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German Pages [401] Year 2021
L’Homme Schriften Reihe zur Feministischen Geschichtswissenschaft
Band 28
Herausgegeben von Caroline Arni/Basel, Gunda Barth-Scalmani/Innsbruck, Ingrid Bauer/Wien und Salzburg, Mineke Bosch/Groningen, Boz˙ena Chołuj/Warschau, Maria Fritsche/Trondheim, Christa Hämmerle/Wien, Gabriella Hauch/Wien, Almut Höfert/Oldenburg, Anelia Kassabova/Sofia, Claudia Kraft/Wien, Ulrike Krampl/Tours, Sandra Maß/Bochum, Claudia Opitz-Belakhal/Basel, Regina Schulte/Berlin, Xenia von Tippelskirch/Berlin, Heidrun Zettelbauer/Graz
Die Bände dieser Reihe sind peer-reviewed.
Veronika Helfert
Frauen, wacht auf! Eine Frauen- und Geschlechtergeschichte von Revolution und Rätebewegung in Österreich, 1916–1924
Mit 15 Abbildungen
V&R unipress
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Mit freundlicher Unterstützung der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät sowie des Instituts für Geschichte der Universität Wien, des Instituts für Historische Sozialforschung der Arbeiterkammer und des Österreichischen Gewerkschaftsbundes, des Vereins zur Förderung von L’Homme. Z. F. G. und der Österreichischen HochschülerInnenschaft an der Universität Wien: Zentrumsvertretung Lehrer*innenbildung sowie Fakultätsvertretung GEWI. © 2021, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Kasimir Sewerinowitsch Malewitsch, Silhouette de femme (1928). State Museum of the History of St. Petersburg. CC BY-SA 4.0; Foto: Christelle Molinié Lektorat: Nikola Langreiter Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2509-565X ISBN 978-3-7370-1184-6
Inhalt
Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Gabriella Hauch »Feministische Melancholie« – zum Geleit . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Geschichtsschreibung als kritisches Projekt. Einige Vorbemerkungen . .
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1 Revolution?! Eine Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Auf dem Schindanger der Geschichte. Die Geburt der Republik in den Augen der Zeitgenoss*innen . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Russisch sprechen. Der europäische Revolutionszyklus ab 1917 1.3 Nur ein Fieber. Historiographische Diagnosen einer umstrittenen Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1 K/eine Revolution? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2 Forschungsüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Eine Frauen- und Geschlechtergeschichte von Revolution und Rätebewegung. Das Forschungsdesign . . . . . . . . . . . . . . 1.4.1 Quellenbasis und Grundüberlegungen der Untersuchung .
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2 Revolution revisited. Kritik am androzentristischen Revolutionsmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Theoretische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Konzeptioneller Rahmen einer Kritik des androzentristischen Revolutionsmodells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Die Depolitisierung des Protestverhaltens von Frauen . 2.2.2 Das Erwerbsarbeitsparadigma . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Figurationen des Politischen . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Revolution der Männer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Das Narrativ der Soldatenrevolution . . . . . . . . . . . 2.3.2 Das Geschlecht der revolutionären Masse . . . . . . . .
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Inhalt
2.4 Die proto-revolutionäre Phase. Vorschlag eines erweiterten Phasenmodells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Teil I. Frauen in der proto-revolutionären Phase. 1916–Oktober 1918 . . . . . .
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4 Im Lauffeuer. Streikbewegungen im Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Frauen in den Streikbewegungen im Ersten Weltkrieg . . . . . . 4.2 Ausstand oder Ausschluss? Zwei Fallanalysen aus dem Mai 1917. 4.3 Massenstreik als Form der Revolution . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Friede, Freiheit, Brot. Der Jännerstreik 1918 . . . . . . . . . . . . 4.4.1 Bis ins Modewarenhaus Zwieback! Der Streikablauf . . . . 4.4.2 Weiter zum Morden gezwungen. Der Streikabbruch . . . . 4.5 Zur Siedehitze gesteigert. Die letzten Monate der Monarchie . . . 4.5.1 Wiener Straßenbahnerinnen im Streik . . . . . . . . . . . .
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3 Sturmzeichen der Revolution. Hunger und Unruhen im Krieg 3.1 Die Kartoffeln und die Revolution . . . . . . . . . . . . . 3.2 Ein Gespenst geht um in Europa: Hunger . . . . . . . . . 3.3 Das Ernährungsregime . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Die politische Arena der Straße . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Transgressionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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5 Das Gegebene nicht hinnehmen. (Frauen-)Netzwerke in Krieg und Frieden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Friedensbewegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Rebellische Jugendorganisationen . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Die Freideutsche Jugend und marxistische Studentinnen . . 5.2.2 Jugendliche Arbeiterinnen für Revolution und Sozialismus . 5.3 Frauen als politische Akteurinnen in der proto-revolutionären Phase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.1 Streikende Frauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2 Protestierende Frauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.3 Sich organisierende Frauen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Teil II. Schwestern im Bund der Brüder. November 1918–1924 6 An der Front des Klassenkampfes. Ringen um Sowjetösterreich . . . . 6.1 Hoch die sozialistische Republik! Der 12. November 1918 . . . .
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Inhalt
6.2 Augenblicke revolutionärer Hochflut . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.1 Gewaltmomente in der ersten Jahreshälfte 1919 . . . . . . 6.2.2 Ist die Zeit reif für die Räterepublik? Sozialistinnen rufen zur Revolution auf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.3 Vielfach unfruchtbare Kleinarbeit. Der Weg zur Selbstauflösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Revolutionäre Gewalt als Mittel von Politik . . . . . . . . . . . 6.3.1 Wer ist ein Revolutionär? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.2 Freie Soldaten. Volkswehr und Soldatenräte . . . . . . . . 6.4 Weibliche Militanz zwischen Attentat und Sanitätswesen . . . . 6.4.1 Militanz versus Militarismus . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.2 Von der Avantgarde des Amazonentums . . . . . . . . . . 6.5 Arbeiterin! Lerne von beiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Das Parlament der Arbeiterklasse. Citizenship, Geschlecht und Erwerbstätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Der Arbeiter als politische Kategorie . . . . . . . . . . . . 7.2 Das Rätemodell: Republik oder Diktatur des Proletariats? 7.2.1 Ausgestaltung des Rätesystems . . . . . . . . . . . . 7.2.2 Umkämpfte Kategorien: Wer gilt als revolutionärer Arbeiter? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Wahlen in das Parlament der Arbeiterklasse . . . . . . . . 7.3.1 Ortsarbeiterratswahl 1922 in Wien . . . . . . . . . . 7.3.2 Ortsarbeiterratswahl 1922 in Kärnten . . . . . . . . . 7.4 Frauen als Problemkategorie . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4.1 Rätinnen im Männerbund . . . . . . . . . . . . . . . 7.4.2 Frauen in den sowjets in Russland, Ungarn und Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5 Ein zweites Repräsentantenhaus? . . . . . . . . . . . . . .
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8 Zellen einer neuen Gesellschaftsordnung. Revolutionierung des Alltags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Ökonomische Demokratie: Die Sozialisierung . . . . . . . . 8.2 Organe der Ordnung. Arbeiter*innen und Frauen in die Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3 Die Approvisierung als Handlungsfeld der Arbeiterräte . . . 8.3.1 Hungerunruhen nach dem Krieg . . . . . . . . . . . . 8.3.2 Klassenkampf im Dorf . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4 Vom Freiwilligen Ernährungsdienst zu den Arbeiterräten .
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Inhalt
9 Der seelische Umsturz. Frauenpolitische Konzepte und Utopien . . . 9.1 »Neue Frauen« in den Sowjetrepubliken? . . . . . . . . . . . . . 9.2 Überall, wo es getretene, geknechtete, rechtlose Frauen gibt. Die Frauenfrage als Organisationsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3 Politisierung der Hausfrauen: Kooperativen, Kinderversorgung und Hausarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3.1 Alle Macht den Konsumentinnen? . . . . . . . . . . . . . . 9.3.2 Sozialisierung der Care-Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.4 Sexualitäts- und Partnerschaftspolitiken . . . . . . . . . . . . . . 9.4.1 Befreite Sexualität und befreite Liebe . . . . . . . . . . . . . 9.4.2 Die zwei Formen »verkaufter Liebe«: Ehe und Prostitution . 9.5 Frauen, wacht auf! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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10 Soldaten, Arbeiter, Frauen. Eine Zusammenfassung . . . . . . . 10.1 Revolution auch der Frauen: Die proto-revolutionäre Phase 10.2 Von hungernden Staatsbürgerinnen . . . . . . . . . . . . . 10.3 Ein- und Ausschlüsse in der revolutionären Transformationsphase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.4 Ausblick und Abschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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11 Quellen- und Literaturverzeichnis 11.1 Abbildungsverzeichnis . . . . 11.2 Archivquellen . . . . . . . . . 11.3 Gedruckte Quellen . . . . . . 11.4 Sekundärliteratur . . . . . . . 11.5 Abkürzungsverzeichnis . . .
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12 Tabellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Akteurinnenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Dank
Die vorliegende Studie ist eine überarbeitete und leicht gekürzte Fassung meiner Dissertation, die ich im November 2018 an der Universität Wien verteidigt habe. Jede schreibende und forschende Tätigkeit ist auf Dialog und Austausch von Wissen begründet. In meiner jahrelangen Beschäftigung mit dem Thema der Dissertation haben mich viele Menschen unterstützt und begleitet. Allen voran gilt mein besonderer Dank Univ. Prof.in Dr.in Gabriella Hauch für die umsichtige Betreuung meiner Arbeit, die genauen und kritischen Lektüren und hilfreichen wie anregenden Hinweise und Diskussionen. Für wertvolle Kommentare und ausführliche Gutachten, die die Buchfassung der Dissertation begleitet haben, danke ich zudem herzlich ao. Prof.in Dr.in Johanna Gehmacher (Universität Wien), Prof. Ingrid Sharp (University of Leeds) und Prof. Matthew Stibbe (Sheffield Hallam University). Weiters gebührt mein Dank Prof. Judith Szapor (McGill University, Montréal) und Univ.Prof.in Brigitte Studer (Universität Bern), die mir während meiner Aufenthalte an ihren Forschungs- und Lehreinrichtungen wichtige weitere Impulse für meine Forschungsarbeit gegeben haben. Ich danke Peter Haumer für viele anregende und informative Gespräche zu den Akteur*innen der Föderation Revolutionärer Sozialisten (»Internationale«), Birgitta Bader-Zaar für die Hinweise zu Wahlrecht und -praxen, Alexander Schwab für Eis an heißen Archivtagen, den Kolleg*innen des Graduiertenprogramms des IZFG Berns, der Monday Writing Group an der McGill University, den Dissertant*innenkolloquien und dem jungen Forschungsnetzwerk für Frauen- und Geschlechtergeshichte (fernetzt) an der Universität Wien für die vielen Gespräche und Hinweise. Besonderen Dank möchte ich all jenen aussprechen, die Teile meiner Arbeit diskutiert und (gegen)gelesen haben: Theresa Adamski, Elisabeth Berger, Veronika Duma, Li Gerhalter, Katharina Hermann, Simon Huber, Katharina Mayr, Stephanie Marx, Stephanie Mihelic, Jessica Richter, Tim Rütten, Waltraud Schütz, Brigitte Semanek, Matthias Vigl und Marion Wittfeld. Ohne die Unterstützung meiner Freund*innen und Familie hätte diese Arbeit nicht entstehen
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Dank
können. Ich möchte mich daher auch bei meiner Schwester, Stephanie Helfert, und meiner Mutter, Angelika Helfert, von ganzem Herzen bedanken. Nicht zuletzt gilt mein Dank Bernabé Wesley für die Kraft, die er mir in der letzten Phase der Arbeit gegeben hat, und für die Ermutigung, den utopischen Moment von 1918 auszugraben. Die Möglichkeit einer intensiven Beschäftigung mit dem Thema wurde nicht zuletzt durch das Marietta-Blau-Stipendium 2016, das Johanna Dohnal-Stipendium 2016, den Theodor Körner-Preis 2017 sowie das Abschlussstipendium der Universität Wien 2017 geschaffen. Die Drucklegung des Buches wird durch Förderungen seitens der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät sowie des Instituts für Geschichte an der Universität Wien, des Instituts für Historische Sozialforschung der Arbeiterkammer und des Österreichischen Gewerkschaftsbundes, des Vereins zur Förderung von L’Homme. Z. F. G. und der Österreichischen Hochschüler*innenschaft an der Universität Wien ermöglicht. Für die Aufnahme in die Reihe der L’Homme Schriften danke ich den Herausgeberinnen herzlich, Michaela Hafner sowie Veronika Siegmund von der L’Homme-Redaktion und Carla Schmidt vom Verlag Vandenhoeck & Ruprecht für die ausgezeichnete Betreuung sowie Nikola Langreiter für das gründliche Lektorat.
Gabriella Hauch
»Feministische Melancholie« – zum Geleit
Revoltierende Frauen standen stets in den ersten Reihen der gesellschaftlichen Transformationen, allerdings waren die historiografischen Scheinwerfer nur selten auf sie gerichtet. Nicht »die Revolution befreit die Frauen«, wie es zeitgenössisch proklamiert wurde, sondern es waren die Frauen selbst, die die Revolution machten. Das gilt auch für die Revolution in Österreich. Veronika Helfert arbeitet dies in der vorliegenden Untersuchung ausgezeichnet heraus. Ihre Arbeit steht in der Tradition der in den letzten Jahrzehnten wiederaufgenommenen und weiterentwickelten Geschichtskonzeption, die von den Niederlagen der gleichheitsorientierten, sozialen Bewegungen im Europa der 1930er Jahre gespeist wurde. Die Wirkmacht dieser Bewegungen war von der Sehnsucht nach einem guten und gerechten Leben für alle geprägt – das ist nach wie vor aktuell. Jüngst suchte Enzo Traverso diese Triebkraft mit einer, von Walter Benjamin entlehnten, Begrifflichkeit zu fassen: »Linke Melancholie«.1 Damit ist keine pathologische Trauer gemeint, sondern eine »verborgene Tradition« (Hannah Arendt) benannt, die zwar immer existierte, allerdings meist aus den Mainstream-Diskursen von Historiographie und Politik verbannt blieb. Diese Denkweise wandte sich gegen blinde Held*innenverehrung, gegen propagandistisch gefärbte Siegesfahnen, gegen Strategien des Uminterpretierens beziehungsweise Verdrängens von ›Fehlentwicklungen‹ und gegen die Konstruktion ›reiner‹ Wahrheiten. Ihre Vertreter*innen problematisierten und diskutierten (auch) die Zwischentöne und Schattenseiten ihrer Zukunftshoffnungen, die Enttäuschungen und die Trauer angesichts nicht erreichter Gleichheit, (Geschlechter-)Gerechtigkeit und Freiheit – blendender Glanz revolutionärer Eindeutigkeiten war nicht ihr Metier. Als Träger*innen dieser »verborgenen Tradition« nennt Traverso Louise Michel oder Rosa Luxemburg ebenso wie Antonio Gramsci, Leo Trotzki oder Walter Benjamin. Viele wären hinzuzufügen, wie etwa Olympe de Gouges, George Sand, Emma Goldmann. Sie sind Teil einer »Kultur 1 Enzo Traverso, Linke Melancholie. Über die Stärke einer verborgenen Tradition (Münster 2019) 7–68.
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»Feministische Melancholie« – zum Geleit
der Linken«, die das Projekt einer neuen Welt rund um das Prinzip der Gleichheit eint. Das Gleichheitsversprechen der Französischen Revolution weiterzutreiben war die gemeinsame Erwartungshaltung, als im 19. Jahrhundert, Sozialismus/ Kommunismus/Anarchismus die emanzipatorisch ausgerichtete historische Bühne betraten. Hundert Jahre später, am Ende des 20. Jahrhunderts, mussten sie diese wieder verlassen – zu Symbolen für Entfremdung, Unterdrückung und Misswirtschaft geworden. Damit verbunden ist der – durch die Entwicklung diverser real existierender Sozialismen – nachvollziehbare Verlust von sichtbaren beziehungsweise denkbaren Fluchtpunkten sozialer Bewegungen. Gleichzeitig scheint dieser Moment einen Raum für das Anknüpfen an Traditionen der »linken Melancholie« zu eröffnen. Die Gegenwart jener Protagonist*innen, die in Veronika Helferts Buch Revolution und Rätebewegung in Österreich 1917 bis 1924 im europäischen Kontext lebten und gestalteten, war von dieser Entwicklung noch entfernt. Ihre Motivationen kreisten um Existenzsicherung, um Gleichheit und Gerechtigkeit, auch um Geschlechtergleichheit und Geschlechtergerechtigkeit. Es ist offensichtlich, dass die Fragen rund um das Thema Geschlecht und gesellschaftspolitische Transformation bis heute ungelöst sind und zur Auseinandersetzung einladen. Denn, wie es Walter Benjamin formulierte, bleibend sind diejenigen »Bilder« der Vergangenheit, die die jeweils Gegenwärtigen bewegen, da sie sich in ihnen als »gemeint« erkennen.2 Um sich Revolution und Rätebewegung in Österreich im Zeitraum rund um das Ende des Ersten Weltkrieges zu nähern, sind die Visionen der Aktivist*innen – in den Worten von Bini Adamczak – als »unerfüllte Zukunft«, als »mögliche Gegenwart, die nie gegenwärtig werden konnte« zu fassen.3 Das historische Suchen nach dieser »verborgenen Tradition« spiegelt das Interesse an den vergessenen beziehungsweise verdrängten Akteurinnen als Siegerinnen (durch das Durchsetzen der politisch-rechtlichen Gleichstellung), die zu Besiegten wurden (Austrofaschismus und Nationalsozialismus zerstörten ihre Lebenswerke). Die Ausgestaltung ihrer Handlungsräume bewegen und ebenso ihre zu Papier gebrachten Lebensträume, ihre Resistenzen und Affirmationen in der institutionalisierten Politik wie im alltäglichen Miteinander. Aktuelle historiografische Fragestellungen entwickeln sich immer unter Bezugnahme – mitunter indirekt, untergründig, subversiv – auf Probleme der jeweiligen Gegenwart. Auf diesem Weg kommen die Widersprüchlichkeiten und Unzulänglichkeiten der Gleichheits-, Freiheits- und Solidaritätsversprechungen 2 Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte [1940], in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, hg. von Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser (Frankfurt a.M. 1991) 691–704, 695. 3 bini adamczak, GESTERN MORGEN über die einsamkeit kommunistischer gespenster und die rekonstruktion der zukunft (Münster 32015) 115.
»Feministische Melancholie« – zum Geleit
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in Nachfolge von Aufklärung und Französischer Revolution in den Blick. Derzeit sind es vor allem Geschlechterverhältnisse, sexuelles Begehren, Hautfarbe und postkoloniale Nachhaltigkeiten sowie Folgen der fortschrittsgläubigen Naturbeherrschung, die mit den ›alten‹ Differenzen – der sozialen Positionierung (Klasse), der Nation oder der Religion – verknüpft und hinsichtlich der damit verbundenen machtgestaltenden Dynamiken analysiert werden. Hier passt sich Veronika Helferts Engagement im Aufspüren der Akteurinnen und in der Analyse der Geschlechter- und damit der Machtverhältnisse in der Zeit von Revolution und Rätebewegung in Österreich ein: mit einer erkenntnisreichen Erinnerungsarbeit, die ich als Teil einer »feministischen Melancholie« verstehe. Bereits 1808 formulierte Charles Fourier die These, dass »in einer gegebenen Gesellschaft der Grad der weiblichen Emanzipation das natürliche Maß der allgemeinen Emanzipation«sei.4 Dabei handelt es sich um eine »vergessene Tradition«, die in die Mainstream-Revolutions-Geschichtsschreibung des 19. und 20. Jahrhunderts genauso wenig einging, wie der Sexismus während der Jakobinerherrschaft in der Französischen Revolution. Dass gerade die als ›links‹ tradierte Strömung5 den Frauen 1793 jegliches politische Engagement verbot, erwies sich als fatal: Denn erst solche gesetzlichen Rahmungen konnten das Phantasma vom unpolitischen weiblichen Geschlecht so nachhaltig modellieren.6 Wiewohl die Kollektivsubjekte »Frauen« und »Massen« in der Revolutions-Geschichtsschreibung die Öffentlichkeit betraten, wurde mit ihnen die Abgrenzung zum exklusiv männlich-bürgerlich konzipierten Raum der institutionalisierten Politik markiert. Naturnah und ›weiblich‹ charakterisiert, also emotional, überschäumend, von Trieben und nicht vom Verstand gesteuert, galten sie besonders in den gesellschaftspolitischen Transformationsperioden als unkontrollierbar und gefährlich. Als ›weibliches Geschlecht‹ gefasst, wurde Frauen 4 Friedrich Engels, Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, in: Karl Marx u. Friedrich Engels, Werke, Bd. 19 (Berlin 1962) 189–228, 196. Die Schrift von Fourier, auf die Engels hier verweist, ist: Charles Fourier, Theorie der vier Bewegungen und der allgemeinen Bestimmungen. Aus dem Französischen von Gertrud von Holzhausen, hg. von Theodor W. Adorno u. Elisabeth Lenk (Frankfurt a. M. 1966). 5 Das gilt bis heute im politischen Feld: Jacobin heißt ein 2010 in den USA gegründetes linkes Polit-Magazin, das auch in Brasilien, Deutschland und Italien erscheint, online: https://jacobin mag.com/about (23. 8. 2020). Hier sind zwar die haitianischen und nicht die französischen Jakobiner gemeint, das ändert aber an dem damit verbunden geschlechterpolitischen Signal nichts. Siehe dazu auch den 2002 zur Reformierung der EU-Verfassung gegründeten »Jakobinerklub« im EU-Konvent. Vgl. Katharina Krawagna-Pfeifer, Jakobinerklub im EU-Konvent konstituiert, in: Der Standard (24. 6. 2002), online: https://www.derstandard.at/story/991492/ja kobinerklub-im-eu-konvent-konstituiert (23. 8. 2020). 6 Gabriella Hauch, Für die »Harmonie der Menschheit«. Zum Verhältnis von Revolution und Geschlecht im langen 19. Jahrhundert, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 69, H. 8 (2019), online: https://www.bpb.de/apuz/285868/zum-verhaeltnis-von-revolution-und-geschlecht-im -langen-19-jahrhundert (23. 8. 2020).
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»Feministische Melancholie« – zum Geleit
– einerlei, ob sie sich als solche definierten – politisches Engagement verboten, wurden sie von höherer Bildung, den Wissenschaften und vielen Berufen ausgeschlossen, in Familienrechten dem Ehemann unterstellt und in der »Allgemeinheit« der Allgemeinen Wehrpflicht nicht mitgemeint: Frauen wurden per Geschlecht und via Gesetzen nicht nur in neutraler Differenz zu ›Anderen‹, sondern zu Menschen zweiter Klasse. Dieses die bürgerliche Moderne begleitende und prägende Paradox war Ergebnis von Verhandlungen und Kämpfen und produziert immer wieder neue Verhandlungen und Kämpfe, um das nicht vollendete Projekt Geschlechtergerechtigkeit einzufordern. Veronika Helferts Studie thematisiert einen dieser Momente, als nämlich im Kontext von Krieg und Revolution im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts Sozialismus/Kommunismus und ihre Konzeption(en) von Frauenemanzipation als nicht erprobte »Denkbilder« (Walter Benjamin) Zukunftshoffnungen benannten. Betrachtet man allerdings die Geschichtsschreibung dieser sozialrevolutionären Situationen, die sie strukturierenden sozialen Bewegungen und Institutionen, irritiert eine seltsame ›Frauenlosigkeit‹. Das hegemoniale Paradigma des Allgemeinen verbirgt üblicherweise die Männlichkeiten von Akteuren in deren Vorstellungswelten sowie in den von ihnen gestalteten Organisations- und Institutionsstrukturen – bei Rätestrukturen allerdings, die sich an Soldatendasein und großindustrieller Erwerbsarbeit orientieren, kann von Androzentrismus, das heißt scheinbarer Geschlechtsneutralität, keine Rede sein: Sie funktionieren per se nicht geschlechter-integrativ. Die Frauen- und Geschlechtergeschichte und -forschung hat in den letzten Jahrzehnten das Instrumentarium bereitgestellt, um das Narrativ der ›Revolution der Männer‹ analytisch zu fassen. »Frauen wacht auf!« ist eine theoretisch wie methodisch fundierte und vor allem auch empirisch gesättigte Studie: Sie dekonstruiert vorhandene Narrative von Männlichkeiten und setzt Definitionen vom Geschlecht des Politischen und der Revolution neu auf. Sie zeigt, dass die Trennung von Alltag und Öffentlichkeit, von produktiver Politik und reproduktivem Alltag, für eine moderne Geschichtsschreibung überholt ist. Sie nimmt außerdem die Verhältnismäßigkeit von Gewalt in der Revolution unter die Lupe und fragt nach dem Stellenwert des seelischen Umsturzes in den Zukunftsentwürfen der Akteur*innen. Wissenschaftliche Arbeiten, wie die von Veronika Helfert, erinnern an den Enthusiasmus in den Erfolgen ebenso wie an die Trauer im Scheitern von sozialen und politischen Kämpfen. Im Sinne von ›Zukunft braucht Vergangenheit‹ bilden sie die Basis für neue utopische Ausgestaltungen, die an der gegenwärtigen Zeitenwende eminent notwendig sind. Von einer »Befreiung der Frau«, wie sie feministische Kommunistinnen und Sozialistinnen der 1920er Jahre und die Neue Autonome Frauenbewegung in den 1960er und 1970er Jahren international postulierten, sind die gegenwärtigen Gesellschaften weit entfernt. Arbeiten wie
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diese sind notwendig, um immer wieder vor Augen zu führen, wie Geschichtsschreibung und die von ihr produzierten Erinnerungen durch Fragestellungen und Interessen geformt werden – und nicht zuletzt, um das analytische Potenzial der Kategorie Geschlecht deutlich zu machen.
Geschichtsschreibung als kritisches Projekt. Einige Vorbemerkungen Das Anliegen der Kritik besteht darin, diese blinden Flecken sichtbar zu machen, um damit ein System für den Wandel zu öffnen. Nicht um das, was ist, durch einen vollständig ausformulierten, idealen Plan zu ersetzen, sondern um die Möglichkeit zu eröffnen, anders zu denken (und damit anders zu handeln).1
In ihrem vor einigen Jahren erschienenen Aufsatz »Geschichte schreiben als Kritik« – bzw. »history-writing as critique« im englischsprachigen Original – setzte sich Joan W. Scott daran, Geschichtsschreibung als kritisches Projekt stark zu machen. Es ging ihr um den Möglichkeitsraum, der eröffnet wird, wenn historische Gesellschaften auf jene blinden Flecken hin untersucht werden, die tradierte Erzählungen und etablierte Erklärungsstrukturen produzieren. Die vorliegende Arbeit zu Frauen in und einer frauen- und geschlechterhistorischen Analyse von Revolution und Rätebewegung in Österreich 1916/17 bis 1924 stellt sich in diese Tradition von Geschichtsschreibung als Kritik. Als kritisches Projekt betrachtet sie vergangene und gegenwärtige Gesellschaften nicht als naturgegeben, ahistorisch oder zwangsläufig so entstanden. Oder, um es mit Caroline Arni zu sagen: »Kritik […] ist eine Passion, ein Gefühl also, das sich aus der ebenso lustvollen, wie Schwindel erregenden Erkenntnis nährt (die man auch eine intellektuelle Erfahrung nennen könnte), dass die Dinge nicht sein müssen, wie sie sind.«2 Ich verstehe dieses kritische Projekt der Geschichtsschreibung in zweierlei Hinsicht. 1. Zum einen soll mit dieser Studie der Möglichkeitsraum gezeigt werden, der sich den zeitgenössischen Akteur*innen angesichts der revolutionären Umwälzungen in Russland aufgetan hat. Es geht also um das Heben der »unabgegoltene[n] Potentialität der Geschichte«.3 Es ist ein utopischer Augenblick, der aus der Sicht der Nachgeborenen das Moment des Anders-Sein-Könnens – des Nicht-So-Sein-Müssens – aufblitzen lässt. Dies ist jedoch nicht als nostalgische Bewegung zu verstehen, sondern als Ausgrabungsarbeit verschütteter Reste, die aus der zähen Resistenz des tatsächlich Gewordenen ragen. 1 Joan W. Scott, Geschichte schreiben als Kritik, in: Historische Anthropologie 23, H. 1 (2015) 93–114, 99. 2 Caroline Arni, Zeitlichkeit, Anachronismus und Anachronien. Gegenwart und Transformationen der Geschlechtergeschichte aus geschichtstheoretischer Perspektive, in: L’Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft (Z.F.G.) 18, H. 2 (2007) 53– 76, 57. 3 Bini Adamczak, Beziehungsweise Revolution. 1917, 1968 und kommende (Berlin 32018) 215.
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Geschichtsschreibung als kritisches Projekt. Einige Vorbemerkungen
Die niederländische Sozialistin und Schriftstellerin Henriette Roland-Holst schrieb 1906 angesichts der gescheiterten Russischen Revolution von 1905: »[D]ie Geschichte hat Flügel bekommen«.4 In den bekannten Thesen über den Begriff der Geschichte, die Walter Benjamin wohl 1939/40 verfasst hatte, ist dieses Bild anders gewendet. In Referenz auf ein Kunstwerk von Paul Klee, welches er 1921 erworben hatte, schrieb Benjamin: Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.5
Die beiden Bilder stehen für die Grenzen des Untersuchungszeitraums. Henriette Roland-Holst sah – wie viele andere – die revolutionären Erhebungen am Beginn des 20. Jahrhunderts als Weg in eine bessere und befreite Zukunft. Diese Vision war mit dem Scheitern der Revolutionen und ihrer Hoffnungen, mit der Realität des stalinistischen Terrors, vorbei. Auch Hannah Arendt fand für die Ernüchterung nach den nicht eingetretenen revolutionären Versprechen eindrückliche Worte. Sie sprach davon, dass die Russische Revolution »erst eine unvergleichliche Hoffnung in die Welt gebracht [habe], um die gleiche Welt in eine umso tiefere Verzweiflung zu stürzen«.6 Die Geschichte hatte zwar Flügel bekommen, sah sich aber schließlich Trümmerhaufen gegenüber. 2. Die zweite Suchbewegung meiner Kritik besteht darin, die Art und Weise zu hinterfragen, wie historische Ereignisse gefasst werden. Damit stehe ich vor der Aufgabe, die feministische Historiker*innen nun schon seit einigen Jahrzehnten beschäftigt: Reichen die disziplinären Verfahrensweisen aus, um aus den Komplexitäten vergangener Gesellschaften und den mitunter exkludierenden Tradierungen der eigenen Fachdisziplin jene ans Licht zu holen, die nicht zuletzt im Brecht’schen Sinne im Schatten stehen? 7 Können Historiker*innen Verfahrensweisen und theoretische Ansätze entwickeln, die das hinterlassene Quel4 Henriette Roland-Holst, Generalstreik und Sozialdemokratie. Mit einem Vorwort von Karl Kautsky (Dresden 21906) XIV. 5 Benjamin (1991), Über den Begriff der Geschichte, 697f. (Hervorhebung im Orig.). 6 Hannah Arendt, Über die Revolution (München 21974) 70. 7 In den 1930 ergänzten Strophen in der Dreigroschenoper heißt es: »Denn die einen sind im Dunkeln, und die andern sind im Licht. Und man siehet die im Lichte, die im Dunkeln sieht man nicht.« Bertolt Brecht, Die Dreigroschenoper. Anhang, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 2: Stücke 2 (Frankfurt a.M. 1967) 497.
Geschichtsschreibung als kritisches Projekt. Einige Vorbemerkungen
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lenmaterial ebenso wie die Lücken ernst nehmen sowie die eigenen entwickelten Kategorien und Erklärungsweisen beständig hinterfragen und nicht unkritisch dem empirischen Material aufzwingen? In der vorliegenden Arbeit versuche ich, diesen beiden Dimensionen der Kritik gerecht zu werden. Die Darstellungsweise des Themas ist eine Konsequenz daraus: Was als Revolution verstanden wird bzw. wie revolutionäre Bewegungen verstanden werden, beeinflusst, welche Akteur*innen als revolutionär tradiert wurden und werden. Im Sinne feministischer epistemischer Kritik wird daher in dieser Arbeit widerständiges Verhalten breit gefasst und der Untersuchungszeitraum um die Jahre der unorganisierten Unruhen im Ersten Weltkrieg erweitert. Daneben werden die revolutionären Strukturen in ihrer Pluralität gezeigt, um auf die Mehrstimmigkeit hinzuweisen, die den utopischen Moment einer besseren Welt kennzeichnete. Nicht zuletzt werden die revolutionären Bewegungen in den Jahren 1916 bis 1924 darauf hin untersucht, wie sich die Zähigkeit und Wirkmächtigkeit von Kategorien sozialer Ungleichheit auswirkte, um die Hierarchien und Ausschlüsse zu verstehen, die auch diesen innewohnten.
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Revolution?! Eine Einleitung Es ist Krieg. Nationale Märsche führen zum Schlachten und alle Völker kämpfen für die bedrohten Heimaten und für die Ehre der Vaterländer. Wieder stürmen Soldaten vorbei, diesmal in den Rauch der Geschosse eingehüllt und ihnen folgen die schwarzen Scharen der trauernden Frauen. Aber wenn auch die Rebellen von früher gemordet wurden, ihr Geist ist nicht tot. Das Volk verbrüdert sich mit den Soldaten. Wie aus dem Boden gestiegen, erheben sich unzählige rote Fahnen. Das Volk ist frei und stolz und selbstbewußt geworden.8
Vom 19. bis 26. Juli 1931 fand in Wien die Zweite Internationale Arbeiterolympiade statt. Im neu errichteten Praterstadion – dessen Bau wohl nicht zufällig am 12. November 1928, dem zehnjährigen Gründungstag der Republik, begonnen wurde – trugen rund 25.000 Sportler*innen Wettkämpfe aus.9 Bei der Eröffnung waren fast 60.000 Menschen zugegen, wie Das Kleine Blatt berichtete. Diese konnten in einer einstündigen Vorführung mit etwa 4.000 Mitwirkenden, die die Geschichte der Arbeiter*innenbewegung zum Thema hatte, unter anderem das im Eingangszitat beschriebene Stück Revolution sehen: »Szenen, deren hinstürmende Gewalt die Schauer großen Erlebens in sich tragen«,10 wie es in der Berichterstattung hieß. Das Festspiel, das mit der Sprengung eines »Kapitalistenkopfes« endete, inszenierte den Zerfall der Monarchie und die Entstehung der Republik 1918 als einen Höhepunkt der österreichischen Arbeiter*innenbewegung. Hier versammelte sich die gesamte Bevölkerung unter den roten Fahnen, um Freiheit und Selbstbewusstsein – Referenzen an die Werte der Aufklärung und der Französischen Revolution – zu erlangen (siehe Abbildung 1). Das reenactment dieses Moments – 15 Jahre nach den Ereignissen und drei Jahre bevor die Republik in einen autoritären Staat umgebaut wurde – fand unter Beteiligung der Arbeiter*innensport- und -freizeit-Organisationen statt und wurde in Bild- und Filmdokumenten für die Nachwelt aufgehoben.11 Dass 1931 dieses Stück und mit ihm die von Julius Deutsch oder Otto Bauer sogenannte 8 Das Festspiel der Olympiade. Die Begeisterung von 60.000 Menschen, in: Das Kleine Blatt (DKB) 5, Nr. 197 (19. 7. 1931) 6f., 6. 9 Vgl. Bernhard Hachleitner, Das Wiener Praterstadion/Ernst-Happel-Stadion. Bedeutung, Politik, Architektur und urbanistische Relevanz (Dissertation Univ. Wien 2010) 179–183. 10 Das Festspiel der Olympiade (DKB, 19. 7. 1931) 6. 11 Vgl. Wiener Stadt- und Landesarchiv (WSTLA), Filmarchiv der media wien, 029B. Gemeinde Wien, Film über den Bau und die Eröffnung des Wiener Praterstadions mit Aufnahmen der Arbeiterolympiade vom 19.–26. Juli 1931, SW-Stummfilm (17:50 Min), 35 mm. Ausschnitte des Filmes können unter folgendem Link abgerufen werden, online: http://me diawien-film.at/film/319/ (29. 3. 2020).
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Revolution?! Eine Einleitung
Abb. 1: Arbeiterolympiade: Festspiel »Revolution«, 1931 (Kreisky Archiv)
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»Österreichische Revolution«12 aufgeführt wurde, ist kein Zufall. Es erfüllte den Zweck der Selbstinszenierung des Roten Wien als »Mekka der arbeitenden Menschen der Internationale«13 und der Sozialdemokratie als Wahrerin der demokratischen Republik Österreich, deren politischer Bestand seit den späten 1920er Jahren zunehmend unter Druck geriet. Das Festspiel dient mir als Ausgangspunkt, um darüber nachzudenken, wie die Geschichte der Österreichischen Revolution von den Zeitgenoss*innen in der Zwischenkriegszeit erzählt und wie sie in Folge von Historiker*innen geschrieben wurde. Die Inszenierung bietet in diesem Fall eine sozialdemokratische Lesart der Ereignisse an, die die Revolution als Erfolg der Arbeiter*innenbewegung setzt und sie zu einem Gründungsakt und Bestandteil der parlamentarischen Republik erklärt.14 Die Revolution ist ein Spektakel, ein Ereignis, das als Performanz gelesen und interpretiert werden muss. Historiker*innen haben für die (kollektiven) Vorstellungen davon, wie eine Revolution auszusehen hat, in den letzten Jahren den Terminus »Skript« geprägt.15 Im Gegensatz zu anderen Inszenierungen der Sozialdemokratie sind beim Auftakt der Arbeiterolympiade in der Revolutionsszene erwachsene und jugendliche Frauen und Männer zu sehen: Eine Bandbreite an Akteur*innen also, die, wie ich zeigen werde, in der Tradierung und der Historiographie der Ereignisse als Soldatenrevolution oft unterschlagen wird. Diese Beobachtung gibt Anlass für die grundlegende Frage: Was ist die Konsequenz eines Perspektivenwechsels in der Erzählung dieser Phase der österreichischen Geschichte? Oder anders formuliert: Was passiert, wenn Frauen und ihre Erfahrungen ins Zentrum gerückt werden?
12 Julius Deutsch, Aus Österreichs Revolution. Militärpolitische Erinnerungen (Wien 1921); Otto Bauer, Die Österreichische Revolution (Wien 1923). 13 Anna Grünwald, Die Frau in der Gemeindeverwaltung. In der Gemeinde Wien, in: Kammer für Arbeiter und Angestellte in Wien (Hg.), Handbuch der Frauenarbeit in Österreich (Wien 1930) 649–653, 649. 14 In ähnlicher Weise wurde die Französische Revolution zu einem Bestandteil der französischen Republiken: Nicht zuletzt durch das Feiern des Sturmes auf die Bastille als Nationalfeiertag am 14. Juli wurde die Revolution zu einem wiederkehrenden republikanischen Ritual. Siehe dazu Oliver W. Lembcke u. Florian Weber, Emotion und Revolution. Spurenlese zu einer Theorie der affektiven Grundlagen politischer Ordnungen, in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft (ÖZP) 39, H. 2 (2010) 171–186. 15 Vgl. etwa den Sammelband Keith Michael Baker u. Dan Edelstein (Hg.), Scripting Revolution. A Historical Approach to the Comparative Study of Revolutions (Stanford 2015).
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Revolution?! Eine Einleitung
1.1
Auf dem Schindanger der Geschichte. Die Geburt der Republik in den Augen der Zeitgenoss*innen
In der Stunde des Zusammenbruchs der alten und der »Geburt« der neuen Welt rief das Sozialdemokratische Frauenreichskomitee in der Arbeiterinnen-Zeitung am 22. Oktober 1918 dazu auf, sich ihm anzuschließen und beschrieb den historischen Moment des Neuanfangs: Alles Alte wankt und stürzt, Einrichtungen, die im Sinne des Volkes als ewig feststehend, als unabänderlich galten, versinken, Neues entsteht und wächst heran. Die Wucht des schon über vier Jahre währenden schreckensvollen Krieges, unter der so viele Menschenleben verblutet sind, die Elternfreude und Eheglück begraben hat, die das Wohl von Millionen zerstampft und unermeßliche Werte vernichtet hat, diese Wucht zertrümmert auch Staaten und reißt auseinander, was ewig zusammenzugehören schien.16
Gezeichnet wird in diesem Artikel das Bild einer Naturgewalt – einer Welle, einer Flut,17 deren Wucht die scheinbar unumstößlichen Grundmauern der Habsburgermonarchie einriss. Metaphern, die von Zeitgenoss*innen wie von Historiker*innen verwendet werden.18 Die Autorinnen des Artikels bezeichneten darüber hinaus das Entstehen der neuen Welt mehrfach als (schmerzhafte) Geburt. An anderer Stelle in derselben Ausgabe heißt es: »Unter Schmerzen wird eine neue Welt geboren.«19 Auch Geburt gehört zu jenen Metaphern von Naturereignissen, die von Menschen nicht oder kaum beeinflusst werden können, mit denen die revolutionären Ereignisse in Europa seit 1917 beschrieben wurden. Das Sprachbild der Geburt kann darüber hinaus als ein Verweis auf den Topos der Mütterlichkeit und eine weibliche Vision von Politik gelesen werden. Den Eindruck der Unabänderlichkeit und der Nicht-Beeinflussbarkeit eines Naturereignisses teilten viele Zeitgenoss*innen. Der Wiener Psychoanalytiker 16 Sozialdemokratisches Frauenreichskomitee, Frauen und Mädchen des Proletariats!, in: Arbeiterinnen-Zeitung (AiZ) 27, Nr. 21 (22. 10. 1918) 1, 1. 17 Siehe auch Klaus Theweleit, Männerphantasien, Bd. 1: Frauen, Fluten, Körper, Geschichte (Frankfurt a.M. 1977) 308–312. 18 Siehe z. B. Käthe Pick, verh. Leichter, die von »einem Augenblick der revolutionären Hochflut« sprach. Vgl. Käthe Pick, Der österreichische Rätekongreß, in: Günter Hillmann (Hg.), Die Rätebewegung II (Reinbek bei Hamburg 1972) 93–99, 93 [Erstpublikation in: Der Arbeiter-Rat 2, Nr. 23/24 (1920)]; Leopold Kunschak, der in einer Sitzung des christlichsozialen Wiener Gemeinderatsklubs darauf hoffte, dass die eigene Partei wieder »mit vollem Segel« fahren kann, sobald »die stürmischen Wogen sich beruhigt haben und die Kriegspsychose von der bodenständigen Wiener Bevölkerung gewichen sein wird«. Vgl. Karl von Vogelsang Institut (KvVI), Wien, Christlichsoziale Partei-Wien (CSP-W), Karton (Kt.) 37, Mappe (M.) Bürgerklub-Protokolle 1919, Verhandlungsschrift über die Sitzung des Bürgerklubs vom 19. Mai 1919; Adam Tooze, Sintflut. Die Neuordnung der Welt 1916–1931. Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz u. Thomas Pfeiffer (München 2015). 19 Das Ende Österreichs, in: Arbeiterinnen-Zeitung 27, Nr. 21 (22. 10. 1918) 2f., 3.
Auf dem Schindanger der Geschichte
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Paul Federn schrieb 1919 etwa, dass »die politische Revolution von selbst kam«.20 Ähnliches lässt sich auch in einer oberösterreichischen sozialdemokratischen Publikation anlässlich des zehnjährigen Jubiläums der Republik lesen, die allerdings in weiterer Folge die »Völker« der Monarchie als historische Akteurinnen handeln lässt: »In den ersten Novembertagen 1918 zerbrachen die Fronten und mit ihnen der Kaiserstaat und seine Gewalten. Die Völker befreiten sich.«21 Diese Darstellung erinnert an die Analyse des austromarxistischen Theoretikers und heimgekehrten russischen Kriegsgefangenen Otto Bauer, der zum Stichwortgeber der Rezeption der Ereignisse von 1918 wurde:22 Er unterteilte die Abfolge der Österreichischen Revolution in zwei Phasen: Auf die Phase der bürgerlichen nationalen Revolutionen – in der sich die unterschiedlichen Nationalitäten der Habsburgermonarchie als nationalstaatlich verfasste (hauptsächlich) Republiken lossagten – folgte Ende Oktober 1918 die Phase der sozialen, proletarischen Revolution. Allerdings konnte sich diese Entwicklung Bauers Analyse zufolge abseits der Industriegebiete nicht durchsetzen, da sich die bäuerliche und bürgerliche Bevölkerung im Alpenraum allem widersetzte, was über die demokratische Republik hinausging.23 Die politische Revolution, die zu einem radikalen Wechsel in der Staatsform und zu einschneidenden territorialen Veränderungen führte, war weitgehend friedlich verlaufen. In Erinnerungsschriften und politischen Analysen schrieben Sozialdemokrat*innen das der eigenen Arbeit und der disziplinierten, d. h. sozialdemokratisch organisierten, Arbeiterschaft zu – der »Retterin Österreichs«24, die eigentlich angesichts des Krieges Grund zur Rache gehabt hätte. Diese, vor allem in Publikationen Ende der 1920er Jahre betonte Friedfertigkeit hatte dabei (gerade so wie das eingangs skizzierte Festspiel) auch die Funktion, sich in der angespannten innenpolitischen Situation als Garantin von Stabilität auszuweisen. So wird in der bereits zitierten Broschüre aus Oberösterreich betont, dass die »von allen Nutznießern des Krieges befürchtete Rache des ›Pöbels‹ […] aus[blieb]. Die Errichtung der Republik erfolgte ohne Blutvergießen.«25 In den Worten der Sozialdemokratin Emmy Freundlich, geb. Kögler, las sich das 1928 folgendermaßen: 20 Paul Federn, Zur Psychologie der Revolution. Die vaterlose Gesellschaft. Nach Vorträgen in der Wiener psychoanalytischen Vereinigung und im Monistenbund (=Der Aufstieg, 12/13; Leipzig/Wien 1919) 4. 21 Ursachen und Vorspiel des Umsturzes, in: Oberösterreich und die November Revolution. Für seine Landsleute zusammengestellt von einem Oberösterreicher (Linz 1928) 22–28, 28. 22 Vgl. zur Bedeutung und Kritik des Buches: Ernst Hanisch, Der große Illusionist. Otto Bauer (1881–1983) (Wien/Köln/Weimar 2011) 188–195. 23 Bauer (1923), Die Österreichische Revolution, 94–115. 24 Emmy Freundlich, Wege zur Gemeinwirtschaft (Jena 1928) 11. 25 Richard Straßer, Ein Rückblick auf den Linzer Arbeiterrat, in: Oberösterreich und die November Revolution (1928) 55–61, 55f.
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Die Arbeiter*innenschaft hat damals nicht nur mit eiserner Disziplin die heimkehrenden empörten und erbitterten Soldaten empfangen und sie sofort soweit als möglich in die Betriebe, die mangelhaft beschäftigt waren, aufgenommen, sie hat auch die Ruhe und Ordnung aufrechterhalten, wenn wir nur einen Viertellaib Brot hatten. Sie hat aber auch ihre besten und tüchtigsten Männer in die Regierung entsendet, damit sie das lecke Schiff des Staates mit fester Hand steuern. Nur weil das arbeitende Volk und die erste Regierung der Republik einig waren, nur weil beide zusammengearbeitet haben, war es möglich, trotz der wirtschaftlichen Not das Land vor dem Entstehen des Bürgerkrieges zu bewahren.26
Freundlichs Darstellung nach gab es so etwas wie einen Pakt zwischen Arbeiter*innen und Sozialdemokratie, der die Errichtung einer parlamentarischen Demokratie beinhaltete – als Ziel der politischen Revolution und als Mittel zur Erreichung einer sozialistischen Gesellschaft. Diese sozialistische Gesellschaft umfasste letztlich auch eine ökonomische, soziale und kulturelle Umwandlung des Bestehenden.27 Vertreter der Christlichsozialen Partei beurteilten dies ein wenig anders. 1914 war die Partei noch eine »verlässliche Stütze von Thron und Altar«28 gewesen und am 21. Oktober 1918 sprach sie sich zu weiten Teilen klar für ein Beibehalten der Monarchie aus, wenn auch unter Einbezug eines umfassenden demokratischen Modells.29 Nach dem Rücktritt Kaiser Karls I. allerdings schworen die christlichsoziale Parteileitung und kirchliche Würdenträger das eigene Klientel – die Bauernschaft, der gewerbliche Mittelstand, Beamtenschaft und kleinbürgerlichen Schichten – auf den republikanischen Kurs ein.30 Leopold Kunschak, christlichsozialer Gewerkschafter und 1904 bis 1934 Mitglied des Wiener Gemeinderats, charakterisierte bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit die
26 Freundlich (1928), Wege zur Gemeinwirtschaft, 11. 27 Auch Historiker, unter ihnen Ernst Hanisch, strichen es als Verdienst der Regierung und einzelner ihrer Mitglieder wie Otto Bauer hervor, die Lage 1918 und 1919 stabilisiert, Hunger und Not eingedämmt zu haben. Vgl. Ernst Hanisch, Im Zeichen von Otto Bauer. Deutschösterreichische Außenpolitik in den Jahren 1918 bis 1919, in: Helmut Konrad u. Wolfgang Maderthaner (Hg.), … der Rest ist Österreich. Das Werden der Ersten Republik, Bd. 1 (Wien 2008) 207–222. 28 Dieter A. Binder, Fresko in Schwarz? Das christlichsoziale Lager, in: Konrad/Maderthaner (Hg.) (2008), … der Rest ist Österreich, Bd. 1, 241–260, 242. 29 Siehe etwa die Rede des christlichsozialen Abgeordneten Schraffl bei der Sitzung des Vollzugsausschusses am 21. 10. 1918. Vgl. Der Standpunkt der Christlichsozialen, in: Deutsches Volksblatt 30, Nr. 10703 (22. 10. 1918, Morgen-Ausgabe) 3. 30 Vgl. Binder (2008), Fresko in Schwarz?; sowie Hanno Rebhan, »Demokratie ohne Demokraten?« Die Demokratieverständnisse in den politischen Parteien der Ersten Republik Österreich 1918–1933/34. Eine begriffsgeschichtliche Analyse (Dissertation Univ. Wien 2018) 312–329.
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politischen Umwälzungen als »Kriegspsychose«.31 1934 veröffentlichte er eine Schrift, in der er eine politische Analyse der Ersten Republik anbot. Die Sitzung des sogenannten Vollzugsausschusses am 21. Oktober 1921 fasste er hier nicht als Geburtsstunde der Republik, sondern als »Todesurteil gegen die Monarchie« auf.32 Seine Veröffentlichung ist auch vor dem Hintergrund der Ausschaltung des Parlaments 1933 und der Februarkämpfe 1934 zu lesen.33 Kunschaks Beschreibung einer gescheiterten Demokratie, in die die Bevölkerungen 1918 »hineingeworfen«34 worden war, ist daher auch als Rechtfertigung ihrer Demolierung zu sehen: Sie wurde im Zuge eines gewaltsamen Akts gegründet und beendet: Möge Gottes Erbarmen die Einsicht und Weisheit aller, besonders aber die der österreichischen Staatsmänner, so lenken, daß sich für Volk und Heimat an die in Blut und Tränen geborene, in Blut und Tränen beendigte, von Unglück und Not übersättigte Periode 1918–1934 eine dauernde Periode der inneren Befriedung und des Aufstiegs zu einem Leben in sonnigen Sphären schließe!35
Dass die Erste Republik in »Blut und Tränen« geboren worden sei, kann zwar als Referenz auf den Ersten Weltkrieg verstanden werden, meinte aber auch die Ereignisse der Österreichischen Revolution, die allerdings, wie vor allem von sozialdemokratischer Seite betont wurde, im Vergleich zu den Ereignissen in Deutschland unblutig verlaufen ist.36 Kunschak übertrieb die wenigen gewaltsamen Auseinandersetzungen. Akteur*innen des linksradikalen Spektrums wiederum ging die Gründung einer parlamentarischen Demokratie nicht weit genug. Die Kommunistin Elfriede Eisler-Friedländer/Ruth Fischer37 charakterisierte zu Beginn der 1960er
31 Vgl. KvVI, CSP-W, Kt. 37, M. Bürgerklub-Protokolle 1919. Verhandlungsschrift über die Sitzung des Bürgerklubs vom 19. Mai 1919, Redebeitrag von Leopold Kunschak. 32 Leopold Kunschak, Österreich 1918–1934 (Wien 1934) 30. 33 Vgl. Helmut Wohnout, Die Verfassung 1934 im Widerstreit der unterschiedlichen Kräfte im Regierungslager, in: Florian Wenninger u. Lucile Dreidemy (Hg.), Das Dollfuß-SchuschniggRegime 1933–1938. Vermessung eines Forschungsfeldes (Wien 2013) 17–30. 34 Kunschak (1934), Österreich 1918–1934, 48. 35 Ebd., 216. 36 Vgl. etwa Deutsch (1921), Aus Österreichs Revolution, 20–25; oder Freundlich (1928), Wege zur Gemeinwirtschaft, 11f. 37 Elfriede Eisler-Friedländer trug viele Namen: Geboren als Elfriede Fischer 1895 in Leipzig, bekam sie nach der Heirat der Eltern den Nachnamen Eisler. Der erste Ehemann Paul Friedländer machte sie zu Elfriede Friedländer. In der Illegalität in Deutschland nahm sie die Namen Maria Ida Schmidt und Helene Geringer an. Um in Deutschland bleiben zu dürfen, heiratete sie – und wurde zu Elfriede Golke. Eine erneute Ehe im französischen Exil machte sie zu Elfriede Pleuchot. Im Untergrund nannte sie sich auch E. Dubois und Ruth Kämpfer. In der politischen und publizistischen Öffentlichkeit trat sie als Ruth Fischer auf. Ich werde in Folge Elfriede Eisler-Friedländer verwenden. Sabine Hering u. Kurt Schilde, Kampfname Ruth Fischer. Wandlungen einer deutschen Kommunistin (Frankfurt a.M. 1995) 7.
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Jahre die Ereignisse 1918 als »Westentaschenrevolution«.38 Im Freien Arbeiter, der Zeitung der kurzlebigen Föderation Revolutionärer Sozialisten »Internationale« (F.R.S.I.) unter der Chefredaktion von Hilde Wertheim, geb. Hoffmann, und Berta Pölz, verh. Pollak, hieß es: »Die lang erwartete, befürchtete und erhoffte Katastrophe ist endlich eingetreten. Das europäische ›Reich der Mitte‹ verwest auf dem Schindanger der Geschichte.«39 Obwohl der Zusammenbruch der Habsburgermonarchie gefeiert wurde, ähnelte die Einschätzung der Ereignisse im Freien Arbeiter bereits am 9. November 1918 Eisler-Friedländers Charakterisierung: Wenn auch der Begriff »Revolution« auf die letzten Ereignisse mit einigem Recht angewendet werden kann, so wird er lächerlich, gebraucht für das, was wir in Wien erlebt haben. Wie ist denn das zustande gekommen, was die deutschösterreichische Sozialdemokratie so hochtrabend benennt? […] [D]amals, als die ganze alte Macht zu Boden lag, da benützte die Sozialdemokratie diesen nie wiederkehrenden Augenblick nicht, um die Macht zu ergreifen. Sie hätte die Verantwortung übernehmen müssen, und davor schreckt ein echter deutschösterreichischer sozialdemokratischer Führer zurück.40
Deutlich wird aus diesem Zitat die Strittigkeit des Revolutionsbegriffes. Das lag sicherlich auch daran, dass die Ereignisse 1918/19 an vergangenen Revolutionen gemessen wurden.41 Linksradikale Akteur*innen wollten sich der Einschätzung der Sozialdemokrat*innen nicht anschließen und wählten, etwa in kommunistischen Publikationen, viel eher den Terminus »Zusammenbruch«.42 Dennoch, in den sozialdemokratischen und auch in manchen linksradikalen Analysen waren der Zerfall der Habsburgermonarchie, die Staatsgründungen der nicht-deutschsprachigen Nationalitäten und die damit herbeigeführte territoriale Neuordnung eine politische, eine nationale, eine bürgerliche Revolution, die die Bevölkerung zum neuen Souverän in den neuen Nationalstaaten machte – wie umkämpft all diese einzelnen Aspekte auch waren. Darüber hinaus eröffnete diese politische und bürgerliche Revolution – ganz in der Tradition der Französischen Revolution von 1789 bzw. des Revolutionsjahres 1848 – die Hoffnung oder Angst – je nach politischer Einstellung – vor einer weitreichenderen (gewalttätigen) Umwandlung der Gesellschaft. Diese soziale oder auch proletarische
38 Ruth Fischer, Der Vater der KPÖ – ein Russe. Die Erinnerungen Ruth Fischers über die Entstehung der Kommunistischen Partei Österreichs, in: HEUTE 4, Nr. 12 (25. 3. 1961) 4. 39 Niedergang der Sozialdiplomatie, in: Der Freie Arbeiter (DFA) 1, Nr. 1 (9. 11. 1918) 2f., 2. 40 Ebd. 41 Vgl. dazu Moritz Föllmer, The Unscripted Revolution. Male Subjectivities in Germany 1918– 1919, in: Past and Present, Nr. 240/1 (August 2018) 161–192. 42 Z. B. in: Der 15. Juni 1919, in: Die Arbeiterin (DAin) 5, Nr. 6 (Juni 1928) 6, 6.
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Revolution sollte eine wirtschaftliche Neuordnung43 ebenso umfassen wie jene des täglichen Zusammenlebens. In der Art und Weise der Umsetzung dieses Ziels lag der große Konfliktpunkt zwischen reformorientierten Sozialdemokrat*innen und Akteur*innen aus unterschiedlichen linksradikalen Zusammenhängen (vor allem der Kommunistischen Partei Deutschösterreichs (KP) und der schon genannten F.R.S.I.). Umstritten war auch, ob in einer Räte- oder in einer parlamentarischen Demokratie eine sozialistische Gesellschaft überhaupt errichtet werden kann.44 Vereinfacht gesagt: Die Linken in der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) waren am Ende des Krieges auf der Position der Zimmerwalder Rechten, die Linksradikalen auf jener der Zimmerwalder Linken bzw. der Deutschen Spartakusgruppe.45 Eine weitere Linksströmung bildete sich 1919 in der SDAP, die bald in zwei Gruppen zerfiel: Einerseits die Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft revolutionärer Arbeiterräte (Arbeitsgemeinschaft revolutionärer Sozialdemokraten Österreichs), die 1920 aus der Partei ausgeschlossen wurde und sich der KP anschloss, andererseits jene Gruppe der Neuen Linken, die blieb.46 Sozialdemokrat*innen lehnten eine revolutionäre Machtübernahme 1919 unter anderem zudem aufgrund des ungeklärten Anschlusses an Deutschland und anderen territorialen Fragen ab.47 Auch in welchem Ausmaß einzelne gesellschaftliche Bereiche revolutioniert werden sollten, wurde unterschiedlich beantwortet. Hier war ein utopisches Moment ausschlaggebend, das seinen konkreten – wenngleich nicht unbedingt realitätsnahen – Referenzpunkt im revolutionären Russland und im Rätemodell sah.
43 Also die »Auflösung der Produktionsformen und aller Machtmittel der herrschenden Klasse und namentlich des Staates«. R.W., Die auswärtige Politik des Proletariats, in: Kommunismus 1, H. 3 (8. 2. 1920) 1–7, 5. 44 Siehe zu den Debatten innerhalb der SDAP auch Rebhan (2018), »Demokratie ohne Demokraten«, bes. 143–170. 45 Die Bezeichnungen Zimmerwalder Rechte bzw. Linke beziehen sich auf Teilnehmer eines geheimen Treffens internationaler Sozialisten – unter ihnen Karl Radek, Lenin oder Leo Trotzki im September 1915 im Schweizer Ort Zimmerwald. Die Teilnehmer unterzeichneten ein Manifest, das sich gegen die Kriegspolitik und deren Unterstützung durch die sozialdemokratischen Parteien in Europa richtete. Über die Frage der revolutionären Ausrichtung der Gruppe spaltete sie sich in den Folgejahren; die Linke wollte die Kriegskrise für eine Revolution nutzen. 46 Vgl. Karin M. Schmidlechner, Arbeiterbewegung und revolutionäres Potential in Europa am Ende des Ersten Weltkrieges: Die Situation in Österreich, in: dies. u. Helmut Konrad (Hg.), Revolutionäres Potential in Europa am Ende des Ersten Weltkrieges. Die Rolle von Strukturen, Konjunkturen und Massenbewegungen (=Böhlaus zeitgeschichtliche Bibliothek, 16; Wien/Köln 1991) 17–26, 20–25. 47 Vgl. auch Otto Bauer, Bolschewismus oder Sozialdemokratie? (Wien 1921).
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Revolution?! Eine Einleitung
Russisch sprechen. Der europäische Revolutionszyklus ab 1917
In seiner Analyse der österreichischen Ereignisse 1918 schrieb Otto Bauer: »Die russische Revolution revolutionierte alle Völker der Habsburgermonarchie«.48 Die von ihm so genannte Österreichische Revolution sei, wie Bauers Bemerkungen verdeutlichen, nur in ihrem europäischen Kontext zu verstehen. Zunächst einmal waren die russischen Revolutionen von 1917 trans- bzw. internationale Ereignisse.49 Das zeigt sich schon an namhaften Akteur*innen, von denen viele sich im (zumeist Schweizer) Exil befanden, sich europaweit vernetzten und transnational agierten.50 Unter ihnen auch Frauen wie Ilona Duczynska Polanyi, Angelica Balabanova oder Elfriede Eisler-Friedländer. Aufstandsbewegungen am Ende des Krieges in Österreich und Deutschland reagierten nicht nur auf die Ereignisse in Russland und die Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk, sie formierten sich ebenso wie Hungerunruhen und Antikriegsproteste in allen kriegsführenden Staaten in unterschiedlicher Intensität.51 Die Revolutionen ereigneten sich im Kontext des Ersten Weltkrieges und wurden in allen kriegsführenden Staaten – ja sogar global –52 rezipiert, kommentiert und zu beeinflussen versucht, hatte sie doch Auswirkungen auf den Kriegsverlauf. Am Ende des Krieges zerfielen große Imperien: neben dem russischen Zarenreich das Osmanische Reich, das Deutsche Kaiserreich, die Habsburgermonarchie und das Königreich Italien, ausgelöst von revolutionären Bewegungen, die in
48 Bauer (1923), Die Österreichische Revolution, 111. Siehe auch Axel Weipert u. Fabian Bennewitz, Zum Schwerpunkt »An den Rändern der Revolution: Marginalisierung und Emanzipation im europäischen Revolutionszyklus ab 1917«, in: Arbeit – Bewegung – Geschichte 16, H. III (2017) 7–11. 49 Vgl. Sabine Dullin u. Brigitte Studer, Introduction. Communisme + transnational. L’équation retrouvée de l’internationalisme (premier xxe siècle), in: monde(s). histoire espaces relations 10 (2016) 9–32. 50 Vgl. Julia Richers, Osteuropäische Revolutionärinnen und Revolutionäre im Schweizer Exil, in: dies. u. Bernard Degen (Hg.), Zimmerwald und Kiental. Weltgeschichte auf dem Dorfe (Zürich 2015) 43–60. 51 Vgl. z. B. Axel Weipert, Widerstand im Zentrum der Macht. Antikriegsaktionen in Berlin und Wien im Vergleich, in: ders. et al. (Hg.), »Maschine zur Brutalisierung der Welt«. Der Erste Weltkrieg – Deutungen und Haltungen 1914 bis heute (Münster 2017) 200–226. Auch in neutralen Staaten gab es solche Proteste, etwa in Schweden 1917. Vgl. Håkan Blomqvist, Sweden’s Potato Revolution, in: Against the Current, Nr. 191 (November/Dezember 2017) 30– 32. 52 Vgl. Christian Koller, Räte auf drei Kontinenten. Die ungarische Räterepublik als Teil einer transnationalen Bewegung?, in: ders. u. Matthias Marschik (Hg.), Die ungarische Räterepublik 1919. Innenansichten – Außenperspektiven – Folgewirkungen (Wien 2018) 47–68, 47.
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den nachfolgenden Staaten auf unterschiedliche Weise fortwirkten.53 Der Historiker der Russischen Revolution, Stephen A. Smith, verwies darauf, dass die imperialistischen Staaten durch den Krieg in eine Krise rutschten, die die Revolutionen auslöste.54 Dan Diner strich hervor, dass in Deutschland und in Österreich (v. a. in Wien) die »Ereignisse einen unzweifelhaft sozialrevolutionären Charakter«55 angenommen hätten, während sich in den anderen Nachfolgestaaten der zerfallenden Imperien nationale Fragen und Klassenfragen vermischten, wobei erstere dominierten.56 Diese Beurteilung ist angesichts der Rätebewegungen in Italien oder Ungarn sowie der Versuche, eine auf nationaler Einheit beruhende Staatlichkeit in Österreich und Deutschland zu gründen, wohl zu differenzieren. Das Rätemodell war eine transnationale Idee. In den europäischen revolutionären Momenten des 19. Jahrhunderts hatten sich wiederholt Vorläuferformen gebildet – die berühmteste darunter war die Pariser Commune 1871.57 Die Räteorganisation der Commune wurde von deutschsprachigen Sozialist*innen vor allem vermittelt durch Karl Marx rezipiert.58 1917 und 1918 entstanden Arbeiterräte in Russland, Finnland, Deutschland, Österreich oder Ungarn. Tageszeitungen waren voll von Berichten über Arbeiterräte und sowjets, die sich in den ökonomischen und politischen Krisenjahren als Organisationsformen für Streikbewegungen und das alltägliche Leben vor allem dort etablierten, wo die Strukturen der organisierten Arbeiter*innenbewegung nicht mehr als ausreichend erachtet worden sind.59 Die europäischen Revolutionen waren Referenzpunkte, an denen revolutionäre Handlungen gemessen wurden. Sie boten damit ein »Skript« an, an das sich 53 Vgl. Verena Moritz, 1917. Österreichische Stimmen zur Russischen Revolution (Salzburg/ Wien 2017); Julia Richers, Die Resonanz der Revolution in der Welt, in: Heiko Haumann (Hg.), Die Russische Revolution 1917 (Köln/Weimar/Wien 22016) 105–118. 54 Vgl. Stephen A. Smith, Russia in Revolution. An Empire in Crisis 1890 to 1928 (Oxford 2017) 1–8. 55 Dan Diner, Das Jahrhundert verstehen. Eine universalhistorische Deutung (München 1999) 84. 56 Vgl. ebd., 79–85; Pieter M. Judson u. Marsha L. Rozenblit (Hg.), Constructing Nationalities in East Central Europe (Oxford/New York 2005). Zu Ungarn siehe etwa Árpád von Klimó, Trianon und der Diskurs über nationale Identität in »Rumpf-Ungarn« (1918–1938), in: Andreas Hilger u. Oliver von Wrochem (Hg.), Die geteilte Nation (=Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 107; München 2013) 11–26. 57 Vgl. Birte Förster, 1919. Ein Kontinent erfindet sich neu (Ditzingen 2018) 31. 58 Vgl. Karl Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, in: Karl Marx u. Friedrich Engels, Werke (MEW), Bd. 17 (Berlin 1962) 313–365; vgl. dazu auch Kristin Ross, L’imaginaire de la Commune (Paris 2015) 17f. 59 Vgl. Eliza Ablovatski, The Central European Revolutions of 1919 and the Myth of JudeoBolshevism, in: European Review of History 17, H. 3 (2010) 473–489; Peter Lösche, Rätesysteme im historischen Vergleich, in: Helga Grebing (Hg.), Die deutsche Revolution 1918/19 (Berlin 2008) 103–125, 107–109.
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die Narrationen der Ereignisse anzunähern versuchten.60 Historische Abhandlungen über Revolutionen wurden im Rahmen der Arbeiterbildungsbewegung zur Lektüre empfohlen: Die Sozialdemokratin Anna Frey, geb. Schlesinger, die Sekretariatstätigkeiten für den Reichsarbeiterrat, aber auch für den Soldatenrat übernommen hatte, nannte 1918 (noch vor Kriegsende) in einem Büchlein zur politischen Schulung von Arbeiter*innen Schriften zur Französische Revolution, den Revolutionen 1848 in Europa sowie 1870/71 in Frankreich und den russischen Revolutionen 1905 und 1917.61 Sie waren Vorbilder dafür, wie eine Revolution auszusehen hatte, wie dem 1917 erschienen Bericht der französischen Journalistin Maylie Markovitch entnommen werden kann: »Für Monate hatte man den Eindruck – wie es auch 1789 der Fall war – ›auf einem Vulkan zu tanzen‹«.62 Eine Recherche im Katalog der Österreichischen Nationalbibliothek liefert für die Jahre 1916 bis 1924 mehr als 600 Publikationen zu Revolutionen seit 1789. Das Thema war heiß. Die russischen Revolutionen wurden 1917 schließlich in einem Maße zum Schlagwort für revolutionäres Handeln, dass in Quellen von Polizeiberichten bis zu Selbstzeugnissen oft nur »russisch sprechen«63 als Codewort verwendete wurde. 1918 endete zwar der Erste Weltkrieg, aber in weiten Teilen Zentral- und Osteuropas bedeutete das keineswegs das Ende bewaffneter Konflikte bzw. weiterer Kriege, wie dem Russischen Bürgerkrieg oder den Kriegen in Ungarn 1919. Das Ende der Habsburgermonarchie ging nicht nur für Österreich, sondern auch für Ungarn durch die Friedensverträge von St. Germain und Trianon mit einem Verlust großer Teile des Territoriums und einer Reihe an Revolutionen in der unmittelbaren Nachkriegszeit einher: die sogenannte Asternrevolution (öszirózsás forradalom) mit der Ausrufung einer Republik durch Mihály Károlyi am 16. November 1918, die kurze Zeit bestehende ungarische Räterepublik von März bis August 1919 und schließlich der Sieg der »Konterrevolution« und die Machtübernahme Miklos Horthys 1920, der bis 1944 dem autoritären Staat vorstand.64 Außerhalb Russlands war die Rätediktatur in Budapest gemeinsam 60 Vgl. Hans Hautmann, Die revolutionäre Tradition in der österreichischen Geschichte, in: Anton Szanya (Hg.), Brüder, zur Sonne, zur Freiheit! Mythen und Legenden über das Revolutionäre (Wien 1997) 19–40, 27f. 61 Vgl. Anna Frey, Was ist Sozialismus? Ratgeber z. Studium s. Lehren (Wien 1918) 11–13. Die Revolution in Haiti fehlt in dieser Schrift. 62 »Depuis des mois, on avait l’impression, – comme ce fut le cas en 1789, – de ›danser sur un volcan.‹«: Marylie Markovitch (Mme Amélie de Néry), La revolution russe vue par une franҫaise (Paris 1917) 1 [Übersetzung V. H.]. 63 Siehe beispielsweise Hanna Sturm, Die Lebensgeschichte einer Arbeiterin. Vom Burgenland nach Ravensbrück (=Österreichische Texte zur Gesellschaftskritik, 8; Wien 1982) 186. 64 Vgl. Csilla Kollonay-Lehoczky, Development Defined by Paradoxes. Hungarian History and Female Suffrage, in: Blanca Rodríguez-Ruiz u. Ruth Rubio-Marín (Hg.), The Struggle for Female Suffrage in Europe. Voting to Become Citizen (=International Studies in Sociology and Social Anthropology, 122; Leiden/Boston 2012) 421–438; Miklos Szinai, Revolution und
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mit jener in München in der ersten Jahreshälfte 1919 der am weitesten fortgeschrittene Versuch, eine Räteherrschaft zu errichten. Auch in anderen Städten Deutschlands und in weiteren Ländern im »mitteleuropäischem Spannungsfeld«65, etwa in der Tschechoslowakei, bestanden Arbeiter-, Betriebs- und/oder Soldatenräte.66 Einige Historiker*innen sprachen von einer Periode des Bürgerkrieges in europäischer Dimension zwischen 1914 und 1945.67 Eric Hobsbawm nannte das 20. Jahrhundert überhaupt das Jahrhundert der Gewalt.68 Im Gegensatz zu dessen Konzept des kurzen 20. Jahrhunderts schlugen Donald Bloxham und Robert Gerwarth vor, die europäische Gewaltgeschichte in Form eines langen 20. Jahrhunderts zu periodisieren, das in den 1870er Jahren beginnt und durch ein durchgängiges Muster politischer Gewalt charakterisiert ist.69 Der in der Gewaltforschungsliteratur gesetzte Schwerpunkt auf die Zeit zwischen 1914 und 1945 und die Vorstellung eines europäischen Friedens in den Jahrzehnten davor und danach würden zudem die Präsenz von politischer Gewalt in den (ehemaligen) europäischen Kolonien sowie die kriegerischen Auseinandersetzungen im Südosten Europas ausblenden, kritisierten Bloxham und Gerwarth weiters.70 Auch in der jungen Republik Deutsch-Österreich wurde beispielsweise im Juli 1919 in den Innsbrucker Nachrichten von einem »Krieg im Frieden«71 geschrie-
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bürgerliche Gesellschaft in Ungarn 1918–1920, in: Siegfried Mattl u. Karl Stuhlpfarrer (Hg.), Revolution und bürgerliche Gesellschaft 1918/1920 (=Jahrbuch für Zeitgeschichte 1988/89; Wien/Salzburg 1989) 15–27. Wolfgang Maderthaner, Die eigenartige Größe der Beschränkung. Österreichs Revolution im mitteleuropäischen Spannungsfeld, in: Konrad/Maderthaner (Hg.) (2008), … der Rest ist Österreich, Bd. 1, 187–206. Am stärksten hatten sich Arbeiterräte im Industriegebiet Kladno entwickelt. Vgl. Thomas Kletecˇka, Soziale Perspektiven in der nationalen Revolution. Die Rätebewegung in Ostmitteleuropa 1918–1920, in: Hans Lemberg u. Peter Heumos (Hg.), Das Jahr 1919 in der Tschechoslowakei und in Ostmitteleuropa. Vorträge der Tagung des Collegium Carolinum in Bad Wiessee vom 24. bis 26. November 1989 (=Bad Wiesseer Tagungen des Collegium Carolinum, 17; München 1993) 117–128. Vgl. etwa Diner (1999), Das Jahrhundert verstehen, 21–78; Enzo Traverso, Im Bann der Gewalt. Der europäische Bürgerkrieg 1914–1945 (München 2008). Zur Kritik siehe James McMillan, War, in: Donald Bloxham u. Robert Gerwarth (Hg.), Political Violence in Twentieth-Century Europe (Cambridge et al. 2011) 40–86, 40–43. Vgl. Eric Hobsbawm, Ages of Extremes. The Short Twentieth Century, 1914–1991 (London 7 1995). Dieses Konzept geht von fünf Wellen aus: 1. das letzte Viertel des 19. Jahrhunderts seit der Balkankrise; 2. Erster Weltkrieg und Russische Revolution sowie die unmittelbare Nachkriegszeit; 3. 1936 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs; 4. Kalter Krieg und 5. die Zeit seit dem Ende des Kalten Krieges, die Rückkehr der ethnischen Konflikte in Südosteuropa und das Aufkommen neuer terroristischer Gewalthandlungen. Vgl. Donald Bloxham u. Robert Gerwarth, Introduction, in: dies. (Hg.) (2011), Political Violence, 1–10, 9. Vgl. ebd., 1–10. Ein Stück Krieg im Frieden, in: Innsbrucker Nachrichten 66, Nr. 153 (7. 7. 1919) 4.
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ben. Es gab bewaffnete Konflikte vor allem an der Grenze zum neu gegründeten Königreich Jugoslawien, allerdings war die Situation etwa im Vergleich zu Ungarn ruhig. Dort waren allein 1919/20 1.500 Menschen getötet worden.72 Die geringe Anzahl an Opfern von gewaltsamen, politisch motivierten Auseinandersetzungen veranlasste Historiker wie Fritz Kaufmann dazu, eine Revolution in Österreich überhaupt zu verneinen.73 Gerhard Botz hat für die gesamte Periode der Zwischenkriegszeit 859 Todesopfer und Schwerverletzte aufgrund politischer Gewaltereignisse ermittelt, darunter 200 Opfer zwischen Ende 1918 bis 1920.74 Allerdings gibt er weder eine Geschlechterverteilung an, noch verdeutlicht er, welche Ereignisse als politisch gelten und welche nicht. Diese im mittel- und osteuropäischen Vergleich geringe Anzahl an Toten in Österreich hatte Robert Gerwarth nach zwei Gründe: Zunächst waren die Kräfteverhältnisse zwischen christlichsozialen und deutschnationalen Heimwehrverbänden und dem sozialdemokratischen Republikanischen Schutzbund in den 1920er Jahren relativ ausgeglichen, so dass die Zurückhaltung der Heimwehren darauf zurückgeführt werden könne, dass ein Sieg in einem möglichen Bürgerkrieg nicht sicher war. Weiters beteiligten sich, Gewarth zufolge, in Österreich weniger radikale antibolschewistische und antisemitische Akteure als etwa 1919 an der Niederschlagung der Münchner Räterepublik oder 1921 in Oberschlesien.75 Sie kehrten erst Ende 1921 nach Österreich zurück und trugen als »transnationale Gewaltunternehmer«76 zu einer Radikalisierung der Stimmung bei. Mobilisiert worden waren sie durch die Erfahrungen der Niederlage und der Ereignisse in den 72 Vgl. Béla Bodó, Paramilitary Violence in Hungary after the First World War, in: East European Quarterly 38, H. 2 (2004) 129–173; ders. Actio und Reactio. Roter und Weißer Terror in Ungarn 1919–1921, in: Koller/Marschik (Hg.) (2018), Die ungarische Räterepublik, 69–82; Robert Gerwarth, »Krieg im Frieden«. Der »weiße Terror« in den Nachfolgestaaten des Habsburgerreiches in: Klaus Weinhauer u. Jörg Requate (Hg.), Gewalt ohne Ausweg? Terrorismus als Kommunikationsprozess in Europa seit dem 19. Jahrhundert (Frankfurt a.M./ New York 2013) 123–136, 126f. 73 Vgl. Fritz Kaufmann, Sozialdemokratie in Österreich. Idee und Geschichte einer Partei von 1889 bis zur Gegenwart (Wien/München 1978). 74 Vgl. Gerhard Botz, Gewaltkonjunkturen, Arbeitslosigkeit und gesellschaftliche Krisen. Formen politischer Gewalt und Gewaltstrategien in der Ersten Republik, in: Konrad/Maderthaner (Hg.) (2008), … der Rest ist Österreich, Bd. 1, 339–362, 339f. Botz rechnete aus, dass unter den Opfern 16 Prozent Kommunisten, 33 Prozent Sozialdemokraten, 15 Prozent Heimwehrmitglieder bzw. aus dem katholischen Lager, 20 Prozent Nationalsozialisten, 20 Prozent Teile der Exekutive und 6 Prozent Zivilisten waren. 75 1921 kam es in Oberschlesien zu einer Volksabstimmung, bei der sich fast 60 Prozent der Wähler*innen dafür aussprach, bei Deutschland zu bleiben. In den Versailler Friedensverträgen wurde dennoch festgelegt, dass Ostoberschlesien Polen angegliedert wird. Vgl. Philipp Ther, Schlesisch, deutsch oder polnisch? Identitätenwandel in Oberschlesien 1921–1956, in: ders. u. Kai Struve (Hg.), Die Grenzen der Nationen. Identitätenwandel in Oberschlesien in der Neuzeit (=Tagungen zur Ostmitteleuropa-Forschung, 15; Marburg 2002) 169–202. 76 Gerwarth (2013), »Krieg im Frieden«, 129.
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Nachbarländern bzw. in Russland und imaginierten eine »rote Gefahr«, der mit aller Gewalt begegnet werden müsse. Die Männer in den Heimwehren waren aber nicht nur Frontrückkehrer, in deren Selbstzeugnisse häufig von »Kränkung, Deklassierung und Existenznot«77 zu lesen ist, sondern auch Junge, die ihre mangelnde Fronterfahrung wettmachen wollten.78
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1.3.1 K/eine Revolution? Die Zeitgenoss*innen verwendeten vor allem zwei Begriffe zur Bezeichnung der Ereignisse im Spätherbst und Winter 1918: Umsturz und Revolution. Sozialdemokrat*innen sprachen eher von Revolution, Konservative oder Deutschnationale von Umsturz.79 Der Begriff der »Österreichischen Revolution« wurde von der Sozialdemokratie gebraucht, um diese von den »proletarischen« Revolutionen in Ungarn oder Russland abzugrenzen.80 Der relativ gewaltlose Übergang von der Monarchie zur Republik, der von einigen sogar als »legale Revolution« bezeichnet wurde,81 entsprach nicht dem Bild einer revolutionären Machtübernahme wie sie etwa in Russland stattgefunden hatte. In der Geschichtsschreibung ist der Charakter der Ereignisse von 1918 und der darauffolgenden Jahre umstritten – im Gegensatz zur Einschätzung der Zeitgenoss*innen. Diese hatten die radikalen Änderungen in der politischen Verfassung und der territorialen Ord-
77 Kurt Bauer, »Heil Deutschösterreich!« Das deutschnationale Lager zu Beginn der Ersten Republik, in: Konrad/Maderthaner (Hg.) (2008), … der Rest ist Österreich, Bd. 1, 261–280, 262. 78 Vgl. Gerwarth (2013), »Krieg im Frieden«, 126–134; Richard Georg Plaschka, Matrosen, Offiziere, Rebellen. Krisenkonfrontationen zur See, 1900–1918. Taku, Tsushima, Cornole/ Falkland, »Potemkin«, Wilhelmshaven, Cattaro, Bd. 1: Faktoren der Expansion (=Veröffentlichungen des österreichischen Ost- und Südosteuropa-Instituts, 12; Wien/Köln/Graz 1984) 8. 79 Vgl. Alfred Pfoser u. Andreas Weigl, Die erste Stunde Null. Gründungsjahre der österreichischen Republik 1918–1922 (Salzburg/Wien 2017) 229. Die Wortwahl allein ist aber kein ausreichender Hinweis für die politische Einstellung der Autor*innen, »Umsturz« wurde auch in sozialdemokratischen Publikationen der Zeit häufig verwendet. 80 Vgl. Emmerich Tálos, Staatliche Sozialpolitik in Österreich. Rekonstruktion und Analyse (Wien 1981) 147. 81 Die Bezeichnung geht auf Hans Kelsen, Jurist und Autor der ersten Verfassung der neuen Republik, zurück, und drückt aus, dass die Änderung der Staatsform mit Einverständnis Kaiser Karls I. stattgefunden hätte. Vgl. Fritz Dittlbacher, Die Revolution am Lande. Russische revolutionäre Ideen in der österreichischen Novemberrevolution, am Beispiel oberösterreichischer Landgemeinden und Kleinstädte (Dissertation Univ. Wien 1992) 6.
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nung dessen,82 was zuvor die Habsburgermonarchie gewesen war, durchaus als Umbruch bzw. Revolution wahrgenommen. Diese »doppelte Transformation« von Gebiet und Staatsform nannte Guenther Steiner ein Charakteristikum Österreichs, das es freilich mit anderen Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie teilte.83 »Wie soll man den Zerfall der Habsburgermonarchie anders bezeichnen denn als Revolution?«, fragte Ernst Hanisch daher vor über zwanzig Jahren. »Was in Jahrhunderten aufgebaut wurde, zerfiel in Wochen, Tagen, Stunden.«84 Ob sich die Ereignisse am Ende des Ersten Weltkrieges und in den unmittelbaren Monaten danach als Revolution fassen lassen, ist auch abhängig davon, wie Revolution definiert wird. Eric Hobsbawm wies 1993 darauf hin, dass der Blick von Historiker*innen auf Revolutionen von den historischen Beispielen beeinflusst war, wie etwa der Französischen oder der Russischen Revolution.85 Allgemeine Analysen von Revolution/en kommen ohne diese beiden nicht aus – oft ergänzt durch die Englische oder die Amerikanische Revolution.86 Der eurozentristische (weiße) Charakter dieser Analysen wird deutlich daran, dass zum Beispiel die Revolution in Haiti (1804) kaum herangezogen wird. Gemessen an diesen historischen Vorbildern musste sich die wenig gewaltvolle Österreichische Revolution wie eine »Westentaschenrevolution« ausnehmen. Allerdings: Hannah Arendt wies darauf hin, dass Gewalt ein zwar häufig auftretendes Merkmal von Revolutionen sei, diese aber im Gegensatz zur »Idee der Freiheit und [der] Erfahrung eines Neuanfangs« nicht per se definiere.87 Die 82 Siehe etwa Ute Weinmann, Die südslawische Frage und Jugoslawien. Grenzziehungen im Süden Österreichs unter besonderer Berücksichtigung der Kärntenproblematik, in: Konrad/ Maderthaner (Hg.) (2008), … der Rest ist Österreich, Bd. 1, 119–138; Béla Rásky, Vom Schärfen der Unschärfe. Die Grenze zwischen Österreich und Ungarn 1918 bis 1924, in: Konrad/Maderthaner (Hg.) (2008), … der Rest ist Österreich, Bd. 1, 139–158; sowie Walter Reichel, Tschechoslowakei–Österreich. Grenzziehung 1918/1919, in: Konrad/Maderthaner (Hg.) (2008), … der Rest ist Österreich, Bd. 1, 159–178. 83 Guenther Steiner, Wahre Demokratie? Transformation und Demokratieverständnis in der österreichischen Zwischenkriegszeit, in: Helmut Wohnout (Hg.), Demokratie und Geschichte. Jahrbuch des Karl von Vogelsang-Instituts zur Erforschung der Geschichte der christlichen Demokratie in Österreich 7/8, 2003/04 (Wien/Köln/Weimar 2005) 125–154, 125– 127. 84 Ernst Hanisch, Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert (Wien 1994) 263. 85 Vgl. E. J. Hobsbawm, Revolution, in: Roy Porter u. Mikulásˇ Teich (Hg.), Revolutions in History (Cambridge et al. 1993) 5–38, 6. 86 Im Rahmen dieser Untersuchung kann nicht detailliert auf die Revolutionsforschung als solche eingegangen werden – sie ist zu umfangreich. Bailey Stone gibt zum Beispiel in seiner kürzlich erschienen vergleichenden Studie an Stelle eines Literaturverzeichnisses eine dreißigseitige Auswahl an Lektürehinweisen. Bailey Stone, The Anatomy of Revolution Revisited. A Comparative Analysis of England, France, and Russia (New York 2014) 491–521. 87 Arendt (1974), Über die Revolution, 34.
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österreichische Historiographie hat sich jedenfalls ausführlich an dem Thema abgearbeitet: Reicht es etwa eine Revolution als eine »abrupte Änderung bestehender Rechtsordnungen«88 zu fassen? Das »Gesetz über die Staats- und Regierungsform von Deutschösterreich«, das am 12. November 1918 erlassen wurde, kann als Bruch bestehender Rechtskontinuität verstanden werden und bedeutete damit einen revolutionären Gründungsakt.89 War dies nun eine »Revolution von oben«,90 wie Hanisch konstatiert, oder doch Teil »nationaler und demokratischer Revolutionen«91 von unten? Die Vorstellung der Revolution von oben geht davon aus, dass – im Unterschied zu den großen europäischen Revolutionen – weite Kreise der Bevölkerung nicht in die revolutionären Vorgänge eingebunden waren.92 Im Fall der Gründung der Ersten Republik ist, obzwar ein legaler Bruch mit der Monarchie stattgefunden hatte, zudem eine politische Kontinuität vom Reichsrat zum Staatsrat festzustellen. Dies ist kein Alleinstellungsmerkmal der Republik Deutschösterreich. Pieter M. Judson etwa urteilte über das Ende der Monarchie, dass der November 1918, entgegen der Auffassung von Zeitgenoss*innen und Historiker*innen, kein radikaler Bruch der Nachfolgestaaten mit den kaiserlichen Institutionen, Praktiken oder Rechtssystemen gewesen sei. Das Ende der Monarchie habe, so Judson, noch nicht einmal den Alltag des Großteils der Bevölkerung geändert.93 Wenn aber auch die Produktionsmittel bzw. die ökonomische und politische Herrschaft nicht vollständig von einer anderen gesellschaftlichen Schicht übernommen worden war wie in Russland, so war doch der Kaiser von den Reichsratsabgeordneten zur Abdankung gezwungen und die Armee durch eine Volkswehr ersetzt worden.94 Die Einführung des allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlrechts, das auch Frauen volle politische Rechte zuerkannte, darf als weiteres Anzeichen für eine »neue Welt« nicht unterschätzt werden.95 Das Frauenwahlrecht ist gemeinsam mit anderen Reformen eines der sichtbarsten Resultate der politischen Revolution in Österreich und in den meisten anderen
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Dittlbacher (1992), Die Revolution am Lande, 7. Vgl. Schmidlechner (1991), Arbeiterbewegung und revolutionäres Potential, 19. Vgl. Hanisch (1994), Der lange Schatten, 263–278. Vgl. Maderthaner (2008), Die eigenartige Größe der Beschränkung, 187–206. Dabei ist zu beachten, dass in der Revolutionsforschung unterschiedliche Phasen von Revolutionen ausgemacht werden, die »von unten« bzw. »von oben« geprägt werden, wie etwa im Fall der Russischen Revolution. Vgl. Stone (2014), The Anatomy of Revolution Revisited, 474–489. 93 Vgl. Pieter M. Judson, The Habsburg Empire. A New History (Cambridge, MA/London 2016) 387. 94 Vgl. Schmidlechner (1991), Arbeiterbewegung und revolutionäres Potential, 20f. 95 Siehe dazu auch Johanna Gehmacher u. Maria Mesner, Dis/Kontinuitäten. Geschlechterordnungen und Periodisierungen im langen 20. Jahrhundert, in: L’Homme. Z.F.G. 25, H. 2 (2014) 87–101.
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Nachfolgestaaten der Monarchie, worauf Gabriella Hauch hingewiesen hat.96 Die Wichtigkeit des Frauenwahlrechts betonten auch die Zeitgenossinnen und erinnerten es in ihren Rückblicken auf 1918.97 Die Transformation der Monarchie zur Ersten Republik hatte zumindest für Teile der Bevölkerung einen revolutionären Charakter. Die Arbeiter- und Soldatenräte waren ein Ergebnis dieser revolutionären Transformationsprozesse und trieben – in der unmittelbaren Nachkriegszeit – gesellschaftliche Umwälzungen voran. Arbeiterräte waren während des großen Jännerstreiks 1918 als »Kampforgane im Massenstreik und in Massenbewegungen«98, wie Hans Hautmann es formulierte, gegründet worden und konnten auf Vorläufer in den Hungeraufständen und der Massenstreikbewegungen der vorausgegangenen Jahre (etwa in Form von Arbeiterausschüssen) zurückgreifen.99 Insgesamt dürfte es in Österreich bis zu ihrer formalen Auflösung im Jahr 1924 sechs Landesarbeiterräte, fünf Kreisarbeiterräte, 41 Bezirksarbeiterräte und 495 Ortsarbeiterräte (inkl. den Wiener Bezirksarbeiterräten) gegeben haben. Arbeiterräte formierten sich vor allem in den industriell geprägten Gebieten. Ein Soldatenrat der Volkswehr in Wien gründete sich am 30. Oktober 1918, in Linz einen Tag später.100 Arbeiterräte bestanden zwar schon nahezu ein Jahr bevor die Monarchie zerfiel, Soldatenräte spielten aber in den Oktober- und Novembertagen 1918 eine größere Rolle, folgt man den Erinnerungstexten etwa von Julius Deutsch oder Otto Bauer. Bedeutend sollten die Arbeiterräte vor allem 1919 in Wien und einigen Industriezentren werden. Im übrigen Land dominierten Blöcke von Bauern und Bürgern. In Deutschland hingegen waren Arbeiter- und Soldatenräte gleichermaßen bei der Gründung der Republik präsent, die Geschichte der deutschen Novemberrevolution 1918 und der darauffolgenden Jahre war von großen Spannungen und offenen, blutigen Konflikten geprägt. Dies blieb in Österreich aus, wo sich die Sozialdemokratie nach dem Krieg nicht spaltete und linksradikale Gruppen sowie Parteien zahlenmäßig klein blieben. Auch die Ar96 Vgl. Gabriella Hauch, Welche Welt? Welche Politik? Zum Geschlecht in Revolte, Rätebewegung, Parteien und Parlament, in: Konrad/Maderthaner (Hg.) (2008), … der Rest ist Österreich, Bd. 1, 317–338. 97 Vgl. Die Revolution befreit die Frauen, in: Arbeiterinnen-Zeitung 27, Nr. 23 (19. 11. 1918) 2; Die Frauen und die Nationalversammlung. Das Frauenwahlrecht, in: Die Revolutionäre Proletarierin (DRP) 1, Nr. 2 (8. 2. 1919) 5f.; als Beispiel für einen Erinnerungstext siehe Die Nachwirkungen von Krieg und Revolution und die Frauen, in: Frauentag (1929) 11f. 98 Hans Hautmann, Geschichte der Rätebewegung in Österreich 1918–1924 (Wien/Zürich 1987) 19. 99 Vgl. Hauch (2008), Welche Welt?, 317–338. Zur Geschichte der russischen Revolutionen siehe Smith (2017), Russia in Revolution. 100 Vgl. Die Geburtsstunde des Soldatenrats, in: Oberösterreich und die November Revolution (1928), 62–65.
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beiterräte waren weitgehend sozialdemokratisch dominiert, es kam daher zu weniger Konflikten mit der Regierungskoalition, an der die SDAP bis Mitte 1920 beteiligt war.101 In Reaktion auf Arbeiter- und Soldatenräte und in Opposition zur parlamentarischen Demokratie von rechter bzw. konservativer Seite bildeten sich vor allem im Frühjahr 1919 auch (insbesondere christlichsoziale und großdeutsche) Bürger- und Ständeräte.102 In Oberösterreich beispielsweise organisierten sich zu Jahresbeginn 1918 »Deutsche Volksräte«, etwa in Steyr. Deren Anspruch war es zwar, das gesamte »deutsche Volk« zu vertreten, sie bestanden aber hauptsächlich aus christlichsozialen und deutschnationalen Würdenträgern. In Einzelfällen griffen diese (Orts-)Volksräte (oder manchmal auch Orts-Nationalräte) auch die Idee des Rätesystems auf, mit dem Ziel, die gesamte Bevölkerung einzubinden wie etwa im Welser Volksrat im November 1918. Diese Art von Volksräten wurde im Spätherbst und Winter 1918 von Seiten der Provisorischen Nationalversammlung (unter Beteiligung der sozialdemokratischen Abgeordneten) aufgelöst, um eine Dopplung der Verwaltung und Regierungsbehörden zu verhindern.103 Die am Lande entstandenen Selbstverwaltungsorgane zeugen vom umfassenden Zerfall der Habsburgermonarchie und waren eine Konsequenz der Niederlage im Krieg.104 Die Entstehung von selbstorganisierten Institutionen – Räten – ist Anzeichen eines revolutionären Neubeginns, wie ihn Arendt als konstitutiv für eine Revolution gesetzt hatte.105 Angesichts ihrer relativ unblutigen Entstehungsgeschichte und der insbesondere in der provisorischen Regierung und in den ersten Nachkriegsjahren funktionierenden Ausverhandlung politischer Verhältnisse zwischen bürgerlichem und sozialistischem Lager klassifizierte Hanisch die Österreichische Revolution »als einen Typus, der eine tendenziell egalitäre Staatsbürgergesellschaft
101 Vgl. Mark Jones, Founding Weimar. Violence and the German Revolution of 1918–1919 (Cambridge 2016); Schmidlechner (1991), Arbeiterbewegung und revolutionäres Potential, 25f. 102 Vgl. Robert Kriechbaumer (Hg.), »Dieses Österreich retten …«. Die Protokolle der Parteitage der Christlichsozialen Partei in der ersten Republik (=Schriftenreihe des Forschungsinstitutes für Politisch-Historische Studien der Dr.-Wilfried-Haslauer-Bibliothek, Salzburg, 27; Wien et al. 2007). In den Diskussionen der Arbeiterräte wurden von linken Sozialdemokrat*innen und Kommunist*innen die Versuche von Bürgerräten eher misstrauisch beäugt. Es hieß u. a., dass die »Schaffung von Bürgerräten […] mit einer großen Gefahr für die Reinheit der […] unleugbar guten Idee der Räteverfassung verbunden« sei. Humanus (=Hermann Schwarz), Bürger-Räte? Gedanken eines Linksgläubigen (=Der Aufstieg, 14/15; Wien 1919) 8f. (Hervorhebung im Orig.). 103 Vgl. Dittlbacher (1992), Die Revolution am Lande, 88–107. 104 Vgl. Gerhard Botz, Gewalt in der Politik. Attentat, Zusammenstöße, Putschversuche, Unruhen in Österreich 1918–1939 (München 21983) 25–28. 105 Siehe dazu Arendt (1974), Über die Revolution, bes. 277–329.
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mit einer stark sozialstaatlichen Komponente herstellen wollte«.106 Auch Karin Maria Schmidlechner sah die Bedeutung der österreichischen Revolution vor allem in der Durchsetzung sozialer Programme in jener kurzen Phase nach dem Krieg, in der die Sozialdemokratie politische Machtpositionen besetzte.107
1.3.2 Forschungsüberblick Die revolutionären Ereignisse in Österreich wurden von Beginn an von Publikationen begleitet. Diese Veröffentlichungen kennzeichnet der doppelte Charakter einer politischen Analyse und einer Quelle für spätere Historiographie, wie auch im Vorwort der im Umfeld der späteren KP veröffentlichten Broschüre zum Jännerstreik 1918 zu lesen ist. Sie sollten »eine Quelle der Belehrung nicht nur für die Historiker der Arbeiterklasse, sondern auch für jeden denkenden Arbeiter Österreichs und Deutschlands«108 sein. Dieses Geschichtsbewusstsein – neben der Intervention in die politischen zeitgenössischen Debatten – zeichnete sozialdemokratische und kommunistische Publikationen gleichermaßen aus.109 Zu sehen ist das auch anhand der sorgfältig kompilierten Materialien, die der Linzer Arbeiterrat, Sozialdemokrat und späterer Schutzbundführer Robert Bernaschek bereits im Mai 1924 Friedrich Adler zur Aufbewahrung übergab.110 Vom Sekretär des Reichsvollzugsausschusses der Arbeiterräte, Karl Heinz, ist ein Manuskript einer Geschichte der österreichischen Arbeiterräte aus den 1920er Jahren in Archiven vorhanden.111 All das zeugt gemeinsam mit Publikationen anlässlich der ersten zehn Jahre der Republik vom Bewusstsein, dass Tradie-
106 Hanisch (1994), Der lange Schatten, 275; vgl. ders. (2011), Der große Illusionist, 145f. 107 Vgl. Schmidlechner (1991), Arbeiterbewegung und revolutionäres Potential, 20. 108 Der Januarausstand der österreichischen Arbeiterschaft und der Verrat der sozial-patriotischen Führer (Zürich 1918) 1. 109 Siehe Max Adler, Demokratie und Rätesystem (=Sozialistische Bücherei, 8; Wien 1919); Bauer (1923), Die Österreichische Revolution; Julius Braunthal, Die Arbeiterräte in Deutschösterreich. Ihre Geschichte und ihre Politik. Die Beratungen und Beschlüsse der II. Reichskonferenz. Das Organisationsstatut. Im Auftrage des Reichsvollzugsausschusses der Arbeiterräte (=Sozialistische Bücherei, 15; Wien 1919); Deutsch (1921), Aus Österreichs Revolution; Elfriede Friedländer u. Karl Tomann, Ist Deutsch-Österreich reif zur Räterepublik? Reden von Karl Tomann und Elfriede Friedländer auf der 2. Reichskonferenz der Arbeiterräte Deutsch-Österreichs am 30. Juni 1919. Mit einer Einleitung (Wien 1919). 110 Siehe Archiv des Vereins für Geschichte der ArbeiterInnenbewegung (VGA), Wien, ParteiArchiv vor 1934 (PAv1934), M. 27: Arbeiterrat Oberösterreich 1917–1919/2. Arbeiterrat Oberösterreich. Zur Geschichte des Arbeiterrates Oberösterreich, mit einem Begleitschreiben von Robert Bernaschek an Friedrich Adler vom 17. 5. 1924. 111 VGA, PAv1934, M. 21a–c. Geschichte der österreichischen Arbeiterräte. Typoskript Karl Heinz, Nachlass K. Seitz; International Institute for Social History, Amsterdam (IISH), Karl Heinz Papers.
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rungswürdiges geschehen ist – und dass die Akteur*innen die Deutung der Ereignisse nicht dem Zufall überlassen wollten. In den späten 1960er Jahren setzte die geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit der österreichischen Rätebewegung ein. Hans Hautmann, der »Chronist« der österreichischen Rätebewegung, wie ihn der Historiker Hannes Leidinger nannte,112 widmete sich ausführlich dem Thema und verfasste zentrale Studien und mehrere Artikel dazu.113 1969 veröffentlichte auch Rolf Reventlow eine Geschichte der Rätebewegung.114 In den späten 1960er und 1970er Jahren ist aufgrund der damaligen Konjunktur der Geschichte der Arbeiter*innenbewegung und der zeitgenössischen Kritik am Parlamentarismus im Kontext der 68er-Bewegung vor allem in der BRD ein gesteigertes Interesse an der Rätebewegung in Mitteleuropa und Rätetheorie festzustellen.115 Hinzu kommen in Österreich Publikationen anlässlich der Republiksgründungs-Jubiläen, besonders zur 50-Jahres-Marke 1968/69.116 Gerhard Botz hat sich in den 1970er und 112 Hannes Leidinger, »… von vornherein provisorischer Natur«. Rätebewegung und Kommunismus in Österreich 1918–1924, in: Stefan Karner u. Lorenz Mikoletzky (Hg.), Österreich. 90 Jahre Republik. Beitragsband der Ausstellung im Parlament (Innsbruck et al. 2008) 91–99, 91. 113 Siehe seine Habilitation: Hautmann (1987), Geschichte der Rätebewegung; sowie die publizierte Dissertation: ders., Die verlorene Räterepublik. Am Beispiel der Kommunistischen Partei Deutschösterreichs (Wien 21971). Unter zahlreichen Artikeln sei hier nur folgender genannt: ders., Die Arbeiter von Wien in der revolutionären Periode 1917–1919, in: Konrad/ Schmidlechner (Hg.) (1991), Revolutionäres Potential in Europa, 89–99. 114 Vgl. Rolf Reventlow, Zwischen Alliierten und Bolschewiken. Arbeiterräte in Österreich 1918 bis 1923 (Wien 1969). 115 Wolfgang Niess machte die (Un-)Sichtbarkeit der deutschen Novemberrevolution 1918 an den jeweiligen politischen Konjunkturen und deren Einfluss auf die Geschichtsforschung fest. Vgl. Wolfgang Niess, Die Revolution von 1918/19 in der deutschen Geschichtsschreibung. Deutungen von der Weimarer Republik bis ins 21. Jahrhundert (Berlin/Boston 2013). Zu Österreich siehe unter anderem Isabella Ackerl (Hg.), Österreich November 1918. Die Entstehung der Ersten Republik. Protokoll des Symposiums in Wien am 24. und 25. Oktober 1978 (=Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Kommission zur Erforschung der Geschichte der Republik Österreich, 9; Wien 1986); Francis L. Carsten, Revolution in Mitteleuropa. 1918–1919 (Köln 1973); Peter Hallstein, Die österreichischen Arbeiterräte in der zeitgenössischen staatstheoretischen Diskussion (Dissertation Univ. Wien 1973); Erwin Weissel, Die Ohnmacht des Sieges. Arbeiterschaft und Sozialisierung nach dem Ersten Weltkrieg in Österreich (Wien 1976). 116 Siehe hierzu auch den hilfreichen Forschungsüberblick von Karin Maria Schmidlechner (1991), Arbeiterbewegung und revolutionäres Potential, 17f. Einige der von ihr genannten Arbeiten sind auch für das hier Folgende relevant, etwa Rudolf Neck (Hg.), Arbeiterschaft und Staat im Ersten Weltkrieg 1914–1918. A. Quellen. I. Der Staat (2. Vom Juni 1917 bis zum Ende der Donaumonarchie im November 1918) (=Veröffentlichungen der Arbeitsgemeinschaft für Geschichte der Arbeiterbewegung in Österreich, 4; Wien 1968); ders. (Hg.), Arbeiterschaft und Staat im Ersten Weltkrieg 1914–1918. A. Quellen. I. Der Staat (1. Vom Kriegsbeginn bis zum Prozeß Friedrich Adlers, August 1914–Mai 1917) (=Veröffentlichungen der Arbeitsgemeinschaft für Geschichte der Arbeiterbewegung in Österreich, 3; Wien 1964). Vgl. u. a. Wolfdieter Bihl, 1918 – das Ende der österreich-ungarischen Monar-
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1980er Jahren intensiv mit der Geschichte der Ersten Republik und ihrer gewalttätigen Ereignisse auseinandergesetzt und ist damit auch für die vorliegende Studie von Relevanz.117 Abgesehen von Fritz Kellers Broschüre, die Ende der 1990er Jahre als Zweitauflage erschienen ist,118 wurden seit den späten 1980er Jahren vor allem akademische Qualifikationsarbeiten und kleinere Aufsätze verfasst.119 In Publikationen zur Parteigeschichte der KP wurde die Geschichte der Arbeiterräte teils mitbehandelt.120 Sicherlich nicht zuletzt aufgrund der Zentenariumsfeier 2018 kam es erneut zu einer Konjunktur von Publikationen zu den revolutionären Jahren 1917 bis 1919.121 Zu nennen sind hier Peter Haumers
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chie, der Anfang der Republik Österreich (Wien 1968); Ludwig Jedlicka, Ende und Anfang Österreich 1918/19. Wien und die Bundesländer (Salzburg 1969); Gottfried Köfner, Eine oder wieviele Revolutionen? Das Verhältnis zwischen Staat und Ländern in Deutschösterreich im Oktober und November 1918 (Wien 1979); Mattl/Stuhlpfarrer (Hg.) (1989), Revolution und bürgerliche Gesellschaft; Karl R. Stadler, Hypothek auf die Zukunft. Die Entstehung der österreichischen Republik 1918–1921 (Wien et al. 1968). Vgl. Gerhard Botz, Krisenzonen einer Demokratie. Gewalt, Streik und Konfliktunterdrückung in Österreich seit 1918 (=Studien zur Historischen Sozialwissenschaft, 9; Frankfurt a.M./New York 1987); ders. (1983), Gewalt in der Politik. Fritz Keller, Die Arbeiter- und Soldatenräte in Österreich 1918–23. Versuch einer Analyse [1971] (Wien 1998). Besonders relevant waren: Dittlbacher (1992), Die Revolution am Lande; Josef Stockinger, Die Entwicklung der Arbeiterbewegung in der Stadt Steyr und ihrer Umgebung von 1918 bis 1934 (Dissertation Univ. Salzburg 1986); Melanie Strohmaier, Deutschösterreich und Deutschland in den Jahren 1918 und 1919. Optionen für eine künftige Staatsform zwischen Streiks und politisch organisiertem Vorgehen. Die Bedeutung der Rätebewegung für die Staatsform in Deutschösterreich und Deutschland nach dem Ende der Monarchie (Diplomarbeit Univ. Wien 1998). Zu Aufsätzen siehe etwa: Hauch (2008), Welche Welt?; Leidinger (2008), »… von vornherein provisorischer Natur«; Anton Staudinger, Rätebewegung und Approvisierungswesen in Oberösterreich. Zur Einbindung der oberösterreichischen Arbeiter- und Soldatenräte in den behördlichen Ernährungsdienst in der Anfangsphase der österreichischen Republik, in: Isabella Ackerl, Walter Hummelbeger u. Hans Mommsen (Hg.), Politik und Gesellschaft im alten und neuen Österreich. Festschrift für Rudolf Neck zum 60. Geburtstag, Bd. 2 (Wien 1981) 66–82. Siehe den umfassenden und kritischen Forschungsüberblick von Manfred Mugrauer, Die Historiographie der KPÖ über ihre eigene Geschichte, in: ders. u. Claudia Kuretsidis-Haider (Hg.), Geschichtsschreibung als herrschaftskritische Aufgabe. Beiträge zur ArbeiterInnenbewegung, Justizgeschichte und österreichischen Geschichte im 20. Jahrhundert. Festschrift für Hans Hautmann zum 70. Geburtstag (Innsbruck/Wien/Bozen 2013) 205–222. Hans Hautmann verfasste auch den Abschnitt über 1917–1920 in einem Band zur Geschichte der KP. Vgl. Geschichte der Kommunistischen Partei Österreichs 1918–1955. Kurzer Abriss. Von einem Autorenkollektiv der Historischen Kommission beim ZK der KPÖ unter Leitung von Friedl Fürnberg (Wien 1977). Neben diesem Beitrag und Hautmanns Büchern waren weiters bedeutend: Barry McLoughlin, Hannes Leidinger u. Verena Moritz, Kommunismus in Österreich 1918–1938 (Innsbruck et al. 2009); und Herbert Steiner, Die Kommunistische Partei Österreichs von 1918–1933. Bibliographische Bemerkungen (=Marburger Abhandlungen zur Politischen Wissenschaft, 11; Wien 1968). Siehe etwa Günter Bischof, Fritz Plasser u. Peter Berger (Hg.), From Empire to Republic. Post-World War I Austria (=Contemporary Austrian Studies, 19; New Orleans/Innsbruck
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Arbeiten zur F.R.S.I., Verena Moritz’ und Hannes Leidingers Bücher zur KP, den Beziehungen zu Sowjetrussland bzw. zu den Heimkehrern aus der Kriegsgefangenschaft, und rezente Publikationen mehrerer Autor*innen zur jüdischen sozialistischen Arbeiter*innenbewegung Poale Zion.122 Aktuell werden auch die Ereignisse 1918/19 in Deutschland bearbeitet. »Zurück ins Bewusstsein« nannte Marcel Bois kürzlich seinen Forschungsüberblick über die Geschichtsschreibung zur deutschen Novemberrevolution 1918 und der unmittelbar folgenden Jahre.123 Ein Sammelband 2010 hatte noch eine »vergessene« Revolution konstatiert, dieser Schluss ist angesichts der Forschungen, die seitdem zu 1918 und revolutionären Bewegungen erschienen sind oder gegenwärtig durchgeführt werden, nicht mehr zu ziehen.124 2010); Mark Cornwall u. John Paul Newman (Hg.), Sacrifice and Rebirth. The Legacy of the Last Habsburg War (=Austrian and Habsburg Studies, 18; New York/Oxford 2016); Koller/ Marschik (Hg.) (2018), Die ungarische Räterepublik; Robert Kriechbaumer, Michaela Maier, Maria Mesner u. Helmut Wohnout (Hg), Die junge Republik. Österreich 1918/19 (Wien 2018); Anna Leder, Mario Memoli u. Andreas Pavlic (Hg.), Die Rätebewegung in Österreich (Wien 2018); Ingrid Sharp u. Matthew Stibbe (Hg.), Women Activists Between War and Peace. Europe, 1918–1923 (London/New York 2017); dies. (Hg.), Aftermaths of War. Women’s Movements and Female Activists, 1918–1923 (=History of Warfare, 63; Boston 2011); Tooze (2015), Sintflut; Gabriele Kohlbauer-Fritz u. Sabine Bergler (Hg.), Genosse.Jude. Wir wollten nur das Paradies auf Erden (Wien 2017); Wolfgang Häusler, Revolution und Demokratie in Österreich 1789–1848–1918. Ideen können nicht erschossen werden (Wien 2017); Hannes Leidinger, Der Untergang der Habsburgermonarchie (Innsbruck 2017). 122 Siehe Arbeit – Bewegung – Geschichte. Zeitschrift für historische Studien 16, H. III: An den Rändern der Revolution. Marginalisierung und Emanzipation im internationalen Revolutionszyklus ab 1917 (2017); Arbeit – Bewegung – Geschichte 16, H. II: Judentum und Revolution. Der Weltverband Poale Zion zwischen Zionismus und Kommunismus (2017); Peter Haumer, Geschichte der F.R.S.I. Die Föderation Revolutionärer Sozialisten – Internationale und die österreichische Revolution 1918/19 (Wien 2018) (mit vielem Dank an Peter Haumer für die Überlassung des Manuskripts); ders., Julius Dickmann. »daß die Masse sich selbst begreifen lernt«. Politische Biografie und ausgewählte Schriften (Wien 2015); ders., »Bitte schicken Sie uns einige Maschinengewehre und Zigaretten«. Leo Rothziegel (5. 12. 1989–22. 4. 1919), jüdischer Proletarier und Revolutionär (Wien 2015); Hannes Leidinger u. Verena Moritz, Gefangenschaft, Revolution, Heimkehr. Die Bedeutung der Kriegsgefangenenproblematik für die Geschichte des Kommunismus in Mittel- und Osteuropa 1917–1920 (Wien/Köln/Weimar 2003); Verena Moritz et al., Gegenwelten. Aspekte der österreichischsowjetischen Beziehungen 1918–1938 (St. Pölten/Salzburg/Wien 2013); Thomas Soxberger, Revolution am Donaukanal. Jiddische Kultur und Politik in Wien 1904 bis 1938 (Wien 2013); Jan Rybak, Everyday Zionism in East-Central Europe, 1914–1920. Nation-Building in War and Revolution (Dissertation European University Institute Florence 2019). 123 Vgl. Marcel Bois, Zurück ins Bewusstsein. Ein kurzer Ausblick auf hundert Jahre Revolution und Kriegsende, in: Weipert et al. (Hg.) (2017), »Maschine zur Brutalisierung der Welt«, 76– 94. 124 Alexander Gallus (Hg.), Die vergessene Revolution von 1918/19 (Göttingen 2010). Zuletzt erschienen u. a. die für die vorliegende Arbeit wichtigen Publikationen: Julian Aulke, Räume der Revolution. Kulturelle Verräumlichung von Politisierungsprozessen während der Revolution 1918–1920 (Stuttgart 2015); Robert Gerwarth, Die größte aller Revolutionen. November 1918 und der Aufbruch in eine neue Zeit. Aus dem Englischen von Alexander Weber
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Die bestehende Literatur zur Rätebewegung in Österreich kann also als umfangreich bezeichnet werden, wenngleich ihr Schwerpunkt auf Wien und politikhistorischen Forschungen liegt. Sie war zudem lange Zeit dadurch charakterisiert, dass sich die Autoren [sic!] mehrheitlich der Frage des Verhältnisses zwischen der KP und SDAP bzw. deren Rollen widmeten. Damit aktualisierten und reproduzierten sie mitunter die politische Frontenbildung der unmittelbaren Nachkriegs- und Zwischenkriegszeit. Das mag nicht überraschen, sind doch viele Publikationen unmittelbar in Parteienumfeldern erschienen, vielfach waren die Autoren den Akteur*innen auch persönlich nahe.125 In der bestehenden Literatur zu linksradikalen Bewegungen in Österreich fällt eines sehr deutlich auf: die Lücke hinsichtlich ihrer Frauen- und Geschlechtergeschichte. Hat Karin M. Schmidlechner in ihrem Forschungsüberblick 1991 noch festgestellt, dass »neuerdings erfreulicherweise auch geschlechtsspezifische Aspekte miteinbezogen werden«,126 so muss mit Blick auf die aktuelle Forschungslandschaft konstatiert werden, dass dies fast 30 Jahre später nicht ausreichend umgesetzt worden ist. Sowohl in der Historiographie der Rätebewegung in Österreich, also auch der Kommunistischen Partei oder anderer linksradikaler Strömungen im und am Ende des Weltkrieges, sind Publikationen zu beteiligten Frauen auf der einen und zu Geschlechterverhältnissen auf der anderen Seite spärlich – wohingegen in den letzten vierzig Jahren zu (prominenten) Sozialdemokratinnen und ihren Organisationen und Netzwerken umfangreicher geforscht und geschrieben wurde.127 Neben Gabriella Hauchs Aufsätzen zu Revolution und Rätebewegung sowie ihren aktuellen Forschungen zur Familie (München 2018); Grebing (Hg.) (2008), Die deutsche Revolution; Jones (2016), Founding Weimar; Klaus Weinhauer, Anthony McElligott u. Kirsten Heinsohn (Hg.), Germany 1916– 1923. A Revolution in Context (=Histoire, 60; Bielefeld 2015); Axel Weipert, Die Zweite Revolution. Rätebewegung in Berlin 1919/1920 (Berlin 2015); Knut-Hinrik Kollex, Impulse und Parallelen. Die russischen Revolutionen und der Kieler Matrosenaufstand, in: Alexander Trunk u. Nazar Panych (Hg.), Erster Weltkrieg im östlichen Europa und die russischen Revolutionen 1917 (=Schriften des Zentrums für Osteuropa-Studien der Universität Kiel, 9; Frankfurt a.M. 2019) 165–191. 125 So stand beispielsweise Hans Hautmann der KP nahe und Rolf Reventlow war ein Vertrauter des sozialdemokratischen Arbeiterrates Karl Heinz. Vgl. hierzu auch die Einschätzung in Leidinger (2008), »… von vornherein provisorischer Natur«. 126 Schmidlechner (1991), Arbeiterbewegung und revolutionäres Potential, 18. Viele Arbeiten, die in den 1970er und 80er Jahren entstanden, sind auch heute noch maßgeblich wie etwa: Sigrid Augeneder, Arbeiterinnen im Ersten Weltkrieg. Lebens- und Arbeitsbedingungen proletarischer Frauen in Österreich (Wien 1987). 127 Vgl. u. a. Veronika Duma, Rosa Jochmann. Politische Akteurin und Zeitzeugin (Wien 2019); Gabriella Hauch, Frauen bewegen Politik. Österreich 1848–1938 (=Studien zur Frauen- und Geschlechterforschung, 10; Innsbruck et al. 2009); Institut für Gewerkschafts- und AKGeschichte (Hg.), »Man ist ja schon zufrieden, wenn man arbeiten kann«. Käthe Leichter und ihre politische Aktualität (Wien 2003); Gernot Trausmuth, »Ich fürchte niemanden.« Adelheid Popp und der Kampf für das Frauenwahlrecht (Wien/Berlin 2019).
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Strasser gibt es eine Dissertation des französischen Historikers Paul Pasteur zu Sozialistinnen in Österreich und eine sehr nützliche Diplomarbeit von Karin Schneider zu Frauen in der KP.128 Umfangreich beforscht wurde zudem auch Elfriede Eisler-Friedländer, die als Ruth Fischer für kurze Zeit die Geschicke der Deutschen Kommunistischen Partei bestimmt hatte.129 Historiker*innen wie Gabriella Hauch, Judith Szapor, Matthew Stibbe oder Kathleen Canning haben in den letzten Jahren herausgearbeitet, wie die Beteiligung von Frauen an den revolutionären Vorgängen in Österreich, Ungarn und Deutschland ausgesehen hat.130 Auch zu den Frauen in der Novemberrevolution und den Räten in Deutschland gab es bis jüngst nur einige Studien. In den letzten Jahren hat das Interesse am Feld allerdings spürbar zugenommen. Frühe Arbeiten stammen von Christiane Sternsdorf-Hauck oder Helga Grebing, aktuell 128 Vgl. Hauch (2008), Welche Welt?; dies., »Die Versklavung der Männer durch feministische Gesetze«? Zur Ambivalenz der Geschlechterverhältnisse in Krieg, Kultur und Politik: 1917/ 18–1933/34, in: Elisabeth Wolfgruber u. Petra Grubner (Hg.), Politik und Geschlecht. Dokumentation der 6. Frauenringvorlesung an der Universität Salzburg WS 1999/2000 (Innsbruck/Wien/München 2000) 85–106; sowie das Kapitel »Das Geschlecht der ›Österreichischen Revolution‹« in: Gabriella Hauch, Frauen. Leben. Linz. Eine Frauen- und Geschlechtergeschichte im 19. und 20. Jahrhundert (Linz 2013) 185–241; dies., »Welcher Weg ist einzuschlagen …?« Spurensuche nach Isa Strasser, geb. von Schwartzkoppen (1891– 1970), in: Lucile Dreidemy et al. (Hg.), Bananen, Cola, Zeitgeschichte: Oliver Rathkolb und das lange 20. Jahrhundert (Wien/Köln/Weimar 2015) 137–149; Paul Pasteur, Femmes dans le mouvement ouvrier autrichien 1918–1934, 2 Bde. (Dissertation Univ. Rouen 1986); Karin Schneider, Verborgene Feminismen? Frauenpolitische Denk- und Utopieangebote der österreichischen ArbeiterInnenbewegung der Ersten Republik unter Fokus auf die KPÖ (Diplomarbeit Univ. Wien 2004). Nützlich ist auch: Frauenreferat der KPÖ (Hg.), Frauen der KPÖ. Gespräche und Porträts. Redaktion von Maria Lautischer-Grubauer u. Susanne Sohn (Wien 1989). An der Universität Wien entsteht gegenwärtig eine Dissertation zu Anarchistinnen in der Zwischenkriegszeit von Theresa Adamski, Geschlechter- Arbeits- und Wirtschaftsdiskurse revolutionär-syndikalitstischer Arbeiter_innenbewegungen bis zum Zweiten Weltkrieg (Arbeitstitel). Zu erwähnen ist auch noch die Biographie zur Kommunistin Tilly Spiegel, die vor Kurzem erschienen ist: Ina Markova, Tilly Spiegel. Eine politische Biographie (Wien/Hamburg 2019). 129 Vgl. Karl Fallend, Elfriede Eisler (Ruth Fischer), in: Brigitta Keintzel u. Ilse Korotin (Hg.), Wissenschafterinnen in und aus Österreich (Wien et al. 2002) 165–166; Hering/Schilde (1995), Kampfname Ruth Fischer; Mario Keßler, Ruth Fischer. Ein Leben mit und gegen Kommunisten (1895–1961) (=Zeithistorische Studien, 51; Köln/Weimar/Wien 2013); Ladislaus Singer, Ruth Fischer, in: ders., Marxisten im Widerstreit. Sechs Porträts (StuttgartDegerloch 1979) 73–101. 130 Vgl. u. a. Kathleen Canning, Das Geschlecht der Revolution – Stimmrecht und Staatsbürgertum 1918/19, in: Gallus (Hg.) (2010), Die vergessene Revolution, 84–116; Hauch (2008), Welche Welt?; dies. (2000), »Die Versklavung der Männer […]«; Ingrid Sharp u. Matthew Stibbe, »In diesen Tagen kamen wir nicht von der Straße …« Frauen in der deutschen Revolution von 1918/19, in: Ariadne. Forum für Frauen- und Geschlechtergeschichte, Nr. 73/ 74 (Juli 2018) 32–39; dies. (Hg.) (2017), Women Activists; dies. (Hg.) (2011), Aftermaths of War; Judith Szapor, Hungarian Women’s Activism in the Wake of the First World War. From Rights to Revanche (London et al. 2018).
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publiziert neben den vorhin Genannten auch Axel Weipert zum Thema.131 Eine der aufsehenerregendsten Neuerscheinungen war das eher theoretisch-philosophisch angelegte Buch von Bini Adamczak Beziehungsweise Revolution.132 Angesichts der Fülle der Neuerscheinungen zu 1918/19 in Deutschland, bleibt die Geschichte der Frauen aber auffällig wenig erzählt – das gilt auch für Ungarn.133
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Eine Frauen- und Geschlechtergeschichte von Revolution und Rätebewegung. Das Forschungsdesign
Zurück zu jenem Sommertag im Juli 1931. Vor voll besetzten Rängen führten 4.000 Darsteller*innen ein Revolutionsspiel auf, das symbolisch und bildlich die gesamte Arbeiterklasse umfasste: Frauen, Männer und Kinder. Die Fotos von 131 Vgl. Christiane Sternsdorf-Hauck, Brotmarken und Rote Fahnen. Frauen in der bayrischen Revolution und Räterepublik 1918/19 (Frankfurt a.M. 1989); Egon Günther u. Thies Marsen, Die roten Frauen von Riederau. Eine Familiengeschichte in der Zeit der Bairischen Räterepublik, in: Heidi Beutin (Hg.), Die Frau greift in die Politik. Schriftstellerinnen in Opposition, Revolution und Widerstand (=Bremer Beiträge zur Literatur- und Ideengeschichte, 57; Frankfurt a.M. et al. 2010) 175–206; Heidi Beutin, »Das waren Wintermonate voller Arbeit, Hoffen und Glück …«. Novemberrevolution und Frauenbefreiung – Frauen und die Novemberrevolution, in: dies., Wolfgang Beutin u. Ralph Müller-Beck (Hg.), Das waren Wintermonate voller Arbeit, Hoffen und Glück … Die Novemberrevolution 1918 in Grundzügen (=Bremer Beiträge zur Literatur- und Ideengeschichte, 58; Frankfurt a.M. et al. 2010) 119–137; Helga Grebing, Frauen in der deutschen Revolution 1918/19 (Heidelberg 1994); Axel Weipert, »Frauen für die Räte, die Frauen in die Räte«? Konzepte und Praxen von Frauen in der Rätebewegung 1918–1920, in: Ariadne, Nr. 73/74 (Juli 2018) 40–47. Kapitel in aktuellen Arbeiten zum Thema: Förster (2018), 1919; Dania Alasti, Frauen der Novemberrevolution. Kontinuitäten des Vergessens (Münster 2018); Katja Patzel-Mattern, Frauen in der Revolution, in: Frank Engehausen u. Reinhold Weber (Hg.), Baden und Württemberg 1918/19. Kriegsende – Revolution – Demokratie (=Schriften zur politischen Landeskunde Baden-Württemberg, 48; Stuttgart 2018) 131–153; Joachim Käppner, 1918. Aufstand für die Freiheit. Die Revolution der Besonnenen (München 2017) 357–377; Weipert (2015), Die Zweite Revolution. Siehe auch das Forschungsprojekt von Ingrid Sharp u. Corinne Painter, Kiel Uprising. Women’s Activism and the German Revolution November 1918, online: https://germanrevolution1918.leeds.ac.uk/ (29. 3. 2020). An der Universität Neuchâtel entsteht gegenwärtig eine Dissertation von Clotilde Faas zur Beteiligung von Frauen in der deutschen Revolution 1918/19. Auf dem Programm des Symposiums Die Novemberrevolution und ihre Räte 1918 am 9. 5. 2018 standen Referate von Felicitas Söhner und Gisela Notz zu frauen- und geschlechterhistorischen Fragestellungen, online: http://www.novemberre volution1918.de/home (29. 3. 2020). 132 Adamczak (2018), Beziehungsweise Revolution. 133 In Ungarn wiederum gilt es an die historiographische Tradition des Staatssozialismus zu erinnern, wie es etwa Susan Zimmermann in einem kürzlich erschienenen Sammelband tut, der teilweise die Studie zu Arbeiterinnen und der Budapester Räterepublik der Historikerin, Frauenrechtlerin und Sozialistin Magda Aranyossi (1896–1977) von 1954 auf English neu abdruckt: András B. Göllner (Hg.), The Forgotten Revolution. The 1919 Hungarian Republic of Councils (Montréal 2020).
Eine Frauen- und Geschlechtergeschichte von Revolution und Rätebewegung
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diesem Tag irritieren, denn sie stehen in einem Widerspruch zu den zeitgenössischen Schriften über die Österreichische Revolution, in denen Frauen kaum eine Rolle spielten.134 Tatsächlich waren diese in den führenden Funktionen der Rätebewegung 1919 kaum zu finden, jedenfalls eklatant weniger als in den Institutionen der parlamentarischen Demokratie, zu denen sie ebenfalls gerade erst Zutritt erlangt hatten.135 Ist dieser Widerspruch also darauf zurückzuführen, dass im Massenspektakel »Festspiel« die Stärke der Sozialdemokratie dargestellt werden sollte? Oder sind die Verhältnisse doch komplexer und die von den Zeitgenoss*innen produzierten Bilder und Texte auch falsche Fährten? Die deutsche Historikerin Christina von Hodenberg hat in ihrer Geschichte von 1968 einen ähnlichen Verdacht geäußert, als sie fragte: »Ist es möglich, dass die immer wieder neu aufgelegten Fotos von damals uns zu liebgewonnenen Missverständnissen verleiten?«136 2015 nahm Kathleen Canning den Forschungsstand zur Weimarer Republik zum Anlass, um Vorschläge zu unterbreiten, wie dem vergessenen Faktor Geschlecht auf die Spur zu kommen sei: Die in der Literatur konstatierte Abwesenheit von Frauen in den Ereignissen und Institutionen der (deutschen) Revolution sei erklärungsbedürftig und zu hinterfragen; den spezifischen Erfahrungen der unterschiedlichen Akteurinnen sei Raum zu geben; der Untersuchungsrahmen sei über die Räte auszudehnen und die Interpretationen und Kritiken der revolutionären Ereignisse von Akteurinnen seien miteinzubeziehen.137 Obzwar etwa Gabriella Hauch, Johanna Gehmacher oder Maria Mesner mit ihren genannten Arbeiten Teilbereiche des Programms, das Canning hier entwirft, für die österreichische Geschichte bereits beforscht haben,138 kann ihr Appell auch für die vorliegende Forschungsarbeit anregend sein. Auch ich gehe davon aus, dass Geschlecht ein grundlegender Faktor in der Österreichischen Revolution war – sei es implizit oder explizit – und werde dies anhand unterschiedlicher Perspektiven auf Revolution und Rätebewegung darlegen. Die Fragen, denen ich nachgehe, sind: Wie hat sich Geschlecht auf Handlungsspielräume von Akteurinnen und auf politische Prozesse ausgewirkt? Wie 134 Das steht auch im Widerspruch zur Darstellung im Begleitheft. Siehe: Karl Ausch, 40 Jahre österreichische Arbeiterbewegung. Bilder aus der Geschichte eines Aufstieges, in: Julius Braunthal (Red.), Festschrift zur 2. Arbeiterolympiade, hg. und verlegt vom Arbeiterbund für Sport und Körperkultur in Österreich im Auftrage der Sozialistischen ArbeitersportInternationale (Wien 1931) 21–26. 135 Vgl. Hauch (2008), Welche Welt? 136 Christina von Hodenberg, Das andere Achtundsechzig. Gesellschaftsgeschichte einer Revolte (München 2018) 9. Mit herzlichen Dank an Matthew Stibbe für den Hinweis auf die Studie. 137 Vgl. Kathleen Canning, Gender and the Imaginary of Revolution in Germany, in: Weinhauer/McElligott/Heinsohn (Hg.) (2015), Germany 1916–1923, 103–126. 138 Vgl. z. B. Gehmacher/Mesner (2014), Dis/Kontinuitäten; Hauch (2008), Welche Welt?
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sah die Teilhabe von Frauen aus? Welche waren ihre Beiträge und Positionierungen und welche Konfigurationen des Politischen formten diese? Würde das Charakteristikum der Revolution 1918 als »männlich« aufrecht zu erhalten sein und würden deren Schauplätze dieselben bleiben? Was würde also passieren, wenn in einer Geschichte der Österreichischen Revolution und Rätebewegung konsequent Frauen im Zentrum stünden? Würde durch diesen Perspektivenwechsel die Narration der unvollständigen, der gescheiterten Revolution Bestand haben und hätte das Auswirkungen auf die Erzählung von der Ersten Republik, als der »Staat, den keiner wollte« oder als der »Rest«, »der Österreich ist«?139 »Die Toten sind also tot und die Vergangenheit ändert sich nicht. Was sich verändert, im erfahrungsstiftenden und sinngenerierenden Vergehen der Zeit, das ist die Geschichtlichkeit des Vergangenen«,140 schrieb Caroline Arni 2007 in einem Aufsatz über das Verhältnis von Gegenwart von Frauen- und Geschlechtergeschichte und ihren Forschungsobjekten. In dieser Untersuchung sind es ebenfalls zeitgenössisch inspirierte Fragen, die an die Vergangenheit herangetragen werden. Als »kontrollierte anachronistische Praxis«141 und mit »bewusst eingegangene[n] Risiko«142 können auf der Grundlage dieser Herangehensweise neue Erkenntnisse zu Tage gefördert werden. Für das Verfassen einer frauen- und geschlechterhistorischen Studie ist auf die Tradierung der Ereignisse, die zeitgleich mit eben diesen Ereignissen einsetzte, auf deren Auslassungen und Verengungen ebenso zu achten, wie auf die Suche nach verschütteten und vergessenen Frauen. In meiner Geschichte dieser Zeit versuche ich daher, den Gegenstand auf drei Weisen zu beleuchten: Ich biete erstens mit einer Kritik des Narratives der »Revolution der Männer« eine Modifikation der Konzeption der Österreichischen Revolution an, zweitens werden einzelne Akteurinnen und ihre Anliegen sichtbar gemacht und drittens ziehe ich Geschlecht nicht nur als historische, sondern auch als analytische Kategorie heran, um einen Einblick in politische Ausschlussmechanismen in den revolutionären Bewegungen und Prozessen zu erhalten. Nicht zuletzt soll dem Spannungsfeld Rechnung getragen werden, in dem sich die revolutionären Ereignisse abspielten: Sie waren durch ihre transnationalen Bezüge und die europäische Dimension von Revolution und Rätebewegung in den Jahren nach 1917 ebenso
139 Siehe etwa die Titel von Hellmut Andics, Der Staat, den keiner wollte. Österreich von der Gründung der Republik bis zur Moskauer Deklaration (Wien et al. 1976); oder Konrad/ Maderthaner (Hg.) (2008), … der Rest ist Österreich. 140 Arni (2007), Zeitlichkeit, 56. 141 »[P]ratique contrôlée de l’anachronisme«: Nicole Loraux, Éloge de l’anachronisme en histoire, in: Espaces Temps, Nr. 87/88 (2004) 127–139, 132. 142 Arni (2007), Zeitlichkeit, 59.
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charakterisiert wie durch ihre lokale und nationalstaatliche Ausrichtung. Meine Untersuchung ist vor allem auf Wien konzentriert.
1.4.1 Quellenbasis und Grundüberlegungen der Untersuchung Das Quellenmaterial, auf dem die hier präsentierten Ergebnisse beruhen, lässt sich in mehrere Gruppen unterteilen: 1. Institutionelles Material, wie Protokolle, Anträge, Wahlunterlagen etc., vor allem aus dem Bestand zu den Arbeiter- und Soldatenräten im Archiv des Vereins für Geschichte der Arbeiterbewegung (VGA), auch aus Beständen zur SDAP im Ersten Weltkrieg (VGA) sowie aus der Sammlung des International Institute for Social History (IISH) in Amsterdam. Zusätzlich wurden bei einzelnen Themen Gemeinderatsprotokolle (publiziert in den Amtsblättern der Stadt Wien), Protokolle der Parteien im Gemeinderat (v. a. der Christlichsozialen Partei im Karl von Vogelsang-Institut) oder Nationalratsprotokolle herangezogen. 2. Obrigkeitsstaatliche und polizeibehördliche Quellen aus Beständen des Österreichischen Staatsarchivs (v. a. Allgemeines Verwaltungsarchiv [AVA]) sowie dem Archiv der Bundespolizeidirektion Wien (AdBPW)143 in Bezug auf Rätebewegung, Streiks, Proteste und Unruhen zwischen 1916/17 und 1924. 3. Egodokumente wie Briefe, autobiographische Texte oder Interviews aus Nachlässen und personenbezogenen Beständen aus der Sammlung in der Houghton Library (Harvard) zu Elfriede Eisler-Friedländer, zu Anna Hornik-Strömer144 (Alfred Klahr Gesellschaft, Parteiarchiv der KPÖ) oder Ilona Duczynska (VGA und ORF-Archiv). 4. Publizierte Reden, Artikel, Broschüren und Schriften von Akteurinnen, die in Bibliotheken und Archiven zugänglich waren, sowie Monats-, Wochen- und Tageszeitungen vor allem des linksradikalen und sozialdemokratischen Milieus, aber auch die liberale und christlichsoziale Presse des Zeitraums 1916/17 bis 1924 wurden miteinbezogen. Das gesichtete Quellenmaterial im VGA beleuchtet vor allem die Tätigkeiten der Arbeiterräte auf der obersten Ebene und regionalspezifisch in Wien. Darunter befinden sich lediglich zwei Kartons aus den Bundesländern, nämlich ein Karton zu Oberösterreich, der zweite zu den anderen Bundesländern. Anfragen in den Landesarchiven in den Bundesländern haben nur geringe Ergebnisse gebracht und konnten nur in Einzelfragen ergänzend herangezogen werden, wie etwa Bestände aus dem Kärntner Landesarchiv. Detailstudien zu den Bundes143 Mittlerweile hat die Wienbibliothek einen Teil des von mir verwendeten Materials aus dem Polizeiarchiv – die gebundenen »Stimmungsberichte aus der Kriegszeit« – als Digitalisate verfügbar gemacht, online: https://www.digital.wienbibliothek.at/nav/classification/609765 (29. 3. 2020). 144 Anna Hornik, geb. Strömer (manchmal auch Ströhmer), wird in der Folge als Anna HornikStrömer benannt, da dies die in der Sekundäriteratur gängige Variante ist.
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ländern sind – mit Ausnahme zu Oberösterreich –145 ohne frauen- und geschlechterhistorische Perspektive vorhanden. Eine weiterführende Recherche in lokalen Archiven und Firmenarchiven bleibt ein Forschungsdesiderat. Die unterschiedlichen Quellengattungen erfordern unterschiedliche methodische und theoretische Zugriffe und die doppelte Bewegung einer quellenkritischen und theorie- bzw. kategoriengeleiteten Analyse, da sich »die Methode als das ›Wie‹ der Forschung nicht vom ›Warum‹ und ›Wozu‹ der Theorie trennen lässt«.146 Dabei gilt es den Ort oder Raum des Forschens, die Praktiken als die Art und Weise der Darstellung der Forschungsergebnisse und die Konzepte, die in Anschlag gebracht werden, im Auge zu behalten.147 Im Sinne der feministischen Geschichtswissenschaft lag ein großer Teil der Quellenarbeit darin, Bestände wie zum Beispiel die umfangreiche Sammlung zu Arbeiter- und Soldatenräten im VGA, die auch Hans Hautmann oder Rolf Reventlow verwendet hatten, erneut und »gegen den Strich« zu lesen.148 Eva Blimlinger und Ela Hornung formulierten es als forschungsprogrammatische Aufforderung an die Frauen- und Geschlechtergeschichte, »immer wieder erfinderisch […] im Finden und in der Anwendung von methodischen Zugängen«149 zu sein. Neben der kritischen Relektüre, der historischen Quellenkritik und der Textanalyse von Publikationen und institutionellen Materialien, wurden die Wahlergebnisse zu den Arbeiterratswahlen, soweit vorhanden, statistisch ausgewertet und obrigkeitsstaatliche Quellen wie Polizei- und Stimmungsberichte150 aus dem Ersten Weltkrieg statistisch erfasst, um serielle Aussagen treffen und 145 Vgl. Hauch (2013), Frauen. Leben. Linz, 185–241. 146 Veronika Helfert et al., Bestandsaufnahmen und Herausforderungen. Blicke auf die gegenwärtige Frauen- und Geschlechtergeschichte, in: dies. (Hg.), Frauen- und Geschlechtergeschichte un/diszipliniert? Aktuelle Beiträge aus der Jungen Forschung (=Studien zur Frauen- und Geschlechtergeschichte, 11; Innsbruck/Wien/Bozen 2017) 7–21, 14. 147 Vgl. Anne von Kwaschik u. Mario Wimmer (Hg.), Das Werkzeug des Historikers. Ein Vorwort, in: dies. (Hg.), Von der Arbeit des Historikers. Ein Wörterbuch zu Theorie und Praxis der Geschichtswissenschaft (Berlin 2010) 9–19. 148 Vgl. etwa Andrea Griesebner, Feministische Geschichtswissenschaft. Eine Einführung (Wien 2 2012) 193. 149 Eva Blimlinger u. Ela Hornung, Feministische Methodendiskussion in der Geschichtswissenschaft, in: Johanna Gehmacher u. Maria Mesner (Hg.), Frauen- und Geschlechtergeschichte. Positionen/Perspektiven (=Querschnitte, 14; Innsbruck et al. 2003) 127–142, 139. 150 Sie werden im Folgenden gemeinsam mit anderem Material, das sich im Archiv der heutigen Landespolizeidirektion Wien befindet und Berichte der Polizei zur Lage der Bevölkerung im Ersten Weltkrieg umfasst, unter dem Sammelbegriff »Stimmungsberichte« oder »Polizeiberichte« behandelt. Ein Teil der angesprochenen Berichte befasst sich mit den mit dem Kriegsgeschehen verbundenen Tagesereignissen, wie Truppentransporten, Börsenbewegungen usw., und lagert in Entwurfsform im Polizeiarchiv. Zum anderen finden sich dort gebundene maschinschriftliche wöchentliche Stimmungsberichte, in deren Fokus »Atmosphärisches« und die Ernährungssituation stehen. Schließlich gibt es dort auch Meldungen zu größeren und kleineren Einzelfällen, zu Briefzensur und Versammlungen. Ergänzt wird das Quellenmaterial durch Bestände aus dem Ministerium des Innern.
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Kontinuitäten über das Kriegsende hinaus nachvollziehen zu können. Obrigkeitsstaatliche Quellen sind eine Gattung, die nicht nur vermittelten Zugriff auf Akteurinnen zulässt – was für jegliches Material zutrifft –, sondern diese auch in den seltensten Fällen zu Wort kommen lässt. Sie lassen sich dennoch, wie gezeigt werden wird, für eine serielle qualitative Auswertung heranziehen. Ein anderes methodisches Problem bereiten diese Quellen aufgrund ihrer Sprache: Da sie sehr oft das generische Maskulinum verwenden oder einfach von Menge, Masse usw. sprechen, lässt sich die Anzahl beteiligter Frauen bei Streiks und politischen Versammlungen oder Demonstrationen kaum feststellen. Bei den verwendeten Selbstzeugnissen und Egodokumenten – wie autobiographischen Texten, Briefen oder Interviews – ist der historische Kontext der Entstehung des Materials ebenso miteinzubeziehen wie es gilt, mögliche persönliche und biographische Schreibanlässe, Adressat*innen, intertextuelle Referenzen und parteipolitische Tradierungen zu berücksichtigen.151 Diese Kontextualisierung muss selbstverständlich auch bei Schriften, Broschüren und Zeitungsartikel erfolgen.
151 Vgl. zu den quellentheoretischen Fragen von Selbstzeugnissen z. B. Andreas Bähr, Peter Burschel u. Gabriele Jancke, Räume des Selbst. Eine Einleitung, in: dies. (Hg.), Räume des Selbst. Selbstzeugnisforschung transkulturell (Köln/Weimar/Wien 2007) 1–12; Gabriele Jancke, Zur Diskussion gestellt: Leben texten, Lebensgeschichten, das eigene Leben schreiben – ein Plädoyer für Unterscheidungen. Auf Grundlage und anhand von frühneuzeitlichen autobiographischen Schriften, in: L’Homme. Z.F.G. 14, H. 2 (2003) 386–395.
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Revolution revisited. Kritik am androzentristischen Revolutionsmodell Da leuchtete im März 1917 ein Licht in der Finsternis auf: In Russland war die Revolution ausgebrochen, der Zar war gestürzt und die Republik ausgerufen worden. Aufgewühlt verfolgten die österreichischen Frauen die Entwicklungen in Russland.152
Das vermutlich nach 1945 entstandene Manuskript der Kommunistin und Revolutionärin Anna Hornik-Strömer erzählt, aus »Frauenperspektive«, von der Ausstrahlung der russischen Ereignisse. Es macht – wie andere Texte – die Ahnung einer »neuen Welt« deutlich, eine Ahnung davon, dass die Dinge nicht so sein müssen wie sie sind. Dieser Text von Hornik-Strömer zeugt zudem von den Handlungen und Erfahrungen tausender junger und alter Frauen am Ende des Ersten Weltkrieges, eine Perspektive, um die es in dieser Studie gehen wird. Um diesen Blickpunkt einnehmen zu können, ist es einerseits notwendig, die, wenn auch raren, Dokumente zu heben und zu bearbeiten, andererseits die bestehenden Tradierungen einer Kritik zu unterziehen. Im Folgenden soll daher der Zusammenhang von Geschlecht, Politik und Gewalt beleuchtet werden. Die Handlungsspielräume von Akteurinnen auf der einen Seite und den nachhaltigen Ausschluss von Frauen aus der Erzählung von der Revolution auf der anderen Seite zu verstehen, verlangt nach einer theoriegeleiteten und zugleich quellenbasierten Herangehensweise. In diesem Kapitel soll daher zunächst auf die wichtigsten Theorien verwiesen werden, die meiner Analyse als Richtschnur dienten. Dabei habe ich aus dem Quellenmaterial heraus mehrere analytische Konzepte entwickelt, die Basis meiner Kritik am bestehenden androzentristischen Modell der Österreichischen Revolution als »Revolution der Männer« sind. Abschließend schlage ich als Konsequenz daraus vor, das Modell um eine proto-revolutionäre Phase zu erweitern.
2.1
Theoretische Grundlagen
Für die Analyse des heterogenen Quellenmaterials habe ich mehrere theoretische Grundüberlegungen in Anschlag gebracht. Geschlecht verstehe ich hier als Kategorie sozialer Ungleichheit in ihrer gesellschaftlichen Gewordenheit wie als
152 Parteiarchiv der KPÖ, Alfred Klahr Gesellschaft (ZPA), Wien, M. Anna Hornik-Strömer (AHS). Anna Hornik, Die Oktoberrevolution und die österreichischen Frauen, Typoskript, 5 Seiten, o.D., 1.
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Revolution revisited. Kritik am androzentristischen Revolutionsmodell
Kategorie historischer Analyse.153 Der Zusammenhang von Geschlecht und Politik ist für meine Studie von grundlegender Bedeutung.154 Geschlecht wird in der bürgerlichen Moderne zu einer zentralen Kategorie sozialer Ungleichheit und strukturiert damit die sozioökonomischen wie politischen Verhältnisse – so auch die geschlechtsspezifischen Besetzungen von Öffentlichkeit und privater Sphäre.155 Die Geschlechterdifferenz als solche ist politisch zu verstehen, ebenso wie in umgekehrter Weise politische Institutionen sowie das Verständnis davon, was als politisch aufgefasst wurde (und wird), vergeschlechtlicht sind.156 Damit hatte die Geschlechterdifferenz Auswirkungen auf die Handlungsspielräume von Akteurinnen in der Rätebewegung und gestaltete Ein- und Ausschlüsse. Der Studie liegt außerdem die Annahme zugrunde, dass neben Geschlecht andere Kategorien sozialer Ungleichheit wirkmächtig sind. Dies wird unter dem Begriff der Intersektionalität verhandelt,157 den die US-amerikanische Rechts153 Siehe dazu Andrea Griesebner, Geschlecht als soziale und als analytische Kategorie. Debatten der letzten drei Jahrzehnte, in: Gehmacher/Mesner (Hg.) (2003), Frauen- und Geschlechtergeschichte, 37–52; Joan Wallach Scott, Millennial Fantasies. The Future of »Gender« in the 21st Century, in: Claudia Honegger u. Caroline Arni (Hg.), Gender – die Tücken einer Kategorie. Joan W. Scott, Geschichte und Politik. Beiträge zum Symposium anlässlich der Verleihung des Hans-Sigrist-Preises 1999 der Universität Bern an Joan W. Scott (Zürich 2001) 19–37. 154 Vgl. Joan W. Scott, Gender. A Useful Category of Historical Analysis, in: Sue Morgan (Hg.), The Feminist History Reader (London et al. 2006) 133–148. 155 Die Dichotomisierung von Öffentlichkeit und Privatheit selber ist insofern problematisch, als sie historischen Realitäten nur ungenügend gerecht wird. Vgl. Leonore Davidoff, »Alte Hüte«. Öffentlichkeit und Privatheit in der feministischen Geschichtsschreibung, in: L’Homme. Z.F.G. 4, H. 2 (1993) 7–36; Sabine Lang, Öffentlichkeit und Geschlechterverhältnis. Überlegungen zu einer Politologie der öffentlichen Sphäre, in: Eva Kreisky u. Birgit Sauer (Hg.), Feministische Standpunkte in der Politikwissenschaft. Eine Einführung (=Politik der Geschlechterverhältnisse, 4; Frankfurt a.M. et al. 1995) 83–121. Verwiesen sei hier auch auf Karin Hausen, die festhält, dass die Trennung in öffentliche und private Sphären vor allem ein »Ordnungsverfahren [ist], das Trennschärfe suggeriert und zugleich die tatsächlich vielfältigen Überlagerungen und Durchmischungen der avisierten Bereiche unterschlägt«. Karin Hausen, Der Aufsatz über die »Geschlechtscharaktere« und seine Rezeption. Eine Spätlese nach dreißig Jahren, in: dies., Geschlechtergeschichte als Gesellschaftsgeschichte (Göttingen 2012) 83–105, 100. 156 Vgl. z. B. Birgitta Bader-Zaar u. Johanna Gehmacher, Öffentlichkeit und Differenz. Aspekte einer Geschlechtergeschichte des Politischen, in: Gehmacher/Mesner (Hg.) (2003), Frauenund Geschlechtergeschichte, 165–181; Gabriella Hauch, Gender in Wissenschaft und Gesellschaft: Von der Nützlichkeit einer Kategorie und ihrer nachhaltigen Wirkung, in: Michael Pammer (Hg.), Festschrift für Roman Sandgruber zum 60. Geburtstag (Stuttgart 2007) 491– 508; Eva Kreisky, Gegen »geschlechthalbierte Wahrheiten«. Feministische Kritik an der Politikwissenschaft im deutschsprachigen Raum, in: dies./Sauer (1995) (Hg.), Feministische Standpunkte, 27–62. 157 Vgl. den kritischen Überblick in: Heike Mauer, Intersektionalität operationalisieren! Theoretische und methodische Überlegungen für die Analyse des Prostitutionsdiskurses in Luxemburg um 1900, in: Helfert et al. (Hg.) (2016), Frauen- und Geschlechtergeschichte un/ diszipliniert?, 119–142; sowie Veronika Helfert, Verzweiflung, Empörung und Wut. Inter-
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wissenschafterin Kimberlé Crenshaw 1989 in die theoretische Auseinandersetzung eingebracht hat.158 Ihre Überlegungen sind aber nicht die erste Auseinandersetzung mit der Frage, wie verschiedene Kategorien sozialer Ungleichheit miteinander agieren. Seit den 1970er Jahren thematisieren Schwarze Feministinnen in den USA die Korrelation von unterschiedlichen Unterdrückungsstrukturen.159 Im deutschsprachigen Raum wird über verschiedenste theoretische Ansätze und ihre Anwendbarkeit diskutiert, die durch Queer und Postcolonial Studies sowie politische wie wissenschaftliche Interventionen angestoßen wurden.160 Basierend auf diesen Erkenntnissen und Einsichten aus der frauenund geschlechterhistorischen Forschung (vor allem zur Frühen Neuzeit), wo sich unter anderem die Begrifflichkeit von Geschlecht als »mehrfach relationale Kategorie«161 etabliert hat, lege ich im Folgenden ein Augenmerk auf Kategorien wie der Herkunft (Klasse), Alter und Nationalität bzw. Ethnizität.162 In der Auseinandersetzung um Fragen der politischen Partizipation spielt, wie ich in meinen Überlegungen zur proto-revolutionären Phase noch deutlich
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sektionale Perspektiven auf Geschlecht, Politik und Gewalt in und nach dem Ersten Weltkrieg, in: Maria Mesner u. Sushila Mesquita (Hg.), Eine emotionale Geschichte. Geschlecht im Zentrum der Politik der Affekte (Wien 2018) 48–81. Kimberlé Crenshaw, Demarginalizing the Intersection of Race and Sex. A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory, and Antiracist Politics, in: University of Chicago Legal Forum 5 (1989) 139–167. Sie fasste damit die spezifischen Diskriminierungserfahrungen von women of color. Siehe exemplarisch Angela Y. Davies, Women, Race & Class (New York 1981); bell hooks, Ain’t I a Woman. Black Women and Feminism (Cambridge, MA 1981). Zur Kritik an der deutschsprachigen Intersektionalitätsforschung siehe etwa Encarnación Guitérrez Rodríguez, Intersektionalität oder Wie nicht über Rassismus sprechen, in: Sabine Hess, Nikola Langreiter u. Elisabeth Timm (Hg.), Intersektionalität revisited. Empirische, theoretische und methodische Erkundungen (Bielefeld 2011) 77–100. Konkret geht es darum, welche Kategorien sozialer Ungleichheit wirkmächtig sind, wie diese sich aufeinander beziehen und wie die Übertragbarkeit des in den USA entwickelten »Begriffsbündels« »race«, class, gender auf den deutschsprachigen Raum zu übertragen ist. Claudia OpitzBelakhal, Geschlechtergeschichte (=Historische Einführungen, 8; Frankfurt a.M./New York 2010) 35; vgl. Cornelia Klinger u. Gudrun-Axeli Knapp (Hg.), ÜberKreuzungen. Fremdheit, Ungleichheit, Differenz (Münster 2008); Mauer (2016), Intersektionaliät operationalisieren! Siehe etwa Andrea Griesebner, Geschlecht als mehrfach relationale Kategorie. Methodologische Anmerkungen aus der Perspektive der Frühen Neuzeit. In: Veronika Aegerter, Nicole Graf u. Natalie Imboden (Hg.), Geschlecht hat Methode. Ansätze und Perspektiven in der Frauen- und Geschlechtergeschichte. 9. Schweizerische Historikerinnentagung, 13. und 14. Februar 1988 in Bern (Zürich 1999) 129–138. Vgl. Gisela Bock, Geschichte, Frauengeschichte, Geschlechtergeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft 14, Nr. 3 (1988) 364–391; Gabriella Hauch (Hg.), Geschlecht – Klasse – Ethnizität. 28. Internationale Tagung der Historikerinnen und Historiker der Arbeiterinnen- und Arbeiterbewegung (Wien et al. 1993). Kategorien sozialer Ungleichheit sind selbst Ergebnis historischer Prozesse; Analyseebenen und Kategorienauswahl sind zudem immer auch vom Quellenmaterial abhängig. Vgl. Mauer (2016), Intersektionalität operationalisieren!
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Revolution revisited. Kritik am androzentristischen Revolutionsmodell
darlegen werde, Staatsbürger*innenschaft und das Konzept der citizenship eine wichtige Rolle.163 In der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft wurde citizenship vor allem als »partner concept«164 von Klasse verwendet, um jene historischen Ereignisse zu untersuchen, in denen Klassenfragen mit der Forderung nach politischen Rechten zusammenfielen.165 Dabei hat sich citizenship zu einem Schlüsselkonzept feministischer Theorie entwickelt.166 Auch für meine Studie erweist es sich als fruchtbar, soziale Protestbewegungen am Ende des Ersten Weltkrieges auf Forderungen nach mehr politischer Teilhabe hin zu analysieren.167
2.2
Konzeptioneller Rahmen einer Kritik des androzentristischen Revolutionsmodells
Auf Basis dieser theoretischen Grundlagen – Geschlecht als grundlegender Kategorie sozialer Ungleichheit, Intersektionalität und citizenship – habe ich den Quellenkorpus bearbeitet. Dabei entwickelte ich einen konzeptionellen Rahmen
163 Thomas H. Marshall, auf den das Konzept zurückgeht, definierte citizenship als vollständige Mitgliedschaft in einer Gemeinschaft, die er mit dem Nationalstaat gleichsetzte. Sein Verständnis war außerdem evolutionär: Im 18. Jahrhundert wurden (weiße) Männer zu Bürgern (citizens) mit individuellen Bürgerrechten (»civil rights«) [civil/civic citizenship]. Im Laufe des 19. Jahrhunderts erhielten sie politische Rechte wie etwa das Wahlrecht [political citizenship], um schließlich mit dem beginnenden Wohlfahrtsstaat soziale Rechte zu erhalten [social citizenship]. Vgl. Thomas H. Marshall, Class, Citizenship, and Social Development (New York 1965). Sein Konzept wurde in den letzten Jahrzehnten einer umfassenden Kritik unterzogen. Vgl. etwa Nira Yuval-Davis, The Citizenship Debate. Women, Ethnic Processes and the State, in: Feminist Review 39 (Herbst 1991) 56–68. 164 Kathleen Canning, Class vs. Citizenship. Keywords in German Gender History, in: Central European History 37, H. 2 (2004) 225–244, 226. 165 Vgl. ebd., 225f.; Erna Appelt, Geschlecht. Staatsbürgerschaft. Nation, Politische Konstruktionen des Geschlechterverhältnisses in Europa (=Politik der Geschlechterverhältnisse, 10; Frankfurt a.M./New York 1999). 166 Vgl. Canning (2004), Class vs. Citizenship, 238. Einflussreich waren für mich u. a. Lektüren von Claudia Opitz-Belakhal, Von der politischen Einflussnahme der Frauen am Hof zur bürgerlichen Häuslichkeit? Überlegungen zum Wandel der Geschlechterbeziehungen um 1800, in: Corina Bastian, Eva Kathrin Dade, Hillard von Thiessen u. Christian Windler (Hg.), Das Geschlecht der Diplomatie. Geschlechterrollen in den Außenbeziehungen vom Spätmittelalter bis zum 20. Jahrhundert (=EXTERNA. Geschichte der Außenbeziehungen in neuen Perspektiven, 5; Köln/Weimar/Wien 2014) 131–143; Andreas Fahrmeir, Citizenship. The Rise and Fall of a Modern Concept (New Haven/London 2007); Yuval-Davis (1991), The Citizenship Debate; Appelt (1999), Geschlecht. 167 Ich schließe mich hier der Definition von Selin Çag˘atay an. Vgl. Selin Çag˘atay, From ›Daughters of the Republic‹ to Contentious Citizens. Kemalist Women’s Activism in Historical Perspective, in: Helfert et al. (Hg.) (2016), Frauen- und Geschlechtergeschichte un/ diszipliniert?, 209–231.
Konzeptioneller Rahmen einer Kritik des androzentristischen Revolutionsmodells
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meiner Kritik am bestehenden Narrativ der Österreichischen Revolution. Zum Vorschein kam, wie sehr das Skript vorangehender Revolutionen die zeitgenössische und historische Tradierung beeinflusst hat und welche Bedeutung der Kategorie Geschlecht zukommt. Folgende analytische Konzepte sind Ergebnisse dieser Quellenarbeit: Die Depolitisierung des Protestverhaltens von Frauen, das Erwerbsarbeitsparadigma und die Figurationen des Politischen.
2.2.1 Die Depolitisierung des Protestverhaltens von Frauen Durch den Fokus auf Frauen im Quellenmaterial kommen die letzten Kriegsjahre und die Hungerprotest-, Streik- sowie Antikriegsbewegungen verstärkt in den Blick. Für die Phase am Ende des Krieges – die proto-revolutionäre Phase – unterscheide ich drei Arten von Ausdrucksformen bzw. -bedingungen, die miteinander korrespondierten. Neben organisierten Aktivitäten in Vereinen und Institutionen der Frauen-, Jugend- und Friedensbewegung, sind dies Hungerproteste sowie Streiks.168 Wie ich im Kapitel 3 ausführen werde, wurden die Hungerproteste, als Protestformen, in denen sich vor allem viele Frauen beteiligten, von Zeitgenoss*innen wie von Historiker*innen als unpolitisch dargestellt,169 obwohl, wie die genaue Analyse verrät, sie von unterschiedlichen Akteur*innengruppen durchaus als Bedrohung der gesellschaftlichen Stabilität wahrgenommen wurden. Diese Protestformen wurden sowohl zeitgenössisch wie auch historiographisch als politische Handlungen »dethematisiert«170 – und 168 Siehe dazu auch Veronika Helfert, »Unter Anführung eines 13jährigen Mädchens«. Gewalt und Geschlecht in unorganisierten Protestformen in Wien während des Ersten Weltkrieges, in: Jahrbuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung 13, H. II (2014) 66–82. 169 Siehe zum Beispiel Margarete Grandner, Hungerstreiks, Rebellion, Revolutionsbereitschaft, in: Alfred Pfoser u. Andreas Weigl (Hg.), Im Epizentrum des Zusammenbruchs. Wien im Ersten Weltkrieg (Wien 2013) 558–565; Karen Hagemann, Men’s Demonstration and Women’s Protest: Gender in Collective Action in the Urban Working-Class Milieu during the Weimar Republic, in: Fiona Montgomery u. Christine Collette (Hg.), The European Women’s History Reader (London et al. 2002) 314–328; oder Ingrid Bauer, Frauen im Krieg. Patriotismus, Hunger, Protest – Weibliche Lebenszusammenhänge zwischen 1914 und 1918, in: Brigitte Mazohl-Wallnig (Hg.), Die andere Geschichte, Bd. 1: Eine Salzburger Frauengeschichte von der ersten Mädchenschule (1695) bis zum Frauenwahlrecht (1918). Unter Mitarbeit von Gunda Barth-Scalmani et al. (Salzburg 1995) 285–310; Martina Engelns, Bierpreis, Brauer und Behörden. Teuerungsproteste 1844 bis 1866 in München, in: Bulst/ Gilcher-Holtey/Haupt (Hg.) (2010), Gewalt im politischen Raum, 164–193. 170 Claudia Bruns, Wissen – Macht – Subjekt(e). Dimensionen historischer Diskursanalyse am Beispiel des Männerbunddiskurses im Wilhelminischen Kaiserreich, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften (ÖZG) 16, H. 4 (2005) 106–122. Der Begriff der Dethematisierung charakterisiert den Prozess, der Politik und politisches Handeln auf bestimmte, meist öffentliche und institutionelle Sphären bzw. Handlungen beschränkt und damit alles andere als apolitisch erscheinen lässt.
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Revolution revisited. Kritik am androzentristischen Revolutionsmodell
damit depolitisiert. Das hat unter anderen etwas mit der spezifisch weiblich konnotierten Protestform der Hungerunruhen zu tun. Dabei kann festgehalten werden, dass die Art und Weise, wie der Charakter der Protestform und die Rolle, die Frauen darin spielten, verhandelt wird, damit zusammenhängt, wie Öffentlichkeit und das Private als politische Räume von Zeitgenoss*innen und Historiker*innen verstanden werden.171 Eine der zentralen Praktiken, mittels derer die Beziehungen von Staatsbürger*innen zum Staat geformt wurden, waren jene, die mit dem Zugang zu Lebensmitteln und sozialer Gerechtigkeit zu tun hatten.172 Hinsichtlich der Hungerproteste und Streikbewegungen 1916 bis 1918 ist festzustellen, dass Forderungen und Beschwerden von Bevölkerungsteilen lautstark artikuliert und damit auch für die Obrigkeit und die Öffentlichkeit hörbar wurden. Die Proteste und die darin formulierten sozio-ökonomischen und politischen Forderungen sind als Aushandlungsprozesse von citizenship zu verstehen.173 Kathleen Canning nannte vergleichbare Proteste im Deutschen Kaiserreich einen »Wendepunkt in den Beziehungen von Frauen zum Staat«.174 Food riots und Hunger- oder Teuerungsdemonstrationen traten im Lauf der Geschichte immer wieder und global auf – besonders häufig zwischen dem späten 18. und der Mitte des 19. Jahrhunderts. Sie waren etwa in Deutschland die häufigste Form von sozialen Protesten. Auch die großen revolutionären Bewegungen in Europa wurden durch Hun171 Vgl. Carola Lipp, Frauenspezifische Partizipation an Hungerunruhen des 19. Jahrhunderts. Überlegungen zu strukturellen Differenzen im Protestverhalten, in: Manfred Gailus u. Heinrich Volkmann (Hg.), Der Kampf um das tägliche Brot. Nahrungsmangel, Versorgungspolitik und Protest 1770–1990 (Opladen 1994) 200–213. Ich arbeite hier mit einem Raumbegriff, der soziale Dynamiken und Zusammenhänge in den Vordergrund stellt. Dabei lehne ich mich an Bourdieus Begriff des »sozialen Raums« an, der den Positionen und Relationen von Akteur*innen im Raum zueinander einen zentralen Stellenwert einräumt. Vgl. Pierre Bourdieu, Sozialer Raum und »Klassen«. Leçon sur la leçon. Zwei Vorlesungen. Aus dem Französischen von Bernd Schwibs. Mit einer Bibliographie der Schriften Pierre Bourdieus von Yvette Delsaut (Frankfurt a.M. 21991) 7–46. 172 Seit dem 19. Jahrhundert war die Frage der guten und richtigen Ernährung ebenso zu einem wissenschaftlichen Untersuchungsgegenstand geworden wie zu einem wichtigen Feld von sozialpolitischen Bemühungen. Vgl. Caroline Durand, Nourrir la machine humaine. Nutrition et alimentation au Québec, 1860–1945 (=Études d’histoire du Québec/Studies on the History of Québec, 27; Montréal et al. 2015) 4–17. 173 Was auch schon bei den Teuerungsprotesten 1911 in Wien zu sehen war, bei der es in Anschluss an eine Demonstration mit ca. 100.000 Teilnehmer*innen zu Unruhen mit Todesopfern gekommen ist. Siehe z. B. Wolfgang Maderthaner, Arbeitskonflikte und Konfliktlösungsstrategien in industriell entwickelten Gesellschaften, in: ÖZG 1, H. 2 (1990) 53– 74, 61f.; Otto Bauer, Die Teuerungsrevolte in Wien, in: Die neue Zeit 29, Bd. 2, H. 52 (1910– 1911) [29. 9. 1911] 913–917. 174 Kathleen Canning, Der Körper der Staatsbürgerin als theoretisches und historisches Problem, in: Béatrice Bowald, Alexandra Binnenkade, Sandra Büchel-Thalmaier u. Monika Jakobs (Hg.), KörperSinnE. Körper im Spannungsfeld von Diskurs und Erfahrung (=gender wissen, 2; Bern/Wettingen 2002) 109–133, 120.
Konzeptioneller Rahmen einer Kritik des androzentristischen Revolutionsmodells
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gerrevolten ausgelöst bzw. von ihnen begleitet, wie etwa die Französische Revolution 1789, die europäischen Revolutionen um 1848 (gerade die Ereignisse in Wien175) oder die russischen Revolutionen von 1905 und 1917.176 Der englische Historiker Edward P. Thompson prägte das Konzept der moral economy, das die Vorstellung eines gerechten Preises für Nahrungsmittel (oder wie wir im Falle der Proteste im Krieg sehen werden, gerechte Mengen an bestimmten Lebensmitteln) in der Bevölkerung beschrieb, deren Nichteinhaltung soziale Protestbewegungen auslösen konnte.177 Damit ging auch eine Vorstellung darüber einher, wie eine gerechte Gesellschaft ausgestaltet werden soll. Das ist für meine Überlegungen relevant. Die Anlässe, die Proteste auslösten, riefen Emotionen wie Wut und Empörung hervor und legen damit zudem eine emotionshistorische Analyse des Quellenmaterials nahe.178
175 Vgl. Gabriella Hauch, Frau Biedermeier auf den Barrikaden. Frauenleben in der Wiener Revolution 1848 (Wien 1990) 167–177. 176 Vgl. Manfred Gailus u. Heinrich Volkmann, Einführung: Nahrungsmangel, Hunger und Protest, in: Gailus/Volkmann (Hg.) (1994), Der Kampf um das tägliche Brot, 9–23. 177 Siehe E.P. Thompson, The Moral Economy of the English Crowd in the Eighteenth Century, in: Past & Presence 50, H. 1 (1971) 76–136. 178 Ute Frevert, Was haben Gefühle in der Geschichte zu suchen, in: Geschichte und Gesellschaft 35, H. 2 (2009) 183–208, 183; Alexandra Przyrembel, Sehnsucht nach Gefühlen. Zur Konjunktur der Emotionen in der Geschichtswissenschaft, in: L’Homme. Z.F.G. 16, H. 2 (2005) 116–124, 116; Susan J. Matt, Current Emotion Research in History. Or, Doing History from the Inside Out, in: Emotion Review 3, H. 1 (2011) 117–124; Daniela Saxer, Mit Gefühl handeln. Ansätze der Emotionsgeschichte, in: traverse. Zeitschrift für Geschichte=Revue d’histoire 14, H. 2 (2007) 15–29. Ein Forschungsüberblick findet sich unter anderem hier: Bettina Hitzer, Emotionsgeschichte – ein Anfang mit Folgen, in: H-Soz-Kult, 23. 11. 2011, online: http://