Tempus, Aspekt, Aktionsart [Reprint 2017 ed.] 9783111708706, 9783484500716


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German Pages 117 [124] Year 1974

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
0. Einleitung
1. Allgemeines
2. Möglichkeiten der Tempusdeskription
3. Zeitenfolge
4. Aspektlehre
5. Aktionsarten
6. Literaturverzeichnis
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Tempus, Aspekt, Aktionsart [Reprint 2017 ed.]
 9783111708706, 9783484500716

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Romanistische Arbeitshefte

10

Herausgegeben von Gustav Ineichen und Christian Rohrer

Horst G. Klein

Tempus, Aspekt, Aktionsart

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1974

ISBN 3-484-50071-9 © Max Niemeyer Verlag Tübingen 1974 Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege zu vervielfältigen. Printed in Germany

I N H A L T S V E R Z E I C H N I S

0

EINLEITUNG

1

ALLGEMEINES

2

3

1 ZUR

TEMPUSPROBLEMATIK

1.1.

Natürliche Zeit versus grammatikalische

1.2.

Linguistische Relativitätstheorie

1.3.

Zeitstellenwert und Pragmatik

10

1.4.

Einwände

13

1.5.

Übungen und begleitende Lektüre

15

MÖGLICHKEITEN DER

Zeit

4 6

TEMPUSDESKRIPTION

2.1.

Ansätze traditioneller Grammatiken

2.2.

Morphologische Tempusmarkierung ohne

17 Zeit-

stellenwert

20

2.3.

Morphologische Tempusmarkierung

23

2.4.

Lexikalische Tempusmarkierung

28

2.5.

Mikrosyntaktische Tempusdeskription

29

2.6.

Textlinguistische Tempusdeskription

31

2.7.

T e m p u s d e s k r i p t i o n u n d g e n e r a t i v e TG

35

2.8.

T e m p u s d e s k r i p t i o n und P r a g m a t i k

48

2.9.

T e m p u s d e s k r i p t i o n und S o z i o l i n g u i s t i k

51

2.10. K r i t i k

54

2.11. Ü b u n g e n u n d b e g l e i t e n d e L e k t ü r e

55

ZEITENFOLGE 3.1.

Traditionelle Ansätze

60

3.2.

Statistische Ansätze

64

3.3.

Textlinguistische Ansätze

66

3.4.

Z e i t e n f o l g e im K o m p e t e n z m o d e l l

68

3.5.

Soziolinguistische Kriterien

71

3.6.

Übungen und begleitende Lektüre

73

4

5

6

ASPEKTLEHRE 4.1.

Terminologischer Abriß

76

4.2.

Exkurs: Die russische Aspektdualität

77

4.3.

Traditionell-strukturalistischer Ansatz

80

4.4.

Kontrastiver Ansatz

83

4.5.

Textlinguistischer Ansatz

87

4.6.

Ansatz der Transformationsgrammatik

89

4.7.

Ansatz der generativen Semantik

95

4.8.

Didaktische Überlegungen

98

4.9.

Übungen und begleitende Lektüre

100

AKTIONSARTEN 5.1.

Terminologischer Abriß

103

5.2.

Traditioneller Ansatz

104

5.3.

Strukturalistischer Ansatz

107

5.4.

Generativer Ansatz

112

5.5.

Übungen und begleitende Lektüre

113

LITERATURVERZEICHNIS

115

0.

E I N L E I T U N G

Dieses Buch richtet sich als "Romanistisches Arbeitsheft" an Studenten des Französischen, die sich zu Beginn ihres Studiums mit Einführungen in die linguistische Theorienbildung beschäftigt haben. Es ist ein bedauernswertes Faktum unserer derzeitigen Linguistikausbildung, daß den Auszubildenden der Bezug der linguistischen Theorienbildung auf die Praxis der Sprachdeskription zumeist fehlt. Zwar werden mit Hilfe von Kommunikationsmodellen die Grenzen und Interferenzen verschiedenartiger Theorien der modernen Linguistik aufgewiesen, ohne daß jedoch auf den Praxisbezug deskriptiver Linguistik im Bereich der Lehrerausbildung einzugehen versucht wird. Ein solches Trachten sieht natürlich sehr technologisch orientiert aus und abstrahiert zunächst von den gesellschaftlichen Bezügen sowohl von Sprache als auch von Linguistik schlechthin. Dieser Schein trügt jedoch, wenn man methodisch davon ausgeht, daß deskriptive Linguistik auf allen von Kommunikationsmodellen aufgewiesenen Ebenen zu arbeiten hat. Dies schließt neben der pragmatischen auch die soziolinguistische, die psycholinguistische und die rein "systemorientierte" Untersuchungsebene ein. Die vorliegende Arbeit stellt als.Beitrag zur Angewandten Linguistik den Versuch dar, möglichst viele methodische Ansätze, die uns die moderne Linguistik bietet, in bezug auf einen Problemkreis zu überprüfen. Hierbei wird sich bei den angeschnittenen Problemen die Feststellung nicht vermeiden lassen, daß auch bei Ausschöpfung möglichst vieler moderner Methoden sich nur Teillösungen erreichen lassen. Es soll der Versuch unternommen werden, anhand einiger Probleme, mit denen der Fremdsprachenlehrer fortwährend konfrontiert ist, Reichweite und Grenzen von Theorien zu überprüfen. Die erörterten deskriptiven Probleme beschränken sich auf drei Teilbereiche:

2

1. Den Teilbereich Tempus mit der Fragestellung nach der Beziehung zwischen Tempusmarkierungen eines Textes und außersprachlicher Realität sowie der Frage nach der Verwendung von Tempusformen im Text, in traditionellen Termini die Frage nach der Zeitenfolge (consecutio temporum). Diese Fragestellungen ermöglichen verschiedenartige wissenschaftstheoretische Ansätze. Ausgehend von einer Bestandaufnahme der Leistungen traditioneller Grammatiken in der Frage der Tempusgebung werden die Grenzen und Unzulänglichkeiten einer traditionellen linguistischen Deskription aufgewiesen. Ansätze strukturalistischer, textlinguistischer, generativer, pragmatischer und soziolinguistischer Art werden danach aufgezeigt, um ebenfalls die Grenzen und die Verwertbarkeit solcher Theorien bei der Sprachdeskription kritisch zu beleuchten. Dabei soll dem Studienanfänger keine "Einführung in die "Tempuslehre" oder in die "consecutio temporum" gegeben werden, sondern der mit den wichtigsten linguistischen Theorien vertraute fortgeschrittene Studienanfänger soll dazu angeleitet werden, kritisch über linguistische Theorienbildung nachzudenken. Es sollen in diesem Buch- keine "Lösungen" zugunsten einer Theorie angeboten werden. Keine der bisherigen linguistischen Theorien ist dazu in der Lage, die hier selektierten Probleme zu "lösen". Die didaktische Absicht der Arbeit ist, von der Seite der deskriptiven Linguistik her Problembewußtsein beim Studierenden der Linguistik zu erwecken. 2. Unter ähnlichen Gesichtspunkten ist der Teilbereich "Aspektlehre" zu verstehen, der von der Seite der Angewandten Linguistik noch die Methode der Kontrastiven Linguistik mitberücksichtigt. 3. Den Abschluß bilden einige Fragestellungen aus dem Bereich der Aktionsarten, die vor allem die Interaktion von Syntax und Semantik beleuchtet. Den hier ausgewählten Problemstellungen der deskriptiven Linguistik ist folgendes gemeinsam: - es handelt sich bei allen angeführten Problemen um ausgesprochen vielschichtige Phänomene, die nahezu alle möglichen Deskriptionsebenen betreffen.

3

- Es handelt sich um Fragen, denen der Fremdsprachendidaktiker oft mit großer Unsicherheit und Hilflosigkeit gegenübersteht und auf die er von der Linguistik Antworten erwartet. - Es handelt sich um Probleme, die bisher von keiner linguistischen Theorie auch nur annähernd gelöst worden sind. In diesem Sinne soll das Buch gleichzeitig eine Anregung und Aufforderung an die Absolventen eines linguistischen Grundkurses sein, ihr Forschungsinteresse bei Kenntnis möglichst vieler Aspekte linguistischer Theorienbildung auf diese weitgehend ungelösten Probleme der Sprachdeskription zu richten. Damit ist gleichzeitig die Zielgruppe dieses Arbeitshefts genannt: Es richtet sich an Studierende, die einen linguistischen Grundkurs absolviert haben und mit den wichtigsten Theorienbildungen der modernen Linguistik im Ansatz vertraut sind. Es handelt sich also um ein Thema, das in einem aufbauenden Proseminar behandelt werden sollte, das unter dem Aspekt der Angewandten Linguistik zu stehen hätte. Die hier verarbeitete Literatur wäre in zwei Kreisen anzuordnen: Den einen Kreis bildet die überaus zahlreiche traditionelle Literatur zum Problemkreis Tempus-Aspekt-Aktionsart, wie sie beispielsweise in den bibliographischen Anhängen von Weinrich, Pollak, Koschmieder (s. Bibliographie) zu finden ist, den anderen Kreis bildet einmal generell die kritische Literatur zur Modellbildung, wie sie für den Anfänger am besten in den bibliographischen Anhängen zum Funkkolleg Sprache zugänglich ist, und zum anderen, im speziellen Fall der Tempusproblematik, bietet der bibliographische Anhang von D.Wunderlichs Arbeit zu "Tempus und Zeitreferenz" einige Hinweise zu neueren Arbeiten.

1.

A L L G E M E I N E S

1.1.

NATÜRLICHE ZEIT VERSUS GRAMMATISCHE ZEIT

1.1.1. Werke über Tempusprobleme haben in bezug auf ihr Beschreibungsobjekt, die Zeit, im wesentlichen eine Gemeinsamkeit: die Vergänglichkeit. Dies bezieht sich auch auf die vorliegende Arbeit, die zum Zeitpunkt ihres Erscheinens (Gegenwart) schon zur Vergangenheit gehört. Dennoch empfinden Sie, der Leser, daß wir augenblicklich (Gegenwart) über etwas kommunizieren, das für Sie durchaus Gegenwartsgeltung haben kann, wenn auch die Abfassung dieses Textes schon einige Zeit zurückliegt. Wenn Sie allerdings beschließen, diese Zeilen erst morgen weiterzulesen (Zukunft), so überwinden Sie morgen die Schwelle von der Zukunft zur Gegenwart, durcheilen die Gegenwart im Leseakt und Ihre Tätigkeit gehört der Vergangenheit an. Übrigens-, fällt Ihnen bei der Verwendung der Tempora in den letzten 13 Zeilen etwas auf? Ich spreche mit Ihnen über das Phänomen "Zeit" und benutze lediglich die Präsens- oder Gegenwartsformen des deutschen Verbums. Ich möchte diesen Beweis nicht weiterführen; das Deutsche besitzt Verbalkategorien, die etwas mit Zeit zu tun haben, wir benutzen sie deshalb mehr oder weniger häufig; dennoch ist es durchaus möglich, auch ohne solche an das Verbum gebundene Kategorien auszukommen. Sprachen wie das Vietnamesische oder das Birmanische, deren Verbalformen nicht zeitlich durch ein Tempusmorphem charakterisiert werden, kennen sehr wohl ohne diese Kategorien auskommen. Dennoch ist der Vietnamese oder der Birmane natürlich ganz genauso dazu in der Lage, einen Vorgang in ein zeitliches Koordinatensystem einzuordnen. 1.1.2.

Naturwissenschaftliche und technologische Fortschritte

haben es möglich gemacht, daß Zeit meßbar ist. Im Vergleich zu einer herkömmlichen Pendeluhr ist der Genauigkeitsgrad einer Quarzuhr schon um mindestens ein Zehnfaches höher, und eine Atom-

5 uhr kann die Zeit auf etwa 0 , 0 0 0 000 1 Promille Abweichung genau messen. Wie wir sehen, ist unsere Sprache durchaus dazu in der Lage, solche Präzision zu beschreiben. Allerdings besitzt unsere Sprache für eine derartige Präzision keine formalen Kategorien, denn sie benötigt sie nicht. Die Kategorien unserer Sprache sind zwar historisch gewachsen, orientieren sich aber nicht zuletzt an der sprachlichen Realität besonders häufiger Alltagssituationen. Es bleibt uns die Frage, welcher Mittel sich die Sprache zur zeitlichen Einordnung von Handlungen bedient, wie diese Mittel möglichst exakt zu beschreiben sind (etwa zum Zweck der Sprachvermittlung) und schließlich, wie der Gebrauch dieser Mittel, ihr "Einsatz", in einem Text zu beschreiben ist. 1.1.3. Das Experiment am Anfang dieses Kapitels hat uns gezeigt, daß beispielsweise die deutsche Sprache (ebenso wie das Französische) sehr wohl dazu in der Lage ist, allein mit einer einzigen "tempusmarkierten" Form, nämlich dem Präsens, zukunftsund vergangenheitsgerichtete Reflexionen über das Phänomen zeit anzustellen. Wir können daraus schließen, daß es so etwas wie eine "grammatische Zeit" geben muß, die beispielsweise morphematischen Ausdruck in der Sprache gefunden hat und eine "natürliche Zeit". Aufgabe dieser "grammatischen Zeit" oder "Tempuskategorie" ist es, mit Hilfe von anderen morphologischen, lexikalischen und kontextuellen Mitteln im weitesten Sinn einen Bezug zur "natürlichen Zeit" herzustellen, wenn dieser Bezug durch Situation oder Kontext gefordert wird. 1.1.4.

In einigen Sprachen kommt diese Zweiteilung auch lexika-

lich zum Ausdruck: Es sei erinnert an die englische Unterscheidung von time (natürliche Zeit) und tense (grammatische Zeit)1. Wir können also konstatieren, daß das Französische einige sprachliche Kategorien besitzt, die einen Bezug zur natürlichen Zeit und ihrer Relativität herstellen. Diese Kategorien kommen besonders häufig im System dieser Sprache vor und haben besonders auffällig im Verbalsystem Niederschlag gefunden. Die Anordnung und die Art der Elemente einer Sprache, die Bezug nehmen auf die natürliche 1

H.Weinrich, Tempus (ed. 1964), S. 11-17; (ed. 1971), S. 7-8

6

Zeit, können sich sehr von Sprache zu Sprache unterscheiden. Eines der wohl gravierendsten Probleme für den deutschsprachigen Lernenden des Französischen ist die Tatsache, daß er sich auf der Ebene der Vergangenheitstempora im Französischen einer vollkommen anderen Strukturierung gegenübersieht als der seiner deutschen Muttersprache. Kann man von dieser Verteilung und Anordnung der Bezugselemente bereits einen Schluß auf das Verhältnis zur "natürlichen Zeit" ziehen? Einen solchen Schluß hat beispielsweise Benjamin Lee Whorf mit seiner "linguistischen Relativitätstheorie" gewagt. Wir wollen diese zunächst einmal kritisch betrachten. 1.2.

LINGUISTISCHE RELATIVITÄTSTHEORIE

1.2.1. Benjamin L. Whorf (1897-1941) kam in seinen Arbeiten zur Deskription der Sprache der Hopi-Indianer2 zu recht dezidierten Ansichten über das Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit. Die Welt stellt sich für ihn dar "als ein Kaleidoskop von Eindrücken, das durch unseren Geist organisiert werden muß, d.h. im wesentlichen durch das in ihm vorhandene sprachliche System"3. Mit anderen Worten gesagt, die Struktur einer Sprache L bestimmt das Denken der Sprecher dieser Sprache entscheidend. Es gibt somit kein universelles Sprachsystem. Diese vollständige Determination des Denkens durch das Sprachsystem wird von ihm gekoppelt mit der Spekulation, daß beispielsweise die Entwicklung unserer "indoeuropäischen" Naturwissenschaft entscheidend von den Denkstrukturen indoeuropäischer Sprachen und deren Kategoriensystemen geprägt oder zumindest gefärbt sei. Das anthropologische Interesse Whorfs an der Kultur der Hopi-Indianer bewegt ihn zu einer derartigen kulturrelativistischen Spekulation, die weder die biologischen Universalien von Sprache berücksichtigt, noch den tatsächlichen Gegebenheiten seines Hopi-Idioms, das ihn zu einer solchen Spekulation führte, gerecht wird. 1.2.2.

Die Gefahr eines solchen theoretischen Ansatzes liegt auf

der Hand: Hier wird einem ohnehin - wie wir noch sehen werden 2 3

B.L.Whorf, Sprache, Denken, Wirklichkeit, Hamburg 1964 2 , S.7-18 H.Arens, Sprachwissenschaft, Freiburg, 19692, S. 547

7 mißverstandenem System, dem der Hopi-Sprache, eine eminent dominante Rolle im Kommunikationssystem zugewiesen. Whorf geht in seiner Spekulation so weit, daß er vermutet, die Hopi hätten, da ihnen der "europäische Zeitbegriff" fehlt, keine ähnlich leistungsfähige Naturwissenschaft entwickeln können, wie dies die europäischen Völker auf Grund ihres sprachlichen Kategorialsystems dem Spiegel ihrer Kultur - vermochten. Eine gewagte These, die auf mindestens zwei fundamentalen Irrtümern beruht: 1.2.2.1.Bei der Annahme eines "europäischen Zeitbegriffs", der den europäischen Sprachen "immanent" sei, handelt es sich schlicht und einfach um eine Fiktion. Allerdings ist diese Fiktion genährt von dem Primat lateinischer Formenkategorien bei der Beschreibung europäischer Sprachsysteme, ein Prinzip, das sich auch heute noch in unseren Schullehrbüchern großer Beliebtheit erfreut. 1.2.2.2.Die Annahme, die Hopi hätten keinen Anteil an einer sozusagen "universellen" Orientierung an Raum und Zeit, beruht schlichtweg auf einer falschen Interpretation seiner Beispiele. 1.2.3. Mit Sicherheit gibt es eine Reihe von Universalien wie Raum und Zeit, die für die Hopi in gleicher Weise gelten wie für den Durchschnittseuropäer. Die Abfolge von Tag und Nacht, die Wanderung der Sonne von Osten nach Westen, dürfte wohl auch in einer sehr frühen Phase der Sprachentwicklung ein nicht zu bestreitendes Erlebnis gewesen sein. Immerhin hat der benachbarte mesoamerikanische Raum mit seinen Hochkulturen eine Kalenderrechnung hervorgebracht, die mit ihrer Genauigkeit die Versuche der westlichen Hemisphäre in den Schatten stellte. Gehen wir also von der Existenz solcher Universalien aus und betrachten uns Whorfs Beispiele:

8 1.2.4.

Whorfs Beispiele zur Zeitlosigkeit des Hopi-Verbs Objektfeld

Sprecher

Hörer

Sprachliche Behandlung von "Rennen einer Person"

Situation la

der Läufer ist im Objektfeld

blickt auf Objektfeld

überschaut Objektfeld

ENGLISCH DEUTSCH HOPI

he is running er rennt wari (rennen, Aussage über Tatsachen)

Situation lb

Läufer hat Objektfeld verlassen

blickt auf Objektfeld

überschaut Objektfeld

ENGLISCH DEUTSCH HOPI

he ran er rannte (fort) wari (rennen, Aussage über Tatsachen)

Situation 2

Der Läufer ist im Objektfeld

Blickt auf Objektfeld

ENGLISCH kein Einblick DEUTSCH HOPI in das Objektfeld

he is running er rennt wari (rennen, Aussage über Tatsachen)

Situation 3

Objektfeld ist leer

blickt auf Hörer

ENGLISCH kein Einblick DEUTSCH in das HOPI Objektfeld

he ran er rannte era wari (rennen, Tatsachen-Aussage aus dem Gedächtnis)

Situation 4

Objektfeld ist leer

blickt auf Hörer

kein ENGLISCH Einblick DEUTSCH in das HOPI Objektfeld

he will run er wird rennen warikni (rennen, Ausdruck einer Erwartung)

Situation 5

Objektfeld ist leer

blickt auf Hörer

ENGLISCH kein Einblick in das DEUTSCH Objektfeld HOPI

he runs (e.g. on the track team) er läuft (z.B. in der Mannschaft von Club X) warikngwe (rennen, allgemeine Aussage über gesetzmäßiges Geschehen)

9 1.2.5. Formal hat Whorf zunächst einmal recht, wenn er aus dem oben angeführten System schließt, daß das Hopi-Verb nicht zwischen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft als formaler Kategorie unterscheidet. Nach seinen Aussagen muß aber das Verbum jeweils die Art der Gültigkeit anzeigen, die die Aussage nach der Intention des Sprechenden haben soll. So wird in Situation 1 - 3 eine Aussage über eine Tatsache gemacht, es findet also ein Bericht über ein Geschehen statt, in Situation 4 wird die Erwartung eines Geschehens ausgedrückt, in Situation 5 macht der Sprecher eine Aussage über die Gesetzmäßigkeit eines Geschehens. Daß bei derlei Aussagen auch Bezug genommen wird zu einem Zeitsystem, liegt doch wohl auf der Hand: Mit großer Sicherheit setzt die Situation 4 ein zukunftgerichtetes Reflektieren voraus. Situation 5 könnte vielleicht als zeitstellenwertloser Tatbestand charakterisiert werden, ein Tatbestand, den wir im Deutschen mit dem Präsens, im Russischen mit dem Futur, im Französischen ebenfalls mit dem Präsens ausdrücken. Die Tatsache, daß in den erwähnten Sprachen eine "tempusmarkierte" Form zeitstellenwertlos gebraucht wird, darf allerdings nicht zu der Spekulation führen, die Whorf für das Hopi parat hält. 1.2.6. Der Unterschied zwischen Situation la und lb wird im Hopi nicht morphologisch charakterisiert, vielmehr wird ein pragmatischer Bezug vorausgesetzt: der Läufer ist im Blickfeld/der Läufer hat das Objektfeld verlassen. Ähnlich pragmatisch orientiert sind_einige ostasiatische Sprachen: Der vietnamesische Satz "Ong Nam di läm"

kann heißen:

Mr. Nam is going to work Mr. Nam will go to work Mr. Nam went to work

Die Situation (und/oder der Kontext) verdeutlicht den Zeitbezug der Aussage. Soll der Kontext spezifiziert werden, so kann ein zusätzlich gebrauchtes Auxiliar den Zeitbezug explizit ausdrücken. 1.2.7.

In der Forschungstradition ist man sich einig, daß Whorfs

Thesen gründlicher überprüft werden müßten11. Bei der Beschäfti4

E.H.Lenneberg, Cognition in Ethnolinguistics, Language 29, 1953 S. 463- 471 M.Hartig/U.Kurz, Sprache als soziale Kontrolle. Neue Ansätze zur Soziolinguistik, Frankfurt/Main 1971, S. 56-74

10

gung mit "Exotica" neigt man zu voreiligen Schlüssen, insbesondere dann, wenn man fremde Strukturen unter kulturrelativistischen Prinzipien betrachtet, die Funktion solcher Strukturen überbewertet und wichtige Gesichtspunkte, wie z.B. den pragmatischen, außer acht läßt. Das Beispiel der Diskussion um Whorf hat jedoch verdeutlicht, daß es eine Varietät an sprachlichen Mitteln auf allen nur denkbaren Ebenen der Deskription gibt. Die Anordnung dieser Elemente im Sprachsystem und ihr Stellenwert im Kommunikationssystem allein läßt auf keinen Fall Schlußfolgerungen in bezug auf die außersprachliche Realitätserfassung der Sprecher zu. Dennoch scheint es gewisse "temporale" Universalien in der Realitätserfassung zu geben, zu denen die noch zu analysierenden deskriptiven Einheiten der Sprache einen Bezug haben. E.Koschmieder hat in seiner Arbeit "Zeitbezug und Sprache"5 zu dieser Problematik Stellung genommen. 1.3.

ZEITSTELLENWERT UND PRAGMATIK

1.3.1.

Die traditionelle Grammatik spricht vom "Zeitwort", wenn

sie das Verbum meint. Es besteht also bei den Grammatikern die Auffassung, daß das Verbum uns irgendeine Mitteilung über die "Zeit" signalisiert. Wir haben gesehen, daß auch eine Reihe anderer sprachlicher Elemente uns zeitliche Informationen geben. Es fällt jedoch auf, daß gerade das Verbum uns in obstinater Weise mit Hilfe von Morphemen einen Bezug signalisiert, der etwas mit "Zeit" zu tun haben mag. Harald Weinrich glaubt, dieser durch das Verbum signalisierte Bezug habe nichts mit "Zeit" zu tun, sondern signalisiere beispielsweise die Zugehörigkeit des Verbs zu einem Text "besprechenden" oder "erzählenden" Charakters. Andere Sprachwissenschaftler sehen in den Tempusmorphemen konkrete Aussagen über ein zeitliches Bezugssystem zwischen Sprecher, Tatbestand und zeitlicher Orientierung. Das Beispiel Whorf hat uns jedoch deutlich gezeigt, daß interpretatorische Versuche, die darauf hinauslaufen zu behaupten, das Verb indiziere Zeit oder nicht, wohl der falsche Ansatzpunkt einer Untersuchung sein dürfte. Die mannigfaltigen Gegebenheiten eines Kommunikationsvorganges 5

E.Koschmieder, Zeitbezug und Sprache, Darmstadt 1971

11

setzen gewisse Universalien voraus, zu denen das Verbum, wie auch andere sprachliche Elemente, einen gewissen Bezug signalisieren. 1.3.2. Sehen wir uns deshalb zunächst eine Reihe von solchen Universalien an, bevor wir dazu übergehen, Tempusmorpheme dazu in einen Bezug zu setzen. Sehen wir zunächst einmal von den Faktoren ab, die auf das Kommunizieren zwischen Sender und Empfänger einwirken, die möglicherweise wichtiger sein können als der rein nachrichtentechnische Kontakt zwischen Sender und Empfänger. Wir werden auf solche Faktoren wie sie die Soziolinguistik und die Psycholinguistik berücksichtigt noch zurückkommen. Es bleibt also ein restringierter Blick auf den Austausch von Informationen zwischen einem Sender und Empfänger mit Hilfe eines zunächst nicht näher definierten Kodes. Im Sender (der ja auch gleichzeitig Empfänger sein kann) liegt ein universeller Fixpunkt der Kommunikation. Der Zeitpunkt, zu dem "gesendet wird", dürfte ein weiteres universell gültiges Faktum sein, das nicht nur zeitlich, sondern auch örtlich definiert sein kann. Auf eine spezifische Kommunikationssituation bezogen könnten also die Koordinaten übersetzt werden mit "ICH - JETZT - HIER". Wir haben mit diesen (oder ähnlichen) Koordinaten die Möglichkeit, zum Vorgang der Kommunikation Stellung zu nehmen. Die meisten Sprachen haben auch Kategorien entwickelt, die Bezug nehmen auf solche Universalien der Kommunikation. Diese Kategorien müssen nicht immer morphologische Ausprägung erfahren haben. Sie können auch den häufigsten Kommunikationstypus als nicht markierten Normalfall ansehen und nur die Situationen markieren, die davon abweichen. 1.3.3.

Wir haben jedoch bisher in unserem stark reduzierten Kom-

munikationsansatz nur die Koordinaten des Senders (Empfängers) betrachtet. Die übermittelte Information hat eigene Koordinaten, die sich nach den Kriterien des übermittelten Tatbestandes richten, also auch pragmatische Kriterien. Diese Kriterien müssen ebenfalls, je nach Art des Textes, differenziert untersucht werden. 1.3.4.

Das sprachliche Zeichensystem hat neben anderen Aufgaben

nun auch die Funktion, die Beziehung zwischen der ICH-JETZT-HIER-

12

Koordinate und den pragmatischen Koordinaten des Tatbestands festzulegen. Ich sage an dieser Stelle deutlich "neben anderen Aufgaben" , denn wir haben unseren Kommunikationsansatz soweit reduziert, daß eminent wichtige Ansätze, wie sie z.B. gerade die Soziolinguistik bei der Betrachtung der Performanz eines consecutio temporum-Modells bringen könnte und andere performatorische Ansätze ausgeschaltet sind. (Vgl. 2.7. und 3.5.) 1.3.5. Wir müssen uns deshalb fragen, ob die Funktion der Tempusmarkierung lediglich in einer deiktischen Kategorie zu suchen ist, die ein Verhältnis zwischen Zeitpunkt des Sprechens und der Zeit der besprochenen Handlung herstellt, oder ob sie mehr darstellt. Ganz gewiß gehört eine solche deiktische Funktion auch zu den Aufgaben der Tempusmorpheme. Bei der Verwendungsweise dieser Morpheme werden jedoch alle die Teilbereiche mitangesprochen, die sich auf die Korrelation zwischen den Orientierungskoordinaten "ICH-JETZT-HIER" einerseits und den textkonstituierenden Koordinaten des Tatbestandes andererseits beziehen. 1.3.6. Wir werden im folgenden versuchen zu sehen, welche Teilmengen dieser oben genannten Korrelationen sich auf das Phänomen der grammatischen Kategorie "Tempus" beziehen, welche sich auf die Kategorie "Aspekt" beziehen, welche auf "Aktionsart" und auf welche Weise diese Kategorien miteinander korrelieren und interferieren. 1.3.7. Im folgenden Kapitel gehen wir deshalb von einer Bestandsaufnahme der Textmarkierungen aus, die eine temporaldeiktische Aussage über die Beziehung zwischen der ICH-JETZT-HIER-Koordinate und der besprochenen Handlung mit ihren konstituierenden Koordinaten machen. Wir wollen dabei folgendes überprüfen: 1. welche Mittel der Teir.pusmarkierung gibt es in romanischen Sprachen? 2. Von welchen Faktoren der Koordinaten sind diese Markierungen abhängig?

13

3. Daraus resultierend: was sagen sie effektiv über Zeitbezüge aus? 4. Welche Ergebnisse der Deskription brachte uns die traditionelle Grammatik? 5. Welche modernen linguistischen Methoden können uns im Rahmen ihrer theoretischen Gültigkeit Hinweise a) zur Deskription b) zur Verwendungsweise des Formeninventars geben? 1.4.

EINWÄNDE

1.4.1.

Kritik am theoretischen Ansatz

Die Gefahr einer solchen Untersuchung liegt in erster Linie bei ihrem Modellbildungsansatz. Die Restriktion von Kommunikation auf ein simplifiziertes Sender-Empfänger-Modell schaltet zunächst die Faktoren aus, die textkonstituierend wirken. Es handelt sich aber bei diesen Faktoren um für die Kommunikation eminent wichtige. Soll ein solcher Ansatz, der aus methodologischen Gründen von einer Deskription des Kodes ausgeht, seine Berechtigung haben, so müssen in diesem Ansatz nacheinander die Faktoren eingebracht werden, die textkonstituierend wirken können. Es geht hierbei im wesentlichen um Fragen der Soziolinguistik (z.B.) bei der Zeitenfolge, bei der Tabuisierung gewisser Temporalmorpheme (z.B. Passe simple im Französischen), um Fragen der Pragmatik (z.B.) bei der Sprechsituation, den Äußerungstypen6, um Fragen der Kommunikationsmedienwahl, was wiederum mit den Äußerungstypen interferiert, um Fragen der kommunikativen Intention, die mit den beiden erwähnten Untersuchungsebenen kohärent sind und schließlich, z.B. bei Fehlleistungen im Zusammenhang mit dem Spracherwerb, auch um psycholinguistische Probleme. Der hier aus methodischen Gründen gewählte Einstieg von Seiten eines restringierten Systems soll diese Fragen nicht ausschließen. Ganz im Gegenteil offenbart sich gerade bei einem solchen Einstieg, daß Beschreibungskriterien, die sich auf Ansätze aus Morphologie, Syntax und Semantik beziehen, nicht ausreichen, um die zur Diskussion stehenden Phänomene zu beschreiben. Die Beschäfti6

D.Wunderlich, Tempus und Zeitreferenz im Deutschen, München 197o, S. 121

14

gung mit diesem Arbeitsheft soll also bei dem Studierenden zu dem Stimulus führen, sich auf der Grundlage der hier erarbeiteten Ansätze mit den anderen hier aufgezeigten weiter zu beschäftigen. 1.4.2.

Kritik am Objekt der Deskription

Nach dem Modell Chomskys liegt die Aufgabe der Sprachdeskription in der Beschreibung eines Kompetenzmodells. Es gilt, die Konstituenten eines Satzes und den Regelapparat, der die Elemente organisiert und generiert, zu beschreiben, um auf diese Weise Antwort zu geben auf die Frage, wie aus einer Menge von Elementen ein organisierter (grammatikalischer) Satz entsteht. Durch die Frage nach dem "WIE" wird das Erkenntnisinteresse daran unterstrichen, welche Qualifikationen ein Sprecher besitzen muß, wenn er sprachlich kommunizieren will. Die Linguistik bewegt sich damit im Bereich der kognitiven Psychologie. Zur Beschreibung der ist das Konstrukt des idealen Sprecher/Hörers notwendig, Kompetenz das von der Performanz abstrahiert. Da aber bei der Performanz eine ganze Reihe von Faktoren (u.a. auch soziale Restriktionen) zu berücksichtigen sind, deckt sich eine Performanzbeschreibung mit Sicherheit nicht mit der einer Kompetenzbeschreibung. Gerade im Bereich der Phänomene Tempus-Aspekt-Aktionsarten interferieren Kriterien der Performanz so entscheidend, daß eine Beschreibungsebene der Kompetenz nicht legitim zu sein scheint. Das hier behandelte Thema stellt vor allem den Fremdsprachenlehrer vor sehr schwierige Probleme: Einerseits ist er mit Hilfe der bisherigen linguistischen Theorienbildung noch nicht in der Lage, die zur Diskussion stehenden Probleme adäquat zu beschreiben, gleichzeitig soll er aber andererseits Hinweise für eine grammatikalische Verwendung der Phänomene geben. Es zeigen sich hier deutlich die Probleme einer methodischen Trennung von Kompetenz und Performanz. Ein Großteil des Problembereichs, nämlich beispielsweise die Zeitenfolge, ist nur dann beschreibungsedequat darzustellen, wenn Kriterien der Performanz zur Beschreibung herangezogen werden. 1.4.3.

Kritik an der satzsyntaktischen Untersuchungsgrenze

Ein beachtlicher Teil der Untersuchungen zum vorliegenden Problemkreis bewegt sich im satzsyntaktischen Rahmen. Gerade das Problem der Zeitenfolge und der Aspektsetzung erfordert aber einen Unter-

15

suchungsrahmen, der textlinguistisch 7 orientiert sein muß. Wir müssen uns also bei jeder Untersuchungsmethode und bei jeder linguistischen Theorie fragen, welche Untersuchungsgrenzen

hier

theorienimmanent gesetzt werden. 1.5.

ÜBUNGEN UND BEGLEITENDE LEKTÜRE

1.5.1.

Übungen

1. Tempusdefinitionen: a) Tempus, das ( lat.tempus = Zeit) : In den Flexionsformen des VerbsC..D ausgedrückte Einordnung des Ausgesagten aus der Sicht des Sprechers : mit dem Sprechakt gleichzeitig = gegenwärtig, zurückliegend = vergangen, noch bevorstehend = zukünftig. (W.Ulrich, Wörterbuch - Ling. Grungbegriffe, Kiel 1972) b) Der Terminus "Tempus" ist die lateinische Übersetzung des griechischen Wortes für Zeit (griech. khrônos, lat. temus). Die Tempuskategorie hat insofern mit Zeitrelation zu tun, als diese in systematischen, grammatischen Kontrasten Ausdruck findet. Drei solcher Kontraste hat die traditionelle Grammatik in der Analyse des Griechischen und Lateinischen erkannt: "PRÄTERITUM", "PRÄSENS" und "FUTURUM". (J.Lyons, Einf. in die mod. Ling., 2. Aufl., München 1972, S. 3c9) c) On appelle temps les formes que prend le verbe pour indiquer à quel moment de la durée on situe le fait dont il s'agit. (M.Grevisse, Le bon usage Grammaire française, 7e éd. Gembloux 1961, p. 539 ,- § 616) d) Les temps expriment le temps proprement dit: les temps du français classent l'action marquée par le verbe dans le passé, le présent ou le futur. (Brunot/Bruneau, Précis de gr.hist. de la langue fr., 1949, § 522) e) Zum Ausdruck von Zeitrelationen dienen die Tempusmorpheme. Zusätzlich können Adverbien, Konjunktionen und Präpositionen verwendet werden. (D.Wunderlich, Tempus und Zeitreferenz im Deutschen, München 197o, S. 24) f) Die Frage, ob man Tempus mit Zeit erklären soll, erscheint unnötig. Wie unnötig, zeigt sich sofort, wenn man sie in eine andere Sprache übersetzt, etwa ins Französische. Sie lautet dann: Faut-il expliquer le (s) temps par le temps? (H.Weinrich, Tempus (1964), S. 11) 7

So die Forderung Weinrichs, Tempus

(1971), S. 8-11 und Weinrich,

Textlinguistik der Tempusübergänge, LuD 3 (197o), S. 222-227

16 Welche apriorischen Vorüberlegungen oder Arbeitshypothesen

stecken

hinter den Definitionen bzw. Hypothesen a - f? 2. Welche kulturrelativistischen Thesen können Sie in dem folgenden

Abschnitt

finden:

Die letzten Kariben Sie können nur bis sechs zählen, und ihre Sprache kennt keine Wörter für die Begriffe Gott oder Seele. Nur für das Böse haben sie einen Namen, manitü. Tot ist für sie nur der Mensch, dessen Leichnam sie mit eigenen Augen gesehen haben; deshalb werden die Leichen auch lange aufbewahrt, um allen Verwandten die Gelegenheit zu geben, sie wirklich zu sehen. Fremde oder in der Ferne verstorbene Angehörige gelten immer noch als lebend, auch wenn seit ihrem Fortgehen schon loo Jahre und mehr vergangen sind. Denn die Kariben besitzen keine abstrakte Vorstellung der Zeit und haben auch kein Verständnis für den Begriff des Todes an sich. „ „ , „ aus: Zentralamerika, Frankfurt am Main 1971, Geogr.-Kultur.Ges. im Kunstkreis Luzern (Herausg.) 3. Wie erklärt sich der "Widerspruch" zwischen Tempusformen und Zeitadverbien in den folgenden Beispielen: a) Da gehe ich doch gestern zu der Demonstration, als ich Polizeisirenen höre. b) Wer war denn eigentlich morgen früh dran? c) Gestern wird das Gesundheitsamt Hasch verteilen. 1.5.2.

Begleitende Lektüre

Allgemeines zur Tempusproblematik: - E.Koschmieder, Zeitbezug und Sprache, Darmstadt 1971 (Nachdruck von 1929) - H.Weinrich, Tempus, 1971, S. 7-14 - H.Weinrich, Tempus, 1964, S. 7-25; S. 39-43 - D.Wunderlich, Tempus und Zeitreferenz im Deutschen, München 197o, S. 13-17; 18-35; 84-92; 114 ff.; S. 236-245 - Reader: Der Begriff Tempus - eine Ansichtssache (Beih. Wirkendes Wort 2o), Düsseldorf 1969. Zur "linguistischen

Relativitätstheorie":

- B.L.Whorf, Language, Thought and Reality, Cambridge/Mass., N.Y., London 1956; deutsch: Sprache, Denken, Wirklichkeit, Hamburg 1964 2 - M.Hartig/U.Kurz, Sprache als soziale Kontrolle. Neue Ansätze zur Soziolinguistik, Frankfurt/M. 1971: S. 56-74 Diskussion der Whorfschen Thesen.

2.

M Ö G L I C H K E I T E N

DER

T E M P U S D E S K R I P T I O N

2.1.

ANSÄTZE TRADITIONELLER GRAMMATIKEN

2.1.1. Die Interessen der traditionellen Grammatik lagen im Auflisten morphologischer Kategorien zum Zwecke des paradigmatischen Spracherwerbs. Dabei wurden die Kategorien nach apriorischen Modellen der lateinisch-griechischen Grammatiken benannt und eingeordnet. Aufgabe der Syntax war es, Verwendungshinweise zu geben und Ausnahmen aufzuweisen. Die Fragestellungen zu den Temporalkategorien orientieren sich am klassisch-lateinischen Tempusmodell, das eine Adaption des griechischen Systems von Dionys von Thrax darstellte: " T h e r e a r e t h r e e t e n s e s , p r e s e n t , p a s t and f u t u r e . T h e r e are f o u r g r a d e s of the p a s t , i m p e r f e c t , p e r f e c t , p l u p e r f e c t and a o r i s t . " 1

. 1. 2 . Schwierigkeiter bei der Adaption älterer Modelle traten früh auf. Das Lateinische kannte zur Zeit Varros keinen Aorist, das Kategoriensystem mußte dementsprechend verändert werden2. Es entstand die Einteilung in die Tempora infecta und perfecta, die fortan bis in die Grammatikschulen der Scholastik beispielhaft war. 2.1.3.

Mit dem Entstehen der romanischen Volkssprachen ergaben

sich neue Adaptionsschwierigkeiten. Die Kriterien "infecta/perfecta" reichten zur Kategorisierung nicht aus. Die umorganisierten Verbalsysteme der Romania wiesen Kategorien auf, die dem klassisch-lateinischen System zwar entsprungen waren, aber in ihrer historischen Entwicklung eine andere Anordnung im System mit sich brachten. Italienische Grammatiker halfen sich bis ins 2o.Jahrhundert damit, daß sie ein formales Zusatzkriterium, der Opposition 1

Excerpts from Thrax's Art of Grammar, nach F.P.Dinneen, An In-

2

troduction to General Linguistics, New York, 1967, S. loo H.G.Klein, Das Verhalten der telischen Verben, Frankfurt/M. 1969, S. 28

18

"infecta/perfecta" im passiven Zustand, nämlich "einfache Form/ zusammengesetzte Form", zum Einteilungskriterium für die neu entstandenen Tempora wählten: "einfache" und "zusammengesetzte" Zeiten. 2.1.4. Das Französische und das Rumänische gingen in ihrer Entwicklung sogar soweit, daß ein Tempusmorphem, das des Passe simple (bzw. perfectul simplu), zu einer bloßen schriftsprachlichen (bzw. dialektalen) Variante des Passé composé (bzw. perfectul compus) wurde. Das Kriterium "einfache/zusammengesetzte Form" verlor seine Gültigkeit. 2.1.5. Zu allem Überfluß entwickelte sich in fast allen romanischen Sprachen eine dem französischen "imparfait" mehr oder weniger entsprechende Form, die sich von dem "passé composé" und den entsprechenden romanischen Varianten nicht mehr auf der Ebene des Zeitbezugs unterscheiden ließ. Es mußten neue Regeln der Kategorisierung gesucht werden, oder der Versuch unternommen werden, eine semantische Beschreibung der entsprechenden "Tempusf^rmen" vorzunehmen. Dies ist der Ausgangspunkt für die Ad-hoc-Interpretationen des zeitlichen Wertes von Temporalformen in den traditionellen Grammatiken des romanischen Bereichs. 2.1.6. Die Ad-hoc-Interpretationen ähneln sich. Man fragt sich nicht nach Strukturschemata, in denen sich bestimmte Formen konstituieren (der Konditionalsatz stellt hier wohl eine Ausnahme dar), sondern man stellt die Frage nach dem Inhalt der Tempusform. Da Kriterien wie Zeitbezug zur Interpretation nicht ausreichen, zieht man wahllos Kriterien der semantischen Deskription der Aktionsarten (z.B. Dauer, Wiederholung, etc.) oder gar einer mißverstandenen Aspektlehre heran, um eine adäquate semantische Beschreibung der Tempusmorpheme zu simulieren. Freilich, gelungen ist dies in keiner traditionellen Grammatik. Sehen wir uns einige Ergebnisse traditioneller Deskription an. wir beschränken unser Blickfeld auf die Vergangenheitstempora: 2.1.7.

In nahezu allen traditionellen Grammatiken3 werden anhand

von Beispielsätzen (in der Regel ohne Kontextbezug) Tempusformen vorgelegt und ad hoc interpretiert. Die Beispielsätze ähneln sich.

19

Zur Interpretation des "imparfait" werden je nach Art des Satzkontexts Termini benutzt wie "Zustand", "unbegrenzter Verlauf", "gleichzeitig", "Dauer", "Wiederholung", "Beschreibung", "nicht abgeschlossen". Zur Interpretation des "passé composé" werden Termini benutzt wie "Ereignis", "begrenzt", "neueintretende Handlung", "Einmaligkeit" und vieles andere mehr. Beispielsätze wie "La guerre durait/a duré trente ans"

zeigen deutlich die Absurdität eines solchen Vorgehens. Meist stimmen die aufgelisteten Kriterien in bezug auf die anderen Bestimmungselemente des Satzes, z.B. Adverbien, Konjunktionen durchaus. Die Tempusmorpheme werden nur noch diesen Beschreibungskriterien zugesellt. In der Spätphase strukturalistischer Arbeiten gibt es Ansätze zu Untersuchungen, inwieweit Elemente wie Adverbien, Konjunktionen, etc. Einfluß nehmen auf die Interpretation des Tempusmorphems11. In den hier geschilderten traditionellen Grammatiken wird jedoch lediglich ein von der semantischen Interpretation des Satzes vorgegebenes Bedeutungskonglomerat in das Temporalmorphem hineininterpretiert. Als Beispiel für die Verfahrensweise gelte der obige Satz: "La guerre durait trente ans"

"Beschreibung" und "Dauer" werden als satzbezogene Interpretation dem "Imparfait"-Morphem als Kennzeichen oktroyiert. Dieselben Kriterien passen natürlich auch zu dem Satz: "La guerre a duré trente ans"

Nein! Weit gefehlt! Hier wird ja die Begrenzung des Geschehnisses, die ja auch in "trente ans" ausgedrückt ist, dem "passé composé" als Legitimation zugrunde gelegt. Schade nur, daß die Sätze sich lediglich im Verbalmorphem unterscheiden! Jede Ad-hoc-Interpretation bleibt solange gültig, bis sie durch einen anderen Beispielsatz widerlegt wird. 3 Herangezogen wurden unter anderem die in Universitäts- und Schulpraxis benutzten Grammatiken von: Klein/Strohmeyer, Französische Sprachlehre, Stuttgart (1964), M.Grevisse, Le Bon Usage, Gembloux (1961), sowie die Grammaire Larousse du Français Contemporain. 4 z.B. Arne Klum, Verbe et Adverbe, Uppsala (1961); im Rahmen der generativen Grammatik: R.Steinitz, Adverbialsyntax, Berlin (1969); D.Wunderlich, Tempus und Zeitreferenz im Deutschen, München (197o), Kap.4.

20 2.1.8. Das Beispiel wirkt polemisch. Gewiß hat die traditionelle Grammatik einige wenige Temporalformen in einigen Korrelationen richtig gedeutet. Zu Regeln für eine Tempussetzung, geschweige denn zu einer Semantik der Tempusformen kann eine solche allenfalls literarische Interpretationstechnik jedoch nicht führen. Die Frage dürfte auch zunächst nicht lauten, was beinhalten Tempusformen an sich, sondern in welchen Strukturschemata kommen sie vor und was leisten sie dort (im Zusammenhang mit welchen anderen Elementen)? 2.1.9. Die (satzbezogene) interpretative Methode der traditionellen Grammatik führt uns gewiß zu keinem Ergebnis. Legen wir uns deshalb zunächst die Frage vor, welche Mittel der Tempusmarkierung gibt es in den hierbei ziemlich ähnlichen romanischen Sprachen und zwischen welchen kommunikativen Koordinaten stellen sie Beziehungen her (1.3.5.7.). 2.2.

MORPHOLOGISCHE TEMPUSMARKIERUNG OHNE ZEITSTELLENWERT

2.2.1. Das Experiment aus Kapitel 1 hat uns gezeigt, daß wir deutsche Verben mit dem Präsensmorphem versehen können und dabei dennoch beliebige Zeitbezugsaussagen treffen können. Wir schließen daraus, daß es Tempusmorpheme gibt, die einen zeitstellenwertlosen Tatbestand bezeichnen, genauer gesagt, die nichts aussagen über den zeitlichen Bezug zwischen Tatbestand und Sprechzeitpunkt. Unser Hopi-Beispiel Nr. 5 (1.2.4.) wäre zweifellos in eine solche Kategorie einzubeziehen. Das Französische benutzt das Präsensmorphem ähnlich wie den Infinitiv häufig ohne Zeitstellenwert: être étudiant c'est facile; le rester? C'est la grève! (Inscription murale, Paris 1968) un seul week-end non révolutionnaire est infiniment plus sanglant qu'un mois de révolution permanent (Inscription murale, Paris 1968)

Zweifellos sollen solche Sätze den Charakter der allgemeinen Gültigkeit haben; der gegebene pragmatische Zusammenhang solcher Texte wäre natürlich in die Untersuchung einzubeziehen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit bleiben solche Aussagen auf bestimmte,

21

noch näher zu bestimmende Situationen, wie die des Aphorismus, der spontanen Inschrift, des Sprichworts etc. beschränkt. 2.2.2. Das Französiche benutzt jedoch auch das Imparfait als "Tempusmarkierung" ohne den Zeitstellenwert.der Vergangenheit: 1.

Si

tu p a r t a i s

demain,

je

serais

heureux.

Die Zeitenfolge im Konditionalsatz verlangt hier ein Imparfait im Si-Satz, das aber eindeutig konditional zu verstehen ist (man vergleiche das Rumänische damit, das beispielsweise in beiden Sätzen u.a. auch ein Konditional zuließe). Der Strukturalist kann hier konstatieren, daß der Richtungsbezug des Satzes klar auf die Zukunft hingeht, das Adverb "demain" unterstreicht es. Der Zeitstellenwert der Vergangenheit ist hier aufgehoben, dennoch ist das "vouloir" mit dem Tempusmorphem "Vergangenheit" versehen. Die Tempusmarkierung hat hier offensichtlich eine andere Funktion übernommen. Schwieriger ist es, den Beispielsatz 2.

Tu v o u l a i s

t'en

aller

demain.

zu erklären. Auch hier ist ein Imparfait vorhanden, das mit einem Zeitrichtungsbezug "Zukunft" verbunden ist (demain). Man könnte versuchen, den Satz allenfalls als eine Ellipse5 der Äußerung: 3.

Tu me d i s a i s :

je

veux

m'en

aller;

ce

sera

demain.

zu interpretieren. Dagegen spricht jedoch, daß wir in unserem Beispielsatz (im Gegensatz zu dem von Wunderlich5) einen Infinitiv neben dem "voulais" vorfinden. Ein Transformationalist würde den Beispielsatz daher so erklären, daß das Element "demain" zu "t'en aller" gehört und auf diese Weise keine Inkompatibilität zwischen "demain" und dem Imperfektmorphem von "vouloir" besteht. Aus der Sicht der Transformationsgrammatik wäre also ein solcher Gebrauch des Imparfaits keineswegs ohne Zeitstellenwert. Die anderen Beispiele in 2.2.1. und 2.2.2.1. zeigen jedoch, daß das Französische 5

W u n d e r l i c h ( 1 9 7 o , S . 1 3 9 ) i n t e r p r e t i e r t b e i s p i e l s w e i s e den S a t z "Wer e r h i e l t das B i e r ? " a l s T r a n s f o r m e i n e r i d i o s y n k r a t i s c h e n E l l i p s e n t r a n s f o r m a t i o n von d e r A r t wer b e s t e l l t e ein B i e r ? Ich habe h i e r e i n B i e r . Wer e r h ä l t das B i e r ? ->• Wer e r h i e l t das B i e r ?

22 Tempusmorpheme besitzt, die unter bestimmten Umständen zeitstellenwertlos sind oder andere Markierungsfunktionen übernehmen können. 2.2.3.

Das lateinische System neigte dazu, in Fällen von Nicht-

markierung des Zeitstellenwerts die Kopola "esse" völlig wegzulassen: vox

populi

vox

patriae

Auch hier sind Sprichwörter und Inschriften besonders typische Situationen. Die Universität Straßburg trägt die wahrhaft europäische Aufschrift "Litteris

et

patriae".

Der Widmungsbezug ist situativ ohnehin einleuchtend, so daß die immanente Zeitstellenwertlosigkeit dem Charakter des Gebäudes Respekt erweist. 2.2.4.

Daß ein Verbum in seinem finiten Status zwangsweise ein

Tempusmorphem annehmen muß, auch wenn es keinen Zeitstellenbezug herstellen soll, führte in den meisten romanischen Sprachen dazu, daß eine Reihe von Tempusmorphemen (z.B. Präsens, Imperfekt) ohne diese Relation benutzt wird. Das Portugiesische hat hier eine eigene Kategorie entwickelt, die des persönlichen Infinitivs: e p r e f e r l v e l eu ir de a v i a o 6 e r a p r e f e r l v e l i r m o s de a v i ä o a n t e s de p a r t i r m o s , v o c e h ä - d e

avisar

o

porteiro

Der Zeitbezug ist im Verbum des anderen Satzgliedes ausgedrückt (e preferlvel/ era preferlvel/ hä-de avisar), die Verbalformen "eu ir"/ "irmos"/ "partirmos" sind lediglich durch ein Personalmorphem gekennzeichnet, der Zeitstellenbezug wird hier nicht durch das Verbum mitausgedrückt. 2.2.5.

Ähnlich besitzt das Rumänische ein Morphem, das des Kon-

junktivs "sä", das in der Lage ist, eine temporale Deixis zu neutralisieren: mergem sa mergem 6

finites Verb mit präsentischem Temporalmorphem Temporaldeixis aufgehoben und demgemäß kombi-

Beispiele aus: Krenn/Mendes, Modernes Portugiesisch, Tübingen 1971, S.195

23 nierbar mit Verben verschiedenartiger temporaler Deixis: trebuie sä mergem

müssen (3.P.Präs.) wir gehen

trebuia sä mergem ar trebui sä mergem

müssen (3.P.Impf.) wir gehen müssen (3.P.Kond.) wir gehen

va trebui

müssen (3.P.Fut.)

sä mergem

wir gehen

2.2.6. Zusammenfassend können wir sagen, daß romanische Sprachen dazu in der Lage sind, die temporale Deixis zu neutralisieren, d.h. entweder Temporalmorpheme zu benutzen, ohne daß dabei das Verhältnis des Sprechers zum Tatbestand berücksichtigt wird, oder sie mit Hilfe von anderen Morphemen (rumänisch sä) zu neutralisieren oder gar neue Verbalmorpheme zu schaffen, die nur der Personalmarkierung dienen (port.pers.Infinitiv). 2.3.

MORPHOLOGISCHE TEMPUSMARKIERUNG

2.3.1. Die weitaus häufigste Art der Tempusmarkierung in den romanischen Sprachen wird durch die "obstinate" (Weinrich) Markierung durch das entsprechende Tempusmorphem vollzogen. Eine strukturalistische Bestandsaufnahme wird feststellen, daß das Verbum mit einer Reihe von Morphemen so differenziert wird, daß der Sprecher/Hörer Stellung nehmen kann zum zeitlichen Ablauf von Tatbeständen, ihrer Reihenfolge und seiner Position gegenüber diesen Tatbeständen. 2.3.2. Die nach der Person und dem Zeitstellenwert nicht markierte Form des sogenannten Infinitivs des französischen Verbs participer (hier mit der Bedeutung von mitbestimmen) hat in der situationsspezifischen Markierung der 1.Person (ich) die folgenden Varianten: je participe je participerai je vais participer je viens de participer je suis en train de participer j'aurai participé je participerais j'aurais participé j'allais participer je venais de participer j'étais en train de participer je participais

24 j ' ai participé je participa j'avais participé j'eus participé

Das Formeninventar des französischen Verbalsystems zwingt den Sprecher, bei jeder Äußerung mit den Verbalmorphemen Stellung zu nehmen zu seinem Verhältnis zu dem betreffenden Tatbestand. Doch bereits hier zeigt sich, daß diese Stellungnahme gewissen Restriktionen unterworfen ist: 2.3.3. Eine Reihe von Formen, wie z.B. "je venais de participer", "j'allais participer", "j'étais en train de participer" haben wohl keine sehr große Chance, in der aktualisierten Rede vorzukommen. Verändern wir das Verbum, nehmen wir z.B. profiter, so bestehen diese Bedenken nicht. Wir können daraus schließen, daß eine Reihe der dargestellten Markierungen von dem semantischen Inhalt des Verbs abhängen (s. 5.1.-5.4.). 2.3.4.

Auch bleibt zu bemerken, daß in unserer Inventarliste die

Form "je participa" nur mit gewissen Einschränkungen geduldet werden kann. Zweifellos kommt diese Form in Verbindung mit der ersten Person nur mit gewissen Implikationen

(soziolinguistischer

und dialektaler Art) vor. In der Umgangssprache ist diese Form, zumindest in Verbindung mit der 1. und 2. Person, tabuisiert (s. 2.8.2.). 2.3.5.

Der strukturalistische Ansatz beschränkt sich auf eine

Inventarisierung des Analysematerials, um zu einer Funktionszuweisung zu kommen. Hier zeigt sich deutlich, wie eng der strukturalistische Untersuchungsrahmen ist. Ich will dies an zwei vorbildlichen Untersuchungsansätzen aufzeigen: 2.3.5.1.Harald Weinrich hat in der ersten Auflage seines Tempusbuchs eine Auflistung von morphologisch differenzierten Verbalformen des Französischen vorgenommen und ihnen bestimmte Funktionen im Text zugewiesen7. Die Kriterien seiner Kategorisierung orientieren sich zwar am vorhandenen Inventar und können durchaus 7

Harald Weinrich, Tempus, Stuttgart 1964

25

zur Interpretation des Stellenwertes der betreffenden Formen benutzt werden, letztlich sind sie aber nicht mit formalen strukturalistischen Methoden ermittelt worden, sondern stellen vielmehr ein subjektivistisches Kategorisierungssystem dar, in das das vorhandene Inventar eingepaßt wird. Zweifellos geht Weinrich hier geschickter vor als die meisten traditionellen Arbeiten dies tun. Sein System, das nach Sprechhaltung, Sprechperspektive und Reliefgebung kategorisiert, ist flexibler und damit bestechender als manche traditionellen Ansätze, die sich meist nur an übernommenen oder uminterpretierten Kategorien klassischer Vorbilder orientieren: SPRECHHALTUNG Tempora der erzählten Welt

Tempora der besprochenen Welt Pré s e n t

Imparfait

Passé

Passé

composé

simple

Plus-que-parfait

Futur

Passé

antérieur

Conditionne 1

SPRECHPERSPEKTIVE Nulltempora

Rückschau

Vorschau

Besprochene Welt

Présent

Passé posé

Futur

Erzählte Welt

Imparfait

Plus-queparfait

Passé

P a s s é antérieur

simple

com-

Conditionnel

RELIEFGEBUNG IN DER ERZÄHLTEN WELT Vordergrund

Hintergrund

Nulltempora

Passé

simple

Imparfait

Rückschau

Passé

antérieur

Plus-que-parfait

26

Bedenklich erscheint zunächst - und hier stimmen nahezu alle seine Kritiker8 überein - die Einteilung der "Tempora" in solche der "besprochenen" und der "erzählten Welt". Diese Anlehnung an literarische Kriterien der Interpretation erscheint jedoch vom linguistischen Standpunkt her fragwürdig. Weinrich versucht zwar mit seinem System mit dem Vorurteil zu brechen, die Tempusformen hätten (nur) etwas mit Zeit zu tun, führt aber dafür Kategorien ein, die zum einen nicht auf der Grundlage linguistischer Analysen entstanden sind und zum andern das von ihm bestrittene Kriterium der zeitlichen Charakterisierung durch die Hintertür (Bsp. Sprachperspektive) wieder hereinlassen. Der Erfolg seiner Arbeit, insbesondere im (heute noch vorwiegend literarisch orientierten) Bereich der Schule, dokumentiert die große Skepsis der Lehrenden des Französischen gegenüber formalen Methoden der Linguistik. Weinrichs Verdienst bei der Diskussion der Tempusproblematik scheint mir in zwei Punkten begründet zu sein: Er hat mit den traditionellen Einteilungskriterien der Schulgrammatiken gebrochen und hat damit die Diskussion aus dem traditionellen Stadium getragen. Zum anderen hat er durch die Konfrontation mit seinen Kritikern die Diskussion zur Methodenfrage eröffnet, zu der auch er in späterem Stadium Entscheidendes beigetragen hat9. 2.3.5.2.Ganz anders ist der Untersuchungsansatz von Klaus Heger (Die Bezeichnung temporal-deiktischer Begriffskategorien im französischen und spanischen Konjugationssystem, Beiheft lo4 zur ZRPh, 1963) zu werten: Für Hegers onomasiologische Untersuchung der Konjugationssysteme ist die sog. temporale Deixis (Bühler unterscheidet zwischen lokaler und temporaler Deixis) und die Fixierung ihres Koordinaten-Nullpunkts in dem Begriff "Jetzt" als Ausgangspunkt von entscheidender Bedeutung. Auf die fundamentale Opposition "Jetzt"/ "Nicht Jetzt" sind alle temporal-deiktischen Kategorien zurückzuführen. Der Sprecher kann nun diese Opposition auf sich selbst 8 9

Die wohl ausführlichste Kritik hierzu: Wolfgang Pollak, Linguistik und Literatur, in ZRPh Bd.84 H3/4 (1968), S.380-480 z.B. in der Frage des textlinguistischen Ansatzes: H.Weinrich, Textlinguistik der Tempusübergänge, in Linguistik und Didaktik 3 (1970)

27

beziehen, dann erhält er eine "Gegenwart" und eine "Nicht Gegenwart". Solche Kategorien nennt er Zeitstufen. Der Sprecher kann aber diese Opposition auch auf den Vorgang beziehen (nicht auf sich selbst), so daß aus dem "Jetzt" ein "Jetzt des Vorgangs" wird. Die Darstellung geschieht somit von innen her, d.h. von einem sich innerhalb seines Ablaufs befindenden Bezugspunkt her. Entsprechendes gilt für das "Nicht Jetzt", das von außen her, von einem Bezugspunkt außerhalb des Vorgangsablaufs betrachtet wird. Solche Kategorien nennt Heger Aspekte. Heger gelingt es auf diese Weise, zwei interferierende Kategorien-Systeme, das der Zeitstufen und das der Aspekte (Weinrich lehnt die Existenz einer solchen Kategorie bei den behandelten Sprachen rundweg ab), aus ein und derselben temporal-deiktischen Opposition (Jetzt/Nicht Jetzt) abzuleiten. Die Zeitstufen untergliedert Heger, indem er Zeit als geometrische Metapher der Nicht-Gegenwart begreift, sie als Linie darstellt, die er dann durch deiktische Fichtungsangaben unterteilt. Durch Fixierung eines Bezugspunkts, ein beliebiges "Jetzt" auf der Zeitlinie des "Nicht Jetzt", die dadurch in ein "vorher" und ein "nachher" geteilt wird, erhält er aus der Zweiteilung Gegenwart/Nicht-Gegenwart die Dreiteilung Zukunft/Gegenwart/Vergangenheit. Durch Projektion des Gegenwartspunkts auf die Zeitlinie können so unendlich viele Untergliederungen der Nicht-Gegenwartslinie geschaffen werden. Begnügen wir uns mit der Andeutung dieser höchst komplizierten Systematik, da es uns hier nur um die Methode geht. Eine solche Systematisierung ist zwar streng formal-linguistisch gesehen apriorisch (Weinrich wirft dies Heger vor), es entsteht aber auf diese Weise ein so feinmaschiges System (das ja noch durch das aspektuelle ergänzt wird), daß man ein hochdifferenziertes Koordinaten-System erhält, in das die Sprachdaten, beispielsweise des Französischen, eingeordnet werden können. Das System ist so weitgehend differenziert, daß die Sprachdaten des Französischen nicht ausreichen, es aufzufüllen. Schon allein deswegen scheint die Hegersche Systematisierung, was die zeitliche und aspektuelle Einordnung der Temporalmorpheme anbetrifft, einen höheren Adäquatheitsgrad zu haben als die von Weinrich. Das Hegersche System bietet mehr Möglichkeiten, Sprachdaten durch Einordnung exakt zu beschreiben als das im Vergleich dazu restringierte System von Weinrich, das zudem noch auf

28

literarischen Kriterien beruht. Die Beschreibungsadäquatheit von Hegers Studie ist durch den Rahmen der Untersuchung ausdrücklich limitiert auf das Konjugationssystem, also die Temporalmorpheme. Zu den Temporalmorphemen kommen jedoch noch andere Markierungsmöglichkeiten, die mit denen der Morphologie interferieren. 2.4.

LEXIKALISCHE TEMPUSMARKIERUNG

Weinrich nannte die Tempusformen "obstinat", weil zu nahezu jeder flektierten Verbalform im Deutschen und Französischen ein Tempusindikator in Form eines Morphems tritt. In den europäischen Sprachen existieren zusätzlich zu den morphologischen Temporalmarkierungen konkurrierende Systeme, die das morphologische Markierungssystem ergänzen, beeinflußen oder gar außer Kraft setzen. Das "obstinate" Setzen von Tempusmarkern führt natürlicherweise zu einer gewissen Entwertung des eigentlichen Temporalwerts. Ein umgangssprachlicher Satz wie "morgen sehe ich mir mal den Film an" ist durch das "morgen" zeitlich ausreichend charakterisiert. Das ursprünglich präsentische Temporalmorphem in "sehe" hat seinen Zeitstellenwert verloren. Das streng auf Zeitenfolge bedachte klassisch lateinische System benutzte bereits lexikalische Elemente für einen im System fehlenden Konjunktiv des Futurs Timeo,

ne

(cras)

sero

venias.

Ich fürchte, daß Du (morgen) zu spät kommst. (im Sinne von: kommen wirst) Die Tendenz der historischen Entwicklung im europäischen Sprachraum von streng synthetischen, endungsorientierten Formen (Bsp. klass. Latein) zu analytischen, isolierten Formen und Funktionswörtern (Bsp. Romanische Sprachen, Englisch) mag hier ebenfalls eine Rolle gespielt haben. Der Terminus Zeitwort ist für das Verbum allein nicht mehr gerechtfertigt. Eine Reihe von Adverbien, Konjunktionen, Zahlwörtern, ja sogar Adjektiven geben als lexikalische Elemente hinreichend Auskunft über die temporale Einordnung der verbalisierten Vorgänge. Eine umfassende Untersuchung über die Abhängigkeiten zwischen diesen lexikalischen Elementen und den morphologischen Temporalformen ist im romanistischen Bereich noch zu erarbeiten. Es gibt eine Reihe von An-

29

Sätzen, die zeigen, daß im Falle bestimmter Konjunktionen10 oder im Falle bestimmter Sprechsituationstypen11 eine freie Tempuswahl nicht möglich ist. Das Russische kennt eine ganze Reihe von Fällen, bei denen durch die Wahl eines lexikalischen Temporaimarkers (Bcerflä, s a c T o , O Ö U H H O ) Einfluß genommen wird auf die Aspektsetzung 12 . Hinweise auf solche Abhängigkeiten zwischen morphologischer Tempussetzung und lexikalischen Temporalelementen finden sich auch schon in einer Reihe von Schulgrammatiken des Französischen13. 2.5.

MIKROSYNTAKTISCHE DESKRIPTION

2.5.1. Die weitaus meisten Arbeiten über die Tempussetzung im Französischen bewegen sich im mikrosyntaktischen Rahmen, angeregt durch die weitverbreitete Beispielsatzeuphorie französischer Lehrbücher. Auch hier 1 iegt in der Wahl des methodischen Rahmens die größte Gefahr. Schulgrammatiken gehen meist von einer mehr oder weniger vagen Beschreibung der zur Diskussion stehenden Tempusform aus und setzen diese dann, gewissermaßen zur Stützung der eigenen deskriptiven (Hypo-)These, in einen Satzkontext. Schon ein einziges Gegenbeispiel erschüttert die Glaubwürdigkeit einer solchen Beschreibung. Die Auswahl der zur Tempusverwendung verfaßten Traktate steht umgekehrt proportional zu ihrem didaktischen Wert. 10 H.G.Klein, Das Verhalten der telischen Verben (...), Frankfurt/M. 1969, S.51-55 11 D.Wunderlieh, Tempus und Zeitreferenz im Deutschen, München 1970, S.101 12 Kirschbaum/Kretschmar, Kurze Russ. Sprachlehre, Berlin 1964, S.98 13 So z.B. in Klein/Strohmeyer, Frz. Sprachlehre, Stuttgart 1969, S.50-54 vgl. dazu auch: A.Steube, über die Beziehung der Zeitadverbien zum Satz und ihre Selektionsbeziehungen zu den relevanten Elementen im Satz, in ASG-Bericht Nr. 3, Berlin 1969 J.McKay, Some generative rules for German time adverbials, in Language 44, 1968, S.25-50

30 2.5.2.

Henri Sensine v e r s u c h t e beispielsweise in seiner

des temps en français" benannten Arbeit fait" folgendermaßen

"L'emploi

(Paris 1926) , das

"impar-

(S.12) zu beschreiben:

"Lorsqu'on parle d'une chose passée habituelle, ou d'une action répétée, qui a eu lieu pendant un temps de plus ou moins longue durée, sans que celle-ci soit précisée . Ex.: Les Grecs étaient très civilisés. - Quand nous étions à Paris, nous allions tous les jours au Bois de Boulogne." Ein solche Erklärung

läßt sich durch die beigefügten

Beispiele

durchaus ad hoc verifizieren. Dem läßt sich jedoch der durchaus korrekte und viel zitierte

(aus dem Kontext gerissene)

Bei-

spielsatz "La guerre durait trente

ans"

entgegenhalten. 2.5.3.

M i t Sicherheit treffen hier die Kriterien

habituelle"

"action répétée ou

und "nicht präzisierte Dauer" keinesfalls

der Folgezeit, die auch im wesentlichen den Rahmen der Beispielsätze

nicht

brechen

zu. Arbeiten

satzsyntaktischen

(so z.B. Paul Imbs 11 *),

bringen zwar erhebliche Verbesserungen, weil sie

Tempusmorpheme

in ihrem funktionalen Kontrast zueinander b e s c h r e i b e n , bewegen sich aber m i t ihrem Beschreibungsinventar

auf derselben

Stufe13:

"Ce TEMPS est d'un emploi très étendu, et qui n'a cessé de gagner du terrain depuis les origines de la langue. Facile à conjuguer (il a depuis les origines les mêmes terminaisons dans tous les verbes), d'une très grande netteté formelle (ses formes ne se confondent avec celles d'aucun autre temps), il a en outre une grande force suggestive dans la mesure où il exprime le temps continu (la durée indéfinie) sur lequel notre intelligence découpe les moments discontinus où se produisent les événements. La caractéristique essentielle de ce continu est qu'il n'a de soi ni commencement ni fin, à moins que son terme ne soit indiqué par le contexte; à vrai dire, ni le début ni la fin du processus n'intéressent l'imparfait en tant que tel. Tous les emplois particuliers s'expliquent à partir de cette valeur fondamentale. 14 Paul Imbs, l'emploi des temps verbaux en français moderne essai de grammaire descriptive, Paris 1960, S.90

31

2.5.4. Mit Sicherheit gibt es einige satzsyntaktische Strukturtypen, in denen sich Temporalformen und auch aspektuell relevante Formen gegeneinander abgrenzen. Solche mikrosyntaktische Strukturen können von hohem didaktischen Wert sein, wenn sie in einem Lehrbuch als Paradigma dargestellt werden. Wolfgang Pollak 15 nennt ein solches strukturtypologisches Schema, in dem sich zwei Neutralformen gegenseitig abgrenzen und bedingen (s. Kapitel 4), "Inzidenzschema": Quand je sortais de la chambre , j'ai rencontre un ami. Solche Schemata bleiben jedoch nicht auf den satzsyntaktischen Rahmen beschränkt und erfordern dann einen erweiterten Untersuchungsrahmen. - Imbs nannte das Postulat nach dem "contexte" schon in dem obigen Zitat. Harald Weinrich überschreibt deshalb auch konsequent in der völlig umbearbeiteten Auflage seines Tempusbuchs von 1971 16 das Eingangskapitel mit "Tempus im Text", freilich ohne seine Kategorisierungsmethoden zu verändern. 2.5.5. Die berechtigte Forderung nach der Einbeziehung des Kontextes soll jedoch die Untersuchungsmöglichkeiten im begrenzten satzsyntaktischen Rahmen nicht für sinnlos erklären, sondern sie um eine Diskussion erweitern. Gerade für didaktische Zielsetzungen im Bereich der Schulgrammatik kann der auch von der Transformationsgrammatik gesetzte satzsyntaktische Rahmen sicherlich noch neue Erkenntnisse bringen. Das Problem der Tempusverwendung gehört nur mit Einschränkung dem Kompetenzbereich der Sprache an und kann von einer transformationeilen Untersuchung nur insoweit erfaßt werden, als bestimmte Kombinationen zeitrelevanter Faktoren vom idealen Sprecher/Hörer als ungrammatikalisch ausgeschlossen werden können. 2.6.

TEXTLINGUISTISCHE TEMPUSDESKRIPTION

2.6.1.

Die Einbeziehung einer nächst größeren Einheit, der des

15 W.Pollak, Studien zum Verbalaspekt im Französischen, Wien 1960 16 H.Weinrich, Tempus, Besprochene und erzählte Welt, 2., völlig neu bearbeitete Auflage, Stuttgart 1971

32 Textes, bringt schon bei der Begriffsklärung des Terminus Text Schwierigkeiten mit sich. Wie weit geht der Text? Weinrich geht in der erwähnten zweiten Auflage von der Meinung aus, der Satzgrenze jeden besonderen Respekt zu verweigern. Der Text ist für ihn, sozusagen als Rahmendefinition, "eine sinnvolle Abfolge sprachlicher Zeichen zwischen zwei auffälligen Kommunikationsunterbrechungen"17. Wir wollen Text nicht - wie man aus Weinrichs Beispielmaterial schließen könnte - im Sinne literaturwissenschaftlicher Tradition als im wesentlichen schriftliche (literarische) Formen sprachlicher Äußerungen verstehen, sondern mit der Textlinguistik von der Feststellung ausgehen "Es wird, wenn überhaupt gesprochen wird, nur in Texten gesprochen"18. 2.6.2. Wir haben bei der Kritik des satzsyntaktischen Rahmens gesehen, daß die Einbeziehung der Textdimension zur Deskription von temporalen Elementen unerläßlich ist. Es ist aber auch möglich, daß gerade die Tempusformen in den romanischen und anderen europäischen Sprachen für die Textkonstitution ein besonderes Kriterium bilden. Tempora könnten also als Textkonstituenten fungieren. Wäre es möglich, dies genauer auszuführen, so könnte man bestimmte Texttypen als Deskriptionshilfe für die Tempusdistribution bezeichnen, ähnlich wie z.B. das Inzidenzschema im satzsyntaktischen Rahmen streng definierbare Kriterien für die oppositive Distribution von Imparfait und Passé composé liefert. Ein solches Verfahren setzt eine detaillierte Typologisierung von Texten voraus. Sehen wir uns in diesem Zusammenhang Weinrichs Untersuchung zur "Textlinguistik der Tempusübergänge"19, an: 2.6.3. In einer Matrix hat Weinrich das Ergebnis einer Untersuchung des Anfangkapitels der "Introduction â l'étude de la médecine expérimentale" von Claude Bernard (Paris 1966) im Hinblick auf Tempusübergänge dargestellt und dies einer analogen 17 H.Weinrich, 1971, S.ll 18 P.Hartmann, Zum Begriff des sprachlichen Zeichens, in ZPSK 21, 1968, S.212 19 H.Weinrich, Textlinguistik der Tempusübergänge, LuD 3, 1970, S.222-227

33 Untersuchung der Tempusübergänge der Novelle "La femme adultère" von Albert Camus gegenübergestellt. Vergleichen wir die beiden Ergebnisse : Text Claude Bernard: "Der Text enthält insgesamt 865 T e m p u s f o r m e n . Unter den T e m p o r a dominiert das Présent mit 635 Formen (73,4%). Die b e s p r e c h e n d e n Tempora (Présent, Futur I, Futur II, Passé composé) bilden zusammen 787 Formen (90,9%). Der Text kann also insgesamt als ein besprechender Text bezeichnet w e r d e n " . 2 0

Text Albert Camus : "Der Text hat insgesamt 809 T e m p u s f o r m e n . Es handelt sich um eine Erzählung mit relativ wenigen E i n b l e n dungen direkter Rede. Im G e g e n s a t z zu dem b e s p r e c h e n den Text von Claude Bernard ü b e r w i e g e n hier daher bei weitem die erzählenden T e m p o r a . Innerhalb der Klasse der erzählenden T e m p o r a hat die höchste Frequenz das I m p a r f a i t , das mit 457 Formen 56,5% aller T e m p o r a des T e x t e s ausmacht. Es folgt das Passé simple mit 235 Formen (29,0%). Die e r z ä h l e n d e n T e m p o r a umfassen insgesamt 771 Formen (95,3%). Die b e s p r e c h e n d e n Tempora haben mit 38 Formen (4,7%) eine w e s e n t l i c h niedrigere F r e quenz" .2 0

Gewiß haben die beiden Texte - eine medizinische Abhandlung und eine Novelle - verschiedenartige Textstrukturen, die sich auch in der Tempusverwendung dokumentieren. In der wissenschaftlichen Abhandlung dominieren Tempusübergänge von Présent zu Présent, in der Novelle solche von Imparfait zu Imparfait. Aus einer solchen Distribution kann man natürlich Abhängigkeiten zwischen Tempusgebung und Textkonstitution ersehen, man kann auch getrost den wissenschaftlichen Text besprechend nennen und die Novelle als erzählenden Text bezeichnen. Kann man aber daraus eine linguistische Bezeichnung "erzählende Tempora" ableiten? Dieser Versuch erscheint mir bedenklich, weil hier wieder die vom literarischen Vorbild geprägte Tempuskategorisierung (s. 2.3.5.1.) in besprochene und erzählte Welt auf die Sprachdaten gesetzt wird, ohne daß der Versuch gemacht wird, aus den Sprachdaten heraus ein Ordnungssystem für die Tempora als Textkonstituenten zu finden.

20 H.Weinrich, 1970, S.224

34 2.6.4. In Weinrichs Systematisierung fungiert das Passé composé unter den Tempora der besprochenen Welt, das Imparfait und das im Aussterben begriffene Passé simple (das heute nur noch als schriftsprachliche Variante des Passé composé gewertet wird) aber zu denen der erzählten Welt. Camus, der zweifellos eine Vorliebe für das Passé simple besitzt, benutzt in Verbindung mit dem Imparfait das Passé composé nur einmal, das Passé simple hingegen 71mal. Würde der Camus-Text von einem Franzosen mündlich in der Umgangssprache nacherzählt, so änderte sich mit Sicherheit der Anteil des Passé simple zugunsten des Passé composé. Wird dadurch der Text zu einem besprechenden? Wohl kaum! Die Unterschiede zwischen Passé simple und Passé composé lassen sich allenfalls stilistisch oder soziolinguistisch erklären. Beide Formen werden im Inzidenzschema mit dem Imparfait verbunden und sind nach stilistischen und soziolinguistischen Kriterien austauschbar, ohne das strukturtypologische Inzidenzschema zu verändern. Das Passé simple mit dem Imparfait zusammen in eine Kategorie erzählender Tempora zu verweisen und das Passé composé, das bei mündlicher Wiedergabe dieselbe Funktion wie das Passé simple erfüllt, in einer Gruppe besprechender Tempora unterzubringen, scheint schon aus funktionalen Gründen linguistisch unhaltbar zu sein, denn die vorhandenen Sprachdaten lassen eine solche Interpretation nicht zu. Gerade die Umsetzung des Textes in gesprochene Sprache beweist die funktionale Solidarität beider Formen. Der textlinguistische Ansatz Weinrichs zeigt deutlich die Gefahren eines solchen Untersuchungsrahmens: literarische Kategorisierungsprinzipien bringen die Gefahr mit sich, interpretativ den Sprachdaten übergeordnet zu werden. Textlinguistische Untersuchungen von Tempusübergängen können mit Sicherheit Abhängigkeiten zwischen Tempussetzung und Textkonstitution aufweisen (das Inzidenzschema ist textlinguistisch erweiterungsfähig, s. 4.5.), die Untersuchungsmethoden dürfen sich jedoch nicht an a priori erstellten literarischen Kategorien orientieren.

35 2.7.

TEMPUSDESKRIPTION UND GENERATIVE TRANSFORMATIONSGRAMMATIK

2.7.1. In der Nachfolgediskussion von Chomskys Aspects-Version wird das Tempusphänomen als Phrasenstrukturregel f) in eine Basiskomponente wie der folgenden eingegliedert: (a) S NP*^'Predicate-Phrase (b) Predicate-Phrase AuxVP(Place) (Time) " Copula"^ Predicate (c) VP V '(NP)(Prep-Phrase)(Prep-Phrase)(Manner) * S' Predicate (d) Predicate •*• f Adjective [_ (like) Predicate-Nominal

(e) Copula -»• be (f) Aux Tense (Modal) (Aspect) (g) NP (Det)N(S') (h) Prep-Phrase -»• Direction, Duration, Place, etc. (i) Det •*• (pre-Article'"'o.f)Article(post-Article) Sehen wir uns nun anhand einiger Beispiele von Dubois-Charlier an, wie der Konstituent Tense (bzw. temps) in seinen Ableitungen im Französischen beschrieben wird. Beschränken wir uns dabei auswahlweise auf die Vergangenheitstempora: 2.7.2. Der französische Satz "Les enfants mangeaient des fruits" soll als Beispiel dienen. Die dem Aux untergeordnete Tempuskonstituente expandiert zu den Konstituenten Pas (Passe), P g (Person) und N q (Numerus). Die Konstituente Pas (Passe) kann entweder als Imparfait oder als Passe simple (Pas jjist^ wiedergegeben werden: Imparf. Pas ->• bist Wenn man dies nun in die Regel für unseren Beispielsatz mit der Konstituente Vergangenheit von der Formel Jean Dubois et Françoise Dubois-Charlier, éléments de linguistique française: syntaxe, Paris 197o, S.93 ff.

36 SN

+ Pas + P e + N o + V + S N

einsetzt, so können wir dafür schreiben: SN + Imparf. + 3 e personne + plur + Cmanger^ racine +

SN

Dies entspricht unserem Beispielsatz Les enfants mangeaient des

fruits,

dessen Strukturscheroa wie folgt aussieht:

Imparf. 3 pers pluriel i I i CLes en- Hai: fants]

C(e)nt3

CmangerD

racine

Cdes fruits3

Für das Passé simple sieht die Formel dann entsprechend wie folgt aus : SN +

Pas

hist

+

3 e personne + plur + Cmanger3 racine + SN

Les enfants mangèrent des

•St

SN = Syntagme Nominal = NP

fruits.

37

CmanqerD.

Cdes fruits}

Das Ableitungsschema zeigt deutlich, daß beide Temporaformen als zur Vergangenheitskonstituente zugehörig betrachtet werden. Was aber geschieht mit dem Passé composé, für das die Passe simple Form doch nur eine schriftsprachliche Variante darstellt? Hier wird mit anderen Konstituenten kategorisiert. Der Knoten Aux wird in zwei Konstituenten aufgespalten, nämlich in die zuvor schon dargestellte Konstituente T p g (temps) und die Konstituente Parf (Parfait). Dominiert von temps wird nun Prés (Présent) wie zuvor Pas (Passe), für Parf wird geschrieben avoir + PP (hier: Participe passé). Die Formel SN + Prés + 3 e personne + plur + Parf + Cmanger^ r a c i n e +

SN

wird geschrieben: SN + Prés + 3 e personne + plur + avoir + PP + Cmanger3 r a c i n e + was das Strukturschema für den Satz Les

enfants

ont m a n g é

darstellen soll:

des

fruits

38

-SV

SN

Aux

xGV Parf V

.SN

Pres P

CLes c0:cWynt nt: enfants:

[avoir + pp:[manger: r a c i n e

[des fruits:

ont Für das Plus-que-parfait wird analog verfahren, nur daß hier unter der Konstituente kein Present steht, sondern Imparfait, dominiert vom Passe - wie zuvor beim Imparfait. 2.7.3. Hier wird doch offensichtlich deutlich, daß die lateinische Grammatikerkonzeption von einfachen und zusammengesetzten Zeiten Pate gestanden hat, ohne daß die Beschreibung der syntaktischen Basiskomponente etwas NEUES gebracht hat. Die folgende Gegenüberstellung macht dies klar: EINFACHE ZEITEN / / T T ps ps

I

Pas

I

Pas

Aux T

Fas Imparf

ZUSAMMENGESETZTE ZEITEN

hist

ps

Aux Parf T ps

Prés

Parf

Pas Imparf

[Imparfait:

[Passé simple]

[Passé Composé:

CPlus-que-parfait:

39

Darüber hinaus wird hier das lateinische Dreistufenschema (Präsens - Imperfekt - Perfekt) entgegen aller linguistischen Erkenntnis strapaziert, indem man z.B. das Passé composé als die dem Präsens entsprechende Form auf der Perfektstufe darstellt, entsprechend das Plus-gue-parfait als die dem Imperfekt entsprechende Form auf der Perfektstufe darstellt, usw. Die von nahezu allen traditionellen Grammatikern geteilte Auffassung, daß Imparfait, Passé simple und Passé composé auf ein und derselben Zeitstufe stehen, wird hierdurch glattweg negiert (ganz zu schweigen von den aspektuellen Unterschieden). Auch die Tatsache, daß das Passé simple heute nur noch eine schriftsprachliche Variante des Passe composé ist, läßt sich mit Hilfe dieser Stammbäume nur schwer erahnen. Es bleibt also die Frage, was eine solche Darstellung an Neuem bringt, was möglicherweise traditionelle Grammatiker nicht in Pegeln kleiden konnten. Leider bleibt hier nur zu konstatieren, daß nichts Neues, außer einer (zudem noch auf überholten traditionellen Vorstellungen beruhenden) Formalisierung, zustande gekommen ist. 2.7.4. Nun kann man auch von einer Darstellung innerhalb der Basiskomponente der TG keine Regeln für den Gebrauch der Tempora erwarten. Grundsätzlich könnten alle Tempora ohne Restriktionen gebraucht werden, wenn nachher in einem semantischen Filter die Inkompatibilitäten ausgeschaltet werden. Die Regeln wären also am besten im Zusammenhang mit einer semantischen Theorie zu formulieren. Bevor J.J.Katz einige Vorschläge hierzu unterbreitet hat, hat D.Wunderlich bei der Formalisierung des Zeitphänomens im Rahmen einer generativen Grammatik entscheidende Anregungen gegeben, auf die wir noch kurz eingehen wollen. 2.7.5. Wunderlich geht bei seinen Untersuchungen' zur Syntax nicht - wie es die generative Semantik tut - von semantischen Repräsentationen, sondern von der syntaktischen Basis aus. Er geht dabei von der Erkenntnis aus, daß Tempuskategorien alter£

D.Wunderlich, Tempus und Zeitreferenz im Deutschen, München 1970

40 nativ zu sprechzeitrelativen Adverbialien existieren, so daß bei der Wahl bestimmter Adverbien ein bestimmtes Tempus bereits impliziert sein kann. Eine Reihe von Adverbien lassen jedoch keinen eindeutigen Schluß auf die Tempuswahl zu (z.B. heute, jetzt, einst, gerade). Hier bestimmt erst das Tempus, auf welche Zeitstufe sich das Adverb bezieht. Es muß also ein Regelsystem gefunden werden, das die einzelnen Tempora und die sprechzeitrelativen Adverbien ableitet. 2.7.5.1.Wunderlich hat nun verschiedene Zeitadverbialtypen gefunden, die sich verschiedenartig gegenüber den Tempora verhalten. Es sind dies die Sprechzeitrelativen CsH (z.B. gestern, neulich), die Kontextrelativen Ck3 (z.B. nach dem Mittagessen, um 9 Uhr) und diejenigen Adverbiale, die Sprechzeiteinschluß oder Unmittelbarkeit bewirken CÜH (z.B. heute, jetzt). Auffallend war, daß innerhalb der Reihenfolge in der Satzoberflächenstruktur bestimmte Gesetzmäßigkeiten vorkamen Ca3 und bestimmte Kombinationen ausgeschlossen waren CbD : Ca]

wir trafen uns

Hb] * wir trafen uns

heute geste rn neulich gestern neulich

nach dem Mittagessen um 9 Uhr heute jetzt

2.7.5.2.Bei der Erfassung des Regelsystems, das zur Ableitung der Tempora und der sprechzeitrelativen Adverbialen benötigt wird, geht er nicht von einer Tempuskonstituente (wie vorher Chomsky, Dubois-Charlier) aus, sondern von einer Konstituente Temporal T, repräsentiert aber auch die Tempuskategorie als Merkmal CTmpI] und nicht als Teilkonstituente: (Rj) t

CT, Tmp 3; (Advb.) (-Advb,) k u Advb (-Advb,) s k

Das Konstituentensymbol T wird in der ersten Zeile von ihm ersetzt durch den Symbolkomplex CT, Tmp: und die mögliche Kette Advb.. Advb^. Dies ermöglicht jetzt, die Rolle von Tempora und Adverbialen sowie ihr Zusammenwirken beim Konstituieren einer Temporalkonstituenten zu betrachten: Durch diese Regel ist nämlich jetzt eine alternative Ableitung von CTmp3 oder Advb g möglich.

41 2.7.5.3.Man hat nun die Möglichkeit, einmal CTmp] zu subkategorisieren, etwa so: (R2)

CTmp D

Ca vor s] / + V + transf.

(Diese kontextsensitive Hegel würde beinhalten, daß das Merkmal Tempus CTmp:! das zusätzliche Merkmal Ca vor s3 erhält, wenn Tempus vor den Merkmalen + V und + transformativ vorkommt). Zum anderen kann man das Advbg v.'ie folgt ableiten:

oder: =>

^

ge rade soeben

(vor)

/

k-1

((üübb ee rr )

k-1

C

,

a

vor

gestern/C morgen/Ii

,

s,

-öff,

,

a

vor

a

nach

s, s,

O

DistH

+öff, +ö f f ,

k k

Tag] Tag]

2.7.5.5.Mit Hilfe dieser Systematisierung haben wir nun die Möglichkeit aufzuzeigen, daß sich die Temporalkonstituente sowohl aus CAdvbg3 als auch/oder aus CTmpD zusammensetzt. Darüber hinaus sichert die Regel R 3 , daß unter dem Temporal T auf jeden Fall ein Merkmal CTmp: vorliegt, entweder direkt (1. Zeile von R^) oder vermittelt über ein Advb . Dies träqt einmal der schon von Weins rieh erwähnten Tatsache Rechnung, daß die Tempusmorpheme "obstinat" sind, d.h. in jedem Satz vorkommen müssen, unabhängig davon, wie ßie vom Satzzusammenhang als Temporalkonstituente interpretiert werden, zum anderen läßt sich so der Einfluß der Adverbialen auf die Tempusgebung und das Zeitverständnis des Satzes formalisieren. 2.7.5.6.Die wesentliche Leistung Wunderlichs besteht, wenn wir es zusammenfassen wollen, in zwei Komplexen. 1. Er hat den Zusammenhang von zeitrelativen Adverbialen und Tempuskategorien formalisiert. 2. Er hat den Vorschlag Chomskys, in dem CTmpD als Konstituente von CAux3 und Temporaladverbiale als Konstituenten des Prädikatskomplexes dargestellt wurden, so modifiziert, daß Tempus und Zeitadverbial zu einer einzigen Kategorie T zusammengefaßt wurde, die der Kategorie Satz und nicht der Kategorie VP unterzuordnen ist. Wunderlich argumentiert, daß die kommunikative Funktion des Tempus ja darin bestehe, "daß ein Sprecher mit seiner Hilfe Ereignisse in ihrem zeitlichen Verhältnis zum Sprechereignis bestimmt (oder sogar weitere aspektuelle Einstellungen zum Ereignis ausdrückt). Die Kategorie "Ereignis" entspricht wiederum der Kategorie Satz und nicht der Kategorie VP." (Wunderlich S.195).

43 2.7.6.

Bei einer solchen Erkenntnis, nämlich, daß die Temporal-

kategorisierung möglicherweise sogar als Präfix einer Proposition anzusehen ist, erhebt sich die Frage, ob die Syntax als Ausgangspunkt der Beschreibung (mit nachträglichem interpretativ-semantischem Filter) der adäquate Deskriptionsweg ist, oder nicht vielmehr die Semantik Ausgangspunkt sein sollte. Jerrold J. Katz bringt i: hierzu einige Vorschläge : 2.7.6.1.Katz möchte in seiner Arbeit keine umfassende Theorie der semantischen Repräsentation temporaler Beziehungen in Sätzen geben, sondern lediglich einen beispielhaften Anstoß zu detaillierteren Untersuchungen geben (S.3o6). Beschränken wir uns deshalb auch nur auf Exemplarisches: Katz geht davon aus, daß natürliche Sprachen prinzipiell Zeit in zwei Teile aufspalten, in Vergangenheit und Zukunft, wobei der Teilungspunkt der Augenblick der Sprechzeit ist. Komplexere Zeitkonstituenten kommen dadurch zustande, daß mar. bestimmte Punkte und Intervalle dieser Linie herausnimmt und sie interpretativ in Beziehung setzt zur Sprechzeit und zu Vergangenheit und Zukunft als linkes und rechtes Segment der gedachten Linie. Vierden zwei oder mehrere Ereignisse in einem Satz angesprochen, so wird deren zeitliche Beziehung untereinander mit Hilfe von Zeitadverbialen wie "before", "after", usw. dargestellt. Häufig sind dann verschiedene Ereignisse aufeinander bezogen: I entered the room before John arrived. I will enter the room before John arrives.

Solche zeitlichen Beziehungen müssen als semantische Grundvorstellung auf irgendeine Weise von einem zu entwickelnden theoretischen Apparat beschrieben werden. 2.7.6.2.Katz meint nun, daß als erster Schritt zur Entwicklung eines Schemas zur Repräsentation von zeitlichen Beziehungen geprüft werden muß, welche Konstituenten im P-Marker etwas mit Zeitbezug zu tun haben und wie grammatikalische Beziehungen zwischen * J.J.Katz, Semantic Theory, New York 1972, Kapitel 7

44

ihnen arbeiten. Katz kommt dabei auf Chomsky's Modell zu sprechen, in dem, wie wir gesehen haben, auf der einen Seite ein Tempuskonstituent vom Aux dominiert wird und auf der anderen Seite Temporaladverbien Konstituenten des Prädikatkoir.plexes sind. Zwei grammatikalische Funktionen müssen demnach zu einem semantischen Marker zusammengefaßt werden. Zunächst ist hierzu ein Notationssystem zu konstruieren, daß in der Lage ist, in der Form von "semantic markers" Zeitbezeichnungen darzustellen. 2.7.6.3.Katz benutzt das Symbol t für eine beliebige Position auf der Zeitlinie. Mit Hilfe von "superscripts" spezifiziert er nun die Position, z.B. (o) (a)

t

Position zur Sprechzeit

(b)

t'

n Einheiten links von

(c)

n

Einheiten rechts von

(Richtung (Richtung

Vergangenheit) Zukunft)

Auf die folgenden Sätze a-c übertragen (a) (b) (c)

John is hungry John was hungry John will be hungry

bedeutet dies: Für die zum Zeitpunkt T vorgenommene Äußerung (a) gilt, daß John Hunger zum Zeitpunkt T empfunden hat (t°). Im Fall (b) gilt, daß John Hunger empfand zu einem Zeitpunkt, der vor T, dem Zeitpunkt der Äußerung,lag

im Fall (c) fällt der Hun-

ger auf eine Zeit nach T 2.7.6.4.Werden nun Sätze gebildet, die Zeitbeziehungen zwischen zwei oder mehr Ereignissen implizieren, (d) (e)

John kissed Mary before Bill arrived John kissed Mary after Bill arrived

so müssen semantische Marker gefunden werden, die den Ablauf der Geschehnisse ordnen. Der Tempuskonstituent in beiden Sätzen ist CPastD, die einzige Differenzierung im zeitlichen Ablauf liegt in "before" und "after". In (d) ist Bill's Ankunft nach John's Kuss anzusetzen, in (e) kommt Bill erst an, dann küßt John. Die folgenden semantischen Marker geben Auskunft über die Lesart von "before" (d') und "after" (e'):

45

(d1) 1

(e )

V :TSD -)• (v:Tm: + (+r)) , v CT S :

(VCT™] + (-r)),

::

Das Symbol "vC...3" ist zu verstehen als Wert der Variablen X, hier des Zeitkonstituenten, in einem Satz; das Superskript s m steht für den abhängigen, das Superskript für den Hauptsatz. Das Symbol "r" steht für eine Einheit auf der Zeitlinie. Im Falle von Ausdrücken wie " contemporaneous with", "at the same instant as" etc. wäre der Lexikoneintragung die folgende semantische Information mitzugeben: (f') v CT S : (vCTm:) , Für die Regeln d', e', f' müssen die folgenden Selektionsbeschränkungen gelten: Haupt- und Nebensätze müssen die semantischen Marker vCT m : und vCTSD beinhalten, keiner von beiden darf

sein,

und sie müssen identisch sein. Durch diese Selektionsbeschränkungen werden Sätze wie John John

kissed kisses

Mary Mary

before before

(after) (after)

t w o p l u s t w o is f o u r . Bill kisses Jean.

als semantisch anomal ausgeschlossen. 2.7.6.5.Sehen wir uns nun an, wie die Regeln d' und e' in bezug auf die Zeitrelation angewandt werden können. In den Sätzen (d) und (e) entspricht der Wert der Zeitkonstituenten des Hauptsatzes (vCTma) auf der Zeitlinie der Wert der Zeitkonstituenten des Nebensatzes (vCTsH) entspricht (t( m ) ) ; die Regeln d 1 und e' besagen, daß für den Zeitkonstituenten der beiden Nebensätze (t(-n+(+r))j b z w < (t(-n+(-r))j s t e h e n k a n n . D i e temporalen Beziehungen zwischen den beiden Ereignissen in den Beispielsätzen können wie folgt dargestellt werden:

46

Satz (d): John kissed Mary (JKM) before Bill arrived (BA): t(-n+(+r))

BA

JKM

F