Mythos und Postmoderne: Mythostransformation und mythische Frauen in zeitgenössischen Texten [1 ed.] 9783737014878, 9783847114871


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Mythos und Postmoderne: Mythostransformation und mythische Frauen in zeitgenössischen Texten [1 ed.]
 9783737014878, 9783847114871

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Open-Access-Publikation (CC BY 4.0) © 2022 V&R unipress | Brill Deutschland GmbH ISBN Print: 9783847114871 – ISBN E-Lib: 9783737014878

Deutschsprachige Gegenwartsliteratur und Medien

Band 32

Herausgegeben von Carsten Gansel und Stephan Pabst Reihe mitbegründet von Hermann Korte

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Barbara Bollig (Hg.)

Mythos und Postmoderne Mythostransformation und mythische Frauen in zeitgenössischen Texten

Mit 2 Abbildungen

V&R unipress

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Die Konferenz „Mythos und Postmoderne“ und der vorliegende Tagungsband wurden unterstützt von der Research School der Ruhr-Universität Bochum und gefördert durch die Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder [DFG GSC 98/3]. © 2022 Brill | V&R unipress, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau und V&R unipress. Wo nicht anders angegeben, ist diese Publikation unter der Creative-Commons-Lizenz Namensnennung 4.0 lizenziert (siehe https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/) und unter dem DOI 10.14220/9783737014878 abzurufen. Jede Verwertung in anderen als den durch diese Lizenz zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Gestaltung: Barbara Bollig Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2198-6304 ISBN 978-3-7370-1487-8

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Inhalt

Barbara Bollig Mythos und Postmoderne – Einleitung

. . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

Andrea Geier Am Mythos arbeiten. Methodische Überlegungen zu literarischer Rezeption zwischen Tradition und Transformation . . . . . . . . . . . . .

17

Lisa Keil Zwischen Aphrodite und Hermes – mythologische Transformationen um Intergeschlechtlichkeit in Ulrike Draesners Mitgift (2002) . . . . . . . . .

37

Mrunmayee Sathye “Becoming. Afrekete.” Myth, Subjectivity, and Emancipation in Audre Lorde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

55

Cornelia Heinsch Brüchiger Text, brüchiges Leben. Sappho in Melissa Broders The Pisces (2018) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

69

Vanessa Klomfaß Eingewebte Mythologie. Zur Signifikanz und Transformation der F/Philomela-Figur in Abrams’/Dorsts S. (2013) . . . . . . . . . . . . .

87

Cécile Neeser Hever De-Marginalizing Antigone’s Sister: A Postmodern Take on Tragedy . . . 101 Fabienne Fecht „Die Seuche der Trauer und der Liebe“: Weibliche Solidarität und kollektiver Widerstand als Antigone-Prinzip in Darja Stockers Antikentransformation Nirgends in Friede. Antigone . . . . . . . . . . . . 117

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Inhalt

Nina Peter Terroristinnen und ihre Spiegelung im Mythos: Elfriede Jelineks Theatertexte „Ulrike Maria Stuart“ und „Das schweigende Mädchen“

. . 133

Ines Böker „Wir sind gekommen, doch wir sind gar nicht da“ – Mythologische Formationen von Macht und Gewalt in Aischylos’ Die Schutzflehenden und Elfriede Jelineks Die Schutzbefohlenen . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Giuliano Lozzi Die trans-formierende Stimme der Eurydike. Zu Schatten (Eurydike sagt) von Elfriede Jelinek . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Anna Lenz „ich arme Blinde verstehe nicht“ – Mythos (und) Verstehen in Elfriede Jelineks Am Königsweg (2020) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Felix Oberholzer Pierre Bourdieu’s Fascination for Virginia Woolf: Critical Reflections on Mythicized Moments of Masculine Domination . . . . . . . . . . . . . . . 203 Rhoslyn Francesca Beckwith Queen Luise of Prussia: Taking the Fairy-tale Queen into the Postmodern Era . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Autor:innen

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233

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Barbara Bollig

Mythos und Postmoderne – Einleitung

Mythen und mythologische Figuren stellen seit jeher einen integralen Bestandteil kultureller Entwicklungen dar und sind bis heute in diversesten Facetten und in unterschiedlichen Bereichen des menschlichen Lebens bedeutungstragend. Folgen wir René Girards religionswissenschaftlicher und kulturanthropologischer Forschung, markieren Mythen und die Durchführung von mit ihnen verbundenen Ritualen gar die Grundsteine menschlichen Zusammenlebens in einer Glaubensgemeinschaft, die sich als soziales Gefüge mit normativem Werteverständnis etabliert und von anderen Gruppierungen abgrenzt1. Es ist daher kaum verwunderlich, dass mythologische Konzepte als Namen und Komplexe in alltäglicher und populärpsychologischer Kommunikation als geflügelte Phrasen ebenso vorkommen, wie sie einen signifikanten Stellenwert in der wissenschaftlichen Forschung der Literatur-, Kultur-, Religions- und Politikwissenschaften, der Psychologie und Soziologie einnehmen. Mythologische Narrative und ihre Charaktere stehen an der Spitze diverser Diskurse über die Erschaffung von Erde und Menschen, die Gründung von Nationen, sie sind Bestandteile gemeinsamer Werte- und Normativitätskanones, Dogmatiken, Ideologien und kulturellen wie künstlerischen Prozessen gleichermaßen. Ebenso vielfältig wie die Spuren diverser Mythologien im Alltag sind die Versuche, den Mythosbegriff und seine Charakteristika in ihren jeweiligen institutionalisierten Kontexten zu definieren. Definitorische Grundsatzarbeiten wie die vielzitierte Aufteilung des Mythos in gleich sieben verschiedene Geltungsbereiche nach Jan und Aleida Assmann2 und die damit hervorgehobene 1 Vgl. Girard, René (2013). Und ich sah den Satan vom Himmel fallen wie ein Blitz. Eine kritische Apologie des Christentums. 2. Auflage. München: Verlag der Weltreligionen; Girard, René (2013). Das Heilige und die Gewalt. Düsseldorf: Patmos; Dücker, Burkhard (2013). Ritual. In: Nünning, Ansgar (Hrsg.). Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. 5. Auflage. Stuttgart: Metzler. 661–662. 2 Assmann, Aleida/Assmann, Jan (1998). Mythos. In: Cancik, Hubert/Gladigow, Burkhard/Kohl, Karl-Heinz (Hrsg.). Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe. Stuttgart, Berlin, Köln: W. Kohlhammer. 179–200.

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Barbara Bollig

Signifikanz des Mythos über sein Dasein als rein literarischer, narrativer Gegenstand in Form von aus der Antike überlieferten Tragödiendichtungen hinaus manifestieren die produktive Janusköpfigkeit mythischer Sujets, Figuren und Strukturen. Minimaldefinitorisch als „story“, „plot“ oder „narrative“3 zu beschreiben, entfaltet die mythische Geschichte ihre Bedeutung nicht allein in ihrer Rezeption, sondern auch und besonders in der Interpretation durch die Rezipient:innen und die hieraus entstehenden Prozesse identitätsbildender Abgrenzung, normativer Veränderung der eigenen Weltsicht sowie künstlerischer Weiter- oder Neubearbeitung des mythischen Stoffes. Obschon eine Unterscheidung zwischen bspw. narrativen und politischen Mythen, wie sie sich ebenfalls bei Assmann/Assmann findet, zunächst sinnig erscheint und für einen ersten Umgang mit dem mythischen Narrativ und seinen Figuren hervorragend geeignet ist, gilt es doch zu beachten, dass es sich hierbei um eine künstliche Kategorisierung handelt, deren augenscheinliche Exklusivität der Kategorien untereinander der Lebendigkeit des mythischen Interpretationsgegenstandes nicht gerecht wird. Vielmehr bereichern sich die jeweils aufgeführten dominanten Merkmale des Mythologischen wechselseitig – so ist bspw. der literarische Mythos nicht allein als literarisches Werk zu verstehen, dessen durch seine Figuren markiertes politisches Potenzial zu normativer Identitätsstiftung nicht nur einen Interpretationsansatz liefert, sondern auch als Gegenstand, der das mythische Narrativ an sich (und die in ihm vertretene Politik) als Politikum ausweist. In westlich geprägten Kulturkanones finden sich über Jahrhunderte zahlreiche Ansätze und Theorien zur Analyse und Erklärung von Mythologien und deren Auswirkungen auf Gesellschaftsstrukturen und das individuelle wie kulturelle Leben. Von Friedrich Nietzsche über Claude Leví-Strauss und Roland Barthes bis hin zu Hans Blumenberg: Denkweisen über und Philosophien bezüglich der Interdependenz von Mythos und Lebensrealität sind so facettenreich wie die mythischen Stoffe selbst und stellen mit (de-)konstruktivistischen, philosophischen und transdisziplinären Schwerpunktsetzungen produktive Anknüpfungspunkte für geisteswissenschaftliche Ansätze zum zeitgenössischen Umgang mit Mythen und mythischen Figuren dar. Es ist gerade dieser Umgang mit dem Mythos, der beständige Prozess der Neu-, Um- und Weiterverarbeitung des mythischen Stoffes, also die beständige und nimmer gleiche Arbeit am Mythos, die Hans Blumenberg in seiner gleichnamigen Arbeit 19794 als ausschlaggebend für den Fortbestand eines mythischen Stoffes über Jahrtausende hinweg benennt und die im Hinblick auf die zahlreichen Versionen eines 3 Frye, Northrop (1990). Myth and Metaphor. Selected Essays, 1974–1988. Hrsg. u. m. e. Einführung von Robert D. Denham. Charlottesville, London: University of Virginia Press. 4 Blumenberg, Hans (1979). Arbeit am Mythos. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

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Mythos und Postmoderne – Einleitung

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mythischen Narrativs aus kultur- und literaturwissenschaftlicher Sicht zu beständig neuer Forschung einlädt. Beispielhaft sind hier die Sammlungen Mythos & Moderne5 (1983) und die 2005 erschienene Replik Moderne & Mythos6 zu nennen, die neben mythostheoretischen Überlegungen insbesondere die Verquickung von Zeitgeist und Politik der Neuzeit mit dem antiken mythischen Material hervorheben. Mit einer eher traditionellen Parallelisierung von Mythos und dessen literarischer, tragödiendichterischer Ausgestaltung stechen Manfred Fuhrmanns Terror und Spiel7 (1971) und Werner Fricks Mythische Methode8 (1998) als umfangreiche Sammlungen traditioneller Arbeiten am Mythos als literarischem Gegenstand hervor. Ein gemeinsamer Nenner aller theoretischen und stoffgeschichtlichen Arbeiten zum Mythos und am mythischen Stoff ist, dass sich mythische Texte und ihre Protagonist:innen vor dem jeweiligen Rezeptionskontext in ihren Bedeutungszuschreibungen wandeln. In mythologischen Narrativen aller Art und Kulturen spielen Frauenfiguren eine zentrale Rolle – wenn auch oftmals nicht als Protagonistinnen in den Tragödien, die sich um sie herum abspielen, sondern als allegorische Katalysatorinnen, nonkonformistische Rebellinnen oder Unheilvolle, die die bestehende Gesellschaftsordnung ins Chaos stürzen. Insbesondere in der antiken griechischen Vorstellung gelten sie, so Mary Beard, häufig als Monströse, als sich unrechtmäßig Bemächtigende, als „abusers of power“9 – und doch erscheint gerade dieses, ihr wirkungsvolles Handeln, logisch, nachvollziehbar und evoziert nicht selten Empathie. Trotzdem – oder vielleicht gerade deswegen – stellen Frauen wie Medea, Kassandra und Antigone, die Furien, Göttinnen und alle ihre Schwestern bis heute ein Faszinosum dar. Die sie umgebenden Mythen werden verschiedentlich rezipiert, ent- und remythifiziert, ihre Schicksale von der antiken in eine neue Zeit eingeschrieben; die Figuren durchleben Transformationen, die sie entweder als eindeutige Weiterentwicklungen ihrer Vorgängerinnen markieren, bestimmte Eigenschaften, Mytheme10,

5 Bohrer, Karl Heinz (Hrsg.) (1983). Mythos und Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 6 Vietta, Silvio/Uerlings, Herbert (Hrsg.) (2006). Moderne und Mythos. München: Wilhelm Fink. 7 Fuhrmann, Manfred (Hrsg.) (1971). Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption. München: Wilhelm Fink. 8 Frick, Werner (1998). Die mythische Methode. Komparatistische Studien zur Transformation der griechischen Tragödie im Drama der klassischen Moderne. Tübingen: Niemeyer. 9 Beard, Mary (2017). Women & Power – A Manifesto. London: Profile. 10 Analog zur linguistischen Kategorie des Lexems stellen Mytheme die kleinsten bedeutungstragenden Elemente eines Mythos dar, sie sind also die Einzelstücke, die ein mythologisches Narrativ in seiner Gänze ausmachen. Vgl. Leví-Strauss, Claude (1979). Myth and Meaning. New York: Schocken.

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Barbara Bollig

Mythologeme11 ausstellen oder aber nur noch ein leises Echo einer Verwandtschaft anklingen lassen. Ihre Form, Allegorisierung und ästhetische, mediale Ausgestaltung sind mannigfaltig, der Mythosbegriff mit seinen sich immer wandelnden Zuschreibungen ist zunehmend komplex und bedarf im Kontext einer zeitgenössischen Auseinandersetzung mit mythischen Figuren und deren Nachleben dezidierten Weiterdenkens. Wo Agency und Performance von Frauenfiguren sich wandeln, geschieht eine narrative Arbeit am Mythos, die (Be-) Deutungsebenen verschiebt, Traditionen aufbricht und neue Diskursformen schafft. Ein Beispiel par excellence für ebendies stellen die Figur der Medea, ihr gleichnamiger Mythos und die zahlreichen Verarbeitungen des mythischen Stoffes über die vergangenen 2500 Jahre dar. Während sie in klassischen Dramentexten wie der vielfach als „Urversion“12 des Narrativs angesehenen Tragödie Euripides’ (ca. 431 v. Chr.) als facettenreiche, mächtige Frau dargestellt wird, die aus Liebe ihre Heimat Kolchis und ihre Familie verrät, von ihrem Ehemann Jason zugunsten seines neuen politischen Bündnisses mit Kreusa, der Königstochter von Korinth, verlassen wird und schließlich aus verletztem Stolz, unzähmbarer Wut und endloser Trauer die Braut und die eigenen Kinder ermordet13, zeigen zeitgenössische Texte sie anders. Oftmals wird ihre Vorgeschichte – ihr Leben in Kolchis, die Verbandelung mit Jason, ihr autonomer Charakter – ausgelassen, den Rezipient:innen wird Medeas Geschichte ohne die jeweiligen Katalysatoren ihrer Handlung präsentiert, der Infantizid steht als katastrophale Tat im Fokus. Paradoxerweise wird diese Tat in unterschiedlichen Variationen des mythischen Stoffes ebenso als Akt positiver Emanzipation von Jason14 oder als Ausdruck unendlicher, wenngleich verzweifelter, Mutterliebe, die die Kinder vor 11 Als Mythologem wird ein autonom bedeutungstragendes Motiv oder Sujet innerhalb der Mythologie bzw. einem mythischen Narrativ verstanden, welches auch über die Verwendung im mythischen Zusammenhang evokativ signifikant ist, bspw. der Kindermord im MedeaMythos. 12 Euripides’ Tragödie gereicht zahlreichen Autor:innen zum Vorbild für eigene Adaptionen des Medea-Stoffes – zumeist mit dem katastrophalen Kindermord als bekanntes Ende der Dramenhandlung. Jedoch ist Medea nicht in allen antiken Überlieferungen die Mörderin ihrer Kinder: Wie anderen literarische und archäologische Quellen belegen, zeichnet sich Medea vielmehr durch ihre Weisheit und Zauberkraft aus, nicht durch ihre Rolle als mordende Mutter. (vgl. hierzu ausführlich: Schmidt, Margot (1992). Medea. In: Fondation pour le Lexicon Iconographicum Mythologiae Classicae (Hrsg.). Lexicon iconographicum mythologiae classicae (LIMC). Band VI. Zürich, München: Artemis & Winkler. 396–398.) Dass der Infantizid in unserer Zeit als Synonym für den Medea-Stoff emergiert, zeigt die Wirkmacht des Euripideischen Textes als ältester ganzheitlich überlieferter und in einem westlichen Bildungskanon etablierter Text des Medea-Stoffes auf. 13 Vgl. Kerenyi, Karl (1958). Die Mythologie der Griechen, Bd. II: Die Heroengeschichten. München: dtv. 197–219. Kerenyi beruft sich auf die Mythosversion Euripides’. 14 Vgl. bspw. die Medea-Figur im gleichnamigen Fernsehfilm Lars von Triers (1988).

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Mythos und Postmoderne – Einleitung

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einer Zukunft in Unterdrückung durch Patriarchat und Kultur bewahren soll15, dargestellt, wie sie zum hyperbolischen Paradebeispiel ‚schlechter‘ Mutterschaft erhoben wird. Die diskursive Bipolarität, mit der der Name Medea heute verwendet wird, ist symptomatisch für den populären Umgang mit ihren mythologischen Schwestern – sie begegnet uns jedoch auch in der Behandlung von Frauen, Aktivist:innen und Menschen, die eine Veränderung des aktuellen (politischen) Status Quo herbeizuführen suchen. Sie werden oftmals ebenso schnell als hysterisch und monströs belächelt, wie sie als zu vernachlässigend bevormundet werden; man denke an Greta Thunberg und andere Klimaaktivist:innen, die Black Lives Matter-Gründerinnen Alicia Garza, Patrisse Cullors und Opal Tometi oder die Initiative MMIWG (Missing and Murdered Indigenous Women and Girls), die sich für die Aufklärung des Verschwindens zahlreicher indigener Frauen und Mädchen einsetzt. Diese tagesaktuellen politischen Debatten sind in ähnlicher Form in antiken Mythen ebenso präsent wie deren Figuren in kulturellen Gedächtnissen als Symbole unterschiedlicher Couleur. So stellt die Debatte um den künstlichen Binarismus von Kultur vs. Barbarei bereits in der Euripideischen Tragödie ein signifikantes Sujet dar; das fremde Kolchis, Medeas Heimat, wird gegenüber der griechischen Hochkultur als minderwertig angesehen – und mit ihm Medea. Diese grekozentrische Umsetzung imperialistischer Machtansprüche ist dem Medea-Mythos in all seinen Varianten immanent, das Othering Medeas durch Kreon ein Stützpfeiler des Mythos in verschieden starker Ausführung: Hans Henny Jahnns Medea wird in frühen Versionen des gleichnamigen Dramas schon im dem Haupttext vorangestellten Nebentext als N-Wort beschrieben16, Wesley Enochs Black Medea macht die Protagonistin schon titularisch zu einer schwarzen da australisch-indigenen Frau17, Dea Lohers Manhattan Medea

15 Vgl. Moraga, Cherrie L. (2001). The Hungry Woman – A Mexican Medea, & Heart of the Earth: A Popol Vuh Story. Albuquerque: West End Press. 1–100; oder Toni Morrisons Roman Beloved (1987), dessen Protagonistin ihre Kinder nach dem Vorbild Margaret Garners ermordet, um sie vor ihren Unterdrückern zu bewahren. (Zu Margaret Garner vgl. Schönhagen, Astrid Silvia/Ulz, Melanie (2010). Medea als Sklavin. Antikenrezeption und Kindsmord in der US-amerikanischen Abolitionismusdebatte. In: Fischer-Lichte, Erika et al. (Hrsg.). medeamorphosen. Mythos und ästhetische Transformationen. München: Wilhelm Fink. 111–128). 16 Jahnn, Hans Henny (2021). Medea. Stuttgart: Reclam. In den ersten Versionen des Stückes von 1924 und 1926 gibt er Medea als einziger Figur in seiner Liste der dramatis personae eine nähere Beschreibung in Form des Begriffs der Barbarin bei. In der Dramenversion aus letzter Hand (1959) wird die Bezeichnung durch das N-Wort ersetzt. Die Neuauflage des Textes von 2021 führt die Bezeichnung als Teil des Nebentextes, ergänzt diese jedoch durch eine Erörterung zur Historie der Begriffsauswahl für Jahnn. 17 Enoch, Wesley (2007). Black Medea. In: Cleven, Lisa (Hrsg.). Contemporary Indigenous Plays. Sidney: Currency Press. 55–82.

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Barbara Bollig

thematisiert die Flucht der Migrantin Medea nach New York18, Cherríe L. Moragas Mexican Medea ist eine homosexuelle Chicana19. Sie alle verkörpern das phänotypisch Andere, immer aber die Antithese zum patriarchalischen, weißen, westlichen, heteronormativen männlichen Subjekt, und werden hierdurch ebenso zur Zielscheibe von Rassismus und faschistischer Unterdrückung wie durch ihre eigentlichen Handlungen. Wann immer eine mythische Frau in unserer Zeit – auf Bühnen, in Texten, in populären Diskursen – erscheint, so betonen sowohl Martha C. Nussbaum20 als auch Mary Beard, geht es nicht darum, ihre alte, tradierte Geschichte nachzuerzählen: Athenian drama in particular, and the Greek imagination more generally, has offered our imaginations a series of unforgettable women: Medea, Clytemnestra and Antigone among many others. They are not, however, role models – far from it. For the most part, they are portrayed as abusers rather than users of power. They take it illegitimately, in a way that leads to chaos, to the fracture of the state, to death and destruction. They are monstrous hybrids, who are not, in the Greek sense, women at all. And the unflinching logic of their stories is that they must be disempowered and put back in their place. […] The point is simple but important: as far back as we can see in Western history there is a radical separation – real, cultural, and imaginary – between women and power.21

Wie jedoch handhabt die Moderne, handhabt die Postmoderne einerseits diese Trennung zwischen (mythischer) Frau und (legitimer) Macht – und wie geht sie mit den scheinbar chaotisch-destruktiven Folgen weiblicher Machtaneignung um? Wie werden mythologische Narrative im Sinne einer postmodernen22 Lite18 Loher, Dea (2010). Manhattan Medea, & Blaubart – Hoffnung der Frauen. Frankfurt am Main: Verlag der Autoren. 7–64. 19 Vgl. für eine intersektionale Analyse auch: Bollig, Barbara (2021). Chicanx, queer, warrior*ess: Cherríe L. Moraga’s Mexican Medea. In: onlinejournal kultur & geschlecht 27. O.S. (Abrufbar unter: https://kulturundgeschlecht.blogs.ruhr-uni-bochum.de/wp-content/uploa ds/2021/07/Bollig_Chicanx-queer-warrioress_finalo.pdf (Stand: 23/02/2022). 20 Nussbaum, Martha C. (1994). Serpents in the Soul. A Reading of Seneca’s Medea. In: Dies.: The Therapy of Desire. Theory and Practice in Hellenistic Ethics. Princeton: Princeton UP. 439–483. 21 Beard (2017), 59ff. 22 Symptomatisch für die literaturwissenschaftliche Epoche der Postmoderne ist die Vorstellung, dass das Potenzial schriftstellerischen Schaffens vollständig ausgeschöpft und somit nichts generisch Neues mehr geschaffen werden kann – es kann lediglich bereits Dagewesenes verändert oder anders kontextualisiert bzw. umgeschrieben werden. Metric thematisieren dies in ihrem Lied „Dead Disco“ (Album Old World Underground, Where Are You?, 2003) wunderbar eindrücklich: „All we get is / dead disco / dead funk / dead rock’n’roll / remodel / everything has been done / la-la-la-la-la-la-la-la-la-la-la-la.“ Es ist besonders die Aufforderung zum Remodellieren des Bekannten, das den Prozess des weiteren künstlerischen Schaffens in der Postmoderne exakt beschreibt – und für die Arbeit am Mythos charakteristisch ist. (Besonderer Dank gilt Lutz Schowalter für die kanadistisch-musikalische Lektion in Epochenkunde.)

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Mythos und Postmoderne – Einleitung

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ratur- und Kulturwissenschaft bearbeitet? Gerade im Hinblick auf ein postmodernes Verständnis von Cultural Studies und der Vorstellung, dass auch in ihrer Transformation schon alle inhaltlichen und formalen Möglichkeiten klassischmythischer Narrative ausgeschöpft sein könnten, stellt sich die Frage, wie der Mythos und seine Frauen hergestellt und als Grundpfeiler kultureller Bedeutung und Erinnerung in unserer Zeit relevant gehalten werden. Welche Strategien werden angewandt, um Antigone, Elektra, Medea und Kassandra zu formen? Wie verschiebt sich der Fokus vom männlichen Helden der antiken Tragödie hin zu seinen weiblichen Nebenfiguren in einer postmodernen Welt? Wie sprechen die mythologischen Subalternen und Stummen und was sagen sie? Und wie kommt es, dass reale historische Persönlichkeiten in die Sphären mythischer Bedeutung aufsteigen? Den mythologischen Frauen und den sie umgebenden Erzählungen werden unterschiedliche Interpretationen, Entmythifizierungen und Remythisierungen beigebracht, ihre Schicksale aus einer mythischen Vorzeit in zeitgenössische Settings übertragen; die Charaktere durchlaufen vielfältige Transformationen. Die ästhetischen und medialen Verklärungen, die sie erfahren, sind zahlreich, die Verständnisse des ‚Mythos‘ und des ‚Mythologischen‘ variieren in ihrer Bedeutung und werden je nach Setting, Form und Forschungsperspektive komplexer. Die Verschiebungen innerhalb der Handlungsfähigkeit weiblicher Charaktere und die Inszenierung von Weiblichkeit, Androgynität und patriarchalischer Hegemonie machen auf eine andauernde Arbeit am Mythos aufmerksam – ein Prozess, der ablenkende (Be-)Deutungsebenen aufzeigt, mit Traditionen und gesellschaftlichen Normativitäten bricht und neue Diskursrichtungen etabliert. Wie der Mythos selbst zeichnen sich auch die ihn untersuchenden Forschungsbereiche durch eine große Heterogenität von Theorien, Analyse- und Schreibprozessen aus, die eine beständige Relektüre mythischer Stoffe vor dem Hintergrund neuer theoretischer Entwicklungen und produktiv-komparatistischer23 Perspektiven einfordern. Es gilt, unter Berücksichtigung aktueller politischer, kultureller und institutioneller Diskurse das Desiderat zu beheben, eben jene seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts omnipräsenten Theorien zum Mythischen zu aktualisieren, um zeitgenössische Diskussionen zu erweitern und zu eruieren, welchen Stellenwert Mythen und ihre Figuren im 21. Jahrhundert einnehmen und durch welche Transformationsprozesse die Signifikanz antiker Stoffe für eine zeitgenössische Rezipierendenschaft bewahrt wird.

23 Vgl. zur Verbindung von Komparatistik und Mythos speziell Schmitz-Emans, Monika (2004). Zur Einleitung. Theoretische und literarische Arbeiten am Mythos. In: Schmitz-Emans, Monika/Lindemann, Uwe (Hrsg.). Komparatistik als Arbeit am Mythos. Heidelberg: Synchron. 9–37.

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Barbara Bollig

Mit dem Ziel der Bearbeitung der oben genannten Fragen fand die Konferenz „Mythos & Postmoderne – Mythostransformation und mythische Frauen in zeitgenössischen Texten“ im Frühjahr 2021 an der Ruhr-Universität in Bochum statt, aus der der vorliegende Tagungsband entstanden ist. Mithilfe eindrücklicher Vorträge insbesondere aus der germanistischen Literaturwissenschaft und den Intercultural Studies wurden große Mythen des Altertums wie die Tragödien um Ödipus und Medea, einzelne mythische Figuren wie Afrekete und Euridike, signifikante Sujets wie die Transformation des Hermaphroditos oder die Mythoswerdung realhistorischer Personen wie Luise von Preußens in das Zentrum wissenschaftlicher Überlegungen gerückt und ihre schriftstellerischen und künstlerischen Verarbeitungen in zeitgenössischen, postmodernen Texten untersucht. Es fällt auf, dass die Rolle der mythischen Frau, Weiblichkeit als politische Kategorie oder Akte der Emanzipation (eines Narrativs von seinen Traditionen ebenso wie die der Frau vom Patriarchat) oftmals Thema, nicht aber zwingend Ziel der jeweiligen Arbeit am Mythos sind. Vielmehr steht der Wandel der mythologischen Frau vom Objekt des Mythos zum Subjekt für die Rezeption den Prozessen der Mythostransformation eingeschrieben, für die Rezipierenden gereichen die Protagonist:innen gar teilweise zum Identifikationsobjekt und Fixpunkt in der Etablierung der eigenen Subjektivität – sowohl meta- wie auch extradiegetisch. Das Genre des mythischen Narrativs wird aufgebrochen, durch die Bezugsetzung zu realen soziopolitischen Diskursen verschwimmen die Grenzen zwischen Fiktion und Realität, durch den Einbezug anderer generischer Charakteristika etablieren sich auf der Basis des tradiert Mythologischen ein Palimpsest aus literarischem Schaffen und kulturellen Traditionen, die die antike Vorzeit mit ihren Figuren für die Postmoderne in all ihren Polyvalenzen besonders wertvoll macht.

Bibliographie Assmann, Aleida/Assmann, Jan (1998). Mythos. In: Cancik, Hubert/Gladigow, Burkhard/ Kohl, Karl-Heinz (Hrsg.). Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe. Stuttgart, Berlin, Köln: W. Kohlhammer. 179–200. Beard, Mary (2017). Women & Power – A Manifesto. London: Profile. Blumenberg, Hans (1979). Arbeit am Mythos. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Bohrer, Karl Heinz (Hrsg.) (1983). Mythos und Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Bollig, Barbara (2021). Chicanx, queer, warrior*ess: Cherríe L. Moraga’s Mexican Medea. In: onlinejournal kultur & geschlecht 27. O.S. (Abrufbar unter: https://kulturundge schlecht.blogs.ruhr-uni-bochum.de/wp- content/uploads/2021/07/Bollig_Chicanx-que er-warrioress_finalo.pdf (Stand: 23/02/2022). Dücker, Burkhard (2013). Ritual. In: Nünning, Ansgar (Hrsg.). Metzler Lexikon Literaturund Kulturtheorie. 5. Auflage. Stuttgart: Metzler. 661–662.

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Mythos und Postmoderne – Einleitung

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Andrea Geier

Am Mythos arbeiten. Methodische Überlegungen zu literarischer Rezeption zwischen Tradition und Transformation

Abstract Die literarische Arbeit am Mythos basiert darauf, dass Wiedererkennbarkeit über stoffgeschichtliche Kontinuität hergestellt wird, und dass Variationen entwickelt werden. Wie beschreiben wir aus literaturwissenschaftlicher Sicht solche Text-Traditionen und wie das kulturelle Wissen über einen Mythos? Welche Bedeutung haben Intertextualität und Interfiguralität für die literaturwissenschaftliche Interpretation und ggf. im Unterschied dazu für andere Rezeptionssituationen? In meinen Überlegungen konzentriere ich mich auf zentrale Aspekte von Traditionsbildung und verschiedene Formen von Transformationen in der Darstellungs- und Erzähltradition. Als zentrales Beispiel wähle ich Medea, und im Zusammenhang mit der literarischen Mythos-Rezeption in Form von Nachdichtungen, Bearbeitungen, Umschriften und Korrekturen werde ich insbesondere auf die Arbeit an Weiblichkeitsbildern eingehen. Dabei soll auch deutlich werden, dass die Beschäftigung mit Mythentexten Grundfragen literaturwissenschaftlichen Arbeitens in den Feldern Interpretation, Kanonbildung und literarische Wertung berührt. Keywords: Mythostransformation, Kanonbildung, literarisches Recycling

1.

Fragen an die langlebige Attraktivität von Mythenerzählungen

Immer noch oder immer wieder einmal Medea, Kassandra, Iphigenie oder Antigone? Die künstlerische „Arbeit am Mythos“ (Hans Blumenberg) weist Konjunkturen auf, aber Mythen haben weiterhin eine Faszinationskraft, wie Inge Stephan in ihrer Studie Musen und Medusen hervorhebt: „Ungeachtet aller Trivialisierung und Kommerzialisierung des Mythos im 20. Jahrhundert sind die Mythen immer noch unangefochten das große Reservoir, aus dem alle diejenigen schöpfen, die nach Sinn suchen und Sinnangebote machen wollen.“1

1 Stephan, Inge (1997). Musen und Medusen. Mythos und Geschlecht in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Köln, Weimar, Wien: Böhlau. 11.

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Andrea Geier

Sinnsuche und Sinnstiftung erscheinen aus einer produktions- und rezeptionsorientierten Perspektive als zentrale Motivationen.2 Sie können sich auf kulturphilosophische Entwürfe beziehen, auf Machtverhältnisse und Geschlechterbeziehungen oder auf historische Umbruchssituationen. Doch in welcher Weise, durch welche Verfahren, wird dabei Sinn gestiftet? Wie beschreiben wir in der Literaturwissenschaft unterschiedliche Formen des literarischen Umgangs mit Mythosmaterial? Wie erfassen und ordnen wir Entwicklungen und Veränderungen von Mythenerzählungen? Was begreifen wir als Transformationen, und spielt Sinnstiftung dabei notwendig eine Rolle? Wie stellt sich kulturelles Wissen über einen Mythos her? Ist die Arbeit an Geschlechterbildern notwendig auf ein – kritisches – Interesse an geschlechtsspezifischen Machtverhältnissen zurückzuführen? Wie diese Fragen zeigen, konzentriere ich mich in meinen Überlegungen zur literarischen und literaturwissenschaftlichen Arbeit am Mythos auf Traditionsbildung und verschiedene Varianten von Transformationen. Als zentrales Beispiel wähle ich Mythentexte über Medea, und anhand dieses Beispiels werde ich auf die Arbeit an Geschlechterbildern eingehen.

2.

Literarisches Recycling, kulturelles Wissen und das Gedächtnis der Literatur

Mythentexte entstehen durch einen Prozess des literarischen Recyclings: Autor:innen bedienen sich aus einem überlieferten Fundus der Tradition und nehmen in wiederholend-bestätigender oder aber problemorientierter Perspektive darauf Bezug. Mythentexte situieren sich damit stets in einem „Spannungsfeld von Anknüpfung und Abweichung, Wiederholung und Widerspruch, von imitatio, variatio und aemulatio“.3 Nachdichtungen, Bearbeitungen und Korrekturen eines Mythos lassen sich daher auch als Formen produktiver Rezeption verstehen.4 Mythos begegnet uns in Texten und anderen Kunstwerken als 2 An einzelnen Mythosprojekten hat dies nachgezeichnet Preußer, Heinz-Peter (2000). Mythos als Sinnkonstruktion. Die Antikenprojekte von Christa Wolf, Heiner Müller, Stephan Schütz und Volker Braun. Köln, Weimar, Wien: Böhlau. 3 Frick, Werner (1998). Die mythische Methode. Komparatistische Studien zur Transformation der griechischen Tragödie im Drama der klassischen Moderne. Tübingen: Niemeyer. 11. Siehe insbesondere die Ausführungen zu Intertextualitätskonzepten und literary recycling, 28ff. 4 Damit knüpfe ich u. a. an Hans Robert Jauß an, der im Rahmen seines Versuchs, Literaturgeschichte aus der Sicht der Rezeptionsästhetik zu reformulieren, auch Autor:innen als Leser:innen in den Blick genommen hat. Literaturgeschichte definiert er als einen „Prozeß ästhetischer Rezeption und Produktion, der sich in der Aktualisierung literarischer Texte durch den aufnehmenden Leser, den reflektierenden Kritiker und den selbst wieder produzierenden Schriftsteller vollzieht.“ Jauß, Hans Robert (1974). Literaturgeschichte als Provokation. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 144–207. 172. Grundlegend außerdem: Grimm, Gunter

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Am Mythos arbeiten

eine immer schon erzählte Geschichte, die aufgegriffen und weiterentwickelt wird: Plot, Konfliktbeschreibung, Handlungsmotivation, Figurencharakterisierung und Setting (geografisch und/oder historisch: antike Szenerie oder Transfer in andere Epochen/Gegenwart) werden aktualisiert, dabei konstitutive Elemente verwendet, neu kombiniert, akzentuiert oder auch – weniger häufig – grundlegend verändert. Statt sich auf die Motivation für den Infantizid als tragisches Ereignis zu konzentrieren, kann von Schuldzuschreibung erzählt und Medea vom Mordvorwurf entlastet werden. Diese gravierende Perspektivverschiebung vom Verbrechen auf Intrige und Falschbeschuldigung verändert z. B. in Christa Wolfs Roman Medea. Stimmen (1996) zugleich mehr als dieses eine Motiv, sowohl in Bezug auf die Figurencharakterisierung – aus der Zauberin wird eine kräuterkundige Frau und Heilerin – als auch deren vielfältige Beziehungsdimensionen (Jason, Glauke u.v.m.), und es rücken darüber hinaus die Literatur und ihre Funktion als Medium des Erzählens von patriarchalen Gewalt- und Geschlechterverhältnissen selbst in den Blick. Gerade solche Korrekturen mit ihren offensichtlichen und tiefgreifenden Veränderungen und nicht nur Nach- und Weiterdichtungen machen also, wenngleich aus unterschiedlichen Motiven, eine wirkmächtige Tradition bewusst. Alle Modi gemeinsam formen eine vielgestaltige Darstellungs- und Erzähltradition. Aus einer produktionsorientierten Perspektive kann die (kritische) WeiterArbeit an einer Mythos-Tradition eine zentrale Motivation sein, etwa der Versuch einer „Neuorientierung nationaler und geschlechtlicher Identität“5, aber ebenso kann es schlicht attraktiv erscheinen, sich zu dieser in Bezug zu setzen: Wer ‚Medea‘ sagt, darf auf ein Publikum hoffen, das, informiert über basale Elemente des Mythos, Interesse daran hat zu sehen, was unter diesem Titel nun erneut präsentiert werden soll. Die eigene ästhetische Programmatik, die Kunstfertigkeit im Umgang mit dem literarischen Erbe und/oder last but not least eine bestimmte Weltdeutung oder zumindest Ansätze dazu in Bezug auf einzelne Themenkomplexe wie etwa Geschlechterverhältnisse, Mütterlichkeit, Gewalt, Fremdheit u. a.m. können prägnant gestaltet werden, wenn man erkennbar auf eine vorhandene Tradition zurückgreift. Für Nachdichtungen und Bearbeitungen als auch Umschriften bis hin zu Korrekturen können dieselben Mechanismen literarischer Kommunikation wirksam sein wie bei kanonischen (Theater-)Texten im Allgemeinen: Die Kenntnis bekannter Autor:innen-Namen und/oder Werktitel verspricht die Teilhabe an einer gemeinsamen kulturellen Tradition. Sich in eine Tradition einzuschreiben, ein neues Werk (und sich selbst (1977). Rezeptionsgeschichte: Grundlegung einer Theorie. Mit Analysen und Bibliographie. München: Fink. 5 Stephan (1997), 10.

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als Autor:in) dabei auf ‚Augenhöhe‘ mit prominenten, als kanonisch geltenden Vorläufer-Texten und Autoren (selten: Autor:innen) zu inszenieren, kann Aufmerksamkeit generieren, ja möglicherweise sogar kulturelles Kapital. Die Literaturwissenschaft interessiert sich für das breite Mythen-Gedächtnis der Literatur in all ihren unterschiedlichen Formen des Umgangs mit Mythosmaterial, sowohl in Bezug auf Motivcluster als auch damit verbundene Deutungsmuster. Stoffgeschichtliche und ästhetisch-formale Entwicklungen können konzentriert auf einzelne Themenfelder – Medea im Kontext der Argonautensage, dominante Charakterisierungen der Figur mit Blick auf den Kindsmord etc. –, einzelne Künste – Literatur, Theater, Oper, bildende Kunst, Film – sowie deren stoff- und darstellungsästhetische Verflechtungen beschrieben werden. Intertextuelle Referenzen auf einzelne Mythentexte spielen für den literarischen Diskurs eine besondere Rolle, sind aber ebenso interessant im Rahmen multimedialer Verarbeitungsformen, da sich hieran Kanonisierungsprozesse rekonstruieren lassen. Im Fall von Medea sind Euripides’ und Senecas Dramen zentrale Referenztexte, dazu Ovids Metamorphosen, und in einer nationalphilologisch-deutschsprachigen Perspektive können die Medea-Dramen von Franz Grillparzer (Das goldene Vließ), Friedrich Maximilian Klinger (Medea in Korinth) und Hans Henny Jahnn kanonischen Status behaupten. Weitere Texte fanden entweder eher zeitlich enger begrenzt Beachtung oder sind insgesamt weniger bekannt wie etwa Max Zweigs Medea in Prag, Gertrud Kolmars Eine jüdische Mutter, George Taboris M. Nach Euripides, das Medea-Material von Heiner Müller, Ursula Haas Freispruch für Medea, Ljudmila Ulitzkajas Medea und ihre Kinder, Christa Wolfs Roman oder Dea Lohers Manhattan Medea. Die Liste ließe sich verlängern.6 Mit der Aufzählung der kanonisierten Texte ist bereits angedeutet, dass eine der wichtigen Akteur:innen des Kanonisierungsprozesses das Theater ist, weil es einzelne Werke – im Fall von Medea insbesondere von Euripides, Grillparzer, Klinger und Jahnn – epochenübergreifend immer wieder anschließbar macht für zeitgenössische Resonanzräume. Inszenierungen haben Anteil an einer lang andauernden und vielgestaltigen Deutungsgeschichte. Zum kulturellen Wissen7 einer Zeit über den Medea-Stoff tragen auch die Malerei (etwa das Gemälde Die 6 Siehe auch die Medea-Anthologie Lütkehaus, Ludger (Hrsg.) (2007). Mythos Medea. Texte von Euripides bis Christa Wolf. Stuttgart: Reclam. 7 Mit Annette Simonis verstehe ich Mythen als kulturelle Repräsentationen und Bestandteil des kulturellen Gedächtnisses. Ich spreche von Mythen jedoch nicht als „Träger kultureller Deutungsmuster“, da ich unterscheide zwischen einem relativ stabilen Set von Motiven einerseits und Deutungsmustern andererseits, die in den Mythentexten entworfen werden. Simonis, Annette (2004). Einleitung: Mythen als kulturelle Repräsentationen in den verschiedenen Künsten und Medien. In: Simonis, Annette/Simonis, Linda (Hrsg.). Mythen in Kunst und Literatur. Tradition und kulturelle Repräsentation. Köln, Weimar, Wien: Böhlau. 1–26. 12.

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Am Mythos arbeiten

rasende Medea von Eugène Delacroix) und die vielfachen Operbearbeitungen bei, und ebenso Filme (etwa von Pier Paolo Pasolini und Lars von Trier). Die intertextuelle und multimediale Verarbeitung des Medea-Stoffes lädt gerade auf der Bühne zur Kombination ein wie etwa in Médée – Medea Senecae – Medeamaterial (Oper/Chorstück/Monolog) am Saarländischen Staatstheater (2019).8 Schon diese wenigen ausgewählten Titel weisen darauf hin, dass Bezüge auf das Medea-Mythos-Material auf vielfältige Weise hergestellt werden können. Zu Darstellungs- und Erzähltradition gehören aus wissenschaftlicher Sicht alle Werke, die eine Medea-zentrierte Geschichte präsentieren und motivisch auf den Mythos von Medea Bezug nehmen. Eine Namensnennung im Titel und/oder auch nur die Verwendung dieses Figurennamens im Werk signalisieren plakativ, dass vom Publikum eine Anbindung an diese Tradition erkannt werden soll. Der Name Medea fungiert im kulturellen Gedächtnis als assoziative Kurzformel für ein grauenhaftes, tragisches Szenario. Daraus folgt aus einer produktions- und rezeptionsorientierten Perspektive, dass man keinen bestimmten Text über Medea gelesen haben muss, um über eine ‚Medea‘ schreiben oder Anspielungen auf den Mythos verstehen zu können. Dass über eine Namensnennung eine Kindsmord-Geschichte aufgerufen werden kann, verweist auf ein stabiles kulturelles Wissen über den Mythos. Wer Medea sagt, evoziert Gewaltverhältnisse und -dynamiken, ohne sie ausbuchstabieren zu müssen, aber, und dies ist entscheidend, kann davon ausgehend eine eigene Lesart profilieren. Die Frage, wie es zum tragischen Geschehen kommt, lässt sich, gruppiert um zentrale Motive wie „Frauenehre, Kindsmord und Emanzipation“9, mit unterschiedlichen Deutungsperspektiven versehen. Im Fall von Medea ist ihr Name so eng mit dem Infantizid verknüpft, dass man noch weitergehend prüfen kann, ob es Sinn ergibt, Kindsmord-Geschichten ohne explizite Namensnennung mit dem Mythos in Verbindung zu bringen. Dafür könnte der Transfer solcher Wissensbestände sprechen: Die Figur Medea hat Eingang in das medizinische Fachvokabular gefunden,10 und in der öffentlichen Berichterstattung wird auch in Bezug auf reale Fälle von Infantizid der bekannte Mythos ins Spiel gebracht. Die Stabilität des kulturellen Wissens kann außerdem dazu führen, dass sich Medeas Charakter und Tat(en) dominant mit bestimmten Wertungsperspektiven verknüpfen. So erklärt sich beispielsweise, dass in dieser Literaturkritik ein be-

8 Oper von Luigi Cherubini, Chorstück von Iannis Xenakis, Monolog aus Medeamaterial von Heiner Müller, Regie: Demis Volpi, Musikalische Leitung: Sébastien Rouland. 9 Glaser, Horst Albert (2001). Medea oder Frauenehre, Kindsmord und Emanzipation. Zur Geschichte eines Mythos. Frankfurt a. M. et al.: Peter Lang Verlag. 10 Schaule, Anton (1982). Tötungshandlung von Müttern an ihren eigenen Kindern unter besonderer Berücksichtigung des Medea-Komplexes. Dissertation München. 20f.

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stimmtes Bild von Medea, das prominente Mythentexte geformt haben, zum Maßstab wird für eine kritische literarische Mythosrezeption der Gegenwart: Was bleibt? Am Ende die biedere Variante eines schrägen Dramas aus der Frühzeit des Abendlands – und eigentlich: ein banaler Etikettenschwindel. Christa Wolfs Heldin mag eine mutige und sympathische Fremde aus dem Osten sein, eine Asylantin, der vom Gatten und von den Gastgebern übel mitgespielt wird – eine Medea ist sie nicht.11

Solche Rezeptionszeugnisse sind für die Literaturwissenschaft wertvoll, weil die Idee ‚richtiger‘ und ‚falscher‘ Medeen ein kulturelles Mythos-Wissen sichtbar werden lässt. Wie wichtig es ist, dass Literaturwissenschaft in der Rekonstruktion von Traditionen jedoch nicht selbst normativ verfährt, zeigen weitere Anmerkungen zur Figur. Volker Hage wertet die Wolfsche Medea mit dem Argument ab, dass der Mythos Medea traditionell fasziniere, weil ‚das Böse‘ faszinierend sei.12 In der langen Erzähl- und Darstellungstradition zeigen sich Autor:innen unterschiedlicher Epochen aber mehrheitlich interessiert am Medea-Stoff, weil er dazu herausfordert, vielfache Ambivalenzen zu gestalten. Und in diesem Zusammenhang wird sowohl Medeas Charakter unterschiedlich geformt als auch die Frage, wessen Taten für dieses ‚Böse‘ mitverantwortlich sind. Infantizid wird als eine schreckliche Tat dargestellt, aber in den Medea-Texten finden sich nichtsdestotrotz vielfache Erklärungs- und Verstehensversuche für Medeas Situation. Medea, die von Jason Betrogene. Die große Liebende, die deshalb zur Rächerin wird. Die Mörderin, die Rache will, aber dabei selbst am meisten leidet. Die Mutter, die ihre Kinder vor einem Leben in der Fremde schützen will. Den Kindsmord als Tat zu verurteilten, aber innerhalb der genannten Konstellationen zu betrachten und dies emotional auszuhalten, macht die Faszination des Medea-Stoffes aus. Und vor diesem Hintergrund, nicht vor einem eindeutigen Gegensatz von Gut und Böse, können Leser:innen oder Literaturkritiker:innen fragen: Ist die Wolfsche Medea möglicherweise ein wenig langweilig? Wer diese Frage mit ja beantwortet, spricht trotzdem weiterhin über eine Medea.

3.

Kulturelles Wissen: Kindsmord-Phantasien

In Birgit Vanderbekes Erzählung Das Muschelessen wird eine patriarchale Familienkonstellation beschrieben, in der die Mutter eine Art Komplizin darstellt: Sie setzt für gewöhnlich die Ordnung des Vaters bei den Kindern durch. Am Abend des titelgebenden Muschelessens sprechen die Familienmitglieder in Abwesenheit des Vaters erstmals offen miteinander. Die Mutter offenbart den 11 Hage, Volker (1996). Kein Mord, nirgends. In: Der Spiegel Nr. 9. 202–206. 206. 12 Ebd.

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Am Mythos arbeiten

Leidensdruck, den ihr die Stellung in der Familie zwischen Vater und Kindern, Opfer und Mittäterin, verursacht. Sie äußert sich zum einen in psychosomatischen Reaktionen: Ihr Körper zeugt davon, dass sie Widerstand unterdrückt. Zum anderen hat sie Gewalt-Phantasien. Sie habe sich als Medea imaginiert, die ihre Kinder und sich selbst tötet. Die Tochter, zugleich Erzählerin, schildert dies nüchtern: […] und es ist dann herausgekommen, daß meine Mutter schon immer ganz im geheimen Medea verehrt und bewundert hat, wir haben zunächst einen riesigen Schrecken bekommen, nachdem sie Medea gesagt hatte, weil wir ja die Kinder waren, uns hätte es schließlich erwischt, aber meine Mutter hat gesagt, das sind eben Phantasien, alle vergiften, und dann ist Ruhe.13

In der Perspektive der Mutter handelt es sich um eine Tat, mit der sie sich aus einer Position der Ohnmacht befreien und, wenn auch mit tragischem Ausgang, Handlungsmacht erlangen könnte. Das Muschelessen präsentiert damit eine Lesart des Medea-Mythos als Drama der Subjektbehauptung im Rahmen von Geschlechterbeziehungen und Mutterschaftsbildern. Die Vorstellung von Mord und Suizid zeugt von den unterdrückten Aggressionen der Mutter, und offenbart zugleich, wie sehr sie sich noch in der Überwindung des ‚weiblichen‘ Handlungsspielraumes den damit verbundenen Begrenzungen fügt. Ihre internalisierte Weiblichkeitsrolle bewirkt, dass sich Befreiung nur in einer Phantasie der Selbstverletzung zu äußern vermag, und diese bezieht die Kinder ein, die sie schützen möchte. Renate Böschenstein hat hervorgehoben, dass mit der Figur ‚Medea‘ ein literarisches Bild tabuisierter ‚mütterlicher‘ Gewalt tradiert worden sei: Die Möglichkeit, daß sich die Mutterliebe, Garantin der Sicherheit des Kindes, in todbringende Aggression verkehren kann, ist zumindest in der europäischen Kultur schwerer artikulierbar als Vater- und Muttermord. Auch in den griechischen Mythen, diesen Chroniken des Verwandtenmordes, wird die – seltene – Tötung von Kindern durch ihre Mütter meist dadurch entschärft, daß diese in den Zustand des Wahnsinns versetzt werden […]. Medea, die […] ihre Kinder mit vollem Bewußtsein tötet, hat indes männliche Autoren durch die Jahrhunderte der europäischen Tradition hindurch immer wieder zur Gestaltung aufgerufen […].14

In Das Muschelessen wird das Morden als Gegengewalt präsentiert und über eine Schutzfunktion, also ein pseudo-altruistisches Motiv, zumindest in seiner Grausamkeit abgemildert. Die von der Mutter imaginierte Tat entsteht einzig aus dem Wunsch, sich aus unerträglichen Zuständen zu befreien und nicht etwa aus 13 Vanderbeke, Birgit (1997). Das Muschelessen. Berlin [1990]. 104. 14 Böschenstein, Renate (1994). Medea. Der Roman der entflohenen Tochter. In: Hillenaar, Henk/Schönau, Walter (Hrsg.). Fathers and Mothers in Literature. Amsterdam, Atlanta: Rodopi. 7–28. 8.

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Rache. In diesem Zusammenhang nimmt Das Muschelessen das Wissen um die Tabuisierung mütterlicher Gewalt auf, indem es die Anspielung auf den Mythos im Zeichen mütterlicher Schuldgefühle gestaltet. Die Kinder gehen schließlich gelassen mit dem extremen Geständnis der Mutter um, weil sie es als Ausdruck ihres Dilemmas verstehen. Es löst bei ihnen sogar Erleichterung darüber aus, „daß das Versöhnliche, worunter wir sehr gelitten hatten, endlich einmal verschwunden war“.15 Die Medea-Situation bleibt Phantasie, es ist kein dramatisierendes Element in Bezug auf den Plot. Es verstärkt aber den Eindruck davon, in welcher Notlage sich die Familienmitglieder befinden, und hat einen dramatisch zu nennenden Effekt auf die kommunikative Dynamik des Abends: Die Macht des Vaters wird im Austausch der Familienmitglieder gebrochen. Im Vergleich mit der gewaltsamen Lösung, die mit der Kurzformel ‚Medea‘ aufgerufen wird, können alternative, ebenfalls drastische, aber emanzipative Lösungen erwogen werden. Die wiederholte Phrase „wie wir hinterher manchmal gesagt haben“ verdeutlicht, dass die Familienkonstellation nach diesem Abend nicht mehr dieselbe sein konnte. Die Mutter im Muschelessen wird keine Medea, doch der Rekurs auf „Medea“ trägt zur Explikation der Situation bei. Medeas grauenvolle Tat wird in Das Muschelessen bestätigt, aber als verzweifelte ‚weibliche‘ Freiheitsgeste aufgefasst und – im Vergleich mit der dann gefundenen Lösung – eindeutig verworfen. Nach Gudrun Loster-Schneider nutzen Autorinnen den Mythos der Medea auch, um einen aggressiven Zug der Mutter darstellen zu können: Die zweite, mit Marlene Streeruwitz und Elfriede Jelinek wenig besetzte Reihe wiederholt und affirmiert den mütterlichen Kindsmord, um gegen den auch feministischerseits vitalen Alltagsmythos weiblicher Mütterlichkeit zu opponieren. ‚Feministisch‘ ist dieser Zugang im Kontext des radikalen Theoriediskurses um eine positive und ‚befreiende‘ weibliche Aggressivität.16

Auch in Streeruwitz’ Verführungen. bleibt der Kindsmord allerdings eine Phantasie, und es geht keineswegs um eine positiv konnotierte Aggressivität. Daher erscheint es fraglich, ob man dies als eine ‚Affirmation‘ des Kindsmordes bezeichnen sollte. Eher wird hier die emotionale Ambivalenz von ‚Mütterlichkeit‘ gestaltet. Die Figur Helene ist eine liebende Mutter, die eine passive Lebenseinstellung besitzt und von ihrer Lebenssituation zumeist überfordert ist. Ihre

15 Vanderbeke (1997), 105. 16 Loster-Schneider, Gudrun (2000). Intertextualität und Intermedialität als Mittel ästhetischer Innovation in Christa Wolfs Roman Medea. Stimmen. In: Wende, Waltraud (Hrsg.). Nora verlässt ihr Puppenheim. Autorinnen des 20. Jahrhunderts und ihr Beitrag zur ästhetischen Innovation. Stuttgart, Weimar: Metzler. 222–249.

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Ohnmachtsgefühle äußern sich unter anderem in der Phantasie eines Mordes mit gleichzeitigem Suizid, die sie aus dem Rückblick schildert: In der schlimmen Zeit hätte sie ihnen Schlaftabletten gegeben. Die Schachtel Mogadon hatte im Biedermeierschreibtisch in der obersten Lade gelegen. Da, wo die Kinder nicht hinkonnten. Sie hätte die Kinder in die Arme genommen. Barbara rechts. Weil sie schwerer war. Katharina links. Und dann wäre sie gesprungen. Irgendwo tief hinunter. Und das letzte, was sie gewußt hätte, wäre das Gefühl der beiden kleinen warmen Körper gewesen. Es gab aber keinen Ausweg. Sie hätte kein Recht gehabt. Auf die Kinder. Und so hatte sie keines auf sich. Helene fühlte sich ins Leben gepreßt.17

In der Phantasie kommen Ohnmacht und das Gefühl von Alternativlosigkeit zum Ausdruck. Zugleich reflektiert sie die Schuld, die sie damit auf sich laden würde, so dass die Tat als Irrweg dargestellt wird, der konkrete Ursachen hat, aber keine Lösung wäre. Einzig die Tatsache, dass sie in der Rückschau darüber nachdenkt und sich eindeutig von dieser Handlungsalternative lossagt, deutet an, dass in der Auseinandersetzung mit der Idee der Kindstötung indirekt ein mobilisierendes, emanzipatives Potential liegen könnte. Auf dieser Basis lässt sich zunächst festhalten, dass sich ähnliche Konstellationen in beiden Texten, also die Verbindung von Weiblichkeits-, Mütterlichkeitsdiskurs und Kindsmord-Motiv, finden. Daher lässt sich auch Verführungen. trotz fehlender markierter Referenz auf die Figur Medea mit dieser Tradition in Bezug setzen. Die Kindsmordphantasie dient in Das Muschelessen (mit einer markierten Referenz) und in Verführungen. (mit einer Assoziation im Rezeptionsprozess) dazu, eine dramatische Situation zu veranschaulichen, und vor diesem Hintergrund lassen sich Handeln (Muschelessen), aber auch scheinbares Nicht-Handeln und Erdulden (Verführungen.) der Figuren bewerten. Die imaginierten Taten erscheinen in beiden Texten als eine kulturelle Phantasie, die es zu überwinden gilt. Beide Texte präsentieren eine psychologisch einsichtige Motivation für die mit dem Namen Medea verknüpfte Tötungs-Phantasie, aber in Das Muschelessen wird das negative Moment noch verstärkt, um den Weg für eine Befreiung zu eröffnen, die sich nicht gegen die eigene Person und die Kinder richtet. Damit wird eine Lesart des Mythos offengelegt: Die Mordtat richtet sich zwar gegen patriarchale Rollenzuweisungen und opponiert gegen einen männlichen Herrschaftsanspruch, bleibt aber in ihrer destruktiven Kraft genau dieser Logik verhaftet. Dazu gehört auch, dass mit der Vergiftung ein Topos ‚weiblicher‘ Kriminalität im Kontext der Medea-Anspielung aufgerufen wird.18 Beide Texte verwerfen auf je eigene Weise ein traditionell ‚weiblich‘ codiertes Gewalthandeln 17 Streeruwitz, Marlene (1996). Verführungen. 3. Folge. Frauenjahre. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 27f. 18 Weiler, Inge (1998). Giftmordwissen und Giftmörderinnen. Eine diskursgeschichtliche Studie. Tu¨ bingen: Niemeyer.

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und vermitteln, dass die Loslösung aus patriarchaler Herrschaft jede Form einer negativ besetzten ‚Weiblichkeit‘ einschließen muss.

4.

Tradition und Transformationen

Wie beim Erzählen im Genre ist auch für die Arbeit am Mythos das Verhältnis von Wiedererkennbarkeit und Transformation grundlegend: Um wiedererkennbar zu sein, braucht literarische Mythosrezeption eine Stabilität bestimmter Elemente, also eine stoffgeschichtliche Kontinuität. Einzelne Mythologeme fungieren dabei als Kristallisationspunkte. Veränderungen sind nötig, damit das mythologische Erzählen lebendig und interessant-überraschend bleibt. Ein Schwerpunkt der Nach- und Umdichtungen des Stoffes liegt im Fall Medea auf der Motivation für die ungeheuerliche Tat des Kindsmordes: Ist es bloße Eifersucht und Rache? Ist sie eine eiskalte Täterin oder leidet sie an ihrer Tat nicht mindestens so sehr wie Jason? Lässt sich das ungeheuerliche Verbrechen einer Mutter an ihren eigenen Kindern wirklich aus Enttäuschung über Verrat und verweigerte Liebe erklären? Will Medea die Kinder zumindest auch vor einem zukünftigen Leben schützen, wie sie es vorhersieht? Oder verweist ihre Tat in erster Linie auf ihren bösen und grausamen Charakter? Und welche Rolle spielen dabei ihre Herkunft und kulturelle Prägungen? Und wie soll die Darstellung auf das Publikum wirken: Erregt ihre Tat enorme Abscheu, aber das Publikum leidet trotzdem mit Medea mit? Das Wissen um die Ermordung der Kinder begründet in der künstlerischen Rezeptionsgeschichte des Stoffes die Faszinationskraft der Medea-Figur. Das zeigt sich unter anderem daran, dass es selbst dann Erwähnung findet, wenn es zur Vorgeschichte des Dargestellten gehört wie etwa in Georg Friedrich Händels Oper Teseo (Libretto von Nicola Francesco Haym), in der ein anderer Teil der Medea-Geschichte erzählt wird. Die explizite Erinnerung an die von Medea begangenen Morde – in diesem Fall am Bruder und an den Kindern – wird in der Oper dann mit recht ähnlichen Ingredienzien – Macht, versprochene und verweigerte Liebe, Rivalität, Eifersucht, Täuschung, Zauberei und Grausamkeit – sogar als Drohpotential eingesetzt. Medea selbst verweist darauf, was ihr Zorn vermag. Werden einzelne Elemente, die nicht den Kern der mythologischen Erzählung bilden, weggelassen, lässt sich dies als eine Bearbeitung bezeichnen. Solche niedrigschwelligen Veränderungen führen nicht unbedingt dazu, dass ein Mythos überhaupt als verändert wahrgenommen wird. Medeas Brautgeschenk kann beispielsweise fehlen, ohne dass die Wiedererkennbarkeit des Mythos insgesamt irritiert würde. Bestimmte Elemente hervorzuheben und neu zu gewichten kann vor allem auf ästhetische Programmatiken und implizite Poetologie hinweisen.

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Am Mythos arbeiten

So gewinnt etwa Heiner Müllers Werk zum einen aus dem Motiv des Brautgeschenks eine besondere Dramatik. Medea malt sich den Todeskampf ihrer Rivalin anschaulich als zukünftiges Geschehen aus und schildert dann dieses Ereignis in einem langen Monolog auf grauenerregend-faszinierende Weise. Die Zeile „Auf ihren Leib jetzt schreibe ich mein Schauspiel“19 lässt sich als reflexiver Kommentar verstehen, der die Rezipient:innen unmittelbar auf die Einschreibung in eine Tradition aufmerksam macht. Umschriften oder gar Korrekturen beziehen sich notwendig auf konstitutive Elemente der Tradition, und sie stellen stets eine implizite Poetologie im Umgang mit der Tradition aus. Diejenigen Elemente, die verändert werden, müssen dabei direkt adressiert werden. Soll Medea von der Schuld am Infantizid freigesprochen werden, obwohl die Kinder sterben, muss eine andere Erklärung angeboten werden. Eine Umschrift kann nur gelingen, wenn der Infantizid in die Geschichte von Jason und Medea auf neue Weise eingeordnet, neuartig motiviert und bewertet wird. Wie für dieses zentrale Motiv gilt auch für andere Varianten bis Umschriften, dass sich verschiedene Beziehungsdimensionen der Protagonistin als Ausgangspunkt anbieten – Medea, die Liebende, die Mutter usw. – und an Rollen einer Geliebten und Mutter, Schwester und Tochter sind jeweils geschlechtsspezifische Erwartungshaltungen geknüpft. Gerade die Liebende Medea kann sich zur Furie wandeln und zur mordenden, auf der Basis etablierter kultureller Normvorstellungen scheinbar ‚unnatürlich‘ handelnden Mutter werden. In der Kombination unterschiedlicher Rollen, mit denen sich – teilweise konfligierende – Normen und Erwartungen verbinden, liegt im Medea-Mythos seit der Antike ein Konfliktpotential, das zur Verhandlung von Weiblichkeitsbildern anregt: Welche Erwartungen an ‚weibliches‘ Verhalten in Bezug auf welche Rollen werden erfüllt und welche nicht? Schon Euripides’ Chor zeigt Verständnis für Medeas Rolle als Frau in einer männlich geprägten Gesellschaft, zielt aber zugleich auf eine Schreckenslust des Publikums – „Ein gräßlich Schauspiel!“20 –, das eine entschieden-überlegt und grausam handelnde Liebende und Mutter beobachtet.21 Grillparzer gestaltet im Rahmen der Medea-Geschichte mehrfach Auseinandersetzungen mit Weiblichkeitsnormen im Herkunfts- und Aufnahmeland. Sie werden wie bei Euripides in Interaktionen mit Jason oder dem König (Aietes) sichtbar, aber noch stärker dra19 Müller, Heiner (2002). Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten. In: Ders.: Die Stücke 3, Werke Bd. 5, hrsg. v. Frank Hörnigk, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 71–84. 78. 20 Euripides. Medea. Deutsch von J.J.C. Donner (1994). Ditzingen: Reclam V. 1163. 21 Entsprechend urteilt Inge Stephan: „Ganz offensichtlich haben wir es mit einem Drama zu tun, das weder ‚gender-neutral‘ ist noch sich auf den einfachen Nenner ‚feministisch‘ oder ‚misogyn‘ bringen lässt.“ Stephan, Inge (2006). Medea. Multimediale Karriere einer mythologischen Figur. Köln, Weimar, Wien: Böhlau. 101.

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matisiert in figuralen Konstellationen weiblicher Figuren: In Medeas Versuch, von Kreusa (Kreons Tochter) das Leierspiel zu erlernen und damit ‚griechisch‘ zu werden, und der Rückwendung zu Gora (Medeas Amme) und der Zauberkunst. In Christa Wolfs Roman wird Medea nicht nur eindeutig freigesprochen von allen Morden, sondern erscheint zugleich nicht mehr als große Liebende in Bezug auf Jason. Die Liebesgeschichte und die Geschlechterbeziehungen werden auf diese Weise insgesamt entdramatisiert. In der langen Darstellungs- und Erzähltradition finden sich also Variationen mit unterschiedlich tiefgreifendem transformierendem Charakter. Die Frage, wie Literaturwissenschaft den Mythos erzählt, ist allerdings nicht nur eine der stoffgeschichtlichen Sortierung. Es bedarf eines kritischen Blicks, in dem etablierte Vorannahmen über die Bedeutung bestimmter Elemente und deren Wertungen reflektiert werden: Welche Texte sehen wir in einem Dialog, welche bringen wir in einen Dialog, um Mythostraditionen zu plausibilisieren? Die Monstrosität Medeas wurde literarisch sowohl verurteilt als auch gefeiert, und für beides lassen sich unterschiedliche Motivationen finden. Das Monströse kann als Reaktion auf patriarchale Zurichtungen verstanden und damit Rache als befreiender Akt gedeutet werden. Unter den feministischen, also auf eine Kritik der Geschlechterverhältnisse zielenden Neudeutungen, Umschriften und Korrekturen seit Christine de Pizans positivem Porträt von Medea in Die Stadt der Frauen finden sich ja keineswegs nur ‚Veredelungen‘ und Freisprüche Medeas, sondern es werden ebenso Bezüge auf die ‚monströse Frau‘ entwickelt.22 Feministische Zugänge haben weder in der Literatur noch medienübergreifend betrachtet eine eigenständige starke Tradition ausgebildet, sondern stehen mit unterschiedlichen Texten von Vorgänger:innen im Dialog. So etwa auch mit Jahnns Drama, das einerseits kritisch mit geschlechter- und hautfarbenbezogenen Stereotypen spielt und andererseits ebenso ausgeprägt misogyne und rassistische Zuschreibungen affirmiert. Jahnn dient die weibliche Codierung des Monströsen vor allem dazu, die Grausamkeit der Tat zu steigern. Das Beispiel führt vor Augen: Werden Mythostraditionen umgeschrieben, betrifft dies oftmals auch geschlechtsspezifische Bilder und Zuschreibungen von Eigenschaften, sofern diese mit dem Mythos dominant verknüpft sind. Geschlechterbilder sind also zunächst einmal Material für eine transformative Arbeit am Mythos, ohne dass darin ein spezifisches (kritisches) gesellschaftspolitisches Interesse an Geschlechterkämpfen erkennbar werden muss. Dasselbe gilt für andere Kategorisierungen, die sich mit Weiblichkeitsbildern verbinden können, weil sie sich an unterschiedliche Beziehungsdimensionen im Herkunfts- wie im Aufnahmeland knüpfen. Vorstellungen von Familie und 22 Zu den nicht unproblematischen Deutungen als ‚Mordsweib‘ siehe auch Stephan (2006), Kap. X.

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Am Mythos arbeiten

Herkunft werden im Rahmen des Medea-Mythos in ethnischer und sozialer Hinsicht aktualisiert. Die Motive Zugehörigkeit vs. Fremdheit lassen sich in vielfacher Weise für die Inszenierung von Verstehen- und Missverstehen im Geschlechterkampf verwenden. Dass Medea im Unterschied zu Jason von göttlicher Herkunft ist, kann ein Baustein im Geschlechterkonflikt sein, aber auch für die Frage nach der ‚Fremdheit‘ Medeas eine Rolle spielen und damit im Rahmen kulturell codierter Vorstellungen geschlechtsspezifischer Ordnungen diskutiert werden. Die Liebesthematik verbindet sich dann mit Vorstellungen von Kulturkontakten und Kulturdifferenzen. Der Medea-Stoff wird seit der Antike als eine mehrdimensionale Geschichte von Migration, von Flucht und Asyl – Medea als „Ikone des Fremden und des Anderen“23 –, von Verbindungen zwischen ethnischer und geschlechtlicher Alterität, von sozialer und ethnischer Herkunft erzählt. Die potenzielle Mehrdimensionalität bedeutet allerdings nicht, dass dies stets auch thematisch gestaltet würde – und zwar selbst dann nicht, wenn es sich geradezu aufzudrängen scheint. So fördert etwa Müllers Medeamaterial keine Auseinandersetzung mit dem sozialen Status Medeas, obwohl sich innerhalb der Gesellschaftsapokalypse mehrfache kapitalismuskritische Markierungen finden. Diese beziehen sich auf Arbeit und/oder Konsum, und dies ermöglichte, Figuren in gesellschaftlichen Verhältnissen mit einer spezifischen sozialen Positionierung zu zeigen. Auch innerhalb eines (post-)apokalyptischen Szenarios erlaubte dies, eine Brücke in die Analyse klassenspezifischer Konstellationen zu schlagen. Gleiches lässt sich für die Wirkungen patriarchaler Zerstörungsmacht zeigen. Diese werden zwar drastisch dargestellt, aber eine kritische Perspektive erfasst nicht zugleich die in diesem Zusammenhang verwendeten Weiblichkeitsbilder.24 In Bezug auf alle genannten Dimensionen können Selbst- und Fremdbilder der Figuren aktualisiert, konzeptionalisiert und bewertet werden, und dabei ist insbesondere aufschlussreich, wie neben ‚Geschlecht‘ auch Vorstellungskomplexe wie ‚Kultur‘ und ‚Herkunft‘ gestaltet und zum Gegenstand der Verhandlung gemacht werden: als feste Entitäten oder mit (kritischem) Blick für Zuschreibungen und Machtverhältnisse. Besonders interessant für die Untersuchung von Transformationen sind hierbei ästhetische Modellierungen. Dies unterstreicht noch einmal, dass wiederkehrende Motivcluster nicht mit denselben Deutungsmustern versehen sein müssen.

23 Göbel-Uotila, Marketta (2005). Medea. Ikone des Fremden und des Anderen in der europäischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Hildesheim: Olms. 24 Siehe hierzu ausführlicher Geier, Andrea (2021). Kleiderständer der Geschichte. Mythosrezeption bei Heiner Müller und Volker Braun. In: Strehlow, Falk/Ette, Wolfram (Hrsg.). Klassengesellschaft reloaded und das Ende der menschlichen Gattung. Fragen an Heiner Müller. Berlin: Theater der Zeit. 104–123.

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Grillparzers Drama durchzieht eine hell-dunkel-Metaphorik. Sie visualisiert die Beziehungsdynamik zwischen Jason und Medea in ihrem Changieren zwischen Attraktivität und Abwehr und wird mit Zuschreibungen des ‚Griechischen‘ und des ‚Barbarischen‘ moralisch aufgeladen. Geschlechterzuschreibungen und Klassenzugehörigkeit werden als miteinander verwobene Aspekte von faszinierender wie gefährlicher ‚Fremdheit‘ lesbar. Jahnn kommt es zu, dieses Thema Herkunft und kulturelle sowie geschlechtliche Differenz in eine Differenz der Hautfarben übersetzt zu haben: Seine ‚afrikanische‘ Medea ist schwarz. Wie die Medeen anderer Texte weist auch Jahnns Medea diskriminierende Beschreibungen zurück, bestätigt aber durch eine grotestk übersteigerte Grausamkeit rassistische Zuschreibungen der ‚barbarischen fremden Frau‘.25 Die Darstellungs- und Erzähltradition von Medea enthält viele Aspekte, die ein (kritisches) Nachdenken über Weiblichkeits- und Mütterbilder initiieren können, ohne dass es sich dabei um feministische Impulse handeln muss. Medea fasziniert seit der Antike als eine Figur, die sich Handlungsmacht zuerkennt, für die Wertschätzung ihrer Person eintritt, dabei auch geschlechtsspezifischen Zuschreibungen widerspricht und sich entsprechenden Stereotypisierungen vielfach zu entziehen oder sie aber klug strategisch einzusetzen weiß, Loyalität und damit Werte einfordert u. a.m. – und gleichwohl mit ihrer unfassbaren Tat schockiert und immer wieder aufs Neue verurteilt wird. Seit einigen Jahren ist eine Medea-Renaissance auf Spielplänen von Theatern, aber auch in der Oper zu beobachten, die darauf verweist, dass es weiterhin die Ambivalenzen sind, der produktive Umgang mit Irritationen durch eine Figur, die nicht bis ins Letzte zu fassen ist, eine spielerische Arbeit mit vorhandenen Deutungsmustern und Sinnstiftungen, welche die Faszinationskraft des Mythos lebendig erhalten.

5.

Verfahren der Intertextualität und Interfiguralität

Texte der europäischen Mythentradition, darunter Euripides’ Medea, können zur Weltliteratur gezählt werden, und einige Mythentexten stellen bis heute prominente Referenzpunkte für die produktive literarische Rezeption im nationalen bzw. europäischen bis hin zu einem transkulturellen und globalen Kontext dar. Der Fokus auf Intertextualität und Interfiguralität hilft dabei, Leistungen des literarischen Recyclings zu beschreiben. Interfiguralität bewirkt, dass mit der Nennung von Medea ein Wissen über ihre Geschichte als bekannt vorausgesetzt werden kann. Ein Reiz der Wiederverwendung solcher Szenarien liegt darin, dass sie als Teil des kulturellen Archivs einerseits nicht weiter erklärungsbedürftig scheinen, und andererseits genau 25 Eine differenzierte Lektüre, auch mit Blick auf Inszenierungen, bietet Stephan (2006), 48ff.

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Am Mythos arbeiten

dieses Wissen zum Ausgangspunkt für Neuperspektivierungen der Geschichte werden kann. Dass auch in Nachdichtungen und Bearbeitungen stets ein selektiver Zugriff erfolgt, muss in der Rezeption nicht notwendig auffallen. In der konkreten Rezeptionssituation wird nicht unbedingt aktualisiert, dass es immer andere Medeen im Hintergrund gibt, und zwar weil die Aufmerksamkeit in Text oder Inszenierung nicht darauf liegt, was ungenannt bleibt und wegfällt, sondern was ausgewählt wird. Eine Ausnahme bildet dabei nur, wie schon erwähnt, der Wegfall zentraler Motive wie etwa des Kindsmords. Über markierte Intertextualität stellt Literatur sowohl das grundlegende Prinzip aus, wie sich eine Tradition über Wiederholung und Variation von Mythologemen formt, als auch noch weitergehend, welchen Texten daran ein großer Anteil zugeschrieben wird. Dies gilt insbesondere für kritische Umschriften und Korrekturen. Im Gedicht Brief an Medea von Helga Novak wird Euripides als „Lohnschreiber“ bezeichnet, der bezahlt wurde, damit er Medea „den Kindermord unterjubelt“.26 Marie Luise Kaschnitz stellt in Die Nacht der Argo Euripides’ Geschichte die „alte Sage“ gegenüber, in der das Brautgeschenk die neue Ehe vereitelt, die Kinder jedoch überleben.27 Christa Wolfs Medea-Roman greift nicht nur Plotelemente und Motive auf, die wesentlich durch antike Texte geformt wurden, sondern weist auf diese Tradition und weitere Deutungsgeschichten hin. Die den einzelnen Roman-Kapiteln vorangestellten Motti – Zitate unter anderem aus Senecas und Euripides’ Medea-Dramen – haben eine eindeutige Funktion: Im Rahmen einer Mythoskorrektur werden diejenigen Texte kenntlich gemacht, welche die Story, die korrigiert werden soll, im wesentlich etabliert haben, sowie Texte, die spezifische Motivationen dafür beleuchten, also etwa das SündenbockMotiv. Bezüge auf einzelne Werke aus der Mythostradition können die Kommunikation mit dem Publikum über das Verständnis des Mythos lenken und auch intensivieren. Aus dieser Perspektive erschließt sich noch einmal auf andere Weise, warum Mythoskorrekturen selbstverständlich zur Darstellungs- und Erzähltradition dazu gehören, auch wenn sie Plotelemente und Charakter einer Figur grundlegend verändern. Kritische literarische Rezeption evoziert das umzuschreibende Material stets mit und bestätigt damit sogar den kanonischen Status bestimmter Referenztexte nochmals – unabhängig davon, ob sie ein Bewusstsein ihrer durchaus paradox wirkenden Verfasstheit mit ausstellt oder nicht.28 26 Novak, Helga (2007). Brief an Medea. In: Lütkehaus (Hrsg.) (2007), S. 284f. 27 Kaschnitz, Marie Luise (1975). Die Nacht der Argo. In: Dies. Griechische Mythen. München: dtv. 22–30. 29. 28 Siehe hierzu insbesondere Vöhler, Martin/Seidensticker, Bernd in Zusammenarbeit mit Wolfgang Emmerich (Hrsg.) (2011). Mythenkorrekturen. Zu einer paradoxalen Form der Mythenrezeption. Berlin, Boston: de Gruyter.

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Noch expliziter als in Einzeltextreferenzen wird auf Tradition in metamythischen Elementen bis hin zu insgesamt metamythischen Texten verwiesen, die sich in modernen ebenso wie in postmodernen Varianten finden. In Anna Seghers Das Argonautenschiff dient es dazu, über Handlungsmacht und Schicksalsmächtigkeit von Figuren zu reflektieren.29 In Wolfs Roman ist Jason zwar der erste Erzähler seiner Geschichte, erfährt dann aber am eigenen Leib den Prozess der Mythoswerdung und reflektiert darüber, dass seine Geschichte durch Erzählungen Anderer geformt wird,30 so dass der metamythische Kommentar der Figur zugleich einen Verweis auf die Poetologie des Textes insgesamt darstellt. Und innerhalb einer eher postmodern anmutenden Konstellation lässt sich die Auseinandersetzung mit Kopie und Original in Dea Lohers Medea Manhattan (1999) ebenfalls metamythisch nennen. Metamythische Verfahren können also, müssen aber nicht mit Einzeltextreferenzen arbeiten. Davon ausgehend lässt sich auch noch einmal genauer danach fragen, welche Bedeutung (un-)markierten Einzeltextreferenzen zukommen kann. Grundsätzlich gehört es zu den philologischen Aufgaben, vorhandene Einzeltextreferenzen nicht nur zu identifizieren, sondern möglichst genau zu beschreiben, inwiefern die Sinnkonstitution eines Textes und damit die angebotene Perspektive auf die wiedererzählte Tradition von Intertextualität bestimmt ist. Dass sich aus dem bloßen Vorhandensein weder Funktion noch Relevanz erschließen, kann ein kurzer Blick auf Heiner Müllers Medeamaterial zeigen. Aufgegriffen werden aus Jahnns Medea-Drama die misogynen Motive, insbesondere die Klage über die Beschwernis weiblichen Alterns und die Klage über die Zurückweisung Jasons, der Medea nicht mehr sexuell attraktiv findet. Das Verweis-Spiel wird durchaus konkret in seinen Bezügen auf bestimmte Weiblichkeitsbilder inszeniert, bleibt aber eingebunden in eine zeitenthobene bzw. in ihren historischen Bezügen wechselnde apokalyptische Zeitdiagnostik. Die Verweise auf Jahnn zu erkennen, schärft möglicherweise den Blick für die Indienstnahme der Weiblichkeitsbilder für Gewalt-Szenarien in Müllers Text. Die punktuellen Referenzen befördern aber gleichzeitig eine eher vage Reinszenierung der Mythostradition, und in diesem Rahmen überführt Heiner Müller konkrete, an Figurengeschichten rückgebundene Gewalt-Schilderungen in überzeitliche Gewaltdynamiken, und zwar in der für antike Mythen typischen Verschränkung von Familien- und Gewaltgeschichte. Konflikte und Morde in Geschwister- und Elternbeziehungen im Rahmen gesellschaftlicher Dynamiken, 29 Siehe hierzu ausführlicher Geier, Andrea (2007). Konfrontationen mit dem Mythos im Mythos. Verhandlungen von Schicksalhaftigkeit in meta-mythischen Texten von Anna Seghers, Günter Kunert und Volker Braun. In: Niethammer, Ortrun/Preußer, Heinz-Peter/Rétif, Françoise (Hrsg.). Mythen der sexuellen Differenz. Übersetzungen. Überschreibungen. Übermalungen. Heidelberg: Winter Verlag. 227–246. 30 Wolf, Christa (1996). Medea. Stimmen. Roman. München: Luchterhand. 57.

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Am Mythos arbeiten

die sprichwörtliche blutige Verwandtschaft in Verbindung mit der Konstruktion von Kulturdifferenzen wie Griechen vs. ‚Barbaren‘ werden zum Instrument eines verheerenden Geschichtsbildes und einer ebensolchen Gegenwartsdiagnostik. In den intertextuellen Spuren werden auch Verhandlungen von Weiblichkeitsbildern markiert, aber diese leiten nicht zu einer hermeneutischen Verstehensleistung der Textspuren an, sondern inszenieren eine Verfügungsgewalt über die Tradition. Die literatur- oder auch theatergeschichtliche Rekonstruktion legt unabhängig davon, ob es sich um hermeneutische oder antihermeneutische Zugriffe handelt, Wert auf diese Spurensuche und ihre Funktion, da sie die Bedeutung von bestimmten Referenztexten nachvollziehbar machen und damit Teil einer entwicklungsgeschichtlichen Rekonstruktion sind. Für die Rezeptionssituation im Theater dagegen sind weder Fragen der chronologischen Ordnung noch das Erkennen von Einzeltextreferenzen per se von Bedeutung. Wer eine Inszenierung von Medeamaterial sieht, weiß, dass sich Müller eine Medea-Tradition anverwandelt, und wird dies verstehen auch ohne einen konkreten Text zu erkennen, auf den Bezug genommen wird.

6.

Ausblick

Die bisherigen methodischen Ausführungen haben Schwerpunkte auf Traditionsbildungen und transformative Prozesse bzw. deren Beschreibung gelegt. Dabei hat sich gezeigt, dass die Beschäftigung mit Mythentexten auch Grundfragen literaturwissenschaftlichen Arbeitens in den Feldern Interpretation, Kanonbildung und literarische Wertung berührt. Gleichzeitig mussten mehrere offensichtliche Leerstellen gelassen werden. Erstens wären Beispiele zur Intertextualität und multimedialen Verarbeitungen um transnationale Darstellungsund Erzähltraditionen zu erweitern. Zweitens wurden nur ausgehend vom Medea-Stoff mehrere Varianten aufgezeigt, wie mit Weiblichkeitsbildern im Mythos und als Mythosmaterial gearbeitet werden kann. Sie wären sowohl mit Blick auf Geschlechterbilder insgesamt wesentlich zu erweitern als auch noch ausführlicher intersektional zu perspektivieren. Und drittens wäre zu zeigen, warum es hilfreich ist, Mythengeschichten nicht nur sortiert nach einzelnen Mythoserzählungen zu gruppieren. Dies betrifft, wie Inge Stephan herausgestellt hat, sowohl das grundsätzliche Verhältnis von Medusen und Musen (1997) als auch konkretere Figurationen: Medea etwa ließe sich als Anti-Iphigenie und als Anti-Antigone verstehen.31 Wenn wir also fragen, welche Weiblichkeitsbilder innerhalb einer Darstellungstradition hervorgebracht werden, und inwiefern 31 Stephan (2006), 32.

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Andrea Geier

erkennbar ist, dass über die Arbeit an Weiblichkeitsbildern aus einer bestimmten Erzähltradition Mythen umgeschrieben und verändert werden, ließe sich der Blick auch auf Beziehungskonstellationen zwischen Mythentraditionen richten.

Bibliographie Böschenstein, Renate (1994). Medea. Der Roman der entflohenen Tochter. In: Hillenaar, Henk/ Schönau, Walter (Hrsg.). Fathers and Mothers in Literature. Amsterdam, Atlanta: Rodopi. 7–28. Euripides (1994). Medea. Deutsch von J.J.C. Donner. Ditzingen: Reclam. Frick, Werner (1998). Die mythische Methode. Komparatistische Studien zur Transformation der griechischen Tragödie im Drama der klassischen Moderne. Tübingen: Niemeyer. Geier, Andrea (2007). Konfrontationen mit dem Mythos im Mythos. Verhandlungen von Schicksalhaftigkeit in meta-mythischen Texten von Anna Seghers, Günter Kunert und Volker Braun. In: Niethammer, Ortrun/Preußer, Heinz-Peter/Rétif, Françoise (Hrsg.). Mythen der sexuellen Differenz. Übersetzungen. Überschreibungen. Übermalungen. Heidelberg: Winter Verlag. 227–246. Geier, Andrea (2021). Kleiderständer der Geschichte. Mythosrezeption bei Heiner Müller und Volker Braun. In: Strehlow, Falk/Ette, Wolfram (Hrsg.). Klassengesellschaft reloaded und das Ende der menschlichen Gattung. Fragen an Heiner Müller. Berlin: Theater der Zeit. 104–123. Göbel-Uotila, Marketta (2005). Medea. Ikone des Fremden und des Anderen in der europäischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Hildesheim: Olms. Glaser, Horst Albert (2001). Medea oder Frauenehre, Kindsmord und Emanzipation. Zur Geschichte eines Mythos. Frankfurt a. M. et al.: Peter Lang. Grillparzer, Franz (2008). Das goldene Vließ. Der Gastfreund. Die Argonauten. Medea. Hrsg. von Helmut Bachmaier. Ditzingen: Reclam. Grimm, Gunter (1977). Rezeptionsgeschichte: Grundlegung einer Theorie mit Analysen und Bibliographie. München: Fink. Hage, Volker (1996). Kein Mord, nirgends. In: Der Spiegel Nr. 9. 202–206. Jahnn, Hans Henny (1986). Medea. Mit einem Nachwort von Heinz Ludwig Arnold. Ditzingen: Reclam. Jauß, Hans Robert (1974). Literaturgeschichte als Provokation. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 144–207. Kaschnitz, Marie Luise (1975). Die Nacht der Argo. In: Dies. Griechische Mythen. München: dtv. Lütkehaus, Ludger (Hrsg.) (2007). Mythos Medea. Texte von Euripides bis Christa Wolf. Stuttgart: Reclam. Loster-Schneider, Gudrun (2000). Intertextualität und Intermedialität als Mittel ästhetischer Innovation in Christa Wolfs Roman Medea. Stimmen. In: Wende, Waltraud (Hrsg.). Nora verlässt ihr Puppenheim. Autorinnen des 20. Jahrhunderts und ihr Beitrag zur ästhetischen Innovation. Stuttgart, Weimar: Metzler. 222–249.

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Am Mythos arbeiten

Müller, Heiner (2002). Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten. In: Ders.: Die Stücke 3, Werke Bd. 5. Hrsg. v. Frank Hörnigk. Berlin: Suhrkamp. Novak, Helga (2007). Brief an Medea. In: Lütkehaus (Hrsg.), 284f. Preußer, Heinz-Peter (2000). Mythos als Sinnkonstruktion. Die Antikenprojekte von Christa Wolf, Heiner Müller, Stephan Schütz und Volker Braun. Köln, Weimar, Wien: Böhlau. Simonis, Annette (2004). Einleitung: Mythen als kulturelle Repräsentationen in den verschiedenen Künsten und Medien. In: Simonis, Annette/ Simonis, Linda (Hrsg.). Mythen in Kunst und Literatur. Tradition und kulturelle Repräsentation. Köln, Weimar, Wien: Böhlau. 1–26. Stephan, Inge (1997). Musen und Medusen. Mythos und Geschlecht in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Köln, Weimar, Wien: Böhlau. Stephan, Inge (2006). Medea. Multimediale Karriere einer mythologischen Figur. Köln, Weimar, Wien: Böhlau. Streeruwitz, Marlene (1996). Verführungen. 3. Folge. Frauenjahre. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Vanderbeke, Birgit (1997). Das Muschelessen. Berlin [1990]. Vöhler, Martin/Seidensticker, Bernd in Zusammenarbeit mit Wolfgang Emmerich (Hrsg.) (2011). Mythenkorrekturen. Zu einer paradoxalen Form der Mythenrezeption. Berlin, Boston: de Gruyter. Weiler, Inge (1998). Giftmordwissen und Giftmörderinnen. Eine diskursgeschichtliche Studie. Tu¨ bingen: Niemeyer. Wolf, Christa (1996). Medea. Stimmen. Roman. München: Luchterhand.

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Lisa Keil

Zwischen Aphrodite und Hermes – mythologische Transformationen um Intergeschlechtlichkeit in Ulrike Draesners Mitgift (2002)

Abstract Hermes, Aphrodite, Hermaphroditos – die Überlagerung von Diskursen um Intergeschlechtlichkeit mit Mythologisierungen führt häufig dazu, die prekären Realitäten von inter* Personen zu verschleiern. In diesem Beitrag wird untersucht, inwiefern Gegenwartsautorin Ulrike Draesner in ihrem 2002 erschienenen Roman Mitgift über eine Arbeit am Mythos dazu anregt, Intergeschlechtlichkeit auf eine neue Weise zu erzählen. Draesner transformiert die mythologischen Figuren Hermes, Aphrodite und Hermaphroditos dafür, bringt aber auch Mythenkontexte von Eurydike, Pygmalion bis zur ägyptischen Mythologie ein, um ferner die Mythen mit Diskursen aus Wissenschaft und Kunst zu verknüpfen. Die These des Beitrags ist, dass durch die Überlagerung des Hermaphroditos-Mythos mit anderen Bild- und Bedeutungsbereichen eine Ambiguität der Symbolik und Metaphorik erzeugt wird. Diese Ambiguität fordert zu einer kritischen Reflexion von Binarität sowohl in Bezug auf den Text als auch in Hinsicht auf Geschlecht heraus. Keywords: Mythos, Intergeschlechtlichkeit, Hermaphroditos, Mitgift (Roman), Intersexualität

Im vierten Buch der Metamorphosen erzählt Ovid von Hermaphroditos, einem Jüngling, dessen Gestalt von Geburt an zwischen den Geschlechtern schwankt: „Sein Gesicht war so, dass darin man Mutter und Vater wiedererkennen konnte; benannt war er auch nach den beiden.“1 Mutter und Vater sind, wie es der Name nahelegt, Hermes, vermittelnder Götterbote und Symbol für Manneskraft,2 und Aphrodite, Göttin der Schönheit und Begierde.3 Schon die in ihm verschmolze1 Ovidius Naso, Publius. Metamorphosen. Lateinisch-deutsch. Hrsg. u. übers. v. Niklas Holzberg (2017). Berlin/Boston: De Gruyter. 209. 2 Vgl. Groneberg, Michael (2014). Zum Beispiel Hedwig. Über die Aktualität der antiken Narrative von Hermaphrodit und Androgyn. In: Baier, Angelika/Hochreiter, Susanne (Hrsg.). Inter*geschlechtliche Körperlichkeiten. Diskurs/Begegnung im Erzähltext. Wien: Zaglossus. 165–190. 172. 3 Vgl. Full, Bettina (2008). Aphrodite. In: Moog-Grünewald, Maria (Hrsg.). Mythenrezeption. Die antike Mythologie in Literatur, Musik und Kunst von den Anfängen bis zur Gegenwart (= Der Neue Pauly Supplemente 5). Stuttgart, Weimar: Metzler. 97–114. 97.

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nen Züge seiner Eltern lassen Hermaphroditos androgyn wirken. Damit nimmt Ovid bereits vorweg, was mit Hermaphroditos geschehen wird.4 Doch ist es erst die feste Umarmung mit der ihn begehrenden Nymphe Salmakis und die Vereinigung der beiden zu einer Gestalt durch die Götter, die Hermaphroditos feminin und maskulin zugleich werden lässt. Geschlechterbinarität löst sich in ihm auf und ein weiteres Geschlecht entsteht – erfasst dieser Mythos also das Phänomen der Intergeschlechtlichkeit? Die seit dem 16. Jahrhundert häufig auftretende Verwendung des Worts „Hermaphrodit“ für inter* Personen deutet darauf hin.5 Dennoch zeigt eine nähere Betrachtung des Mythos und der mit ihm zusammenhängenden Riten ein anderes Bild. Michael Groneberg hat dies schon mehrfach gezeigt.6 Er betont, dass Hermes und Aphrodite im antiken Griechenland als „Schutzgottheiten in Hochzeitszeremonien“ dienten und somit auf die „Vereinigung von Mann und Frau“ ausgerichtet waren.7 In den Ritualen vermischten sich die Götter schließlich und Hermaphroditos entstand.8 Als personifizierte sexuelle Vereinigung soll Hermaphroditos Fruchtbarkeit bringen.9 Ovid erst verknüpfte ihn mit der Erzählung über Salmakis’ Quelle, das erotische Begehren Salamakis’ nach Hermaphroditos steht in der Erzählung im Fokus. Der Mythos mündet in einem gewaltvollen heterosexuellen Akt im Wasser, der die beiden verschmelzen lässt. Groneberg konkretisiert: „Weit davon entfernt, die Geschlechterdualität in Frage zu stellen, ist Hermaphroditos in ihr begründet und stützt letztendlich den heteronormativen Rahmen, aus dem er erwächst.“10 Weniger Schutzgott von intergeschlechtlichen Menschen,11 die in der

4 Vgl. Zajko, Vanda (2009). ‚Listening with‘ Ovid. Intersexuality, Queer Theory, and the Myth of Hermaphroditus and Salmacis. Helios 36:2. 175–202. 188. 5 Vgl. Kluge, Friedrich (2012). Hermaphrodit. In: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Berlin, Boston: De Gruyter. Abrufbar unter: https://www.degruyter.com/database /KLUGE/entry/kluge.4497/html (Stand 23/02/2022). 6 Vgl. Groneberg, Michael (2018). Die flüssige Skulptur. In: Schweizer, Katinka/Vogler, Fabian (Hrsg.). Die Schönheiten des Geschlechts. Intersex im Dialog. Frankfurt, New York: Campus. 213–225; Groneberg (2014); Groneberg, Michael (2009). Das Geschlecht des ersten Menschen. Zur mythologischen Herkunft der Ausdrücke Androgynie und Hermaphrodit. ZSexualforsch 22. 121–150; Groneberg, Michael (2008). Mythen und Wissen zur Intersexualität. Eine Analyse relevanter Begriffe, Vorstellungen und Diskurse. In: Groneberg, Michael/Zehnder, Kathrin (Hrsg.). ‚Intersex‘. Geschlechtsanpassung zum Wohl des Kindes? Erfahrungen und Analyse. Fribourg: Academic Press. 83–145. 7 Groneberg (2018), 217. 8 Vgl. ebd., 217. 9 Vgl. Ajootian, Aileen (1997). The only happy couple. Hermaphrodites and gender. In: Koloski-Ostrow, Ann Olga/Lyons, Claire L. (Hrsg.). Naked Truths. Women, sexuality, and gender in classical art and archaeology. London, New York: Routledge. 220–242. 227, 229. 10 Groneberg (2018), 218. 11 Vgl. Groneberg (2014), 174.

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Antike meist getötet wurden,12 ist Hermaphroditos also Schutzgott der heterosexuellen Vereinigung. Auch die spätmoderne ‚Arbeit am Mythos‘ um Hermaphroditos muss darauf untersucht werden, ob Geschlechterbinarität mit der Aufrufung des Mythos in Frage gestellt oder lediglich reproduziert wird. Der aus der Mythologie abgeleitete und von Freud und Hirschfeld13 populär gemachte Begriff „Hermaphrodit“ ist durch seine Verwendung mit der medizinischen Konstruktion von zwei Geschlechtern und Zwangsoperationen14 belastet – Praktiken, die in Deutschland erst kürzlich, im Mai 2021, verboten wurden.15 Auch Judith Butler betont, dass inter* Personen von Gewalt besonders gefährdet sind, da sie nach den herrschenden Geschlechternormen durch das „Gitter der Lesbarkeit“16 fallen und kulturell nicht intelligibel sind.17 Will der literaturwissenschaftliche Diskurs nicht hinter diese wichtigen gendertheoretischen Erkenntnisse über Intergeschlechtlichkeit zurückfallen, muss auch die Mythologisierung von inter* Personen in der Literatur kritisch hinterfragt werden.18 Queertheoretiker Anson Koch-Rein fasst die Problematik um die Überlagerung von Diskursen um Intergeschlechtlichkeit mit mythologischen Bildern und Metaphern treffend zusammen: „The mythic, metaphoric, monstrous hermaphrodite for all intents and purposes seems to have – for the longest time – eclipsed the existence of intersexual bodies, and silence their realities“.19 Doch kann der Bezug auf den antiken Mythos auch darauf hinweisen, dass Intergeschlechtlichkeit kein neues Phänomen ist;20 mit dem Mythos kann an die „kulturellen Gedächtnishorizonte“21 12 Vgl. Delcourt, Marie (1961). Hermaphrodite. Myths and Rites of the Bisexual Figure in Classical Antiquity. London: Studio Books. 43–45. 13 Vgl. Groneberg (2014), 176–177. 14 Für eine Studie zu diesen Operationen siehe Ulrike Klöppel (2016). Zur Aktualität kosmetischer Operationen ‚uneindeutiger Genitalien‘ im Kindesalter. Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien. Bulletin Texte 42. 1–84. 15 Vielfach wurde aber kritisiert, dass das Verbot nicht strikt genug sei, siehe dafür die Stellungnahmen von inter* Verbänden zum Gesetzesentwurf: https://www.bmjv.de/SharedDoc s/Gesetzgebungsverfahren/DE/Verbot_OP_Geschlechtsaenderung_Kind.html (Stand: 23/02/ 2022). 16 Butler, Judith (2011). Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 73. 17 Vgl. Butler (2011), 14, 61–62, 91. 18 Vgl. Koch-Rein, Anson (2005). Intersexuality – in the ‚I‘ of the Norm? Queer Field Notes from Eugenides Middlesex. In: Haschemi Yekani, Elahe/Michaelis, Beatrice (Hrsg.). Quer durch die Geisteswissenschaften. Perspektiven der Queer Theory. Berlin: Querverlag. 238–252. 239, 242. 19 Ebd., 242–243. 20 Vgl. Turner, Stephanie S. (1999). Intersex Identities. Locating New Intersections of Sex and Gender. Gender and Society 13:4. 457–479. 475. 21 Simonis, Annette (2014). Repräsentation als literarische und ästhetische Reflexionsform. Mediale Transformationen von antiker Mythologie in der Moderne und Gegenwart. In: Gerbert, Bent/Mayer, Uwe (Hrsg.). Zwischen Präsenz und Repräsentation. Formen und

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angeschlossen werden. In Anlehnung an emanzipatorisch angeeignete Begriffe wie „queer“ nutzen einige inter* Aktivist:innen die Abkürzung „Herm“ so auch als Selbstbezeichnung.22 Die Wiederholung des Mythos ist somit von Ambiguität geprägt. Vor allem um das Jahr 2000 erschienen Romane, die dieses Problemfeld ausgelotet haben. Jeffrey Eugenides’ Middlesex23 oder, für den deutschsprachigen Raum, auf den sich dieser Beitrag konzentriert, Ulrike Draesner mit Mitgift,24 haben Erzählungen von Intergeschlechtlichkeit mit Mythen verbunden. Besonders bei Ulrike Draesner erhält Literatur die Funktion eines „Anwalt[s] des wissenschaftlich Unsichtbaren“25, dazu gehört die Eröffnung „ungewohnter […] Wahrnehmungs- und Denkmöglichkeiten“26. Es stellt sich die Frage, ob sich dies auch in einer Arbeit am Hermaphroditos-Mythos zeigt. Der Fokus dieses Beitrags liegt deshalb auf der Analyse der mythologischen Transformationen um Intergeschlechtlichkeit in Draesners Roman. In welchen Kontexten werden mythologische Figuren wie Hermaphroditos aufgerufen und aktualisiert? Inwiefern wird in der Arbeit am Mythos ein kritisch-subversives Potential entfaltet? Die These des Beitrags ist, dass in Mitgift durch die Überlagerung des Hermaphroditos-Mythos mit anderen Mythen und Diskursen eine epistemische Mehrdeutigkeit erzeugt wird. Diese Mehrdeutigkeit besitzt das Potential, Binarität sowohl auf textlicher Ebene als auch in Bezug auf gendertheoretische Fragen zu dekonstruieren. Die im Roman auftretenden Figuren Hermes, Aphrodite, Hermaphroditos und Eurydike sollen dafür im Folgenden gesondert untersucht werden.

22

23 24 25 26

Funktionen des Mythos in theoretischen und literarischen Diskursen. Berlin, Boston: De Gruyter. 274–297. 277. Vgl. Baier, Angelika (2017). Inter_Körper_Text. Erzählweisen von Intergeschlechtlichkeit in deutschsprachiger Literatur. Wien: Zaglossus. 96–97. Dieser Begriff sollte allerdings nicht von dyadischen, also nicht-intergeschlechtlichen, Personen zur Fremdbezeichnung von inter* Personen genutzt werden, sofern diese das nicht wünschen. Vgl. Ghattas, Dan Christian et al. (2015). Inter* und Sprache. Von ‚Angeboren‘ bis ‚Zwitter‘. Eine Auswahl inter*relevanter Begriffe, mit kritischen Anmerkungen vom TrIQ-Projekt ‚Antidiskriminierungsarbeit & Empowerment für Inter*‘. Abrufbar unter: https://oiigermany.org/wp-content/uploads/Inte rUndSprache_A_Z.pdf (Stand: 23/02/2022). Zum Mythos in Middlesex siehe z. B. Koch, Michaela (2017). Discursive Intersexions. Daring Bodies between Myth, Medicine, and Memoir. Bielefeld: transcript. Vgl. Draesner, Ulrike (2005). Mitgift. Roman. 2. Aufl. München: btb. Im Folgenden mit der Sigle M abgekürzt. Draesner, Ulrike (2001). Fluoreszierende Mäuse. Neue Zürcher Zeitung, 29. 01. 2001. Ertel, Anna (2014). Zur Poetik Ulrike Draesners. Text+Kritik 201. 19–26. 21.

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1.

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Hermes

Ulrike Draesner erzählt in ihrem 2002 erschienenen Roman Mitgift die Geschichte der Geschwister Aloe und Anita*Axel.27 Anita*Axel wird als intergeschlechtliches Kind geboren, jedoch nach der Geburt Operationen und Hormontherapien unterzogen, die sie*ihn dem weiblichen Geschlecht zuordnen. Die Eltern verheimlichen Anitas*Axels Intergeschlechtlichkeit vor der Schwester Aloe, die mit dem Geschwisterkind stark rivalisiert. Anita*Axel lebt zunächst ein angepasstes Leben mit erfolgreicher Model- und Anwaltskarriere, Ehemann Walter und Kind Stefan, entscheidet sich dann jedoch ihren*seinen „auch männlichen“28 Teil zu leben, indem sie*er die Hormontherapien stoppt und sich fortan Axel nennt. Ihr*sein Ehemann bringt sie*ihn und sich selbst am Ende des Romans dafür um. Der Roman beginnt, nachdem dies bereits geschehen ist, mit Protagonistin Aloe und Stefan, der nach Anitas*Axels Tod bei ihr lebt. Stefan bekommt zu seinem Geburtstag ein Spielzeugraumschiff mit einem auffälligen Namen geschenkt: Hermes29. Sie braucht das Licht nicht anzuschalten, um Stefans Hermes Shuttle zu sehen. Den halben Tag hat er in dem großen hellen Raketenkopf gesessen, und Hermes Shuttle geflüstert, so wie es an der Außenseite steht. Er wollte wissen, wie man es ausspricht, und sie hat es ihm gesagt. Was Hermes bedeutet, hat er nicht gefragt. Aber sie denkt daran.30

Der verwaiste Stefan kann noch nicht nach seinen Eltern fragen, aber er will ein Shuttle, „mit dem man zum Mond fliegt“31. Stark abstrahiert wird hier Hermes als mythologische Figur aufgerufen, es wird im Sinne Blumenbergs damit „die äußerste Verformung“ des Mythos gewagt, „die die genuine Figur gerade noch

27 Das Geschwisterkind Aloes wählt am Romanende selbstbestimmt den Namen Axel (vgl. M 361), wird jedoch sowohl davor als auch danach im Roman als Anita bezeichnet. In Anlehnung an Marina Rauchenbacher wird die Schreibweise mit beiden Namen gewählt, um einerseits das Leseverständnis zu verbessern, aber andererseits auch hervorzuheben, dass es sich bei Anita*Axel nicht um eine weibliche Person handelt (vgl. Rauchenbacher, Marina (2014). Bilder erschließen – Bild sein. Inter*geschlechtliche Körper in Ulrike Draesners Mitgift. In: Baier, Angelika/Hochreiter, Susanne (Hrsg.). Inter*geschlechtliche Körperlichkeiten. Diskurs/Begegnung im Erzähltext. Wien: Zaglossus. 131–149). Der Asterisk * wird hier anderen Sonderzeichen vorgezogen, da er in der inter* Gemeinschaft die besondere Bedeutung hat, auf die „Vielfalt intergeschlechtlicher Realitäten und Körperlichkeiten“ (Ghattas et al. (2015), 15) hinzuweisen. 28 M 335. 29 M 9. 30 M 11. 31 M 11.

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oder fast nicht mehr erkennen läßt“.32 Gerade die Verknüpfung mit der astronomischen Semantik reichert um die Figur des Hermes Bedeutungen an, die sich mitunter widersprechen. Die Hermes nahestehende Symbolik des Mondes33 steht der Geschichte der Raumfähre ‚Hermes‘ gegenüber. Diese sollte nicht zum Mond fliegen, sondern für die europäische Union bemannte Versorgungsflüge ins All durchführen. Aufgrund politischer Veränderungen wurde sie aber nie gebaut. Mythologie und Astronomie werden als Wissensfelder und Möglichkeiten der Ordnung von Wirklichkeit angenähert,34 Wissenschaft und Mythos verschmelzen im Sprechen über Hermes. In dieser Verbindung heterogener Diskurse wird eine eindeutige Lesart verhindert, die Symbolik ist nicht binär ausgelegt. Das nach Hermes benannte Raumschiff dient jedoch als Anspielung, um die Erinnerung an Anita*Axel einzuleiten, die*der am Ende des Romans zu einer als Mann gelesenen inter* Person (in diesem Sinne zu Hermes) wird. Über die Verknüpfung mit der mythologischen Figur wird sie*er also dem männlichen Geschlecht zugeordnet. Bevor Anita*Axel im Roman also überhaupt mit Hermaphroditos verknüpft wird35, wird hier bereits eine mythologische Einordnung getroffen. Die Aufspaltung der mythologischen Figur Hermaphroditos reproduziert damit auch Geschlechterbinarität. Hermaphroditos wird in seine elterlichen Anteile Hermes und Aphrodite aufgetrennt, womit die Geschlechter Mann und Frau wieder isoliert sind. Zwischen Hermes und Aphrodite changiert Anita*Axel im Roman aber auch immer wieder, wie sie zwischen den Geschlechtern schwankt. Dadurch, dass die Erzählung nicht linear angelegt ist, sondern zwischen verschiedenen Zeitebenen hin und her springt, kommt es nicht zu einer Progression von Aphrodite zu Hermes. Stefan sitzt bereits am Anfang des Romans in der Hermes-Rakete, die hier einem ‚Mutterleib‘ gleicht36, er spielt darin und löst in Aloe einen Erinnerungsprozess aus. Auf seinen Ursprung als Kind von Anita*Axel wird damit aber auch proleptisch hingedeutet. In der Verbindung vom männlichen Hermes mit dem heteronormativ als dem Weiblichen zugeordneten Austragen und Gebären des Kindes wird die binäre Geschlechterordnung ins Wanken gebracht. Deutlich zielt die Art und Weise des Einsatzes der mytholo32 Blumenberg, Hans (1979). Arbeit am Mythos. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 295. 33 Vgl. Aurnhammer, Achim (1986). Androgynie. Studien zu einem Motiv in der europäischen Literatur. Köln/Wien: Böhlau. 17. Der Mond wird in Mitgift immer wieder erwähnt (vgl. M 11–12, 48, 77), mit ihrem Freund Lukas, dem Astrophysiker, diskutiert Aloe sogar über das Geschlecht des Mondes in verschiedenen Sprachen (vgl. M 48). Laut Aurnhammer steht der zu- und abnehmende Mond aufgrund seiner „Doppelnatur“ auch der Androgynie nahe (Aurnhammer (1986), 16–17). 34 Dies folgt einer langen Tradition, so ist bspw. der Gebrauch von mythischen Namen in der Astronomie üblich, mythische Bezüge dienen als „Reserve des Willkürentzugs“ (Blumenberg (1979), 51). 35 Vgl. M 228–229. 36 M 11.

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gischen Referenz auf Mehrdeutigkeit ab. Dies hat auch Auswirkungen auf das vom Text produzierte Verständnis von Geschlecht, es kommt zu einer allgemeinen Distanzierung von eindeutiger Bestimmbarkeit. Die Hermes-Szenen am Anfang von drei Kapiteln37 dienen zudem zur Vermittlung zwischen verschiedenen Zeitebenen und als Auslöser der weiteren Zeitstränge des Romans, die erheblich später in der Vergangenheit einsetzen38. Vor allem die Vermittlerfunktion von Hermes zwischen Himmel und Erde, Ober- und Unterwelt39 klingt hier an. Ebenso wie das Hermes Shuttle niemals gestartet ist, keine Vermittlung zwischen Erde und Weltall herstellen konnte, findet auch hier keine Vermittlung zwischen Aloe und ihrem Pflegesohn Stefan statt, da sie die Erinnerung an Anita*Axel noch nicht übermittelt: Stefan war zu klein, um sich an Schwandt zu erinnern. […] Damit er es tun kann, muß sie die ganze Geschichte erst für ihn ordnen. Das Hermes Shuttle glänzt im Wohnzimmer, neben dem Geburtstagstisch.40

Aloe befindet sich nach dem Tod Anitas*Axels selbst in einer Vermittlungsposition über deren*dessen Intergeschlechtlichkeit. Auch Aloe wird damit zu einer Hermes-Figur, der Mythos auf mehrere Figuren verstreut.41

2.

Aphrodite

Da der Roman die Erzählung von Anitas*Axels Geschichte meist über Aloe vermittelt, wird aus einer sehr eingeschränkten Perspektive über Intergeschlechtlichkeit erzählt. Auch mythologische Vergleiche treten meist in Passagen auf, die intern fokalisiert sind. So auch bei Aphrodite, die in Aloes Wahrnehmung mit Anita*Axel verknüpft wird, da sie*er in der Geschwisterrivalität für Aloe die unerträglich perfekte Frau repräsentiert: „Ein Leben ganz ohne Anita Aphrodita, ohne deren Schönheit aushalten zu müssen, an sie zu denken, sie dauernd vor sich zu sehen, ohne Neid. Das wollte sie“42. Nur in der Alliteration „Anita Aphrodita“ wird die mythologische Figur hier explizit aufgerufen. Vor allem ihr Status als Göttin der Schönheit steht im Vordergrund, da Anitas*Axels weibliche Schönheit von den Eltern immer wieder hervorgehoben wird: „Ingrids Weise, das Beste daraus zu machen, war, Anitas Schönheit so zu übertreiben, daß 37 Vgl. M 9, 59, 158. 38 Vgl. M 11, 64, 159. 39 Vgl. Baudy, Gerhard/Ley, Anne (1998). Hermes. In: Cancik, Hubert/Schneider, Helmuth (Hrsg.). Der neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Bd. 5. Stuttgart, Weimar: Metzler. 426–432. 40 M 59. 41 Vgl. Groneberg (2014), 179. 42 M 71.

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diese Schönheit irreal wurde“43. Anita*Axel wird somit künstlich als weibliche Schönheit, als Aphrodite konstruiert. Als Model taucht sie*er als „junge Frau unter Wasser“44 auf Werbeplakaten auf und wird darüber hinaus mit Wasser assoziiert45. Somit wird die wassergeborenen Aphrodite Anadyomene aufgerufen.46 Diese entstand nach Hesiod aus den abgeschnittenen Genitalien des Uranos, eine Genese, die an die medizinischen Operationen von Anita*Axel erinnert, die ihre*seine Weiblichkeit konstruierten47. Der Kastrationsursprung der Aphrodite ist durch die Ästhetisierung des Aphrodite-Mythos jedoch bereits verhüllt worden.48 Auch hier soll Anitas*Axels Schönheit die an ihr*ihm vorgenommenen Operationen verhüllen. Wie Marina Rauchenbacher treffend bemerkt, schreiben die mit der Wassersymbolik aufgerufenen mythologischen Assoziationen von Unheil bringenden Sirenen und der Hermaphroditos überwältigenden Nymphe Salmakis aber auch die Dämonisierung des Weiblichen fort.49 Gleichermaßen wird an eine Dämonisierung der mit ihrer Schönheit reizenden Aphrodite angeschlossen, die literaturgeschichtlich bis auf die Romantik zurückgeht, wo sie bspw. in Eichendorffs Marmorbild zu finden ist.50 Anita*Axel als Aphrodite ist stark ambig, einerseits wird sie*er als „Monster“51 betitelt, andererseits wird ihre*seine Schönheit begehrt. Auch Aphrodite wird ambivalent beschrieben: „schön und frech, listig, schaumgeboren, herrlich und getarnt“52. Dieses Schwanken zwischen Idealisierung und Dämonisierung ist ein stereotypes Motiv in der Auseinandersetzung mit Intergeschlechtlichkeit und wird durch den Fokus auf Aloes Perspektive kaum kritisch reflektiert. Gleichzeitig wird im Roman jedoch deutlich darauf hingewiesen, dass Anita*Axel als weiblich konstruiert wird.53 Durch die Transparenz der Konstruktionsmechanismen wird eine Verknüpfung mit Aphrodite als Symbol der weiblichen Schönheit fraglich. Im Roman wird auf die Konstruiertheit von mythologischen Verbindungen hingedeutet, die den Blick 43 44 45 46 47 48 49 50

M 227. M 14. Vgl. M 10, 14. Vgl. M 226. M 163–164, 167–171. Vgl. Blumenberg (1979), 45. Vgl. Rauchenbacher (2014), 135–136. Vgl. Begemann, Christian (1999). Der steinerne Leib der Frau. Ein Phantasma in der europäischen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts. Aurora. Jahrbuch der Eichendorff-Gesellschaft 59. 135–159. 141. 51 M 163. 52 M 226. 53 Vgl. Catani, Stephanie (2008). Hybride Körper. Zur Dekonstruktion der Geschlechterbinarität in Ulrike Draesners Mitgift. In: Catani, Stephanie/Marx, Friedhelm (Hrsg.). Familien, Geschlechter, Macht. Beziehungen im Werk Ulrike Draesners. Göttingen: Wallstein. 75–93. 76, 84–85.

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auf die inter* Person dahinter verschleiern. Dies wird in der Behandlung des Hermaphroditos-Mythos weiter illustriert.

3.

Hermaphroditos

Obwohl der Hermaphroditos-Mythos der zentrale Mythos zum Thema Intergeschlechtlichkeit ist, erfolgt ein Verweis auf ihn im Roman erst sehr spät. Aloe lernt vom Mythos in einem schulischen Kontext und beginnt als junges Mädchen, sich so mit dem Thema auseinanderzusetzen, da sie von ihren Eltern keinerlei Informationen über Intergeschlechtlichkeit erhalten hat. Aloe lernte Latein. Im Lehrbuch gab es ein Kapitel über Venus und Merkur. Sie, schön und frech, listig, schaumgeboren, herrlich und getarnt – er, der Bote der Götter. Sie sollten nur die Wörter lernen und mit Hilfe der Wörter grammatische Strukturen, Aloe aber lernte, Merkur hieß früher Hermes, Venus hieß Aphrodite, einen Sohn hatten sie auch. War ganz normal gewesen, dieser Hermaphroditos, dann aber liebeswidersinnig geworden. Von der in ihn verliebten Nymphe wollte er nichts wissen. Die Götter jedoch neigten offensichtlich zu pragmatischen Lösungen und verschmolzen ihn daher kurzerhand mit der Frau. Komm mir nicht damit, sagte Holger, fehlt mir gerade noch, daß meine eigene Tochter mich auch noch über Hermaphroditen belehrt.54

Deutlich wird hier, dass Hermaphroditos’ Eltern erneut im Vordergrund stehen, darüber hinaus wird nur sehr knapp Ovids Hermaphroditos-Mythos nacherzählt. Wie der Kommentar von Aloes Vater Holger danach zeigt, wird selbst das Wissen über den Mythos in der Familie unterdrückt. Die Beschäftigung mit dem Mythos, um „Namen für das Unbestimmte zu finden“55, hilft Aloe dennoch zu verstehen, was von ihren Eltern immer verschwiegen wurde. Was unter dem ethnologischen Mythosbegriff als Funktion ätiologischer Mythen für ganze Kulturen zu fassen ist,56 wird hier auf individueller Ebene dargestellt: Der Mythos erklärt und begründet die gegenwärtige Wirklichkeit. Besonders die Ästhetisierung des Mythos macht es Aloe möglich, sich mit Intergeschlechtlichkeit auseinanderzusetzen: „Nur auf Statuenabbildungen schienen Aloe Zwitter weit genug weg, um sich in Ruhe ansehen zu lassen“57. Die lange Rezeptionsgeschichte der Mythen in der plastischen Kunst spielt hier eine größere Rolle als der Mythos als Narrativ. Die Statuenabbildungen, die in Büchern über Griechenland und

54 M 226–227. 55 Blumenberg (1979), 41. 56 Vgl. Assmann, Aleida/Assmann, Jan (1998). Mythos. In: Cancik, Hubert/Gladigow, Burkhard/Kohl, Karl-Heinz (Hrsg.). Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe. Bd. IV. Stuttgart, Berlin, Köln: Kohlhammer. 179–200. 186. 57 M 229.

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Rom58 betrachtet werden, weisen dabei auf eine doppelte mediale Vermittlung hin. Den Abbildungen fehlt gegenüber den plastischen Körpern eine Dimension, wodurch sie noch weiter vom lebendigen Körper entfernt sind. Diese durch die bildlichen Mythosdarstellungen entstehende Distanzierung entfernt Aloe von ihrem Geschwisterkind.59 Will Anita*Axel von ihren*seinen traumatisierenden Operationen und Behandlungen erzählen, wird Aloe vom „Zuhören schlecht“60 und sie fragt nicht mehr nach. Stattdessen wendet sie sich dem Mythos zu. Der inter* Körper wird dadurch statuarisch, verliert die Fähigkeit zu empfinden oder ein Innenleben zu besitzen.61 Vor allem die angesprochenen Marmorstatuen sind dabei schon immer an Geschlechterdiskurse gebunden.62 Eine Imagination der Frau als Statue reicht über die Romantik bis zum Pygmalion-Mythos in die Antike zurück. Hier werden nun inter* Personen in Stein verhandelt und über sie fantasiert: „Aloe schaute Kunstbände an. Körperdarstellungen – ob in Öl, Tempera, Stein, Papier oder auf Zelluloid – gefielen ihr besonders. Menschen wollten Menschen machen; Fleisch verwandelte sich in Stein“63. Die ärztliche Formung des inter* Körpers durch Operationen wird in die künstlerische Praktik des Bildhauers überführt. Der gewaltvolle Eingriff wird damit verschleiert. Im Gegensatz zum Pygmalion-Mythos, in dem sich Stein in Fleisch verwandelt, findet hier eine umgekehrte Bewegung statt: Es wird nicht der langen Literaturgeschichte der Aphrodite-Statuen gefolgt, in der es zu einer Belebung der Marmorfigur kommt. Stattdessen kommt es zu einer Versteinerung durch Aloes Blick. Der Roman zeigt dies durch den mehrfachen Wechsel zwischen dem Betrachten der abgebildeten Statuenkörper und dem Betrachten von Anita*Axels Körper64, wodurch die Körper zunehmend verschwimmen. Der inter* Körper ist als idealer Statuenkörper nicht aus Fleisch und Blut, wohingegen er Aloes Familie und das Anita*Axel ebenso betrachtende Umfeld ihrer Heimatstadt an die eigenen „weichen und unzulänglichen Stellen“65 und die eigene „Sterblichkeit“66 erinnert. Die Verletzlichkeit der dyadischen Körper wird somit über die des inter* Körpers in den Mittelpunkt gestellt. Dabei liegen nur fragmentierte Statuen vor: „manchmal hatte die Statue zudem einen Penis, leider abgebrochen, wie jedes Mal bei diesen alten Marmorfiguren“67. Die abgetrennten Genitalien weisen einerseits auf Anitas*Axels 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67

Vgl. M 228. Vgl. Groneberg (2018), 218–219. M 228. Vgl. Groneberg (2018), 213, 216. Vgl. Begemann (1999), 135. M 230. Vgl. M 228f. M 229. Ebd. M 228.

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Operationen hin, andererseits wird die Statue aber auch imperfekt, Katinka Schweizer und Fabian Vogler bemerken in ihrem Band zu Intersex im Dialog, dass dies den Betrachtenden „einen Spielraum für die individuelle gedankliche Vervollständigung“68 gibt, ein „zusätzlicher Reiz“69. Es entsteht dadurch aber auch eine Leerstelle, die irritiert. Sexualisierend wird sich auf das Genital fokussiert, wobei Hermaphroditos-Statuen meist als weiblicher Körper mit Phallus geformt werden,70 wodurch ein sonst Frauen betreffender Voyeurismus auf den inter* Körper überführt wird.71 „Since hermaphrodites possess sexual organs ‚in excess‘, they display a certain frivolity. Over the centuries, hermaphrodites have retained this image of hyper-sexuality.“72 Die Beschäftigung mit dem Mythos in Form von nackten Statuen trägt zu dieser Hypersexualisierung bei. Draesner überblendet die aufgerufenen Hermaphroditos-Statuen aber auch mit weiteren Bildbereichen: Einmal hockte ein großer weißer Vogel zu Hermaphroditos Füßen. Als Aloe genauer hinsah, erkannte sie, daß nur die Federn weiß waren, der schwarze Körper des Vogels hingegen (der nackte Hals, der Kopf, der große gebogene Schnabel, die Füße) steckte fremd in dem weißen Federsack. Aloe sah einen Tierfilm im Fernsehen. Der Vogel war ein Ibis. Aloe sah, wie er in einem aufziehenden Sturm seine Zeitlupenspiralen über dem Tigris zog.73

Mit dem Ibis aus der ägyptischen Mythologie werden neue Assoziationsräume eröffnet. Ist er zunächst mit der weißen, griechischen Statue verknüpft, gewinnt er plötzlich an Farbe, verwandelt sich von Stein zu Fleisch und wird schließlich lebendig im Tierfilm. Die „Zeitlupenspiralen“74, die der Ibis im Tierfilm zieht, ähneln der narrativen Struktur des Romans, der sich durch Vor- und Rückblenden spiralförmig immer näher an Anitas*Axels Geschichte heranbewegt. Literatur und Film werden als Medien angenähert; beide können durch ihre Beschaffenheit im Gegensatz zur plastischen Kunst Temporalität darstellen und 68 Schweizer, Katinka/Vogler, Fabian (2018). Die Schönheiten des Geschlechts. Intersex_Dialoge. In: Schweizer, Katinka/Vogler, Fabian (Hrsg.). Die Schönheiten des Geschlechts. Intersex im Dialog. Frankfurt am Main, New York: Campus. 25–35. 27. 69 Ebd., 27. 70 Vgl. Hinz, Bertold (1998). Aphrodite. Geschichte einer abendländischen Passion. München, Wien: Hanser. 56. 71 Vgl. Ajootian (1997), 235. 72 Baier, Angelika (2013). Intersections. Hermaphroditism as a ‚Travelling Concept‘ in Ulrike Draesner’s Novel Mitgift (2002). In: Gratzke, Michael/Hutton, Margaret-Anne/Whitehead, Claire (Hrsg.). Readings in Twenty-First-Century European Literatures. Oxford, Bern, Berlin: Peter Lang. 259–278. 272. 73 M 228. 74 M 228.

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damit auch über die Körperoberfläche hinaus Gefühle oder inneres Erleben verdeutlichen.75 In seiner Struktur widerspricht der Roman somit der medialen Darstellung von Intergeschlechtlichkeit über Statuen, deren Betrachtung oberflächlich bleibt. Mit dem Ibis wird zudem der ibisköpfige Gott Thot aus der ägyptischen Mythologie aufgerufen, der als Ursprung von Hermes gilt und als Schöpfergott auch zwischengeschlechtlich dargestellt wurde.76 Jedoch ist Thot ebenso als „Gott der Weisheit, Wiss[enschaft] und Schreibkunst“77 bekannt. Die Überblendung unterschiedlicher Mythologien führt hier zu einer Mehrdeutigkeit, die binäre Ordnungen nicht zulässt. Der Roman reflektiert damit auch die Möglichkeit des Erkenntnisgewinns über Mythen in der Spätmoderne, die in ihrer Vielzahl und langen Rezeptionsgeschichte kein eindeutiges Wissen erzeugen. Da im Speziellen über Intergeschlechtlichkeit nur ein geringes Maß an Wissen vorhanden ist, auf das Aloe zurückgreifen könnte, wird jedoch auf Mythologie verwiesen, um die möglichen Wissenszugänge zu archivieren und deren Limitationen zu reflektieren. Dieses kritische Moment entfaltet sich schließlich in einer weiteren mythologischen Transformation.

4.

Eurydike

Unerwartet für eine Erzählung über Intergeschlechtlichkeit wird zuletzt nicht mehr auf den Hermaphroditos-Mythos Bezug genommen, sondern der OrpheusMythos aufgerufen. Dieser Mythos-Bezug tritt erst am Ende des Romans auf, als Anita*Axel mehr in den Fokus tritt. Wieder wird zunächst nur der Name der mythologischen Figur erwähnt. Anita*Axel und ihr Ehemann Walter haben ihren Hund Eurydike genannt78, wobei explizit offengehalten wird, warum und wer diesen Namen ausgesucht hat79. Der Mythenverweis erscheint somit erst einmal willkürlich, deutet aber ein metamythisches Moment an und löst damit eine Reflexion darüber aus, welche Mythen im Roman wie eingesetzt werden. Die Verknüpfung von Anita*Axel mit Eurydike treibt dies weiter voran. Als Aloe danach fragt, wann Anita*Axel und Walter ihr zweites Kind bekommen, stürmt Anita*Axel wütend aus dem Haus, da sie*er sich kein zweites Kind wünscht. Für sie*ihn steht vielmehr bereits allein ihre*seine geschlechtlichen Transition im

75 Vgl. Groneberg (2018), 213; Groneberg (2014), 183. 76 Vgl. Stadler, Martin Andreas (2004). Ist Weisheit weiblich? Die Identität der ägyptischen Gottheit Thot auf dem Prüfstand. Antike Welt 35:3. 8–16. 9f., 12–15. 77 Lieven, Alexandra von (2002). Thot. In: Cancik, Hubert/Schneider, Helmuth (Hrsg.). Der neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Bd. 12/1. Stuttgart, Weimar: Metzler. 476–477. 476. 78 Vgl. M 261. 79 Vgl. M 286.

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Fokus. Der Eurydike-Mythos wird hier dazu genutzt, um Anitas*Axels Situation zu illustrieren. Anitas Hand schwankte mitten in der Nacht wie eine kleine Sonne über den Weg. […] Walter schoß aus der Tür, rempelte Aloe dabei an, merkte es nicht, hetzte nur weiter, als verliere er sonst seine Anita-Eurydike an die bedrohliche Welt. Sein Schatten stieß nach vorn, lang und hager (über der Haustür hing eine Lampe, sie warf das Licht) – ein Schatten, gekrümmt, sehnsüchtig und voller Gier.80

Draesner reiht sich damit in die Autor:innen ein, die Eurydike anstelle von Orpheus in den Fokus ihrer Arbeit rücken.81 In der Gegenwartsliteratur wird dabei vor allem auf das „zentrale Motiv des Blicks“82 und seine „Verbindung von Sehen und Tod“83 angespielt. Auch bei Draesner ist dies der Fall. Die Mythenreferenz dient in Mitgift als Prolepse: Es ist Walter-Orpheus, der Anita*Axel später ermordet, wie auch Orpheus Eurydike dem Tod weiht. Draesners Transformation des Eurydike-Mythos zeigt, warum Mythologien in der Gegenwart noch eine hohe Relevanz haben. Mythen eignen sich besonders für eine „kreative Indienstnahme des mythologischen Personals zur Entfaltung komplexer […] Gedankenzusammenhänge“84. Ein abstrakter Zusammenhang in Mitgift kann damit prägnant dargestellt werden: Walter möchte Anita*Axel nicht als inter* Person, sondern nur als Frau sehen, dieser verfremdende Blick85 ist wie Orpheus’ Blick zurück tödlich. In der zitierten Textpassage ist es jedoch nicht Anita*Axel als Eurydike, die*der in die Schattenwelt verschwindet, stattdessen leuchtet sie als Sonne den Weg, Walter-Orpheus’ Schatten hingegen ist „voller Gier“86 in ihre*seine Richtung geworfen. Orpheus und Eurydike haben auf dem Weg aus Hades’ Unterwelt demnach Plätze getauscht, Eurydike ist nicht mehr der Schatten, der Orpheus folgt. Die Orpheus-Figur Walter verliert jeglichen Bezug zu den künstlerischen Fähigkeiten der Sängerfigur, nicht einmal Orpheus’ Name wird explizit genannt. Mit dem Fokus auf Eurydike wird Orpheus somit auf seinen Auswirkungen auf sie reduziert, er ist Mörder und Mörder allein. Somit 80 M 288. 81 Vgl. Weiershausen, Romana (2007). „Verbesserte Auflage“. Orpheus und Eurydike in Texten deutschsprachiger Gegenwartsautorinnen. Friederike Mayröcker, Ulla Hahn und Erica Pedretti. In: Niethammer, Ortrun/Preusser, Heinz-Peter/Rétif, Francoise (Hrsg.). Mythen der sexuellen Differenz. Übersetzungen. Überschreibungen. Übermalungen. Heidelberg: Winter. 185–198. 197. 82 Ebd., 198. 83 Ebd., 185. 84 Simonis (2014), 277. 85 Eine nähere Analyse der Blickverhältnisse um Intergeschlechtlichkeit in Mitgift nehme ich in meinem Dissertationsprojekt vor, welches ich im Rahmen des Graduiertennachwuchskollegs „Ethnographien des Selbst in der Gegenwart“ an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz durchführe. 86 M 288.

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minimiert sich zwar Orpheus’ Position und die transformierte Eurydike erhält mehr Raum, Walter-Orpheus nimmt aber weiterhin Anita*Axel das Leben und die tödliche Gewalt wird somit reproduziert. Bedenkt man, dass Eurydike in manchen Versionen des Mythos von Hermes zurück in die Unterwelt gezogen wird, eröffnet Anitas*Axels Transformation zu Hermes im Roman ebenso eine weitere Bedeutungsdimension. In Mitgift wird somit vielfach gezeigt, dass Intergeschlechtlichkeit nicht allein über einen Mythos erzählt werden kann. Der Hermaphroditos-Mythos verliert damit an Relevanz für das Thema Intergeschlechtlichkeit.

5.

Fazit

Die Analyse von Draesners mythologischen Transformationen demonstriert, dass gerade die Offenheit und Vielfalt der Mythologien in der Gegenwartsliteratur zentral sind. Die veränderliche Form des Mythos wird im Roman mit der Fluidität und Unbestimmtheit von Geschlecht in der Spätmoderne parallelisiert. Findet also eine Befreiung der inter* Person aus dem Ballast der mythologischen Vergangenheit statt? Die Überlagerung und Anreicherung verschiedener Mythen mit heterogenen Diskursen, Symboliken und Bildern führt in Mitgift zu einem semantischen Überschuss, der binäre Kategorisierungen definitiv nicht zulässt. Es werden nur bedingt klare Zuordnungen der Figuren zu mythologischen Personen getroffen, Intergeschlechtlichkeit wird zwar mythologisch illustriert, aber nicht ausschließlich über den Mythos erfasst87. Mitgift regt somit zum Hinterfragen des Mythos als Medium der Auseinandersetzung mit Intergeschlechtlichkeit an, besonders in der Behandlung der künstlerischen Rezeption des Hermaphroditos-Mythos wird deutlich, dass die Beschäftigung mit Intergeschlechtlichkeit über Statuen eine Konfrontation mit der inter* Person Anita*Axel verhindert. In der erneuten Verwendung des Mythos schafft der Roman aber gleichzeitig auch kein Alternativmodell. Zudem werden veraltete Bilder und Stereotype über Weiblichkeit und Intergeschlechtlichkeit aufgeworfen, die nur stellenweise reflektiert werden. Die ‚Arbeit am Mythos‘ in der Erzählung um Intergeschlechtlichkeit bleibt somit stark ambivalent.

87 Vgl. M 242.

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Mrunmayee Sathye

“Becoming. Afrekete.” Myth, Subjectivity, and Emancipation in Audre Lorde

Abstract Examining the ambiguous trickster figure from Yoruba mythology in the works of Audre Lorde (1934–1992), this paper attempts to draw connections between the author’s black lesbian identity, her engagements with silence as oppression and poetry as empowerment, and her employment of African myth in a creative-narrative project of self-discovery and self-representation. Lorde’s representation of the trickster figure Eshu/Afrekete positions him/her as the master of the crossroads, linguist and translator who treads the boundaries between communities and identities: appearing as the male Eshu in The Black Unicorn (1978) and the female Afrekete in her ‘biomythography’ Zami (1982) in various roles – as protector, empowering mother figure, the name of a lover, and most significantly, as the subject of Lorde’s self-identification. The aim of this paper is to address the manner in which Lorde’s writings portray the mythical and translate the poetical into the personal into the political. Keywords: subjectivity, auto/biographical writing, Black feminism, identity

The nature of myth as cultural praxis, historical tradition, and both tangible and intangible narrative legacy, key to the foundations, formation, and formulations of communal identity, is perhaps the reason why the term is one engaged in centuries of attempts at definition and redefinition. The aspects of fluidity, narrative dynamism and elusiveness, cyclical frames of interpretation and rewriting – or more significantly, retelling, – form the basis for the dynamic process of constant reconceptualisation of mythic material which challenges any efforts at a restriction of its meaning. Eddie Glaude describes myths primordially as an interpretative activity, “addressed to questions of origin, of moral ambiguity, of the meaning of suffering and death, and of the anomalous phenomena that cannot be assimilated to existing conceptual systems.”1 This tendency of humans to narrate their identities into reality, from the minutest individuals to the greatest institutions, to tell stories as a means to intellectual, emotional, artistic, 1 Glaude, Eddie S. (2003). “Myth and African American Self-Identity“. In: Prentiss, Craig R. (ed.). Religion and the Creation of Race and Ethnicity. New York: NYU Press. 28–42.

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and psychological closure, runs throughout history and across the extremely diverse societies on the face of the earth. Homo sapiens is no more merely ‘the wise human’ at the epitome of evolution, but also homo faber, homo politicus, homo sociologicus – and homo narrans2.

1.

Myth and African-American Identity

The myths found at the centre of nation-building, or more specifically at the centre of the establishment, validation, and exaltation of national identity and consciousness, are in themselves diverse and captivating narratives, in many ways similar to and influenced by narratives at the centre of communal or religious identity. In the case of the United States of America, however, this mythos does not constitute one unified, homogeneous narrative, undoubtedly owing to the chronological abruptness of settler colonialism and the historical trauma of slavery and racism integral to the foundations of the nation. In the context of the colonisation of the continent by white Europeans, the migration of a number of Puritans persecuted in England and Scotland to New England came to be mythically rationalised as a fateful Exodus narrative, subsequently solidifying into the origin of American identity3. The narrative construction and interpretation of this emigration as exile, as a pilgrimage into the wild New World with a divine mission to civilise it, carries with it powerful biblical undertones. Glaude notes the centrality of this religious myth to the construction of America’s national identity, “despite the so-called secular nature of our social and political organization. We are indeed the New Israelites. America is the New Canaan. That is, unless you’re black.”4 For African Americans whose ancestors had also undertaken a journey across continents, albeit against their will, the story of the origins of this nation presented a radically different Exodus narrative: “the image of America as the New Canaan was reversed. America was Egypt.”5 This image was reproduced as a war cry against the cruelty of slavery by juxtaposing struggles for emancipation and

2 The term is attributed to the German ethnologist Kurt Ranke’s 1967 essay “Kategorienprobleme der Volksprosa”. 3 The idea of the ‘promised land’ to which the Pilgrims would travel in the legendary Mayflower and establish Plymouth Colony, presents a more engaging narrative than their breaking away from the Church of England and seeking new pastures of religious freedom. This is a recurring image in works of literature, including John Bunyan’s allegorical 1678 narrative The Pilgrim’s Progress from This World, to That Which Is to Come which presents one of the most significant works of (Christian) theological fiction. 4 Glaude (2003), 32. 5 Glaude (2003), 32.

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“Becoming. Afrekete.” Myth, Subjectivity, and Emancipation in Audre Lorde

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dignity with the Old Testament narrative of Moses leading the enslaved Jews of Egypt to their freedom.6 In addition to biblical, Christian mythology employed in the service of explanatory narratives for experiences of brutal, dehumanising violence and humiliation, another example of religious mythology being personally, collectively, and politically appropriated as a symbolic gesture for liberation, is the conversion to Islam propagated by the likes of Malcolm X and Louis Farrakhan. This praxis of inscribing political struggles into religious narratives forms a central aspect of African American identity, allowing for the construction and expression of a unified African American self despite several cultural dissimilarities between individuals and communities. Over the centuries, there have come to be various instances of African myths used in similar ways to rediscover lost roots and construct an identity and narrative history not exclusively grounded in the distress of slavery and directed towards the future rather than the traumatic past or the tumultuous present. Kariamu Welsh and Molefi Kete Asante make another interesting point, claiming that “a significant function of the African American myth in discourse is the demonstration of control over circumstance as opposed to control over nature.”7 Among the unfortunate attributes of contemporary African American myth in discourse is the suffering genre. Perhaps this is because victory is often based upon suffering, or is it the continuing drama of a slavery memory? How to turn the suffering genre into a positive, victorious consciousness occupies the thinking of a whole Afrocentric literary school of thought.8

As Glaude points out, “what we have done and are doing and the kinds of stories we weave about these experiences are constitutive of who we take ourselves to be”; identity being “less about ‘essences’ and more about the consequences of human interaction: the product of our beliefs, choices, and actions as we engage our world.”9 Precisely this forms the core of what in the African American context leads to a figure like Harriet Tubman, an abolitionist and activist who undertook several missions to free dozens of enslaved black Americans, to take on mythical proportions, no less adulated than a Hera or an Artemis. 6 One of the best-known examples of this metaphor is to be found in the lyrics to the African American spiritual “Go Down Moses”, not surprisingly outlawed by many slave-owners of the time. The song, made heart-wrenchingly famous by the likes of Paul Robeson and Louis Armstrong, presents a powerful instance of a freedom struggle: “When Israel was in Egypt’s land / Let my people go / Oppress’d so hard they could not stand / Let my people go / Go down, Moses / Way down in Egypt’s land / Tell old Pharaoh / Let my people go.” 7 Welsh, Kariamu/Asante, Molefi Kete (1981). Myth: The Communication Dimension to the African American Mind. Journal of Black Studies 11:4. 387–395. 389. 8 Welsh/Asante (1981), 390. 9 Glaude (2003), 29.

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The 1960s brought in a new wave of fervour to black representations and aesthetics in the United States. The repercussions of this revolutionary political climate on the cultural, literary, and aesthetic attitudes of representation of black women in a turn further away from old negative stereotypes is significant. A wave of (male) African American writers took it upon themselves to deconstruct und rewrite new myths revolving around black female characters to suit the times, presenting black women as “‘queens’, ‘mothers of the verse’ and symbolic holders of the black race’s moral condition.”10 Citing Barbara Christian, Ekaterini Georgoudaki remarks, however, that these new myths formed new stereotypes nevertheless educated by “white southern mythology and enriched by film, television, and programs”11, reproducing depictions like ”Sapphire, Aunt Jemima, the black mammy, the sex kitten, and the evil woman-images.”12 Within the white, middle-class ideals of femininity, womanhood, and beauty, however, the black woman continued to be positioned as an outsider, as “a domineering, invincible, masculine, Amazon-like matriarch castrating the black man, a fallen Eve, a monster, a beast of burden, and a sex toy.”13 It is against this background that this paper seeks to locate the works of Audre Lorde (1934–1992) which are, on the one hand, unequivocally political but also intensely personal in nature, engaging with the author’s identity as a ‘black lesbian feminist mother warrior poet’, and, on the other hand, bring in elements from her African and Caribbean heritage in the form of mythical references translated into a rewriting of stereotypes. In a similar line of thought, Georgoudaki notes: As an alternative to the white patriarchal Western culture, which she rejects, she offers her vision of an autonomous woman-centered world based on non-Western cultural values and myths. By revising the stereotypes of the mammy, the Amazon, the whore, etc., and by projecting images of beautiful, sensuous, strong, brave, independent, loving, and creative women Lorde provides her black women readers with positive role models, and contributes to the efforts of Afro-American feminist writers to create an autonomous social identity and literary tradition.14

10 Georgoudaki, Ekaterini (1991). Audre Lorde: Revising Stereotypes of Afro-American Womanhood. AAA: Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik 16:1. 47–66. 49. 11 Georgoudaki (1991), 49. 12 Georgoudaki (1991), 49. 13 Georgoudaki (1991), 48. 14 Georgoudaki (1991), 47.

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“Becoming. Afrekete.” Myth, Subjectivity, and Emancipation in Audre Lorde

2.

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Audre Lorde: Identity and Subjectivity

Lorde was born in New York City on February 18th, 1934 on the brink of a radically unstable world, in the later years of the Great Depression at the onset of World War II. The post-war decades would see the emergence of a number of feminist and anti-racist struggles for emancipation and civil rights, which would drastically change the face of politics, conceptions of identity, and discourse across the world. Being black, homosexual, poor, or a woman were nevertheless unfavourable circumstances in the 40s and 50s, despite the strides being made in the contexts of race, class, and gender identity, and Audre Lorde was all of the these. Growing up as the “Fat Black Female and almost blind”15 child of black, catholic, working-class migrants from the Caribbean in Harlem, Audre’s childhood was cluttered with impressions of blackness, race, the dislocation associated with migrant diaspora, poverty, and implications of gender and heterosexuality. Her writings often describe her position of Otherness: Being women together was not enough. We were different. Being gay-girls together was not enough. We were different. Being black together was not enough. We were different. Being black women together was not enough. We were different. Being black dykes together was not enough. We were different.16

Undebatably, being positioned on the other side of several socio-cultural binaries of identity at once granted Lorde access to the discourses of emancipation and empowerment and at the same time situated her as an outsider within each of these movements. According to Carmen Birkle, “she turned her experiences of discrimination and fragmentation and her belonging to various ‘cultures’ from a position of weakness into one of strength and had the »multi-cultures« of the self communicate with each other.”17 Lorde legendarily claimed that “there is no hierarchy of oppressions”, and that neither race, gender, sexuality, class nor other aspects of identity and discrimination should be viewed as separate from each other – effectively and radically foreshadowing the theory which has since come to be widely received as intersectionality18. 15 Lorde, Audre (1980). The Cancer Journals. San Francisco: aunt lute books. 40. 16 Lorde, Audre (1982). Zami: A New Spelling of My Name. A Biomythography. 3rd edition (2018). Penguin Modern Classics. London: Penguin Classics. 268. 17 Birkle, Carmen (1996). Women’s Stories of the Looking Glass: Autobiographical Reflections and Self-Representations in the Poetry of Sylvia Plath, Adrienne Rich, and Audre Lorde. München: Wilhelm Fink. 180. 18 The term intersectionality was coined by Kimberlé Crenshaw in her 1989 essay “Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A black Feminist Critique of Anti-discrimination Doctrine, Feminist Theory and Antiracist Politics”, as an exploration of the interplay of categories of gender and race in the context of African-American women’s double oppression within the US American juridical system. Intersectionality theory has exploded in the last three decades, leading to the emergence of more terminology to analyse identity categories

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In a literary context, the most striking aspect of her writing is the poetical nature of her prose, and the autobiographical nature of her poems, which are fragments of her own self in writing at its purest – the self as text, in a way. Each poem as autobiography represents a piece of the author-poet in an entire series of infinite selves which the author mirrors, invents, and reinvents, allowing the Subject to be “repeatedly and repeatably present to herself.”19 My silences had not protected me. Your silence will not protect you. But for every real word spoken, for every attempt I had ever made to speak those truths for which I am still seeking, I had made contact with other women while we examined the words to fit a world in which we all believed, bridging our differences.20

Throughout her writing and activism, Lorde has drawn attention to the question of silence and speaking as radical components of oppression and resistance. Addressing the interplay between oppression and silence, she sees in language and poetry an inherently subversive potential for emancipation and empowerment. What she calls “the transformation of silence into language and action” is an act of self-revelation21 and resistance, creating a strong sense of shared experience in spite of mutual differences, leading to a solidarity between individuals that mutually empowers. Lorde traces her relationship with poetry back to her childhood, when she would answer any question by reciting a poem, and started writing her own poetry at an early age out of her need to “say things I couldn’t say otherwise when I couldn’t find other poems to serve.”22 Poetry for her was a “revelatory distillation of experience, not [the] sterile word play,”23 crucial to life, identity, and self-understanding and -acceptance. She wrote, “I cannot separate my life and my poetry. I write my living and I live my work.”24 Her poetry, freed from the shackles of strict rhyme, meter, and form, reflected her thoughts, feelings, and experiences ranging from her anger regarding police violence, expressions of the erotic in the form of lesbian love to the fear of death. Dealing with questions of blackness, womanhood, motherhood, love and the erotic, lesbianism, and death for herself, her poems strongly seem like conversations and declarations towards

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theoretically, like the ‘interlocking matrix of oppression’ model by Patricia Hill Collins or the sociological development of standpoint theory. Birkle (1996), 29. Quoting Schenck, “All of a Piece”, in Women’s Stories of the Looking Glass: Autobiographical Reflections and Self-Representations in the Poetry of Sylvia Plath, Adrienne Rich, and Audre Lorde. Lorde, Audre (1984). Sister Outsider. Freedom, CA: Crossing Press. 41. Lorde (1984), 42. Lorde (1984), 82. Lorde (1984), 37. In Byrd, Rudolph P./Cole, Johnnetta Betsch/Guy-Sheftall, Beverly (eds.) (2009). I Am Your Sister: Collected and Unpublished Writings of Audre Lorde. Oxford: Oxford University Press. 156.

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“Becoming. Afrekete.” Myth, Subjectivity, and Emancipation in Audre Lorde

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her own self. For Lorde, the personal and the political was made poetical, and the poetical was inherently personal as well as political. In her essay Poetry is not a Luxury (1977), Lorde argued that for women, poetry cannot be a luxury, for it is “a vital necessity of [their] existence.”25 In writing poetry, women are able to take their experience of their daily lives, their dreams, hopes, and fears – those things which history and society have convinced them are insignificant, and give them a name. What this process involves is listening to one’s internal mechanisms, one’s thoughts and feelings, treating them with respect and importance, and expressing them through language – and fashioning the language which may not yet exist through one’s poetry. This process, then, is defiantly personal and subjective, and inherently emancipatory. Poetry is in this way an art which has the function “to make each one of us more who we are – to empower us.”26 The white fathers told us: I think, therefore I am. The Black mother within each of us – the poet – whispers in our dreams: I feel, therefore I can be free. Poetry coins the language to express and charter this revolutionary demand, the implementation of that freedom.27

By drawing parallels between the thinking/feeling dichotomy and the male/female dualism, Lorde invents a new way of speaking about the subversive potential of poetry. Criticised for seeming to reproduce the toxic binary of rational white male/emotional black female which has for centuries formed the basis of oppression on several levels, she addressed the critique in an interview with Adrienne Rich28: far from treating the rational as the realm of the white male or proclaiming the emotional/irrational and poetic as the natural sphere of the black female, she proposes to eradicate these limits and hierarchies. The distinction she makes between the white fathers/the Black mother is not a lofty replication of old racialised and gendered stereotypes, but the inception of a new amalgamation of thought and emotion, white and black, male and female, etc. in poetry, which is inherently free, personal, and human. The Black mother who is the poet29 exists within all of us, she is the name for a new, revolutionary humanity which thrives in both rationality and feeling, which are not at all mutually exclusive, but “a choice of ways and combinations.”30 Through a style of writing, and, more importantly, writing the self, that adamantly fuses the political with the personal and the personal with the poetical, Audre Lorde herself seems to

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Lorde (1984), 37. Birkle (1996), 223. Lorde (1984), 38. Lorde (1984), 100. Lorde (1984), 100. Lorde (1984), 101.

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create a lyrical persona embodying a quest to uncover the Black mother within her own self. In her collection of poetry published in 1978 titled The Black Unicorn, Lorde employs several different African and Caribbean mythical figures principally from the Yoruba31 and Dahomey32 traditions, at times turning them into metaphors and at other times evoking and engaging with them as live characters. While Lorde’s triumph here is a reconstruction of a black, female identity driven to complexity beyond the old stereotypes, the endeavour to rewrite African myth through a feminine and feminist lens is another radical attempt to subvert both patriarchal and racist tradition and the divide between the personal and the political. As Leonard points out, Lorde’s lyrics about African “witches,” black female political activists, and her autobiographical personae create parallels between Western historical figures and the religious archetypes of the West African Yoruba society in order to juxtapose Western rationality and its monotheism to the communalist emphasis of the West African pantheism often cited by scholars and lay people alike as the likely source and root of African American culture.33

Carr also notes how Lorde employs oral forms of poetry, for example using a typically African call-and-response pattern in some poems, which also carry titles like “A Litany for Survival” and “Woman/Dirge for Wasted Children”.34 In “A Woman Speaks”, the raw intent of Lorde’s poetry comes to light with a burning conviction: “I have been woman / for a long time / beware my smile / I am treacherous with old magic / and the noon’s new fury / with all your wide futures / promised / I am / woman / and not white.”35

31 The Yoruba religion and myth belongs to the traditions of the West-African Yoruba people, today inhabiting the countries of Nigeria, Benin, and Togo and forming one of the largest ethnic groups in the continent. Yoruba religious traditions form the basis for several diasporic religious and mythological communities and practices in the ‘New World’, ranging from South America to the Caribbean islands, for example Haitian Vodou. 32 The Fon people are another ethnic group whose religious traditions (known as Vodun) show parallels to those of the the Yoruba people. The Kingdom of Dahomey was defeated and annexed by colonial France between 1894–1904 but continues to be fabled as the home of the fierce Dahomey Amazons in the golden age of pre-colonial, free Africa. In Lorde’s writings, Dahomey features extensively in The Black Unicorn, presented as a nostalgic origin where black femininity is powerful, matriarchal, and worshipped – not colonised or subjugated. 33 Leonard, Keith D. (2012). Which Me will Survive: Rethinking Identity, Reclaiming Audre Lorde. Callaloo 35:3. 758–777. 759f. 34 Carr, Brenda (1993). A Woman Speaks… I am Woman and Not White: Politics of Voice, Tactical Essentialism, and Cultural Intervention in Audre Lorde’s Activist Poetics and Practice. College Literature 20:2. 133–153. 139. 35 Lorde, Audre (1978). The Black Unicorn. In: Lorde, Audre (2000). The Collected Poems of Audre Lorde. New York and London: W. W. Norton. 234.

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3.

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Becoming. Afrekete for we are all children of Eshu god of chance and the unpredictable and we each wear many changes inside of our skin. “Between Ourselves”36

Among the various Orisha37 from Yoruba mythology appearing in The Black Unicorn is Eshu, also known as Elegba or Elegbara in the male form as the youngest son of MawuLisa. In her notes to the collection (A Glossary of African Names Used in the Poems), Lorde writes: Also known as Elegba in Dahomey and the New World. Eshu is the youngest and most clever son of Yemanjá (or of MawuLisa). The mischievous messenger between all the other Orisha-Vodu [gods] and humans, he knows their different languages and is an accomplished linguist who both transmits and interprets. This function is of paramount importance because the Orisha do not understand each other’s language, nor the language of humans. Eshu is a prankster, also, a personification of all the unpredictable elements in life. He is often identified with the masculine principle, and his primary symbol is frequently a huge erect phallus. But Eshu-Elegba has no priests, and in many Dahomean religious rituals, his part is danced by a woman with an attached phallus. Because of his unpredictable nature, Eshu’s shrines are built outside of every dwelling and village, and near every crossroads.38

Whether male or female, Eshu/Elegba or Afrikete/Afrekete39, the trickster “makes connections, is communicator, linguist, and poet”40. Citing Henry Louis Gates, Provost describes the trickster as “a principle of fluidity, of uncertainty, of the indeterminacy even of one’s inscribed fate” for the Fon people.41 The relevance of Afrekete/Eshu’s positioning on the boundaries of communication, of languages, is significant to Lorde’s own perception of herself as eternally existing on the boundaries of identity – simultaneously being a part of but not quite entirely belonging to various groups and communities. The implications of this simultaneous belonging and unbelonging are far-reaching for the self which Lorde creates through her writing – fragmented, multidimensional, interacting 36 Lorde (1978), 324. 37 Orisha are deities or spirits in the oral traditions of Yoruba and Fon or Vodun religions, manifested in human or hybrid forms and representing various principles of nature or patron deities. 38 Lorde (1978), 330f. 39 The figure of Afrikete or Afrekete is a trickster and the youngest daughter of MawuLisa in Yoruba mythology, essentially appearing as the female form of Eshu. 40 Provost, Kara (1995). Becoming Afrekete: The Trickster in the Work of Audre Lorde. MELUS 20:4. 45–59. 46. 41 Provost (1995), 54.

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with other selves and at the same time with other aspects of that multidimensionality itself. The autobiographical narrative Zami: A New Spelling of My Name is labelled by Lorde as a ‘biomythography’ – a term which itself opens up a discussion of the nature of autobiographical narration by essentially removing the text from the debate on facticity or authenticity, truth and historicity. According to Birkle, “the mythic element is thus inserted between life and writing, which means that we confront the writing of a person’s life – which implies the presentation of facts – and the introduction of mythic or fictive elements.”42 She points out how Lorde’s “‘myths’ connected her to a particular (African) heritage and allowed her to transcend mere mimesis to an experimentation with the representation of her life in texts.”43 In Zami, the male Eshu, master of the crossroads appearing in The Black Unicorn, is transformed into the female Afrekete, the youngest daughter of MawuLisa – trickster, translator, poet. The book has been called a “semi-autobiographical novel”44 and a work which is as much an ‘other’ biography as an autobiography, answering the question “who is the other woman?” while creating the space in which the self can newly be constituted so as to include the Other as a part of itself.45 The first instance in which the name Afrekete appears in Zami is in Lorde’s dedication in the book “To the hands of Afrekete” followed by the prologue, “To the journey woman pieces of myself. / Becoming. / Afrekete.”46 This notion of becoming, this act of constructing Afrekete as the purpose and destination of the journey vividly describes the aim both of the narrative and of Lorde’s own life. The notion of “becoming Afrekete” is here turned into a driving force, a personal expedition towards becoming oneself, pursued throughout the narrative in at times subtle and at other times very pronounced ways. Lorde declares in the preface that this book is dedicated to the women in her life, for although her father left “his psychic print” on her, it were “the images of women, kind and cruel, that lead [her] home.”47 This perception and construction of a very female world in this narrative should not be viewed as a forced anti-patriarchal, radically one-sided matriarchal fantasy. What Lorde in fact manages to create is a world which is not only inhabited but brought to life by women, nameless and named:

42 Birkle (1996), 218. 43 Birkle (1996), 218. 44 Keating, AnaLouise (1996). Women Reading, Women Writing: Self-Invention in Paula Gunn Allen, Gloria Anzaldúa, and Audre Lorde. Philadelphia: Temple University Press. 4. 45 Keating (1996), 147. Citing Bonnie Zimmerman. 46 Lorde (1982), 4. 47 Lorde (1982), 1.

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Zami. A Carriacou name for women who work together as friends and lovers. […] Recreating in words the women who helped give me substance. Ma-Liz, DeLois, Louise Briscoe, Aunt Anni, Linda, and Genevieve; MawuLisa, thunder, sky, sun, the great mother of us all; and Afrekete, her youngest daughter, the mischievous linguist, trickster, best-beloved, whom we must all become. Their names, selves, faces feed me like corn before labor. I live each of them as a piece of me, and I choose these words with the same grave concern with which I choose to push speech into poetry, the mattering core, the forward visions of all our lives.48

The expression Becoming Afrekete, here in the epilogue, becomes the common purpose of self-realisation for everyone – intertwining Lorde’s own desire to see the trickster linguist of the crossroads fulfilled in her own self with her expression of a transcendental solidarity which drifts across individuals, relations, and communities. The author’s self-image as guided by Afrekete, as a poet, translator of languages and identities able to cross in and out of spaces determined by visible and invisible borders, is made clear in various instances in the narrative. Zami makes remarkable strides in its depictions of deeply personal experiences, which until then had at best been banished to the realm of the private and secret, if not taboo and abnormal. The dynamic and intimate manner in which Lorde seems to tell her story draws the reader incredibly close into the author’s thoughts, feelings, and life. Morris notes how the erotic for Lorde represents “a source of power and creativity, a nonrational knowledge that women have come to distrust. Reclaiming our eroticism means reclaiming vital energy and power […]. Passion is that which connects the material, emotional, intellectual, and spiritual.”49 She paints vivid and sincere pictures of sexuality and love, itself exceptional in the 1980s, made even more radical through the fact that the intimate material being depicted is not heteronormative but lesbian, not white but black, not male but unquestionably female. In her highly poetic, highly detailed style, Audre Lorde describes her sexual experiences in highly sensual prose, turning it into something like an erotic dance, and creates vibrant images seeming no less clear than a film, bringing to life through words the aesthetic, the erotic, and the spiritual. I held you, lay between your brown legs, slowly playing my tongue through your familiar forests, slowly licking and swallowing as the deep undulations and tidal motions of your strong body slowly mashed ripe banana into a beige cream that mixed with the juices of your electric flesh. Our bodies met again, each surface touched with each other’s flame, from the tips of our curled toes, and locked into our own world rhythms, we rode each

48 Lorde (1982), 303f. 49 Morris, Margaret Kissam (2002). Audre Lorde: Textual Authority and the Embodied Self. Frontiers: A Journal of Women Studies 23:1. 168–188. 173.

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other across the thundering space, dripped like light from the peak of each other’s tongue.50

The last of Lorde’s lovers to appear in Zami is Kitty, short for Afrekete, a black, lesbian single mother whose artistic self-confidence is fascinatingly attractive to Lorde when they first meet. Switching back and forth between the names Kitty and Afrekete, Lorde’s descriptions of their relationship suggest a distinctiveness and ease of intimacy and self-discovery: “Afrekete taught me roots, new definitions of our women’s bodies – definitions for which I had only been in training to learn before.”51 The descriptions of their sexual, and moreover their emotional connection bring out an intense spiritual, empowering, feminist tone, intermingling the physical and erotic with the mythical, political, and familiar: Afrekete Afrekete ride me to the crossroads where we shall sleep, coated in the woman’s power. The sound of our bodies meeting is the prayer of all strangers and sisters, that the discarded evils, abandoned at all crossroads, will not follow us upon our journeys.52

Kitty leaves as abruptly as she enters Lorde’s life, leaving behind, at the very end of Zami’s plot, an author-self who seems to have come to peace, grown, and healed: We had come together like elements erupting into an electric storm, exchanging energy, sharing charge, brief and drenching. Then we parted, passed, reformed, reshaping ourselves the better for the exchange. I never saw Afrekete again, but her print remains upon my life with the resonance and power of an emotional tattoo.53

4.

Afrekete, Audre, and emancipating subjectivity(ies)

Throughout Lorde’s literary corpus, a crucial point is the manner in which she relocates marginal categories, placing them in the centre of her discourse.54 Not only are the various aspects of her socio-physical identity acknowledged in her words, but her articulation of the experience of all those facets simultaneously as overlapping phenomena, which are equally parts of her subjectivity, is also a remarkable take on identity. According to Leonard, precisely this simultaneity and multidimensionality of self/selves becomes the source of “certain decon-

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Lorde (1982), 296f. Lorde (1982), 297. Lorde (1982), 300. Lorde (1982), 301. Morris (2002), 178.

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structive effects in Lorde’s practice”55, which takes on a rather post-modern attitude elevating the significance of multiple differences within a self, the acknowledgement of whose coexistence becomes crucial to “poetic meaning and social transformation”56. He further notes: “[N]either the »we« nor the »I« of an Africanist heritage remain entirely unitary […] in order to articulate the implications of her alienation from and critique of Black Nationalist and feminist coalition politics.”57 While the “poetic value of identity-based politics”58 has always been a source of anxiety for postmodern academia especially in literature studies, Lorde’s cohesive yet raw lyrical persona presents new subversive possibilities of perceiving literature itself as an institution. As Carr accentuates in her essay, Lorde slides between the particular and the universal, takes the risk of deploying essentialism, to call the multiple constituents of the women’s, black, and lesbian communities to vocal acts of responsible cultural intervention upon which agency is contingent. In this way, she practices what Gayatri Spivak calls »deconstructive homeopathy«, or deconstruction of »identity by identities«, a strategy that does not refuse identity but problematizes it as a stable home.59

It is evident that Lorde’s writing presents a radically new way of making art by inscribing the embodied self into the text, and creating and recreating that self through the process of writing itself. This form of writing has been a key style of feminist prose and poetry since the 20th century, employed by literary movements like écriture feminine. While the textual self of the French feminist writers came to be criticised for its essentialising binary undertones, Lorde’s style of writing plays with the borders of essentialism but never quite leads them to solidify into concrete, closed categories. It is this manner of turning the black, lesbian, female body into the site of the author’s subjectivity which highlights the embodied nature of her prose, in which “the conjunction of body, political and spiritual convictions, and text brings interrelated topics to the foreground: race, gender, sexual identity, eroticism, and mortality.”60 This concept of the ‘deconstruction of identity by identities’, making way for a fragmented, fluid, multidimensional self-image which proves to be as dynamic and unformed as it is confident and verbose, is where the relevance of Lorde’s preoccupation with and creative employment of Yoruba myth becomes clear in a different light. As Provost states, “[L]ike Eshu’s role as translator, Lorde’s posi-

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Leonard (2012), 760. Leonard (2012), 760. Leonard (2012), 760. Leonard (2012), 759. Carr (1993), 149. Citing Gayatri Spivak from an interview, “In a word”. Morris (2002), 169.

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tion of openly recognized, multiple differences is not an easy, comfortable, or complete solution to issues of identity and access to language and power.”61 Lorde does, through her writings and through her life, nevertheless constantly strive and succeed in embracing and living out the multiplicity and complexities of human subjectivity, pushing the envelope in the literary and artistic academy as regards what may be said and how, and more importantly, by whom.

Bibliography Birkle, Carmen (1996). Women’s Stories of the Looking Glass: Autobiographical Reflections and Self-Representations in the Poetry of Sylvia Plath, Adrienne Rich, and Audre Lorde. München: Wilhelm Fink Verlag. Byrd, Rudolph P./Cole, Johnnetta Betsch/Guy-Sheftall, Beverly (eds.) (2009). I Am Your Sister: Collected and Unpublished Writings of Audre Lorde. Oxford: Oxford University Press. Beverly. Carr, Brenda (1993). A Woman Speaks… I am Woman and Not White: Politics of Voice, Tactical Essentialism, and Cultural Intervention in Audre Lorde’s Activist Poetics and Practice. College Literature 20:2. 133–153. Georgoudaki, Ekaterini (1991). Audre Lorde: Revising Stereotypes of Afro-American Womanhood. AAA: Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik 16:1. 47–66. Glaude, Eddie S (2003). Myth and African American Self-Identity. In: Prentiss, Craig R. (ed.). Religion and the Creation of Race and Ethnicity. New York: NYU Press. 28–42. Keating, AnnLouise (1996). Women Reading, Women Writing: Self-Invention in Paula Gunn Allen, Gloria Anzaldúa, and Audre Lorde. Philadelphia: Temple University Press. Keating, AnnLouise (1992). Making “our shattered faces whole”: The Black Goddess and Audre Lorde’s Revision of Patriarchal Myth. Frontiers: A Journal of Women Studies 13:1. 20–33. Leonard, Keith D (2012). Which Me will Survive: Rethinking Identity, Reclaiming Audre Lorde. Callaloo 35:3. 758–777. Lorde, Audre (1980). The Cancer Journals. San Francisco: aunt lute books. Lorde, Audre (1982). Zami: A New Spelling of My Name. A Biomythography. 3rd edition (2018). London: Penguin Classics. Lorde, Audre (1984). Sister Outsider. Freedom, CA: Crossing Press. Lorde, Audre (1978). The Black Unicorn. In: Lorde, Audre (2000). The Collected Poems of Audre Lorde. New York and London: W. W. Norton. Morris, Margaret Kissam (2002). Audre Lorde: Textual Authority and the Embodied Self. Frontiers: A Journal of Women Studies 23:1. 168–188. Provost, Kara (1995). Becoming Afrekete: The Trickster in the Work of Audre Lorde. MELUS 20:4. 45–59. Welsh, Kariamu/Asante, Molefi Kete (1981). Myth: The Communication Dimension to the African American Mind. Journal of Black Studies 11:4. 387–395. 61 Provost (1995), 57.

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Cornelia Heinsch

Brüchiger Text, brüchiges Leben. Sappho in Melissa Broders The Pisces (2018)

Abstract Melissa Broders 2018 erschienener Roman The Pisces schöpft aus dem Unwissen über Sappho und den Lücken in der Überlieferung ihrer Fragmente, um den Konflikt der Protagonistin hervortreten zu lassen. Diese wird von Gefühlen der Sinnlosigkeit und von der Vergänglichkeit des Lebens gequält, die sich im Verlust sapphischer Lyrik spiegeln. Broder nutzt die Spannung zwischen einer von den überlieferten Fragmenten und aus dem Phaon-Mythos stammenden Vorstellung von Sappho und der tatsächlichen Lückenhaftigkeit. Sie vermischt den Phaon-Mythos und Meerjungfrauenlegenden, um Sappho als Ahnfrau weiblicher Selbstermächtigung neu zu deuten. Durch diese Arbeit am Mythos wird ein vorläufiger Umgang mit dem Dilemma der Lücken in Text und Leben gefunden. Keywords: Sappho, Melissa Broder, The Pisces, Mythostransformation, Fragment, Leere, Mythische Frauen, Literaturgeschichte

„No ancient poet has a wider following today than Sappho“, eröffnen Finglass und Kelly die 2021 erschienene Cambridge Companion to Sappho.1 Sie übertreiben nicht: Sappho erfreut sich seit über 2600 Jahren größter Beliebtheit – und ist in der Gegenwart besonders präsent. Sowohl in der Forschung als auch in Kunst und Literatur ist sie, die berühmteste Dichterin der Antike, allgegenwärtig. Sappho steht gerade als Verfasserin homoerotischer Lyrik am Anfang einer Tradition speziell weiblicher Dichtung. Über ihre Biografie weiß man zwar kaum mehr, als dass sie um 600 v. C. auf Lesbos lebte und dichtete. Die Themen ihrer bekanntesten Lyrik – Liebe, Schönheit, Abschied und Alter, Dichtung und Leidenschaft – sind jedoch zeitlos. Dass ihre Gedichte nur äußerst fragmentarisch überliefert sind, weckt Neugier und regt zur kreativen Beschäftigung an. Gleichzeitig macht die in der Fragmentform evidente Zerstörung der Verse den Verlust weiblicher Stimmen und Erfahrungswelt über die Jahrhunderte deutlich.

1 Finglass, P. J./Kelly, Adrian (2021). Introduction. In: Finglass, P. J./Kelly, Adrian (Hrsg.). The Cambridge Companion to Sappho. Cambridge: Cambridge University Press. 1–8. 1.

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Sappho steht deshalb nicht nur am Anfang einer weiblichen Literaturgeschichte, sondern markiert im Sinne einer „tradition of loss“2 auch deren Gefährdung. Melissa Broders Roman The Pisces (2018)3 reiht sich in eine spezifisch weibliche Sappho-Rezeption ein. Die Erzählung bezieht sich in vielfacher Hinsicht auf Sappho und thematisiert sogar die Rezeptionsgeschichte selbst. Doch auch der Verlust ihrer Dichtung ist Thema: Hat Broder sich in ihrem erfolgreichen Twitter-Account So Sad Today, der 2016 in einen gleichnamigen Essay-Band mündete, schon dem Thema Depression gewidmet, verbindet sie in ihrem ersten Roman The Pisces den horror vacui der Depression mit der Trauer über die Leere zwischen Sapphos Fragmenten. Dabei ist die Perspektive auf eine weibliche Lebensrealität bestimmend. Im Folgenden wird gezeigt, welche Funktion der Sappho-Bezug im Roman hat. Dazu soll nach einem informativen Überblick zu Sappho und der Handlung von The Pisces untersucht werden, wie die Leere sich in Text und Leben manifestiert. Sodann wird die Bedeutung mythischer Elemente für den Konflikt ergründet. Am Ende soll die neue Haltung zur Leere erläutert werden.

1.

Sappho

Von Sapphos schon in der Antike hochgerühmtem Werk, das alexandrinische Gelehrte in mindestens neun nach Versmaß geordneten Büchern edierten, ist nur ein kleiner Teil bruchstückhaft überliefert. Auch historische Daten über Sapphos Leben sind spärlich gesät. Zu Recht bezeichnete Wolfgang Schadewaldt Sappho als die „bekannte Unbekannte der Weltliteratur“4. Über Sapphos Familie, die Lebensumstände und die Entstehungssituation sowie Funktion ihrer Lyrik kann man lediglich Vermutungen anstellen. Es gibt zwar eine unübersichtliche Menge an Zeugnissen, Legenden und Theorien, die sich mit Sapphos Biografie befassen, doch obgleich ihr Leben immer intensiver erforscht wird und sogar neue Zeugnisse entdeckt werden, gewinnt man kaum gesichertes Wissen hinzu. 2 Barbara Goff und Katherine Harloe stellen dar, wie Anne Carson Sappho in einer Verarbeitung des Fragments 31 selbst eine „tradition of loss“ eröffnen lässt. Als männlich angekündigt trägt Sappho hier im Fernsehen nur den letzten, unvollständigen Vers des Fragments 31 vor. Goff, Barbara/Harloe, Katherine (2021). Sappho in the Twentieth Century and Beyond. Anglophone Receptions. In: Finglass, P. J./Kelly, Adrian (Hrsg.). The Cambridge Companion to Sappho. Cambridge: Cambridge University Press. 390–407. 401. 3 Broder, Melissa (2018). The Pisces. New York: Hogarth, Crown Publishing Group. Im Folgenden wird die deutschsprachige Ausgabe zitiert: Broder, Melissa (2018). Fische. Aus dem amerikanischen Englisch von Eva Bonné. Berlin: Ullstein. (Im Folgenden gekennzeichnet mit der Sigle F). 4 Schadewaldt, Wolfgang (1950). Sappho. Welt und Dichtung. Dasein in der Liebe. Potsdam: Stichnote. 7.

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Brüchiger Text, brüchiges Leben. Sappho in Melissa Broders The Pisces (2018)

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So dürftig die historischen Informationen über Sappho sind, so reich ist ihre künstlerische Rezeption. Sappho tritt von der Antike bis heute in zahlreichen künstlerischen Transformationen unter anderem als unglücklich Verliebte, Priesterin, Prostituierte und weise Dichterin auf. Während das ursprüngliche Referenzobjekt, die historische Dichterin Sappho, sich mehr und mehr aus dem Blickfeld entfernt, wird sie durch ihre eigene, selbständig gewordene Rezeption ersetzt. Für die neuzeitliche Rezeption waren Ovids Heroides wegweisend: In der fiktiven Briefsammlung richten 15 mythische Heldinnen Klagen an ihre Geliebten (Penelope, Phaedra, Dido und andere). Sappho wird als einzige historische Verfasserin eingesetzt, wenn Ovid sie im 15. Brief den jungen Fährmann Phaon anflehen lässt, er möge zu ihr zurückkommen. Laut einem Mythos war er von Aphrodite mit ewiger Schönheit und Jugend beschenkt worden, und Sappho verliebte sich unglücklich in ihn. Der Mythos von Sappho und Phaon wurde lange biografisch gedeutet und inspirierte insbesondere in der Romantik zahlreiche Künstler:innen zu kreativen Verarbeitungen. Im 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts ist der Phaon-Mythos nicht mehr die dominante Folie. Vielmehr ist Sappho hier zum Teil immer noch „Mädchenlehrerin“, Chiffre für weibliche Homosexualität, Vorbild für schreibende Frauen (als erste bekannte Dichterin), ideale Dichterin schlechthin, Referenzfigur für queere Menschen – oder einfach die große Unbekannte.5

2.

Melissa Broder: The Pisces (2018)

Melissa Broders Roman The Pisces schildert die Lebens- und Sinnkrise der 38jährigen Wissenschaftlerin Lucy in der erzählten Zeit eines Sommers in Venice Beach. Schonungslos offen, selbstironisch und pointiert lässt Lucy die Leser: innen in 56 kurzen Kapiteln an ihren Zweifeln, Gefühlen, inneren Konflikten und alltäglichen wie fantastischen Erlebnissen teilhaben. Als die Handlung Anfang des Sommers einsetzt, arbeitet Lucy bereits seit neun Jahren an einer Dissertation über Sappho und ihr Werk – doch ihre Mühen sind vergeblich: Im Lauf der Zeit ist sie von ihrer anfänglichen These, Sappho habe die zahlreichen Leerstellen in ihren Gedichten absichtlich verursacht, immer weiter abgerückt. Nun hält sie ihren Ansatz sogar für „absolute(n) Müll“6. Sie ahnt, dass ihre Fixierung auf Sapphos Lücken mit ihrem eigenen tristen Lebensgefühl zusammenhängt. Zudem hat ihr die Universität Phoenix überra5 Vgl. Heinsch (2020). „sappho gibt es nicht.“ Die Rezeption Sapphos in deutschsprachiger Lyrik des 20. und 21. Jahrhunderts. Baden-Baden: Ergon. 6 F 14: „Leider war mein Theorem absoluter Müll, nicht zuletzt, weil ich selbst an einem überkomplizierten Verhältnis zu Leere, zum Vakuum, zum Nichts litt.“

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schend eine Frist für ihre Forschungsarbeit gesetzt: Bis Herbst soll sie fertiggestellt sein. Danach wird man Lucys Arbeit nicht weiter finanzieren. Nicht allein das nahende Ende der als sinnlos empfundenen Promotion führt zu Lucys Zusammenbruch. Auch die Trennung von ihrem langjährigen bindungsscheuen und distanzierten Partner setzt ihr zu. Als Lucy erfährt, dass er eine neue Freundin hat, schlägt sie ihm eine blutige Nase. Auf dem Höhepunkt ihrer Depression nimmt sie schließlich eine Überdosis Beruhigungstabletten ein, die jedoch nicht tödlich ist. Nach Lucys Suizidversuch holt ihre Schwester Annika sie nach Venice Beach und überlässt ihr ein leerstehendes, luxuriöses Strandhaus, während sie selbst verreist. Um einer Anzeige wegen Körperverletzung zu entgehen, nimmt Lucy an einer Gruppentherapie für „depressive Frauen mit Sex- und Beziehungsproblemen“7 teil. Die Therapeutin empfiehlt, sie solle sich zurückziehen, um von einer „abhängigen Lebensweise“ zu „entgiften“8. Doch Lucy kann auch nach dem Ortswechsel nicht allein sein. Tinder-Bekanntschaften, später auch ein Zwischenspiel mit einem Uber-Fahrer, enden in detailliert geschilderten Sexszenen, bei denen die Männer Befriedigung erfahren, während Lucy psychisch und körperlich leidet. Als Lucy eines Abends wie ein Bildnis Sapphos auf einer Klippe sitzt, nimmt der Roman eine fantastische Wendung: Theo taucht aus den Wellen auf. Der schöne junge Mann ist anders als alle Tinder-Bekanntschaften. Er liest nicht Bukowski, sondern Sappho. Nur mit ihm kann Lucy über Leere, Angst und Tod sprechen und sogar körperliche Intimität genießen. Auch in einer weiteren Hinsicht ist er ungewöhnlich: Theo ist ein Fischmensch, ein „Merman“, und hat unterhalb seines Penis einen schuppigen Fischschwanz. Lucy zieht ihn Abend für Abend in einem Bollerwagen zu Annikas Haus und erlebt ekstatische Liebesnächte mit ihm. Nach einer kurzzeitigen Trennung verbringt die Protagonistin in ihrer Verzweiflung ganze Nächte auf dem Felsen. Schließlich bittet Theo sie, mit ihm ‚ins Meer zu gehen‘. Lucy will ihm zunächst folgen, doch erkennt dann, dass ihre Schwester Annika sie braucht. In Theos Wunsch, sie in den Tod zu ziehen, sieht Lucy ihre eigene Unersättlichkeit und Bedürftigkeit gespiegelt und wendet sich ab. Nun will sie eine speziell weibliche Verbundenheit spüren, die sie seit dem Tod ihrer Mutter, der immer wieder als für ihre Probleme ursächliches Trauma angeführt wird, vermisst hat. Sappho nähert sie sich nicht länger wissenschaftlich, sondern sie speist ihren Text mit Selbsterlebtem. Sie will sich der Leere stellen – und literarisch über Sappho schreiben. 7 F 47. 8 F 55.

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Brüchiger Text, brüchiges Leben. Sappho in Melissa Broders The Pisces (2018)

3.

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Sappho in The Pisces

Sappho ist im ganzen Roman präsent. Die Beschäftigung mit ihr hat zunächst dramatisch-strukturelle Bedeutung für The Pisces: Die Frist eines Sommers, um die Promotion über Sappho fertigzustellen, stimmt mit der erzählten Gegenwart überein. Innerhalb dieser Spanne wird sie auf vielfache Weise rezipiert. Bei aller Bewunderung für die im Roman hochgelobte sapphische Dichtung fehlen einzig direkte Zitate Sapphos. Doch immer wieder, nicht nur im Kontext ihrer wissenschaftlichen Arbeit, gelten Lucys Gedanken der archaischen Dichterin. Weibliches Begehren und Sehnsucht, zentrale Inhalte sapphischer Lyrik, beschäftigen auch die Protagonistin. Zudem verweisen zahlreiche Elemente der Handlung konkret auf Sapphos Biografie – wie etwa die Selbsthilfegruppe auf den Sappho häufig zugeschriebenen „Mädchenkreis“, den sie um sich geschart haben soll. Weiterhin greift Lucys Begegnung mit Theo den Phaon-Mythos episodisch auf und kommentiert ihn indirekt. In diesem Kontext erscheint sogar Sappho selbst der Protagonistin und spricht zu ihr. Der indes unter allen Referenzen dominante Sappho-Bezug speist sich nicht etwa aus einzelnen Gedichten oder Geschichten über Sappho. Vielmehr ist etwas Abwesendes zentral, das sich einem Zugriff entzieht und doch für die jüngere Sappho-Rezeption entscheidend ist: die Lücke. Aus den Leerstellen in Sapphos Lyrik und in ihrer Biografie ergeben sich Bezüge zur erzählten Gegenwart, die den übrigen Sappho-Referenzen erst ihre Bedeutung verleihen. An den Lücken in Sapphos Leben und Werk wird nicht weniger als Lucys Lebenskonflikt verhandelt. Die blinden Flecken bei Sappho und in Lucys Leben verbinden die beiden Figuren im ganzen Roman. Der Anfang thematisiert Lucys theoretischen Zugang zu Sappho, der sich insbesondere im scheiternden Dissertationsvorhaben zeigt und ihre Depression spiegelt. Im zweiten Teil wird Sapphos Phaon-Mythos in der Theo-Episode reinszeniert und umgeschrieben. Lucys individueller, unwissenschaftlicher Zugang zu Sappho, der ihr eine vorläufige Versöhnung mit der Lebensleere ermöglicht, steht am Ende. Im Lauf des Romans entsteht also eine neue Haltung zur Leere – zu der bei Sappho und im Leben der Protagonistin. Diese Entwicklung soll im Folgenden nachvollzogen werden.

3.1

Die Lücke im Text und die Leere im Leben

Das Thema der Leere durchzieht den ganzen Roman. Lücken sind auch das Sujet der Dissertation „Akzentuierender Abstand. Die Leerstellen als Quintessenz bei Sappho“, deren Inhalt am Anfang des Romans beschrieben wird. So wird gleich zum Auftakt mithilfe Sapphos nicht nur ein zeitlicher, sondern auch ein Deu-

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tungsrahmen vorgegeben: Lucys Verhältnis zu ihrer Forschung und zu ihrem Leben ähneln sich. In der Arbeit wird die Spannung deutlich. 3.1.1 Forschungsobjekt Sappho Lucys Forschungsidee entspringt ihrer scharfen Kritik am Umgang der Literaturwissenschaft mit den Lücken in Sapphos Werk und Biografie. Die Literaturwissenschaft habe eine „krankhafte Abneigung gegen das Rätselhafte“ und das „Bedürfnis nach sinnfälligen Mustern.“ Deshalb könnten Literaturwissenschaftler es nicht lassen, Sapphos Fragmente mit „Interpretationen, Meinungen und spärlichem biografischen Wissen“ zu vervollständigen. „Um die Lücken bei Sappho zu füllen, griffen sie auf vermeintlich erwiesene Fakten aus dem Leben der Dichterin zurück, wie ein Psychologe, der drei belanglose Dinge aus der Kindheit einer Person erfährt und sich daraufhin einbildet, den ganzen Menschen zu kennen.“ Das sei „absolut willkürlich“9. Lucy, die Sappho und ihre Fragmente liebt,10 will, dass man sich mehr auf Sapphos Text als auf seine Lücken und das Füllen derselben konzentriert. „Wenn wir ihrem [Sapphos] Werk schon eine Bedeutung abgewinnen wollten, sollten wir uns auf den vorliegenden Text beziehen, nicht auf Spekulationen.“11 Deshalb entwickelt sie eine steile These, von der sie selbst im sechsten der neun Promotionsjahre erkannt hat, dass sie „absoluter Humbug“ sei: Sie behauptet, die Lücken im Text seien beabsichtigt (F 13). Man solle von der Instanz einer IchErzählerin Abstand nehmen und die Lücken „als von der Dichterin gesetzt“ betrachten. So könne man vergessen, „ob Sappho eine Lesbe, hypersexuell oder bisexuell war, jüngere Männer bevorzugte oder mehrere Liebhaber gleichzeitig hatte“12. Das Verhältnis von Sapphos erotischer Dichtung zu ihrer Biografie – und somit ihre eigene Sexualität – war stets Thema der künstlerischen wie wissenschaftlichen Auseinandersetzung und wurde intensiv diskutiert. Sappho wurde insbesondere aufgrund der erhaltenen Dichtung für eine Priesterin Aphrodites, eine Kultleiterin oder die Lehrerin einer Mädchenschule gehalten. Die Ansicht, sie habe Mädchen für das Eheleben vorbereitet, ist besonders weit verbreitet. Diese Vorstellungen von Sapphos Leben wirken sich wiederum auf die Deutung ihrer Dichtung und deren Lücken aus. Lucys These ist trotz ihrer Zuspitzung insofern bekannt, als die tradierten biografischen Vorstellungen von Sappho und daraus resultierende Rückschlüsse 9 F 14. 10 F 13: „Nicht dass meine Leidenschaft für Sappho abgeklungen war. Ich war immer noch fasziniert von ihr […].“ 11 F 14. 12 F 13.

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auf ihre Dichtung mehrfach als nicht einwandfrei belegbar kritisiert worden sind. Bereits in den 50er Jahren wollte Denys Page die Vorstellungen von Sappho als einer Priesterin, Kultleiterin oder Schulvorsteherin als „modern melancholy ghosts“ ausmerzen.13 Insbesondere in den 90er Jahren wurde diese Kritik ausgebaut und untermauert.14 Auch Lucys Anliegen, man solle sich auf den erhaltenen Text konzentrieren, ist deshalb nicht neu: Mehrfach wurde gefordert, die Literarizität der sapphischen Fragmente nicht zu vernachlässigen.15 Dass die Lücken in Sapphos Lyrik beabsichtigt sind, ist jedoch als These kaum zu halten und wäre als Forschungsthema unrealistisch: Es war der „Zahn der Zeit“16, der diese verursachte. Dies gibt Lucy selbst zu – Papyri und Zitatträger belegen es. Lucy will die Dissertation zunächst unbedingt abschließen: „[A]ls mir der Entzug des Stipendiums drohte, gelangte ich zu dem Schluss, dass ein schlechter Text immer noch besser war als gar keiner. So quälte ich mich weiter.“17 Doch ihr ist es nicht möglich, eine überzeugende These vorzutäuschen, entspringt ihre Arbeit doch schon der Kritik an der mangelnden Aufrichtigkeit anderer Forschender. Zudem spiegelt ihre Dissertation metaphorisch weitere Konflikte, die der Aufarbeitung bedürfen. Ihre gescheiterte Beziehung, ihr seelisches Leiden, die Beziehung zu ihrer Schwester und der Tod ihrer Mutter treten, befördert durch das Sappho-Thema, im Sommer der Handlung zutage. Lucy setzt sich durch die zugespitzte Situation der Leere aus – insofern wirkt das Sappho-Thema nicht nur wie eine Reflexionsmöglichkeit, sondern auch wie ein Katalysator des 13 Page, Denys Lionel (1955). Sappho and Alcaeus. An Introduction to the Study of Ancient Lesbian Poetry. Oxford: Clarendon Press. 139f. 14 Holt Parker kritisierte 1993 die gesamte bisherige Sappho-Forschung und dekonstruierte Sappho als „schoolmistress“. Parker, Holt (1993). Sappho schoolmistress. Transactions of the American Philological Association 123. 309–351. Feministisch geprägte Arbeiten machten darauf aufmerksam, wie die Überlegungen zu Sapphos Leben und ihrer Sexualität die Analyse ihrer Texte beeinflussen, wie z. B. Lefkowitz, M. R. (1973). Critical Stereotypes and the Poetry of Sappho. Greek, Roman and Byzantine Studies 14. 113–123; Lanata, Giuliana (1996). Sappho’s Amatory Language. In: Greene, Ellen (Hrsg.). Reading Sappho. Contemporary Approaches. Berkeley: University of California Press. 11–25. Zur Idee von Sappho als einer Lehrerin: Schlesier, Renate (2017). How to make fragments: Maximus Tyrius’ Sappho. In: Derda, Tomasz/Hilder, Jennifer/Kwapisz, Jan (Hrsg.). Fragments, Holes, and Wholes. Reconstrucing the Ancient World in Theory and Practice. Warschau: Taubenschlaga. 141–162. 15 Etwa Latacz, Joachim (1986). Zu den ‚pragmatischen‘ Tendenzen der gegenwärtigen gräzistischen Lyrik-Interpretation. WJA/12. 35–56; Thomas Schmitz (2002). Die ‚pragmatische‘ Deutung der frühgriechischen Lyrik: Eine Überprüfung anhand von Sapphos Abschiedsliedern frg. 94 und 96. In: Schwindt, Jürgen Paul (Hrsg.). Klassische Philologie inter disciplinas. Aktuelle Konzepte zu Gegenstand und Methode eines Grundlagenfaches. Heidelberg: Winter. 51–72 und Radke-Uhlmann, Gyburg (2005). Sappho Fragment 31 (LP). Ansätze zu einer neuen Lyriktheorie. Geistes- und sozialwissenschaftliche Klasse/6. 5–66. 16 F 14. 17 F 15.

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Geschehens. Das Verhältnis zur Sappho-Thematik und den weiteren Ursachen ihrer Lebenskrise verändert sich gleichermaßen – Text und Leben greifen ineinander. 3.1.2 Leere als Forschungs- und Lebensproblem Wie die Brüchigkeit eines Textes Leser:innen um seine Einheit und Deutung ringen lässt, so fühlt Lucy sich von Sinnleere bedroht. Die leeren Stellen im Text verbildlichen den Anlass ihrer Depression, die im Suizidversuch gipfelt. Sie fürchtet und hofft zugleich, ganz zu verschwinden.18 Fragen nach „der Leere, der Sinnlosigkeit des Lebens, der Tatsache, dass keiner weiß, was das alles soll“ quälen sie. Sie berichtet von Übelkeit, die Gedanken wie „Wer bin ich?“, „Was soll das alles hier?“19 auslösen. Wie die sich im Fragment manifestierende Vergänglichkeit macht Lucy zudem das Ablaufen ihrer Lebenszeit Angst. Sie sorgt sich um ihre Gebärfähigkeit und hadert mit ihrem Alter.20 Ihr Körper ist Quelle der Scham21 und soll insbesondere männlichen Blicken standhalten. Die kalifornische Umgebung, ganz auf Gegenwärtigkeit fixiert, scheint Lucys Ängste zu verstärken. Hier nimmt sie als Gradmesser eines gelungenen Frauenlebens die Form eines Hinterns und einen Ring am Finger wahr. Einen sexistischen und missgünstigen Blick richtet sie nicht nur auf sich selbst, sondern auch auf andere Frauen, mit denen sie sich ständig vergleicht. So beschreibt sie eine Therapieteilnehmerin aufgrund ihres Aussehens als „Hühnerpferd“.22 Männer, so meint sie, müssten sich um das Vergehen der Zeit weniger Gedanken machen. Doch auch sie werden in die oberflächliche Aburteilung einbezogen.23 Während Literaturwissenschaftler:innen Lücken bei Sappho willkürlich füllen, wie Lucy glaubt, leugnet sie selbst Sapphos Leerstellen. Sie versucht nicht, 18 F 14f.: „Mein dringendstes Anliegen war, die Leere zu füllen, denn ich fürchtete ständig, sie könnte mich umbringen. An anderen Tagen sehnte ich mich nach totaler Auslöschung, nach einem schmerzlosen, stillen Verschwinden.“ 19 F 16. 20 So „hasst“ Lucy ein junges Paar, weil es mit der Zeit so sorglos umgehe, „als dürfte man sie verplempern, als würde es weder heute Abend noch jemals im Leben für irgendetwas zu spät sein“ (F 17). 21 F 46. 22 F 48: „Die jüngste Teilnehmerin hieß Amber. […] Ich taufte sie im Stillen das Hühnerpferd, weil sie einen langen pferdeähnlichen Kopf und eine Hakennase hatte und beim Sprechen sehr viel rotes Zahnfleisch entblößte, das an einen Hahnenkamm erinnerte.“ 23 F 18: „Ich war immer schon der Meinung, es hätte seine Vorteile, ein Mann zu sein […] außerdem würde die Zeit keinen Druck auf meinen Körper mehr ausüben.“; z. B. bei der Begegnung mit Adam, F 85: „Aber als ich ihn entdeckte, dachte ich nur: O Gott, nein. Er sah schon irgendwie aus wie auf dem Foto, nur dass der Affenanteil in natura noch stärker hervortrat. Der Mann hatte etwas von einem Werwolf […] Es lag nicht bloß an seinen spitzen Zähnen und dem ungepflegten Kinnbart, sondern an seiner definitiv monströsen Aura.“

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vom Fragment aus Rückschlüsse auf das Fehlende zu ziehen. Wieso fällt der Umgang mit den Fragmenten auf beiden Seiten so schwer? In der Literaturwissenschaft gibt es unter anderem psychologische Begründungen für die Faszination des Fragmentarischen. Sie erklären eher den Impuls der Fragmentforschung, als dass sie an deren Integrität zweifelten. Der Reiz des Fragments bestehe insbesondere darin, dass es zur Kreativität und zum Spiel auffordert – nicht nur in der künstlerischen Rezeption, sondern auch in der philologischen Bearbeitung.24 Aber auch Kompensationsleistungen werden als Antrieb für die Beschäftigung mit Fragmentarischem genannt: Der modernen Suche nach dem Fragment liege ein „historische(r) Schock“ zugrunde, „die leidvolle Erkenntnis, dass die Antike tot ist“.25 Das „Heilen“ von Fragmenten könne die Illusion einer Beständigkeit schaffen. Zudem sei es wohl ein „tiefer sitzender und schwerer erklärbarer Drang, der uns antreibt, die vielen Unzulänglichkeiten in unserer Existenz ein wenig von ihrer Unvollkommenheit zu befreien und die Vorherrschaft, die der Zufall und die Enttäuschung über unser eigenes Leben haben, wenigstens ein bisschen zu vergelten.“26 Zu Lucys Begründung, dem kognitiven Verlangen, Muster zu vervollständigen, kommt hier die psychologische Erklärung der Kontingenz- und Vergänglichkeitsbewältigung hinzu. So sehr sich Lucy von den spröden Literaturwissenschaftlern abheben will, desto mehr erkennt sie, dass sie selbst völlig unfähig ist, Leere zu ertragen. Sie widersteht zwar der Versuchung, die Lücken zu füllen. Doch sie will sie nicht nur erklären, sondern Sapphos Text erst gar nicht der Zeit ausgesetzt wissen. Sie tut in ihrem Dissertationsprojekt so, als habe seine Vollständigkeit nicht gelitten. Deshalb macht sie sich der Projektion „schuldiger als alle anderen“27. Was Lucy zu Anfang ahnt, realisiert sie später im Roman ausdrücklich. Im Gespräch mit ihrer suizidalen Freundin Claire zieht sie selbst die Parallele zwischen Fragmenten und ihrem eigenen Leben: [M]ir wurde klar, dass kein anderer uns diese Aufgabe abnehmen konnte: Wir mussten unsere Leere füllen. Das war das Traurige an Sapphos Leerstellen. Wo früher etwas Schönes gewesen war, herrschte nun gähnendes Nichts. Die Zeit löschte alles aus und

24 Most, Glenn W. (2011). Sehnsucht nach Unversehrtem. Überlegungen zu Fragmenten und deren Sammlern. In: Kelemen, Pál/Kulcsár Szabó, Erno˝/Tamás, Ábel (Hrsg.). Kulturtechnik Philologie. Zur Theorie des Umgangs mit Texten (Bibliothek der klassischen Altertumswissenschaften, Neue Folge, 2. Reihe, Band 131). Heidelberg: Winter Verlag. 27–43. Siehe auch: Burdorf, Dieter (2020). Zerbrechlichkeit. Über Fragmente in der Literatur. Göttingen: Wallstein Verlag; Heinsch, Cornelia (2020), 86–95. 25 Most (2011), 36. 26 Ebd., 41. 27 F 15.

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damit konnte niemand umgehen. […] Ich tat so, als wäre dort nie etwas gewesen, um den Schmerz des Verlustes nicht spüren zu müssen.28

Wie die Sehnsucht nach einer ursprünglichen Ganzheit dazu führt, ein Fragment zu ergänzen und ihm semantischen Sinn zu verleihen, sucht Lucy nach einem transzendentalen Obdach. Doch der Trost, den sie in Esoterik und New Wave findet, hält nie lange an.29 Als sie darüber nachdenkt, warum ihr die Bewertung anderer so wichtig ist, kommt sie zu dem Schluss, dass sie ein Gegenüber braucht, selbst wenn es zu ihrer eigenen Projektion wird. Durch das Urteil eines anderen, wie auch immer es ausfällt, spürt sie sich selbst. „Hauptsache, ich wusste, wie andere über mich dachten. Hier fing ich an, dort hörte ich auf. Es war ein Gefängnis, aber es brachte mir Erleichterung.“30 Lucy ist süchtig nach der Verheißung von Liebesbegegnungen. Da sie entgegen der Empfehlung ihrer Therapeutin weiterhin Männer trifft, meidet sie die Gruppentreffen eine Zeitlang. Im Gespräch mit ihrer Freundin Claire und mit ihrer Therapeutin erkennt sie jedoch, dass sie nicht die Liebe im Sinne einer dauerhaften romantischen Beziehung sucht, sondern das Spiel: „Das Spiel war alles, in ihm offenbarten sich alle Hoffnungen und Möglichkeiten des Lebens“.31 Als Liebende identifiziert Lucy sich zunehmend mit der ersten Person in Sapphos Gedichten oder vielmehr – ihrer eigenen wissenschaftlichen Kritik zuwiderlaufend – mit Sappho selbst. Als sie auf eine Tinder-Verabredung wartet, denkt sie: „Ich hätte Sappho sein können, die Eros nicht fürchtet und Aphrodite anruft“32. Sappho dient als Ahnfrau für das starke Gefühl im Gegensatz zur propagierten „achtsamen“ Liebe der Selbsthilfegruppe oder zur kalkulierten, kalten Begegnung der Tinder-Dates. Lucy findet in Sappho eine Verbündete in der Männerjagd, die ein „immer wieder“ bedeutet, eine bei Sappho prominente Wendung,33 die auch Lucy formuliert.34 Die Dichterin repräsentiert hier das archaisch Dunkle, die unvernünftige, unergründliche Seite des Menschen, die nicht

28 F 144f. Obgleich der Bezug auf Sapphos Dichtung am Anfang des Romans dominant platziert ist und ausführlich erläutert wird, gibt es kein Beispiel für Lücken bei Sappho. Ihre Dichtung wird nicht zitiert. Das Fragmentarische und der Reiz des Fragmentarischen – auch eine Motivation für die unzulässigen Ergänzungen der anderen Forschenden – bleibt außen vor. 29 F 56f. 30 F 162. 31 F 293. 32 F 85. 33 Im Aphrodite-Hymnos (fr. 1 V.) erzählt das Sappho-Ich, wie Aphrodite in der Vergangenheit zu ihm kam und fragte, was es wieder erleide, warum es sie wieder rufe, und wen sie wieder überzeugen solle, zu Sappho zurückzukehren (griechisch: δηὖτε). Auch in fr. 130 V. geht es um eine wiederholte Liebesqual: „Eros wiederum (δηὖτε) quält mich, der Gliederlösende,/süßbitteres unbezwingbares Getier.“ (v. 1f.) Siehe auch fr. 22 V. und 127 V. 34 F 294.

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wegtherapiert oder -meditiert werden kann – die Betroffenen folgen einem unwiderstehlichen Sirenengesang. Indem Lucy sich von der Leugnung der Fragmentarität abwendet und zunehmend eine mythische Sappho anerkennt, deren Leben sie teilweise reinszeniert, wird sie jenseits von Geschlechterfestlegungen zur aktiv Liebenden und Begehrenden. Dies kann sie jedoch nicht in der kalifornischen Realität erleben, sondern nur in einem Zwischenreich zwischen Mythos und Realität, Land und Meer. Sappho wird aus ihren Texten zum Leben erweckt, ans kalifornische Meer geholt, und vom Forschungsobjekt zum alter ego der Protagonistin.

3.2

Mythos als Sinnstiftung

In den zunächst realistisch scheinenden Roman hält bald nach Lucys Ankunft in Venice Beach das Magische und Mythische Einzug. Die Ausgangslage wirkt wie die Reinszenierung eines Sappho-Gemäldes der Romantik: Lucy geht nachts an den Strand von Venice Beach. Dorthin wagt sie sich sonst nicht nach Mitternacht. Sie fragt sich selbst, ob die eigentliche Gefahr ihr eigener Selbstmord ist, und nimmt eine Pose ein, wie sie von Sappho ikonisch geworden ist: „Ich kletterte auf einen der großen schwarzen Felsen, die den Strandabschnitt begrenzten. Ich saß eine Weile da und betrachtete die Wellen, die jetzt grauweiß schimmerten.“35 Unzählige Darstellungen, Gedichte und Gemälde insbesondere des 19. Jahrhunderts zeigen Sappho genau so: kurz vor dem Sprung ins Meer. Oft hält sie noch ihre Leier in der Hand. Der ikonisch gewordene Sprung der Liebesleidenden vom leukadischen Felsen geht auf eine Legende zurück, die bereits Menander im vierten Jahrhundert v. Chr. zitierte und die durch Ovids Heroides in die Neuzeit tradiert wurde. Aphrodite hatte den alten Fährmann Phaon, so hieß es, als Dank für eine kostenlose Überfahrt mit einer Salbe belohnt, die ihm, einmal aufgetragen, zu ewiger Jugend und Schönheit verhalf. Sappho verliebte sich unsterblich in ihn, doch er erhörte sie nicht. Daraufhin soll sie sich von einem Felsen auf der Insel Leukas gestürzt haben, der einer Sage nach Todesmutigen die Heilung von ihrer Leidenschaft versprach.36 An diesem Ort, der Grenze zwischen Meer und Land, wird Lucy Theo, dem Meermann, begegnen und immer wieder im Mondlicht auf ihn warten. Wie sein Name suggeriert, scheint er Lucys Probleme gleich einem deus ex machina zu 35 F 61. 36 Die Geschichte um Phaon und Sappho entstand wahrscheinlich aus der Synkrise einer Lokalsage mit dem Mythos von Aphrodites Liebe zu Adonis. Vermutlich bot Sapphos Lyrik den Anlass, sie mit Aphrodite zu identifizieren.

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Abbildung: Théodore Chassériau, Sapho se précipitant dans la mer du rocher de Leucade (ca. 1846).

lösen.37 In der Erzählung fließen zwei Mythenkreise ineinander: der von Sappho und Phaon und der von den Meerjungfrauen.38 Broder gibt den Phaon-Mythos nicht wieder, sondern referiert nur knapp auf ihn. Lucy denkt zunächst über Sapphos Hingabe an Phaon nach: „Phaon erwiderte ihre Gefühle nicht; sie war zu alt und zu bedürftig, und er war jung und sexy […]. Sappho […] hatte nicht den Hauch einer Chance. Sie war ihm verfallen.“39 Später fasst sie zusammen: „Angeblich war Sappho nach Phaons Zurückweisung am Boden zerstört und konnte nicht mehr weiterleben. Sie stürzte sich ins Meer, 37 Der Name „Theo“ verweist auf das altgriechische θεός – Gott. 38 Zur Literaturgeschichte der Meerjungfrauen: Kraß, Andreas (2010). Meerjungfrauen. Geschichten einer unmöglichen Liebe. Frankfurt am Main: Fischer Verlag. 39 F 294.

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um entweder von ihrer Liebe zu ihm geheilt zu werden oder zu ertrinken. Sie ertrank.“40 Lucys latente Suizidgefahr wird nicht ausgesprochen, ist aber eine Gemeinsamkeit. Auch das Alter und die Promiskuität, die in der ovidischen Version deutlich werden, sind Thema des Romans. Zudem ist die Geschlechterkonstellation bei beiden Liebespaaren gleich: Der bedeutend jüngere schöne Mann vom Meer ist das Objekt des Begehrens, auch wenn sich Theo Lucy nicht entzieht. Dass ein schönes Meereswesen mit Fischschwanz sich einem Menschen nähert, gleicht wiederum dem Meerjungfrauen-Mythos. Die geheimnisvollen, verführerischen Meereswesen haben eine lange Geschichte. Sie fängt bei den Sirenen an, die man sich zur Hälfte als Vögel vorstellte, und umfasst sowohl die Melusinen des Mittelalters, die wiederum Schlangenfrauen waren, als auch die menschenförmigen Nymphen der Romantik.41 Auch Lucy denkt an diese Mythen, als sie Theos untere Hälfte zum ersten Mal sieht: „Dann gibt es also wirklich Meermenschen? Und Sirenen?“ Er sei zwar unwiderstehlich, antwortet Theo, aber die Meermenschen seien nicht wie die Sirenen aus dem Mythos. „Ist ja nicht so, als würden wir Menschen umbringen oder auf irgendwelche Inseln verschleppen. […] Homer hat unseren Ruf zerstört.“42 Allerdings lebten sie sehr lang, „ohne sichtlich zu altern“. „Dann bist du mythisch? Ein mythisches Wesen?“, fragt Lucy ungläubig.43 Später, als sie kurz davor ist, zu Theo ins Wasser zu springen, erinnert sie sich jedoch: In allen mir bekannten Mythen von Nixen und Sirenen kamen die Menschen, die den magischen Wesen ins Wasser folgten, zu Tode. […] Sobald man einmal mit einem dieser Wesen geschlafen hatte, konnte man nicht allein an Land weiterleben.44

Sapphos Phaon-Mythos ist die Geschichte einer unglücklichen Liebe. Auch zum mythischen Kern der Meerjungfrauen-Sagen gehört, dass sie von einer zum Scheitern verurteilten Mesalliance erzählen.45 Diesem Erzählmuster fügt sich auch Broders Mythen-Konglomerat, doch mit einem entscheidenden Unterschied: Theos und Lucys Liebesgeschichte scheitert zwar, aber Lucy überlebt. Obgleich sie schon einmal einen Suizidversuch unternommen hat und Theo den Tod verführerisch verkörpert, widersteht sie. Als Warnerin in der kritischen Situation ist ihr zuvor Sappho selbst im Traum erschienen: Einmal träumte ich, Sappho säße neben mir auf den Felsen. Sie sah so ähnlich aus wie das Hühnerpferd, aber eine jüngere, burschikosere, attraktivere Ausgabe davon. Ihre 40 41 42 43 44 45

F 321. Kraß (2010), 14. F 189. Ebd. F 321. Kraß (2010), 13.

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kräftigen Oberschenkel steckten in einer zerrissenen Jeans, das rabenschwarz gefärbte Haar trug sie zu einer Tolle zurückgekämmt. Sie erklärte mir, wie dumm es sei, auf Theo zu warten. Sie legte eine Hand auf meinen Solarplexus und sagte: „Sieh dich nur an. Und all das wegen eines bescheuerten Fischjungen?“46

Als Lucy im Traum einwendet, dass gerade Sappho doch Verständnis für ihren Liebeswahn haben müsse, entgegnet diese nur „Hüte dich vor dem Ertrinken“ und küsst sie auf beide Lider.47 Hier erscheint eine Sappho, die weder etwas mit den Projektionen der Literaturwissenschaft noch mit der verzweifelten Sappho aus dem Phaon-Mythos gemein hat – sie ist in ihrer Modernität und betont unfemininen Aufmachung Projektion Lucys. Sie nimmt Sappho als verführerisch wahr: „Das [die Küsse] machte mich an, am liebsten hätte ich mich an ihren Jeansbeinen gerieben.“48 Der veränderte Ausgang der Liebesgeschichte zwischen Theo und Lucy ergibt sich aus der Vermischung der beiden Mythen, die insbesondere in Bezug auf die Geschlechterordnung und die Konstruktion des Begehrens innovativ ist. Theo verkörpert beide Mythen. Er ist wie Phaon männlich, jung und schön, hat aber wie eine Meerjungfrau einen Fischschwanz. Er begehrt eine Frau – Lucy –, während in den Meerjungfrau-Mythen Männer in den Tod gezogen werden. Die Vertauschung der Geschlechter ist deshalb bedeutend, da die Meerjungfrauen ein männliches „Phantasma des Weiblichen“ darstellen.49 Die Geschichten verweisen auf „Bilder und Vorstellungen, die man sich von der Frau und vom Begehren zwischen Mann und Frau machte und immer noch macht“.50 Die Frau stellt eine Gefahr dar, indem sie den Mann ins Wasser ziehen will. Sie repräsentiert das Fremde und Rätselhafte und wird als wunderschön und singend überhöht. Broder deutet das Verhältnis von Mann und Frau um: Lucy transportiert den an Land hilflosen und gefährdeten Theo in einem Bollerwagen in das Haus ihrer Schwester. Allein wegen dieser Rollenverteilung, die Sagen von Meerjungfrauen invertiert, führen die beiden keine heteronormative Beziehung. Zudem verbindet Theo männliche und weibliche Attribute: Er hat zwar einen Penis, riecht aber nach weiblichem Genital. Ihn bewegen Gefühle, die Lucy für „Frauengefühle“ hielt: Scham, Bedürftigkeit und Einsamkeit.51 Im Gegensatz zu den bisherigen enttäuschenden sexuellen Begegnungen mit menschlichen Männern erlebt Lucy mit Theo allergrößte Leidenschaft und nie gekannte sexuelle Erfüllung („Wir waren zwei Fische, die einander schwimmend umkreisten, verspielt

46 47 48 49 50 51

F 296. Ebd. Ebd. Kraß (2010), 17. Ebd., 17. F 276.

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und arglos“52). Broder lässt Lucy die Sexszenen detailliert schildern. Auch hier ist die Protagonistin nicht länger auf eine weibliche Rolle zurückgeworfen: Sie fühlt sich zeitweise wie ein Mann, dann wieder weder männlich noch weiblich.53 In der Überfülle ihrer Gefühle, die man ihr in der Gruppentherapie abgewöhnen wollte, kommt Lucy Sappho endlich nahe. Sie, die darunter gelitten hatte, nicht das ewig-begehrte Objekt der Männer zu sein, wird selbst Begehrende. Sie widersetzt sich der Pathologisierung ihrer Gefühle und erfährt eine Selbstermächtigung: „Ich will keine achtsame Liebe“, sagt sie. „Gingen die Sirenen zur Gruppentherapie, ließ Sappho sich in die Geschlossene einweisen?“54 Für Lucy ist das Spiel von Lust und Liebe „alles. In ihm offenbarten sich alle Hoffnungen und Möglichkeiten des Lebens.“ Sappho hat Lucy als alter ego in ihrer poetischen Weltsicht dabei geholfen, ihre nonkonformen Gefühle zu akzeptieren und sich aus einem tradierten Weiblichkeitsschema zu befreien. Sappho ist hier einerseits im Rahmen des bekannten Mythos präsent. Dieser wird jedoch vermischt und korrigiert:55 Denn sie stirbt nicht. Durch die Veränderung der Geschlechterkonstellation setzt er ein emanzipatorisches Potenzial frei. Die Frauenrolle der unglücklich Liebenden und Passiven wird nicht übernommen, sondern die Erfahrungen der Geschlechter nähern sich an. Als Warnerin nimmt auch Sappho eine neue Rolle ein. Ihr Mythos war von Anfang an nur eine Geschichte, die weibliche Rollen in Liebeskonstellationen festschreibt. Der Realitätsstatus des Geschehens ist unklar. Zweifelt Lucy zunächst an Theos Existenz, überlegt sie abschließend: „Mythische Wesen wurden ständig geboren und starben ebenso häufig. Sie traten in Erscheinung, wenn wir sie brauchten, und sie vergingen, sobald unser Blick sich veränderte.“56 Zu Annikas Freund, der sich über den Zustand des Hauses ärgert, sagt sie: „Niemand war hier, ich war die ganze Zeit allein.“ (F 338) So wird ihre Begegnung mit Theo einem fantastischen Zwischenreich zugeordnet. Der veränderte Mythos kann die Leere nicht ausfüllen, hat Lucy aber eine neue Perspektive ermöglicht.

52 53 54 55

F 259. F 207. F 259. Zur Mythenkorrektur, die eine Veränderung des mythischen „Kerns“ beschreibt: Seidensticker, Bernd/Vöhler, Martin (Hrsg.) (2005). Mythenkorrekturen. Zu einer paradoxalen Form der Mythenrezeption. Berlin: De Gruyter. 56 F 349.

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Die Aneignung der Leere

Am Ende des Romans hat Lucy vorläufig ihren Frieden mit der Leere geschlossen. Ihre Einstellung habe sich verändert: „[F]ast war es, als könnte sie [die Leere] mit mir lachen oder ich mit ihr. Es war die Leere, doch sie gehörte mir allein. In Gedanken nannte ich sie ein Arschloch, dann löschte ich das Licht.“57 Die etwas plötzliche Wendung lässt offen, wie Lucy das – auch durch Sappho freigesetzte – Verlangen integrieren kann, ohne an der Vergänglichkeit zu verzweifeln. Obgleich sie ihre Entwicklung immer wieder explizit verbalisiert, bleibt deren innerer Zusammenhang vage. Auch der Umgang mit Sapphos Leere hat sich auf unbestimmte Weise verändert: Lucy hat ihren Promotionsbetreuern einen neuen Text eingereicht, in dem sie die Leerstellen für unbeabsichtigt und verloren erklärt. Die Professoren halten ihre Ausführungen zwar nicht für wissenschaftlich, aber loben sie sehr – Lucy habe einen größeren „dialektischen Hallraum“58 eröffnet. Sie ermutigen Lucy, kreativ über Sappho zu schreiben. Lucys Hinwendung zum literarischen Schreiben lässt vermuten, dass die Leere für sie nun nicht mehr Nichts ist, sondern etwas, das zur Gestaltung einlädt. So wird die dialektische Spannung zwischen Realität und Fantasie produktiv, wie auch das Fragment einen positiven Reiz hat: Als Verweis auf etwas Ganzes ist es Versprechen und Verheißung. Da Sapphos Lyrik von Begehren und Sehnsucht nach Abwesendem spricht, potenziert sie diesen Reiz sogar. Was Lucy damit meint, dass sie sich schreibend „der Stille“ Sapphos „annähern“ wolle, bleibt jedoch offen.59 Der Auftritt der Dichterin im Traum der Protagonistin scheint eine Selbstermächtigung auch im Hinblick auf den horror vacui des Lebens anzudeuten. Sappho steht nicht länger für die romantische Vorstellung einer unglücklich Verliebten wie im Phaon-Mythos, sondern für Selbstbehauptung und Weiterleben. Als Mahnerin zur weiblichen Autonomie in Jeans und mit Haartolle hat sie sich von ihrem eigenen Mythos emanzipiert. Die „Arbeit am Sappho-Mythos“ fungiert so als impliziter Kommentar zu Sapphos Rezeptionsgeschichte. Hat jedes Jahrhundert seine eigene Sappho erfunden, ist es jetzt eine, die zur Solidarität zwischen Frauen inspiriert, wie sich an Lucys Zuwendung zu ihrer Schwester und der Selbsthilfegruppe zeigt. Die Therapiegruppe habe sie „diese Art von Liebe“ gelehrt (F 342). Der moderne Mythos eines kaum erreichbaren gelungenen Frauenlebens, der Lucy gequält hat, wurde demythisiert. So ver-

57 F 351. 58 F 313. 59 F 146.

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wirklicht sie das rebellische und emanzipatorische Erbe „der verrückten Königin der unglücklichen Liebe“60.

Bibliographie Broder, Melissa (2018). The Pisces. New York: Hogarth. Broder, Melissa (2018). Fische. Aus dem amerikanischen Englisch von Eva Bonné. Berlin: Ullstein. Burdorf, Dieter (2020). Zerbrechlichkeit. Über Fragmente in der Literatur. Göttingen: Wallstein Verlag. Finglass, P. J./Kelly, Adrian (Hrsg.) (2021). The Cambridge Companion to Sappho. Cambridge: Cambridge University Press. Finglass, P. J./Kelly, Adrian (2021). Introduction. In: Finglass, P. J./Kelly, Adrian (Hrsg.). 1–8. Goff, Barbara/Harloe, Katherine (2021). Sappho in the Twentieth Century and Beyond. Anglophone Receptions. In: Finglass, P. J./Kelly, Adrian (Hrsg.). 390–407. Greene, Ellen (Hrsg.) (1996). Reading Sappho. Contemporary Approaches. Berkeley: University of California Press. Heinsch, Cornelia (2020). „sappho gibt es nicht.“ Die Rezeption Sapphos in deutschsprachiger Lyrik des 20. und 21. Jahrhunderts. Baden-Baden: Ergon. Kraß, Andreas (2010). Meerjungfrauen. Geschichten einer unmöglichen Liebe. Frankfurt am Main: Fischer Verlag. Lanata, Giuliana (1996). Sappho’s Amatory Language. In: Greene, Ellen (Hrsg.). 11–25. Latacz, Joachim (1986). Zu den ‚pragmatischen‘ Tendenzen der gegenwärtigen gräzistischen Lyrik-Interpretation. WJA/12. 35–56. Lefkowitz, M. R. (1973). Critical Stereotypes and the Poetry of Sappho. Greek, Roman and Byzantine Studies 14. 113–123. Most, Glenn W. (2011). Sehnsucht nach Unversehrtem. Überlegungen zu Fragmenten und deren Sammlern. In: Kelemen, Pál/Kulcsár Szabó, Erno˝/Tamás, Ábel (Hrsg.). Kulturtechnik Philologie. Zur Theorie des Umgangs mit Texten (Bibliothek der klassischen Altertumswissenschaften, Neue Folge, 2. Reihe, Band 131). Heidelberg: Winter. 27–43. Page, Denys Lionel (1955). Sappho and Alcaeus. An Introduction to the Study of Ancient Lesbian Poetry. Oxford: Clarendon Press. Parker, Holt (1993). Sappho schoolmistress. Transactions of the American Philological Association 123. 309–351. Radke-Uhlmann, Gyburg (2005). Sappho Fragment 31 (LP). Ansätze zu einer neuen Lyriktheorie. Geistes- und sozialwissenschaftliche Klasse/6. 5–66. Schadewaldt, Wolfgang (1950). Sappho. Welt und Dichtung. Dasein in der Liebe, Potsdam: Stichnote. Schlesier, Renate (2017). How to make fragments: Maximus Tyrius’ Sappho. In: Derda, Tomasz/Hilder, Jennifer/Kwapisz, Jan (Hrsg.). Fragments, Holes, and Wholes. Reconstructing the Ancient World in Theory and Practice, Warschau: Taubenschlaga. 141– 162. 60 F 296.

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Schmitz, Thomas (2002). Die ‚pragmatische‘ Deutung der frühgriechischen Lyrik: Eine Überprüfung anhand von Sapphos Abschiedsliedern frg. 94 und 96. In: Schwindt, Jürgen Paul (Hrsg.). Klassische Philologie inter disciplinas. Aktuelle Konzepte zu Gegenstand und Methode eines Grundlagenfaches. Heidelberg: Winter. 51–72. Seidensticker, Bernd/Vöhler, Martin (Hrsg.) (2005). Mythenkorrekturen. Zu einer paradoxalen Form der Mythenrezeption. Berlin: De Gruyter. Abbildung: Théodore Chassériau, Sapho se précipitant dans la mer du rocher de Leucade (ca. 1846). Abrufbar unter: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Chass%C3%A9r iau,_Th%C3%A9odore_-_Sappho_Leaping_into_the_Sea_from_the_Leucadian_Pro montory_-_c._1840.jpg?uselang=de.

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Vanessa Klomfaß

Eingewebte Mythologie. Zur Signifikanz und Transformation der F/Philomela-Figur in Abrams’/Dorsts S. (2013)

Abstract Der folgende Beitrag widmet sich J. J. Abrams’ und Doug Dorsts multimodalem Romans S. (2013) und analysiert dessen vielfältige Rekurse auf mythologische Stoffe und Figuren. Im Fokus steht dabei der antike Philomela-und-Prokne-Mythos, von dessen weiblicher Hauptfigur Philomela ein zeitgenössisches Pendant in Abrams’/Dorsts Roman auftritt. Es wird einerseits gezeigt, wie der Roman mittels postmoderner Verfahren auf die mythologischen Narrative Bezug nimmt und sie in die Gegenwart transportiert. Andererseits wird der Beobachtung nachgegangen, dass sich diese Bezugnahmen bis in die materielle Struktur des Buches hinein verfestigen. Die spezifischen Mytheme erfahren im Romankomplex eine strukturelle Verwandlung und werden letztlich – im Sinne einer quasi ‚topologischen‘ Metamorphose – in der Bucharchitektur manifest. Durch diese Anlage werden die mythologischen Konfigurationen in S. gleich in einem doppelten Sinne erfassbar. Keywords: Bucharchitektur, Gewebe, multimodale Literatur, Philomela, Schrift

1.

Irrgang im Labyrinth-Buch1

Auch wenn in den Tiefen des Labyrinth-Buches S. (2013) kein lebensbedrohlicher Minotauros lauert, den es zu bezwingen gilt, so inszeniert J. J. Abrams’ und Doug Dorsts multimodaler Roman2 dennoch einen postmodernen Orientierungsver1 Zu den nicht klar definierten Gattungsbegriffen ‚Labyrinth-Buch‘ bzw. ‚Buch-Labyrinth‘ vgl. Schmitz-Emans, Monika (2014). Das Buch als labyrinthischer Raum: Literarisch-ästhetische Versuchsanordnungen. In: Lehnert, Gertrud (Hrsg.). Raum und Gefühl. Der Spatial Turn und die neue Emotionsforschung. Bielefeld: Transcript. 276–297 sowie Schmitz-Emans, Monika (2016). Dädalus baut Bücher. In: Backe, Hans-Joachim/Schmitt, Claudia/Sollte-Gresser, Christiane (Hrsg.). Vergleichen an der Grenze. Beiträge zu Manfred Schmelings komparatistischen Forschungen. Würzburg: Könighausen & Neumann. 13–36. 2 Zum Konzept der Multimodalität vgl. u. a. Gibbons, Alison (2012). Multimodal literature and experimentation. In: Bray, Joey/Gibbons, Alison/McHale, Brian (Hrsg.). The Routledge Companion to Experimental literature. London, New York: Routledge. 420–434; Hallet, Wolfgang (2009). The Multimodal Novel: The Integration of Modes and Media in Novelistic Narration. In: Heinen, Sandra/Sommer, Roy (Hrsg.). Narratology in the Age of Cross-Disciplinary Narrative Research (= Narratologia 20). Berlin: De Gruyter. 129–153 sowie Page, Ruth

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lust. Der auf den ersten Blick nicht gleich als Buchschuber zu identifizierende anthrazitfarbene Pappkarton, auf dessen Vorderseite die Majuskel ‚S‘ in gebrochener Schrift prangt, erinnert – nicht zuletzt aufgrund des prominent platzierten Filmregisseur-Namens – zunächst eher an eine exklusive DVD-Kollektion als an ein Buch. Das eigentliche Druckwerk, das schließlich über die offene Schmalseite des Schutzkartons sichtbar wird und dessen Herausnahme den Bruch eines Siegels erfordert, verzeichnet zudem andere Informationen als jene, die auf dem Schuber zu finden sind. Das von einer simulierten Leinenstruktur umhüllte Buch präsentiert sich (samt Stockflecken, Signatur-Aufkleber und vergilbter Seiten) als verschlissenes Bibliotheksexemplar eines aus den 1940er Jahren stammenden Romans namens Ship of Theseus.3 Zwischen den Buchdeckeln kreuzen sich gleich drei verschiedene ‚Erzählfäden‘, die alle miteinander verwoben sind: Den Kern des Werkes bildet der – der Suggestion zufolge 1949 erschienene – Roman Ship of Theseus des (fiktiven) Autors V. M. Straka. Als Abenteuerroman konzipiert, schildert Ship of Theseus die von Schiffsabenteuern und bewaffneten Aufständen begleitete Suche des unter Amnesie leidenden Protagonisten S. nach seiner Identität und eigenen Geschichte.4 Umgeben ist diese sich auf 456 Seiten erstreckende Erzählung von einem opulenten Anmerkungsapparat (bestehend aus einem zehnseitigen Vorwort sowie zahlreichen Fußnoten) einer Übersetzungs- und Herausgabeinstanz namens F. X. Caldeira, in dem die vermeintliche Entstehungsgeschichte des Romans nachgezeichnet sowie Informationen über den mysteriösen Autor V. M. Straka präsentiert werden. Umschlossen werden diese beiden bereits ineinander verwobenen Erzählstränge5 von der sich in handschriftlichen Marginalien sowie vielfältigen Einlagen materialisierenden (fingierten) Rezeptionsgeschichte des Straka-Romans durch die (ebenfalls fiktiven) Literaturwissenschaftler:innen Jennifer Heyward und Eric Husch. Der buchgestalterischen Suggestion zufolge (2010): New Perspectives on Narrative and Multimodality (= Routledge Studies in Multimodality). New York, Oxon: Routledge. 3 Als Verlag wird die ‚Winged Shoes Press‘ angegeben – eine Referenz auf die Flügelschuhe (Talaria) des griechischen Götterboten Hermes. 4 Das hier aufgerufene bekannte literarische Motiv der Amnesie stellt in Kombination mit der spezifischen Ausgangssituation von Ship of Theseus (ein nasser, namen- und orientierungsloser Mann scheint von mächtigen Feinden gejagt zu werden) einen intertextuellen Verweis zu Robert Ludlums Bourne-Reihe dar (Ludlum, Robert (2003). The Bourne Trilogy. London: Orion). Neben weiteren intertextuellen Referenzen, auf die im Verlauf des Beitrags noch ausführlicher eingegangen wird, sind signifikante Parallelen zu B. Travens Das Totenschiff. Die Geschichte eines amerikanischen Seemanns sowie ganz allgemein zu Odysseus und seinen Irrfahrten erkennbar. 5 Streng genommen ist zwischen diesen beiden Erzählfäden keine klare Trennung möglich, da Caldeira Strakas Manuskript zum einen in eine andere Sprache übersetzt, ein ganzes Kapitel nach eigenem Ermessen rekonstruiert sowie Kapitelüberschriften nachträglich hinzugefügt hat.

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haben die beiden Protagonist:innen das Bibliotheksbuch mehrfach nacheinander aufgesucht, wechselseitig Bezug auf ihre Anmerkungen genommen und innerhalb eines Jahres über den Roman, Strakas Person und seine Beziehung zu Caldeira geforscht sowie über private Erfahrungen und Gefühle kommuniziert.6 Es ist nicht zuletzt diese unkonventionelle Bucharchitektur, die eine Orientierung innerhalb des Werkes erschwert und den Irrgang gleichsam zum Programm erhebt: Indem S. buchmateriell das performiert, was es auf inhaltlicher Ebene verhandelt, transformiert es auch seine Rezipient:innen in postmoderne Theseus-Figuren, denen der berühmte Ariadnefaden zunächst fehlt. Doch Theseus symbolisiert keineswegs nur den Irrgang, sondern ist – wie Titel und Buchdeckelgestaltung des Straka-Romans bereits andeuten – auch für sein Schiff bekannt, das nach seiner Rückkehr vom kretischen Labyrinth so häufig überholt und ausgebessert wurde, dass es zum philosophischen Paradoxon wurde. Das Paradoxon behandelt die Problematik, ob sich eine Identität ändert, wenn sukzessive alle ‚Einzelteile‘ ausgetauscht werden, und berührt somit Fragen nach dem Fortdauern von Identität. Abrams’ und Dorsts S. verhandelt solche und ähnlich gelagerte Identitätsfragen und spitzt das philosophische Paradoxon schließlich auch auf die literaturtheoretische Frage zu, ob und inwiefern die vorliegende (durch Caldeira stark modifizierte) Version von Ship of Theseus überhaupt als Roman des mysteriösen Autors Straka gelesen werden kann.7 Wie die folgenden Ausführungen zeigen werden, findet jedoch nicht nur der bereits im Titel explizit aufgerufene antike Irrgänger Theseus Eingang in das Buchlabyrinth; der Roman-Komplex rekurriert vielmehr auf eine ganze Reihe mythologischer Figuren, inventarisiert sie als Teil eines ‚kulturellen Archivs der Popliteratur‘8 und integriert bzw. transformiert sie und ihre mythologischen Narrative mittels postmoderner Verfahren gar in die Bucharchitektur.

6 Dieses literarische Arrangement – zwei (fiktive) Literaturwissenschaftler:innen begeben sich auf eine detektivische Spurensuche nach der Identität eines (fiktiven) Autors und finden dabei nicht nur Details über dessen (Liebes)Leben heraus, sondern kommen auch einander und sich selbst näher – findet sich auch in A. S. Byatts Possession (vgl. Byatt, Antonia S. (1990). Possession. A Romance. London: Vintage). 7 Der Roman knüpft damit an bestehende (literaturwissenschaftliche) Diskurse um die ‚Funktion‘ von Autorschaft (samt etwaiger Problematisierungen) an, wie sie u. a. auch bei Heinrich Bosse und Uwe Wirth verhandelt werden (vgl. dazu Bosse, Heinrich (1981). Autorschaft ist Werkherrschaft. Über die Entstehung des Urheberrechts aus dem Geist der Goethezeit (= Uni-Taschenbücher 1147). Paderborn [u. a.]: Schöningh sowie Wirth, Uwe (2008). Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion. Editoriale Rahmung im Roman um 1800: Wieland, Goethe, Brentano, Jean Paul und E. T. A. Hoffmann. München: Wilhelm Fink). 8 Vgl. Baßler, Moritz (2002). Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten. München: C.H. Beck.

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2.

Vanessa Klomfaß

F/Philomela: Gewebter Text, textliches Gewebe und blutiges Schreiben?

Als Roman, in dessen Zentrum das Medium Schrift sowie die Schriftlichkeit in ihren divergenten Erscheinungsformen, Funktions- und Produktionsweisen steht,9 knüpft S. inhaltlich, strukturell und auch materiell an einen antiken Mythos an, in dem die Unmöglichkeit verbalsprachlicher Kommunikation mit einem textus kompensiert wird. Konkret geht es um den Philomela-und-ProkneMythos, der über die Revelation des Vornamens der Herausgabe- und Übersetzungsinstanz aufgerufen wird: Denn anders als es zunächst vom Protagonisten Eric postuliert wird, handelt es sich bei F. X. Caldeira nicht um einen männlichen Übersetzer mit dem Namen ‚Francisco‘ oder ‚Filip‘,10 sondern um eine weibliche Figur namens Filomela.11 In der Ovid’schen Mythos-Fassung, die im sechsten Buch der Metamorphosen präsentiert wird,12 entführt und vergewaltigt Tereus seine Schwägerin Philomela, eine Tochter des attischen Königs Pandion. Damit Philomela weder ihrer Schwester Prokne noch anderen Menschen von dem Missbrauch berichten kann, schneidet Tereus ihr kurzerhand die Zunge heraus, hält sie im Wald gefangen und berichtet seiner Frau vom angeblichen Tod ihrer Schwester. Obwohl Philomela ihrer Stimme und damit der Möglichkeit zur mündlichen Kommunikation beraubt ist, gelingt es ihr nach über einem Jahr isolierter Gefangenschaft jedoch, sich mit Hilfe von Webstuhl, Kette und Schuss der Schwester mitzuteilen: grande doloris/ingenium est, miserisque venit sollertia rebus./stamina barbarica suspendit callida tela/purpureasque notas filis intexuit albis,/indicium sceleris, perfectaque tradidit uni,/utque ferat dominae, gestu rogat. illa rogata/pertulit ad Procnen; nescit quid tradat in illis./evolvit vestes saevi matrona tyranni/germanaeque suae carmen miserabile legit/et (mirum potuisse) silet. 9 Neben dem Autor Straka, dessen Textproduktion reflektiert wird, und den Übersetzungsund Editionstätigkeiten F.X. Caldeiras (auf die im Folgenden noch ausführlicher eingegangen wird), schreiben auch der Protagonist von Ship of Theseus sowie die Literaturwissenschaftler:innen Jen und Eric, deren ‚Handgeschriebenes‘ sogar materialiter ausgestellt wird. Für eine detaillierte Darstellung zu (medien)philologischen Fragen des Schreibens und Korrigierens in Abrams’/Dorsts S. siehe Hasebrink, Felix/Klomfaß, Vanessa/Richter, Fynn-Adrian (2021). Korrekturszenen. Eine (medien)philologische Annäherung an Abrams’ und Dorsts S. (2013). In: Balint, Iuditha/Eggert, Janneke/Ernst, Thomas (Hrsg.). Korrigieren. Eine Kulturtechnik. Berlin: De Gruyter 2022 [im Erscheinen]. 10 Vgl. Abrams, Jeffrey J./Dorst, Doug (2013). S. Edinburgh: Canongate Books. vii. 11 Vgl. ebd., 29. 12 Obwohl aufgrund seines oralen Ursprungs eine Vielzahl an Varianten des Mythos existiert, beziehe ich mich zunächst ausschließlich auf die Fassung Ovids, die er im sechsten Buch seiner Metamorphosen präsentiert, da sich diese zum einen als nachhaltig beeinflussend für die Literatur erwies und zum anderen deutlich als Referenztext der Re-Inszenierung durch Abrams und Dorst erkennbar ist.

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Groß im Erfinden/ist der Kummer, Geschicklichkeit stellt sich ein, wenn die Not ruft./ Schlau befestigte sie am barbarischen Webstuhl den Zettel,/wob in die weißen Fäden purpurne Schriftzeichen, die den/Frevel anzeigten, gab dann einer das fertige Werk und/bat sie durch Gesten, diese der Herrin zu bringen. Sie folgte,/trug es zu Prokne und wusste nicht, was sie darin überbrachte./Da entrollte das Tuch die Gattin des grausamen Herrschers,/las das bejammernswerte Gedicht ihrer Schwester, und – dass sie’s/konnte, ein Wunder! – sie schwieg.13

Indem Philomela eine Botschaft in das Textil einwebt, kann sie der Schwester ihre Leidensgeschichte mitteilen: Der Text steckt somit – seinen etymologischen Wurzeln entsprechend (von Lateinisch textus = Gewebe) – im gewebten Werk.14 Obwohl das lateinische notas als „mark, sign; letter; word; writing; spot; brand, tattoo-mark“15 übersetzbar ist und damit „gleichermaßen als Schriftzeichen und bildhafte Darstellung interpretiert werden kann“,16 setzt sich in einer Vielzahl der deutschen Übersetzungen (und so auch in der vorliegenden von Niklas Holzberg) die Translation ‚Schriftzeichen‘ durch: „wob in die weißen Fäden purpurne Schriftzeichen, die den Frevel anzeigten“.17 Anders als beispielsweise die WebBilder der Arachne18 ist Philomelas textus somit nicht eindeutig als piktoral zu klassifizieren, sondern gleichermaßen skriptural konnotiert. Cédric Scheidegger 13 Ovidius Naso, Publius. Metamorphosen. Lateinisch-deutsch. Hrsg. von Niklas Holzberg (2017). Berlin, Boston: De Gruyter. 320–323 [VI, Z. 574–583]. 14 Henriette Harich-Schwarzbauer weist darauf hin, dass das „Weben als Metapher für Erzählen […] mit Homers Helena in der Ilias inauguriert [wird]“ und Homer, Platon und Ovid als „die Archegeten unterschiedlicher Typen von Weberzählungen nicht wegzudenken [seien]“ (Harich-Schwarzbauer, Henriette (2016). Einleitung. In: Dies. (Hrsg.). Weben und Gewebe in der Antike. Materialität – Repräsentation – Episteme – Metapoetik. Oxford, Philadelphia: Oxbow Books. v–xii. vi [Hervorhebungen im Original]). Für eine detaillierte Auseinandersetzung mit Text(il)metaphern in der Literatur(theorie) siehe außerdem Greber, Erika (2002). Textile Texte. Poetologische Metaphorik und Literaturtheorie. Studien zur Tradition des Wortflechtens und der Kombinatorik. Köln, Weimar, Wien: Böhlau. 15 Nota. In: Morwood, James (Hrsg.) Pocket Oxford Latin Dictionary: Latin-Englisch (3rd edition). 16 Behmenburg, Lena (2009). Philomela: Metamorphosen eines Mythos in der deutschen und französischen Literatur des Mittelalters (= Trends in Medieval Philology 15). Berlin: De Gruyter. 189. 17 Ovid, Z. 577–578. 18 Arachne gilt als eine der bekanntesten Weberinnen der griechischen Mythologie. Sie forderte die Göttin Athene zum Webwettstreit heraus und wurde von dieser zur Strafe für ihren Hochmut in eine Spinne verwandelt. Zu den Geweben der Arachne vgl. u. a. Harrasser; Karin (2017). Die Fabel der Arachne. Im Untergewebe taktiler Medialität. In: Dies. (Hrsg.). Auf Tuchfühlung. Eine Wissensgeschichte des Tastsinns. Frankfurt a. M.: Campus Verlag. 189– 208; Zollinger, Edi (2007). Arachnes Rache. Flaubert inszeniert einen Wettkampf im narrativen Weben: Madame Bovary, Notre-Dame de Paris und der Arachne Mythos. München: Wilhelm Fink; und Harich-Schwarzbauer, Henriette (2016): Over the rainbow. Arachne und Araneola – Figuren der Transgression. In: Dies. (Hrsg.). Weben und Gewebe in der Antike. Materialität – Repräsentation – Episteme – Metapoetik. Oxford, Philadelphia: Oxbow Books. 147–163.

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Lämmle macht in seinem Artikel Einige Pendenzen. Weben und Text in der Antiken Literatur in diesem Zusammenhang auch darauf aufmerksam, dass die Empfängerin der Nachricht, Philomelas Schwester Prokne, das Gewebe „wie eine Buchrolle“19 entrollt (evolvit) und einer Lektüre unterzieht (legit).20 Diese Auslegung ist insofern bedeutsam, als sie impliziert, dass sowohl die prozessuale Arbeit als auch die materiale Konkretion und die Lektüre des Textils sich hier in Analogie zur Schrift und deren Rezeptionsprozess denken lassen. In Anlehnung an Rüdiger Campe lässt sich die eben zitierte Szene daher auch als eine Form der ‚Schreib-Szene‘ interpretieren, definiert als ein „nicht-stabiles Ensemble von Sprache, Instrumentalität und Geste“.21 Folgt man der Lesart von Erika Greber, die die purpurnen Schriftzeichen (purpureasque notas) als mit dem eigenen Blut eingewebte Botschaften interpretiert,22 so gewinnt die Schreibgeste im Mythos eine besondere Form der Körperlichkeit: Die Schreiberin muss zunächst in ihr Hautgewebe eindringen, um an die Schreibflüssigkeit – das Blut – zu gelangen. Schreibkörper und menschlicher Körper (Webstuhl, Fäden und Blut) verbänden sich nach dieser Lesart auf – im wahrsten Sinne des Wortes – eindringliche Weise.23 Wenn auch nicht verstümmelt, sondern aufgrund einer Konspiration ebenfalls der Möglichkeit zur mündlichen Kommunikation beraubt, ist die zeitgenössische Filomela in Abrams’ und Dorsts S. ebenfalls auf ein Medium angewiesen, das an ihrer Stelle ‚spricht‘: Ihr ‚Gewebe‘ ist das Parergon von Ship of Theseus. Steht das Einweben geheimer (und nicht für jede:n entzifferbarer) Botschaften in den paratextuellen Apparat bereits in Genealogie zur mythischen

19 Scheidegger Lämmle, Cédric (2016). Einige Pendenzen. Weben und Text in der antiken Literatur. In: Harich-Schwarzbauer, Henriette (Hrsg.). Weben und Gewebe in der Antike. Materialität – Repräsentation – Episteme – Metapoetik. Oxford, Philadelphia: Oxbow Books. 167–208. 195. 20 Lena Behmenburg weist jedoch darauf hin, dass auch das Verb legere sowohl als „das Lesen von Buchstaben, als auch das Mustern oder ins Auge fassen von Bildern“ übersetzt werden kann (Behmenburg (2009), 189). 21 Campe, Rüdiger (2012). Die Schreibszene, Schreiben. In: Zanetti, Sandro (Hrsg.). Schreiben als Kulturtechnik. Grundlagentexte. Berlin: Suhrkamp. 269–282. 271. 22 Vgl. Greber, Erika (2012). Gewebe/Faden. In: Butzer, Günter/Jacob, Joachim (Hrsg.). Metzler Lexikon literarischer Symbole. Stuttgart, Weimar: J. B. Metzler. 149–151. 150. 23 Zur Körperlichkeit der Schreibszene vgl. u. a. Stingelin, Martin (2012). „UNSER SCHREIBWERKZEUG ARBEITET MIT AN UNSEREN GEDANKEN“. Die poetologische Reflexion der Schreibwerkzeuge bei Georg Christoph Lichtenberg und Friedrich Nietzsche. In: Zanetti, Sandro (Hrsg.). Schreiben als Kulturtechnik. Grundlagentexte (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2037). Berlin: Suhrkamp. 283–304 und Stingelin, Martin (2004). ‚Schreiben‘. Einleitung. In: Stingelin, Martin/Giuriato, Davide/Zanetti, Sandro (Hrsg.). „Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum“. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte (= Zur Genealogie des Schreibens, Bd. 1). München: Wilhelm Fink. 7–21.

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Philomela,24 so intensiviert der Roman dieses Verfahren noch, indem er die Decodierungen der Nachrichten von der syntaktischen Ebene auf die Zeichenebene verschiebt.25 Antikem Mythos wie postmoderner Transformation ist somit die Grundidee vom Text im Text ‚eingeschrieben‘,26 wobei der multimodale Roman den im textus enthaltenen Text nicht lediglich beschreibt, sondern visuell erfahrbar macht und auf einer Meta-Ebene über diese Konstellation reflektiert. Anders als bei der antiken Philomela haben die Mitteilungen jedoch nicht das Ziel, von erlittenen Grausamkeiten zu berichten, sondern mit dem verschollenen Autor Straka in Kontakt zu treten. Filomela Caldeira versucht Straka über eine Konspiration in Kenntnis zu setzen, ihm den eigenen Aufenthaltsort mitzuteilen, um ein Treffen zu initiieren und setzt sich zu diesen Gunsten über den ausdrücklichen Willen des Autors hinweg: No book of Straka’s has ever included a foreword, a translator’s note, footnotes, or any other additional text; the author was adamant that only his writings should appear between the covers of his books. Am I then violating his authorial wishes now?

24 Zu den verschiedenen Deutungsmöglichkeiten, warum Prokne Philomelas Botschaft entziffern kann, die überbringende Magd jedoch nicht, vgl. u. a. Behmenburg (2009), 189–195. 25 In den Fußnoten eines jeden Kapitels sind Nachrichten versteckt, die mit einem jeweils anderen Code verschlüsselt sind. Die Botschaft des ersten Kapitels setzt sich beispielsweise aus dem jeweils ersten Buchstaben des ersten Wortes und dem letzten Buchstaben des letzten Wortes einer Fußnote zusammen. Weitere Beispiele sind die Verwendung der ‚Playfair cipher‘ und die ‚Nihilist cipher‘. 26 Mit den Relationen zwischen (schriftsprach fixierten) Texten beschäftigt sich auch die Intertextualitätsforschung, die in ihren Theoretisierungen selbst immer wieder auf die GewebeMetaphorik zurückgreift (vgl. u. a. Kristeva, Julia (1980). Desire in Language. A Semiotic Approach to Literature and Art. New York: Columbia University Press). So postuliert etwa Jacques Derrida, dass jede Äußerung „schon durch und durch aus einem Gewebe von Differenzen besteht, insofern es bereits einen Text gibt, ein Netz von textlichen Verweisen auf andere Texte, als es eine textliche Transformation gibt, bei der jedes angeblich ‚einfache Glied‘ durch die Spur eines anderen gekennzeichnet ist“ (Derrida, Jacques (1986). Semiologie und Grammatologie. Gespräch mit Julia Kristeva. In: Ders. Positionen. Graz/Wien: Passagen. 52– 82. 78). Der metaphorische Gebrauch der textilen Terminologie versinnbildlicht somit die dialogische Relation zwischen Texten und bringt zum Ausdruck, dass jedem Text bereits Gedanken, Strukturen und Äußerungen vorangegangener Texte inhärent sind (vgl. Bachtin, Michail M. (1979). Zur Methodologie der Literaturwissenschaft. In: Ders. Die Ästhetik des Wortes. Frankfurt/Main: Suhrkamp. 339–357). In dem Sinne wie Barthes‘ Konzept vom ‚Tod des Autors‘ sich gegen die Vorstellung wendet, ein:e Autor:in besäße jegliche Autorität über ihren/seinen Text, so stellt sich die (durch das philosophische Paradoxon aufgeworfene) literaturtheoretische Frage danach, ob und inwiefern die vorliegende Version von Ship of Theseus als Roman des mysteriösen Autors Straka gelesen werden kann, als inakkurat heraus. Denn – so hebt es Barthes bereits 1973 in Le plaisir du texte hervor – mit dem Gewebe verbindet sich die „generative Vorstellung, daß sich der Text durch ein ständiges Verflechten selbst verfertigt und bearbeitet“ (Barthes, Roland (2010 [1973]). Die Lust am Text. Berlin: Suhrkamp. 80; vgl. zudem Barthes, Roland (2000 [1967]). Der Tod des Autors. In: Jannidis, Fotiset al. (Hrsg.). Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart: Reclam. 185–193).

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Doubtlessly so. But if these words of mine were, somehow, to reach Straka, he would understand my motivations and find them sound and sincere.27

In ihrer philologischen Tätigkeit als Editorin eignet sich die kontemporäre Filomela den Text des männlichen Autor-Subjekts an, und gibt sich – durch Korrekturen, Bearbeitungen und Hinzufügungen – selbst eine ‚Stimme‘.28 Die Weberei als typisch weibliche Tätigkeit und das Textil als – wie Doerte Bischoff und Julie Freytag im Neuen Pauly hervorheben – spezifisch weibliche Artikulationsweise,29 werden sowohl im antiken Mythos als auch im zeitgenössischen Roman assoziativ aufs Engste mit der (literarischen) Textproduktion zusammengeführt.30 Die durch den Roman vollzogene ‚Arbeit am Mythos‘31 transportiert einzelne Mytheme in die realzeitliche Welt und evoziert damit nicht zuletzt auch eine Reflexion der literaturproduktionstechnischen Realität: ‚Weibliches‘ Schreiben (wie das von Autor:innen, Herausgeber:innen und Philolog:innen), so legt es dieser Passus nahe, scheint auch im 20. und 21. Jahrhundert einer Selbstermächtigungsgeste zu bedürfen.32 Filomela Xabregas Caldeira wird durch ihre Selbstermächtigung schließlich zur zentralen Kommunikatorin des Romans, bei der die einzelnen Erzählstränge zusammenlaufen: Denn die schriftsprachliche Fixierung und buchförmige Konservierung lässt ihre Botschaften die Zeit überdauern und ermöglicht es 27 Abrams/Dorst (2013), xiii f. 28 Der Modus Procedendi, in dem F.X. Caldeira Eingriffe an Strakas Werk vornimmt, erinnert signifikant an Vladimir Nabokovs Pale Fire (1962). In beiden Werken werden (posthum) die literarischen Ergüsse fiktiver Schriftsteller (John Shade und V. M. Straka) von fiktiven Herausgeber:innen (Charles Kinbote und F. X. Caldeira) publiziert und um einen imposanten Anmerkungsapparat ergänzt. Obwohl sich beide Herausgebenden in ihren Vorworten als Freunde bzw. enge Vertraute der Schriftsteller inszenieren, die um deren Präferenzen wissen, setzen sie sich zugunsten eigener Absichten über die Autorenintentionen hinweg. 29 Vgl. Bischoff, Doerte/Freytag, Julie (2008). Philomela und Prokne. In: Moog-Grünewald, Maria (Hrsg.). Mythenrezeption. Die antike Mythologie in Literatur, Musik und Kunst von den Anfängen bis zur Gegenwart (= Der neue Pauly Supplemente 5). Stuttgart, Weimar: Metzler. 590–595. 591. Doch nicht nur die Verarbeitung eines Fadens zum Gewebe, sondern auch bereits das Spinnen des Fadens ist weiblich konnotiert, wie Gerburg Treusch-Dieter herausarbeitet (vgl. Treusch-Dieter, Gerburg (o. A.). Wie den Frauen der Faden aus der Hand genommen wurde. Die Spindel der Notwendigkeit [mit einem Beitrag von Werner Siebel]. Berlin: Ästhetik und Kommunikation). 30 Zur Funktion von Schreiben und Schrift in bzw. der Mythen siehe u. a. Schmitz-Emans, Monika (2013). Vom Schreiben der Mythen und von den Mythen des Schreibens. Die Beziehung zwischen Mythos und Literalität als Thema zeitgenössischer Autoren. In: Andermann, Kerstin/Jürgens, Andreas (Hrsg.). Mythos – Geist – Kultur. Festschrift zum 60. Geburtstag von Christoph Jamme. München: Wilhelm Fink. 83–97. 31 Vgl. Blumenberg, Hans (1979). Arbeit am Mythos. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 32 Zum weiblichen Schreiben bzw. der weiblichen Artikulation im antiken Mythos vgl. insbesondere das Unterkapitel ‚Sprache von Gewicht: Formen femininer Artikulation‘ (S. 211–227) bei Behmenburg (2009).

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den Literaturwissenschaftler:innen Jen und Eric die verschlüsselten Nachrichten auch knapp sechzig Jahre nach der Publikation von Ship of Theseus noch zu decodieren.33

3.

Volatiler Text: Wo Gewebe und Gefieder sich treffen

Selbst diese postmoderne Filomela, die – wie die vorangegangenen Herausarbeitungen gezeigt haben – bereits eine Transformation und Aktualisierung der antiken Philomela-Figur darstellt, wird noch einmal metamorphosiert. Ihre ‚Metamorphose‘ vollzieht sich jedoch nicht als Gestaltwandel im Sinne der mythologischen Philomela,34 sondern zunächst einmal verbaliter: Nach einem vorgetäuschten Tod lebt sie in Brasilien unter dem Pseudonym Emelinda Pega, wobei pega der portugiesische Begriff für Elster ist.35 Der ornithologische Bezug, der bereits im Namen ‚Filomela‘36 angelegt ist und sich dann weiter über den Nachnamen ‚Pega‘ erstreckt, wird über die Einlagen, die in einem signifikanten Maße zur Multimodalität des Romans beitragen, noch stärker akzentuiert. Eric, der Filomela buchstäblich hinterherfliegt – wodurch sich schließlich die Erzählfäden der (fingierten) Produktionsebene und die der (ebenso fingierten) Rezeptionsebene weiter verknoten – gibt seine Brasilienreise als vogelkundliche Expedition aus und bezeichnet Filomela Caldeira auf seinen Postkarten stets als ‚nightingale‘. Seine ornithologischen Chiffren, die er aus Angst vor den unerwünschten Blicken Dritter verwendet, erinnern dabei signifikant an die Codierungen der ‚eingewebten‘ Geheimbotschaften des Parergons. Dabei entfalten die als dreidimensionale Einlagen zwischen den Buchseiten von Ship of Theseus integrierten Postkarten die Vogel-Thematik gleichsam tex33 Der Suggestion zufolge ist Ship of Theseus 1949 herausgegeben worden und die Kommunikation zwischen Jen und Eric findet in den 2010er Jahren statt. Der Code des letzten Kapitels bleibt jedoch von ihnen ungelöst und muss (mittels einer dem Roman beigelegten Dechiffrierscheibe) von den Rezipient:innen von S. entschlüsselt werden, wodurch auch sie aufgefordert sind ‚philologisch‘ bzw. ‚detektivisch‘ tätig zu werden. 34 Nach der Befreiung Philomelas wollen die beiden Schwestern gemeinsam Rache an Tereus üben, indem sie dessen Sohn Itys töten und ihn seinem unwissenden Vater zum Mahl servieren. Als Tereus erfährt, dass er seinen eigenen Sohn verspeist hat, versucht er die Schwestern mit dem Schwert zu töten, woraufhin die Götter – zur Strafe für Betrug, Vergewaltigung, Verstümmelung, Entführung, grausame Ermordung, Zerstückelung und Kannibalismus – schließlich alle Beteiligten in Vögel verwandeln. 35 Das gewählte Pseudonym stellt eine Verbindung zum Autor dar: Straka bedeutet auf Tschechisch ebenfalls Elster. 36 Da sich in der abendländischen Tradition die Verwandlung Proknes in eine Schwalbe und Philomelas in eine Nachtigall als finales Mythos-Bild durchgesetzt hat (vgl. u. a. Behmenburg (2009)), wird der Name Filomela bis heute häufig synonym mit dem Begriff Nachtigall verwendet.

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tuell wie piktoral. Darüber hinaus performieren sie aber auch ihren volatilen (von lateinisch volatilis = fliegend, flüchtig) Status: Beim Umblättern der Buchseiten verlassen die mobilen Postkarten in einer gewissen Eigendynamik den Buchraum und dringen in den Rezeptionsraum der Leser:innen von S. ein. Der Roman evoziert auf diese Weise eine Überlagerung von Narrations- und Rezeptionsraum und lässt so einzelne Erzählfäden des Buchgewebes in einem buchstäblichen Sinne erfassbar werden. Die sowohl textlichen als auch bildlichen, räumlich fixierten wie mobilen Referenzen auf antike Mythen (allen voran des Philomelaund-Prokne-Mythos) führen zu einer nahezu ‚topologischen‘ Anordnung der mythologischen Narrative – ‚topologisch‘ in dem Sinne, dass die Anordnung interferierender Mytheme im physischen (Buch)Raum dergestalt organisiert ist, dass eine Rezeption eben aufgrund dieser spezifischen Bucharchitektur nicht chronologisch erfolgen muss bzw. kann. Diese ‚Topologie‘ fordert geradezu Brüche und Sprünge im Leseverhalten ein und macht so nicht zuletzt auf die Dreidimensionalität des Buchkörpers aufmerksam.37 Insofern die spezielle visuelle und haptische Ausgestaltung des Buches (wie beispielsweise die simulierte Leinenstruktur des Einbands), ebenfalls als eine Form des Zitats gelesen werden kann – der Zitation traditioneller (und zum Teil antiquierter) Herstellungsverfahren und Buchmaterialitäten –, reflektiert der Roman seine eigenen medialen und kulturtechnischen Apriori. Von besonderer medienphilologischer Relevanz ist dabei der Umstand, dass die Herstellung solch analog und singulär wirkender Buchwerke jedoch erst durch den Einsatz digitaler Technologien in diesem Umfang überhaupt möglich geworden ist: Das Zelebrieren der Codexförmigkeit und die Zurschaustellung des Analogen sind somit auf das Digitale angewiesen. Wie die vorausgegangenen Herausarbeitungen gezeigt haben, lässt sich Abrams’ und Dorsts S. nicht nur als Labyrinth-Buch bezeichnen, das den Irrgang gewissermaßen zum Programm erhebt, sondern präsentiert sich auch als WebWerk bzw. Gewebe: Das Buchwerk stellt seine eigene (inhaltliche wie materielle) Heterogenität ostentativ aus und inszeniert sowohl auf inhaltlicher als auch auf struktureller Ebene ein exzessives Zitatspiel mit konkreten Buchmaterialitäten sowie Werken der Hoch- und Populärkultur. Die Erzählfäden kreuzen sich in S. wie Kett- und Schussfäden und erzeugen ein Gewebe von Kontingenzen – ein Gewebe, in das sich der berühmte Ariadnefaden integriert, ohne direkt als roter Faden sichtbar zu werden.

37 Zur Dreidimensionalität des Buches vgl. insbesondere Spoerhase, Carlos (2016). Linie, Fläche, Raum. Die drei Dimensionen des Buches in der Diskussion der Gegenwart und der Moderne (Valéry, Benjamin, Moholy-Nagy). Göttingen: Wallstein.

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Treusch-Dieter, Gerburg (o. A.). Wie den Frauen der Faden aus der Hand genommen wurde. Die Spindel der Notwendigkeit [mit einem Beitrag von Werner Siebel]. Berlin: Ästhetik und Kommunikation. Wirth, Uwe (2008). Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion. Editoriale Rahmung im Roman um 1800: Wieland, Goethe, Brentano, Jean Paul und E. T. A. Hoffmann. München: Wilhelm Fink. Zollinger, Edi (2007). Arachnes Rache. Flaubert inszeniert einen Wettkampf im narrativen Weben: Madame Bovery, Notre-Dame de Paris und der Arachne Mythos. München: Wilhelm Fink.

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Cécile Neeser Hever

De-Marginalizing Antigone’s Sister: A Postmodern Take on Tragedy

Abstract Sophocles’ Antigone embodies a transgressive and sacrificial model of heroism. Her sister Ismene, on the other hand, has long been considered a figure of fearfulness, passivity and conventional femininity and has accordingly been disregarded by commentators and writers alike. Yet recent rewritings of the Antigone myth have chosen to subvert the traditional role of Antigone’s sister: Ismene is freed from her secondary character and finds herself brought to the forefront. This is the case in Jeremy Menekseoglu’s Ismene, a play in two acts first staged in 2004. Ismene moves away from the masculine model of tragic heroism and is inspired instead by the paradigmatic heroine of the contemporary slasher film: the surviving Final Girl. Through this new lens, Ismene’s femininity, as well as her choices – the rejection of self-sacrifice and the choice of life over death – are reinterpreted and reevaluated. Keywords: tragedy, Ismene, Antigone, femininity, postmodernism Antigones past and present have proved beyond inventory. Already, there are so many gathering in the twilight of tomorrow. – George Steiner, Antigones, 19841

This observation by George Steiner, in the last lines of his 1984 work Antigones, appears today both premonitory and more relevant than ever. 2500 years after its first stage production, Sophocles’ Antigone continues to inspire numerous rewritings and adaptations, varied in both genre and language.2 1 Steiner, George (1984). Antigones. How the Antigone Legend has endured in Western Literature, Art and Thought. New Haven, London: Yale University Press. 199. 2 For a synthetic, albeit necessarily non-exhaustive survey of Antigone’s many reincarnations throughout time and place, in theater, literature and film, see Fradinger, Moira (2010). Nomadic Antigone. In: Söderbäck, Fanny (ed.). Feminist Readings of Antigone. Albany: State University of New York Press. 15–23. The French collective volume Les Antigones contemporaines (de 1945 à nos jours) focuses on Antigone’s meanderings after 1945, but also on the the Iberian and Latin American linguistic and cultural contexts, as well as on feminist rewritings which, the authors show, had been severely underrepresented in Steiner’s work

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Cécile Neeser Hever

This essay addresses a phenomenon situated in the margins of this everprolific contemporary practice: rewritings of Sophocles’ play which shift the focus from Antigone to her sister Ismene, thus bringing a marginal character from the mythological tradition to the forefront. This choice is both paradoxical (turning a non-heroine into a heroine, a marginal character into a central one), and extremely contemporary. Already in the 1960’s and the 1970’s, there have been efforts to revalorize the figure of Ismene: Satoh Makoto’s Japanese experimental play Ismene (1966) and Yánnis Rítsos’ Ismene, a monologue in modern Greek (1972). But the appeal of Antigone’s little sister appears to have grown tremendously in the last two decades: between 1999 and 2018, there have been, to my knowledge, at least nine rewritings which have liberated Ismene from her marginal position in Sophocles’ play, while questioning and reevaluating her relationship to Antigone, heroism, and tragedy itself.3 This essay examines a play particularly symptomatic of Ismene’s resurgence in contemporary theater: Ismene, by playwright and director Jeremy Menekseoglu, which premiered in Chicago in 2004.4 Set after the events of the Antigone, its tension is built on whether Ismene will resist or capitulate to “tragedy”, understood both as a literary genre and more widely, as an almighty destiny and an all-powerful de(Duroux, Rose/Urdician, Stéphanie (eds.) (2010). Les Antigones contemporaines (de 1945 à nos jours). Clermont-Ferrand: Presses Universitaires Blaise Pascal). 3 This phenomenon constitutes a corpus of its own, but can also be understood in a broader context, as a form of “minor-character elaboration”, as theorized by Jeremy Rosen (2016). Minor Characters Have Their Day: Genre and the Contemporary Literary Marketplace. New York: Columbia University Press. 4 The play, a creation of the Dream Theatre Company, of which Menekseoglu was the founder and artistic director, premiered on January 8, 2004, under the stage direction of Mia Kuziko. In 2011, as part of The Ismene Project, it was staged simultaneously in ten theaters in Chamberlain, Chicago, Dublin, Las Vegas, Los Angeles, St. John’s, and Toronto, with the proceeds from these performances going to breast cancer charities (https://www.youtube.com/watch? v=Xxq3mThi5EU&ab_channel=sharonkingcampbell, Status: 23/02/22). The play has been translated to German (trans. Anke Ehlers (2005). Munich: Theaterstückverlag) and staged at least two times: by the Schauspielgruppe Spiel-Betrieb in Stuttgart in 2011 (stage direction: Alexander Braun and Ralf Puhane) and by the Kultgestöber Produktion in Vienna in 2014 (stage direction: Franz Schiefer). In 2018, Jeremy Menekseoglu was accused of moral and sexual harassment by several actresses of his company. Following the publication of a report containing the testimonies of the actresses, the Dream Theatre Company’s Facebook page has been removed (the company had not maintained a website since 2016). See Douglass, Sean (2018). Six Women Allege Physical, Emotional Abuse at Dream Theatre Company. The Clyde Fitch Report, February 22 2018. Available at: https://www.clydefitchreport.com/2018/02/men ekseoglu-dream-theatre/ (Status: 23/02/2022) and Henry, Alan (2018). Six Actresses Accuse Chicago’s Dream Theatre Company Artistic Director Jeremy Menekseoglu of Abuse, The Broadway World. Available at: https://www.broadwayworld.com/article/Six-Actresses-Allege -Chicagos-Dream-Theatre-Company-Artistic-Director-Jeremy-Menekseoglu-of-Abuse-20180 223, (Status: 23/02/2022). It is extremely difficult to find more information, both about this scandal and about the fate of Jeremy Menekseoglu and his company since then.

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terminism. Through a meta-discursive reflection on the tragic, both as genre and as ethos, the author questions the ability of the individual to free herself from determinism and from a tradition considered oppressive. To do so, he turns Ismene into a protagonist. The play is set about a year after Antigone’s death. As the last survivor of the cursed Oedipean family in whose veins run “death” and “tragedy”, Ismene is harassed by the “Chorus”, a menacing, sinister-looking collective, which follows her “like a parade of despair”, eagerly awaiting the “catastrophe” to finally reach her: I went out into the streets of Thebes and saw them: The Chorus. Only now they said that they were my Chorus. They came from everywhere- old men, philosophers, hunters, homeless beggars, rotten crones with their faces buried in newspaper, crippled children dragging themselves on carts- they began following me wherever I went. They whispered, poor girl- poor daughter of Oedipus, poor sister of Antigone, poor- useless girl. […] Disaster! Ruin! Despair! She’s all that remains of that poor family of Oedipus and Jocasta. Death and tragedy must run in their veins. […] A Chorus of thousands. […] I knew then why my sister and my father and my uncle and my mother and my brothers and my cousin… I finally understood why they did what they did and died as they died…5

Creon, who cannot bear the presence of these “doomsayers and augurs of death”6, sends Ismene to what appears to be a secluded boarding school for unruly girls. The action opens immediately after an earthquake has killed the entire Chorus. Ismene, the only survivor, reaches the boarding school, which the spectator gradually understands to be a sanctuary, and finds herself in the company of other survivors from the horrors of the Greek mythological world (among them Iphigenia, Procne, and Philomela, here “Philomena”). In the midst of the din of the dormitories and the disputes of the teenage girls, this strictly female staff is joined by a male figure: Te, a “Messenger”, who increasingly appears as a threatening presence, and finally reveals himself to be the god Apollo, a sadistic figure thirsting for human suffering. He has come to bring out Ismene’s death and thus conclude the “tragedy”, that is, the curse he himself cast on the Labdacides. After making the other residents disappear one-by-one, he turns them into a new “Chorus”, a hypnotized group entirely at his orders, necessary to play out Ismene’s “tragedy”, while the real Chorus, returned from the dead, assemble at the doors of the school. Apollo tries to make Ismene succumb to the temptation of suicide by presenting her with the needles used by Oedipus to blind himself. Ismene then understands that the god has manipulated her entire family before her and sadistically led them to what the play calls their “tragedy”. Ismene will be the first to resist him. 5 Menekseoglu, Jeremy (2004). Ismene. Act I, Scene 1, 1. (Hereafter: I). 6 Ibid.

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1.

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A “merely feminine” Ismene: tragic heroism as a masculine model

According to George Steiner’s somewhat cavalier formula, Sophocles’ Ismene is “the blonde, hollow one”.7 This double epithet can be read on two different levels. First, it evokes, in a most lapidary way, a stereotypical femininity: blond and hollow – these two adjectives going hand in hand. At a second level of meaning, however, it describes with great precision the dramaturgical function of Ismene in Sophocles’ play. The Antigone-Ismene pair functions like a binary opposition: by contrast and hierarchy. Ismene embodies everything her sister, as a tragic heroine, dismisses: fearfulness, passivity, weakness, the choice of life over sacrifice and a submissive kind of femininity, which form the backdrop against which Antigone’s tragic and sacrificial heroism stands out.8 Her character is thus both antithetic and relative to that of Antigone, as well as necessary to the latter’s characterization as a heroine. Among the arguments put forward by Ismene in her plea to Antigone to refrain from exposing herself to death by burying their brother Polynices, the most memorable is their nature as women, which, according to her, makes them unfit for struggle: Nay, we must remember, first, that we were born women, as who should not strive with men; next, that we are ruled of the stronger, so that we must obey in these things, and in things yet sorer.9

If Ismene is Antigone’s foil, it is first on gendered terms: in order to emerge as a hero, Antigone has to distance herself from feminine identity; her rejection of Ismene’s cautious and submissive stance is all the more violent as she is herself a woman. Indeed, if Antigone’s action has frequently been understood as the act of putting forward feminine prerogatives of family loyalty against the claims of the State,10 it can be said to be motivated by the pursuit of glory as well (“And yet, for glory–whence could I have won a nobler, than by giving burial to mine own 7 Steiner (1984), 144. 8 The pair of contrasting sisters, one courageous, the other timid, one looking for glory, the other pressing for reason and life, is a device that Sophocles would use again decades later in his Electra, in which the eponymous heroine confronts a somewhat paler sister (the name Chrysothemis, Steiner recalls, entails “goldness” but can also be read as “blondness”, even “paleness”; ibid., 145). 9 Sophocles. Antigone. L. 61–64. All citations from Sophocles’ Antigone are from Richard C. Jebb’s translation: Sophocles. The Plays and Fragments. With Critical Notes, Commentary and Translation in English Prose. Volume 3: The Antigone. Cambridge: Cambridge University Press (2010 [1888]). 10 As in Hegel’s reading. Hegel, G. W. F (1977 [1807]). Phenomenology of Spirit, trans. A. V. Miller. New York: Oxford University Press. § 429–476.

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brother?”11). Antigone claims for herself a “beautiful death”, an expression traditionally used to describe the death of Athenian and Spartan citizen-soldiers on the battlefield.12 As Nicole Loraux points out, the “beautiful death” is a model of andreia, a soldier’s – a man’s – prerogative.13 Creon himself feels insecure in his own masculinity, threatened both by Antigone’s transgressiveness and her proud insolence: This girl was already versed in insolence when she transgressed the laws that had been set forth; and, that done, lo, a second insult,—to vaunt of this, and exult in her deed. Now verily I am no man, she is the man, if this victory shall rest with her, and bring no penalty.14

Among feminist scholars, Sophocles’ Antigone has been a major source of discussion.15 According to Mary C. Rawlinson, for readers such as Judith Butler, Patricia Mills or Seyla Benhabib, Antigone constitutes a heroic figure. She provides a new paradigm of feminist agency against the passivity normally assigned to women and, reputedly, exhibited by her little sister Ismene. These readers identify heroism with Antigone’s willingness to risk her life, and they admire her for this detachment from life. […] Both Benhabib and Butler describe Antigone as “masculine”. […] She transgresses the difference between public and private by transgressing gender, by claiming the agency of a man and deploying it against the state in the name of the family.16

It is not surprising that in such a model of “feminist agency”, which values sacrifice and transgressiveness and rejects traits traditionally associated with femininity, Ismene can only be discarded. Luce Irigaray indeed goes so far as to dismiss her as “merely feminine”.17 Because of her passivity, because she is not ready to sacrifice her life for a principle, and because she does not transgress the boundaries of gender the way Antigone is thought to, Ismene is disqualified from such heroism – and commentators from all sides agree.18 11 Sophocles l. 502–504. 12 “But leave me, and the folly that is mine alone, to suffer this dread thing; for I shall not suffer aught so dreadful as an ignoble death.” (l. 95–97). 13 Loraux, Nicole (1989). La “belle mort” spartiate. In: Les expériences de Tirésias. Le féminin et l’homme grec. Paris: Gallimard. 14 Sophocles l. 480–485. 15 See Söderbäck, Fanny (ed.) (2010). Feminist readings of Antigone. Albany: State University of New York Press. 16 Rawlinson, Mary C. (2014). Beyond Antigone: Ismene, Gender and the Right to Life. In: Chanter, Tina/Kirkland, Sean D. (eds.). The Returns of Antigone. Interdisciplinary Essays. Albany: State University of New York Press. 101–121. 102. 17 Irigaray, Luce (1985). Speculum of the Other Woman (trans. Gillian C. Gill). Ithaca: Cornell University Press. 8. 18 One can nonetheless notice a turning point in recent feminist scholarship since the beginning of the 2010’s. Indeed, Mary C. Rawlinson is but one example of a number of feminist scholars,

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My question, then, is the following: why and how can Ismene, a notoriously non-heroic figure, be turned into a heroine? This question is two-fold, mirroring the two senses of the term heroine: that of main protagonist and that of a tragic heroine. In Sophocles’ Antigone, the divide between (tragic) heroine and nonheroine can be formulated as a question of agency: who acts and who refuses to act? By refusing to join Antigone in defying Creon’s orders and burying their brother Polynices, Ismene remains on the threshold of the tragic action that will turn Antigone into a heroine and this is the reason for the contempt and dismissal, both Antigone – to her sister’s plea, she bluntly replies: “a friend in words is not the friend that I love”19 – and most of Sophocles’ imitators and commentators exhibit towards her. Most contemporary rewritings focusing on the figure of Ismene opt for the form of monologue. By doing so, they do turn her into a central figure, but they still cast her in the role of a storyteller, of a spectator bearing witness to the events that claimed the lives of her family – thus replicating her marginal position and accentuating her lack of agency. Menekseoglu’s play, however, places her at the centre of action. It does so in an explicitly non- or even anti-tragic mode. The shift from Antigone to Ismene is accompanied by an absolute rejection of the values the playwright associates with tragedy, and it involves the allusion to another, extra-literary, tradition, that of the postmodern teen slasher film. Turning, albeit subconsciously, to this model of heroism, which accommodates, not without contradictions, a feminine heroine, Menekseoglu’s play turns Ismene, a non-acting figure par excellence, into a full-fledged agent.

2.

“Not the right heroine”: from Antigone to Ismene

Opting for the second sister as a main protagonist seems to require justification. The play’s foreword explicitly discusses this choice and describes it as a second choice – it was supposed to be an Antigone: Originally this play was to be a retelling of Antigone. I had high hopes of transforming the classic myth into a new story. In this version, Antigone triumphs over Creon’s mostly in the fields of political science and ethics, which propose a rehabilitation of Sophocles’ Ismene similar to that happening in literature. See Honig, Bonnie (2011), Ismene’s Forced Choice. Sacrifice And Sorority in Sophocles’ Antigone. Arethusa 44. 29–68; Honig, Bonnie (2013) Antigone, Interrupted. Cambridge: Cambridge University Press; Engelstein, Stefani (2011). Sibling Logic; or, Antigone Again. PMLA 126:1. 38–54; Engelstein, Stefani (2017). Sibling Action. The Genealogical Structure of Modernity. New York, Columbia University Press; Rawlinson, Mary C. (2016). Just Life. Bioethics and the future of sexual difference. New York: Columbia University Press. 19 Sophocles l. 543.

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decree, not by disobeying it or through self-sacrifice, but by following it to the letter. By not only letting Polynices rot outside the gates of Thebes, but by bringing all to see his corpse and tell them his story. By doing this, the people of Thebes would, almost unconsciously, transform the land around his body into a great shrine, far greater than any state burial could provide.20

But such an outcome, as it turns out, cannot be achieved by Antigone. The author continues: But, as always happens with any idea that you fall in love with, things got weird. First of all, Antigone was not the heroine for that kind of story. Anouilh describes her in his play as a girl who does not think, only feels. Does not reason, but acts. This girl had no place in my play. Since Sophocles wrote her tragedy 2,500 years ago, Antigone has always been treated as a symbolic champion for The Laws of God over the Laws of the State. It is a story about morals that cannot be questioned. Arguments that cannot be won. Reason that relies on mystical beliefs whether you speak of the will of the gods or the will of the state. They are the same thing. They both rely on human sacrifice whether for good of god or the good of the people. Sacrifice, death, and tragedy, for a god who claims to need blood in order to grow and the life of its children in order to exist? No, Antigone was not the right heroine. But who in the story spoke of reason? Who in the story spoke of life? Who in the story spoke of love and joy? Who spoke of the past as a tragedy and the future as a place of hope? Ismene.21

Ismene, the play, is written in place of Antigone, and its main protagonist takes the place of the original heroine who, for the author, was already lacking. His original intention was to alter Antigone’s resistance and replace her frontal disobedience (the transgression of the decree) with a more subtle form of subversion. But for such a non-confrontational, non-antagonistic, non-transgressive subversion, Antigone – who, in Sophocles’ tragedy, hardheadedly defies the laws and knowingly and deliberately exposes herself to death – is not “the right heroine”. Enter Ismene, the one who “spoke of reason”, who “spoke of life”, who “spoke of love and joy” and who “spoke of the past as a tragedy and the future as a place of hope”: all the characteristics that disqualify her as a tragic heroine are listed here as arguments for her revalorization: hope against death, reason against feeling,22 life against “morals that cannot be questioned” and that “rely on human sacrifice”. Whereas it is most often because of her pragmatism, her appeal to 20 Menekseoglu, Jeremy (2004). Forward [sic]. In: I. ii (emphasis added). 21 Ibid. 22 The dichotomy between thinking and feeling, already at play in Sophocles (“for ‘tis witless to be over-busy”, says Ismene to Antigone, l. 67–68), seems to be borrowed from Anouilh (“ISMENE: Listen, I’ve been thinking all night. I am the eldest. I think more than you do. You just do what comes into your head right away, and it doesn’t matter if it’s nonsense. I’m more level-headed. I think”. Anouilh, Jean (1946). Antigone. Paris: La Table Ronde. 24 [my translation]).

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reason, her refusal of sacrifice and her choice of life that Sophocles’ Ismene is discarded,23 these very traits are celebrated here. The last argument put forward by Menekseoglu is implicit: Ismene is the only one left. But the foreword presents her survival as a distinction: surviving the catastrophe of Antigone singles her out from the totality of the cast of Sophocles’ play (Creon – a survivor like her – is declared “alone and broken”, and his name concludes the enumeration of the dead): So when Antigone dies, Haemon dies, the Queen hangs herself, and Creon is left utterly alone and broken, what happens next? What happens in a world where tragedy only begets more tragedy? Someone will finally have to stand up and say, “no more.” Ismene was written.24

A similar gesture of singularization is at play in the list of characters. Ismene, who appears first, is not presented in her relationship to Antigone: “Ismene, youngest daughter of Oedipus”.25 She is admittedly not entirely exempt from any relative characterization (that of her position in the Oedipean genealogy), but the defining relationship is to her father rather then to her sister. This relative characterization is coupled with a form of singularization: the superlative “youngest” (there is, there can only be, one “youngest daughter” of Oedipus) sets her apart and at the same time links her to a lineage where all are relegated to the same level (in a way comparable to the way in which the foreword lists the dead while singling Ismene out). By inscribing his Ismene in the continuity of a “tragic” genealogy while at the same time claiming for her an individuality and freedom of choice of her own, Jeremy Menekseoglu liberates the character from her dichotomous and relative relationship to her sister and accentuates her position as both marginal and singular within the Labdacides family. Her singularity is presented as a given, and the autonomy she will have to conquer will be vis-à-vis the weight of the family curse and of tragic determinism. The foreword, while accounting for the motivation to shift the focus from Antigone to Ismene, also implicitly sketches out two ways by which the play itself will turn her into a heroine: by accentuating her singularity as a main protagonist; and by inverting the values associated with the two sisters: sacrifice vs. survival; strength vs. weakness, resistance vs. passivity.

23 See Steiner (1984), 144–151. About the appropriation of the Antigone myth by feminist authors, he writes: “The Antigones are now on the march. Is there a place left for the classical femininity of Ismene, for her avoidance of death?” (Steiner (1984), 151). 24 Menekseoglu (2004), ii. 25 Ibid., iv.

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3.

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Survival as heroism: A Portrait of Ismene as a Final Girl

By changing heroines, this rewriting of the Antigone also changes temporalities and is no longer, in the strict sense of the term, a rewriting, but rather a sequel. Indeed, one observes an overlap between the action’s internal temporality and that of the writing insofar as the survival of Ismene as a character in Antigone is given as the reason for her availability and (pre-)disposition to become the heroine of this new play. As its only survivor, Ismene seems all the more apt to help reflect on the limits – in particular the temporal limits – of tragedy: “What happens in a world where tragedy only begets more tragedy?”. Indeed, not only the temporality of the action and that of the writing overlap, but also the two meanings of the term “tragedy”. Like Ismene the character, who rises to say “no more” to the endless misfortunes and to the family curse, Ismene, the play, claims to say “no more” to tragedy as a genre. Paradoxically, Ismene gives a sequel to the tragedy in an attempt to put an end to tragedy. Although it renounces tragedy as genre and uses the terms “tragedy” and “tragic” in a loose and often imprecise way, the play retains two of its characteristic formal elements, the chorus and the messenger, which function as symbolic markers of the genre, while being divested of their traditional dramaturgical functions (commentary of the action for the chorus; and narration of an off-stage action for the messenger). By turning the chorus into a crowd of undead and the messenger into a psychopath, the play also activates a second, intermedial, intertext: that of the horror film, more precisely of the teen slasher, a subgenre where a masked killer attacks a group of teenagers with a knife. This intermedial reference has two (related) effects: it sheds a parodic, postmodern light on the tragedy genre and it redefines the term heroine, enabling Ismene to fit its profile. The notion of “Final Girl” was coined by Carol J. Clover in 1987 to describe the heroine of horror films, in particular of the slasher. In her 1992 book, Men, Women and Chain Saws, she writes: The image of the distressed female most likely to linger in memory is the image of the one who did not die: the survivor, or Final Girl. She is the one who encounters the mutilated bodies of her friends and perceives the full extent of the preceding horror and of her own peril; who is chased, cornered, wounded; whom we see scream, stagger, fall, rise, and scream again. She is abject terror personified. If her friends knew they were about to die only seconds before the event, the Final Girl lives with the knowledge for long minutes or hours. She alone looks death in the face, but she alone also finds the strength either to stay the killer long enough to be rescued (ending A) or to kill him

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herself (ending B). But in either case, from 1974 on, the survivor figure has been female.26

The heroine of the teen slasher – most paradigmatically embodied by Sidney Prescott (Neve Campbell) in Wes Craven and Kevin Williamson’s meta slasher franchise, Scream27 – is characterized by her eventual status as the sole survivor. As the villain in Scream 4 puts it: “How do you think people become famous anymore? You don’t have to achieve anything. You just gotta have fucked up shit happen to you”.28 Surviving “some fucked up shit” is indeed also – mutatis mutandis and in the much cruder vocabulary of contemporary US-American cinema – the one and only feat of arms of Sophocles’ Ismene. Like the Final Girl, she “perceives the full extent of the preceding horror” by witnessing the annihilation of her entire family. This trait, a given from the Sophoclean hypotext, is accentuated and reevaluated by Menekseoglu: Ismene’s survival of the catastrophes of Oedipus Rex and Antigone is redoubled in this play by the fact that she enters the stage as the only survivor of a most recent catastrophe. Her clothes “bloody” and hands “black with soot”29, she proceeds to narrate the earthquake that killed the Chorus: The Chorus has been killed. […] The mountains trembled beneath their feet. Boulders came down and crushed their bones. Large tears in the earth opened and they fell. Wind and rain and lightning flashed! But still their eyes were only on me. This, they moaned against the howling, this must be the great tragedy that we’ve been waiting for! This! Watch the earth eat her! And I hung to a tree screaming – I clawed the branches and watched them staring. I watched the rocks slide over them.30

Already twice a survivor at the outset of the play, Ismene is all the more likely to triumph over the “tragedy” and the manipulations of Apollo and to become the Final Girl of this play. How? Precisely by displaying all the features that disqualify her as a tragic heroine, or rather, that characterize her as Antigone’s counterimage and foil: her choice of life, her rejection of sacrifice, and her practical intelligence. In her final confrontation with Apollo, Ismene’s common sense even helps her preserve her mental integrity and courage. As the god tells her about the 26 Clover, Carol J. (2015 [1992]). Men, Women and Chain Saws: Gender in the Modern Horror Film. Princeton & Oxford: Princeton University Press. 35. 27 Created by Kevin Williamson, and partly directed by Wes Craven, the franchise has four installments: Scream (1996) Scream 2 (1997), Scream 3 (2000), Scream 4 (2011). A fifth installment is announced for 2022. 28 Craven, Wes (dir.)/ Williamson, Kevin (script) (2011). Scream 4. Dimension Films. 29 I Act I, Scene 1, 1. 30 I Act I, Scene 1, 2.

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curse he cast on the Labdacides, she retorts: “That is not prophecy, that is deranged!”31: I was, as you said, poor, poor Ismene. Unwatched, unnecessary, Ismene. But I was not nothing. I was not like the rest of my family, up to their necks with death and prophecy, I did what none of them ever had the time to do: I figured out the prophecy. (Smiles.)32

These character traits closely resemble those of the paradigmatic Final Girl, Sidney Prescott, which film-scholar Valerie Wee describes as “the intelligent and competent female survivor”, “a […] resourceful young woman who manages to prevail over a difficult past […] and defeat her attackers”.33 Within the intermedial reference to the teen slasher, Ismene thus emerges as a Final Girl-styled heroine by embodying the very same qualities that excluded her from tragic heroism – pragmatism, down-to-earth intelligence and, above all, a will to survive: “the Final Girl’s will to survive is astonishing”, writes Clover.34 The reversal of values, from a tragic model of heroism dominated by selfsacrifice and glory, to a new model of heroism where the individual strives to impose herself against predeterminism, also sheds a new light on the character of Antigone: while Ismene’s pursuit of survival singles her out and becomes synonymous with strength and resistance since it amounts to fighting prophecy, Antigone’s sacrifice in Sophocles’ hypotext, in turn, is associated with weakness and capitulation in the face of destiny. In this new generic light, there is no longer any greatness in Antigone’s deed: she succumbed, and “said yes” to tragedy, much like the rest of her family, whereas her sister manages to resist, to, literally, say “no more” (cf. “Someone will finally have to stand up and say, ‘no more’”). Indeed, in the final confrontation, she proclaims: “I know who I am and who my family were. I know that they all went willingly. […] But I won’t.”35 Negation, which is a characteristic of Antigone in the Sophoclean reception (Anouilh, for instance, describes her as the one who “says no”36), is now a feature of Ismene. Similarly, the ability to resist, typically attributed to Antigone, is both newly defined (as resisting the temptation of self-sacrifice and the capitulation to prophecy, rather than resisting iniquitous laws) and reattributed to Ismene’s choice against sacrifice. In a complete reversal, Antigone loses both her superior 31 I Act II, Scene 4, 63. 32 I Act II, Scene 4, 61. 33 Wee, Valerie (2005). The Scream Trilogy, ‘Hyperpostmodernism’ and the Late-Nineties Teen Slasher Film. Journal of Film and Video, 57:3. 44–61. 55. 34 Clover (2015), 36. 35 I Act II, Scene 4, 58. 36 “You should have said no, then!”, says Antigone to Creon: “I did not say ‘yes’! […] I can still say ‘no’ to everything I don’t like and I am the only judge”, and later: “I am here to tell you no and to die”. Anouilh (1946), 78, 82 (my translation).

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position in relation to her sister and her singularity as a tragic heroine, becoming herself the unmarked term of the opposition by being assimilated to the rest of the family, thus representing a weakened norm against which Ismene now stands out.

4.

Postmodernism against tragedy?

Of course, saying “no” and “no more” to tragedy should also be understood at a different level, namely in terms of genre. In this respect, the parallel with the meta-slasher Scream again proves illuminating: in the last scene of the franchise’s first film, just after the villain’s death, Sidney’s friend Randy warns her: “Careful, this is the moment when the supposedly dead killer comes back to life, for one last scare…”. Surely enough, the villain wakes up, but Sidney, after shooting him, retorts: “Not in my movie”.37 This “no” must be heard on a metadiscursive level. Indeed, the Scream franchise is characterized by an extreme and almost allpervasive self-reflexivity, which distinguishes it from earlier slashers of the 1970s and 1980s. It parodies the codes that have become clichés of the genre, and has the characters, themselves horror films fans, explicitly remind the viewer of the genre’s rules even while experiencing the horror scenario, as this last quote shows. As Valerie Wee puts it, “Scream and its sequels are examples of hyperpostmodernism, a distinctive, more advanced form of postmodernism characterized by a heightened, self-conscious degree of intertextual referencing and self-reflexivity.38 This form of metadiscourse in which the characters engage in self-reflexive remarks on the rules of the genre is also found in Menekseoglu’s play, only, this time, about tragedy, for instance when one of the girls reminds Iphigenia that “you can’t die before the Chorus’ eyes, stupid”39 or when, in the climactic ending, Apollo needs “a Chorus” to play out Ismene’s “tragedy”, and when he thinks the moment has come, he shouts : “Chorus, leave us! There can be no death before your eyes!”40 Through a use of meta-commentary similar to that of the Scream franchise, the play engages in a complex game of parody and desacralization of tragedy, which it reduces to a popular genre. At the same time, it establishes the horror film as a classic, thus blurring the boundary between high and low culture. Like those of tragedy, the codes of the slasher are always already known in advance. The horror film in general has the particularity of presenting archetypal narrative 37 38 39 40

Craven, Wes (dir.)/ Williamson, Kevin (script) (1996). Scream. Dimension Films. Wee (2005), 58. I Act I, Scene 4, 15. I Act II, Scene 4, 66.

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patterns. Its repetition, not its originality, is key to its success.41 It is as though there were no first film, because the first film already refers, through its characters, to other previous films. John Carpenter, director of Halloween (1978), one of the classics of the genre, points out: “Basically, sequels mean the same film. That’s what people want to see. They want to see the same movie again”.42 And as in tragedy, everything is played out in advance: we know in advance that the heroine will survive and the villain will be defeated. In the slasher, just as in tragedy, everything happens as if the rules, in what one could call a generic performativity, determine the plot. Anouilh already metadiscursively remarked on the performative character of tragedy, calling it a “well wound up spring”: “It just runs by itself. It’s well thought out, it’s been well-oiled since the beginning of time”.43 But while Anouilh’s Antigone dutifully reminds Ismene that “[e]veryone has to play their part. [Creon] must make us die, and we must go and bury our brother. That’s how the roles were cast”,44 Menekseoglu’s Ismene refuses to “play [her] part”. It is no longer Creon’s law that is considered as oppressive, but tragedy itself. The intermedial parallel between tragedy and the hyperpostmodern teen slasher is, then, twofold: in a postmodern fashion, its protagonist resists “tragedy” as an oppressive fatality, becoming the champion of self-determinism and, according to Lyotard’s famous definition, embodying “incredulity toward metanarratives”45, while the play itself both references and playfully deconstructs the formal elements of tragedy as a genre. To conclude, turning Ismene into “the right heroine” in Menekseoglu’s contemporary, postmodern rewriting, does not involve a transformation of the character herself, her actions or her motives, but rather a tenacious fidelity to the mythical figure as it is handed down by the tradition (both by Sophocles and Anouilh) and a strong re-affirmation of the traits associated with her in the hypotext. In light of a new intermedial generic reference, those very traits which, in Sophocles and most of the mythical tradition, made her a relative and – to quote

41 “[T]he predictability was clearly the main source of pleasure, and the only occasion for disappointment would have been a modulation of the formula, not the repetition of it” Britton, Andrew (1986). Blissing Out: The Politics of Reaganite Entertainment, quoted by Clover (2015), 9. 42 Quoted by Clover (2015), 10. 43 Anouilh (1946), 53 (my translation). 44 Ibid., 24 (my translation). 45 Lyotard, Jean-François (1984 [1979]). The Postmodern Condition A Report on Knowledge, trans. Geoff Bennington and Brian Massumi. Minneapolis: Minnesota University Press. xxiv.

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George Steiner again – “hollow” character, now make her a fully independent heroine. *** If Ismene emerges as a postmodern and feminine heroine, one question remains: can this play and its choices be deemed feminist? In her preface to the most recent reprint of her book, Carol J. Clover evokes with perplexity a certain reception of the notion of the Final Girl, which hails her as “a feminist heroine”, a “female avenger” and even a “triumphant feminist hero”46. This glorifying vision of the Final Girl hides the tension between heroism and victimhood, inherent to this topos. Instead, Clover favors the oxymoronic epithet “‘victim-hero’, with an emphasis on victim”, or that of the “tortured survivor,”47 highlighting that until her final minute of triumph over her assailant, the Final Girl spends most of the film being chased and tortured. When reflecting on the feminist character of Ismene, it is difficult to disregard the fact that Jeremy Menekseoglu has been accused of moral and sexual harassment by several actresses of his company, which was known both for its diverse and complex female roles and for giving acting opportunities to young, newcomer actresses.48 To separate Menekseoglu the “man” from his work is all the more problematic when taking into account that he himself readily intertwines different levels of the artwork and its creative process: Menekseoglu is at the same time the playwright, the company’s artistic director and – in the original production of Ismene in 2004 – the actor playing Te, the Messenger/sadist god. Even though Ismene eventually escapes the god’s embrace, his predation is unmistakably sexual (“‘You’re so beautiful, Ismene. So plain and intelligent and innocent. I’d love to have you, yes, fill your body with sons and kings… It’s such a pity…’ […] TE moves in slowly and kisses her passionately. She weakens in his arms”49). The question of the relationship between the artwork and its artist remains to be debated, but the case of Menekseoglu and his Ismene certainly calls for caution when dealing with the presumable feminist qualities of a play.

46 Clover (2015), x. 47 Ibid. 48 Claiming to have “no poor roles for women or superfluous roles”, the Dream Theatre Company was “an appealing artistic home for early-career actresses, who made up a majority of the players”. “He wrote beautiful plays with roles tailored-made for us. It was easy to buy in”, one actress recalls (Douglass, 2018). 49 I Act II, Scene 4, 64.

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Fabienne Fecht

„Die Seuche der Trauer und der Liebe“: Weibliche Solidarität und kollektiver Widerstand als Antigone-Prinzip in Darja Stockers Antikentransformation Nirgends in Friede. Antigone

Abstract Im Gegenwartstheater spielt die Transformation mythologischer Stoffe und antiker Tragödien eine wichtige Rolle, beispielsweise bei der feministischen Aneignung mythischer Frauenfiguren wie Antigone. Gerade diese findet als Chiffre für den Widerstand gegen die Staatsmacht Eingang in zahlreiche moderne Aktualisierungen der Tragödie. Vor dem Hintergrund dieser beiden Aspekte fokussiert Darja Stocker mit ihrer Tragödientransformation Nirgends in Friede. Antigone aus dem Jahr 2015 die dezidiert weibliche Solidarität und Kollektivität. Dieser Text soll untersuchen, wie Stocker gegenwärtige Realität in einen Dialog mit der mythischen Frauenfigur Antigone sowie ihren zahlreichen Interpretationen bringt, um aufzuzeigen, welche besondere Wirkmacht vor allem Transformationen mythischer Frauenfiguren wie Antigone bei der Inszenierung aktueller gesellschaftspolitischer Sujets entfalten können. Keywords: Dokumentartheater, Feminismus, Flucht, Aufstand

„Die moderne Antigone ist […] mehr die resistente als die liebende Antigone.“1

Was Christiane Zimmermann schon 1993 auf den Punkt bringt, fasst Wera Hippesroither knapp 30 Jahre danach im Jahr 2020 wie folgt zusammen: „Was den zahlreichen Deutungen und Interpretationen gemein ist, ist die Auslegung Antigones als ein ‚Gegen‘, eine Antagonistin.“2 Als „erste[s] Widerstandsstück der Weltliteratur“3 wird die sophokleische Antigone vor allem unter dem Aspekt des Widerstandes gegen die Staatsmacht in zahlreichen modernen Aktualisierungen der Tragödie transformiert, z. B. von Bertolt Brecht, Elisabeth Langgässer 1 Zimmermann, Christiane (1993). Der Antigone-Mythos in der antiken Literatur und Kunst. Tübingen: Narr. 327. 2 Hippesroither, Wera (2020). Antigone wirbelt Staub auf: Eine Figur ohne Grund. In: Felber, Silke/Hippesroither, Wera (Hrsg.). Spuren des Tragischen im Theater der Gegenwart. Tübingen: Narr Francke Attempto. 127–137. 127. 3 Latacz, Joachim (2003). Einführung in die griechische Tragödie. 2. durchges. u. aktual. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. 202.

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oder Jean Anouilh, um nur einige wenige zu nennen. Die Tragödie wird dabei meist im zeitpolitischen Kontext der jeweiligen Autor:innen verortet und damit zu einer Figur, die „sich mit jeder neuen Welt- und Selbsterfahrung in neuer Beleuchtung zeig[t]“4. Über die dichterischen Antigone-Aktualisierungen hinaus hat Sophokles’ Tragödie auch zahlreiche Philosoph:innen und Psychoanalytiker: innen zu Interpretationen und Abhandlungen inspiriert, z. B. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Sigmund Freud oder Jacques Lacan, und später in dekonstruktiver Abgrenzung Luce Irigaray und Judith Butler mit ihren feministischen Antigone-Lektüren. Auch im Gegenwartstheater spielt die Transformation mythologischer Stoffe und antiker Tragödien eine wichtige Rolle, sei es mit Bezug auf einen europäischen ‚abendländischen‘ Wertekanon hinsichtlich der Situation an und vor den europäischen Außengrenzen oder bei der feministischen Aneignung mythischer Frauenfiguren wie Antigone – die laut Artur Pełka „[s]eit einigen Jahren […] wieder deutlich im Kommen [ist], wovon nicht zuletzt neue theatertextuelle und szenische Bearbeitungen des Stoffes zeugen.“5 Vor dem Hintergrund dieser beiden Aspekte und auf der Folie der zahlreichen Antigonen seit Sophokles entsteht 2015, im Jahr der sogenannten ‚Flüchtlingskrise‘, Darja Stockers Antigone-Transformation6 Nirgends in Friede. Antigone. Mit ihrem Stück reiht sich Stocker in die lange Tradition der Antigone-Aktualisierungen als politisches Theater ein, indem sie gegenwärtige Formen des Widerstands in den antigoneischen Widerstand gegen Kreon einschreibt; dabei fokussiert sie die dezidiert weibliche Solidarität und Kollektivität. Im Gegensatz zu den diesen Text einleitenden Zitaten über die moderne Antigone kann/können Stockers Antigone(n) jedoch nicht als bloße resistente Antagonistinnen betrachtet werden, vielmehr wird sie immer wieder auch zur liebenden Figur, die Fragen nach Verwandtschaft, Familie und Zusammengehörigkeit im Sinne Butlers neu zu definieren sucht. Dieser Text soll aufzeigen, wie Stocker gegenwärtige Realität in einen Dialog mit dem antiken Prätext und vor allem mit der Figur der Antigone bringt, und im Sinne der Blumenberg’schen ‚Arbeit am Mythos‘7 immer wieder auch einen Dialog mit verschiedenen Antigone-Inter-

4 Jens, Walter (2003). Der Untergang: Nach den Troerinnen des Euripides. In: Jens, Walter/ Seidensticker, Bernd (Hrsg.). Ferne und Nähe der Antike. Beiträge zu den Künsten und Wissenschaften der Moderne. Berlin,New York: De Gruyter. 237–260. 238f. 5 Pełka, Artur (2020). Antigones Nachkommen: Reduktion und Potenzierung. In: Felber, Silke/ Hippesroither, Wera (Hrsg.). Spuren des Tragischen im Theater der Gegenwart. Tübingen: Narr Francke Attempto. 139–154. 139. 6 Der Begriff der Transformation wird hier nach Gérard Genette benutzt: „dasselbe anders sagen“ (Genette, Gérard (1993). Palimpseste: Die Literatur auf zweiter Stufe. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 17). 7 Vgl. Blumenberg, Hans (1996). Arbeit am Mythos. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 329–358.

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pretationen von Brecht bis Butler evoziert.8 Mit der Frage George Steiners „Warum sind die ‚Antigonen‘ wahrhaft éternelles, warum berühren sie die Gegenwart unmittelbar?“9 soll außerdem untersucht werden, welche besondere Wirkmacht vor allem Transformationen mythischer Frauenfiguren wie Antigone bei der Inszenierung aktueller gesellschaftspolitischer Sujets entfalten können. Um den Weg der sophokleischen Antigone bis hin zu Stockers Stück nachvollziehen zu können, bedarf es zunächst eines kurzen Einblicks in für Stocker relevante Stationen der Rezeptions- und Transformationsgeschichte der mythischen Figur. Bereits bei Sophokles ist Antigone laut Christiane Zimmermann als mehrfach widerständige Figur angelegt, die nicht nur in ihrer Rolle als Frau Widerstand leistet.10 Nichtsdestotrotz spielt die Geschlechterkategorie auch bereits bei Sophokles eine Rolle, wobei vor allem die Inszenierung des antigoneischen Sprechaktes zentral ist: „Augenscheinlich erweist sich in der sophokleischen Antigone, dass Antigone nicht einfach auf die rituelle Bestattung als Handlungsakt beharrt, sondern ihren Widerstand offenkundig öffentlich austragen möchte und vehement ihren Sprechakt in Szene setzt.“11 Dabei bediene sie sich an einer „Rhetorik und Symbolik des Kampfes“12 und „widerspricht […] der vorherrschenden Maxime der Schweigsamkeit der Frau ihrer Zeit“13. Hanna Rheinz beschreibt, dass dieses „in der Antigone-Figur verkörperte Bild der Weiblichkeit […] seine Spuren auch in geisteswissenschaftlichen Diskursen hinterlassen“14 hat. So sieht Georg Wilhelm Friedrich Hegel in seiner AntigoneDeutung, die u. a. Böker „als die einflussreichste theoretische Position [in der gesamten Antigone-Rezeption]“15 einordnet, „einen Konflikt zwischen Familie und Staat, wobei Antigone für die ethische Ordnung der Familie und Kreon für die des Staates steht“16. Hegel deutet Antigone „als einem sogenannten ‚weiblichen Prinzip‘ entsprechend handelnde, moralische Figur“, „zementiert [dadurch eine] […] dualistische Auffassung und bricht sie auf eine biologistisch gefärbte 8 Vgl. Stocker, Darja (2015). Es gibt Orte, an denen Menschen lebendig begraben in einem Nicht-Leben gefangen sind. In: Theater Basel (Hrsg.). Nirgends in Friede. Antigone. Programmheft zur Uraufführung. 7–15. 11. 9 Steiner, George (1988). Die Antigonen: Geschichte und Gegenwart eines Mythos. München: Hanser. 9. 10 Vgl. Zimmermann (1993), 326. 11 Böker, Ines (2019). Die Ethik der Widersetzlichkeit: Theoretische und literarische Transformationen der Antigone. Berlin: Peter Lang. 121. 12 Ebd., 163. 13 Ebd., 121. 14 Rheinz, Hanna (2009). Antigone. In: Lutz, Walther (Hrsg.). Antike Mythen und ihre Rezeption: Ein Lexikon. Stuttgart: Reclam. 32–38. 33. 15 Böker (2019), 58. 16 Pewny, Katharina (2014). Das Theater der Anderen: Antigone. In: Birkner, Nina/Geier, Andrea/Helduser, Urte (Hrsg.). Spielräume des Anderen: Geschlecht und Alterität im postdramatischen Theater. Bielefeld: Transcript. 211–220. 215.

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Vorstellung von Geschlecht herunter.“17 Die Interpretation eines „Konflikt[s] zwischen zwei gleichberechtigten sittlichen Zwecken, der seit Hegels Auslegung als der tragische Kern dieses Werkes galt“18, stellt Judith Butler Ende des 20. Jahrhunderts radikal in Frage. Sie konstatiert: „Antigone repräsentiert nicht nur Verwandtschaft in ihrer idealen Form, sondern deren Deformation und Verschiebung, eine Verwandtschaft, die die Herrschaftssysteme der Repräsentation überhaupt in eine Krise stürzt […].“19 Ein weiterer Aspekt in Butlers Arbeit Antigones Verlangen, der für Stockers Arbeit zentral ist, ist die Entlarvung des „ausschließenden Charakter[s] dieser Ordnung, die das Leben von ‚Anderen‘ in ein Fatum der zum ‚sozialen Tod‘ verurteilten ‚lebenden Toten‘20 verwandelt.“21 Dieser Punkt ist laut Artur Pełka vor allem angesichts der Fluchtthematik in Stockers Text relevant: „Der Katalog der zum sozialen Tod Verurteilten, auf die es in Butlers Antigones Verlangen stark ankommt, hat sich in den letzten Jahrzehnten besonders angesichts des Flüchtlingsdramas stark erweitert.“22 So avanciert Polineikes in Stockers Text „zu einer Art Antonomasie für alle ‚Geflüchteten‘ und ‚Aufständischen‘“23 – ebenso wie Antigone zum Prinzip für kollektive und weibliche Solidarität wird.

1.

Das Prinzip Antigone

Stocker verschiebt in ihrer Antigone-Transformation die Nicht-Bestattung des Polineikes nach hinten und beleuchtet die Zeit davor sowie „die Frage danach, wer Polineikes war, bevor er starb“24. Die Figur der Antigone wird in Stockers Text verdreifacht, die drei Antigonen sind jeweils mit unterschiedlichen Realitäten verbunden, wie die Regieanweisung am Anfang des Stücks zeigt: Es gilt die Regel, dass eine Antigone von ihrer Realität erzählen kann und die anderen in ihre Erzählung eintauchen und sie verstärken können, als seien sie ständig miteinander

17 Hippesroither (2020), 128. 18 Pełka (2020), 140. 19 Butler, Judith (2001). Antigones Verlangen: Verwandtschaft zwischen Leben und Tod. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 48. 20 Vgl. Butler (2001), 118f. 21 Pełka (2020), 140. 22 Ebd., 141. 23 Pełka, Artur (2019). Politische ‚Frauendramatik‘ aus der Schweiz? ‚Erinnerte Zukunft‘ in Theatertexten von Darja Stocker. In: Heidemann, Gudrun/Jabłkowska, Joanna/Tomasi-Kapral, Elz˙bieta (Hrsg.). #Engagement: Literarische Potentiale nach den Wenden. Band 1. Berlin: Peter Lang. 111–126. 122. 24 Stocker (2015), 8.

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verbunden. Die anderen Figuren (Wächter, Haimon, Ismene) werden von Antigone 1.2.3 in diese Erzählweise miteinbezogen.25

In rückblickartigen dokumentarisch wirkenden Schilderungen, die sich aus Stockers Recherchen in Ägypten, Tunesien und Süditalien zu Zeiten des Arabischen Frühlings und den aus den Revolutionsereignissen entstehenden Fluchtbewegungen sowie in Abschiebegefängnissen und Geflüchtetenunterkünften in Deutschland und der Schweiz speisen26, erzählen die drei Antigonen von ihren Realitäten. Dabei nehmen sie wechselnd Rollen von Anwältinnen für auf Booten übers Mittelmeer Geflüchtete, Aufständischen in Tunis oder Kairo oder aktivistischen Journalistinnen ein. Die dokumentarischen Beobachtungen in Stokkers Text treten sprachlich in einen starken Kontrast zu anderen Teilen des Stückes, in denen die Sprache „den antiken Duktus nach[ahmt] und […] zum Teil so poetisiert [wird], dass […] [sie] zum sinnlichen Ereignis wird.“27 Als Realitätseffekte und zur Betonung von Authentizität dienen Stocker unter anderem Anführungszeichen, die bei sonstiger Figurenrede nicht verwendet werden, oder französische Satzfetzen. Dass die geschilderten Realitäten jedoch immer subjektiv sind und auf Erfahrungen und Erlebnissen der jeweiligen Antigone beruhen, wird schon in der Regieanweisung deutlich: „Die Wahrheit sind nicht die Fakten, sondern wie Antigone die Realität erlebt.“28 Auch im weiteren Stücktext stellen Aussagen wie „Das ist gebastelt, das ist konstruiert. Wer hat gesagt, dass das echt ist?“29 immer wieder die Inszeniertheit heraus und den Wahrheitsgehalt der Ereignisse und damit auf einer Metaebene auch des dokumentarischen Materials in Frage. Die Frage nach der Wahrheit und damit auch nach einer moralischen Pflicht zu handeln ist also eng verbunden mit der Zeug: innenschaft, auf die im zweiten Teil dieses Textes näher eingegangen wird. Wie die Regieanweisung überdies demonstriert, sind die Realitäten nicht fest an die Figuren gebunden, vielmehr changieren sie zwischen den drei Antigone-Figuren, aber auch zwischen weiteren Figuren der Stocker-Adaption wie Haimon oder Ismene. Auch den im Stück vor allem in Schilderungen der anderen Figuren auftretenden Polineikes ereilt in den drei verschiedenen Realitäten ein unterschiedliches Schicksal: Antigone1: Wir fanden ihn im Keller eines Museums, an einen Stuhl gebunden. Er atmete./ Wir lösten seine Fesseln und liessen ihn frei/ Wir werden sagen, dass er tot ist. […]

25 Stocker, Darja (2015). Nirgends in Friede. Antigone. Berlin: Henschel Schauspiel Theaterverlag. 4. Im Folgenden mit der Sigle NFA abgekürzt. 26 Vgl. Stocker (2015), 8f. 27 Pełka (2019), 120. 28 NFA 4. 29 NFA 57.

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Fabienne Fecht

Antigone3: Wir fanden ihn im Graben des Palastes mit drei Schüssen in der Brust und einen Schuss im Kopf. Antigone2: Wir fanden ihn am Strand in eine weiße Tüte gepackt./ Sie hatten ihn vergessen.30

Die Dreiteilung der Antigone-Figur verweist also auf eine komplexe Weltlage, in der verschiedene Realitäten bestehen, die es wahrzunehmen gilt. Darüber hinaus demonstriert die Verdreifachung der Figur die Wichtigkeit eines kollektiven Widerstands, den ein Individuum nicht in der Lage ist zu leisten, was an der zitierten Stelle durch das anaphorische „Wir“ nochmals verdeutlicht wird. Wie Artur Pełka in seiner Analyse des Stücks herausstellt, deutet Stocker in Nirgends in Friede immer wieder intertextuell auf Heiner Müllers Hamlet-Transformation Die Hamletmaschine hin, wodurch die dreifaltige Antigone zudem zwei weitere mythische Frauenfiguren evoziert: „Vor diesem Hintergrund erscheint Stockers Antigone – einer modernen Selbdritt-Ikone gleich – als eine Postfiguration von Ophelia-Elektra aus dem letzten Teil von Die Hamletmaschine […].“31 Die Potenzierung hat also vielfältige Wirkungen: Mit ihr wird auf die Komplexität einer globalen Weltlage verwiesen, „die Notwendigkeit eines kollektiven Widerstands impliziert als auch weibliche Solidarität auf den Plan gerufen“32 sowie die Figur Antigone in der Mythologie verortet. Nicht nur an dieser Stelle evoziert Stocker Müllers „Anti-Hamlet“ als „konstitutive[n] Intertext“, wie Pełka beschreibt: Als Leitmotiv tauchen bei Stocker deutlich Splitter des berühmten Hamlet-Monologs Müllers auf, vor allem in der Passage, in der die in den Meeresfluten vor der ‚Festung Europa‘ Ertrunkenen heraufbeschworen werden […]. Mit Müllers Vorlage korrespondiert auch der gescheiterte Aufstand sowie Kreons „Totenpalast“.33

Auch die Stockers Text leitmotivisch durchziehenden Variationen der Phrase „Ich bin Antigone – ich bin nicht Antigone“ spielen auf die Negation „Ich bin nicht Hamlet“34 aus Heiner Müllers Text an. In diesem intertextuellen Verweis lässt sich mit Pełka ebenso wie in der Verdreifachung der Antigone die „Absage an Individualität im Sinne eines einsamen Kampfes“ als auch „de[r] Wille […] nach der Befreiung von stereotypen weiblichen Zuschreibungen“35 erkennen. Stockers erste Szene „Vor dem Palast“36 korrespondiert zudem einerseits mit 30 NFA 74. 31 Pełka (2019), 124. 32 Ebd., 121. Auf diese beiden Punkte, die bei Stocker mit einer ‚Verschwesterung‘ einhergehen, wird im zweiten Teil dieses Texts näher eingegangen. 33 Ebd., 123f., NFA 43. 34 Müller, Heiner (1977). Hamletmaschine. In: Ders. (2001). Werke 4. Stücke 2. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 545–554. 549. 35 Pełka (2019), 124. 36 NFA 5–19.

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dem sophokleischen Prätext, in dem das Innere des Palastes für die „erstarrte, versteinerte, in den Mauern der Stadt buchstäblich gefangene Existenzweise“ der „domestizierte[n], entsexualisierte[n] Frau“37 steht. Zum anderen evoziert die Verortung Antigones außerhalb der Palastmauern Müllers Vorstellung von der ‚Provinz‘ oder subalternen Randbereichen, die bei ihm weiblich konnotiert sind und den einzigen Ort darstellen, von dem Veränderung ausgehen könne38. Was in seiner Hamletmaschine der Figur Ophelia zufällt, liegt bei Stocker an den drei Antigonen und wirft die Frage auf, was es bedeutet, Antigone zu sein. Der Beantwortung dieser Frage lässt sich durch den Stücktext zunächst ex negativo näherkommen. In der zweiten Hälfte des Stückes häuft sich mit der Desillusionierung und Hoffnungslosigkeit aufgrund von eingeschränkter Handlungsmacht angesichts der Verhältnisse die Feststellung „Ich bin nicht Antigone“: Antigone3: Nein ich habe keine Hoffnung mehr Antigone2: Aber ich kann nicht sein ohne Hoffnung./ […] Es gibt nichts mehr was wir ihnen geben können, weil sie mehr wollen, als begraben zu werden, ich bin nicht Antigone./ Ich habe keine Hoffnung mehr, aber ohne Hoffnung kann ich nicht atmen.39

Antigone ist also, wer nicht verzagt, wer die Hoffnung nicht aufgibt und weiter Widerstand leistet: „Antigone2: Antigone, das ist die, die zwei Checkpoints passierte, von zwei Polizisten geohrfeigt wurde und die danach alleine über eine Absperrung kletterte um in der Leichenhalle nach Polineikes zu suchen.“40 In diesem Sinne stellt die Höchststrafe im Kampf der Herrschenden gegen den Widerstand der Verlust des Namens Antigone – und damit der Widerstandskraft dar: „Wächter: Und diese hier soll gesteinigt/ eh erschossen/ ich meine sie soll eingesperrt/ ausgesperrt/ verbannt/ sie soll ihren Namen verlieren/ sie wird niemand/ sie heißt nicht mehr“41. Wenn Antigone1 konstatiert „Sie sind mehr Antigone als ich“42, wird Antigone zum Prinzip, das von den Machthabern als „Seuche“ diffamiert wird: „Kreon: Sie ist krank, sie hat eine Seuche, sie steckt alle damit an“43. Diese Vorstellung der bedrohlichen, kranken Frau ist ein weit verbreiteter Topos zu der Entstehungszeit der sophokleischen Antigone und findet sich demnach auch in seiner Tragödie wieder, wie Böker veranschaulicht: 37 Weigel, Sigrid (1990). Topographien der Geschlechter. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. 159. 38 Flemming, Thomas (2007). Die Hamletmaschine. In: Pfersdorff, Heike (Hrsg.). Harenberg Kulturführer Schauspiel. Mannheim: Meyers Lexikonverlag. 457–459. 458f.: „Bewegung, das heißt Veränderung kann nur aus den Randbereichen, den ‚Provinzen‘ kommen, zu denen der Dramatiker unter anderem die ‚Dritte Welt‘, aber auch die Kriminalität und das weibliche Geschlecht zählt, im Stück verkörpert durch die Figur der Ophelia.“ 39 NFA 52. 40 NFA 72. 41 NFA 80. 42 NFA 19. 43 NFA 82.

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[D]er Topos der wahnsinnigen Frau zieht sich durch die gesamte Kulturgeschichte der okzidentalen Tradition. In der mythologischen Tradition und vorderhand in den Tragödien des fünften Jahrhunderts markieren Frauenkörper oftmals […] die Gefahr einer völligen Übermacht des Wahnsinns, der die bevorstehende Katastrophe initiiert.44

Kreon warnt Haimon – bei Sophokles wie bei Stocker – in misogyner Sprache vor Antigone: „Lass das Haimon, einem Wesen zu folgen, das durch sein Schicksal bestraft geboren: Die Frau.“45 Haimon hingegen widersetzt sich dieser männlichen patriarchalen Logik und schließt sich dem weiblichen Widerstand an: „Wenn diese Männer so sind, dann bin ich ab heute kein Mann mehr.“46 – auch hier eine deutliche Analogie zu Hamlets „Ich will eine Frau sein“47 in Heiner Müllers Hamletmaschine. So springt also das „Antigone-Prinzip“, eine Formulierung des Theaterverlags, im Verlauf des Texts auch auf die anderen Figuren Haimon und Ismene und schließlich sogar auf den Wächter über, bis am Ende des Stücks ein kollektives „Wir sind Antigone“48 gegen den patriarchalen Machthaber Kreon steht. Darja Stocker bezieht sich im Programmheft der Basler Uraufführung explizit auf diesen dezidiert weiblichen Widerstand, der jedoch nicht gleichzusetzen ist mit einem Widerstand der Frauen, sondern vielmehr die patriarchale Logik durchkreuzt und Geschlechterbinaritäten negiert: „Es sind […] Menschen, welche die männliche Position, die ins Nichts führt, verlassen haben und für etwas anderes kämpfen.“49 Diese ‚männliche Position‘ wird vor allem vertreten durch Kreon, der wie bei Sophokles sinnbildlich für den patriarchalen Herrscher steht. Er scheint, mit intertextuellen Verweisen auf Aussagen Angela Merkels50, zunächst für eine menschliche Geflüchtetenpolitik zu stehen. Im Verlauf des Stücks zeigt sich jedoch, dass von Kreons Bekenntnis nicht viel zu halten ist und er widerständige Bewegungen mit aller Macht bekämpft51. Mit dieser Lesart, in der Kreon als Machthaber gegen Deserteure und Aufständische in den Krieg zieht, kommt Stockers Bearbeitung in ihren eigenen Worten Brechts „Auslegung im Grundgedanken am nächsten.“52 Für die Bestimmung Kreons als „Aggressor“ und „absolute[n] Tyrann[en]“, der sich „gegenüber Argos in einem Angriffskrieg [befindet und] der aus egoistischen kapitalistischen Gründen Argos’ Erzreichtum in Besitz nehmen will“53, mag diese Parallele zutreffen. Auch setzt Stocker 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53

Böker (2019), 102. NFA 83. NFA 63. Müller (1977), 548. NFA 84. Stocker (2015), 12. Vgl. NFA 43. Vgl. NFA 79. Stocker (2015), 10. Böker (2019), 187.

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die Handlung, wie Brecht, zeitlich nach vorne, wenn auch mit dem sich von Brecht unterscheidenden Fokus auf Polineikes’ Lebensrealität(en). Jedoch zeichnet Brecht seine Antigone deutlich weniger widerständig als Sophokles vor ihm und auch als Stocker knapp 70 Jahre nach ihm. Die Prinziphaftigkeit von Stockers Fassung, der „durch das Dokumentarische eine universelle Dimension verliehen wird“54, erinnert indes wieder an Brechts Antigone-Modell und seinen „Anspruch, mit seiner Version der Tragödie und deren sorgfältig dokumentierter Inszenierung ein Muster zu liefern, das die Gestaltungs- und Manipulationsspielräume künftiger Modellbenutzer durch strenge Vorgaben einschränken soll“55. Neben Antigone, Polineikes und Kreon werden bei Stocker auch andere Figuren oder Bezeichnungen symbolhaft verwendet: Die „Operation Eteokles“56 verweist auf militärische Einsätze, die wortwörtlich im Namen bestimmter Ideologien stattfinden. Die Symbolhaftigkeit der Begriffe lässt sich nicht immer eindeutig zuordnen, so steht zum Beispiel das umkämpfte Theben bzw. die Wortneuschöpfung „Thebanismus“ einerseits für eine Demokratie, die es zu erkämpfen gilt57, andererseits für westliche Demokratien, die sich – mit dem Vorwand, genau jene Demokratie vor angeblich unzivilisierten Feinden schützen zu wollen – gewaltvoll abschotten. Bereits bei Sophokles ist Theben symbolisch aufgeladen, wie Böker mit Verweis auf Froma Zeitlin darstellt: „In der konzeptuellen Kategorie erweist sich Theben als katastrophales Anti-Athen“58, das im Vergleich zum demokratischen Athen, welches „von aufgeklärten Machthabern“ regiert wird, „mit großen Problemen und Katastrophen behaftet“ ist.59 Bei Sophokles ist Theben also als Antagonist zur athenischen Demokratie zu verstehen, bei Stocker hingegen stehen gerade jene westlichen Demokratien, die aus dieser Tradition erwachsen sind, in der Kritik. Durch die unaufgelöste Ambivalenz der Symbole stellt Stocker mit ihrem Text auch Fragen nach der Deutungshoheit über Begriffe und Konzepte wie zum Beispiel Demokratie.

54 Pełka (2019), 122. 55 Frick, Werner (1998). Die mythische Methode: Komparatistische Studien zur Transformation der griechischen Tragödie im Drama der klassischen Moderne. Tübingen: Niemeyer. 498. 56 NFA 5. 57 Vgl. NFA 9–11. 58 Böker (2019), 38. 59 Böker (2019), 37f.; Zeitlin, Froma I. (2009). Tragödien um Troja: Das Gewissen Griechenlands. In: Fischer-Lichte, Erika/Littmann, Anna (Hrsg.). Staging festivity: Theater und Fest in Europa. Tübingen, Basel: Francke. 127–147. 128.

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Labdakidische Verstrickungen

Die Ambivalenzen ergeben sich bei Stocker auch durch unterschiedliche Perspektiven wie eben die jener, die im Arabischen Frühling für Demokratie kämpfen oder die der Menschen, die vor den Grenzen Europas von westlichen Demokratien abgeschottet werden. Um solche Perspektiven in ihrem Theatertext abzubilden, hat Stocker selbst Jahre vor Ort verbracht und recherchiert. Diese unmittelbare Zeug:innenschaft ist im Text mit dem Motiv des Sehens bzw. NichtSehens oder Erkennens und damit mit der familiären Vorgeschichte Antigones, vor allem mit ihrem Vater Ödipus, verknüpft. In diesem Motiv scheint die Autorin implizit immer wieder auch ihre eigene Arbeit und sich selbst zu reflektieren, die mit einem westlich sozialisierten Blick auf bspw. Revolutionsereignisse in Ägypten oder Tunesien blickt. Bereits im ersten Teil des Stücks macht der Wächter, im Duktus rechter Demagogen, den drei Antigone-Figuren den Vorwurf: „Mit Zeugenaussagen Betroffenheit erzeugen – Kreon nennt dies Volksverhetzung. Dieses träumerische Gutmenschentum, das sich den Feind verweichlicht, verpisst Euch! Pack!“60 Hier stellt sich die Frage nach der Intention des Hinschauens und des Verhältnisse für andere sichtbar Machens, die auf einer weiteren Ebene auch als Frage der Autorin Stocker an sich selbst verstanden werden kann: Schmückt sich hier eine Autorin, ein ‚Gutmensch‘ mit Themen, die allgemein betroffen machen, darüber hinaus jedoch keine Veränderung bewirken? Oder ist es ihre Pflicht, mit ihrer privilegierten Position im öffentlichen Raum des Theaters auf diese Themen aufmerksam zu machen, wie Haimon sagt: „Ihr müsst hierbleiben, ihr müsst von hier Eure eigenen Bilder hinaussenden, ihr müsst diesen Palast benutzen […]. Tragt zusammen, damit das Volk sieht wovon ihr Zeugen wart.“61 Diese Position bezieht Stocker auch im Programmheft: Je mehr ich sehe, desto mehr Verantwortung bekomme ich. […] In Mitteleuropa gibt es […] viele Menschen, die ausgeschlossen von gewissen Realitäten leben und diese – wenn überhaupt – nur über die Medien mitbekommen. Es fehlt die direkte Zeugenschaft und die Chance auf eine echte Partizipation und damit auch Weiterentwicklung. Dabei müsste eigentlich gelten: je freier ich bin, desto mehr kann ich mir erlauben, in mich aufzunehmen, desto mehr Verantwortung der Welt gegenüber müsste ich übernehmen.62

Eben jene Verantwortung gegenüber der Welt wird im Stücktext ebenso mit dem Vater Ödipus verknüpft, aus der Verwandtschaft mit ihm ergibt sich eine moralische Verantwortung: „Antigone1: […] Auch wir sind Kinder des Ödipus/ und täten wir so als wären wir es nicht, wären wir schuldig. […]/ Glaubst du was unser 60 NFA 15–16. 61 NFA 54. 62 Stocker (2015), 15.

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Vater anrichtete, ist nur in Theben zu spüren?“63 Und: „Antigone2: Wir sind alle Kinder des Verbrechens, der Verblendung Ödipus.“64 In diesem Kontext stellt sich die Frage nach der Handlungsmacht des Menschen, die bereits in der sophokleischen Tragödie umstritten ist. Böker konstatiert jedoch: Es lässt sich in Sophokles’ Tragödie zeigen, dass die Figur Antigone hier nicht ausschließlich innerhalb ihrer mythischen Identität im Bannkreis des Fluches zu verorten ist, sondern Sophokles in seiner Antigone dezidiert, entgegen der Dominanz der metaphysischen Einheit seiner anderen erhaltenen Tragödien, mit einem freiheitlichen Anspruch auf Handlungsmacht des Menschen opponiert […].65

Bei Stocker will Ismene ihre Schwester Antigone, wie im sophokleischen Prätext, davon überzeugen, von ihrem eingreifenden Handeln abzusehen: „Wir beide, wir können nicht in diesen Kampf eingreifen, ohne ihn noch schlimmer zu machen als unsere Brüder, als unser Vater.“66 Antigone jedoch sieht sich – aufgrund ihrer Familiengeschichte – als „verdammt“67 an. Durch die Blutsverwandtschaft mit dem schuldhaften Vater Ödipus, auf einer Metaebene also durch die eigene privilegierte Herkunft aus einem europäischen Land, dessen Reichtum auf der Ausbeutung des globalen Südens beruht, ergibt sich also eine besondere ‚Verdammung‘, eine Pflicht zu handeln – und aufmerksam zu machen auf die „Lebenden Toten“, wie Stocker sie in ihrem Stück in Anlehnung an Judith Butler nennt. Artur Pełka weist in diesem Kontext darauf hin, dass „Stocker genauso wie Butler die Komplizenschaft von hegemonialer Politik und dominierenden Medien [thematisiert], in denen durch die nicht vorhandene Präsenz der ‚Anderen‘ selbige zu ‚lebenden Toten‘ mutieren.“68 In ihrem Essay „Gefährdetes Leben“ fragt Judith Butler danach, warum „bestimmte Menschenleben verletzbarer sind als andere und demzufolge auch betrauernswerter“69. Darja Stocker fasst die Fragen, die sie sich in ihrem Stück mit Sophokles, aber offensichtlich auch mit Judith Butler stellt, im Programmheft wie folgt zusammen:

63 NFA 22f. 64 NFA 26. Vgl. Sophokles (2017). Antigone. Tragödie. Hrsg. von Leis, Mario/Hönsch, Nancy. Stuttgart: Reclam. V. 2f.: „Kennst du nur eines der von Ödipus entsprungnen Leiden, das Zeus uns beiden nicht im Leben noch erfüllt?“ (Im Folgenden mit der Sigle AS abgekürzt). 65 Böker (2019), 52. 66 NFA 26. Vgl. AS V. 58–64: „Und nun wir zwei, die wir allein noch übrig sind: bedenk,/ wie wir aufs schlimmste enden, wenn wir dem Gesetz/ zum Trotz der Herrscher Machtgebot umgehn./ Nein, zu bedenken gilt es, einmal, dass wir Frauen sind/ und drum nicht gegen Männer kämpfen/ können; und dann, dass wir beherrscht von Stärkern sind/ und so auf dieses hören müssen und noch Härteres.“ 67 NFA 26. 68 Pełka (2019), 123. 69 Butler, Judith (2005). Gefährdetes Leben: Politische Essays. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 47. Vgl. Pełka (2019), 126.

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Welches Menschenleben zählt? Wessen Tod wird öffentlich wahrgenommen und betrauert? […] Wie kann es sein, dass jemand, der „neben mir geboren ist“, zu einem Angreifer wird oder gemacht wird? Was bedeutet es, dass Europa in der Verantwortung von nicht wieder gutzumachenden Verbrechen ist? Auf welche Grundlage der Demokratie beruft man sich heute, wenn die sogenannten „westlichen Werte“ verteidigt werden? 70

Die Frage danach, warum „jemand […] zu einem Angreifer […] gemacht wird“, also die Analyse von „Feindbildkonstruktionen und die mit ihnen verbundenen Ausschlussmechanismen“71 sowie die Gründe für diese Verfahren ist ein Punkt, der bereits in der Interpretation der sophokleischen Tragödie eine wichtige Rolle spielt, wie Böker aufzeigt: Hypostasiert Kreon Polyneikes zum monströsen Wesen mit anthropophagem Gestus, erreicht er durch den Exklusionsmechanismus […] eine Stigmatisierung, Anfeindung und schließlich den Ausschluss des Polyneikes aus der menschlichen Gemeinschaft. Der Anspruch auf die Herrschaft über Theben […] wird durch den Mechanismus des Ausschlusses inhibiert und Kreons Machtanspruch in der Übernahme der für die Bürger der Polis agierenden Beschützerrolle gestärkt.72

Wie aktuell dieses Verfahren Kreons und seine Rhetorik der ‚Sicherheit‘ in der europäischen Abschottungspolitik ist, demonstriert Stocker mit ihrem transformatorischen dokumentarischen Stück anschaulich. Jedoch ist auch das Motiv der Verwandtschaft bei Stocker ambivalent, sie verweist im Stück immer wieder auch auf die Zufälligkeit von Verwandtschaft und plädiert – ebenso in Anlehnung an Judith Butler in ihrem Text Antigones Verlangen – für neue Formen der Verwandtschaft. Laut eigener Aussage im Programmheft will Stocker mit ihrem Stück „die Frage nach der Möglichkeit von Verwandtschaft nochmal neu […] stellen“ und die Alternative eröffnen, sich „nach neuen Geschwistern um[zu]schauen.“73. Diese Verwandtschaft, die sich vor allem im Verbündet-Sein ausdrückt, kommt im Stück im Motiv der Schwesternschaft – zwischen den Antigone-Figuren, aber auch zu den anderen Figuren des Stücks – zum Ausdruck: „[D]ie […] ‚Verschwesterung‘ [bezieht sich] auf Judith Butlers Re-Lektüre des Antigone-Mythos, in der die Philosophin am Beispiel der antiken Heldin die nicht-biologischen Formen von ‚familiären‘ Bindungen fokussiert, die die Struktur der sogenannten ‚normalen‘ Familien umstürzen.“74 Dabei ist es irrelevant für die ‚Schwesternschaft‘, ob diese Figuren männlich oder weiblich sind, wodurch erneut ein Bezug zu Butler deutlich wird, 70 71 72 73 74

Stocker (2015), 7. Pełka (2019), 122. Böker (2019), 140. Stocker (2015), 9. Pełka (2019), 121.

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die Antigone nicht nur als eine Verwandtschaft, sondern auch eindeutige Geschlechtskategorien dekonstruierende Figur versteht75 und die die „Tragödie als Schauplatz einer radikalen Infragestellung der herkömmlichen Geschlechterdifferenz und Verwandtschaftsordnung“ exklusiv in Anspruch nimmt.76 Stockers Antigone-Transformation zeigt exemplarisch auf, wie mythische Frauenfiguren in einem politischen Gegenwartstheater genutzt werden können, um gesellschaftspolitische Sujets auf der Folie kanonischer Texte und Figuren zu verhandeln. Dabei geht stellenweise die Ambivalenz der Vorlage zugunsten einer klaren politischen Haltung verloren, wie auch Böker konstatiert: [D]ie sophokleische Antigone […] [entzieht sich] einer aufdringlichen Antwort. […] [I]n der Rezeptionsgeschichte [wird] vielfältig nach eben einer solchen handfesten Deutung gesucht […]. Die […] Deutungsversuche der Rezeptionsgeschichte […] verweisen zumeist auf ethische Implikationen der Antigone, in denen vielmehr der eigene diskursive Hintergrund ablesbar ist.77

Durch zahlreiche implizite Verweise auf weitere Antigone-Transformationen sowie intertextuelle Spuren weiterer Texte bspw. von Judith Butler begibt sich Stocker mit ihrem Stück jedoch in einen Dialog nicht nur mit dem sophokleischen Prätext, sondern auch mit zahlreichen weiteren Texten und Autor:innen. Hierdurch eröffnet sie ein breites Spektrum an Deutungsmöglichkeiten und Sichtweisen, die die mythische Frauenfigur und ihre Interpretationen auf die Gegenwart liefern können. Ihr Text wird mit Inanspruchnahme der AntigoneFigur als Vertreterin einer weiblichen Solidarität und eines kollektiven Widerstandes zu einem Plädoyer für die Trauer, und zwar genau im Sinne Judith Butler, die von einer grundlegenden Gefährdetheit des Lebens ausgeht, die nicht allein von einer allgemeinen körperlichen Verletzlichkeit herrührt, sondern vielmehr die Frage nach Anerkennung und Anerkennbarkeit verhandelt.78

Mit Rückbezug auf Antigones Handeln und Judith Butlers Antigone-Deutung zeigt Stocker „ein neues Feld des Menschlichen“79 auf und entwirft die Vision einer Generation, die von Solidaritätsidealen geleitet, sich im Sinne eines unabdingbaren Humanismus kollektiv für eine gerechte Welt engagiert. Allerdings ist

75 Vgl. Böker (2019), 85. 76 Ebd., 90. Böker weist hier auch darauf hin, dass der Fokus von Butler auf die Geschlechterund Verwandtschaftsverhältnisse denen in der sophokleischen Tragödie dargestellten „in ihrem Umfang […] nicht gerecht werden“ (Böker (2019), 91) und „Butler […] mit ihrer Interpretation an […] einigen […] Stellen die Antigone zugunsten ihrer Argumentationsführung [vereinnahmt] und […] die Tragödie etwas über[strapaziert]“ (Böker (2019), 126). 77 Ebd., 254. 78 Pełka (2019), 122. 79 Butler (2001), 132.

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die Generationalität kein Resultat der Gleichaltrigkeit, sondern ergibt sich aus der Empörung über die unerträglichen Umstände, wie Antigone3 verkündet: „Es gibt keine Generation mehr, nur noch eine Situation, die nicht mehr zu ertragen ist.“80

Mit diesem Satz bezieht sich Stockers Antigone3 auf einen weiteren Text Butlers, indem diese feststellt: „Offene Trauer geht mit Zorn einher, und Zorn angesichts von Ungerechtigkeit oder angesichts unerträglicher Verluste hat ein enormes politisches Potential. Hier lag schließlich schon für Platon ein Grund für die Verbannung der Dichter aus dem Staat.“81 Auch Stocker sieht wie hier Platon im Theater ein „Widerstandspotential“, das „auch ein Publikum anzieht, das aufgrund seiner kollektiven, multiplen Erfahrungen ein Widerstandspotential in sich trägt und andere damit anzustecken vermag.“82 Ein solches Theater müsse laut Stocker „Momente ins Zentrum rück[en], die das Publikum innerlich wirklich erschüttern.“83 Dies könne jedoch nur erreicht werden, „[w]enn unterschiedliche Perspektiven zusammenkommen [und] dadurch eine produktive Reibung entsteht“ – und nicht wie momentan nur die Perspektive „des weissen heterosexuellen Mannes“ im Theater vertreten sei.84 So kann die Feststellung von Antigone1: „Ganze Generationen stehen auf ihre Väter zu beseitigen“ (NFA, 27) sowohl poetologisch im Hinblick auf literarische und philosophische Vaterfiguren wie Sophokles und Hegel als auch als gesellschaftliche Kampfansage gegen hegemoniale Machtstrukturen, nicht nur im Theater, sondern auch in Bezug auf weltweite Ungleichheiten, verstanden werden.

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80 Pełka (2019), 122. NFA 10. 81 Butler, Judith (2010). Raster des Krieges: Warum wir nicht jedes Leid beklagen. Frankfurt am Main (u. a.): Campus-Verlag. 44. 82 Stocker (2015), 12. 83 Ebd. 84 Ebd.

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Nina Peter

Terroristinnen und ihre Spiegelung im Mythos: Elfriede Jelineks Theatertexte „Ulrike Maria Stuart“ und „Das schweigende Mädchen“

Abstract Der Aufsatz beschäftigt sich mit zwei Theatertexten von Elfriede Jelinek, die beide Terroristinnen der jüngeren Vergangenheit mit mythischen Figuren amalgamieren: „Ulrike Maria Stuart“ (UA 2006) verbindet schon im Titel die historischen Figuren Ulrike Meinhof und die insbesondere durch das gleichnamige Stück von Friedrich Schiller tradierte Maria Stuart; „Das schweigsame Mädchen“ (UA 2014) lässt Beate Zschäpe, die Hauptangeklagte des NSU-Prozesses, provokativ mit der Jungfrau Maria verschmelzen. Sowohl die literarische Auseinandersetzung mit der Links- als auch die mit der Rechtsterroristin sind also durch ein mytho-poetisches Verfahren geprägt. Der Aufsatz untersucht an diesen Beispielen Jelineks literarische ‚Arbeit am Mythos‘ und richtet dabei ein besonderes Augenmerk auf die Auseinandersetzung mit dem Thema weiblicher Macht. Keywords: Elfriede Jelinek, RAF, Terrorismus, Mythos, Gender

1.

Einleitung

Im Jahr 2015 erschienen zwei Stücke von Elfriede Jelinek, deren Uraufführungen zwar neun Jahre auseinander liegen, deren thematische Überschneidung jedoch durch die gemeinsame Publikation in einem Band betont wird: Beide rücken Terroristinnen in ihren Mittelpunkt, beide amalgamieren ihre selbst bereits zum Mythos gewordenen titelgebenden Figuren mit mythischen Frauen: „Ulrike Maria Stuart“, uraufgeführt 2006, kreist um die linksradikale RAF-Mitgründerin Ulrike Meinhof. „Das schweigende Mädchen“, uraufgeführt 2014 als Auftragswerk für die Münchner Kammerspiele, beschäftigt sich mit der Rechtsterroristin Beate Zschäpe, der verurteilten Mitbegründerin des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU). Der folgende Aufsatz stellt die Frage, wie Jelinek sich beiden Figuren auf eine mytho-poetische Weise nähert, indem sie einerseits mythische Frauenfiguren aufruft und sich andererseits kritisch mit den Prozessen der Rezeptionen und Mythisierungen Meinhofs und Zschäpes auseinandersetzt. Zudem werden Jelineks Theatertexte selbst einer kritischen Betrachtung unterzogen, die nach den Grenzen ihres kritischen und reflexiven

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Potentials und ihrem eventuellen Beitrag zu einer klischeehaften Rezeption der thematisierten Figuren fragt.

2.

Welcher Mythos?

Um Jelineks Auseinandersetzung mit mythischen Figuren und ihren literarischen Umgang mit Mythen in den Blick zu nehmen, ist es zunächst nötig, zu klären, welcher Begriff des Mythischen den folgenden Überlegungen zugrunde liegt. Üblicherweise versteht man unter Mythen „Erzählungen, die im Dienste einer vorwissenschaftlichen Erklärung und Beschreibung der Lebenswelt stehen und sich meist vor der Folie eines Kosmischen oder übernatürlichen Bezugsrahmens abspielen“1. Sie dienen als „Orientierungs- und Symbolsystem“2 und stiften „einen nicht-beweisbaren, kollektiv wirksamen Sinn“3. Als narrative Form der Welterklärung und -deutung wirken Mythen nicht durch logische Argumente, sondern häufig gerade im Kontrast und Widerspruch zu ihnen.4 In ihren Figuren und Ereignissen verdichten sich Themen und Problemkomplexe, die sich rationalen Erklärungen zu entziehen scheinen, die in ihrer Unverfügbarkeit faszinieren5 – und die damit konkurrierende Deutungen, Neuerzählungen und Variationen geradezu herausfordern. Mythen dienen als „Mittel der Weltdeutung, die Widersprüche in scheinbare Evidenz verwandeln und damit Komplexität reduzieren“6. Auf diese Weise haben sie auch das Potential, Bedrohliches und Furchteinflößendes bewältigbar und Unverstandenes zugänglich zu machen.7 In mythischen Figuren und Ereignissen kondensieren sich größere Be1 Simonis, Annette (2008). Mythos. In: Nünning, Ansgar (Hrsg.). Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. 4., aktualisierte und erweiterte Aufl. Stuttgart, Weimar: Metzler. 525. 2 Engels, Johannes (2003). Mythos. In: Ueding, Gert (Hrsg.). Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Band 6. Tübingen: Niemeyer. Sp. 80–97. Sp. 81. 3 Matuschek, Stefan (2007). Mythos. In: Burdorf, Dieter/Fasbender, Christoph/Moennighoff, Burkhard (Hrsg.). Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. 3., völlig neu bearbeitete Aufl. Stuttgart, Weimar: Metzler. 524–525. 524. 4 Diese Eigenschaft zeigt sich auch in der alltagssprachlichen Verwendung des Begriffs zur Bezeichnung unbeglaubigter Behauptungen. Bereits seit der Antike ist der Begriff des Mythos eng mit dem der Lüge und des Irrtums verknüpft. Zu den verschiedenen Bedeutungen des Mythosbegriffs vgl. z. B. Tepe, Peter (2013). Terminologische Sensibilisierung im Umgang mit dem Mythos. Das Konzept der komplexen Mythosforschung. In: Krüger, Brigitte/Stillmark, Hans-Christian (Hrsg.). Mythos und Kulturtransfer. Neue Figurationen in Literatur, Kunst und modernen Medien. Bielefeld: Transcript. 29–44. 5 Vgl. z. B. Armstrong, Karen (2007). Eine kurze Geschichte des Mythos. Aus dem Englischen von Ulrike Bischoff. München: dtv. 6 Wodianka, Stephanie/Ebert, Juliane (2014). Vorwort. In: Dies. (Hrsg.). Metzler Lexikon moderner Mythen. Figuren, Konzepte, Ereignisse. Stuttgart, Weimar: Metzler. V–VIII. VI. 7 Vgl. Blumenberg, Hans (1996). Arbeit am Mythos. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 11.

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deutungszusammenhänge, sie sind Teil des kulturellen Gedächtnisses, so dass sich durch ihre Erwähnung schlagwortartig Sinnkontexte aufrufen lassen, die auf andere Weise meist schwieriger auf einen Begriff zu bringen sind. Bestimmt man den Mythos durch seine Funktion, so ist sein Gegenstandsbereich weder zeitlich noch inhaltlich eingeschränkt: Was als Mythos betrachtet wird, entscheidet sich durch den Blick auf die jeweilige gesellschaftliche Verbreitung und Funktion. Ein anderes Verständnis des Mythos findet sich bei Roland Barthes: Er bestimmt den Mythos nicht über seine Funktion, sondern definiert ihn als „un mode de signification“8, der sich dadurch auszeichnet, dass er sich eines bestehenden Signifikanten bedient und diesen scheinbar ,entleert‘, indem er ihn neu besetzt.9 Seine vorhergehende Semantik wird auf diese Weise jedoch nicht zum Verschwinden gebracht, sondern beeinflusst die Wahrnehmung des neuen Signifikats, reichert sie an.10 Der Mythos ist Barthes zufolge also ein ‚sekundäres semiologisches System‘11, indem er ein Zeichen (die bestehende konventionelle Verbindung zwischen einem Signifikanten und einem Signifikat) zu einem neuen Signifikanten macht und damit Aspekte der vorhergehenden Bedeutung des Zeichens mit dem neuen Signifikat assoziiert. Barthes’ Mythosverständnis überschneidet sich mit dem zu Beginn beschriebenen insofern, dass die in der mythischen Rede entleerten und neu besetzten Signifikanten in der Regel kollektiv geteilte Assoziationen aufrufen, die dann als Resonanzraum für das neue Signifikat wirksam werden. Der Mythosbegriff von Barthes soll auch deshalb dem anfangs vorgestellten ergänzend zur Seite gestellt werden, da Jelinek sich in ihrem Werk beginnend mit ihrem Essay „Die endlose Unschuldigkeit“ (1970) intensiv mit ihm auseinandergesetzt hat und ihr Umgang mit Mythen sich deutlich von ihm beeinflusst zeigt. Dies gilt auch für die beiden hier betrachteten Texte.

3.

Mythen-Amalgame als Figuren der Unzugänglichkeit

Beide ‚Terroristinnen‘-Texte von Elfriede Jelinek überblenden Frauenfiguren der jüngeren Geschichte, Ulrike Meinhof und Beate Zschäpe, mit mythischen Gestalten. Schon die beiden Titel bilden jeweils ein Amalgam und zugleich eine Transformation mythischer Frauenfiguren. Im Titel des ersten Texts verschmilzt Ulrike Marie Meinhof mit Maria Stuart, der schottischen Königin des 16. Jahrhunderts, die heute vor allem in ihrer literarischen Vermittlung, als Figur des 8 9 10 11

Barthes, Roland (1992 [1957]). Mythologies. Paris: Éditions du Seuil. 181. Vgl. Barthes (1992), 190. Vgl. Barthes (1992), 191. Barthes (1992), 187.

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gleichnamigen Dramas von Friedrich Schiller aus dem Jahr 1800 bekannt ist. Auch Ulrike Meinhof ist Gegenstand unzähliger medialer und künstlerischer Repräsentationen,12 was Jelinek durch eine digitale Collage in den Fokus der Aufmerksamkeit rückt: Auf ihrer Homepage stellt sie einem Ausschnitt aus ihrem Text ein Foto voran, das eine Passantin bei der Betrachtung eines Fahndungsplakats mit einem Bild von Ulrike Meinhof zeigt (Abb. 1).13 Nicht Ulrike Meinhof, sondern ihre Betrachtung rückt so in den Mittelpunkt, betont durch die Rückenansicht und die überdimensionierte Brille der Passantin. Dieses Bild erscheint als Programm, es macht deutlich, dass Jelinek sich mit schon vermittelten und mediatisierten – im Sinne Blumenbergs: mythisierten und bearbeiteten14 – Figuren auseinandersetzt und sie als solche in den Blick nimmt. Gleiches gilt für „Das schweigende Mädchen“. Jelineks Titel verweist zunächst auf Beate Zschäpe, deren langes und weitgehendes Schweigen während des NSUProzesses im Fokus des medialen Interesses stand und ihr nicht zuletzt von den Angehörigen der Opfer zum Vorwurf gemacht wurde, da es die ohnehin mangelhafte Aufklärung von Zschäpes Rolle und der Struktur des ‚NSU‘ weiter erschwert hat. Statt ihrer fehlenden Aussage kursieren mediale Bilder und Deutungen ihrer Person: Die schweigende, geheimnisvolle Terroristin fasziniert.

12 Vgl. z. B. Ächtler, Norman/Gansel, Carsten (2010). Ikonographie des Terrors? Vom Erinnern u¨ber Bilder zum Erinnern der Bilder im ku¨ nstlerischen Umgang mit dem Terrorismus der 1970er Jahre. In: Dies. (Hrsg.). Ikonographie des Terrors? Formen ästhetischer Erinnerung an den Terrorismus in der Bundesrepublik 1978–2008. Heidelberg: Winter. 9–19. 13 Jelinek, Elfriede (2005). Ulrike Maria Stuart. (Königinnendrama). Ausschnitt. Abrufbar unter: https://www.elfriedejelinek.com/ (Stand: 23. 02. 2022). 14 Vgl. Blumenberg (1996).

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Abb. 1: Bewusst wurde hier die geringe Auflösung übernommen, in der das Bild auf Jelineks Homepage zu sehen ist. In der Verpixelung lösen sich Meinhofs Gesichtszüge auf, das Bild entzieht sich und wiederholt dabei noch einmal einen Vorgang, der Steinseifer zufolge dem Medium des RAF-Fahndungsplakats bereits eigen ist, das weniger zu Wiedererkennungseffekten geführt habe, als zur Artikulation einer „bleibende[n] Unklarheit“15.

Mit einer mythischen Frauenfigur der Antike assoziiert der Titel Zschäpe über eine Publikation von Giorgo Agamben aus dem Jahr 2010: Unter dem Titel Das unsagbare Mädchen16 publizierte er eine Auseinandersetzung mit Persephone 15 Steinseifer, Martin (2012). Die RAF als Medienereignis – visuelle und sprachliche Inszenierungen. In: Kämper, Heidrun/Scharloth, Joachim/Wengeler, Martin (Hrsg.). 1968. Eine sprachwissenschaftliche Zwischenbilanz. Berlin, Boston: de Gruyter. 375–397. 392. 16 Agamben, Giorgio/Ferrando, Monica (2012). Das unsagbare Mädchen. Mythos und Mysterium der Kore. Aus dem Italienischen von Michael Hack. Frankfurt am Main: Fischer. Jelinek erwähnt den Text nicht nur als eine ihrer Quellen, sondern nimmt auch im Text wiederholt auf ihn Bezug, vgl. z. B. Jelinek, Elfriede (2015). Das schweigende Mädchen. In: Dies. Das schweigende Mädchen. Ulrike Maria Stuart. Zwei Theaterstücke. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. 151–463. Hier 231, 395f., 416. Im Folgenden zitiert unter der Sigle DsM. Vgl. ausführlicher zu den Perspehone-Bezügen: Brod, Anna (2018). Chancen und Grenzen künstlerischer Auseinandersetzung mit dem NSU in Elfriede Jelineks Das schweigende Mädchen.

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bzw. Kore, so ihr zweiter Name. Persephone ist die Tochter von Zeus und seiner Schwester Demeter, wurde von ihrem Vater vergewaltigt und von dessen Bruder Hades als seine Frau ins Totenreich entführt, aus dem sie jedoch für gewisse Zeiten zu ihrer Mutter zurückkehrt.17 Damit ist Persephone/Kore eine Figur zwischen Totenreich und Diesseits, zwischen Mutter und Tochter, eine Figur des Rätselhaften und Unsagbaren. Durch die Überblendung mit Persephone entwirft Jelinek Beate Zschäpe als Figur des unzugänglichen Wissens: Sie verweigert sich der Rolle einer Vermittlerin zwischen Toten- und Diesseits, indem sie das Wissen, das sie mit den toten Komplizen Mundlos und Bönhardt teilt, nicht preisgibt. Bei Jelinek führt das Gerichtsdrama, als das sie ihren Text durch das Auftreten einer Richter-Sprechinstanz und die Verarbeitung der NSU-Gerichtsprotokolle kennzeichnet, die Grenzen der juristischen Wahrheitsfindung vor Augen.18 Der zentrale Akt des Gerichts – und des Gerichtsdramas –, die „Konversion von Tat in Wort“19, gelingt nicht. Und auch die Inszenierung des Verfahrens als Jüngstes Gericht20 führt durch die Verlagerung des Geschehens ins Numinöse gerade die mangelnde Aufklärbarkeit und durch die Aussparung des Urteils die unbefriedigende Unabgeschlossenheit des Prozesses vor Augen. Die als Zeugen auftretenden Propheten und Engel betonen immer wieder die Unverlässlichkeit ihrer eigenen Aussagen und sind als Figuren aus der Sphäre des Glaubens ohnehin der justiziablen Zeugenschaft, die Wissen produzieren soll, entgegengesetzt. Sowohl „Ulrike“ Meinhof als auch „das schweigende Mädchen“ Beate Zschäpe werden von Jelinek so als Figuren der Unverfügbarkeit gekennzeichnet, deren Handeln und Motivation sich einem vereindeutigenden Zugriff entziehen – „ich

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Abrufbar unter: https://jelinetz.com/2018/07/02/anna-brod-chancen-und-grenzen-kuenstleris cher-auseinandersetzung-mit-dem-nsu-in-elfriede-jelineks-das-schweigende-maedchen/ (Stand: 23.02. 2022). Vgl. ausführlicher Hinz, Berthold (2008). Persephone. In: Moog-Grünewald, Maria (Hrsg.). Mythenrezeption. Die antike Mythologie in Literatur, Musik und Kunst von den Anfängen bis zur Gegenwart (= Der neue Pauly. Supplemente 5). Stuttgart, Weimar: Metzler. 563–566. Vgl. Canaris, Johanna (2019). Mit der Politik ins Gericht gehen. Die politische Dimension des Gerichtsdramas am Beispiel von Ferdinand von Schirachs Terror (2015) und Elfriede Jelineks Das schweigende Mädchen (2014). In: Neuhaus, Stefan/Nover, Immanuel (Hrsg.). Das Politische in der Literatur der Gegenwart. Berlin, Boston: de Gruyter. 291–307; Jirku, Brigitte E. (2018). Die Bühne als Zeuge. Zu Elfriede Jelineks Das schweigende Mädchen. In: Tholen, Toni/ Cifre Wibrow, Patricia/Gimber, Arno (Hrsg.). Fakten, Fiktionen und Fact-Fictions. Hildesheim, Zürich, New York: Olms. 281–299. Vismann, Cornelia (2011). Medien der Rechtsprechung. Frankfurt am Main: Fischer. 28. Dass textuelle Leer- und Unbestimmtheitsstellen in Jelineks Text eine zentrale Rolle spielen, führt dies umso deutlicher vor Augen, vgl. Heimann, Andreas (2016). Den Untergrund erzählen. Textuelle Verfahren der Leerstelle und des Unbestimmten in Elfriede Jelineks Das schweigende Mädchen. Kritische Ausgabe. Zeitschrift fu¨ r Germanistik & Literatur 31. 7–11. Vgl. dazu ausführlicher z. B. Brod, Anna (2016). Zeugenschaft vor Gericht in Das schweigende Mädchen von Elfriede Jelinek. Abrufbar unter: https://fpjelinek.univie.ac.at/fileadmin/use r_upload/proj_ejfz/PDF-Downloads/Beitrag_Anna_Brod.pdf (Stand: 23. 02. 2022).

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bin ja gar nicht so,“ sagt die „Ulrike“ im Theatertext, „ich bin ganz anders, keiner wird es jemals wissen, wie ich bin und war“21. Zudem wird betont, dass beide dennoch paradoxal „Tonnen an Geschriebenem“22, an Darstellungen, Deutungen und Bewertungen hervorgebracht haben, und sie das Potential zum Mythos haben bzw. bereits als moderne Mythen zu deuten sind:23 Beide Figuren stehen als Teil des kulturellen Gedächtnisses chiffrenhaft für größere Sinnzusammenhänge, die eine zentrale gesellschaftliche Rolle spielen und einen Beitrag zu kollektiven Orientierungen und Identitäten liefern. Gerade bestehende Kontroversen hinsichtlich der Bedeutung und Bewertung ihres Handelns sowie Leerstellen und Ungewusstes führen zu immer wieder neuen Erzählungen in Medienberichten, Biographien, fiktionalen Texten oder Filmen: Über beide Frauen kursiert ein unüberblickbar gewordenes Korpus von Informationen, Bildern, Fiktionen.24 In beiden Theatertexten greift Jelinek zahlreiche der medial verbreiteten Details aus dem Leben der beiden Frauen auf und integriert über Verweise oder unmarkierte Zitate verfügbares Material. Betont wird dabei durchgehend die Unverlässlichkeit der Quellen25 und die Unverfügbarkeit der Titelfiguren. Jelineks Annäherung an Meinhof und Zschäpe erfolgt also unter dem Vorzeichen der Mythenreflexion und -dekonstruktion, indem sie ihre Referenzfiguren als gemachte, geformte und im Sinne Blumenbergs als bearbeitete ausstellt. Jelineks Schreiben ist damit ein mytho-poetisches in dem doppelten Sinne, dass in ihren poetischen Texten mythische Figuren zur Sprache kommen und sie zugleich ihre Gemachtheit – die poiesis – des Mythischen reflektiert. Sie ‚macht Mythen‘, aber im Sinne eines doing myth, also eines Ansatzes, der ihre 21 Jelinek, Elfriede (2015). Ulrike Maria Stuart. Königinnendrama. In: Dies. Das schweigende Mädchen. Ulrike Maria Stuart. Zwei Theaterstücke. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. 7–149. 131. Im Folgenden zitiert unter der Sigle UMS. 22 UMS 156. 23 Zur Mythisierung der RAF vgl. u. a. Baumann, Cordia (2012). Mythos RAF. Literarische und filmische Mythentradierung von Bölls ‚Katharina Blum‘ bis zum ‚Baader Meinhof Komplex‘. Paderborn: Schöningh; Goer, Charis (2014). RAF. In: Wodianka, Stephanie/Ebert, Juliane (Hrsg.). Metzler Lexikon moderner Mythen. Figuren, Konzepte, Ereignisse. Stuttgart/Weimar: Metzler. 311–316; Kraushaar, Wolfgang (2006). Mythos RAF. Im Spannungsfeld von terroristischer Herausforderung und populistischer Bedrohungsphantasie. In: Ders. (Hrsg.). Die RAF und der linke Terrorismus. Band 2. Hamburg: Hamburger Edition. 1186–1210. 24 Hinzu kommt, dass die RAF selbst die Medien bereits strategisch einsetzte und sich bewusst inszenierte, vgl. z. B. Elter, Andreas (2008). Propaganda der Tat. Die RAF und die Medien. Frankfurt am Main: Suhrkamp; Pedersen, Henrik (2001). RAF auf der Bu¨ hne. Inszenierung und Selbstinszenierung der deutschen Terroristen. Trans. Internet-Zeitschrift fu¨ r Kulturwissenschaften 9, ohne Seiten. Zur Selbstmythisierung als typisches Phänomen des Terrorismus vgl. auch Galli, Matteo/Preußer, Heinz-Peter (Hrsg.) (2006). Mythos Terrorismus. Vom Deutschen Herbst zum 11. September. Heidelberg: Winter. 25 In „Das schweigende Mädchen“ wird vor allem die Zeitschrift Der Spiegel zur Zielscheibe der Kritik wegen seiner unkritischen Berichterstattung über die Ermittlungen, die die Täter im Umfeld der Opfer suchten, z. B.: „Sehen Sie, wie der Spiegel die Seiten verkehrt?“ (DsM, 187).

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Konstruiertheit und Hervorgebrachtheit vor Augen führt und sie im Machen entmachtet. Die Überblendung mit den mythischen Frauenfiguren wird in diesem Zusammenhang zu einer Über-Zeichnung, einer Potenzierung der Mythen, die die Aufmerksamkeit auf die Prozesse der Mythisierung selbst lenkt. Zugleich dienen sie dazu, den Fokus auf bestimmte Themen zu lenken, von denen zwei im Folgenden näher betrachtet werden sollen: Die Auseinandersetzung mit weiblicher Macht und der Vergeschlechtlichung der Terroristinnen-Rezeption einerseits und die Thematik von Sprechen und Schweigen andererseits.

4.

„Ulrike Maria Stuart“ – intertextuelle Dekonstruktionen von Mythen weiblicher Gewalt

„Ulrike Maria Stuart“ ist – wie Schillers Prätext – in gebundener Sprache verfasst26 und enthält zahlreiche unmarkierte Zitate nicht nur aus Maria Stuart, sondern auch aus den Texten der RAF, den Texten über die RAF (insbesondere Stefan Austs Der Baader-Meinhof-Komplex), aber auch aus literarischen Texten wie z. B. Richard III. und Hamlet von Shakespeare oder der Bibel. Der Text ist in drei Teilstücke gegliedert, wobei keine Handlung entfaltet wird, sondern bestimmte Thematiken immer wieder und in einem assoziativen Stil zur Sprache kommen. Figuren sind – wie so häufig bei Jelinek – nur ansatzweise erkennbar und keinesfalls im Sinne psychologischer Personen zu verstehen.27 Neben „Ulrike“ und „Gudrun“ treten als Sprechinstanzen unter anderem „Die Prinzen im Tower“ und ein „Chor der Greise“ auf. Wiederkehrende Themen des Textes sind die Mutterrolle Ulrike Meinhofs, die Verhaftung Gudrun Ensslins in einer Mode-Boutique28 und der (Königinnen-) Konflikt zwischen „Ulrike“ (alias Maria Stuart) und „Gudrun“ (alias Königin Elisabeth), der wie bei Schiller in einem Rede-Argon eskaliert. Bei Jelinek kreist er 26 Vgl. im Detail zur metrischen Gestaltung der Sprache in Ulrike Maria Stuart sowie ihren Brüchen und Effekten Annuß, Evelyn (2006). Schiller offshore: Über den Gebrauch von gebundener Sprache und Chor in Elfriede Jelineks Ulrike Maria Stuart. In: Arteel, Inge/ Müller, Heidy Margrit (Hrsg.). Elfriede Jelinek – Stücke für oder gegen das Theater? 9.– 10. November 2006. Brüssel: Koninklijke Vlaamse Academie van Belgie voor Wetenschappen en Kunsten. 29–42. 27 Vgl. Gutjahr, Ortrud (2007). Im Echoraum der Stimmen. Elfriede Jelineks Ulrike Maria Stuart. Text + Kritik 117: Elfriede Jelinek. 19–30. 28 „Gudrun“ wird dadurch bei Jelinek ironisch zur Vorläuferin der späteren Prada-Meinhof RAF-(Kom-)Modifizierung. Zur sprachlichen und visuellen Selbstinszenierung der RAF und zu ihrer späteren Vermarktung u. a. im Bereich der Mode vgl. Sachsse, Rolf (2008). Pentagramm hinter deutscher Maschinenpistole unter Russisch Brot. Zur Semiosphäre der Erinnerung an die Rote Armee Fraktion. In: Colin, Nicole et al. (Hrsg.). Der „Deutsche Herbst“ und die RAF in Politik, Medien und Kunst (= Histoire 2). Bielefeld: Transcript. 131–140.

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um die Auseinandersetzungen der beiden Frauen während der Haft in Stammheim und insbesondere um die von „Ulrike“ als Demütigung empfundenen Eingriffe „Gudruns“ in ihre Texte. Alles ‚Frauen-Themen‘, könnte man jetzt sagen29 – Mutterschaft, Mode und Zickenkrieg –, und genau das lässt Jelinek auch ihre „Ulrike“ aussprechen: „Diese Frauen!“, und sie fährt fort: „Mutter müssen sie ja immer sein“30. Während dies als Aussage über die außerliterarische Wirklichkeit eindeutig falsifizierbar ist – da können Frauen Mütter sein und als solche perspektiviert werden, müssen aber nicht, – hat die Aussage für einen machtvollen Diskursstrang über weibliche Gewalt durchaus Gültigkeit. Gewalttätige Frauen, konkreter: Terroristinnen und noch konkreter: Ulrike Meinhof,31 wurden und werden, so hat die Forschung gezeigt,32 anders gedeutet als ihre männlichen Pendants. Terroristinnen werden häufig vergeschlechtlicht, das heißt, ihre Taten werden mit ihrem Geschlecht in Beziehung gebracht und aus diesem erklärt – was zugleich verhindert, dass ihr Handeln als – wie auch immer kritikwürdiges – politisches Handeln in den Blick rückt, welches die Folge von Überlegungen und Überzeugungen ist. Stattdessen wird Gewalt von Frauen häufig als unnatürlicher Widerspruch zu ihrem Geschlecht gedeutet, pathologisiert oder psychologisiert (z. B. als Folge ‚erfolgloser‘ Liebesbeziehungen). Oft kommen dabei, wie Passmore zeigt,33 mythologische Stereotype zum Einsatz wie 29 Auch Colin konstatiert für den Text eine „Konzentration auf die Frauenproblematik“. Colin, Nicole (2008). Mensch oder Schwein? Andreas Baader, Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin auf Besuch in Hamburg und Paris. In: Dies. et al. (Hrsg.). Der „Deutsche Herbst“ und die RAF in Politik, Medien und Kunst (= Histoire 2). Bielefeld: Transcript. 67–82. 73. Frauenrollen spielen in Jelineks Werk insgesamt eine zentrale Rolle, vgl. u. a. Gürtler, Christa/Mertens, Moira (2013). Frauenbilder. In: Janke, Pia (Hrsg.). Jelinek-Handbuch. Unter Mitarbeit von Christian Schenkermayr und Agnes Zenker. Stuttgart, Weimar: Metzler. 272–276; Gruber, Bettina/Preußer, Hans-Peter (Hrsg.) (2005). Weiblichkeit als politisches Programm? Sexualität, Macht und Mythos. Würzburg: Königshausen & Neumann. Auf die „Prinzessinnendramen“, so der Untertitel einer Reihe von Theatertexten Jelineks, die sich mit prominenten Frauen und Weiblichkeitsmythen beschäftigen (vgl. Jelinek, Elfriede (2004). Der Tod und das Mädchen I–IV. Prinzessinnendramen. Berlin: Berlin Verlag) folgt mit „Ulrike Maria Stuart“ ein „Königinnendrama“, so der Untertitel. Für Jirku geht damit auch eine Verlagerung des Interesses von Frauen als Opfern männlicher Macht hin zu den Bedingungen weiblicher Macht einher, vgl. Jirku, Brigitte E. (2012). Weibliche Herrschaft im Königinnendrama Ulrike Maria Stuart. In: Kaplan, Stefanie (Hrsg.). „Die Frau hat keinen Ort“. Elfriede Jelineks feministische Bezu¨ ge. Wien: Praesens. 48–64. 30 UMS 35. 31 Vgl. Colvin, Sarah (2009). Ulrike Meinhof and West German Terrorism. Language, Violence, and Identity. Rochester, New York: Camden House. 188–224. 32 Vgl. die Zusammenfassung in Passmore, Leith (2007). Schiller’s Children: Ulrike Meinhof and the Terrorist Performative. Lilith: A Feminist History Journal 16. 15–25. 16. Zur Geschlechterdarstellung in der Terrorismus-Rezeption vgl. auch Hikel, Christine/Schraut, Sylvia (Hrsg.) (2012). Terrorismus und Geschlecht. Politische Gewalt in Europa seit dem 19. Jahrhundert (= Geschichte und Geschlechter 61). Frankfurt am Main, New York: Campus. 33 Passmore (2007), 16.

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z. B. Medea als Inkarnation der schrecklichen Mutter, die gegen die ‚weibliche Natur‘ handelt. (Was wiederum natürlich nur eine Lesart des Mythos ist.) Medea kommt auch bei Jelinek zur Sprache, allerdings ausdrücklich als eingefordertes bzw. von außen an „Ulrike“ herangetragenes Rollenmodell. „Ach, die Medea soll ich euch jetzt geben, eure Rabenmutter! Na, dann geb ich halt auch die.“34 Blickt man nun genauer auf Jelineks Entfaltung der Topik Ulrike Meinhofs als Medea (also schlechte Mutter),35 so wird diese Überschreibung an weiteren Stellen brüchig. Hierzu zählt zunächst eine weitere explizite Erwähnung der Figur: „Du bist jetzt die Medea, die von ihren Kindern überlebt wird“36, lässt der Chor „Ulrike“ wissen. Genau damit wäre aber vermutlich die Minimalanforderung für die Wiedererkennbarkeit Medeas unterschritten und der Mythos-Bezug dysfunktional. An anderer Stelle wird „Ulrike“ in Anspielung auf Büchners Revolutionsdrama Dantons Tod selbst zum Kind, wenn sie über ihren Tod sagt: „Die Revolution frißt jetzt ein Kind, und das bin ich“37. Zur Mutter hingegen wird das bekämpfte Deutschland: „Deutschland, kranke Mutter“38. Es findet also eine chiastische Rolleninversion statt, die die Kategorie Mutter aus dem Familiären ins Politische verschiebt. Auch die „Prinzen im Tower“, die zeitweise als „Ulrikes“ Kinder sprechen und den Text mit der Frage nach ihrer abwesenden Mutter eröffnen, sprengen gezielt die Kohärenz der mythischen Anspielungen des Textes: Denn die Prinzen im Tower werden von Richard dem Dritten ermordet (z. B. in Shakespeares gleichnamigem Drama), nicht von ihrer Mutter. Als Kindermörderin gedacht würde „Ulrike“ also auf diese Weise mit Richard III. überblendet – einem der klassischen männlichen Bösewichte. Als Mutter adressiert würde „Ulrike“ hingegen von „Maria“ zu einer Elisabeth, allerdings nicht zu Elisabeth I.: Denn die Mutter der ermordeten Prinzen im Tower war die etwa ein Jahrhundert ältere Elizabeth Woodville. „Ulrike“ verkehrt sich also durch die intertextuellen Verweise in ihr Gegenteil: „Ulrike“ als „Maria“ wird erst zum Mann und dann zu Elisabeth und ist noch als diese nicht mit sich selbst identisch. Genau diese Nicht-Identität mit sich selbst und der Status der Sprechinstanzen nicht als Personen, sondern als sich immer wieder auflösende Diskurseffekte, kommt im Text wiederholt zur Sprache, z. B.: „denn keiner spricht noch als er selber, wer ist wer, es ist in jedem Fall ein Jammer, wer zu sein. 34 UMS 32. 35 Zu den Schwierigkeiten und Potentialen einer geschlechterkritischen Aneignung traditioneller Mythen vgl. Stephan, Inge (1997). Musen & Medusen. Mythos und Geschlecht in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Köln, Weimar, Wien: Böhlau. 10f. Zur Wirkmächtigkeit des Mythos in Hinblick auf Geschlechtervorstellungen vgl. Schiper, Mineke (2020). Mythos Geschlecht. Eine Weltgeschichte weiblicher Macht und Ohnmacht. Aus dem Niederländischen von Bärbel Jänicke. Stuttgart: Klett-Cotta. 36 UMS 42. 37 UMS 107. 38 UMS 107.

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Wir sprechen ohne Unterbrechung, doch wissen wir nicht mehr, von wem die Rede ist.“39 Das ‚Sprechen ohne Unterbrechung‘, die „Sprech-Wut“ der Figuren, ist es auch in erster Linie, so erläutert Jelinek in einem 2005 erschienenen Text,40 was sie an Schillers Maria Stuart interessiere und den Wunsch aufkommen lasse, „mein eigenes Sprechen in diese ohnehin schon bis zum Bersten vollen Textkörper der beiden Großen Frauen […] auch noch hineinzulegen.“41 – Und zwar soll dies mit ‚Hilfe‘ Ulrike Meinhofs und Gudrun Ensslins geschehen: „Ulrike wäre Maria, Gudrun Elisabeth.“42 Ganz so eindeutig, wie es hier zunächst scheint, ist diese Rollenzuteilung jedoch keineswegs und es ist auch nicht allein das überbordende Sprechen, auf das Jelinek in ihrer Verarbeitung des Prätextes Bezug nimmt. Vielmehr rückt sie Schillers Drama als Diskursbeitrag zu weiblicher Macht und Gewalt in den Fokus der Aufmerksamkeit,43 dessen Topoi sich noch in der Terroristinnenrezeption fortschreiben. Unmarkiert zitiert und auf die Geschlechterthematik zugespitzt werden im Theatertext Elemente des Schiller-Prätextes, die sich mit dem Verhältnis von Frauen zu Macht und Gewalt beschäftigen und jeweils spezifisch weibliche und männliche Gewaltformen als angemessen de-

39 UMS 97. Hier werden nur einige der zahlreichen textinternen Bezüge und dekonstruktiven Wendungen des Medea- und Mutter-Motivs erwähnt. Zur Thematisierung von Mutterrollen in „Ulrike Maria Stuart“ – auch mit Blick auf Jelineks Gesamtwerk und die Biographie Ulrike Meinhofs – vgl. auch Gallas, Helga (2007). Suchfigur Ulrike Meinhof in Elfriede Jelineks Ulrike Maria Stuart. In: Gutjahr, Ortrud (Hrsg.). Ulrike Maria Stuart von Elfriede Jelinek. Würzburg: Königshausen & Neumann. 97–105; Stephan, Inge (2019). Power Struggles between Women in Schiller’s and Jelinek’s Works. In: Krimmer, Elisabeth/Simpson, Patricia Anne (Hrsg.). Realities and Fantasies of German Female Leadership. From Maria Antonia of Saxony to Angela Merkel. Rochester, New York: Camden House. 131–143; Martens, Gunther/ van den Brande, Deborah (2015). Family Discourses on RAF Terrorism: Elfriede Jelinek’s Ulrike Maria Stuart and Bernhard Schlink’s Das Wochenende. Forum for Modern Language Studies 51:3. 335–350. 40 Erstpublikation: Jelinek, Elfriede (2005). Sprech-Wut (ein Vorhaben). Über Friedrich Schiller. Literaturen Special Januar/Februar. 12–15. Hier zitiert nach Jelinek, Elfriede (2005). SprechWut (ein Vorhaben). Abrufbar unter: https://www.elfriedejelinek.com/fschille.htm (Stand 23. 02. 2022). 41 Jelinek (2005), ohne Seiten. 42 Jelinek (2005), ohne Seiten. 43 Vgl. dazu auch Fleig, Anne (2014). Königinnendrama und Postdramatisches Theater. Zur Eskalation der Rede in Friedrich Schillers Maria Stuart und Elfriede Jelineks/Nicolas Stemanns Ulrike Maria Stuart. In: Birkner, Nina/Geier, Andrea/Helduser, Urte (Hrsg.). Spielräume des Anderen. Geschlecht und Alterität im postdramatischen Theater (= Theater 38). Bielefeld: Transcript. 143–163. Zu Schillers Inszenierung von Frauenrollen in Maria Stuart und ihrer Erforschung vgl. Kord, Susanne (2011). Weibermacht und Geschlechtslosigkeit. Dramenköniginnen bei Schiller und seinen ‚Epigoninnen‘. Revista de Filología Alemana 19. 115–136. Hier 116–120. Auch Jelinek selbst hat sich zu den Frauenbildern in Schillers Drama geäußert vgl. Jelinek, Elfriede (2007). Zu Ulrike Maria Stuart. Text und Kritik. Zeitschrift fu¨ r Literatur 117. 15–18. 15.

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klarieren. Das zunächst noch wörtlich wiedergegebene Schiller-Zitat44 „Das Richterschwert, womit der Mann sich ziert, verhaßt ists in der Frauen Hand“45 wird an anderer Stelle verneint („Sobald ein Weib das Opfer wird, kann niemals mehr ein Richter von Gerechtigkeit dann sprechen, dann lieber Täter sein!“46) oder ironisch überzeichnet („doch dieses Ritterschwert, von dem ich öfter sprach, nur mit verschiednen Worten, dieses Schwert, womit der Mann sich jetzt noch ziert – die Frau ziert sich schon selber, mit sich selber –, verhaßt ists in der Frauen Hand“47). Zurückgewiesen und lediglich noch ironisch anzitiert wird so die von Schiller aufgerufene Vorstellung einer spezifisch weiblichen ‚Gewalt‘ der Tugend („die schärfste Waffe [ist] nicht die Nadel, nicht der Löffel, sondern eure Tugend, was soll das denn sein, die Tugend?“48) und der Rührung („meine Tränen, diese schrecklich weibliche Gewalt, sie rührn sie nicht“49). Damit werden implizit zugleich auch Schillers Dramenmodell und ästhetische Theorie verabschiedet, die das Theater als „moralische Anstalt“ und Medium der Erziehung verstehen und es ermöglichen, in der gewaltsam Unterworfenen Maria Stuart einen Vorbildcharakter zu entwerfen, der durch den Beweis moralischer Überlegenheit (innere) Freiheit gewinnt.50 Dieser Vorstellung wird nicht nur im Kontext der von Jelinek aufgegriffenen und wiederholt durchgespielten Dis44 Schiller, Friedrich (1996). Maria Stuart. In: Ders. Werke und Briefe in zwölf Bänden Bd. 5: Dramen IV, hrsg. von Matthias Luserke. Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag. 9– 148. I,8, V. 1018f. 45 UMS 21. 46 UMS 22. 47 UMS 109. 48 UMS 63f. 49 UMS 40. Vgl. auch „wie soll ich mich meinen Worten, die so kläglich klingen, stellen, denn du, meine Schwester, sollst doch ergriffen sein“ (UMS, 127). Gerade angesichts der häufig gewaltvollen und häufig auch sexistischen Sprache der RAF (vgl. Weikert, Sakine (2012). „Entweder Schwein oder Mensch“. Sprache und Gewalt in Texten der RAF. Bremen: Institut fu¨ r Kulturwissenschaftliche Deutschlandstudien, Universita¨ t Bremen) wirkt der an Schiller angelehnte ,hohe Stil‘ verfremdend. Allgemein zu Verfremdungseffekten in UMS vgl. Hollerwöger, Katharina (2011). Ich weiß nicht, was passieren muss, bis endlich was passiert – Verfremdungseffekte in Ulrike Maria Stuart von Elfriede Jelinek. In: Stegmayr, Markus/Zorn, Johanna (Hrsg.). Kunst und Irritation (= sprachraum 5). Innsbruck: Studia. 61–71. 50 Zur Kritik von Schillers ästhetisch-moralischer und poetologischer Theorie vgl. u. a. Annuß (2006); Gutjahr, Ortrud (2007). Königinnenstreit. Eine Annäherung an Elfriede Jelineks Ulrike Maria Stuart und ein Blick auf Friedrich Schillers Maria Stuart. In: Dies. (Hrsg.). Ulrike Maria Stuart von Elfriede Jelinek. Würzburg: Königshausen & Neumann. 19–35; Bauer, Karin (2011). The End of Tragedy out of the Spirit of the RAF: Elfriede Jelinek’s Ulrike Maria Stuart. In: Boehringer, Michael/Hochreiter, Susanne (Hrsg.). Zeitenwende. Österreichische Literatur seit dem Millennium: 2000–2010. Wien: Praesens. 157–172; Klein, Delphine (2013). Ulrike Maria Stuart d’Elfriede Jelinek. Contre l’embaumement d’un classique, Cahiers d’Études Germaniques 65. 145–157; Giménez Calpe, Ana (2015). Von Schillers ästhetischer Theorie zur Dekonstruktion und Entmythologisierung. Elfriede Jelineks / Nicolas Stemanns Ulrike Maria Stuart. Revista de Filología Alemana 23. 135–152.

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kussion über die Frage nach der Rechtmäßigkeit (linker) Gewalt angesichts der Wirkungslosigkeit von Worten entschieden widersprochen, sondern sie wird auch durch die Auflösung der Figuren negiert, die einer ‚Lösung‘ politischer und moralischer Konflikte auf einer psychologischen und individuellen Ebene eine Absage erteilt. Besonders deutlich wird dies an einer weiteren Variation eines Schiller-Zitats: Bei Schiller ist es Shrewsbury, der Elisabeth bittet, Marias Worte nicht so ernst zu nehmen, als diese ihre Wut nicht zurückhalten kann und Elisabeth mangelnde Tugend vorwirft: „O sie ist außer sich! Verzeih der Rasenden, der schwer Gereizten!“51 Bei Jelinek taucht das Zitat in zwei Teilen und sinnentfremdet im Schlussmonolog eines Engels auf. Zunächst heißt es hier: „Verzeiht den Rasenden, den schwer Gereizten! Oder verzeiht ihnen halt nicht. Mir auch egal.“52 Und dann vertreibt der Engel in einem doppelten Sinne Maria und Elisabeth, „Ulrike“ und „Gudrun“, von der Bühne: „Fort mit ihnen, fort! Hinweg! […] Denn sie sind außer sich und in sich niemals anzutreffen“.53 Vom Außersichsein als einem emotionalen Zustand bei Schiller, der eine unkontrollierte weibliche Rede zur Folge hat, wird das Außersichsein bei Jelinek zur Anspielung auf ihr antipsychologisches Darstellungsverfahren,54 das sich nicht für die vermeintlich ‚wahren Gründe‘ Ulrike Meinhofs interessiert („Niemand wird es wissen“, heißt es im Text55), sondern für „Ulrike Meinhof“ als Diskursphänomen und Diskursprodukt. Zugleich wird damit die bis heute relevante Frage aufgeworfen, wie und ob weibliche Stimmen im öffentlichen Diskurs machtvolle Positionen besetzen können und Gehör finden: „Die Frau, die schwingt sich auf zu Unerhörtem, deshalb wird sie wohl so selten nur gehört.“56 An anderer Stelle, nämlich in ihrem Vorwort zu einer englischen Ausgabe von Texten Ulrike Meinhofs,57 verdichtet Jelinek ihre feministische Kritik, dass „Spielformen weiblicher Herrschaft […] alle in den Tod führen, weil politische Herrschaft fu¨ r eine Frau immer Überschreitung ist“58. Im Gegensatz zum Thea51 52 53 54 55 56 57 58

Schiller (1996), III,4, V. 2443f. UMS 148. UMS 149. Vgl. auch Haß, Ulrike (2009). Morphing Schiller. Die Szene nach dem Dialog. Anmerkungen zu Jelineks ‚Ulrike Maria Stuart‘. In: Bähr, Christine/Schößler, Franziska (Hrsg.). Ökonomie im Theater der Gegenwart. Ästhetik, Produktion, Institution. Bielefeld: transcript. 331–342. UMS 44. UMS 29. Vgl. z. B. Brückner, Christine (1983). Wenn du geredet hättest, Desdemona. Ungehaltene Reden ungehaltener Frauen. Hamburg: Hoffmann und Campe. Beard, Mary (2017). Women & Power. A Manifesto. New York, London: Liveright. Jelinek, Elfriede (2008). Ulrike Marie Meinhof. Übersetzt von Karin Bauer. In: Bauer, Karin (Hrsg.). Everybody Talks about the Weather… We Don’t. The Writings of Ulrike Meinhof. New York: Seven Stories Press. 9f. Jelinek in: Anders, Sonja/Blomberg, Benjamin von (2006). „Vier Stu¨ ck Frau“. Vom Fließen des Sprachstroms. Einige Antworten von Elfriede Jelinek. In: Thalia Theater (Hrsg.). Ulrike Maria Stuart. Programmheft Nr. 66. Spielzeit 2006/2007. Hamburg: Thalia Theater. 7–22. 11.

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tertext formuliert sie hier durchaus eine psychologisierende Deutung Ulrike Meinhofs, indem sie konstatiert: Da Meinhof als Frau nicht gehört bzw. gelesen worden sei, seien ihre Texte immer verbitterter, ihre Ansichten immer radikaler geworden. Was in „Ulrike Maria Stuart“ dezidiert vermieden wird – die Psychologisierung Meinhofs und die inhaltliche Auseinandersetzung mit ihren Texten – verlagert die Autorin Jelinek in ein anderes Format. Hier zeigt sich ein Dilemma von Jelineks Terroristinnen-Text: „Ulrike“ wird hier in Übereinstimmung mit der Biographie Ulrike Meinhofs als Frau charakterisiert, die „[s]o viel schrieb und schrieb und dachte und schrieb und dachte und schrieb!“59, und deren politisches Engagement wesentlich mit dem Lesen und Schreiben verknüpft ist: „[E]ure Mutter macht schon wieder eine Leseliste, stellt sie sich zusammen aus dem eignen Heimgebirge an Gedrucktem, aus dem heraus ihr Feuer lodert“60. Dabei lässt sich durchaus eine gewisse Sympathie mit der schreibenden Aktivistin erkennen, beispielsweise wenn mit Blick auf die Gegenwart kritisch angemerkt wird, dass „die Revolte niemand nötig mehr befindet“61. Der Text legt – wie Jelineks Vorwort zu Meinhofs Texten – nahe, dass sich innerhalb der RAF und insbesondere bei „Ulrike“ aus einer Resignation über die Wirkungslosigkeit der Worte („Es liest ja keiner“62; „doch keiner hört uns zu“63) ein Primat der ‚Tat‘ gegenüber dem Denken, Schreiben und Sprechen durchsetzen konnte64, das vor allem mit „Gudrun“ assoziiert wird. Während in Jelineks Text also einerseits die ‚Unhörbarkeit‘ „Ulrikes“ und ihre schwache Diskursposition als Frau kritisiert werden, setzt er andererseits genau diese kritisierte Haltung fort, indem Ulrike Meinhofs Texte allenfalls dekonstruktiv zitiert werden, an keiner Stelle jedoch eine inhaltliche Auseinandersetzung mit ihren Texten oder politischen Ideen stattfindet. Dieser Rückzug auf die ‚bloße Dekonstruktion‘ führt dazu, dass einer als paternalistisch ausgestellten und kritisierten Diagnose des ‚Chors der Greise‘ – vermutlich unwillentlich – zugearbeitet wird: „[I]hre Theorien sind nur auf Sand gebaut, wahrscheinlich hat sie keine und behauptet alles, ohne vorher auch nur einmal nachzudenken, denn für die Frau stellt sich das Sinnproblem viel unausweichlicher als für Männer“65, kommentieren diese. Die Auslagerung der Auseinandersetzung mit der politischen Person und Autorin Ulrike Meinhof in 59 60 61 62 63

UMS 33. UMS 16, vgl. auch 25. UMS 18. UMS 30. UMS 99. Vgl. auch: „und all der Geist, er führt zu nichts, es ist vergeblich, nur noch ein paar Jahre, sicher nicht mehr viele, keiner wird mehr denken dann, wie einer, jeder Revolution zu helfen wäre, nicht einmal das Wort wird kennen man, nur Quatsch wird alles sein, Gerede, Achtlosigkeit den Sätzen gegenüber, die und heilig waren früher, und Rechtfertigung wird ausgeschlossen sein für immer.“ (UMS, 48). 64 Vgl. UMS 88, 92. 65 UMS 12.

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ein anderes Format und die – wenn auch kritische und enthüllende – Wiederholung vergeschlechtlichender Motive der RAF-Diskursgeschichte in „Ulrike Maria Stuart“ machen deutlich, mit welchen Herausforderungen und Dilemmata Versuche einer ‚Diskurkorrektur‘ oder auch nur die kritische literarische Beleuchtung der Rezeptionsgeschichte Ulrike Meinhofs konfrontiert sind.

5.

„Das schweigende Mädchen“ – Dekonstruktion von Weiblichkeitsmythen als ‚Arbeit‘ der Lesenden

Einen weiteren Topos, der historisch eine wichtige Rolle für Weiblichkeitsvorstellungen spielt – die Jungfräulichkeit –, bringt Jelinek in „Das schweigende Mädchen“ durch eine weitere Mythenüberblendung ins Spiel: Das „Mädchen“ wird immer wieder als „Jungfrau“ Maria adressiert, die zwei „Erlöser“66 geboren habe. Einerseits wird damit die rechtsnationale Ideologie des ‚NSU‘ aufgerufen,67 das „Töten, damit ein Volk erlöst werden kann“68, andererseits rückt diese Adressierung die Rolle des Geschlechts in der öffentlichen und medialen Aufmerksamkeit für den ‚NSU‘ in den Fokus der kritischen Auseinandersetzung und stellt die Frage nach dessen Auswirkungen auf die Beurteilung der Rolle von Zschäpe.69 Immer wieder wird im Text thematisiert, dass Beate Zschäpe, wie sich aus der medialen Berichterstattung erfahren lässt,70 die Eierstöcke entfernt wurden: „Das Mädchen hat keine Eierstöcke“71; „Unfruchtbar wie ein Stück Holz“72. Gemeinsam mit der eigenen überspitzten Vergeschlechtlichung als ‚Jungfrau‘ sensibilisiert die Erwähnung dieser für die Urteilsfindung unerheblichen und dennoch weit verbreiteten Information („jetzt weiß es jeder“73) für die 66 DsM 187. 67 Zugleich wird der Antisemitismus und die die Islamophobie der Gruppe im selben Motivfeld konterkariert, indem die Jungfrau Maria selbst auftritt und ihre Verwandtschaft mit den anderen Religionen – „alle Abrahams Kinder“ (DsM, 271) – betont. 68 DsM 181, Hervorhebung NP. 69 Vgl. dazu Kaufhold, Charlie (2015). In guter Gesellschaft? Geschlecht, Schuld und Abwehr in der Berichterstattung u¨ ber Beate Zschäpe. Mu¨ nster: edition assemblage. Kaufhold konstatiert das Vorherrschen von zwei geschlechtlich kodierten Deutungen: die Banalisierung und die Dämonisierung. Ein Medienversagen konstatiert Jelinek nicht nur in Hinblick auf die Wiedergabe falscher Verdächtigungen in der langen Phase, in der im Umfeld der Opfer ermittelt wurde, sondern auch in der Konzentration auf die sexuellen Beziehungen zwischen Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos: „eine Ehefrau von zweien, als Jungfrau? Wo gibt’s denn sowas? Hier, wo das Volk durch seine Zeitungen spricht und sich selbst dabei zuhört.“ (DsM, 421). 70 Z. B. Fuchs, Christian/Goetz, John (2012). Beate, die braune Witwe. Die Zeit Nr. 23 vom 31. 5. 2012, 15–17. 17. 71 DsM 294. 72 DsM 179. 73 DsM 390.

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implizit im Terroristinnen-Bild mitschwingenden Weiblichkeitsbilder und eine nach wie vor zu beobachtende Vorstellung der gewalttätigen Frau als auf einer geschlechtlichen Ebene deviantes bzw. besonderes Wesen.74 Kombiniert werden diese Zuschreibungen mit der Wiedergabe verharmlosender Weiblichkeitsklischees, die wiederum Bezug nehmen auf Topoi der Medienberichterstattung: „Also nein, das Mädchen macht gar nichts, es plant, das glaube ich, es plant, aber es macht nichts, das Mädchen gehört nicht zur Tat“75; „sie hat gekocht, die kleine Hausfrau ohne Haus“76. Die Banalisierung und Verharmlosung der Täterin aufgrund ihres Geschlechts stellt Jelinek in die medizinhistorische Tradition der Behauptung einer spezifischen ‚Andersartigkeit‘ von Frauen aufgrund ihrer Physiognomie: Das Mädchen bleibt zu Hause und macht Lärm mit den Nachbarinnen. Frauen sind so. Mädchen womöglich noch mehr […]. Sie backen, essen und trinken. […] Das ist ihre tiefe Andersartigkeit, ich verstehe das nicht, sie ist auf die Wirkung eines einzigen Organs, der Gebärmutter, zurückzuführen. So, und was ist mit den Eierstöcken? 77

Diese Schein-Affirmation wird in der Folge jedoch gleich wieder unterlaufen durch einen Vergleich der „Gebärmutter als tiefes Organ, aber eins, das nicht spricht, als tiefes Organ wie der tiefe Staat im Staat. Wir sehen nur die Auswirkungen.“78 Von der Geschlechtlichkeit der Täterin lenkt diese sprachliche Assoziation die Aufmerksamkeit – allerdings in einer insbesondere in Verschwörungstheorien verwendeten Terminologie – auf die unaufgeklärt bleibende Beteiligung staatlicher ‚Organe‘ an den Taten des ‚NSU‘. Neben der völkischen Ideologie und Fremdenfeindlichkeit des NSU-Trios, der vergeschlechtlichten Deutung Zschäpes sowie den „Lügen der Journalisten“79 ist dieses der vierte große Kritikpunkt, den Jelineks Text umkreist: „Und sie wissen alle nichts […]; die Staatsmacht und ihre Vertreter auf Erden […], die wissen alle nichts“.80 An der Attribuierung Beate Zschäpes als Jungfrau lässt sich anschaulich verdeutlichen, wie Jelinek Mythen als Überzeichnung von kritisierten Diskursfiguren entwirft und diese dann im selben Text erneut destruiert, so dass die eigene Mythisierung nicht zu einer Schließung kommt, sondern als Figur der Kritik 74 Auf ein Schlagwort des feministischen Protests anspielend („dieser Körper, der trotz allem mir gehört und immer mir gehören wird“, UMS 46), kritisiert Jelinek vergleichbar auch den Umgang mit Meinhofs Leiche und die Veröffentlichung von Details der Autopsieergebnisse. Vgl. zur Analyse der Entnahme und Untersuchung von Ulrike Meinhofs Gehirn aus einer geschlechtertheoretischen Perspektive Third, Amanda (2010). Imprisonment and Excessive Femininity. Reading Ulrike Meinhof ’s Brain. Parallax 16:4. 83–100. 75 DsM 320. 76 DsM 358. 77 DsM 460. 78 DsM 460. 79 DsM 366. 80 DsM 372.

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deutlich wird. Wie im Falle der Assoziation Ulrike Meinhofs mit Medea, wird auch die ‚Jungfrau‘-Assoziation auf unterschiedliche Arten unterlaufen und in sich in Frage gestellt. Ebenfalls wie im Falle der Medea-/Mutter-Passagen findet diese Dekonstruktion allerdings z. T. stark verschlüsselt und wenig zugänglich statt, wie das folgende Beispiel zeigt: Wiederholt gibt der Text Einblick in seine Produktionsweise (oder fingiert dies), indem ein Buch über die Jungfrau Maria erwähnt wird, das bereits bestellt sei und noch in den Text eingearbeitet werden solle,81 bis es schließlich heißt: „Es ist da, und ich kann es abschreiben, wie alles andre auch!“82 Dieses ‚Abschreiben‘ findet jedoch – zumindest erkennbar – nicht statt und nur ein Blick in die bei Jelinek bereits traditionelle (und traditionell unvollständige) „Liste“83 verwendeter Literatur lässt erkennen, dass es sich bei dem erwähnten Buch wahrscheinlich um Jungfrauengeburt? von Gert Lüdemann84 handelt. Wie dieser Text beschäftigt sich auch ein weiterer Titel der Liste mit einer kritischen Infragestellung der Jungfräulichkeit Marias bzw. erklärt diese diskurs-, kultur- und übersetzungsgeschichtlich.85 Eine Komponente der Dekonstruktion der mythischen Figur der Jungfrau, mit der Zschäpe überzeichnet und so zugleich als Gegenstand mythisierender Weiblichkeitsvorstellungen fokussiert wird, wird in diesem Fall gewissermaßen in die Rezipierenden ausgelagert: Erst durch den Nachvollzug dessen, was laut Text noch Eingang in diesen hätte finden sollen, erschließt sich die historisch-kulturtheoretische Ebene der Subversion des Jungfrauen-Motivs. Die dekonstruktiv geschulten Jelinek-Rezipierenden unternehmen die ‚Arbeit‘ selbst. Dieses Vorgehen lässt sich als Teil einer „noch nicht gekannte[n] […] dekonstruktive[n] Selbstironie“86 lesen, wie sie Fliedl bereits für „Ulrike Maria Stuart“ konstatiert. Zugleich verweist dieses Beispiel – wie bereits die Medea-/Mutter-Querverweise in „Ulrike 81 Vgl. DsM 449. Der Text liefert insgesamt viele Erwähnungen von Schreib- und Produktionsszenen sowie der Nutzung verschiedener Medien im Entstehungsprozess des Textes. Zu der an Jelinek selbst erinnernden Sprechinstanz vgl. ausführlicher Scheit, Gerhard (2015). Versuch über Elfriede Jelineks Das schweigende Mädchen. In: Janke, Pia (Hrsg.). JELINEK[JAHR]BUCH. Elfriede Jelinek Forschungszentrum 2014–2015. Wien: Praesens. 98–111. 82 DsM 450. 83 DsM 463. 84 Lüdemann, Gerd (2008). Jungfrauengeburt? Die Geschichte von Maria und ihrem Sohn Jesus. Springe: zu Klampen. 85 Vgl. Rösel, Martin (1991). Die Jungfrauengeburt des endzeitlichen Immanuel: Jesaja 7 in der Übersetzung der Septuaginta. Jahrbuch für biblische Theologie 6. 135–151. Die hier zu findende Deutung der Jungfräulichkeit Marias als Effekt eines – bewussten oder unbewussten – Übertragungssfehlers in der Septuaginta-Übersetzung aus dem Althebräischen – statt Jungfrauen kann das hier stehende althebräische Wort auch Erstgebärende bezeichnen – wäre eine Erkenntnis ganz in Jelineks Sinn: die ganz konkrete Enthüllung des Ursprungs eines der größten Weiblichkeitsmythen als Sprachprodukt. 86 Fliedl, Konstanze (2007). Terror im Spiel. In: Gutjahr, Ortrud (Hrsg.). Ulrike Maria Stuart von Elfriede Jelinek. Würzburg: Königshausen & Neumann. 55–61. 61.

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Maria Stuart“ – auf ein zentrales Dilemma des poetologischen Verfahrens von Elfriede Jelinek, das wiederum bereits in den Texten selbst angesprochen wird, nämlich die Frage nach der Wirksamkeit des Schreibens und der unternommenen Dekonstruktionen. Die Texte Jelineks im Allgemeinen und ihre Dekonstruktionsarbeit im Besonderen sind keineswegs einfach zugänglich, insbesondere das voraussetzungsvolle Zitier- und Anspielungsverfahren adressiert eher das elitäre Publikum von „Symposien und Tagungen und Workshops“87 statt Breitenwirksamkeit zu entfalten. Damit steht das Verfahren im Widerspruch zu den Zielen einer engagierten Literatur, die politisch und gesellschaftlich Einfluss nehmen möchte, während Jelineks Themenauswahl und der Impetus ihrer Texte eine solche Wirkungsabsicht durchaus erkennen lassen.88 Dies gilt auch für die beiden hier untersuchten Texte89, die auf einer Metaebene das Schreiben selbst thematisieren. War es in „Ulrike Maria Stuart“ „Ulrike“, die als endlos und wirkungslos Schreibende erschien, so stellt „Das schweigende Mädchen“ dem Schweigen Beate Zschäpes das endlose Schreiben einer Jelinek-Persona gegenüber: „diese[] Frau hier, die Sie da schreiben sehen, die sich traut, was zu sagen, obwohl das kein Wagnis ist und sie an nichts und niemand glaubt und auch niemand an sie und obwohl sie keine Ahnung hat, obwohl, nein, weil sie also sieht und doch nicht glaubt, spielt sich auch nichts ab“90. Angesichts des langen Schweigens über die rechtsterroristischen Taten und ihres fortgesetzten Verschweigens91 („Das Land schweigt wie diese Jungfrau. Deutschland schweigt, indem es unaufhörlich redet, und wenn es nicht redet, dann schreibt es was oder spricht über das, was es geschrieben hat“92; „es sind ja auch zu viele da, die es nicht hören wollen“93) erscheint eine kritische Thematisierung der Ereignisse unerlässlich: „Schweigen jedoch kann ich auch wieder nicht, das ist Ihnen in-

87 UMS 137. 88 Vgl. auch Janke, Pia/Kaplan, Stefanie (2013). Politisches und feministisches Engagement. In: Janke, Pia (Hrsg.). Jelinek-Handbuch. Unter Mitarbeit von Christian Schenkermayr und Agnes Zenker. Stuttgart, Weimar: Metzler. 9–20. 89 In „Ulrike Maria Stuart“ werden mehrfach aktuelle Ereignisse und Entwicklungen kritisch thematisiert (z. B. UMS, 18, 25, 42; vgl. dazu Annuß, Evelyn (2008). Stammheim nach Shakespeare. Versuch über Isolationszelle und Guckkasten. In: Stephan, Inge/Tacke, Alexandra (Hrsg.). NachBilder der RAF (= Literatur – Kultur – Geschlecht 24). Köln: Böhlau. 246– 267). Und „Das schweigende Mädchen“ ist als Kritik zu lesen an Fremdenfeindlichkeit, insbesondere aber auch an der mangelnden Aufklärung der ‚NSU‘-Zusammenhänge. 90 DsM 256. 91 Zum Topos des Schweigens vgl. ausführlicher Brod, Anna (2018). Talking about Silence and Talking instead of Silence in Elfriede Jelinek’s Das schweigende Mädchen. In: Gillhuber, Eva/ Rieger, Rita (Hrsg.). Texts with No words: The Communication of Speechlessness. Beiheft von PhiN. Philologie im Netz 15. 146–162. 92 DsM 267. 93 DsM 424.

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zwischen wohl seit Stunden klar geworden. Nicht wie das Mädchen“94; „es muß einer sprechen, der den Schrecken aushält.“95 Zugleich wird das Ergebnis als für das als Sprechinstanz auftretende „ICH“ als nicht zufriedenstellend beschrieben: „kein Prädikat, kein Prädikatstext das hier, ich habe mich ehrlich bemüht“96; „ich [habe] keine Einfälle mehr […] oder zu wenige, ich habe nicht einmal genug, um sie als Dämm-Material zu verwenden, auch wenn ich sie ständig wiederhole.“97 Fokus der ausgestellten, zum Teil des kritisierten Textes werdenden Text-Kritik ist Strategie des Rückgriffs auf verfügbare Materialien, das Aufschreiben dessen, was zuvor anderswo gelesen wurde: „sie wüßten auch gern, was geschehen ist, hier bei mir erfahren sie es, doch nur soweit ich es zuvor woanders gelesen habe.“98; „Das kennen Sie alles schon. Mein Problem ist, daß ich immer nur sagen kann, was alle schon wissen.“99 Nicht nur „Ulrike Maria Stuart“, sondern auch „Das schweigende Mädchen“ inszeniert also nicht nur Dekonstruktion, sondern auch ihr „Dilemma“100: „Der Diskurs – die Dekonstruktion – geht folgenlos in die Endlosschleife“101. Während die ‚Endlosschleife‘ in „Das schweigende Mädchen“, zu der immer wieder auch tautologische Aussagen über die Länge des Textes gehören,102 noch als performative Kritik lesbar ist (wie der Prozess ist Jelineks Text „endlos“, ohne zu einer „Wahrheit“ vorzudringen), erscheint die umfangreiche Wiederholung weiblicher Stereotype in „Ulrike Maria Stuart“ als eine riskantere Strategie der Kritik. Zwar werden die Weiblichkeitsvorstellungen und -zuschreibungen, wie gezeigt, mythenkritisch dekonstruiert, zugleich perpetuiert allein ihr Aufrufen ihre Diskurs-Präsenz. Dass die die Terroristin auch hier wieder – wenn auch in kritischer Absicht – in erster Linie im Kontext der Geschlechterthematik beschrieben wird, führt eben noch nicht dazu, dass sie jenseits dieser Kategorie verstanden und gedacht wird. Aber vielleicht ist das eine ein notwendiger Schritt, um das andere zu ermöglichen.

94 95 96 97 98 99 100 101 102

DsM 389. DsM 175. DsM 338. DsM 255. DsM 257. DsM 234. Fliedl (2007), 60. Fliedl (2007), 60. Z. B. „Sie sitzen schon seit Stunden hier“ (DsM, 346); „Ich weiß, ihr habt schon längst genug von mir und meinem Gerede“ (DsM, 361); „ich bin noch lang nicht fertig, stöhn!“ (DsM, 363); „ich rede ja seit Stunden darüber“ (DsM, 354).

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Ines Böker

„Wir sind gekommen, doch wir sind gar nicht da“ – Mythologische Formationen von Macht und Gewalt in Aischylos’ Die Schutzflehenden und Elfriede Jelineks Die Schutzbefohlenen

Abstract Die (wechselseitigen) Mythostransformationen und Mythos(de)konstruktionen der beiden im Zentrum des Beitrags stehenden Beispiele – Aischylos’ Die Schutzflehenden und Elfriede Jelineks Die Schutzbefohlenen – vermögen zu zeigen wie die Tragödie der Antike und ihre Transformation in der Textfläche des Gegenwartstheaters eine Formung der dramatischen Darstellungen und der mit ihnen verbundenen politischen Potentiale beobachtbar macht, um auf diese Weise einerseits politisch zu wirken und andererseits selbst eine völlig eigene künstlerische Form zu generieren. Das Figurenpersonal zeichnet sich dabei vor allem durch weitreichende mythologische Verweisungszusammenhänge aus, die sich einer einmütigen Deutung irritierend widersetzen und tiefgreifende Formationen von Macht und Gewalt enthüllen. Die Aushandlung des Verhältnisses von produktiver Transformation und Transmission in der Darstellung mythologischer und dramatischer Formationen von Macht und Gewalt erweist sich dergestalt als bedeutsames Untersuchungsfeld. Keywords: Mythentransformation, Jelinek, Macht, Gewalt, Fluchtdramen

1.

Mythentransformation und politischer Protest

2013, in Anschluss an die Flüchtlingsproteste in der Wiener Votivkirche, verfasst Elfriede Jelinek den ersten Entwurf für ihre chorisch angelegte Textfläche Die Schutzbefohlenen. Zu Beginn von Jelineks Text heißt es: Wir leben. Wir leben. Hauptsache, wir leben, und viel mehr ist es auch nicht als leben nach Verlassen der heiligen Heimat. Keiner schaut gnädig herab auf unseren Zug, aber auf uns herabschauen tun sie schon. Wir flohen, von keinem Gericht des Volkes verurteilt, von allen verurteilt dort und hier.1 1 Jelinek, Elfriede (2018). Die Schutzbefohlenen/Wut/Unseres. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. 9. Hiernach: JS. Die Textfläche Die Schutzbefohlenen wurde von Elfriede Jelinek am 14. 06. 2013 online auf ihrer Internetseite veröffentlicht und anschließend (08/11/2013; 14/11/2014; 29/09/ 2015) von ihr selbst fortgeschrieben und erweitert. Vgl. https://elfriedejelinek.com/fschutzbe fohlene.htm. (Stand: 23/02/2022).

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Ines Böker

Diese Eröffnungsworte der jelinekschen Textfläche verweisen auf ein Mehrfaches. Zum einen ist hier das zentrale Motiv des Textes, die aktuelle und hoffnungslose Situation der Geflüchteten, angesprochen. Jelinek reagiert mit Die Schutzbefohlenen direkt auf die ‚Refugee Protest Bewegung Vienna‘, bei der Geflüchtete und Unterstützer:innen ein Protestlager vor und in der Votivkirche in Wien errichtet haben und in einen Hungerstreik getreten sind. Der titelgebende Begriff, der dem juristischen Bereich entlehnt ist, verweist dabei nicht nur auf die Gruppe der protestierenden Geflüchteten/Asylbittenden, sondern lenkt die Aufmerksamkeit sogleich auf die moralisch-sittliche Verpflichtung ihnen gegenüber. Was so zum Austrag kommt, ist eine gewendete Perspektivierung, da der Blick direkt auf die gesellschaftliche Verpflichtung gerichtet wird, innerhalb derer ein legitimes Anrecht in der Erwartungshaltung der Schutzbefohlenen zu verorten ist. Damit wird deutlich, in welcher Weise in Die Schutzbefohlenen die eingangs benannte Darstellung der Hoffnungslosigkeit und die moralisch-sittliche Anforderung in einem paradoxalen Gefüge zusammentreffen. Auf der Ebene des sprachlichen Ausdrucks ist in dem obigen Zitat eine offensichtliche Doppeldeutigkeit angelegt, die als scheinbares Sprachspiel den grausamen Inhalt störend verschiebt. Auf der anderen Seite verweist die Verbindung von „Verlassen der heiligen Heimat“ und „herabschauen“2 direkt auf die Eingangszeilen von Aischylos’ Die Schutzflehenden, mit denen die Chorführerin das Stück eröffnet: Zeus, Hort auf der Flucht,/möge schaun voller Huld,/Auf unsere Schar, die zu Schiff aufbrach/Von dem Mündungsgebiet, dem feinsandiegen Ried/Des Nils. Das heilige verlassend, /Nahe Syrien das Land, sind wir nun auf der Flucht […].3

Während Jelinek mit ihrer Textfläche explizit in die aktuelle politische Debatte um den Umgang mit Geflüchteten und bestehende Asylgesetze eingreift, in die sie sich durch eine außerordentlich kritische Position für die Geflüchteten einbringt4, kreist ihre Arbeit gleichzeitig um die Frage nach der Transformation der attischen Tragödie, die ebenfalls wesentliche Momente der Gewaltsamkeit der Flucht und der Asylrechte von Geflüchteten ausstellt. Dieses Wechselspiel zwischen aktueller Flucht- und Asylthematik und der antiken Referenzfolie, in der 2 JS, 9. 3 Aischylos (1980). Die Schutzflehenden. Tragödien und Fragmente. Hrsg. und übers. von Oskar Werner. München: Ernst-Heimeran-Verlag. V. 1–5. 4 Vgl. hierzu: Moser, Anita (2018). Verhandlung von Zugehörigkeitsordnungen in Fluchtkontexten. Wir/Andere-(De-)Konstruktionen im Umfeld der Schutzbefohlenen. In: Bleuler, Marcel/Moser, Anita (Hrsg.). Ent/Grenzen. Künstlerische und kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Grenzräume, Migration und Ungleichheit. Bielefeld: transcript. 79–101. Für die Verortung von Jelinek als politische Autorin vgl.: Janke, Pia/Kovacs, Teresa (Hrsg.) (2017). Schreiben als Widerstand. Elfriede Jelinek und Herta Müller (= Diskurse/Kontexte/Impulse). Wien: Praesens Verlag.

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„Wir sind gekommen, doch wir sind gar nicht da“

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es um die Flucht und Verfolgung der fünfzig Danaiden vor einer Zwangsverheiratung mit ihren Cousins geht, lehnt sich an Jelineks transformatives Verfahren an, indem ihre Texte „aus dem kultur- und kunstgeschichtlichen Reservoir“ schöpfen und „Bezüge zur antiken Tragödie, der europäischen Theaterund Dramengeschichte, philosophischen Diskursen und Konstruktionen“ herstellen.5 Auf irritierende und schockierende Weise dekonstruiert das Theater Jelineks „historische und gegenwärtige Ereignisse und entdeckt in diesen Prozessen verschüttete und verdrängte Formationen von Gewalt und Verbrechen“.6 Im Zeichen einer ‚Ästhetik der Störung‘ bewirkt Jelineks Mythostransformation zu Aischylos’ Die Schutzflehenden einen Dissens, in dessen Fluchtlinie der weitreichende gesellschaftskritische Impetus des Schreibens bei Jelinek ersichtlich wird.7 Der hier gesetzte Begriff der Störung erweist sich aus gesellschaftspolitischer Perspektivierung zentral, da Störungen „Aufschluss über die Etablierung politisch-sozialer, epistemischer und medialer Wirklichkeits- und Gesellschaftsbilder“ geben.8 „Kunstwerke die einer Ästhetik der Störung folgen“, so Kovacs, „berühren somit nicht nur künstlerische Bereiche, sondern deutlich auch politische und soziale Aspekte und gehen in ihrer Wirkung weit über die Infragestellung der eigenen Verfasstheit hinaus.“9 Ist das „Theater stets ein Ort gesellschaftlich-politischer Provokation und öffentlicher Provokation gewesen“10, konfrontiert Jelinek ihr Publikum mit den (chorischen) Stimmen der Asylsuchenden als moralisch-sittliche Schutzbefohlene im Kontext von Formationen von Gewalt und Macht in der mythischen Überlieferung. Ihre Mythentransformation verbindet sich mit der Kritik an gegenwärtigen politischen Programmen vor dem Hintergrund von Menschenrechten im Umfeld von Fluchtdiskursen und Asylverfahren. Ihr Theatertext folgt in Die Schutzbefohlenen den verwobenen Pfaden der mythologischen Einschreibungen und formalen Verfahrensweisen die bereits in Aischylos’ Die Schutzfliehenden angelegt sind.11 Die Akzeptanz einer inneren Paradoxie der Mythostransformation in ein wechselseitiges Spannungsverhältnis einerseits und einen sie gleichsam aktualisierenden, auf 5 Meister, Monika (2013). Theaterästhetik. Bezüge zur Theatertradition. In: Janke, Pia (Hrsg.). Jelinek-Handbuch. Stuttgart, Weimar: Metzler. 68–74. 6 Meister (2013), 68. 7 Vgl. zu Jelineks ‚Ästhetik der Störung‘: Kovacs, Teresa (2016). Drama als Störung. Elfriede Jelineks Konzept des Sekundärdramas. Bielefeld: transcript. 8 Ebd., 271. 9 Ebd., 271. Vgl. hierzu: Koch, Lars/Nanz, Tobias (2014). Ästhetische Experimente. Zur Ereignishaftigkeit und Funktion von Störungen in den Künsten. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 173. 94–115. 10 Lehmann, Hans-Thies (2012). Einleitung. In: Groß, Martina/Lehmann, Hans-Thies (Hrsg.). Populärkultur im Gegenwartstheater. Berlin: Theater der Zeit. 8–17. 13. 11 Der Begriff des ‚Sekundärdramas‘ ist hier – trotz der intertextuellen Struktur – für den Theatertext Die Schutzbefohlenen nicht anzuwenden. Vgl. Kovacs (2016), 269.

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Ines Böker

die politische Situation zugespitzten, Widerstandsakt andererseits ist die Bedingung, unter der im folgenden Jelineks Die Schutzbefohlenen und Aischylos’ Die Schutzflehenden auf mythologische Formationen von Macht und Gewalt hin untersucht werden.

2.

Mythenkorrekturen

Die Tragödie des Aischylos transportiert die Aushandlungen um das Asylrecht der fliehenden Danaiden in einem ambivalenten Spannungsverhältnis, welches durch mythologische Verweisungszusammenhänge gekennzeichnet ist: Wenngleich der Einzug von fünfzig Jungfrauen, die zudem mit in Wollfäden geknüpften Zweigen – dem Signum der Schutzflehenden – ausgestattet sind, vorderhand nicht mit einem gefährlichen Charakter versehen sein mag, erscheint dieser Aufzug für die Theatergemeinschaft durch einen provokanten Bruch mit den mythologischen Verweisungszusammenhängen rund um die Danaiden gleichwohl als drohende Gefahr, denn die fliehenden Danaiden sind dem Publikum als außerordentlich gewalttätige und furchteinflößende Mörderinnen aus der voraischyleischen mythologischen Überlieferung bekannt.12 Offeriert Aischylos dem Publikum somit die Danaiden in einem störungsgeladenen Spannungsfeld, werden diese von Pelasgos entsprechend irritiert und in ihrer furchteinflößenden Fremdartigkeit ausgestellt empfangen. Von Pelasgos wird nicht nur weiterhin ein gefährlicher amazonenhafter Charakter in die Darstellung der Danaiden hineinprojiziert, ihre Ankunft wird zudem mehrfach mit der Bedrohlichkeit eines Schwarms verglichen. Die bereits in Aischylos’ Tragödie angelegte Evokation der unheilvollen Gefahr findet sich in Die Schutzbefohlenen in der Figuration des Schwarms, „indem er nicht nur begrifflich alle sich mit ihm verbindenden Assoziationen auslotet, sondern auch in seiner Struktur die konstitutiven Merkmale des Schwarms reflektiert.“13 Angesichts des ambivalenten Spannungsverhältnisses, das in Aischylos’ Die Schutzflehenden unter Berücksichtigung der mythologischen Verweisungszusammenhänge beobachtbar erscheint, wird die Tragödienaufführung im Gefüge der Mythentradition zum paradoxalen Ort, der mit einem Konzept einer ‚Mythenkorrektur‘ ganz unterschiedliche Imaginationen lesbar macht und „auf der stets präsent gehaltenen Folie des alten Mythos neue Denkmöglichkeiten“ er-

12 Vgl. Gödde, Susanne (2000). Das Drama der Hikesie. Ritual und Rhetorik in Aischylos’ Hiketiden. Münster: Aschendorff. 13 Felber, Silke/Kovacs, Teresa (2015). Schwarm und Schwelle: Migrationsbewegungen in Elfriede Jelineks Die Schutzbefohlenen. Transit 10:1. 1–14. 5.

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„Wir sind gekommen, doch wir sind gar nicht da“

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öffnet werden können.14 Mit der Mythenkorrektur soll eine „Distanzierung von den traditionellen Vorstellungsweisen“ erlaubt werden, indem diese eben in „prägnanter Weise“ durchbrochen werden und damit „neue Räume der Imagination zugänglich“ erscheinen.15 Die hier beschriebene Verlagerung des Mythos beinhaltet als „konstitutives Moment“ ihrer berichtigenden Form den „notwendigen Rückbezug“ auf das Referenzmedium.16 Die Mythenkorrektur unterscheidet sich von der Variation, indem diese einen offensichtlichen „Eingriff in den Mythenkern“ vornimmt, aber in der „immer zu leistende[n]“ Rückbezüglichkeit bleibt ein Element der „grundsätzlichen ‚Dialogizität‘.“17 Den Zustand eines Eingriffs in den Kern des Mythos nennen Vöhler und Seidensticker in Anlehnung an Brecht ‚Mythenkorrektur‘, da „[d]erartig radikale Eingriffe in den Mythenkern […] nicht mehr als Variationen verstanden werden“ können.18 Auf den ersten Blick scheint das Konzept der Mythenkorrekturen als „modernes Phänomen“, es lassen sich jedoch „bereits in der archaischen griechischen Literatur“ Mythenkorrekturen ausmachen.19 Die Mytenkorrektur ist durch ihre prinzipiell gegenläufige Einstellung zum Mythos deutlich von der Mythenkritik zu trennen. Die Mythenkorrektur hält am Mythos fest. Dieser wird (zum Teil gravierend) ‚berichtigt‘, aber konstruktiv fortgeschrieben und nicht verworfen. Die Verwerfung erfolgt erst auf der Ebene der Mythenkritik, die dadurch bestimmt ist, daß sie den Mythos nicht mehr erneuernd fortschreibt, sondern ihn grundsätzlich ablehnt und zurückweist.20

In diesem Zusammenhang kann auch Jelineks Schutzbefohlenen als Mythenkorrektur gelesen werden. Während Die Schutzbefohlenen im Verfahren der jelinekschen Textfläche keine Handlungsführung aufweisen, verhandeln Aischylos’ Schutzflehenden das Thema von Flucht und Asylbitte anhand der Darstellung der Ankunft der fünfzig Danaiden in Argos, der Aufnahmeverhandlungen mit Pelasgos – dem Herrscher von Argos – und der später stattfindenden Ankunft der Verfolger der Danaiden. In den Schutzflehenden wird, gegensätzlich zu den Schutzbefohlenen letztlich das Asylrecht gewährt, wofür Artur Pełka den aischyleischen Schutzflehenden somit eine „tiefe Humanität […], die sich im Sieg der Willkommenskultur über die Sicherheit der Polis manifestiert“ attestiert, die im „Kurzschluss“ in Jelineks Schutzbefohlenen zu „einem textimmanenten clash 14 Vöhler, Martin/Seidensticker, Bernd (Hrsg.) (2005). Mythenkorrekturen. Zu einer paradoxalen Form der Mythenrezeption (= Spectrum Literaturwissenschaft 3). Berlin, New York: de Gruyter. 11. 15 Ebd., 11. 16 Ebd., 7. 17 Ebd., 7. 18 Ebd., 4. 19 Ebd., 4. 20 Ebd., 7.

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der Kulturen, der die Dehumanisierung der europäischen Zivilisation gnadenlos dekuvriert“ führen soll.21 Der düstere Befund eines scheiternden Umgangs mit den Geflüchteten ist jedoch der aischyleischen Tragödie als Formation von Macht und Gewalt durchgängig ebenso ablesbar. Anstelle einer Mythenkorrektur kann hier – unter Berücksichtigung der in Aischylos’ Tragödie bereits vorgenommenen Mythenkorrektur sowie der dort angelegten ambivalenten Dynamik des Asylbegehrens – eine Transformation beobachtbar gemacht werden, für die grundlegend gilt: Die Vergangenheit […] stellt nicht ein Arsenal fragloser Faktizitäten dar, sondern indem ihr eine wie immer auch zu beschreibende dynamis, ein Vermögen zur Wirkung und Evidenz (energeia) zugeschrieben wird, ist sie keine ein für alle Mal feststehende Entität. Vielmehr wird die Vergangenheit erst im Effekt ihrer Transformation gebildet, modelliert, verändert, angereichert, aber auch negiert, verfemt, vergessen oder zerstört.22

Für die „Disposition“ der Geflüchteten bei Aischylos verweist Susanne Gödde entsprechend auf deren „Zustände des Aufgelöstseins und der Entgrenzung“23“; Fluchtpunkt der aischyleischen Schutzflehenden ist somit nicht einfach eine gelungene Asylgewährung, die „zum Ausweis einer auch humanitären Vorrangstellung“ der Polis führt, sondern vielmehr eine „auf Dauer gestellt[e]“ Flucht und Asylbitte, in der „mehrfache – soziale, politische und ethische – Aushandlungsprozesse“ inszeniert werden.24 Die Widersetzlichkeit gegen die Aufnahme der Danaiden in Argos, die von den geflüchteten Jungfrauen ausgehandelt werden muss, zeigt sich „in Form von vehement vertretenen Territorialansprüchen (V. 250–237) und Fremdheitszuschreibungen (V. 277–290) sowie einer in der Metapher des Schiffsbruchs entfalteten Entscheidungskrise des Pelasgos (V. 407–417).“25 Als Dauerproblem zeigt sich für die Danaiden die Unsicherheit des vermeintlich durch göttliche Gesetze versicherten Schutzstatus. Als „mögliche Dramaturgie der Verleihung eines widerruflichen Status“ kann die agonale Formgebung der Stychomytie zwischen den Danaiden und Pelasgos gelesen werden, die „die Verleihung des Wohnrechts in der Stadt Argos in Form

21 Pełka, Artur (2016). Das Spektakel der Gewalt – die Gewalt des Spektakels. Angriff und Flucht in deutschsprachigen Theatertexten zwischen 9/11 und Flüchtlingsdrama. Bielefeld: transcript. 156. 22 Böhme, Hartmut (2011). Einladung zur Transformation. In: Hartmut Böhme et al. (Hrsg.). Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels. München: Fink. 7–37. 8. 23 Gödde, Susanne (2018). Asyl als Übergang. Transiträume in der griechischen Tragödie. In: Menke, Bettine/Vogel, Juliane (Hrsg.). Flucht und Szene. Perspektiven und Formen eines Theaters der Fliehenden. Berlin: Theater der Zeit. 26–48. 36. 24 Ebd., 39. 25 Ebd., 37.

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des Agon“ inszeniert und damit einen prekären Status markiert.26 Die Orientierung an den allgemeingültigen Ordnungsgefügen geht in dieser Verhandlung in der Tragödie verloren, indem vermeintliche Gesetze in Frage gestellt werden. Das gewaltsame der tragischen Erfahrung zeigt sich in dieser Verunsicherung, denn „[i]n ihrer theatralen Darstellung – und nicht etwa in der rein physischer Gewalt – gründet der Erscheinungsschrecken der Tragödie.“27 Wird den Danaiden im Folgenden tatsächlich zugesprochen, dass sie in Argos Asyl erhalten, bleibt dieser Schutzstatus durchgängig weiterhin prekär. Eine wesentliche Rolle spielt das „Sprechen der um Schutz Bittenden, das ein ‚Sprechen um Leben und Tod‘“ zu sein vermag.28 Zur Aufnahme der Danaiden kommt es jedoch erst durch die Drohung der Frauen, dass diese den heiligen Ort der Altäre mit ihrem Selbstmord beflecken. Ein gewaltsamer wechselseitiger Machtkampf um die Annahme oder Ablehnung des somit nur scheinbar gesicherten Schutzstatus durch die Gesetzgebung wird sichtbar. Entgegen der Entwürfe einer vorbildlichen Antike, mit einem „Sakralrecht, das Fremden, Bettlern und Verfolgten, insbesondere geflohenen Sklaven, aber auch Mördern Schutz versprach“, lässt sich beobachten, dass Asyl und Hikesie in der literarischen, historiographischen und ikonographischen Überlieferung vor allem als Situationen des Prekären, des Flüchtigen und des Kampfs um Rechte und Verfahren begegnen und gerade deshalb für die antike Tragödie zum geeigneten räumlichen und affektiven Modell der Instabilität und des Konflikts werden konnten.29

Pelasgos fordert von den Danaiden in den Schutzflehenden ferner eine Erklärung der Rechtmäßigkeit ihrer Flucht und ihrer Asylbitte ein. In der schnellen Wechselrede zwischen den beiden Parteien bleiben die Forderungen und Erklärungen dabei beiderseitig deutungsoffen. Mitverantwortlich dafür ist die Sprachverwendung im tragischen Diskurs, für die Hans-Thies Lehmann in Theater und Mythos konstatiert: Der tragische Diskurs setzt die denotative Funktion der Sprache selbst aufs Spiel, indem systematisch eine Mehrzahl von Bedeutungen offen bleibt. Ein berühmtes Beispiel sind die Chortexte des Aischylos, wo viele Zeilen praktisch Wort für Wort verschiedene Lesarten möglich machen.30

26 Pewny, Katharina (2011). Das Drama des Prekären. Über die Wiederkehr der Ethik in Theater und Performance. Bielefeld: transcript. 30. 27 Trautsch, Asmus (2020). Der Umschlag von allem in nichts. Theorie tragischer Erfahrung. Berlin, Boston: de Gruyter. 13. 28 Gödde (2018), 32. 29 Ebd., 26. 30 Lehmann, Hans-Thies (1991). Theater und Mythos: die Konstitution des Subjekts im Diskurs der antiken Tragödie. Stuttgart: Metzler. 169.

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Dabei treten das (vermeintliche) Verstehen und Missverstehen nicht nur in der Deutungsoffenheit im Rezeptionsakt auf, sondern die Frage danach wird in Aischylos’ Die Schutzflehenden ebenso eigens thematisiert: Wenn schließlich in der als Rätsel vorgebrachten Erpressung das Verstehen, dem diese Szene eine zentale Bedeutung zuweist, mit Gewalt erwirkt wird, so läßt sich auch hier wohl kaum von ‚interkultureller‘ Verständigung sprechen. Die Aufnahme der ‚Asylanten‘ gestaltet sich stattdessen als eine widerständige Rezeptions-Situation.31

Damit erscheint beobachtbar, dass in der Tragödie somit keine einfache Schutzfunktion durch die Flucht zum heiligen Zufluchtsort ausgestellt wird: „Nicht die Verbindlichkeit eines religiösen Gesetzes wird demonstriert, sondern dessen Überschreitung pointiert den Konflikt, den die Tragödie zur Darstellung bringt.“32

3.

Zusammenhang von Inhalt und Form in Die Schutzflehenden und Die Schulzbefohlenen

Die paradoxale Anlage des heiligen Zufluchtsortes findet sich in Jelineks Text wieder und insbesondere bei der Veröffentlichung der Schutzbefohlenen auf ihrer Internetseite zeigt sich dieser widersprüchliche Charakter zusätzlich in einem der beigefügten Bilder: Es ist eine Fotografie der protestierenden Asylbewerber:innen am Altar der Votivkirche zu sehen.33 Die Integration der Fotografien verweist zeitgleich auf die Medienkritik und die Probleme medialer Aneignung, welche auch in der jelinekschen Textfläche thematisiert werden. In den Schutzbefohlenen fungiert die Textfläche als künstlerische Kritik an den bestehenden Verhältnissen und verleiht dem dargestellten Flüchtlingschor auf der Bühne (zumindest vermeintlich) Gehör. Nun verhält es sich zwar so, dass die dominierenden chorischen Monologe des Flüchtlingschors durch kollektive sowie einzelne Stimmen und intertextuelle Versatzstücke unterbrochen werden, so dass die monologische Struktur wenigstens formallinguistisch durchbrochen wird. Gleichzeitig aber bleibt die Textfläche in einem „monologischen Sprechfluss“34 verhaftet, der das Gehör und die Anerkennung des Gesagten unterläuft. Die chorische Anlage des Stückes entspricht wiederum ihrem Referenzmedium 31 32 33 34

Gödde (2000), 213. Gödde (2000), 79. Vgl. https://elfriedejelinek.com/fschutzbefohlene.htm. (Stand: 23/02/2022). Weiershausen, Ramona (2018). Verstehen werden Sie nicht, und unser Reden wird ins Leere fallen: Elfriede Jelineks Die Schutzbefohlenen und die Anerkennungsthematik im Theater der Flucht. In: Kanz, Christine/Stamm, Ulrike (Hrsg.). Anerkennung und Diversität. Würzburg: Könighausen und Neumann. 207–219. 213.

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Die Schutzflehenden. Hier ist zunächst ein interessanter Befund der AischylosForschung zu veranschlagen, da die Schutzflehenden nicht nur inhaltlich die Flucht- und Asylthematik prominent inszenieren, sondern bereits in der formalen Anlage der Schutzflehenden und der damit verbundenen Datierungsdebatte des Stückes wesentliche Elemente eines Gestus des dargestellten Fluchtgeschehens mit dem Darstellungsverfahren einhergehen.35 In der Forschung galten die Schutzflehenden – begründet durch ihre außerordentlich chorisch angelegte Form – lange Zeit als die älteste überlieferte attische Tragödie. Walther Kraus veranschlagt diesbezüglich eine fremdartige Anlage des Stückes: der Chor ist hier nicht reflektierender Begleiter der Handlung, sondern ihr Träger, der dramatische Held. Seine Lieder nehmen den breitesten Raum ein, und auch im Dialog ist er weithin Partner, sei es vertreten durch die Chorführerin, sei es unisono singend.36

Die aus dieser Anlage resultierende Frühdatierung, in der der Tragödie des Aischylos ein archaischer Charakter attestiert wurde, musste mit der Auffindung eines Fragments, welches die Datierung der Schutzflehenden auf die Zeit um 463 unserer Zeitrechnung belegt, revidiert werden. Susanne Gödde stellt in diesem Zusammenhang heraus: Die Forschung hatte sich mit ihren eigenen Vorurteilen auseinanderzusetzen, musste sich Fehler eingestehen und kam anläßlich dieses ‚Präzedenzfalls‘ zu grundsätzlich neuen Einsichten über die Genese eines Gesamtwerkes und über die Verläßlichkeit positivistischer und statistischer Stilanalysen.37

Mit eben der fälschlich angenommenen Frühdatierung lässt sich fragen, warum Aischylos gerade für die Darstellung der Schutzflehenden von den bereits etablierten Formen abweicht. Die chorische Anlage verleiht dem Stück eine völlig andere Dynamik, die die Bewegung und Gewaltförmigkeit des Fluchtgeschehens durchaus spiegelt. Obwohl die Flucht über das Meer der einsetzenden Handlung vorausgeht, erscheint es in den Schutzflehenden mehrfach, als befänden sich die Danaiden noch immer auf der gefährlichen Flucht über das Gewässer.38 Eine weitere Korrespondenz zwischen Aischylos’ Tragödie und der jelinekschen Textfläche zeigt sich in den entsprechenden poetischen Bildern. Die Grausamkeiten des Fluchtgeschehens und die Absurditäten der Verhandlung des Asylbegehrens werden insbesondere durch wiederkehrende Bezüge auf die Flucht über das Meer virulent. . Das Meer wird insbesondere in seiner Bedrohlichkeit in einer grundlegend negativen Konnotation ausgestellt. Auf der einen 35 Vgl. Gödde (2000). 36 Kraus, Walther (1999). Nachwort. Die Schutzsuchenden. In: Aischylos/Kraus, Walther. Der gefesselte Prometheus/Die Schutzsuchenden. Stuttgart: Reclam. 119–152. 119. 37 Gödde (2000), 4. 38 Vgl. Gödde (2000).

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Seite zeigt sich das „nasse Grab, so wird es auch gern genannt von denen, die in Wegrichtung ertrinken unterwegs sind“.39 Auf der anderen Seite wird die sprachunsensible Verwendung einer Metaphorik, die die Gefahr des Meeres in Form der Naturkatastrophe aufruft, wiederholt in den Blick genommen. Es zeigt sich die Kritik am Umgang mit den Geflüchteten und die dem Text inhärente Medienkritik. Bewusst hält Jelinek aber ebenso die Bedeutung ihrer poetischen Bilder und ihrer Sprachverwendung in der Schwebe, wie der folgende ‚überflutende‘ Satz aus dem Ende der Textfläche, in dem mehrere der zuvor benannten Aspekte ersichtlich werden, zu zeigen vermag: Das Ungerührtsein von Gerührten, von über Katzenvideos Gerührten, von Hundebabys Gerührten, uns verhüllt naht schon die Zukunft, doch, obwohl verhüllt, sehen wir sie, wir haben auch schon den Abgrund ergründet, war gar nicht so schlimm, einen Grund haben wir dafür nicht gehabt, wo doch sogar das Meer einen hat, irgendwo, wir wollten einfach nur schauen, ja, die Zukunft sehen wir auch bereits, ja, die, dort drüben, im noch geheimeren Dunkel, sagen Sie uns, worum wir noch flehen sollen und vor allem, warum?40

Die Suche nach einem Ende der Flucht wird zur Reise in die Abgründe des grausamen menschlichen und medialen (Fehl-)Verhaltens sowie politischen Versagens gegenüber den Geflüchteten. Immer wieder greift Jelinek zur Versinnlichung der Doppeldeutigkeit ihrer Sprachbilder auf dieselben poetischen Bilder wie Aischylos zurück und erweitert diese um ihre zeitaktuelle Folie. Bei Jelineks Transformation der aischyleischen Schutzflehenden wird jedoch – trotz der aufgezeigten wechselseitigen Bezüglichkeiten – deutlich, in welcher Weise im Gegenwartstheater zum zeitaktuellen Fluchtdiskurs Darstellungsfragen und gesellschafts-politische Missstände zusammentreffen: Auflösungen jeglicher Sprecherpositionen in der Textfläche führen zu dem Einbruch einer völligen „Unbestimmtheit der Form“ die auf das Beobachtbarmachen „der Abwesenheit eines gültigen, öffentlichen und bekannten Verfahrens“ in der Asylpolitik zielt.41 So heißt es entsprechend im letzten Satz der Schutzbefohlenen: „Wir sind gekommen, doch wir sind gar nicht da.“42 Elfriede Jelineks Die Schutzbefohlen greift die kritischen Implikationen der aischyleischen Schutzflehenden und die damit verbundenen Problemstellungen auf und verbindet sie mit einer ästhetischen Radikalisierung, um den Formationen von Macht und Gewalt in Vergangenheit und Gegenwart gerecht zu werden. 39 JS, 63. 40 JS, 97. 41 Vogel, Juliane/Menke, Bettine (2018). Das Theater als transitorischer Raum. Einleitende Bemerkungen zum Verhältnis von Flucht und Szene. In: Menke, Bettine/Vogel, Juliane (Hrsg.). Flucht und Szene. Perspektiven und Formen eines Theaters der Fliehenden. Berlin: Theater der Zeit. 7–23. 14. 42 JS, 97.

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„Wir sind gekommen, doch wir sind gar nicht da“

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Bibliographie Aischylos (1980). Die Schutzflehenden. Tragödien und Fragmente. Hrsg. und übers. von Oskar Werner. München: Ernst-Heimeran-Verlag. Böhme, Hartmut (2011). Einladung zur Transformation. In: Hartmut Böhme et al. (Hrsg.). Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels. München: Fink. 7– 37. Gödde, Susanne (2000). Das Drama der Hikesie. Ritual und Rhetorik in Aischylos’ Hiketiden. Münster: Aschendorff. Gödde, Susanne (2018). Asyl als Übergang. Transiträume in der griechischen Tragödie. In: Menke, Bettine/Vogel, Juliane (Hrsg.). Flucht und Szene. Perspektiven und Formen eines Theaters der Fliehenden. Berlin: Theater der Zeit. 26–48. Felber, Silke/Kovacs, Teresa (2015). Schwarm und Schwelle: Migrationsbewegungen in Elfriede Jelineks Die Schutzbefohlenen. Transit 10:1. 1–14. Janke, Pia/Kovacs, Teresa (Hrsg.) (2017). Schreiben als Widerstand. Elfriede Jelinek und Herta Müller (= Diskurse/Kontexte/Impulse). Wien: Praesens Verlag. Jelinek, Elfriede (2018). Die Schutzbefohlenen/Wut/Unseres. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Koch, Lars/Nanz, Tobias (2014). Ästhetische Experimente. Zur Ereignishaftigkeit und Funktion von Störungen in den Künsten. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 173. 94–115. Kovacs, Teresa (2016). Drama als Störung. Elfriede Jelineks Konzept des Sekundärdramas. Bielefeld: transcript. Kraus, Walther (1999). Nachwort. Die Schutzsuchenden. In: Aischylos/Kraus, Walther. Der gefesselte Prometheus/Die Schutzsuchenden. Stuttgart: Reclam. 119–152. Lehmann, Hans-Thies (1991). Theater und Mythos: die Konstitution des Subjekts im Diskurs der antiken Tragödie. Stuttgart: Metzler. Lehmann, Hans-Thies (2012). Einleitung. In: Groß, Martina/Lehmann, Hans-Thies (Hrsg.). Populärkultur im Gegenwartstheater. Berlin: Theater der Zeit. 8–17. Meister, Monika (2013). Theaterästhetik. Bezüge zur Theatertradition. In: Janke, Pia (Hrsg.). Jelinek-Handbuch. Stuttgart, Weimar: Metzler. 68–74. Moser, Anita (2018). Verhandlung von Zugehörigkeitsordnungen in Fluchtkontexten. Wir/ Andere-(De-)Konstruktionen im Umfeld der Schutzbefohlenen. In: Bleuler, Marcel/ Moser, Anita (Hrsg.). Ent/Grenzen. Künstlerische und kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Grenzräume, Migration und Ungleichheit. Bielefeld: transcript. 79–101. Pełka, Artur (2016). Das Spektakel der Gewalt – die Gewalt des Spektakels. Angriff und Flucht in deutschsprachigen Theatertexten zwischen 9/11 und Flüchtlingsdrama. Bielefeld: transcript. Pewny, Katharina (2011). Das Drama des Prekären. Über die Wiederkehr der Ethik in Theater und Performance. Bielefeld: transcript. Trautsch, Asmus (2020). Der Umschlag von allem in nichts. Theorie tragischer Erfahrung. Berlin, Boston: de Gruyter. Vogel, Juliane/Menke, Bettine (2018). Das Theater als transitorischer Raum. Einleitende Bemerkungen zum Verhältnis von Flucht und Szene. In: Menke, Bettine/Vogel, Juliane

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Ines Böker

(Hrsg.). Flucht und Szene. Perspektiven und Formen eines Theaters der Fliehenden. Berlin: Theater der Zeit. 7–23. Vöhler, Martin/Seidensticker, Bernd (Hrsg.) (2005). Mythenkorrekturen. Zu einer paradoxalen Form der Mythenrezeption (= Spectrum Literaturwissenschaft 3). Berlin, New York: de Gruyter. Weiershausen, Ramona (2018). Verstehen werden Sie nicht, und unser Reden wird ins Leere fallen: Elfriede Jelineks Die Schutzbefohlenen und die Anerkennungsthematik im Theater der Flucht. In: Kanz, Christine/Stamm, Ulrike (Hrsg.). Anerkennung und Diversität. Würzburg: Könighausen und Neumann. 207–219.

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Giuliano Lozzi

Die trans-formierende Stimme der Eurydike. Zu Schatten (Eurydike sagt) von Elfriede Jelinek1

Abstract Ausgehend von den Mythen von heute von Roland Barthes und von den Untersuchungen zur Dialogizität von Michail Bachtin und deren Rezeption durch Julia Kristeva analysiert dieser Beitrag das 2012 erschienene Stück von Elfriede Jelinek Schatten (Eurydike sagt) mit besonderem Fokus auf dem Formbegriff. Dieser wird dabei nicht als eine „fixierte Gestalt“, sondern als eine lebendige, organische Entität verstanden. Insbesondere soll anhand der Textanalyse gezeigt werden, dass Elfriede Jelineks Umgang mit dem Mythos in einer aktiven und quasi handwerklichen Trans-formation mittels der Sprache besteht. Es soll dargelegt werden, dass die Verwendung der rhetorischen Bedeutung der weiblichen Stimme der Eurydike, die impliziten und expliziten intertextuellen Verweise auf verschiedene Werke und der radikale Perspektivenwechsel der tradierten mythischen Geschichte als eine trans-formierende Arbeit gesehen werden kann, die verschiedene textuelle und metatextuelle Aspekte berührt. Keywords: Eurydike, Elfriede Jelinek, Schatten, Roland Barthes, Ingeborg Bachmann

1.

Elfriede Jelineks mythisches Konzept

Dass die Auseinandersetzung mit dem Mythos ein zentrales Prosa-Verfahren der Literatur-Nobelpreis-Trägerin Elfriede Jelinek ist, wurde in verschiedenen Studien über ihr literarisches und theatralisches Werk gezeigt2. Vom Mythos als Dekonstruktion, von einer „Zertrümmerung des Mythos“3, von der „Destruktion des Mythos“, vom „Ende des Mythos“4 ist in der kritischen Literatur zu Jelinek oft 1 Ich möchte mich bei Barbara Bollig, Anna Lenz, Ines Böker und Solvejg Nitzke bedanken, die mir anlässlich der Tagung aufschlussreiche Anregungen zur Erweiterung des Vortrages gegeben haben. 2 Vgl. Degner, Uta (2013). Mythendekonstruktion. In: Janke, Pia (Hrsg.). Jelinek-Handbuch. Stuttgart: Metzler. 41–46; Szczepaniak, Monika (1998). Dekonstruktion des Mythos in ausgewählten Prosawerken von Elfriede Jelinek. Frankfurt a. M.: Peter Lang. 3 Brunner, Maria E. (1997). Die Mythoszertrümmerung der Elfriede Jelinek. Neuried: Ars Una. 4 Schenkermayr, Christian (2009). Ende des Mythos? – Beginn der Burleske? Versuch einer Annäherung an das Verhältnis von Mythendekonstruktion und burlesker Komik in einigen

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die Rede. Dabei stehen für Jelinek jene Begriffe im Vordergrund, die nicht auf eine destruktive Zersplitterung, sondern auf konstruktive Praktiken der Dekonstruktion und der Demontage des Mythos abzielen. „Jelinek dekonstruiert den Mythos“, stellen Anna Babka und Peter Clar fest, „indem sie dessen Bedeutung übernimmt, in neue Kontexte setzt, die Bedeutung erweitert, leicht variiert und somit den Mythos unterwandert“5. Darüber hinaus hat das dekonstruktivistische Verfahren, so Marlies Janz, mit der Erzeugung einer „fundamentalen Intertextualität“ zu tun, die alle „Prä-, Sub- oder Intertexte“ der österreichischen Autorin prägt und ein enormes Wissenspotential besitzt6. In der Jelinek-Forschung ist die Verknüpfung Jelinek-Dekonstruktivismus demnach sehr präsent, ein richtiger Topos, obgleich „der Begriff […] manchmal auch zur Worthülse verkommt“7. Natürlich kann die weitläufige, theoretische Debatte rund um den Dekonstruktivismus, der laut einer Expertin wie Bärbel Lücke die (sprach-)philosophische Grundierung der jelinekschen Literatur und ihrer Assoziationskunst ist8, hier nicht analysiert werden. Betrachtet man aber den Begriff Dekonstruktivismus näher, bemerkt man bekanntlich, dass er Konnotationen des Abbauens, des Zerlegens, der Dezentralisierung mitschwingen lässt, die im Rahmen der Beschäftigung mit dem Mythos zu diskutieren sind. Die Dekonstruktion möchte ich, gemäß dem Schwerpunkt dieses Bandes, mit den theoretischen Begriffen der Transformation, der Form und der Intertextualität in eine dynamische Dialogizität treten lassen, die ich hier im Sinne von Michail Bachtin verstehen werde. Die Theorie der Dialogizität, die der russische Denker in einen sprachtheoretischen Kontext einordnete und die prinzipiell als Kritik gegen den linguistischen Standpunkt von Ferdinand de Saussure gesehen werden kann, wurde 1967 von Julia Kristeva aufgenommen. In ihrem Aufsatz Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman bezeichnet die französische Denkerin den Dialog als „die Schreibweise zugleich als Subjektivität und als

5 6 7 8

Dramen Elfriede Jelineks. In: Leyko, Małgorzata/Pełka, Artur/Prykowska-Michalak, Karolina (Hrsg.). Felix Austria – Dekonstruktion eines Mythos? Das österreichische Drama und Theater seit Beginn des 20. Jahrhunderts. Fernwald: Litblockin. 344–363. Babka, Anna/Clar, Peter (2014). Elfriede Jelinek. Positionen zu Leben und Werk. In: Wie, Liu/ Müller, Julian (Hrsg.). Frauen.Schreiben (Österreichische Literatur in China). Band 2. Wien: Präsens. 51–77. 73. Janz, Marlies (1993). Mythendekonstruktion und Wissen. Aspekte der Intertextualität in Elfriede Jelineks „Die Ausgesperrten“. Text und Kritik 117. 38–50. Babka/Clar (2014), 60. Lücke, Bärbel (2007). Elfriede Jelineks ästhetische Verfahren und das Theater der Dekonstruktion. Von Bambiland/Babel über Parsifal (Laß o Welt o Schreck laß nach) (für Christoph Schlingensiefs „Area 7“) zum Königinnendrama Ulrike Maria Stuart. In: Janke, Pia et al. (Hrsg.). Elfriede Jelinek. Ich will kein Theater. Mediale Überschreitungen. Wien: Praesens. 61– 83.

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Die trans-formierende Stimme der Eurydike

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Kommunikativität, oder besser gesagt, als Intertextualität […]“9. Jeder Text lässt sich also als ein „Mosaik von Zitaten“ darstellen, als „Absorption“ und „Transformation“ eines anderen Textes, und stellt sich außerdem als ein dynamisches Gewebe dar, dessen Worte sich in einer horizontalen und vertikalen Richtung bewegen: Die horizontale Richtung beleuchtet das Verhältnis von Autor:in und Adressat:in, die vertikale berücksichtigt die Auseinandersetzung des Textes mit vergangenen und gegenwärtigen Texten10. Im Gegensatz zum Monologismus, der, so Kristeva, typisch für die epische Rede ist, treten im Kontext der dialogischen Texte die Konzepte des Karnevalesken und der Menippea11, die bei Bachtin eine bedeutende literarische und symbolische Funktion einnehmen, in den Vordergrund. Einerseits steht der Karneval für die Subversion und die Umkehrung der Realität und ruft ein sehr ernstes Lachen hervor, das nicht Parodie, sondern, à la Artaud, „Mord und Revolution“12 entspricht. Andererseits schließt die Schreibweise der menippeischen Satire verschiedene Gattungen ein und bringt eine bittere bis grausame politische Botschaft mit sich, deren Absicht es ist, die herrschende Macht lächerlich zu machen.

2.

Den Mythos de- bzw. trans-formieren

Was das Wort Transformation anbelangt, so stammt es vom lateinischen ‚transformatio‘ und weist auf einen schöpferischen und kreativen Prozess hin, der auf die Überwindung bzw. die Infragestellung der „äußerlichen Form“ abzielt. In diesem Kontext kann hier auch das griechische Wort μεταμόρφωση genannt werden, in welchem μετα („durch“) und μορϕή („Form“) zusammengesetzt sind. Auf die theoretischen Begriffe der Form als μορϕή möchte ich im Folgenden kurz eingehen und sie an den Kernbegriff des Mythos anschließen. Im Rahmen ihres Projekts zur Entwicklung des Formbegriffes und zum gegenwärtigen Formalismus stellt Eva Axer fest: „Form ist zwar ein seit Langem etablierter, zugleich aber erstaunlich unbestimmter Begriff“13. Die Form soll hier nicht aus einer ästheti-

9 Kristeva, Julia (1967). Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman. In: Jens, Ihve (Hrsg.). Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven. Bd. III: Zur linguistischen Basis der Literaturwissenschaft. Frankfurt a. M.: Athenäum. 345–375. 10 Kristeva (1967), 348. 11 Die Menippeische Satire ist eine Art freche und bittere Satire, die auf den kynischen griechischen Autor Menippos von Gadara zurückgeht. Ein berühmtes literarisches Beispiel für die Gattung der Menippea in der lateinischen Literatur ist Senecas Apokolokyntosis, das als eine Satire des Schriftstellers auf den Kaiser Claudius zu verstehen ist. 12 Kristeva (1967), 364. 13 Axer, Eva (2019). Formsache? Wie eine neue Formalistische Literaturtheorie über ihren Gegenstand debattiert. Abrufbar unter: https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2019/01/21/eva-axe

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schen Perspektive betrachtet werden, sondern in ihrem weitesten, quasi organischen Sinn, auf den Eva Geulen im Kontext ihrer Untersuchung zur Morphologie Goethes eingegangen ist. Es handelt sich nicht um ein festes, historisiertes, auf ein bestimmtes Gebiet bzw. auf eine bestimmte Zeit eingeschränktes Konzept, sondern eher um eine Zusammensetzung von Form und Leben, die sich in der Zeit gewandelt hat und sich immer noch wandelt. „Form“, begründet Geulen in Anlehnung an Cassirers Formbegriff und an Agambens forma-di-vita, „wird nun dynamisiert und funktional gedacht – sie ist eine nicht länger fixierte oder fixierende Gestalt, sondern bezieht sich auf Prozesse, auf Formprozesse […] und auch auf Lebensprozesse.“14 Was die Beschäftigung von Elfriede Jelinek mit der mythischen Form anbelangt, so ist ihr Essay Die endlose Unschuldigkeit15 als unvermeidlicher Ausgangspunkt ihrer Arbeit zu verstehen. Mit dem einleitenden Satz „es kann nämlich alles mütos werden“16 deutet Jelinek mittels eines ironisch gemeinten sprachlichen Spiels mythos/mütos an, dass Roland Barthes’ Mythen des Alltags eine zentrale Rolle im Rahmen ihrer mythischen Konstellation spielen. In diesem essayistischen Beitrag, der als eine gestalterische Zusammensetzung verschiedener Auszüge, Fragmente und Zitate aus verschiedenen Werken zu definieren ist, wird der „mütos“ als eine Entität beschrieben, deren Funktion es ist, „zu deformieren, nicht etwa ganz verschwinden zu lassen“17. Auf die Begriffe der Deformation und des Verschwindens, die Jelinek hier einführt, wird im Folgenden noch eingegangen. Laut Roland Barthes basiert die mythische Botschaft grundsätzlich auf einer semiologischen Methode, die aus drei Ebenen besteht: Signifikant, Signifikat und Zeichen. Sie schließt eine Zusammensetzung von Sinn und Form ein, die, ähnlich wie das ideographische System, eine dritte Bedeutung schafft, die eben die mythische ist. Interessant ist die zentrale Rolle, die die Form in Barthes’ Ausführung spielt und auf die er immer wieder Bezug nimmt: Wie schon gesagt, es gibt keine Beständigkeit in den mythischen Begriffen: Sie können sich bilden, sich wandeln, zerfallen, vollständig verschwinden […]18

14 15 16 17 18

r-werner-michler-marjorie-levinson-die-neuen-formalismen-form-geschichte-gesellschaftdrei-beitraege/ (Stand: 23/02/2022). Geulen, Eva (2016). Aus dem Leben der Form. Goethes Morphologie und die Nager. Berlin: August Verlag. 12. Jelinek, Elfriede (1970). Die endlose Unschuldigkeit. In: Matthei, Renate (Hrsg.). Trivialmythen. Frankfurt a. M.: März Verlag. 40–66. Ebd., 40. Ähnlich hatte sich Roland Barthes in Mythen des Alltags ausgedrückt: „Also kann alles Mythos werden? Ich glaube ja, denn das Universum ist unendlich suggestiv“. Barthes, Roland (2010). Mythen des Alltags. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 251. Jelinek (1970), 41. Jelinek zitiert hier wörtlich Roland Barthes. Barthes (2010), 266.

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und weiter: Das Verhältnis, das den Begriff des Mythos mit dem Sinn verbindet, ist wesentlich ein Deformationsverhältnis. […] Natürlich ist diese Deformation nur möglich, weil die Form des Mythos bereits aus einem linguistischen Sinn besteht […]. Doch diese Deformation ist keine Vernichtung19.

Und darüber hinaus: „Der Mythos verbirgt nichts. Seine Funktion ist es zu deformieren, nicht verschwinden zu lassen“20. Die Form rückt also wieder in den Mittelpunkt der Theorie des Mythos von Roland Barthes, der „formale, […] keine substantiellen Grenzen“21 besitzt und als lebendig gesehen werden kann, denn Barthes Mythen des Alltags liegt gerade eine Transformation und Deformation, gewissermaßen ein „Manipulationsakt“22 der mythischen Materie zugrunde, die die schöpferische Leistungsfähigkeit des Menschen heraufbeschwört und oft unberücksichtigt bleibt.

3.

Die Stimme/n von Eurydike: Elfriede Jelineks Schatten (Eurydike sagt)

In diesem theoretischen Rahmen möchte ich ein theatralisches Stück von Jelinek analysieren, dessen vielversprechender Titel Schatten (Eurydike sagt) lautet und untersuchen, wie die Autorin mit der Form des Mythos umgeht23. Es handelt sich um einen komplizierten Text, ein verworrenes Gewebe, das man aus einer äußerlich formalen Perspektive als einen Monolog bezeichnen kann, in dem Jelinek die Stimme der Eurydike hören, lesen oder spielen lässt. Das Stück wurde 2012 an der Philharmonie Essen uraufgeführt und war im Anschluss in ganz Europa erfolgreich. Jelinek sucht sich hier als Protagonistin eine Nymphe aus, die sich von den stark politisch konnotierten, weiblichen Mythenfiguren einer Antigone oder einer Medea, mit der sich die Literaturtheorie und die Theaterwissenschaft häufiger befasst hat, deutlich unterscheidet24. 19 20 21 22 23

Ebd., 268. Ebd., 267. Ebd., 251. Schenkermayr (2009), 345. Jelinek, Elfriede (2012). Schatten (Eurydike sagt). In: Theater heute 10 (Das Stück). Hiernach wird die Zitation des Primärtextes durch die Sigle SEs abgekürzt. Der Dramentext ist auch auf der offiziellen Webseite von Elfriede Jelinek verfügbar. 24 Vgl. Stephan, Inge (2016). Frau – Körper – Stimme. Genderperformanzen bei Elfriede Jelinek – Vergleichende Lektüren von Bild und Frau (1984) und Schatten (Eurydike sagt) (2012). In: Horvath, Andrea/Kathschthaler, Karl (Hrsg.). Konstruktion –Verkörperung – Performativität. Genderkritische Perspektiven auf Grenzgänger_innen in Literatur und Musik. Wien:

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Die ersten Werke, in denen die mythische Geschichte von Orpheus und Eurydike erzählt wird, sind das erste Buch der Georgica von Vergil und das zehnte Buch der Metamorphosen von Ovid, das Jelinek als ihre Quelle am Ende des Textes erwähnt. Eurydike befindet sich im Hades, nachdem sie auf der Flucht vor der Vergewaltigung durch Aristaeus von einer Schlange gebissen wurde. Orpheus ist ein beliebter Sänger, der von Pindar als „hochgepriesener Vater der Gesänge“ bezeichnet wurde25. Er ist Sohn der Muse Kalliope und des Sonnengottes Apollon, und Eurydike ist seine Frau. Den Tod seiner Geliebten kann er nicht ertragen und will sie unbedingt wiedersehen. Er begibt sich in den Hades, wo Hades und Persephone ihn empfangen. Sie sind von seinem Klagelied so begeistert, dass sie ihm ausnahmsweise gestatten, Eurydike wieder in die Welt der Lebenden zu bringen – unter einer Bedingung: Er darf sich nicht nach ihr umsehen, bis beide das Sonnenlicht erreichen. Eurydikes Schicksal hängt also von Orpheus ab. Bekanntlich schafft Orpheus es nicht, die Bedingung zu erfüllen. Er wendet sich um. Eurydike muss im Hades bleiben. Von Jelinek wird Eurydike als eine verärgerte, traurige, einsame Frau dargestellt, die auf Orpheus schimpft, der mittlerweile ein bekannter Pop-Star geworden ist. Sie möchte Dichterin werden, kann es aber nicht, weil sie als Muse und als Objekt ihres Mannes leben muss. Mit wohl ausgewählten Worten greift sie sowohl jene Mädchen an, die Fans ihres Mannes geworden sind, als auch ihren Mann selbst und dessen Vater Apoll, der die Sonne symbolisiert. Es gibt keine richtige Handlung, aber man weiß, dass Eurydike am Schluss von Orpheus nicht zurückgeholt, sondern von ihm fotografiert und ihr Bild in seinem Handy gespeichert wird26. Die Frage, die Jelinek in ihrer Ausdeutung des Mythos stellt, lautet: Will Eurydike von Orpheus überhaupt gerettet werden? Will sie die Dunkelheit des Hades wirklich verlassen? Hofft sie wirklich, von Orpheus geliebt zu werden? Die Antwort auf diese Fragen scheint nein zu sein. Eurydike attackiert den ganzen Monolog hindurch Orpheus und seinen Vater, den Gott Apollon, und ähnlich wie in der Menippea erscheinen ihre Angriffe gleichzeitig sehr ernst und sehr amüTranscript. 105–121. Inge Stephan präzisiert, dass die Figur von Eurydike in Klaus Theweleits Buch der Könige (1988) bereits behandelt und sie als Opfer der Kunst gesehen wurde. 25 Vgl. Deufert, Marcus (1997). Orpheus in der antiken Tradition. In: Storch, Wolfgang (Hrsg.). Mythos Orpheus. Texte von Vergil bis Ingeborg Bachmann. Stuttgart: Reclam. 266–273. 26 Vgl. Jirku, Brigitte E. (2013). „Ich bin“. Schatten und Schattenreich als Unorte. Zu Elfriede Jelineks Schatten (Eurydike sagt). Jelinek [Jahr]buch. 58–72. Den Schlussakt des Fotografierens sieht Brigitte Jirku als einen Verweis auf das Werk Le chaimbre claire von Roland Barthes, in dem er die Fotografie u. a. als ein flaches, fixierendes Bild sieht, wenn sie nicht zu einem Nachdenken anregt. So Jirku: „Der Sänger verewigt Eurydike als Objekt; für sie ist es der endgültige Beweis, dass es ihm nie um sie als Person gegangen ist; sie war sein Schatten – seine Inspiration, sein Alibi. Das Bild, das Eurydike ersetzt, gilt ihm fortan als Inspiration“ (ebd., 60).

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sant. Ausdrücklich stellt Eurydike fest: „Ich will im Schatten bleiben und Schatten sein und bleiben“27. Diese Deformation des Mythos besitzt sowohl eine rhetorische als auch auktoriale Funktion. Dem Monolog liegt die rhetorische Figur der Prosopopöie zugrunde, deren Funktion es ist, so Paul De Man28, einer „stimmlosen oder verstorbenen Entität“29 eine Stimme zu geben. Eurydike verzichtet bei Jelinek auf ihre vom Mythos tradierte Stummheit, um zu Worte zu kommen. In diesem Kontext scheint eine Ausführung von Sigrid Weigel zur historischen Sprachlosigkeit der Frauen sehr treffend zu sein: Ist die historische Position von Frauen eher die der Schweigenden, so steht das Weibliche mit dem Verschwiegenen, dem Verdrängten in einer engen Verbindung. Wenn Frauen, um diesen Ort zu verlassen, schreibend an der hier skizzierten Erinnerungsarbeit teilhaben wollen, so müssen sie den Platz der Medusa, des stummen Engels der Geschichte, verlassen, müssen sie den Schrei der Mutter […] verdrängen oder ersticken, um sich in ihrer Schreibweise dann wieder darum zu bemühen, diese Bewegung der Verdrängung auch durchzustreichen.30

In dieser Bewältigung der Medusa-Position, die sich in der lebendigen Form des Schreibens offenbart, nimmt das Sprechen der Eurydike eine neue Stellung ein, denn es ist an eine Stimme geknüpft, die ihr Schweigen bricht und ihre Ansichten aus den Tiefen des Unterbewussten, aus der Dunkelheit des Schattenreiches, aus dem Unort des Verdrängten emporhebt und zur Sprache bringt31: „Wir sind das Unbewußte“, sagt Eurydike, „als Schatten sind wir uns selbst und auch einander nicht bewußt“32. Der am Ende des Stückes eingeflochtene Verweis auf Freud33 evoziert weitere vielfältige Assoziationen, die noch zu vertiefen wären. Der Monolog könnte beispielweise an eine psychoanalytische Sitzung erinnern und die Stimme der Eurydike als die Stimme des Unbewussten einer Patientin gedeutet werden, die frei ihre tiefen Gedanken auf dem freudschen Sofa ausströmen lässt, ohne dem Psychotherapeuten (Orpheus? die Zuschauer:innen?) in die Augen blicken zu dürfen, da sie sich nicht umdrehen darf. Der verbotene Blick Eurydi27 SEs 13. 28 De Man, Paul (1979). Autobiographie als Maskenspiel. In: Ders. Die Ideologie des Ästhetischen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 131–146. 29 Babka, Anna (2017). „…und dem erschütterten Herzen ein einziges Wort abringe…“. Zur Frage der (auto)biographischen und/oder fiktionaler Identitätsentwürfe in Annemarie Schwarzenbachs Die vierzig Säule der Erinnerung. In: Bascoy, Montserrat/Silos Ribas, Lorena (Hrsg.). Autobiographische Diskurse von Frauen (1900–1950). Würzburg: Königshausen und Neumann. 75–86. 30 Weigel, Sigrid (1989). Dies Stimme der Medusa. Schreibweisen in der Gegenwartsliteratur von Frauen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. 282. 31 Vgl. Jirku (2013). 32 SEs 12. 33 „Also zum Mitlesen: […] Sigmund Freud, absolut alles. Das haben Sie dann davon“ (SEs 18).

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kes könnte also dem Blick der Patientin entsprechen, die nicht in die Augen des Psychotherapeuten schauen darf. Lässt man diese psychoanalytische Lesart einmal beiseite34, kann man hier festhalten, dass die weibliche Stimme Eurydikes die allgewaltige Protagonistin des Stückes ist, die aus dem rhetorischen Akt des Verleihens einer Stimme entsteht – der Prosopopöie also. Im Falle von Schatten kann man sogar von Stimmen im Plural sprechen, die durch die Protagonistin verkörpert werden, mal ironisch, mal sarkastisch, mal ausdrucksvoll, mal aggressiv, in einem freien Durcheinander, das an den hybriden Ton der menippeischen Satire erinnern lässt. Der Regisseur Jan Philipp Gloger, der Schatten im Karlsuher Badischen Staatstheater im November 2014 inszeniert hat, hat das monologische Stück genau auf fünf Stimmen verteilt. Der Regisseur hat fünf verschiedene Schauspielerinnen ausgewählt, die entsprechende weibliche Figuren darstellen: die Shopping Queen, die Depressive, die Ausstatterin, die klassische Nymphe und das Groupie des Popstars35. Sie alle stehen für Stimmen, die im Verlauf des Stückes allein reden und erst am Schluss zusammen als Chor auf der Bühne auftreten. Gemäß der oben erwähnten psychoanalytischen Interpretation könnte man sie mit Barbel Lücke als „dunkle Stimmen des Unbewussten“ betrachten, wie sie zu zwei früheren Stücken Jelineks schreibt, die „synästhetisch ertönen und wieder verlöschen“36. Diese Abwechslung von Einstimmigkeit und Polyphonie, die auf dieses Stück besonders zutrifft, lässt sich an das Prinzip der Dialogizität Bachtins anknüpfen. Schatten kann solchermaßen als ein monologischer Text dialogischer Art gesehen werden, denn er tritt direkt und indirekt mit anderen Texten in Dialog (Ovid, Freud, Foucault, Bachmann, von Chamisso usw.). „Bei Bachtin“, so Julia Kristeva, „kann der Dialog monologisch sein, und der sogenannte Monolog ist oft dialogischer Art“37. Im Kontext der dialogischen Schreibweise, die in Schatten vorgestellt wird, wird einerseits die tradierte mythische Geschichte von Orpheus und Eurydike auf eine karnevalistische Weise verdreht, andererseits bekommt die Stimme Eurydikes tragische und komische Konturen, die über das Niveau der Parodie hinausgehen, um eine sprachliche Revolution einzuführen, die politisch konnotiert ist38. Man entdeckt also eine Eurydike, die von einer Schlange gebissen wird, nachdem sie versucht, aus der Gewalt von Aristaios zu flüchten. Nach dem Schlangenbiss stirbt sie, ergreift das Wort und setzt sich mit ihrem Schmerz auseinander, weil „der Biss der Schlange“, so Jirku, „das Moment der Wahr34 Mehr zum Umgang Jelineks mit Freud in Lücke, Bärbel (2007). Jelineks Gespenster. Grenzgänge zwischen Politik, Philosophie und Poesie. Wien: Passagen Verlag. 35 Vgl. Badisches Staatstheater Karlsruhe (2014). Schatten (Eurydike sagt). Programmheft. 221. 36 Lücke (2007), 69. 37 Kristeva (1967), 350. 38 Vgl. Lücke (2007).

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heitsfindung und der Lebensfindung“ ist39. Eine besondere, gewalttätige Todesart würde man sie mit Ingeborg Bachmann nennen40, die den Gang Eurydikes in den Hades und damit ihren Monolog eröffnet, in dem sie sich ehrlich und schamlos ausdrückt. Die Umrisse solcher Todesart erinnern an ein lyrisches Ich bei Ingeborg Bachmann, das in einem dunklen, feindseligen südlichen Land (Italien) wieder aufwacht: In meinem erstgeborenen Land, im Süden sprang die Viper mich an und das Grausen im Licht O schließ die Augen schließ! Preß den Mund auf den Biss!41

Anders als die Protagonistin des Gedichtes, die „zum Schauen erwacht“42, bleibt Eurydike im Schattenreich, in dem Unort, wo „ein Noch-Nicht oder Nicht-Mehr oder ein mythisches Präteritum einer vergangenen Zivilisation“43 herrscht. Mittels einer „hochelaborierten Sprache“ spricht Eurydike gegen die weiblichen Fans, die schreiend und schwärmend den Popstar Orpheus reizen: denn sie treten in Mädchenrotten auf, diese Mädchenzusammenrottungen das Allerentsetzlichste, diese schrecklichen Schwärme, diese furchtbaren Schwärmereien, reglose Gesichter, sehen Sie, völlig unbewegt, die kleinen Mädchengesichter, und dieses grauenhafte Geschrei, immer Geschrei über allem, hängt über allem, den Erzeugnissen des Gebirges, den Ergebnissen der Ebene, todbringende Schwärme in der Luft, wie Ungeziefer, Fliegen, Summendes, ein Schwarm, ein grauenhafter Schwarm! […] ja, mein Mann ist ein Mädchenschwarm.44

Eurydike verfügt über eine Sprache, die mittels Wortspielen, Neologismen und Alliterationen eine mythische Geschichte schafft, die die Antike im Sinne Barthes’ de-formiert. Sie wird also zu einer Schriftstellerin, die einen polypho39 Jirku (2013), 64. 40 Ich beziehe mich hier auf das Todesarten-Projekt von Ingeborg Bachmann, das ursprünglich aus drei Romanen bestehen sollte (Malina, Der Fall Franza und Requiem für Fanny Goldmann) und unvollendet blieb. Das Ziel dieses anspruchsvollen literarischen Projektes war es, die vielfältigen Dimensionen der alltäglichen Gewalt, der Unterwerfung, der Ausbeutung, des metaphorischen Mordes darzustellen, die die privaten Beziehungen mit einem besonderen Blick auf das Verhältnis von Frauen und Männern prägen. 41 Bachmann, Ingeborg (1978). Das erstgeborene Land. In: Koschel, Christine/Weidenbaum, Inge von/Münster, Clemens (Hrsg.). Ingeborg Bachmann. Werke. Bd. 1. München, Zürich: Piper. 120. 42 Vgl. Svandrlik, Rita (1997). Topografie bachmanniane. Dal „paese primogenito“ alla „Ungargassenland“. Studia Austriaca 5. 9–20. In Bezug auf das lyrisches Ich dieses Gedichtes spricht Rita Svandrlik von einer „Euridice che, morsa dal serpente, salva se stessa“ („Eurydike, die von der Schlange gebissen, sich selbst rettet“, S. 15). 43 Jirku (2013), 59. 44 SEs 4.

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nen, intertextuellen, nicht auf eine einzige Gattung zurückzuführenden Stil besitzt, der von denjenigen aufgenommen werden kann, die sich gegen das Schreien, das Gebrülle stellen und mit der Stille auseinandersetzen können – d. h. weder von Orpheus, noch von den kreischenden Fan-Girls: Bevor er (Orpheus) zu singen begonnen hat, war die Stille etwas Großes, etwas Heiliges, jetzt gibt es sie nicht mehr, mit seiner Stimme hat er die Stille durchdrungen und sie vernichtet. Ich bin stiller geblieben. Ich schreibe, wen interessierts.45

Mit dem letzten Satz, der Michel Foucaults „Wen kümmert’s, wer spricht“ aus seinem vielzitierten Vortrag Was ist ein Autor (1969) variiert46, etabliert sich Eurydike ganz unabhängig von ihren Rezipient:innen, denn wer spricht scheint hier dennoch sehr wichtig zu sein. Eurydike wird zu einer fragmentierten, vielstimmigen Autorin, die zum ersten Mal ihr Wort, ihre „Wahrheit“ zum Ausdruck bringt, die „Wahrheit“ eines Verschwindens. Sie ist sich bewusst, dass es ihr Schicksal ist, ein plastischer, formloser, flacher Schatten zu bleiben: „Wir sind flach, endlich flach, weich und flach, zusammengelegt, zerknüllt, weggeworfen, ausgestreckt, in die Länge gezogen, eingerollt, alles eins […]. Es gibt einfach keine sinnliche Erfahrung für uns Schatten“47. Im Gegensatz zu Orpheus und seinem Vater, dem Sonnengott, ist Eurydike ein Nichts, ein Objekt ohne Körper: Na ja, von meinem Schmerz kann er sowieso absehen, den kann und will er sich natürlich nicht vorstellen, diesen Schmerz klammert er aus unter der blendenden Sonne, die mich nicht mehr sieht, sein Vater, die Sonne, der Apoll in Reinform, nein, nicht Reimform, das ist wieder ein eigenes Kapitel, sein Vater hat mich von Anfang an ausgeblendet, meine kleinen Dichtungen waren nichts für ihn, den Strahlenden in seinem Wagen, in seinen Himmelswagen […].48

Das Schattendasein von Eurydike, in dem Jelinek Peter Schlemihls Wunderbare Geschichte abwandelt, ist ein tragendes thematisches Element des Stücks. Im buchstäblichen Schattendasein kommt die Unmöglichkeit der Eurydike zum Ausdruck, sich als Frau, als Schriftstellerin, als Mensch durchzusetzen, denn das Schicksal ihrer „Unform“ ist es, zu verschwinden: „die Frau ist ein Nichts, mein Werk ist ein Nichts, das heißt, ich habe gar keins, aber das Ergebnis ist das gleiche, unzählige Male erprobt“49. 45 SEs 3. 46 Vgl. Stephan, Inge (2016). Ver/Lustgeschichten. Überlegungen zu Elfriede Jelineks Schatten (Eurydike sagt). In: Felber, Silke (Hrsg.). Kapital Macht Geschlecht. Künstlerische Auseinandersetzungen mit Ökonomie und Gender. (= Diskurse. Kontexte. Impulse. Publikationen des Elfriede Jelinek-Forschungszentrum, Bd. 12). Wien: Transcript. 67–73. 47 SEs 12. 48 SEs 6. 49 SEs 16.

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Ein Schatten besitzt an sich keine genaue oder festgelegte Form, er ist amorph, besitzt kein Leben und ist gewissermaßen antimythisch: „Den Schatten“, so Eurydike, „kann man falten, kann man rühren, kann man schlagen, kann man formen und dann loslassen, der fällt sofort wieder in den Ursprungszustand, der kein Zustand ist, zurück“50. Außerdem ist seine Gestalt sowohl von der Sonne als auch von dem Objekt oder Wesen abhängig, das den Schatten besitzt (oder nicht, wie im Falle Schlemihls)51. Solchen Abhängigkeiten (von der Sonne, von Männern, von materiellen Gegenständen) ist die weibliche und im Allgemeinen die menschliche Kreativität entgegenzusetzen, die mit dem Konzept der „lebendigen“ Form tief verbunden ist. Geh ich halt mit, ich als Nichts tue ja immer, was man mir sagt. Bitte, wie soll ich gehen, wohin soll ich gehen, ich bin ja Schatten, das ist ein Problem, ich bin ein Widerwort gegen mich selbst, mich kann es in dieser Form gar nicht geben, denn meine Form ist ja von etwas abhängig, das ich nicht kenne, daher kenne ich auch meine Form nicht, weiß nur, ich bin in ganz guter Form.52

Die Gegensätze Schatten vs. Licht, Form vs. Formlosigkeit, Dunkelheit vs. Helligkeit, Schweigen vs. Sprechen prägen den ganzen Text und bieten weitere mögliche intertextuelle Verweise auf Ingeborg Bachmanns Werk. Zum einen erinnert das Verschwinden, das Eurydike mehrmals evoziert und das mit ihrer Wahrheit als Schattensein direkt verbunden ist („Das ist meine Wahrheit, das Verschwinden ist meine Wahrheit, und unter dem Verschwinden kann ich meine Geschichte zum Vorschein bringen, die eine Geschichte der Getriebenheit ist“53), an Bachmanns Roman Malina, an dessen Ende Ich Figur in einem Riss in der Wand verschwindet und sich zu einem stummen „es“ verwandelt54. Dieser Prozess der Auslöschung, der allmählichen Vernichtung, der sowohl die Ich-Figur 50 SEs 15. 51 Gemeinsam mit Sigmund Freud und Ovid wird Chamissos Peter Schlemihls wundersame Geschichte (1814) am Ende des Stückes als intertextueller Verweis angeführt. Jelinek greift hierbei das Motiv des Schattens auf, das das Werk Chamissos prägt. Peter Schlemihl, der im Gegensatz zu Eurydike als Mann ohne Schatten gebrandmarkt ist und auf eine Weltreise geht, um seinem Unglücksfall überleben zu können, lässt sich als Gegenmodell und zugleich als Verwandter von Jelineks Eurydike lesen, denn sie lebt als Schatten und unter den Schatten. Ganz unabhängig von diesem Unterschied – oder wahrscheinlich doch gerade, um ihn auftauchen zu lassen – rückt der innere, leidvolle Dialog von Peter und Eurydike mit dem Schatten (und mit der Sonne) ins Mittelpunkt beider Geschichten. 52 SEs 16. 53 SEs 8. 54 Bachmann, Ingeborg (1971). Malina. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Die Protagonistinnen des fünften Teils des Theaterwerkes Der Tod und das Mädchen (Die Wand) von Jelinek sind Inge (Ingeborg Bachmann) und Sylvia (Sylvia Plath). In diesem Stück wird explizit die Schlussszene Malinas aufgegriffen, in der die Ich-Figur im Riss einer Wand verschwindet und den Satz „Es war Mord“ ausspricht – einen Satz, den man mit dem Thema der weiblichen Todesarten verbindet, die sowohl Bachmann als auch Jelinek am Herzen liegen.

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in Malina als auch Jelineks Eurydike betrifft, weist metanarrativ auf das Verschwinden der Subjektivität der Autor:innenschaft hin, deren herkömmliche Autorität von Jelinek ständig in Frage gestellt wird: „Ob das Verschwinden überhaupt erstrebenswert sei“, schreibt Rita Svandrlik, „steht nicht im Mittelpunkt, es gibt keinen Mittelpunkt, sondern eine Bewegung des Hin-und-Her, am Rande, in einem fremden Abseits“55. Zum anderen kann man sich auf ein weiteres Gedicht von Ingeborg Bachmann, Dunkles zu sagen, beziehen, das sich explizit an den Mythos von Orpheus anschließt56. Besonders prägnant an der Verbindung zwischen Jelineks Untertitel Eurydike sagt und Bachmanns Dunkles zu sagen ist nicht nur die Tatsache, dass Bachmanns Gedichtstitel an den Titel des Stücks von Jelinek erinnert, sondern auch, dass beide auf die Motive der Dunkelheit, des Schweigens und der Sprache hinweisen. In diesem Gedicht wird die Form des Mythos transformiert, indem die Schlange nicht vorkommt, Orpheus Eurydike nicht nachgeht und er als lyrisches Ich vom Retter zum Mörder seiner Frau wird. Seine dunklen Wörter bringen „das tönende Herz“ von Eurydike um. Die Saite des Schweigens Gespannt auf die Welle von Blut, griff ich dein tönendes Herz. Verwandelt ward deine Locke Ins Schattenhaar der Nacht, der Finsternis schwarze Flocken beschneiten dein Antlitz.57

Von dem schönen Bild des Schattenhaars der Nacht der Eurydike, die getötet wird, möchte ich zum Schluss sagen, dass die Auseinandersetzung mit dem Mythos von Orpheus und Eurydike durch Jelinek einer lebendigen, unerschöpflichen, materiellen, handwerklichen Arbeit mit und an der Form entspricht, deren Werkzeug die Sprache, „der Lehm“ ist, denn sie „lebt von dieser Sprache und gestaltet neues Leben aus ihr“58.

55 Vgl. Svandrlik, Rita (2017). „Die Autorin ist weg. Sie ist nicht der Weg“. Vom vergeblichen Verschwinden der Autorin (Gier und Im Abseits). In: Klein, Delphine/Vennemann, Aline (Hrsg.). „Machen Sie was Sie wollen!“. Autorität durchsetzen, absetzen und umsetzen. Deutsch- und französischsprachige Studien zum Werk Elfriede Jelineks. Wien: Praesens. 85– 95. 86. 56 Svandrlik, Rita (2012). Ich spreche nicht Menschen. Von der Ermordung der Wirklichkeit im Werk: Jelinek mit Bachmann gelesen. In: Zeitschrift des Verbandes Polnischer Germanisten 1:3. 342–355. 57 Bachmann, Ingeborg (1978). Dunkles zu sagen. In: Koschel, Christine/Weidenbaum, Inge von/Münster, Clemens (Hrsg.). Ingeborg Bachmann. Werke. Bd. 1. München, Zürich: Piper. 32. 58 Lücke (2007), 91.

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Dem Umgang Jelineks mit dem antiken Text von Vergil und Ovid liegt zweifache Arbeit zugrunde: Einerseits wird der mythische Text dekonstruiert, demontiert, fragmentiert, gewissermaßen entmythisiert und in Frage gestellt. Andererseits wird die mythische, lebendige Materie von Eurydike und Orpheus wörtlich trans-formiert, indem sie erzählerisch einer radikalen, karnevalistischen Umkehrung der Perspektive ausgesetzt, rhetorisch durch eine weibliche, anscheinend tote Stimme aus der Dunkelheit gekennzeichnet und intertextuell vertikal und horizontal im Sinne Bachtins mit bedeutenden Figuren, Autor:innen und Bildern verbunden wird. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Transformation des Mythos transversale Züge annimmt, die das behandelte Konzept der Deformation zugleich einschließen und überwinden. Die mythische Transformation enthält damit eine kulturelle und geschichtliche Botschaft, die über die zeitlichen Grenzen hinausgeht. Im Zusammenhang mit dieser gestalterischen Transformation der mythischen Materie kommt dem Schmerz und der Angst der Eurydike, sich als Frau und als Dichterin nicht durchsetzen zu können, eine universale Bedeutung zu, wie sie jedem Mythos, sei er von gestern oder heute, zukommt.

Bibliographie Axer, Eva (2019). Formsache? Wie eine neue Formalistische Literaturtheorie über ihren Gegenstand debattiert. Abrufbar unter: https://www.zflprojekte.de/zfl blog/2019/01/2 1/eva-axer-werner-michler-marjorie-levinson-die-neuen-formalismen form-geschicht e-gesellschaft-drei-beitraege/ (Stand: 23/02/2022). Babka, Anna/Clar, Peter (2014). Elfriede Jelinek. Positionen zu Leben und Werk. In: Wie, Liu/Müller, Julian (Hrsg.). Frauen.Schreiben (Österreichische Literatur in China). Band 2. Wien: Präsens. 51–77. Babka, Anna (2017). „…und dem erschütterten Herzen ein einziges Wort abringe…“. Zur Frage der (auto)biographischen und/oder fiktionaler Identitätsentwürfe in Annemarie Schwarzenbachs Die vierzig Säule der Erinnerung. In: Bascoy, Montserrat/Silos Ribas, Lorena (Hrsg.). Autobiographische Diskurse von Frauen (1900–1950). Würzburg: Königshausen und Neumann. 75–86. Bachmann, Ingeborg (1971). Malina. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Bachmann, Ingeborg (1978). Das erstgeborene Land. In: Koschel, Christine/Weidenbaum, Inge von/Münster, Clemens (Hrsg.). Ingeborg Bachmann. Werke. Bd. 1. München, Zürich: Piper. Bachmann, Ingeborg (1978). Dunkles zu sagen. In: Koschel, Christine/Weidenbaum, Inge von/Münster, Clemens (Hrsg.). Ingeborg Bachmann. Werke. Bd. 1. München, Zürich: Piper. Badisches Staatstheater Karlsruhe (2014). Schatten (Eurydike sagt). Programmheft. Barthes, Roland (2010). Mythen des Alltags. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

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Die trans-formierende Stimme der Eurydike

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Anna Lenz

„ich arme Blinde verstehe nicht“ – Mythos (und) Verstehen in Elfriede Jelineks Am Königsweg (2020)

Abstract Am Königsweg (2020) ringt mit und um ein verstehendes Subjekt: ein Subjekt, das den Subjektstatus für sich beantragen kann, das anerkannt wird und sich selbst anerkennt, das sich verstehend in der Welt verorten will.1 Indem Jelinek den weiblichen Subjektstatus durch sogenannte postdramatische Schreibformen infrage stellt, ruft sie ex negativo ein Subjekt, das durch und mit Autorschaft Geschichte machen kann, auf. Jelinek, so meine These, stellt mit ihren Stücken die Frage danach, in welcher Art das Subjekt heute verstanden werden kann, wenn das idealistische Subjektverständnis der Romantik sich überholt hat. Mit den Mitteln des Mythos und der Mythenrezeption wie des Theaters kritisiert sie also den Subjektstatus einerseits und kann aber andererseits von ihm nicht lassen. Keywords: Jelinek, Mythos, Verstehen, Subjekt, Theater

1.

Einführende Überlegungen zu Subjekt und Subjekstatus in Am Königsweg

In Am Königsweg werden nicht Subjekt und hermeneutische Prozesse grundsätzlich, sondern eine Welt, die das Verstehen nicht zulässt, infrage gestellt. Oder: Die Welt, die Am Königsweg aufruft, entzieht sich etablierten Verfahren der Verstehens. Zu diesen Verfahren gehören religiöse, geschichtsphilosophische, psychologische Denkmodelle. In dieser Welt situiert sich das Subjekt. Wer das Subjekt als ein im Diskurs entstehendes2 begreift, gibt dem Subjekt eine besondere Verantwortung vor dem Diskurs, den es mitgestaltet. Wenn sich die Welt als unverständlich oder unmoralisch entlarven lässt, gilt es für das Subjekt, etwas an der Welt zu tun. Das bedeutet aber nicht, dass Verstehensversuche ganz 1 Vgl. u. a.: Frank, Manfred (2015). Subjekt und Subjektivität. In: Braungart, Wolfgang/Köhler, Helena (Hrsg.). Subjekt und Subjektivität. München: Iudicum. 14–35 und natürlich auch seine grundlegende Studie: Frank, Manfred (2012). Ansichten der Subjektivität. Berlin: Suhrkamp. 2 Grundlegend geht dieser Subjektbegriff auf Julia Kristeva (1984) zurück: Revolution in Poetic Language, übers. von Leon S. Roudiez. New York: Columbia University Press.

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Anna Lenz

aufgegeben werden müssen, sondern, dass die Welt, die sich dem Verstehen entzieht, vielleicht selbst der Veränderung bedarf. In dieser Dynamik formuliert Jelinek die Aufgabe des Theaters und der Autorin. Sie entwickelt ein poetischpoetologisches Selbstverständnis der politischen Verantwortung für das Subjekt und die Künstler:innen.

2.

Der Ödipus Mythos als literarisches Modell des Verstehens

Jelinek greift für diesen poetologischen Diskurs auf den Ödipus-Mythos zurück. Ich möchte den Mythos für meine anschließenden Überlegungen mit Wolfgang Braungart breit als „eine Imagination identifikationsstiftender und überindividueller Geltung und Reichweite, die etwas durch ästhetische Artikulation ‚erklärt‘“ auslegen.3 Der Mythos steht hier außerdem als die Verbindung von Kunst, Geschichte und Politik ein. Er führt, seit Aristoteles, das Dichten mit der Geschichte zusammen und wird im Antiken Theater, das zentraler Ort sowohl religiöser Praktiken als auch der konkret politischen Polis ist, selbst zum Politischen. Der Ödipus-Mythos referiert als Allegorie auf Erkenntnis und ihre Folgen in der Blendung des Ödipus und in seiner psychoanalytischen (Freud) und politologischen (Girard) Rezeption auf verschiedene Verstehensprozesse. Die geschichtsphilosophische Dimension des Mythos erklärt sich mit Emil Angehrn: Laut ihm ist die Funktion des Mythos vordergründig auch die Erinnerung.4 Obwohl Mythen fantastische Elemente enthalten, dienen sie als Erklärungen und Deutungen von Geschichte (und damit letztlich auch der Gegenwart), sind sinnstiftend für die Gemeinschaft, die sich auf sie beruft.5 Die (antiken) Mythen werden gerade vom Theater bewahrt und weitergeführt – im 20. Jahrhundert beispielsweise bei Heiner Müller, Marlene Streeruwitz, Hans Henny Jahnn und Bertolt Brecht. Es lässt sich ein beharrliches Interesse nicht nur an Aktualisierung und späterhin postmoderner Transformation mythologischer Stoffe, sondern an der mythischen Tragödientradition selbst beobachten. Jelinek ist keine Ausnahme: von Elfi Elektra über Ulrike Medea bis zur ödipalen Dichterfigur in Am Königsweg offenbart sich eine kontinuierliche Arbeit am Mythos im theatralen Werk der Autorin. Wenn Emil Angehrn es als Ziel seiner Studie 3 Braungart, Wolfgang (2019). „Der Mensch ist sich selbst ein gewaltiger Abgrund“: Artikulation und Subjektivität: Einige Thesen zum Verhältnis von Literatur und Religion. In: Braungart, Wolfgang/Jacob, Joachim/Tück, Jan-Heiner (Hrsg.). Literatur / Religion: Bilanz und Perspektiven eines interdisziplinären Forschungsgebietes. Berlin: Metzler. 3–28. 8. 4 Vgl. Angehrn, Emil (1996). Die Überwindung des Chaos: Zur Philosophie des Mythos. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 58. 5 Vgl. Jamme, Christoph/Matuschek, Stefan (2014). Handbuch der Mythologie. Darmstadt: Philipp von Zabern. 12.

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formuliert, den Mythos als Spiegel des Subjekts zu verstehen,6 so verbindet er im Mythosbegriff zwei grundlegende Ideen für die Lektüre von Am Königsweg. Das Stück verbindet psychoanalytische, religiöse, und geschichtstheoretische Verstehensprozesse.7 Und damit wird der Mythos im Sinne Angehrns zum Spiegel des Subjekts. Die Sprecherin des Textes und letztlich die Zuschauer:innen befinden sich im Vollzug des Textes bei der Aufführung oder Lektüre im Spiegelstadium der Selbsterkenntnis als historische, politische Subjekte. Angehrn entwickelt damit von Blumberg ausgehend eine weitere These: Der Mensch ist Subjekt der Geschichte,8 aus dem eine ganz auf das Individuum bezogene Verantwortung der politischen Gegenwart gegenüber hervorgeht. Subjektivität setzt Selbst-Bezüglichkeit voraus.9 Das Subjekt braucht demnach ein Selbst-Bewusstsein oder die Fähigkeit, über sich selbst nachzudenken.10 In einem zweiten Schritt können an dieses Subjekt dann Handlungs-, Verantwortungs- oder Vernunftsbewusstsein gebunden werden. Kurz: Wer Geschichte machen will, sollte eine Idee von moralischer Verantwortung haben. Außerdem braucht der Mythos Sprechen und Sprache. Durch sie wird er verbreitet. Diese Sprache muss dem Mythos, aber auch der Gegenwart, in die der Mythos vermittelt wird, angemessen sein. In Am Königsweg fehlt eine angemessene Sprache. Jelinek ist hier deutlich von Adorno geprägt: Eine angemessene (deutsche) Sprache kann es nach Auschwitz nicht mehr geben.11 Das Bemühen um die Sprache wird besonders anhand der Dichterin12 gezeigt und damit zur theater-poetologischen Fragestellung. Das Theater muss Teil der ‚Welt‘, Teil der 6 Angehrn (1996), 9. 7 So arbeitet der Text immer wieder mit Zitaten von und Anspielungen auf Lacan und Freud, die schon wegen der psychoanalytischen Rezeption des Ödipus-Mythos hervorstechen. Gleichzeitig ruft er den Opferdiskurs und den Abraham-Mythos auf und bringt dabei im Sinne René Girards die antiken Mythen zusammen mit christlicher Theologie. Als dritte Deutungsdimension eröffnet sich über den Mythos die Frage nach Wahrheit, Erzählung und Geschichte sowie ganz allgemein der Versuch, gegenwartspolitische Ereignisse aus der Geschichte heraus zu begründen. Auf diese drei Aspekte möchte ich im Folgenden eingehen. 8 Blumenberg, Hans (1988). Die Legitimität der Neuzeit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 24. 9 Vgl. Lehmann, Hans-Thies (1991). Theater und Mythos: Die Konstruktion des Subjekts im Diskurs der antiken Tragödie. Stuttgart: Metzler. 129. 10 Damit greift er das Subjektverständnis der Aufklärung bspw. nach Kant oder Descartes auf. 11 In vielen der Theatertexte Jelineks geht es letztlich auch um Auschwitz als historisches Ereignis, das nicht überwunden werden kann; um einen Verlust der jüdischen Kultur, wie in Totenauberg, und um den Versuch der Überwindung des Unsagbarkeitstopos. So mühen sich die Texte immer sprachlich ab: Das ist das zentrale Thema auch von Wolken.Heim. 12 Ich spreche bewusst von der Dichterin, auch wenn der Begriff hier anachronistisch wirkt. Im Text selbst heißt es explizit ‚Dichterin‘. So greift Am Königsweg auch an den Diskurs vom Autor als Dichter auf, wie in der Romantik und im Genie-Diskurs geführt wurde. Auch kann man hier, bei der ausgezeichneten Hölderlin-Kennerin Jelinek, sicherlich das „Was bleibt aber stiften die Dichter“ aus Andenken mitdenken, das grundlegend für Hölderlins Geschichtspoetologie ist und so auch für die auf den folgenden Seiten vorgeschlagene Lesart des Theaters Jelineks, einen Unterton ausmacht.

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Polis, sein, die es sich zum Gegenstand macht, die es wahrnimmt und zu erklären versucht. Doch: Am Königsweg spricht vom Königsweg, ohne ihn zu betreten. Die Sprecherin selbst kann nicht Teil der Welt sein, über die sie spricht.13 Sie muss sich aus der Distanz um das sprachliche Verstehen bemühen. Die berühmten Sprachflächen, so schreibt Jelinek schon in Ulrike Maria Stuart, seien ihr längst zuwider geworden,14 dennoch kann auch in Am Königsweg nicht von einer Subjekt-Figur mit Tiefe und Charakter gesprochen werden, die im traditionellen Sinne eine Handlung durchlebt. Ein Selbst-Bewusstsein, das etwa ein psychoanalytisches Verstehen ermöglichen würde, fehlt folglich. Und dennoch geht es in diesem Stück ums Verstehen. Diesen Deutungsvorschlag von Am Königsweg möchte ich mit einem Blick auf einige ausgewählte Textstellen erläutern. Für die Verbindung von Mythos und Verstehen ist schon der Titel des Stücks selbst eine Metapher. Der Königsweg, an dessen Wegrand der Text sich im Titel verortet, wird zynisch verkehrt, denn der König, besser die Könige, die diese Via Regia eigentlich zu einem ‚hohen Ziel‘ hin beschreiten sollten, sind Donald Trump selbst und Trump-Typen: Egoisten, Rassisten, Chauvinisten. Die Via Regia ist außerdem eine Metapher der Psychoanalyse. Freud bezeichnete den Traum als Via Regia zum Unterbewussten.15 Ich möchte vorschlagen, Am Königsweg als politisches Theater zu verstehen: als einen Versuch, den Weg zum Innersten der Gesellschaft, zur Polis, zu beschreiben. Der Theaterbesuch wäre in dieser Verbindung der psychoanalytischen und politischen Deutungsdimension als eine Art Hypnosesitzung zu deuten, die ein kollektives Unterbewusstes (oder gar Trauma) bewusstwerden lässt, das Ursprung allen gegenwartspolitischen Übels sein könnte,. Mit dieser Metapher wäre auch das Traumhafte, fast Surrealistische des Stückes – und besonders auch der Aufführung – zu erklären, die ödipalen Muppets, und wenn nicht die, so steht es im Text, so doch immerhin Ähnliches: „vielleicht eine Psychose, nein eine Plüschhose“16 für die Schauspieler:innen, kalauert die Regieanweisung. Das Theater versucht also, Traum zum einen und Weltgericht zum anderen zu sein,17 trotz der Absage des Verstehens, 13 Das ist bei Jelinek poetisches Prinzip. Vgl. ihre Nobelpreisrede „Im Abseits“ (2004). Abrufbar unter; https://www.nobelprize.org/prizes/literature/2004/jelinek/25215-elfriede-jelinek-nob elvorlesung/ (Stand: 23/02/2022). 14 Jelinek, Elfriede (2015). Das schweigende Mädchen / Ulrike Maria Stuart: Zwei Theaterstücke. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. 10. 15 Freud, Sigmund (1942). Die Traumdeutung. In: Ders. Gesammelte Werke. Hrsg. von Anna Freud u. a., Bd. II/III, London, Frankfurt a. M: Fischer. 613. Abrufbar unter: https://freud-on line.de/index.php?page=445644700&f=1&i=445644700 (Stand: 23/02/2022). 16 Jelinek, Elfriede (2020). Schwarzwasser / Am Königsweg. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. 9. Im Folgenden abgekürzt durch die Sigle AK. 17 Schiller, Friedrich (2008). Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken? In: Ders.: Werke. Hrsg. von Rolf-Peter Janz. Bd. 32: Theoretische Schriften. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag. 185–200. Vgl. auch: Schmitz-Emans, Monika (o. J.). Welttheater und Weltgericht: Gelingende und scheiternde Metalepsen bei Friedrich Klingemann (Bona-

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bemüht er sich doch, zu begreifen, wie sich Xenophobie sozial festigen konnte. Am Königsweg erprobt als Theaterstück künstlerische Zugänge zur Welt. Das Verstehen ist kein einfacher, gar eindeutiger Prozess. Es muss, das wird sich zeigen, immer wieder abgebrochen werden, denn schließlich ist der Dichterstimme hier das Augenlicht, das Organ der Erkenntnis, genommen.18 Daraus resultiert eine Spannung aus Verstehen-Wollen und Nicht-Verstehen-Können, weil die konkreten Mittel des Verstehens fehlen.

3.

Sprüchesängerin, Sprücheklöpferin. Sprechen und Verstehen in Am Königsweg

Zu Beginn von Elfriede Jelineks 2020 publizierten Theatertext Am Königsweg betritt eine geblendete Miss Piggy die Bühne. Mit ‚blutenden Augen‘19 eröffnet sie einen 150-seitigen Monolog: Von wem will ich da überhaupt sprechen, darüber muß ich mich mit mir verständigen. Erst mal würde sich ja Schweigen anbieten, das wäre mir lieber, es macht keine Arbeit. Blind sein: auch sehr praktisch. Laßt von mir ab, das macht ihr ohnedies, laßt von mir ab, denn ich bin krank und verstehe nichts, ich sehe nicht, ich sehe doch, nein, doch nicht, Netzhaut vor noch ein Tor!, ich arme Blinde verstehe nicht, […]20

Das Stück beginnt mit einer Krise des Verstehens, artikuliert durch eine Dichterstimme, die sich irgendwo zwischen Pop und Mythos explizit auch als weibliche Stimme versteht. Sie will „keine Medea, nein, auch keine Elektra“21 sein und sieht sich zum Sprechen gezwungen – von anderen? Von sich selbst? Denn was ist eine Dichterin ohne Sprache? Dieser Zwang wirkt besonders schwer, da sie nicht verstehen kann, was gerade in der Welt geschieht, über die sie nun glaubt, sprechen zu müssen. Der Mythos braucht das Sprechen, denn ursprünglich ist er mündlich überliefert. Deswegen braucht der Mythos auch das Theater mehr als den Text. So begründet sich in diesem sonst ‚undramatischen‘ Text, dass dieser ein Theatertext sein muss: Am Königsweg als Mythenfortschreibung verlangt den Sprechakt und die Performance. Und deshalb spricht in diesem Stück tatsächlich

18

19 20 21

ventura), Lewis Carroll, Franz Kafka und Marc-Antoine Mathieu. Abrufbar unter: https:// www.iablis.de/acta-litterarum/autoren/monika-schmitz-emans/aufsaetze/acta-litterarum-m onika-schmitz-emans-welttheater-und-weltgericht (Stand: 23/02/2022). Vgl. Lednaff, Susanne (2012). Auge. In: Butzer, Günther/Jacob, Joachim (Hrsg.). Metzler Lexikon literarischer Symbole. 2. Auflage. Stuttgart, Weimar: Metzler. 32–35, und Mayer, Matthias (2012). Blindheit. In: Butzer, Günther/Jacob, Joachim (Hrsg.). Metzler Lexikon literarischer Symbole. 2. Auflage. Stuttgart, Weimar: Metzler. 55–56. AK 9. Ebd. Ebd., 11.

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jemand, mit Hesitationen, Wiedersprüchen, assoziativen (Neben-)Satzverbindungen und direkten Ansprachen an ein Du. Am Königsweg verfolgt damit, wenn auch in anderer Form, die Tradition des Lesedramas, indem es durch Form und Länge letztlich sperrig, gar unmöglich für die Aufführung ist, aber das Theater als Medium nutzt. In der Miss-Piggy-Sprecherin verbinden sich außer Rekurrenz auf diese theatralen Formen zwei elementare Bezugspunkte: der Mythos zum einen und zum anderen die ebenfalls im Werk beständige Pop- und Medienkultur.22 Auf der (Text-)Bühne steht eine geblendete Ödipus-Figur,23 die zugleich die große Diva der Muppetshow ist. Eine Ikone des Entertainments einerseits und eine Allegorie des Weltentzugs wie des Abbruchs jeglichen Verstehens nach einer schmerzlichen Erkenntnis andererseits. In dieser Rolle vereinen sich Ödipus und Miss Piggi in einer Sprecherin, die nicht mehr sprechen mag, nicht mehr weiß, was zu sagen ist, angesichts der ebenfalls „blinden Könige“24. Doch es ist eine andere Blindheit, mit der sie die Könige charakterisiert: blind sind die im Sinne von ‚ignorant‘, und nicht, wie die Seherin, in Bezug auf Strafe und Erkenntnis. Jelinek reflektiert in Am Königsweg die Vergänglichkeit ihrer Person als Dichterin wie auch des Schreibens. In einer Vielfalt literatur-, kultur- und philosophiegeschichtlicher Bezüge versucht die Sprecherin als ‚Dichterin‘, sich in der Literaturgeschichte wie in der Geschichte als Subjekt zu verorten. Somit wird das Subjekt ins Zentrum eines Zugangsversuchs zur Welt gestellt und, trotz ‚Sprachfläche‘25 und fehlender Charakterisierung mit den üblichen dramatischen Mitteln, zum Gegenstand des Textes. Am Königsweg bemüht sich, an der Stimme eines dichtenden Subjekts festzuhalten, eines Subjekts, das sich abseits der Gesellschaft, die es zu verstehen sucht, verortet, sodass verschiedene hermeneutische, psychoanalytische, sprach- und kulturkritische und auch religiöse Versuche immer wieder ‚zurückgestoßen‘, dabei jedoch nicht eigentlich verworfen, sondern trotz ihres Scheiterns erhalten werden. Dieses Zurückstoßen erfolgt 22 Seit: Jelinek, Elfriede (1970). wir sind lockvögel, baby! Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. 23 Die Geblendete, „diese Frau mit durchgestochnen Augen“, kommt auch schon bei Ulrike Maria Stuart vor, in der ersten Fremdcharakterisierung des Chors der Greise von der Mutter, der Morph-Figur von Maria Stuart und Ulrike Meinhof. Vgl. Jelinek (2015), 11. 24 AK 9. 25 „Gerade dadurch, daß nur die Sprache da ist, kann man jede Figur dazuerfinden. Nicht Personen suchen einen Autor, sondern Sprache sucht Personen bei mir, gerade da kann man doch alles. Die Figuren sind ja Sprachflächen, die einen Kern suchen, an den sie sich anhängen können.“, sagt Elfriede Jelinek 1994 selbst zu dem Begriff der Sprachfläche, der seit dem Einzug in die Jelinek-Forschung gehalten hat. Jelinek, Elfriede/Tiedemann, Kathrin (1994). Das Deutsche scheut das Triviale. In: Theater der Zeit 11. 34–39. 36. Man versucht damit, die langen Prosa-Monologe, die zum Teil ganz ohne Figurenzuschreibung im Nebentext auskommen. 2015, in der Publikation von Ulrike Maria Stuart, sind ihr diese Sprachflächen dann ‚längst lästig geworden‘; vgl. Jelinek, Elfriede (2015). Ulrike Maria Stuart. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.

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„ich arme Blinde verstehe nicht“

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entweder durch den Widerspruch im späteren Textverlauf durch humoristische Rhetorik (Kalauer), die die Deutungsprozesse lächerlich machen oder durch direkte Abbruchsrhetorik. Die Sprecherin erprobt im Verlauf des Stückes verschiedene Wege des Verstehens. Die poetisch inszenierte Kritik richtet sich dann nicht gegen die Verstehenszugänge zur Welt, sondern gegen eine Welt, die sich unbegreiflich macht; nicht die Welt soll sich dem Verstehen anpassen, nicht das Verstehen muss aufgegeben werden: auch nicht von der Literatur, auch nicht vom Theater – besonders nicht im Theater, das bei Jelinek der wichtigste politische Ort der Dichterin bleibt. Am Königsweg entwirft jedoch nicht mit einen Begriff von (ethischer) Normativität auf, aus der heraus ein Verstehen und Bewerten sich entwickeln mag, angesichts einer konfusen Welt. Durch seine Bemühungen um das Verstehen durch die Stimme der Dichterin lädt der Text zur hermeneutischen Lektüre sowie zur Reflektion eines hermeneutischen Weltverständnisses, die eine Verantwortung vor der Geschichte mit sich ziehen würde, ein. In diesem Sinne wird an verschiedenen Stellen im Textes Motive des Verstehens und Erkennens oder Begriffe wie ‚Verständigung‘, mit Debatten um Versöhnung und Verantwortung zusammengeführt. Auf einige dieser Stellen werde ich nun eingehen.

3.1

Die Dichterin auf der Suche nach einer Aufgabe

Schon in dem ersten Satz: „Von wem will ich da überhaupt sprechen, darüber muß ist mich mit mir verständigen“26 wird das Subjekt ins Zentrum des Verstehens gerückt. Gleich dreimal taucht das Ich in verschiedenen Flexionen in diesem Teilsatz auf: ich, mich und mir, wohingegen das Andere nur im Dativ zu Beginn erwähnt wird. Damit ist das verstehende Subjekt, angesichts des werdenden Königsmythos und des historischen Ödipus-Mythos, ins Zentrum gerückt. Es macht als Dichterin Mythos, es versteht – oder versteht eben nicht: Von wem gesprochen werden will, muss dieses Ich letztlich mit sich selbst ausmachen. Das heißt nun nicht, dass das Dichter-Subjekt ohne Brüche, allein selbstbezogen und ohne Konflikt ist. Die Fokussierung auf ein (mythen)dichtendes Subjekt stellt es selbst zur Debatte, in der das Subjekt nicht konstant oder kohärent sein muss, sondern sich gerade durch seine Widersprüche in der Debatte bestätigt. So wird auch die Rolle des sprechenden Ichs (literaturgeschichtlich) diskutiert: Die Dichterstimme bezeichnet sich nach etwa einem Drittel als „Sprüchesängerin, Sprücheklopferin“27. Die Sangspruchdichtung verhandelt „vorrangig didaktische, religiöse und politische Themen (Gnomik) 26 AK 9. 27 AK 51.

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sowie Herrscherlob und -kritik, daneben die eigene dichterische Qualität und Gelehrsamkeit, die sentenzhaft wiederum ins Allgemeine gewendet sein können.“28 Damit wird der Dichterin auch die Möglichkeit eingeräumt, normativ zu sprechen, also Sinn in der politischen Gegenwart, im politischen Diskurs zu stiften. Die Sangspruchdichterin kann konkrete normativ-ethische Aussagen treffen, und somit ist diese poetologische Selbstbehauptung eine des normativ, ethisch, aktivistisch Sprechen-Könnens. Doch so einfach sich dieses konkrete Bild eines engagierten Theaters hervorrufen lässt, so einfach lässt es sich auch wieder zerstören. Denn diese Selbstverortung der Dichterin wird sofort unterlaufen durch einen Kalauer. So wird aus der Spruchsängerin die „Sprücheklopferin“, die sagen könnte: Meine Sinnstiftung, meine normative Weltsicht, das, was ich Dir, lieber Zuschauer:in sagen will, das ist doch eigentlich nichts als Prahlerei. Und ich weiß es selbst, denn ich sage es ja gerade auch selbst. Die Selbstreflexion, die Analyse des eigenen Zugangs zur Welt, über die die Sprecherin spricht, und in der Art und Weise, in der sie spricht, sind grundlegend in Jelineks Theatertexten. Den Zuschauenden die eigene Weltsicht als Sangspruchdichterin vorzugeben, das Theater als Weltgericht,vielleicht gar mit den Dramatiker:innen als Richter: innen zu verstehen, die Geschichte auf dem Gericht der Bühne neu beurteilen: Das kann und will Jelinek nicht leisten. Doch die Lektüre in einer Resignation des Hermeneutischen und Politischen am Theater zu verstehen, würde dem Text ebenso wenig gerecht werden. Denn es bleibt letztlich mehr als Frust und die Ablehnung, auch wenn das geglückte Verstehen im Text sorgfältiger Suche bedarf. Der Text verlangt nach dem politischen Theater – in neuer, und doch auf die Brecht’sche Tradition zurückgreifende Form. Das Theater muss beides können: unterhalten und den Zuschauer:innen einen vielleicht neuen Zugang zur Welt ermöglichen. Auf sprachlicher Ebene findet sich bei Jelinek die Komik vor allem in Form von Paranomasien und Kalauern wieder. Sie schließt sich mit dieser Form zum einen einer jüdischen Schreibtradition29 an und bezieht sich nicht nur auf die Brecht’sche Theaterkonzeption, sondern auch auf die Wiener Gruppe.30 Außerdem greift Jelinek auf Freuds Witz-Theorie zurück:

28 Wenzel, Franziska/Runow, Holger (2007). Sangspruchdichtung. In: Brednich, Rudolf Wilhelm et al. (Hrsg.). Enzyklopädie des Märchens, Band 12: Schinden, Schinder – Sublimierung. Berlin, New York: De Gruyter. Abrufbar unter: https://db.degruyter.com/view/EMO/em o.12.245?pi=0&moduleId=common-word-wheel&dbJumpTo= Spruch (Stand 23/02/2022). 29 Vgl. Jelinek, Elfriede/Treude, Sabine/Hopfgartner, Günther (2000). Ich meine alles ironisch: Ein Gespräch. Sprache im technischen Zeitalter 38. 21–31 und Hentschel, Ingrid (2007). Dionysos kann nicht sterben: Theater in der Gegenwart. Berlin: Lit Verlag. 75. 30 Zur Wiener Gruppe und Elfriede Jelinek vgl. Klessinger, Hanna (2015). Postdramatik: Transformationen des epischen Theaters bei Peter Handke, Heiner Müller, Elfriede Jelinek und Rainald Goetz. Berlin: De Gruyter. 113.

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Ich werde ja sehr oft für meine Kalauer kritisiert, aber gerade Freud weist ja nach, daß durch Wort-Neubildungen, durch die ungewohnte und ungewöhnliche Zusammenziehung zweier Wörter, wenn die Ideologie diesen Wörtern buchstäblich aus allen Nähten platzt (Freud nennt so ein Wort, das dann die Komik aus sich selbst heraus produziert, ein Mischwort), der neu geschaffene Zusammenhang sofort verstanden wird, auch ohne ausführliche Erklärungen. Die Sprache spricht dann selbst.31

Bedenkt man diese Selbstaussage Jelineks mit, so unterstellt sie der littérature engagée letztlich eine narzisstische Selbstgerechtigkeit, die der der Könige nicht unähnlich ist. Das politische Engagement der Dichter:innen darf nicht der SelbstDarstellung dienen. Deswegen geht es in der Literatur auch darum, die eigene Rolle innerhalb eines sozial-politisch-literarischen Diskurses zu reflektieren, sie lächerlich zu machen, um der Selbst-Erhöhung vorzugreifen. Nur aus der unsicheren Sprech-Position und aus einer verunsicherten Sprache heraus lässt sich politisches Theater machen, das nicht selbst Ideologie wird. Jelineks Am Königsweg ist ein Theaterstück gegen Eitelkeiten. Das Theater muss deshalb, wie gesagt, nach neuen Formen suchen. Die Sangspruchdichtung hat ausgedient, insofern sie ein sicheres, gefestigtes Macher-Subjekt voraussetzt. Das politische Theater hat ausgedient, insofern es sich selbst zur Ideologie macht. Die Sprache, mit der in der Gegenwart politische Aussagen getroffen werden können, wie hier in Am Königsweg, wo eine allgemeinere Debatte um historische Verantwortung und Subjektivität doch konkret an das Ergebnis der Wahl des US-Präsidenten 2016 angeschlossen wird, ist eine der produktiven Verunsicherung, in der dann immer wieder nach einem möglichen Verstehen gesucht wird, sich eine Erklärung der Dinge aber nie sicher anfühlt.

3.2

Versöhnende Worte, versöhnende Opfer. Perspektiven für das politische Theater

Nun könnte man genau diese Verunsicherung als freundliche Umschreibung des in Forschung und Lehre immer wieder deutlich werdenden Jelinek-Frusts deuten. Denn: Es ist und bleibt ein seltsamer Zwiespalt zwischen der Berufung auf und dem Zurückweisen von Tradition. Der Mythos wird heraufbeschworen, Brecht (als episches wie politisches Theater) und Shakespeare (als Historienbzw. Königsdrama)32 konzeptuell auf die Bühne gebeten und dann sogleich als 31 Jelinek, Elfriede/Rita Thiele (2011). Dialoge II: Glücklich ist, wer vergisst? Eine E-Mail-Korrespondenz zwischen Elfriede Jelinek und Rita Thiele. In: Pełka, Artur/Tigges, Stefan (Hrsg.). Das Drama nach dem Drama: Verwandlungen dramatischer Formen in Deutschland seit 1945. Bielefeld: transcript. 409–416. 411. 32 Vgl. schon das Prinzessinnendrama Der Tod und das Mädchen und das Königinnendrama Ulrike Maria Stuart.

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völlig nutzlos entlarvt. Doch dieses Rückstoßen der (dramatischen) Traditionen überzeugt nur oberflächlich. Beim genaueren Hinsehen beruft und braucht der Text die Traditionen und den dramatischen Kanon, um die eigenen Aufgaben innerhalb eines politischen und eines Geschichtstheaters auszutarieren. Dabei greift der Text auf die Mythendichtung zurück, die literarische, religiöse, politische und historiographische Diskurse seit den Anfängen des Theaters miteinander verbindet und in deren Wirkungsraum und Tradition sich die Dichterin in diesem Stück verorten muss: Ich bins nicht, ich bins und ich bins nicht, ich muß mich von meiner hoffnungsvollen Neigung, zu sprechen und gehört zu werden, abwenden, ich muß mich von dieser Neigung, die längst hoffnungslos geworden ist, abkehren, […] Wer sind wir denn, daß wir sprechen? Das ist vorbei. Wir gehen ein an unserem eigenen Mißerfolg, und jetzt werden wir verachtet. Für das, wofür wir neulich erst gelobt wurden, fast unsterblich geworden sind, ja, die Denker auch, aber auch die Dichter, die Dichter: schon auch wichtig!, und das sagt eine, die bald sterben wird, die sich keine Illusionen mehr machen kann. Kein Wort von ihr wird überleben, es lebt ja schon jetzt keins mehr, dort zuckt noch eins, hauen wir ruhig drauf, doch es ist ohnedies schon ruhig. Jetzt, da Sie da sind und das Wort führen, das Wort an der Hand führen, weil es ja immer ausbrechen will, es will weg von mir, […] ich führe mein Wort davon, ich führe es weiter, ja, das auch, aber ich führe es fort, ich führe es aus, keine Sorge, ich fahre nicht fort, ich fahre mit meinem Wort nicht fort, […], bald bin ich weg, der König ist ja da, den habt ihr, klar, über den könnt ihr euch aufregen oder freuen, ist ja egal, Hauptsache, er ist da, vielleicht geht er ja sogar noch vor mir? Nein, das wird er nicht tun.33

Das Ich am Ende des Stückes, das sich so zaghaft seiner selbst versichern muss, ist das einer sterbenden Dichterin – einer, die eigentlich hofft, beim Sprechen gehört zu werden, die am Ende noch einmal etwas sagen will, aber nicht kann, die Hoffnung aufgeben muss, weil ihr das Wort davongelaufen ist. Doch welches Wort? Die klare politische Message? Die Moral eines Textes? Die Pointe? Die blinde Sangspruchdichterin, selbst eine symbiotische Figur aus Mythos und Pop, als Ödipus-Muppet, kann die Welt, über die es etwas zu sagen gäbe, nicht erfassen. Sie entzieht sich ihr und die Sprache über diese Welt genauso. Damit gerät auch der Mythos ins Wanken, denn wo bleibt eine identitätsstiftende, intersubjektive Imagination und Verstehensebene, wenn die Worte, mit denen sie aufgerufen wird, einander und ihren ‚(Wort)Führenden‘ immer davonlaufen? Sie waren die letzte Möglichkeit einer gemeinsamen Sinnstiftung, denn den Königen wie den Dichter:innen fehlt das Auge, das Anschauungsorgan, sie sind geblendet. Und damit versagt die Sprache hier in ihrer Funktion als Mittel der Erkenntnis: Die Antigone, die die Geblendeten durch die Welt führen könnte, wäre bei Jelinek die mystische Personifikation der Sprache selbst. Doch diese 33 AK 141.

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Antigone geleitet den Blinden nicht, sie fördert nicht, lässt sich nicht führen: Sie zieht und zerrt wild an der Dichterin herum, wie ein schlecht erzogener Hund. Das bedeutet im Text das Ende einer Epoche, das Ende einer Zeit, in der die Dichter glauben konnten, etwas zu sagen zu haben und etwas verändern zu können. Man kann diese Metapher von der Sprach-Antigone noch weiter ausreizen. Der König Kreon hat den Tod des sinnhaften Sprechens beschlossen (er kennt all die besten Worte, der Rest ist ‚fake news‘). Die Sprache ist in der Krise. Ihrer Bedeutung, ihrer Substanz beraubt, vermittelt sie keinen Sinn mehr, nun da ‚er‘ an der Macht ist. Und so erfüllt Jelinek in diesem ganz un-dramatisch erscheinenden Text doch eine der Urfunktionen der Tragödie: nämlich die Neu-Auslegung eines Mythos unter den Bedingungen der Polis.34 Doch die Polis ist hier nicht demokratisch, sondern monarchisch organisiert, hin zu einem selbst verblendeten Kreon, einer Trump-Allegorie. Der vielverwendete Begriff der ‚Mythendekonstruktion‘ könnte weitere Einblicke bringen. Aber eigentlich wird hier nicht der Mythos dekonstruiert. Ein mythisches Weltbild wird vielmehr als das Verlorene beklagt. Während sich in der Tragödie die Polis konstituiert, mithilfe des Mythos, offenbart der Mythos hier die Trümmer der demokratischen Gesellschaft. In ihnen ringen die Dichter:innen um den verlorenen Zugang zur (mythischen) Sprache: Wir haben also jetzt nichts mehr zu sagen, das ist unsere Strafe und Ihre Freude. Da sind Sie aber froh, was? Unsere Epoche endet jetzt, der Kugelschreiber ist schon lang verendet. Ihre beginnt. Wir haben die Menschen als unser Eigentum betrachtet, das uns zuhören mußte, jetzt: schmerzvolle Enttäuschung. Keiner hat zugehört. Die ganze lange Zeit: keiner! So, und jetzt hab ich auch noch die Fernsehnachrichten versäumt. Daher kann ich Ihnen leider nicht sagen, was Sie zu tun haben, weil ich es selbst nicht weiß, obwohl ich es immer schon vorher gewußt habe. Und das blöde Wort zerrt auch schon wieder, daß es mir den Arm aus der Kugel reißt. Es hat dort drüben beim Spielplatz ein andres gefunden, mit dem es sich unterhalten möchte. Ich bin ja für die Unterhaltung leider ziemlich ungeeignet, ich muß mich selbst von kleinen silbernen Scheiben unterhalten lassen. So, und warum unterhalten Sie dann nicht uns?, fragen Sie. Würde ich gern, aber das müssen andere tun, ich muß die Verantwortung tragen […].35

Mit der Erwähnung des Kugelschreibers greift der Text eine Reflexion der literatur- und mediengeschichtlichen Umbrüche der letzten Jahre und Jahrzehnte auf.36 Die Dichterin entzieht sich auch diesem Diskurs. Die Selbstreflexion der Theaterautorin als Theaterautorin, die das Theater als politischen Raum in antiker Tradition verstanden haben scheint, gibt die politische Stimme in ihrer 34 Vgl. dazu Brisson, Luc (1996). Einführung in die Philosophie des Mythos. Band 1: Antike, Mittelalter und Renaissance. Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft. 39–54. 35 AK 142f. 36 Vgl. zur Geschichte des Aufschreibens: Kittler, Friedrich (2003). Aufschreibesysteme: 1800– 1900. München: Fink.

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Ratlosigkeit ab an die Fernsehnachrichten und ihren Unterhaltungswert ab an DVDs (die „silbernen Scheiben“) – und damit auch das politische Schreiben, das auch Sinnstiftung in der Welt ist. Die Dichterstimme weiß nicht, was sie sagen könnte, wenn sie nicht die Nachrichten sieht. Und dazu kommt: Die Fernsehnachrichten, die über das Jetzt berichten, die verpasst die Dichterin dann noch in ihrer Selbstreflexion. Sie greift zurück auf die Unterhaltung und auf das Gestern: Die DVD, auf der alte Filme geschaut werden können, die unabhängig von den Ereignissen ‚draußen‘ jederzeit wieder Vergnügen bringen können. Ist es das, was aus dem Theater werden soll? Das Theater und die Theaterautorin, die „immer alles vorher wusste“ und auch etwas zu sagen hatte, werden den popkulturellen Medien nachgestellt. Als Gründe werden zum einen die mangelnde Aufmerksamkeit der Zuschauer:innen und zum anderen auch die Hybris der ‚Dichter und Denker‘37 und ihre Bewältigung der Sprache genannt. Verlangt, so impliziert der Text hier, werde vom Theater bloße Unterhaltung, wie von der DVD, doch, obwohl der Text mit Komik arbeitet und selbst popkulturelle Phänomene zur Darstellung bringt: reine Unterhaltung will und wird er nicht werden.38 Dass Am Königsweg auch unterhält, steht außer Frage. So ist es auch nur zum Schein, dass die Unterhaltungsfunktion des Theaters in dieser Art zurückgewiesen wird. Wichtiger bleibt jedoch die soziale Verantwortung, die dem Theater zugewiesen wurde und die auch den ‚Dichtern und Denkern‘ abverlangt wird: diese soziale Verantwortung, letztlich eine menschliche und nicht nur eine, die Autor:innen zu übernehmen haben, ist die Pointe dieser Textpassage. Gleich darauf verweist die Sprecherin durch ein „Ich klage an“39, durch das ‚J’Accuse‘ auf einen Essay hin, der explizit gegen antisemitische, also auch xenophobe, machttragende Personen und Strukturen argumentiert hat: Émile Zolas Essay zur Dreyfus-Affäre von 1898.40 Zolas Brief liefert das Vorbild und übermittelt den Wunsch, dass Literatur weiter etwas verändern können sollte – wenn auch mit anderen Mitteln als mit der offensiven Beschuldigung des fran-

37 AK 141. 38 Benny Claessens, der die Hauptrolle in der Inszenierung Falk Richters übernommen hat, ruft an einer Stelle, als die Zuschauer lachen, „Das ist nicht lustig, das ist Jelinek!“ in den Zuschauerraum. 39 AK 143. 40 Zola, Émile (1988). J’Accuse …! La verité en marche. Hg. Von Henri Guillemin. Bruxelles: Ed. Complexe. 51. Der Artillerie-Hauptman Alfred Dreyfus wurde 1894 vor dem Kriegsgericht in Paris wegen Landesverrats verurteilt. Selbst als sich offenbarte, dass es sich bei dem Urteil um einen Justizirrtum handelte, wurde auf der Verurteilung des Elsässer Juden beharrt. Zola klagt den französischen Staatspräsidenten Félix Faure wegen Xenophobie und Antisemitismus in einem öffentlichen Brief an und übertitelt ihn mit ‚J’accuse‘. Es entsteht eine große öffentliche Debatte, letztlich wird Dreyfus rehabilitiert, aber Zola muss fliehen, nach London. Jelinek hat nicht wie Zola das Exil zu fürchten. Am Königsweg zeigte bereits, wie wenig Gehör eine deutliche Anklage auf dem Theater noch finden kann.

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zösischen Vorbilds. Die Dichterin sucht nach einem anderen Wort, das Mittel des Verstehens und letztlich auch einer Verständigung sein könnte: Passen Sie gut auf das Wort versöhnend auf! Es ist zwar nicht jenes, das sich vorhin von mir losgerissen hat, denn mit Versöhnung hatte ich nie was am Hut, es ist ein ganz neues Wort, das zu mir gekommen ist, weil mein altes Wort es mit mir nicht mehr aushalten kann.41

Diese Idee der Versöhnung kommt aus einer Reflexion der alternden Dichterstimme – ist Am Königsweg also ein Text für die Versöhnung? Eine schöne und vielleicht doch leere Vorstellung. Denn was würde eine Versöhnung bedeuten? Wie sollte eine Versöhnung gelingen? Und nicht zuletzt: Wer oder mit was soll sich eigentlich versöhnt werden? Der Text wird nicht genauer. Und hier kommen die Leser:innen an ihre Verstehensgrenzen: Es werden allerlei hermeneutische Prozesse erprobt, die Möglichkeiten der Sprache als Mittel der Verständigung untersucht, aber ebenso wieder verworfen, bevor gesagt wird, was genau mit der Anregung des Textes anzustellen ist. Der Text scheint eben auch nicht zu wissen, wie eine solche Versöhnung aussehen kann und so muss er das schöne, neue Wort ebenfalls zurückweisen und sich selbst und diejenigen, die nun doch bis hierhin zugehört haben, gleich mit. Das Werk der Dichterin als eines, das als Versöhnung wirken oder das Verstehen ermöglichen könnte, wird verleugnet und die Rezipient:innen, die es von Anfang an als taube, blinde Masse nicht besser verdient haben, bittet die Sprecherin, auf dem Opferstein Platz zu nehmen: Da ist ja nichts, nur Ödnis. Keine Fabriken. Keine Bergwerke, überhaupt keine Werke. Irgendwer hat gesprochen. Wir haben es nicht gehört, aber einer muß es gesagt haben: Weg mit ihm, weg mit dem Wort, mit jedem Wort, wir wählen lieber ein andres Wort, damit wir auch das verlieren, wir haben alles verloren, jetzt gehen uns auch noch die Worte aus und dorthin, wo noch etwas Platz für Unterhaltung ist. Bitte, nehmen Sie schon mal auf dem Opferstein Platz, machen Sie sichs bequem, ich hole nur das Messer: Abraham! Abraham! Und der antwortet, wie bereits gesagt, nicht von mir, deswegen stimmt es auch: Hier bin ich. Moment, ich kann nicht genau sehen, wer das überhaupt ist, er scheint aber da zu sein. Mein Wort ist verrückt geworden, wahrscheinlich weil es glaubte, mich verloren zu haben, aber ich verliere keine Worte, und das Wort, es spricht: Lege deine Hand nicht an den Knaben und tue ihm nichts; denn nun weiß ich, daß du Gott fürchtest und hast deines einzigen Sohnes nicht verschont um meinetwillen.42

Am Königsweg greift hier gleich zwei Mythen auf. Den einen Mythos kritisiert Jelinek in ihrem Werk immer wieder. Die österreichische Opferthese, oder den

41 AK 145. 42 Ebd., 146f.

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Opfermythos: Österreich als erstes Opfer des Nationalsozialismus.43 Er wird erweitert auf eine Kollektiv der Zuschauer:innen, der gesellschaftliche Prozesse und Veränderungen widerfahren. Dem widerspricht der Text vehement. Das Opfer-Sein kann man sich nicht selbst schaffen und daran zu erinnern ist Aufgabe der Dichterin: Die vorher noch postulierte Verantwortung wird ihr also nicht entzogen. Im Gegenteil: Der Text fordert sie direkt ein. Das Wort ‚Verantwortung‘ kann nicht zurückgewiesen werden, es muss wieder zurück zu den Dichter:innen, zurück zu denen, die die politische Verantwortung nicht der Unterhaltung opfern. So sehr hier ein poetologischer Gedanke, dessen Kern die Versöhnung nun werden könnte, wenn man nur wüsste, wie diese auszusehen hätte, zurückgewiesen wird, so sehr steckt doch das Ringen um eine politische Stimme als poetische Überlegung einer Dichterbiographie und damit auch eines konkreten Werkes44 im Text. Die Zuschauer:innen opfert die Sprecherin dann nicht etwa, sondern, wie in der Genesis, dem Opfer wird Einhalt geboten. Die Gnade Gottes ist hier gleich das Wort, was der Dichterin zu entrinnen drohte, das vielleicht Versöhnung ist. Es verhindert den Opfermythos, denn schließlich wären die Angesprochenen sonst ja geopfert worden und hätten genau diesen Opfermythos auch in unsere Gegenwart übertragen können: Wir können für die Trumps der Welt nichts, wir sind bloß ihre Opfer. Aber da kommt dieses Wort und ist so zugleich Gnade und Mahnung der Eigenverantwortung: Eigenverantwortung auch an unserer Geschichte, an unseren Mythen und an den Sangsprüchen, die wir selbst mitgestalten. Und hier findet sich der Versuch einer Revitalisierung des verstehenden Subjekts: in der Person der Zuschauenden wie der Dichtenden. Am Königsweg erhebt also den Vorwurf, man habe den Sündenbock gefunden, der einen nunmehr davor bewahrt die eigene Partizipation in einem repressiven sozialen System zu reflektieren. Diese Deutung ist gerade auch durch die Nennung von Das Heilige und die Gewalt als intertextuellem Bezugspunkt in Jelineks Stück überzeugend. René Girard hatte in Sophokles’ König Ödipus eine „Krise des Opferkultes“45 diagnostiziert. In dem Drama seien alle gleichermaßen schuldig. Er greift Freuds Ödipus-Lektüre einerseits auf, indem er Ödipus psychologisch und sozial allegorisch versteht, widerspricht ihm aber insofern, als dass er den Mythos nicht hinsichtlich einer Verdrängung von dem Wunsch von Vatermord und Inzest im Menschen auslegt, sondern als Allegorie eines kol43 Ehtreiber, Ewald (2007). „Opferthese“, „Vergangenheitsbewältigung“, „Wehrmachtsausstellung“ und „Wiedergutmachung“. In: Panagl, Oswald/Gerlich, Peter (Hrsg.). Wörterbuch der politischen Sprache in Österreich. Wien: öbv. 296–298. 44 Zum Werkbegriff vgl. Danneberg, Lutz/Gilbert, Annette/Spoerhase, Carlos (Hrsg.) (2019). Das Werk. Zum Verschwinden und Fortwirken eines Grundbegriffs. Berlin, Boston: de Gruyter (= Revisionen. Grundbegriffe der Literaturtheorie). 45 Girard, René (1987). Das Heilige und die Gewalt. Zürich: Benzinger. 109.

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lektiven, verdrängten, sozialen Gewaltpotentials, das nur durch das ‚versöhnende Opfer‘ heilbar scheint. Um Ödipus vom Unglücksbringer in ein Versöhnungsopfer zu transformieren, entledigt Girard ihn zunächst seiner alleinigen Schuld: Ödipus’ Jähzorn, seine Impulsivität, die seinen tragischen Charakter ausmache, unterscheide ihn kaum von den anderen Figuren, die ihre eigenen Schwächen aufweisen: Alle Figuren seien gleichermaßen an der „Zerstörung der kulturellen Ordnung“46 beteiligt. Nur in der Konsequenz seiner Anlage, im Vatermord, im Inzest, separiere sich Ödipus. Girard zeigt aber, dass das letztlich nur das Ausmaß der Verantwortung, nicht aber die grundsätzliche Teilschuld an der Katastrophe von Theben betrifft. „Ödipus und Teiresias schieben sich gegenseitig die Verantwortung für das Unglück zu, das über die Stadt hineingebrochen ist. Vatermord und Inzest sind nur eine besonders ausgeprägte Variante der gegenseitigen Schuldzuweisung.“47 Dass Ödipus im Theater zum Schluss die Verantwortung zugesprochen bekommt, die mit der Selbststrafe endet, sei letztlich nur durch die Anlage des Mythos selbst, nicht durch die Handlungen des Helden begründet. Ödipus muss schuldig sein, weil die Gemeinschaft bereits weiß, dass er schuldig ist. Nur Ödipus weiß es nicht. Außerdem zeigt Girard, dass Ödipus bei Sophokles nicht als erster gewaltvoll handelt, sondern seine Gewalt reziprok ist.48 Und die Pest habe die kulturelle Ordnung Thebens bereits grundsätzlich erschüttert.49 Die Gemeinschaft brauche aber den Schuldigen zur Wiederherstellung einer kulturellen Ordnung: „Eine Gemeinschaft, die in Gewalt verstrickt ist oder von Unheil bedrängt wird, dem sie nicht Herr werden kann, stürzt sich blindlings in die Jagd auf den ‚Sündenbock‘.“50 Mit diesem Ansatz distanziert Girard den ÖdipusMythos von seiner psychoanalytischen Rezeption. Inzest und Vatermord sind nicht länger die herausstechenden Merkmale des Mythos, sondern Teil einer größeren Frage: die nach der Gewalt. Somit sei Ödipus „nicht schuldig, aber er [sei] für das Unglück der Stadt verantwortlich. Seine Rolle [sei] die eines eigentlichen menschlichen Sündenbocks.“51 Als ‚versöhnendes Opfer‘ ist seine Rolle nicht dem Unglück vorausgestellt. Seine Verantwortung liegt nicht in dem Unglück, aber darin, das Unglück zu beseitigen. Das ‚Versöhnungsopfers‘ bekämpft aber weniger die Ursache als nur die Symptome einer von Gewalt durchzogenen Gesellschaft. Das Opfer „verdeck[e] den Menschen die Wahrheit ihrer Gewalt“.52 Und mit diesem Wissen lässt sich dann die zum Ende geführte 46 Ebd. 47 Ebd., 111. 48 Ebd., 104–106. Zwar würde Ödipus in der dramatischen Bearbeitung des Mythos als erster auftreten, dennoch seien Zorn und Gewalt der mythologischen Welt inhärent. 49 Ebd., 115–116. 50 Ebd., 121. 51 Ebd., 118. 52 Ebd., 125.

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Debatte von Versöhnung und Verantwortung in Am Königsweg noch einmal ergänzen. Das Opfer der Zuschauer:innen wird zum Versöhnungsopfer, das aber unterbunden wird. Ihm wird vom Wort, das zuvor mit Versöhnung assoziiert wurde, Einhalt geboten. Es hat ja auch gar keinen Sinn ein Versöhnungsopfer zu vollziehen, weil dieses bloß symptomatisch wirkt. Zuvor offenbarte sich die Leere dieses Versöhnungsbegriffs, hier erklärt sie sich. Zum Kern der Dinge vorzugelangen – das will die Kunst, will das Theater. Und so ist die Verantwortung der Dichterin letztlich auch nicht eine, die sie selbst zum Versöhnungsopfer machen könnte. Sie entlarvt diese Verantwortung des Versöhnungsopfers als bloßen Schein und spricht der Dichtung eine Verantwortung zu, die psychoanalytische Methoden aufgreift: Theater ist hier ein Hervorholen der unterdrückten sozialen Gewalttendenzen. Ob das Theater so tatsächliche sozialpolitische Folgen mit sich bringt, ist zweifelhaft. Die Verantwortung der Dichterin ist also die eines Sozialpsychologen. Auch der Psychologe übernimmt nicht die Veränderung des Verhaltens seines Patienten. Er kann nicht für ihn handeln, sondern ihn lediglich zum Handeln anregen. So sinnvoll und so deutlich könnte der Text und könnte auch die Dichterin nun ihre Aufgabe begreifen. Die Sprecherin weist aber auch diesen Gedanken zurück: „Bitte seien Sie mir nicht böse, und hören Sie lieber nicht auf mich.“53, sind die letzten Worte des Stückes, ein ironischer Kommentar auf das, was zuvor gehört wurde. Denn: Wozu lohne sich das Schreiben, lohne sich das Spielen, wenn es am Ende niemand hören sollte? Es ist vielleicht die pessimistische Vorausahnung der aus der Vergangenheit gelehrten. Es ist vielleicht einfache Reaktanz. Oder doch eine Medea, wie sie bei Pasolini auf dem Dach ihres brennenden Hauses steht und ‚Es ist nichts mehr möglich‘ („Niente è possibile ormai!“) ruft?54 Es ist vielleicht der Tod, das Verstummen der Dichterin, die sich als Interpretin und Vermittlerin aufgibt. Es ist vielleicht ein Witz am Schluss, die Pointe des Stücks, die Unterhaltung, die auf die Erkenntnis und Selbstreflexion der Lesenden und Zuschauenden folgen muss. Es bleibt die Verunsicherung, von der man weiß, dass sie eigentlich Verantwortung sein muss.

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53 AK 146f. 54 Pasolini, Paolo (1969). Medea. Rom: Cinecittà-Studios. 1:45:40.

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Felix Oberholzer

Pierre Bourdieu’s Fascination for Virginia Woolf: Critical Reflections on Mythicized Moments of Masculine Domination

Abstract Although Pierre Bourdieu’s (1930–2002) appreciation of Virginia Woolf ’s (1882–1941) writings as an inspirational source for his late work Masculine Domination has already received some scholarly attention, a specific reappraisal of his fascination for her intellectual contributions still remains outstanding. Since, in reference to Woolf, the gendercritical turn of Bourdieu’s social theory is notably framed by notions of the mythic and mystic, this article examines their critical potential with regard to the social efficacy of literature. Beyond a comparative analysis of mythological motives, it brings into relation the feminist author’s approach toward literary representation with the sociologist’s critique of the prevailing social and gender order. Woolf ’s ethnographic perspective on the symbolic structures of Western bourgeois patriarchal societies is then clearly received as a constitutive part of Bourdieu’s late socioanalytical gaze. Keywords: Gender, Pierre Bourdieu, Virginia Woolf, Masculine domination, Myth

1.

Moments of Convergence and Adjustment: On the Infantile Origins of the illusio1

Pierre Bourdieu’s (1930–2002) fascination for Virginia Woolf (1882–1941) and the lucid literary vision produced by her writing can best be approached by means of an anti-biographical parallel. In his last lecture at the Collège de France with the programmatic title Sketch for a Self-Analysis which, when released posthumously, was involuntarily read as his intellectual legacy, Bourdieu undertakes the challenging task of applying the reflexive principles of his sociological gaze on his academic career. What might at first seem like a pursuit in selfpresentation is instead turned into a rigorous attempt at objectifying the requirements behind his own professional participation as ‘the subject of ob1 I owe a great amount of gratitude to Ángela López-García and Carole Martin who kindly read and commented on an earlier draft of this article. I am equally indebted to Andrea Maihofer whose contributions inspired its outline, and I am also very grateful for the fruitful input I received during the conference at the Ruhr-Universität Bochum in February 2021.

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jectivation.’2 As a young philosophy student in the scholastic field that would henceforth comprise him and which, respectively, Bourdieu tried to comprehend, his memories begin in the years when he had already found himself at the height of its hierarchy. He thus explains that he… …cannot relate here the whole machinery of the process of consecration which, from the concours général and the classes préparatoires to the concours for entry to the École Normale, leads the elect […] to elect the School that has elected them, to recognize the criteria of election that have constituted them as an elite; and, then, to orient themselves – no doubt with all the more eagerness, the more they have been consecrated – to the ‘queen of disciplines.’3

Against any tendency to solidify his status and to consecrate the prestigious institutions formative of his scholastic history, Bourdieu sought to submit the social mechanisms responsible for this mythmaking of the homo academicus to a thorough critique.4 The industrial machinery serves here as a palpable metaphor for the processes of socialization illustrating how covert social structures and subtle symbolic relations exert their influence in the formation and regulation of specific ways of perceiving, thinking and acting. Especially within a social field where researchers see themselves continuously trained, tested and reflected in their sense of achievement and ambition, Bourdieu aims at exposing the underlying logic of this pedagogic machinery. Simultaneously dis/associating himself from and with the scholastic universe with its distinguishing and disciplining demands in the display of institutional incentives and personal investment, he therefore questions the persistent reproduction of these embodied dispositions. In other words, figuring as both an effect and motor of this machinery, Bourdieu focuses on his own habitus as a particular “feel for the game.”5 But how do these self-revealing insights by Bourdieu correspond to Woolf ’s understanding of the hidden genesis or, rather, anamnesis of masculine domination? Precisely because Woolf was denied access to such elite schools – it caused her to harbor an “outsider’s feeling”6–, she similarly expressed a remarkable sense for the immense effort of social forces and constraints at work within the social 2 “By ‘participant objectivation’, I mean the objectivation of the subject of objectivation, of the analysing subject – in short, of the researcher herself.” Bourdieu, Pierre (2003). Participant Objectivation. Journal of the Royal Anthropological Institute 9:2. 282. Original Emphasis 3 Bourdieu, Pierre. (2008). Sketch for a Self-Analysis. Chicago/London: The University of Chicago Press. 4f. 4 As the protagonist in the struggle for (self)representation, position and power, Bourdieu’s study of the academic field tries to trap this homo academicus, the “supreme classifier among classifiers, in the net of his own classifications.” Bourdieu, Pierre. (1988). Homo Academicus. Stanford: Stanford University Press. xi. 5 Bourdieu, Pierre. (2000). Pascalian Meditations. Stanford: Stanford University Press. 151. 6 Woolf, Virginia. (2002). Moments of Being: Autobiographical Writings. London: Pimlico. 154.

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field of her own family. In her autobiographical essays, also published posthumously, Woolf recalls a “great patriarchal machine” into which “every one of our male relations was shot […] at the age of ten and emerged at sixty a Head Master, an Admiral, a Cabinet Minister, or the Warden of a college.”7 While her male relatives were thus seized one by one and, as she describes, forcefully “stamped and moulded” by that machine, Woolf and her sister Vanessa, without receiving access to its painful privileges, were instead assigned another social role: “we were only asked to admire and applaud when our male relations went through the different figures of the intellectual game.”8 Already within the early confines of the home, young girls and women are therefore prompted to ensure and preserve a sense of masculine domination by continuously mirroring the scholarly achievements of their male relatives in the fleeting expressions of admiration, pride and recognition. Woolf continues to recount how… …most of our male relations were adept at that game. They knew the rules, and attached extraordinary importance to those who won the game. Father for example laid immense stress upon school reports; upon scholarships; triposes and fellowships […]. They won all the prizes, all the honours.9

Similar to Bourdieu’s appraisal of his scholastic field, Woolf realized in the case of her family that the ardor and ambition to submit oneself to the social rules and to partake, successfully, in these competitive games are increasing with each new commitment and are likewise intensifying with the prospect of symbolic profit. While gradually transforming this desire for personal investment into a durable social disposition, each triumphant display of (self)mastery reinforces and normalizes, in the words of Bourdieu, “the various possible forms of domination.”10 He confirms that in this circulation of “symbolic prizes” – mainly reserved for young boys and men as “the privileged recipients of the pedagogic action”–, the androcentric origins coincide with the entry into “the original illusio.”11 The reality resulting from this process presents itself as a highly mythicized moment where, unlike for Woolf and her sister, the rules of the social games and the habitus as a ‘feel for the game’ begin to align almost seamlessly and effortlessly. While the mechanisms of masculine socialization are thus inconspicuously imposed and manipulated, the libido dominandi as ‘the desire to dominate’ is acquired as the basis for one’s investment and participation in the

7 8 9 10 11

Woolf (2002), 155. Woolf (2002), 155. Woolf (2002), 155. Bourdieu (2000), 167. Bourdieu (2000), 167.

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social games that bind together the body, habitus and field.12 This momentous juncture of the libido dominandi and the illusio, to put it simply, seems like a definitive victory in the mutual stimulation between the playful appeal of and desire for domination. These requirements are therefore simultaneously revealing the structural principles behind the durable yet also delicate character of masculine domination and its symbolic dependence on social recognition and self-affirmation. Here then, in Woolf ’s careful reflections on the infantile origins of the original illusio, can already be found the foundations that will become relevant to Bourdieu’s anamnesis of “the androcentric unconscious” – in which he admittedly partakes – to be fully exposed “in his triumphant unconsciousness.”13 Apart from the common thematic underpinnings though, the most significant element in this anti-biographical parallel certainly lies in their shared sensibilities toward objectifying their respective social worlds. Especially through Woolf ’s literary accounts, Bourdieu notes, she “allows us to understand how, by ignoring the illusio that leads one to engage in the central games of society, women escape the libido dominandi that comes with this involvement.”14 When excluded from the symbolic privileges habitually conferred to men and, as a result, rendered more susceptible to dissecting their prescribed positions, women “are therefore socially inclined to gain a relatively lucid view of the male games in which they ordinarily partake only by proxy.”15 With Woolf ’s eyes thus sharpened by the social processes and conditions of domination that distinguish the sexes to the point of the mundane turned myth, Bourdieu was himself inspired to readjust his methodological orientation: a self-reflexive shift in his socioanalytical gaze which would encompass more rigorously his own investment while thinking and writing about the genesis of masculine domination.16

12 Bourdieu, Pierre. (2001). Masculine Domination. Stanford: Stanford University Press. 74. For the notion of ‘game’ see Bourdieu, Pierre. (1998). Practical Reason: On the Theory of Action. Stanford: Stanford University Press. 76f. 13 Bourdieu (2001), 5 and Bourdieu, Pierre/Wacquant, Loïc (1992). An Invitation to Reflexive Sociology. Cambridge: Polity Press. 173. For a discussion of Bourdieu’s use of anamnesis see Witz, Anne (2004). Anamnesis and Amnesis in Bourdieu’s Work: The Case for a Feminist Anamnesis. The Sociological Review 52:2. 211–223. 14 Bourdieu/Wacquant (1992), 173. Also cf. elsewhere: “what is experienced as obvious in illusio appears as an illusion to those who do not participate in the obviousness because they do not participate in the game.” Bourdieu (1998), 79. 15 Bourdieu/Wacquant (1992), 173. 16 Cf. Bourdieu (2003), 291.

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2.

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Intellectual Affinities: On the Advantages of an Ethnographic and Literary Perspective

These intimate yet demystifying anti-biographies of and against their social worlds illustrate how Bourdieu’s social theory profited considerably from the critical gaze present in Woolf ’s writing. However, despite the lack of explicit points of reference, their intellectual affinities exceed the conceptual parallel of a machine/ry that both are holding responsible for the cross-generational, ritualized reproduction of social differentiation and, particularly, gender discrimination. But why exactly did Bourdieu’s fascination for Woolf become apparent only toward the later years of his scholarly pursuits? Among his earlier explorations into the field of literary production, few specific mentions of her name can be found in favor of works by other novelists such as Gustave Flaubert’s Sentimental Education.17 Woolf ’s minor presence in Bourdieu’s sociology is only rectified when, in a series of articles, interviews and lectures leading up to the publication of Masculine Domination (1998), he began to copiously draw on her essays and novels for a new endeavor which he preceded by the following concession: “I would probably not have embarked on such a difficult subject if I had not been compelled to do so by the whole logic of my research.”18 Bourdieu considers the theory of masculine domination an indispensable, logical addition that continues the sporadic discussions of his previous studies on the prevailing patriarchal order. In fact, the challenges he perceived in the study of masculine domination, resulting in a late systematic appreciation of gender relations in his social theory, remarkably coincide with his rediscovery of Woolf ’s literary contributions. In attributing to her a prominent part in his socioanalytical approach, Bourdieu’s gender-critical turn and the theory of masculine domination as an essential, final keystone of his social theory would indeed have been unimaginable.19 Only her writing provided the necessary perspective and therefore made possible an analysis of the symbolic mechanisms and effects which so far had largely remained hidden and unremarked:

17 See for instance in Bourdieu, Pierre. (1993). The Field of Cultural Production: Essays on Art and Literature. Cambridge: Polity Press. 138, 178, and 189. Also in Bourdieu, Pierre. (1996b). The Rules of Art: Genesis and Structure of the Literary Field. Cambridge: Polity Press. 63. 18 Bourdieu (2001), 1. Among the publications leading up to Masculine Domination are Bourdieu, Pierre (1990a). La domination masculine. Actes de la recherche en sciences sociales 84. 2–31; Bourdieu/Wacquant (1992), 170–173 and Bourdieu, Pierre (1996a). Masculine Domination Revisited. Berkeley Journal of Sociology 41. 189–203. 19 Cf. Jäger, Ulle/Tomke, König/Maihofer, Andrea (2012). Pierre Bourdieu: Die Theorie männlicher Herrschaft als Schlussstein seiner Gesellschaftstheorie. In: Kahlert, Heike/Weinbach, Christine (eds.). Zeitgenössische Gesellschaftstheorien und Genderforschung. Wiesbaden: Springer VS. 16f.

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It took all the insight of Virginia Woolf and the infinite refinement of her writing to pursue the analysis into the best-concealed effects of a form of domination which is inscribed in the whole social order and operates in the obscurity of bodies, which are both the stakes and the principles of its efficacy.20

In his attempt to reconcile, with the help of Woolf, mundane manifestations of masculine domination with structural gender differences, Bourdieu is most concerned to show how the established social order conceals itself so easily to the point of appearing as self-evident and even inevitable. The naturalized vision of this sexual di-vision is achieved by a symbolic set of oppositions between the feminine and the masculine which is, as he frames it, formally ‘consecrated’ into a ‘mythico-ritual system.’21 In making use of such religious and archaic terms, Bourdieu tries to emphasize that the social principles underlying this mythicoritual system, which he first described by recourse to his ethnographic material on the Kabyle society, work analogously to the principles of contemporary Western societies. Despite knowing about the risk of universalizing social and cultural differences, he includes this detour through “the ritual and mythical practices of the Kabyles” as a necessary “methodological device” to defamiliarize his own involvement in the established social order and thus to inspire an anamnesis of the ancient androcentric structures that are still surviving in modern Western traditions.22 Bourdieu’s attempt at synchronizing ethnographic and sociological approaches, however, not only requires a reversal of the common epistemic distinctions between ancient/modern and exotic/domestic societies by means of mirroring the familiar in the foreign: in order to fully turn the traditional scholastic gaze against itself, he furthermore needs to assume a viewpoint from which the mythico-ritual system of the Kabyles is effectively transposed and centered within Western bourgeois practices and dispositions. At this point, Bourdieu’s transition to Woolf might appear like a radical, although by no means surprising, thematic shift since “the infinite refinement of her writing” promises precisely such an exposure of the hidden, mythicized forms of knowledge at work within her own society.23 And indeed, some formulations in her works suggest an anthropological understanding of subjects as deeply entangled within their own symbolic relations. In her essay A Room of One’s Own (1929), for instance, human beings are casually named “creatures of illusion” while it is further attested that “there is no end to the pathetic devices of the human imagination.”24 Woolf already refers here to the predisposed sus20 21 22 23 24

Bourdieu (2001), 81. Bourdieu (2001), 8. Bourdieu (1996a), 192f. Also cf. Bourdieu (2001), 3. Bourdieu (2001), 81. Woolf, Virginia. (2015). A Room of One’s Own and Three Guineas. Oxford: Oxford University Press. 27. Also see in an essay from 1927: “human credulity is indeed wonderful.” Woolf,

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ceptibility of individuals toward the mythical inscriptions of socially constituted, meaningful narratives and fictions. Concealing the processes of their own affirmation, these inscriptions are expressed in psychic manifestations such as the “feeling that one has some innate superiority” which establishes and justifies prevailing social differences.25 The task of permanently maintaining a sense of domination, she writes, is therefore of “enormous importance to a patriarch who has to conquer, who has to rule” and whose sentiments inform him that women, in contrast, “are by nature inferior to himself” – to this innate feeling she in fact ascribes “one of the chief sources of his power.”26 With the masculine character thus exposed as easily susceptible to the myth-induced appeal of domination, Woolf aims at interrupting the illusion of the illusio that imposes itself on the social order and on the investment in the common course of the social games as evident and inevitable. The formation of the Western bourgeois habitus then, likewise, becomes a constitutive site of the mythico-ritual system where inscriptions of patriarchal structures are repeatedly embodied and tacitly reproduced on an individual level. And while formulations of the habitus as a “political mythology”27 can already be found in Bourdieu’s earlier studies, Masculine Domination specifically draws on Woolf ’s lucid language to elucidate the subtle symbolic workings of what is now specified as an “androcentric mythology.”28 However, such a specific selection of sources must also account for the implicit relation between Woolf ’s approach toward literary representation and social criticism in her writings about the androcentric ways of perceiving, thinking and acting. Precisely how does she achieve this delicate task which, according to Bourdieu, was “no doubt aided by the anamnesis favoured by the work of writing;” and why, after all, would he engage with Woolf the novelist instead of “the author of those endlessly quoted classics of feminism?”29 His attempt of ascribing critical potential to her fictitious works apart from the overtly political essays A Room of One’s Own (1929) and Three Guineas (1938) might at first seem unconventional and has prompted a fair amount of criticism.30 Bourdieu’s frequent references to her novel To the Light-

25 26 27 28 29 30

Virginia (1994). An Essay in Criticism. In: McNeillie, Andrew (ed.). The Essays of Virginia Woolf. Vol. 4. London: The Hogarth Press. 449. Woolf (2015), 27. Woolf (2015), 27. Bourdieu, Pierre. (1990b). The Logic of Practice. Cambridge: Polity Press. 78. Bourdieu (2001), 110. His first article on masculine domination in the French original similarly refers to “la vieille mythologie masculine” (the old masculine mythology). Cf. Bourdieu (1990a), 5. Bourdieu (2001), 69. In addition to comments about the foreign and outdated ethnographic material of the Kabyle society for his studies, critics have also argued that Woolf ’s fictional narratives cannot be mapped on the realities of current gender relations: “I am not in the social world that

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house (1927), however, indicate that Woolf ’s reflections on masculine domination retain their critical efficacy precisely because of the conditions inherent to and the effects produced by the literary form of fiction. Much like with his strategic use of the epistemic ambivalence implied in the mythico-ritual system, Bourdieu tries to accomplish a similar result for the literary field by collapsing the distinction between fiction and reality which normally upholds itself through the same symbolic principles of vision and division: “to objectivize the novelistic illusion, and especially the relation to the socalled real world it assumes, is to remind ourselves that the reality against which we measure all fictions is merely the recognized referent of an (almost) universally shared illusion.”31 The reality effect produced by fiction works analogously to the illusio in the social world since the reader’s suspension of disbelief toward the representation of reality in a novel can be mapped on the shared illusion of an investment that denies its own involvement in the social games. In other words, maintaining the belief in the literary field as convincingly mirroring the experiences of readers corresponds to their belief in the experiences within the social fields. Therefore, in cases where the objective reality of social structures concealed within fiction no longer successfully blurs with the self-evident presence of the original illusio, the notion of the real likewise begins to reveal traces of its illusionary, fabricated character.32 For Bourdieu, then, Woolf ’s novel To the Lighthouse harbors a defamiliarizing potential since it reflects its “mythological structures” written into the social dynamics of the Ramsay family back to the reader’s habitus inscribed by the mythico-ritual system.33 If only momentarily, fiction is capable of invoking an anamnesis by disrupting the unconscious state induced by the illusio and of reducing the dispositions underlying masculine domination to the rules and stakes of the serious game that it is. Furthermore, since many characters and conflicts described in the novel have counterparts within Woolf ’s own family – further abolishing the boundaries between reality and fiction – this reinforces the impression that the disillusioning of the illusio can be achieved precisely because of the concessions Bourdieu describes. My conditions of life, my problems, my joys, my vision of the world and of things are not in the text – yet I am not an exotic case. What are not to be found in the text are the conditions of existence, the practices, the visions, and the struggles of women today.” Krais, Beate (1999). On Pierre Bourdieu’s Masculine Domination. Travail, Genre et Sociétés 1:1. 216. Even contemporary reviews of Woolf ’s To the Lighthouse seemed divided over the realities presented in her novel. Cf. Majumdar, Robin/McLaurin, Allen (eds.) (1975). Virginia Woolf: The Critical Heritage. London: Routledge. 197 and 208. 31 Bourdieu (1996b), 33f. 32 For further reading see Grenfell, Michael (2008). Interest. In: Grenfell, Michael (ed.). Pierre Bourdieu: Key Concepts. Durham: Acumen. 161 and Lane, Jane F. (2012). Between Repression and Anamnesis: Pierre Bourdieu and the Vicissitudes of Literary Form. Paragraph 35:1. 72ff. 33 Bourdieu (2003), 290.

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commonly granted to the literary form of fiction. Reading the novel as a ‘fictional autobiography’ in which Woolf processed her personal family experiences can also highlight it as an ‘autobiographical fiction’ where even some of the characters, during moments of increased self-awareness, wish to escape their social position assigned by the objective relations in the novel.34 Woolf herself repeatedly attested to her view that “fiction here is likely to contain more truth than fact” arguing that “I prefer, where truth is important, to write fiction,” therefore preferring a literary approach freed from scholastic conventions.35 Any attempt of conclusive truth-seeking then becomes suspended from its disciplinary and normative constraints and is instead transferred to the idiosyncratic functions of the literary form while, as she writes, “making use of all the liberties and licences [sic] of a novelist.”36 The hermeneutic work of interpretation is even favored by fiction to challenge the inconsistencies of the symbolic order which is pervading the reader’s vision of reality and affecting the (mis)recognition of the social world. Such an undistorted, fictionalized account offers, according to Bourdieu, “an incomparably lucid evocation” of the mechanisms and effects of masculine domination.37 Theoretical constructs thus no longer simply provide special insights into a written work; the literary text itself reveals to the researcher a new view on the object as well as its subject of investigation.38 More than an empirical source exemplifying the theoretical vocabulary of Bourdieu’s study, then, Woolf ’s lucid literary vision produced by her writing also contributes to a reformulation of the scholastic gaze where, similar to his earlier research on the mythico-ritual system in the Kabyle society, she adopts a more distancing, self-alienating stance toward her own Western bourgeois society. Woolf thus effectively reverses the traditional epistemological trajectory of ethnographic research, commonly aimed at unfamiliar and exoticized forms of culture, and instead turns it toward the experiences of mundane, familiar, and even familial relations within her own social world. The representation of familiar social fields and practices as foreign forms of knowledge helps to recognize and 34 This becomes most visible in the case of Mrs. Ramsay who is “in the hope that thus she would cease to be a private woman […] and become, what with her untrained mind she greatly admired, an investigator elucidating the social problem.” Woolf, Virginia. (2006). To the Lighthouse. Oxford: Oxford University Press. 11. For further autobiographical references see McIntire, Gabrielle (2015). Feminism and Gender in To the Lighthouse. In: Pease, Allison (ed.). The Cambridge Companion to To the Lighthouse. Cambridge: Cambridge University Press. 81 and 86ff. 35 Woolf (2015), 4 and Woolf (1977), 9. Also cf. Bourdieu (2001), 69. 36 Woolf (2015), 4. 37 Bourdieu (2001), 69. 38 Cf. Speller, John R. W. (2011). Bourdieu and Literature. Cambridge: Open Book Publishers. 117. Bourdieu similarly acknowledges “that the literary work can sometimes say more, even about the social realm, than many writings with scientific pretensions.” Bourdieu (1996b), 32.

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exceed the conditions and limitations of one’s own thinking and to facilitate a shift in one’s view by changing already established dispositions. Subverting the disciplinary principles with their objectivizing and normalizing force in this way, Woolf contributed significantly to Bourdieu’s efforts to delineate his own investment as a researcher by realizing “the limits of the lucidity of an anthropologist who had not managed fully to turn anthropology against itself.”39 Woolf ’s ethnographic and literary perspective therefore seems more appropriate to reveal one’s own susceptibilities to masculine domination caused and concealed by the, mostly, gentle forces of ‘symbolic violence.’

3.

‘Symbolic Splendor’ and ‘Hypnotic Power’: On the Effects of a Gentle Violence

It is no coincidence that the photographs of heralds, a general, a university procession, a judge, and an archbishop which Woolf added to Three Guineas correspond to the professions and positions produced by the aforementioned ‘patriarchal machine.’ She sees the specific appearance and conduct of these uniformed dignitaries as the prime example of what Bourdieu would later describe as the “paradoxical submission” to “symbolic violence.”40 In point of their fashion, for instance, Woolf ironically alludes to the case of a judge who is lecturing a woman on the vanity of her dress and that of her entire sex while “wearing a scarlet robe, an ermine cape, and a vast wig of artificial curls.”41 She notes that “the symbolic splendour of your clothes” clearly had eluded the judge’s scrutiny and that the fact that his professional attire also partakes in acts of defining and distinguishing between the sexes “seems to have escaped the notice of the dominant sex.”42 And when speculating about the underlying principles that spare the public official from the same stigmatization and instead elevate his status by virtue of his attire, Woolf is touching on what we now recognize as praxeological reasoning. Intrigued by the gendered discrimination inherent to the symbolic splendor of clothes, she asks: “[…] how often must an act be performed before it becomes tradition, and therefore venerable; and what degree of social prestige causes blindness to the remarkable nature of one’s own clothes?”43 Again, in the ethnographic language of repeated, ritualized acts that 39 Bourdieu (2003), 291. 40 Bourdieu (2001), 1. 41 Woolf (2015), 221. Also in An Essay in Criticism: “[w]igs grow on their heads. Robes cover their limbs. No greater miracle was ever performed by the power of human credulity.” Woolf (1994), 450. 42 Woolf (2015), 103 and 221. 43 Woolf (2015), 222.

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are reproducing the terms of their own historical and social significance, she hints at a process of symbolic sedimentation where the habitus – itself a product with historical weight – is gradually absorbed into a mythico-ritual system while maintaining the illusio of its own production. This authoritative myth that normally remains both evident and invisible to the common sense thus becomes exposed by Woolf as another effect of what she names “the hypnotic power of dominance.”44 Woolf already foregrounds here the relations of domination responsible for constituting and delineating the limitations of social distinctions and interpersonal relations. She thereby resorts to another ‘ethnographic analogy’ – in Bourdieu’s words – to frame her society in terms of an androcentric mythology… …within whose mystic boundaries human beings are penned, rigidly, separately, artificially; where, daubed red and gold, decorated like a savage with feathers he goes through mystic rites and enjoys the dubious pleasures of power and dominion while we, ‘his’ women, are locked in the private house without share in the many societies of which his society is composed.45

Apart from highlighting once more the archaic forces of the mythico-ritual system at work within her own society, how does the social logic of this ‘dubious pleasure of power and dominion’ described by Woolf relate to the specific character of masculine domination? In rejecting any voluntary or “socio-logically necessary” explanation, Bourdieu understands masculine domination as the result of a subtle, “gentle violence” exerting its influence “through the purely symbolic channels of communication and cognition (more precisely, misrecognition), recognition, or even feeling.”46 And since he locates this symbolic violence “below the level of the consciousness and will” – realized and experienced in and through embodied ways of perceiving, thinking and acting–, one’s own motives and motivation can therefore also be also found, now in the words of Woolf, “below the level of conscious thought.”47 Without sharing the prevalent liberal notion of a purely rational, autonomous agent that defines the habitus as neither purposeful nor purpose-driven, Woolf specifically asks about the normative aims of this form of domination: “[…] what possible satisfaction can dominance give to the dominator?”48 Woolf addresses here the conflicting relation that the practice of domination assumes with and toward itself, the dialectical structure in the subjectivation of and through the bourgeois masculine 44 45 46 47

Woolf (2015), 221. Woolf (2015), 182; emphasis added. Also cf. Bourdieu (2001), 2. Bourdieu (2001), 2. Bourdieu (2001), 42 and Woolf (2015), 203. Woolf on the other hand copied that formulation from the conclusions of Oxford University professor Laurence William Grensted (1884–1964) on “the psychology of the sexes.” Woolf (2015), 200. 48 Woolf (2015), 203.

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self. In the act of partaking in the competitive games about some of the various possible forms of domination, one simultaneously exposes and subjugates oneself under the precarious conditions of this domination. By acknowledging the course of this game for and under the rule(s) of domination, which men must learn to savor and suffer alike, promised privileges can also turn into compulsive constraints. This structure thus mainly imposes itself, effortlessly and playfully, on the dominant who might at first seem to profit from its dubious pleasures, but who nonetheless remain its captives and, in turn, are themselves “dominated by their domination.”49 From mythical despots and fictitious tyrants to totalitarian dictators, Woolf after all provides enough examples throughout her works explicitly linking how the dominant are also tragically trapped in and by their domination.50

4.

Conclusion: On Disillusioning the illusio?

In the dialectics of domination, Woolf ’s anamnesis of the androcentric unconscious already points to the persistent yet fragile character of bourgeois subjectivity in which Bourdieu found an inspirational source for transposing the social principles of the mythico-ritual system within Western societies. Their intellectual and critical affinities, however, exceed the aspiration of seeing the symbolic order of the social world and its myth-induced forms of masculine domination conclusively demystified. And indeed, with reference to the perfidious pedagogic actions used by the family patriarch of the Ramsays, Bourdieu warns of pursuing “the pleasure of disillusioning” since the scholarly satisfactions produced by the hypnotic power of dominance can force even the researcher to return to the original illusio.51 The shared efforts of Woolf and Bourdieu thus rather seem to partake in a continuous anti-mythographic project aimed at revealing how the mystic boundaries of the mythico-ritual system are inconspicuously inscribed into social relations and structures through specific ways of perceiving, thinking and acting. This means to continuously confront the moment when the illusio begins to absorb, both with playful ease and earnestness, one’s appreciation of the social world. Myths and mythologies are thereby manifested as crucial heuristic principles at the interplay of reading socially informed texts and practices of literary socio(self)analysis. Refined by the lucid literary vision provided by the writings of Woolf, the novelist-turned-ethnographer, an inversion of the dominant dispositions might then be acquired 49 Bourdieu (2001), 69. Also in Bourdieu/Wacquant (1992), 173 and Bourdieu (2003), 291. 50 See for instance Woolf (2015), 239 or Woolf (2006), 23 and 155. 51 Bourdieu (2001), 109. Cf. Woolf (2006), 7.

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Pierre Bourdieu’s Fascination for Virginia Woolf

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which is susceptible but also sensitive toward the inscriptions of social necessities and the reaffirmation of gendered distinctions. In other words, the critical inclination of our habitus – durably embedded and embodied as a ‘political mythology’ of our second nature – can be constantly tested in engaging with the mythicized moments of our first nature.52 Above all, however, such an approach demands a transdisciplinary reimagining of the relations between the commonly known sociologist and the typically celebrated feminist before an old fallacy is reestablished where “the interpreter who claims to act as an ethnographer is thus liable to treat as ‘naive’ informants authors who themselves were already acting as (quasi-)ethnographers” – a statement that certainly resonates with Bourdieu’s profound fascination for Woolf.53

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Felix Oberholzer

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Rhoslyn Francesca Beckwith

Queen Luise of Prussia: Taking the Fairy-tale Queen into the Postmodern Era

Abstract Between 1810 and 1945 Queen Luise of Prussia (1776–1810) functioned as a national myth, a founding mother figure for Germany under Prussian hegemony. Early biographies portray her as a paragon of German womanhood, a martyr for her nation and a didactic example to all. Her mythologisation reached its climax in the late 1800s and yet after World War Two, academics claimed that her legend had become obsolete.1 They contend that this resulted from Prussia’s associations with Nazism and the rise of the ‘New Woman’. Nevertheless, this paper will expose the way in which writers such as Thomas Hettche (2007) are beginning to rediscover Queen Luise in contemporary German literature and demonstrate how her myth is being transformed for a new generation. Drawing on theories of celebrity studies and ‘perverse nostalgia’2, this paper examines how such texts may be considered symptomatic of an increasingly subversive attitude towards history in the postmodern era. Keywords: Queen Luise, Prussia, lieu de mémoire, memory studies, historiographic metafiction, postmodernism, celebrity studies, perverse nostalgia.

1.

Introduction

Once feted as the embodiment of femininity, Queen Luise of Prussia (1776–1810) loomed large in the cultural consciousness of initially Prussia and later Germany from her death in 1810 until the end of World War Two. Indeed, an argument has been made that she represents what Pierre Nora terms a ‘lieu de mémoire’3 or memory site for the German nation. By this term, Nora means “any significant entity, whether material or non-material in nature, which by dint of human will 1 Förster, Birte (2011). Der Königin Luise-Mythos: Mediengeschichte des “Idealbilds deutscher Weiblichkeit”, 1860–1960. Göttingen: V&R unipress. 408. 2 Kohlke, Marie-Luise (2017). Perverse Nostalgia. Child Sex Abuse as Trauma Commodity in Neo-Victorian Fiction. In: Wesseling, Elisabeth (ed.). Reinventing Childhood Nostalgia: Books, Toys, and Contemporary Media Culture. London: Routledge. 184–200. 184f. 3 Kritzman, Lawrence D. (1998). Foreword. In: Nora, Pierre (ed.). Realms of Memory: Rethinking the French Past Vol.1, Conflicts and Divisions, European Perspectives. New York: Columbia University Press. ix–xiv. ix.

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Rhoslyn Francesca Beckwith

or the work of time has become a symbolic element of the memorial heritage of any community”4. These sites are not only physical places, they also encompass symbols, flags, saints and historical figures such as kings or queens. Indeed, when Étienne François and Hagen Schulze came to adapt Nora’s project for a German context, they saw fit to include Queen Luise within their remit, arguing that she represented a “deutscher Erinnerungsort”5, thus exemplifying her significance within German memory culture. Nora has also clarified that these memory sites are rarely static; instead, they ebb and flow in terms of their relevance for each generation. Michael Winock, in his chapter of the third volume of Nora’s project contends that Joan of Arc, now celebrated as a quintessential French lieu de mémoire, was “neglected and forgotten” between the sixteenth and eighteenth centuries, before returning to focus during the nineteenth century6. In a similar fashion, Queen Luise faded into the background in the wake of the Second World War, leading several writers and academics such as Günter de Bruyn7 and Birte Förster8 to claim that her legend had become obsolete. Both de Bruyn and Förster have alleged that this is partially due to Prussia’s associations with Nazism as well as the fact that the self-sacrificing, docile queen could not be considered an “attraktives Identifikationsangebot”9 in an era which celebrates a more emancipated depiction of femininity. In spite of such assertions, this paper claims that during the last two decades German writers have begun to reexplore the Prussian queen’s legend. It seems that postmodernism, in particular, has found a fitting subject in the queen and gradually Queen Luise’s myth has resurfaced within the cultural consciousness, illustrated by the emergence in recent years of works of biofiction, defined by Julia Novak as “a narrative based on the life of a historical person, weaving biographical fact into what must otherwise be considered a novel”10. Hence Linda Hutcheon’s theories on the function of postmodernism prove central to this argument, especially her assertion that:

4 Ibid., xvii. 5 François, Étienne/Schulze, Hagen (eds.) (2003). Deutsche Erinnerungsorte. Band II. Munich: C.H. Beck. 286–298. 6 Winock, Michael (1998). Joan of Arc. In: Nora, Pierre (Ed.) Realms of Memory: Rethinking the French Past Vol.1, Conflicts and Divisions, European Perspectives. New York: Columbia University Press. 432–480. 437. 7 de Bruyn, Günter (2000). Preussens Luise: Vom Enstehen und Vergehen einer Legende. Munich: Siedler. 112. 8 Förster (2011), 408. 9 Ibid., 401. 10 Novak, Julia (2017). Experiments in Life-Writing: Inter-sections of Auto/ Biography and Fiction. London: Palgrave Macmillan. 9.

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Queen Luise of Prussia: Taking the Fairy-tale Queen into the Postmodern Era

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Postmodernism is a fundamentally contradictory enterprise: its art forms (and its theory) at once use and abuse, install and then destabilize convention in parodic ways, self-consciously pointing both to their own inherent paradoxes and provisionally, of course, to their critical or ironic re-reading of the art of the past.11

I will also be engaging with concepts taken from memory studies, such as Aleida Assmann’s concepts of the ‘canon’ and the ‘archive’, the former signifying those memories which are actively preserved in the present day and the latter, those that are “no longer needed or immediately understood”.12 Topics from celebrity studies, a discipline heavily indebted to postmodernism and the genre of lifewriting13 will also be drawn upon, in order to explore the extent to which writers such as Bettina Hennig14 and Thomas Hettche15 are rewriting the historical record and offering a more nuanced and postmodern approach to the past. By tracing the development of the queen’s myth in literary works, particularly the way in which her legend was manipulated and instrumentalised by nineteenth-century writers, as well as her conscription for political purposes in the early 1900s, this paper will chart the rise of the lieu de mémoire before exploring to what extent it can be argued that she has returned to prominence in the twentyfirst century. Drawing on theories of postmodernism, it will offer an argument in favour of a more subversive approach to mythologised history, as well as a more iconoclastic attitude towards the figures put on pedestals by society, a timely subject in the wake of the Colston statue removal in Bristol in the summer of 2020.16 We thus begin with the creation of the myth. 11 Hutcheon, Linda (1988). A Poetics of Postmodernism: History, Theory, Fiction. New York: Routledge. 23. 12 Assmann, Aleida (1998). Canon and Archive. In: Erll, Astrid/Nünning, Ansgar (eds.). Cultural Memory Studies. An International and Interdisciplinary Handbook. Berlin: de Gruyter. 97– 107. 106. 13 Mayer, Sandra/Novak, Julia (2019). Life Writing and Celebrity: Exploring Intersections. Life Writing 16: 2. 149–155. 14 Hennig, Bettina (2008). Luise, Königin aus Liebe. Munich: Goldmann Verlag. 15 Hettche, Thomas (2014). Pfaueninsel. Cologne: btb Verlag. 16 In June 2020, Black Lives Matter protesters in Bristol toppled a statue of slave trader Edward Colston and rolled it into the nearby harbour. He had famously donated substantial amounts to the city, but as this money was earned through the slave trade, debate had sprung up about continuing to commemorate such a man in modern, multicultural Bristol. The toppling of the statue echoed similar events by BLM activists in America, where Confederate monuments were also pulled down. Nevertheless, the Colston toppling received worldwide media coverage and led to further debate, particularly in the UK, about those erased from the historical record and how we deal with statuary of our darker, often colonial past. The Colston statue was subsequently removed from the harbour and the graffitied and damaged statue is now on display in a local museum. See Siddique, Haroon/Skopeliti, Cleo (2020). BLM protestors topple statue of Bristol slave trader Edward Colston. The Guardian (Online). Available at https://www.theguardian.com/uk-news/2020/jun/07/blm-protesters-topple-statue-of-bristol -slave-trader-edward-colston (Status: 23/02/2022).

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2.

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Queen Luise: A History

Queen Luise was born in 1776 into a minor royal family near Hannover. She was the fourth daughter of Duke Charles of Mecklenburg and Princess Friederike of Hesse-Darmstadt and was given the title Princess of Mecklenburg-Strelitz. In spite of her royal name, she had an unconventional childhood, growing up with her sisters under the care of her grandmother, Princess George, in Darmstadt. The princess allowed the children many liberties and a great deal more freedom than they would have received at other royal courts. In 1793 when Luise was seventeen, she was introduced to the Crown Prince of Prussia, a meeting carefully designed by her grandmother and the prince’s father, and the pair married in the December of that year. Four years later in 1797, the prince was crowned King Friedrich Wilhelm III, making the young Luise Queen of Prussia. During their seventeen-year-long marriage, Queen Luise gave birth to ten children, seven of which survived to adulthood. Her two eldest sons became kings of Prussia, and her second son Wilhelm became the first Kaiser of Germany. This led to her being frequently described as the founding mother of the German nation. Her life was not, however, the fairy-tale that one might at first expect given the myth that sprang up around her story. She lived through one of the most turbulent periods of Prussia’s history, as the country was forced to enter into the Napoleonic Wars, which its king, a confirmed pacifist, would have preferred to avoid. Napoleon famously decimated Prussia during her reign and forced the royal family to flee from his forces into the furthest reaches of the kingdom, a degradation writ large upon the world stage. Queen Luise herself remains most famous for her somewhat unconventional actions in this period. After the defeats at Jena and Auerstadt, a plan was concocted in 1807 to use Queen Luise’s famed feminine influence to attempt to lessen the terrible terms of Napoleon’s peace treaty. The queen’s agreement to this private meeting with Napoleon was considered a brave act of selfsacrifice, given that she had been previously slandered in the press by the French emperor. The meeting was however entirely unsuccessful. If anything, Napoleon then demanded more severe terms from Prussia.17 Queen Luise died three years later in 1810 at the age of thirty-four in Mecklenburg-Vorpommern, after Napoleon eventually allowed the royal couple to return to Berlin. It is thought that she died from a congenital heart condition, which was aggravated by a severe lung infection, although rumours abounded that she had died from a broken heart over her country’s plight. Her death thus sparked widespread public mourning as well as countless literary commemorations, which transformed the historical woman into a mythologised fantasy. 17 See Wirsing, Sibylle (2010). Die Königin. Luise nach zweihundert Jahren. Berlin: Wolf Jobst Siedler Jr. Esp. page 222, where she claims that the queen “sägte an Napoleons Nerven”.

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Queen Luise of Prussia: Taking the Fairy-tale Queen into the Postmodern Era

3.

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The Creation of the Myth

Even before her death, the famously beautiful queen drew interest from such leading literary figures as Novalis and Johann Wolfgang von Goethe, the latter describing her and her sister Friederike as “himmlische Erscheinungen” when he observed them at the Bodenheim military camp in 1793.18 Within the literary works penned during her lifetime, she was almost unanimously idealised and frequently held up as an exemplary aristocratic woman.19 This literary interest and idealisation of the queen only increased after her premature death. Beginning with the first biography, written by the queen’s close friend and confidante Caroline von Berg,20 biographers consistently portrayed the queen as a paragon of Prussian feminine virtue and a didactic example for all. After Berg’s predictably biased approach to her friend’s life, the next and perhaps the most popular of the queen’s nineteenth–century biographies was written by the journalist and historical novella writer, Friedrich Adami.21 Meriting twenty republications before 1914 and serving as the foundation of many late nineteenth–century biographies of the queen, Adami’s conservative and staunchly patriotic depiction can be considered representative of the early interest in her myth. He portrays Queen Luise as the embodiment of the passive and biddable nineteenth-century woman, acting as “eine deutsche Hausfrau”22 at the side of her husband. At the same time, she remains a devoted mother, a friend to the poor, the sick and less fortunate.23 He also had a markedly political objective unlike his predecessor von Berg, claiming that the queen functioned as an integration figure for a united Germany under Prussian dominion.24 He portrays the queen as having the ability to combine Prussian values with warm-hearted South German sentiment, while her marriage to Prince Friedrich Wilhelm is described as “die glückliche Mischung der nördlichen und südlichen Elemente unseres Deutschlands”25. Given Adami’s own position as a writer for the conservative Kreuzzeitung, “dem Organ des altpreußischen Adels und der protes-

18 Goethe, Johannes Wolfgang von (1820–22 [1948]). Die Belagerung von Mainz, 1793. In: Goethe, J.W. Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Band 10. Hamburg: C.H. Beck. 365. 19 de Bruyn (2000). 59–61. 20 von Berg, Caroline (1814). Luise Königin von Preußen. Der preußischen Nation gewidmet. Leipzig: Breitkopf und Härtel. 21 Adami, Friedrich (1851). Königin Luise. Ihr Leben, Leiden und Sterben. Berlin: Duemmler. 22 Ibid., 71. 23 Ibid., 80, 148, 340f. 24 Ibid., 191. 25 Ibid., 945.

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tantischen Orthodoxie”26, such an emphasis on the national and political context reflects his own agenda and ideology. Following Adami’s example and often quoting the work itself, nineteenthcentury biographers, fiction writers and other journalists continued to construct an image of the queen to suit the needs of their own contemporary situations. In order to aid this politicisation and instrumentalisation of her life, the queen’s history was reduced to a series of anecdotes or mythemes,27 referred to by the academic Wulf Wülfing as “Stationen”.28 The term is intended to conjure up the ‘stations of the cross’ of Christian teaching, referring to the series of fourteen episodes in the ‘Passion of the Christ’, thereby placing the queen in the role of a secular saint or Christlike martyr figure, an analogy which also appears in many of the biographies themselves. These mythemes of the Queen’s life are continually drawn upon by her biographers, in order to reinforce the legend of the fairy-tale-like queen, a woman seemingly separated from the mundanity of an earthly life. Examples of these idealising mythemes include the young princess’s idyllic and bourgeois childhood in Darmstadt, her disruption of courtly etiquette by embracing a young peasant child on the morning of her wedding and her tireless support of her husband even when they are suffering in exile. In spite of their ubiquity within the corpus, there is little historical evidence to indicate that these mythemes are based on factual events. Indeed, the anecdote referring to the morning of the wedding has been proved highly unlikely given that other bystanders do not remark upon it in their diaries. The mythemes, nevertheless, demonstrate how Queen Luise’s life was instrumentalised to express sentiments about such diverse issues as the place of women, German nationalism, and the rise of the bourgeoisie. While they almost unanimously confine the queen to the traditionally feminine domestic sphere, they highlight her piety, her familial devotion, and her love of her country. In many ways, her biographies are often thus more reminiscent of the hagiographies of saintly lives than works of historical record, especially given that they describe her intercession with Napoleon on Prussia’s behalf as an act of martyrdom and her subsequent death as a Christ-like act of self-sacrifice on behalf of her citizens. Critics such as Wülfing and Philip Demandt have even pointed out that due to the 26 Demandt, Philipp (2003). Luisenkult. Die Unsterblichkeit der Königin von Preussen. Cologne: Böhlau, 12. 27 Mytheme here is taken to mean the smallest component of a myth, drawing on Claude LéviStrauss’s theory of mythemes as the “gross constituent units” of myths. See Lévi-Strauss, Claude (1955). The Structural Study of Myth. Journal of American Folklore 68:270. 428–44. 431. 28 Wülfing, Wulf (1984). Die heilige Luise von Preußen: Zur Mythisierung einer Figur der Geschichte in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts. In: Link, Jürgen/Wülfing, Wulf (eds.). Bewegung und Stillstand in Metaphern und Mythen: Fallstudien zum Verhältnis von elementarem Wissen und Literatur im 19. Jahrhundert. Stuttgart: Klett-Cotta. 233–73. 235.

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frequency of comparisons with the Virgin Mary within such texts, the queen’s legend filled the empty space within German Protestantism, commonly occupied by Mary within Catholicism.29 As the nineteenth century drew to a close, it also became apparent that Queen Luise’s legend could be more explicitly co-opted for propagandistic purposes. Works such as Carl von der Boeck’s 1881 tale Die Königin Luise. Ein Vorbild weiblicher Tugenden30 demonstrate how her myth is continually being reinvented by writers to demonstrate their own views, in this case she is transformed into a vehicle for pro-German propaganda. Boeck uses nationalist stereotypes to vilify the French, while once again the queen appears in her traditional guise as “die allgemeine geliebte und verehrte Landesmutter”,31 caring for every one of her people, despite her own high birth. Once again, the queen is represented as a paragon of virtue. Boeck’s narrative thus uses her avowed German goodness as the antithesis of French cunning and conceit, even describing the French as vampiric “Blutsauger”.32 It is not only within literature that Queen Luise’s legend became more intertwined with nationalist sentiments as the 1800s progressed and the 1900s began. At the beginning of the twentieth century the Bund Königin Luise or Luisenbund was also formed in her name, expressing nationalist, monarchist, and profoundly anti-Semitic sentiments, allegedly following her example. Hence, it is clear that the nationalistic sentiments concealed within Queen Luise’s myth were thoroughly exploited both in literature and in the wider community in this fin-de-siècle world. There remains debate regarding to what extent the queen’s myth was utilised by the National Socialist ideology in the 1930s and 1940s. Demandt refers to two works written in this period by Ina Seidel, a popular writer, and Tessa Klatt, a doctoral student, who both celebrated the queen as an “überragende Führergestalt”33, while Förster cites Johannes Peter Thiel’s Unsere Luise. Großdeutschlands Mutterherz (1933)34 as an example of the inclusion of overt Nazi rhetoric within the queen’s biographies. De Bruyn, on the other hand, argues explicitly that unlike Friedrich der Große, Queen Luise’s myth was not used for propagandistic purposes during the Hitlerzeit.35 In spite of this continuing discussion, after the Second World War the idealised Prussian Queen faded into Assmann’s

29 Wülfing (1984), 259, Demandt (2003), 407. 30 Boeck, Carl von der (1881). Die Königin Luise. Ein Vorbild weiblicher Tugenden. Berlin: Otto Drewitz. 31 Ibid., 58. 32 Ibid., 169. 33 Demandt (2003), 237. 34 Förster (2011), 291. 35 de Bruyn (2000), 112.

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conception of the ‘archive’.36 Nevertheless, the works of biofiction by Hennig and Hettche support an argument that Queen Luise has returned to the German collective consciousness and her myth has once again been manipulated to meet the needs of the present. As we will see, her commemorations in twenty-first century literature exemplify modern Germany’s markedly different relationship with its once venerated past.

4.

Prussia’s Return to Prominence and Bettina Hennig’s Celebrity Queen

While the Prussian state itself was officially abolished in 1947 on ideological grounds, representing a taboo subject for several decades, since the late 1970s Germany’s Prussian past has increasingly become a topic for discussion. Examples of its return to prominence include the so-called Preussenwelle culminating in the Prussian exhibition of 1981, as well as the commemorative and tourist-focussed Preußenjahr of 2001.37 It is since the beginning of the twentyfirst century, however, that Prussia and more specifically Queen Luise have visibly returned to German bookshelves. One of the most commercially successful38 of these books is the 2007 work of biofiction entitled Luise, Königin aus Liebe. Perhaps surprisingly, given their dominance within the queen’s corpus thus far, this novel was not penned by a historian or novelist, but by celebrity journalist Bettina Hennig, who had previously written for German Grazia magazine and had met and written about both Prince Harry, Duke of Sussex and Queen Silvia of Sweden. Given the author’s professional background, the fictionalised novel bears a greater resemblance to a ‘tell-all’ gossip column than to the traditional idealising biographies of Queen Luise which emerged before 1945. Indeed, while Hennig’s book may be considered a work of biofiction, given its blend of biographical fact and fiction, it also blurs the boundaries with those works described as ‘celebrity life writing,’ which often seek to dethrone their subjects39 and reveal the dirt behind the polish of celebrity, a practise which Sandra Mayer and Julia Novak refer to as “social levelling”.40 Throughout the narrative Hennig breaks with the conventions of Queen Luise’s biographies and repeatedly offers her readers descriptions of Queen 36 Assmann (1998), 106. 37 For more information on these events see: Beckwith, Rhoslyn (2021). The New Prussian Renaissance: Literary Commemorations of Queen Luise. German Life and Letters 74:4. 439– 457. 38 It has been republished for the fifth time in eBook format in 2017. 39 Mayer/Novak (2019), 150. 40 Ibid., 150.

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Luise’s troubling ways. This Princess Luise is coquettish: “Luise sah jeden Mann so an, als ob sie in ihn verliebt sei”41; vain: “[s]elbstverliebt drehte sie sich vor dem Spiegel hin und her”42; and somewhat uncontrollable: “[s]ie war wild und quirlig und eckte damit überall an”43. Indeed, akin to a tabloid reporter, Hennig seems to delight in listing such flaws in vibrant detail. This practice fits neatly with Steve Cross and Jo Littler’s observations on the way in which Schadenfreude forms an essential part of celebrity culture: as a society we enjoy “gleefully watching or pushing celebrities from their pedestals”44. It is thus clear that the insistence on dethroning celebrity idols bears a great similarity to the disruptive approach to the grand narratives of the past which is one of the key features of postmodernist historiographic metafiction. In this narrative, we are even made privy to some of the most private details of the queen’s fictionalised life. In a scene reminiscent of a soap opera, the queen’s younger sister Friederike berates Luise for her self-centred nature.45 Princess Friederike, who had herself suffered an abusive marriage to another Prussian prince, before being widowed and then bearing an illegitimate child, causing her to be exiled from the Prussian court, accuses Luise of being too wrapped up in her own life to notice how much her little sister was suffering. She declares: “[d]u willst nur die Sonnenseiten des Lebens. Aber wenn jemand Trost braucht, Fürsprache, Zuspruch – wo bist du dann?”46 This statement not only exemplifies the intrusive interest into the darker private sides of celebrity life, demonstrating society’s “vicarious pleasure in the witnessing of the powerful being made less powerful”47, it can also be read as a comment on the idealising tendencies of Queen Luise’s biographies. Up until the increasingly postmodern early twentyfirst century, writers and readers have focussed almost exclusively upon the ‘sunny sides’ of the Queen’s character, repeating the same idealising mythemes, which reduced her life to little more than a fairy-tale. Hence the new interest in Queen Luise’s private life can be considered the product of an age, in which writers wish to challenge the dominant narratives of the past. This is not to claim that no traces remain of the idealising tendencies of Queen Luise’s traditional biographies. Indeed, Hennig must include some of these conventional references, in order to ensure that her protagonist remains recognisably the same mythologised queen who dominates the corpus. She is 41 42 43 44

Hennig (2008), 19. Ibid., 373. Ibid., 45. Cross, Steve/Littler, Jo (2010). Celebrity and Schadenfreude. The Cultural Economy of Fame in Freefall. Cultural Studies 24:3. 395–417. 396. 45 Hennig (2008), 550. 46 Ibid., 550. 47 Cross/Littler (2010), 399.

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thus again portrayed as lively and “lustig”48, warm-hearted,49 and loving50 and contrary to the nineteenth-century unfeminist narratives, she is also shown to be a capable political thinker.51 Hennig informs us explicitly that: “Luise [war] keineswegs nur eine brave Ehefrau, über die der Adel den Kopf schüttelte, sondern eine pragmatische, schlaue und wunderbare Ratgeberin”52, demonstrating her increased agency compared to earlier representations. By portraying her as an exemplary and to a certain extent emancipated female, Hennig also participates in a tradition observed in earlier didactic works about the Queen. Just as writers such as Adami used the Queen’s biography to highlight the virtues that her nineteenth-century readers ought to emulate, Hennig here celebrates modern female virtues and the capability of women to transgress the gender boundaries through Queen Luise’s fictionalised life. Queen Luise may not be portrayed as the paragon of virtue we have grown to expect from her biographies, but Hennig does breathe life into her legend and succeeds in making her less two-dimensional than the nineteenth-century conceptions of the idealised Queen. Hennig has meticulously researched the source material to write this novel53 and yet it is her manipulation of this material which allows us to see how Queen Luise as a lieu de mémoire has taken on a new significance in modern Germany. Even the Queen’s inclusion as the protagonist of a ‘Celebrity Biofiction’54 indicates that she has been restored to her position as a “high-profile public figure”55 and while she may not enjoy the level of fame and prestige once afforded to her, she has without question returned to the national canon. The ‘tell-all’ celebrity memoir style of this narrative also highlights the more irreverent approach taken to the greats of the past within postmodernism. Linda Hutcheon exposes the way in which this movement paradoxically combines both “complicity and critique” as well as “reflexivity and history, [it] at once inscribes and subverts the conventions and ideologies of the dominant cultural and social forces” of the twentieth and twenty-first century.56 In this way Hennig’s narrative, which treads a fine line between ‘dethroning’ its protagonist, challenging the tropes of her biographies and still attempting to present the Queen as an ad48 49 50 51 52 53 54

Hennig (2008), 43. Ibid., 561. Ibid., 567. Ibid., 565. Ibid., 565. She includes for instance many personal letters written by the queen. See Hennig (2008), 699. Kohlke, Marie-Luise (2013). Neo-Victorian Biofiction and the Special/ Spectral Case of Barbara Chase-Riboud’s Hottentot Venus. Australasian Journal of Victorian Studies 18:3. 4– 21. 7. 55 Ibid., 7. 56 Hutcheon, Linda (1989). The Politics of Postmodernism. London: Routledge. 11.

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mirable predecessor of modern Germans, exemplifies the postmodern turn in Germany in the twenty-first century. It is evident that the past has ceased to be the “monumentale Historie”57 detailed by Nietzsche, glorying in the great deeds and heroes of bygone days. Rather than revisiting the tropes of the myth, Hennig’s postmodern work of biofiction allows us to re-examine the past by focussing on that which has been missed from the historical record.

5.

Thomas Hettche’s Evil Queen

The other recent novel to offer an innovative approach to the historical queen is Thomas Hettche’s bestselling Pfaueninsel (2014)58, which takes its title from the island on the Havel river on the outskirts of Berlin. While this work of biofiction must also be considered a reflective postmodern take on German history, particularly given its focus on the often overlooked and forgotten narratives of history, unlike Hennig’s novel, Pfaueninsel does not centre around the Queen. Instead, its protagonist is a nineteenth-century Schloßfräulein with dwarfism, named Marie Strakon. Linda Hutcheon has written extensively on the way in which postmodern writers often foreground the ‘ex-centric’ characters and divert focus away from the canonical, in order to allow the ‘margins and edges’ to gain new value.59 Thus, the character of Marie represents a model protagonist of the genre, for she is triply subaltern – firstly because of her female gender, secondly due to her subordinate position as a servant, and thirdly, because of her dwarfism, considered a disability and deformity within the novel. Hettche’s Marie is introduced as an orphaned child, who grows up with her equally diminutive brother Christian on the island, after becoming wards of the King. The island itself is peopled with those whom Marie calls “Mißbildungen”60, counting herself amongst their number. Other residents include a tattooed darkskinned Hawaiian, a giant and a Moor. These human exhibits are consistently treated as if they were no better than the exotic animals also gathered in cages on the island, highlighting the colonising attitudes of the past and the treatment of those marginalised by their differences. Hence this novel exemplifies Marie-Luise 57 Nietzsche, Friedrich (1954 [1874]). Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben. In: Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. Band 1. Munich: Carl Hanser Verlag. 209–287. 222f. 58 It has been republished eleven times since 2014 and was also shortlisted for the German Book Prize in 2014. 59 Hutcheon, Linda (1989). Historiographic Metafiction. Parody and the Intertextuality of History. In: Davis, Robert C./O’Donnell, Patrick (eds.). Intertextuality and Contemporary American Fiction. Baltimore: John Hopkins University Press. 3–32. 12. 60 Hettche (2008), 205.

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Kohlke’s conception of “perverse nostalgia”, a postmodern variant of nostalgia, which focuses “deliberately, often sensationally, on the unsavoury aspects of the nineteenth century,” creating “a sinister Wonderland populated by lurking monsters and hapless victims”61. This distorted version of nostalgia therefore represents a marked volte face from the rose-tinged view of the past we have come to expect from Queen Luise’s more conventional biographies. Queen Luise herself only plays a cameo role within the narrative and yet her brief appearance casts a dark shadow over the life of the young Marie and thoroughly breaks with the conventions of Queen Luise’s traditional biographies. The novel begins with Queen Luise’s last visit to the island, barely eight weeks before her death. While playing a game with her children, the Queen’s ball rolls away into the undergrowth and when she goes to find it, she discovers a child-like figure, Marie’s brother Christian. His appearance repulses her to such an extent that she pushes him away in horror, shouting at him that he is a “Monster”62, an insult that echoes throughout the narrative. The word ‘monster’ itself derives from the early Anglo-Norman and MiddleFrench term monstre, whose root means “to warn or portend”63. The use of this term invites readers to consider Queen Luise’s comment a warning in itself. In this way Hettche’s portrayal of the Queen as the troubling personification of those stereotypical nineteenth-century prejudices, which would eventually help to facilitate the rise of Nazism, serves as a striking reminder of the dangers of romanticising the past and looking back with a purely nostalgic perspective. It cannot be forgotten, that only a hundred years later, Hitler’s regime sought to exterminate all those considered ‘aberrations,’ including those with dwarfism like Marie. Marie herself never meets the Queen in person, but Hettche informs us that the Queen’s weapon-like insult, frequently referred to as “einen Pfeil”64, relayed to her by her brother Christian “zerstört”65 Marie’s childhood. The effect of the word on the child is reinforced by an almost biblical lapsarian scene, in which Christian tells his sister what the idealised queen has said, which instantly opens Marie’s eyes to her own supposed deformity, realising that “sie beide hätten anders sein sollen”.66 Throughout the novel, the word dwells in Marie’s subconscious, emerging repeatedly to ruin her relationships and confine her to a life of misery due to her own belief that she is undeserving of love or hope because of her 61 Kohlke (2017), 184f. 62 Hettche (2008), 14. 63 Oxford English Dictionary Online (2021). Monster, n., adv., and adj. Available at: www.oe d.com/view/Entry/121738 (Status: 23/02/2022). 64 Hettche (2008), 12. 65 Ibid., 87. 66 Ibid., 15.

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‘monstrous’ appearance.67 The effect of the word on Marie also challenges conventional thinking about the Queen. When we are told: “nun bemerkte sie [Luise] auch, was an der Gestalt sie vom ersten Anblick an irritiert hatte. Diese breite, irgendwie eingesunkene, tierhafte Nase”68, the Queen’s prejudiced and thoughtless attitude is instantly disturbing. Thus, from the outset, Hettche’s Prussian queen is demonstrably a starkly different incarnation from Hennig’s Queen Luise. Her horror and disgust regarding deformities renders her instantly unlikeable, especially given her apparent superiority in terms of age and social standing, compared with the child-like figure she rejects so callously. Queen Luise’s ableist prejudices also invite further comparisons with those attitudes which led to Nazism. It is thus clear, that in Pfaueninsel, just as in Hennig’s novel, the subversion of the canonical approach to the Queen’s biography echoes the sentiments of postmodernism. It may employ the form of realist historical fiction, but the narrative intentionally subverts the master narratives of history, dethroning the historical idols veiled in myth. This postmodern approach to Queen Luise also sheds further light on the changing nature of Prussian enthusiasm in the twentyfirst century, which increasingly revels in exploring the darker aspects of the country’s Prussian history.

6.

Conclusion

Given the popularity and commercial success of these two works of biofiction, it is clear that Queen Luise is being rediscovered and repurposed in the twenty-first century. Refuting de Bruyn and Förster’s arguments that she has become obsolete and that the mythologised queen “hat […] ihre Vorbildfunktion als ‘ideale deutsche Frau’ längst eingebüßt”69, these novels suggest that her myth can still be reinterpreted and reinvigorated to suit the purposes of contemporary writers and readers. This reinvention can therefore be considered part of a tradition that stretches back to the beginnings of her corpus, for her biographies have always been more focussed on the authors’ needs and values rather than who the historical woman really was. As a consequence of this reader-focussed portrayal, in the present day her biography is no longer dominated by traditional stereotypes of ideal femininity, and her mythemes have instead been transformed to reflect the sentiments of contemporary culture.

67 Ibid., 204. 68 Ibid., 10. 69 Förster (2011), 408.

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This transformation of the queen’s symbolic meaning is also an argument in favour of viewing her as a German lieu de mémoire, as sites of memory continually shift and develop to meet the needs of the memorial community. In this case, the more iconoclastic attitudes towards the queen detailed in these novels exemplify the postmodern turn of recent decades. Both novels challenge the dominant narratives of history and use fiction to uncover the possibilities inherent within the mythologised life of a queen who has been shrouded in legend and nostalgia for so many decades. While the difficult twentieth century continues to loom large in the German national consciousness, such novels and innovative approaches to history exemplify the extent to which the idealised narratives of the past are being challenged. It is becoming increasingly apparent that an insubordinate and irreverent attitude towards history is proving ever more evident within Germany and throughout the world. In an age when we are tearing down statues of those figures we once celebrated, it is clear that literature continues to play a crucial role in shaping Germany’s memory culture through the postmodern depictions of such figures as Queen Luise of Prussia.

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Autor:innen

Rhoslyn Francesca Beckwith, BA (Hons) is currently completing her PhD in German studies at Swansea University with the title ‘Remembering the “Queens of Hearts”. A Comparative Study of the Cultural Afterlives of Queen Luise of Prussia and Empress Elisabeth of Austria’. Her research interests include royalty, nostalgia, biography and memory studies. Her latest article ‘The New Prussian Renaissance: Literary Commemorations of Queen Luise’ was published in German Life and Letters in October 2021. Dr. Ines Böker ist wissenschaftliche Mitarbeiterin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik an der Universität Paderborn. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Antiken- und Mythenrezeption, Kultur- und Literaturtheorie, Intermedialität, kulturanthropologische und ethische Aspekte der Ästhetik. I.B.: Die Ethik der Widersetzlichkeit. Theoretische und literarische Transformationen der Antigone (2019). Barbara Bollig, M.A./M.Ed. ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Promovendin am Lehrstuhl für Neugermanistik und Didaktik der Literatur an der Ruhr-Universität in Bochum. Sie promoviert zu (Neu-)Verarbeitungen des Medea-Mythos in Texten seit 1950. Ihre Forschungsinteressen sind unter anderem Gender Studies, Postcolonial Studies, Mythostheorie, Alteritätsforschung, Medea und Gegenwartsliteratur. Fabienne Fecht (StEx) promoviert mit einem Stipendium der Rosa-LuxemburgStiftung an der Universität Freiburg im Fach Allgemeine und Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft zu Klassiker-Transformationen als politisches Theater. In ihrer Forschung und Kulturarbeit beschäftigt sie sich mit künstlerischer Kanonkritik sowie der Verschränkung von Alltag und Politik mit Literatur und Theater.

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Autor:innen

Prof. Dr. Andrea Geier ist seit 2009 Professorin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Geschlechterforschung an der Universität Trier. Sie arbeitet zu Gegenwartsliteratur, kultur- und literaturwissenschaftlichen Gender Studies, Interkulturalitätsforschung und Postcolonial Studies. Außerdem ist sie engagiert in der Wissenschaftskommunikation. Informationen unter https://www.uni-trie r.de/index.php?id=29978. Dr. Cornelia Heinsch hat Klassische Philologie und Germanistik in Heidelberg, Bologna und Freiburg studiert. Sie interessiert sich unter anderem für Intertextualität, die Rezeption antiker Literatur, Literatur des 19./20. Jahrhunderts und Fragmentästhetik. In ihrer Dissertation hat sie die Rezeption Sapphos in deutschsprachiger Lyrik des 20. und 21. Jahrhunderts untersucht. Zurzeit arbeitet sie als Lehrerin an einem Berliner Gymnasium. Vanessa Klomfaß, M.A. ist seit 2019 wissenschaftliche Mitarbeiterin und Kollegiatin am DFG-Graduiertenkolleg Das Dokumentarische. Exzess und Entzug der Ruhr-Universität Bochum. Ihr literatur- und medienwissenschaftlich ausgerichtetes Dissertationsprojekt untersucht anhand ausgewählter Methoden (u. a. aus den Bereichen der Medienphilologie, Kulturtechnikforschung und Materialitätsforschung) die komplexen Strukturen multimodaler Romane unter besonderer Berücksichtigung des Zusammenspiels von Literatur, Materialität und Medialität. Lisa Keil, M.Ed. studierte Germanistik, Politikwissenschaften und Philosophie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Mit ihrem Dissertationsprojekt „Körperformung als Selbstformung in literarischen Texten der Gegenwart“ ist sie Stipendiatin des Graduiertenkollegs „Ethnographien des Selbst in der Gegenwart“. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Gegenwartsliteratur, Gender/Queer Studies und literarische Darstellungen von Selbstformung. Anna Lenz, M.A. ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Literaturwissenschaft an der Universität Bielefeld. Zurzeit arbeitet sie an ihrem Promotionsprojekt zum Geschichtstheater Elfriede Jelineks. Ihre weiteren Interessen sind Popliteratur, Gegenwartstheater, Literatur und Gender sowie Literatur der Shoah. Neueste Publikation zu Elfriede Jelinek: Myth, Interculturality and Religion in Elfriede Jelinek’s and Falk Richter’s Work: A review of ‘Am Königsweg’. In: Johanna Domokos, Einikö Sepsi: Poetic Rituality in Theater and Literature, Budapest 2021, S. 191–214.

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Autor:innen

Dr. Giuliano Lozzi ist Dozent für Deutsche Sprache und Übersetzung an der Universität Rom Tor Vergata. Er interessiert sich für deutsche Literatur der Frauen (Essays zu Margarete Susman, Marie Luise Kaschnitz, Ingeborg Bachmann, Hannah Arendt) und hat sich mit der Rezeption des Mythos von Antigone in der gegenwärtigen Theoriewissenschaft beschäftigt (vgl. Sulle tracce di Antigone. Diritto, letteratura e studi di genere, hsrg. mit P. Del Zoppo, Rom 2018). Cécile Neeser Hever, M.A. is a PhD candidate and teaching assistant in Comparative Literature at the University of Geneva. Her dissertation focuses on the figure of Ismene in Sophocles‘ Antigone, as well as in contemporary literature and theater. Her other research interests include gender studies, Yiddish studies and world literature. She is co-editor and translator of Martin Bodmer’s De la littérature mondiale (Paris: 2018, in collaboration with Jérôme David). Felix Oberholzer, M.Litt. is a postgraduate student (MA) of Gender Studies and English at the University of Basel. On receiving his BA in History and English from the University of Basel, he completed an MLitt in Intellectual History at the University of St Andrews. His research interests focus on themes from the fields of social philosophy, the history of emotions, literary and critical theory, and feminist criticism. Dr. des. Nina Peter ist wissenschaftliche Mitarbeiterin (Postdoc) am Institut für Sportwissenschaft und Motologie der Philipps-Universität Marburg. 2019 schloß sie ihre Promotion am Institut für Germanistik der Universität Bern ab. In zahlreichen Publikationen beschäftigt sies ich unter anderem mit den Themenbereichen Ökonomie und Literatur, Gattungssemantik, Literatur und neue Medien. Mrunmayee Sathye, M.A. is a doctoral researcher at the University of Tübingen with a research focus in queer-feminist, critical race, and post- and decolonial theories of identity and subjectivity. Her dissertation deals with auto/biographical narratives by individuals with historically marginalised identities and aims to develop a dynamic, intersectional concept of subjecthood.

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