Bedeutung, die zuht für richtiges Verstehen hat, scheint sich der Disput zwischen Kalogrenant und Keie bis in den >Daniel< hinein fortzusetzen. Wenn der Bezug auf den >Iwein< bisher indirekt blieb, so wird die Vorlage jetzt durch unüberhörbares Zitat kenntlich gemacht. Was folgt, ist eine paraphrasierende Interpretation der ersten drei Verse des >IweinIweinDaniel>, 23-32)

Auf den ersten Blick scheint es, als sei das komplexe und in seinem Anspruch nicht zu überbietende Thema des >IweinKarl< wird muot folgerichtig in der zentralen Entscheidungsinstanz, dem herze, lokalisiert: swaz in des mannes herzen ist / daz wir da heizen der muot(2i.).

(werk) manifestiert, geht es nun um den Stellenwert, der einer solchen wertgewissen Entschlossenheit zum Handeln zukommt. Um diesen Stellenwert von willigem muot eindeutig zu bestimmen, wird die traditionelle Alternativsetzung von materiellem Besitz und vorbildhaftem Wertbewußtsein, von guot und muot, aufgerufen. Diese Anknüpfung an das Begriffspaar guot und muot ist zudem im Vokabular der ersten Verse des >IweinIweinTristan< (ed. Ranke) 5695£f.; Hartmann von Aue: >Gregorius< (ed. Paul) 607ff.; Thomasin von Zirclaere: >Der Wälsche Gast< 2677ff; Freidank 56,15ff.; 57,6ff.; Reinmar von Zweter Nr. 62,63,70,163,256; Marner HMS 2, S. 244 XIV. 10; Der Unverzagte HMS 3, S.43 1.2. Thomasin von Zirclaere: >Der Wälsche Gast< 2875ff., 5693ff.; Freidank 56,13ff.; 57,14f. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Reflexion der guo/-Thematik im Prolog des >Guoten Gerhart< von Rudolf von Ems, ebenso die dreifache Transzendierung von realem gwoi-Besitz zu richtuom der güete im Verlauf der Handlung. Siehe dazu Wolfgang Walliczek: Rudolf von Ems >Der guote GerhartDer >Wälsche Gast< 2677ff.; Der Lietschouwcere HMS3, S. 46f.

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Wertorientierung herauszustellen. 19 Dies ist der Punkt in der Debatte, an dem sich der Stricker im >DanielIweinIweinDer Wälsche Gast< 3860ff., 14041ff.; Freidank 179,2f.; Reinmar von Zweter Nr. 62, 74,79, 82,167, 255; Rudolf von Ems: >Der guote Gerhart< (ed. Asher) 2860ff. I Sm 16,7; Lc 16,19ff.;21,lff.;II Cor 8,9; 6,10. Vgl. dazu auch Thomasin von Zirclaere: >Der Wälsche Gast< 4699ff., 4750ff., 6168; Freidank 3,9ff.; 110,25ff.; 178,22ff.; 179,2f. Vgl. dazu die Bispel >Falsche und rechte Milde< und >Die Herren zu Österreichs

Heilsanspruch rehter güete verkörpert, eingeführt wird, sondern als Garant der unbedingten Priorität von willigem muot. Des giht der künec Artüs; des git gewisse lere er gewan nie eigen hüs, künec Artüs der guote, der mit riters muote den man ze ime geliche. näch lobe künde striten. er minnete grdzliche er hat bi sinen ziten beide milte und ire, gelebet alsd schöne und tugendliche lere; daz er der iren kröne ern begie nie lasterliche schäme. dö truoc und noch sin name treit. davon sin lop und sin name des habent die wärheit reine lebet unde wert. sine lantliute: swer hoveliches lebens begert, si jehent er lebe noch hiute: der minne alle sine zuht. er hät den lop erworben, daz ist ein wuocherhaftiu fruht ist im der lip erstorben, und ist ein lobelichiu habe: sd lebet doch iemer sin name, er wirt d& wert benamen abe. (>DanielIweinIweinIweinDanielKrone< des Heinrich von dem Türlin wird das Artuslob in bewußter Anlehung an den Wortlaut von Hartmanns >IweinIwein< 15ff. = >Daniel< 40f. = >Krone< (ed. Scholl) 197ff. Vgl. dazu auch Rosenhagen, Untersuchungen, S. 113f.

55

Bevor ich mit der Untersuchung dieses Verhältnisses beginne, fasse ich das Ergebnis der Prologinterpretation zusammen, um so eine erste Hypothese, was im >Daniel< erniuwen bedeutet, aufstellen zu können. Der Aufbau des >DanielIweinIweinDaniel< selbst angelegt ist und wie es sich im Verlauf der Handlung entwickelt. 23 23

56

Zum Artusbild im >Daniel< vgl. Karin R. Gürttier: >KünecArtüs derguoteIwein< - als Inbegriff höfischer zuht charakterisiert. Was damit gemeint ist, wird zu Beginn der Handlung ausgeführt. Artus' Vollkommenheit lockt die besten aus allen Ländern an (vgl. 67f.). Wer sein geselle war oder ist, dessen Wertschätzung durch die Gesellschaft ist gesichert und verstärkt wiederum das lop, das sich durch solches loben seiner Ritter auf Artus selbst zurückbezieht. Um diesen Idealzustand zu stabilisieren, verpflichtet der König sich und seine Ritter auf eine Reihe von Regeln. Sie haben den Zweck, das Prinzip permanenter Wertbewährung so perfekt in Verhaltensanweisungen zu übersetzen, daß die ire der Artusgesellschaft auf Dauer gesichert erscheint. daz daz und und

tet er niht wan umbe daz, sie sich regeten dester baz ritterschefte pflxgen sich dä nicht vertagen.

(83-86)

Diese Regeln sind zum Teil aus anderen Artusromanen24 bekannt: 1. Artus gelobt, stets so lange zu fasten, bis er von einer neuen Aventiure hört (75ff.). 2. Jeder Ritter ist verpflichtet, jedes laster, das ihm geschehen ist, öffentlich zu bekennen, umgekehrt aber alles, was ihm zu seiner ere gereicht, zu verschweigen (109ff.). 3. Wer auf Aveötiure ausreitet, wird jeweils mit einem neuen Schild versehen, um bei seiner Rückkehr unzweideutig das Ausmaß der überstandenen Gefahr wie die eigene Kampfleistung zu dokumentieren (125ff.). 4. Diese perfekte Normierung ritterlicher Aktivität wird noch durch eine magische Eigenschaft der Tafel, an der Artus mit seinen Rittern zu sitzen pflegt, ergänzt: Die Tafel stößt jeden, der jemals eine dörperheit beging, ab und garantiert so die absolute Tugendhaftigkeit der Tafelrunde (94ff.). Dieser selbstgesetzte Regelkanon ritterlicher zuht ist so lückenlos und vollkommen, daß nun eigentlich nichts mehr passieren kann. Eine Krise, wie sie plötzlich im >Erec< und im >Iwein< hereinbricht, scheint ausgeschlossen. Aber schon im >Iwein< ist die Krise so angelegt, daß der Versuch, sie durch mustergültiges Befolgen der Regel zu vermeiden, um so sicherer das Unglück auf den Plan ruft. Gawein, der höfschste man / der riters namen ie gewan (vgl. 3037f.), ist es, der Iwein nach dessen Hochzeit mit Laudine zu einer Turnierfahrt rät, damit er auf diese Weise der Gefahr von Erecs verligen entgehe.25 Iwein folgt seinem Rat und beschwört gerade durch 24

25

Erste Regel: Vgl. Ulrich von Zazikhofen: >Lanzelet< (ed. Hahn) 5708ff.; Wirnt von Grafenberg: >Wigalois< (ed. Kapteyn) 247ff. Zweite Regel: vgl. Hartmann von Aue: >Erec< (ed. Leitzmann) 4836ff.; >Iwein< 795ff., 1039ff. Zur magischen Kraft der Artustafel vgl. den Tugendstein im >Wigalois< 1495ff. Auf die >ErecIwein< wiederholt und gerade an strukturell signifikanten Stellen Bezug (vgl. 2770ff., besonders 2787ff., 2863ff., 3043ff.).

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sein absolut regelgetreues ritterliches Verhalten die Katastrophe herauf. Vor dem Horizont dieses Bewußtseins ist auch die eben skizzierte Darstellung der Artusgesellschaft zu Beginn des >Danielswaz ir gebietet hie ze hüs, des sit ir alles gewert, ist daz ir beteltchen gert.
Iwein< 893ff.; >Daniel< 929ff. Vgl. >Daniel< 977ff. Die spezifischen Interpretationsanstrengungen, die ein Akt vorbildlicher milte vom Gebenden wie vom Nehmenden verlangt, erörtert der Stricker in einer Reihe von Bispein: >Falsche und rechte MildeDer Wolf und das WeibDer Wolf und der HundVon einem Hofhunds >Fliege und Kahlkopf< u. a. Vgl. dazu auch Ragotzky, kunst der milte.

handelt werden. Außerhalb eines konkreten Handlungskontextes bleibt eine solche generelle Verhaltensmaxime eine Leerformel, insofern weist Artus das »leere« Versprechen, das Meljaganz von ihm verlangt, zu Recht ab. Mit dieser definitiven Absage scheint die Herausforderung zunächst abgewendet; Meljaganz scheidet im Zorn, nicht jedoch ohne den Ruf von Artus' milte als Betrug zu bezeichnen und auf diese Weise mit der öffentlichen Verunglimpfung der ere des Königs zu drohen. Die angedrohte Rufschädigung verunsichert die Ritter der Tafelrunde. In ihrem Bestreben, das Ansehen ihres Königs unbescholten zu bewahren, vergessen sie einen Augenblick lang, daß auch dieses Ansehen auf die ständige Vergewisserung seiner Substanz in konkreten Handlungen angewiesen ist. An die Stelle der Evidenz, die allein solche Konkretisierungen vermitteln können, tritt damit der Schein: Meljaganz, so argumentieren die Ritter gegenüber Artus, (...) gelichtet sich wol einem man / der betelichen biten kan (4573f.).29 Der König läßt sich umstimmen, und der rät seiner Ritter erweist sich als unabsichtlicher verrät (vgl. 4591f.). Denn es ist nichts weniger als die Königin, die Meljaganz nun als Gegenstand der im voraus gewährten Bitte einfordert. Abgelöst von der Fixierung ihres Gehalts in konkreten Handlungssituationen wendet sich Artus' milte gegen ihn selbst. Das Attribut, das vor allen anderen seine absolute Idealität ausmacht, schlägt um in ein Moment der Selbstzerstörung. An diese Krisenanfälligkeit des Artushofes knüpft der Stricker an. Sie wird zum Thema des >DanielDaniel< auf diejenige der eingangs genannten Regeln, deren perfekte Erfüllung dem Artusreich beinahe den Kopf kostet. In deutlicher Steigerung der krisenhaften Zuspitzung wird am Ende des >Daniel< nicht die Königin, sondern der König selbst entführt, und nur die list des Protagonisten kann ihn erlösen und den Bestand des Artusreiches damit wahren. Es ist zugleich diejenige Regel, die mit der im Prolog erörterten Frage, von welchem Faktor des Handelns die Zuschreibung von lobe und ere abhängt, am engsten verknüpft ist. Daß sich keiner selbst seiner Erfolge rühmt, daß eine solche Bestätigung immer von den anderen zu leisten ist, gehört zu den Grundregeln höfischen Verhaltens. Die zentrale Bedeutung, die dieser Regel eingeräumt wird, beruht darauf, daß sie nicht nur den Bereich höfischen Verhaltens betrifft, sondern daß sie eine entscheidende Funktionsbedingung feudaler Gesellschaftskonstitution bezeichnet. Sie rechtfertigt den Objektivitätsanspruch, mit dem der Rang jedes einzelnen in der Hierarchie der Wertgeltung (lop und ere) festgelegt 29

Zur negativen Konnotation von geliehen als der trügerischen Wirkung des äußeren Erscheinungsbildes vgl. die gelichsencere in der >Frauenehre< (siehe dazu auch S. 17f.). 59

wird, und sie macht zugleich klar, daß dieser zuerkannte Rang eine Verpflichtung zur Bewährung bedeutet, die immer wieder in die Prozeduren öffentlicher Darstellung und Vergegenwärtigung hineinzwingt. Schon im >Iwein< zeigt sich, daß diese Regel, die so selbstverständlich und daher so problemlos wirkt, ihre Tücken hat. Beim Sieg über Askalon fehlen Iwein die Zeugen, die von diesem Kampf öffentlich berichten könnten und ihm damit lop und ere erwirken würden (vgl. 1062ff.). Daß diese Aventiure für ihn nicht Gewinn, sondern Verlust von ere bedeuten wird, hat ihm Keie anfangs schon angedroht, und gerade Keie ist es im >IweinDaniel< zunächst bezeichnenderweise an einer Reaktion des Musterritters Gawein vorgeführt. Beinahe schon am Ende des Romans - König Matur ist besiegt, der Rest seines Heeres hat sich ergeben, die verwitwete Königin akzeptiert Daniel als neuen Ehemann und Landesherren, und dieses eigentliche happy end wird mit einem riesigen Fest vollster höfischer Prachtentfaltung gefeiert - spitzt sich das Handlungsgeschehen unvermittelt zu einer Krise zu, die in ihrem Ausmaß alle bisherigen Realisierungen dieses Strukturelements übertrifft. Auf dem Höhepunkt des Festes, der in der Steigerung allegorischer Deutung durch die Krönung der vröude bezeichnet wird (vgl. 6872ff.), erscheint ein vil wunderlicher man (6905), der zur Rache entschlossene Vater der beiden erschlagenen Riesen. Auf seine Frage, wer dä wcere der herste (6927), weist Gawein in spontanem Befolgen der Regel auf Artus. Schlau sichert sich der Alte mit dem simplen Trick, es handle sich um ein ungewöhnliches Spiel, zuerst den Fluchtweg, dann packt er den König und verschwindet mit seinem roup (vgl. 6952) so schnell, daß er schon längst nicht mehr einzuholen ist, als die verdutzte Hofgesellschaft begreift, was passiert ist.30 Die Situation wiederholt sich, als die Artusritter den Alten endlich erreichen. Den 30

60

Zu literarischen Parallelen des Motivs der Artusentführung vgl. Rosenhagen, Untersuchungen, S. 70ff.

König hat er auf einem unerreichbar hohen Felsen gefangen gesetzt, Artus' Ohnmacht wird plastisch verdeutlicht: Starr vor Angst sitzt er dort oben und kann sich nicht rühren, denn der Platz auf dem Felsen ist so schmal, daß er bei der geringsten Bewegung abzustürzen droht. Geschickt spielt der Alte die Regelfixiertheit der Ritter ein zweites Mal aus. Nachdem zunächst jeder zum Zweikampf mit ihm antreten will, um Artus zu befreien, verlangt er, der beste möge sich stellen (7146ff.). Mit dieser Aufforderung aber wird die Regel zum absoluten Hindernis für jede Aktivität. Da sich keiner selbst als der beste bezeichnen darf, bleibt nur der Ausweg, einen anderen als den besten zu benennen. Da das jedoch für denjenigen wie Gawein gerade demonstriert hat - vielleicht sogar tödlich ausgehen kann und somit negativ auf die eigene Geltung zurückschlagen würde, ist auch dies unmöglich. Was zu erfolgreichem Handeln anleiten und Wertbewährung perfektionieren sollte, blockiert jedes Handeln und endet in totaler Verwirrung. Sus wart dä manges mundes türe guote wile zuogetän durch den hovelichen wän, wann der sin lop zerbrceche, swer offenliche spräche: »Ich quam der aller beste her.« sprceche er aber: »Es ist der«, muose er darumbe tot geiigen, da ware er schuldic ane gezigen. sus wolde nieman sprechen. (7166-7175)

Als endlich Parzifal31 dieses Dilemma überwindet, indem er die Regel bricht und sich selbst als der tiurste bezeichnet (vgl. 7180), wird ihm wiederum sein unreflektiert regelgetreues Kampfverhalten zur Falle: Ohne die spezifischen Fähigkeiten seines Gegners einzukalkulieren, schreitet er in seiner Rüstung vil vermezzenlich (vgl. 7188) auf diesen zu, der Alte aber fängt ihn kurzerhand ab und befördert ihn ebenfalls auf den Felsen. Da sich der helt guot (vgl. 7177) mit freislicher gebärde gegen diese Überwältigung wehrt (vgl. 7204), schlägt ihn der Alte mit dem Kopf gegen die Steine, daz er in der varwe schein / sam er gar wcere tot (7212f.). Woran die Artusritter hier scheitern, ist die gleiche Form des Fehlverhaltens, das im >Iwein< Ginovers Entführung auslöst. Fern aller spezifischen Erfordernisse, die die jeweilige konkrete Handlungssituation kennzeichnen, repräsentieren sie den musterhaft-statischen Anspruch der reinen Artusidealität. Ihnen fehlt die Fähigkeit, diesen Anspruch in die spezifischen Anforderungen der Situation zu übersehen, das heißt ihn angemessen zu applizieren. Diese Leistung der Applikation aber ist nicht durch einen Kanon idealer Regeln zu ersetzen. Was in einer Situation zu tun ist, kann nur bedingt vorgegeben werden, da jede allgemeine Norm der Interpretation auf den konkreten Handlungskontext hin bedarf. Wie letztlich zu 31

Parzifal scheint für diese Rolle prädestiniert; im ersten Teil des Doppelwegs in Wolframs >Parzival< ist sein Verhalten gerade dadurch charakterisiert, daß er die ihm erteilten Lehren wörtlich befolgt und damit verfehlt. Vgl. auch Kern S. 39f.

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handeln ist, welche Bedeutung allgemeine Normen in der jeweiligen Situation haben, muß sich in der Situation selbst entscheiden. So entsteht der zunächst paradox wirkende Tatbestand, daß gerade dem perfekten Befolgen der Regel die Kontrolle über die Wirklichkeit entgleitet.32 Im >Iwein< bedeutet dies ungewollten verrät. Im >Daniel< ist die Affinität von fehlendem Applikationsvermögen und Unrecht noch drastischer kenntlich gemacht. Nicht nur die Artusritter sind es hier, die den Anspruch auf höfische Vollkommenheit durch absolut regelgetreues Verhalten verwirklichen wollen. Auf dem gleichen Fehlschuß basiert auch das perfekte höfische Leben in dem exotischen Königreich Cluse, dessen König Matur zu Beginn des Romans Artus ohne Rechtsgrund die Fehde ansagt. Er verlangt, der König solle sich ihm als Lehnsmann unterwerfen, und sein Bote begründet diese Forderung nicht nur mit Artus' Vollkommenheit, die Matur seinem eigenen Glanz noch hinzufügen möchte; er argumentiert vor allem mit dem nicht zu überbietenden Idealzustand höfischer Lebensform, der in seinem Land erreicht ist. Wie Joie de la Curt so liegt Cluse abgeschlossen von jedem Zugang der Welt. Die Ritterschaft des Landes ist in sieben Gruppen aufgeteilt, um pausenloses riten und furnieren (vgl. 651) bewerkstelligen zu können. Das ritterliche spil geht nahtlos in Frauendienst, tanzen unde singen über (vgl. 674ff.), diesem folgt wiederum riten, / justieren unde stechen (vgl. 692ff.). Dreimal pro Tag rollt das Programm ab, um am nächsten Morgen erneut zu beginnen und so fort. Bei dieser monströsen Parade höfischer zuht hat sich musterhaftes Regelverhalten verselbständigt. Die Normen haben bei dieser Automatisierung ritterlicher Lebensform ihre Bedeutung verloren, die idealen Regeln sind so steril geworden, daß sie sich widerspruchslos mit dem massiven Unrecht im Handeln des Königs verbinden. Die Angewiesenheit des Artusreichs auf den Protagonisten steigert sich im >Daniel< bis zur Erlösungsbedürftigkeit. Erlösen aber bedeutet hier nicht nur die Befreiung des gefangenen Königs, sondern gleichzeitig - wie später genauer zu zeigen sein wird - das Wiederherstellen von Recht. Die Ritter und Damen von Cluse, zuletzt sogar der zunächst unversöhnlich scheinende Alte, sehen das Unrecht, das Maturs Herausforderung des Artusreichs bedeutet hat, ein, auch für sie wird Daniel zum Befreier aus der Sterilität und sozialen Indifferenz ihrer bisherigen Lebensform. Auch diese Erlösungsfähigkeit des Protagonisten ist an das für ihn entscheidende Charakteristikum, an seine list, gebunden. Im Erfolg seines foi-Handelns zeigt sich die Bedeutung eben jenes Applikationsvermögens, das den Artusritter wie den Einwohnern von Cluse fehlt, list befähigt dazu, die konkrete Handlungssituation im Licht dessen zu sehen, was sie erfordert, und diese Erfordernisse sind identisch mit dem, was unter diesen Umständen Wahrung oder Wiederherstellung von Recht heißt. 32

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Die Unfähigkeit der Artusritter, die allgemeinen Normen im Hinblick auf die spezifischen Anforderungen der Situation interpretieren zu können, wird als hovelicher wän (vgl. 7168) bezeichnet, wän ist der Gegenbegriff zu list bzw. kündikeit. Vgl. dazu S. 103f.

3.2 2 Das fei-Handeln des Protagonisten Daniels toi-Handelii wird ift einer Reihe von Situationen vorgeführt, denen folgendes gemeinsam ist: Durch einander entgegengesetzte Ansprüche gerät der Held in eine scheinbar ausweglose Lage. Wie er sich auch entscheiden wird, so scheint es auf den ersten Blick - keine Entscheidung bedeutet eine Lösung, immer werden sein lop und seine ere ins Zwielicht geraten. Ich wähle die Darstellung der Situation vor der ersten Aventiure, die Daniel mit list besteht, um die paradoxe Lage des Helden zu zeigen. Daniel ist bei seinem heimlichen Aufbruch vom Artushof den Spuren des Riesen, der die Forderung des Königs Matur überbracht hat, gefolgt und nun am Fuße der unzugänglichen Bergkette, die Cluse von der Außenwelt abschließt, angelangt.33 Er hat keine andere Chance, als den Bruder des Riesen, der den einzigen Zugang bewacht, im Kampf zu besiegen. Doch dieser Riese ist mit normalen Mitteln nicht zu überwinden, weil er unverwundbar ist. Daniel überlegt, was zu tun sei, doch lop und erb scheinen sich seinem Handeln mit einer Logik, der nicht beizukommen ist, zu entziehen. er gedähte: »Ob ich vermtde, daz ich niht vol rite und mit dem risen strife, sd verliuse ich niht mire wan min arbeit und min ire. swenn ich hernäch selbe sage, daz ich von vorhten sus verzage und niht tar geschouwen, ob in ieman müge verhouwen; swenn ich daz niht kan gesagen, so hät man mich für einen zagen. rite ich nü durch daz dar, daz ich die wärheit ervar, wil in daz swert niht sniden, so muoz ich von im liden beidiu laster und den tot: mir wcere guotes rates ndt.« (1056-1072)

Schließlich befreit er sich aus diesem Dickicht einander widersprechender Werte, und zwar bezeichnenderweise dadurch, daß er den Sinn, den ere in dieser Situation allein haben kann, für sich festlegt: Wenn hier ere zu gewinnen ist, dann nur durch das totale Risiko des Kampfes mit dem Riesen. Doch diese Entscheidung wird unmittelbar darauf durch die Entwicklung der Ereignisse überrollt. Kaum hat Daniel sein Pferd bestiegen, als er eine frouwe wahrnimmt, deren herzeleit so übermächtig ist, daß sie ihm bewußtlos zu Füßen fällt. Jäh hat sich die Situation wieder verunklärt. Daniel muß mit dem Riesen kämpfen, er ist aber gleichermaßen verpflichtet, die klage der frouwe anzuhören. So sieht er sich abermals gezwungen, angesichts der veränderten Lage die spezifische Bedeutung von ire und schände zu bestimmen. 33

Auch diese Situation des heimlichen Aufbruchs ist bewußt dem Handlungsbeginn im >Iwein< nachgebildet. Vgl. >Iwein< 954ff.

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»Ich scheide mit schänden hinnen, swenn ich niht kan gesagen, ob disiu frouwe welle klagen, oder waz ir werre, sit siu sich hat so verre gediemüetiget gegen mir. ich sihe wol an ir, siu h&t grözen gewalt unde leit manicvalt. daz hät si hie bescheinet. so neweiz ich, waz sie meinet. weste aber ichz nü vil wol, sit ich mit dem risen striten sol, wirt mir dä der lip genomen, s6n künde ich ir niht ze tröste komen. ich wil zem irsten besehen, waz mir dä muge beschehen. gelit er vor mir tot äne mines libes not, so wil ich danne riten her und hceren gerne, wes si ger. so wcere ich der swachest man, der ritters namen ie gewan, stt ein frouwe geruochet, daz si gnäde an mir suochet s6 jcemerliche zuo mir, gerite ich iemer von ir, ich engehdrte doch ir ungemach. min ere ist noch danne swach, so ich gehcere, wes si gert, wirt siu es niht von mir gewert.« (1144-1174)

Aber auch die dadurch erreichte Klärung der Situation ist nur vorübergehend. Die frouwe erwacht aus ihrer Ohnmacht und erzählt ihm von dem Unglück, das durch die unselige Minne, die der Zwerg Juran zu ihr gefaßt hat, über sie und ihre Familie hereingebrochen ist. Für Daniel bedeutet das Anhören dieser Leidensgeschichte, daß sich die Situation noch ein drittes Mal durch die Konfrontation zweier unvereinbarer Anforderungen paradox zuspitzt. Er muß mit dem Riesen kämpfen, und er kann sich dem helfe-Appell der Tochter des Herzogs von dem Trüeben Berge nicht entziehen. Beide Gegner, der Riese wie der Zwerg Juran, gelten als unüberwindlich. Auch den Ausweg aus diesem Dilemma findet Daniel schließlich nur, weil er sich noch ein drittes Mal der Anstrengung unterzieht, das, was ere hier und jetzt unter diesen komplizierten Umständen für ihn heißen kann, reflexiv auszubalancieren (vgl. 1354ff.). Diese dreifache Wiederholung der gleichen paradoxen Zuspitzung der Situation vor der ersten Aventiure Daniels hat demonstrativen Wert. Die Kollision zweier Ansprüche, die beide unter dem Stichwort der ere auftreten und auf den ersten Blick gleichwertig erscheinen, ist so angelegt, daß sie die Aktivität des Helden total blockieren könnte. Nur die Fähigkeit, immer neu den allgemeinen Verbindlichkeitsgehalt von ire auf die Widersprüchlichkeit seiner augenblicklichen Lage zu 64

beziehen und auf diese Weise das, was zunächst unwiderruflich alternativ wirkte, in eine Rangfolge der Dringlichkeit zu übersetzen, ermächtigt Daniel, sich zu entscheiden und sich einen Handlungsspielraum zu wahren.34 Diese Entscheidungsnot und ihre Überwindung in der Anstrengung der Norminterpretation leitet auch die nächsten beiden Aventiuren Daniels ein. Sie ist als Situationstyp bewußt einer der wichtigsten Szenen aus dem >Iwein< nachgebildet.35 In einiger Verzweiflung wartet Iwein auf den Riesen Harpin, der dem Burgherren, Iweins Gastgeber, angedroht hat, ihn durch die gewaltsame Entführung seiner Tochter vollends zu verderben. Beim Warten verrinnt die Zeit, in der Iwein längst hätte aufbrechen müssen, um seiner Verpflichtung gegenüber Lunete im Gerichtskampf gerecht zu werden. Auch hier also sind es gleichwertige, einander ausschließende Erwartungen, die den Protagonisten in äußerste Bedrängnis bringen, auch hier - so scheint es zunächst - haftet seinem Handeln mit Notwendigkeit der Makel der Ambivalenz an. Jedoch die Entscheidungsnot wird im >Iwein< anders überwunden als im >DanielWigalois< und >Diu CröneIwein< erreicht, ausgerichtet ist. Die beinahe fraglose Übereinstimmung vom Handeln des Protagonisten und der ihm dafür zuerkannten Geltung wird durch die Krise unvermittelt und radikal in Frage gestellt. Diese löst eine neue Aventiure-Folge aus, die im Gegensatz zum spontanen Erfolg des Helden im ersten Teil des Doppelwegs durch seine Ohnmacht gegenüber der Übermacht der Ereignisse, durch sein totales Angewiesensein auf die glückliche Fügung des Geschicks und die helfe anderer im zweiten Handlungsteil gekennzeichnet ist. Gerade durch den Abbau der typischen Qualitäten eines Ritterbildes stellt sich der Weg her, auf dem scelde und ere zu gewinnen sind. Dieser Gewinn von scelde und ere am Ende des zweiten Teils bezeichnet die neu gewonnene soziale Identität des Protagonisten. Sie macht sein Handeln realitätsmächtig, mit seiner helfe-Aktivität wird er fähig zu Erlösungstaten und zur Wiederherstellung von Recht. Die Parallelen zwischen den Erfolgsmerkmalen der neuen Verhaltensqualität des Helden im zweiten Teil des Doppelwegs und dem, was list bewirken kann, sind deutlich. Ebenso markant aber zeichnet sich auch der Unterschied ab: Mit dem listHandeln wird das, was das Verhalten des Protagonisten im zweiten Teil des Doppelwegs realitätsmächtig macht, entscheidend anders gefaßt. Zu einer genaueren Bestimmung des Unterschieds soll im folgenden Daniels listHandeln in der Aventiure analysiert werden, mit deren Untersuchung bereits begonnen wurde. Sie ist die erste der vier Aventiuren, die Daniel allein durch list bestehen kann, und sie hat - wie schon die dreifache Verdeutlichung der scheinbaren Ausweglosigkeit der Lage zeigt - Modellcharakter. Daniel entschließt sich, für die Tochter des Herzogs vom Trüeben Berge zu kämpfen, und folgt ihr auf ihre Burg. Die Situation, die ihn dort erwartet, ist in ihrer Gefährlichkeit gegenüber entsprechenden Kämpfen, die Erec oder Iwein auszufechten haben, bewußt gesteigert. Der Gegner ist durch das Verfügen über zauberische Mittel im Vorteil: Der Zwerg Juran besitzt ein Schwert, dem keiner lebendig entkommen kann, es hat solche Gewalt, daß es selbst einen Felsen wie Holz durchschneidet. In den nächsten beiden Aventiuren nimmt die Überlegenheit der Gegenwelt, die hier in den höfischen Bereich einbricht, noch bedrohlichere Züge an. Das bauchlose Ungeheuer tötet alles, was ihm in den Weg kommt, mit einem Medusenhaupt;37 der rote, kahle Mann, bei dessen Befehl jeder seinen Willen verliert, schlachtet in regelmäßigen Abständen Menschen, um in dem Blut der Ermordeten zu baden.38 Diese 37

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Zur Frage der Herkunft dieser Gestalt vgl. Claude Lecouteux: Das bauchlose Ungeheuer. Des Strickers Daniel vom blühenden Tal, 1879ff. Euph. 71 (1977), S. 272-276. Parallel zu dieser Steigerung der mythisch-magischen Züge der Gegenwelt und ihrer Bedrohlichkeit wird konsequent das rechtliche und soziale Profil dieser Übergriffe herausgearbeitet. Die anfängliche Herausforderung des Artusreichs durch den König Matur ist der unrechtmäßige Versuch, durch Androhung von Gewalt Artus in die Unterordnung einer Lehnsbindung zu zwingen. In den drei folgenden Aventiuren wird Daniel mit dem Tatbestand einer Fehde ohne Rechtsgrund konfrontiert; in der Entführung

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magisch bedingte Übermächtigkeit der Gegner dient dazu, die negative Ausgangsposition des Handelns ins Absurde zu überspitzen. Eine dieser Situationen erfolgreich zu überstehen, scheint völlig unmöglich. Wenn es Daniel doch gelingt, eine solche hoffungslose Lage zu seinen Gunsten zu wenden und schließlich sogar den Sieg davonzutragen, dann nutzt er dabei jedes Mal eine Schwäche des Gegners aus, die als Defekt typisch und bereits bekannt ist. Daniel kann bei jedem der Ungeheuer mit einem Moment blinder Regelfixiertheit rechnen, und in diesem Sinne wird ihr Handeln für ihn kalkulierbar. Beim Kampf mit dem Zwerg Juran ist es dessen Minnewahn, den Daniel als Ansatzpunkt für seine list wählt. Bevor der Kampf beginnt, verspricht er dem verliebten Zwerg Minne, Hand und Land der von ihm so dringlich wie gewalttätig begehrten Herzogstochter. Aber er macht die Erfüllung dieses Versprechens davon abhängig, daß Juran dieses Mal den Kampf ohne die Hilfe seines Zauberschwerts besteht, und erklärt dies als Beweis für seine frümekeit (vgl. 1525,1535,1571). Der Zwerg sieht sich am Ziel seiner Wünsche. Ohne die Vergeblichkeit seiner Werbung in der Vergangenheit zu bedenken und im Lichte dieser konkreten Erfahrung sich erst der Solidität des Angebots zu versichern, geht er sofort darauf ein. Dem Gefallen, den er an der Stilisierung seiner Person in der Minnepose findet (vgl. 1662), entspricht das pseudohöfische Selbstverständnis, das mit dem Stichwort der frümekeit angesprochen ist. Er fühlt sich bei seiner Ehre gepackt und geht in die Falle: In einiger Entfernung vom Kampfplatz legt er sein Zauberschwert und damit seine Unbesiegbarkeit ab. Daß Jurans frümekeit nur von kurzer Dauer sein würde, hat Daniel einkalkuliert. Als der Zwerg im Kampf zu unterliegen droht, vergißt er alle frümekeit und versucht, wieder in den Besitz seines Schwertes zu kommen. Bei diesem Wettlauf aber entscheiden die längeren Beine. Daniel erreicht als erster das Schwert und tötet damit den Zwerg, als sich dieser nicht gefangen geben will. In einem kurzen Exkurs, in dem Jurans Unterlegenheit ironisch mit dem Schicksal jener berühmten Leute der Weltgeschichte verglichen wird, die Minne vor der Zeit zu Fall gebracht hat, ist dieses Unvermögen nun auch terminologisch genauer gefaßt: Minne zerstört die wisheit und die sinne (1591). An die Stelle fehlender witze tritt mechanisches Reagieren (vgl. 1588ff.).39 In diesem Augenblick aber, in dem mit dem automatischen Befolgen einer Regel die Anstrengung der Applikation aussetzt, wird der Gegner berechenbar, und der Mythos seiner Unbesiegbarkeit ist zerstört. In den beiden folgenden Aventiuren wird die mit dem Exkurs anvisierte Beziehung zwischen /iyf-Handeln und sin als dem generellen Erkenntnisvermögen weiter intensiviert. In der zweiten Aventiure lockt Daniel das bauchlose Ungeheuer zunächst durch eine Reizrede vor das Burgtor, um dort auf freier Fläche mit dem Spiegel, der ihn

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des Königs steigert sich unrechtmäßiges Handeln bis zu roup. (Vgl. dazu Brall S.230f., 234f.). Diese auffällige rechtliche und soziale Konturierung der Wunderwelt der Aventiure zeigen auch andere nachklassische Artusromane wie der >Wigalois< und die >Krone< (vgl. Cormeau S. 71f.). Für den >Daniel< ist eine Klärung dieses Phänomens im Zusammenhang mit der Verdeutlichung des sozial konstruktiven Potentials von /iyf-Handeln zu suchen. Vgl. auch 1714f.

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vor dem tödlichen Anblick des Medusenhaupts bewahren soll, operieren zu können. Anlaß dieser Reizrede ist die Aufforderung des Ungeheuers, sich zu erkennen zu geben. Daniel erfüllt dieses Gebot durch eine Antwort, die seine Identität gerade nicht preisgibt, sondern listig verrätselt. Das Ungeheuer aber »erkennt« nicht, obgleich gerade diese Reizrede die spezifische Stärke des Gegners kenntlich macht. Kopflos fällt es auf die Provokation herein und wird, als es wütend am Burgtor erscheint, von Daniel umgebracht. 4 0 Die Gefolgsleute des Ungeheuers, die auf das Geschrei des Sterbenden herbeieilen, verhalten sich, als wären sie blint (vgl. 2145). Sinnlos laufen sie hin und her und suchen das Medusenhaupt, bis sie seiner tödlichen Wirkung selbst zum Opfer fallen. Die Verknüpfung von list und sin erreicht ihren Höhepunkt in der dritten Aventiure. 4 1 Auch hier ist die Zerstörung des sins Charakteristikum des Gegners, der rote, kahle Mann ist siech. Um dieses Siechtum zu überstehen, muß er von Zeit zu Zeit in Menschenblut baden. Während das bauchlose Ungeheuer die Menschen durch den Anblick des Medusenhaupts sofort tötet, raubt der kahle, rote Mann seinen Opfern zuvor mit seinem wort den sin.42 In diesem Zustand totaler Apathie tötet er sie dann, sin wird auf diese Weise also in doppelter Hinsicht zum Bezugspunkt von /«/-Handeln. Daniel muß sowohl das sm-Defizit des Gegners ausspielen und ihn dadurch besiegen, wie auch die bereits gefangenen willenlosen Opfer aus dem /oren-Stand erlösen, list hat hier keine geringere Funktion, als die Fähigkeit der Erkenntnis, die zu Selbstbestimmung in der richtigen Wertorientierung des Verhaltens, zu willigem muot, ermächtigt, wiederherzustellen. Die Affinität des in dieser Aventiure beschworenen Unheils des vertörens (vgl. 4455, 4636) zu der Prologthematik ist offensichtlich. Mit dieser Präzisierung des Unheils, mit dem der Held konfrontiert wird, gewinnt auch sein /«/-Handeln immer deutlicher symbolische Konturen. In der dritten Aventiure muß Daniel die Rolle eines tören annehmen, um seine Erlösungstat vollbringen zu können, und er erscheint den Erlösten als Heilsbringer. Wenn das bauchlose Ungeheuer und der kahle, rote Mann als Sendboten des Teufels bezeichnet wurden, 4 3 so wird Daniel als von Gott gesandt aufgefaßt, er gibt den Menschen lip unde sin (vgl. 4846) zurück. 44 Dieser heilsgeschichtliche Bedeutungsaspekt, der /«/-Handeln hier zuwächst, soll kurz als Horizont einer weiteren Episode gekennzeichnet werden. Daniel wendet seine list auch in den beiden großen Massenschlachten an, die Artus und sein Heer gegen die zahlenmäßig weit überlegenen Truppen des Königs Matur auszufechten haben. Die erste Kriegslist Daniels besteht darin, die Übermacht des Feindes aufzusplittern. 45 Zu diesem Zweck bedient er sich eines Wunderwerks der 40 41 42 43

44 45

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Zu den Stichworten erkennen und nennen vgl. 2031f., 2038ff., 2045, 2052. Vgl. dazu Henderson S. 160ff. Vgl. 4429, 4455, 4464, 4518, 4636, 4762f. 1900f., 4335; vgl. auch 1879,1881,1940,2026,2187ff., 2219,4330,4357,4366,4379,4607, 4626. 4827ff.; vgl. auch 4802, 4846f., 4855, 4900ff. Vgl. 3867ff.

list, des goldenen Tierstandbilds, das schon der Bote des Königs Matur in seinem Bericht über die Wunder des Königreichs Cluse als Produkt großer meisterschaft (vgl. 747) preist. Dieses Standbild steht auf einer Insel unter einer Linde, ein Wasser fließt mitten hindurch. Das Tier trägt ein Banner in seinem Maul, wenn man dieses entfernt, ertönt ein so entsetzlicher Schrei, daß jeder, der ihn hört, der krefte und der sinne beroubet wird (5748f.) und ohnmächtig zu Boden sinkt.46 Der Schrei dieses Tiers dient für die jeweils an diesem Tag gerüstete Schar der Ritter von Cluse als Kampfsignal. Wenn die Artusritter - wie Daniel rät - dieses Kampfsignal selber auslösen, so hat das den Vorteil, daß sie jeweils nur mit einer Truppe des Gegners konfrontiert sind und sich so die Chance ihres Siegs erhöht. Diese list wird später weiter perfektioniert.47 Um nach den riesigen Verlusten und der allgemeinen Erschöpfung durch die beiden großen Schlachten endlich eine unblutige Entscheidung herbeizuführen, wird der Schrei des Tiers so eingesetzt, daß er das neu ankommende feindliche Heer trifft. Die Ritter von Cluse sinken besinnungslos von den Pferden und sind damit kampfunfähig, Artus und sein Gefolge aber haben sich auf Daniels Rat die Ohren mit Wachs verstopft und entgehen so selbst der Gefahr, ihrer sinne beraubt zu werden. Diese list bringt Artus den Sieg. Sie bewahrt das Königreich Cluse vor einer weiteren Dezimierung seines Ritterstandes, und das bedeutet für Artus, daß ihm mit dem Sieg nicht ein völlig verwüstetes Land, sondern Up unde guot zufallen (vgl. 5735). Um die Bedeutung von Daniels list in diesem Handlungszusammenhang bestimmen zu können, greife ich noch einmal meine Interpretation des Quellenzitats im >DanielAnnoliedKaiserchronik< oder Lamprechts >Alexander< beweisen - in der volkssprachlichen Literatur durchaus bewußt.48 Daniel ist es, der Nebukadnezars Traum von den vier Weltreichen deutet, Alexander selbst wird mit dem dritten Weltreich identifiziert.49 Zudem erscheint die Figur des Propheten für die Verbindung mit dem list-Motiv prädestiniert. Wiederholt werden im Buch Daniel Verstand und Weisheit des Propheten im Gegensatz zu Gewalt und Stärke, den Attributen Nebukadnezars, betont, der mächtige König ist auf die Verstandesleistung des Propheten, auf dessen Fähigkeit, Träume zu deuten, angewiesen.50 Im Kontext dieser Daniel-Geschichte ist auch das rätselhafte Standbild des goldenen Tiers im >DanielAnnolied< XI; >Kaiserchronik< 531ff.; Straßburger >Alexander< 473ff. = 44,4ff. Vgl. Dn 7,8. Vgl. Dn 1,17; 2,14; 2,35; 5,14ff. im Gegensatz zu 2,37; 4,19. Auch die Klugheit und Schläue, mit der Daniel in der Geschichte von Susanna die beiden Greise der Lüge überführt, legt es nahe, gerade diesen Namen für den Protagonisten zu wählen. In der Forschung wurde das Motiv des schreienden Tiers bisher auf den Mechanismus des Wunderbrunnens im >Iwein< bzw. dessen Erwähnung in Ulrichs von Zazikhofen >Lanzelet< und auf die Wirkung von Rolands Horn Olifant bezogen. Vgl. Rosenhagen, Untersuchungen, S. 67f.; Kern S.30f.

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Nebukadnezar läßt ein goldenes Standbild machen und in einem Tal in Babel aufstellen. Die Mächtigen des Landes werden zusammengerufen, um bei der Weihe des Bildnisses anwesend zu sein. Dort wird ihnen befohlen, wenn sie den Schall der Posaunen und Trompeten hören, niederzufallen und das goldene Standbild anzubeten. Wer dem Gebot nicht Folge leistet, soll im Ofen verbrannt werden. Mehrere Juden widersetzen sich diesem Gebot und werden verklagt. Die sich anschließende Geschichte der drei Männer im Feuerofen läßt Nebukadnezar die größere Macht des Gottes der Juden erkennen. 52 Vor diesem Assoziationshintergrund wächst dem /iri-Handeln Daniels eine weitere Bedeutungsdimension zu. König Matur, der das Standbild des goldenen Tiers machen ließ, ist gekennzeichnet durch die Position des Unrechts. Ohne Daniels list würden Artus und sein Heer der Zauberwirkung des Tiers erliegen und damit Maturs Gewalt verfallen, list aber bewahrt auch hier der Partei des Rechts die sinne und sichert so die Fähigkeit, sich der Gewalt des Unrechts erfolgreich zu widersetzen. Sie bewirkt darüber hinaus die Möglichkeit, die, die dem Unrecht ohne Wissen verfallen sind, zu bekehren. Dem endgültigen Sieg über das Heer des Königs Matur schließt sich die Prozedur der Überzeugung 53 an, in der die Ritter von Cluse das Unrecht ihres Königs einsehen, die viande werden ze guoten friunden gemacht (vgl. 5798f.). Auf Artus' ausdrücklichen Wunsch hin sind sie bereit, auch die verwitwete Königin des Landes von dieser Rechtmäßigkeit zu überzeugen. Durch solchen Rat in ihrem sin gewandelt, entscheidet sich die Witwe Maturs schließlich nicht nur zur Versöhnung mit König Artus, sie entschließt sich auch, Daniel zu heiraten. 54 Der Zustand der Minne, den list hier erwirkt hat, ist jedoch noch nicht von Dauer. Das Wunderwerk der list, das goldene Standbild, wurde von einem meister (vgl. 761) gemacht, der selbst über die Fähigkeit der list verfügt. 55 Es ist der Vater der beiden von Daniel getöteten Riesen. Während Daniel in den ersten drei 52 53 54

55

70

Vgl. Dn 3,1-30. Vgl. 5833ff. Auch für diese Szene liefert offensichtlich der >Iwein< das Modell. Während jedoch die Überredungskunst Lunetes in geradezu paradoxer Weise im Minnegeschehen zwischen Iwein und Laudine ihre Entsprechung findet, ist die Minnethematik im >Daniel< konsequent eliminiert, an die Stelle der Minne tritt die Verbindlichkeit der räf-Situation. Das Aussparen der Minnethematik ist wiederholt als Kritik des Strickers gedeutet worden. So versteht z.B. Moelleken diese Szene als Ablehnung der Iwein-Minne, als Votum des Strickers für die Ehe; Brall dagegen interpretiert diesen >IweinDaniel< berücksichtigen. Der Roman ist so aufgebaut, daß er immer eindringlicher das Wirkungsvermögen von list vor Augen führt. Am Ende dominieren solche Vollzugsformen des Handelns wie rät und helfe, triuwe und milte; es sind die wichtigsten Sozialbindungen, daß sie wieder funktionieren, ist Daniels /»{-Handeln zu verdanken, es unterstreicht noch einmal das sozial konstitutive Vermögen von list. Vgl. Moelleken, Liebe und Ehe, S. 49f.; Brall S. 240; siehe dazu auch Rosenhagen, Untersuchungen, S. 59f.; Kern S. 31. Vgl. 745, 748, 768, 782, 6990, 7598.

Aventiuren seine Gegner durch list besiegt, weil sie selbst dieses Vermögen nicht besitzen, steht er in der vierten, entscheidenden Aveiitiure einem gleichwertigen Gegner gegenüber. Der Vater der Riesen ist zur Rache entschlossen, damit wendet sich list gegen das Artusreich selbst. Wie der wunderliche alte Mann (vgl. 6905) bei der Entführung des Königs listig die Regelfixiertheit der Artusritter ausspielt, wurde schon bei der Untersuchung der spezifischen Konzeption der Artusidealität im >Daniel< beschrieben. Die Entführungsepisode wird hier noch einmal herangezogen, weil sich gerade beim Aufeinandertreffen zweier, durch list prinzipiell gleichwertiger Partner zeigen muß, was die Überlegenheit von Daniels Handeln ausmacht. Nachdem Parzifals Versuch, Artus zu befreien, mißlingt, droht sich Panik unter der Hofgesellschaft auszubreiten. Daniel entfernt sich heimlich und reitet eilends zu der Tochter des Grafen von der Grüenen Ouwe. Sie besitzt das unsichtbare Netz, in dem sich Daniel zu Beginn der dritten Aventiure selbst verfing und das nun zur Überwindung des listigen Alten dienen soll. Die Grafentochter hat Daniel damals aus dem Netz befreit, und er dankte ihr diese Befreiung mit der Erlösung des ganzen Landes aus der Schreckensherrschaft des roten, kahlen Mannes. Der Erfolg seines fof-Handelns erwarb ihm die hulde der Grafentochter, die nun keinen anderen Wunsch mehr hat, als den erfahrenen Dienst mit eigenem Dienen zu vergelten. Als Daniel jetzt erscheint, um sie um ihre helfe zu bitten, wird die vorbildliche Gegenseitigkeit ihres Verhältnisses in folgendem Bild veranschaulicht: Daniel selbst legt dem Pferd der Grafentochter Zaumzeug und Sattel an und führt es herbei, der künec rkhe (vgl. 7347) übernimmt die Rolle eines Stallknechts, und dieser Rollenwechsel erscheint angesichts der ndt, in der er sich befindet, billich unde reht (vgl. 7352f.). In der hier erreichten Vollkommenheit des Zusammenspiels beider Rollen hebt sich die Differenz zwischen Normanspruch und Verwirklichung auf, suln und wellen werden identisch (vgl. 7405ff.). Die Vermutung liegt nahe, daß auch diese Demonstration harmonischer Wechselseitigkeit des Handelns an dem Verhalten Iweins im zweiten Handlungsteil orientiert ist. Von dem Augenblick an, in dem Iwein dem Löwen im Kampf gegen den Drachen hilft, ist er in allen folgenden Kämpfen - mit Ausnahme des Kampfes gegen Gawein am Ende - auf die helfe des Löwen angewiesen. Die gefährliche Zuspitzung des Kampfes, in der der Gegner jeweils schon droht, Iwein zu überwältigen, provoziert die helfe des Löwen, und nur durch dieses höchste Gefahrenmoment des Angewiesenseins auf helfe wird Iwein selbst wieder zu helfe fähig. In der vierten, der letzten und schwersten Aventiure, die Daniel zu bestehen hat, taucht dieser doppelte Aspekt des Handelns auch im >Daniel< auf. Es ist die Aventiure, die - verglichen mit den vorhergehenden - am eindringlichsten das soziale Potential, das für das /«/-Handeln des Protagonisten charakteristisch ist, bewußt macht. In der ersten Aventiure bleibt Daniels helfe noch einseitig; in der zweiten Aventiure provoziert seine helfe bereits den Entschluß des Grafen vom Liehten Brunnen, künftig mit ihm zu reiten und sein geselle zu sein: >ich hilfiu gerne, ir hülfet mir. < (2330) In der dritten Aventiure antwortet Daniels Erlösungstat auf die Befreiung, die er selbst durch die Grafentochter erfahren hat. Die Erlösung bringt 71

Daniel darüber hinaus eine ganze Schar von Rittern ein, die ihm von nun an folgen wollen und die er zunächst als Verstärkung der bedrängten Partei des König Artus in Cluse einsetzen kann (vgl. 4959ff.)· Die vierte Aventiure setzt diese Wechselseitigkeit des Ae/fe-Handelfls bereits als Prämisse des weiteren Erfolgs voraus, nur durch die helfe der Grafentochter ist Daniel fähig, den listigen Alten zu überwältigen. Wesentlich ist jedoch, daß mit der physischen Überwindung des Alten die Befreiung von Artus und Parzifal noch nicht erreicht ist. Der Alte ist zwar in dem Netz gefangen, doch Artus und Parzifal befinden sich noch immer - für Daniel wie für jeden anderen Artusritter unerreichbar - auf den hohen Felsspitzen, kein anderer als der Alte ist imstande, sie aus dieser gefährlichen Lage zu befreien. Was nun folgt, verdeutlicht musterhaft das Wirkungsvermögen, das Daniels list innewohnt. Als der gefesselte Alte mit allen (...) sinnen (7629) in Unversöhnlichkeit verharrt, klärt ihn Daniel über die Gründe auf, die die Fehde zwischen dem Artusreich und Cluse heraufbeschworen und im Gefolge davon den Tod seiner Kinder verursacht haben. Daniels Rede hat den Charakter einer präzisen rechtlichen Argumentation. Er begnügt sich nicht damit, den Alten von dem Unrecht, das die Herausforderung des Königs Matur bedeutete, in Kenntnis zu setzen, die Legitimität von Artus' Reaktion wird nun in Termini des Fehderechts gefaßt: Wer »mutwillig«, das heißt ohne Rechtsgrund und vorherige gerichtliche Klage, angegriffen wird, ist, um die Rechtmäßigkeit seines Standpunkts zu beweisen, zu widerslac bzw. notwer verpflichtet (vgl. 7696ff., 7715).56 Das Resultat der Auseinandersetzung offenbart den Willen Gottes, ihr eigenes Unrecht ist es, das die Riesen erschlagen hat. widerslac wart nie verboten einem zornigen man, swenne er niht genesen kan, er miieze sich weren. ob er den Up wil generen, so sieht er gerne widere, e er gelige darnidere. (7696-7703)

Diese Rechtsbelehrung verfehlt ihre Wirkung auf den Alten nicht. Sofort korrigiert er sein Urteil und verpflichtet sich dem Artusreich, der Seite des Rechts. Was ihn zu dieser unmittelbaren Einsicht in das, was richtig ist, befähigt, ist sein witz bzw. seine wisheit (vgl. 7645,7652,7663), das Erkenntnisvermögen also, auf dem /üf-Handeln basiert. Es ist bezeichnend, daß Daniel seine Darstellung der Rechtslage gerade mit dem Appell an dieses Erkenntnisvermögen beginnt. »Nü bistü doch ein witzic man. waz meinet ez, daz dir iemer kan ein solh tumpheit geschehen? (7645-7647) 56

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Vgl. dazu Otto Brunner: Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Österreichs im Mittelalter. 5Wien 1965 (Unv. Nachdr. Darmstadt 1973), S. 48f. Zum Recht auf Notwehr vgl. auch Rudolf His: Das Strafrecht des deutschen Mittelalters. 2 Bde. Weimar 1920 (Unv. Nachdr. Aalen 1964), Bd. 1, S. 196ff.

Der Zusammenhang, der hier definitorisch zwischen list, wisheit und Recht hergestellt wird, hat programmatische Bedeutung. Er erklärt nicht nur Daniels Sieg über den Alten, die Wirkungsmächtigkeit dieser Begriffskonfiguration wird durch den spontanen Erfolg von Daniels Rede, durch die Umkehr des Alten ins Bild gesetzt. /«/-Handeln erscheint als die situationsspezifische Konkretisierung von wisheit.51 Weil list auf dem Vermögen, guot und übel erkennen und unterscheiden zu können, aufruht, 58 ist /«/-Handeln identisch mit dem Wissen, was in der jeweiligen konkreten Situation richtiges, das heißt dem Recht gemäßes Verhalten bedeutet. In diesem Sinne erwirkt /«/-Handeln Recht. Der Zustand des Rechts aber wiederum stellt sich dar als Verwirklichung des konstruktiven Potentials, das im Zusammenspiel der Rollen, in der gelungenen Balance sozialer Gegenseitigkeit, frei wird. Wenn mit Daniels Aventiuren dieser Zusammenhang sukzessive aufgebaut bzw. verdeutlicht wird, dann zeigt das Beispiel des Alten die diesem Zusammenhang eigene Stringenz. Besitzt jemand die Fähigkeit der list, dann muß er auch über wisheit, die richtige Orientierung an der gottgewollten Ordnung, verfügen, dann weiß er auch, was Recht ist und kann gar nicht anders, als sich spontan dem Recht zu verpflichten. Dieser Bedeutungszusammenhang wird zum Thema im Lob der list, es steht bezeichnenderweise genau an der Stelle, wo /«/-Handeln durch das Rekurrieren auf die /«/-Kompetenz des Handlungspartners gewissermaßen zu sich selbst kommt: Es ist eingeschoben zwischen die physische Überwindung des Alten und seine Umstimmung zur Versöhnung, mit der er vom überwundenen Gegner zum gleichrangigen Partner avanciert, der mit seiner wisheit, seiner list und seinem Rat in das Artusreich integriert wird. Zugleich wird in diesem Lob der list das Thema des Prologs noch einmal aufgenommen und aus der Retrospektive des Romangeschehens neu akzentuiert. Wenn im Prolog lop und ire dem zugesprochen wurden, der willigen muot besitzt, so tritt an die Stelle von willigem muot nun die Fähigkeit der list. Der Begriff der list jedoch ist ambivalent und muß - ähnlich wie der theologisch negativ vorbelastete Begriff des zwivels im Prolog von Wolframs >Parzival< - in der hier vorgeführten positiven Umwertung geradezu provokativ gewirkt haben. Mit der Ablehnung von Einwänden, die den Sinn solcher Neudeutungen nicht begreifen, befaßt sich der erste Teil des Lobs der list: Swer iht guoter liste kan, den solde wip unde man gerne eren dester baz. ein man tuot mit listen daz, daz tüsent niht entaten, swie gröze kraft sie hosten. (7487-7492) (...) swer die rede letze, den hät für einen tumben man. der rehte guote liste kan, ez st frome und ere. ez hazzet maneger sire, 57 58

Auch Daniel wird wiederholt als wise bezeichnet (vgl. 2071, 2077, 2283,2350,5296,5333). Vgl. 7544, 7546.

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daz man lernet guotiu dine und sprichet als ein snürrinc, man müge ze vil kunnen. der ist niht sd versunnen, daz er habe der witze gunst.

(7504-7513)

Im zweiten Teil dieses Lobs wird der Zusammenhang mit dem Prolog nun auch über die gwoi-Thematik hergestellt, list, hier repräsentiert durch ihre Voraussetzungen kunst unde wisheit, verschafft - beinahe wie im Märchen - unerschöpflichen Reichtum (guot), der sich sofort und permanent - dem Gebot der milte gemäß - im Gestus des richtigen gebens veräußert. In diesem Sinne erscheint list als ein Instrument von fuoge: swer kunst unde wisheit beidiu in sin vaz leit, der mac wol haben unde geben; sol er tüsent jär leben, swaz er darüz gelceren kan, ez wirt dävon niemer wan. er mac wol geben, swem er wil, und doch ie geliche vil. ist er rehte gemuot, beidiu ire unde guot erwirbet im diu fuoge und darzuo friunde genuoge. (7523-7534) Die Bedeutung, die list hier zuerkannt wird, präzisiert die im Prolog formulierte These. ftsf-Handeln stellt die normative Entsprechung von vorbildhaftem Wertbewußtsein (muot) und Besitz (guot) her, es schafft diesen Sollzustand und sichert ihn auf Dauer. Da das Verfügen über materielles guot nicht als Selbstwert, sondern als Verpflichtung zum Erweis des ethischen gitoi-Seins begriffen wird, ist die sozial konstruktive Wirkung dieser Konstellation von muot und guot unendlich. Das Gegenbild dieses Idealmodells wird kurz zuvor - ganz knapp und beiläufigskizziert. Es hat die Funktion, die absolute Verläßlichkeit und Integrität von Daniels Verhalten kontrastiv zu verdeutlichen, und auch dies wird formuliert mit Hilfe des guot-lmuot-Themas, nun anhand der exemplarisch falschen Konstellation von guot und ere. Swenne ez dem firomen not tuot, söne spart er Itp noch guot; swer guot lästerliche spart, der hät sich also bewart, möhte ich die volge hdn, ichn lieze in niemer gestän an deheines mannes stat, ich seite im schäch unde mat aller siner eren. ich wolde äf in keren aller wirdekeite ban. er ist ein unvertic man, ob mirs joch nieman gestät, swer guot äne ire hät. (7243-7256) 74

Mit der Formel guot lasterliche sparn ist eine Vorstellung angesprochen, die - auch in anderen Texten des Strickers - zur Kennzeichnung sozial destruktiven Verhaltens dient.59 Materielles guot wird durch ein solches Verhalten seiner positiven gesellschaftlichen Bestimmung entzogen. Zudem bindet das ständige Bemühen, den Besitz vor Neidern und Dieben zu schützen und ihn dennoch immer weiter zu vergrößern, die Aktivität der Person, die der Realisierung der richtigen Wertorientierung dienen sollte. Wer so handelt, ist letztlich nur noch Objekt jener Zwänge, die sich in dem Moment, wo sich materielles guot als Wert verselbständigt, bedrohlich anwachsen. Das Gegenbild dieser Negatiworstellung wird am Ende des >Daniel< auch handlungsmäßig in Szene gesetzt. Daniels list rettet den Bestand des Artusreichs, und diefröude, die die endgültige Befreiung von Artus und Parzifal auslöst, äußert sich unter anderem in repräsentativen Schenkungen, mit denen Artus seine neu gesicherte Idealität als Herrscher erweist. Er setzt Daniel als König von Cluse ein und ist bereit, ihn weiter mit guot zu überhäufen (vgl. 7945ff.). Er überläßt auch dem listigen Alten das Land, das dieser zuvor nur als Lehen besaß, nun als eigen und spricht ihn damit von jeglicher Dienst-Verpflichtung frei. In dieser großangelegten Schau idealen Herrscherverhaltens wird wiederholt das Prologthema angespielt.60 Was im Prolog postuliert wurde, ist nun durch das Handlungsgeschehen eingelöst. Mit der Wiederherstellung der Bedingungen des Sollzustandes ist auch die Doppeldeutigkeit von guot wiederhergestellt: er missevert niht, / der iuch gesuochet durch guot (8266f.) sagt der soeben zum Ritter geschlagene Beladigant zu Artus, als dieser ihn in die Tafelrunde aufnimmt und ihm darüber hinaus die Vermählung mit der Tochter des Grafen von der Grüenen Ouwe und eine angemessene Ausstattung mit guot anbietet. Dieses Tableau einer ins Übermaß gesteigerten fröude, in das das Handlungsgeschehen einmündet, schließt mit einem kurzen zeitkritischen Resümee. Gemessen an dem idealtypischen Dienst-Verhältnis, das zwischen Artus und Daniel besteht und sich bis in die Extremsituation einer Existenzgefährdung des Reichs hinein zu beider Vorteil bewährt, erscheint der Geiz der gegenwärtigen herren als eine Verfehlung; durch gespartes guot meinen sie, sich einen Vorteil zu sichern, und versäumen dabei den sehr viel größeren Gewinn. Eines dinges mich iemer wundert, daz n& die herren sint sd karc und er an gebene was sd starc. daz er ein so richez lant sd lihte gap üz siner hant, er entet niht misse daran; er gap ez einem solhen man, der allen sinen willen tele, den er deheiner bete 59

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Vgl. ζ. B. >Von bösen Frauen* (ed. Moelleken 4) 55ff., 76ff., 134ff.; >Der junge Ratgeber< (siehe S. 137ff.); >Die Eule und der HabichtFrauenehre< - eben jenes Moment gelungener sozialer Selbstbestimmung bezeichnet, in dem Wertanspruch und Wertrealisierung identisch werden. Ein Werk, das diesen Zustand vermitteln will, verlangt nicht nur einen kompetenten Autor, sondern ebenso ein Publikum, das diesen Anspruch schätzen und realisieren kann und dieses adäquate Verständnis unter anderem auch in der richtigen materiellen Entlohnung des Autors beweist. Aus der >Frauenehre< ist dieser Zusammenhang bereits bekannt, dort wird er argumentativ genau aufgebaut und mit der Selbststilisierung des Autors in der 76

Fahreiiden-Rolle verknüpft. Im >Daniel< artikuliert sich dieser Bittgestus des Autors, gemäß der anderen Gattung und der ihr entsprechenden Tradition literarischer Selbstäußerung, nur indirekt. Im Anschluß an die Textstelle, die den gewin richtigen Zuhörens am Beispiel der Musik beschreibt, unterscheidet der Erzähler bezeichnenderweise die meister (vgl. 8145) unter den Musikanten von der Masse der übrigen, die der Erwähnung nicht wert sind. Scheinbar ganz beiläufig formuliert er dabei die notwendige Entsprechung von der Kompetenz des Künstlers und dem Honorieren dieser Kompetenz durch das Publikum (vgl. 8150f.). Wenn im folgenden dann bunt und lebendig ausgemalt wird, wie großzügig die Spielleute auf diesem glanzvollen Fest mit guot überschüttet werden (vgl. 8152ff.), dann wird damit dem eigenen Publikum ein ähnliches Verhalten nahegelegt. In der abschließenden kritischen Anmerkung über mangelnde milte verschafft sich diese Forderung des Autors noch einmal Gehör. Wer den Modellcharakter einer solch harmonischen Beziehung, wie sie das Verhältnis zwischen Artus und Daniel verkörpert, begriffen hat und also auf seine Situation anzuwenden weiß, der zeigt, daß er dem Postulat vom gerne vernemen gerecht geworden ist: Er läßt die Intensivierung seines Wertbewußtseins in entsprechendem Handeln, in der angemessenen Entlohnung des Autors, wirksam werden.

3.3 Die Auflösung der Doppelweg-Struktur im Zusammenhang mit der programmatischen Bedeutung des fe-Handelns Die Untersuchung des >Daniel< begann mit der Frage, was in diesem Artusroman, der so genau auf Hartmanns >Iwein< Bezug nimmt, erniuwen heißt. Am Ende der Interpretation des Prologs habe ich eine erste, noch sehr vorläufige Hypothese zur Lösung dieses Problems aufgestellt, die im Zusammenhang mit den nun erarbeiteten Ergebnissen der Textanalyse präzisiert werden soll. Bevor ich dies versuche, erscheint es mir jedoch wichtig, die durch die Interpretation erschlossenen Beziehungen zwischen >Iwein< und >Daniel< zu systematisieren und dabei den Stellenwert ihrer jeweiligen Bedeutung zu ermitteln. Denn offensichtlich bedeutet niuweMachen für den Stricker auch im Bereich des Artusromans, daß er sehr bewußt mit den Konstituenten der Gattung operiert,61 daß er sie aber doch so umfunktioniert, daß das zentrale Merkmal des hochhöfischen Artusromans, das Strukturmodell des Doppelwegs, aufgegeben wird. Wenn in der Forschung bisher die Rezeption des >Iwein< oder auch weitergefaßt die Rezeption des hochhöfischen Artusromans im >Daniel< untersucht wurde, dann handelte es sich meistens um das Feststellen gleicher, ähnlicher oder signifikant abgewandelter Motive, wobei bei der Deutung solcher Kontinuitäten und Variatio61

Auch Cormeau geht bei seiner Untersuchung des nachklassischen Artusromans davon aus, daß die Autoren die Typkonstanten gekannt und bewußt abgeändert haben; als besonders instruktives Beispiel verweist er in diesem Zusammenhang auf den >Daniel< (vgl. Cormeau S. 20f.).

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neii nicht zwischen einfachen Erzählmotiven und Strukturelementen des Doppelweg-Modells unterschieden wurde. Eine solche Unterscheidung ist aber meiner Meinung nach notwendig, da der Stricker - wie die konsequente Entwicklung des foi-Handelns aus der strukturellen Position und Bedeutung der Harpin-Aventiure im >Iwein< beweist - ein entsprechendes Verständnis voraussetzt. Nur so ist die Frage zu klären, warum sich der Stricker mit dem >Daniel< an Hartmanns >Iwein< anschließt, dabei aber - augenscheinlich ebenso demonstrativ wie folgerichtig - die Doppelweg-Struktur auflöst. Nur im Zusammenhang mit der Klärung dieser Frage ist das Programm des niuwe-Machens für den >Daniel< zu bestimmen. Ich beginne mit der sterilen Idyllik, die die totale Perfektion höfischer Lebensform im Königreich Cluse verkörpert. Joie de la Curt im >Erec< und die Burg zum Schlimmen Abenteuer im >Iwein< bieten das Modell. Von der Welt hermetisch abgeschlossen, für den Fremden ebenso gefährlich wie faszinierend, erscheint das Leben dort fremd und sonderbar und signalisiert - gerade weil der Schein der Perfektion sich nur zu leicht selbst entlarvt - Erlösungsbedürftigkeit. Die Ambivalenz dieser weltentrückten Idyllen steigert sich vom >Erec< zum >Iwein< und nimmt im >Daniel< Züge offenen Unrechts an. Der Protagonist erkennt diese Aventiure sofort als das, was ihm zu tun aufgetragen ist und was nur er allein erfolgreich bestehen kann. Dieser offensichtlich vom Stricker beabsichtigten Parallelität steht ein wesentlicher Unterschied gegenüber. Joie de la Curt wie die Burg zum Schlimmen Abenteuer sind Stationen auf dem Weg des Protagonisten, sie bezeichnen eine bestimmte Stufe in der Vervollkommnung seines Wertstatus. Beide Aventiuren stehen am Ende bzw. fast am Ende des Romans und veranschaulichen die nun endgültig gesicherte neue soziale Identität des Helden, die die Voraussetzung zum Gelingen der Erlösungstat ist. Beide Aventiuren weisen zudem durch Motive oder Leitbegriffe auf frühere Stationen des Doppelwegs zurück und setzen so die nun gewonnene Vollkommenheit mit Phasen der zerstörten oder nur partiell erreichten Werthaftigkeit des Protagonisten in Beziehung. Eine solche konzeptionelle Verknüpfung zwischen Aventiure und Wertstatus des Helden besteht im >Daniel< nicht. An die Stelle dieser Entsprechung tritt eine andere: In dem eigentümlichen Paradies höfischer Lebensweise, das das Königreich Cluse darstellt, bildet sich vergrößert und ins Monströse verzerrt die Regelfixiertheit, und das heißt die Krisenanfälligkeit, des Artushofes ab. Nicht der Protagonist, sondern der Artushof wird im >Daniel< mit Strukturelementen des Doppelwegs in Beziehung gebracht und auf diese Weise maßstäblich fixiert. Und nicht Daniel, sondern der Artushof ist es, der in diesem Roman in eine Krise gerät, die ihm beinahe die Existenz kostet. Die Anlage dieser Krise folgt wiederum genau der Konzeption der Krise in der Doppelweg-Struktur. Das Handlungsgeschehen hat sich bis zu einem Punkt entwickelt, wo alles schon gewonnen scheint. Wie Erec und Iwein am Ende des ersten Teils des Doppelwegs, so hat auch Daniel nach der Eroberung von Cluse eine Dame und ein Land erworben, die Hochzeit mit Danise, der Witwe des Königs Matur, wird mit einem glanzvollen höfischen Fest gefeiert, der erreichte Glückszustand erscheint vollkommen. Da erweist sich dieser Höhepunkt plötzlich als nur 78

relativ; wie mit dem Erscheinen Lunetes, so bricht mit dem Auftauchen des listigen Alten die Krise über die Festgesellschaft herein. Dieser demonstrativen Vertauschung der Rollen von Artushof und Protagonist entspricht auch die Anlage des Schlusses. Nach der Befreiung des Königs, die mit einem noch glänzenderen und größeren Fest gefeiert werden soll, äußert Daniel den Wunsch, zu diesem Anlaß auch die Königin Ginover und ihr Gefolge sowie die noch in Britannien verbliebenen Artusritter nach Cluse zu holen. Der König stimmt zu, und so wird mit großem Gepränge die gesamte Artusgesellschaft dem Reich, in dem Daniel als König herrscht, zugeführt. Unter diesem Aspekt betrachtet, bedeutet die Gestaltung des absoluten Höhepunktes im >Daniel< eine konsequente Fortentwicklung der relativierten Bedeutung, die - verglichen mit dem >Erec< - der Schlußeinkehr des Protagonisten am Artushof im >Iwein< zukommt. Während im >Erec< die Bewährung in den Aventiuren des zweiten Handlungsteils mit der Bewährung der Minnegemeinschaft identisch ist und folglich die endgültige Bestätigung des Paares bei der Schlußeinkehr am Artushof auch strukturell den absoluten Höhepunkt und das Ende des Wegs anzeigt,62 führt im >Iwein< die Doppelung der Instanzen, an denen sich das Handeln des Protagonisten auszurichten hat, diesen zum Schluß mit Notwendigkeit über den Artusbereich hinaus. Das Minneziel seines Handelns kann Iwein nicht im Artusbereich verwirklichen, der absolute Höhepunkt realisiert sich erst in der Versöhnung mit Laudine und damit in dem Bereich, in dem er selbst zuvor als Landesherr herrschte und der seines Schutzes und Schirmes noch immer bedarf. Wenn im >Daniel< der absolute Höhepunkt schließlich durch die symbolische Vereinigung von Artusreich und Reich des Protagonisten erreicht wird, dann bildet sich in der veränderten Realisierung dieses Strukturelements noch einmal das veränderte Verhältnis von Protagonist und Artushof ab. Der Protagonist ist von Anfang an überlegen durch seine Fähigkeit der list, diese macht ihn immun gegen jede Krise. Der Artushof dagegen ist prinzipiell krisenanfällig, der Bestand seiner Idealität ist abhängig von der Souveränität des Protagonisten. Mit dieser Rollenverteilung ist jedoch das Strukturmodell des Doppelwegs aufgegeben: Die Krise als das entscheidende Strukturelement, das den Weg des Helden konstitutiert, fällt aus, und damit fehlt das dem Strukturmuster immanente Spannungsgefüge. Das Ziel dieser neuen Fassung des Verhältnisses von Protagonist und Artushof wird schon im Prolog formuliert. Es geht in diesem Roman um die Bezeichnung der Fähigkeit, die die Entsprechung von muot und guot bewerkstelligt und damit eine geradezu automatische Umsetzung von willigem muot in entsprechende werk garantiert. Mit dieser Übereinstimmung von muot und guot ist eben jene Konstellation des Erfolgs gemeint, die dem Protagonisten im zweiten Teil des Doppelwegs zufällt: Sein Handeln wird realitätsmächtig, scelde und ere stellen sich ein. Diese Erfolgskonstellation des Handelns erklärt der Prolog des >Daniel< zum Thema des Werks, sie steht 62

Auch im >Erec< ist mit der Rückkehr nach Karnant und der nochmaligen Überhöhung des Handlungsgeschehens dort (vgl. Erec der wunderwre 10045) eine Doppelung der Bereiche schon vorbereitet.

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im Brennpunkt des Interesses, unter dem der Autor die Interpretation des >Iwein< aufnimmt und sich damit in die Gattungsdiskussion des Artusromans einschaltet. Unter der Perspektive dieses Rezeptionsinteresses wird auch erklärlich, warum Daniels fof-Handeln in einer Folge von Situationen entwickelt wird, die vom Typ her der Situation Iweins in der Harpin-Aventiure entsprechen. Der Autor wählt die Stelle in der Entwicklung des Handlungsgeschehens aus, die strukturell gesehen für die Bezeichnung der veränderten Haltung des Protagonisten im zweiten Handlungsteil von entscheidender Bedeutung ist. Sie dient als Modell für die Neubestimmung realitätsmächtigen Handelns, das Konzept der list. Die fortschreitende Verdeutlichung dieses Konzepts bestimmt den Aufbau des Romans.63 Ich rekapituliere hier noch einmal die wichtigsten Beobachtungen bei der Analyse des listHandelns, um die Aufbauprinzipien des Romans bestimmen zu können. 1. Die erste Aventiure, die Daniels list herausfordert, hat exemplarische Bedeutung, sie charakterisiert in dreifacher Wiederholung die Situation, in der sich list bewähren muß: Dreimal spitzt sich die Lage durch scheinbar einander ausschließende Anforderungen zu, dreimal löst Daniel die Bedrängnis dadurch, daß er den Anspruch der kollidierenden Werte auf die konkreten Erfordernisse seiner Situation bezieht und so den zunächst unausweichlich wirkenden Konflikt vermeidet. 2. Die zweite und die dritte Aventiure setzen dieses Muster als bekannt voraus und überbieten es, die Bedrohlichkeit des Gegners nimmt zu, und damit wächst die Bedeutung, die Daniels fci-Handeln zukommt. 3. Im >Daniel< wird die reine Artus-Idealität zum Problem. Im Gegensatz zum hochhöfischen Roman ist Artus im >Daniel< deshalb nicht mehr der ruhende Pol, er wird selbst aktiv. Für den Protagonisten bedeutet dies eine Doppelung der Handlungsbereiche: Zum Bewährungsanspruch der Einzel-Aventiure kommt der Bewährungsanspruch in den Kämpfen, in die Artus und seine Ritter verwickelt sind. Durch die Verknüpfung der beiden Bereiche wird Iweins Termindruck in der Harpin-Episode für Daniel zum Dauerzustand, der doppelte Erwartungsdruck treibt ihn in raschem Wechsel zwischen den beiden Handlungsbereichen hin und her. 4. Diese Doppelung der Handlungsbereiche ist jedoch nicht - wie die Artusromane Hartmanns - von einem Strukturmodell bestimmt, das unabhängig von diesem Roman verfügbar ist und als solches bereits eine ganz spezifische Diskussionssubstanz enthält.64 Zweck der Doppelung ist die Verdeutlichung des sozialen 63

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Es wäre interessant, das Handlungskonzept der list, das im >Daniel< so bewußt und konsequent aus dem >Iwein< abgeleitet wird, mit der list des Protagonisten in Gottfrieds >Tristan< zu vergleichen. Da ein solcher Vergleich jedoch den hier verfolgten Diskussionszusammenhang überschreiten würde, verzichte ich darauf. Vgl. dazu Wolfgang Jupe: Die »List« im Tristanroman Gottfrieds von Straßburg. Intellektualität und Liebe oder die Suche nach dem Wesen der individuellen Existenz. Heidelberg 1976 (Germanische Bibliothek Reihe 3). Die Doppelung der Handlungsbereiche im >Daniel< als Ersatz für den Doppelweg des Helden im Rahmen der Weg-Ziel-Struktur aufzufassen, erscheint mir rein formal gedacht und deshalb wenig überzeugend (vgl. Moelleken, Henderson S. 197; Kern S. 31f.).

Leistungsvermögeiis von list. Dies immer eindringlicher bewußt zu machen, ist das Ziel des Romans. Dieses Ziel tritt gewissermaßen an die Stelle der Doppelweg-Struktur, es steuert die Verknüpfung der Episoden, die Handlungsabfolge und den Aufbau des Romans, es wirkt strukturbildend. 5. Die Folge dieser Ausrichtung des Handlungsgeschehens ist es, daß gegen Ende des Romans die Tendenz zu begrifflichem Ausformulieren der Programmatik von foi-Handeln zunimmt. Exkurse wie das Lob der list werden in die Handlung eingeschoben, um das, worauf es ankommt, nun auch terminologisch zu fixieren: list erscheint im Kontext verwandter Begriffe wie sin, witze, wisheit, reht und fuoge. 6. Dieser Tendenz zur begrifflichen Bestimmung im Exkurs entsprechen auch die anderen Vollzugsformen des Handelns, die nach der Beendigung der Schlacht in den Vordergrund treten: An die Stelle des Kampfes tritt die Überzeugungskraft des Rechts, das herzeleit Danises wird durch getriuwen rät beendet. Die Beobachtungen machen noch einmal die im Vergleich zum hochhöfischen Artusroman veränderte Gestalt des >Daniel< bewußt. Ich greife nun erneut die Frage auf, was in diesem Artusroman erniuwen heißt. Der Stricker kennt das Strukturmodell des Doppelwegs und arbeitet sehr bewußt mit dessen wichtigsten Elementen. Er setzt sie so ein, daß sie durch die Veränderung ihrer Plazierung und ihres Bedeutungsgehalts das Leistungsvermögen von fcf-Handeln verdeutlichen. /isi-Handeln wird abgeleitet aus der spezifischen Konstellation, in der dem Helden im zweiten Teil des Doppelwegs scelde und ere zufallen, es wird verstanden als neues Äquivalent dieser Erfolgskonstellation: list ist identisch mit der Fähigkeit, von der die Umsetzung der richtigen Wertorientierung in entsprechendes Handeln und dessen gesellschaftliche Anerkennung abhängen. In diesem Sinne bedeutet erniuwen die genaue Bestimmung und Vergegenwärtigung dessen, was als wesentüche Substanz der Gattungstradition angesehen wird. Die Wahrung dieser Substanz aber ist verbunden mit der Auflösung der Doppelweg-Struktur als dem dominanten Gattungsmerkmal. Immer neu bewußt zu machen, was fisi-Handeln für die Wahrung oder Wiederherstellung der gesellschaftlichen Sollvorstellungen zu leisten vermag, überschreitet die Grenzen des höfischen Romans und treibt zum Exempel. Symptomatisch für diese Tendenz ist der Schluß des >DanielDaniel< die Gattungsdiskussion des hochhöfischen Artusromans fortsetzt, ist das Märe1 ein Texttyp, der neu aus der Anonymität der Mündlichkeit auftaucht.2 Wie die Kategorie der list ist auch die Kategorie der kündikeit ein ambivalenter Begriff. Sein überwiegend negatives Vorverständnis zeigt sich in der zeitgenössischen Spruchdichtung.3 kündikeit bezeichnet hier die Fähigkeit, falsche Absichten und Handlungsweisen so geschickt zu tarnen, daß die Umwelt in ihrem 1

Falls nicht anders angegeben, zitiert nach: Der Stricker. Verserzählungen. Hrsg. von Hanns Fischer. Bd. I. 4., rev. Aufl. bes. von Johannes Janota. Tübingen 1979 (ATB 53); Bd. II. 2., rev. Aufl. bes. von Johannes Janota. Tübingen 1977 (ATB 68). Im Gegensatz zu dem wachsenden Interesse, das die Forschung in letzter Zeit am >Daniel< und besonders am > Amis< bekundet hat, steht eine vergleichsweise intensive Beschäftigung mit den Mären des Strickers noch aus. Außer den wenigen Einzelinterpretationen, die nicht den Anspruch stellen, eine Merkmalsbeschreibung des mit dem Stricker neu auftauchenden Texttyps zu erarbeiten, existiert nur die erste umfassende Sichtung und Gliederung des gesamten Textmaterials der Mären vom 13. bis zum 15. Jahrhundert, die Hanns Fischer mit seinen »Studien zur deutschen Märendichtung« geleistet hat. Fischers Untersuchung hat das Ziel, eine Abgrenzung des Märes im breiten Spektrum der außerordentlich verschiedenartigen Texttypen der kleineren Reimpaardichtung zu leisten. Seine Märendefinition ist demzufolge nicht primär an den Mären des Strickers orientiert; sie stellt vielmehr den Versuch dar, die wichtigsten äußeren Merkmale, durch die sich das gesamte zu bewältigende Textmaterial von Rede, Streitgespräch, Legende, Fabel, Bispel usw. unterscheidet, zusammenfassen: Das Märe ist »eine in paarweise gereimten Viertaktern versifizierte, selbständige und eigenzweckliche Erzählung mittleren (...) Umfangs, deren Gegenstand fiktive, diesseitig-profane und unter weltlichem Aspekt betrachtete, mit ausschließlich (oder vorwiegend) menschlichem Personal vorgestellte Vorgänge sind« (S. 62f.). Fischers Bestimmung des Märes ist in jüngster Zeit von Joachim Heinzle kritisiert worden. Heinzle hält diesen Definitionsversuch für »zu weit bzw. zu abstrakt« (S. 124), als daß er dem tatsächlichen historischen Geschehen von Traditionsbildung und -Veränderung gerecht werden könnte. Eine solche grundsätzliche Kritik ist sicher berechtigt, sie zielt auf das komplexe Problem eines prozessual orientierten und damit historisch flexiblen Gattungsbegriffs. Da ich in dieser Arbeit nur die Mären des Strickers behandele und diese nicht unter dem Gesichtspunkt einer Gattungsabgrenzung, sondern als Teil eines gattungsinnovierenden und gattungsübergreifenden Diskussionsprogramms, setze ich mich mit der Märendefinition Fischers nur insoweit auseinander, als sie meine eigenen Interpretationsergebnisse direkt betrifft. Fischer unterscheidet drei Grundtypen des Märes, das Schwankmäre, das höfisch-galante Märe und das moralisch-exemplarische Märe. Die Merkmalsbeschreibung, die ich in dieser Arbeit für den Typ des Strickerschen Märes zur Diskussion stelle (vgl. S. 89f.), entspricht am ehesten dem Schwankmäre; bei der Kennzeichnung dieses Typs geht auch Fischer vom Phänomen der kündikeit aus. Die Komik des Schwankmäres beruht nach 83

Urteil fehl geleitet wird, kündikeit hat das Ziel, valscheger zu verdecken.4 kündikeit und triuwe bzw. wärheit sind deshalb einander fremd.5 Da solche raffiniert erzeugten Trugbilder im Bereich der gebcerde die normative Entsprechung von signalisiertem Wertanspruch und tatsächlichem Wertverhalten sabotieren, stellt kündikeit eine Bedrohung der Grundlagen sozialer Kommunikation dar: kündikeit ist identisch mit triegen,6 Reinmar von Zweter bezeichnet dieses sozial zerstörerische Verhalten mit dem Begriff kündiclkher glihsenheit.7

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nach Fischer darauf, daß ein lumber, der anfangs überlegen scheint, von einem wisen überlistet wird. Diese Überlegenheit des wisen versteht Fischer als intellektuelle Überlegenheit: «(...) der geistig Bewegliche, Listige, Lebenskluge (behält) auf Grund einer Art von Naturrecht die Oberhand (...) über den geistig Trägen, Törichten und Ungewandten« (S. 108). Was das Schwankmäre propagiert, ist demzufolge eine »intellektualistische Lebenslehre« (S. 108); sie hat zur Konsequenz, daß sich der Hörer oder Leser des Märes mit dem siegreichen Klugen identifiziert, sie bewirkt »Erheiterung, Entspannung und Unterhaltung« (S. 104). Diese Charakteristik der Absicht des Schwankmäres benutzt Begriffe, die historisch nicht präzisiert sind und infolgedessen vage bleiben. Dies gilt vor allem für den Begriff der »Intellektualität«. 1. In den Mären des Strickers bezeichnet kündikeit nicht einfach allgemein »intellektuelle« Überlegenheit; das Vermögen der kündikeit ist vielmehr in komplexer Weise gesellschaftlich bestimmt: Was kündikeit jeweils bedeutet, wird standesspezifisch ausformuliert. kündikeit ist ein situationsspezifisches Interpretations- und Handlungsvermögen, das auf das ordogemäße Zusammenspiel der Rollen und in diesem Sinne auf die Wahrung oder Wiederherstellung von Recht abzielt. 2. kündikeit ist nicht identisch mit wisheit; sie setzt wisheit voraus, stellt jedoch im Unterschied zu wisheit als einem wesensbezogenen Wertbegriff einen situations- bzw. praxisbezogenen Wertbegriff dar. Diese - wie es scheint - literarhistorisch wichtige Unterscheidung geht verloren, wenn kündikeit generell als »intellektuelle« Überlegenheit charakterisiert wird. 3. Die Intention des Schwankmäres mit dem formelhaften Begriffspaar »Erheiterung« und »Entspannung« zu kennzeichnen, wird der sozialen Bedeutung von Märenerzählen nicht gerecht. Eine solche Kennzeichnung ist viel zu allgemein, um die Wirkung des Erkenntnisprozesses zu erfassen, den das Vorführen gevüeger kündikeit beim Publikum auslösen soll. Joachim Heinzle: Märenbegriff und Novellentheorie. Überlegungen zur Gattungsbestimmung der mittelhochdeutschen Kleinepik. ZfdA 107 (1978), S. 121-138. Untersuchungen des Verhältnisses von deutscher und französischer Novellendichtung im Mittelalter konnten - abgesehen von wenigen Ausnahmen - bisher nicht die Gattung des Fabliau als direktes Vorbild für den Texttyp des Märes ausweisen. Insofern verzichte ich hier auf eine Erörterung dieses Problems. Vgl. dazu Fischer, Märendichtung, S. 26ff. Vgl. Waither L. 103,25; Reinmar d.Ä. MF XII, 3,3f. = 162,18f.; Reinmar von Zweter Nr. 122, 123, 124, 141, 197; Freidank 48,22; Winsbecke (ed. Leitzmann) 26,5ff.; Bruder Weraher HMS2, S.231 111.2,5; HMS2, S.232 IV.2,12; Kelin HMS3, S.22 III.l,13f.; Hinnenberger HMS3, S.41 11,Iff. Vgl. dazu auch Karl Heinz Göttert: Tugendbegriff und epische Struktur in höfischen Dichtungen. Heinrichs des Glichezare Reinhart Fuchs und Konrads von Würzburg Engelhart. Köln, Wien 1971 (Kölner germ. Stud. 5), S.35ff.; Huber S.75, 116. Reinmar von Zweter Nr. 123,11; vgl. auch Nr. 197,5. Reinmar von Zweter Nr. 122,10; vgl. auch Hinnenberger HMS3, S. 41 11,Iff. Winsbecke 26,9. Reinmar von Zweter Nr. 141,1.

Wenn der Stricker gerade diesen Begriff aufgreift und positiv umdeutet, dann rechnet er mit der provokativen Wirkung einer solchen Umdeutung.8 Die Beschäftigung mit den Mären hat das Ziel, die Umwertung dieses Begriffs in den Mären aufzuzeigen und dabei Leistung und Funktion gevüeger kündigkeit zu bestimmen. Ich beginne die Untersuchung der Mären mit der Interpretation des >Klugen KnechtsDie tumben Pfaffen< (ed. Moelleken 4) 181ff.; >Der Pfaffen Leben< (ed. Moelleken 4) 79ff.; >Die Geistlichem (ed. Schwab, Bispelreden) 71ff.; >Der ungetreue Knecht* (ed. Schwab, Bispelreden) 38ff. Vgl. auch S. 148f. Zum hausherrschaftlichen Züchtigungsrecht gegenüber der Ehefrau vgl. His 2, S. lOlff. Zum Verlust der hulde als Mittel rechtlicher Bestrafung vgl. His 1, S. 350ff. Hätte der Knecht seinem Herrn ohne Umschweife von dem heimlichen Treiben seiner Frau erzählt, so hätte ihm das als Verleumdung (vgl. bcesiu meere 305) angelastet werden können. Nur die Angabe eines Gewährsmanns oder der Wahrheitsbeweis verhindern in einem solchen Fall die Bestrafung des Verleumders. Vgl. dazu His 2, S. 128ff. 87

fixieren, ist die Aufgabe des Epimythion. Das Epimythion entwickelt in präziser Definitionsarbeit den Begriff gevüegiu kündikeit. Dieser Definitionsprozeß beginnt mit einer Sentenz: Der vriuntliche kündikeit mit rehter vuoge kan begän, der hät dar an niht missetän.

(308-310)

In dieser Sentenz wird der negativ vorbelastete Begriff kündikeit durch die flankierenden Begriffe vriuntlich und rehte vuoge programmatisch positiv umgedeutet. Das Attribut vriuntlich bezeichnet die positive rechtliche Funktion, die kündikeit zugeschrieben wird, vriuntlichiu kündikeit bedeutet also ein Interpretations- und Handlungsvermögen, das auf die Wahrung oder Wiederherstellung von Recht abzielt. Und dies soll geschehen mit rehter vuoge. Wenn der Knecht anfangs als gevüege bezeichnet wird, dann ist damit die exemplarische Erfüllung der Normen gemeint, die seine Rolle bestimmen und in ihrer Beziehung zu anderen Rollen, insbesondere der seines meisters, festlegen: Er ist das Musterexemplar eines Knechts, kündikeit verknüpft mit rehter vuoge meint dann ein Interpretationsund Handlungsvermögen, das die eigene Rolle im Netz der Sozialbeziehungen, in das sie eingebunden ist, in der richtigen Weise realisiert. Eine solche kündikeit-so wird im Anschluß an die Eingangssentenz gefolgert - hät grozen sin (vgl. 311). Diese Folgerung ist zugleich Definitionsansage. In den nächsten Versen wird der Bedeutungsanspruch, mit dem kündikeit in der Sentenz aufgeladen worden ist, nun expliziert, und zwar wiederum unter dem Aspekt vuoge und unter dem Aspekt vriuntlich. Zunächst geht es erneut um den Zusammenhang von kündikeit und vuoge, und zwar um die Kennzeichnung der sozial negativen Wirkung valscher vuoge. er erwirbet valschen gewin, der si mit valsche zeiget, der hät sin lop geveiget. (312-314)

Was ein solches Verhalten ungevüeger kündikeit bedeutet, illustriert eine Reihe von Mären. 12 Auch sie dienen wie die übrigen Mären dazu, den positiven Sinngevüeger kündikeit kenntlich zu machen. An dieser Stelle der Definition gevüeger kündikeit im Epimythion des >Klugen Knechts< hat das Aufrufen des Kontrastprogramms die gleiche Funktion: Das Negativmodell wird begrifflich skizziert und ausgegrenzt, um um so präziser den fundamentalen Wert richtiger kündikeit bestimmen zu können. Diese kündikeit aber wirkt nicht sozial zerstörerisch, sondern konstruktiv. Der nächste Schritt im Definitionsprozeß greift demzufolge auf den eingangs benutzten Begriff vriuntlicher kündikeit zurück und legt den sozialen Bedeutungsrang dieser gesellschaftsbildenden und gesellschaftsstabilisierenden Fähigkeit fest: der da vriuntliche wirbet mite, daz ist ein hovelicher site. man mac mit kündikeit begän daz vil hoveltche ist getän. (315-318) 12

88

Vgl. Übersicht S. 90f.

vriuntlichiu kündikeit wird hier zum zentralen Bestandteil höfischen Verhaltens erklärt; das heißt gewiß nicht, daß sich ihre Geltung auf den höfischen Bereich beschränkt. Wie der Gesamtkomplex der Mären zeigt, liegt die Bedeutung dieser Kategorie gerade in ihrem universalen Geltungsanspruch, kündikeit ist eine überständische Kategorie. Der soziale Bedeutungsrang dieser Kategorie wird jedoch konsequenterweise am höfischen Bereich festgemacht, dies ist der genuine Bereich von vuoge. Noch immer gehört es zum Anspruch höfischer Lebensform, von universaler Vorbildlichkeit zu sein. Anspruchsvoller als durch die Identifizierung mit diesem Bereich kann demzufolge die Geltung einer Kategorie nicht festgelegt werden. Auf dieser Stufe der begrifflichen Explikation kann nun das Handlungsgeschehen des Märes noch einmal unter der Perspektive der Kategorie rekapituliert werden, die Handlung wird gewissermaßen auf den Begriff gebracht. Diese Rekapitulation mündet wiederum ein in den letzten Abschnitt begrifflicher Genese: Am Ende des Epimythos steht der Begriff der gevüegen kündikeit. Um die Verdeutlichung des Werts gevüeger kündikeit geht es nicht nur im >Klugen KnechtKlugen Knechts< charakterisiere ich nun die wichtigsten Merkmale, die allen Mären gemeinsam sind und damit den Texttypus Märe bestimmen. 1. Gegenstand der Mären ist die Demonstration eines situationsspezifischen Interpretations- und Handlungsvermögens, das mit dem Begriff gevüegiu kündikeit bezeichnet wird, gevüegiu kündikeit ist nicht identisch mit wisheit. Sie setzt wisheit zwar voraus, während wisheit jedoch das Erkenntnisvermögen generell bezeichnet, ist kündikeit - ebenso wie list- eine praxisbezogene Fähigkeit, die auf die situationsgemäße Realisierung von wisheit abzielt. 2. Was gevüegiu kündikeit leistet und wie sie es leistet, wird vorgeführt an exemplarischen Rollenbeziehungen wie man/wip, herr/kneht, König/Ratgeber, edelman/mäge, wirt/gast, Hausherr/Bote usw.13 Die Rollen sind ständisch fixiert, die Rollenbeziehungen artikulieren sich daher als Beziehungen des Rechts. Ihre Verbindlichkeit wird noch dadurch intensiviert, daß sie als triuwe- Verhältnis, als Verpflichtung und Anspruch auf rät und helfe, als dienst-lön-Beziehung usw. charakterisiert sind. 3. Bezogen auf dieses Gerüst exemplarischer Rollenbeziehungen entwickelt sich die Märenhandlung. Sie beginnt immer damit, daß die Normen, durch die die jeweilige Rollenbeziehung bestimmt ist, von einem der beiden Handlungspartner, eventuell - wie beim >Klugen Knecht< - auch durch Einwirken eines Dritten, verletzt werden. Der andere Handelnde, der von dieser Normverlet13

Zum Bedeutungsgehalt und damit Diskussionswert solcher exemplarischen Rollenpaare vgl. Thomas von Aquin, »Summa Theologicac »Relativa quaedeam sunt imposita ad significandam ipsas habitudines relativas, ut dominus et servus, pater et filius, et huius modi, (...).« (Summa Theologica, ed. Albertus-Magnus Akad. Köln, I. 13,7 ad. 1). 89

zung betroffen ist, muß nun aktiv werden. Er muß das Recht wiederherstellen, darf dabei aber die Grenzen der eigenen Rolle nicht überschreiten. Das erzeugt die zunächst paradox anmutende Situation, mit der sich der, der kündikeit beweisen muß, konfrontiert sieht. 4. gevüegiu kündikeit ist definiert durch den Erfolg. In den meisten Mären dokumentiert sich das auf der Handlungsebene. • Der Normbrecher oder der vom Unrecht unwissentlich Affizierte erkennt und verschafft damit dem Recht Geltung. • Erweist sich der Betroffene als unfähig zur Erkenntnis, wird damit seine tumpheit evident. Sein Partner bzw. seine Umwelt erkennen seine prinzipielle Erkenntnisunfähigkeit, sein Unrecht wird dem öffentlichen spot überantwortet, seine Geltung als soziale Person ist damit zerstört. 5. Die Bedeutung gevüeger kündikeit kann ebenso durch das Kontrastprogramm ungevüeger kündikeit kenntlich gemacht werden. Auch bei der Demonstration ungevüeger kündigkeit geht es um die Wiederherstellung von Recht, ungevüegiu kündikeit setzt immer da an, wo keine Erkenntnisfähigkeit und damit kein situationsspezifisches Interpretations- und Handlungsvermögen, das in einem solchen Fall allein Widerpart bieten könnte, vorhanden sind. Die Opfer ungevüeger kündikeit sind befangen im Zustand von wan, in diesem Sinne verfallen sie zu Recht den eigentlich unrechtmäßigen Operationen ungevüeger kündikeit. Anhand dieses Merkmalskatalogs ergibt sich folgende Gruppierung der Mären:14 1. Ehebeziehung (man/wip) (6 Mären)

14

90

>Die eingemauerte Frau< >Das erzwungene Gelübde< > Ehescheidungsgespräch
Der Gevatterin Rat< >Das heiße Eisen
Der begrabene Ehemann
Durstigen Einsiedel· und den »Unbelehrbaren Zecher< nicht als Mären, rechne aber den >Wunderbaren SteinDurstigen Einsiedel· unter dem Typ des Schwankmäres an. Wie er selbst einräumt, trifft jedoch das Kennzeichen des Schwankmäres - ein Lebenskluger wird von einem Toren herausgefordert, erweist sich diesem aber als überlegen - auf den

2. Soziale Beziehungen im Rahmen von Herrschaftsverhältnissen (S Mären) >Der kluge Knecht< (herr/kneht, meisterlkneht)

gevüegiu kündikeit (= A)

>Edelmann und Pferdehändler (edel manlm&ge bzw. vriunde; edel manlmeister - gedungener Pferdehändler)

gevüegiu kündikeit (= B) (mäge —> edel man) und ungevüegiu kündikeit (edel man —* Pferdehändler)

>Der junge Ratgeber< (küniclrätgebe, Vasall)

gevüegiu kündikeit (= A)

»Der wunderbare Stein< (küniclrätgebe) >Der arme und der reiche König< (armer küniclricher künic)

gevüegiu kündikeit (= B)

3. Soziale Beziehungen in verschiedenen lebenspraktischen Situationen (3 Mären) •Die Martinsnacht< (richer büman/diep) >Der nackte Bote< wirtlbote = kneht) >Der nackte Ritter< (wirt/gast)

ungevüegiu kündikeit

Fehlen gevüeger kündikeit = wän

4. Die Explikation der Heilsbedeutung sozialer Beziehungen (2 Mären) >Die drei Wünsche< (iman und wip/Gott bzw. Engel als Bote Gottes)

gevüegiu kündikeit (= B)

>Der Richter und der Teufel· (RichterATeufel als Werkzeug Gottes) •Durstigen Einsiedel· nicht recht zu. Zwar wird törheit vorgeführt, es fehlt jedoch eine Figur, die sich durch das Vermögen der kündikeit auszeichnet. Dies aber wiederum muß meiner Meinung nach als konstitutiv für das Strickersche Märe angesehen werden. (Vgl. Fischer, Märendichtung, S. 102 Anm. 17.) 2. Auch im >Unbelehrbaren Zecher< geht es nicht um das Vermögen der kündikeit. Der Reiz dieses Textes besteht vielmehr darin, daß im Zustand der Trunkenheit Gegenbilder höfischer Lebenskultur entworfen werden. Darin erscheint mir dieser Text am ehesten dem >Weinschwelg< vergleichbar, ich würde ihn - wie den > Weinschwelg< - eher der Gattung der Zechrede als dem Märe zuordnen. 3. Den >Wunderbaren Stein< rechnet Fischer zu den »Grenzfällen« im Übergangsbereich zwischen Märe und Bispel (vgl. Fischer, Märendichtung, S. 161.). Im Gegensatz zu den anderen dort genannten Texten des Strickers (>Der Gast und die WirtinDie freigebige KöniginDer eigensinnige SpötterWunderbaren Steins< zu den Bispein jedoch nicht gerechtfertigt. Dieser Text weist nicht die für das Bispel charakteristische Zweiteilung in einen Bildteil und dessen Auslegung auf; es fehlen auch die für die Verfahrensweise der Allegorese typischen Termini geliehen, bezeichenen, bediuten oder meinen. Dagegen läßt sich der Sinn des Erzählgeschehens in diesem Text jedoch - wie ich mit meiner Interpretation zu zeigen versuche - ebenso wie bei den anderen Mären mit Hilfe der Kategorie gevüeger kündikeit erschließen (vgl. S. 117ff.). 91

Diese Gruppierung, die am Gesichtspunkt exemplarischer Rollenbeziehungen orientiert ist, macht deutlich, daß mehr als ein Drittel der Mären das Vermögen der kündikeit an der Ehebeziehung vorführt. Es erscheint kein Zufall, daß dies auch die Mären sind, die die meisten Anspielungen auf die höfische Literatur der Klassik enthalten: Unter der Perspektive von Tradition und Diskussionsgehalt der Minnethematik erscheint das Rollenpaar man/wip für die Intention des Texttyps Märe geradezu prädestiniert.

4.2 Die Ehemären: Das Vermögen der kündikeit im Zusammenhang mit der literarischen Tradition der Minnethematik 4.2 1 >Das erzwungene Gelübde< Um dies zu zeigen, wähle ich folgende Mären aus der Gruppe der Ehemären aus: >Das erzwungene GelübdeDer Gevatterin Rat< und >Der begrabene EhemannErzwungenen Gelübdes Erzwungenen Gelübdes< vorgestellt, die es sich zur Aufgabe macht, das Märe als möglichen Gegenstand eines kritischen gegenwartsbezogenen Deutschunterrichts auszuweisen. Sie schlägt vor, das Märe im Rahmen einer Unterrichtseinheit über die Emanzipation der Frau zu behandeln. Es kann an dieser Stelle nicht um eine angemessene Auseinandersetzung mit den didaktischen Voraussetzungen und Zielen dieses Entwurfs gehen. Da Christs Vorschlag jedoch auf einem Verständnis des >Erzwungenen Gelübdes< basiert, das sich von der hier vorgeführten Interpretation grundsätzlich unterscheidet, soll kurz die wichtigste Differenz verdeutlicht werden. Christ untersucht das Märe im Hinblick auf seinen Informationswert über die zeitspezifische Situation der Frau. Gemessen an Aussagen theologischer Texte, die die ordogemäße Unterordnung der Frau unter den Mann formulieren, wertet sie das Märe als Dokument eines ungewöhnlich selbstbewußten und emanzipativen Handelns der Frau: Die Frau verweigert sich dem Gebot der Unterwerfung unter den Mann, sie lehnt sich auf gegen die Normen, die das zeitgenössische Rollenbild der Frau bestimmen. Diesen Interpretationsbefund bezieht Christ auf sozial provokative Aspekte der religiösen Frauenbewegungen in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, die sie wiederum mit der Lockerung feudaler

nehmen (vgl. 21), andernfalls handelt er wie ein tor (vgl. 28). Der Mann begreift die ihm mit dieser Unterscheidung signalisierte Gefahr nicht, er hält an seinem Entschluß fest und droht, seine Forderung mit der ganzen ihm zu Gebot stehenden Macht des Patriarchats durchzusetzen: wil du michs niht gern gewern, deisw&r, so nime ich dir den lip. du bist ein unkristen wip, daz du dich setzest wider mich; des wil ouch ich mich wider dich setzen nu al hie zehant. nu gip mir ein gewissez pfant, ob du mich überlebest, daz du die werlt üfgebest. des wil ich dich erläzen niht. sprichest du da wider iht, swie ez mir dar näch erge, dune gesprichest niemer wort me.«

(32-44)

Mit dieser Argumentation wiederholt er noch einmal den eingangs gemachten Fehler, nun nur noch sehr viel massiver. Mit der ordogemäßen Überordnung seiner Rolle als Ehemann will er ein Gelübde erzwingen, das den Geltungsbereich der Ehenorm überschreitet. Für die Frau bedeutet das eine paradoxe Zuspitzung der Situation: Sie muß zur Geltung bringen, daß das an sie gerichtete Ansinnen einzig und allein den Charakter freiwilliger Entscheidung haben kann, und dies muß sie so bewerkstelligen, daß sie dabei die ordogemäße Unterordnung ihrer Rolle als Ehefrau nicht verletzt. D i e gevüege kündigkeit, die die Frau in ihrem Handeln nun beweist, setzt an der Verwechslung der Argumentationsebenen an. Der Mann äußert eine Bitte, die in den Bereich der Minne gehört, auf der Ebene der Ehebeziehung. D i e Frau wählt daraufhin die Ebene der Minne, um diesen Konflikt auszutragen. Dies ist nicht nur die Argumentationsebene, die der Bitte einzig gemäß ist, die Frau gewinnt auf Familienbindung und deren fortschreitendem Bedeutungsverlust als Zentrum wirtschaftlicher Reproduktion zu erklären versucht. Die Bedeutung des Textes stellt sich vollkommen anders her, wenn man die Situation, von der die Handlung des Märes ihren Ausgang nimmt, nicht als Normbruch der Frau, sondern als rechtswidriges Verhalten des Mannes begreift. Ein solches Verständnis geht davon aus, daß der patriarchalische Charakter der Beziehung von Mann und Frau in der mittelalterlichen Feudalgesellschaft nicht als Zwang zur prinzipiellen Unterwerfung der Frau, sondern nur als rechtlich geregeltes Verhältnis der Über- und Unterordnung adäquat erfaßt werden kann. Unter dieser Perspektive aber erscheint es falsch, das Verhalten der Frau im Märe als Ausdruck von »Emanzipationsforderungen« (S. 69) der religiösen Frauenbewegungen im 13. Jahrhundert zu deuten. Eine solche Deutung verfehlt gevüege kündikeit als eigentliches Thema des Märes; sie erweist sich, obgleich gerade die Rekonstruktion der spezifischen historischen Situation und Deutungsleistung des Textes zu den erklärten Lernzielen gehört, letztlich als anachronistisch. Hannelore Christ: Frauenemanzipation durch solidarisches Handeln. >Das erzwungene Gelübde< des Strickers im Deutschunterricht. In: Mittelalterliche Texte im Unterricht. Hrsg. von Helmut Brackert u.a. 2.Teil. München 1976 (Literatur in der Schule 2), S. 36-92. 93

dieser Ebene einen Handlungsspielraum, den sie auf der Ebene der Ehebeziehung dem Mann gegenüber nicht hat. Im Gegensatz zu der in der Ehebeziehung von vornherein festgelegten Hierarchie der Rollen ist für die Minnebeziehung das Prinzip der Gegenseitigkeit konstitutiv, beide Partner sind gleichrangig. Die Frau hat keine andere Wahl, als zunächst auf die Forderung des Mannes einzugehen. Sie bittet um Bedenkzeit, um das Pfand, das nach dem Willen des Mannes die Einhaltung des Gelübdes verbürgen soll, zu bestimmen. Mit dieser Anknüpfung an die Pfandforderung jedoch übernimmt sie bereits die Initiative in dem nun folgenden Handlungsgeschehen. Das Pfand muß gevüege sein (vgl. 51), das heißt gemäß dem eigentlichen Inhalt der Forderung kann das Pfand nur ein Minnepfand sein; dann aber bedeutet es gerade nicht eine erzwungene, sondern die absolut freiwillige Selbstübergabe der Person. In der Pfandforderung verdichtet sich also noch einmal paradigmatisch der Tatbestand des Unrechts, um das es geht. Diese unrechtmäßige Forderung muß nun inhaltlich so gefüllt werden, daß ihre Unrechtmäßigkeit evident wird. Die Bestimmung eines gevüegen pfandes muß einen Prozeß in Gang setzen, der die falsche Vermischung von Ehe- und Minneebene so verdeutlicht, daß der Mann die Chance hat, sein Unrecht zu erkennen und von der Forderung abzulassen. Diesen Entscheidungsprozeß treibt der Ehemann unbeabsichtigt selbst voran. Er lädt seine und ihre vriunde zum Akt der Pfandfestsetzung ein; sie sollen als Zeugen für die Rechtmäßigkeit seiner Forderung und ihrer Erfüllung dienen, und sie werden zu Zeugen eines Verfahrens, das die Erkenntnis- und damit die Rechtsfähigkeit seiner Person zum Gegenstand hat. Die Frau berät sich zunächst mit ihrer Gevatterin, die sofort die folgenschwere Konsequenz, die Nachahmungen dieses Rechtsbruchs haben würden, erkennt (vgl. 72ff.). Eine solche extreme Verletzung der Rollenbeziehung man/wip macht daher die Inszenierung eines extremen Lernprozesses notwendig. Die Gevatterin will das Unmögliche erreichen: Der Mann soll freiwillig dem Gegenteil dessen, was er gefordert hat, zustimmen, er soll seiner Frau schon jetzt - zu seinen Lebzeiten einen Liebhaber gestatten. Dieser zunächst grotesk wirkende Gegenentwurf verhält sich spiegelbildlich zu dem Unrecht des Mannes. Der Mann verletzt den Minnebereich, indem er die dort geltenden Gebote von Freiwilligkeit, von gegenseitigem Vertrauen und Glauben negiert und durch Autoritätsvorgaben seiner Rolle im Ehebereich ersetzt. Die Frauen entwerfen das umgekehrte Zerrbild. Der Minnebereich wird so aufgebläht, daß er den Ehebereich zur Karikatur entwertet. Wie aber gelingt es nun der Frau, unter Wahrung der ihr als Ehefrau gesetzten Grenzen den Mann zur Anerkennung des anderen Extrems zu zwingen? Bei der öffentlichen Entscheidung ergreift die Frau als erste das Wort. Sie stellt den vriunden ihren Fall vor und formuliert ihn dabei ebenso angemessen wie strategisch geschickt auf der Minneebene. Die vriunde haben die Aufgabe, mit zu klären und zu entscheiden, ob der Mann durch rehte liebe (vgl. 101) auf dem Gelübde besteht. Ahnungslos geht der Mann auf diese Argumentationsebene ein. Er bekräftigt zunächst seine liebe als Anlaß und Ziel seiner Forderung (vgl. 104f.). Als daraufhin seine Frau das solcher Minne angemessene Prinzip der Gegenseitigkeit geltend macht, stimmt er dem spontan zu: Was er von ihr fordert, will er selbst 94

erfüllen, er verspricht, auch nach ihrem Tod keine andere Frau anzusehen. Mit der Festlegung der Minneebene als der Basis, auf die sich die Diskussion eingelassen hat und an die sie nun in ihrem weiteren Verlauf gebunden ist, ist der Augenblick gekommen, wo die Frau die inhaltliche Bestimmung der Pfandforderung als Trumpf gegen ihren Mann ausspielen kann. Auch hier ist es wieder das Prinzip der Gegenseitigkeit, das dem Ehemann zum Verhängnis wird. Er ist bereit, das gleiche Pfand, mit dem seine Frau ihr Gelübde absichern wird, zu leisten, und er verbürgt diese Aussage mit einem Eid, den er auf Verlangen der Frau noch zusätzlich mit einem stattüchen Geldbetrag absichert. Erst nach dieser mehrfachen Absicherung eröffnet die Frau den Inhalt der Pfandforderung und macht dabei drastisch deutlich, daß sich das, was der Mann durch Garantien verläßlich fixieren möchte, solchen Garantien notwendigerweise entzieht. Eine wirkliche Sicherung, so erklärt sie, ist nur mit folgender Fassung des Gelübdes gegeben: Ihr Mann wie sie selbst gehen ins Kloster, nicht erst nach dem Tod des jeweils anderen, sondern sofort, denn nur so können sich beide ernsthaft, streng und endgültig auf eift Leben ohne das andere Geschlecht einstellen. Mit dieser Fassung des Gelübdes ist das Anliegen des Mannes ad absurdum geführt, und angesichts dieser ins Monströse projizierten Konsequenz seiner Forderung beginnt er sein Unrecht einzusehen. Sein Bedürfnis nach Absicherung zerstört gerade das, was er mit seiner Absicherung auf Dauer garantiert sehen möchte, das Minneverhältnis zu seiner Frau. Dementsprechend beginnt seine Erkenntnis mit dem Versuch, die als falsch erkannte Garantieforderung öffentlich zurückzunehmen, der Mann möchte von seinem Eid entbunden werden. Und diese Bitte äußert er konsequenterweise auf der Ebene, die er mit seinem Unrecht verletzt hat, auf der Minneebene. Dies ist die Ebene, die für seine Erkenntnis entscheidend ist, auf der allein die Wiederherstellung von Recht erfolgen kann. Während sich der Mann zuvor gewissermaßen blind auf dieser Ebene bewegt hat, manifestiert sich seine beginnende Erkenntnis jetzt darin, daß er auch terminologisch bewußt auf dieser Ebene agiert, er redet seine Frau nun nicht mehr als wip, sondern als min vrouwe »ouwe«, sprach er, »vrouwe min, solde ich din selbe äne sin, so stürbe ich aber hie zehant. hcete ich dir umbe daz pfant tüsent eide gesworn, die h(Bte ich alle verlorn.« (149-154)

Angesichts dieses Wunsches treten die mäge der Frau in Aktion und bestehen auf den mit dem Eid verwetteten dreißig Pfund. Der Mann ist bereit, alles zu geben, was er besitzt; doch rigoros hält nun die Frau an dem Eid fest und führt ihm den doppelten Verlust von guot und ere vor Augen (vgl. 167), den er erleiden wird, wenn er den Eid bricht. 16 Der Mann bleibt bei seinem Entschluß und zeigt damit, daß er den Weg der schände als Prozedur der öffentlichen Wiederherstellung des 16

Eidbruch bedeutet im mittelalterlichen Rechtsverständnis Ehrverlust und wird in schweren Fällen wie Meineid behandelt (vgl. His 2, S. 14ff.).

95

Rechts zu gehen bereit ist. Als er sich gleich danach hilfesuchend an die mägeseiner Frau wendet, wird er darauf verwiesen, daß allein die Frau ihn von dem Eid entbinden kann. Was sich nun anschließt, sind Stationen eines Bußwegs, die schrittweise Erkenntnis und Sühne des Unrechts bezeichnen. Der Mann fällt vor seiner Frau auf die Knie und bittet sie inständig (...) durch ir süeze, / diu an ir tilgenden wcere / und durch ir schepfcere (186ff.), daß sie von ihrem zorn ablassen möge (vgl. 189). Doch die Frau bleibt unbewegt und treibt dadurch die soziale Manifestation seines Unrechts voran. Als die mäge des Mannes den letzten demütigenden Schritt tun müssen und die mäge der Frau um Unterstützung beim Wiedererringen von deren hulde bitten, lenkt die Frau ein. Die buoze für die schulde des Mannes jedoch setzt sie nun in einer absurden Überspitzung des Kennzeichnungs- und Erkenntnisprozesses so fest, wie ihr die Gevatterin zuvor geraten hat: Sie verlangt, daß ihr Mann ihr ab sofort jeden Liebhaber, der ihr gefällt, ohne Widerspruch gestattet. si sprach: »du muost mir einen man erlouben, das bedenke dich, und muost daz läzen an mich, daz ich den neme, swenne ich wil. du maht mir Ithte so vil gedienen, daz ichz läze. dich dühte daz unmäze, ob ich nach dir nceme einen. nu wil ich dir deheinen verloben bi dtnem lebene.« (206-215)

Mit dieser grotesken Forderung ist die Verdeutlichung des Unrechts an ihr Ziel gelangt: Die Frau hat in ihrem Verhalten ein genaues Zerrbild des Fehlverhaltens des Mannes in Szene gesetzt. Wenn am Anfang der Märenhandlung Minne- und Ehebereich durch die Gelübdeforderung des Mannes in ein exemplarisch negatives Verhältnis geraten sind, so stehen am Ende des Verfahrens beide Bereiche erneut in monumentaler Disproportion. Die Forderung des Mannes verletzt Prinzipien im Bereich des Minnerechts. Die Frau operiert konsequenterweise auf der Minneebene und erzeugt einen Gegenentwurf, in dem nun die Prinzipien des Minnerechts - ins Kolossale übersteigert und verzerrt - das Recht des Ehebereichs pervertieren. Mit seiner Reaktion auf diese Forderung beweist der Mann, daß die ihm zugemutete Prozedur, sein Unrecht zu erkennen, gelungen ist. Er erklärt den Anspruch als angemessen und gesteht seiner Frau die Fähigkeit und Freiheit selbstverantwortlichen Handelns zu. er sprach: »daz lit vil ebene. lä niuwan dinen zorn vam. du kanst din ire wol bewarn. tuo allez, daz dich dunket guot.«

(216-219)

Mit diesem Akt der Erkenntnis ist das Recht wiederhergestellt; gemäß der Normverletzung, die den Ausgangspunkt der Handlung bildet, ist es das Recht der Minne. Die Einsicht des Mannes vollzieht sich als Erkenntnis des guoi-Seins seiner 96

vrouwe, wie in der klassischen Minnesituation ist Selbsterkenntnis bzw. Selbstfindung gleichbedeutend mit der freiwilligen Übergabe der Person an die als guot erkannte Partnerin.17 Mit dieser Rehabilitierung des Minnerechts stellt sich zugleich eine ausgewogene Balance zwischen Minne- und Ehebereich her: Die Frau verzeiht ihrem Mann mit einem Gestus der Minne, der Mann erklärt diesen Neubeginn ihres Verhältnisses als brütloft (vgl. 227), und unter dem wohlwollenden Lachen der Öffentlichkeit über die gelungene Belehrung verkehrt sich seine schände in scelde (vgl. 228ff.). Wie diese neu ausbalancierte Ehebeziehung aussieht, formuliert der Schluß des Märes; es ist das ordogemäße Zusammenspiel der Rollen, wie es im Epimythion des >Klugen Knechts< als Ziel und Leistungsvermögen gevüeger kündikeit definiert wird. Im »Erzwungenen Gelübde< verwirklicht sich dieses Optimum als idealtypische Konstellation von Minne- und Ehebeziehung. Das Recht der Minne ist in den Bereich der Ehe integriert, die Minne wird so zur Garantie für das Funktionieren der Ehebeziehung. Das Versicherungsbedürfnis des Mannes, das den Geltungsbereich der Ehe anfangs überschreitet, wird eingegrenzt durch das Prinzip des Vertrauens und der Freiwilligkeit der Bindung auf der Minneebene. Die Freiheit der Selbstverfügung im Minnebereich, die die Gegenforderung der Frau als Gefahr des Umschlags in Willkür erkenntniswirksam vermittelt, findet ihre Grenze an den Schranken, die mit dem gwo/-Sein des anderen und der daraus resultierenden Verpflichtung gesetzt sind. Auf diese Weise werden das Prinzip der Gleichrangigkeit auf der Minneebene und das Prinzip der Über- und Unterordnung auf der Eheebene identisch. In einer solchen ausgewogenen Beziehung sind Anspruch der Norm und subjektive Intention des Handelns nicht mehr zu unterscheiden, wellen und suln fallen zusammen (vgl. 241f.). Er mähte eine hdchzit und hate die hüsvrouwen sit an allen dingen beste baz, daz si ir Zornes vergaz und ander man verheere, die wile er lebendic weere. des dühte in gar ze lützel e, nune gerte er von ir nihtes me. si lepten vrceltche sit und häten deheinen strit. er tet allez, daz si wolde. do tet si swaz si solde; si beswärten beide ein ander nie. do er si leides erlie, do erlie si in aller sweere. sus endet sich daz masre. (231-246)

17

Auch in den Minne-Bispeln wird dieser Akt der Erkenntnis und Vergewisserung des guotSeins der Partnerin immer wieder als Prämisse für das Gelingen einer Minnebeziehung herausgestellt. Vgl. >Der Kirchtags >Das wilde RoßDer HortDer Gärtners >Der einfältige Ritters >Der Käfer im RosenhausDer begrabene Ehemann< Das Gegenbild zu dieser idealtypischen Konstellation von Ehe- und Minnebeziehung entwickelt das Märe >Der begrabene EhemannErzwungenen Gelübde< am Ende seines Erkenntniswegs - mit der Erfahrung ihres guoi-Seins. Die Erfahrung ihrer güete und ihrer tugent wird in diesem totalen Minnebekenntnis bezeichnenderweise nicht erwähnt, es hat sie - wie der Gang der Handlung drastisch beweist - nie gegeben. Die Minnebeziehung, die der Mann entwirft, gründet folglich auch nicht auf dem Prinzip der Gleichrangigkeit der Partner. Gleichrangigkeit wird hier ersetzt durch die Vorstellung, die Einseitigkeit der Zuneigung sei als Beleg für die Einzigartigkeit der eigenen Minne zu verstehen. Um die Außergewöhnlichkeit seiner Minne wirkungsvoll zu unterstreichen, wählt der Mann ein außergewöhnliches Vergleichsobjekt: Selbst der Kriechen golt (vgl. 5) würde er nicht eintauschen, wenn seine Frau ihm ein ebensolches Maß an Zuneigung entgegenbringen würde wie er ihr, dies aber könne sie nie erreichen (vgl. 6f.). Eine solche Argumentation verhindert geradezu die gewünschte Gegenseitigkeit, und es erscheint nur konsequent, wenn die Frau diese Erklärung des Mannes wenig später mit dem Versprechen einer noch um das Tausendfache gesteigerten Minne überbietet (vgl. 21f.). In einem solchen Wettbewerb aber wird Minne zum Zerrbild, ihre Wertbedeutung löst sich mit dem Verlust der Prinzipien von Gegenseitigkeit und Gleichrangigkeit auf. Diese Anzeichen von Fehlorientierung im Minnebekenntnis des Mannes fordern eine Überprüfung heraus. Wie im >Erzwungenen GelübdeEingemauerte FrauKluger Knecht< 305) geworden, eine Geschichte, die auf die Erkenntnisleistung des Zuhörers verzichtet, eine Geschichte mit sozial zerstörerischer Wirkung. >Die eingemauerte Frau< endet mit einem Epimythion, das den im Märe selbst vorgeführten Prozeß der Anwendung thematisiert: Sin daz diu vor diu

ware an manigen steten ndt, ir noch dö einiu wcere, den liuten vride beere übeler wtbe meisterschaft, mit ganzer übele sint behaft.

(396-400)

Angesprochen ist die gegenwärtige Situation, über deren Bewertung Einverständnis vorausgesetzt wird. Der Autor kann sich auf Andeutungen beschränken, alle wissen ζ. B., was mit an manigen steten (vgl. 396) gemeint ist. Damit skizziert das Epimythion genau jenes gelingende Märenerzählen, in dem Verstehen ein solches Maß an Verbindlichkeit gewinnt, daß es sich in der richtigen Deutung der eigenen, zeitgenössischen Situation konkretisiert. Mit diesem Hinweis auf die Notwendigkeit der Aktualisierung setzt auch bei einer Reihe anderer Mären 67 das Epimythion ein, es scheint der Typ des sentenzhaften Abschlusses zu sein, der der Erzählform der Mären besonders entspricht. 68 Die Aufforderung zur Aktualisierung kann durch den Gestus des mänens noch unterstrichen werden. Das fingierte Einverständnis zwischen Autor und Publikum

67

68

>Der Gevatterin RatDer junge RatgeberEhescheidungsgespräch< - enden mit einem Epimythion. Bei den Mären, die über ein Epimythion verfügen, überwiegt der Typ, der zur Aktualisierung auffordert. Ebenfalls zu diesem Typ zu rechnen sind die Mären »Die Martinsnacht< und »Der nackte Ritten; hier beginnt der Autor das Epimythion in der Rolle des Mahners, was die Verbindlichkeit des Aktualisierungsgebots noch steigert. - Die Epimythia der Mären »Der kluge Knechts >Der nackte BoteMartinsnacht< 199).69 Indem ihm diese Rolle zugewiesen wird, ist es vom erzählten Rechtsbruch selbst betroffen und zur Wiederherstellung des rechtsgemäßen Zustands verpflichtet. Auf diese Weise wird die Aktualisierung des Märes zur rechtlich einklagbaren Forderung, gelingendes Märenerzählen ist dann gleichbedeutend mit der Wiederherstellung von Recht.

4.6 Die richtige Einschätzung der Bedeutung von materiellem guot als Ausdruck gevüeger kündikeit: >Der junge Ratgeber< Schon in der >Frauenehre< dient die Thematisierung der materiellen Bedeutung von guot dazu, die Diskussion zu verschärfen und dabei die absolute Priorität standesspezifischen Wertverhaltens zu betonen. Im Prolog des >Daniel< wird die traditionelle Alternativsetzung von guot und muot benutzt, um die Bedeutung von willigem muot herauszuarbeiten und in diese definitorische »Leerstelle» dann das Vermögen der list einzusetzen, list stellt, wie der Gang der Handlung zeigt und im Lob der list ausgeführt wird, die Entsprechung von guot und muot her und ist in diesem Sinne die Voraussetzung für die Verwirklichung gesellschaftlicher Soll-Vorstellungen. Auch in den Mären taucht die Debatte über das Verhältnis von guot und muot auf. >Der arme und der reiche König< führt vor, wie sich gevüegiu kündikeit gerade unter den erschwerenden Bedingungen fehlenden Reichtums als Basisfaktor rechts- bzw. ordogemäßen Handelns erweist. Eine Reihe weiterer Mären demonstrieren kündikeit im Zusammenhang mit dem Problem der adäquaten Einschätzung von materiellem guot.10 Eines dieser Mären, >Der junge RatgeberDer Pfaffe Amis< darstellen zu können. Das Märe beginnt wiederum mit einer Vorgeschichte, die ein musterhaftes Verhältnis zwischen einem König und seinem fürstlichen Ratgeber entwirft: Der König hat vrum und ere (vgl. 8) durch ihn, er ist ihm holt (vgl. 15); und selbst wenn er seinem Ratgeber aller künige golt (vgl. 16) anvertrauen würde, so täte dieser nichts anderes damit, als vrum und ere zu erwirken (vgl. 19f.). Dieser richtige

69 70

bisher nicht geleistete Klärung der Beziehung von Spruchdichtung, Märe und Bispel voraus. Zu den >Drei Wünschen< vgl. Bernhard Sowinski: »Die drei Wünsche« des Strickers. Beobachtungen zur Erzählweise und gedanklichen Struktur. In: Zeiten und Formen in Sprache und Dichtung. Festschrift für Fritz Tschirch. Hrsg. von Karl-Heinz Schirmer u.a. Köln, Wien 1972, S. 134-150; zur rhetorischen Struktur der Argumentation in den Epimythia der Mären vgl. Schirmer, Versnovelle, S. 107ff. Zur Rechtsbedeutung der vriunde vgl. Brunner, Land und Herrschaft, S.21ff. >Die drei WünscheDie MartinsnachtEdelmann und Pferdehändlers >Der Richter und der Teufel·.

137

Umgang mit guot wird noch einmal deutlich gemacht, als der Ratgeber im Sterben liegt. Er läßt seinen Herrn holen, um ihm sein Lehen zurückzugeben, dessen Wert sich wesentlich vergrößert hat. Sein Eigentum und das Eigentum des Herren sind nicht mehr zu unterscheiden, alles - so erklärt der Ratgeber - soll deshalb in die Verfügungsgewalt des Königs zurückgegeben werden. Mit diesem Entschluß entscheidet sich auch das Schicksal seines Sohnes, er empfiehlt ihn der Obhut des Königs. Als dieser daraufhin den Sohn zum Nachfolger im Amt des Ratgebers bestimmt, wehrt der Vater mit dem Hinweis auf dessen Jugend ab. Kurz zuvor jedoch hat er nur eine einzige Bedingung genannt, die die Person seines Nachfolgers erfüllen müsse: Der König möge einen Mann wählen, der wisheit besitze (vgl. 57ff.). Der König hält an seiner Entscheidung fest. Mit dieser Vorgeschichte ist die Problemstellung des nun folgenden Geschehens im Grundriß festgelegt. Angesichts seiner Jugend steht der junge Ratgeber unter verschärftem Erwartungsdruck, in seinem Handeln wisheit zu beweisen. Sein Vater jedoch hat die Erkenntnis dieser wisheit dem König überantwortet. Wie auch immer also der junge Ratgeber sich verhalten wird, die Bewährungsprobe seiner wisheit wird zugleich eine Probe der wisheit des Königs sein. Der König sieht sich zunächst in seiner Wahl bestätigt: Der Sohn beerdigt den Vater mit so grözer ere,n daß der König sich entschließt, ihm nicht nur das Amt, sondern auch das reiche Lehen seines Vaters zu überlassen. Damit sind die Voraussetzungen erfüllt, die für die Bewältigung des Konflikts, der sich nun rasch entwickelt, wesentlich sind. Eine Hungersnot überfällt das Königreich, die die materielle Existenzgrundlage der Herrschaft in Frage stellt, die besten von dem lande / klagten schade unde schände (109f.); da sie nicht mehr wissen, wovon sie leben sollen, drohen sie, das Land zu verlassen. Der junge Ratgeber steht damit vor folgendem Problem: Wenn er den Kornvorrat des Königs, den sein Vater angelegt hat, jetzt ausgibt, dann erhält er dem König zwar die Leute, macht diesen aber arm. Hebt er den Kornvorrat weiter auf, bleibt der König zwar reich, aber das Land ist leer von Menschen und also unbrauchbar. Der Ratgeber entscheidet sich, den Vorrat den Menschen auszuhändigen. Im darauffolgenden Jahr jedoch wird die Not noch größer, die Leute drohen zu verhungern. Da gibt der junge Ratgeber auch den Schatz des Königs aus, damit Getreide für alle gekauft werden kann. Unterdessen spinnt sich am Hof eine Intrige an, die baesen nidcere (vgl. 152) wollen dem jungen Ratgeber schaden. Ihre untriuwe (vgl. 153) dokumentiert sich darin, daß siebewußt solange warten, bis der ganze Schatz ausgegeben ist, dann erst erscheinen sie unter dem Vorwand der Sorge beim König, um den jungen Ratgeber zu verklagen. Der König ist deutlich verstimmt, er läßt ihn rufen und stellt ihn zur Rede. 71

Daß diesem Akt angesichts der außerordentlich knappen und präzisen Handlungsschilderung eine solche Bedeutung zukommt, liegt höchstwahrscheinlich daran, daß dieses Thema in der zeitgenössischen Auseinandersetzung mit der Lehre der Katharer besonders brisant war. Der Stricker hebt die christliche Pflicht des Sohnes, seinen Vater durch den richtigen Vollzug von Totenmesse und Begräbnis zu ehren, auch in >Treue gegen Vater und Sohn< (ed. Schwab, Bispelreden) 29ff. und in der >Klage< (vgl. S. 239) hervor. Vgl. dazu Schwab, Beobachtungen, S. 75ff.

138

An diesem Punkt der Handlungsentwicklung ist die Situation erreicht, die für den Ratgeber wie für den König zur Probe ihrer wisheit wird, von dem Ratgeber jedoch verlangt sie weit mehr, sie erfordert gevüege kündikeit. Er wird der untriuwen beschuldigt und muß sich so verteidigen, daß seine triuwe offenbar wird. In der Rolle des Angeklagten aber muß er sich zugleich als wiser Ratgeber bewähren: Er muß dem König die Rechtmäßigkeit seines Handelns so verdeutlichen, daß dieser selbst das Unrecht der falschen Kläger erkennt. Um dies zu erreichen, knüpft er geschickt an die beiden Aussagen seines Vaters an, die noch immer unvermittelt nebeneinanderstehen. Unter Berufung auf die Warnung seines Vaters bezichtigt er sich selbst des Mangels an wisheit und begründet so, daß er es für seine Pflicht gehalten habe, dem König die wisen seines Landes zu erhalten (vgl. 211ff.). Mit dem Stichwort der wisheit aber erinnert er den König indirekt zugleich an die zweite Äußerung seines Vaters, an die Aufforderung nämlich, die Wahl seines Nachfolgers allein von dessen wisheit abhängig zu machen. Der nun folgende Bericht über die beiden Jahre der Not wird nicht nur zum Beweis seiner triuwe. In diesem Bericht dokumentiert sich die richtige Einschätzung der Bedeutung von materiellem guot, und in diesem Sinne wird er auch zum Beweis seiner wisheit. daz lant mac iu gedienen wol, ez ist guotes unde liute vol. wceren si vertriben unde tot, den ich dä half ύζ der not, so wcere daz lant gar verhert. swaz ich iu liute hän ernert, die vrument iu michel mere und habet ir graezer ere, denne ob daz guot dä wcere und daz lant der liute leere. daz lant ist äne liute enwiht. irn mähtet überwinden niht die schände und den grdzen schaden, dä mit ir weeret geladen, ob si vor hunger waren verlorn, so müeset ir schätz unde korn umbe ander liute nu geben. (237-253)

Das Ende dieser Rede ist so angelegt, daß sich die Eingangsszene, in der der Vater des Ratgebers dem König das in seinem Wert vielfach gesteigerte Lehen zurückgibt, wiederholt. Jetzt bietet der Sohn dem König die Rückgabe des Lehens an, er bietet sie an als buoze (vgl. 260) für den Verlust, den der König vermeintlich erlitten hat, und er beweist damit nun auch materiell, in welchem Ausmaß er durch sein Handeln den Besitz des Königs vermehrt hat. Der König zeigt, daß er fähig ist, die wisheit des jungen Ratgebers zu erkennen. Zwischen beiden stellt sich das gleiche Verhältnis von Wertschätzung und Vertrauen her, mit dessen Charakteristik die Vorgeschichte begann. gevüegiu kündikeit trägt in diesem Märe den Sieg über das liegen und triegen (vgl. 301f.) der ungetriuwen davon. Ihre gesellschaftskonstitutive Potenz erweist sich in der richtigen Einschätzung des Stellenwerts von guot: Nur wenn vrümikeit vür guot 139

(vgl. 304) genommen wird - wie es im Epimythion heißt - ist der Bestand von Herrschaft gesichert, ist der Zustand der Gesellschaft intakt. Diese Maxime läßt sich noch schärfer fassen: Materielles guot vermehrt sich nur dann, wenn es so gering geschätzt wird, daß seine Vermehrung niemals Selbstzweck werden kann.72 Diese Beziehung von gevüeger kündikeit und richtiger Einschätzung der Bedeutung von guot bezeichnet den Stand der Diskussion, an den >Der Pfaffe Amis< anknüpft. Auch in diesem Schwankroman geht es um situationsspezifisches Interpretations· und Handlungsvermögen, auch hier zeigt sich dieses Vermögen am Umgang mit guot. Beide Bezugspunkte der Diskussion sind jedoch charakteristisch neu gefaßt. Mit dem Schwankroman vom >Pfaffen Amis< wird das Vermögen gevüeger kündikeit an seine Grenzen geführt, gevüegiu kündikeit schlägt um in liegen und triegen. Der Grund für diese Radikalisierung ist in der Zuspitzung der guoi-Thematik zu suchen. Wenn sich gevüegiu kündikeit im Jungen Ratgeber< dem liegen und triegen der falschen Ankläger überlegen erweist, dann ist das nur möglich, weil der König wise ist und wisheit erkennen kann, weil er begreift, daß vrümikeit vür guot zu nehmen ist. Wenn diese Voraussetzung jedoch nicht mehr gegeben ist, wenn sich die materielle Bedeutung von guot verselbständigt, dann wird gevüegiu kündikeit machtlos. Dies ist die Konstellation verschärfter Bedingungen, von der der >Pfaffe Amis< ausgeht; bereits der Prolog weist daraufhin, indem er eine Geschichte vür sorgen und vür armuot (11) ankündigt.

72

Diese Maxime ist Thema des Bispels >Der Schalk und die beiden Königen Vgl. dazu Ragotzky, Thematisierung von guot, S. 499-503.

140

5. >Der Pfaffe Amis
Gäuhühnera< vor allem immer wieder der >Amis< zu sozialgeschichtlich orientierten Interpretationen herausgefordert. Ursula Peters hat diese Forschungsdiskussion kürzlich zusammenfassend dargestellt und in den wichtigsten Punkten treffend kritisiert. Aus diesem Grunde beschränke ich mich darauf, die verschiedenen Positionen hier nur insoweit zu erörtern, wie es die Verdeutlichung meines eigenen Ansatzes erfordert. Alle Interpreten setzen an den beiden Momenten an, die im Vergleich zur hochhöfischen Literatur als neu und damit als erklärungsbedürftig empfunden werden, am fe-Handeln des Protagonisten und an dem Motiv des guof-Erwerbs. Beide Momente sind immer wieder mit der Entwicklung des »Bürgertums« in Verbindung gebracht worden. Die Reihe dieser Versuche beginnt mit Wolfgang Spiewok. Anknüpfend an die literaturgeschichtliche Position Gustav Rosenhagens sieht er das spezifisch Neue im Werk des Strickers in der Bedeutung, die »der intellektuellen Leistung« im Gegensatz zu Attributen des »feudale(n) Heldenideal(s)« wie »Geburtsstand, Besitztum und rohe Kraft« eingeräumt wird (S. 123); in diesem Sinne ist der Stricker für ihn ein »Vertreter frühbürgerlichen Kulturbewußtseins« (S. 120). Unter dieser Perspektive interpretiert auch Barbara Könneker den >Amiszu Fall< gebracht, d.h. gezwungen hatte, sich moralisch nicht einwandfreier Mittel zu bedienen, ist natürlich wiederum als eine versteckte Spitze gegen das realitätsferne Ethos der ritterlich höfischen Dichtung zu werten, in der man sich um die Möglichkeit, wie jene so hochgepriesene Tugend praktisch zu verwirklichen sei, in der Regel keine Gedanken machte« (S. 252). Diese Argumentation läßt jedoch aus, daß der Zustand, in dem sich Amis zu Überlegungen über die materielle Basis seiner milte gezwungen sieht, absolut höfisch als Mangelsituation der sorge beklagt wird. An diesem offensichtlichen Widerspruch setzt die >AmisAmis< wird jeweils nur am Rande herangezogen, was bei der Beurteilung der eher skizzenhaften Deutungsvorschläge zu berücksichtigen ist. Wie Cramer setzen Gerhard Schindele und Dieter Kartschoke am Gebot der milte und an dem Auszug zum guof-Erwerb an, deuten diese Konstellation aber nun aus marxistischer Sicht als Ausdruck sozioökonomischer Widersprüche, die schließlich zur Selbstaufhebung des Feudalsystems führen: Durch seine Verarmung im Zusammenhang mit der Entwicklung der Geldwirtschaft kann der kleine landsässige Adel dem Gebot der milte nicht mehr genügen, gerade aber das Gebot der milte ist für das Funktionieren feudaler Abhängigkeiten von entscheidender Bedeutung. Wie der Adel insgesamt, so benötigt auch der niedere Adel dringend Geld, die alte grundherrschaftlich bestimmte Form des Gelderwerbs reicht jedoch nicht mehr aus. So entsteht der Zwang, sich am Handel zu beteiligen, gerade dies

142

Perspektive des Fahrenden, aus ihr heraus wird der normative Zustand entworfen. Gerade diese Existenzweise hat - wie schon der Prolog der >Frauenehre< bezeugt für das Problem der angemessenen Wertschätzung höfischer Kunst zugespitzten Demonstrationswert.3 Die übliche Geringschätzung der Lebensform des Fahren-

2

3

aber widerspricht dem traditionellen Ethos der Feudalklasse. Peters hat gezeigt, daß die Prämisse dieser Widersprüche, die Verarmung des niederen Adels als Folge der Intensivierung der Geldwirtschaft, durch neuere historische Forschungen fraglich geworden ist, ich beschränke mich deshalb auf textimmanente Kritik. Auch Schindele und Kartschoke fragen nicht zunächst nach der Tradition und damit nach dem literarischen Bedeutungsgehalt des Themas guo/-Gewinn, sondern identifizieren es sofort mit realen Interessen und Praktiken des Gelderwerbs. Daher gilt ihr Hauptinteresse den beiden Kaufmannsschwänken, sie sind die Basis der Thesenbildung. In diesen beiden Schwänken - so scheint es - ist Amis' liegen und triegen direkt sozioökonomisch zu beziehen, zugleich aber entlarvt es sich auch als das, was es historisch tatsächlich ist: »(A)us der Perspektive des (...) niederen Adels (konnte) die städtische, ferahändlerische Aneignungsweise ( . . . ) als das erscheinen (...), was sie real war, Betrug« (Schindele S. 184). Diese Deutung übersieht, daß in den beiden Kaufmannsschwänken wie in allen Schwänken, die vorausgehen, Fehlrealisierungen normgemäßen Rollenverhaltens vorgeführt werden. Auch bei der Kaufmannsrolle handelt es sich um ein literarisches Zerrbild. Diese Rollenperversion als Prinzip aller Schwänke ist jedoch nicht außerliterarisch zu erklären, sie verweist zurück auf die Eingangsgeschichte, auf die Wertverkehrung durch die Verabsolutierung der materiellen Bedeutung von guot. Wird dieser Rückbezug nicht hergestellt, dann entsteht eine Fehlinterpretation, die auch für die Kaufmannsschwänke nur mit Mühe aufrechtzuerhalten ist. Wenn - wie Schindele meint - Handel hier historisch richtig als Betrug identifiziert wird, dann ist zu fragen, warum Amis' list als Kaufmann kaum Züge ökonomisch rationalen Handelns annimmt. Um dies zu erklären, verweist Schindele auf die spezifische perspektivische Beschränkung des niederen Adels als dem genuinen Publikum des Werks. »Die gesellschaftliche Perspektivelosigkeit des landsässigen niederen Adels zeigt sich indessen auch hier, da er Tausch mit dem Ziel des Gelderwerbs nur äußerlich als Betrug, eine Art Taschenspieltrick begreift, an seiner eigentümlichen Mechanik und Motorik im letzten nicht interessiert ist, geblendet von der Phantasmagorie des Geldes als Mittel allein zum Konsum« (S. 184). Eine solche Begründung bleibt, wie ich meine, dem Text äußerlich, weil die literarische Analyse zu früh abgebrochen und durch außerliterarische Rekonstruktionen ersetzt wird. Im Gegensatz zu diesen sozialgeschichtlich orientierten Interpretationen, die das Werk auf eine spezifische Interessenkonstellation - Bürgertum oder niederer Adel - beziehen wollen, versteht Hansjürgen Linke den >Amis< als Kritik der gesamten Gesellschaft, als Versuch des Strickers, »ein möglichst anschauliches Panorama der Fragwürdigkeit seiner Gegenwart zu entrollen« (S. 319). Diese Einschätzung des Werks berücksichtigt nicht, daß es sich hier um die Zuspitzung einer literarischen Diskussion handelt, daß das Modell der Wertverkehrung nicht einfach mit der tatsächlichen wertethischen Verfassung der damaligen Gesellschaft gleichzusetzen ist. Barbara Haupt: Der Pfaffe Amis und Uhlenspiegel. Variationen zu einem vorgegebenen Thema. Beiträge zur Älteren Deutschen Literaturgeschichte 4 (1978) (= Till Eulenspiegel in Geschichte und Gegenwart. Hrsg. von Joachim Bumke u.a.), S. 61-91; Hansjürgen Linke: Beobachtungen zur Form des »Pfaffen Amis«. In: Sprache in Gegenwart und Geschichte. Festschrift für Heinrich M. Heinrichs. Hrsg. von Dietrich Hartmann u.a. Köln, Wien 1978, S. 307-319. Zur laudatio temporis activgl. Udo Gerdes: Bruder Wernher. Beiträge zur Deutung seiner Sprüche. Berlin 1970, S. 186ff.; Ulrich Müller: Untersuchungen zur politischen Lyrik des deutschen Mittelalters. Göppingen 1974 (GAG 55/56), S.468ff. Vgl. S. 34ff.

143

den äußert sich immer auch als Zweifel an seiner literarischen Kompetenz. Um so mehr fordert dieser Vorurteilskomplex die Fähigkeit heraus, echte Kunst zu erkennen und entsprechend zu honorieren. Der Fahrende bezeichnet sich hier bewußt als höfsch man, er unterstreicht damit seinen Anspruch, über eine Kunst zu verfügen, die dem Hof nicht nur angemessen ist, sie ist Teil des höfischen Selbstverständnisses, und infolgedessen ist der Hof auf solche Kunst angewiesen. An diesem maßstäblichen Entwurf idealer Vergangenheit wird nun die Gegenwart gemessen; sie erscheint als Gegenbild der Wertverkehrung,4 statt vröud und ere herrschen sorge und armuot. In einer solchen Zeit ist wertbewußte Kunst nicht mehr gefragt, es sei denn, sie paßt sich den »verkehrten« Verhältnissen an, sie erfindet ein mazre vür sorgen und vür armuot.5

4 5

Das gleiche Modell literarischer Situationscharakteristik verwendet der Stricker in den >Herren zu Österreich und in der >Klage< (vgl. S. 234f.). In einigen der vorliegenden Interpretationen des >AmisAmisAmis< solche Lebenshilfe; er leistet sie, indem er gerade angesichts der wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen »einem spezifisch bürgerlichen Erfolgs- und Nützlichkeitsdenken« das Wort redet (S.277). Eine solche Interpretation greift, wie ich meine, zu kurz, sorge und armuot sind zwei Begriffe, die primär nicht ökonomische, sondern sozial-ethische Bedeutung haben. Sie bezeichnen das Fehlen eben jenes Freiheitsspielraums, der die Voraussetzung gelungener höfischer Selbstbestimmung, des festlichen Zustande der vröude, ist. Eine solche Mangelsituation aber beklagt bereits Walther, vor sicherlich anderem Publikum in anderer Zeit. Wenn die Begriffe sorge und armuot im >AmisDaniel< und in den Mären geht es also auch hier um das Problem der Normrealisierung, liegen und triegen ist wie list und kündikeit eine Kategorie der Pragmatik. Verglichen mit dem >Daniel< und den Mären aber ist die Problemstellung im >Amis< durch den bewußten Gegensatz von generellem Erkenntnisvermögen und dessen spezieller Verwirklichung noch schärfer gefaßt. Ausgehend von dieser Hypothese ist auch das dritte auffallende Charakteristikum des Helden, sein vorbildliches mi/ie-Handeln, zu erklären, milte zu üben, ist auch für einen Geistlichen nichts Ungewöhnliches. Wenn er über guot verfügt, dann wird dies - wie die immer wiederkehrende Kritik des Strickers am gegenwärtigen Lebenswandel der Pfaffen zeigt - sogar von ihm erwartet.10 Bezogen auf die OrdoRelevanz der Pfaffenrolle aber gewinnt der ausführliche Hinweis auf Amis' milte noch einen genaueren Sinn. Die Fähigkeit, ordogemäß milte zu üben, setzt die richtige Einschätzung des Stellenwerts von materiellem guot voraus. Gerade dieses Wissen um die Bedeutung von irdischem Gut gehört zu den zentralen Anforderungen der Pfaffenrolle. Wenn selbst die Pfaffen in dieser Hinsicht versagen, wenn sie sich als bestechlich erweisen und in der Messe eingenommenes guot Gott vorenthalten,11 dann signalisiert dies ein Ausmaß an Desorientierung, das weit über den 9 10 11

>Frauenleben und Pfaffenleben< (ed. Moelleken 3,1). >Der Pfaffen Leben< (ed. Moelleken 4) 93ff. Vgl. S. 87 Anm. 9.

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eigenen Stand hinausreicht. Amis zeigt mit seiner milte, daß er die Bedeutung von materiellem guot nicht nur seiner Pfaffenrolle gemäß einzuschätzen, sondern auch vorbildlich höfisch zu realisieren weiß. Aber gerade dieser vorbildliche Umgang mit guot schlägt im Verlauf der Handlung ins Gegenteil um; auch Amis hält Messen ab, um guot für persönliche Belange zu gewinnen, seine Deutungskompetenz verwirklicht sich als liegen und triegen. Mit der Betonimg von Amis' milte scheint also ein dritter Aspekt benannt, der für die Themenstellung des Romans konstitutiv ist. Auch im >Daniel< und in den Mären taucht die Diskussion über die Bedeutung von materiellem guot auf; verglichen mit dem Problem der Normrealisierung aber hat sie nur sekundäre Bedeutung, sie wird immer dann eingesetzt, wenn es darauf ankommt, die Priorität situationsspezifischen Interpretations- und Handlungsvermögens zu unterstreichen. Im >Amis< wird der guoi-Thematik ein neuer Stellenwert zugewiesen: Sie dient dazu, den Widerspruch zwischen der wisheit des Protagonisten und seinem liegen und triegen zu begründen. Wie das erreicht wird und was es bedeutet, zeigt die Eingangsgeschichte.

5.2 Die Konfrontation des Pfaffen Amis mit dem Bischof: Die Bedeutung der Eingangsgeschichte Die Musterexistenz, die der Pfaffe Amis gemessen am Anspruch geistlicher wie weltlich-höfischer Lebensform führt, provoziert-gerade durch ihre Vorbildlichkeit - ihre Zerstörung. Amis' Lehnsherr, der Bischof, will nicht dulden, daß sein Lehnsmann groezern hof ze allen ziten (vgl. 62f.) führt als er selbst. Er droht dem Pfaffen unverhüllt mit Gewalt, wenn sich dieser nicht bereit findet, ihm von seinem guot abzugeben. Mit dieser Forderung setzt sich der Bischof massiv ins Unrecht. Dieses Unrecht beginnt mit der falschen Einschätzung des Stellenwerts von guot. Um dies zu verdeutlichen, ziehe ich die geradezu klassische Definition des richtigen Stellenwerts von guot heran, mit der Amis gleich darauf das Ansinnen des Bischofs zurückweist, guot ist reines Funktionselement der auf repräsentativen Verbrauch angelegten höfischen Lebensführung und muß sich ständig im Gestus der milte veräußern, guot kann und darf also keinen Selbstwert haben, denn das hieße, daß es sich in seiner materiellen Bedeutung verselbständigt hätte. »min muot der stet ze solher wis daz ich min guot vil wol verzere und mich des vil gar gewere des mir niht über werden sol. wcers mere, ich bedörftes wol.

(72-76)

Gemessen an dieser Definition stellt der Bischof mit seiner Forderung die Dinge im wahrsten Sinne des Wortes auf den Kopf. Er geht von der Annahme aus, daß Amis offensichtlich einen »Uberschuß« an guot besitzt, wenn er ihn in nichtsnutzigem Prunk vertuot (vgl. 66), und macht auf diese Weise deutlich, daß sich die falsche Einschätzung des Stellenwertes von guot mit einem dörperhaft krassen Mißverständnis höfischer Lebensführung verbindet. 149

ir habet überigez guot daz ir mit höfscheit vertuet, des suit ir mir ein teil geben.

(65-67)

Die Konsequenz dieser Fehleinschätzung läßt sich am besten an der Perversion des milte-Gebotes kenntlich machen, milte ist nicht quantifizierbar, sie kann schon gar nicht quantitativ abhängig gemacht werden von der jeweiligen Position in der Lehnshierarchie. Wenn das der Fall ist, dann wird milte gerade als Prinzip, das immer wieder dazu zwingt, die Legitimität der eingenommenen Position zu bestätigen, liquidiert. Der Bischof ist Amis' Lehnsherr; zu erwarten wäre also, daß er es ist, der sich seinem Lehnsmann gegenüber milte erweist und auf diese Weise das Verhältnis wechselseitigen Angewiesenseins stabilisiert. Auch unter dieser Perspektive erscheint das Verhalten des Bischofs als Verkehrung der Norm: Mit der Macht seiner Lehnsherrenrolle versucht er, seine Forderung durchzusetzen, und pervertiert damit seine Schutzfunktion zur Gewaltandrohung. Mit dieser Konfrontation ist eine Ausgangslage der Handlung entworfen, wie sie für die Mären typisch ist, und zunächst hat es auch den Anschein, als könne Amis mit dem rechtswidrigen Ansinnen seines Lehnsherren fertig werden, denn seine Reaktion beweist, daß er gevüege kündikeitbcsitzt. Das Fehlverhalten des Bischofs hat sich als Verletzung des Lehnsrechts geäußert, auf dieser Ebene muß das Recht wiederhergestellt werden, hier setzt also gevüegiu kündikeit an. Mit dem Hinweis auf seinen bisher untadeligen gehorsam (vgl. 91) gelingt es dem Pfaffen, den angedrohten Entzug seines Lehens von einer Überprüfung seiner Amtseignung abhängig zu machen. Damit ist die Austragung des Konflikts auf einen Bereich festgelegt, in dem sich Amis seiner Überlegenheit sicher sein kann. Die Überprüfung läuft ab nach dem Muster traditioneller Weisheits- bzw. Rätselproben. 1 2 Der Bischof stellt Amis eine Reihe von Fragen, die so angelegt sind, daß sie sich jedem Versuch einer Beantwortung durch Sachwissen entziehen. Diese Unmöglicheit, die Fragen zu beantworten, macht Amis zum Prinzip seines Antwortens. Als der Bischof das zu durchschauen beginnt, reagiert er wütend, er wirft Amis vor, zu liegen und zu triegen (vgl. 147f.). Es ist bezeichnend, daß gerade an dieser Stelle die Formel aus dem Prolog zum ersten Mal wiederaufgenommen wird. Als Anschuldigung trifft sie faktisch zu; da Amis' schlaues Reagieren jedoch durch den Bischof erzwungen ist, denunziert sie hier den Urheber des Unrechts selbst. Wenn die Handlungsentwicklung bisher genau dem Muster der Mären nachgebildet ist, so weicht sie von diesem Moment an ab. Der Bischof müßte entweder sein Unrecht erkennen, oder Amis müßte die Chance haben, das Unrecht seines Lehnsherren dem öffentlichen spot zu überantworten und damit sozial zu zerstören. Beides ist nicht der Fall. Nach seinem wütenden Ausfall setzt der Bischof die 12

Zur literarischen Tradition und Verbreitung der Rätselfragen vgl. Hans Lambel: Erzählungen und Schwänke. Hrsg. von H. L. Leipzig 1872 (Deutsche Classiker des Mittelalters 12), S. lOff. Zum zeitgenössisch-wissenschaftlichen Status der Fragen vgl. Herbert Kolb: Auf der Suche nach dem Pfaffen Amis. In: Struktur und Interpretation. Studien zur deutschen Philologie. Festschrift für Blanka Horacek. Hrsg. von Alfred Ebenbauer u.a. Wien, Stuttgart 1974 (Philologica Germanica 1), S. 189-211.

150

Fragenreihe fort, sie könnte prinzipiell unendlich sein. Angesichts dieser veränderten Bedingungen ist auch gevüegiu kündikeit um ihren Erfolg gebracht; sie kann nur die Gewaltandrohung des Bischofs hinauszögern, sie kann sich jedoch nicht mehr erkenntnis- bzw. rechtswirksam vermitteln. Der Bischof greift zu immer absurderen Aufgabenstellungen, um den widerspenstigen Pfaffen zu besiegen. Er fordert von ihm schließlich sogar, einem Esel das Lesen zu lehren. Auch diese Situation kann Amis anfangs noch meistern, jedoch wird immer klarer, daß seine not (vgl. 307) letztlich nur durch einen Eingriff »von oben« beendet werden kann. nuo daht der phaffe do: »wirn geieben nimmer drizec jar alle dri, daz ist war, der esel sterbe oder ich oder der bischolf. swaz er sich vermizzet uf minen schaden, des mac mich der tot wol entladen.«

(220-226)

Die himmlische Gerechtigkeit entscheidet sich für den Bischof; noch bevor Amis mit der nächsten Vorführung des Esels unweigerlich an die Grenze seiner Schlauheit gerät, stirbt dieser. Doch auch diese »Lösung« des Konflikts ist nur vorläufig, denn jetzt zeigt sich, daß der Erkenntnisdefekt, der sich im Handeln des Bischofs offenbarte, symptomatisch ist für den Zustand der Welt. Das mcere von Amis' wisheit verbreitet sich wie ein Lauffeuer im Lande (vgl. 311ff.), aber es ist nicht mehr - wie in der >Eingemauerten Frau< - ein rechtswirksames mcere. Die Leute halten Amis für wise, weil sie glauben, er hätte - wäre nicht der Tod des Bischofs dazwischengekommen - dem Esel wirklich das Lesen beigebracht. Ebenso wie wisheit als Fähigkeit gilt, Außergewöhnliches bewirken zu können, ist ere zur Berühmtheit des Sensationellen verkommen (vgl. 316f.). Der Pfaffe steht hoch im Ansehen, die Leute kommen von überall her, um ihn zu sehen. Damit wird jedoch auch Amis' milte von dem Erdrutsch der Werte erfaßt. Angesichts der Vielzahl der Gäste steht alsbald die milte, die gerade der illegitimen Bedrohung durch den Lehnsherren entronnen ist, vor dem Ruin. Denn nun wird sie noch viel elementarer und radikaler bedroht durch den Mangel an guot. Mit der Situation des Mangels ist der Zustand der Wertverkehrung, wie er im Prolog thematisiert wird, angesprochen, Amis wird aufgefressen von sorgen (vgl. 326) um seine materielle Existenz. Um das, was er mit seiner milte ze guote (vgl. 328) geschaffen hat, nicht verloren gehen zu lassen, beschließt er, zumg«o/-Erwerb auszuziehen. »swaz ich ie tet ze guote, daz verlius ich ganzliche ob ich dem hus entwiche: ich ware so gerne dar inne. swie ich daz guot gewinne, also gewinne ich ez e danne ich dem huse abe ge: ich wil nach guote werben. min hus sol niht verderben.«

(327-336) 151

Die Formulierung dieses Entschlusses macht noch einmal die gegenüber den Mären zugespitzte Problemstellung klar: Der Begriff guot hat seine notwendige Doppeldeutigkeit, ethische und materielle Größe zugleich zu sein, verloren. Dabei hat sich guot als materieller Faktor verselbständigt. Diese Verselbständigung der materiellen Bedeutung von guot wird nun zum Krisenindikator. Wenn Amis zum guotErwerb auszieht, setzt er dabei sukzessive die Welt im Zustand des Sündenfalls, in der sozial zerstörerischen Verfassung von liegen und triegen, in Szene.

5.3 A m i s ' Auszug zum guoi-Erwerb: D e r Umschlag von

gevüeger

kündikeit in liegen und triegen 5.3 1 Der Modellcharakter der ersten drei Schwänke: Die Verselbständigung der materiellen Bedeutung von guot als Krisenindikator Die ersten drei Schwänke heben sich durch ihren Umfang wie durch die Raffinesse des geschilderten Ereignisses deutlich vom Seriencharakter der Schwänke 4-9 ab. Noch einmal klar davon unterschieden sind die beiden Kaufmannsschwänke, mit denen die Handlung des Romans abschließt. Ich beginne mit den ersten drei Schwänken, die - wie ich zu zeigen versuche - Modellcharakter haben. Sie verdeutlichen exemplarisch das situationsspezifische Interpretations- und Handlungsvermögen des Protagonisten, sein liegen und triegen, das immer auf dem potentiellen liegen und triegen seiner Handlungspartner basiert, dieses geschickt in Szene setzt und damit manifest macht. 13 Die Schilderung von Amis' Aufbruch ahmt ironisch die »klassische« Eingangssituation eines Ritterromans nach. 14 Wie dort der Protagonist auszieht, um durch Aventiuren ere zu gewinnen, so zieht Amis aus zum gwo/-Erwerb. Während sich aber ritterliche Aventiure gerade jeder Kalkulation durch den Helden entzieht, hat der Pfaffe seinen »Aventiuren-Weg« genau vorausgeplant, und diesen Plan setzt er nun zielsicher in die Tat um. Die erste »Station« auf seinem Weg ist eine Kirchweih. Amis tritt als Pfaffe auf und setzt diese Rolle so ein, daß sich ihre ordogemäße Bestimmung ins Gegenteil verkehrt. Der, der die richtige Einstellung zu materiellem guot und ihre Heilsbedeutung am besten kennen und anderen lehrhaft vermitteln sollte, funktioniert die Predigt um zum Mittel des gwoi-Erwerbs. Die Folge dieser Verkehrung wird 13

14

Die > AmisBegrabenen Ehemann< die endgültige Selbstaufgabe des Mannes anzeigt: si sprachen alle: »ez ist also« (719).15 Nicht anders als die Ritter verhalten sich die Königin und ihre Damen. Erst einer der Knechte, der als ein tumber gilt (vgl. 759), wagt es, die Wahrheit auszusprechen. Die, die sich wise und also erkenntnisfähig dünken (vgl. 780ff.), beschimpfen den 15

Vgl. S. 101.

155

einzig »Sehenden« zunächst als blint (vgl. 763). Jedoch es gibt noch mehr tumbe, die in dieser »verkehrten Welt« die Erkenntnisfähigen sind und der Lüge widersaz zu bieten wagen (vgl. 770ff.; vgl. auch 43). Schließlich ist es allein der König, der die Fassade des Trugs noch aufrechterhält. Als auch er letztlich zugestehen muß, nichts zu sehen, kommt das einer Selbstaufgabe gleich. Amis aber ist mit dem gewonnenen guot abgereist, bevor das System von liegen und triegen, das er mit seinem liegen und triegen in Gang gesetzt hat, zusammenbricht. Die Charakteristik seines Gewinns verdeutlicht erneut das Prinzip, auf dem auch dieser Fall einer sich selbst korrumpierenden Herrschaft beruht. Wenn die nicht vorhandene Evidenz adeliger werdekeit durch Scheinbeweise ersetzt werden kann, dann löst sich die Substanz höfischer Werte auf, sie werden zu Pseudoqualitäten, die beliebig - z.B. durch ihren Umfang - definierbar sind. Deshalb ist es nur konsequent, wenn der Erzähler das Maß von Amis' sadde durch die genaue Summe des eingenommenen Geldes bestimmt: sin scelde diu was da so starc daz er wol zwei hundert marc da ze hove erworben hate. die sant er heim vil drate und hiez der geste wol phlegen die wil er wcere under wegen.

(737-742)

Auch dieser, sich nach fast jedem Schwank wiederholende Hinweis, daß Amis das erworbene guot nach England sendet, um die dort weiterlaufende höfische Bewirtung der Gäste zu finanzieren, erinnert an das typische Verhalten des ritterlichen Helden im höfischen Roman. Er schickt die Gegner, die er im Kampf besiegt hat, an den Artushof, ihr Bericht vermehrt seine ere.16 Im Gegensatz jedoch zu diesem Verhalten, das im Strukturmodell des Doppelwegs durch die ihm eigene Dynamik des Gewinns und Verlustes von ere seinen Stellenwert und seine spezifische Bedeutung hat, erscheint Amis' guof-Erwerb ein schier endloses Unternehmen. Der Verselbständigung des gevwn-Motivs entspricht der permanente guoi-Verbrauch der milte. Die Verselbständigung der materiellen Bedeutung von guot bewirkt die Verkehrung der höfischen Werte. Sie zerstört daher auch das Strukturgefüge des klassischen Aventiure-Romans. Wenn g«oi-Erwerb an die Stelle des Gewinns von ere tritt, wird der jeweils erreichte Wertstatus des Helden bestimmt durch die Menge des eingenommenen Geldes. Während sich Iweins ere im zweiten Handlungsteil als Ruf seiner triuwe neu aufbaut und stabilisiert, folgt Amis die zwiespältige Bewunderung der Schlauheit und Raffinesse seines guof-Gewinns. ze jungist sprachens über al: »dirre phaffe ist ein karc man daz er sus guot bejagen kan.«

(802-804)

Von Paris reist Amis nach Lothringen. Wenn schon die Herrschaft an der Spitze des Feudalsystems ihre Legitimität verwirkt hat, kann es um die Herrschaft an den anderen Höfen des Landes nicht besser bestellt sein. Diesen Zustand der Zerstö16

Vgl. Kartschoke S. 234.

156

rung veranschaulicht die Situation am Lothringer Hof, der größte Teil der familia dort ist krank. Amis erscheint in der Rolle des Arztes. Er bietet sich dem Herzog als der beste Arzt der Welt - nur Gott wird ausgenommen - an, und der Herzog akzeptiert dies beglückt. Auch als Amis gleich darauf seine Wunderkräfte auf die Heilung der Krankheiten einschränkt, die ohne äußerlich wahrnehmbare Symptome ablaufen, deren Behandlung sich also einer Kontrolle durch Augenschein entzieht, »erkennt« der Herzog nicht, und die Falle schnappt zu. Die gleiche Unfähigkeit zu situationsspezifischem Interpretationsvermögen beweisen die Kranken. Amis testet das Ausmaß ihrer siecheit (vgl. 843) mit der Forderung, eine Woche lang absolutes Stillschweigen über alle nun folgenden Ereignisse zu wahren, ohne daß ein Grund dafür erkennbar wäre. Die Kranken sind sofort bereit, das geforderte Schweigen mit einem Eid zu verbürgen. Mit diesem »leeren« Versprechen, das an den Schwur des Mannes im >Begrabenen Ehemann< erinnert, sind die Voraussetzungen geschaffen, die Amis für seine Heilungsmethode braucht. Der Zweck des guoi-Erwerbs stellt auch dieses Mal den Sinn der Tätigkeit als Arzt auf den Kopf. Statt Krankheit zu heilen, täuscht er Kranksein durch Todesdrohung hinweg. Er eröffnet den Kranken, eine Heilung sei nur dann möglich, wenn der Kränkeste von ihnen getötet werde, sein Blut sei die Bedingung für die Gesundung der anderen. Die Bedeutung dieses Aktes ist aus dem >Daniel< bekannt. Dort kann der rote, kahle Mann nur deshalb sein blutrünstiges Werk vollziehen, weil er zuvor seine Opfer ihres Willens beraubt und zu toren macht. Hier weisen sich die Kranken mit der Absage an jedes eigenständige Deuten und Handeln, mit dem Verzicht auf das Recht auf widersaz, selbst den iorew-Status zu. Befangen in der Todesfurcht versäumen sie jenes solidarische Handeln, das gerade zum Anspruch einer so engen sozialen Bindung, wie sie die Zugehörigkeit zu einer familia darstellt, gehört. 17 Auch in diesem Fall kann sich Amis auf eine eigenständige Entfaltung des Unrechts verlassen. Sein liegen und triegen hat das liegen und triegen der Kranken mobilisiert, eine Scheinrealität von Gesundheit wird rasch in Szene gesetzt, jeder versucht, den anderen an Wohlbefinden zu übertreffen. Freiwillig bekräftigen die Kranken das Trugbild der Heilung durch einen weiteren Eid. Amis wird von dem Herzog von Lothringen reich entlohnt, und es ist symptomatisch für das Ausmaß der dort herrschenden siecheit, daß der Herzog wie die Kranken erst zu spät erkennen, mit ihren Heilserwartungen auf den falschen Messias hereingefallen zu sein. Auch dieses Mal ist es der fragwürdige Ruf seines listes (vgl. 932), der, als Amis selbst schon längst mit dem gewonnenen guot verschwunden ist, die Spur seines Wirkens nachzeichnet. Indem Amis auch dieses Mal den Gewinn nach England sendet, wird das Handlungsgeschehen immer neu an seine Ausgangskonstellation, an die Bischofsgeschichte, zurückgebunden; auf diese Weise bleibt das Motiv des guoi-Erwerbs und damit der Angelpunkt der Wertverkehrung präsent. Das nach Hause geschickte guot aber fällt in einen Topf ohne Boden. Der Akt der milte ist notwendig an die Person des miYfe-Übenden gebunden. Als Medium höfischer 17

Vgl. dazu die Bispel >Der Turse< und >Die reiche StadtAmis< eine prinzipiell endlose Geschichte, wenn nicht, wie eingangs in der Konfrontation mit dem Bischof, Gott eingreifen und Amis »bekehren« würde. Damit wird der prinzipiellen Ziellosigkeit des Handlungsgeschehens in einer heillosen Welt der Wertverkehrung ein schematisches Ziel vorgespannt, das literarische Klischee des Legenden-Happyends. Amis kehrt der monströsen Welt von liegen und triegen den Rücken und geht ins Kloster, der Pfaffe findet damit endlich zu der ihm gemäßen geistlichen Lebensform. do der phaffe Amis gewerte drizec jar in disen eren, do begunde in got bekeren, daz er die lüge verswuor und in ein grawez kloster vuor mit allem sinem guote. (2488-2493)

Verglichen mit der Bekehrung in dem Märe >Die eingemauerte FrauDer kluge Knecht< für die Mären des Strickers - für den Komplex der Bispel programmatische Bedeutung haben. Bei dem ersten handelt es sich um >Der Hahn und die PerleDie Weisheit SalomonsSalomons Weisheit< eine Ergänzung zu >Hahn und Perle< dar. Ich beginne mit der Interpretation von >Hahn und PerleHahn und Perle< ist es eine aus der Antike bekannte Fabel, 4 die die Funktion des Bildteils übernimmt. Es ist die Geschichte von dem Hahn, der einen Edelstein bzw. eine Perle findet, diese jedoch, weil sie kein Haferkorn ist, liegen Vor einem stadele da man drasch, da gienc ein hane durch genasch und warp als er künde. do er scherren begunde, do vant er in kurzer stunt einen wol getanen funt: einen schcenen mergriezen. »möht ich din iht geniezen«, sprach er wider sich selben do, »so wcere ich din harte fro. wcere dir iemen zuo komen, dem du mähtest gefromen, dem wcere wol mit dir geschehen. nu han ich kürzliche gesehen: weder ich enmac din niht geniezen noch du min. des bistu hie ze mir verlorn, ich name für dich ein haberkorn.«

(1-18)

Der Hahn wird charakterisiert durch ein Verhalten, das seiner tugent gemäß ist: Er stolziert herum, um Haferkörner zu suchen, er warp als er künde (vgl. 3). Diese artgemäße Determination seines kunnens zu verdeutlichen, ist der Zweck der Überlegungen, die der Hahn anläßlich des Perlenfundes anstellt. Er erkennt den Wert der Perle, und er verneint zugleich den Nutzen dieses Werts für sich. Der Wert der Perle wäre verlorn, wenn er sich ihrer annähme, nicht eine Perle, sondern ein Haferkorn ist ihm angemessen und also nützlich. Diese Fabel wird nun im zweiten Teil des Bispels durch das Verfahren der Allegorese ausgelegt. Der hane gelichet einem man, der beidiu wil unde kan tumpliche werben und waenet doch niht verderben, kumt er den mergriezen ane, er lat in ligen als der hane. 3 4

Zitiert nach: Schwab, Tierbispel. Vgl. dazu Grubmüller S. 242 Anm. 48.

169

waz sint die mergriezen? diu wort, der wir niezen gegen gote und nach den eren. beginnet man in leren, wie er werben solde, ob er sich lieben wolde beidiu gote und den liuten, so mac man imz iemer diuten, e er sich dran iht kere. des effet er sich sere, der den wisheit leret, der sich an die rede niht keret! swer nicht wisheit wil pflegen, fände er si ligen an allen wegen, er möhte ir niht me niezen denne ouch der hane des mergriezen.

(19-40)

Die Auslegung setzt mit dem Prozeß des gelichens ein. In diesem Prozeß werden Erzählelemente des Bildteils Elementen des Bereichs, auf den die Auslegung abzielt, zugeordnet. Diese Zuordnung erfolgt aufgrund von Ähnlichkeiten, sie sind die Bedingung der Übertragung. Folgende drei Zuordnungen werden hergestellt: Der Hahn ist einem tumpliche werbenden Mann vergleichbar; der Perle entsprechen diu wort, die für eine ordogemäße Orientierung des Handelns »nützlich« sind; wie der Hahn sich der Perle gegenüber verhält, so geht der tumbe mit der lere um, er kehrt sich nicht daran. Dies ist der Grundriß der Entsprechungen, an dem sich der Prozeß des bezeichenens (bediuten, meinen) orientiert. Das geliehen konstituiert Erzählelemente des Bildteils als Zeichen, nun werden die Bedeutungsträger dieser Zeichen fixiert, und damit wird ihr Sinn entschlüsselt: Im Bezeichnenden (Erzählelemente des Bildteils) wird das Bezeichnete (Erzählelemente des Auslegungsteils) anschaubar und erkennbar, die Bedeutung (bezeichenunge, meine) der Zeichenrede des Bildteils wird offenbar. Entsprechend den drei Zuordnungen, die durch das geliehen hergestellt worden sind, läßt sich der Prozeß des bediutens in drei Abschnitte gliedern: Im ersten Abschnitt (19-24) wird das tumpliche werben des Mannes auf sein wellen und kunnen bezogen. Dies entspricht der Charakteristik des Hahns in der Fabel, auch sein spezifisches werben wird mit seinem kunnen, mit seiner art-spezifischen tugent, erklärt. Im Gegensatz zur Fabel, die sich im Bereich des Ordo naturalis bewegt, operiert die Auslegung im Ordo socialis, zum Begriff des kunnens kommt der Begriff des wellens. Mit der Kategorie des willen ist jedoch auch die Determination, der das Verhalten des Hahns unterliegt, aufgehoben, wille bedeutet Entscheidungsfreiheit.5 Über die Ähnlichkeiten hinaus wird damit die Unterschiedlichkeit von Hahn und Mann kenntlich: Während das werben des Hahns ari-gemäß und in 5

Zur theologischen Bedeutung des freien Willens, den der Stricker auch in anderen Texten, besonders im Zusammenhang mit der Büß- und Beicht-Thematik, immer wieder betont, vgl. Schwab, Beobachtungen, S. 91ff. Zur Erörterung der Bedeutung des freien Willens vgl. auch die Bispel >Der gefangene RäuberDie Tochter und der HundDie Buße des SündersDie drei WünscheDie Weisheit SalomonsEin Beispiel Salomons< äußert sich Salomons wisheit als wisheit der Bispel-Rede.

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geliehen, ist das Hin- und Her-Wogen, diu werlt ist daz lebende mer (vgl. 77). Das Schiff ist der Mutter Gottes vergleichbar, sie hat Gottes Sohn in ditz mer zu disen wiselosen her getragen (vgl. 83f.). Mit der Konstitution dieser Metapher ist das Ziel des Deutens erreicht, in der Fahrt des Schiffes auf dem Meer wird die Ankunft Christi, das Ereignis der Gnade, das den Neuen Bund begründet, erkennbar und anschaubar. Damit erscheinen aber nun auch Salomons wisheit wie die tumpheit der toren unter neuer Perspektive. Salomons wisheit ist die notwendig inhaltlich begrenzte wisheit des Alten Testaments. Seine wisheit besteht darin, daß er weiß, daß die Zeit des Gesetzes eine heilsgeschichtliche Phase ist, die der Zeit der Gnade vorausgeht, aber er weiß nicht, wann und wie diese neue Zeit anbricht, er kann die heilsgeschichtliche Realität der Gnade nicht ermessen. Während Salomon aufgrund seiner wisheit befähigt ist, die heilsgeschichtlichen Bedingungen des Erkennens zu begreifen, sind die toren durch die - vom Standpunkt des Neuen Testaments aus - typische Unzulänglichkeit des Judentums charakterisiert: Sie verfangen sich an der Oberfläche der Erscheinungen, sie sind unfähig, den literalen Sinn auf den spirituellen Sinn hin transparent zu machen. »Der Vorwurf geistlicher Schwachheit gehört seit jeher in die Argumentation der Kirche, wenn die literale Schriftexegese der Juden zur Diskussion steht. Da diese die Aussagen der alttestamentarischen Propheten buchstäblich nehmen, kann Christus für sie nicht der verheißene Erlöser sein, erfüllt er doch die Prophetien des Alten Testaments nicht im wörtlichen Sinne. Das Neue Testament hat demnach keine Bedeutung für das Judentum. Die Juden scheitern daran, daß sie über den literalen Sinn des Gesetzes nicht hinausgelangen, ihnen sein spiritueller Sinn - der präfigurierte Christus - verschlossen ist.«10 Ebenso wie Salomons wisheit und die tumpheit der toren heilsgeschichtlich bestimmt werden, wird nun auch die Deutungskompetenz des Exegeten festgelegt. Der spirituelle Sinn der Ereignisse in der Zeit des Neuen Bundes kann erst von der Erfahrung des Neuen Bundes, vom Erscheinen Christi aus, erkannt und interpretiert werden. »Für das jüdische Literalverständnis, das nicht unter die Schale des Buchstabens zu dringen vermochte, war der spirituelle Sinn der Propheten unauffindbar. Erst die christliche, auf dem Neuen Testament beruhende spirituelle Exegese konnte ihren Sinn entschlüsseln.«11 Die Überlegenheit dieser exegetischen Position dokumentiert sich in der Heilsgewißheit des Sprachgestus der Verkündigung: Salomons Klage steht das selbstbewußte ich sagiu (vgl. 86) des Exegeten gegenüber, der in der Zeit der Gnade lebt, der durch den Geist des Neuen Bundes inspiriert ist. Unter dieser Perspektive gewinnt auch das Spiel mit dem Begriffspaar bispel und spei eine neue Dimension des Sinns. Der Rätselcharakter von Salomons Rede entspricht der spezifischen Bedeutung, die das Alte Testament im Verhältnis zum Neuen Testament hat, er entspricht der präfigurativen Funktion des Alten Testa10

11

Klaus Lange: Geistliche Speise. Untersuchungen zur Metaphorik der Bibelhermeneutik. ZfdA 95 (1966), S. 81-122, hier S. 89. Lange S. 103.

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ments. »Der spirituelle Sinn der Schrift ist (...) der inkarnierte Christus. Christus ist im Gesetz präfiguriert. Christi Leben und Taten machen den Inhalt des Neuen Testaments aus; dieses ist in seiner Gesamtheit bereits im Alten Testament vorgeformt.«12 Diese schattenhafte Vorformung der künftigen Ereignisse im Alten Testament findet in Salomons Rätselrede den ihr gemäßen Ausdruck, Salomon bedient sich zum Ausdruck seines leides verdunkelter Zeichen. Diese verschlüsselte Form des Sprechens führt die toren in die Irre: Ihnen fehlt das Bewußtsein der heilsgeschichtlichen Bedingungen des Erkennens. Infolgedessen halten sie das Rätsel für ein Rätsel, dessen Auflösung sich menschlichem Vermögen entzieht, um das man sich deshalb nicht zu bemühen braucht. Während die Auslegung des ersten Bilds auf Christi Geburt zielt, erklärt die Auslegung des zweiten Bilds, das Kriechen der Schlange über den Stein, die Bedeutung dieses Heilsgeschehens für die Menschheit. Der Stein entspricht gotes erbarmunge (vgl. 103), die Schlange dem armen Sünder. Der Begriff der Schlange aber weckt weitere Assoziationen, er ist unlöslich mit dem Ereignis des Sündenfalls verknüpft. Mit dem Sündenfall wird der heilsgeschichtliche Bezugsrahmen so weit ausgespannt, daß das Gnadengeschehen nun in seiner ganzen historischen Dimension verdeutlicht werden kann. Während Gott durch den Sündenfall den Menschen seine Gnade entzogen hat, wendet er sich mit Christi Erscheinen erneut den Menschen zu. Mit Christus verbindet sich die Gewißheit, daß der Sünder durch Beichte und Buße der Gnade Gottes teilhaftig werden kann. Um den Sinn einer solchen Bekehrung erkennbar zu machen, wird erneut das Bild der Schlange, die über den Stein kriecht, aufgegriffen. Erkenntnis vollzieht sich mittels Analogie: Wie sich die Schlange häutet, indem sie über den Stein kriecht, so »wechselt« der Sünder, indem er mit der Gesinnung rechter Reue und Buße in der Beichte über den Stein von gotes erbarmunge geht, das gemuete (vgl. 129) und kann sich auf diese Weise das ewige Heil erwerben. Auch die Deutung dieses Bildes muß sich Salomon mit Notwendigkeit entziehen, wie der Exeget nach der Auslegung betont, weil die Zeit für die Erneuerung des Bundes, das Erscheinen Christi, noch nicht gekommen war. Die Auslegung des dritten Bildes, der Flug des Adlers, verweist auf den Apostel und Evangelisten Johannes. Ihm hat Gott die Geheimnisse der Endzeit unmittelbar gezeigt (vgl. 144f.). Weil diese Geheimnisse für den Menschen ze groz (vgl. 145) sind, hat sie Johannes in der Bildersprache der Apokalypse verschlüsselt, die Apokalypse ist gewissermaßen das Bispel des Neuen Bundes. Das vorige Bild verwies durch die Schlange auf den Sündenfall, auf den Anfang der Heilsgeschichte. Mit der Offenbarung Johannis ist nun die Zeit ihrer Vollendung angesagt. Die apokalyptische Weissagung wird sich enträtseln und erfüllen, Christus wird wiederkehren, die Welt wird zu Ende gehen. Wenn das erste Bild mit Christi Geburt den Beginn des Erlösungsgeschehens bezeichnet, so ist nun die Konsequenz dieses Geschehens gemeint: Der Erlöser wird zum Richter, er richtet die Lebendigen und die Toten. 12

Lange S. 115.

176

Mit dem Anfang der Heilsgeschichte, mit der ersten und der zweiten Parousie Christi bzw. der Erfüllung des Heilsplans, ist der Rahmen entworfen, in dem nun die Auslegung des vierten und letzten Bildes erfolgen kann. Der Lebensweg des Kindes und sein Handeln wird gedeutet als das Wirken Christi auf Erden und sein Kreuzestod, als das Ereignis also, das das Zentrum der Heilsgeschichte bildet, das ideell wie historisch-chronologisch den Mittelpunkt der Weltgeschichte darstellt. Es ist zugleich das Ereignis, das den Kern der heilsgeschichtlichen Geheimnisse ausmacht, deren Sinn Salomon verschlossen bleiben muß, es ist das Ereignis, von dem aus das Geschehen des Alten Bundes retrospektiv seine Erfüllung findet. »Das Gesetz Mosis war zu seiner Zeit >gut und notwendige es wurde jedoch, als die Zeit erfüllt war, vom Evangelium abgelöst. (...) Das Gesetz ist schwach und steril ohne die Gnade. Es enthält zwar die Ereignisse des Evangeliums schattenhaft in sich vorgeformt, doch deren wahrer Sinn wird erst duch die Parousie Christi freigelegt.«13 Die Auslegung des vierten Bildes ist das Ziel, auf das die ersten drei Bilder hinorientiert sind, die vier Bilder erscheinen rückwirkend als Programm: Sie skizzieren den Rahmen des Heilsgeschehens vom Sündenfall als der Aufkündigung des Gnadenverhältnisses über die erneute Versicherung der Gnade durch das Erscheinen Christi bis zur Endzeit des Jüngsten Gerichts; im Zentrum steht das Erlösungswerk Christi als Versicherung der Gnade, als Angelpunkt des Geschichtsdenkens und des geschichtlichen Selbstverständnisses. Nachdem die Auslegung mit der Verdeutlichung dieses Programms an ihr Ziel gekommen ist, wird erneut Salomons wisheit thematisiert, nun auf dem Hintergrund des erschlossenen Sinns seiner Rätselrede. daz uns die verte chunt sint, der Salomon was ein chint, des suln wir got gnade sagen. Salomon mohte wol chlagen, daz im hie nihtes gebrast, und der gnaden was ein gast, diu da was cehimelriche, daz chlagte er so wisliche, daz ez niht gie den toren in diu ougen noch in diu oren. die vernamenz fur ein maere, daz Salomon unwislich wcere zeschriben ode cesagen. waz wolt er des cechlagen, daz er die verte niht erchant, die er da vor het genant? do trouc uns sin vil wiser muont, wieren si im alle gewesen chunt, daz en moht in niht geholfen han.

(185-203)

Der Abschnitt beginnt mit der nochmaligen Betonung der heilsgeschichtlichen Differenz von Salomons wisheit und der höheren Form der Erkenntnis, über die die gegenwärtige, die spirituelle Exegese verfügt. Gerade angesichts dieser Differenz 13

Lange S. 94. 177

wird nun die spezifische Vorbildlichkeit von Salomons wisheit, die lere, die seine Klage in Bispel-Form vermittelt, herausgearbeitet. Salomon hat mit dem Rätselcharakter seiner Rede die wisheit vor den toren verborgen. Seine wisliche Klage (vgl. 192) gilt dem heilsgeschichtlich notwendigen Fragmentcharakter seiner Bispel. Die toren mißverstehen dies als Klage über die unabänderliche Begrenztheit menschlichen Erkenntnisvermögens, sie wenden sich ab. Damit hat Salomon erreicht, was er wollte: Er hat die entscheidenden Fragen vor denen, die nicht die Voraussetzungen zu ihrem Verständnis haben, verborgen; er hat sie weitergegeben an die, die aufgrund ihres fortgeschrittenen heilsgeschichtlichen Standorts den Zeichencharakter der Bilder begreifen, die ihren Sinn entschlüsseln können, die dieser Deutungsprozeß betrifft und denen er nützt. Mit dem Verweis auf die eigentlichen, die heilsgeschichtlich kompetenten Adressaten von Salomons Klage ist die aktuelle Relevanz des Bispels aufgezeigt: uns (vgl. 201,207) gelten Salomons Fragen, uns ist das Heil, von dem die Juden und die toren ausgeschlossen sind, bestimmt, wir sind es, die das Bispel vollenden können und müssen. Mit dieser Bestimmung des aktuellen Verbindlichkeitsanspruchs ist die Ebene erreicht, auf der die doppelte Sentenz, mit der auch dieses Bispel abschließt, formuliert werden kann: niemen sol des haben wan, daz erz umbe sus gesprochen habe. er leit die tumpheit da mit abe, daz er uns diu dinc hat benant, diu mangem tumben sint bechant. diu wisheit weere ce chleine, diu den toren wcere gemeine. (204-210)

Während sich die erste Sentenz noch auf Salomons wisheit bezieht (204-208), verallgemeinert die zweite Sentenz (209f.), Salomons wisheit wird zum Exempel für wisheit generell. Ich fasse den Gehalt beider Sentenzen zusammen, um auf diese Weise bestimmen zu können, was in diesem Bispel wisheit leren bedeutet. Die dabei gewonnenen Ergebnisse sollen mit dem Resultat der Interpretation von >Hahn und Perle< verglichen werden. 1. Salomons Klage macht den Zeichencharakter der Dinge nicht explizit, er benennt die Dinge mit dem Dingnamen, die Schlange als Schlange, den Adler als Adler usw. Dadurch wird die geschichtlich vermittelte Heilsbedeutung der betreffenden Dinge verborgen, sie erscheinen als Dinge, die nichts außer sich selbst bezeichnen und folglich keiner spirituellen Erkenntnis bedürfen. Dies aber ist die falsche Verstehensebene der toren, sie ist falsch, weil sie ahistorisch ist, sie negiert das Handeln Gottes als geschichtliches Handeln und damit auch den geschichtlichen Fortschritt des Erkennens. 2. Kontrastiv dazu lassen sich die Anforderungen an die wisen bestimmen. Sie erkennen den durch Frage und Klagegestus implizit gesetzten Zeichencharakter der Dinge, ihre Deutungsbedürftigkeit ist ihnen bewußt, sie verstehen Salomons Rede als eine Folge bildhafter Fragen, die der Beantwortung bedürfen. Sie begreifen seine Klage als Einsicht in die heilsgeschichtlichen Bedingungen des 178

Erkennens, als notwendig fragmentarisches Bispel, das vom fortgeschrittenen Stand der Zeit der Gnade aus zu vervollständigen ist. Auf diese Weise werden sie sich des geschichtlichen Handelns Gottes und damit des eigenen geschichtlichen Standorts als Bedingung allen Erkennens bewußt. 3. Salomons Klage ist pädagogisch angelegt, sie ist in zweifacher Weise dem Modell der Pädagogik Gottes nachgebildet: (a) Salomon bedient sich bei seiner Klage der Bildersprache so, wie Gott in der Heiligen Schrift zu den Menschen in Bildern gesprochen hat, denn anders hätten sie seine Offenbarung im Wort der Menschen nicht aufnehmen können. Wie der Sinn der göttlichen Offenbarung in der Schrift durch Exegese erschlossen werden muß, so bedürfen auch Salomons Bilder der spirituellen Deutung, wie sie vom heilsgeschichtlichen Stand des Neuen Testaments aus möglich und notwendig wird. (b) Die Auslegung von Salomons Bildern folgt dem geschichtlichen Weg von Gottes Heilshandeln: Sie vollzieht den Prozeß von der vorläufigen Form der Erkenntnis des Alten "Testaments zur höheren Form der Erkenntnis des Neuen Testaments nach. Dies entspricht der »universale(n) Pädagogik« Gottes, wie sie im Heilsplan angelegt ist. »Gott ist der Paidagogos, der die geistlichen Kinder von der Stufe der simplex doctrina auf die Stufe der doctrina perfectorum führen wird, wie er die Menschheit vom Literalismus des Gesetzes zum Spiritualismus des Evangeliums geführt hat. (...) Die Menschheit mußte durch das Stadium des Literalismus hindurchgehen, wie ein Kind der Führung eines Pädagogen bedarf. Bliebe sie bei dem Gesetz stehen, wie die Juden mit ihrer Ablehnung des Evangeliums, würde eine unvollkommene Form der Erkenntnis der vollkommeneren vorgezogen. Mit dem Eintritt Christi in die Geschichte hat sich die Menschheit auf die Stufe der Spiritualität begeben. Die Zeit geistlicher Kindheit ist vorbei.«14 Mit der Nachbildung dieses geschichtlich ausgerichteten Modells göttlicher Pädagogik geht die Bestimmung dessen, was wisheit leren heißt, über >Hahn und Perle< hinaus. Salomons Bispel-Rede provoziert nicht nur Deutungsanstrengung bei denen, die wise sind, sie zeigt - nach dem Vorbild der Pädagogik Gottes - zugleich, daß das Gelingen dieser Deutung von dem heilsgeschichtlichen Standort des Deutenden abhängig ist. Salomons wisheit initiiert Erkenntnis als Einsicht in die geschichtlichen Bedingungen des Erkennens, und das heißt, daß sich der Erkennende damit auch der Geschichtlichkeit der erkannten Sachverhalte bewußt wird. 4. Salomon hat so geklagt, daß der unerkennbare Heilsgehalt der alttestamentarischen Prophetie vor den Juden verborgen blieb, daß sich aber die Christen zur Auslegung, zum Nutzen dieses verborgenen Heils aufgerufen und befähigt sehen. Seine Klage ist also Verhüllung und Deutungsaufforderung zugleich,15 und dadurch unterscheidet sie die Juden und die Christen im Hinblick auf ihren 14 15

Lange S. 102. Zur Abgrenzungsfunktion allegorischen Erzählens vgl. Klaus-Peter Philippi: Parabolisches ErzählenHahn und Perle< als Funktion der lere definiert ist: Sie wird zum Test für das Erkenntnisvermögen, für den moralischen Status der Hörer bzw. Leser des Bispels. Indem sie die lehrt, die wise sind, indem sie die wisheit für die wisen bewahrt, läßt sie erkennen, wer wise und wer tump ist. Damit geht dieses Bispel auch in diesem Punkt über >Hahn und Perle< hinaus: Salomons Bispel-Rede führt nicht nur exemplarisch vor, was lere als gesellschaftskritische Unterscheidung heißt, diese Unterscheidung wird hier so aufgebaut, daß ihr historischer Bezug, ihr heilsgeschichtlicher Definitionsgehalt deutlich werden. 5. Salomons wisheit äußert sich in entsprechendem Handeln, in der wisheit seiner Bispel-Rede. Die lere, die diese Bispel-Rede vermittelt, hat aktuellen Verbindlichkeitsanspruch. Sie richtet sich - wie die Sentenzen zeigen - an uns, an den zeitgenössischen Hörer bzw. Leser des Bispels. Angesprochen sind die wisen, sie sind aufgefordert, sich als wise zu erweisen. Was den wisen als Interpretationsleistung abverlangt wird, ist in diesem Bispel aufgrund der historischen Dimension des Deutungsgeschehens vergleichsweise konkreter zu bestimmen, als es in >Hahn und Perle< möglich war. Der Rahmen für diese Konkretisierung ist mit der programmatischen Folge der vier Bilder und ihrer Auslegung vorgezeichnet. Die Bilder verdeutlichen den geschichtlichen Weg des göttlichen Heilshandelns, sie zielen ab auf das neue Verhältnis, das mit dem Erscheinen Christi zwischen Gott und den Menschen geschaffen ist. Wer wise ist, begreift die Zeit der Gnade als Bedingung der von ihm geforderten Interpretationsleistung: Er erkennt Anspruch und Verpflichtung der neuen Heilszusage Gottes, er wird sich des eigenen Standorts im Heilsgeschehen als eines geschichtlich bedingten bewußt und ist damit fähig, auch die aktuelle Situation auf den göttlichen Heilsplan zu beziehen und damit als eine »geschiehtüche« zu begreifen. Diese Erkenntnis setzt ihn instand, sich so zu verhalten, daß er unter den spezifischen Bedingungen der eigenen Gegenwart das Heil erreicht, daß sich sein Handeln als geschichtlich richtiges Handeln erweist. Sowohl >Hahn und Perle< wie auch >Salomons Weisheit< haben die spezifische Verfahrensweise, Ziel und Funktion des Bispels zum Gegenstand. Beide Bispel ergänzen sich im Hinblick auf die Legitimationshorizonte, vor denen dieses Thema jeweils entwickelt und diskutiert wird. Der Bildteil von >Hahn und Perle< bewegt sich im Bereich des Ordo naturalis, der Ordo naturalis ist Teil der Schöpfungsordnung; der Bildteil von >Salomons Weisheit< entstammt der Heilsgeschichte. Schöpfungsordnung und Heilsgeschichte sind die beiden Wirkungsbereiche des Handelns Gottes, in ihnen hat sich Gott den Menschen offenbart, sie lassen die Normen erkennen, die Gott den Menschen mit seinem Handeln gesetzt hat. In >Hahn und Perle< wird das Konzept von wisheit und wisheit leren anhand der Deutung eines 180

Falls aus dem Bereich des Ordo naturalis entwickelt. Das Programm der lere wird auf diese Weise ontologisch fundiert, die Verbindlichkeit der lere, ihre Verpflichtung zu handlungsmäßiger Realisierung, erhält den absoluten Geltungsanspruch eines Seinsgesetzes. In >Salomons Weisheit< wird das Konzept von wisheit und wisheit leren dagegen geschichtlich abgeleitet und definiert, die ontologische Legitimation der lere wird ergänzt durch ihre Legitimation aus der Perspektive der Heilsgeschichte. Die Normen beider Legitimationsbereiche erweisen sich als analog, das Konzept von wisheit und wisheit leren ist in beiden Bispein in seiner Grundstruktur identisch. Heuristisch bedeutsam erscheint mir jedoch auch der Unterschied, der sich bei der Interpretation der beiden Bispel gezeigt hat: Durch die geschichtliche Dimensionierung des wisheit-Begnfls und des Programms der lere, wie sie >Salomons Weisheit< herausarbeitet, wird die im Bispel vorgeführte Deutungsleistung wie die dem Hörer bzw. Leser abgeforderte Interpretationsaktivität vom geschichtlichen Standort des Deutenden abhängig gemacht. Der geschichtliche Standort des Deutenden findet seine konkreteste Ausformung in der zeitgenössischen Situation. Die lere des Bispels impliziert Handlungsrelevanz, sie beansprucht Verbindlichkeit für die Situation, in der sich der zum diuten Aufgeforderte befindet, diuten ist also eine Tätigkeit, die sich immer auf die aktuelle Situation richtet. Die Handlungsrelevanz der lere enthält folglich stets den Bezug auf die aktuelle Situation. Er kann latent bleiben, wie in >Hahn und PerleSalomons Weisheitweltlichimmanent< angehen können« (S. 27). Christel Meier: Überlegungen zum gegenwärtigen Stand der Allegorie-Forschung. Mit besonderer Berücksichtigung der Mischformen. In: Frühmittelalterliche Studien. Hrsg. von Karl Hauck. Bd. 10. Berlin, New York 1976, S. 1-69.

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in einem thematischen Zusammenhang stehen: In jedem der folgenden Bispel geht es im weiteren oder im engeren Sinne um die Frage standesgemäßen adeligen Verhaltens. (1) An den Anfang stelle ich die Interpretation des Bispels >Der Kater als Freien. Die lere dieses Bispels zielt auf arf-gemäße, und das heißt ordogemäße Selbstdefinition. Vermittelt werden die Konstituenten adäquater Selbsteinschätzung, das Verhältnis von art, tugent und edelkeit im Sinne eines normativen Folgerungszusammenhangs. Was in diesem Bispel entwikkelt wird, hat allgemeine, ständeübergreifende Bedeutung, es zeigt den Grundriß, auf den sich die Definition standesspezifischen und damit auch standesgemäßen adeligen Verhaltens beziehen muß. (2) Diesem »Rahmen«-Bispel soll die Interpretation des Bispels >Der Weidemann< folgen. Auch hier geht es um den Zusammenhang von art, tugent und edelkeit, nun aber standesspezifisch ausformuliert: Gegenstand dieses Bispels sind die Konstituenten arf-gemäßen adeligen Verhaltens sowie - und hier ist die Perspektive gegenüber dem >Kater als Freien weiter gefaßt - die Konstituenten einer angemessenen Wertschätzung solchen art-gemäßen Verhaltens durch die Gesellschaft. (3) Das dritte ausgewählte Bispel, >Der Juden AbgottWeidemann< an: Auch hier geht es um die angemessene Wertschätzung eines adeligen Herren, der sich arf-gemäß verhält, nun aber konkretisiert an der Gestaltung eines Dienstverhältnisses. (4) Als viertes und letztes Bispel sollen >Die Gäuhühner< behandelt werden. In diesem Bispel wird das Problem standesgemäßen adeligen Verhaltens vergleichsweise am konkretesten diskutiert. Es geht um unrechtmäßigen Burgenbau als Symptom unrechtmäßiger Herrschaft und um deren rechtsgemäße Zerstörung. Was als unrechtmäßige Herrschaft zu verstehen und wie mit ihr zu verfahren ist, wird bestimmt mit Hilfe zeitgenössischer Gesetzgebung, mit Hilfe der im 13. Jahrhundert vom österreichischen Landesherren erlassenen Landfriedensordnungen.

6.2 Zur Funktion des Bispels: Die Handlungsrelevanz der lere und der ihr immanente Aktualitätsbezug 6.2 1 >Der Kater als Freier< Ich beginne mit der Interpretation des Bispels >Der Kater als FreierDer Weidemann< Während im >Kater als Freien das Recht der art als allgemeines Seinsgesetz entwickelt und begründet wird, ist dieses allgemeine Gesetz im >WeidemannKater als FreierKater als Freier< wurde die Kongruenz von art, art-gemäßem Verhalten und beanspruchtem sozialen Rang als Seinsgesetz formuliert. Diese seinsgesetzliche Kongruenz umfaßt nun auch die Wertschätzung durch die Gesellschaft: Im angemessenen lobe der werlde wird mit naturgesetzlicher Notwendigkeit nach vollzogen, was ari-gemäß und damit rechtsgemäß ist. 193

Die Metapher einer Abkunft vom Geschlecht der ere zielt auf das bereits aus der >Frauenehre< und dem >Daniel< bekannte Prinzip adeliger Wertbewährung.20 Der Anspruch, der dem Adel als Stand zukommt, muß sich in entsprechendem Wertbewußtsein und Handeln realisieren. Nur dann, wenn ständischer Geltungsanspruch, Wertbewußtsein und Handeln deckungsgleich sind, besteht dieser Anspruch zu Recht. In dem hier vorliegenden Argumentationszusammenhang wird das Prinzip der Wertbewährung ontologisch abgesichert. Wertbewährung zum Gesetz des Handelns zu machen, bedeutet, das arf-Gesetz adeliger Standeszugehörigkeit zu verwirklichen. Nur wer sich gemäß dem art-Gesetz der ere verhält, realisiert die Ordo-Bestimmung seines Standes, denn got und ere zu minnen (vgl. 97), ist für ihn nicht mehr von außen gesetztes, fremdes Handlungsziel. Er hat dieses Ziel zu seinem Lebensentwurf gemacht, und indem er gemäß dem Prinzip der Wertbewährung lebt, vollzieht er Ordo. die dinch sint beide an den gesehen, der got und ere minnet. swaz er immer gewinnet, daz zert er umb ir beider gunst. der hat den lip und die chunst gemachet uf ir beider vart. (96-101)

Ein solches Verhalten stiftet zwischen dem einzelnen und der Gesellschaft ein Verhältnis sozial konstruktiver Wechselseitigkeit. Der, der von der art der ere ist, verhält sich ordogemäß, mit der Beständigkeit seines ordogemäßen Verhaltens initiiert er ordogemäße Wertsetzung durch die Gesellschaft und umgekehrt, ere wird damit zu einem Prozeß, in dem sich die Bedingungen des gesellschaftlichen Soll-Zustands herstellen: In der Wechselseitigkeit des Handelns werden die Werte als gemeinsame bewußt gemacht und gemeinsam realisiert. sin tugent und sin edeleu art, die machent in so gitick ze iagen und also stritik, swie vil man im eren giht, der wil in doch genügen niht. er tut sam der edel hunt: so der machet ungesunt zweinzick hirzse oder me, so iagte er gerner danne e. ALSO tut der biderbe man, dem lobes niht genügen kan.

(102-112)

Was im ersten Schritt der Auslegung mit Hilfe des arf-Gesetzes entwickelt wird, hat normativen Anspruch, es ist ein Erkenntnis- und Interpretationsmuster, dessen Fähigkeit nun an einem konkreten Fall demonstriert wird. Dieser zweite Schritt der Auslegung (113-137) knüpft wiederum am Bildteil an, er greift auf die dort berichtete Situation zurück, in der die Dorfköter kurzfristig die Führung bei der Verfolgung des Hirschs übernehmen. Vorgestellt wird folgender Fall: Ein Ritter 20

Vgl. S.24ff., 54ff.

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verhält sich ere-gemäß, er vertut tage und gut ritterlich (vgl. 113f.), das heißt er lebt standesgemäß, er veräußert seinen Besitz in höfischer Repräsentation, im Gestus der milte, im Almosen-Geben usw. Neben diesem Ritter existiert ein zwitarn (vgl. 116). Wie die Dorfköter einen Moment lang dem Hirsch näher waren als die Jagdhunde, so gelingt es auch dem zwitarn, durch demonstratives ere-Gebaren den ritterlich lebenden Ritter kurzfristig auszustechen. Und nun wird das zuvor entwickelte Muster, das Zusammenspiel vom Handeln des einzelnen und dem lobe der Gesellschaft gemäß dem arf-Gesetz der ere, zur Geltung gebracht: Wer diesem Trugbild, das ebenso rasch, wie es entsteht, wieder verschwindet, aufsitzt und unbedenklich den zwitarn lobt, der beweist vil tumplichen sin (vgl. 120). Ein solch apodiktisches Urteil kann nur der fällen, der über die Kriterien rechten lobens verfügt. Damit ist der Moment im Vorgang der Auslegung erreicht, an dem der Autor in der Ich-Rolle erneut in Erscheinung tritt, jetzt sehr viel entschiedener als das erste Mal. Swer alle zit mit eren lebet und alle zit nach eren strebet, den lob ich vor in allen (121-123)

Die Geltung, die dieses Urteil beansprucht, wird nun begründet, die Begründung ist so angelegt, daß sie modellhaft die Bedeutung des art-Gesetzes zur Geltung bringt. Wie die Dorfköter so ist auch der zwitarn von der halben art (vgl. 38). Die Unzulänglichkeit seiner art zeigt sich in seinem Verhalten, symptomatisch für das Verhalten ist der Umgang mit guot. Während für den ritterlich lebenden Ritter guot - so, wie es sein soll - nur Mittel zum Zweck standesgemäßer Lebensführung ist, schätzt der zwitarn das guot um seiner selbst willen: Er hat seinen Besitz durch Wucher erworben und läßt auch jetzt nicht von dieser Methode, sein Vermögen zu vermehren, ab. Wie andere Texte des Strickers belegen, wird Wucher nicht nur als Verkehrung der ordogemäßen Funktionsbestimmung von guot, sondern auch als extreme Verfehlung der Normen adeligen Verhaltens verstanden, weil er das Prinzip der ethischen Legitimation des Handelns und damit das Postulat adeliger Wertbewährung negiert.21 Wenn also der zwitarn im Gegensatz zu dem ari-gemäß lebenden Ritter durch die Praktik des Wuchers charakterisiert wird, dann ist damit ein Verhalten gemeint, das dem ari-Gesetz der ere diametral entgegengesetzt ist. Wer sein Vermögen durch Wucher vermehrt - so lehrt die Schlußfolgerung vom Handeln auf das Sein - , ist nicht von der art der ere, sein ere-Gebaren kann nur ein kurzlebiges Täuschungsmanöver sein, das zu durchschauen und zur Geltung zu bringen die Aufgabe der /op-Verweigerung ist. Um dies kenntlich zu machen, werden die beiden zentralen Elemente des Bildteils, die Ausdauer der Jagdhunde und der nur kurzfristig funktionierende Jagdinstinkt der Dorfköter, in neuer metaphorischer Bedeutung eingesetzt: Das ere-Gebaren des zwitarn äußert sich jäh und ungestüm, nach kurzer Zeit ist es wieder verschwunden (vgl. 116f., 125,129ff.), und ebenso kurz wird auch sein lop 21

Zur Thematisierung von Wucher vgl. >Der MarktdiebDes Teufels Ammen«, >Der Wucherer«. Siehe dazu auch Ragotzky, Thematisierung von guot.

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sein (vgl. 132). Diese Entsprechung von kurzlebigem ere-Gebaren und kurzem lobe stellt sich gewissermaßen von selbst her: Auch wenn einer den zwitarn ohne Unterlaß preist, so ist sein langes lop doch kurz, denn es wird von niemandem ernst genommen. SWER beide lange und vil den selben zwitarn loben wil niht me wan durch den einen schal, daz lop wirt schire so smal, ezn füllet niemen sin oren. (133-137)

Die Begründung dieser Behauptung leistet der dritte und letzte Schritt der Auslegung (138-158), er knüpft an den letzten Erzählabschnitt des Bildteils, an das törichte lop, mit dem die Bauern auf das Verhalten der Dorfköter reagieren, an. Der dritte Schritt der Deutung beginnt damit, daß sich der Autor erneut in der IchForm äußert, der Autoritätsanspruch der Rede ist gegenüber den beiden vorhergehenden Äußerungen weiter gesteigert: Der Autor spricht nun als der, der berechtigt ist, über richtiges und falsches lop zu befinden, der zu richtigem lobe als Medium der Herstellung von Recht verpflichten kann. ich erloube wol den toren, daz sie die zwitaren loben, hat man daz schire vur ein toben, daz zimt dem lober wol und ienem, dem daz lop sol. (138-142)

Dieser Autoritätsanspruch macht zugleich deutlich, woher der Autor seine Legitimation bezieht. Das lop des zwitarn ist toren lop. Der Autor erhübet den toren, den zwitarn zu loben, weil sie sich auf diese Weise zu erkennen geben, sie geben sich zu erkennen durch die Art ihres lobes, lop ist ein Rechtsakt, ein Vorgang, in dem sich Öffentlichkeit herstellt. Im lärmenden lobe des zwitarn entsteht ein Zerrbild normativer Öffentlichkeit. Es ist die »Öffentlichkeit« derer, die aufgrund ihrer gestörten Identität ihren Rechtsstatus und damit ihre Geltung als soziale Person verwirkt haben, es ist die »Öffentlichkeit« der toren. Ihr lop hat keinen Rechtsanspruch, es basiert auf Trugbildern; solche Hirngespinste aber gelten nur da, wo die Regeln der Intersubjektivität außer Kraft gesetzt sind, da heim bi der glut (vgl. 144). daz selbe lop ist ninder gut wan da heim bi der glut. do leit der toren lop wol obe, gelich der gebauren lobe, die ir hofwarten iahen, die si unverre laufen sahen; ez waren die besten hunde, die ieman vinden chunde. (143-150)

Kontrastiv zu diesem Zerrbild wird nun der Soll-Zustand von Öffentlichkeit entwickelt, es ist der Bereich, in dem das lop der wisen gilt, ihr lop wird zumMuster richtigen lobens. Während das kurzlebige toren lop des zwitarn beim trüben Schein der heimischen Glut verglimmt, ist das lop derer, die ihr Verhalten beständig an der 196

ere orientieren, dauerhaft. Es ist dauerhaft, weil es sich durch den hellen Glanz, der von der stete der steten ausgeht, stets erneuert. Und dieser Glanz ist nicht von außen aufgesetzt, er ist nicht das Resultat voreiligen, falschen lobes. Es ist der Glanz, den die, die von der art der ere sind, ausstrahlen, und damit ist es zugleich der Glanz, der auf diese edelen durch die Wertschätzung der Gesellschaft fällt, es ist das Licht, das ausgeht vom Feuer der ere. Ich gan des wol den wisen, daz si die stete prisen. der steten lop sol stete sin in steter fügende lihter schin; des leuchtet von den eren feuwer.

(151-155)

Mit der sprachlichen Fügung, daß der steten lop stete sein soll, kommt die Auslegung des ausdauernden Verhaltens der Jagdhunde an ihr Ziel. Der Deutungsprozeß ist so weit vorangetrieben, daß sich die postulierte Deckungsgleichheit der stete eregemäßen Handelns und der stete gesellschaftlich zuerkannter ere nun auch sprachlich abbilden kann. Die sprachliche Fügung wird zur Formel für das Zusammenwirken von einzelnem und Gesellschaft im Sinne normativer Öffentlichkeit, zur Formel, die die ordogemäße Verfassung der Gesellschaft bezeichnet. Die Deutungsleistung ist in diesem Bispel entschiedener als in den zuvor interpretierten Bispein als Leistung des Autors ausgewiesen. Er ist es, der die Anforderungen identifiziert, die die art der ere an den einzelnen wie an die Gesellschaft stellt; er ist fähig, diese Anforderungen auf die Beurteilung eines konkreten Falls anzuwenden, er führt mit seinen Äußerungen in der Ich-Rolle vor, wie einer zu urteilen hat, der zu den wisen gehört, der wise loben kann. Insofern erscheint es konsequent, wenn abschließend gerade die kunst als die Instanz genannt wird, die die Bedingungen wises lobes bewußt macht, indem sie selbst vorführt, was wisez lop bedeutet. 22 man sol in geben zu steuwer gantzes lop von offlicher kunst und aller rechten leute gunst.

(156-158)

Die beiden Sentenzen (153ff., 156ff.), mit denen auch in diesem Bispel die Auslegung abschließt, fassen zusammen, was die Äußerungen des Autors vorbereitet haben. Die Aussage ist legitimiert durch die Instanz der wisen, sie wendet sich an alle rechten leute. Beide Sentenzen sind als Soll-Sätze formuliert, sind Handlungsaufforderung. Was bedeutet diese postulierte Handlungsrelevanz, worin besteht der Aktualitätsbezug der lere in diesem Bispel? Im Gegensatz zum toren lop hat das lop der wisen die Verbindlichkeit eines Rechtsspruchs. Ziel dieses Rechtsakts ist es, die, die von der art der ere sind, von den zwitarn zu unterscheiden und damit die, die zu Recht dem Adel angehören, und die, die diese Standeszugehörigkeit zu Unrecht beanspruchen, öffentlich 22

Noch prägnanter als hier wird in dem Bispel >Die Herren zu Österreich die Kunst als die Instanz ausgewiesen, die durch den Rechtsakt von lobe und schelte die wisen von den toren unterscheidet.

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kenntlich zu machen. Ein solcher Rechtsakt hat entscheidende Bedeutung, denn er betrifft konkrete, zeitgenössisch brisante Problemstellungen ebenso wie die allgemeine Frage nach der sozial-ethischen Verfassung der Gesellschaft. Ich beginne mit dem Aktualitätsbezug der lere. Der Fall des zwitarn, der von der halben art ist und Wucher betreibt, hat in der Auslegung die Funktion eines konkreten Beispiels: Er wird angeführt, um die Erkenntnis- und Interpretationsleistung des arf-Gesetzes der ere zu verdeutlichen. Der Demonstrationswert des zwitarn beruht darauf, daß in diese Figur unmittelbar zeitgenössische Erfahrung eingeht. Gegen die rechtlich fixierte Bestimmung, die ritterliche Lebensweise nur dem erlaubt, der ritterbürtig ist, dringen auch in Österreich in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts eine ganze Anzahl von ignobiles in den Ritterstand ein. Meist sind es Bauern, die durch Lockerung der strengen Formen der Leibeigenschaft und bessere Absatzmöglichkeiten in den Städten so vermögend geworden sind, daß sie ein ritterliches Lehen erwerben können.23 Ob bei solchem Überschreiten der Standesgrenzen auch Gewinn durch Wucher eine Rolle gespielt hat, ist nicht belegt. Wichtiger ist jedoch, daß das Phänomen des Wuchers um die Mitte des 13. Jahrhunderts zunehmend an gesellschaftspolitischer Brisanz gewinnt. So erscheinen ζ. B. 1236 und 1273 päpstliche Dekretalien, die die praktische Ausgestaltung der Wuchergesetze betreffen. 24 Den beiden genannten gesellschaftlichen Problemstellungen, der verstärkten vertikalen Mobilität wie der Intensivierung der WucherDiskussion, ist gemeinsam, daß sie als schwerwiegende Verletzung von Ordo verstanden werden.25 Gerade die Verknüpfung dieser beiden negativ besetzten Erfahrungsmomente macht den Demonstrationswert des zwitarn aus, er zeigt den Aktualitätsbezug der lere dieses Bispels. Die lere selbst jedoch umfaßt sehr viel mehr: Sie zielt darauf ab, das arf-Gesetz der ere als Verpflichtungsanspruch adeliger Standeszugehörigkeit, als Voraussetzung für die Realisierung einer ordogemäßen Verfassung der Gesellschaft kenntlich zu machen. Die Handlungsrelevanz dieser lere manifestiert sich im Rechtsakt wisen lobens. wise ist, wer im Rechtsakt des lobens die gesellschaftskritische Unterscheidung, zu der das Bispel auffordert, verwirklichen kann. Bedingung dafür ist die Kenntnis des arf-Gesetzes der ere und damit das Wissen um die Anforderungen normativer Öffentlichkeit, um die Bedingungen des gesellschaftlichen Soll-Zustands. Nur wer über diesen Deutungs23

24

25

Vgl. dazu Josef Fleckenstein: Zur Frage der Abgrenzung von Bauer und Ritter. In: Wort und Begriff »Bauer«. Hrsg. von Reinhard Wenskus u.a. Göttingen 1975 (Abh. Akad. Göttingen, phil.-hist. Kl. III, 89), S. 246-253, hier S.249ff. Vgl. dazu Max Neumann: Geschichte des Wuchers in Deutschland bis zur Begründung der heutigen Zinsgesetze (1654). Halle 1865; Karl Lessei: Die Entwicklungsgeschichte der kanonistisch-scholastischen Wucherlehre im 13. Jahrhundert. Diss. Luxemburg 1905. Dies dokumentiert sich in vielfältiger Weise in der Literatur des 13. Jahrhunderts insgesamt. Zum Problem des Überspringens der Standesgrenze zwischen Bauern und Rittern vgl. u.a.: Freidank 122,1 Iff.; Hugo von Trimberg >Der Rennen (ed. Ehrismann) 1565ff.; >Das Buch der Rügen< (ed. Karajan) 1508ff.; >HelmbrechtSeifried Helbling< (ed. Seemüller) VIII 294ff.; Ottokars österreichische Reimchronik< (ed. Seemüller) 17340ff., 26173ff. Zum Phänomen des Wuchers vgl. u.a.: Freidank 27,Iff.; >Renner< 4367ff., 7727ff.; Berthold von Regensburg (ed. Pfeiffer) I, 16,20ff.; I, 243,26ff.; I, 271,21ff.

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rahmen verfügt, kann die eigene Gegenwart erkennen und interpretieren, kann die geforderte gesellschaftskritische Unterscheidung leisten. Ich fasse die wichtigsten Ergebnisse der Interpretation des >Weidemann< zusammen: 1. Das Bispel arbeitet mit der fundamentalen Geltung des arf-Gesetzes, die Verbindlichkeit dieses Gesetzes wird standesspezifisch für den Adel, als artGesetz der ere, ausformuliert. Durch das ari-Gesetz der ere wird der Verpflichtungsanspruch adeliger Standeszugehörigkeit ontologisch fundiert: Das Postulat adeliger Wertbewährung erhält den Charakter naturgesetzlich notwendigen Handelns, es erscheint als genetische Determination. 2. Das ari-Gesetz der ere betrifft nicht nur das Handeln des einzelnen, es umfaßt auch die Wertschätzung, mit der die Gesellschaft auf das Handeln des einzelnen reagiert. Beide Prozesse sind so dargestellt, daß sie die Bedingungen einer ordogemäßen Verfassung der Gesellschaft bezeichnen. 3. Das arf-Gesetz der ere wird am Fall des zwitarn exemplifiziert. Dieser Fall hat aktuelle politische und soziale Relevanz, er verdeutlicht den Aktualitätsbezug der lere. 4. Die lere des Bispels beansprucht Handlungsrelevanz, was damit gemeint ist, führt der Autor im Rechtsakt wisen lobens vor: wise ist, wer das arf-Gesetz der ere zum Erkennen und Deuten der eigenen Gegenwart einsetzen kann, wise zu loben heißt, im Rechtsakt des lobens aktuelle Probleme ordogemäß zu beurteilen und dies handelnd zur Geltung zu bringen.

6.2 3 >Der Juden Abgott< Auch in dem nächsten Bispel, >Der Juden Abgott^ 26 geht es um standesgemäßes adeliges Verhalten, nun konkretisiert am Problem der richtigen Gestaltung eines Dienstverhältnisses. Auch in diesem Bispel arbeitet die Auslegung mit dem arfGesetz der ere, auch hier äußert sich der Autor in der Ich-Form und weist damit die Auslegung als seine Leistung aus. Für die Ableitung der Deutungskompetenz des Autors hat das arf-Gesetz der ere jedoch nur verstärkende Funktion, vorrangig handelt es sich hier um eine Erkenntnis- und Interpretationsfähigkeit, die aus dem richtigen Anschauen der Geschichte resultiert. Der Autor spricht und urteilt als der, der aus dem Verlauf des Geschichtsprozesses die Normen ordogemäßen Handelns in der gegenwärtigen Situation erkennen und vorführen kann; es ist die richtige Interpretation der Geschichte, die ihn zur ordogemäßen Interpretation der Gegenwart befähigt. Dieser - verglichen mit dem >Kater als Freier< und dem > Weidemann< - anders begründete Anspruch auf Deutungskompetenz geht auf den Bildteil des Bispels zurück. Der Bildteil (1-38) in >Der Juden Abgott< hat bereits spezifisch geschichtliche Qualität, er identifiziert die Normen eines Dienstverhält26

Zitiert nach: Moelleken 2. 199

nisses anhand des Alten Bundes, am heilsgeschichtlichen Beispiel des Vertragsbruchs der Juden. 2 7 Im Gegensatz zu den Heiden hat Gott an den Juden vilgnaden (vgl. 3) bewiesen, indem er mit ihnen ein Bündnis einging, dessen Verpflichtungen in den durch Moses übermittelten Geboten kodifiziert waren. Mit diesem Angebot gab sich Gott dem auserwählten Volk zu erkennen, die Juden konnten seine Qualität als herr dieses Dienstverhältnisses ermessen: Ihnen wurde gewährt, was sie sich wünschten, sie nahmen die Zeichen von Gottes hulde wahr, und sie verstanden sie als Zeichen der hulde, dennoch aber brachen sie den Bund, indem sie den Spender dieser Wohltaten verwechselten. Sie beteten das Goldene Kalb an, sie ließen sich blenden durch das Gold, sie huldigten dem Abgott, dem, der gar nicht fähig ist zu spenden. Mit der Huldigung des Abgotts machten sich die Juden abhängig vom Trugbild eines Herren, sie meinten, da ere zu finden, wo es keine gab, sie verloren alle ir ere (vgl. 34), und indem sie ihren wahren herren verkannten und ihm abtrünnig wurden, verwirkten sie auch ihr Seelenheil. Die Auslegung (39-134) vollzieht sich in drei Schritten. Sie beginnt - ohne die sonst übliche Erläuterung der Zuordnung im Vorgang des gelichens - unmittelbar mit der Identifikation derer, die sich gegenwärtig wie die Juden verhalten. Der Aktualität dieses Identifikationsprozesses entspricht der direkte Bezug auf das intendierte Publikum: Was in der nun folgenden Auslegung geschieht, ist bestimmt für die, die an einer solchen gesellschaftskritischen Unterscheidung interessiert sind. Kenntlich werden sollen die, φ ε sich-wie die Juden - einem guten herren (vgl. 44) zu Dienst verpflichtet haben, die diesen herren aber, obgleich er - wie Gott seinen Teil der Dienstverpflichtungen vorbildlich erfüllt, verkennen und verlassen. man vindet noch der Hut vil - der si vinden und wizzen wil -, die ir herren verchiesent und ouch dar an verliesent. daz ist ein ieglich tumber man, dem got eins guten herren gan, der in minnet und eret und im zegut cheret beide helf und rat, und er daz gar vemiht hat, swaz im sin herre zegut tut. (39-49)

Wer so handelt, beweist tumben mut (vgl. 50, 53). Worin diese tumpheit besteht, zeigt die Rede, mit der der tumbe seinen Entschluß, seinen herren zu verlassen, begründet. Die Art der Argumentation erinnert an den >Kater als FreierDie wandelbaren JudenWeidemann< - eine Figur, an der sich die Fähigkeit der Werterkenntnis in besonderer Weise bewähren muß. Ich greife dazu auf den Bildteil zurück. Verglichen mit dem heidnischen Götzenbild ist Gott der »arme« herre, sein gwi-Sein manifestiert sich nicht in äußerem Goldglanz, er ist - und dadurch grenzen sich die Juden von den heidnischen Religionen ab - der unsichtbare Gott, der an den Werken seiner hulde erkannt werden muß. Wie die Erkenntnis der guete des unsichtbaren Gottes, so setzt auch die Erkenntnis der guete des armen Herren gut ein entsprechendes Vermögen voraus. Gerade weil das Erscheinungsbild des armen Herren gut die erwartete Entsprechung von standesgemäßem Besitz und standesspezifischem Wertbewußtsein nicht einlöst, wird diese Figur zum Testfall der Werterkenntnis. Sie ist dazu um so mehr geeignet, als sich wie im Fall des zwitarn - auch hier zeitgenössische Erfahrung festmachen kann. Wenn der zwitarn das Eindringen von reichgewordenen Nichtadeligen in den Ritterstand bezeichnet, so ist mit dem unzulänglichen Status des armen Herren gut der parallele Vorgang, die Verarmung und Verschuldung ehemals wohlhabender Adelsfamilien, angesprochen.28 Wie der zwitarn im >WeidemannKater als Freier< und im >Weidemann< vom Gesetz der art bzw. vom arf-Gesetz der ere abgeleitet sind, werden sie hier aus einer beispielhaften Phase der Heilsgeschichte entwickelt. 2. Dieses geschichtlich bestimmte Muster vorbildlichen Dienstherrenverhaltens wird bestätigt durch das arf-Gesetz der ere: Es dient dazu, die Ordo-Bedeutung der aus der Geschichte abgeleiteten Normen zu erklären, die Normen des 28

Vgl. dazu Fleckenstein (s. S. 198 Anm. 23) S. 250ff.

204

heilsgeschichtlichen und des ontologischen Anschauungsbereichs erweisen sich dabei als analog. 3. Die Deutungsbefähigung, die aus dem souveränen Umgang mit den Normen beider Anschauungsbereiche erwächst, wird erkennbar an der richtigen Einschätzung des armen herren gut. Wie dem Fall des zwitarn, so kommt auch diesem Fall unmittelbare politische und soziale Bedeutung zu, er bezeichnet den Aktualitätsbezug der lere. 4. Die Handlungsrelevanz, die die lere dieses Bispels beansprucht, verwirklicht sich als rechtmäßige Verurteilung rechtsbrecherischen Verkennens eines vorbildhaften Dienstherren, wise ist, wer die Wertqualität eines armen herren gut erkennen und die damit verbundene Unterscheidung zwischen wisen und torenhaften Dienstleuten leisten kann. Er ist wise, weil er sich ebenso verhält, wie es Gott gegenüber den Juden in der heilsgeschichtlichen Phase des Alten Bundes getan hat. Seine wisheit besteht - wie der Autor mit der Rechtfertigung der eigenen Deutungskompetenz vorführt - darin, daß er aus dem Geschichtsprozeß die Normen des Erkennens und Handelns ablesen kann, die Gott den Menschen durch sein eigenes Handeln gesetzt hat, es sind die Normen, die die Seinsordnung der Schöpfung bestätigen.

6.2 4 >Die Gäuhühner< Als letzter Text in dieser Reihe sollen >Die GäuhühnerDer Juden Abgott< und >Die Gäuhühner< - wird sowohl unter heilsgeschichtlicher wie unter ontologischer Perspektive gedeutet und legitimiert. Worauf zielt in diesem Bispel die lere, wie ist ihr Aktualitätsbezug zu bestimmen? 29 30

Zitiert nach: Mettke, Fabeln und Mären. >Die Gäuhühner< sind das Bispel des Strickers, das - wohl wegen der vergleichsweise äußerst konkreten Bezüge auf die zeitgenössische Situation - die meiste Aufmerksamkeit in der Forschung gefunden hat. Die letzte Interpretation stammt von Joachim Bumke. Sie ist als kritische Überprüfung des oft allzu rasch rekonstruierten sozialgeschichtlichen Bedeutungsgehalts der zentralen Begriffe wiegöu, göuhuon usw. angelegt, und sie tut dies so sorgfältig und historisch fundiert, daß mir eine erneute detaillierte Auseinandersetzung mit der Forschung überflüssig erscheint. Aus dem gleichen Grund erspare ich es mir, das betreffende Quellen- und Belegmaterial noch einmal auszubreiten. Ebenso verzichte ich auf eine möglichst umfassende Dokumentation der - inzwischen sehr breiten - historischen Forschungsliteratur, die sich mit den Landfrieden und dem Territorialisierungsprozeß in Österreich befaßt. Beides hat Bumke in seiner Interpretation geleistet, in beiden Fällen verweise ich auf ihn. Dementsprechend dokumentiere ich in meiner eigenen Interpretation nur da, wo sich meine Deutung von der Bumkes unterscheidet bzw. wo ich versuche, weiterreichende Thesen zu formulieren.

205

Ich beginne mit der Darstellung des Bildteils (1-26), er setzt an in einer mythischen Vergangenheit: Ez was hie vor ein burcstat, diu machte manigen ritter mat.

(If.)

Die Geschichte dieser burcstat, die schon so manchen an den Ruin gebracht hat, beginnt mit einem Ritter, der als erster versuchte, dort eine Burg zu erbauen. Er begann mit der Errichtung der Burg, doch die burcstat setzte sich zur Wehr, Erdbeben und Blitze vernichteten die Burg. Trotz dieser Erfahrung aber ließ der Ritter von seinem Vorhaben nicht ab. Immer wieder begann er dort zu bauen, j edes Mal plante er die Burg schöner und besser, aber stets erwies sich die burcstat durch die ihr innewohnenden magischen Kräfte als stärker. Der Ritter verlor in diesem Kampf seinen gesamten Besitz, und nicht nur er scheiterte, auch andere versuchten, die burcstat zu bezwingen und erlitten das gleiche Schicksal. Die Erzählung endet in der Gegenwart. Der strit dauert an (vgl. 24), auch heute - hier und jetzt im Augenblick des Erzählens - gibt es eine ganze Reihe von Rittern, die ihre Kräfte an der burcstat messen, und noch immer ist sie Sieger geblieben. Der strit, von dem der Bildteil erzählt, bezeichnet also einen aktuellen Konflikt, er enthält ein ganz bestimmtes Problem, ganz bestimmte Kontrahenten stehen einander gegenüber. Er muß von der gegenwärtigen Situation aus erkannt und gedeutet werden. nü habent genuoge den strit daz sie dar üf bouwent noch, und erwert sie sich in allen doch.

(24-26)

Die Auslegung des Bildteils (27-166) vollzieht sich in vier Schritten, der erste Schritt (27-58) beginnt, gemäß der Aktualität des geschilderten Konflikts, mit dem Stichwort des befcanf-Machens. Der Autor äußert sich als der, der sich im Zeitgeschehen auskennt, er wendet sich an ein zeitgenössisches Publikum, er beginnt mit dem Prozeß des gelichens. geliehen bedeutet hier, daß der Sachverhalt, den der Bildteil erzählt, im Sinne seiner aktuellen Entsprechung identifiziert wird. Diu stat lät iu sin bekant: si ist daz göuwe genant, die des geniezen wolden fürbaz danne si solden und dar üf bouweten veste und der ie wurden geste, der ist gewesen harte vil. swer üf daz göuwe zimbem wil, der hät vil schiere bejaget daz man zeallen ziten klaget dem landesherren über in. zejungist sendet er dä hin und heizet daz hüs brechen, sus kan sich daz göu rechen, dä ist des herren gewalt zuo der ertpibe gezalt. 206

der herre schadet noch fiirbaz: diu ertpibe leibet etewaz, so enleibent des hirren boten niht; daz beste daz von in geschiht, so sie daz göuwe rechent, ob sie daz hüs niht brechent, so wirt ez doch von in verbrant. daz hat der doner dar gesant, daz fiuwer daz also rihtet und die krumben voite slihtet. daz göu hät so gröze kraft, an im wirt nieman sigehaft. ez pflac ie des ez iemer pfliget daz ez in allen angesiget, die ez niezen wellent äne reht, ez st ritter oder kneht. (27-58)

Anders als in den zuvor behandelten Bispein ist in diesem Fall der Aktualitätsbezug des Deutungsprozesses von Anfang an explizit gemacht. Deuten heißt in diesem Bispel, den Sinn des Bildteils zugleich allgemein wie historisch konkret zu entschlüsseln, ihn öffentlich namhaft bzw. bekantza machen: Die burcstat bezeichnet das göuwe. Der Begriff göuwe meint hier, wie die weiteren Entsprechungen, die hergestellt werden, erkennen lassen, den Bereich, auf den sich die Herrschaftsgewalt einer Burg erstreckt. 31 Die unbelehrbaren Ritter, die immer von neuem den Versuch machen, die burcstat zu bezwingen, werden als krumbe voite (vgl. 52) identifiziert. Sie versuchen, mit »krummen Touren« das Recht zu umgehen, 32 sie errichten eine Burg, ohne dazu berechtigt zu sein, sie wollen das göuwe niezen äne reht (vgl. 57). Das Unrecht der krumben voite löst klage aus, die gerichtliche Instanz, an die sich die klage wendet, ist der Landesherr. Er schickt seine boten (vgl. 45), ihr Handeln wird mit der magischen Gewalt, die der burgstat innewohnt, gleichgesetzt: Das Erdbeben entspricht dem Rechtsakt des Burgenbrechens, der Blitz dem Feuer, mit dem die Burg niedergebrannt wird. Durch die Zerstörung der Burg wird das unrechtmäßige Handeln der krumben voite bestraft, die krumben voite werden geslihtet (vgl. 52), man kommt ihren »krummen Touren« auf die Schliche, sie werden »gerade gerichtet«, Recht stellt sich wieder her. Mit diesen Zuordnungen ist ein Rechtstatbestand skizziert, der ein aktuelles Problem betrifft: In den Österreichischen Landfrieden wird Burgenbau von der Genehmigung des Landesherren abhängig gemacht. Eine Burg, die ohne seine Zustimmung erbaut wird, ist ein Unrecht, aufgrund dessen Klage beim Landesher31

32

Zur Bedeutung von göuwe vgl. Bumke S. 215f. Zum Begriff »Gäuveste« vgl. Max Weltin: Das österreichische Landrecht des 13. Jahrhunderts im Spiegel der Verfassungsentwicklung. In: Recht und Schrift im Mittelalter. Hrsg. vom Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche Geschichte. Sigmaringen, München 1977 (Vorträge und Forschungen 23), S. 381-424, hier S. 413ff. Was krump hier meint, verdeutlicht am besten die halb verdeckt, halb offen rechtswidrige Taktik, die die falschen Ratgeber ihrem Herren zur Ausweitung seines Herrschaftsbereichs empfehlen.

207

ren zu führen ist. Auf seine Veranlassung wird eine solche Burg dann gebrochen bzw. niedergebrannt. 33 Diese zeitgenössische Rechtsrealität wird durch die Auslegung in doppelter Weise legitimierend gedeutet. Der Rechtsakt des Burgenbrechens erscheint als ein Vorgang, der mit gleichsam naturgesetzlicher Notwendigkeit abläuft. D i e Rechtsordnung, wie sie in den Landfrieden fixiert ist, ist dem Lande immanent wie das Erdbeben, sie setzt sich durch mit der Naturgewalt eines Gewitters, es gibt nichts, was einem solchen elementaren Geschehen Einhalt gebieten könnte. Naturkatastrophen wie Erdbeben, Blitz und Donner assoziieren zugleich das Geschehen der Apokalypse. Sie kündigen die Zerstörung der Herrschaft des Antichrist und den Beginn des Jüngsten Gerichts an, sie bezeichnen den nahe bevorstehenden Zustand ewiger Gerechtigkeit, das Reich Gottes. 3 4 Mit diesen beiden Legitimationsbezügen ist der Horizont skizziert, vor dem ein konkretes Beispiel unrechtmäßiger Herrschaft dargestellt und verstanden werden muß. Ziel des zweiten Schritts der Auslegung (59-84) ist es, auf der Basis dieser Deutungsleistung den Fall Kirchlingen vorzuführen und dabei exemplarisch die wahre Bedeutungsdimension dieses aktuellen politischen Ereignisses zu erschließen. 3 5

33

34

35

Die beiden Österreichischen Landfrieden sind abgedruckt in: Ausgewählte Urkunden zur Verfassungsgeschichte der deutsch-österreichischen Erblande im Mittelalter. Hrsg. von Ernst Frh. von Schwind, Alfons Dopsch. Innsbruck 1895, S. 55ff. und S. lOlff.; hier S. 68 Z. 27ff., S. 102 Z. 17ff. Die Datierung der schriftlichen Fassung, in der uns die Landfrieden vorliegen, ist in jüngster Zeit durch Max Weltin (s. S. 207 Anm. 31) erneut zur Diskussion gestellt worden. Weltin plädiert für eine erste Aufzeichnung (= 1. Landrecht) 1278, für eine veränderte und präzisierte Fassung (= 2. Landrecht) gegen Ende des 13. Jahrhunderts. Unbestritten ist jedoch - und allein das ist für die Interpretation der >Gäuhühner< wichtig - , daß diese schriftlichen Fixierungen das Recht enthalten, das zur Zeit der Babenberger gegolten hat. Vgl. Apo 4,5; 6,12ff.; 8,5ff.; 10,3f.; ll,13ff.; 14,2; 16,18; 19,6. Vgl. auch AT: Ex 19,16; Js 13,9ff.; Ez l,13ff.; 32,3ff.; Ioel 3,3f. Mit Kirchlingen ist aller Wahrscheinlichkeit nach das in der Nähe von Klosterneuburg gelegene Kierling gemeint. Historisch nicht belegt ist allerdings, daß die dort befindliche Burg des gleichnamigen Ministerialengeschlechts in dem in Frage kommenden Zeitraum auf Befehl des Landesherren gebrochen wurde (vgl. dazu Bumke S. 255f.). Ute Schwab hat in diesem Zusammenhang die Vermutung geäußert, daß die drei Beispielfälle unrechtmäßiger Herrschaft, auf die der Stricker anspielt (vgl. außer den >GäuhühnernDer Turse< und >Herrenlob und GotteslobHerrenlob und Gotteslob< erwähnt. Aller Wahrscheinlichkeit nach handelt es sich um einen Streit zwischen drei der dort ansässigen Gutsherren, die alle das Patronats- und damit das Lehnsrecht über Rastenfeld beanspruchten. Schwab führt außerdem an, daß die Familie der Chirchelinge in der Zeit vor 1293 durch Heirat auf die Burg Rastenfeld gekommen ist. Ob die Chirchelinge auch schon an dem augenscheinlich lange währenden Rechtsstreit beteiligt waren, ob das der historische Anlaß des literarischen Falls Kirchlingen gewesen ist, entzieht sich der definitiven Entscheidung. Wichtig erscheint mir jedoch, daß das historisch identifizierbare Beispiel unrechtmäßiger Herrschaft in Rastenfeld ein Konflikt ist, der die gleiche Struktur hat wie Kirchlingen: Rastenfeld ist eine landesfürstliche Pfarrei, der Streit entzündet sich also an den gegensätz-

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der muot dar üf ze hüsen hat, der sehe wie Kirchelinge stät: daz stiezen göuhüener nider. den göuhüenern ist niht wider, die heten ie vil grözen pris, si läzent rehte in tracken wis daz fiuwer üz dem munde gän. in enmac ein burc niht vor gestän. ders ungencedic wellent wesen, diu ist vor in vil ungenesen. ir stimme ist ein donerslac, si schrient daz manz haeren mac in dem lande überal. ir zorn der machet bürge val. swie gröze veste ein berc habe, si brennents oder stözents abe als si Kirchelinge täten. man macs ungerne braten, sit sie sich also rechent daz si bürge nider brechent. swie cede Kirchelinge ste, der huiser ist ze (Esterriche mS, die daz göu hät zebrochen. ez hät sich sd gerochen, daz sis noch alle engolten, die daz göuwe twingen wollen. (59-84)

Der zweite Abschnitt der Auslegung hebt an mit dem Verweis auf die Überzeugungskraft des Augenscheins, die von dem konkreten Beispielfall ausgeht (vgl. 59f.). Kirchlingen wird angeführt als Exempel unrechtmäßigen Burgenbaus und der darauf folgenden rechtmäßigen Zerstörungsaktion. Die Darstellung dieser Zerstörung jedoch geht über die Identifizierung der magischen Gewalt des göuwes als Rechtshandeln, wie sie der erste Schritt der Auslegung leistet, hinaus. Sie setzt diesen Prozeß aktuell rechtlicher Identifikation voraus und macht die bereits vollzogene Deutung erneut zum Gegenstand des Deutens. Was durch die Deutung scheinbar schon dingfest gemacht war, wird zum Bildelement, das der Auslegung bedarf. Erdbeben und Blitze, die magischen Kräfte, die dem göuwe innewohnen, werden im ersten Auslegungsabschnitt als Rechtsaktivität des Landesherren identifiziert. Sie werden nun erneut gedeutet, die göuhüener sind es, die das göuwe rächen (vgl. 47) bzw. die Strafaktion des Landesherren ausführen, ihr Handeln wird zum allegorischen Geschehen. Dieses allegorische Geschehen macht intensiver als zuvor die apokalyptische Bedeutung des Strafgerichts bewußt. Wie die Würgeengel am Ende der Zeiten Tod und Verderben über die Erde bringen und auf diese Weise liehen Interessen von Landes- und Grundherrschaft; es geht um Ausweitung der Herrenrechte; es ist eine Auseinandersetzung, die alle dort Ansässigen betrifft. Zur Bedeutung des Patronatsrechts im Rahmen der Herrenrechte vgl. Willi A. Boelcke: Verfassungswandel und Wirtschaftsstruktur. Die mittelalterliche und neuzeitliche Territorial-Geschichte ostmitteldeutscher Adelsherrschaften als Beispiel. Würzburg 1969 (Beihefte z. Jb. d. Schles. Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 8), S.408ff.

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das Gericht Gottes vollstrecken werden, 36 so sind in Kirchlingen die göuhüener wie feuerspeiende 37 Drachen vom Himmel hernieder gestoßen, ihr Geschrei war wie ein donerslac (vgl. 69), der überall im Land zu hören war. Die burcstat von Kirchlingen ist jetzt öde und leer. Kirchlingen ist nur ein eindringliches Beispiel für die verheerende Wirkung des gerechten Gerichts, das die göuhüener vollziehen. Es gibt mehr Fälle dieser Art in Österreich, sie zeugen alle gleichermaßen für die naturhaft elementare, für die apokalyptische Gewalt, mit der das zorn-Gericht der göuhüener unrechtmäßige Herrschaft vernichtet. Die Märchenrealität des Bildteils wird im ersten Abschnitt der Auslegung als zeitgenössische Rechtsrealität identifiziert. Im zweiten Auslegungsabschnitt wird die Verbindlichkeit dieser Rechtsrealität vorgeführt am Beispielfall Kirchlingen. Der erste Schritt der Auslegung erschließt die ontologische und die heilsgeschichtliche Bedeutung, die dem Recht, wie es in den Landfrieden kodifiziert ist, zukommt. Vor diesem Horizont gewinnt im zweiten Schritt der Auslegung das konkrete politische Ereignis Kirchlingen seinen spezifischen historischen Sinn. Als Medium des Erkennens und Interpretierens fungiert dabei die Allegorie göuhüener. Sie repräsentiert den naturhaft-elementaren und den apokalyptischen Sinnbezug der rechtsgemäßen Zerstörung unrechtmäßig erbauter Burgen. Indem sich das konkrete politische Ereignis des Burgenbrechens als allegorischer Vorgang zeigt, wird es in den ihm angemessenen Proportionen kenntlich, wächst ihm die überzeitliche Bedeutung zu, die seinen zeitspezifischen Sinn ausmacht. Damit ist die erkenntnisinitiierende Funktion der Allegorie göuhüener jedoch noch nicht erschöpft. Das Wort ist ein Kompositum, die Deutung ging bisher im wesentlichen von göu aus. Im Mittelpunkt des dritten Auslegungsabschnitts (85-130) steht - augenscheinlich in bewußtem Kontrast zu den zuvor genutzten allegorischen Sinnbezügen - das Simplex huon in seinem Literalsinn. Dieser Wechsel der Deutungsperspektive ist schon im zweiten Auslegungsabschnitt vorbereitet. Nachdem der Autor gerade die apokalyptische Sinndimension des zornGerichts der göuhüener eindringlich bewußt gemacht hat, spielt er ironisch den Gegensatz zwischen der zerstörerischen Macht, mit der die göuhüener ausgestattet sind, und der tatsächlichen »Ohnmacht« eines Huhns aus (vgl. 76ff.). Die Errichtung einer Adelsherrschaft beginnt unter anderem mit einem ersten demonstrativen Vollzug wechselseitiger Verpflichtung, z.B. mit der Gabe der Vogthenne oder des Leibhuhns, durch die die betreffenden Bauern den Anspruch des neuen Herren auf bestimmte Abgaben und Dienstleistungen anerkennen. 38 Der 36 37

38

Vgl. Apo9,14ff. Feuersäulen, die niedergehen, sind Zeichen göttlicher Sendung, sie kündigen die Endzeit an. Vgl. dazu Apo 8,7f.; 10,1; 11,5; 16,8; 19,12. Bumke wehrt sich meiner Ansicht nach zu Recht dagegen, daß - wie es verschiedentlich geschehen ist - die göuhüener über die Identifikation mit der Naturalabgabe des Zinshuhns allein auf die Bauern bezogen werden. Der erste und der vierte Abschnitt der Auslegung zeigen, daß eine solche Deutung zu eng ist. Dennoch erscheint es mir wichtig, daran festzuhalten, daß die Literalbedeutung der Allegorie göuhüener das Zinshuhn, das Bauern im Rahmen von Grundherrschaft oder Vogtei entrichteten, meint. Zusätzlich zu den Belegen, die Schindele S. 204 Anm. 100 anführt, vgl. auch den Hinweis bei Boelcke S. 124.

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dritte Teil der Auslegung handelt nicht mehr von unrechtmäßigem Burgenbau. Das Recht des Burgenbaus ist - wie die Landfrieden dokumentieren - deshalb ein Politikum, weil der Besitz einer Burg mit dem Verfügen über die Herrenrechte verknüpft ist.39 Wer mit Zustimmung des Landesherren eine Burg erbaut bzw. zu Recht eine Burg besitzt, wird vom Landesherren mit Rechten über Land und Leute ausgestattet, die über die Rechte einer Grundherrschaft im allgemeinen weit hinausgehen. Dieser sehr viel umfassendere Problemkomplex ist das Thema des dritten Abschnitts der Auslegung. Von dieser thematischen Erweiterung aus gesehen wird das Deutungsresultat der beiden vorausgehenden Abschnitte wiederum zum Gegenstand der 'Deutung. Thema des ersten und zweiten Abschnitts ist unrechtmäßiger Burgenbau. Dieser Rechtsbruch wird jetzt als Symptom einer im Kern defekten Herrschaft gedeutet. Wie die parallele Formulierung der Aufforderung, mit der der dritte Deutungsschritt einsetzt, vermuten läßt, wird dem nun folgenden Zerrbild eine ähnlich suggestive Überzeugungskraft zugewiesen wie dem Anschauen des Beispiels Kirchlingen. „ ,. Swer muot ze stauen dingen hat, der neme die niht an sinen rät, die in üf daz göuwe reizent und in daz niezen heizent und sprechen durch ir geslende: >herre, ir sit eilende in iuwer besten künde; daz ist ein michel sünde. ir gebäret rehte in gastes wis. welt ir gewinnen grözen pris, so erzeiget iuch des muotes, daz ir libes unde guotes ein meister und ein herre sit, und machet iuwern gewalt wit. habet ritterlichen mannes muot, lät iu dienen liute und guot in der gegende, swes ez st, des enläzet ir deheinen vri. ez kumet vil schiere an die vrist daz daz ir beste vreude ist, daz si iuwer hulde müezen h&n und sint iu gerne undertän. s6 fürhtent die riehen iuwer kraft, die armen sint iu diensthaft. wir kunnen mit gefüegen dingen die liute wol darzuo bringen, daz sie iu dienent alle tage mit guotem willen äne klage. swaz wir mit guoten minnen noch hiuwer ab in gewinnen, daz müezens ouch ze järe geben. da geturrens niemer wider streben, Zur Bedeutung einer Herrenburg als Kristallisationspunkt adeliger Banngewalten vgl. Boelcke S. lOlff. Vgl. dazu auch Bumke S. 220 Anm. 48, S. 222 Anm. 52.

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so müezen siz ouch iemer tuon. swer iu hiuwer git ein huon, der git iu äne geschrei ze järe driu oder zwei. so wehset iemer mire iuwer frum und iuwer ere und werdet werder danne e. swelich gebüre iu wider ste, den gewinnet zeinem munt man: swaz er geleisten danne kan, daz ist iemer iuwer eigen. sus suit irs alle neigen mit listen unde mit gewalt, sus werdet ir mit eren alt.< (85-130)

Der Rat der Dienstleute ist falscher Rat, er denunziert die Ratgeber als Verräter. Sie wollen den Herren dazu überreden, seine Herrenrechte zu einer gewaltsamen Ausdehnung seines Herrschaftsbereichs zu mißbrauchen. Der Herr, so argumentieren sie, sei eilende in seiner eigenen, engsten Umgebung (vgl. 90ff.), er solle sich nun einmal wahrhaft als Herr erweisen, er solle seine gewalt wit machen (vgl. 98). gewalt wfi-Machen bedeutet, die Herrengewalt unrechtmäßig über die Grenzen des eigenen Gebiets hinaus auszudehnen, in fremdes Territorium einzudringen und dessen Bewohner zur Huldigung zu zwingen. Die Dienstleute empfehlen ihrem Herren für ein solches Unternehmen folgende Taktik: Die riehen sollen durch Gewaltandrohung gefügig gemacht und zu Dienst-Leistungen gezwungen werden (vgl. 107, lSlf.). 40 Von den Bauern soll zunächst eine Naturalabgabe, ein Huhn, eingefordert werden. In der Hoffnung - so ist zu ergänzen - , dann von Raub und Brand verschont zu bleiben,41 werden die Bauern diese Forderung erfüllen. Ist einmal eine solche Abgabe geleistet worden, so muß man sie nur als Zinspflicht im Rahmen von Vogtei oder sogar gleich von Grundherrschaft deklarieren, auf diese Weise verwandelt sich die außerordentliche Abgabe unter der Hand in eine ordentliche Steuer, die man am besten überdies noch von Jahr zu Jahr steigert. Weigert sich ein Bauer, den Status des Holden, der ihm auf diesem Wege hinterrücks aufgezwungen wird, zu akzeptieren, so geht man den umgekehrten Weg, den Weg der »offenen Gewalt«. Der Bauer wird zum muntman gemacht, das heißt ihm wird der Schutz des Herrn aufoktroyiert, damit untersteht er dessen Gebotsgewalt und wird zinspflichtig.42 Was die Dienstleute ihrem Herrn als Rat unterbreiten, ist eine Herrschaft, die ihre wertethische Verpflichtung verfehlt. Herrschaft beruht auf den Prinzipien von Freiwilligkeit und Gegenseitigkeit, beide Prinzipien verkehren sich hier in ihr Gegenteil: Herrschaftsansprüche setzen sich durch mittels Einschüchterung, mittels angedrohter oder offen zutage tretender Gewalt. Diese Perversion von 40 41 42

Vgl. dazu Boelcke S. 144. Vgl. dazu Brunner, Land und Herrschaft, S. 87. Zur Praxis des Anvogtens vgl. Brunner, Land und Herrschaft, S.314ff. Vgl. dazu auch Bumke S. 221f.

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Herrschaft dokumentiert sich nicht nur im Inhalt des Rats, sie zeigt sich auch in der Argumentationsweise der Ratgeber. Sie beginnen ihre Rede - scheinbar pflichtgetreu - damit, ihren Herren an die generelle gesellschaftliche Erwartung zu erinnern, sein Ansehen zu vermehren (vgl. 90ff.). Aus der Verpflichtung zu grozempris (vgl. 94) leiten sie dann die Verpflichtung zu großen Annexionen ab, nur so könne der Herr ritterlichen marines muot beweisen (vgl. 99), nur so könne er des ständigen Anwachsens seiner ere und seiner werdicheit sicher sein (121ff., vgl. auch 130). Gemessen am Prinzip adeliger Wertbewährung, wie es im ar/-Gesetz der ere formuliert ist, erscheint eine solche Argumentationsweise als Karikatur. Die angemahnte Steigerung des Wertstatus wird nicht als qualitatives, sondern als quantitatives Problem verstanden, und die Quantität der ere wiederum wird abhängig gemacht vom Umfang des Gebiets, auf das sich der Herrschaftsanspruch des Herrn erstreckt. Die hier vorgeführte Argumentationsweise entspricht dem Fehlschluß, mit dem der tumbe dienstman in >Der Juden Abgott< aus der zu geringen Quantität des Besitzes eine unzureichende Gesinnung seines Herren folgert. Dieser Fehlschluß wird im Verlauf der Auslegung als Symptom von torheit gedeutet, er wird als Verblendung gewertet, die die Prämissen adäquater Werterkenntnis und damit rechts- bzw. ordogemäßen Handelns negiert. Die gleiche Argumentationsweise signalisiert in den >Gäuhühnern< einen Zustand der Wertverkehrung, in dem sich der Unrechtscharakter der hier charakterisierten Adelsherrschaft manifestiert. Ein Adeliger, der ohne Zustimmung des Landesherren eine Burg erbaut, maßt sich zu Unrecht Herrengewalt an, die Gewalt, die von seiner Burg ausgeht, ist Unrechte Gewalt, sie bricht den erklärten Frieden, sie schädigt das Land. Was die Dienstleute ihrem Herrn raten, ist eine Rechtsverletzung, die in den Österreichischen Landfrieden als Fall von schwerem Landfriedensbruch gewertet wird.43 Von der Bestrafung dieses Landfriedenbruchs handelt der vierte und letzte Teil der Auslegung (131-166). Im dritten Abschnitt ist die Allegorie göuhüener in der erzwungenen Abgabe des Zinshuhns repräsentiert. Steuer darf - gemäß dem Prinzip der Freiwilligkeit, das auch das Treueverhältnis zwischen einem Herrn und dem von ihm abhängigen Bauern im Kern bestimmt - nicht erzwungen werden, sie ist »außerordentliche Hilfe in der Not«, sie hat den Charakter einer »Bitte«.44 Im vorliegenden Fall wird das Zinshuhn, ohne daß ein solches Treueverhältnis bestünde, zwangsweise eingefordert. Die Dienstleute rechnen damit, daß es die Bauern angesichts angedrohter Gewalt nicht wagen, die Abgabe zu verweigern. Sie werden äne geschrei (vgl. 119) das geforderte Huhn herausrücken und auch später ohne großen Widerstand eine Erhöhung der Abgabe hinnehmen. Im zweiten Auslegungsabschnitt werden die göuhüener mit einer Macht ausgestattet, der sich keiner erwehren kann. Es ist die objektive Macht des Rechts, die sich in ihrem zorn43

44

Vgl. dazu Schwind, Dopsch (s. S. 208 Anm.33) S. 72 Z.6ff.; S. 102 Z. 17ff.; zum Begriff »landschädliche Leute« vgl. S. 59 Z. 2f. (Zu Literatur zum Begriff Landfriedensbruch vgl. Bumke S. 228ff.) Zum mittelalterlichen Steuerbegriff allgemein vgl. Brunner, Land und Herrschaft, S.273ff., Zitate S.292, 293. 213

Geschrei des Klage-Erhebens, in ihrem Zerstörungsgericht verwirklicht. Im Gegensatz zu dieser Elementargewalt, mit der die göuhüener Rechtsbruch ahnden, wird das Zinshuhn zum Zeichen für die, die solchem Rechtsbruch scheinbar ohnmächtig ausgeliefert sind, es wird zum Zeichen für die unrechtmäßig zu Grundoder Vogtholden gemachten Bauern. Doch schon der Witz, der in den zweiten Auslegungsabschnitt eingestreut ist, warnt ironisch davor, mit der angeblichen Ohnmacht von Hühnern leichtfertig zu spekulieren. Der vierte Schritt der Auslegung zeigt, daß solche Spekulationen böse enden, wer Unrecht plant, behält nicht recht, der falsche Rat der Dienstleute erweist sich als Fehlspekulation. Die ir herren also heizent leben, daz sint venvorht rätgeben; die enhänt niht willen wan darzuo daz er sin guot mit in vertuo. des cehtent si äne mäze, si swelhen und si vräze. swie vaste si üf daz göuwe streben und niht wan roubes wellen leben, si erkennent niht des göuwes kraft und der göuhüenere meisterschaft. diu kluckent etettchem abe den hals und alle sine habe, der gar wil sin ein göustrüz, si kluckent manigem diu ougen üz und die füeze abe und die hende. so douwent si daz geslende. swelich herre ir rät volgen wil, der gewinnet viende harte vil, daz im diu hüener werdent süre, sö im jeglich sin nächgebure sinen dienest wider saget und dem landesherren über in klaget. daz ist der göuhüenere geschrei. sö machent driu oder zwei daz er muoz suochen einen tac, dö er niht über werden mac, ezn müeze in kosten zehen pfunt. dä sint diu hüener ungesunt. daz muoz er von den riehen hän, den er daz laster hät getän. noch sint die armen über sehen, den der schade ist geschehen. e er den und got gebüeze, im wirt der hüenere süeze ein sö bitterlichiu siure, daz si in dunkent ungehiure. (131-166)

Der letzte Teil der Auslegung bezeichnet die rechtmäßigen Formen der Gegenwehr gegen unrechtmäßige Herrschaft. Es sind die Zinshühner, die vom scheinbar willenlosen Objekt der Gewalt zum Subjekt des Handelns werden: Sie sind als Abgabe erzwungen worden, auf einer erzwungenen Gabe aber ruht nicht der Segen 214

des Gebers, sie wird dem, der sie sich gewaltsam genommen hat, zum Fluch. Die Zinshühner widersetzen sich der erpresserischen Form der Steuernahme, sie entwickeln die Gegenwehr, die den Bauern im Augenblick der Erpressung unmöglich ist, sie bringen denen, die sie sich widerrechtlich angeeignet haben, Unheil. Die Zinshühner werden als göuhüener gedeutet, sie sind die vom Rechtsbruch Betroffenen und als solche werden sie aktiv, sie nehmen die Rechte wahr, die in den Österreichischen Landfrieden für einen solchen Fall vorgesehen sind. Mit der Identifizierung der Träger der Rechtsaktivität des göuwes knüpft der letzte Deutungsabschnitt wieder an dem ersten an. Im ersten Abschnitt wird der Landesherr als die für den vorliegenden Fall von Rechtsbruch zuständige Gerichtsbarkeit genannt. Nun, nachdem unrechtmäßiger Burgenbau als Symptom unrechtmäßiger Herrschaft ausgewiesen und damit das Ausmaß des hier verhandelten Rechtsbruchs kenntlich geworden ist, geht es darum, das rechtmäßige Gericht zu vollziehen, es als Rechtsaktivität der Betroffenen anschaulich und damit nachvollziehbar zu machen. Die Rechtsverletzung geht, wie der dritte Deutungsabschnitt vorführt, vom Funktionszentrum jeder Herrschaft, von der Instanz des Rats, aus. Demzufolge sind es die verworht ratgeben (vgl. 132), die für die Verfehlung der wertethischen Verpflichtung der Herrschaft verantwortlich gemacht und als erste gerichtet werden. Das eigentliche Ziel des Vorschlags, den sie ihrem Herren listig unterbreitet haben, ist es, sich selbst ein schmarotzerisches Leben zu sichern.45 Ihr Rat bedeutet - nur notdürftig verdeckt - Aufforderung zu roup, schwerer roup aber gilt als Landfriedensbruch. 46 Wer schweren roup begeht, gehört zur Kategorie »landschädlicher Leute«, er hat den Frieden verwirkt, er wird geächtet. Wer einen solchen Rechtsbrecher ergreift, ist berechtigt, die Todesstrafe an ihm zu vollstrekken. 47 Die geschädigten Bauern ergreifen die räuberischen Schildknappen, sie verstümmeln sie und demonstrieren damit die ere-losigkeit derer, die unter dem Deckmantel eines sinnentleerten ere-Begriffs ihre räuberische Absicht zu kaschieren versuchten. Sie drehen denen, die ihnen zuvor das Zinshuhn abgezwungen haben, nun selbst wie den Hühnern die Hälse um, 48 sie lassen die, die ungestraft das Recht mißachten zu können meinten, der göuhüenere meisterschaft erkennen (vgl. 139t.). Nach den verräterischen Schildknappen kommt der Herr, der ihrem Rat gefolgt ist, an die Reihe. Auch ihm bekommen die gewaltsam eingeforderten Zinshühner 45

46 47

48

Vgl. dazu Boelcke S. 128f.; Bumke S. 228 Anm. 81; vgl. auch Freidank 49,Iff.; Hugo von Trimberg >Renner< 7391ff. Vgl. dazu His2, S.201ff. Um den gleichen Straftatbestand von schwerem Raub geht es auch im >HelmbrechtGäuhühnern< identisch mit ihrem Aktualitätsbezug. Während in den bisher behandelten Bispein der Aktualitätsbezug der lere entweder - wie in >Hahn und Perle< oder im >Kater als Freier< - latent bleibt oder - wie im > Weidemann< oder in >Der Juden Abgott< - sich im Sinne eines Verweises auf ein Gegenwartsproblem punktuell manifestiert, machen >Die Gäuhühner< folgendes bewußt: Der Aktualitätsbezug der lere ist nicht etwas, das beliebig zum Deutungsprozeß hinzukommen kann. Der Anspruch, zum Erkennen und handlungsmäßigen Bewältigen zeitgenössischer Probleme zu befähigen, gehört notwendig zum Deutungsprozeß dazu, er ist der Tätigkeit des Deutens, wie sie das Bispel vorführt und zu leren beansprucht, als Motiv immanent. Auch im Hinblick auf die Frage, wie ein solcher Prozeß der Erfahrungsbildung im Medium des Bispels vor sich geht, können >Die Gäuhühner< als Modell dienen. Das Deutungsgeschehen in diesem Bispel bewegt sich in der ständigen Spannung zwischen dem Aufweisen der allgemeinsten Interpretationshorizonte und dem konkreten Benennen aktueller Sachverhalte und Ereignisse, diuten wird hier definiert als bekant-Machen. Was bekant-Machen heißt, zeigt besonders prägnant der zweite Auslegungsabschnitt: Es geht um Kirchlingen als aktuelles Beispiel unrechtmäßiger Herrschaft. Der spezifische Sinn, der diesem Ereignis zukommt, wird erschlossen, indem es auf die beiden allgemeinsten Interpretationshorizonte, auf den ontologischen und auf den heilsgeschichtlichen Bereich, transparent gemacht wird. Gerade der Deutungsschritt, der scheinbar so äußerst konkret bezogen ist, arbeitet am stärksten mit dem naturhaft-elementaren und dem apokalyptischen Sinnbezug des Rechtsgeschehens. Erst in dem Augenblick, wo es gelungen ist, den konkreten politischen Sachverhalt auf diese Weise zu transzendieren, wird er »wirklich«, erst dann zeigt sich das Ausmaß an Ordo-Verletzung, das Kirchlingen darstellt, wird die (aktuelle) Bedeutung dieses Ereignisses erkennbar. 218

Angesichts einer solchen Struktur des Prozesses von Erfahrungsbildung erscheint es mir falsch, >Die Gäuhühner< als Parteinahme des Strickers für die Landfriedensgesetze, als öffentliches Eintreten für den übergreifenden Herrschaftsanspruch des Landesherrn gegen die Interessen des landsässigen Adels zu werten.31 Ich fasse das Resultat der hier vorgeführten Interpretation zusammen und versuche dabei, eine Gegenthese zu entwickeln: 1. Thema der >Gäuhühner< sind nicht die Landfriedensgesetze im Sinne eines aktuellen Politikums. Thema des Bispels ist vielmehr zu Unrecht angemaßte Herrengewalt und deren rechtsgemäße Zerstörung. Die Bestimmung des vorliegenden Rechtsbruchs sowie der Rechtsregeln, nach denen die Bestrafung der Rechtsbrecher erfolgt, ist orientiert am Recht, wie es die Landfrieden als gegenwärtig gültige Rechts- und Friedensordnung enthalten. Für die Argumentation des Bispels ist es nur im Bezug auf die hier in Frage kommende Gerichtsbarkeit, nicht aber programmatisch bedeutsam, daß es der Landesherr ist, der dieses Recht erlassen hat. Betont wird dagegen die Objektivität des Rechts, das Recht als von Gott gesetzte und damit auf höchster Ebene legitimierte Instanz. 2. Dieser fundamentale Geltungsanspruch des Rechts manifestiert sich in der ontologischen und der heilsgeschichtlichen Bedeutungsdimension, mit der das hier geschilderte spezifische Rechtsgeschehen im Vorgang der Auslegung ausgestattet wird. Der Rechtsakt des Burgenbrechens erscheint als Vorgang, der mit gleichsam naturgesetzlicher Notwendigkeit abläuft, das Gericht über die Rechtsbrecher hat den Charakter des letztgültigen Urteilsspruchs am Jüngsten Tag. 3. Im Zentrum der Deutungsaktivität steht die Allegorie göuhüener. Die Entfaltung der verschiedenen Sinnebenen dieser Allegorie dient dazu, fortschreitend alle die Personengruppen zu benennen, die im vorliegenden Fall zu Unrecht angemaßter Herrengewalt verpflichtet sind, dem Recht erneut zur Geltung zu verhelfen, und dabei ihr Handeln im Sinne einer Gewalt, die jeden Widerstand sinnlos erscheinen läßt, zu deuten. Die Erkenntnisfunktion dieser Allegorie zielt auf das rechtmäßige Handeln der vom Rechtsbruch Betroffenen, sie macht die Handlungsrelevanz und den Aktualitätsbezug der lere dieses Bispels bewußt. 51

Spiewoks Ansicht, der Stricker nehme mit den >Gäuhühnern< »für die um ihre Freiheit kämpfenden Bauern« Partei (S. 123), kann ebenso wie die These Helmut de Boors, das Bispel berichte »von Sozialrevolutionären Bewegungen des Bauernstandes, von Aufruhr und Burgenbruch« (S. 243), inzwischen als widerlegt gelten. Gerhard Schindele hat als erster >Die Gäuhühner< unter der Perspektive des Interessenkonflikts von Landesherrschaft und Grundherrschaft interpretiert. In diesem Interessenkonflikt repräsentieren >Die Gäuhühnen seiner Meinung nach - und zwar erstaunlicherweise konträr zu der politischen Orientierung, die er für den >Helmbrecht< herausarbeitet - die Position des Landesherren (S. 155f.). Bumke vertritt die gleiche Auffassung. Er sieht gerade darin, daß der Strickerwie er meint - in einem zu dieser Zeit noch unentschiedenen politischen Kräftespiel so explizit Stellung bezieht, die politische Brisanz des Textes (S. 244f., 232). Helmut de Boor: Geschichte der deutschen Literatur. Bd. 3,1. München 1962, S. 243.

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4. Die lere konzentriert sich auf das Beispiel derer, die der Willkür der Rechtsbrecher scheinbar ohnmächtig ausgeliefert sind, sie bleibt stets bezogen auf den Literalsinn der Allegorie, auf das den Bauern zu Unrecht abverlangte Zinshuhn. Die Bauern werden als die armen bezeichnet, sie sind machtlos, sie bedürfendes Schutzes durch die riehen. Gerade weil sie arm sind, sind sie als Demonstrationsobjekt für die Macht des Rechts besonders geeignet: Die Rechtsbrecher erzwingen eine unrechtmäßige Steuer, sie negieren Freiwilligkeit und Einverständnis als Grundlage der Rechtmäßigkeit eines solchen Abhängigkeitsverhältnisses, die unfreiwillige Gabe wird ihnen zum Fluch. Das rächende und strafende Zinshuhn stellt das Recht der armen wieder her. Dies ist die Basis, auf die auch die anderen Sinnebenen der Allegorie zurückzubeziehen sind, auf der die Allegorie verallgemeinernd schließlich alle vom Unrecht Betroffenen umfaßt. 5. Die lere dieses Bispels nimmt weder für noch gegen die Interessen einer bestimmten Fraktion im Rahmen des Konflikts zwischen dem Landesherren und den Grundherren Partei. Sie richtet sich an alle, die an der Wahrung der Rechtsund Friedensordnung im Land interessiert sind. Sie will eben jene Deutungskompetenz vermitteln, die den einzelnen erkenntnis- und rechtsfähig macht, die ihn rechtswirksam handeln läßt. Rechtswirksam zu handeln heißt, die Rechtsordnung der Landfrieden so zu verwirklichen, daß sie zur Basis für die Realisierung einer ordogemäßen Verfassung der Gesellschaft werden. Durch die Verknüpfung mit aktueller Rechtsproblematik und den rechtsgemäßen Formen ihrer Bewältigung gewinnt der Praxisbezug des diutens in den >Gäuhühnern< - verglichen mit den anderen Bispein - seine konkreteste Form, Interpretations- und Handlungskompetenz äußert sich hier als Rechtskompetenz. Diese Rechtskompetenz ist die Basis, auf der sich auch die Argumentation des letzten Textes bewegt, der hier behandelt werden soll, der >KlageDie Klage
Die K l a g e t auf die Tradition frühmittelhochdeutscher Literatur zurück. Sie knüpft an am Typus einer rechtlich-heilsgeschichtlich ausgerichteten Bestimmung der Gegenwart, wie ihn das >Memento mori< oder >Vom rehte< verkörpern, ohne daß sie sich jedoch auf einen dieser frühmittelhochdeutschen Gattungsansätze genauer beziehen ließe. Zur besseren Orientierung stelle ich der Interpretation des Textes eine Gliederung seines Argumentationsverlaufs voran: 1. Die Infragestellung der traditionellen Funktionsbestimmung höfischer Kunst im Zusammenhang mit dem Treubruch der riehen, die Erhebung der Klage mit Gerüfte als Beginn eines Rechtsverfahrens (= Prolog, 1-44) 2. Der Prozeß der Rechtssprechung (45-416) 2.1 Die Rechtsordnung der Gottesminne als Bezugsrahmen des Verfahrens (45-70) 2.2 Die Bedeutung des Treubruchs der riehen (71-416) 2.2 1 Der Treubruch der riehen als Verlust der Wertqualität von Herrschaft (71-278) 2.2 1 1 Frauendienst und Frauenpreis als Demonstrationsmodell für den Anspruch der Gottesminne (71-84) 2.2 1 2 Die Unrechtsherrschaft der riehen im Zusammenhang mit der Verselbständigung der materiellen Bedeutung von guot (85-230) 2.2 1 3 Die Mißachtung höfischer Kultur als Ursache von der herren siecheit (231-262) 2.2 1 4 Dreifache Klage-Sentenz (263-278) 2.2 2 Die falsche Einschätzung des Stellenwerts von materiellem guot als Indiz für den Unrechtsstatus der riehen (279-346) 2.2 2 1 Die Verkehrung normativen Sozialverhaltens in liegen und triegen (279-292) 2.2 2 2 vereherter muot als Resultat der Verabsolutierung von gwof-Gewinn (293-328) 1

Zitiert nach: Fabeln und Mären von dem Stricker. Hrsg. von Heinz Mettke. Halle (S.) 1959 (ATB 35). Zu der >Klage< des Strickers gibt es bisher keine Interpretation. Sie wird lediglich im Rahmen literarhistorischer Überblicksdarstellungen, so ζ. Β. in dem Überblick Wolfgang Heinemanns über die ständedidaktische Literatur, erwähnt; eine Beschreibung in einem solchen Rahmen aber reduziert sich notgedrungen auf Paraphrasierung des Inhalts. Wolfgang Heinemann: Zur Ständedidaxe in der deutschen Literatur des 13.-15. Jahrhunderts. 3. Teil. PBB (Halle) 92 (1970), S. 388-437, hier S. 400ff. 221

2.2 2 3 Die Spekulation mit Getreidepreisen als aktuelles Beispiel für den vercherten muot der riehen (329-338) 2.2 2 4 Dreifache Klage-Sentenz (339-346) 2.2 3 Das Unrecht der riehen als Ausdruck fehlenden Erkenntnis- und Urteilsvermögens (347-416) 2.2 3 1 Die Verachtung des gefugen mannes bei Hof (347-362) 2.2 3 2 Die Konfrontation von idealer Vergangenheit und gegenwärtigem Wertverlust am Beispiel von Frauendienst (363-416) 2.3 Schöpfungsordnung und Heilsgeschichte als Legitimationsbezüge der Rechtssprechung (417-674) 2.3 1 Homosexualität als Verstoß gegen die Rechtsordnung der Gottesminne (417-502) 2.3 2 Die Verurteilung der Lehre der Katharer als Negation der Gottesminne (503-674) 2.4 Der Urteilsspruch über den riehen, der sein Leben allein auf guoi-Gewinn ausgerichtet hat: Die Vorwegnahme des Endgerichts (675-708) >Die Klage< beginnt mit einem Prolog, den der Autor mit der topischen Situation der Wende einleitet: Swaz ich unz her getihtet han, daz was durch churzwile getan, des enmac nu leider niht geschehen; ich han ein ander dinc gesehen, da ist lutzel churzwile bi. (1-5) Mit dieser Variation des Topos der Wende ist das Anspruchsniveau, auf dem sich die Verständigung zwischen Autor und Publikum in diesem Text bewegt, indirekt schon festgelegt. Der Autor führt sich ein als einer, der auf einen entscheidenden Lebensabschnitt, auf die Summe des literarisch bereits Geleisteten zurückblickt, dessen Urteil folglich auf Erfahrung und Einsicht basiert und daher ein hohes Maß an Verbindlichkeit beanspruchen kann. 2 Was er früher getihtet hat, das was durch churzwile getan (vgl. l f . ) , jetzt aber hat er etwas erfahren, was alles verändert: Es ist eine Erfahrung, die die traditionelle Funktionsbestimmung von Literatur in Frage stellt, die - so ist hinzuzufügen - eine grundlegende Neubestimmung des Sinns von tihten notwendig macht und zu einer neuen Form literarischer Bewältigung herausfordert. Was diese neue Form zu leisten hat, wird durch folgende Anforderungen vordefiniert: D i e einschneidende Erfahrung, die der Autor gemacht hat, wird als ein ander dinc (vgl. 4) bezeichnet. Es handelt sich also um einen rechtlich relevanten Tatbestand, um etwas, was der gerichtlichen Verhandlung bedarf. Der 2

Wie der Stricker hier den Topos der Wende einsetzt, erinnert an die Funktion der Altersrolle in den Weltabsage-Liedern Walthers und Neidharts, auch die Altersrolle dient dazu, eine Perspektive zu erzeugen, die Distanz und Objektivität des Sprechens verbürgt. Die Verwandtschaft zwischen diesen Liedern und der >Klage< ließe sich durch weitere Parallelen belegen. Die wichtigste Entsprechung ist sicher die thematische, die immer neu ansetzende Reflexion über die Voraussetzungen, von denen ein erneutes Funktionieren von Frauendienst und Frauenpreis als dem »klassischen« Selbstdeutungsmuster der höfischen Gesellschaft abhängt. Vgl. dazu Christelrose Rischer: Zum Verhältnis von literarischer und sozialer Rolle in den Liedern Neidharts. In: Deutsche Literatur im Mittelalter (s. S. 17 Anm. 12), S. 184-210.

222

Autor hat dieses Unrecht gesehen (vgl. 4), was er äußert, ist damit verbürgt durch die Authentizität der Augenzeugenschaft. Es ist ein Unrecht, das nicht nur ihn, sondern alle betrifft, jeder muß darüber informiert werden, er muß die alle bedrohende Gefahr kennen und richtig einschätzen können. Was alle angeht, weil es die allgemeine Rechts- und Friedensordnung stört, muß öffentlich namhaft gemacht werden, und zwar so, daß seine engagierte Aufnahme bei den liuten sicher ist. Es muß formuliert sein und sich weiterverbreiten als cengestlichez mcere (vgl. 7f.). j , , . doch sol man wizzen waz ez si. ezn wart nie dehein mcere, swie cengestlichez ware, man muze ez hören unde sagen und muze ez zuo den liuten tragen.

(6-10)

Was in den folgenden Versen als alle betreffendes Unrecht identifiziert wird, entspricht der Argumentation im Prolog der >FrauenehreFrauenehre< wird die Ursache dieses Zustands hier personell identifiziert: Es sind die riehen, die ihre triwe-Verpflichtung gegenüber der froude gebrochen haben, sie haben der froude den Dienst aufgesagt und die unfroude als neue Herrin erkoren, ihre Herrschaftszeichen sind es, die die riehen jetzt tragen. unfroude ist nu gechronet; der habent die riehen geswom und habent fur die froude erchorn tragen diu wafen alle. (18-21)

Wenn die riehen der froude treubrüchig geworden sind, dann erübrigt sich auch der Anspruch, mit tihten froude zu vermitteln, das traditionelle Selbstverständnis des höfischen Literaten ist damit außer Kraft gesetzt. Aber nicht nur die riehen, auch und gerade der wertbewußte Literat ist der froude verpflichtet; er kann nicht einfach das Land verlassen, er muß der froude die triwe bewahren, und das heißt, er muß bewirken, daß sie wieder in die ihr angestammte Rechtsposition zurückkehren kann.3 Damit lassen sich nun die Anforderungen an die neue Form literarischen Sprechens, die gefunden werden muß, präzisieren: Das cengestliche mare soll den /nwe-Bruch der riehen öffentlich bekannt machen, es soll ihn so bekannt machen, daß die Herrschaft der unfroude als alle betreffendes Unrecht erscheint, daß die 3

In der gleichen Weise argumentiert der Stricker in den >Herren zu Österreich (ed. Mettke, Fabeln und Mären) 73.

223

Beendigung dieses Zustands als Verpflichtung aller, das Recht wiederherzustellen, erkennbar wird. swie mir daz missevalle, ezn leet nieman durch mich, nu dunchet mich vil billich, sit ich bi in muz genesen und mag ir landes niht entwesen, daz ouch ich singe ir aller lief, sit si der tivel so verriet daz si die froude uf gebent und also riwechliche lebent, nu wil ich mit triwe erzeigen mine riwe und wil ir bürde mit in tragen.

(23-33)

Durch den Funktionsverlust von tihten als Medium der froude gehört der Autor zu denen, die durch das Unrecht unmittelbar Schaden erleiden, er kann sich daher exemplarisch als Betroffener äußern, er äußert sich in der Rechtsform der Klage. Gemäß der Schwere des Rechtsbruchs erhebt er die verstärkte Form der Klage, die Klage mit Gerüfte. 4 Wenn das Gerüfte erhoben wird, ist jeder, der sich in der Nähe befindet, aufgefordert, herbeizueilen, um die Gefahr gemeinsam abzuwenden. Er hat die Pflicht, dem Gerüfte zu folgen - das heißt die Rechtsbrecher dingfest zu machen und vor Gericht zu bringen - und auf diese Weise an der Wahrung der allgemeinen Rechts- und Friedensordnung mitzuwirken. Weil die Unrechtsherrschaft der unfroude alle, die dieser Friedensgemeinschaft angehören, angeht, bezieht sich die Pflicht, dem Gerüfte zu folgen, auf das gesamte Landfriedensgebiet. 5 In diesem Sinne erfaßt die Klage das ganze Land: Wer dem Gerüfte folgt und das Unrecht mit eigenen Augen sieht, erkennt sich selbst als Betroffener, er wird vom Zeugen und Helfer zum Kläger, der nun seinerseits das Gerüfte erhebt und damit neue Schreimannen herbeiruft usw. Auf diese Weise wird das Klagegeschrei so mächtig, daß es weit über die Grenzen von Österreich hinaus zu hören ist. ich wil chlagen unde chlagen und chlagen den noch furbaz. min chlage füllet manich faz. min chlage wirt so manich valt daz iu noch nie wart gezalt so manic chlceglich dinc. min chlage ist ein ursprinc; dar uz manic chlage fliuzet und so grozlich begiuzet, daz min chlage wirt erchant noch verrer denne in osterlant. 4

5

(34-44)

Vgl. den Artikel >Gerüfte< HRG 1, Sp. 1584ff„ den Artikel >Klage< HRG 2, Sp. 837ff., siehe dazu auch Holderfleiß S. 17ff. Die Rechtsform der Klage mit Gerüfte verwendet der Stricker auch in der >Schreienden Klagestaatsbildenden< Funktion der Landfrieden im frühen bayerischen Territorialstaat. In: Festschrift für Max Spindler. Hrsg. von Dieter Albrecht u. a. München 1969, S. 283-306, hier S. 292.

224

Das Gerüfte bezeichnet den Beginn der Klage, es leitet ein Rechtsverfahren ein, das von vornherein unter verschärften Bedingungen steht: (1) Wenn einer das Gerüfte erhebt, ist er verpflichtet, die Angelegenheit vor den Richter zu bringen, heimliche Sühne, das heißt ein »privater« Vergleich zwischen Kläger und Beklagtem, ist damit ausgeschlossen.6 (2) Die Klage, die mit dem Gerüfte beginnt, macht es dem Beklagten unmöglich, sich durch einfachen Unschuldseid von dem Vorwurf zu reinigen, er kann sich nicht freischwören, denn die durch Augenschein verbürgte und durch Zeugen bestätigte Wahrheit spricht zunächst für den Kläger.7 (3) Gegenstand der Anklage ist der Treubruch der riehen, ihr Treubruch wird als Verletzung der allgemeinen Rechts- und Friedensordnung des Landes verstanden, sie haben sich mit diesem Handeln außerhalb der Rechtsordnung gestellt und sich damit selbst rechtlos gemacht. Treubruch gehört zu den Delikten, die in der Regel mit Recht- und Ehrlosigkeit, in schweren Fällen sogar mit Acht und Exkommunikation, bestraft werden.8 Das Ende des Prologs ist also identisch mit dem Beginn eines Rechtsverfahrens. Was dieses Verfahren leisten soll, ist weit mehr als die Verurteilung derer, die den erklärten Frieden gebrochen haben. Der Prolog beginnt mit der Infragestellung der traditionellen Funktionsbestimmung von tihten. Durch die Vertreibung der froude hat sich tihten als Vermittlung von froude scheinbar erübrigt, in Wirklichkeit jedoch wächst der Literatur damit eine noch weitaus grundsätzlichere Bedeutung zu: Sie muß die gegenwärtig falsche Verfassung der Gesellschaft so ändern, daß die froude zurückkehren kann, sie muß die Bedingungen wiederherstellen, von denen eine erneute Übernahme der Herrschaft durch die froude abhängt. Das eigentliche Ziel der Klage ist es also, die rechts- bzw. ordogemäße Verfassung der Gesellschaft einzuklagen, das Rechts verfahren, das sie initiiert, steht damit unter dem Anspruch, den Prozeß der Rechtsfindung so zu vollziehen, daß sich dabei zugleich die Bedingungen des ordogemäßen Zustande wiederherstellen.

7.2 Das Einklagen des Orientierungsanspruchs der göttlichen Rechtsordnung: Literarisches Handeln als Medium der Rechtssprechung 7.2 1 Die Bedeutung des Treubruchs der riehen Für einen Rechtsfall, dem eine solche Relevanz zugesprochen wird, ist die höchste Gerichtsbarkeit zuständig, demzufolge ist es Gott, der als richterliche Instanz in diesem Verfahren nominiert wird. Der Klagegestus nimmt damit die Form der Sündenklage an: wir alle sind es, die die Rechtsnorm, die Gott gesetzt hat, nicht einhalten, die dem gebot der hohsten minne nicht entsprechen (vgl. 46f.). 6 7 8

Vgl. His 1, S. 315, 378. Vgl. Hermann Conrad: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Karlsruhe 1962, S. 30. Vgl. His 1, S.581f.

225

Ich wil alrest chlagen got daz wir alle sin gebot, die hohsten minne, entragen. alle die not die wir chlagen, diu chumt uns von den schulden daz wir wider gotes hulden uns selben wider streben und niht nach sinem willen leben.

(45-52)

Das gebot der hohsten minne bezeichnet die Rechtsnorm der Gottesminne, die innertrinitarisch der Heilige Geist verkörpert, die sich als heilsgeschichtliches Faktum im Erlösungstod Christi konkretisiert. Durch die Ansage dieser Rechtsnorm wird die Bedeutung des hier initiierten Rechtsverfahrens explizit gemacht: Es wird bezogen auf die Rechtsordnung Gottes und damit auf das Weltgericht am Ende der Zeiten als Vorbild aller Rechtssprechung in der Zeit. Was der Kläger einfordert, ist die Verwirklichung des Anspruchs der göttlichen Rechtsordnung in seiner Zeit. Mit diesem Verweis auf die Bedeutungsdimension des Geschehens wechselt der Klagegestus, die Sündenklage nimmt wieder die Form einer Klage vor Gericht an. Das alle umfassende wir des geistlichen Sündenbekenntnisses wird nun sozial dingfest gemacht: Die Verfehlung gegen die Gottesminne beginnt mit der Zwietracht der beiden Stände, die traditionell als Schema für die Basisgliederung der Gesellschaft fungieren, die pfaffen und die leien (vgl. 54). Die Pfaffen sind der Stand, der unter der Perspektive der Rechtsnorm der Gottesminne als erster in den Blick gerät. Sie verstoßen gegen diese Rechtsnorm, indem sie das Gebot des Zölibats brechen. Auf diese Weise verlieren sie ihre Glaubwürdigkeit, die Laien verachten sie und sind nicht gewillt, sich nach ihrer Lehre zu richten. Die Zwietracht dieser beiden Stände, deren Zusammenwirken die Basis einer ordogemäßen Verfassung der Gesellschaft bilden sollte, zeigt die Totalität des augenblicklichen Ordo-Verlustes an: Die Gesellschaft entfernt sich immer weiter von ihrer Heilsbestimmung, sie befindet sich auf dem falschen Weg, auf der wider ν art (vgl. 69). dar nach chlage ich daz zweien, daz die pfaffen und die leien wider gotes hulde ensamt hant. wand sich die pfaffen baz verstant, darumbe wcere billich entwichen si und erchanten sich, und si mit hohfart umbe gant und ir elich wip hant, die wile sint in die leien gram und sint ungehorsam. daz si wider ein ander beide zehazze und zeleide so stritlich sundent und ein ander schundent mit werchen zu den sunden me danne zu der geistlichen e, daz ist der wider vart bejagt, daz si dir herre got gechlagt. (53-70)

226

Nach den Pfaffen wendet sich der Kläger den Rittern als den entsprechenden Repräsentanten des Standes der Laien zu. Wie die Pfaffen so versagen auch die Ritter vor dem Anspruch der Gottesminne, denn sie sind ihrem »Gelöbnis« der Frauenminne untreu geworden. Angeklagt wird nun die desolate Situation, in der sich Frauendienst und Frauenpreis befinden. Wie in der >FrauenehreFrauenehre< werden Frauendienst und Frauenpreis als Muster normativer Interaktion, als Bedingungen und Garantie für eine rechts- bzw. ordogemäße Verfassung der höfischen Gesellschaft nominiert. Eben diese gesellschaftskonstitutive Bedeutung von Frauendienst und Frauenpreis setzt der Kläger voraus, wenn er unmittelbar im Anschluß an die Klage über der vrowen ungemach (vgl. 71) der herren unreht (vgl. 85) thematisiert. Beide Anklagen sind von der Argumentation her spiegelbildlich angelegt: Dem Unrecht, das darin besteht, daß der Wertstatus der vrowen durch Mißachtung von Frauendienst sozial nicht wirksam werden kann, entspricht das Unrecht politischer Herrschaft. Die herren haben einen Kaiser gewählt, aber sie tun alles, um ihn zu schwächen. Sie verhindern, daß sich die Macht, die seinem Wertstatus gemäß ist, gesellschaftlich realisiert, nur so sind sie selbst mächtig genug, unrehte gwalt auszuüben (vgl. 95). Frauendienst wird auf diese Weise zum Muster politischen Handelns, er dient als Modell, mittels dessen das reale politische Kräfteverhältnis zwischen den Fürsten Österreichs und dem deutschen Kaiser dargestellt und bewertet wird. Ich chlage der herren unreht: daz billich, eben unde sieht von ir gnaden wcere, daz machent si wandelbare, so si einen cheiser gemachent, daz si den denne swachent

227

und lazent in niht vol chomen. den sit habent in genomen genüge herren umbe daz, daz si ir willen deste baz mit unrehtem gwalt han. (85-95)

Dies wiederholt sich noch einmal in der Kennzeichnung der falschen Beziehung der herren zu den armen. Die armen als die, die sich selbst nicht schützen können, bedürfen des Schutzes und Schirms durch die herren, sie sind auf deren gnade angewiesen. Daß diese gnade wirksam wird, gehört zu den zentralen Rechtsverpflichtungen der herren, sie aber mißachten dieses Recht, sie pervertieren den wertethischen Anspruch von Herrschaft, indem sie die armen nicht beschützen, sondern ausplündern. Weil die herren einerseits verhindern, daß die gnade, die dem Kaiser als ranghöchstem Herrscher gemäß ist, sozial wirksam wird, und weil sie andererseits selbst der Verpflichtung zu gnade nicht gerecht werden, gibt es keine irdische Instanz mehr, an die sich der mißhandelte arme in Erwartung gerechten Gerichts wenden könnte. Dieses Urteil über die gegenwärtige Situation rechtfertigt rückwirkend noch einmal die Entscheidung des Klägers, daß nur Gott bzw. Christus als Richter in diesem Verfahren fungieren können (vgl. 45, 106f.); es stattet das Verfahren mit dem Anspruch aus, daß der Urteilsspruch, der auf diese Anklage folgt, das letztgültige Urteil sein wird. Ich fasse die ersten drei Argumentationsschritte der Anklage, weil sie mir symptomatisch für die spezifische Verfahrensweise und Intention dieses Textes zu sein scheinen, zusammen und beziehe sie auf das Programm, das der Prolog entwickelt. 1. Der Prolog beginnt mit der Infragestellung der traditionellen Funktionsbestimmung von tihten. Er stattet das Verhältnis Autor - Publikum mit dem Anspruch aus, in dem nun folgenden Prozeß literarischer Verständigung die gesellschaftlichen Bedingungen für eine erneute Herrschaft der froude wiederherzustellen. 2. Die Anklage beruft sich als allgemeinsten und letztgültigen Legitimationshorizont dessen, was sie vorzubringen hat, auf die göttliche Rechtsnorm der Minne. 3. Auf die Ansage dieser obersten Rechtsnorm folgt die Klage über den Zustand des Unrechts, in dem sich Frauendienst und Frauenpreis gegenwärtig befinden. Diese Abfolge in der Argumentation kennzeichnet Frauendienst als das der Gottesminne analoge Modell irdischer Heilsgewinnung. In diesem Sinne kann Frauendienst als Maßstab für die Rechtmäßigkeit der bestehenden sozialen Ordnung dienen. 4. Auf die Thematisierung von Frauendienst folgt daher konsequent die Anklage der Rechtsbeugung durch die Herrschenden. 5. Mit der Rechtsform der Klage wird die normative Verfassung der Gesellschaft eingeklagt. Ziel der Klage ist es, die Bedingungen dieses Soll-Zustands als Rechtsverpflichtung bewußt zu machen. 6. Indem die Klage von der Bedeutung, die Frauendienst und Frauenpreis haben, ausgeht, weist sie indirekt dem wertbewußten höfischen Literaten die entscheidende Rolle in diesem Prozeß des Bewußtmachens zu: Er ist der rechtmäßige 228

Kläger, der das Publikum zu gemeinsamer Wiederherstellung des rechts- bzw. ordogemäßen Zustande, einer erneuten Herrschaft der froude, verpflichten kann. Im Prolog wird als Ursache des gegenwärtigen Zustande von Unrecht der Treubruch der riehen an der froude genannt. Der Kläger kommt nun auf dieses Initialereignis zurück, er klagt die Situation an, die seitdem an den Höfen herrscht, er kennzeichnet sie als des hoves laster (vgl. 113).9 Was mit des hoves laster gemeint ist, wird allegorisch bezeichnet, die Deutung knüpft dabei indirekt an die metaphorische Aussage des Prologs, die Herrscherin froude sei aus Österreich vertrieben, an. Seit sie vertrieben ist, befindet sich nicht nur die Gesellschaft insgesamt (vgl. 17), sondern noch weitaus mehr ihr repräsentatives Zentrum, die Gesellschaft des Hofes, im Zustand von Verachtung und Schande. Drei der vier Stühle, die die zuvor intakte Herrschaft repräsentierten, sind jetzt verwaist: Es sind die entscheidenden Wertqualitäten von Herrschaft, die gegenwärtig mißachtet werden, die - wie die froude - vom Hof verbannt sind.10 Als erste dieser personifizierten Wertqualitäten werden die alten genannt (129ff.). Sie verkörpern die drei zentralen Eigenschaften rechtsgemäßer Herrschaft, triwe, lop und ere (vgl. 131), sie bezeichnen die notwendige Bindung von Herrschaft an Traditionsbezug und Wertkontinuität. Auf dem zweiten Stuhl saßen zuvor die wisen (135ff.). Auch sie werden, seit die Ausübung unrehter gwalt wise - und das heißt ordobezogene - Herrschaftsentscheidungen abgelöst hat, bei Hof nicht mehr geduldet. Die dritte Gruppe schließlich sind die wol gebornen (142ff.). Es ist kein Zufall, daß das Gebot vornehmer Abkunft erst an dieser Stelle genannt wird, denn - gemäß dem Prinzip der Wertbewährung - ist der Geltungsanspruch adeliger Standeszugehörigkeit an die zuvor aufgeführten Wertqualitäten gebunden, nur in diesem Kontext besteht er zu Recht. Was die Verbannung dieser Konstituenten von Herrschaft ausgelöst hat, wird durch folgenden - aus den zuvor interpretierten Texten des Strickers bereits bekannten - Testfall verdeutlicht: Wenn einer, der edel aber arm ist, bei Hof erscheint, wird er aufgrund seiner Armut abgewiesen, und ebenso ergeht es dem wisen bzw. dem alten, der des guotes fri ist (vgl. 155). Mit diesem Zerrbild angemessener Werterkenntnis, das sich lediglich am Verfügen über Besitz orientiert, sind die bezeichnet, die im Augenblick allein die Herrschaft am Hof innehaben: Es sind die riehen, die der froude den Dienst aufgesagt haben, richeit hat sich mit dem Treubruch aller Wertqualität entblößt, ihr Stuhl ist der einzige, der gegenwärtig noch besetzt ist. Wenn sich der Besitz von materiellem guot in dieser Weise aller Wertansprüche entledigt, wenn der riche nur noch fur sich einen und fur ander deheinen stet (vgl. 161f.), dann steht die Situation bei Hof im Zeichen des Unheils, er ist unsceliger denne die andern (vgl. 166). 9

10

Eine Kritik des Zustande der Höfe, in der die meisten der hier benutzten Argumentationselemente ebenfalls verwendet werden, findet sich auch bei Freidank (49,23ff.; 72f.; 166,5f. u.a.) und im >Renner< (523ff., 611ff., 857ff., 1791ff. u.a.). Vgl. dazu Heinemann S. 398ff., 404ff. Vgl. Waither L. 102, 15.

229

Die Rechtsform der Klage führt auch an dieser Stelle dazu, daß die dem Typus der Zeitenklage verwandte Darstellung von des Hoves laster personell konkretisiert wird. Der Kläger identifiziert daher im folgenden die einzelnen Personengruppen, deren jeweiliges Unrecht für die gegenwärtige Perversion von Herrschaft verantwortlich ist. Auch dieser Prozeß ist - wie die vorausgehende allegorische Charakteristik - so angelegt, daß er die Bedingungen rechts- bzw. ordogemäßer Herrschaft bewußt macht. Das Funktionszentrum von Herrschaft ist die Instanz des Rats. Als erste Gruppe werden demzufolge die Ratgeber genannt (167ff.). Sie handeln so, daß sich das Prinzip wechselseitiger Verpflichtung und Verantwortung, auf dem die Instanz des Rats beruht, ins Gegenteil verkehrt. Die öffentliche schelte ihres Herren rechnen sie nicht, wie sie sollten, der eigenen ere an, sie verschweigen dem Herren das negative Urteil der Gesellschaft und loben sine bose rcete (vgl. 185). Sie würden ihn selbst dann noch bestärken, wenn er sich zu totaler Verweigerung jeder sozialen Bindung entschlösse und - in monomanischem Selbstbezug befangen - zur Karikatur standesgemäßer Lebensweise würde (195ff.). n Die zweite Personengrappe, die angeführt wird, sind die Richter (201ff.). Gerechtes Gericht ist die Legitimationsbasis ordogemäßer Herrschaft, die gegenwärtigen Richter aber haben diese Basis zerstört: Sie setzen anstelle des Rechts, das in Gott gründet, eigene Willkürentscheidungen, die sich allein nach persönlichen Beziehungen und Bestechungsgeldern richten, sie tihten ireu reht elliu (vgl. 204). Bei einer solchen pervertierten Form des Gerichts aber fallen subjektiver Rechtsanspruch und Gerechtigkeit, deren Identität die Grundlage mittelalterlichen Rechtsdenkens ist, auseinander. Der Kläger findet kein Recht, wenn e r - was rechtsgemäß ist - das Urteil bestreitet, so setzt sich die Verkehrung des normativen Zustands fort: Nicht der Richter, der Unrecht tut, wird der Rache ausgesetzt, sondern er ist es, der nun mit seinem haz den Kläger verfolgt, ihn bedroht und so die Wahrheit schließlich zum Schweigen bringt (208ff.). Als dritte Gruppe werden die genannt, die durch Verwandtschaft oder ein besonderes triwe-Verhältnis mit dem Herren verbunden sind, die friunde (213ff.). Die Anklage der friunde knüpft erneut am Thema des Prologs, am Verlust der froude, an. Verglichen mit den Ratgebern und den Richtern sind die friunde ihrem Herren am stärksten verpflichtet, ihre Aufgabe bestünde folglich darin, dem Herren zu eben dem Selbstwertgefühl zu verhelfen, das Resultat harmonischer Übereinstimmung von einzelnem und Gesellschaft ist, der froude (vgl. 218, 224, 225). Die friunde handeln genau entgegengesetzt zu dem, was ihre iriwe-Bindung von ihnen fordert. Sie erzählen dem herren bose mcere, die seinen muot so vollkommen mit Ärger und trüben Gedanken ausfüllen, daß eben die seelische Energie, die eigentlich der froude vorbehalten sein sollte, falsch vertan wird. Auch die friunde haben also ihre Rolle ins Gegenteil verkehrt. Sie erweisen sich als Diebe, sie stehlen 11

Zum negativen Bedeutungsgehalt dieser Vorstellung asozialer winckel-Existenz vgl. das Stichwort der winckel-fuore in dem Tierbispel >Die Eule und der Habicht< (ed. Schwab, Tierbispel) 79, 174.

230

das, was sie vermitteln sollten (vgl. 220). Dieser Diebstahl geht nicht nur den Herren an, durch den Verlust der froude sind alle geschädigt. Damit stellt sich die gleiche Situation allgemeiner Betroffenheit wieder her wie im Prolog, uns wird die froude entzogen (vgl. 225). Diese erneut angesagte Betroffenheit aller expliziert der Kläger im nächsten Punkt seiner Anklage: Es ist die fehlende Wertschätzung der höfischen Kultur, in der sich der gegenwärtige Zustand von Unrecht exemplarisch manifestiert, des hoves laster wird jetzt als der herren siecheit interpretiert (vgl. 231).12 Ihr Kranksein besteht darin, daß sie weder an der Jagd, noch an höfischer Literatur, an Frauendienst, Turnier oder Tanz froude gewinnen. Ich chlage der herren siecheit und ist mir sicherlichen leit: ich furhte daz si nimmer me gesunt werden alsam e. si enmugen leider niht genesen wie mohtens immer siecher wesen si enfrout beizen noch jagen, seitspil, singen noch sagen, sine frout der frowen minne niht, den man vil manger frouden giht, si enfrout buhurdieren noch tanz, dehein tsapel noch chranz. (231-242)

Und diese fehlende Wertschätzung höfischer Kultur erscheint als Indiz für den generellen Ordo-Verlust, in dem die herren gegenwärtig leben. Sie ignorieren alles, was sie an die Bestimmung ihres Standes gemahnen könnte: Sie schätzen weder ihre Nachkommenschaft noch ihren namen, noch die Macht, mit der sie ausgestattet sind, sie sind blind gegenüber der Natur als Repräsentant der Schöpfungsordnung. Wie im Mittelpunkt der Aufzählung der höfischen Lebensformen Frauendienst und Minnesang als zentrales Medium der Herstellung von froude steht, so nimmt auch die Aufzählung der /roude-vermittelnden Erscheinungsformen der Natur die Gestalt der typischen Naturszenerie im Minnesang an: velt und wait, blumen und gras, liehte tage, sumer und vogel sanc (vgl. 246ff.) werden genannt. si enfrout daz gut noch diu chint, si enfrout niht daz si edel sint, si enfrout niht ir nam noch ir gwalt, si enfrout daz velt noch der wait, si enfrowent blumen noch daz gras, daz e der werlde froude was, und liehte tage unde lanc, weder sumer noch vogel sanc. (243-250)

Wenn der Kläger im folgenden konstatiert, die Krankheit werde zum Tode führen, wenn die siechen sich nicht um Arzenei kümmerten und einen Arzt zu Rate zögen, so ist eindeutig, wer diese Rolle allein ausfüllen kann: Es ist die Wertschätzung 12

Zu siecheit als Zeichen defizienter Herrschaft siehe den Schwank am Hof des Herzogs von Lothringen im >Amis< (vgl. S. 156f.). 231

höfischer Kunst, von der die »Genesung« der höfischen Gesellschaft abhängig gemacht wird; der Arzt ist der Kläger selbst, in seiner Rolle als Literat besitzt er der meistersChefte rat (vgl. 259), die Bedingungen für eine intakte Herrschaft, eine erneute Herrschaft der froude, zur Geltung zu bringen. sit in daz niht an frouden frumt und in so jamerlichen chumt, des Wien ich wol daz die grozzen not in niemen buzze wan der tot. swelich sache lange siech liget und deheiner erzenie pfliget, der ist sterben wcege; swer erzenie pflcEge und suehte meisterschefte rat, im hülfe liht ein arzat daz im sin swceriu bürde vil lihte ringer wrde. (251-262)

Dieser erste Teil (vgl. Gliederung 2.21) der Anklage, der mit dem Verweis auf die desolate Situation von Frauendienst und Frauenpreis beginnt (vgl. 71ff.), der am Modell von Frauendienst des hoves laster verdeutlicht (vgl. 85ff.), der unter der Perspektive dieses Unrechts Funktion und Bedeutung höfischer Kunst neu zur Geltung bringt (vgl. 231ff.), schließt mit einer dreifachen Klage-Sentenz ab (263-278). Sie ist als skizzenhafte Rekapitualtion des Tatbestands, wie ihn die Anklage entwickelt hat, angelegt: Die Sentenz beginnt mit der Klage über die Mißachtung von Frauendienst. Der Klagegestus setzt neu ein mit der Verallgemein e r u n g , d a ß d e r biderbe man siner fügende nihtgenizen

chan (vgl. 271f.). D i e d r i t t e

Sentenz schließlich geht in der Generalisierung noch einen Schritt weiter, sie zeigt an, daß das Unrecht, das Frauendienst geschieht, das den biderben man rechtlos macht, die falsche Verfassung der Gesellschaft zur Folge hat: Es sind die valschen, die gegenwärtig die Herrschaft innehaben, sie haben sich die tugentrichen undertan gemacht (vgl. 276ff.). Der nächste Klagegestus charakterisiert den Zustand des Unrechts zusammenfassend mit der bereits aus dem >Amis< bekannten Formel liegen und triegen (vgl. 283f.), das Zitat der Formel markiert zugleich einen Perspektivenwechsel: Wie im >AmisWigalois< und >Diu CröneDas erzwungene Gelübde< des Strickers im Deutschunterricht. In: Mittelalterliche Texte im Unterricht. Hrsg. von Helmut Brackert u.a. 2.Teil. München 1976 (Literatur in der Schule 2), S. 36-92. Cramer, Thomas: Normenkonflikte im >Pfaffen Amis< und im >Willehalm von WendenPfaffen AmisKünec Artüs der guotenachklassischen< Ästhetik. DVjs 54 (1980), S. 204-231. Haupt, Barbara: Der Pfaffe Amis und Uhlenspiegel. Variationen zu einem vorgegebenen Thema. Beiträge zur Älteren Deutschen Literaturgeschichte 4 (1978), (= Till Eulenspiegel in Geschichte und Gegenwart. Hrsg. von Joachim Bumke u.a.), S. 61-91. Henderson, Ingeborg: Strickers Daniel von dem Blühenden Tal. Werkstruktur und Interpretation unter Berücksichtigung der handschriftlichen Überlieferung. Amsterdam 1976 (German Language and Literature Monographs 1). Janota, Johannes (Hrsg.): Der Stricker. Abbildungen zur handschriftlichen Überlieferung. I. Der nackte Bote. II. Die Martinsnacht. Anhang: Der Weinschwelg. Hrsg. von J.J. Göppingen 1974 (Litterae 8). Kartschoke, Dieter: Weisheit oder Reichtum? Zum Volksbuch von Fortunatus und seinen Söhnen. In: Literatur im Feudalismus. Hrsg. von Dieter Richter. Stuttgart 1975 (Literaturwissenschaft und Sozialwissenschaften 5), S. 213-259. Kern, Peter, Rezeption und Genese des Artusromans. Überlegungen zu Strickers >Daniel vom blühenden TalHelmbrechtKarl der GroßeKarl dem Großen