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German Pages 348 Year 2017
Ruth Prangen Szenosphäre & Szenotopie
Szenografie & Szenologie
Band 14
Editorial Die Reihe „Szenografie & Szenologie“ versammelt Aufsätze und Monografien zur praktischen und theoretischen Szenografie, zur Inszenierung und Inszenierungskritik. Im Kontext neuer Medien und Medientechniken, seltsamer Objekte, ungewohnter Erzählweisen und innovativer Auftrittsformen analysieren die Beiträge beispielhaft wie verallgemeinernd, historisch wie systematisch die Auseinandersetzung um eine Kultur des szenischen Ereignens und Gestaltens in Alltag und Kunst, Politik und Gesellschaft. Die Reihe fördert den transdisziplinären Austausch der beteiligten Wissenschaften. Sie wird herausgegeben von Ralf Bohn und Heiner Wilharm. Sie lehren an der Design-Fakultät der FH Dortmund. Im wissenschaftlichen Beirat vertreten sind Martina Dobbe, Kunstakademie Düsseldorf, Petra Maria Meyer, Muthesius Kunsthochschule Kiel, sowie Hajo Schmidt, Emeritus der Fern-Universität in Hagen.
Ruth Prangen Szenesphäre & Szenotopie Künstlerische Forschungen zur Raumwahrnehmung und -struktur der Szenografie
Die vorliegende Arbeit wurde vom Fachbereich „Raumstrategien“ der Muthesius Kunsthochschule Kiel als Dissertation zur Erlangung des Grades einer Doktorin der Philosophie angenommen. Sie wurde 2014 vorgelegt, die Disputation fand 2015 statt, die Imprimatur erfolgte 2016.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung der Copyright-Inhaber urheberwidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Ruth Prangen Umschlagfoto: © Wolfgang Kirchhoff, Dessau, 2003 Korrektorat: Alexander Reischert, Redaktion ALUAN Köln Satz: Jan Wenke Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-3798-4 PDF-ISBN 978-3-8394-3798-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie und im Internet unter: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Gewidmet meiner Mutter
Inhaltsverzeichnis
9 1. 23 1.1 32 1.2 34 1.3 41 1.4
Sondierung Eigene künstlerische Projekte Problemstellungen, Fragen und Erkenntnisziele Stand der Forschung Methodische Angaben
47 2. Rekonstruktion 51 2.1 Die Radix 53 2.1.1 Antike 62 2.1.2 Mittelalter 68 2.1.3 Zwanzigstes Jahrhundert 73 2.2 Der Schnitt 77 2.2.1 Sechzehntes Jahrhundert 79 2.2.2 Siebzehntes Jahrhundert 83 2.3 Die Perforation 84 2.3.1 Einundzwanzigstes Jahrhundert 87 3. Okulation – Szenogreffieren 93 3.1 Szenosphäre 101 3.1.1 Der flächenlose Raum und die ästhetische Arbeit 115 3.1.2 Das Inszenieren und Erscheinen(lassen) 127 3.1.3 Das Performative und die Zeichen 141 3.1.4 Die modellierte Ganzheit, Struktur und (Ko-)Relation 158 3.2 Szenotopie 174 3.2.1 Raum-Konfigurationen und „andere“ Räume 190 3.2.2 Das Zwischenzeilige und die Écriture 200 3.2.3 Zeiträume und Raumkerben 220 3.2.4 Raumpraktiken und Einsichten 235 4. 239 4.1 246 4.2 257 4.3 274 4.4
Sprossachsen Bühnenbild – Bildbühne: Friedrich Kiesler Bildraum – Raumbild: Fabrizio Plessi/KHM Köln Raumbühne – Rauminstallation: Friedrich Kiesler Rauminstallation – Environment: Janet Cardiff & George B. Miller
285 5. Klimazonen und Ernte 285 5.1 Häuser und Ausblick 291 5.1.1 Interview 1 mit Prof. Werner Ruhnau 298 5.1.2 Interview 2 mit Dr. Ralf Hertling 304 5.2 Fazit 313 6. Literaturverzeichnis 345 Danksagung
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1. Sondierung Die vorliegende Arbeit hat Experimentalcharakter und versteht sich vom Forschungsdesign her als ein neues, d. h. künstlerisch-wissenschaftliches Format, in dem sich subjektive Erfahrung und objektive Erkenntnis begegnen: Praxis und Theorie, Kunst und Wissenschaft treffen aufeinander. Dabei werden zwei Ziele verfolgt: Einerseits wird versucht, Empirie und Theorie produktiv zu verknüpfen. Das heißt, es soll gezeigt werden, dass es möglich ist, aus der Praxis heraus komplexe theoretische Phänomene mit wissenschaftlicher Methodik und assoziativen Praktiken erklärbar zu machen und auf dieser Grundlage ein theoretisches Instrumentarium zu schaffen, das in die Praxis hineinwirken kann. Dazu werden zunächst eigene künstlerisch-praktische Arbeiten vorgestellt, die die Erfahrungsebene umschreiben, von der aus die gemachten Erkenntnisse und Erfahrungen reflektiert werden und sich sodann in Fragestellungen an das Arbeitsfeld wandeln. Diese sind die Grundlage der Motivation, die erkannten Probleme durch eigene Theorieproduktion zu systematisieren und darauf aufbauend einen Betrag zu der sich entwickelnden Szenografie zu platzieren. Andererseits wird der Versuch unternommen, mithilfe zweier Arbeitsbegriffe eine raumtheoretische Skizze zu formulieren, die sich als Beitrag im Diskursraum der Szenografie-Diskussion im Allgemeinen lesen lässt und im Speziellen als eine erfahrungsbasierte Theorie der Bühnengestaltung (Szenografie) verstanden werden will. Bevor die eigenen künstlerisch-praktischen Erfahrungen und Projekte dargelegt werden, wird im Folgenden ein kurzer Gesamtüberblick zur vorliegenden Arbeit gegeben. Als „Szenografie“ werden in der vorliegenden Arbeit medial räumliche Inszenierungen im theatralen Kontext beschrieben, die sich in einem Spannungsfeld bewegen: Zwischen den architektonischen, szenischen und elektronischen Medien geht es in dieser Art von Szenografie um das Inszenieren und Ineinanderwirken von realen, begehbaren Raumbildern und von medialen und imaginären Bildräumen. Sie verortet sich in der künstlerischen Praxis an der Schnittstelle zwischen zeitbasierten Medien, Kunst, Installation und Theater sowie im Diskurs zwischen den Begriffen Intermedialität, Performativität, Theatralität und Ortsspezifik1. „Szenografie“ versteht sich hier als eine Raumkunst und eine „Kunst durch 1
Zu den Begriffen vgl.: Krämer, Sybille (Hg.): Performativität und Medialität, München: Fink 2004. Meyer, Petra Maria: Intermedialität des Theaters: Entwurf einer Semiotik der Überraschung, Düsseldorf: Parerga 2001. Meyer, Petra M.: Performance im medialen Wandel, München: Fink 2006. Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004. Rebentisch, Juliane: Ästhetik der Installation, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008. Kwon, Miwon: One Place After Another: Site-specific Art and Locational Identity, Cambridge, Mass.: MIT Press 2004. Fromm, Ludwig: Die Kunst der Verräumlichung, Kiel: Muthesius Kunsthochschule, 2009 (Bd. 7 der Reihe
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Medien“2. Das Ziel der vorliegenden künstlerisch-wissenschaftlichen Arbeit ist es, diese Szenografie in ihrer Ästhetik und Struktur zu untersuchen. Die vorliegende Arbeit über die Szenografie 3 ist so konzipiert, dass der Text auch als ein Leseraum betrachtet werden kann, in dem verschiedene wissenschaftliche Raumtheorien aufspannt und miteinander versponnen werden, die der Konsument der Lektüre kapitelweise durchschreitet und die er dadurch auch selbst weiter vernetzen kann. Das vorliegende Forschungsdesign zieht verschiedene Raumtheorien zwecks Untermauerung eigener Thesen heran und verbindet ein topologisches Raumverständnis der Phänomenologie mit einer (post-) strukturalistischen Raumauffassung, um den szenografischen Raum sowohl als Erfahrungsräumlichkeit mittels der Phänomenologie wie auch als topologische Struktur mittels des (Post-)Strukturalismus herauszuarbeiten. Mit welchen Ansätzen aus Phänomenologie und (Post-)Strukturalismus gearbeitet wird, ist in Kapitel 1.4 dargelegt. Zwei Thesen sind Grundlage der Arbeit: Erstens wird davon ausgegangen, dass dasjenige, was einerseits eine Szenografin als verräumlichtes Konzept im Bühnenraum installiert und andererseits von einer Rezipientin wahrgenommen wird, durch ein topologisches und relationales Raumverständnis bestimmt und strukturiert wird. Die zweite These lautet, dass dasjenige, womit einerseits eine Szenografin das im Raum Installierte sozusagen „auflädt“ und was andererseits von einer Rezipientin wahrgenommen wird, durch eine performative und semiotisch atmosphärische Ästhetik 4 konstituiert wird. Das Aufgeladene und „Gestalt und Diskurs“). Ludwig Fromm: „Raum und Bewegung – Orientierte phänomenale Räume“, in: Großheim, Michael/Volke, Stefan (Hg.): Gefühl, Geste, Gesicht: zur Phänomenologie des Ausdrucks, Freiburg i. B. [u. a.]: Alber 2010. Baur, Ruedi: Orient-ierung/action, Des-/Dés-/ Dis-orientierung/action 2, Baden: Müller 2010. 2 Reck, Hans Ulrich: Mythos Medienkunst, Köln: König 2002. S. 10 f. Eine „Kunst durch Medien“ exponiert „interventionistische (‚kollaborative‘) Ansprüche und alternierende Handlungskonzepte mit dem Akzent auf den prozessualen Methoden und experimentellen (Er-)Findungen“. Vgl. auch Schmitz, Norbert M.: „Medialität als ästhetische Strategie der Moderne – Zur Diskursgeschichte der Medienkunst“, in: Gendolla, Peter/Schmitz, Norbert M. (u. a. Hg.): Formen interaktiver Medienkunst: Geschichte, Tendenzen, Utopien, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001. 3 Falls nicht anders benannt, beziehen sich alle Untersuchungen der vorliegenden Arbeit auf die diejenige hier benannte „Szenografie“, in der es um die Verräumlichung von Inhalten im Theaterkontext und deren medial räumliche Inszenierung geht. Diese Bestimmung ist insofern wichtig, als der Szenografie-Begriff im Diskurs ungeklärt ist und es in der Praxis viele verschiedene Formen gibt, z. B. auch Ausstellungsszenografie im Museumskontext oder Film-/Fernsehszenografie etc. 4 Mit den Bezeichnungen „semiotische Ästhetik“, „atmosphärische Ästhetik“ oder „performative Ästhetik“ sind die jeweilige Ansätze, Richtungen oder Auslegungen der Theorie der Wahrnehmung (Ästhetik) gemeint, die jeweils vertreten werden. Gernot Böhme vertritt eine atmosphärische Auslegung der Ästhetik. Die vorliegende Arbeit geht jedoch von einem semiotisch atmosphärischen Ansatz aus. Das anteilige Semiotische dieses Ansatzes bezieht sich dabei zum einen auf den Begriff bzw. das Erklärungsmodell „Kultur als Text („linguistic“ oder „semiotic turn“ der 1960er/1970er Jahre) mit Fokus auf Texttheorien, die (etwa wie bei Jurij Lotman in seinem Spätwerk) von dynamischen Zeichen- und Kulturprozessen ausgehen und Kultur als Hervorbringung (von Texten) verstehen, zum anderen auf den Begriff des „performativ turn“, der in den 1990er Jahren in der Theaterwissenschaft hinzukam. Der „performativ turn“ geht vom Erklärungsmodell „Kultur als
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Wahrgenommene ist die durch eine Szenografie künstlerisch hergestellte und inszenierte Atmosphäre 5. Um diesen Komplex aus gestalterischem Tun der Szenografin und Wahrnehmung der Rezipientin sprachlich einzufassen, werden zwei Arbeitsbegriffe eingeführt: Die konkret im Bühnenraum installierte und von einer Rezipientin wahrgenommene Szenografie wird als „Szenotopie“ bezeichnet, das ihr zugrunde liegende Raumverständnis als „szenotopisch“. Die durch eine Szenografie hervorgebrachte Atmosphäre wird als „Szenosphäre“ und die ihr zugrunde liegende Ästhetik als „szenosphärisch“ bezeichnet. Die Arbeit gliedert sich in insgesamt fünf Kapitel. Nach der Einführung erfolgt in Kapitel 2 eine Darlegung der raumstrukturellen Entwicklung der Szenografie, die Erkenntnisse zu Raumwahrnehmungen und -auffassungen liefert. In Kapitel 3, das sich als raumtheoretische Skizze versteht, werden den Thesen entsprechend die Ästhetik und Struktur der Szenografie untersucht. Die Untersuchungen werden anhand der Arbeitsbegriffe „Szenosphäre“ und „Szenotopie“ herausgearbeitet und weitere Erkenntnisse im Hinblick auf zum Einsatz kommende Gestaltungsmittel gewonnen. In Kapitel 4 werden die gewonnenen Erkenntnisse anhand künstlerischer Projekte anderer Künstler (nicht anhand eigener Projekte) überprüft. Das Kapitel 5 bietet einen Ausblick auf die Umsetzbarkeit szenografischer Arbeiten in Theaterbetrieben. Künstlerisch-praktische Erfahrungen Für die Darlegung 6 eigener künstlerisch-praktischer Erfahrungen und Projekte im Bereich der Szenografie ist es sinnvoll, die Form des erlebenden und erzählenden Ichs zu wählen (also die Ich-Form), obgleich sie im Allgemeinen als in der Wissenschaft nicht angemessen gilt. Denn in einer wie im vorliegenden Fall experimentellen Arbeit, die von mir als Künstlerin/Szenografin geschrieben ist Hervorbringung/Performance“ aus. Das Semiotische in der „performativen Ästhetik“ (bzw. in der performativ ausgelegten Theorie der Wahrnehmung) bezieht sich „auf die Wahrnehmung der Elemente in ihrer Phänomenalität, ihrem besonderen In-der-Welt-Sein“, siehe Lemma „Semiotik“, in: Fischer-Lichte, E./Kolesch, D.: Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart, Weimar: Metzler 2005, S. 302. Siehe auch Fischer-Lichte, Erika: Ästhetische Erfahrung: Das Semiotische und das Performative, Tübingen: Francke 2001, S. 9 ff. 5 Vgl. Böhme, Gernot: Atmosphäre: Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1995. 6 Die Inhalte der vorliegenden Arbeit beziehen sich in gleichem Maße sowohl auf Frauen als auf Männer. Trotz des Bestrebens, beide Geschlechter gleichermaßen sprachlich zum Ausdruck zu bringen, kann aus Mangel an praktikablen Schreibalternativen und aus Gründen der Vereinfachung jedoch nicht auf die Verwendung generischer Maskulina verzichtet werden. In allen bisherigen Ausführungen ist die männliche Form stets mitgedacht und angesprochen; für alle kommenden Ausführungen wird die männliche Form für alle Personenbezeichnungen gewählt, mit der die weibliche Form stets mitgedacht und angesprochen wird. Der Vereinfachung halber wird die Abkürzung „ders.“ (derselbe Autor) auch für weibliche Autorinnen gebraucht.
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und dem Konzept „Wissenschaft in der Kunst, nicht über Kunst“ folgt, muss auch nicht logisch Erklärbares und Subjektives im Diskursraum Platz finden (dürfen). Nur so können künstlerische Schaffensprozesse, die eben nicht rein objektiv, d. h. analytisch hervorgebracht werden, von innen heraus bzw. aus eigener produktionsästhetischer Perspektive dargelegt werden (und schließlich mit wissenschaftlichen Theorien, siehe Kapitel 3, verfugt werden). Die Darlegungen zu den eigenen Projekten können nicht – wie es eine dritte Person vermöge – distanzlos von außen auf das eigene Werk erfolgen und somit auch nicht in theater- und medienwissenschaftlichen Aufführungsanalysen münden, sondern verstehen sich eher als phänomenologische Beschreibungen. In meiner künstlerischen Praxis habe ich Szenografien für die Guckkastenbühnenform, die offene Raumbühne und Projekte im öffentlichen Raum realisiert. Mein Weg steht in Analogie zur Entwicklungslinie, der in Kapitel 4 anhand von Projekten anderer Künstler nachgegangen wird: weg vom Illusionsraum Guckkasten, d. h. der Bildbühne und ihren architektonischen wie ästhetischen Grenzen, hin zur Raumbühne bis zum Anschluss an den (inszenierten) Wirklichkeitsraum der Stadt. Die Auseinandersetzung mit der Kontiguität des Theaters zum unmittelbaren Umfeld und damit zum Leben zeugt von dem Bestreben, den Theaterraum als einen Teil des gesellschaftlichen Kultur- und politischen Raums einfordern zu wollen, und damit auch solche Bühnen- und Theaterspielformen, wie sie der heutigen Wahrnehmung und Auffassung von Raum im medial geprägten 21. Jahrhundert adäquat entsprechen. „Einer offenen Gesellschaft entsprechen offene Theaterspielformen“7, wie sich mit dem Theaterarchitekten Werner Ruhnau sagen lässt, und so sollten offene Bühnenformen, d. h. Raumbühnen, ganz selbstverständlich in der heutigen Theaterlandschaft zur Verfügung stehen. Was im Bühnenraum an Spielformen und Raumgestaltungen möglich ist, hängt wesentlich von den architektonischen Gegebenheiten, d. h. von der jeweiligen Bühnenform ab; aus produktionsästhetischer Sicht sind Bühnenformen zunächst Arbeitsbedingungen. Hinsichtlich des Vorgenannten sind sie aber weit mehr als das: materialisierte Diskurse und Widerspiegelungen von Raumwahrnehmungen und -vorstellungen einer Epoche. Denn wie ich aus künstlerischer Erfahrung sagen kann, korreliert ein Ausdruck, d. h. eine Form stets mit einem Inhalt – ohne Inhalt hätte die Form keinen ästhetischen Sinn. Und so führt(e) der Weg nicht ohne Grund weg von der Guckkastenbühnenform – er ist der künstlerischen Entscheidung geschuldet, theatralisches Spiel durch szenografische Raum gestaltungen von räumlichen (Bühnen-)Zwängen befreien und Raum als einen Konstitutionsprozess zum Ausdruck bringen zu wollen. 7
Werner Ruhnau in einem Interview, das ich mit ihm 2014 in seinem Atelier in Essen geführt habe.
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Der Aufbruch begann nach meinem Bühnenbildstudium mit meinem Postgraduierten-Studium an der Kunsthochschule für Medien in Köln (1994– 1997). Durch meine Auseinandersetzung mit den damals „Neuen Medien“ – mit zeitbasierten Medien und insbesondere mit interaktiven Systemen und immersiven Umgebungen (CAVE) – ist es zur Erarbeitung von medial räumlichen Inszenierungen und installativen Arbeiten im Theaterkontext gekommen. Raum wird dabei nicht als gegebene Entität oder Dimension gedacht, sondern als Bewegung (in der Zeit) und als eine Relation verstanden – d. h. als eine Räumlichkeit im Sinne einer Topologie, in der es um Interaktion, strukturelle Beziehungen und das Zusammenspiel von Elementen geht. Diese Räumlichkeit, die hervorgebracht wird und wiederum weitere Räumlichkeiten hervorbringen kann, ereignet sich durch Wahrnehmen, Handeln und Bewegung. Der Rezipient ist also kein passiver Zuschauer, sondern ein aktiver Besucher der Szenografie. So entsteht ein komplexes dynamisches System, das Kommunikation ermöglicht, Beziehungsfelder erschließt und zeitigt und in dem mediale Bildräume und reale Raumbilder ineinanderwirken. In meiner künstlerischen Praxis geht um komplexe räumliche Anordnungen, die selbst erkundet werden können: um Raumbildung und Raumaneignung durch die Besucher. Es geht also weniger um Raumdarstellung und passive Betrachtung derselben, wonach die Guckkastenbühne der Neuzeit strebt. Diese Bühnenform ist aber nun diejenige, die in den öffentlich getragenen Theatern zumeist vorherrscht. Diese Erfahrung begründet die so entstandene und sich verfestigende Auffassung von der Notwendigkeit von Interventionen in das Stadt- und Staatstheatersystem. Aus dieser ersten Problemstellung, die im nächsten Abschnitt näher beschrieben wird, ist es zu weiteren Fragestellungen an das Arbeitsfeld und schließlich zur Motivation gekommen, einen Beitrag im Diskursraum der Szenografie-Diskussion zu leisten, wie im Folgekapitel genauer ausgeführt wird. Der vorliegenden Arbeit liegt zunächst die eigene künstlerische Erfahrung zugrunde, dass Inszenierungen mit szenografischen (im Gegensatz zu solchen mit bühnenbildnerischen) Raumgestaltungen nur manchmal in den Spielplänen der Stadt- und Staatstheater Platz finden. Sie sind weniger dort, sondern vielmehr in freien Theaterhäusern (z. B. Kampnagel Hamburg, Mousonturm Frankfurt a. M., Sophiensaele Berlin oder FFT Düsseldorf ) anzutreffen: in der freien Theater- und (Medien-)Kunstszene oder auf Festivals. Als Grund dafür kann angegeben werden, dass es in Stadt- und Staatstheatern kaum Bühnenformen gibt, die raumstrukturell geeignete Bedingungen für die Szenografie bereithalten. Das Guckkastenprinzip macht Bewegung durch den Raum durch die Zuschauer – Raumbildung und -aneignung also – nicht möglich, was für die Raumkunst Szenografie jedoch konstitutiv ist. Einige „kleine Häuser“ der Stadt- und Staatstheater halten zwar variable und für die Szenografie günstige Bühnenformen bereit,
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doch Inszenierungen mit szenografischen Raumgestaltungen, die mitunter auch außerhalb der Bühne oder des Theatergebäudes spielen und mobile Besucher fordern, gelangen beispielsweise am Musiktheater im Revier (MiR) nur einmal pro Spielzeit oder alle zwei Jahre zur Aufführung. An den Bühnen der Stadt Köln, wo seit etwa 2012 verstärkt versucht wird, mit der freien Szene zusammenzuarbeiten, sind es nur ca. 10 %, d. h. ein bis zwei Produktionen pro Spielzeit. Von einer regelmäßigen Nutzung variabler Bühnenformen, insbesondere der Raum bühnenform, und einer stetigen Vertretung szenografisch angelegter Projekte in den Spielplänen der Stadt- und Staatstheater kann also nicht gesprochen werden. Zudem gibt es kaum Stücke, die für szenografische und variable Bühnen formen geschrieben werden. Auch folgende Bedingungen sind für das szenografische Arbeiten ungünstig: Die Probezeiten an Theaterbetrieben für experimentelle Projekte (und deren Technik) sind relativ kurz (ca. acht Wochen) und die eingesetzte Bühnentechnik (die mitunter hinzugemietet werden muss) muss aufgrund der Umbauten für andere Stücke im Spielbetrieb immer wieder abgebaut werden, was oftmals nicht zu leisten ist. Außerdem ist das Modell der Zusammenarbeit in Theaterbetrieben insbesondere auf den Regisseur ausgerichtet und nicht, wie oftmals bei freien Künstler-Kollektiven, auf in erster Linie interdisziplinär forschende Arbeitsprozesse, in denen die Künstler des Produktionsstabs aus diversen, mitunter auch theaterfernen Disziplinen stammen. Des Weiteren lässt sich im Hinblick auf den Umgang mit Medien und ihren Einsatz auf der Bühne bisweilen eine Arbeitsweise beobachten, in der Bild und Bühne, Fläche und Raum nicht von vornherein als eine zusammengehörende Gestaltungseinheit gedacht werden: Nicht selten wird zunächst das Bühnenbild von einem Bühnenbildner gefertigt und danach ein Video, das weitgehend vom Regisseur konzipiert und von einem Videogestalter gefertigt wurde, auf das Bühnenbild projiziert. Regisseur und Videogestalter stammen aber zumeist nicht aus dem Berufsfeld Architektur/Bühne, sind in diesem Sinne also keine Raumspezialisten, sondern ersterer ist ein Spezialist im Bereich Personenführung und zweiterer ein Flächenspezialist (Bild-/Filmemacher). Dies kann zur Folge haben, dass Bewegtbilder (Video, Film, Computeranimation) nicht aus dem realen Bühnenraum heraus konzipiert werden (können), was wiederum nach sich ziehen kann, dass es zur Hängung von Projektionsflächen und damit zu einer Bestückung des Raums mit Bildern kommt, was einer Behälter-Vorstellung von Raum gleichkommt. Solch ein Verständnis bzw. Umgang mit Bild und Raum hat seine Berechtigung und entspricht dem ästhetischen Sinn der Bildbühne, denn ihre Konzeption kann zu den „absolutistischen Raumkonzeptionen“8 gezählt werden, und wie sich mit Martina Löw weiter 8
Löw, Martina: Raumsoziologie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001, S. 130.
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ausführen lässt, wird hier „der Raum zur starren Folie …, auf und vor der sich bewegtes Handeln abspielt“9. Aus szenografischer Sicht stellt sich jedoch genau das als problematisch dar, denn in der Szenografie geht es um ein Spiel(en) nicht vor, sondern mit und im Raum. Vor allem tritt im Zuge dessen Folgendes ins Bewusstsein: dass der Szenografie – und damit den gestalterischen Denkprozessen, die jedem Entwurf vorausgehen – kein absolutes, sondern eher ein relationales und topologisches Raumverständnis zugrunde liegt, was die vorliegende Arbeit unter Verwendung wissenschaftlicher Theorien (im Gesamtkapitel 3.2) herauszuarbeiten versucht. Ausgehend von solch einem Raumverständnis können sich die (wie oben beschrieben) in den Raum gehängten Projektionsflächen und darauf gezeigten Bewegtbilder architektonisch wie dramaturgisch nur bedingt in den realen Bühnenraum fortschreiben – szenografieren – und mit den Darstellern interagieren, eben weil sie sich als in sich geschlossene Spielflächen („Spielfilme“) mit eigenständiger Handlungsebene verstehen. Oder weil sie sich als filmische Motivdoppelungen dessen zeigen, was die Bühne als Raum – auch wenn man nicht in sie hineintreten kann – ohnehin aus sich selbst heraus an intermedialen Raum-Zeit-, Blick- und Figuren-Beziehungen böte. Steht für eine Produktion eine Raumbühne nicht zur Verfügung, in der sich solche Beziehungen in actu durch aktive Besucher konstituieren und in den Realraum fortschreiben können, sich also Raum als Bewegung (in der Zeit) und durch Wahrnehmen und Handeln ereignen kann, besteht die gestalterische Motivation des Szenografen darin, die „starre Folie“ zu perforieren. Zu einer der Bedingungen für szenografisches Arbeiten mit Bildräumen in der Guckkastenbühne zählt die Möglichkeit, „Raumfilme“, wie ich sie nenne, kreieren zu können. Voraus setzung dafür ist es, Oberflächenmedien (Film, Video, Computeranimation etc.) räumlich denken und mit dem realen Bühnenraum zusammendenken zu können. Dies verändert die Rolle des Szenografen (Raumkünstler) dahingehend, dass er zu einem Bildregisseur wird und durch die Rückbindung der gestalteten Zeit (Bewegtbilder) an den realen Raum schließ lich zu einem Raumregisseur wird. Diese Arbeitsweise unterscheidet sich dabei grundlegend von derjenigen eines Filmregisseurs, der für die zweidimensionale Fläche (Fernseh-, Computermonitor, Kinoleinwand etc.) produziert und sozusagen „Flächenfilme“ kreiert. Der Szenograf produziert hingegen für den dreidimensionalen Raum und gestaltet solche Art Filme, die nur durch den Raum, für den sie konzipiert wurden, zu verstehen sind; als sozusagen „eigenständiger“, vom Umraum unabhängiger Film (z. B. Spielfilm) funktioniert ein „Raumfilm“ nicht. Er ist weniger motivisch (z. B. mit Porträtaufnahmen arbeitend) konzipiert als vielmehr abstrakt angelegt in dem Sinne, dass z. B. ein animierter schwarzer Balken, eine geometrische Form also, wie eine sich aufschiebende Tür 9 Ebd.
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wirken kann, die optisch einen neuen Raum öffnet, in dem die realen Darsteller zu sein scheinen (obwohl sie technisch gesehen vor der Projektionsleinwand stehen). Wie sich aus eigener künstlerischer Empirie sagen lässt, liegt die Kunst (aber eben auch die Schwierigkeit für Außenstehende, z. B. den Personen-Regisseur) eines raumbildenden Medieneinsatzes oder des „Raumfilms“ darin, im Herstellungsprozess (am Videoschnittplatz vor dem Monitor sitzend) auf ein raumzeitliches und räumliches Vorstellungsvermögen zurückgreifen zu können, das zu dem, was auf der Bildfläche zu sehen ist, hinzukommen muss. Kann man dies nicht, d. h. den Bühnenraum nicht hinzuimaginieren (das Zusammenspiel zwischen Video, Bühne und Darstellern sieht man oftmals erst später, wenn man sich im Theater, auf den Proben befindet), erscheint der „Raumfilm“ wirkungslos, was möglicherweise als Grund dafür angegeben werden kann, dass es oftmals zur Produktion von „Flächenfilmen“ kommt. Für den szenografischen Einsatz von Bewegtbildern bedarf es also eines speziellen künstlerischen Wissens und besonderen Umgangs mit Flächenmedien. Anhand der nachfolgenden Beispiele lässt sich dies verdeutlichen. Die Darlegung eigener künstlerischer Projekte dient jedoch in erster Linie dazu aufzuzeigen, dass es bei der szenografischen Arbeit um die Schaffung von Raumstrukturen und Atmosphären geht – so auch das Thema der vorliegenden Arbeit; zeichentheoretische, bild- oder medienwissenschaftliche Untersuchungen stehen nicht im Fokus. Szenografische Denk- und Arbeitsweisen am Beispiel des Projekts „VIA“ Dieses Projekt, das ich als erstes Beispiel vorstellen möchte, habe ich in Zusammenarbeit mit drei Choreografinnen der freien Tanztheaterszene realisiert, die zugleich auch die Tänzerinnen des Stückes waren. Es trägt den Titel „VIA“ und wurde in einer Guckkastenbühne aufgeführt. Meine Aufgabe war es, zum Thema Weg – also Lebenswege, die eine Vita ergeben – eine gastspieltaugliche und preiswerte Bühnengestaltung zu erstellen – für eine Inszenierung von einer Stunde in drei Szenen zu je zwanzig Minuten – und die Bühne zugunsten maximaler Bewegungsfreiheit der Tänzerinnen möglichst „leer“ zu halten; gewünscht wurde zudem, mit Video zu arbeiten. Bevor ich die Bühnengestaltung erläutere, möchte ich den Produktionsprozess in seiner Entstehung beschreiben, um einerseits raumstrukturelle Denk- und dementsprechende Arbeitsweisen aufzuzeigen, andererseits darzulegen, dass und wie diese Denk- und Arbeitsweisen mit wissenschaftlichen Theorien verfugt werden können. Ausführliche Herausarbeitungen dazu und die Verfugung mit wissenschaftlichen Theorien, die im Folgenden nur im Ansatz dargestellt werden kann, erfolgen im Gesamtkapitel 3.2 „Szenotopie“.
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Nach ersten Gesprächen mit den drei Tänzerinnen bezüglich des Themas des Stückes und der Frage, was ein Weg ist oder sein kann, kristallisierten sich insgesamt vier Kernaussagen für die jeweils zwanzigminütigen Choreografien heraus; wir alle hielten unsere wesentlichen Aussagen schriftlich fest: 1.) Erste Szene, erste Tänzerin: … Jemand, der einen langen Weg vor sich hat, läuft nicht (weg). Mich interessiert das physische Erleben von Entfernung, der Kraftaufwand und die Hingabe … 2.) Zweite Szene, zweite Tänzerin: … Ich gehe nicht gern zurück, es muss nach oben, ein Weg muss nach vorne gehen. Meilensteine sind nur Zeichen für einen Moment an einem Ort in einem Raum zu einer Zeit mit eigenem Atem … 3.) Dritte Szene, dritte Tänzerin: … Mir geht es um das Dazwischensein, das Auf-dem-Weg-Sein auf doppeltem Boden und den inneren Wandel dabei … 4.) Mein Satz: … Ich denke bei „Weg“ an Bewegung – Raum –, Spuren und an (eine Linie auf ) Papier … Dieses Aufschreiben und Sprechen über Motivationen und Vorstellungen zum Tanztheaterprojekt ist vor allem eine Verständigung über den sozialen Raum und menschliche Wahrnehmung(en) und weist auf ein System hin, das nicht unwesentlich an künstlerischen Schaffensprozessen beteiligt ist, sie gar mitbestimmt: die Sprache. Ohne sie ist das „Denken … wie eine Nebelwolke, in der nichts notwendigerweise begrenzt ist. Es gibt keine von vorneherein feststehenden Vorstellungen, und nichts ist bestimmt, ehe die Sprache in Erscheinung tritt“10, wie sich mit Ferdinand de Saussure, dem Begründer der modernen Linguistik und des Strukturalismus, sagen lässt. Als ein Prozess, der das Verständnis und Wissen von Welt konstituiert, beeinflusst die Sprache unser Denken (und umgekehrt) und mittels ihrer sinnbildenden Struktur ermöglichen sich Informationsübertragung und Kommunikation. Sie „[registriert] das Individuum in passiver Weise ein“, indem syntagmatische Beziehungen gebildet und assoziative Relationen hervorgebracht werden11, und das ist bei den oben genannten vier Sätzen (Kernaussagen, die sich herauskristallisierten) zu erkennen. Die Sprache ist „ein
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De Saussure, Ferdinand: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, 3. Aufl., Berlin: de Gruyter, 2001 (1931), S. 133. Er unterscheidet zwischen der Sprachfähigkeit („langage“), der Sprache („langue“) und dem Sprechen („parole“). 11 Ebd., S. 16.
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System von Zeichen, die Ideen ausdrücken“12, und Zeichen sind Vorgänge, denn sie werden erst durch den Wahrnehmenden zu solchen, indem sie durch ihn für etwas stehen und damit (eine bestimmte) Bedeutung erhalten13. Dabei gibt es einerseits eine allgemeine und andererseits eine spezielle Ebene, wie man vereinfacht sagen könnte: eine Art allgemeinen kulturellen Konsens über die Bedeutungen von Zeichen (z. B. steht hierzulande nicht wie in Asien die Farbe Weiß, sondern Schwarz für Trauer) und andererseits die Ebene der eigenen Vorstellungen, die sich aus dem sozialen Leben, individuellen Erfahrungen und Erinnerungen etc. speisen. In Produktionsprozessen (bei der Erarbeitung von Szenografien) kann man das Zusammenspiel dieser zwei Ebenen immer wieder bei sich selbst beobachten, und die Beobachtung dient dazu, seine eigenen Ideen einzuordnen. Bei der Arbeit geht es aber auch darum, die Zuschauer zu beobachten. Dabei wird das Zusammenspiel der zwei oben genannten Ebenen mit langjährigen Erfahrungen über die Wahrnehmung der Zuschauer abgeglichen, um – so das Ziel – eine Bühnengestaltung zu kreieren, die möglichst wirkungsvoll ist (das Publikum soll sich vom Dargebotenen in einer bestimmten Art und Weise affiziert fühlen können – wie im Gesamtkapitel 3 unter verschiedenen Aspekten herausgearbeitet wird). Die mentalen Konzepte von Beobachtern (Zuschauern) interpretieren und daraus Schlüsse im Hinblick auf die Wahrnehmung von Zeichen ziehen zu können, ist eine künstlerische Wissensform, es sind Erfahrungen über den Beobachteten, der sich verhalten hat. Auf die Sprache als Mitgestalter künstlerischer Schaffensprozesse hinzuweisen, ist aufschlussreich für die Darlegung von künstlerischen Denkweisen, denn durch die Sprache können Ideen gefunden und kann Sinn durch Relationen organisiert und generiert werden, wie im Folgenden konkret gezeigt werden kann. Die Sprache mit ihren Elementen und Beziehungen dient mir als Künstlerin in gewisser Weise als Primärsystem. Und ich kann aus diesem System, indem ich es in Struktureinheiten zerlege und diese modelliere, ein Sekundärsystem aus Zeichen und gestalterischen Mitteln kreieren, das meine Ideen künstlerisch ausdrückt: eine dynamische Struktur, die hier in Form einer Bühnengestaltung für ein Tanztheaterstück zum Ausdruck kommt. Diese Struktur ist zum einen die Formsprache, die szenografische Raumsprache, die den Inhalt (das Thema Weg) zum Ausdruck bringen soll. Zum andern ist sie eine abstrakte Übersetzung dessen, was ich an weltanschaulichen Überlegungen, Raumauffassungen, individuellen und allgemein kulturellen Erfahrungen sowie Erfahrungen, die ich über Zuschauer gemacht habe, einbringe: Wissen und Denkform. Diese Struktur bzw. dieses Sekundärsystem wird – mit Jurij Lotman gesprochen – auch als 12
Ebd., S. 19. Ein sprachliches Zeichen setzt sich zusammen aus einem Lautbild (Wort) und der dazugehörenden Vorstellung bzw. ist die Relation zwischen dem Lautbild (Signifikant/das Bezeichnende/Ausdruck) und der Vorstellung (Signifikat/das Bezeichnete/Inhalt). 13 Ebd., S. 14 f.
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ein „sekundäres modellbildendes System“14 bezeichnet: Ich bringe etwas hervor, indem ich es „in Entsprechung zu der Struktur, die [meiner] Meinung nach den vorliegenden Phänomenen der Wirklichkeit eigen ist“15, wiedergebe. Dabei arbeite ich jedoch „nur das ‚Spezifische‘ …, das mit dem Ganzen gleichgesetzt wird“16, heraus, wie in Kapitel 3.1.4 ausführlich dargelegt und dort auch im Hinblick auf angewandte Signifikationspraktiken, etwa das Arbeiten mit der Stilfigur der Metonymie, untersucht wird. In den oben genannten vier Sätzen (Kernaussagen) ist das jeweils Spezifische des Ganzen (das Ganze ist der Weg) für die Tänzerin 1 das Schwere und die kontinuierliche Kraftaufwendung, um ans Ziel zu gelangen; um was für ein Ziel es sich handelt, bleibt dabei offen. Für die Tänzerin 2 ist es das Nach-vorneGehen; zu beobachten ist hier, dass dieser horizontalen Bewegung (in Etappen: „Meilensteine“) eine sozusagen „vertikale“ Bedeutung, eine Bewertung im Sinne eines sozialen oder individuellen Aufstiegs nach „oben“ zugedacht wird, was ein topologisch-semantisches Ordnungsdenken erkennbar werden lässt. Für die Tänzerin 3 ist das Spezifische das Dazwischensein; wie sie in Gesprächen mitteilte, gründet dieser Zustand oder dieses Gefühl für sie darin, dass sie zwischen zwei Kulturen lebt. Und das für mich Wesentliche des Wegs ist das Räumliche/ Sich-Bewegen, was die drei Spezifika der Kolleginnen zugleich einbettet, verbindet und in eine Gesamtgestaltung bringt, wie sich zeigen wird. Diese Herausarbeitung des Spezifischen aus dem Ganzen, diese Praktik kann auch als „strukturalistische Tätigkeit“ bezeichnet werden, wie Roland Barthes es nennt: Die hervorgebrachte Struktur bringt „etwas zum Vorschein …, das im natürlichen Objekt unsichtbar oder, wenn man lieber will, unverständlich bliebe“17, es geht um die „wirkliche Erzeugung einer Welt, die der ersten ähnelt, sie aber nicht kopieren, sondern verständlich machen will“18. In dem Projekt „VIA“ habe ich versucht, das Räumliche/Sich-Bewegen – Raum – dadurch verständlich zu machen, dass ich den Weg in vier Struktureinheiten zerlegt und diese zu einer „Ganzheit modelliert“19 habe. Diese Einheiten sind die drei Raumdimensionen sowie die Zeit; als Material für die Bühnenge14
Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte, München: Fink 1972a, S. 22 f. In diesem (mitunter kybernetisch) angelegten Modell lassen sich bereits Ansätze erkennen, auf die Lotman in seinen späten Schriften den Fokus legt: Kultur als dynamischer Prozess. Innerhalb der „Semiosphäre“ (ders.: Die Innenwelt des Denkens, Berlin: Suhrkamp, 2010a) kommt es auch zu Verschiebungen des Oppositionspaars Signifikant – Signifikat und schließlich zu „frei flottierenden Fragmenten aus verschiedenen Strukturen“ (ders.: Kultur und Explosion, Berlin: Suhrkamp 2010b, S. 147). 15 Lotman, Jurij M: Vorlesungen zu einer strukturalen Poetik, München: Fink 1972b. S. 22 f. 16 Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte, München: Fink 1972a. S. 25 f. 17 Barthes, Roland: „Die strukturalistische Tätigkeit“, in: Enzensberger, H. M. (Hg.): Zeitschrift Kursbuch, Nr. 5, Frankfurt a. M.: 1966, S. 191 f. 18 Ebd. 19 Vgl. Lotman, der das „sekundäre modellbildende System“ als eine modellierte Ganzheit beschreibt.
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staltung habe ich Papier gewählt. Jeder Tänzerin habe ich eine Raumdimension bzw. -achse (z = Tiefe, y = Höhe, x = Breite) zugedacht, und nach 60 Minuten ist aus den Spezifika, den Einzelszenen und -dimensionen Raum geworden, dabei wurde(n) die Struktur(en) „von der Zeit mit Sinn gefüllt“20 – wie sich mit Michail Bachtin sagen lässt und in Kapitel 3.2.3 herausgearbeitet wird. Meine nachfolgende Zeichnung21 veranschaulicht das gestaltete „Sekundärsystem“, d. h. das konzeptuelle Modell, das dem Tanztheaterstück zugrunde liegt. Die Skizze zu zeigen, dient dazu, dem Leser auch auf visueller Ebene Einblicke in szenografische Denkweisen und Arbeitsmethoden zu geben.
Abb. 1 Entwurfsdiagramm, Projekt: VIA.
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Bachtin, Michail: Chronotopos, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008, S. 7. „VIA-Entwurfsdiagramm“ © Ruth Prangen.
1 Sondierung
Die Relationen und ihre Modellierung, die in der obigen Zeichnung dargestellt sind, dienen als gestalterische Mittel, um Wirklichkeit zu erfassen. Vor allem aber ist es eine künstlerische Arbeitsmethode, sozial als „normal“ angesehene Sinn- und Normensysteme einer Gesellschaft – zu denen auch die Sprache gehört – zu hinterfragen, umzunutzen22 oder zu durchbrechen, um mögliche Neuverbindungen zwischen einzelnen Elementen aufzuzeigen. Hier werden „andere Räume“ und Ordnungen geschaffen, wie sich mit Michel Foucault sagen lässt; er hat herausgearbeitet, „nach welchem Ordnungsraum das Wissen sich konstituiert hat“23 – wie Wissen und Wirklichkeit erzeugt und strukturiert werden (können). Als Künstlerin kann ich Systeme und (Wissens-) Räume bauen, d. h. Szenografien im Sinne von konstruierten und inszenierten Wirklichkeiten, die einer anderen Ordnung und einem anderen Sinn folgen und das aufzeigen, was sozusagen „unterhalb“24 eines Systems – auch dem der Sprache – liegt, z. B. die Verknüpfung der Elemente: Weg, Dazwischen, Kraftaufwand, Papier, Meilensteine und ihre Zuordnung zu Raumachsen (siehe obige Zeichnung). Raum wird hier als ein dynamisches Beziehungsgefüge gedacht, als Topologie und etwas Relationales, wie in Kapitel 3.2.1 herausgearbeitet wird. Es werden Kombinationen und Strukturen hervorgebracht, Systeme von Aussagen (Theorien) angewendet und Dinge in einer Art und Weise „klassifiziert“, wie es nur eine künstlerisch diagrammatische Zeichnung vermag. Anderes herum formuliert: Dinge werden so „geordnet“, wie es die Wissenschaft nicht machen würde bzw. dürfte, denn was als Wissen gilt und wie wissenschaftliches Ordnungsdenken und Wissensräume auszusehen haben, wird bekanntlich durch Diskurse bestimmt 25. Das, wodurch sich ein System konstituiert, ist – vereinfacht gesagt – ein Zusammenspiel von zwei Mengen: zum einen der Menge von Elementen und zum anderen der Beziehungen zwischen den Elementen, die eine Struktur und ebenfalls eine Menge bilden. Und diese Elemente und Beziehungen können visualisiert werden: durch Diagramme, so auch meine Zeichnung. Diese Skizze zeigt sowohl die Elemente (Themen/Überbegriffe, die in der Produktionsphase gefunden wurden) als auch die Relationen zwischen denselben: Konfiguratio22
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Vgl. de Certeau, Michel: Kunst des Handelns, Berlin: Merve 1988. Er arbeitet heraus, was sich unterhalb von Ordnungssystemen (z. B. der Sprache oder der Stadt) abspielt und wie diese Systeme zu Umnutzungszwecken gebraucht werden können (siehe Kapitel 3.2.4 der vorliegenden Arbeit). Foucault, Michel: Ordnung der Dinge, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997 (1966), S. 24. Ebd., S. 22 f. Foucault spricht von einer Region, die unterhalb des Diskurses und der bestehenden Ordnung liegt; dortige Substrukturen ermöglichen andere, neue Ordnungen. Ebd., S. 18 ff. Die Entstehung seines Werkes hat Foucault, wie er sagt, einem Text von Jorge Luis Borges zu verdanken, in dem Tiere durch ein Klassifikationsschema erfasst werden. Dieses Schema ordnet die Tiere durch die alphabetische Serie (A, B, C etc.) und damit nicht so, wie es (gemäß den Naturwissenschaften) den natürlichen Klassen, Unterklassen etc. entspräche. So kommt es zu einem Zusammentreffen, das nur die Sprache (oder ein Diagramm, das die „Ähnlichkeit der Dinge“ in abstrakte Beziehungen überführt) ermöglicht, aber in der Natur niemals möglich wäre.
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nen, die sinnstiftende (Veränderungs-)Möglichkeiten aufzeigen und durch diese Neuverbindungen, mithin Normvarianten, eine Verknüpfungsarchitektur bilden. Darüber hinaus werden die jeweils 20-minütigen Wege (Szenen) in ihrer raumzeitlichen Dimension als Graphen sichtbar (Tänzerin 1 (T1): orange Linie; T2: grün; T3: lila). Jeder einzelne Weg wird hier als Bewegung – Raum – in Form einer Linie (auf Papier) zum Ausdruck gebracht. Diese Skizze visualisiert die (Raum-)Sprache des Stückes – die „langue“, wie man mit de Saussure sagen könnte; ihr Gebrauch, der Äußerungsakt dieser Sprache, die Darbietung des Stückes also, wäre in dieser Lesart die „parole“. Die Raumsprache der Bühnengestaltung artikuliert und zeigt sich durch gestalterische Mittel (tänzerische Fertigkeiten, Bühnenobjekte: Papier, Licht: Video/Bewegtbilder und szenisches Licht: Scheinwerfer, Musik, Kostüme, Mitteilungen: Werbemittel zur Premiere) und als ein performatives Ereignis in Form des Tanztheaterstückes. Dabei wird die (Raum-)Sprache des Stückes jedoch nicht statisch wiedergegeben, sondern ihre Zeichen changieren und erfahren Impulse, Akzente, Setzungen durch die Kraft und Kreativität der Tänzerinnen im Akt der Aufführung – im Moment der Darbietung ist sie zu einen Ensemble von Beziehungen und selbst zur Szene geworden, die die Zuschauer nach- und miterleben können. Dabei bestimmen sich die ästhetischen, leiblichen und reflexiven Prozesse wesentlich über die raumstrukturellen Beschaffenheiten der Szenografie, und im Folgenden wird anhand der ersten Szene des Tanztheaterstückes gezeigt, dass sich dieses Nach- und Miterleben insbesondere durch Atmosphären, die ich als Szenografin kreieren kann, ermöglicht. Ausführliche Herausarbeitungen dazu und die Verfugung mit wissenschaftlichen Theorien, die im nächsten Abschnitt nur angerissen werden kann, erfolgen im Gesamtkapitel 3.1 „Szenosphäre“.
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1.1 Eigene künstlerische Projekte Erstes Projektbeispiel: „VIA“ In der ersten Szene bewegt sich die Tänzerin (T1) in der Tiefendimension, der z-Achse des Bühnenraums, die ich ihr zugeordnet habe, und der Weg hat hier seine ursprüngliche Form (ein auf dem Boden liegendes Rechteck) verloren. Auf Stadtplänen haben Wege oder Straßen die Form von breiten Linien, geometrisch betrachtet handelt es sich um lange schmale Rechtecke. Hier hat sich der Weg jedoch zu einem 1 × 1 × 1 m-Objekt komprimiert und stellt sich als ein Kubikmeter dar. Das Gefühl, dass ein langer Weg etwas Schweres und Mühsames, Hingebungsvolles und ein Sich-selbst-Spüren sein kann, habe ich durch einen gepressten, ca. 100 kg schweren und damit kaum zu bewegenden Papierblock, den ich als Bühnenobjekt entworfen hatte, szenisch übersetzt. Raum und Zeit sind hier sozusagen „zusammengefaltet“, zerschnipselt und ineinander verpresst und können nur mit enormem Kraftaufwand, durch Bewegung sozusagen „auf den Weg gebracht“ werden. Dabei werden mit szenischem Licht harte Schatten gezeichnet und Wege geleuchtet (aus Kostengründen konnte eine Bodenprojektion (Video) nicht realisiert werden). Die Tänzerin arbeitet sich an diesem Weg bzw. Gefühl ab, und Gefühle sind „räumlich ortlos ergossene, leiblich ergreifende Atmosphären“26, wie sich mit Hermann Schmitz sagen lässt und in Kapitel 3.1.1 ausführlich herausgearbeitet wird. Dehnung, Entfernung, Kraft, Wegstrecken – dieser Weg wird durch die Szenografie zur Darstellung gebracht und für die Zuschauer als ein Phänomen präsent; er wird als „vergehende Gegenwart“ erfahrbar, wie sich mit Martin Seel sagen lässt und anschließend (in Kapitel 3.1.2) dargelegt wird. Insbesondere durch die harte Körperarbeit der Akteurin – ihr „Kostüm“ ist ihre Nacktheit – wird dieses Phänomen für die Zuschauer spürbar. Die Zuschauer nehmen es „zunächst in seinem phänomenalen Sein wahr[], dann jedoch … als ein Signifikant, mit dem sich die unterschiedlichsten Assoziationen … als seine Signifikate verbinden“27, wie Erika Fischer-Lichte es formuliert und im Folgekapitel 3.1.3 erörtert wird. Die Zuschauer bringen das Geschehen mit eigenen Erfahrungen und Erinnerungen in Verbindung, wodurch autopoietische Prozesse ausgelöst und Assoziationen gebildet werden können, die mit dem (Signifikant) Weg als solchem nichts mehr zu tun haben müssen – wie sich immer wieder auch durch Gespräche mit Zuschauern nach einer Premiere bestätigt hat. Aus produktionsästhetischer Perspektive lässt sich sagen, dass sich solche Bühnen- und Wahrnehmungsvorgänge durch haptische Geräusche, wie sie hier bei den Bewegungen mit und auf dem Papierblock (das Rascheln der gepressten Papierschnipsel) entstehen, zusätzlich intensivieren lassen. 26 27
Schmitz, Hermann: Der Leib, der Raum und die Gefühle, Bielefeld: Ed. Sirius 1989, S. 51. Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004, S. 247.
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In der zweiten Szene sind Raum und Zeit nicht zusammengepresst. Hier hat der Weg seine ursprüngliche Form, doch liegt er nicht vor der Tänzerin, d. h. nicht auf dem Boden, wie es „normal“ wäre, sondern er steht vor ihr: Ein langes schmales Rechteck (ein mit Folie bespannter Rahmen) hängt als Vertikale (y-Achse) im Bühnenraum; es markiert die Wege und Meilensteine, die es für die Tänzerin zu begehen und „stufenweise“ zu erklimmen gilt. Sie bewegt sich etappenweise vorwärts, bis nach ca. zehn Minuten im obersten Viertel des Weges (der Leinwand im Rahmen) eine Amination (Video) sichtbar wird: eine virtuelle Kamerafahrt durch abstrakte Flächen, die an vorbeiziehende Häuserfronten und das Laufen durch eine Stadt erinnern. Die virtuelle Fahrt und das reale Laufen der Tänzerin werden immer schneller, bis das Video und die Tänzerin plötzlich stoppen und – so sieht es für die Zuschauer aus – sie das Bild aus der Leinwand, d. h. den Weg aus dem Rahmen zieht. (Der optische Trick wird dadurch realisiert, dass hinter der Leinwand eine gleich breite Papierrolle liegt und das Papier in demjenigen Moment von der Tänzerin herausgezogen wird, wenn auch das Video mittels der Filmschnitttechnik „wipe“ (Wischblende) nach unten fährt: Ein schwarzer Balken schiebt sich von oben nach unten.) Die Tänzerin zieht drei Mal, läuft dabei jedes Mal mehrere Meter zurück, und nach dem letzten „wipe“ zieht sie nochmals den nicht enden wollenden Weg heraus: weitere ca. zehn Meter Papier. Die enorme Lautstärke des Materials, dieses Präsenzgeräusch ist dabei zugleich „Soundscape“ der Szene, übersetzt die Aufbruchsstimmung des Geschehens auf akustischer Ebene. Der Weg (die Papierbahn) liegt nun in großen Schlangenlinien auf der Bühne, schließlich springt die Tänzerin in dieses verworrene Gebilde hinein und beginnt damit, es zu formen, zusammenzuballen. Das Krachen des Papiers wandelt sich dabei in ein lautes Rauschen. Was in dieser Atmosphäre nach einiger Zeit unter dem enormen Kraftaufwand und Körpereinsatz der Tänzerin entsteht, ist ein kugelförmiges ca. 2 × 2 m-Objekt, das schließlich an die Zuschauer übergeben wird: Die Tänzerin begibt sich mit diesem Weg in die Stuhlreihen und alle helfen mit, ihn nach hinten zum Saalausgang und damit nach draußen zu befördern. (Eine tatsächliche Fortschreibung/Szenografie in den öffentlichen (Wege-)Raum mit einer sich dort fortsetzenden Inszenierung war jedoch nicht möglich.) Was dieses Objekt, dieser Weg, der aus einem Rechteck und Bewegtbildern entstanden war, zu bedeuten hat, bleibt offen – ob er verworfen und sozusagen als „Papierknäuel“ entsorgt oder als ein Meilenstein („etwas ist geschafft“) weggetragen und möglicherweise einer stolzen Sammlung hinzugefügt wird, entscheiden die Zuschauer in ihren Köpfen. In der dritten Szene wird der Weg als ein Dazwischen-Sein erfahrbar, es geht um ein Auf-dem-Weg-Sein auf doppeltem Boden. Dabei ist der Weg jedoch keine Bodenfläche, wie es „normal“ wäre, sondern er folgt der x-Achse: Ein langes schmales Rechteck steht längskantig im Bühnenraum. Realisiert habe ich diesen Weg
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durch eine Papier-Faltwand (30 cm dicke Wabenstruktur), die sich wie eine Art Ziehharmonika auf eine Breite von ca. fünf Metern aufziehen lässt, frei stehen und aufgrund der Lamellen (ihrer Biegsamkeit in der Vertikalen) alle möglichen Formen annehmen kann; mit einer Höhe von ca. zwei Metern fungiert dieser Weg zugleich als Grenze, die sowohl trennt als auch verbindet. Die Tänzerin bewegt sich vor und hinter der Wand bzw. diesem Weg, d. h. auf der einen und auf der anderen Seite, sozusagen „doppelbödig“. Sie gerät zwischen die Wand bzw. den Weg, der sie einhüllen (körperlich umschmiegen), aber auch ausstoßen kann. Zum Ende der Szene wird der innere Wandel, um den es der Tänzerin dabei geht, durch ein „Atmen“ des Wegs in Szene gesetzt, das auch für die Zuschauer spürbar wird. Dazu wird ein Video auf die Faltwand projiziert. (Der Atem-Effekt wird auf optischer Ebene dadurch realisiert, dass das Auf- und Zuziehen der Papierwand gefilmt und dieser Film auf die stehende Papierwand projiziert wird – die Wand wird also auf sich selbst abgebildet und der Blick des Betrachters inszeniert. Auf akustischer Ebene ist das Rascheln, das beim Auf- und Zuziehen der Wand entsteht und als Tonspur mit aufgenommen wird, das Ein- und Ausatmen.) Für die Zuschauer entsteht dabei das Paradox, dass der Weg ganz offensichtlich statisch im Bühnenraum steht und sich doch zu bewegen scheint – er „lebt“. Durch die Pendelbewegungen der Tänzerin und das gleichzeitige „Atmen“ des Wegs stellen sich schließlich ein Rhythmus und eine fast meditative Atmosphäre ein. Dann
Abb. 2 Szenenfotos, Projekt: VIA
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fährt das Licht nach unten, Schwarzblende, das Stück (siehe vorige Abbildungen28) ist zu Ende. Zweites Projektbeispiel: „Orte der Sehnsucht“ Dass es bei der szenografischen Arbeit um die Schaffung von Raumstrukturen und Atmosphären geht, zeigt auch das folgende Beispiel. Doch anders als beim vorherigen Projekt kann der Besucher hier tatsächlich ins Bühnengeschehen eintreten, vergleichbar mit einer Ausstellung. Es ist eine Szenografie, d. h. begehbare Inszenierung, die als eine Produktion des Theaters Oberhausen unter der Regie des dortigen Intendanten in der Kohlenmischanlage der Kokerei Zollverein Essen29 zur Aufführung gelangte. Das Projekt ist dem deutschen Ethnologen und Weltreisenden, Aufklärer und Revolutionär Georg Forster (1754–1794) gewidmet und seiner Expedition mit James Cook, mit dem er die Welt umsegelte, um den damals vermuteten sechsten Kontinent zu finden; die Reise führte zum Südpol und auch nach Tahiti. Das Projekt trägt den Titel „Orte der Sehnsucht“, thematisiert Vernunft, Verstand, Mut und Freiheit des Menschen, Utopie und Realität. Dabei fragt es – über die Expedition Forsters und die Epoche der Aufklärung hinaus – auch nach heutigen Sehnsuchtsorten, Rezeptionsformen und verweist damit zugleich auf zukünftige gesellschaftliche Fragen. Analog zu Forsters Entdeckungsreisen in unbekannte Länder bewegen sich die Zuschauer weg von der „sicheren“, d. h. bekannten Guckkastenbühne in nicht vertraute Bildund Tonwelten (Musik, Gesang, Video, Installationen etc.) und simultane Handlungsabläufe, die an verschiedenen Orten zum Wechsel der Perspektive einladen. Für die Besucher erfolgt der Einstieg in das Stück bzw. der Aufstieg in die Kohlenmischanlage über eine Lore (Transportbahn) durch einen Förderbandtunnel, sie bringt sie zum Motorraum über den Bunkerräumen. Von dort winden sich Treppen nach unten durch die Anlage und die Besucher können (den ehemaligen Stationen und Transportwegen der Kohle folgend) von Bunker zu Bunker bis ins Erdgeschoss zum Ausgang gehen. Meine Aufgabe war es, eine zum Thema des Stückes und zur Architektur 30 des Aufführungsortes passende Bühnengestaltung in Form von medial 28
Die Abbildungen („VIA“ © Ruth Prangen) zeigen die beschriebenen drei Szenen: oben rechts die 1. Szene, unten rechts die 2. Szene (drei Fotos) und links die 3. Szene (zwei Fotos) des Stückes. 29 In der Kokerei (erbaut 1958 vom Architekten Fritz Schupp, stillgelegt 1993, heute UNESCOWelterbe und Industriedenkmal) wurde aus Steinkohle Koks und Rohgas erzeugt. 30 Die Kohlenmischanlage besteht aus Motorräumen (oben), dem darunter liegenden Kohlebunker (Bunker-Ebene mit Trichter-/Schüttöffnungen im Boden und einzelnen Bunkern/Räumen, in denen Kohle gelagert wurde) und dem Erdgeschoss (Trichter-Ebene). Die von oben kommenden und sich nach unten pyramidenförmig verjüngenden Trichter ragen in das Erdgeschoss, wo früher die Kohle über Schienenwaggons verladen wurde, hinein.
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räumlichen Inszenierungen und (Video-)Installationen zu erstellen. Für eine Spieldauer von ca. zwei Stunden musste eine Fläche von ca. 2.000 Quadratmetern auf drei Ebenen bespielt werden. Ich möchte einen Raum, einen von mir umgestalteten Bunker exemplarisch herausgreifen, an dem sich zugleich das Zusammenspiel zwischen medialen Bildräumen und realen Raumbildern zeigt. Ausgangsüberlegungen für die Gestaltung dieses Raums waren die freie Bewegung der Besucher durch den Aufführungsraum und die Motivation, ihre Bewegung als Raum und als einen Zeitraum in eine „theatrale Installation“31 zu übersetzen. Dazu habe ich die Kohlenmischanlage mittels 3-D-Computergrafik als ein dreidimensionales geometrisches Modell (Drahtgitter-/Linienmodell, „wireframe model“) nachgebaut und eine virtuelle Kamerafahrt durch dieses Modell als Animation (Video) erstellt. Das Video zeigt den Weg durch die Kohlenmischanlage durch die „Subjektive“, d. h. mit dem Blick durch die Augen eines
Abb. 3 Wireframe-Raum, Projekt: Orte der Sehnsucht 31
Vgl. Gronau, Barbara: Theaterinstallationen, Paderborn: Fink 2010. Sie untersucht die Verschränkung von Bildender Kunst und Theater anhand von Arbeiten von Joseph Beuys, Christian Boltanski und Ilya Kabakov.
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Besuchers (beim Betrachten des Videos sieht der Besucher also sozusagen sich selbst, wie er durch das Gebäude geht, er nimmt eine Zuschauerhaltung gegenüber sich selbst ein). Dieses Video habe ich auf eine Wand des Raums projiziert und die restlichen drei Wände dieses Bunkers mit einer Folie bespannen lassen, auf der ein Standbild der Animation (Linien) gedruckt bzw. zu sehen war. Den Boden und die Decke des Raums habe ich zudem mit schwarzen Spiegeln verkleiden lassen. Das so entstandene „geometrische Kabinett“ (siehe vorige Abbildungen32), dieser „wireframe-Raum“ bringt die Wege der Besucher als Bewegung – Raum – und als vergehende Zeit in Form einer virtuellen Begehung des Kohlebunkers zum Ausdruck. Durch den Boden- und Deckenbelag als sich gegenseitig reflektierende Flächen kommt es zu unendlichen Widerspiegelungen der Linien („wireframes“) und damit zu einer Orientierungslosigkeit der Besucher in diesem Raum. Zudem scheint es, als habe der Raum keine Grundfläche und man würde beim Betreten derselben in eine unendliche Tiefe bzw. ein Liniennetz ohne Boden fallen, wodurch eine unbehagliche Atmosphäre 33 evoziert wird – ob der Besucher den Raum betritt, bleibt ihm selbst überlassen und hängt von seiner persönlichen Verfasstheit ab. Das, was den Besuchern hier begegnet, ist ihre Gegenwart, ist der jeweils „erlebte Raum“, der sich nicht geometrisch (v)ermessen lässt 34, und Raum wird als eine performative Räumlichkeit 35 verhandelt, die sich ereignet. Durch das „Drin-Sein“ im Raum36 – als der entscheidende Unterschied zum vorherigen Projektbeispiel „VIA“ – wird dem Besucher eine „ästhetische Erfahrung“37 zuteil, die sich nicht nur mental, sondern auch leiblich38 durch seine eigene körperliche Fortbewegung bedingt und vollzieht: durch aktive Teilhabe 32
Beide Abbildungen „Orte der Sehnsucht“ © Ruth Prangen. Die Abbildung links oben zeigt die Kokerei als CAD-Modell nachgebaut. Oben rechts ist die Entwurfsskizze zum „wireframe-Raums“ zu sehen, unten ein Dokumentationsfoto, es zeigt einen Raumausschnitt: die Wand C (bedruckte Folie mit Standbild der Videoanimation) und die Projektionsleinwand D, auf der das Video (der Gang durch die Kokerei) zu sehen war. 33 Vgl. Böhme, Gernot: Atmosphäre: Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1995. 34 Bollnow, Otto F.: Mensch und Raum, Stuttgart: Kohlhammer 2004 (1963). Im Unterschied zum physikalischen oder mathematischen Raum konstituiert sich der erlebte oder gelebte Raum als eine Relation zwischen Mensch und Raum: eine Verhältnisbeziehung, die individuell hervorgebracht wird. 35 Der performative Raum „eröffnet besondere Möglichkeiten für das Verhältnis zwischen Akteuren und Zuschauern, für Bewegung und Wahrnehmung, die er darüber hinaus strukturiert und organisiert“ (Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004, S. 187). Weitere Ausführungen siehe Kapitel 3.1.3 der vorliegenden Arbeit. 36 Baier, Franz Xaver: Der Raum: Prolegomena zu einer Architektur des gelebten Raumes, Köln: König 1996, S. 26. Ihm zufolge wird durch das „Drin-Sein“ im Raum die „Ansicht“ (wie man es z. B. von der Guckkastenbühne her kennt) zur „Ein-sicht“ (Erkenntnis durch leibliche Erfahrung). 37 Siehe Lemma „ästhetischer Erfahrung“, in Fischer-Lichte, Erika (u. a. Hg.): Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart/Weimar: Metzler 2005, S. 94. Dinge werden „in ihrem momentanen und simultanen Erscheinen“ wahrgenommen. 38 Weitere Ausführungen zum Thema Leiblichkeit siehe Kapitel 3.1.1 der vorliegenden Arbeit.
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im und am Raum. Damit fällt dem Wahrnehmenden nicht länger die Rolle eines passiven, sondern aktiven Betrachters 39 bzw. eines Teilnehmers zu. Ihm werden keine Situationen sozusagen „vorgespielt“ wie in der Guckkastenbühne, sondern der oben beschriebene „wireframe-Raum“ ist eine situative Erfahrung, die Handlungsoptionen bereitstellt, denen der Besucher direkt ausgesetzt ist. Die Raumaneignung und -bildung, die damit ermöglicht wird, bedingt sich nicht zuletzt auch durch die Raum-Zeit-, Blick- und Figuren-Beziehungen in actu. Sie verdichten sich zu einem immersiven Raumerlebnis, und durch das Zusammenspiel des virtuellen Bildraums und des realen Raumbildes in dieser Installation kann der Besucher ins Geschehen eintauchen, es umgibt ihm. Dabei wird der Besucher in reale, mediale, fiktive und imaginäre Wirklichkeitssphären und Zeitebenen verwickelt. Dadurch, dass er sich mitten im Geschehen befindet, werden der Aufführungsort und die darin stattfindende Inszenierung als ein komplexes Gefüge wahrnehmbar. Dieses Gefüge kann als eine Art Allegorie verstanden werden, denn es reflektiert die heutige Bildrealität. Die virtuelle Begehung des Kohlebunkers lässt die globalisierte und vernetzte Wirklichkeit, ihre komplexen Wahrnehmungsbedingungen und die Auffassung von Raum nicht als Container-Raum, sondern als eine relationale und kontextuelle (An-)Ordnung und topologische Konfiguration40 erfahrbar werden. Drittes Projektbeispiel: „inside_out“ In diesem Projekt geht es ebenfalls um ein Spiel(en) nicht vor, sondern mit und im Raum. Doch im Unterschied zum vorherigen Beispiel spielt das Stück bzw. die Aktion nicht in einer (umgenutzten) Architektur, sondern es wird der Theaterraum gänzlich überwunden. In meinem Bestreben, den Theaterraum als einen Teil des gesellschaftlichen Kultur- und politischen Raums einfordern zu wollen, findet das Projekt auf einem Marktplatz statt (Abbildung siehe vorliegendes Buchcover sowie nachfolgende Abbildung 41). Die Darbietung spielt in der Stadt und die Stadt wird als Bühne thematisiert: Das Projekt ist eine szenografische Intervention42 im öffentlichen Raum: eine Gully-Performance auf dem Marktplatz der Stadt Dessau. 39
Vgl. die Rolle des „impliziten Betrachters“ bei Wolfgang Kemp, ders.: Der Betrachter ist im Bild, Berlin: Reimer 1992, S. 22. 40 Es geht, mit Foucault gesprochen, um den „Versuch, zwischen Elementen, die über die Zeit verteilt sein mögen, eine Reihe von Beziehungen herzustellen, die sie als ein Nebeneinander, als ein Gegenüber, als etwas ineinander Verschachteltes, kurz als Konfiguration erscheinen lassen“ (Foucault, Michel: „Von anderen Räumen“, in: Günzel, Stephan/Dünne, Jörg (Hg.): Raumtheorie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006, S. 317). Weitere Ausführungen siehe Kapitel 3.2.1 der vorliegenden Arbeit. 41 Abbildung © Wolfgang Kirchhoff. 42 Zu „Intervention“ siehe auch Bohn, Ralf/Wilharm, Heiner (Hg.): Inszenierung und Politik, a. a. O. 2015, S. 11, 37.
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Abb. 4 Gully-Performance, Projekt: inside_out
Mit dem Ziel, bestehende (Raum-)Ordnungen zu befragen, zu eigenen Zwecken umzufunktionieren und das an die Oberfläche (nach oben) zu bringen, was im Verborgenen (unten) liegt, entstand ein Bilder- und Raumparcours, der aus Projektionsleinwänden (auf denen einige Bewohner Dessaus bei alltäglichen Arbeiten, z. B. beim Wäschewaschen, zu sehen sind) und einer großen Projektion auf dem Rathaus (die eine Frau zeigt, die einen Vorhang auf- und zuzieht und mit mir zu telefonieren scheint) besteht. Ich befinde mich inmitten dieses Szenarios und beziehe sozusagen „Stellung im Raum“, indem ich – in einem Gully stehend – als Koordinate im Raum fungiere. Ausgangsüberlegung für die Performance waren die Frage nach den Bedingungen für das Entstehen von Raum, Geschichtsschreibung und von individuellen Stadtgeschichten, durch die sich für jeden Einzelnen die Stadt konstituiert, sowie die Motivation, nichtwissenschaftliches Wissen über die Stadt und Signifikationspraktiken der Stadtbewohner in den Fokus zu nehmen. Das, was an die Oberfläche und hinter den Fassaden hervorgeholt werden sollte (und mir während der Performance via Mobiltelefon erzählt werden konnte), ist das urbane Raumerleben: Geschichten, die von der Aneignung des städtischen Lebensraums durch die Bewohner erzählen, ihren selbst gefundenen Wegen, ihren „Einschreibungen“ – (Szeno-) Graphien im Raum. Ähnlich wie ich mich sozusagen „unterhalb“ des Systems der Stadt bewege, indem ich eine für Abwasserzwecke vorgesehene Bodenöffnung zu einer Bühnenversenkung (Bodenpodium) bzw. einer Koordinatenfunktion umnutze, bewegen sich auch die Stadtbewohner jenseits dessen, was die Stadtplaner vorge-
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sehen haben, wenn mir z. B. erzählt wird, wie man am praktischsten von A nach B kommt, ohne dafür vorgesehene Straßen zu benutzen, sondern einen Trampelpfad und Parkplatz hinterm Haus. Aus solchen Praktiken der Signifikation können neue (inoffizielle) Zeichen im Stadtraum entstehen43 – hier bedeutet ein Standplatz, dessen eigentlicher ästhetischer Sinn im Stehenbleiben und damit eben nicht in der Fortbewegung liegt, nun den schnellsten Weg. Im Hinblick auf den kreativen Erfindungsreichtum der Stadtbewohner und die Raumaneignungstaktiken, die sich im Rahmen des Projektes gezeigt haben, sowie in Anbetracht der Annahme, dass Widerstandsbewegungen stets mit Systemen und Machtstrukturen korrelieren, könnte man mit Foucault sagen: „Wir stecken nie völlig in der Falle.“44 Im Diskurs wird jedoch zumeist die Inblicknahme von Taktiken von Systemnutzern zugunsten von Untersuchungen „strukturelle[r] Voraussetzungen sozialen Handelns“45 vernachlässigt. Michel de Certeau, der die Praktiken von Systemverbrauchern, auch Stadtbewohnern, mit Rekurs auf Foucault untersucht hat 46, hat als einer der wenigen die Subversion als ästhetische Kategorie zum Untersuchungsgegenstand genommen. Er bildet insofern eine Ausnahme, als in „den meisten soziologischen Studien der Begriff der ‚Abweichung‘ gegenüber den ‚Subversionen‘ vorgezogen [wird], denn der ‚subversive‘ Nimbus einer sympathetischen Affirmation illegaler Praktiken läuft dem wissenschaftlichen Neutralitätsanspruch zuwider“.47 Michel de Certeaus Herausarbeitungen sind insofern für die Analyse der Ästhetik und Struktur der Szenografie wertvoll, als mit ihnen „Praktiken im Raum“48, wie sie auch in einer Szenografie seitens der Besucher zu beobachten sind, untersucht werden können – „[i]nsgesamt ist der Raum ein Ort, mit dem man etwas macht“49, wie sich hinsichtlich der Prämisse der vorliegenden Arbeit sagen lässt.
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Zum Thema Stadtraum und Signifikation vgl. Bohn, Ralf/Wilharm, Heiner (Hg.): Inszenierung der Stadt: Urbanität als Ereignis, Bielefeld: transcript 2012. Foucault, Michel: „Nein zum König Sex“, in ders.: Dispositive der Macht, Berlin: Merve 1978, S. 196. Bogusz, Tanja: „Geheimnisse retten. Soziologische Beobachtungen zur Berliner Volksbühne“, in: Ernst, Thomas (u. a. Hg.): SUBversionen: Zum Verhältnis von Politik und Ästhetik in der Gegenwart, Bielefeld: transcript 2008, S. 186. Siehe Kapitel 3.2.4 der vorliegenden Arbeit. Bogusz, Tanja: „Geheimnisse retten. Soziologische Beobachtungen zur Berliner Volksbühne“, a. a. O. 2008, S. 185 ff. Sie führt aus, dass die großen Denker (Durkheim, Merton, Giddens, Luhmann, Bourdieu) zumeist nicht den Fokus auf soziale Praktiken, Dynamiken und Umwälzungsprozesse legten, sondern auf die „strukturellen Voraussetzungen sozialen Handelns“. Titel des dritten Teils seiner Schrift, ders.: Kunst des Handelns, Berlin: Merve 1988 (1980). Ebd., S. 218.
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1.2 Problemstellungen, Fragen und Erkenntnisziele Die Beobachtung, dass es kaum Bühnenformen gibt, die raumstrukturell geeignete Bedingungen für die Szenografie bereithalten, wurde in der Sondierung und in Kapitel 1.1 bereits erörtert und stellt die erste Problemstellung dar: Üblich ist an den meisten Spielstätten das Guckkastenprinzip; die Raumkunst Szenografie wird durch diese Bühnenform jedoch nicht so übersetzt, wie es den veränderten Sehgewohnheiten und der relationalen und topologischen Auffassung von Raum im medial geprägten 21. Jahrhundert adäquat wäre und damit auch anderen, gegenwärtig gewünschten Spielformen entspräche. Eine Untersuchung von Bühnenformen und aktuellen Entwicklungen in der Theaterbauarchitektur soll Antworten darauf liefern, wodurch sich Raumbildung und -aneignung durch den Rezipienten raumstrukturell bedingen. Dazu werden unterschiedliche Anordnungen und die Organisation zwischen Bühne und Publikum untersucht. Die Untersuchung konzentriert sich dabei auf Modelle von Raumbühnen, die Raum nicht über das Bild, sondern aus heutiger Sicht genuin räumlich denken und die keine klare Trennung zwischen (Bühnen-)Geschehen und Publikum konstituieren. Diese Untersuchung erfolgt in Kapitel 2 anhand konkreter Beispiele aus verschiedenen Epochen. Die Untersuchung wird in Kapitel 5 fortgeführt, d. h. um die Fragestellung ergänzt, welche produktionsästhetischen Bedingungen gegeben sein müssten, damit szenografische Inszenierungen mehr Platz in den heutigen Spielplänen der Theater finden. Nach Kapitel 2 wird in einem zweiten Schritt (in Kapitel 3, dem Haupt- und Theorieteil) die Szenografie in ihrer Ästhetik (Raumwahrnehmung) sowie Raumstruktur aus einer zweiten Problemstellung heraus untersucht. Diese ergibt sich aus dem Befund, dass sich die gegenwärtige Theater-, Medien- und Kunstwissenschaft zwar im Theoretischen mit der Szenografie beschäftigen, aber kaum aus produktionsästhetischer Sicht und unter der Voraussetzung speziell szenografischer Strategien in der Aufführungspraktik. Daraus ergibt sich weiteres Problem: fehlende Begriffe, die die differenzierten Inhalte der Szenografie beschreiben könnten. Diese sollen im Zuge der vorliegenden Arbeit gebildet und operationalisiert werden, denn die wissenschaftliche Untersuchung der Szenografie erfolgt oftmals über den Rückgriff auf die Theaterwissenschaft, die für das Szenografische jedoch nicht hinreichend greift und die Produktionsästhetik meist zugunsten von Aufführungsanalysen und rezeptionsästhetischen Untersuchungen vernachlässigt. Auch in neueren ästhetischen Theorien50 oder in der Raumdebatte 50
Böhme, Gernot: Atmosphäre: Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1995, S. 39: „Eine umfassende Untersuchung des Praxiswissens dieser ganzen Gattung vom Bühnenbildner bis zur Kosmetikerin würde sicher die ästhetischen Gegenstände einschließlich der Kunstwerke
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der Kulturwissenschaft („spatial turn“) oder der Topologie findet sich bislang kaum ein Anschluss zur Szenografie. Vor diesem Hintergrund bildet die Untersuchung dessen, wie eine Szenografie wahrgenommen wird (Rezeptionsästhetik) und was ein Szenograf erarbeitet (Produktionsästhetik), einen Schwerpunkt. Die an die Erkenntnisziele gebundenen leitenden Forschungsfragen der vorliegenden Arbeit lauten: Durch welche Art Ästhetik konstituiert sich die Szenografie? Und welche Raumauffassung und Struktur liegen ihr zugrunde? Wird Raum als etwas Absolutes, Relatives, Relationales oder Topisches51 verstanden? Ziel der Arbeit ist es, eine raumtheoretische Skizze zu erarbeiten, welche die Raumauffassung der Szenografie beschreibt und die sich daraus abzuleitende Ästhetik erfasst. Diese raumtheoretische Skizze beinhaltet meine beiden Arbeitsbegriffe („Szenosphäre“ und „Szenotopie“) und konturiert diese mittels vorhandener Raumtheorien. Die dazu aufgestellten Thesen, die einerseits von einer performativen und semiotisch atmosphärischen Ästhetik ausgehen und andererseits von einem relationalen und topologischen Raumverständnis der Szenografie, werden mit den Untersuchungsergebnissen überprüft und in Kapitel 4 abschließend exemplifiziert.
in einem neuen Licht erscheinen lassen.“ In Böhmes Schrift findet sich ein Anschluss zur Bühnenbildnerei und Gartenkunst (S. 36), jedoch keiner zur Szenografie. 51 Vgl. Latka, T.: Topisches Sozialsystem: die Einführung der japanischen Lehre vom Ort in die Systemtheorie und deren Konsequenzen für eine Theorie sozialer Systeme, Heidelberg: Carl-Auer-Systeme 2003.
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1.3 Stand der Forschung Zur Debatte über den Begriff „künstlerische Forschung“, was eine solche Forschung sein und an Wissen leisten und generieren kann, liefert z. B. der Band „Kunstforschung als ästhetische Wissenschaft“ einen relevanten Beitrag.52 Ein Blick in die Hochschullandschaft als institutioneller Rahmen für wissenschaftliche Diskurse ergibt folgenden Befund: In den 1990er Jahren wurde das Fach Szenografie in Deutschland nur an der Kunsthochschule für Medien Köln und an der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe angeboten. Erst seit Mitte der 2000er Jahre rückte das Fach – zunächst im Zuge der Eventkultur und durch Werbeagenturen, die auf Erlebnis und (Produkt-)Inszenierung setzen – stärker in den Interessensfokus für Lehre und Forschung, und zahlreiche Studiengänge mit Szenografie-Modulen wurden und werden eingerichtet 53. Erst seitdem ist die Szenografie in größerem Umfang wissenschaftlicher Untersuchungsgegenstand. Seit dem Jahr 2000 veranstaltet die DASA in Dortmund jährliche Szenografie-Kolloquien, die neueste „Entwicklungen im Bereich der Ausstellungskonzeptionen und -gestaltung und ihre Wirkung im gesellschaftlichen Raum“ thematisieren. Dabei werden mit interdisziplinären Beiträgen sowohl praktische Gestaltungslösungen als auch Analysen von Methoden und Ausstellungskonzepten erörtert.54 2004 fand am Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe (ZKM) das Symposium „Mind the Gap“ statt, das Theater- und Medienräume thematisierte und „Recherchen im Feld gegenwärtiger Szenografie“ unternahm; Raum als spielbestimmender Faktor, Raumphänomene und „postdramatische Raum-Ästhetiken“ (Hans-Thies
52 Tröndle,
Martin/Warmers, Julia (Hg.): Kunstforschung als ästhetische Wissenschaft. Beiträge zur transdisziplinären Hybridisierung von Wissenschaft und Kunst, Bielefeld: transcript 2012. Siehe auch Böhme, Gernot: „Ästhetik als Wissenschaft sinnlicher Erfahrung“, in ebd., S. 319–332. 53 Zum Wintersemester 2006/07 bot die Zürcher Hochschule der Künste in Kooperation mit der Universität Wien ein praxisorientiertes Doktoratsprogramm im Fach Szenografie an. Drei Bände unter dem Titel Monitoring Scenography sind im Zuge dessen erschienen, die zu den forschungsrelevanten Schriften zählen. Brejzek, Thea/Greisenegger, Wolfgang/Wallen, Lawrence: Monitoring Scenography, Bd. 1: Space and Power, Bd. 2: Space and Truth, Bd. 3: Space and Desire, Zürich: Zurich University of the Arts (ZHdK) 2008–2011. 54 Siehe DASA Arbeitswelt Ausstellung, http://www.dasa-dortmund.de/fachbesucher/szenografiein-der-dasa/allgemeine-informationen/(letzter Aufruf: 09.03.2014). Bislang sind sieben Veröffentlichungen zu den Kolloquien erschienen. Kilger, Gerhard (Hg.): Bd. I (2004): Szenografie in Ausstellungen und Museen. Bd. II (2006): Wissensräume: Kunst und Raum – Raum durch Kunst. Bd. III (2008): Raumerfahrung oder Erlebnispark – Raum-Zeit/Zeit-Raum. Bd. IV (2010): Raum und Körper – Körperraum. Kreativität und Raumschöpfung. Bd. V (2011): Raum und Wahrnehmung/ Bewegte Räume. Bd. VI (2014): Zwischenräume – Wandel und Übergang, Aussichten – zur Öffnung des Unverhofften. Bd. VII (2016): Zur Topologie des Immateriellen. Formen der Wahrnehmung, Essen: Klartext. Schriften, die vor oder nach der Endphase der vorliegenden Arbeit (2013/14) erschienen sind, wurden nicht mehr eingearbeitet; auf sie ist nach Möglichkeit hingewiesen.
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Lehmann) wurden erkundet.55 2006 fand der Auftaktkongress „Szene 1“ zum Masterstudiengang Szenografie & Kommunikation am Fachbereich Design der FH Dortmund statt und dort 2007 auch das erste Szenografie-Symposium. Unter dem Titel „Theatralität, Intermedialität, Erweiterter Raum“ war es das erste der „künstlerisch wissenschaftlichen Symposien zur Theorie und Praxis der Szenografie“.56 2009 fand an der Muthesius Kunsthochschule Kiel das Kolloquium „Erlebbare Räume“ zum Thema Szenografie und Raumstrategien statt: „Die Zusammenkunft zielt[e] darauf, die Frage nach der Theorie in direkter Wechselwirkung mit der Praxis zu stellen.“ Dabei lag der Schwerpunkt nicht auf dem geometrischen Raum, sondern auf dem „erlebbaren Raum“, der hinsichtlich seiner theoretischen Konzepte und „vielfältigen, auch medientechnisch durchformten Erscheinungsformen“ befragt wurde.57 Die Erträge des ersten Dortmunder FH-Szenografie-Symposiums wurden 2009 veröffentlicht, im ersten Band der Reihe „Szenografie & Szenologie“ im transcript Verlag (Hg. Ralf Bohn und Heiner Wilharm). Laut Editorial des Verlags „versammelt [die Reihe] aktuelle Aufsätze und Monografien zum neuen Ausbildungs- und Berufsfeld Szenografie. … Zugleich analysiert die Reihe an Beispielen und in theoretischer Auseinandersetzung eine Kultur der Ereignissetzung als transdisziplinäre Diskursivität zwischen Design, Kunst, Wissenschaft und Alltag“.58 Die in dieser Reihe erschienenen Publikationen gehören zu den für die Szenografie relevanten Forschungsarbeiten59. In den Publikationen, die 55
Wiedergabe aus der Programmbeschreibung. Das Symposium „Mind the Gap“ wurde konzipiert von Birgit Wiens, Hochschule für Bildende Künste Dresden, und Gesa Mueller von der Hagen, HfG Karlsruhe. 56 Das Szenografie-Symposium wurde von Heiner Wilharm und Ralf Bohn konzipiert, siehe http:// scenology.eu/de/scenographers-symposia-dortmund/(letzter Aufruf: 10.03.2014). 57 Wiedergabe aus dem Programmheft. Das Symposium wurde von Ludwig Fromm und Petra Maria Meyer konzipiert. 58 Siehe www.transcript-verlag.de 59 Bohn, Ralf/Wilharm, Heiner (Hg.): Inszenierung und Ereignis: Beiträge zur Theorie und Praxis der Szenografie, Bielefeld: transcript 2009. Bohn, Ralf/Wilharm, Heiner (Hg.): Inszenierung und Vertrauen: Grenzgänge der Szenografie, Bielefeld: transcript 2011. Bohn, Ralf/Wilharm, Heiner (Hg.): Inszenierung der Stadt: Urbanität als Ereignis, Bielefeld: transcript 2012. Bohn, Ralf/Wilharm, Heiner (Hg.): Inszenierung und Effekte: Die Magie der Szenografie, Bielefeld: transcript 2013. Bohn, Ralf/Wilharm, Heiner (Hg.): Inszenierung und Politik, Bielefeld: transcript 2015. Außerdem sind erschienen: Bohn, Ralf: Inszenierung als Widerstand: Bildkörper und Körperbild bei Paul Klee, Bielefeld: transcript 2009. Schramke, Sandra: Kybernetische Szenografie: Charles und Ray Eames; Ausstellungsarchitektur 1959 bis 1965, Bielefeld: transcript 2010. Divjak, Paul: Integrative Inszenierungen: Zur Szenografie von partizipativen Räumen, Bielefeld: transcript 2012. Schranz, Christine: Von der Dampf- zur Nebelmaschine. Szenografische Strategien zur Vergegenwärtigung von Industriegeschichte am Beispiel der Ruhrtriennale, Bielefeld: transcript 2013. Tabački, Nebojša: Kinetische Bühnen: Sean Kenny und Josef Svoboda – Szenografen als Wiedererfinder des Theaters, Bielefeld: transcript 2014. Wilharm, Heiner: Die Ordnung der Inszenierung, Bielefeld: transcript 2015. Bohn, Ralf: Szenische Hermeneutik, Bielefeld: transcript 2015. Pamela C. Scorzin: Scenographic Fashion Design – Zur Inszenierung von Mode und Marken, Bielefeld: transcript 2016. Schriften, die vor oder nach der Endphase der vorliegenden Arbeit (2013/14) erschienen sind, wurden nicht mehr eingearbeitet; auf sie ist nach Möglichkeit hingewiesen.
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die Ergebnisse der regelmäßigen Symposien zusammenfassen, wurden bereits folgende Aspekte untersucht: die Szenografie als Ereignis, Inszenierung und Faktor für gesellschaftliche Stabilität, Strategie und Technik urbaner Inszenierungen, Wirkung und Inszenierung des Effekts. Auch wurden in den programmatischen Symposiumsbänden (und Monografien) der Reihe performative, semiotische und atmosphärische Aspekte der Wahrnehmung der Szenografie erforscht, jedoch noch nicht gänzlich, wodurch sich eines der Ziele der vorliegenden Arbeit, die an bisherige Forschungsergebnisse anschließt, begründet: die Szenografie ausgehend von ihrer Produktion mittels einer Ästhetik zu untersuchen, die sowohl performativ als auch semiotisch und atmosphärisch angelegt ist. Meine Untersuchung führt hierzu verschiedene Ästhetiktheorien zusammen und ist den angegebenen Forschungszusammenhängen zugeordnet, die auch einen Überblick über die wichtigste verwendete Literatur geben60. Zum Forschungsstand der Raumauffassung, die der Szenografie zugrunde liegt, lässt sich feststellen, dass die Szenografie zwar unter den Aspekten der Konstruktion urbaner Inszenierungsstrategien und gesellschaftlicher Beziehungen und sozialer Praktik untersucht wurde 61, aber kaum unter der Voraussetzung eines relationalen und topologischen Raumverständnisses oder aus produktionsästhetischer Perspektive. Auch ist der Aspekt der Anschlussfähigkeit der Szenografie an den (Post-)Strukturalismus, die Topologie oder an die Raumdebatte 60
Siehe die bisher erwähnte Literatur sowie Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004. Früchtl, Josef/Zimmermann, Jörg (Hg.): Ästhetik der Inszenierung: Dimensionen eines künstlerischen, kulturellen und gesellschaftlichen Phänomens, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001. Seel, Martin: Ästhetik des Erscheinens, München: Hanser 2000. Jurij Lotman: „Über die Semiosphäre“, in: Posner, Roland (Hg.): Kultur und Evolution. Zeitschrift für Semiotik, Band 12, Heft 4, 1990. Bachelard, Gaston: Poetik des Raumes, München: Hanser 1960. MerleauPonty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin: de Gruyter 1966. Merleau-Ponty, Maurice/Lefort, C. (Hg.): Das Sichtbare und das Unsichtbare: gefolgt von Arbeitsnotizen, München: Fink 1986. Bollnow, Otto Friedrich: Mensch und Raum, Stuttgart: Kohlhammer 2004. Schmitz, Hermann: Was ist Neue Phänomenologie?, Rostock: Ingo Koch 2003. Böhme, Gernot: „Die Kunst des Bühnenbildes als Paradigma einer Ästhetik der Atmosphäre“, in: Bohn, Ralf/Wilharm, Heiner (Hg.): Inszenierung und Ereignis, a. a. O. 2009. Böhme nimmt die, wie er sie nennt, „ästhetische Arbeit“ von Inszenierern (Werbeleute, Bühnenbildner, Kosmetiker, Politiker) in den Blick und betont die Herstellbarkeit von Atmosphären. Im Anschluss an Böhme bezeichnet mein Arbeitsbegriff „Szenosphäre“ die hergestellte und inszenierte Atmosphäre einer Szenografie. Zum Atmosphärischen siehe auch folgende theaterwissenschaftliche Schriften: Röttger, Kati: Theater und Bild: Inszenierungen des Sehens, Bielefeld: transcript 2008. Rodatz, Christoph: Der Schnitt durch den Raum: Atmosphärische Wahrnehmung in und außerhalb von Theaterräumen, Bielefeld: transcript 2010. Schouten, Sabine: Sinnliches Spüren. Wahrnehmung und Erzeugung von Atmosphären im Theater, Berlin: Theater der Zeit 2011 (2007). Kurzenberger, H./Matzke, A. (Hg.): TheorieTheaterPraxis, Berlin: Theater der Zeit 2004. Gronau, Barbara: Theaterinstallationen: Performative Räume bei Beuys, Boltanski und Kabakov, München: Wilhelm Fink 2010. 61 Bohn, Ralf/Wilharm, Heiner (Hg.): Inszenierung der Stadt, a. a. O. 2012. Divjak, Paul: Integrative Inszenierungen, a. a. O. 2012. Bohn, Ralf/Wilharm, Heiner (Hg.): Inszenierung und Politik, Bielefeld: transcript 2015.
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der Kulturwissenschaften62, d. h. den „spatial turn“, genauer den „topological turn“ bislang nur wenig und vor allem kaum für Szenografien im Theaterkontext untersucht 63. Die Untersuchung hierzu ist in die angegebenen Forschungszusammenhänge und Schriften64 eingegliedert. Zu den wenigen Schriften, die sich im benannten, bislang kaum erforschten Bereich der Szenografie bewegen, zählen vor allem „Die Ordnung der Inszenierung“ von Heiner Wilharm (2015) und die „Intermediale Szenografie“ von Birgit Wiens (2014). Schriften, die parallel zur oder nach der Endphase der 62
Siehe Lehnert, Gertrud (Hg.): Raum und Gefühl: der Spatial Turn und die neue Emotionsforschung, Bielefeld: transcript 2011. Siehe auch Döring, J./Thielmann, T. (Hg.): Spatial Turn: das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld: transcript 2008. 63 Zu den Arbeiten, in denen sich ein direkter Anschluss zur Szenografie sowie Bezüge zur Relationalität, Topologie, zum (Post-)Strukturalismus und „spatial turn“ finden, zählen die Schriften: Petra Maria Meyer: „Der Raum, der dir einwohnt“, in: Bohn, Ralf/Wilharm, Heiner (Hg.): Inszenierung und Ereignis, a. a. O. 2009. Divjak, Paul: Integrative Inszenierungen, a. a. O. 2012. Pamela Scorzin: „Risiko Relationale Szenografie. Am Beispiel der RUHR.2010-Kunstprojekte“ in: Bohn, Ralf/Wilharm, Heiner (Hg.): Inszenierung der Stadt, a. a. O. 2012. In den Arbeiten liegt der Fokus vor allem auf der Rezeptionsästhetik. Sowie Wiens, Birgit: Intermediale Szenographie. Raum-Ästhetiken des Theaters am Beginn des 21. Jahrhunderts, Paderborn: Fink 2014. Wilharm, Heiner: Die Ordnung der Inszenierung. Bielefeld: transcript 2015. Siehe auch Fachzeitschriften: Vorstellungsräume – Dramaturgien des Raumes. dramaturgie, Zeitschrift der Dramaturgischen Gesellschaft, Berlin: Dramaturgische Gesellschaft 01/2010. Haß, U./Hiß, G./Kirsch, S./Stapelfeldt, K. (Hg.): SchauplatzRuhr 2012. Andere Räume. Jahrbuch zum Theater im Ruhrgebiet, Berlin: Theater der Zeit, 2012. Ein Anschluss über das Medium Ausstellung findet sich in: Wunderlich, Antonia: Der Philosoph im Museum. Die Ausstellung „Les Immatériaux“ von Jean François Lyotard, Bielefeld: transcript 2008. Vgl. auch Stäheli, Alexandra: Materie und Melancholie, Wien: Passagen 2004. 64 Siehe die bisher erwähnte Literatur sowie Stephan Günzel: „Philosophie und Räumlichkeit“, in: Kessl, F./Reutlinger, Ch./Maurer, S. (Hg.): Handbuch Sozialraum, Wiesbaden: VS 2005. Günzel, Stephan (Hg.): Raum: Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar: Metzler 2010. Günzel, Stephan/Dünne, Jörg (Hg.): Raumtheorie: Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006. Günzel, Stephan (Hg.): Raumwissenschaften, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2009. Günzel, Stephan (Hg.): Topologie: Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften, Bielefeld: transcript 2007. Michaela Ott: „Raum“, in: Barck, Karlheinz (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 5, Postmoderne – Synästhesie, Stuttgart/Weimar: Metzler 2003. Neumann, G./Pross, C./Wildgruber, G. (Hg.): Szenographien. Theatralität als Kategorie der Literaturwissenschaft, Freiburg: Rombach 2000. Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte, München: Fink 1972a. Foucault, Michel/Bischoff, Michael (Übers.): Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005. Barthes, Roland/Bischoff, Michael (Hg.): Das Reich der Zeichen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1981 (1970). Bachtin, Michail M.: Chronotopos. Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: „1440 – Das Glatte und das Gekerbte“, in: Deleuze, Gilles/ Guattari, Félix: Tausend Plateaus: Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin: Merve 1992 (1980). De Certeau, Michel: Kunst des Handelns, Berlin: Merve 1988 (1980). Riegl, Alois: Spätrömische Kunstindustrie, Wien: Österreichische Staatsdruckerei 1927 (1901). Eco, Umberto: Das offene Kunstwerk, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1973. Cassirer, Ernst/Orth, Ernst Wolfgang (Hg.): Symbol, Technik, Sprache: Aufsätze aus den Jahren 1927–1933, Hamburg: Meiner 1985. Flusser, Vilém: Medienkultur, Frankfurt a. M.: Fischer 1997. Frahm, Laura: Jenseits des Raums: zur filmischen Topologie des Urbanen, Bielefeld: transcript 2010. Hemken, Kai-Uwe (Hg.): Bilder in Bewegung. Traditionen digitaler Ästhetik, Köln: DuMont 2000. Hagebölling, Heide: Interactive dramaturgies, new approaches in multimedia content and design, Berlin: Springer 2004.
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vorliegenden Arbeit (2013/14) entstanden sind, konnten nicht mehr eingearbeitet werden, auf sie ist nach Möglichkeit hingewiesen. Hierzu zählen auch Ralf Bohns „Szenische Hermeneutik“ (2015) – die einen wichtigen Beitrag zur Frage der Produktion von ästhetischem Sinn, wie ihn auch die Szenografie herstellt, liefert – sowie die „Inszenierung und Politik. Szenografie im sozialen Feld“ (Hg. Bohn/Wilharm, 2015), die im Hinblick auf Strategien ästhetischer Verführung auch Ergebnisse zu (szenografischen) Räumen des Handelns bereithält. Und die „Crux Scenica – Eine Kulturgeschichte der Szene von Aischylos bis YouTube“ von Heiko Christians (2016), die Prozesse und die Entwicklung der Technik der Szene nachzeichnet und somit auch eines der Instrumentarien des Szenografie analysiert. Wiens untersucht „Raum-Ästhetiken des Theaters am Beginn des 21. Jahrhunderts“, künstlerische Praktiken, die Szenografie als Dispositiv und die Kategorie (Theater-)Raum im Hinblick auf den „Spatial Turn“ der Kulturwissenschaften. In Wilharms historisch wie systematisch weit ausholenden Arbeit gehört die Szenografie zu einer „Ordnung der Inszenierung“, einer von Wilharm isolierten Ordnung der gegenwärtiggen Gesellschaft, die sich selbst als „Inszenierungsgesellschaft“ versteht (worauf schon die Sozialwissenschaften aufmerksam gemacht haben, wie Wilharm darstellt). Auf diese Gesellschaft Einfluss zu nehmen, braucht es generell szenografische Kenntnisse und Kompetenzen, nicht nur im Bereich von Kultur und Kunst, sondern ebenso in den Bereichen von Wirtschaft, Politik, Alltag. Entsprechend tun sich unterschiedliche Räume auf, die auf verschiedenen Ebenen des Denkens und Handelns zu denken, zu modellieren und als Lebensraum zu konkretisieren sind. Es geht um Handlungsentwürfe als Gestaltungsentwürfe. Die zugrunde liegende Handlungstheorie ist bei Wilharm insbesondere semiotisch (im Sinne von Peirce) grundgelegt. Entsprechend bestimmen sich die Aufgaben der theoretischen und praktischen Szenografie. Ihre Raumstrategien und Entwurfsszenarien geben Aufschluss über die Bedingungen, Methoden und Strategien der Wissensproduktion und -inszenierung – nicht nur auf den Feldern von Erkenntnis und Werteorientierung, sondern insbesondere im Reich der Ästhetik. Doch existieren sie nicht im isolierten Denkraum. Sie geben Orientierung und werden virulent in den Dispositiven des komplexen szenischen Handelns. Im Kapiteln III.1 seiner Schrift nimmt Wilharm auch diagrammatische Entwurfspraktiken und Notationen der Szenografie in den Blick (vgl. Kapitel 3.2.1 der vorliegenden Arbeit). Die in diesem Buch vorgenommene Untersuchung dessen, was ein Szenograf im Raum installiert, nämlich ein begehbares dreidimensionales Strukturgebilde (das auch ein immaterielles Beziehungsgeflecht ist, in dem Atmosphären evoziert werden, die der Besucher mit eigenen Imaginationen vernetzen kann), bringt produktionsästhetische Erkenntnisse, wodurch auch neues rezeptionsästhetisches Wissen erlangt werden kann.
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Die im Folgenden genannte Literatur zeigt den Forschungsstand einzelner Themenbereiche. Im Themenbereich „Theater(spiel) – Bühnenform – Theaterbau“65 wurden Erkenntnisse gewonnen, die für die vorliegende Arbeit für die Fragestellungen in Kapitel 2 gewinnbringend sind; in der genannten Literatur wurde jedoch kaum und nicht aus produktionsästhetischer Sicht nach raumstrukturell günstigen Bedingungen für die Szenografie gefragt. Im Forschungsfeld „Architektur – Stadt als Bühne“66, das relevant für die Beziehung zwischen Stadt und Theater (siehe Kapitel 5) ist, wurden Inszenierungsstrategien im öffentlichen Raum untersucht, jedoch nicht unter dem Aspekt ihrer Anschlussfähigkeit zur Bühne, d. h. ihrer raumstrukturellen Offenbzw. Geschlossenheit in Bezug auf Theaterbau-, Bühnen- und Spielformen (Szenografie). Die Schriften, die den Themenkomplex „Theater – Medien – Bild“67 untersuchen, sind zumeist rezeptionsästhetisch angelegt und stellen kaum Fragen, die aus der Praxis heraus generiert sind und Medien auf der Bühne (2-D-Bilder, Bewegtbild-Projektionen) als mediale Architekturen (3-D/4-D) denken, wie es jedoch die in Kapitel 4 untersuchten Projekte tun. Diejenigen Schriften, 65
Kaesbohrer, Barbara: Die sprechenden Räume: Ästhetisches Begreifen von Bühnenbildern der Postmoderne, München: Utz 2010. Brandstetter, Gabriele/Wiens, Birgit: Theater ohne Fluchtpunkt: das Erbe Adolphe Appias: Szenographie und Choreographie im zeitgenössischen Theater, Berlin: Alexander 2010. Meyer, Jochen: Theaterbautheorien zwischen Kunst und Wissenschaft, Zürich: gta 1998. Architekturmuseum: SchauSpielRaum – Theaterarchitektur, München: Lehrstuhl für Raumkunst und Lichtgestaltung, Architekturmuseum der TU München in der Pinakothek der Moderne 2003. Haß, Ulrike: Das Drama des Sehens: Auge, Blick und Bühnenform, Paderborn: Fink 2005. Detail, Musik und Theater. Zeitschrift für Architektur + Konzept, 3.2009, München: Institut für internationale Architektur-Dokumentation, 2009. Archithese – Szenografie. Internationale Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur, 4.2010, Sulgen: Niggli AG 2010. db, deutsche bauzeitung. Zeitschrift für Architekten und Bauingenieure, 06.2011, Leinfelden-Echterdingen: Konradin Medien 2011. Röttger, Kati (Hg.): Welt – Bild – Theater: Bildästhetik im Bühnenraum. Forum Modernes Theater, Bd. 38, Tübingen: Narr 2012. Hesse-Mohr, Petra (Hg.): Raum-Maschine Theater: Szene und Architektur, Köln: Wienand 2012. „Offene Spielräume“. Aufbrechen traditioneller Theaterformen in der Bundesrepublik seit 1945. Bühnentechnische Rundschau, Sonderheft, Zürich: Orell Füssli und Friedrich Verlag 1983. Annemarie Matzke, Ulf Otto, Jens Roselt (Hg.): Auftritte. Strategien des In-Erscheinung-Tretens in Künsten und Medien, Bielefeld: transcript 2015. Annika Wehrle: Passagenräume. Grenzverläufe alltäglicher und performativer Praxis im Theater der Gegenwart, Bielefeld: transcript 2015. 66 Kröniger, Birgit: Der Freiraum als Bühne. Zur Transformation von Orten durch Events und inszenierte Ereignisse, München: Meidenbauer 2005. Gebaute Räume. Zur kulturellen Formung von Architektur und Stadt. Wolkenkuckucksheim, Internationale Zeitschrift für Theorie und Wissenschaft der Architektur, Cottbus: Lehrstuhl Theorie der Architektur TU Cottbus, 9. Jg. (2004), Heft 1, 2004. Bürkle, Stefanie: Szenografie einer Großstadt, Berlin: Parthas 2013. Alexander Gutzmer: Architektur und Kommunikation. Zur Medialität gebauter Wirklichkeit, Bielefeld: transcript 2015. 67 Fritz, Horst: Montage in Theater und Film, Tübingen: Francke 1993. Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, Frankfurt a. M.: Verlag der Autoren 2001. Leeker, Martina (Hg.): Maschinen, Medien, Performances: Theater an der Schnittstelle zu digitalen Welten, Berlin: Alexander-Verlag 2001. Kittler, Friedrich: Optische Medien: Berliner Vorlesung 1999, Berlin: Merve 2002. Bruhn, M./Hemken, Kai-Uwe (Hg.): Modernisierung des Sehens. Sehweisen zwischen Künsten und Medien, Bielefeld: transcript 2008. Blättler, Andy (u. a. Hg.): Intermediale Inszenierungen im Zeitalter der Digitalisierung, Bielefeld: transcript 2010.
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in denen (Bewegt-)Bilder als (mediale) Architekturen gedacht werden68, haben Folgendes untersucht: die Inblicknahme des Betrachters durch Bilder, Bilder jenseits ihrer Flächen, die Architektur des Films und filmische Topologie. Diese Aspekte wurden jedoch weder aus einer produktionsästhetischen Perspektive in den Fokus genommen noch für die Szenografie im Theaterkontext. Die im Bereich „Ausstellung und Museum“69 relevanten Forschungsergebnisse über das Inszenieren von Wissen und die Spatialisation des (inszenierten) Wissens im Ausstellungsraum sind für die vorliegende Arbeit insofern ergiebig, als damit auch neues Wissen über die Inszenierung von Wissen in Theater-Szenografie gewonnen werden kann, was insbesondere im Hinblick auf die Untersuchung der – These nach relationalen und topologischen – Struktur der Szenografie relevant ist.
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Kemp, Wolfgang: Der Betrachter ist im Bild, Berlin: Reimer 1992. Winter, G./Schröter, J./Barck, J. (Hg.): Das Raumbild, Paderborn: Fink 2009. Grau, Oliver: „Immersion und Interaktion. Vom Rundfresko zum interaktiven Bildraum“, in: Frieling, Rudolf/Daniels, Dieter: Medien, Kunst, Netz 1, Wien: Springere 2004. Agotai, Doris: Architekturen in Zelluloid: der filmische Blick auf den Raum, Bielefeld: transcript 2007. Frahm, Laura: Jenseits des Raums: zur filmischen Topologie des Urbanen, Bielefeld: transcript 2010. 69 Siehe die bereits genannten Bände von Gerhard Kilger (Hg.) zu den Kolloquien der DASA Dortmund sowie Drescher, Bettina: „Immersion und Irritation. Strategien zeitgenössischer Wissenschaftspräsentationen“, in: Museumskunde. Bd. 68, 1. Zeitschrift Deutscher Museumsbund (Hg.), Berlin: G. H. Verlag 2003. Beier-De Haan, Rosmarie: Erinnerte Geschichte – inszenierte Geschichte. Ausstellungen und Museen in der Zweiten Moderne, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005. Fülscher, Bernadette: Gebaute Bilder – künstliche Welten. Szenografie und Inszenierung an der Expo.02, Baden: hier + jetzt 2009.
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1.4 Methodische Angaben Die vorliegende Untersuchung ist eine interdisziplinäre Arbeit zwischen Kunst und Wissenschaft 70 und vom Forschungsansatz her multimethodisch angelegt. Sie ist künstlerisch insofern, als Kunst ein Erfahrungs- und Wahrnehmungsmodus ist, der auch im analytischen Denken stets mitwirkt. In einer Forschungsschrift auf die eigene künstlerische Empirie zurückzugreifen, bedeutet zweierlei. Zum einen, das eigene Schaffen von außen zu betrachten, in einem weiteren Schritt Projekte anderer Künstler (Kapitel 4) zu untersuchen und ihre Arbeiten in einen Kontext zu wissenschaftlichen Theorien zu stellen – und umgekehrt; und drittens wissenschaftliche Theorien (Kapitel 3) in einen szenografischen Kontext zu stellen und mit der künstlerischen Praxis zu konfrontieren – und umgekehrt. Zum anderen bedeutet es, sich gleichsam innerhalb des Betrachteten bzw. des Schaffens zu bewegen. Eine Betrachtung von innen heraus ermöglicht es, Produktionsästhetik (die Sicht des Szenografen/Herstellers) und Rezeptionsästhetik (die Sicht des Wahrnehmenden) miteinander zu verbinden und in eine Wechselbeziehung zu stellen. Denn das, was hergestellt wird (den Thesen nach eine atmosphärische Räumlichkeit und ein relationales, topologisches Raumgeflecht), hat stets das zum Ziel, was ein Rezipient wahrnehmen soll, sonst hätte das Hergestellte aus Sicht des Szenografen keinen Sinn bzw. sein Ziel verfehlt. So gesehen fallen Hergestelltes und Wahrgenommenes in eins bzw. ist das Zusammenfallen dieser Pole in der Praxis das, was erreicht werden soll. Für den Leser fallen diese zwei Pole jedoch nicht in eins; er kann dadurch, dass im Text die Blickwinkel benannt werden, die produktions- und rezeptionsästhetische Perspektive voneinander unterscheiden. Die Methode einer Betrachtung von außen und einer von innen heraus bedeutet für die vorliegende Arbeit, dass die (Er-)Kenntnisse nicht getrennt von der künstlerischen Erfahrung und Wahrnehmung gedacht werden. Daher ist die Arbeit auch künstlerisch-wissenschaftlich angelegt, was zudem bezüglich des Forschungsdesigns erklärt, warum bzw. dass der Text als ein Leseraum angeboten wird. In ihm werden Wissensinseln installiert, die der Leser miteinander verweben und kapitelweise durchschreiten kann. In Kapitel 3 (wo sich einige Wiederholungen finden, die dazu dienen, dass die Kapitel teilweise auch unabhängig voneinander gelesen werden können) sind es acht Unterkapitel bzw. Wissensräume, und die Fußnoten dienen nicht nur als Quellenbelege, sondern teilweise auch als Subtexte zum Fließtext. Die Verbindung zur künstlerischen 70
Zu dieser Debatte siehe Hans-Jörg Rheinbergers Vortrag „Experiment, Forschung, Kunst“, gehalten auf der Jahreskonferenz 2012 der Dramaturgischen Gesellschaft, April 2012 am Oldenburgischen Staatstheater (vgl. www.dramaturgische-gesellschaft.de/assets/Uploads/ContentElements/Attachments/Hans-Joerg-Rheinberger-Experiment-Forschung-Kunst.pdf (letzter Zugriff: 01.03.2013). Siehe auch Feyerabend, Paul: Wissenschaft als Kunst, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003.
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Praxis der Szenografie findet sich im konzeptuellen Aufbau: Im Leseraum geht es ebenso wie in einem szenografischen Parcours darum, ein Beziehungsgeflecht aufzuspannen, das bewusst Lücken bereithält und im Sinne von produktiven Freiräumen öffnet. Diese Freiräume und der netzwerkartige Wissenserwerb fördern die Synthesenbildung und regen Übersetzungskompetenzen und Adaptionsleistungen an – können also zu ästhetischen Erfahrungen beim Leser führen. Dadurch, dass ich von den Praktiken und Strategien der künstlerischen Produktion ausgehe, kann ich diese in ihrem Entstehungs-, Realisierungs- und Rezeptionsprozess und in Auseinandersetzung mit dem wissenschaftlichen Diskurs zur Darstellung bringen. Die multimethodische Vorgehensweise der Arbeit beinhaltet ein qualitativ empirisches Vorgehen insofern, als ich also von künstlerischen Erfahrungen ausgehe, die ich gesammelt habe. Andererseits versteht sich die Arbeit auch als eine theoretische dadurch, dass gedanklich konstruierend vorgegangen und mit Abstraktionen, Analogiebildung und Übertragung, Thesen und Synthesen operiert wird. So werden Möglichkeitsstrukturen entworfen, die als theoretische Rahmen den Raum für die Untersuchung schaffen. Außerdem werden Erkenntniswege eingeschlagen, die die Methode des Zusammenführens und Kombinierens beinhalten, indem z. B. zu einem Phänomen mehrere ästhetische Theorien und wissenschaftliche Positionen aufgezeigt werden. Oder eine Neudarstellung des Wissens erfolgt darüber, dass Relationen zwischen verschiedenen Theorien oder Sachverhalten herausgearbeitet werden, beispielsweise die Relation zwischen Raum und Handlung (Raumpraktik). Darüber hinaus beinhaltet die Arbeit auch eine auf Anwendung ausgerichtete Methode (wie zu Kapitel 5 noch genauer dargelegt wird). Meine Vorgehensweise beinhaltet ein Arbeiten mit Architekturgrundrissen (Kapitel 2), Auswertungen von Projekten anderer Künstler (Kapitel 4) und Befragungen (Interviews, Kapitel 5). In Kapitel 3 arbeite ich mit Thesen und wissenschaftlichen Texten. Meine Thesen leite ich aus meinem Praxiswissen ab, das ich in den wissenschaftlichen Diskurs einbringen kann, und ich untermauere sie mit den wissenschaftlichen Texten, die zu weiteren Erkenntnissen führen. Andererseits konfrontiere ich meine Thesen mit dem wissenschaftlichen Diskurs, d. h., ich grenze mich von Texten ab, wenn ich aus meiner künstlerischen Praxis heraus zu anderen Erkenntnissen gelangt bin. Im Folgenden werden die verschiedenen Methoden im Einzelnen dargelegt. In Kapitel 2 wird die raumstrukturelle Entwicklung der Szenografie von der Antike bis heute anhand markanter Stationen dargelegt und es werden Theatergrundrisse und -spielformen untersucht. Dazu werden raumstrukturell geschlossene Formen ab der Neuzeit analysiert sowie raumstrukturell offene(re) Formen wie die der Antike, des Mittelalters und der Avantgarde des 20. Jahrhunderts und
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heutiger Bühnen- und Spielformen, in denen die Trennlinie zwischen Bühnengeschehen und Rezipienten – wie sie die Guckkastenbühnenform gezogen hat – (wieder) perforiert oder aufgehoben wird. Die Analyse von Theatergrundrissen begründet sich aus meiner künstlerischen Erfahrung, dass ein baulicher Ausdruck (eine Form) kein Zufall ist, sondern mit dem Inhalt korreliert, wie in Kapitel 1 bereits dargelegt wurde. Unter der Annahme, dass Theaterbau- und Bühnenformen auch Verhältnisse und eine Vorstellung, eine Auffassung von Raum und deren Wahrnehmung spiegeln, werden drei Untersuchungsschritte unternommen, um Erkenntnisse darüber zu erlangen, welche Bühnenformen Raumbildung und -aneignung durch den Rezipienten, die für die Szenografie konstitutiv sind, ermöglichen oder verhindern. Erstens wird das Verhältnis von Raum und Mensch untersucht, das Aufschluss über die Vorstellung von Raum der jeweiligen Epoche gibt, zweitens wird das Verhältnis von Theater und Umraum untersucht, das sich durch bauliche Trennlinien ablesen lässt, sowie drittens das von Bühne und Besucher, worüber Trennlinien zwischen Bühnen- und Publikumsraum Auskunft geben, die wiederum über die Möglichkeit von Raumbildung und -aneignung entscheiden. Diese Untersuchungsmethode ist insofern zielführend, als einerseits Erkenntnisse über die raumstrukturelle Organisation zwischen Bühne und Publikum erlangt werden können. Andererseits können Erkenntnisse über die Vorstellung von Raum der jeweiligen Epoche gewonnen werden, was im Hinblick auf die leitenden Fragestellungen in Kapitel 3 gewinnbringend und auch für das weiterführend ist, wonach im Schlusskapitel gefragt wird und was auf die erstgenannte Problemstellung (siehe Kapitel 1.2) zurückführt: Dass die heute zumeist vorherrschende Guckkastenbühnenform die Vorstellung von Raum im 21. Jahrhundert nicht adäquat übersetzen kann, ist mit der Frage verbunden ist, wie szenografische Inszenierungen in Zukunft Platz in Spielplänen finden können. In Kapitel 3 wende ich vor allem die Methode der Analogiebildung und Übertragung an, indem Ansätze aus ästhetischen und (post-)strukturalistischen71 Theorien für die Szenografie fruchtbar gemacht werden – und umgekehrt. Auch kommt die kombinierende Methode zum Einsatz, die die Ansätze aus Phänomenologie, (Post-)Strukturalismus und Topologie 72 miteinander verbindet. Die 71
Zum Begriff „Poststrukturalismus“ siehe die Ausführungen von J. Angermüller: Französische Theoretiker der 60er und 70er Jahre wie Michel Foucault werden im „Diskurs als Vertreter einer theoretischen Tendenz in den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften diskutiert, die gemeinhin als ‚Poststrukturalismus‘ (bisweilen auch als [French] Theory, ‚Theorie der Postmoderne‘, ‚Dekonstruktion‘, seltener als ‚Konstruktivismus‘ oder ‚Antihumanismus‘) bekannt ist. Doch in Frankreich selbst ist das Etikett ‚Poststrukturalismus‘ nicht geläufig.“ Angermüller, Johannes: Nach dem Strukturalismus: Theoriediskurs und intellektuelles Feld in Frankreich, Bielefeld: transcript 2007, S. 9. 72 Die Topologie (Teilgebiet der Mathematik) versteht Raum nicht als Substanz oder Behälter, sondern als Lagebeziehung und damit als räumliches Gebilde modularer Verhältnisse.
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Verbindung wird dadurch hergestellt, dass die Szenografie in einem ersten Schritt phänomenologisch untersucht wird (Kapitel 3.1) und anschließend (post-)struk turalistisch und topologisch (Kapitel 3.2); der ästhetischen Erfahrung eines Phänomens (Szenosphäre) folgt also eine Bestimmung des Modus dieser Erfahrung (Szenotopie). Diese Wechselwirkung, die somit aufgezeigt wird, wurzelt in phänomenologischen und (post-)strukturalistischen Theorien des 20. Jahrhunderts, welche die Topologie (Teilgebiet der Mathematik) aufgreifen73. Diese beiden unterschiedlichen Theorien bzw. Forschungsmethoden verbindet ein topologisches Raumdenken, um einerseits Phänomene und andererseits deren strukturelle Zusammenhänge/Struktur zu untersuchen. In meinen Untersuchungen wende ich phänomenologische Ansätze von Gaston Bachelard und Maurice Merleau-Ponty (die sich in ihren Theorien auf den mathematisch-topologischen Raum beziehen), Hermann Schmitz, Gernot Böhme, Otto F. Bollnow, Martin Seel und Erika Fischer-Lichte an.74 Die angewendeten (post-)strukturalistischen Ansätze (die sich (teilweise) auch auf den mathematisch-topologischen Raum beziehen) sind die von Jurij Lotman75, Michel Foucault, Roland Barthes, Michail Bachtin76, Gilles Deleuze und Michel de Certeau.77 Die Topologie findet Anschluss an die Kultur- und Sozialwissenschaften78, die nach den Bedingungen und der Herausbildung (Praktiken) räumlicher Gebilde und Strukturen fragen. So beschreibt beispielsweise Michel de Certeau79 das topologische Gebilde einer Stadt als das Ergebnis einer Raum73
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Vgl. Günzel zum Strukturalismus: „Unter französischen Theoretikern [etwa Gilles Deleuze, Michel de Certeau, Michel Serres, Jacques Lacan] wird der topologische Ansatz in einem direkten Austausch mit der Mathematik weiterentwickelt. … Aktuelle Beschreibungen in Phänomenologie und Strukturalismus widmen sich vor allem der Topologie politischer und medialer Ordnungen.“ Günzel, Stephan (Hg.): Topologie: Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften, Bielefeld: transcript 2007, S. 24 ff. Vgl. Günzel zu phänomenologischen Theorien, die „versuchen, die in Frage stehende Erfahrungsräumlichkeit dabei im Rückgang auf (eine) Topologie zu beschreiben. … Zugespitzt kann von einer französischen und einer deutschen Form des topologischen Raumdenkens gesprochen werden: Während die frankophone Topologie mit Bachelard explizit an Modelle der neueren Geometrie sowie der Relativitätstheorie anschließt, wird in der deutschen Topologie bei Heidegger der ‚Ort‘ … betont.“ Günzel, Stephan/Dünne, Jörg (Hg.): Raumtheorie: Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006, S. 105 f. Siehe die Angaben zur wichtigsten verwendeten Literatur im Kapitel 1.3 „Stand der Forschung“. Bei seinen Untersuchungen zur Kultur, zu räumlichen Strukturen und deren Semantik vertritt er eine strukturalistisch ausgelegte Semiotik. Er setzt sich insofern „strukturalistisch“ mit Raum und Zeit auseinander, als er die Raumzeit als etwas Strukturbildendes für Räumlichkeit/Raumzeitliches in Literatur versteht. Siehe die Angaben zur wichtigsten verwendeten Literatur im Kapitel 1.3 „Stand der Forschung“. Die Kultur- und Sozialwissenschaften untersuchen Raum als ein Resultat modularer Verhältnisse, sozialer und kultureller Beziehungen: Die Topologie wird zu einem kulturwissenschaftlichen Raumkonzept. „Praktiken im Raum“, in: De Certeau, Michel: Kunst des Handelns, Berlin: Merve 1988 (1980).
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praktik (des Gehens), was für die Untersuchung des szenografischen Parcours erkenntnisreich ist. Durch die Anwendung phänomenologischer, (post-)strukturalistischer und topologischer Ansätze und ihrer Methoden lässt sich der szenografische Raum sowohl als Erfahrungsräumlichkeit wie auch als topologische Struktur beschreiben. Durch diese Kombination eröffnet sich eine neue Perspektive, die es ermöglicht, sowohl einen Blick auf die ästhetische Erfahrung der Szenografie zu werfen als auch das ihr zugrunde liegende Wahrnehmungs- bzw. Raummodell in den Fokus zu nehmen. Hierfür kommen die bereits erwähnten Arbeitsbegriffe „Szenosphäre“ und „Szenotopie“ für die Analyse der Ästhetik und Struktur der Szenografie zum Tragen. In Kapitel 4 werden die gewonnenen Erkenntnisse und Arbeitsbegriffe anhand von künstlerischen Projekten, die sich als Szenografien und Raumbühnenkonzepte verstehen lassen, veranschaulicht. Es werden Arbeiten von Friedrich Kiesler (1924/25), eine „Site Specific Performance“ von Fabrizio Plessi/KHM Köln (1994) und eine Art theatrale Installation (ein Theater-„videowalk“) von Cardiff/ Miller (2005) untersucht. Durch die Methode, nicht vom Gegenstand (den jeweilige Bühnenkonzeptionen) auszugehen und diesen zu analysieren, sondern ihn als einen Wahrnehmungsmodus zu untersuchen, kann herausgearbeitet werden, wie und wieso eine Szenografie als Formsprache auch Ausdruck einer der Epoche entsprechenden Raumauffassung ist. Mit dem Verfahren, die Szenografie zunächst anhand eines Beispiels von vor 90 Jahren zu untersuchen, kann gezeigt werden, dass bereits damals nach Bühnenformen gesucht wurde, die für die Szenografie raumstrukturell geeignete Bedingungen bereithalten. Anhand der Untersuchung der Entwicklung und Etappen von Kieslers Theaterarbeit kann die Bestrebung, weg von der Bildbühne (dem Guckkastenprinzip) hin zur Raumbühne zu kommen, dargelegt werden, die sich auch in den anderen beiden Projekten fortsetzt. Das Projekt von Plessi flieht das Theater (es findet in einem umgenutzten Schwimmbad statt), und Cardiff/Miller finden zwar ins Theater zurück, doch ihr Projekt transformiert die Guckkastenarchitektur in einen offenen Parcours. In Kapitel 5 werden aus einer praxisorientierten, gegenwartsbezogenen und zukunftsorientierten Perspektive und mittels der Interview-Methode der Ist- sowie der Soll-Zustand für raumstrukturell günstige Bedingungen für die Szenografie aufgezeigt. Durch die Befragung von Theatermachern können – über Fragen der Ästhetik und Struktur der Szenografie hinaus – nochmals andere Aspekte dargelegt werden, als der wissenschaftliche Diskurs einbringen kann, nämlich solche, die Auskunft und einen Ausblick darüber geben, welche realen Bedingungen der Szenografie und variablen Bühnenformen gegenwärtig in deutschsprachigen Stadt- und Staatstheatern zugrunde liegen.
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2. Rekonstruktion Vor dem Hintergrund der Thesen der vorliegenden Arbeit skizziert dieses Kapitel wesentliche raumstrukturelle Entwicklungsphasen der Szenografie und des szenografischen Arbeitens. Aus der eigenen künstlerischen Arbeit und Empirie lässt sich mit Blick auf die Entwicklung der heutigen Szenografie feststellen, dass in der Entwurfspraxis weniger Methoden der optisch bildhaften Raumdarstellung oder Illusion und der damit verbundenen Formen passiver Raumbetrachtung zum Einsatz kommen als vielmehr solche, die Raumbildung und Raumaneignung zum Ziel haben. Raumbildung und -aneignung gehen mit körperlich aktiver Beteiligung seitens des Rezipienten einher, genauer mit Bewegung im und durch den Raum, die durch szenografisch bestimmte Raumstrukturen ermöglicht und bestimmt wird. Es lassen sich Tendenzen ausmachen, die Szenografie nicht als Bild-, sondern als Raumkunst zu verstehen, womit die „leibliche Anwesenheit im Raum“80 der Rezipienten in den Fokus rückt. Durch die Bewegung durch den Raum ist der Wahrnehmende mehr ein Besucher mit eigenem Handlungsraum als ein Zuschauer. Bewegung, Blick- und Standpunkte sind frei wähl- und kombinierbar, und dadurch, dass der Besucher in das (Bühnen-)Geschehen hineintreten kann, kann er sich Raum aneignen und Räumlichkeit von ihm gebildet bzw. hervorgebracht werden. Die Grenze zwischen Besucher und Geschehen ist demnach keine Grenze im Sinne eines Trennwertes, sondern eher permeabel zu verstehen. Die klassische Guckkastenbühne beispielsweise, deren architektonischem Prinzip zufolge man vor dem Geschehen sitzt, ist bekanntlich anders konzipiert, wie bereits dargelegt wurde: Damit sich die Zuschauer auf einen anderen Raum, d. h. auf die Raumdarstellung oder Illusion auf der Bühne konzentrieren, gibt es eine frontale Blickrichtung und Abgrenzung durch eine klare Trennung zwischen Bühnen- und Zuschauerraum. Dabei verschafft diese räumlich geschaffene Distanz den Rezipienten einen gewissen Überblick über das (Bühnen-)Geschehen. Außerdem sind – ähnlich wie im Kino – körperliche Fortbewegung, Handlung und ein Hineintreten ins Geschehen nicht erwünscht und werden durch die Sitzhaltung auch nicht ermöglicht. Die Raumstruktur und -organisation entscheidet also mit darüber, inwiefern es sich um Raumdarstellung oder Rauman80
Vgl. Gernot Böhme: „Leibliche Anwesenheit im Raum“, in: Schirmbeck, Egon (Hg.): RAUMstationen. Metamorphosen des Raumes im 20. Jahrhundert, Ludwigsburg: Wüstenrot Stiftung 2001, S. 92–98. In Räumen leiblich anwesend zu sein bedeutet einerseits, sich in einem Raum zu befinden, und andererseits Befindlichkeit: „In meinem Befinden spüre ich, in was für einem Raum ich mich befinde“ (S. 96 f.).
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eignung81 handelt, wobei der Übergang zwischen diesen beiden Polen fließend ist. Ein weiterer Aspekt dabei ist die Wahrnehmung des Rezipienten. Auch hier entscheidet die Raumstruktur und -organisation mit: über den Sinneseindruck und darüber, auf welche Art und Weise das Geschehen aufgenommen wird. Eine Wahrnehmung, die aus einer räumlichen (An-)Ordnung hervorgeht, welche mehr auf Distanz setzt, ist eher fernsichtig angelegt und begünstigt visuell optische Erfahrungen. Dagegen erlebt der Rezipient eine wie oben beschriebene szenografische Gestaltung nicht insbesondere mit die Augen, sondern vollständig körperlich82, mithin leiblich83, und aus einer Nahsicht, weil er sich inmitten des Geschehens befindet, was ihn unmittelbar(er) betrifft. Im Folgenden wird Strukturen von Bühnenformen unterschiedlicher Zeitalter nachgegangen. Im Fokus steht die Frage, wodurch Raumbildung und -aneignung durch den Rezipienten entweder begünstigt und ermöglicht oder erschwert und verhindert wird. Es kann angenommen werden, dass Bühnenformen eine bestimmte Vorstellung und Wahrnehmung von Raum spiegeln, die entsprechend der jeweiligen geschichtlichen Epoche zum Ausdruck kommen. Bühnenformen können als kulturelle Zeugnisse, ästhetische Erfahrungen und Dispositive verstanden werden; sie geben nicht nur architektonische und technische Entwicklungen wieder, sondern zeugen auch von Einwirkungen aus Religion, Soziologie, Philosophie, Wissenschaft, wie in der Einleitung (Gesamtkapitel 1) bereits dargelegt wurde. Die Trennlinie zwischen dem Rezipienten und dem (Bühnen-)Geschehen ist konstitutiv für die szenografische Raumstruktur und -organisation, und so können über ihre jeweils verschiedene Form und Dichte Bühnenformen strukturell untersucht werden, im Hinblick auf ihre (Un-)Möglichkeit von Raumbildung und -aneignung aus heutiger Sicht. Die unterschiedlichen Raumvorstellungen und -wahrnehmungen in der Antike, dem Mittelalter und der Neuzeit spiegeln sich dabei in den jeweils verschiedenen Grenzen oder Trennlinien zwischen dem Rezipienten und dem (Bühnen-)Geschehen. Die folgenden 81
Zwar kann auch eine optisch bildhafte Raumdarstellung oder ein illusionistisches Bühnenbild als raumbildend und raumaneignend bezeichnet werden, nämlich über die raumbildenden Eigenschaften von Atmosphären (vgl. Böhme, Gernot: Atmosphäre: Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1995, S. 36 ff.). Doch ist mit der hier genannten Raumbildung und -aneignung eine szenografische Praktik, d. h. ein Hineintreten des Rezipienten ins Geschehen gemeint. 82 Vgl. Heinz von Foerster: „Wahrnehmen wahrnehmen“, in Barck, Karlheinz (Hg.): Aisthesis: Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig: Reclam 1993, S. 440. Er schreibt: „Diese Einsicht gibt dem Problem der Wahrnehmung eine völlig neue Perspektive: Es sind die durch Bewegung hervorgebrachten Veränderungen des Wahrgenommenen, die wir wahrnehmen. Wie der Biologe Humberto Maturana sagt: ‚Wir sehen mit unseren Beinen.‘“ 83 Vgl. Schmitz, Hermann: System der Philosophie, Bd. 3.1, Bonn: Bouvier 1967. Raum wird als leibliche Empfindung wahrgenommen und erfahren, z. B. als unendliche Weite bei Freude oder im Halbschlaf. Oder als unendliche Enge, wie man sie bei Angst oder Schmerz empfindet. Vgl. auch Kapitel 3.1.1 der vorliegenden Arbeit.
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Darlegungen machen Entwicklungen sichtbar und eine strukturelle Einordnung verschiedener Bühnenformen möglich, wodurch auch Raumeinschnitte sichtbar werden. Ein bedeutender Raumeinschnitt nicht nur für die Szenografie ist beispielsweise jener, welcher im 15. Jahrhundert durch die zentralperspektivische Konstruktion vollzogen wird: der Schnitt durch die Sehpyramide. Dieser bringt aus heutiger Wahrnehmung eine bildhafte Raumdarstellung, eine passive Betrachtung derselben und eine Trennlinie mit sich, infolgedessen Bühnenbauten eine bestimmte Raumstruktur und -organisation annehmen, was in Kapitel 2.2 („Der Schnitt“) besprochen wird. In Kapitel 2.1 („Die Radix“) liegt der Fokus auf jenen Momenten, in denen der Raum nicht über das Bild, sondern aus heutiger Sicht 84 genuin räumlich gedacht wurde und wo ein direkter Anschluss zum Umraum – der Stadt – gegeben war. In Kapitel 2.3 („Die Perforation“) geht es schließlich um Raummodelle und Bühnenformen, die die Trennlinie zwischen (Bühnen-)Geschehen und Besucher zu perforieren versuchten, und um heutige – mithin installative – Ausdrucksformen, die zugleich den Ausgangspunkt für das anschließende Kapitel bilden.
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Zur Raumwahrnehmung im 21. Jahrhundert siehe Kapitel 3.2 der vorliegenden Arbeit.
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2.1 Die Radix In Bühnenformen85, bei denen Raum aus heutiger Sicht genuin räumlich gedacht wird86 und ein direkter Anschluss zum Umraum – Stadt, Land, Leben – gegeben ist, ist keine klare Trennung zwischen (Bühnen-)Geschehen und Besucher vorgesehen, und die Aufführung wird nicht in einem architektonisch abgeschlossenen Raum dargeboten. Beispiele solcher Konzeptionen sind in der Antike die griechischen Schauanlagen, im Mittelalter die Simultanbühnen und räumliche Experimente, wie sie von der sogenannten Avantgarde des 20. Jahrhunderts gemacht wurden. In einer szenografischen Praxis, in der sich, wie eingangs dargelegt, das Verhältnis zwischen (Bühnen-)Geschehen und Besucher nicht durch eine klare architektonische Trennlinie konstituiert, ermöglichen sich Raumbildung und -aneignung. Demnach müsste Letzteres auch in Szenografien gegeben sein, die in antiken, mittelalterlichen und avantgardistischen Bühnen zum Einsatz kommen. Denn dadurch, dass Bühnenformen – die wiederum von der Form des Theaterbaus abhängen – stets wesentlich darüber bestimmen, was und wie etwas in ihnen zum Einsatz kommen kann, sind Rückschlüsse auf szenografische Gestaltungsmittel möglich. Diese, und mit ihnen die Möglichkeit von Raumbildung und -aneignung, gilt es im Folgenden zu überprüfen. Zudem ist das Verhältnis zwischen dem Theater und seinem Umraum sowie das allgemeine Verständnis von Raum und Zeit – Raum und Mensch – in den Blick zu nehmen; diese Verhältnisse sind sozusagen die zweite und die dritte (Trenn-)Linie und können als solche die Ergebnisse verdichten. Es sind drei Ebenen, die (wie ineinanderliegende Kreise) einen Zusammenhang bilden. Um einen tieferen Einblick zu gewinnen, kann es demnach nicht nur um eine Beschreibung gehen, wie die Szenografien der oben genannten Epochen räumlich strukturiert sind. Vielmehr muss zuerst nach dem Warum des Ausdrucks, seiner Funktion gefragt werden. Denn ein Ausdruck ist kein Zufall und ein Architekt, Bühnenbildner oder Szenograf baut stets so, dass sich Form und Inhalt aufeinander beziehen – ohne Inhalt hat die Form (die mehr ist als die sie begründende Intension des Formgebenden87) wenig Sinn. 85
Die vorstehende Abbildung (© Sinus Bohnhoff/Ulli Sohnle) – hier intern bezeichnet als „Abb. 5“ – stammt aus: SchauSpielRaum – Theaterarchitektur, Begleitheft (mit eingelegtem Abbildungsfaltblatt) zur gleichnamigen Ausstellung, hg. vom Lehrstuhl für Raumkunst und Lichtgestaltung der Technischen Universität München, München: TU Architekturmuseum 2003. 86 Heutige Raumvorstellungen unterscheiden sich merklich von jenen der Vergangenheit: In der Raumvorstellung der Renaissance z. B. empfand man Raum, der über das perspektivische Bild gedacht wurde, als genuin räumlich. Heutige Raumvorstellungen gehen hingegen von einem topologischen Ansatz aus. 87 Vgl. Figal, Günter: Erscheinungsdinge: Ästhetik als Phänomenologie, Tübingen: Mohr Siebeck 2010, S. 246 ff. Er schreibt: „[J]edes Gebäude, das ein Kunstwerk ist, hat eine ihm eigene phänomenale Räumlichkeit.“ Das Theater sollte „nicht primär als Bauwerk verstanden werden“; es ist eine
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Die sich daran anschließende Frage ist die nach dem Inhalt: Was ist der „Inhalt“, der baulich (strukturell) ausgedrückt werden soll? Bei einem Bühnenbild oder einer Szenografie ist der Inhalt z. B. ein Thema, Text oder eine Situation, Beobachtung etc., die raumsprachlich übersetzt wird. Bei einer Architektur eines Theaterbaus ist der Inhalt zumeist die Raum-, Zeit- und Weltvorstellung einer Gesellschaft, die baulich widergespiegelt oder mittels Innovationen überhöht werden kann. Beides sind so verstanden semantische Bezugsrahmen und Konstruktionen. Sie formen und gliedern, takten und tönen (stimmen) – kurz, sie bilden Räume und Räumlichkeiten, deren ästhetischer Sinn sich in ihren jeweiligen Inhalten begründet. Raumstrukturelle Beschreibungen von Szenografien sind somit auch immer inhaltliche Beschreibungen, die vom Großen ins Kleine führen: über das Verhältnis von Raum – Mensch über das Verhältnis von Theater – Umraum zum Verhältnis von Bühne – Besucher.
„öffentliche Konkretion des hermeneutisch bestimmten Raumes“. Vgl. auch Figal über HansGeorg Gadamer: „So war schon im ersten Teil von [Gadamers Schrift] Wahrheit und Methode der Erkenntnischarakter des Kunstwerkes erfasst worden. Die ‚Verwandlung ins Gebilde‘… sei eine ‚Verwandlung ins Wahre‘“. Figal fasst zusammen: „Der Sinn einer Sache ist nicht da, sondern erscheint.“ Figal, Günter (Hg.): Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode, Berlin: Akademie Verlag 2011, S. 203. Vgl. auch Kapitel 3.1.2 der vorliegenden Arbeit.
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2.1.1 Antike Raumstruktur des antiken griechischen Theaters Nähert man sich aus produktionsästhetischer Perspektive dem Thema Bühnenform, sind es die Sinneseindrücke, die den Ausgangspunkt der Überlegungen bilden. Das Theater in Epidauros (ca. 340 v. Chr.), siehe nachfolgende Abbildung88, ruft zwei Merkmale ins Gedächtnis: zum einen die Verwendung der Kreisform und den Ausblick auf das Landschaftspanorama, zum anderen die phänomenale Akustik. Der nächste Schritt ist die Inaugenscheinnahme des Grundrisses. Neben den klaren (Trenn-)Linien sind es vor allem die nicht eingezeichneten, die dem geschulten Auge bereits viel über den möglichen ästhetischen Sinn und das Warum der Anlage verraten. Man erkennt Kreisformen, die zu Experimenten mit Geometrie-Dreieck und Zirkel motivieren, zumal die gestalterische Erfahrung besagt, dass sich oftmals mittels dieser Werkzeuge Konstruktionsprinzipien erkennen lassen. Schlägt man vom inneren Kreis (vom Kreismittelpunkt der Orchestra aus) einen äußeren Kreis, d. h. um den Rand des Theatrons (aufsteigende Besuchertribüne), lassen sich schnell zwei Winkelmaße erkennen: ca. 210 Grad für das Theatron und ca. 150 Grad für den Bereich, in dem das Bühnenhaus (Skene) steht. Versucht man diese beiden Zahlen miteinander in Verbindung zu bringen, ist der erste intuitive Schritt der, nach einem gemeinsamen Nenner zu suchen. Der größte gemeinsame Teiler ist die Zahl bzw. das Winkelmaß 30 Grad, was ein Verhältnis (Theatron zu Bühne) von 7:5 ergibt. Der Kreis um den Rand des Theatrons ist also 12-geteilt, und ein 12-geteilter Kreis als architektonisches Entwurfsinstrument für Formen und Proportionen kann vieles veranschaulichen, insbesondere die Verbindung zwischen Sehen und Hören89, einen möglichen Zusammenhang zwischen Architektur und Musik also. Im antiken Griechenland zählten innerhalb der siebenstufigen Tonleiter die Oktave und Quinte sowie die Quarte zu den Konsonanzen90, den 88
© Bildarchiv Foto Marburg, Aufnahme-Nr. 1.009.704: Grundriss des Theaters von Epidauros. Die drei über die Originalabbildung eingezogenen Kreise und Anmerkungen habe ich nachträglich hinzugefügt. 89 Ein berühmtes Beispiel solch einer Verbindung ist z. B. das Proportionssystem „Modulor“ von Le Corbusier, das Architektur mit Musiktheorie (Harmonielehre) verbindet; zur Brüsseler Weltausstellung 1958 realisierte Le Corbusier den Philips-Pavillon gemeinsam mit dem Komponisten Iannis Xenakis. 90 Das Verhältnis 7:5 entspricht dem musikalischen Intervall „Tritonus“: eine übermäßige Quarte, die die Oktave halbiert. Proportionsverhältnisse lassen sich aus der Zwölfteilung einer Musiksaite ableiten. Die Halbierung der Saite ergibt die Oktave (6:12 = 1:2), dieses Intervall wird allgemein als wohlklingend empfunden. Teilt man die Saite zu zwei Dritteln, erhält man das Intervall der Quinte, die zum Ausgangston der Oktave ebenfalls wohlklingt. Die harmonische Teilung einer Oktave ergibt das Verhältnis 2:3:4 der Frequenzen und damit die Quinte (8:12 = 2:3) und die Quarte (9:12 = 3:4).
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wohlklingenden Tönen; Musik diente zur Reinigung der Seele91. Das Theater92 war der Ort der Rhetoriker, der Chöre, der Musik und des Tanzes93, und so wundert es nicht, dass sich im architektonischen Grundriss mögliche musikalische Proportionsverhältnisse94 wiederfinden.
Abb. 6 Theaters von Epidauros 91
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Zum pythagoreischen Gedanken von der Harmonie der Gesamtnatur gehörten neben der Musik auch die Diätetik mit Nahrungsgeboten sowie die Katharsis als Heilkunst, die der Reinigung des Körpers diente, vgl. Thommen, Lukas: Antike Körpergeschichte, Zürich: Vdf Hochschulverlag 2007, S. 24. „Musik, Tanz und Theater bildeten … eine unauflösbare Einheit. Theater stellte sich als hochdifferenziertes, effektvolles Klangereignis dar … Es war die Einheit von Melos, Logos und Morphe, von Melodie und Harmonik, von Wort und Tanzbewegung. Musik war Darstellung (Mimesis), dabei galt das Wort als Sinnträger, die Harmoniegesetze ordneten die Tonfolge, der Rhythmus gliederte die Zeit.“ Brauneck, Manfred: Die Welt als Bühne, Bd. 1, Stuttgart/Weimar: Metzler 1993, S. 51. Zu Musik und Tanz siehe Ausführungen von Michaela Ott: „Bildende und Darstellende Künste“, in: Günzel, Stephan (Hg.): Raum: Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar: Metzler 2010, S. 71. Sie schreibt, dass seit Beginn der Kulturgeschichte Musik und kosmischer Raum als „Implikationsverhältnis“ gedacht wurden; in späteren Zeiten wird diese „imaginierte Klangsphäre“ durch Engels- und Lobgesänge zum Ausdruck und Klingen gebracht. Erst das lineare Alphabet, der Buchdruck und die neuzeitliche „Vektorisierung des Räumlichen“ wird diesen „erlebten Klangraum“ verdrängen. Peter Sloterdijk erinnert, laut Ott, in seinen Sphären, Bd. 1 Blasen (1998) an die „Notwendigkeit [einer] gelingenden ‚Innenraumbildung‘: Wie Kulturen nur unter einer eigenen ‚semiosphärischen Glocke‘ überlebten, so Subjekte nur unter ‚Sphärenkonstanz‘.“ Der römische Architekt Vitruv (80–15 v. Chr.) verweist im fünften seiner zehn Architektur-Bücher auf musikalische Proportionsverhältnisse und einen Modulus (architektonisch harmonische Maßverhältnisse). Für eine „vollendete Formgebung von Theatern“ und eine bessere Akustik empfiehlt er die Anbringung von Gefäßen (unter Sitzreihen), die den „Klang der Quarte, Quinte und der Reihe nach bis zur Doppeloktave hervorbringen können“. Vitruv, Marcus Pollio/Fensterbusch, Curt (Hg.): Zehn Bücher über Architektur, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1964, S. 225, 221.
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Mitte des 4. Jahrhunderts v. Chr. unterliegen der Kosmos und die Gesamtnatur der Erde einer harmonischen Ordnung und werden als „semantisch durchstrukturiertes Universum“ in Kugelgestalt95 gedacht. Die Philosophen Platon und Aristoteles vertreten die Ansicht, dass die Welt von einer Art zweiten Kugel, von weiteren Sphären, umhüllt sei96. Aristoteles zufolge hat alles Werden eine Bewegungsursache, Raum ist kein Vakuum, sondern zu verstehen als „Totalsumme aller von Körpern eingenommenen Örter …, und umgekehrt wird der ‚Ort‘ (topos) als der Teil des Raumes gefasst, dessen Grenzen mit den Grenzen des ihn einnehmenden Körpers zusammenfallen“; als eine „dynamische Feldstruktur“ ist der Raum „die innere Grenze eines Umfassenden“97. Wie setzt sich dieses Verhältnis von Raum-Mensch nun im Verhältnis UmraumTheater fort? Das Theater98 findet in diesem Umfassenden, sozusagen „KugelGefüge“, seine Einbettung dadurch, dass es als ein Freilichttheater mit bestimmten Eigenschaften konzipiert ist. Es thematisiert die immer neue Begegnung zwischen Göttlichem und Menschlichem99 und vermag diese zum Ausdruck zu 95
Ott, Michaela: „Raum“, in: Barck, Karlheinz (Hg.) Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 5, Postmoderne – Synästhesie, Stuttgart/Weimar: Metzler 2003, S. 119. 96 Vgl. Stephan Günzel: „Für die Antike war der kosmos (griech. für Ordnung, entspricht lat. mundus, Welt) endlich und vielfach durch kugelartige Sphärenschalen begrenzt“; Günzel, Stephan/Dünne, Jörg (Hg.): Raumtheorie: Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006, S. 20 f. 97 Jammer, Max: Das Problem des Raumes: die Entwicklung der Raumtheorien, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1960, S. 16, 18, 20. Jammer erläutert das Werk Physik von Aristoteles. 98 Das Dionysostheater am Südhang der Akropolis gilt als wichtigste Spielstätte des klassischen griechischen Dramas und hat Modellcharakter. Das Theater (5. Jh. v. Chr.) hatte drei Hauptbestandteile: Die Orchestra war mit ca. 20 Meter Durchmesser ein für den Chor vorgesehener kreisrunder Platz, auf einem Berghang angelegt. Zweitens gab es das Theatron als einen Ort des Schauens für die Besucher. Diese standen um die Orchestra herum und/oder platzierten sich auf dem Berghang. Spätere Sitzplatzreihen schlossen den Chor-Platz in Stufen und zu zwei Dritteln ein. Die Skene (drittes Element) war ein Bühnenhaus (Holzbau mit Flachdach), das Platz bot für Darsteller, Ausstattung etc.; sie hatte sich aus einem Zelt/einer Hütte entwickelt. Die Entwicklung der Skene ist umstritten, doch kann man seit ca. 458 v. Chr. von einem lang gestreckten Bühnenhaus ausgehen und einer davorliegenden Fläche als Bühne mit geringer Tiefe. Vor dem Um- und Ausbau des Theaters in perikleischer Zeit war die Bühne über zwei bis drei Stufen mit der Orchestra verbunden. Das einstöckige Bühnenhaus war seitlich von Flügelbauten eingefasst, hatte ein bis drei Türen und ein Flachdach. Bespielt wurden die Orchestra und die Fläche/Bühne vor der Skene; für Götterauftritte war das Dach der Skene vorgesehen. Auftritte von Chor und Darstellern erfolgten über Zugänge zwischen Bühnenhaus und Zuschauerraum, die beidseitig in die Orchestra führten. Ab ca. 338 v. Chr. (zweiter großer Umbau des Theaters) wurden Bühnenhaus und Bühne nun aus Stein gebaut; die Grundkonzeption aus perikleischer Zeit wurde dabei kaum verändert. Die grundlegende Veränderung findet im 3. Jahrhundert statt – mit dem römischen Theater seit 240 v. Chr. – dergestalt, dass die Bühne 3–4 Meter aufgestockt und mittels eines Säulenunterbaus vor die Skene gesetzt wird. Die neue Bühne (Proskenion) mit Rampe wird zugänglich über die Seiten und von hinten durch das Bühnenhaus, dessen Front sich zu einer ausladenden Schmuckfassade entwickeln wird. Vgl. Brauneck, Manfred/Schneilin, Gérard (Hg.): Theaterlexikon. Rowohlts Enzyklopädie, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1992, S. 77 ff. 99 Kindermann, Heinz: Theatergeschichte Europas 1. Das Theater der Antike und des Mittelalters, Salzburg: Müller 1966, S. 39.
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bringen durch eine entsprechende raumstrukturelle Gestaltung. Fotos100 zeigen, dass sein Umraum die Landschaft ist, und die Einfassung in dieselbe wird durch eine raffinierte Hanglage dergestalt realisiert, dass der Bühnenbereich auf einer Terrasse angelegt ist, in Richtung Tal. Das aufsteigende Theatron am Hang in Richtung Berg ist höher gelegen, und das nicht in erster Linie deshalb, damit der Blick auf den Bühnenbereich optimal ist. Das Wesentliche findet sich nicht im, sondern hinten, d. h. außerhalb des Bühnenbereichs und der Theateranlage, das durch die raumstrukturelle Gestaltung derselben gleichsam wieder nach innen geholt wird und die immer neue Begegnung ermöglicht. Dionysien101, die zur Darstellung gelangten, sind Ereignisse, und das Bühnengeschehen verbindet sich direkt mit der Landschaft, indem Wolken, Licht und Schatten des Himmels in das Spielgeschehen mit einbezogen werden. Die Besucher können über den Bühnenbereich hinwegschauend direkt die Landschaft erblicken.102 Die Raumstruktur ermöglicht es also, dass sich der Blick und das Gehör der Besucher mit der Landschaft verweben. Die im Grundriss ermittelten ca. 150 Grad für den Bereich, in dem die Bühne gebaut ist, sind demnach als ein Öffnungswinkel lesbar, der gleichsam als Horizont die waagerechte Kreis- bzw. Verbindungslinie zwischen (Bühnen-)Geschehen und Besucher bildet. So gesehen könnte man sagen, dass das Theater (physikalisch gesprochen) die Eigenschaft besitzt, Stoffe 103 von außen (Horizontlinie und Himmel) nach innen (Theateranlage) und umgekehrt passieren zu lassen, was das Wesentliche ermöglicht und zugleich ist: die Verortung im Kontext, in das Kugelgefüge also. Diese geht mit einer Raumbildung in Sinne einer „Innenraumbildung“104 einher. Das Gemeinschaftsbewusstsein innerhalb und außerhalb des Theaters macht das Publikum dabei zu einem „aktive[n] Partner“, es besteht eine Einheit zwischen Geist, Glauben und politischem Wollen105. Die Besucher sind nicht unerheblich an den Aufführungen beteiligt und werden als Darsteller, Chormitglieder (für Chöre werden bis zu 1200 Sänger benötigt), Statisten oder Bühnen100 Siehe
Bildarchiv Foto Marburg.
101 Das antike griechische Theater im 5. Jahrhundert v. Chr. war an Götterfestspiele (Dionysien) und
Staatsfeste gebunden. Als ein Massentheater umfasste es bis zu 17.000 Besucher. Aufgeführt wurden Chorgesänge und Tänze zu Ehren des Gottes Dionysos sowie Tragödien. Seit ca. 486 v. Chr. kamen Komödien hinzu. Vgl. Brauneck, Manfred/Schneilin, Gérard (Hg.): Theaterlexikon, a. a. O 1992, S. 74 f. 102 Brauneck, Manfred/Schneilin, Gérard (Hg.): Theaterlexikon. Rowohlts Enzyklopädie, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1992, S. 960. 103 Zur Vier-Elemente-Lehre der Antike siehe Böhme, Gernot/Böhme, Hartmut: Feuer, Wasser, Erde, Luft, München: Beck 2010, S. 112 f. Aus den Eigenschaften warm, kalt, feucht und trocken – die Körper „affizieren“ – ergibt sich die „Chemie“ der vier Elemente, aus der der Mensch gleichsam besteht. Aristoteles fügt den Äther als göttliche Materie hinzu. 104 Wie bereits angemerkt (siehe Fußnoten), wurden seit Beginn der Kulturgeschichte Musik und kosmischer Raum als „Implikationsverhältnis“ gedacht (Ott); Sloterdijk spricht von einer notwendigen „gelingenden ‚Innenraumbildung‘“ und einer „Sphärenkonstanz“. 105 Kindermann, Heinz: Theatergeschichte Europas 1., a. a. O. 1966, S. 24 f.
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arbeiter eingesetzt.106 Die „Aufnahme- und Echobereitschaft“ des Publikums ist enorm, und die Polis (Bürgergemeinschaft) erkennt sein „Theatron als Selbstinterpretation“ an.107 Wie wird diese Theater-Umraum-Beziehung nun in die Bühne-Besucher-Beziehung fortgeschrieben und schließlich in der damaligen „Skenographie“108 sichtbar? Das Verhältnis Bühne-Besucher konstituiert sich vornehmlich durch die Orchestra. Sie ist sowohl zentraler Versammlungsplatz als auch Hauptspielfläche, und als Platz kann sie vom Publikum betreten werden und ist nicht als trennende Rampe, sondern als Kreisfläche in der Ebene konzipiert. Auch als Spielfläche verbindet sie (Bühnen-)Geschehen und Besucher miteinander, denn das Publikum steht oder sitzt auf der Tribüne um sie herum und nicht vor ihr. Damit ermöglicht sich zugleich eine Blickrichtung, die auf ein Miteinander zielt und nicht auf ein Nebeneinander (wie es z. B. die Guckkastenbühne vorsieht). Die Raumorganisation, die das Publikum nicht auf Distanz setzt, ermöglicht eine Anteilnahme am Geschehen, die auch lauthals bekundet wird, etwa durch Beifall, oder bei großer Unzufriedenheit wird mit Geschrei in die Orchestra gestürmt.109 Die Raumstruktur zeigt weiterhin, dass die Bühne (Fläche vor dem Bühnenhaus) hinter dem Orchestra-Kreis liegt und sie daher eine eher tangentiale Funktion hat und keine einschneidende (den Orchestra-Kreis schneidend). Bevor im Folgenden dargelegt wird, wie die beschriebenen Beziehungen in der Skenographie sichtbar werden können, erfolgt zunächst eine nähere Bestimmung dessen, was als Skenographie bezeichnet wurde. Die Gestaltung der Bühne wird als Skenographie in antiken Quellen zuerst von Aristoteles benannt: Sophokles habe „die Bühnenbilder hinzuge fügt“110. Als zweite wichtige Quelle gilt die des römischen Architekten Vitruv111, 106 Brauneck,
Manfred/Schneilin, Gérard (Hg.): Theaterlexikon, a. a. O. 1992, S. 84. Heinz: Theatergeschichte Europas 1., a. a. O. 1966, S. 30 f. 108 Der Begriff beinhaltet sowohl die Konzeption und den Bau eines Bühnenhauses (Skene) als auch die malerische Gestaltung der Fassade und Türen desselben sowie die Konzeption und Realisation bühnenbaulicher und bühnenbildnerischer Elemente, die auf der Bühne (Bühnenfläche) stehen: errichtete Holzkonstruktionen mit darin eingelassenen bemalten Tafeln. Vgl. Carl, Tanja: Bild und Betrachter: räumliche Darstellung in der griechischen Kunst des ausgehenden 5 Jahrhunderts v. Chr., Rahden: Verlag Marie Leidorf 2006, S. 49 ff. 109 Kindermann, Heinz: Theatergeschichte Europas 1., a. a. O. 1966, S. 31 f. 110 Aristoteles/Fuhrmann, Manfred (Übersetzer, Hg.): Aristoteles Poetik (griechisch/deutsch), Stuttgart: Reclam 1994, S. 15. Aristoteles‘ Werk entsteht ca. 335 v. Chr. Zur Entwicklung der Tragödie führt er an, dass Aischylos als Erster die Zahl der Schauspieler von einem auf zwei erhöht, den Chor verringert und den Dialog zur Hauptsache gemacht und dass Sophokles (ca. 497–406 v. Chr.) den dritten Schauspieler und die Bühnenbilder eingebracht habe. 111 Vitruvs Ausführungen finden sich in seinen zehn Büchern über Architektur, von denen in der vorliegenden Arbeit an späterer Stelle (zum Theater von Andrea Palladio nach römischem Vorbild) die Rede sein wird. 107 Kindermann,
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der ca. 300 Jahre später über Agatharchos als jenen berichtet, der Skenografien für Aischylos-Tragödien umgesetzt habe 112. Wen genau Sophokles für Bühnenbilder beauftragt und ob der Architekt Agatharchos oder gar der Skiagraph (Schattenmaler) Apollodoros Bühnenbilder gemalt hat, bleibt anhand der Quellenlage unklar. Wie eine Skenografie im 4. Jahrhundert v. Chr. und mit ihr die baulichen und malerische Gestaltung ausgesehen haben kann, zeigt möglicherweise die sogenannte Würzburger Scherbe 113 (siehe nachfolgende Abbildung114).
Abb. 7 Würzburger Scherbe
Gesagt werden kann115, dass es sich bei der Skenografie vornehmlich um Bühnenbau, Fassadengestaltung und um gebaute Holzkonstruktionen auf der Bühne gehandelt hat und nicht um Bilder; diese wurden in Form von auswechselbaren Tafeln nur in die Konstruktionen eingelassen, waren aber nicht das Bühnenbild selbst. Das Bühnenbild, d. h. die Skenografie, war dreidimensional und weder ein Architekturprospekt noch eine zweidimensionale Malerei, die Bauten darstellte.116 112 Vgl. Kindermann, Heinz: Theatergeschichte Europas 1, a. a. O. 1966, S. 46f, sowie Carl, Tanja: Bild
und Betrachter, a. a. O. 2006, S. 39 f. Heinrich: Eine Skenographie, Berlin [u. a.]: de Gruyter 1934. Die Scherbe (lagernd im Martin von Wagner Museum der Universität Würzburg und datiert auf ca. 370 v. Chr.) ist ein tarentinisches Bruchstück eines großen Kelchkraters. Bulle hat den Fund untersucht und die fehlenden Teile zeichnerisch ergänzt. 114 Tafel II, © Heinrich Bulle in Zusammenarbeit mit Heinrich Wirsing, ebd., S. 6. 115 Im Anschluss an Carl, Tanja: Bild und Betrachter, a. a. O. 2006. 116 Ebd., S. 54 f. Sie führt weiter aus: „Eine Bühne mit architektonischer Fassung bedarf keiner Architekturdarstellung in der gemalten Kulisse, da sie real vorhanden ist. In die Architektur eingefügte Bilder machen allerdings dann einen Sinn, wenn sie entweder in Form des Einblicks das Innere eines Raumes zeigen oder in Form des Ausblicks die Natur vor bzw. hinter dem Gebäude.“ Der Begriff Skenographie (und die Konnotation mit Perspektive oder gemaltem Bühnenbild) kann, wie Carl ebenfalls darlegt, zu Verwirrungen führen, weil Vitruv den Begriff für verschiedene Formen und Darstellungsweisen benutzt und sich auf drei Überlieferungsebenen bezieht: Er berichtet 113 Bulle,
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Einen weiteren Aufschluss über die Raumorganisation geben auch andere Abbildungen zum antiken Theater (siehe Bildarchiv Foto Marburg) und der untersuchte Grundriss. Es zeigt sich, dass die Bühne (Fläche vor der Skene) architektonisch insgesamt sehr flach ist: breit, aber nur wenig tief. Demnach finden skenographische Gestaltungselemente, Personen/Darsteller oder Dinge nur nebeneinander Platz. Die Vorbauten sowie die Skene haben dabei ebenso wie die malerische Gestaltung derselben (Bildtafeln sowie Fassaden- und Türbemalung) den Zweck, dem Publikum verschiedene Spielorte zu veranschaulichen117, die jedoch nicht hintereinander gestaffelt gezeigt werden (können), denn die Form des Theaterspiels bedingt sich durch die Theaterbauform. Eine raumstrukturell wichtige Frage ist, wie Plastizität erreicht wird, wenn die Bühne flach und demzufolge das Geschehen auf ihr flächig organisiert werden muss, da keine architektonische Raumtiefe für die Darsteller zur Verfügung steht. Das Wort und die Bewegung müssen hier als raumbildende Elemente herausgestellt werden – nicht insbesondere das Auge, sondern Ohr und Körper sind gefordert. Zum einen werden Schauplätze des Geschehens bühnenbaulich und bühnenbildnerisch dargestellt, vor allem aber durch den Text vermittelt: Durch das gesprochene Wort kann der Rezipient Räume und Räumlichkeiten (Spielorte, Szenen, Gefühlsqualitäten u. dgl.) imaginieren. Zum anderen erlangt die Bühne trotz ihrer Flachheit dadurch Tiefe, dass ihr Geschehen in den Raum greift: Die Darsteller spielen ebenso gut auch vor oder seitlich von ihr in Richtung Orchestra, sie ziehen somit das Geschehen in die architektonische Mitte der Theateranlage und in das Publikum. Die Darsteller und der Chor bewegen sich dabei im und durch den Raum, Blick- und Standpunkte sind dabei für sie und für das Publikum wähl- und kombinierbar. Räumlichkeit im Sinne von Tiefe wird wie im antiken Relief der Bildenden Kunst durch ein Miteinander erzeugt, die Komposition der Ebene setzt Raumrelationen um, und auf formal gestalterischer Ebene wird dieses Miteinander durch eine Aneinanderreihung von Einzelelementen ausgedrückt 118. Einer solchen Anordnung folgen auch vom Bühnenbau im 5. Jh. v. Chr. und von Architekturdarstellungen gemäß der Lehre Euklids im 4. Jh. v. Chr. sowie von Architekturprospekten im 1. Jh. v. Chr., die Darstellungserkenntnisse perspektivartig (keinesfalls zentralperspektivisch) umsetzen (S. 47). Neben der oder in Ergänzung zur Skenographie vermochte es auch die Skiagrafie, Räumlichkeit und Plastizität herzustellen und durch Licht- und Schattengebung zum Ausdruck zu bringen (S. 29f ). 117 Vgl. Brauneck, Manfred/Schneilin, Gérard (Hg.): Theaterlexikon, a. a. O. 1992, S. 84. Entgegen seiner Meinung gibt es die „Wortregie“ (die Vermittlung von Schauplätzen des Geschehens durch gesprochenen Text) jedoch nicht deshalb, weil Schauplätze aus bühnentechnischen Gründen nicht ausreichend dargestellt werden konnten. Vgl. auch Kindermann, Heinz: Theatergeschichte Europas 1, a. a. O. 1966, S. 70 f. Er stellt lediglich fest, dass die Skene verschiedene Schauplätze darstellt, Reliefwirkung besitzt und nicht der Hauptspielort der Darsteller ist, sondern dass sich das Geschehen davor und zwischen den Paraskenien abspielt. 118 Vgl. zum klassischen Relief der Griechen Riegl, Alois: Spätrömische Kunstindustrie, Wien: Österreichische Staatsdruckerei 1927 (1901), S. 102 f. Zu Riegl siehe auch Kapitel 3.2.4 der vorliegenden Arbeit.
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die skenografischen Gestaltungselemente, Darsteller/Personen oder Dinge, die nebeneinandergereiht sind. Zu diesen „Kettengliedern“ gehört auch das, was im Inneren der Skene geschieht, und das, was außerhalb ihrer liegt: die Landschaft. Die Malereien (Bildtafeln sowie Fassaden- und Türbemalung) sind nicht tiefenperspektivisch, sondern flach und als Wirklichkeitsausschnitte zu verstehen, da sie Innen- oder Außenansichten auf die Bühne und ins Geschehen holen119. Die wechselseitige örtliche Bezugnahme, die sich durch nebeneinanderstehende Personen oder Dinge zeigt, lässt dabei ein Raumverständnis erkennen, das Raum als Kraftfeld und Summe 120 versteht und in dem der Raum zwischen Personen oder Dingen keine Leere ist, sondern ein weiteres Kettenglied. Die Bühne-BesucherBeziehung konstituiert sich demnach nicht durch eine klare Trennlinie, sondern als eine kontinuierliche Umrisslinie. Die Raumstruktur des antiken griechischen Theaters kann nun abschließend als eine Art Fächer gelesen werden. Der Blick des Besuchers wird nämlich einer horizontalen Kreislinie folgend aufgefächert 121 und dabei nicht auf einen Punkt hin verengt, der einer Konzentration nach hinten folgt (wie dies bei (zentral-)perspektivisch konzipierten Bühnen der Fall ist, siehe Kapitel 2.2). Skene, Bühne und Orchestra, die gesamte Theateranlage also sowie das (Bühnen-) Geschehen sind in das Panorama der Landschaft integriert, und der Besucher kann hinter der Bühne den Horizont sehen, der sozusagen als Umrisslinie 122 die Welt zusammenhält. Die Gesamtkonzeption beruht demnach auf einer Bewegung in die Breite 123, nicht in die Tiefe. Auf heutige Koordinatenachsen 119 Wie
bereits angemerkt wurde (siehe Fußnoten), kommen Bilder dann zum Einsatz, wenn sie etwas zeigen, was Zuschaueraugen nicht bereits sehen (können), wie sich im Anschluss an Tanja Carl sagen lässt. 120 Wie bereits angemerkt wurde (siehe Fußnoten), wird Raum als eine „dynamische Feldstruktur“ und „innere Grenze eines Umfassenden“ aufgefasst (Jammer). 121 Vgl. Riegl, Alois: Spätrömische Kunstindustrie, a. a. O. 1927 (1901), S. 102. Der Blick bewegt sich nach links und rechts, „nicht aber nach dem Beschauer hin oder von diesem hinweg“. Raum in der Ebene oder als Ebene (Fläche) wahrzunehmen, hat zur Folge, dass das Auge den Raum flächig abtastet; Riegl entwickelt daraus den Begriff „haptisch-optisch[e]“ Wahrnehmung: Raum wird aus einer Nahsicht wahrgenommen. Dagegen zielt der Begriff „visuell-optisch“ auf eine Fernsicht durch Zulassung des Tiefenraums (S. 32–35). Ihm zufolge besitzen wir Kunde vom Raum nur durch den Tastsinn, und „Tiefe ist … erst auf einem weit verwickelteren Wege des Denkprozesses zu begreifen als die Flächendimensionen“ (S. 28f ). 122 Vgl. zum Doppelaspekt von Horizont und Perspektive Bollnow, Otto Friedrich: Mensch und Raum, Stuttgart: Kohlhammer 2004, S. 74–80. 123 Damit ist kein dimensionaler Raum gemeint, sondern eine leibliche Erfahrung, ein Spüren von Atmosphären im Sinne des „Weiteraums“ nach Hermann Schmitz: Der Raum wird als etwas Ursprüngliches ohne Orte oder Abmessungen verstanden, das dem Menschen a priori durch seine Leiblichkeit mitgegeben ist. In dieser leiblich-räumlichen Weite sind Schmitz zufolge alle Raumstrukturen als Überformungen eingetragen; der Weiteraum ist die einfachste dieser Strukturen und einfachste Gestalt des leiblichen Raums. Schmitz, Hermann: Was ist Neue Phänomenologie?, Rostock: Ingo Koch 2003, S. 55 ff. Vgl. auch Böhme, Gernot: Atmosphäre, a. a. O. 1995, S. 95. Raum versteht sich ihm zufolge als „affektiv getönte Enge und Weite, in die man hineintritt, das Fluidum, das einem entgegenschlägt“.
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übertragen und rein bühnentechnisch betrachtet bedeutet dies, dass der Raum in der x-Achse und nicht in der z-Achse erschlossen wird. Infolgedessen ist der Besucher integraler Bestandteil der Anlage und nicht vom (Bühnen-)Geschehen getrennt: Das Geschehen124 ist kein Nacheinander und liegt nicht vor ihm (wie es z. B. das Frontalitätsprinzip der Guckkastenkonzeption bedingt), sondern umschließt ihn. Die skenografischen Gestaltungselemente werden demgemäß so aufgestellt, dass sie nicht hintereinander, sondern nebeneinander in voller Bandbreite stehen und zu sehen sind. Als Ergebnis lässt sich zusammenfassen: Das (Bühnen-)Geschehen ist weder geistig noch emotional oder räumlich auf Distanz oder Fernsicht angelegt. Es wird vielmehr nahsichtig erlebt, was einerseits mit der tatsächlichen Nähe bzw. geringen Tiefe der Bühne und andererseits mit der Körperlichkeit der Erfahrung korrespondiert. Das Geschehen wird körperlich, mithin leiblich und insbesondere akustisch erlebt und ist keine vor allem optisch visuelle Erfahrung. Raum und Räumlichkeit werden weniger gezeigt, sondern vielmehr erzeugt, und Bewegung ist das raumbildende Element. Es geht nicht um optisch bildhafte Raumdarstellung oder Illusion, sondern um Imagination, ästhetische Raumbildung und -aneignung. Die Zusammenfassung benennt bereits wesentliche szenografische Merkmale, die sich auf spezielle Art und Weise auch in Bühnenformen des Mittelalters und der Avantgarde (1920er Jahre) fortschreiben. Im Folgenden wird insbesondere der Bewegung als räumlichem Strukturprinzip nachgegangen, denn die Möglichkeit der Raumbildung und -aneignung wird im Mittelalter durch eine Art Bewegungsraum125 realisiert.
124 Zum
dargelegten Zusammenhang zwischen Form und Inhalt (Raumstruktur und -inhalt) vgl. Ernst Cassirer, demzufolge Riten keinen nachbildenden oder darstellenden, sondern „realen Sinn“ haben. Die Welt des Mythos fasst sich zu einem „charakteristischen geistigen Gebilde“ zusammen, das kein „Konglomerat … beziehungsloser Einfälle ist“, sondern es macht eine „Gliederung, eine bestimmte Über- und Unterordnung der formgebenden Momente“ sichtbar. Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen: Zweiter Teil: Das mystische Denken, Hamburg: Meiner 2010 (1925), S. 47 f., 26. 125 Vgl. Kindermann, Heinz: Theatergeschichte Europas 1, a. a. O. 1966, S. 207. Die Entwicklung führt von abgehaltenen „Feiern“ im Kirchenraum zu „welträumigeren, realistischeren und dynamischeren … Spiele[n]“ auf freien Plätzen (S. 211).
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2.1.2 Mittelalter Raumstruktur mittelalterlicher religiöser Spiele Die Spiele auf freien Plätzen entwickeln sich aus theatralisch-religiösen Feiern, die das „Mysterium des verkündenden Wortes“ in eine symbolische Verkörperung übersetzen: in eine eindringliche und fassbare, optische und akustische Form. Dabei ist der Mensch in die Vorstellung (Weltbild) eines ihn bergenden Ganzen eingebettet.126 Im Spätmittelalter, d. h. in der Hoch- und Frühgotik treten volkstümlich-religiöse Spiele auf den Plan, und auch hier, im „vorperspektivischen“ Zeitalter, gibt es „noch kein Nacheinander des Spielraums“, sondern die einzelnen Spielstände werden nebeneinandergereiht, das „Simultanprinzip“ kennzeichnet das Geschehen.127 Dabei bewegen sich nicht nur „die Darsteller … in Zeit und Raum aufhebenden Symbolgängen von einem Spielfeld zum anderen, sondern auch die Gemeinde teilt in ununterbrochener Blickwanderung oder in Prozessionsart diese Symbolwanderung der Darsteller“.128 Dabei ist das Zentrum des Geschehens der Marktplatz 129 und mit ihm die Stadt. Publikum und Geschehen sind räumlich nicht klar voneinander getrennt. Großräumige Marktplatzinszenierungen mit Passions- und Legendenspielen sind Ausdruck der „Eroberung des allseitig offenen, dreidimensionalen Bühnenraums und des Menschen in ihm“.130 Die Raumorganisation ermöglicht demnach auch hier eine Art fächerartige, horizontale, dynamische Bewegung – nicht nur des Auges, sondern des ganzen Körpers – und keine statische Konzentration auf einen Punkt (Tiefen126 Ebd.,
S. 213 f.
127 Ebd. Kindermann erläutert weiter: Das Weltbild des Früh- und Hochmittelalters ist ein „von Gott
bestimmter Stufenbau“, in den sich der Mensch einordnet und von dem er sich eingebettet fühlt. Romanische Kirchen verbinden „nebeneinander gereihte[] Symbolorte“, die zusätzlich über die architektonische Form des Rundbogens mit den Besuchern verbunden werden (S. 216 f.). Zum Raumverständnis siehe auch Jammer: Die Theologie erweist sich vom 1. bis zum 18. Jahrhundert „als ein wichtiger Faktor in der Ausgestaltung physikalischer Raumtheorien“. Ihr Einfluss gipfelt „in der Behauptung, der Raum sei nur ein Attribut Gottes oder gar mit Gott identisch“. Jammer, Max: Das Problem des Raumes: die Entwicklung der Raumtheorien, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1960, S. 27 f. 128 Das Weltbild (Stufenbau) lockert sich laut Kindermann allmählich und damit die Empfindung des darin Geborgen-Seins. Kindermann, Heinz: Theatergeschichte Europas 1, a. a. O. 1966, S. 217. Zur Raumvorstellung siehe auch Ott: Im 12. und 13. Jahrhundert wandelt sich das Verständnis von „Ort“ zugunsten von „Raum“. Ott, Michaela: „Raum“, in: Barck, Karlheinz (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe, a. a. O. 2003, S. 121. 129 Die Stadt wird „zum ‚Irdischen Jerusalem‘, ihre Bewohner zu deren Bürgern“. In einer „Konstellation des wechselseitigen Bedeutens“ vermag die Alltagswelt „das heilsgeschichtliche Geschehen zu bedeuten, weil [es] die Alltagswelt immer schon als Teil seiner selbst in sich begreift“. Der Marktplatz steht für die „spezifisch religiöse Funktion des Spiels“. Fischer-Lichte, Erika: Semiotik des Theaters, Bd. 1, Tübingen: Narr 1983a, S. 138. 130 Kindermann, Heinz: Theatergeschichte Europas 1, a. a. O. 1966, S. 219.
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raum) hin. Raum kann als eine Erfahrungsräumlichkeit 131 wahrgenommen werden und das Geschehen und das Publikum umschließen einander. Um einem mittelalterlichen (Bühnen-)Geschehen (mit Simultanprinzip, mobilen Zuschauer/Besuchern etc.) nachspüren zu können, helfen möglicherweise Erfahrungen, wie man sie aktuell in ähnlicher Weise – vom Prinzip her und rein formal betrachtet – in heutigen Ausstellungsszenografien machen kann. Denn auch dort geht es um eine dynamische Blickführung, die sich durch die Bewegung des Rezipienten, d. h. seine Bewegung durch den Raum realisiert; die Fortbewegung erzeugt dabei eine Wechselfolge von Raumausschnitten, die das Dargebotene organisiert, strukturiert und rhythmisiert, und die Rauminszenierung kann eine Gegenwart erzeugen. Mit dieser Beschreibung lässt sich das, was sich bei einer mittelalterlichen Marktplatzinszenierung ereignet, näher umreißen: Das Dargebotene (das zwar die Heilsgeschichte inszeniert, aber dennoch einen „realen Sinn“132 hat) stellt dabei Gegenwart her. Es „biete[t] Gegenwarten dar“ und produziert Präsenz, wie sich mit Seel sagen lässt 133. Im Folgenden wird den Fragen nachgegangen, inwiefern die Fortbewegung des Publikums als wesentliches räumliches Strukturmerkmal konstitutiv für mittelalterliche religiöse Spiele ist und wie sich die Beziehung zwischen Publikum und Geschehen darstellt, wenn es keine klare Grenze im Sinne eines Trennwertes oder einer architektonischen Rampe gibt. Das Geistliche und das Weltliche, diese „beiden Hemisphären“, begründen sich als „Spielgefüge“: „Der Spiel-Raum ist nun das, was in der griechischen Polis die ‚Agora‘ hieß, der Marktplatz.“134 Dieses Spielgefüge, die Spielstände und deren geografische Ausrichtung sowie die aktive Teilnahme des Publikums gestalten sich wie folgt: Mitunter ist die ganze Stadt und ihre reale Architektur der Bühnen- und Spielraum, wobei die Spielfläche keine Rückwand hat, sondern durch einen Rundhorizont markiert wird, den umliegende Bürgerhäuser (auch das Rathaus) bilden; es besteht ein gemeinschaftlicher Zusammenhalt und direkter Kontakt zwischen Spiel, Raum und Publikum.135 Das Spiel gestaltet sich durch Spielstände („loca“), die auf dem und um den Marktplatz herum 131 Wie
bereits angemerkt wurde (siehe Fußnoten), gibt es einen Doppelaspekt von Horizont und Perspektive, wie sich im Anschluss an Otto F. Bollnow sagen lässt. 132 Wie bereits angemerkt wurde (siehe Fußnoten), besteht ein Zusammenhang zwischen Form und Inhalt: „Realen Sinn“ hat Cassirer zufolge dann etwas, wenn es nicht um eine nachbildende Darstellung geht, sondern um Vollzug und ein „wirkliches, weil durch und durch wirksames Geschehen“. Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen: Zweiter Teil: Das mystische Denken, Hamburg: Meiner 2010 (1925), S. 48. 133 Seel, Martin: „Inszenieren und Erscheinenlassen“ sowie Gumbrecht, Hans Ulrich: „Produktion von Präsenz“, in: Früchtl, Josef/Zimmermann, Jörg (Hg.): Ästhetik der Inszenierung: Dimensionen eines künstlerischen, kulturellen und gesellschaftlichen Phänomens, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001, S. 58, 63. 134 Kindermann, Heinz: Theatergeschichte Europas 1, a. a. O. 1966, S. 274 f. 135 Ebd.
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genau angeordnet sind; die Bewegung innerhalb dieses Spielraums symbolisiert dabei den Gang durch die mittelalterliche Weltordnung und die Stände zeigen nachgebaute Häuser, Tempel, Paläste etc., gezeigt werden Szenen darin oder davor.136 Die „loca“ sind wie die Kirche in üblicher Ost-West-Ausrichtung (Himmel-Hölle) aufgestellt; in der Mitte finden Grabszenen Christi statt, und in der Entwicklungsreihe der östlichen Grab-Himmel-Spielseite befinden sich die heiligen Gestalten sowie auf der westlichen Grab-Hölle-Spielseite die weltlichen; die beiden Sphären existieren „nebeneinander, nicht miteinander, geschweige denn ineinander“.137 Durch diese Raumstruktur bleibt also trotz Koexistenz und -präsenz die Selbstständigkeit der einzelnen Orte und Szenen bestehen. Das Publikum ist dabei der „mitspielende[] Faktor“, es gruppiert sich auf dem oder um den Marktplatz und schaut zusätzlich von realen (ihren) Häusern aus, von Balkonen und Vorbauten dem Geschehen zu; darüber hinaus findet eine aktive Teilnahme statt insofern, als von Stand zu Stand mitgelaufen, selbst mitgespielt wird und auch Fragen von Darstellern lauthals beantwortet werden oder beispielsweise eine im Spiel gesuchte Figur vom Publikum eigeninitiativ in der Menge versteckt wird.138 Die mittelalterlichen Spiele sind demnach höchst performativ; Marktplatz, Stadt und Architektur sind der performative Raum, und Räumlichkeit wird durch das Spiel hervorgebracht 139. Die Fortbewegung im Raum erweist sich dabei als konstitutiv. Es gibt ein beträchtliches Maß an „agency“, d. h. an „eigener Gestaltungs- und Handlungskraft der Ausführenden“: Das GöttlichReligiöse ist nur erfahrbar „durch körperliche, inszenierte Performanz und in der körperlichen, inszenierten Performanz der Akteure“.140 Zudem ist festzustellen, dass es eine semiotische Ebene gibt, und zwar dergestalt, dass die bühnengestaltenden Elemente auf Gebäude oder fiktive Räume (Himmel, Hölle) verweisen oder als „ein Zeichen für eine Situation bzw. Handlung“141 fungieren. Die Raumstruktur beinhaltet somit Performatives und Semiotisches142. Auch verbindet sich Sukzessives (Dichtung, Musik) und Simultanes (Malerei, Plastik, Architektur), und diese Verbindung kommt dabei dem Weltbild entsprechend in einem Nebeneinander zum Ausdruck, das stets auf 136 Ebd.,
S. 276. S. 278. 138 Ebd., S. 274, 276 f., 295 f. Bei einer Richtungsänderung des Spielfeldes (z. B. von Gut nach Böse bzw. einem topografischen Geschehenswechsel von Ost nach West) kommt es neben regelmäßigem Gedränge mithin zu Rangeleien; die Spielleiter verstehen es dabei, die Ruhestörer nicht nur ins Geschehen zu integrieren, sondern sie gleichsam symbolisch zu richten, indem sie in die westlichen Spielstände abgeführt werden. 139 Zum Performativen siehe Kapitel 3.1.3 der vorliegenden Arbeit. 140 Fischer-Lichte, Erika (u. a. Hg.): Diskurse des Theatralen, Tübingen/Basel: Francke 2005, S. 17. 141 Fischer-Lichte, Erika: Semiotik des Theaters, Bd. 1, Tübingen: Narr 1983a, S. 145. 142 Vgl. Kapitel 3.1.3. 137 Ebd.,
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einen gemeinsamen Urgrund bezogen ist 143. Das Mittelalter kennt noch kein zeiträumliches Nacheinander (der Neuzeit), sondern operiert „ohne Abstands erkenntnis“, wie es z. B. durch das noch distanz- und perspektivlose Gesichtsbild zum Ausdruck kommt. Kindermann führt weiter aus, dass die Vorstellungskraft des Publikums größer ist als jenes „in ausgesprochen perspektivischen Epochen, die notwendig immer Epochen des illusionsfreudigen Nacheinander-Denkens sind“; es gibt eine „ästhetische Realitätssphäre“ – gegenwärtig ist das, was agiert.144 Hieraus ergibt und bestätigt sich die Annahme, dass sich die Beziehung zwischen Publikum und (Bühnen-)Geschehen als eine Verbindungslinie kennzeichnet, ein weiteres Mal; eine klare Grenzziehung zwischen Publikum und Bühne gibt es nicht. Durch das Zusammenspiel der sukzessiven und simultanen Künste, des räumlichen und zeitlichen Nebeneinanders und der performativen und semiotischen Ebene ist die Wahrnehmung vielschichtig, wobei ein weiterer Wahrnehmungsaspekt hinzuzufügen ist, wenn man die angesprochene „ästhetische Realitätssphäre“ in anderer Richtung weiterdenkt. Neben dem Performativen und Semiotischen kommt nämlich das Atmosphärische 145 hinzu. Die Untersuchung dieser weiteren Wahrnehmungsebene ist – auch im Hinblick auf die Thesen der vorliegenden Arbeit – für das Mittelalter insofern relevant, als die religiöse Erfahrung und Bilddarstellungen als eine „Vorstellungseinheit“146 mit Realitätsanspruch erlebt werden. Die Verschränkung dieser beiden Sphären hat den Zweck, „der transzendenten heiligen Handlung … lebendige Gegenwärtigkeit zu geben“.147 Ermöglicht wird die Wahrnehmung von Bilddarstellungen als Realitätssphäre durch die damalige Vorstellung148, derzufolge das Auge Sehstrahlen aussendet oder empfängt. Die Gegenwart und Präsenz Gottes ist also ein atmosphärisches Erleben, das keine 143 Kindermann,
Heinz: Theatergeschichte Europas 1, a. a. O. 1966, S. 275 f. Kindermann zitiert mit „Realitätssphäre“ Dagobert Frey, der sich in seinen „Kunstwissenschaftlichen Grundlagen“ (ebd., Wien: Rohrer 1946, S. 167) mit dem Verhältnis zwischen Zuschauer und Bühne auseinandersetzt. 145 Vgl. Schmitz über das Göttliche und seine Ausführungen über den Raum. Schmitz, Hermann: Was ist Neue Phänomenologie?, Rostock: Ingo Koch 2003, S. 122, 327 f. Vgl. auch Böhme: Dasjenige, „wodurch Umgebungsqualitäten und [menschliches] Befinden aufeinander bezogen sind, das sind die Atmosphären“ (S. 23). „Wahrnehmung qua Befindlichkeit ist spürbare Präsenz“ (S. 96). Böhme, Gernot: Atmosphäre: Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1995. 146 Frey, Dagobert: Kunstwissenschaftliche Grundfragen. Prolegomena zu einer Kunstphilosophie, Wien: Rohrer 1946, S. 111. 147 Ebd. Frey zufolge geht es nicht darum, „der Bilddarstellung erhöhte Realität zu verleihen und damit die Wirksamkeit zu steigern“. 148 Das Mittelalter verfügt über zwei Sehtheorien: die Extromissionstheorie (auf Augustinus zurückgehend), die besagt, dass das Auge Sehstahlen aussendet, wodurch Dinge sichtbar werden, und die Intromissionslehre (auf Aristoteles zurückgehend), die sich im 13. Jahrhundert durchsetzt und davon ausgeht, dass Dinge Lichtstrahlen aussenden und an das Auge als Bilder zurücksenden. Binding, Günther: Die Bedeutung von Licht und Farbe für den mittelalterlichen Kirchenbau, Stuttgart: Steiner 2003, S. 34. 144 Ebd.
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optische Erfahrung ist, sondern in Umgebung und Richtung greift, mit Gefühlen einhergeht und den Wahrnehmenden affiziert, bevor er ein Zeichen oder ein Wort überhaupt reflektieren und in seiner Bedeutung erkennen kann. Dabei kommen Licht und Farbe als räumliche, szenografische Inszenierungsmittel zum Einsatz. Das Auge wird hier nicht als ein vornehmlich optisches Erkennungsinstrument verstanden, sondern vielmehr als ein haptisches Sinnesorgan oder Medium, das ein Befühlen ermöglicht: eine leibliche Erfahrung und „körperliche Berührung“149 mit dem Göttlichen. In einer solchen Vorstellungseinheit geht es kaum um eine optisch bildhafte Raumdarstellung oder ein Illusionstheater und auch nicht um eine passive Betrachtung derselben, sondern vielmehr um Raumbildung und -aneignung. Zu den religiös-mittelalterlichen Spielen150 kann abschließend festgehalten werden, dass Bilddarstellungen (hier auf Spielständen errichtete Raumbilder) mit einem Realitäts- und schließlich mit einem Wahrheitsanspruch151 wahrgenommen werden. Denn der reale Gang, d. h. die Bewegung im und durch den Raum, die ein wesentliches raumstrukturelles Merkmal der Szenografie darstellt, ist mehr als nur eine Marktplatz- oder Stadtdurchquerung. Sie symbolisiert vielmehr den Gang durch die mittelalterliche Welt(-Ordnung) und ist gleichsam eine Bewegung durch die geistliche Sphäre und die Berührung mit dieser, welche zwei Richtungen ausweist, die (über die Topografie hinaus) für das Publikum eine Orientierung sind bzw. eine Bedeutung haben (Gut und Böse, Himmel und Hölle, Ost und West). Das Spielgeschehen, d. h. die mit dem Publikum und auf dem Marktplatz als Ereignis152 dargestellte Heilsgeschichte und Vorstellungseinheit – dieser „künstlerische Text“153 –, lässt zugleich eine Raumsemantik erken149 Fischer-Lichte, Erika (Hg.): Praktiken des Performativen, Paragrana Bd. 13, Heft 1, Berlin: Akademie
Verlag 2004, S. 33. Auch sie rekurriert auf Sehtheorien und auf Dagobert Freys „Realitätscharakter des Kunstwerkes“. 150 Im Spätmittelalter wird das Simultanprinzip ausgebaut und so verdichtet, dass die verschiedenen Spielstände täglich ausgewechselt werden, wodurch es zu einer Spielfortsetzung kommt und ein „System von mehreren Simultanschichten“ entsteht. Die Stände greifen um den Marktplatz, in die Stadt und das Leben. Diese Bühne wird auch als „kubische“ Simultanbühne oder „Raumbühne“ bezeichnet. Kindermann, Heinz: Theatergeschichte Europas 1, a. a. O. 1966, S. 276. Zur Raumbühne siehe Kapitel 4 der vorliegenden Arbeit. 151 Zum Thema „Raum und Wahrheit“ vgl. Brejzek, T./Greisenegger, W./Wallen, L.: Space and Truth = Raum und Wahrheit, Zürich: ZHdK 2009. 152 Vgl. Lemma „Ereignis“, in: Fischer-Lichte, E./Kolesch, D.: Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart/ Weimar: Metzler 2005, S. 92 ff. 153 Siehe Kapitel 3.1.4 der vorliegenden Arbeit. Nach Jurij Lotman sind Kunstwerke (z. B. Malerei, Musik, Film, Bühnenbild, Szenografie usw.) „künstlerische Texte“ und topologische Raummodelle, die das „Weltbild“ raumstrukturell widerspiegeln können, siehe Lotman, Jurij M.: Vorlesungen zu einer strukturalen Poetik, München: Fink 1972b. Damit verdeutlicht sich nochmals, dass Ästhetik und Struktur in direkter Beziehung zueinander stehen. Begriffe wie z. B. „hoch-niedrig“ sind dabei Material „für den Aufbau von kulturellen Modellen mit keineswegs räumlichem Inhalt und erhalten Bedeutungen wie ‚wertvoll-wertlos‘“.
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nen, die eine dem „Weltbild im Kleinen“154 entsprechende räumliche Struktur beinhaltet. Semantische Relationen lassen sich entsprechend ausdeuten: topografisch (Himmeln versus Hölle) und topologisch (offen: das Geistliche/Unendliche versus geschlossen: das Weltliche/Endliche). Ebenso sind die Entwicklungsreihen der beiden Spielseiten raumstrukturell dieser Vorstellung verpflichtet. Da nun das Publikum maßgeblich am (Bühnen-)Geschehen beteiligt ist, es mithin selbst kreiert, kann die Konstruktion der semantischen Räume als ein ihm eigenes Sinnbildungsinstrument bestimmt werden. Da keine raumstrukturelle Trennung zwischen (Bühnen-)Geschehen und Publikum besteht, kann das Ereignis Züge einer Selbstproduktion haben – Raum wird hergestellt, gebildet und angeeignet. Dass es für eine solche Hervorbringung großer schöpferischer Kraft bedarf und das Publikum ein nicht zu unterschätzender Faktor ist, wussten auch die Avantgardisten des 20. Jahrhunderts. Einer ihrer Pioniere konstatiert nicht von ungefähr: „Wieso konnte das mittelalterliche Drama ohne jede szenische Ausstattung auskommen? Dank der regen Phantasie des Zuschauers.“155 Der raumstrukturellen Trennung bzw. Verbindung zwischen (Bühnen-)Geschehen und Besucher wird im Folgenden anhand von Bühnen(re)formen der Avantgardebewegung der 1920er und 1930er Jahre nachgegangen. Die Darstellung unternimmt keine umfassende Untersuchung der in dieser Epoche entstandenen Arbeiten, sondern diese Bewegung wird anhand markanter künstlerischer Positionen dargelegt. Friedrich Kiesler, ein Protagonist dieser Avantgarde und Leitfigur der vorliegenden Arbeit, wird dabei zunächst nicht berücksichtigt, weil er und seine „Raumbühne“ in Kapitel 4 ausführlich besprochen werden.
Jurij Lotman: „Künstlerischer Raum, Sujet und Figur“, in: Günzel, Stephan/Dünne, Jörg (Hg.): Raumtheorie, a. a. O. 2006, S. 530. 154 Kindermann, Heinz: Theatergeschichte Europas 1, a. a. O. 1966, S. 279. Das „Raumbild des spätmittelalterlichen Theaters im deutschen Sprachraum [bietet] mit seinen kubischen Simultandekorationen ein ‚Weltbild im Kleinen‘“. Die Simultaneität vermag „dieses Weltbild in Bewegung, im Hin- und Widerfluten der treibenden Kräfte zu zeigen“. Es kommt vor allem „auf das Agieren, auf das Sichbewegen, auf das Handeln und Reagieren“ an. Vgl. in diesem Zusammenhang nochmals Lotman (1972b), der den künstlerischen Raum als einen metonymischen ausweist: Als ein Teil steht er für das Ganze, hier für das mittelalterliche Weltbild. 155 Wsewolod Meyerhold: „Zur Geschichte und Technik des Theaters“, in: Turk, Horst (Hg.): Theater und Drama: Theoretische Konzepte von Corneille bis Dürrenmatt, Tübingen: Narr 1992, S. 117.
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2.1.3 Zwanzigstes Jahrhundert Raumstruktur avantgardistischer Bühnenformen Die hier beschriebenen Raumkonzepte der Avantgarde sind zwar jeweils unterschiedlich, doch übereinstimmend im Hinblick auf ein gemeinsames Ziel: Vor dem Hintergrund der Guckkastenbühnenform geht es um ein Wieder(er)finden von raumstrukturellen Ansätzen156, die zum einen Bewegung im und durch den Raum und damit Raumbildung und -aneignung durch die Besucher ermöglichen, wobei nicht selten auf Antike oder Mittelalters rekurriert wird. Zum anderen geht es um das Entdecken neuer spatialer Möglichkeiten und um ein Theater mit Realitätsanspruch, kein Illusionstheater. Zahlreiche Ereignisse nehmen grundlegenden Einfluss auf die Gesellschaft, deren Weltbild und Wahrnehmung: wissenschaftliche Erkenntnisse und Industrialisierung, Kinematografie, Urbanisierung und Beschleunigung157. Durch die Theorien von Albert Einstein (1905) können Raum und Zeit nun als ein Raum-Zeit-Kontinuum gedacht werden, und mit der mathematischen Topologie, die bereits Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzte, kann Raum als Lagebeziehung und Gebilde möglicher Verhältnisse, also relational beschrieben werden (siehe Kapitel 3.2). Um den Bühnen(re)formen und ihren Raumbildern strukturell näherzurücken (die mit gesellschaftlichen Strukturen korrespondieren, dem Theaterbau und den Theaterreformen, die diese Strukturen reflektieren158), ist zunächst das Verhältnis zwischen dem Theater und seinem Umraum in den Blick zu nehmen. Denn Raumbilder, die eine differenzierte und mobile Wahrnehmung erfordern, sind zwar „von Beginn an systematisch auf ihren Umraum bezogen“159, doch nicht nur unmittelbar auf den Raum, in den sie installiert sind, sondern auch auf den Umraum der Stadt und des Lebens. Reflexionen über die Stadt der Moderne zeichnen ein aufschlussreiches (Raum-)Bild160 jener Zeit: „Jeder typische Raum wird durch typische gesellschaftliche Verhältnisse zustande gebracht, die sich 156 Manfred
Brauneck hebt fünf Merkmale zum Theater der Zukunft hervor: 1.) Die Orientierung an Friedrich Nietzsches Entwurf einer neuen Ästhetik; 2.) Die Kritik am naturalistischen Theater; 3.) Die Entliterarisierung und die neue Stellung des Regisseurs; 4.) Die Auffassung der neuen Theaterkultur als Ästhetisierung des Lebens, als neue Lebenskultur; 5.) Die Einflussnahme der Architekten auf den Theaterbau und die Auseinandersetzung mit dem antiken Theater und der Theatertradition Japans. Brauneck, Manfred: Theater im 20. Jahrhundert: Programmschriften, Stilperioden, Reformmodelle, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1982, S. 63 ff. 157 Vgl. Joachim Fiebach: „Audiovisuelle Medien, Warenhäuser und Theateravantgarde“, in: FischerLichte, Erika: TheaterAvantgarde: Wahrnehmung, Körper, Sprache, Tübingen: Francke 1995, S. 15–57. 158 Brauneck, Manfred: Theater im 20. Jahrhundert, a. a. O. 1982, S. 27 f. 159 Gundolf Winter, Jens Schröter, Joanna Barck: „Das Raumbild. Eine Einleitung“, in: Winter, G./ Schröter, J./Barck, J. (Hg.): Das Raumbild, Paderborn: Fink 2009, S. 11. 160 Siegfried Kracauer (in der Weimarer Republik für das Feuilleton der „Frankfurter Zeitung“ tätig und dort zuständig für Film und Architektur) liest aus den Raumbildern jener Zeit Gesellschaftsbilder.
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ohne die störende Dazwischenkunft des Bewusstseins in ihm ausdrücken. … Die Raumbilder sind die Träume der Gesellschaft. Wo immer die Hieroglyphe irgendeines Raumbildes zu entziffern ist, dort bietet sich der Grund der sozialen Wirklichkeit dar.“161 Die Stadt wird hier also zu einer Raumbildungsform ebenso wie das Theater, das die Avantgarde durch eine Auseinandersetzung mit der Realitätssphäre bzw. Wirklichkeitserfahrung zustande gebracht und mit derselben verhandelt wissen will. Feudale Theaterpraxis, Hof- und Staatstheater in typischer Bauform (Guckkasten), die nur eine ihrer Bauform entsprechende Spielform (Vorspiel) ermöglichen, sind demnach weder der geeignete bauliche Rahmen noch Austragungsort 162. Adolphe Appia163 gilt als Vorreiter variabler Bühnenformen, die ohne Rampe und Rahmen konzipiert sind und keine Trennung zwischen Publikum und Darstellung vorsehen164. Appia hat 1911 einen Spielraum mittels sogenannter „Praktikablen“ entworfen, die verschiedene Raumorganisationen ermöglichen. Durch diese podestartigen beweglichen Raumelemente sind der Bühnen- und Zuschauerbereich nicht schon gegeben, sondern ergeben sich erst für die vorgesehene Personenregie und Szenografie (Raumregie) der jeweiligen Inszenierung. Appia, der ausgerufen haben soll: „Wir wollen auf der Bühne die Dinge nicht mehr so sehen, wie wir wissen, dass sie sind, sondern so, wie wir sie empfinden“, entwickelt also eine Art „Raumbühne“ (vgl. Kieslers Raumbühne, Kapitel 4). Seine Raumelemente dienen auch dazu, den Raum und die in ihm gebotene Darstellung zu rhythmisieren, als weitere Gestaltungsmittel setzt Appia gestaltete Zeit (Musik) und Licht ein. Um Dinge so sehen zu können, wie sie empfunden werden (können), entwickelte er unter anderem ein aufwändiges Beleuchtungssystem, das Licht- und Helligkeitsstimmungen und -spiele ermöglicht, eine dynamische und die Inszenierung gestaltende Lichtführung also.165 Eine markante Position in der Avantgardebewegung der 1920er und 1930er Jahre nimmt der Regisseur Meyerhold166 ein; er hebt an mit Überlegungen zu seinem „bedingten Theater“, das nach dem Zuschauer als einem „vierten Vgl. Michaela Ott: „Bildende und darstellende Künste“, in: Günzel, Stephan (Hg.): Raum, a. a. O. 2010, S. 68 f. 161 Siegfried Kracauer: „Über Arbeitsweisen. Konstruktion eines Raumes“, in: Kracauer, Siegfried/ Mülder-Bach, Inka (Hg.): Schriften Bd. 5.2: Aufsätze 1927–1931, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1990, S. 186. 162 Brauneck, Manfred: Theater im 20. Jahrhundert, a. a. O. 1982, S. 64. 163 Architekt, Bühnenbildner und Theoretiker (1862–1928). 164 Vgl. Kapitel 5 der vorliegenden Arbeit sowie die Arbeiten von Theaterarchitekt Werner Ruhnau, der mit seinem Entwurf „Podienklavier“ (1958) auf Appia rekurriert. 165 Zu Appia siehe die Monografie von Beacham, Richard C.: Adolphe Appia – Künstler und Visionär des modernen Theaters, Berlin: Alexander-Verlag 2006. Siehe auch Wimmer, Franz/Schelle, Barbara: „Kulturelle Veranstaltungsräume – Die Typologie des Theaterbaus an Beispielen“, in: Detail, Musik und Theater. Zeitschrift für Architektur + Konzept, 3.2009, München: Institut für internationale Architektur-Dokumentation, 2009, S. 170–177, hier S. 174. 166 Siehe Kapitel 3.2.2 der vorliegenden Arbeit.
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Schöpfer“ einer Inszenierung verlangt, der „mit seiner Vorstellungskraft ‚schöpferisch beendet‘, was in der Szene nur angedeutet wird“. Szenische Ausstattung (Bühnenbild, Dekoration) und Rampe seien abzuschaffen und „die Bühne [ist] auf die Höhe des Parterre“ zu setzen.167 In seiner Schrift „Rekonstruktion des Theaters“ weist er auf die Bedeutung eines interdisziplinären Arbeitsverständnisses hin, und sein Text lässt auf ein Bewusstsein um medial szenische Mittel und deren erforderliche raumstrukturelle Gestaltung sowie ästhetische Wirkung schließen. Er sieht es als eine Aufgabe, auch Filmtechniken auf der Bühne zu „verwirklichen (aber nicht in dem Sinn, dass wir eine Leinwand im Theater aufhängen)“168. Das, was Meyerhold hier in Klammern setzt, spricht ein wesentliches Problem an, nämlich das des Einsatzes von Medien auf der Bühne169. Dass diese Problematik bis heute aktuell ist 170, liegt insbesondere in der Schwierigkeit des „Raumfilms“ begründet, denn der architektonische, d. h. nicht bildhaft zweidimensionale Einsatz von Bewegtbildern, der dazu dient, eine Kinosituation zu vermeiden, setzt das Vermögen voraus, das zweidimensionale Medium Film räumlich dreidimensional denken zu können.171 „Das ‚kinofizierte Theater‘, [d]as Projekt eines Massentheaters für … Meyerhold“172, stellt El Lissitzkys Theatermodell dar; dieses kinofizierte Theater ohne Kinosituation173 wurde allerdings nie realisiert. Ausgehend von einer Arena-Architektur sollte die Trennung zwischen Publikum und (Bühnen-) Geschehen durch ins Freie, d. h. in den städtischen Umraum führende Rampen aufgehoben werden. „Auch Meyerhold plante die Verschmelzung von Bühnenund Zuschauerraum … [d]och die Verbindung der Bühne mit der Straße war einzigartig. … Für El Lissitzky war … die gesamte Innenarchitektur Gegenstand der Konzeption, nicht nur die Bühne. Dabei waren die Experimente am Weimarer Bauhaus … wie auch Kieslers ‚Raumbühne‘ von 1924 Ausgangspunkte seiner Überlegungen.“174 El Lissitzky kann somit als Szenograf bezeichnet werden, 167 Wsewolod Meyerhold: „Das bedingte Theater“ (1906), in: Brauneck, Manfred: Theater im 20. Jahr-
hundert, a. a. O. 1982, S. 246 f. „Rekonstruktion des Theaters“ (1930), in ebd., S. 254. 169 Siehe hierzu Ausführungen in Kapitel 4 und dort vor allem die Arbeiten von Friedrich Kiesler sowie das Projekt „Ex Machina“ von F. Plessi/KHM Köln und F. Flamand. 170 Vgl. Publikumswunsch jenseits eines „Bildertheaters“ für das Jahr 2004 an der Berliner Volksbühne, siehe dazu Diederichsen, Dieter: „Theater ist kein Medium – aber was bewirkt es, wenn der Mann mit der Videokamera auf der Bühne arbeitet?“, in: Dramaturgie. Magazin der Dramaturgischen Gesellschaft, 01/2004, S. 3–7. Siehe auch Besprechungen/Kritiken zu einzelnen Inszenierungen der Ruhrtriennale 2014, etwa zum Stück „I am“ von Lemi Ponifasio und den darin verwendeten Videoprojektionen. 171 Siehe Erläuterungen in Kapitel 1 und 4.2 der vorliegenden Arbeit. 172 Hemken, Kai-Uwe: El Lissitzky: Revolution und Avantgarde, Köln: DuMont 1990, S. 166–169. 173 Siehe Wsewolod Meyerhold: „Das bedingte Theater“ (1906) und „Rekonstruktion des Theaters“ (1930), in: Brauneck, Manfred: Theater im 20. Jahrhundert, a. a. O. 1982. 174 Hemken, Kai-Uwe: El Lissitzky, a. a. O. 1999, S. 167 f. 168 Ders.:
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denn solch raumstrukturelle Konzeptionen sind keine traditionellen Bühnenbilder, sondern mehr eine Raumregie, die die Regie (Personenführung) strukturell bestimmt und somit auch das Arbeitsverhältnis175 zwischen Regisseur und Raumgestalter verändert. Weitere markante Positionen dieser Avantgardebewegung nehmen Projekte ein wie beispielsweise das „Totaltheater“ von Walter Gropius, das „Kugeltheater“ von Andor Weininger oder das „Endless Theatre“ von Friedrich Kiesler176 (siehe nachfolgende Abbildungen177)
Abb. 8 Avantgarde-Bühnen der 1920er Jahre von Weiniger (li. oben), Kiesler (re. oben) und Gropius/Piscator (unten)
175 Siehe
Kapitel 5 der vorliegenden Arbeit.
176 Neben der Publikation von Brauneck, Manfred: Theater im 20. Jahrhundert, a. a. O. 1982, siehe auch
Koneffke, Silke: Theater-Raum: Visionen und Projekte von Theaterleuten und Architekten,1900–1980, Berlin: Reimer 1999. Siehe auch Krausse, Joachim: „Mechanischer Affe und Quantum Machine. Bau- und Bühnenlaboratorium – vom Bauhaus zum Black Mountain College“, in: Schramm, Helmar (u. a. Hg.): Spuren der Avantgarde: Theatrum machinarum: frühe Neuzeit und Moderne im Kulturvergleich, Theatrum scientiarum, Bd. 4, Berlin: de Gruyter 2008. 177 Das Rot markiert die Bühne. Die Abbildungen (© Sinus Bohnhoff u. Ulli Sohnle) stammen aus: SchauSpielRaum – Theaterarchitektur, Begleitheft zur gleichnamigen Ausstellung, hg. vom Lehrstuhl für Raumkunst und Lichtgestaltung der Technischen Universität München, München: TU Architekturmuseum 2003.
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Die Ausstellung „SchauSpielRaum – Theaterarchitektur“178 zeigt anhand von Beispielen das Verhältnis von, wie es heißt, „SchauRaum“ und „SpielRaum“, das das Spannungsfeld des Schauspiels, also das „SchauSpiel“ bestimmt, und unternimmt raumstrukturelle Untersuchungen. Dabei liegt der Schwerpunkt auf dem Theaterbau des 20. Jahrhunderts, „in dem wie noch nie zuvor … um die adäquate architektonische Form für die Annäherung oder sogar Durchdringung von Zuschauern und Akteuren gerungen wurde“.179 Die genannten weiteren markanten Positionen (die hier nicht näher ausgeführt werden können, den Rahmen dieses Kapitels sprengen würden) und deren raumstrukturelle Trenn- bzw. Verbindungslinien zwischen Publikum und (Bühnen-)Geschehen verdeutlichen sich über die obigen Abbildungen180 dieser Ausstellungspublikation. Wie zu erkennen ist181, ist die Kreisform, das den Zuschauer Umschließende also, dasjenige raumstrukturelle Gestaltungsmerkmal, das die verschiedenen Entwürfe miteinander konzeptuell verbindet. Das Konzept von Walter Gropius und Erwin Piscator sieht bewegliche und drehbare Bühnen- und Zuschauerbereiche vor, die auch während einer Inszenierung verschiedene Perspektiven (auch 360°) und Raumbeziehungen ermöglichen sollen. Im Theater von Andor Weininger befinden sich ihm zufolge die Zuschauer gegenüber neuen Möglichkeiten, die ebenso konzentrische wie richtungsbeliebige und mechanische Raumbühnen-Vorgänge implizieren. Und Friedrich Kieslers „Endless Theater“ ist ein System aus verschiedenen Ebenen, in dem Plattformen, Sitzflächen und Bühne freischwebend über- und nebeneinander in Form einer endlosen Spirale durch den Raum gespannt sind.182
178 Die Ausstellung (gezeigt im Architekturmuseum der TU München in der Pinakothek der Moderne
vom Oktober 2003 bis Januar 2004) wurde konzipiert und realisiert von Leitern und Studierenden des Lehrstuhls für Raumkunst und Lichtgestaltung der TU München und den Mitarbeitern des Museums. Die Abbildungen (© S. Bohnhoff u. U. Sohnle) zeigen Bauanalysen und Nachbauten der vorgestellten Theaterprojekte in Form von Modellen. 179 Nerdinger, Winfried: Titelloser Beitrag im Begleitheft der Ausstellung „SchauSpielRaum – Theater architektur“, S. 3. 180 Auch die nachfolgenden Abbildungen (© S. Bohnhoff u. U. Sohnle) in den Kapiteln 2.2 und 2.2.1 sind dem Begleitheft der oben genannten Ausstellung entnommen. 181 Siehe auch Wimmer, Franz/Schelle, Barbara: „Kulturelle Veranstaltungsräume – Die Typologie des Theaterbaus an Beispielen“, in: Detail, Musik und Theater, a. a. O. 2009. S. 170–177. Auch hier werden die Abbildungen der TU München gezeigt und kurz erläutert. 182 Ebd., S. 174.
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2.2 Der Schnitt Ein bedeutender Raumeinschnitt für die Szenografie ist jener des 15. Jahrhunderts, der durch die zentralperspektivische Konstruktion vollzogen wird: der Schnitt durch die Sehpyramide183. Dieser Schnitt bringt eine bildhafte Raumdarstellung184, eine passive Betrachtung derselben und eine Trennlinie mit sich, wodurch Bühnen(bild)formen eine bestimmte Raumstruktur und -organisation annehmen. Die Ausrichtung dieser raumstrukturellen Entwicklung und deren Folge sind bereits anhand der nachfolgenden Abbildung zu erkennen: Es geht um eine klare Trennung zwischen Zuschauer und Bühnengeschehen, die sich bis zum 17. Jahrhundert hin verdichten wird, und um ein räumliches und zeitliches Hintereinander. Weder das räumliche Nebeneinander (der Antike) noch das zeitliche Nebeneinander des Simultanprinzips (des Mittelalters) ist das Ziel dieser Entwicklung.
Abb. 9 Guckkastenprinzip
Der Blick des Publikums ist klar nach vorne ausgerichtet, es gibt eine Rampe, und der Rahmen, durch den hindurch auf die Bühne geschaut wird, ist die sogenannte „vierte Wand“. Sie (zwischen Boden und Decke) summiert sich 183 1420
in Italien eingeführt und Filippo Brunelleschi (1377–1446) zugeschrieben. Pierro della Francesca (1420–1492) systematisiert die Erkenntnisse und Leon Battista Alberti (1407–1472) verfasst 1436 das Traktat „De pictura“, in dem er die Schnittstelle beschreibt, die entsteht, wenn man einen gerasterten „Bildschirm“ zwischen Betrachter und dreidimensionales Objekt schiebt und somit das Objekt zweidimensional (in Form einer Zeichnung oder Malerei) zur Abbildung bringen kann. Die Malerei der Renaissance kennt die „bildparallele Schichtung“, wogegen es im Barock des 17. Jahrhunderts zu „tiefenmäßigen Anordnungen der Dinge“ kommt. Vgl. Michaela Ott: „Bildende und darstellende Künste“, in: Günzel, Stephan (Hg.): Raum: Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar: Metzler 2010, S. 66 f. 184 Zum Thema Raum, Zentralperspektive und Wahrnehmung siehe auch Gebser, Jean: Ursprung und Gegenwart, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1966. Siehe auch Merleau-Ponty, Maurice/ Arndt, Hans Werner (Hg., Übersetzer): Das Auge und der Geist, Hamburg: Meiner 1984 (1967). Siehe auch Panofsky, Erwin/Oberer, H./Verheyen E. (Hg.): Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft, Berlin: Volker Spiess 1985 (1964). Siehe auch Schmeiser, Leonhard: Die Erfindung der Zentralperspektive und die Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft, München: Fink 2002. Siehe auch Haß, Ulrike: Das Drama des Sehens: Auge, Blick und Bühnenform, Paderborn: Fink 2005. Siehe auch Rodatz, Christoph: Der Schnitt durch den Raum: Atmosphärische Wahrnehmung in und außerhalb von Theaterräumen, Bielefeld: transcript 2010.
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mit den beiden Seitenwänden und der Rückwand zu einem leeren Kasten, in den der Betrachter schaut und der vor ihm liegt. Da raumstrukturelle Beschreibungen von Szenografien immer auch inhaltliche Beschreibungen sind, die über das Verhältnis von Raum – Mensch über das Verhältnis Theater – Umraum zum Verhältnis Bühne – Besucher führen, wird im Folgenden zunächst das Raumverständnis der Neuzeit und die Beziehung zwischen Theater und seinem Umraum in den Blick genommen. Dieses Raumverständnis begründet sich in der Annahme eines Raums, der als vorausgesetzt gilt. Raum wird nicht gebildet (in der Antike hingegen bildet sich Raum durch die Summe von Orten, die wiederum Körper einnehmen), sondern wird als etwas Leeres und Absolutes verstanden, das von vornherein existiert und dann mit Dingen besetzt werden kann – als ein „Dingmedium“185, das mittels der perspektivischen Methode abbildbar ist. Für Erwin Panofsky ist die Perspektive „Ausdruck der neuen Weltordnung“186, und er beschreibt sie als einen projizierten Gesamtraum auf einer Bildebene187, die sozusagen als „Trennscheibe“ fungiert. In dieser Hinsicht kann, was den direkten Anschluss des Theaters zum Umraum anbelangt, gesagt werden, dass die Neuzeit keine Durchdringung von Theater und Stadt anstrebt, denn die Theaterbauten sind geschlossene Baukomplexe188 und dadurch vom Leben abgetrennt. Die Durchdringung von Kunst und Leben wird die Avantgarde des 20. Jahrhunderts zurückfordern. Wie konstituiert sich nun die Trennlinie zwischen Bühnengeschehen und Zuschauer? 185 Stephan Günzel: „Medialer Raum: Bilder – Zeichen – Cyberspace“, in: Ders. (Hg.): Raum, a. a. O.
2010, S. 220 f.
186 Stephan Günzel: „Rücknahme der kopernikanische Wende“, in: Ders. (Hg.): Raum, a. a. O. 2010,
S. 84. Er fährt fort: „Die Zentralperspektive ist als Form laut Panofsky damit nicht neutral, sondern Ausdruck der neuen Weltordnung, als ein ‚Weltbild‘, das seinerseits nicht nur in theoretischer Hinsicht als Raumordnung der kopernikanisch-newtonschen Naturbeschreibung besteht, sondern auch als mythische Ordnung der Subjektivität als Religion der säkularen Kultur.“ 187 Erwin Panofsky: „Die Perspektive als symbolische Form“, in: Panofsky, Erwin/Oberer, H./Verheyen E. (Hg.): Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft, Berlin: Volker Spiess 1985 (1964). Er beschreibt die Zentralperspektive als einen projizierten Gesamtraum auf einer Bildebene und als die „Fähigkeit, mehrere Gegenstände des Raumes, in welchem sie sich befinden, so darzustellen, daß die Vorstellung des materiellen Bildträgers vollkommen durch die Vorstellung einer durchsichtigen Ebene verdrängt wird, durch die hindurch wir in einen imaginären, die gesamten Gegenstände in einem scheinbaren Hintereinander befassenden und durch die Bildränder nicht begrenzten, sondern nur ausgeschnittenen Raum hinauszublicken glauben“ (S. 99, 127). 188 Im Anschluss an Rodatz kann gesagt werden, dass das Theater ins Innere wandert. Und Aufführungen in erstmalig geschlossenen Räumen könnten – an dieser Stelle bezieht sich Rodatz auf Martin Hammitzsch – auf das Jahr 1491 datiert werden. Rodatz formuliert, dass der Ausrichtung des Theaterbaus ähnliche Funktionen zugeschrieben sind wie der Zentralperspektive: Der Raum des Renaissancetheaters „zielt auf Zeichen-Wahrnehmung und ein Lesen ab“. Rodatz, Christoph: Der Schnitt durch den Raum: Atmosphärische Wahrnehmung in und außerhalb von Theaterräumen, Bielefeld: transcript 2010, S. 201 f.
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Als eine Grenze von gerader Form und großer Dichte ist sie für den Zuschauer nicht passierbar. Und durch die Perspektive erhält der Blick des Betrachters eine Art mediale Abbildungsfunktion als ästhetischer Sinn189. Der Form (bildhafte Zwei dimensionalität) liegt der Inhalt (homogener Systemraum190) zugrunde, und beides sind mediale Konstruktionen. Die Perspektive (die eine Grenze – eben die Bildfläche als Trennscheibe zwischen Bühnengeschehen und Publikum – benötigt, um überhaupt in Anschlag gebracht werden zu können) verhilft zu einer bildhaften Raumdarstellung und ist notwendiges Medium für dieselbe. Einer durch Bewegung im Raum hervorgebrachten Raumbildung und -aneignung durch die Zuschauer steht sie jedoch entgegen, denn körperliche Fortbewegung, Handlung und ein Hineintreten ins Geschehen sind weder erwünscht noch praktisch möglich. Nicht die Perspektive als solche, sondern ihre Auswirkung und Folge sind also ein bedeutender Raumeinschnitt für die Szenografie. Die Raumstruktur dieses Theaters ermöglicht es, die Ebenen der „SpielWelt“ und der „Zuschauer-Welt“ streng voneinander zu trennen191. Dennoch ein Spannungsfeld mit den „nun neu zu schaffenden festen Plätzen für die Zuschauer im gleichen Raumgefüge“ zu erhalten, ist laut Kindermann eines der „Hauptprobleme der Bühnenarchitektur“. Denn der Zuschauer ist ein Betrachter, „dessen Augen Organe des kritisch abwägenden Mittlers: der Vernunft sind“, aber er muss sich nicht selbst durch körperliche Fortbewegung um Sukzession bemühen, sondern aus einer fixierten – und aristokratischen – Sitzhaltung heraus dem Bühnengeschehen distanziert zusehen.192 Das Geschehen ist also auf eine Fernsicht ausgelegt, durch die der Rezipient einen Überblick über den Gesamtraum erhält. Das (Bühnen-)Bild verlangt nach „der Isolierung durch Rahmen …, es tritt dadurch grundsätzlich in ein anderes Verhältnis sowohl zur Architektur als auch zum Subjekt des Betrachters; es gehört einer anderen 189 Günzel, Stephan (Hg.): Raum, a. a. O. 2010, S. 83 f. Der Bildraum wird zu einem Modell/Medium
für Raumwahrnehmung, und Raum wird zu einem Systemraum als ästhetischer Sinn. Panofsky: „Die Perspektive als symbolische Form“, in: Panofsky, E./Oberer, H./Verheyen E. (Hg.), Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft, a. a. O. 1985 (1964), S. 108 f.,141 ff. „Anthropomorphistische Einzelelemente“ werden zu einer homogenisierten und systematisierten „Raumeinheit“ verbunden. Die Antike hingegen setzte sie „tektonisch oder plastisch zum Gruppengefüge“ zusammen (S. 101): Die Homogenität der Punkte des geometrischen Raums, die selbst noch keinen eigenständigen Inhalt besitzen, „besagt nichts anderes als jene Gleichartigkeit ihrer Struktur, die in der Gemeinsamkeit ihrer logischen Aufgabe, ihrer ideelen Bestimmung und Bedeutung gegründet ist“. 191 Kindermann, Heinz: Theatergeschichte Europas, Bd. 2, Das Theater der Renaissance, Salzburg: Müller 1959, S. 74. Es kommt zu einer Wendung „vom Universalen des Mittelalters zum Persönlichen“, das nach einer „Besitzergreifung der Welt strebt“, nach Selbstbeobachtung und Geschichtsentwicklung. Die Entdeckung der Perspektive ist für diese „theatrale Weltbildgestaltung, für ihre Umsetzung ins Optische, von ausschlaggebender Bedeutung“ (S. 14 ff.). Eine Distanznahme zum „Unmittelbaren im Mittelalter“ wird durch die Perspektive ermöglicht, die einen „ästhetischen Reiz des Bildhaften“ bereithält (S. 74). 192 Ebd. 190 Erwin
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Daseinssphäre an …, [d]ie künstlerische Realität des Bildes … ist seinem Wesen nach rein objektiv“193. Auch wenn der Wahrnehmung des Rezipienten möglicherweise eine atmosphärische Dimension inhäriert, ist von einer semiotischen Ästhetik auszugehen, in der auf das Verstehen von (Bildern als) Zeichen gesetzt wird194. In der raumstrukturellen Entwicklung von der Renaissance bis zum Barock nehmen Andrea Palladio und Andrea Pozzo markante Positionen ein, die sich abschließend aus produktionsästhetischer Sicht schnell veranschaulichen lassen.
193 Frey, Dagobert: Kunstwissenschaftliche Grundfragen. Prolegomena zu einer Kunstphilosophie, Wien:
Rohrer 1946, S. 148. In der Architektur – die wir „erst voll in der lebendigen Bewegung, im Umhergehen“ erleben – sind wir Mitspieler; in den Bildkünsten – vor denen der Wunsch empfunden werden kann, in den Bildraum hineinzugehen – bleibt der Wahrnehmende eher ein Zuschauer (S. 98). 194 Vgl. Rodatz: Der Schnitt durch den Raum, a. a. O. 2010. Vgl. auch Kindermann: Der Zuschauer ist „kein im mittelalterlich-unmittelbaren Sinn mehr ‚Ergriffener‘ …, der mitverkörpert, sondern ein ‚Betrachtender‘“, ders.: Bühne und Zuschauerraum. Ihre Zueinanderordnung seit der griechischen Antike, Wien: Böhlaus Nachf., Kom.-Verlag der österreichischen Akademie der Wissenschaften 1963, S. 22. Vgl. Auch Frey: Kunstwissenschaftliche Grundfragen, a. a. O. 1946: Das Bild als Zeichen löst sich „von der dinglichen Wirklichkeit, mit der es als ein Zeichen wesenhaft verknüpft war, es wird selbständig und eigenwertig“ (S. 148). „Als Zeichen hat das mittelalterliche Bild einen grundsätzlich anderen Realitätscharakter als der Bildinhalt, den es veranschaulicht; darin liegt der entscheidende Unterscheid der Bedeutung des Bildes in der Renaissance und im Barock“, wo die Realität nicht im Gegenstand liegt, der bezeichnet ist, sondern in der Formgebung der Beziehung (S. 117).
2 Rekonstruktion
2.2.1 Sechzehntes Jahrhundert Andrea Palladio (1508–1580) entwirft das Teatro Olimpico in Vicenza, das nach seinem Tod und mit baulichen Veränderungen durch Vincenzo Scamozzi 1585 eröffnet wird. Grundlagen des Entwurfs des Teatro Olimpico sind das römische Theater und das architekturtheoretische Werk von Vitruv (1. Jh. v. Chr.)195. Der Grundriss (siehe nachfolgende Abbildung) lässt eine Konzeption erkennen, die noch keine Grenze und Trennlinie von gerader Form und großer Dichte zeigt, sondern auf ein Raum(be)streben (In-den-Raum-Greifen) zielt; die Form des hinteren Bühnenbereichs gleicht einer Hand mit fünf ausgestreckten Fingern. Der Unterschied zum eingangs gezeigten „Guckkastenprinzip“ – das für Andrea Pozzos Konzeption stehen kann – ist merklich.
Abb. 10 Teatro Olimpico, Vicenza
Palladios Theaterentwurf ist ein Vorläufer zum gewissermaßen „harten Guckkasten“, der eine harte bzw. klare Trennlinie von gerader Form und großer Dichte aufweist. Palladios Konzeption sieht dagegen noch keine klar abgegrenzte Trennung zwischen Bühne und Zuschauer vor. Ausgehend von den Untersuchungen Andreas Beyers196 lassen sich die wesentlichen Merkmale dieses Theaterbaus im Folgenden zusammenfassen. Einerseits gibt es ein reales Bühnenhaus, das nicht gemalt, sondern gebaut ist, und davor (noch nicht darin) gibt es einen 195 Vitruv,
Marcus Pollio/Fensterbusch, Curt (Hg.): Zehn Bücher über Architektur, a. a. O. 1964. Vitruv legt im fünften Buch die Anlegung öffentlicher Gebäude und Theateranlagen dar, im ersten Kapitel spricht er dem Marktplatz eine zentrale Rolle zu. Zur römischen Theaterarchitektur, die sich aus der griechischen entwickelte, wurde bereits einiges ausgeführt. Die Bühne wird 3–4 Meter aufgestockt und mittels eines Säulenunterbaus vor die Skene gesetzt, siehe Brauneck, Manfred/ Schneilin, Gérard (Hg.): Theaterlexikon, a. a. O. 1992, S. 77 ff. Die neue Rampen-Bühne (Proskenion) trennt Bühne und Publikum voneinander. Die Anlage, obwohl unter freiem Himmel, ist nicht mehr integraler Bestandteil der Landschaft, weil Skene und Zuschauerraum (Cavea) nun miteinander verbunden sind. Der Orchestra-Kreis wird halbiert, nicht mehr als zentrale Spielfläche genutzt und teils mit Zuschauersitzen bestuhlt (ebd., S. 85–90). 196 Beyer, Andreas: Andrea Palladio, Teatro Olimpico, Triumpharchitektur für eine humanistische Gesellschaft, Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch 1987. Zur Beschreibung dieses Theaters siehe auch Haß, Ulrike: Das Drama des Sehens, a. a. O. Fink 2005, S. 256–267. Siehe auch Rodatz, Christoph: Der Schnitt durch den Raum, a. a. O. 2010, S. 201–210.
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Bereich – aus einer Rechteck- und einer Kreisteilfläche197 zusammengesetzt –, der als Aktionsfläche sowohl für Darsteller (Rechteckfläche mit Seiteneingängen) als auch für Besucher (Kreisfläche) genutzt wird. Eine trennende Rampe zwischen diesen beiden Bereichen existiert nicht, nur eine einzige Treppenstufe. Abbildungen198 zeigen, dass die Kreisfläche vom Publikum begehbar ist. Andererseits liegt das Spezifikum des Entwurfs darin, dass mit dem Bereich vor dem Bühnenhaus ein städtischer Marktplatz zitiert wird, ein Schauplatz, ein sozialer Versammlungsort für Geschäfte und Spiele also199. Außerdem zeigt die Decke des Theaters über dem Tribünenbereich einen Himmel, der Theaterbau öffnet sich demnach – wenn auch nur malerisch – zu seinem Umraum hin. Die von Palladio gesetzten Raumstrukturen können also auf Gemeinschaftsbewusstsein und eine Durchdringung von Theater, Stadt und Natur hindeuten. Im Bühnenbau setzt sich die Stadt optisch fort durch die hinter den Öffnungen des Bühnenhauses liegenden Bereiche, die nicht bespielt werden, d. h. durch die fünf nach hinten laufenden Gänge und mit dem baulichen Eingriff im mittleren Gang von Scamozzi. Dieser installierte sich verjüngende Straßenfluchten von Theben (zur Theatereröffnung wurde das Stück „König Ödipus“ von Sophokles gespielt) und damit „eine perspektivisch verzerrte[] Hintergrundarchitektur, die auf alle Ewigkeit das Bühnenbild liefern sollte“200.
197 Wie
der Grundriss zeigt, ist der Orchestra-Kreis halbiert.
198 Beyer, Andreas: Andrea Palladio, a. a. O. 1987, S. 66. Auf der Kreisfläche konnte man Platz nehmen
und dort wurden auch Gäste empfangen, z. B. japanische Gesandte. spricht dem Marktplatz eine zentrale Rolle zu: Vitruv/Fensterbusch, Curt (Hg.): Zehn Bücher über Architektur, a. a. O. 1964, S. 207. 200 Scamozzis Innovation ist insofern zukunftsträchtig, als sich daraus die klassische Guckkastenbühne entwickelt: Die Bühnenöffnung wird verbreitert werden und zum zentralen Bühnenportal vergrößert, hinter dem in Zukunft Darsteller auftreten werden, zwischen bemalten Leinwänden auf Gleitschienen. Stephan, Trüby: „Die gesprengte Skene. Eine kurze Geschichte der Szenografie“, in: Archithese – Szenografie. Internationale Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur, 4.2010, Sulgen: Niggli AG, 2010, S. 38.
199 Vitruv
2 Rekonstruktion
2.2.2 Siebzehntes Jahrhundert Andrea Pozzo (1642–1709) löst perspektivische Hintergrundarchitekturen zu Bildprojektionen in Gestalt von Architekturprospekten auf: Räume werden zu Flächen, illusionistischen zweidimensionalen Darstellungen, gemalten Scheinarchitekturen auf (schräg) gestaffelten Schiebekulissen. Pozzos Kulissenbühnen, siehe nachfolgende Abbildung201, zerschneiden die Beziehung zwischen Schauraum und Spielraum, trennen Zuschauer und Bühnengeschehen voneinander und haben nicht nur zum Ziel, durch einzelne erkennbare Prospekte einen bildlichen Gesamteindruck zu vermitteln, sondern Pozzo will die gestaffelten Schiebekulissen zu einer homogenen und ununterscheidbaren Einheit verbinden, sodass beim Rezipienten der Eindruck entsteht, es handele sich um eine Ebene202, also nur ein einziges Bild.
Abb. 11 Konstruktionszeichnung, Andrea Pozzo
Die Tektonik der Architektur wird eingeebnet und durch Kadrierung203 in einen Bildraum zu einer optischen Illusion. Wie aber löst er die für schauspie201 ©
SLUB Dresden, Deutsche Fotothek, Neg.-Nr. FD 124, Datensatz-Nr.: obj 30124544, Foto: Seifert, ? (Vorname unbekannt). Urheber: Pozzo, Andrea, Abbildung (Tafel 42) aus ders.: „Perspectivae Pictorum atque Architectorum“, Datierung: 1693. 202 Vgl. Kindermann, Heinz: Theatergeschichte Europas, Bd. 3, Das Theater der Barockzeit, Salzburg: Müller 1967, S. 343. Vgl. auch Haß, Ulrike: Das Drama des Sehens, a. a. O. Fink 2005, S. 366–378. 203 Pozzos Schnitt durch den Raum, den er als „quadro“ bezeichnet, ist ein Bildfeld bzw. eine Projektionsfläche, die – wie die „vierte“ Wand im Theater oder beim Filmbild als „Kader“ bezeichnet – als ein Quadrat oder Rechteck durch vier Linien begrenzt, d. h. kadriert ist. Als eine Art „Trennscheibe“ zwischen Bühne und Zuschauer ermittelt sie sich aus Höhe, Breite, Betrachtungs- bzw. Konstruktionspunkt und dem Abstand zwischen Konstruktionspunkt und Fläche. Vgl. mein Projekt „Perspective Case“ (1996), in dem (in Echtzeit durch Motion-Tracking und mittels der Programmiersprache C++/OpenGL) Projektionsflächen für interaktiv steuerbare perspektivische Verzerrungen berechnet wurden.
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lerische Auftritte notwendigen Zwischenräume der Kulissen optisch auf? Diese Frage (die zugleich verdeutlicht, dass Bühnenbild und Regie/Personenführung einander bedingen) wird zu einem Aspekt führen, der überraschenderweise – hier, auf dem Höhepunkt von Enträumlichung durch Bildhaftigkeit und der Trennung zwischen Bühne und Zuschauer – für einen bestimmten Bereich der Szenografie (der später erläutert wird) von raumstruktureller Bedeutung ist. Vermutlich erreicht Pozzo die Bildillusion durch den Einsatz optischer Medien204, der aus produktionsästhetischer Sicht und eigener künstlerischer Empirie insofern effizient ist, als damit komplizierte Berechnungen teilweise umgangen und schnell überprüfbare Ergebnissen bezüglich perspektivischer Bildverzerrungen erzielt werden können. Die naheliegende Vorgehensweise wäre, dass Pozzo unter anderem mit einer Camera obscura und/oder einer Laterna magica205 arbeitet, um mit ersterer zeichnerische Darstellungen anzufertigen und anschließend diese von einem bestimmten Betrachtungspunkt (BP) aus auf ein Bühnenbild-Modell mittels Licht zu projizieren. Die Lichtprojektion würde sodann über ein Netzgitter wieder zu verzerrten Frontalansichten (Kulissen, die vom BP, d. h. von der Fürstenloge aus betrachtet entzerrt erscheinen) abgezeichnet und in den Maßstab 1:1 übertragen werden. Mit was setzt sich Pozzo hier auseinander und wo findet sich nun der, wie eingangs erwähnt, raumstrukturell relevante Aspekt zur Szenografie? Was Pozzo entwickelt, ist das, was in der Computergrafik mit „texture mapping onto non-planar surfaces“206 vergleichbar ist und demnach über eine planperspektivische Bildprojektion hinausgeht. Daher ist seine „Perspectiva pictorum et
204 Zu Medien vgl. Kittler, Friedrich: Optische Medien: Berliner Vorlesung 1999, Berlin: Merve 2002,
S. 48–111.
205 Anzunehmen ist, dass bereits Filippo Brunelleschi und Leon Battista Alberti eine Camera obscura
benutzt haben (siehe auch Kittler: Optische Medien, a. a. O. 2002, S. 67, 69 f.). Pozzo hat deren Perspektiverkenntnisse selbstverständlich gekannt. Folgende Hintergründe lassen auf eine mögliche Verbindung von Pozzo zur Laterna magica schließen. (Kittler selbst stellt diese Verbindung nicht auf, aber er gibt einen Hinweis auf sakrale Wirkungsästhetik und das, was „die Gegenreformation dem neuen Protestantenmedium Buchdruck entgegenzusetzen hatte: ein Illusionstheater“ (S. 96 f.). Pozzo war ein Meister dieses Theaters). Pozzo war seit den 1680er Jahren in Rom tätig und mit der anamorphotischen Freskengestaltung für die Kirche Sant’Ignazio di Loyola in Campo Marzio betraut. Er gehörte dem Jesuiten-Orden an und kannte selbstverständlich auch das Werk von Athanasius Kircher (ebenfalls Jesuit und seit den 1630er Jahren im Rom tätig), der in seinem Werk „Ars Magna Lucis et Umbrae“ (1646) Projektionsgrundsätze und (1671) Abbildungen von Projektionen veröffentlichte. Dass Pozzo mit Lichtprojektionen gearbeitet hat, ist daher naheliegend. Zur Camera obscura und Laterna magica als mediale Apparate siehe Nekes, Werner/Dewitz, Bodo (Hg.): Ich sehe was, was du nicht siehst! Sehmaschinen und Bilderwelten; die Sammlung Werner Nekes, Göttingen: Steidl 2002, S. 48–63, 134–146. 206 Vgl. mein Projekt „Perspective Case“ (1996).
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architectorum“207 – ein mächtiges Gestaltungstool208 – nicht nur für Maler konzipiert. Im Gegensatz zu Traktaten, die sich auf Ebenen-Projektionen beziehen, ist Pozzos „Perspectiv“ für Maler und eben auch für Baumeister konzipiert: Der Fokus liegt auf der Anwendung der Perspektive in der und durch die Architektur. Pozzos Ziel für die Bühnenbildkulissen ist es, Raum (3-D) in die Ebene (Bild/2D) zu bringen, und seine Perspektivkenntnisse verhelfen ihm dazu. Raum zu verflachen, ist zwar nicht Ziel der Szenografie, dennoch ist sein Verfahren, das er in seiner Maler-und-Baumeister-Perspektive darlegt, für die Szenografie und die vorliegende Arbeit relevant. Denn die Möglichkeit, Räume bildhaft einzuebnen, macht es umgekehrt auch möglich, Bildprojektionen zu verräumlichen und sie aus einer cineastischen Rezeptionsästhetik209 herauszuholen. Nicht in Bezug auf den Raum – der ja durch die Perspektive zu einer Ebene verflacht –, sondern für den Einsatz von Bewegtbildprojektionen (Film, Video etc.) im Raum innerhalb eines begehbaren szenografischen Settings, für diesen bestimmten Bereich der Szenografie also, ist Pozzos „quadro“ fruchtbar. Bilder und Projektionen zu verräumlichen, d. h. Licht nicht (wie mittels eines Kirchenfensters) in ein Bild zu setzen oder auf ebene Leinwände zu projizieren, sondern als Stimmung oder Bildmotiv auf nichtplanaren Flächen (auch Objektoberflächen) einzusetzen, ist ein wesentliches Ziel der mit Medien arbeitenden Szenografie210. Nicht Pozzos Anwendung der perspektivischen Methode im Bühnenraum ist aus produktionsästhetisch szenografischer Sicht weiterführend, sondern die Anwendung im begehbaren Kirchenraum, denn hier entfaltet sich die Ästhetik der räumlichen, szenografischen Inszenierungsmittel in voller Wirkkraft211. Das Flächenhafte wird ins Architektonische dadurch zurückgeholt, dass mit nichtebenen Projektionen, d. h. mit (zweifach) gekrümmten Flächen (z. B. Kirchenkuppeln) umgegangen und die Perspektive zu einer Handlungsanweisung wird, die sich dem Rezipienten nicht durch eine passive Sitzhaltung, sondern 207 Zwei Bände aus den Jahren 1693 und 1700. Für eine Übersetzung mit zahlreichen Abbildungen
siehe Pozzo, Andrea: Der Mahler und Baumeister Perspectiv: worinnen gezeiget wird, wie man auf das allergeschwindeste und leichteste alles, was zur Architectur und Baukunst gehöret, ins Perspectiv bringen solle, Augsburg: Bürglen 1800. 208 „Die ganze Bewandtnis des neues Trompe-l’oeil wurde spätestens dann offenbar, als Pozzo ausgerechnet die Kirche … Sant Ignazio zu Rom, um ein Deckengemälde bereicherte, das Jacob Burckhard als ‚Tummelplatz aller Gewissenlosigkeit‘ zu feiern oder zu geißeln nicht umhin konnte.“ Kittler, Friedrich: Optische Medien, a. a. O. 2002, S. 105. 209 Vgl. Ausführungen von K.-U. Hemken zum „kinofizierten Theater“ von Meyerhold. Siehe auch Kapitel 4 der vorliegenden Arbeit, darin das Projekt „Ex Machina“ von F. Plessi/KHM Köln und F. Flamand. Im szenografischen Theater geht es nicht darum, Videoleinwände in eine Bühne zu hängen (Kino im Theater), sondern es geht um den Einsatz von Projektionen als architektonische Elemente. 210 Vgl. auch Meyerholds Ausführungen und seine Haltung zu Filmtechniken auf der Bühne in „Das bedingte Theater“ (1906) und „Rekonstruktion des Theaters“ (1930). 211 Vgl. die bereits dargelegte Beschreibung von Kittler (Kittler, Friedrich: Optische Medien, a. a. O. 2002, S. 105) über die gewaltige Wirkung von Pozzos Deckengemälden.
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nur durch ein szenografisches Moment erschließt: die Bewegung im und durch den Raum. Durch die eigene körperliche Fortbewegung bildet der Rezipient Räumlichkeit und eignet sich Räumlichkeit an. Die Immersivität und die imaginierte Räumlichkeit der Darstellungen212 stellen für den Rezipienten keinen richtigen Standpunkt (von dem aus sich die Darstellung unverzerrt und als ein Bildsinn entschlüsseln lässt) bereit, sondern verlangen nach einem eigeninitiativen Suchen und Finden desselben durch ihn: ein Agieren. Die Rückbindung der Bilderscheinung an den aktiven Körper, die Aufhebung der Trennlinie zwischen Realität und Illusion, Publikum und Bühnen- bzw. Bildgeschehen sowie ein Agieren des Rezipienten sind aber nicht das, wonach die Guckkastenbühne der Neuzeit strebt. Dementsprechend ist sie raumstrukturell auch nicht auf ein Agieren hin konzipiert. Dies spiegelt sich sowohl in ihrer baulichen Form (die dem Inhalt dessen, was darin stattfinden soll, entspricht: Es findet ein Vorspiel, kein Mitspiel bzw. Spielen mit dem Raum statt.213) als auch in ihrer Funktion, ihrem Sinn also. Im Folgenden wird gezeigt, inwiefern heutige Raum- und Bildfeldgestaltungen (Entwicklungen seit den 1960er Jahren) Raummodelle und Bühnenformen darstellen, die die Trennlinie zwischen (Bühnen-)Geschehen und Besucher aufheben oder durchlässig machen und mithin installative Ausdrucksformen sind.
212 Siehe auch die anamorphotische Kuppelgestaltung in der Wiener Jesuitenkirche, die in Kapitel 4
besprochen wird. Thema Vorspiel versus Mitspiel vgl. Werner Ruhnaus bauliche Bühnenkonzeptionen in Kapitel 5.
213 Zum
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2.3 Die Perforation Nach dem „Schnitt“, der Zuschauer und Bühnengeschehen voneinander trennt, geht es im Folgenden wieder um Raummodelle und Bühnenformen, die Raumbildung und -aneignung nicht erschweren oder verhindern, sondern begünstigen und ermöglichen. Teilweise an Ideen der Avantgarde der 1920er Jahre anknüpfend, wird in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Guckkastenprinzip als Status quo214 in Einzelfällen überwunden und die Trennlinie zwischen Bühnen- und Zuschauerraum perforiert oder aufgehoben. Diese Einzelfälle stehen im Fokus der folgenden Ausführungen. Mit der Performance seit den 1960er und der oftmals als „Medienkunst“ bezeichneten Kunst seit den 1980er und 1990er Jahren kommen mithin installative Formen zum Ausdruck – (mediale) Installationen im Theaterkontext bzw. Szenografien –, die eine Bewegung im und durch den Raum voraussetzen und zugleich den Ausgangspunkt für Kapitel 3 bilden. Im 20. Jahrhundert – das geprägt ist von einem relativen und relationalen topologischen Raumdenken215 – werden in der deutschen Nachkriegsarchitektur durch Architekten wie Werner Ruhnau216 oder Jürgen Sawade217 vereinzelt Raumkonzepte realisiert, die variable Spielraum-Möglichkeiten zulassen. Die Berliner Schaubühne am Lehniner Platz ermöglicht acht Raumvarianten und „verfügt über drei Spielstätten, die unabhängig voneinander, aber auch gemeinsam genutzt werden können. Regisseuren und Ausstattern ist es damit möglich, komplexe, den Zuschauer einbeziehende Bühnenräume jenseits des klassisch-starren ‚Guckkasten‘-Prinzips zu entwickeln“218. Durch diese einzigartige Konzeption, die einer performativen Ästhetik und szenografischen Gestaltungspraxis Raum bietet219, konnten einige innovative Projekte realisiert werden. 214 Vgl. Fischer-Lichte: Seit den 1950er Jahren „avancierte das Guckkastentheater mit Rampe wieder
zum dominierenden Modell … Neubauten als variable Räume wurden nicht geschaffen.“ FischerLichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004, S. 191. 215 Erkenntnisse der Soziologie (Jakob von Uexküll) und der Physik (Albert Einstein) führen Stefan Günzel zufolge zu einem „relativen Raumdenken[]“, auch wenn „Räumlichkeit nach wie vor durch die naturwissenschaftliche Behältervorstellung der Neuzeit und ihre formale Anverwandlung beim Kant der Kritik der reinen Vernunft dominiert wird“. Günzel, Stephan/Dünne, Jörg (Hg.): Raumtheorie, a. a. O. 2006, S. 40 f. Zum neuen Raumverständnis siehe Kapitel 3.2 der vorliegenden Arbeit. Durch die Theorien von Einstein (1905) können Raum und Zeit als ein Raum-Zeit-Kontinuum gedacht werden. Und mit der mathematischen Topologie, die bereits Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzte, kann Raum als Lagebeziehungen und Gebilde möglicher Verhältnisse, also relational beschrieben werden. Die heutigen Kultur- und Sozialwissenschaften untersuchen Raum als ein Resultat solcher Verhältnisse sozialer und kultureller Beziehungen: Die Topologie wird zu einem kulturwissenschaftlichen Raumkonzept. 216 Zu seinem Bau des Theaters Gelsenkirchen (1957–1959) sagt er: „Eine offene Gesellschaft fordert offene Theaterspielformen. Offene Theaterspielformen fordern eine offene Theaterarchitektur.“ Siehe auch Kapitel 5 der vorliegenden Arbeit. 217 Umbau des ehemaligen Universum-Lichtspielhauses am Lehniner Platz in Berlin (entworfen von Erich Mendelsohn) zur neuen Spielstätte der Schaubühne (seit 1981) durch Jürgen Sawade. 218 Schaubühne (Hg.): Technical Rider, Berlin 2009, S. 6. 219 Vgl. Erika Fischer-Lichte, a. a. O. 2004, S. 191: Der Neu- bzw. Umbau der Schaubühne (der für Fischer-Lichte der erste bekannte Fall ist) kann „als ein Ergebnis der performativen Wende der sechziger Jahre gelten“.
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2.3.1 Einundzwanzigstes Jahrhundert Zu diesen Projekten zählt beispielsweise „insideout – Ein globales Bühnendorf für Publikum und Tanzensemble“220. In dieser Arbeit von Sasha Waltz und Thomas Schenk können sich die „ZuschauerInnen durch eine uneingeschränkte räumliche Bewegungsfreiheit wie in einer Ausstellung [das Stück] selbst komponieren“221. Die Zerteilung zwischen (Bühnen-)Geschehen und Besuchern ist demnach aufgehoben, eine Trennlinie besteht nicht und einer Bewegung im und durch den Raum wird stattgegeben: Raumbildung und -aneignung werden ermöglicht. Eine „aktive Beteiligung“ der Rezipienten ist angestrebt, sie sollen „Gestaltungsmöglichkeiten ihres eigenen Verhalten“ erhalten222. Eine Fernsicht auf das Geschehen oder einen Überblick gibt es nicht, der Rezipient befindet sich nicht hinter einer ihm vorgelagerten Bühne, sondern inmitten der Abläufe, die sich simultan ereignen. Durch die Gleichzeitigkeit des vorgeführten Stoffes ist es „[u]nmöglich … alle Szenen mitzubekommen“223. Die Konzeption sieht dabei ein „Bühnenhaus“ (eine zweistöckige Anlage mit darin liegenden Räumen/Spielorten) und einen zentralen Platz vor (eine Art „Marktplatz“), auf dem in der Schlussszene alle Darsteller noch einmal zusammenkommen und sich unter die Besucher mischen.224 Der Rückgriff auf antike, mittelalterliche Bühnenformen und avantgardistische Raumkonzepte ist offensichtlich, insbesondere auch der Bezug zum Medium Ausstellung, in dem erst durch die verschiedenen Blickwinkel und Raumpositionen der Besucher sich das Spiel zu einer Wechselfolge von Szenen addiert. „Das Ergebnis: eine Rauminstallation“225, sie benennt die Schnittstelle zur bildenden Kunst und die Verortung in derselben. Weg vom Guckkasten und von der „Konvention, … Innenräume aufzuschneiden, so dass ihnen die Decke und eine Wand fehlen“226, geht es um installative Ausdrucksformen und „Performativität“227. Solche hybriden Formen und Darbietungen zwischen darstellender und bildender Kunst, die als theatrale Ins220 Premiere
2003 an der Berliner Schaubühne. beschreibt es der Ausstatter des Stücks in einem Interview („Der Bühnenbildner Thomas Schenk berichtet über das Projekt von Sasha Waltz“, in: Bühnentechnische Rundschau. Zeitschrift für Veranstaltungstechnik, Jg. 98, Nr. 1/2004, Berlin: Friedrich-Berlin-Verlag, 2004, S. 44). 222 Ebd., S. 45 f. 223 Ebd. 224 Ebd. 225 Ebd., S. 47. 226 Goffman, Erving: Rahmen-Analyse, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1980, S. 158 f. 227 Zur Definition des Begriffs siehe Lemma „Performativität/performativ“, in: Fischer-Lichte, E./Kolesch, D.: Metzler Lexikon Theatertheorie, a. a. O. 2005, S. 234–242. Die Performativität besteht – im Gegensatz zur Semiotizität – darin, die Aufmerksamkeit des Wahrnehmenden nicht auf die Zeichenhaftigkeit von Personen und Objekten zu lenken, „sondern auf ihre je spezifische Phänomenologie“. Solche Art Kunstwerke sind Ereignisse; zum Begriff „Ereignis“ (performative Darbietung) siehe ebd., S. 92 ff. 221 So
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tallationen228 oder als Szenografien bezeichnet werden können, stehen in enger Verbindung zur Installationskunst und Performance229. Der gemeinsame Hintergrund dieser drei sich durchdringenden Bereiche ist die Auseinandersetzung mit der Beziehung zwischen Rezipient, Ereignis und Umgebung; sie zielt – ähnlich wie beim Environmental Theatre230 – auf die Hervorbringung von Räumlichkeit, woran der Besucher aktiv beteiligt ist, und auf die Gestaltung von Situationen, Erfahrungen und Kontexten.231 Die Verschränkung zwischen Kunst und Theater, die Ausweitung in den Umgebungsraum und die Partizipation des Betrachters verdichten sich in den 1990er Jahren zu „Theaterinstallationen“232. Das Gefüge zwischen Rezipient, Ereignis und Umgebung zielt darüber hinaus auf Fragen, die sich auf die Konstitution von Wirklichkeit233 beziehen. Ästhetische Ansätze hierzu – mit Rückgriff auf Erkenntnisse der Naturwissenschaft – liefern im selben Jahrzehnt Überlegungen zu einer „generativen Szenographie“234, die insofern für die vorliegende Arbeit relevant ist, als damit auf die Wechselwirkung zwischen Raumverständnis, ästhetischem Denken und der Hervorbringung künstlerischer Artefakte verwiesen wird. Wie sich im Anschluss an Herrlinger-Mebus – der in Arbeiten des Künstlers Richard Fore228 Vgl. Gronau, Barbara: Theaterinstallationen: Performative Räume bei Beuys, Boltanski und Kabakov,
München: Wilhelm Fink 2010. der Installationskunst finden sich schon in der Avantgarde, siehe z. B. El Lissitzkys „Prounen-Raum“ (1923) oder die „Ready mades“ von Marcel Duchamp (1887–1968); heutige Rauminszenierungen siehe z. B. die Arbeiten von Gregor Schneider. Stationen der Performance seit den 1960er Jahren in Richtung darstellende Kunst sind z. B. der Wiener Aktionismus oder Ende der 1990er Jahre die Aktionen von Christoph Schlingensief; in Richtung bildende Kunst finden sich Arbeiten z. B. von Bruce Nauman. 230 Schechner, Richard: Environmental Theatre: An Expanded New Edition Including „Six Axioms for Environmental Theater“, N.Y.: Applause 1994. 231 Vgl. Christopher Balmes Beschreibung dieser Form zwischen Kunst, Theater und Performance: In einer theatralen Interaktion außerhalb bestehender architektonischer Strukturen und mit voller Bewegungsfreiheit können Wahrnehmende Bühne(n) oder Objekte umgeben und umgekehrt. Balme, Christopher: Einführung in die Theaterwissenschaft, Berlin: E. Schmidt 2003, S. 137. 232 Gronau, Barbara: Theaterinstallationen, a. a. O. 2010. Zwischen Performativität, Ortsspezifik und Intermedialität untersucht Gronau die Gemeinsamkeit von Plastik und Aktion, die Installation als Bühne und macht verschiedene Theaterinstallationstypen als Bewegungsräume aus: das Abschreiten, Flanieren und sich Verirren. 233 Zum relationalen und topologischen Raumverständnis siehe Kapitel 3.2 der vorliegenden Arbeit. Spätestens seit der Quantenphysik entstehen mit Wahrscheinlichkeiten und Eigenschaften (Elemente der Mikrowelt lassen sich als Welle oder Teilchen beschreiben, sind es aber weder noch), mit Relationen und gegenseitigen Beziehungen, unvorhersagbarem Aufeinandertreffen, Unbeobachtbarkeit, objektiven Zufällen etc. Modelle von Wirklichkeitsmöglichkeiten. Vgl. Anton Zeilinger: „Wirklichkeit und Information“, in: Maar, Christa/Burda, Hubert (Hg.): Iconic Turn. Die neue Macht der Bilder, Köln: DuMont 2004, S. 178–184. 234 Volker Herrlinger-Mebus: „Mikrophysik und Theaterwissenschaft. Können mikrophysikalische Modelle einen Beitrag zur Beschreibung moderner Szenographie leisten?“, in: Fischer-Lichte, Erika (u. a. Hg.): Arbeitsfelder der Theaterwissenschaft, Tübingen: Narr 1994, S. 211–221. Er veranschaulicht, wie Mikrophysik und Chaosforschung unser Denken verändert und auf das Theater eingewirkt haben, um dort „neue Perzepte und Affekte zu produzieren“, die er unter der Bezeichnung „generative Szenographie“ zusammenfasst. 229 Wurzeln
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man wie seiner „Particle Theory“ (1973) mikrophysikalische Modelle verhandelt sieht – sagen lässt, können Realitätsauffassungen als Möglichkeitsmodelle zum Ausdruck gebracht und szenografisch dadurch erzeugt werden, dass der Raum selbst zum Thema der performativen Darbietung gemacht und in ihr zugleich hervorgebracht wird. Darbietung und Produktion von Räumlichkeit fallen in eins und verstehen sich als offener Prozess. Richard Foremans „Ontological-Hysteric Theater“ bringt nicht nur rezeptions- und produktionsästhetische Prozesse zum Ereignis, sondern thematisiert Raum als Aktionszone aller Beteiligten.235 Solche Arten von Szenografien verhandeln Raum als Kraftfeld und räumliche Struktur, mithin als Topologie, sie verstehen sich als ästhetische Erfahrungen. Und das Ergebnis kann als eine theatrale Installation des ästhetischen Affekts bezeichnet werden. Der Besucher partizipiert nicht nur, sondern wird affiziert236. Künstlerische Projekte, die im Bereich zwischen Installationskunst, Theater und Performance siedeln – und deren Untersuchungen im Diskurs zu Begriffen geführt haben237 –, konstituieren keine klare Trennlinie zwischen (Bühnen-) Geschehen und Besucher, sondern finden neue „andere Räume“238 und spielen in umgenutzten, angeeigneten Räumen239. Oder sie perforieren bestehende Theatergebäude (deren Fenster, Türen, Gänge als Außenöffnungen und Durchzug genutzt werden) und die Trennlinie zwischen Spiel- und Schauraum. Durch die Perforation dieser Trennlinie wird die Guckkastenbühne eine andere Bühne: eine szenografische und begehbare. Zu letzteren Projekten gehört die Arbeit „Ghost Machine“ von Cardiff/Miller (gespielt im Hebbel-Theater Berlin), die zugleich den Ausgangspunkt für das folgende Kapitel liefert und in Kapitel 4 ausführlich besprochen wird. 235 Ebd.
236 Zum affektiven Betroffensein und zur Phänomenologie siehe Kapitel 3.1 der vorliegenden Arbeit.
Vgl. auch Ott, Michaela: Affizierung: zu einer ästhetisch-epistemischen Figur, München: Edition Text + Kritik, Boorberg 2010. 237 Siehe Rebentisch, Juliane: Ästhetik der Installation, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008. Sie will ihre Arbeit von der philosophischen Ästhetik her verstanden wissen und konturiert die Ästhetik der Installation durch drei Begriffe: Theatralität, Intermedialität und Ortsspezifik. Siehe auch Krämer, Sybille (Hg.): Performativität und Medialität, München: Fink 2004. 238 Vgl. Michel Foucault: „Von anderen Räumen“, in Günzel, Stephan/Dünne, Jörg (Hg.): Raumtheorie, a. a. O. 2006, S. 317–327. 239 Haß, U./Hiß, G./Kirsch, S./Stapelfeldt, K. (Hg.): SchauplatzRuhr 2012. Andere Räume. Jahrbuch zum Theater im Ruhrgebiet, Berlin: Theater der Zeit 2012. Es geht, so Haß und Kirsch im Vorwort, um „andere Räume“, wie sie Michel Foucault beschreibt, also um „Räume, die sich anders als die bestehenden darstellen und inmitten der vorgefundenen Räume Öffnungen, Übergänge und Transformationen erlauben“. Claudia Bosse („theatercombinat“ Wien) beschreibt unter dem Titel „ort/raum – eine kleine aneignungschronologie“ ihre Arbeitsweise, in der der Rezipient die Wichtigkeit von sich ihm darbietenden Dingen und Relationen selbst bestimmen kann. Der relationale Raum ist dabei die Grundlage „sozial performativer [P]raxis“ (S. 9).
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3. Okulation – Szenogreffieren Die Untersuchungen des wissenschaftlichen Diskurses zu den Phänomenen Atmosphäre240 und Raum erfolgen zumeist aus rezeptionsästhetischer Sicht und beschäftigen die gegenwärtige Ästhetik241 und Raumauffassung242 vor allem im Theoretischen. Im Fokus stehen theoretische Auseinandersetzungen mit Raum und seiner Wirkung im Rahmen allgemeiner Ästhetikdiskurse. Empirie, besonders künstlerische, wenn man so will Vor-Ort-Erhebungen, die szenografische Installationen direkt an ihrer Wirkung unter Berücksichtigung raumstruktureller Bedingungen und szenografischer Denk- und Arbeitsweisen bestimmen, können jedoch nur bedingt festgestellt werden. In der künstlerisch szenografischen Raumgestaltung formieren sich allerdings seit geraumer Zeit innovative ästhetische Lösungen, die mit dem herkömmlichen wissenschaftlichen Vokabular nur äußerst bedingt zu fassen sind. Im Zusammenwirken von handwerklichen wie technoiden Ausdrucksmitteln, in der Verschränkung verschiedener Gattungen (Bild, Bühne, Installation, Performanz usw.), der konzeptuellen Einbindung des Rezipienten (performative Akte) und nicht zuletzt durch die programmatisch verankerte Prozessualität und Institutionenkritik entstehen neue künstlerische Hervorbringungen mit hoher ästhetischer wie inhaltlicher Komplexität. Um diese Sinngehalte und ästhetischen Innovationsgrade inhaltlich und begrifflich fassen zu können, wird in der vorliegenden Arbeit ein neuer Forschungsansatz herausgearbeitet. Dieser beruht auf der Reflexion der künstlerischen Praxis und auf der Grundlage von Empirie und Praktiken der Aufführung von szenografischen Raumgestaltungen. Im Mittelpunkt stehen dabei die praxisgenerierten Fragen: Wie bezeichnet man z. B. die Effekte der Hervorbringung atmosphärisch bestimmter Wahrnehmungen in einer Szenografie? Und welche Raumvorstellung liegt ihr zugrunde: Wird Raum als eine Art Behälter/etwas Absolutes verstanden, als etwas Relatives, Relationales oder Topisches243? 240 Siehe z. B. die Tagung „Atmosphären erleben. Dimensionen eines diffusen Phänomens“ im Rahmen
des DFG-Projektes „Epistemologie der Multimedialität“ in Kooperation mit dem ZKM Karlsruhe vom 3. bis 5. Juni 2011. Die derzeit wichtigsten Protagonisten der Atmosphären-Forschung traten dabei in einen Dialog mit jüngeren Wissenschaftlern, siehe http://tagung.medienepistemologie. de/1-0-Veranstaltung.html (letzter Zugriff: 01.08.2011). 241 Ästhetik als Kunsttheorie im Sinne einer Medientheorie, die einerseits Wahrnehmungsphänomene und andererseits deren Konfiguration/mediale Dispositionen untersucht. 242 Zu raumtheoretischen Untersuchungen siehe Dünne, Jörg: Forschungsüberblick „Raumtheorie“, www. raumtheorie.lmu.de/Forschungsbericht4.pdf (letzter Zugriff: 18.09.2011). Siehe auch Döring, J./ Thielmann, T.: Spatial Turn: das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld: transcript 2008. 243 Vgl. Latka, T.: Topisches Sozialsystem: die Einführung der japanischen Lehre vom Ort in die Systemtheorie und deren Konsequenzen für eine Theorie sozialer Systeme, Heidelberg: Carl-Auer-Systeme 2003.
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Um diese Sinngehalte zu erschließen, kommen deshalb im Folgenden zwei neue Arbeitsbegriffe zur Anwendung. Der Arbeitsbegriff „Szenosphäre“ verbindet die Wörter Szenografie + Atmosphäre miteinander und dient dazu, die Ästhetik der Szenografie zu untersuchen und sprachlich zu fassen. Der Arbeitsbegriff „Szenotopie“ setzt sich aus Szenografie + (Hetero-)Topologie zusammen und dient zur Untersuchung der Raumvorstellung, die der Szenografie zugrunde liegt. Durch diese Vorgehensweise erklärt sich auch die Überschrift dieses Kapitels „Okulation – Szenogreffieren“. Denn der französische Ausdruck „greffe“ bedeutet einerseits Aufpfropfung und bezeichnet die botanische Pflanzenveredelung mittels eines Schnitts, der zwei Äste miteinander verbindet. Andererseits steht der Ausdruck für eine Schreibkanzlei: Das Schreiben (franz. „greffer“) als veredelnde Schnittstelle verbindet zwei Zeichenkörper miteinander und stellt neue Kontexte her. Bereits Derrida bestand auf dieser „Möglichkeit des Herausnehmens und des zitathaften Aufpfropfens [greffe citationelle], die zur Struktur jedes gesprochenen oder geschriebenen Zeichens gehört“.244 Inhaltlich näher bestimmt werden die Arbeitsbegriffe „Szenosphäre“ und „Szenotopie“ in den jeweiligen Unterkapiteln. Es sind Werkzeuge, die aus einer umfänglichen Analyse szenografisch künstlerischer Werke entstanden sind und im Kontext benachbarter Forschungsansätze etwa der Kulturwissenschaften entwickelt wurden. Sie resultieren zudem aus einem aus der künstlerischen Praxis heraus entwickelten Forschungsansatz, der neue Erkenntnisse in den wissenschaftlichen Diskurs einbringen kann. Die Kernaufgabe der Szenografie besteht darin, Räumen ein bestimmtes atmosphärisches Potenzial zu verleihen, d. h., es werden durch ästhetische (künstlerische, gestalterische, architektonische) Ausdrucksmittel rezeptionsorientiert bestimmte Gefühlsqualitäten hervorgerufen. Wie Gertrud Lehnert in diesem Kontext festhält, gehören Raum und Gefühl nicht nur genuin zusammen, sondern konstituieren sogar Lebensformen (Kulturen).245 Ludwig Fromm formuliert eine mögliche Wirkungsebene des szenografischen Prinzips mit einem Satz: „Szenographie ist Atmosphärenkonstruktion.“246 244 Derrida, Jacques: „Signatur Ereignis Kontext“, in: Derrida, J./Engelmann, P.: Limited Inc, Wien:
Passagen-Verlag 2001, S. 15–45, hier S. 32. Er schreibt: „Jedes Zeichen, sprachlich oder nicht, … kann zitiert … werden; von dort aus kann es mit jedem gegebenen Kontext brechen und auf absolut nicht sattigbare Weise unendlich viele neue Kontexte zeugen.“ Vgl. auch Wirth, Uwe: „Zitieren Pfropfen Exzerpieren“, in: Roussel, Martin (Hg.): Kreativität des Findens – Figurationen des Zitats, Paderborn: Fink Wilhelm 2011, S. 79–98. 245 Lehnert, Gertrud (Hg.): Raum und Gefühl: der Spatial Turn und die neue Emotionsforschung, Bielefeld: transcript 2011. Mit „Gefühl“ beziehe mich im Folgenden immer auf den Begriff des Gefühls im Sinne Lehnerts. Ihr zufolge sind Inszenierungsformen das, was wir kulturell als Gefühle verstehen. 246 Fromm, Ludwig: Die Kunst der Verräumlichung, Kiel: Muthesius Kunsthochschule 2009 (Bd. 7 der Reihe „Gestalt und Diskurs“), S. 148 f.
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Folgt man Merleau-Ponty, so spiegelt Raum eine bestimmte Wahrnehmung der „Welt“247 und ihrer Formen wider. Auch aus produktionsästhetischer Sicht ist es jene Wahrnehmung, welche Raum nicht als gegeben voraussetzt, sondern als Hervorbringung versteht. Um Raum durch Bewegung, Wahrnehmung und Handlung/Tun hervorbringen zu können, sollte die „Bühne“248 in der szenografischen Praxis als ein offenes, vom Besucher begehbares Gelände konzipiert sein, das mannigfaltige Prozesse zulässt; es mag in seiner Form an eine Art Parcours erinnern, wie man ihn von Ausstellungen kennt. Solcherlei Raumverständnis wird besonders in Zeiten elektronischer Technologie, wie sie etwa in Kunstausstellungen oder medialen Installationen zum Tragen kommen, entsprochen: Durch die Verwendung von zeitbasierten Medien in der (elektronischen249) Szenografie ergeben sich filmisch-virtuelle Bildräume, die ineinander verschachtelt sind, sich wiederum mit dem realen Raum/Raumbild des szenografischen Settings verschachteln und dynamische Prozesse eingehen. Die Relation zwischen Besucher und Dargestelltem konstituiert sich einerseits durch die real-physische Bewegung des Besuchers im szenografischen Raum und andererseits durch die Strategien des „point of view“ der filmisch-virtuellen Bildräume. In diesen Bildräumen sind es nicht die Bewegungen des Besuchers im Realraum, sondern es sind die Montage und die Kameraeinstellungen, die den Besucher optisch fortbewegen: Vorwärtsbewegungen durch Zoom oder Sprungschnitt („jump cut“) oder Rückwärtsbewegungen durch Rückblende („flashback“) etc. Dabei werden die Bildräume im szenografischen Setting, das immersiv angelegt ist, möglichst nicht auf Leinwände projiziert, um einer Guckkasten- bzw. Kinosituation zu entgehen, d. h. um einen begehbaren Raumparcours zu ermöglichen, in den sich die filmisch-virtuellen Bildräume fortschreiben können: Zum Beispiel können anamorphotische Projektionsverfahren zum Einsatz kommen, die eine Bewegung des Rezipienten im Raum voraussetzen, oder Filmfiguren werden mit realen Figuren (Schauspieler, Sänger, Tänzer) verschachtelt, sodass sie dramaturgisch miteinander in Interaktion treten und Bedeutungsbeziehungen ausbilden. Die Bildräume und Raumbilder mit ihren Bedeutungsbeziehungen, Verbindungen zwischen Figuren, realen und filmischen Elementen etc. sowie die Relation zwischen Besucher und Dargestelltem verstehen sich als eine Struktur: 247 Das
„Schauspiel der Welt“, vgl. Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin: de Gruyter 1966, S. 5 f. 248 Vgl. ebd.: Die „Bühne der Einbildung“. Die erfahrene Welt als ein erlebter Raum: Das Wahrnehmungsfeld ist laut Merleau-Ponty erfüllt von Eindrücken „flüchtiger Art, die dem wahrgenommenen Kontext genau zu verbinden ich außerstande bin, die ich aber gleichwohl unmittelbar der Welt zuschreibe“. Vgl. auch Merleau-Ponty, Maurice/Arndt, Hans Werner (Hg., Übersetzer): Das Auge und der Geist, Hamburg: Meiner 1984 (1967). 249 Diejenige Szenografie, die sich als eine „Kunst durch Medien“ (zur Medienkunst siehe Reck, Hans Ulrich: Mythos Medienkunst, Köln: König 2002, S. 10 f.) versteht und sich insbesondere durch Medien konstituiert, wird auch als mediale oder „elektronische Szenografie“ bezeichnet.
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als ein räumliches Beziehungsgeflecht. Dieses ist variabel, und durch ästhetische Ausdrucksmittel (z. B. Lichtführung oder Toneinspielungen) kann der Szenograf Bedeutungszuschreibungen (z. B. durch Figurenkombination oder Zeitebenen) vornehmen. Alle Bildräume und Raumbilder basieren auf einer semantischen Raumorganisation und stellen keine festen Größen dar. Insofern ist Raum in der Szenografie auch als Raumvorstellung zu verstehen250, die nicht an konkret materielle Bedingungen gebunden ist und auch nicht im kantischen Sinne eine „reine Anschauung des Außen- und Nebeneinander“251 meint. In der Szenografie geht es vielmehr um situative Bedingungen, deren Gestaltung und Herstellung darauf zielt, Atmosphären entstehen zu lassen und in deren Folge in der Rezeption Gefühle zu provozieren. Diese Erscheinungen gehen mit Ereignissen einher oder von Situationen und Eindrücken – Realszenen und Filmschnitten – aus. Diese wiederum unterliegen einem Zusammenspiel ästhetischer Ausdrucksmittel wie semantischer Gehalte, das der „ästhetische Arbeiter“252 aus z. B. Form, Farbe, Proportion, Rhythmus, Medien, Bauten, Licht, Wegführung sowie Zeichen und Bedeutungen konstruiert. Die Gestaltungselemente werden in eine und zu einer Raum- und Bildsprache konfiguriert und komponiert, die wiederum rhetorische Figuren wie Allegorie, Metapher oder Metonymie impliziert; insofern ist die Szenografie auch eine Raumsprache – sie kann als eine Art rhetorischer Trope verstanden werden. In solchen komplexen ästhetischen Gebilden ist Raum nicht gegeben, sondern stellt performatives Material dar. Raum wird im Sinne einer Räumlichkeit hervorgebracht253, die als Überblendung von realen, filmischen und imaginären Räumen entsteht und die mit Bedeutungen konnotiert sein kann, sodass bestimmte, d. h. vom Szenografen intendierte Gefühle und Atmosphären beim 250 Vgl.
Lehnert, Gertrud: Raum und Gefühl, a. a. O. 2011, S. 9 f. Böhme, Gernot: Atmosphäre: Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1995, S. 95. Laut ihm folgt der Frage, was Wahrnehmung ist, die Frage nach dem „Hintergrund einer Welt“. Er erläutert: „Man sieht Dinge in ihrem Arrangement, Dinge, die aufeinander verweisen, man sieht Situationen.“ Die Philosophie der Gestaltpsychologie bettet Dinge in einen Horizont von Bewusstseinsganzheiten, „allerdings die Welt sieht man nicht“. Stellt sich die Frage, was dann dieses Ganze ist? Böhme nennt diesen primären und in gewisser Weise grundlegenden Gegenstand der Wahrnehmung die Atmosphäre. Das, was zuerst und vor allem Einzelnen wahrgenommen wird, ist in gewisser Weise der Raum selbst. Keine Anschauung „etwa im kantischen Sinne“, sondern „affektiv getönte Enge oder Weite, in die man hineintritt, das Fluidum, das einem entgegenschlägt“. 252 Ebd., S. 16 ff. Jede Inszenierung ist ein Produkt sogenannter „ästhetischer Arbeit“. Laut Böhme ist das Machen von Atmosphären „ästhetische Arbeit“ und deshalb dürfe man nicht nur Kunst und Künstler zum Gegenstand der Ästhetik machen, sondern auch andere Macher von Atmosphären. Böhme sieht in der Kunst eine besondere Form der ästhetischen Arbeit, und zu den ästhetischen Arbeitern gehören insbesondere jene, die der Zunft der Inszenierung angehören: Werbung, Design, Kosmetik, Politik, Mode, Architektur und Rauminszenierung, Bühnenbildner etc. 253 Vgl. Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004, S. 187. Ihr zufolge ist Räumlichkeit nicht mit dem geometrischen Raum gleichzusetzen, „in/an dem diese sich ereignet“, sie entsteht im und durch den performativen Raum einer Aufführung und wird „unter den von ihm gesetzten Bedingungen wahrgenommen“. 251 Vgl.
3 Szenogreffieren
Rezipienten entstehen können. Die Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Wirkkraft der szenografischen Gestaltung ist dabei der jeweilige Kulturraum, wie nicht zuletzt Lotman in Bezug auf die Semiosphäre formuliert: Jede „einzelne Sprache [ist] umgeben von einem semiotischen Raum, und nur kraft ihrer Wechselwirkung mit diesem Raum kann sie funktionieren“254. Raum und Gefühl stehen in produktivem Austausch, und in dieser Verschränkung konstituieren sie „Mentalitäten … einer Kultur“255. Der uns umgebende Raum – von der Kirche bis zur Shopping Mall –, der von Architekten und Inszenierern mit Stimmungsqualitäten ausgestattet wird, nimmt erheblichen Einfluss auf die Lebensstile und -formen – Gefühlskulturen ihrer jeweiligen Zeit.256 Insbesondere die „Zeitmaschine Stadt“ schafft „fragmentarisierte Raumwahrnehmungen und -erlebnisse“ und bringt topologische Verflechtungen hervor257. In der Konsequenz ist Raum kein Volumen, sondern als ein dynamisches Strukturgebilde zu verstehen, das sich durch Nachbarschaftsbeziehungen und Relationen konstituiert. Die vorliegende Arbeit geht in diesem Sinne von einem dynamischen Raumkonzept aus. Lehnert folgend ist die Prämisse, „dass Raum weder absolut gegeben noch bloßes Wahrnehmungsphänomen ist, sondern durch Bewegung und Wahrnehmung sowie durch soziales und symbolisches Handeln von Menschen hervorgebracht wird. Insofern ist Raum nicht nur im konkret-materiellen Sinne zu verstehen, sondern auch – z. B. – als Raumvorstellung.“258 So lassen sich, in Rückwirkung auf die menschliche Wahrnehmung, Gefühlskulturen als „in Zeit und Raum gewachsene und geprägte Bewegungen des Inneren in Kommunikation mit dem Außen“ verstehen.259 Tatsächlich sind es „Inszenierungsformen also, die für das Subjekt wie für den anderen etwas ‚zur Erscheinung bringen‘ und die spezifische Ausdrucksformen entwickeln“.260 254 Lotman, 255 Lehnert, 256 Ebd.
Jurij M.: Die Innenwelt des Denkens, Berlin: Suhrkamp 2010a, S. 165. Gertrud (Hg.): Raum und Gefühl, a. a. O. 2011, S. 9 f.
257 Reck, Hans Ulrich: „Zeitmaschine Stadt“, in: Keller, Ursula/Reck, Hans Ulrich (Hg.): Zeitsprünge,
Berlin: Vorwerk 1999, S. 53. Urbane Konzeptionen sind ihm zufolge als topologische Schichtung zu betrachten im Sinne von Diversitäten und Ungleichzeitigkeiten an identischen Punkten von Zeit und Raum. In ständiger Entwicklung und Verformung begriffen, entwickelt sich ein Geflecht, in dem die räumliche Vermittlung von Zeit der Verzeitlichung von Lebensformen entspricht. Die in Erscheinung tretenden Lebensformen sind das, was im konkreten Raum die Merkorte der Stadt bildet. Ergänzend zu Recks Ausführungen seien hier auch Medienfassaden, Logos, Schilder etc. genannt, die die Zeitmaschine Stadt zu einer Zeichenmaschine transformieren können. 258 Lehnert, Gertrud: Raum und Gefühl, a. a. O. 2011, S. 9 f. Sie verweist hier auf folgende Literatur: Lefebvre, Herni: La production de l’escape, Anthropos: Paris 1974. Ott, Michaela: „Raum“, in: Barck, Karlheinz (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 5, Stuttgart: Metzler, S. 113–148. Dünne J./Günzel S. (Hg.): Raumtheorie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006. Günzel, S. (Hg.): Raumwissenschaften, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2009. 259 Lehnert, Gertrud (Hg.): Raum und Gefühl, a. a. O. 2011, S. 10 f. 260 Ebd.
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Im Wechselspiel zwischen Gefühl und Raum261 wird im Folgenden szenografischen Inszenierungsformen also in zweierlei Richtungen nachgegangen, zum einen in atmosphärischer und zum anderen in topologischer Hinsicht, die unter den Kapitelüberschriften „Szenosphäre“ und „Szenotopie“ firmieren. In diesen beiden Kapiteln und ihren jeweiligen vier Unterkapiteln werden die Herausarbeitungen anhand der Arbeitsbegriffe „Szenosphäre“ und „Szenotopie“ mithilfe des künstlerischen Projektes „Ghost Machine“ von Janet Cardiff und George Bures Miller veranschaulicht; ihre Arbeit wird dabei praxisnah und ausschnitthaft im Hinblick auf ihre Ästhetik und Struktur untersucht. Eine ausführliche Besprechung der Arbeit folgt in Kapitel 4. Die Arbeit „Ghost Machine“ (aufgeführt 2005 im Berliner Hebbel-Theater) kann insofern als eine Szenografie bezeichnet werden, als sie keinem Guckkasten-, sondern einem Raumbühnenkonzept folgt und räumlich mediale Inszenierungen zum Thema hat. Die szenografische Inszenierungsform, die Cardiff und Miller wählen, ist ein begehbarer Parcours. „Ghost Machine“ ist ein audiovisueller „videowalk“, den der Besucher durch das gesamte Theatergebäude absolviert. Als Besucher durchläuft man dabei verschiedene Räume (Foyer, Zuschauerraum, Bühne, Backstage etc.) und Wirklichkeitsebenen (Realität, atmosphärische Wirklichkeit, Imagination, Fiktion). Ausgestattet mit einer Videokamera, auf der ein Film abläuft, sagt eine Stimme aus den Kopfhörern262, welche man ebenfalls mit auf den Weg bekommt: „Folge der Kamerabewegung des Films, den du auf dem Kameramonitor siehst.“ Der erste Teil der Inszenierung ist eine Art Krimi, in der zweiten Hälfte des Stückes wird diese Ebene dann zugunsten einer eher selbstreflexiven Ebene verlassen. Das Szenosphärische der Arbeit „Ghost Machine“ findet sich in den inszenierten Atmosphären und semiotischen Bedeutungsebenen. Andererseits – und das benennt das Szenotopische – ist „Ghost Machine“ ein spatiales Gewebe, der begehbare Parcours eine Art Netzwerk. Und ein solches ist genuin relational, topologisch und dementsprechend strukturiert. „Ghost Machine“ verspannt verschiedene Orte und Zeiten miteinander und den Besucher darin, sodass Relationen und ein Beziehungsgeflecht entstehen.
261 Vgl.
ebd., S. 9 f. Ergänzend sei folgende Literatur genannt: Günzel, Stephan: „Philosophie und Räumlichkeit“, in: Kessl, F./Reutlinger, Ch./Maurer, S. (Hg.): Handbuch Sozialraum, Wiesbaden: VS 2005. Günzel, Stephan: „Spatial – Topographical – Topological Turn“, in: Döring, J./ Thielmann, T. (Hg.): Spatial Turn: das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld: transcript 2008. Dünne, Jörg: „Wohin geht die Wende zum Raum?“, in: Buschmann, A./Müller, G.: Dynamisierte Räume. Zur Theorie der Bewegung in den romanischen Kulturen, Tagung der Universität Potsdam 2008. Lemma „Raum“, in: Fischer-Lichte, E./Kolesch, D.: Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart/Weimar: Metzler 2005, S. 260–267. 262 Die Tonspur vermittelt aufgrund eines speziellen Aufnahmeverfahrens eine extrem immersive räumliche Akustik, die weit über normale Stereo-Aufnahmen hinausgeht.
3 Szenogreffieren
3.1 Szenosphäre „Wenn die Metaphysiker sich kurz fassen, können sie manchmal eine unmittelbare Wahrheit erreichen … So entnehme ich dem umfangreichen Buch von Jasper ‚Von der Wahrheit‘ dieses kurze Urteil: ‚Jedes Dasein scheint in sich rund.‘ Als Belege für diese Wahrheit ohne Beweis … wollen wir einige Texte heranziehen, die aus völlig verschiedenen Einstellungen des metaphysischen Denkens entstanden sind. So schreibt van Gogh ohne Kommentar: ‚Das Leben ist wahrlich rund.‘ Und Joe Bousquet, der den Satz von van Gogh nicht gekannt hat, schreibt: ‚Man hat gesagt, das Leben sei schön. Nein, das Leben ist rund.‘ Schließlich sagte la Fontaine: ‚Eine Nuß macht mich ganz rund.‘ Mit diesen vier Texten … scheint mir das phänomenologische Problem genau umrissen.“ Gaston Bachelard 263
Unter dem Arbeitsbegriff „Szenosphäre“ soll hier diejenige künstlerisch hergestellte und inszenierte Atmosphäre 264 verstanden werden, die eine Szenografie hervorbringt. Also das, womit einerseits ein Szenograf das im Raum Installierte sozusagen „auflädt“, und was andererseits ein Rezipient wahrnimmt. Zur Arbeit des Szenografen ist anzumerken, dass es sich dabei um einen gleichzeitigen und einheitlichen Prozess handelt: Es wird nicht zuerst etwas installiert und dann mit etwas aufgeladen, sondern die Installation als solche ist die Aufladung bzw. Atmosphäre. Der Arbeitsbegriff soll diesen Komplex aus gestalterischem Tun und der Wahrnehmung des Rezipienten in einem Wort zusammenfassen und damit die Beschreibungen in den kommenden Untersuchungen vereinfachen. Die Analyse dessen, womit einerseits ein Szenograf das im Raum Installierte auflädt und was andererseits ein Rezipient wahrnimmt – die Analyse der Szenosphäre also –, ist notwendig, um zu Erkenntnissen zu gelangen, die die folgende These bestärken. Im Folgenden wird davon ausgegangen, dass sich die Szenografie durch eine performative und semiotisch atmosphärische Ästhetik, die ich als „szenosphärisch“ bezeichne, konstituiert. Dazu wird die Raumästhetik der Szenografie im Hinblick auf ihre spezifische Atmosphäre 265 und Semiosphäre 266 untersucht. Was unter einer performativen, semiotischen Ästhetik und unter einer atmo263 Bachelard, Gaston/Leonhard, Kurt (Übersetzer): Poetik des Raumes, München: Hanser 1960, S. 263.
Bachelard bezeichnet die „Topo-Analyse“ als „Studium der Örtlichkeiten unseres inneren Lebens. In diesem Theater der Vergangenheit, das unser Gedächtnis ist, gibt die Bühnenausstattung den handelnden Personen ihre Stichworte“ (S. 40). 264 Vgl. Böhme, Gernot: Atmosphäre: Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1995. 265 Ebd., S. 23 ff. 266 Vgl. Lotman, Jurij M.: Die Innenwelt des Denkens, Berlin: Suhrkamp 2010a, S. 163–290.
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sphärischen Ästhetik zu verstehen ist, erschließt sich über die folgenden vier Unterkapitel. Das Szenosphärische beinhaltet die Atmosphäre. Die Wortherkunft verdeutlicht bereits, dass dem Phänomen der Atmosphäre (von griechisch ἀτμός, atmós, dt. „Dampf, Dunst, Hauch“, und σφαῖρα, sphaira, dt. „Kugel“) die Sphäre immanent ist. Die Sphäre (also Kugel, wofür wiederum das lateinische Globus steht) ist genuin rund bzw. vieldimensional. Sie kann aus zwei unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden: als Gestalt sowie aus der Phänomenologie ihrer Wahrnehmung heraus. In Gestalt einer Kugeloberfläche ist sie ein n-dimensionales Gebilde mit beliebig vielen Dimensionen und daher allumfassend und immersiv. Aus heutiger topologischer Sicht ist sie ein gern gewähltes Beispiel für eine Mannigfaltigkeit, in der man Abstände (Verbindung zweier Punkte) und Winkel (Verbindung dreier Punkte = Dreieck) der Erdoberfläche, also Punkte auf einer gekrümmten zweidimensionalen Fläche messen kann. Gekrümmte Flächen, die sich nicht aus Geraden, sondern aus gekrümmten Kurven ergeben, unterliegen der nichteuklidischen Geometrie, in der Parallelaxiome (parallele Geraden) keine Gültigkeit haben und die Winkelsumme von Dreiecken größer oder kleiner als 180° sein kann.267 Nichteuklidische Geometrien haben Gaston Bachelard und seine phänomenologische „Poetik des Raums“ nachhaltig beeinflusst; auch Merleau-Ponty zufolge steht der euklidische Raum dem gelebten, d. h. dem topologischen Raum erfahrungslogisch nach.268 Diese Topologie ist für die richtungsweisenden Raumtheorien der Phänomenologie insofern relevant, als durch sie der gespürte, erfahrene und erlebte Raum zu beschreiben versucht wird.269 Die Phänomenologie der Wahrnehmung der Sphäre findet sich bei Merleau-Ponty, der feststellt: „Schließlich ist die Welt um mich herum, nicht vor mir.“270 Oder sie ist im „existentiellen Drin-sein“271 267 Die Kugel hat eine sogenannte elliptische Geometrie, die Ebene ist euklidisch und die Sattelfläche
hyperbolisch. Günzel, in: Günzel, Stephan/Dünne, Jörg (Hg.): Raumtheorie: Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006, S. 105 f., 113 ff. 269 Ebd., S. 105 f. Er erläutert, die Topologie finde bei den maßgeblichen Theoretikern Gaston Bachelard, Martin Heidegger und Maurice Merleau-Ponty Verwendung: „Während die frankophone Topologie mit Bachelard explizit an Modellen der neuen Geometrie sowie der Relativitätstheorie anschließt, wird in der deutschen Topologie bei Heidegger der ‚Ort‘ … betont. … Ein Vermittlungsversuch … ist wiederum bei Merleau-Ponty zu finden.“ Letzterem zufolge geht der gelebte Raum („topologischer Raum“ genannt) „dem euklidischen Raum erfahrungslogisch voraus“. 270 Merleau-Ponty, Maurice: „Das Auge und der Geist“, in: Günzel, Stephan/Dünne, Jörg (Hg.): Raumtheorie, a. a. O 2006, S. 190. Vgl. auch Merleau-Ponty, Maurice/Lefort, C. (Hg.): Das Sichtbare und das Unsichtbare: gefolgt von Arbeitsnotizen, München: Fink 1986. In seinem Spätwerk benutzt er den topologischen Raum als Modell des Seins. 271 Baier, Franz Xaver: Der Raum: Prolegomena zu einer Architektur des gelebten Raumes, Köln: König 1996, S. 26. Ihm zufolge wird durch das „Drin-sein“ die „An-sicht“ zur „Ein-sicht“. 268 Stephan
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oder in der „Poetik des Raumes“272. Bachelard zufolge spiegelt sich „das Sein des Menschen“ in der topologischen Form und Struktur der Spirale, er spricht von der „Rundheit des Seins“ im Sinne einer Metaebene, und diese kann dem Menschen nur in einer Art „phänomenologischer Meditation“ gewahr werden.273 Phänomenologische, mithin leibliche Wahrnehmung ist stets frei von geometrischen Gegebenheiten. Für die sphärischen Räumlichkeiten von Otto F. Bollnow 274, Hermann Schmitz 275, Gernot Böhme 276 und für Peter Sloterdijks „Sphärologie“277 ist der Bezugspunkt nicht selten Bachelards Prädiktion, „die kommende Philosophie sei eine Phänomenologie des Runden“.278 Bachelard schreibt in „Die Flamme einer Kerze“ von der Atmosphäre: Das angezündete Licht löscht das Zimmer aus, setzt es ins Dunkel und macht es zu einem flächenlosen Raum. Es „löst [den Flammenträumer] von der Welt“, das Licht vergrößert seine Welt, und gleichzeitig macht der „Flammenträumer“ die Welt kleiner, er bündelt sie und sich selbst in der Kerzenflamme.279 „Die Flamme als Geschehen im Zentrum des Raumes, den sie selbst durch ihr Brennen definiert, ist das kleinstmögliche Modell einer Atmosphäre.“280 272 Bachelard,
Gaston: Poetik des Raumes, München: Hanser 1960.
273 Bachelard will das menschliche Sein nicht euklidisch geometrisch verstanden wissen: „Und welche
Spirale ist das Sein des Menschen!“ In der Fußnote notiert er: „Eine Spirale? Verjagt das Geometrische aus dem philosophischen Denken, und es wird im Galopp wiederkehren.“ Die „Rundheit“, die er dem Sein zuspricht, kann der Mensch nur auf „metapsychologischer“ Ebene erlangen: „Diese Bilder löschen die Welt aus … Sie geben uns eine Lektion der Einsamkeit.“ Erst „dann lebt man in der Rundheit des Lebens wie die Nuss, die sich in ihrer Schale rundet. Der Philosoph, der Maler, der Dichter, der Fabelerzähler haben uns ein Dokument reiner Phänomenologie vermacht.“ Gaston Bachelard: „Poetik des Raumes“, in: Günzel, Stephan/Dünne, Jörg (Hg.): Raumtheorie, a. a. O 2006, S. 172 f., 176 f. Zu den Personen, die Bachelard auflistet, könnte aus heutiger Sicht auch der Szenograf zählen. 274 Bollnow, Otto Friedrich: Mensch und Raum, Stuttgart: Kohlhammer 2004. Bollnows Räumlichkeiten sind Phänomene, die sich zwischen gebauter Architektur ereignen, es geht um den vom Menschen erlebten und gelebten Raum. 275 Schmitz, Hermann: System der Philosophie, Bd. 3.1 Bonn: Bouvier 1967. Raum wird als leibliche Empfindung wahrgenommen und erfahren, als z. B. unendliche Weite bei Freude oder im Halbschlaf. Oder als unendliche Enge, wie man sie bei Angst oder Schmerz empfindet. 276 Böhme, Gernot: Atmosphäre: Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1995. 277 Sloterdijk, der vor dem Hintergrund der Kugelgestaltigkeit Sphärenbilder auffaltet, die er in die Raumgestalt des Schaums weiterführt. Vgl. Sloterdijk, Peter: Blasen, Sphären Bd. 1 (1998); Globen, Sphären Bd. 2 (1999); Schäume, Sphären Bd. 3 (2004), Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 278 Stephan Günzel in: Günzel, Stephan/Dünne, Jörg (Hg.): Raumtheorie, a. a. O 2006, S. 123. Es kommt, wie er schreibt, zu bemerkenswerten Verschränkungen: Die heutigen maßgeblichen Theoretiker Bollnow, Schmitz, Böhme und Sloterdijk „versuchen sich unter dem Vorzeichen des ‚gestimmten‘ oder ‚atmosphärischen‘ Raums an einer Rehabilitation der Heidegger’schen Seinstopologie. Referenzpunkt ist nicht selten Bachelard.“ 279 Bachelard, Gaston: Die Flamme einer Kerze, München: Hauser 1988 [1961], S. 9. Hier passiert in der Praxis das, was er in der Theorie (Bachelard, Gaston: „Poetik des Raumes“, in: Günzel, Stephan/ Dünne, Jörg (Hg.): Raumtheorie, a. a. O. 2006) beschreibt: phänomenologische Meditation und Bilder, die die Welt auslöschen (können). 280 Knodt, Reinhard: Atmosphäre und Fest: Über einige vergessene Gegenstände des guten Geschmacks, München: Grin Verlag 2009 (1994), S. 6. Knodt rekurriert auf Bachelard.
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Merklich anders beschreibt Lotman die Semiosphäre: „Ähnlich wie wir, wenn wir einzelne Beefsteaks zusammenkleben, keine Kuh erhalten, sondern durch das Zerlegen der Kuh Beefsteaks, so erhalten wir durch das Summieren von einzelnen semiotischen Akten nicht das semiotische Universum. Im Gegenteil, allein die Existenz eines derartigen Universums – der Semiosphäre – macht den einzelnen Zeichenakt zur Realität.“ Oder in Bauten ausgedrückt: Der gesamte semiotische Raum kann als eine Art Organismus betrachtet werden, „[d]ann bildet der Ausgangspunkt nicht der eine oder andere Ziegelstein, sondern das ‚Gesamtsystem‘, das Semiosphäre genannt wird.“281 Lotmans Beschreibung lässt die Semiosphäre als Beziehungssystem erkennbar werden, als topologische Struktur und „Mannigfaltigkeit“282. Ihm zufolge organisiert sich der kultursemiotische Raum in einer bestimmten Raum-Zeit-Struktur bzw. „räumlich-zeitlichen Form … [und diese] realisiert sich in Gestalt und zugleich mit Hilfe der Semiosphäre“.283 Bevor die Szenografie zwischen verschiedenen wissenschaftlichen Theorien positioniert und die atmosphärische und semiotische Dimension ihrer Raumästhetik herausgearbeitet wird, soll bereits jetzt ein Praxisbeispiel eine Vorschau auf das Kommende geben; es ist ein kleiner Ausschnitt aus einer Arbeit „Ghost Machine“ von Cardiff/Miller. Im Laufe des „videowalk“ durch das Theater verfolgt man Szenen auf dem Kameradisplay, die ein Verbrechen vermuten lassen: Man sieht, wie ein bewusstloser Mann verschleppt wird, und im Foyer werden reale Schauspieler und andere Besucher, denen man folgt, zu möglichen Verdächtigen. Im weiteren Verlauf gelangt man auf die Bühne, dort ist es sehr dunkel und finster. Die Dimension des Raums erschließt sich nicht, es scheint, als drohe von irgendwoher Gefahr, eine geheimnisvolle Atmosphäre beschleicht einen. Plötzlich, aus den Kopfhörern, erklingt die Stimme eines Schauspielers, der (mit dem Tonfall eines verstörten Entführungsopfers) ganz leise und nah kurz ins Ohr spricht und dabei eindringlich flüstert: „Hilf mir!“ Erschrocken und betroffen dreht man sich in die Richtung um, aus der die Stimme kam, doch niemand ist zu sehen. Das erzeugt eine unheimliche Wirkung. Vor diesem plastischen Hintergrund lässt sich zunächst einmal ein Eindruck gewinnen, welche atmosphärische Wirkung eine Szenografie erzeugen kann, nämlich eine szenografisch inszenierte atmosphärische Räumlichkeit, der 281 Jurij Lotman: „Über die Semiosphäre“, in: Posner, Roland (Hg.): Kultur und Evolution. Zeitschrift
für Semiotik, Bd. 12, Heft 4, 1990, S. 287–305, hier S. 290.
282 Ebd., S. 296: „Die innere Mannigfaltigkeit der Semiosphäre ist Voraussetzung ihrer Ganzheitlichkeit.“ 283 Lotman,
Jurij M.: Die Innenwelt des Denkens, Berlin: Suhrkamp 2010a, S. 177, 202, 245 ff. Lotman arbeitet räumliche Eigenschaften der Semiosphäre mithilfe der Topologie heraus. Bei seinen Überlegungen zur Vorstellungswelt des Dichters Dante rekurriert er auf Mathematiker, u. a. auf Pavel Florenskij, der Dantes Werk „Die göttliche Komödie“ mithilfe der „nicht euklidischen Geometrie und der relativistischen Physik zu lösen [versucht]“.
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auch eine Zeichenhaftigkeit und Bedeutungsebene innewohnt und die sich als eine Relation zwischen Szenografie und Rezipient konstituiert. In der Theorie ist die Voraussetzung für eine semiotisch atmosphärische Ästhetik ein phänomenologisches Raumverständnis. Durch ein solches lässt sich ein atmosphärischer Raum beschreiben. Dieser Raum erweist sich als eine Räumlichkeit, als eine Relation im Sinne eines Zwischenraums. Dieses „Zwischen“284 ist weder Gegebenheit noch Anschauung, sondern eine Hervorbringung desjenigen, der diese Räumlichkeit wahrnimmt und spürt 285. Es ist aber nicht allein dem wahrnehmenden Subjekt zuzuschreiben, denn dieses „Zwischen“ ist das, was laut Böhme sowohl vom Subjekt als auch von Dingen, Personen und Konstellationen des Raumes gleichermaßen ausgeht, es wird von diesen beiden Polen erzeugt und kontinuierlich verändert.286 Eine Hervorbringung ist ein performativer Akt und dieser lenkt, so Fischer-Lichte, die Wahrnehmung und Aufmerksamkeit des Besuchers weniger auf die Zeichenhaftigkeit auftauchender Personen oder Objekte als vielmehr auf „ihre je spezifische Phänomenalität“287. Zur näheren Bestimmung des Wahrnehmungsphänomens Atmosphäre ist es hilfreich, nach ihrer Herstellbarkeit zu fragen, denn das liefert einerseits produktionsästhetische Erkenntnisse und andererseits Aufschluss darüber, welche Bedingungen oder Verfahrensweisen vorliegen können oder müssen, damit Atmosphären evoziert werden. Mit den hier beschriebenen Phänomenen sind keine Naturerfahrungen gemeint – z. B. die Ruhe vor dem Sturm auf einem Segelboot –, sondern diskursive Artefakte: künstlich oder künstlerisch hergestellte Atmosphären, d. h. inszenierte sowie durch digitale und analoge Medien inszenierte Atmosphären (elektronische Atmosphären), die eine (elektronische) Szenografie hervorbringt. Es sind Resultate „ästhetischer Arbeit“288. Solche künstlerischen Hervorbringungen, wie z. B. die flüsternde Stimme aus dem Kopfhörer in der Arbeit „Ghost 284 Böhme,
Gernot: „Brief an einen japanischen Freund über das ‚Zwischen‘“, in: Interkulturelle Philosophie und Phänomenologie in Japan, hg. von T. Ogawa, M. Lazarin, G. Rappe, München: iudicium Verlag 1998, S. 233–239. 285 Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004. In ihren Untersuchungen zur Werkästhetik bestimmt sie neben der Körperlichkeit, Lautlichkeit, Zeitlichkeit auch die Räumlichkeit als eine Materialität, die in Aufführungen performativ hervorgebracht wird. 286 Böhme, Gernot: Atmosphäre: Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt a. M: Suhrkamp 1995, S. 33 f. Siehe auch Böhme, Gernot: Architektur und Atmosphäre, München: Fink 2006. 287 Lemma „Performativität/performativ“, in: Fischer-Lichte, E./Kolesch, D.: Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart/Weimar: Metzler 2005, S. 240. 288 Böhme, Gernot: Atmosphäre, a. a. O. 1995, S. 25. Es geht um die Produktion von Atmosphären als ästhetische Arbeit, welche – als neue Ästhetik und eine Theorie der Wahrnehmung – ihm zufolge vom Rezipienten als die Erfahrung der Präsenz von Menschen, Gegenständen und Umgebungen verstanden wird. Aufseiten der Produzenten (Kosmetik, Werbung, Inneneinrichtung, Bühnenbildnerei bis zur Kunst im engeren Sinne) ist die neue Ästhetik eine allgemeine Theorie ästhetischer Arbeit und wird verstanden als die Herstellung von Atmosphären.
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Machine“, sind vom Künstler erarbeitete raumzeitliche Modelle. Sie spielen mit Präsenz und Absenz, mit gegenwärtigem Erleben und mit einem Nacherleben289. Szenografien sind künstlerische Rauminszenierungen und begehbare Bildräume und somit sind auch keine Atmosphären gemeint, welche z. B. die Plakatwerbung290 herstellt. Bildkünste sind nur insofern gemeint, als sie räumlich, d. h. immersiv erfahrbar sind, wie es z. B. die Anamorphose leistet. Ein Bild – etwa das Gemälde „Der Wanderer über dem Nebelmeer“ von Caspar David Friedrich (1818) – stellt zwar auch eine Atmosphäre dar (und zwischen dem Betrachter und dem Bild bildet sich eine Stimmung heraus und wird eine Atmosphäre erzeugt), aber der Wahrnehmende ist kein Besucher innerhalb der dargestellten atmosphärischen Räumlichkeit, sondern er bleibt außen vor: Er steht nicht im Nebel291, sondern als Betrachter vor einem Rahmen, im dem auf einer Leinwand Farben (gemalte Berge und Nebel) zu sehen sind. Es sind also Rauminszenierungen gemeint, die sich durch Medien und durch Handlung, leibliche Wahrnehmung, Erfahrung und physische Bewegung292 des Besuchers konstituieren und die daraus ihre Wirkkraft schöpfen. In diesen künstlerisch hergestellte Atmosphären, die eine Szenografie hervorbringt, hat man keinen Zugriff auf den Raum bzw. auf seine optisch ausgedehnte Größe, auch hat man weder eine Fernsicht noch Überschau, sondern befühlt den Raum und tastet sich durch ihn und in ihm voran; es handelt sich eher um haptische 293 und affektive 294 Räumlichkeiten. „Das Sehen selbst … ist kein Sinn für das
289 Vgl.
Christiane Heibach: „Manipulative Atmosphären. Zwischen unmittelbarem Erleben und medialer Konstruktion“, in: Heibach, Christiane (Hg.): Atmosphären. Dimensionen eines diffusen Phänomens, Bd. 3 der Reihe „HfG Forschung“, München: Fink 2012, S. 265 f. 290 Hermann Schmitz bezieht sich in seiner Untersuchung zur Wirkkraft von Atmosphären u. a. auf Plakate der Zigarettenwerbung. Schmitz, Hermann: Was ist Neue Phänomenologie?, Rostock: Ingo Koch 2003, S. 256. 291 Vgl. das „Blur Building“ von Diller Scofidio + Renfro auf der Expo 2002. Hier steht bzw. befindet sich der Besucher mitten im Nebel, es handelt sich um eine real begehbare Wassersprühwolke, die den Besucher umhüllt. 292 Vgl. Heinz von Foerster. Ihm zufolge kam Henri Poincaré der Frage nach der erlebten Dreidimensionalität des Raumes erst auf die Spur, als er über seinen mathematischen Gleichungen die geniale Idee entwickelte, „die Beziehung einer bewussten Änderung des Blicks mit der zugehörigen Veränderung der Sicht in sein Gleichungssystem aufzunehmen. Diese Einsicht gibt dem Problem der Wahrnehmung eine völlig neue Perspektive: es sind die durch Bewegung hervorgebrachten Veränderungen des Wahrgenommenen, die wir wahrnehmen. Wie der Biologe Humberto Maturana sagt: ‚Wir sehen mit unseren Beinen.‘ Man braucht nur unserer Sprache zuhören; ‚wahr-nehmen‘, ‚be-greifen‘, ‚ver-stehen‘!“ Foerster, Heinz von: „Wahrnehmen wahrnehmen“, in: Barck, Karlheinz (Hg.): Aisthesis: Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig: Reclam 1993, S. 440. 293 Vgl. Deleuzes/Guatarris Modell der Ästhetik, in: Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Tausend Plateaus: Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin: Merve 1997 (1980), S. 682 f. 294 Vgl. Bohn, Ralf/Wilharm, Heiner (Hg.): Inszenierung und Effekte: Die Magie der Szenografie, Bielefeld: transcript 2013.
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Darin-Sein, sondern eher ein Sinn, der Unterschiede setzt und Distanzen schafft.“295 Um der Frage näherzukommen, welche Bedingungen oder Verfahrensweisen vorliegen, damit das, womit ein Szenograf das im Raum Installierte auflädt, evoziert wird, kann eine Atmosphäre – die ja künstlich/künstlerisch hergestellt ist – nicht nur als bloßes Wahrnehmungsphänomen, sondern muss vor allem als Inszenierungsarbeit untersucht werden. Die Frage nach der Bedeutungsebene, d. h. nach dem im Herstellungsverfahren gebrauchten Zeichenvokabular und -einsatz muss also hinzukommen296, um eine weitere Auskunft darüber zu erlangen, wie der Rezipient diese szenografisch inszenierte Atmosphäre wahrnimmt und wie der Szenograf dieses Phänomen herstellt. Zumal ein spezifisch gestimmter Raum zumeist von der überwiegenden Mehrzahl der Besuchern ungefähr gleich empfunden wird297. Die Atmosphäre, die eine Szenografie hervorbringt, ist eine Art Luft- und Zeichenräumlichkeit, in dieser Hinsicht also eine Art „air conditioning“. Sie ist allerdings keine „Point-of-Sale-Atmosphäre“298. Schließlich ist das Herstellungsmodell selbst, also die Szenografie als Gesamtsystem299, erkenntnisreich, denn es spiegelt auch die Vorstellung von Raum, d. h. die Raumempfindung und -vorstellung des Konstrukteurs, also des Szenografen. Als eine Relation zur 295 Böhme, Gernot: Architektur und Atmosphäre, München: Fink 2006, S. 110. Er führt weiterhin aus:
„Raum wird genuin erfahren dadurch, dass man im Raum ist. Durch leibliche Anwesenheit. … [Es gibt] einen spezifischen Sinn für das Darin-Sein, den Sinn, den man Befindlichkeit nennt. Im Befinden spüren wir, wo wir uns befinden. Das Spüren unserer eigenen Anwesenheit ist zugleich das Spüren des Raumes, in dem wir anwesend sind.“ 296 Auch Fischer-Lichte formuliert diese Notwendigkeit (Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, a. a. O. 2004, S. 208 f.). 297 Der dunkle Raum um den „Kerzenträumer“, wie ihn Bachelard beschrieben hat, erscheint wohl niemandem als ein klarer und sicherer, sondern geheimnisvoller Raum, der als ein Rätsel „ungeklärt“ und unheimlich erscheint. Zudem zeigt dieses Beispiel, dass Raum nicht nur das ist, was man sieht, sondern was sich auch haptisch und ohne Raumkoordinaten erschließen lässt. Auf semiotischer Ebene wird dann ein Raum ungefähr gleich wahrgenommen, wenn gesellschaftlich allgemein bekannte Codierungen (z. B. die Farbe Schwarz für Trauer) genutzt werden, wie sich aus eigener Praxis sagen lässt: Ein Szenograf setzt diese Codes gezielt ein, um den Rezipienten zu affizieren. Auch Gernot Böhme formuliert, dass eine hergestellte Atmosphäre z. B. im Theater von vielen ähnlich empfunden werden kann. Vgl. Böhme, Gernot: „Die Kunst des Bühnenbildes als Paradigma einer Ästhetik der Atmosphäre“, in: Bohn, Ralf/Wilharm, Heiner (Hg.): Inszenierung und Vertrauen: Grenzgänge der Szenografie, Bielefeld: transcript 2011, S. 111 f. 298 Peter Sloterdijk benutzt den Ausdruck „Air/Condition“ in völlig anderer Hinsicht, auf die hier nicht gezielt ist. Dennoch lohnt ein Blick auf seine Ausführungen: Vor dem Hintergrund des LuftAtmen-Müssens des Menschen, was sich der Giftgaskrieg auf terroristische Weise zunutze gemacht hat – durch künstliche Atmosphärenzusätze wird Umwelt zu einer technischen Operationalität –, geht es heute um die Manipulation des Konsumenten, der in Shopping Malls mittels Air Design, d. h. „Zwangsbeduftung“, zum Kaufen angeregt wird; die „Point-of-Sale-Atmosphäre“ wird zum eigenständigen Marketinginstrument. Sloterdijk, Peter: Schäume, a. a. O., S. 99, 178. 299 Vgl. Jurij Lotman: „Über die Semiosphäre“, in: Posner, Roland (Hg.): Kultur und Evolution. Zeitschrift für Semiotik, Bd. 12, Heft 4, 1990, S. 287–305.
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Wirklichkeit und als räumliche Struktur, die semantische Räume ausbildet 300, ist das Gesamtsystem der Ausgangspunkt für den szenografischen „discours“301. Für die nachfolgenden Ausführungen finden verschiedene ästhetische Theorien Verwendung, mit deren Hilfe oder in deren Opposition die Raumästhetik der Szenografie weiter konturiert wird. Dem phänomenologischen Raumverständnis gemäß, wird Hermann Schmitz‘ „Neue Phänomenologie“ herangezogen. Hingegen führt bei der Frage nach der Herstellbarkeit atmosphärischer Räumlichkeit Gernot Böhmes „Atmosphäre – Essays zur neuen Ästhetik“ weiter, da sie den produktionsästhetischen Aspekt hervorhebt. Dennoch kann die Atmosphäre nicht nur als Wahrnehmungsphänomen untersucht werden, und so erweist sich – neben der „Ästhetik der Inszenierung“ (Josef Früchtl, Jörg Zimmermann) und der „Ästhetik des Erscheinens“ (Martin Seel) – an dieser Stelle die „Ästhetik des Performativen“ von Erika Fischer-Lichte als nützlich. In ihrer Schrift verleiht sie der Bedeutungsebene größeres Gewicht und betont, dass die performative und die semiotische Ästhetik einander ergänzen. Schließlich stellt Jurij Lotman strukturalistisch kultursemiotische Ansätze zur Verfügung, in denen Raum topologisch gedacht wird. Mit ihm lässt sich untermauern, dass es sich bei der Szenografie um ein relationales ästhetisches Strukturmodell handelt. Von hier aus wird die Brücke zum zweiten Abschnitt (3.2 „Szenotopie“) geschlagen. Die über diese Schritte laufende Argumentation positioniert – als Alternative zu den referierten Standpunkten und als Synthese einzelner Aspekte – schließlich das, womit ein Szenograf das im Raum Installierte auflädt, und das, was ein Rezipient wahrnimmt, als ein Phänomen, das möglicherweise aus einem räumlichen Strukturmodell mit topologischen Eigenschaften hervorgeht.
300 Vgl.
Jurij Lotman: „Künstlerischer Raum, Sujet und Figur“, in: Günzel, Stephan/Dünne, Jörg (Hg.): Raumtheorie a. a. O 2006, S. 530. 301 Der Begriff „discours“ bezeichnet nach dem Literaturwissenschaftler Gérard Genette die Art und Weise, d. h. die Form, wie ein Stoff („histoire“) dem Rezipienten vermittelt wird. Zu den Mitteln zählen die Aspekte, die Erzählzeit, die erzählte Zeit und die Erzählperspektive. Im szenografischen Kontext muss der Stoff weder eine Geschichte haben noch eine Erzählung sein. Lotman zufolge (vgl. Kapitel 3.1.4 der vorliegenden Arbeit) konstituiert sich ein Sujet (ein künstlerischer Raum im Sinne einer erzählten Handlung oder eines Ereignisses) als ein „System räumlicher Relationen“, es entsteht die „Struktur des Topos“. Vgl. Jurij Lotman: „Künstlerischer Raum, Sujet und Figur“, in: Günzel, Stephan/Dünne, Jörg (Hg.): Raumtheorie, a. a. O 2006, S. 532.
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3.1.1 Der flächenlose Raum und die ästhetische Arbeit Die Raumästhetik der Szenografie wird zunächst im Hinblick auf ihre spezifische Phänomenologie und Atmosphäre untersucht. Der szenografische Raum ist ein performativer Raum; er entsteht durch Handlung, d. h. durch die Bewegung und Wahrnehmung des Besuchers, und konstituiert sich als eine Art Parcours, in dem der Rezipient Raumbilder durchschreitet. Der performative Raum, der immer zugleich ein atmosphärischer ist, gehört – ebenso wie die Atmosphäre – nicht dem geometrischen Raum an302, sondern zuallererst dem leiblichen. Um das spezifisch Phänomenologische und Atmosphärische zu verstehen, stellt sich als Erstes die Frage, was unter einer leiblichen Erfahrungsräumlichkeit, die sich mit dem Konzept des geometrischen Raums eben nicht beschreiben lässt, zu verstehen ist, zumal sie unsichtbar303 ist. Bevor dies im Folgenden ausgeführt wird – der Weg führt über den flächenlosen Raum zur „ästhetischen Arbeit“304 –, kann vorerst aus szenografischer Perspektive gesagt werden, dass sie nicht nur notwendige Ergänzung zum geometrischen Raum und zur Fläche ist, sondern Voraussetzung für das, womit einerseits ein Szenograf das im Raum Installierte auflädt, und für das, was andererseits ein Rezipient wahrnimmt. Denn diese Wirkkraft, die hergestellt und wahrgenommen wird, hat keine Koordinaten, ist prädimensional und lässt sich nicht über Verstand oder Geometrie, sondern nur über Gefühle und Stimmungen erfahren. Als eine künstlerische Inszenierungsarbeit, Strategie und Situationshaftigkeit hat sie – wie sich herausstellen wird – zum Ziel, den Rezipienten affektiv zu ergreifen. In der Phänomenologie wird Raum als Phänomen und Erfahrungsräumlichkeit begriffen. Im Zentrum der „Neuen Phänomenologie“305 von Hermann Schmitz – mit deren Hilfe die spezifische Phänomenologie der szenografischen Raumästhetik untersucht wird – steht das affektive Betroffensein, das mit Gefüh302 Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004, S. 200 f. Räum-
lichkeit wird nicht nur durch Handlung oder durch die Verwendung von Raum durch Akteure oder Besucher hervorgebracht, sondern auch durch das, was ein Raum auszustrahlen scheint und was einen Rezipienten zuallererst ergreift: die Atmosphäre. 303 „Der Lebensraum, in dem ein Mensch wohnt, sich bewegt und orientiert, ist für andere Menschen wesentlich unsichtbar.“ Baier, Franz Xaver: Der Raum: Prolegomena zu einer Architektur des gelebten Raumes, Köln: König 1996, S. 29. 304 Böhme, Gernot: Atmosphäre: Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1995. 305 Schmitz, Hermann: Was ist Neue Phänomenologie?, Rostock: Ingo Koch 2003. Unter den Philosophen der älteren, von Husserl gegründeten phänomenologischen Schule kommt, wie er selbst sagt, Merleau-Ponty ihm am nächsten (S. 382). Schmitz versteht den Raum als etwas Ursprüngliches, das von Orten und Abmessungen nichts enthält und dem Menschen a priori durch seine Leiblichkeit mitgegeben ist (S. 55).
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len einhergeht. Das Gefühl wird hier verstanden als „eine räumlich ausgedehnte Atmosphäre, räumlich nicht wie eine Figur in 1–3 Dimensionen mit Lagen und Abständen, sondern wie die feierliche Stille eines hohen Festes und die drückende eines schwülen Mittags, oder wie das Wetter“, Atmosphären sind randlos und ortlos (im Sinne von nicht lokalisierbar).306 Laut Böhme sind – in Anlehnung an Schmitz – Atmosphären „ergreifende Gefühlsmächte“ und „räumliche Träger von Stimmungen“307. Um die tieferen Schichten der Raumerfahrung dem Begreifen zugänglich zu machen, müsse laut Schmitz der Vorrang der mathematisch fundierten Raumauffassung nach hinten rücken und mit ihm die Fläche. Er erläutert, dass sich Räume, wie z. B. der des Schalls, nicht über „eine ‚Form des äußeren Sinnes‘ (Kant)“ erschließen, denn schon „das optisch-motorische Sehen, wenn man z. B. … in Gefahr ausweicht, versteht den Raum ganz anders“308, wie im Folgenden gezeigt wird. Schmitz benennt damit bereits wesentliche Voraussetzungen für das Verständnis der Raumästhetik der Szenografie, und die Raumerfahrung beim eingangs angeführten Beispiel aus „Ghost Machine“ („Hilf mir!“ – und erschrocken dreht man sich in die Richtung der Kopfhörerstimme um) verdeutlicht dies. Die Verkürzung des Verständnisses für den Raum seit der griechischen Geometrie, „die den Raum bei der Fläche packte“, findet laut Schmitz ihre Fortsetzung „in Gestalt der Koordinatengeometrie, die den Raum als eine Menge von Punkten deutet“.309 Damit, so Schmitz weiter, werden Orte geschaffen, die man lokalisieren kann, indem mittels Punkten in einem dreidimensionalen Netz Beziehungen zueinander gesetzt werden, und durch die Verbindung von Punkten entstehen Flächen.310 Schmitz führt weiter aus, dass sich dieser neuen Raumauffassung der Raum als ein Ortsraum darstellt: Der Ortsraum besteht aus einem System relativer Orte, die sich durch messbare Lage- und Abstandsbeziehungen gegenseitig bestimmen und die auf drei Dimensionen verteilt werden. „Mit der Fläche beginnt aber die Entfernung des Raums vom Leib; daher sind 306 Ebd.,
S. 44 f. Gernot: Atmosphäre, a. a. O. 1995, S. 29. 308 Schmitz, Hermann: Was ist Neue Phänomenologie?, a. a. O. 2003, S. 11 f. 309 Ebd. Hier sei angemerkt, dass die griechische Geometrie zwar Projektionsverfahren kannte und eingesetzt hat, doch keines vergleichbar einer planen Fläche. Flächensichten in Anlehnung an eine Distanzierung zwischen Subjekt und Objekt (was zu einer Art Unräumlichkeit auch des 2-D Bildes führt) kommen erst durch René Descartes in die Welt. In der Antike wurde ausgehend von der konkaven Netzhaut des Auges nicht planperspektivisch durch den Raum geschnitten, sondern sphärisch, d. h. auf einen Kreismittelpunkt, wodurch gekrümmte Flächen entstehen und die Sehgröße durch den Sehwinkel bestimmt wird und nicht durch gerade Längenmaße, sondern durch Winkelgrade und Kreisbögen, Kurven ausgedrückt wird. Der römische Architekt Vitruv (1. Jh. v. Chr.) weist in seinen Erläuterungen zur „Scenographia“ darauf hin. Für Panofsky, wie in der vorliegenden Arbeit später noch näher erläutert wird, ist das sphärische Projektionsverfahren Ausgangpunkt seines Aufsatzes „Die Perspektive als symbolische Form“. 310 Ebd., S. 11. 307 Böhme,
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flächenlose Räume wie z. B. der Raum des Schalls leibnäher als der von Flächen durchzogene optische Raum“.311 Die Fläche ermöglicht es, den leiblichen Raum durch einen Ortsraum zu überformen.312 Der leibliche Raum ist jedem Menschen mitgegeben, nämlich aus der Erfahrung der z. B. maßlosen Weite, wie sie der Mensch beim Einschlafen macht. In dieser leiblich-räumlichen Weite werden laut Schmitz alle Räume (leibnahe wie leibferne) als Raumstrukturen verstanden und als solche in die Weite eingetragen.313 Der Weiteraum als die einfachste Gestalt des leiblichen Raums ist ein Raum, dessen Struktur sich über die „leibliche Dynamik“314 beschreiben lässt und der flächenlos ist.315 Schmitz zufolge können in dem Ortsraum Gefühle und Atmosphären, die ort- und flächenlos sind, eingefangen und ausgebildet werden, auf die sich der Mensch einstimmen kann – Atmosphären können den Ortsraum mit flächenloser Besetzung total beanspruchen.316 Die leibliche Erfahrungsräumlichkeit spielt insofern eine wichtige Rolle in der Szenografie, als sie atmosphärische Wahrnehmung ermöglicht: Diese ist konstitutiv. In der Szenografie ist das Wechselspiel zwischen leiblicher Erfahrungsräumlichkeit und geometrischem Raum, leibnahen und leibentfernten Räume jenes Spannungsfeld, in dem sich der Besucher bewegt – der „geometrische Raum ist eine Fläche aus Türmen, Wänden und Decken, die man bequem durchquert. Im gelebten Raum brechen wir permanent irgendwo ein“317. „Leiblich sein, heißt erschrecken zu können“318; dieses Zitat veranschaulicht das, was die Kopfhörerstimme im Beispiel „Ghost Machine“ gezeigt hat. Um sich dem anzunähern, was ein Szenograf tut, um dieses Wechselspiel zu gestalten, und zugleich dem, was ein Rezipient in einer szenografischen Räumlichkeit wahrnimmt, muss also über eine rein „formal-ästhetische Betrachtung“319 hinaus311 Ebd.
312 Ebd.,
S. 59. S. 55. 314 Ebd., S. 25. Unter leiblicher Dynamik versteht Schmitz z. B. Freude, Frische, Wollust, Entzücken oder Erleichterung etc., Raum wird als Weiteraum empfunden. Bei den leiblichen Dynamiken wie Angst, Schmerz, Trauer, Hunger/Durst, Müdigkeit, Schreck etc. empfindet man hingegen Enge. 315 Ebd., S. 57. 316 Hermann Schmitz: „Atmosphäre und Gefühl“, in: Heibach, Christiane (Hg.): Atmosphären. Dimensionen eines diffusen Phänomens, Bd. 3 der Reihe „HfG Forschung“, München: Fink 2012, S. 39 ff. 317 Baier über die unsichtbare Architektur der Binnenwirklichkeit. Vgl. Baier, Franz Xaver: Der Raum, a. a. O. 1996, S. 30. 318 Schmitz, Hermann: Was ist Neue Phänomenologie?, a. a. O. 2003, S. 24. 319 Baier, Franz Xaver: Der Raum, a. a. O. 1996, S. 96. Ein gelebter Raum kann Baier zufolge „nicht dadurch erfasst werden, dass ein Betrachter sich ihm gegenüberstellt, sich ihn als ‚Summe der Beziehungen zwischen Orten‘ [an dieser Stelle steht ein Verweis auf Joedicke, Jürgen: „Raum und Form in der Architektur“, Stuttgart: K. Krämer 1985, S. 13] vorstellt und die Orte als leblose Körper ansieht. Diese Methode folgt der Einstellung des neutralen Beobachters, der die Sache von außen erspäht. Um Architektur und Lebensräume als komplexes Phänomen zu untersuchen, reicht die formal-ästhetische Betrachtung nicht aus.“ 313 Ebd.,
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gegangen werden. Zumal der Besucher einer Szenografie kein außen stehender Beobachter ist, sondern sich inmitten des Geschehens befindet. Darüber hinaus stellt sich die Frage, durch was sich ein gelebter Raum vornehmlich begründet. An dieser Stelle bringt Schmitz einen weiteren wesentlichen Aspekt ein, der für die Untersuchung der Raumästhetik der Szenografie ertragreich ist: Ein gelebter Raum geht mit Situationen einher und der Umgang mit ihnen beruht „auf einem Verhältnis von Bedeutungen, die in chaotischer Mannigfaltigkeit der Einzelheit von etwas zu Grunde liegen“.320 Schmitz führt hier weiter aus, dass es sich bei Situationen „um eng mit der Bedeutsamkeit verbundene Atmosphären des Gefühls“ handelt. Situationen sind ineinander verschachtelt und richten sich einerseits nach der augenblicklichen Gegebenheit, in der es impressive oder – im Gegensatz dazu – segmentierte Situationen gibt.321 Impressive Situationen (wie Gefahrensituationen) meinen „vielsagende Eindrücke“, die mit ihrer integrierenden Bedeutsamkeit zum Vorschein kommen, und Atmosphären gehen von diesen Eindrücken und impressiven Situationen aus.322 Andererseits richten sich Situationen nach dem zeitlichen Verlauf; in ihm gibt es „aktuelle“ oder „zuständliche“ (einem Zustand entsprechende, anhaltende, dauerhafte) Situationen.323 Schmitz‘ Ausführungen und der Zusammenhang von impressiven, aktuellen und zuständlichen (in einen Zustand versetzende) Situationen schärft die Frage nach der Situationshaftigkeit der szenografisch hergestellten und inszenierten Atmosphäre. Situationen takten die zeitliche Struktur eines Stückes, manifestieren sich in der Zeit und in der Szenografie im Ereignis. Im Beispiel „Ghost Machine“ wird aus rezeptionsästhetischer Sicht zweierlei erkennbar: Zum einen geht das Wahrgenommene von vielsagenden Eindrücken aus: Die Bühne ist dunkel und wirkt finster. Zum anderen wird die aktuelle Situation (von der eine bedrohliche Atmosphäre ausgeht, man wittert von irgendwoher Gefahr) zeitlich ausgedehnt: Der Besucher ist nicht nur momentan vorsichtig, sondern bleibt über eine längere Dauer angespannt und ein inneres Warten hat eingesetzt, die aktuelle Situation geht also in einen Zustand über. Aus Sicht des Herstellers des Wahrgenommenen 320 Schmitz,
Hermann: Was ist Neue Phänomenologie?, a. a. O. 2003, S. 91.
321 Ebd. Er schreibt: „Meist besitzt die chaotische Mannigfaltigkeit überdies Ganzheit, d. h. Abgehoben-
heit nach außen und (thematischen und atmosphärischen) Zusammenhang in sich. Ganzheitlich, chaotisch-mannigfaltige Bedeutsamkeit … kann Sachen beliebiger Art ganzheitlich zusammenhalten; ich spreche dann von Situationen und bezeichne deren integrierende Bedeutsamkeit als binnendiffus.“ Zu „Situation“ siehe auch Bohn, Ralf: Szenische Hermeneutik, a. a. O. 2015, S. 9 f., 13 f. 322 Ebd., S. 251. Gefühle gehen von vielsagenden Eindrücken und impressiven Situationen aus, „in denen ein binnendiffuser, nie vollständig expliziter und doch mit einem Schlage gegenwärtig sich zeigender Hof von Bedeutungen (d. h. Sachverhalte, Programme, Probleme) mit der Atmosphäre eines Gefühls … erfüllt ist“. 323 Ebd., S. 92.
3 Szenogreffieren 105
veranschaulicht sich ebenfalls zweierlei: Das, womit ein Szenograf das im Raum Installierte auflädt, sind vielsagende Eindrücke und Situationen, die dadurch hergestellt werden, dass dramaturgische Mittel zum Einsatz kommen und räumliche Bedingungen gestaltet werden. Zum einen wirkt die Bühne eben durch diese dunkle Lichtgestaltung finster, zum anderen wird die aktuelle Situation des Besuchers dadurch ausgedehnt und zu einem Zustand, in dem die Kopfhörertonspur so gestaltet ist, dass nicht sofort neue Anweisungen zu hören sind, sondern durch die Pause der Besucher auf der Bühne zum Stehen kommt – verharrt. Die Situationshaftigkeit dessen, was der Besucher wahrnimmt, und dessen, womit der Szenograf das im Raum Installierte auflädt, ist also geprägt von einem gewissen Effekt der Nachhaltigkeit und gekennzeichnet durch eine auslösende impressive Situation, die in ihrem zeitliche Verlauf von einer aktuellen in eine (für eine gewisse Zeit) anhaltende Situation übergeht. Von einer tatsächlich anhaltenden, d. h. dauerhaften Situation kann allerdings nicht die Rede sein. Schmitz bezeichnet eine Inszenierungskunst, die es vermag, „mit mächtigen Atmosphären des Gefühls geladene Eindrücke … so zu arrangieren, dass durch die ergreifende Macht der aus dieser Situation hervorstrahlenden Atmosphäre die aktuelle Situation als zuständliche auf Dauer gestellt werden kann“, als „Eindruckstechnik“; auf deren Raffinesse beruhe z. B. die Reklame und Werbung.324 Zwar beinhaltet auch eine Szenografie eine Intendiertheit und in diesem Sinne eine Intention und Strategie, doch keine solcher Art, dass man sie als „Eindruckstechnik“ einstufen könnte. Die Inszenierungskunst ihrer Herstellung beruht auch nicht auf Manipulation, sondern darauf (und hat zum Ziel), einen Besucher z. B. auf etwas einzustimmen, womöglich auf ein Thema, das in der Szenografie verhandelt werden soll. Im Fall der als Beispiel angeführten Kreation325 „Ghost Machine“ ist es zunächst die Kriminalgeschichte, auf die der Besucher mittels der Verschleppungsszene vorbereitet wird. Szenografisch hergestellte und inszenierte Atmosphären können den Rezipienten nicht nur einstimmen, sondern als dramaturgische Mittel326 den Besu324 Ebd.,
S. 256. Schmitz schreibt über das sogenannte „Machen von Atmosphären“, indem er das, was Gernot Böhme „ästhetische Arbeit“ nennt, als „Eindruckstechnik“ bezeichnet und (vor dem Hintergrund jakobinischer Weihefeste der Französischen Revolution) am Beispiel der Festkultur Adolf Hitlers erläutert. Auch die Werbung, z. B. die Zigarettenmarke mit dem Slogan „Peter Stuyvesant, der Duft der großen weiten Welt“, erziele durch Eindruckstechniken den Effekt einer nachhaltigen Verführung und darüber hinaus eine tatsächlich zuständliche Situation durch psychische und körperliche Abhängigkeit, sprich Sucht. 325 Das Wort „Kreation“ zeigt, dass eine genaue Bezeichnung solcher Kunstprojekte bis heute fehlt. „Ghost Machine“ kann bezeichnet werden als theatrale Szenografie, Installationstheater, szenografische Aufführung, Theaterinstallation, Medien-Theater-Kunst-Werk, performative Installation oder Stationentheaterinszenierung etc. 326 Vgl. Lemma „Atmosphäre“ von Sabine Schouten in: Fischer-Lichte, E./Kolesch, D.: Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart/Weimar: Metzler 2005, S. 14. Auch Schouten, deren Ausführungen sich nicht auf die Raumkunst Szenografie beziehen, führt das Moment der Einstimmung an und beschreibt gestalterische Mittel.
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cher auch von der einen Stimmung in die nächste, andere Stimmung oder Szene führen. In „Ghost Machine“ geht dieser Wechsel daher mit einer Wendung einher: In der zweiten Hälfte des Stückes wird die Krimi-Ebene zugunsten einer eher selbstreflexiven Ebene verlassen. Jetzt steht der Besucher im Mittelpunkt des Geschehens, seine Aufmerksamkeit ist auf ihn selbst gelenkt und er wird seiner eigenen Gegenwart gewahr, indem er sich selbst begegnet. Die Bühne ist dementsprechend nicht irgendwie, sondern stark ausgeleuchtet, denn mit dieser Lichtgestaltung, die der Szenograf setzt, ist eine Intention verbunden. In dieser hellen bzw. grellen Lichtstimmung und Situation fühlt sich der Rezipient unangenehm beobachtet, ungeschützt, wie ins Visier genommen. Diese künstlerisch hergestellte und inszenierte Atmosphäre, die „Ghost Machine“ in dieser Szene hervorbringt, vermag es, den Rezipienten Enge 327 leiblich erfahren zu lassen. Sie ist auch Mittel zum Zweck insofern, als der Wahrnehmende die Inszenierung kurzweilig und mit einem gewissen Wahrheitsanspruch erlebt (erleben soll). Die ästhetische Arbeit Die Untersuchungen von Gernot Böhme, der das Phänomen Atmosphäre 328 als „ästhetische Arbeit“329 in den Blick nimmt, können an dieser Stelle die bisherigen Ausführungen weiterbringen, um nun die szenografisch hergestellten und inszenierten Atmosphären als eine Inszenierungskunst und -strategie näher zu bestimmen. Seinen Thesen folgend, befinden wir uns in einem „theatralisierten Zeitalter“, das durch Inszenierung und Ästhetisierung bestimmt ist.330 In der „neuen Ästhetik“ geht es um die „Beziehung von Umgebungsqualitäten und dem menschlichen Befinden“, also dasjenige, wodurch sich ihre Bezogenheit aufeinander ausdrückt – „dieses Und, zwischen beidem … das sind die Atmosphären“.331 327 Vgl.
die erläuterten Ausführungen von Hermann Schmitz über „leibliche Dynamik“.
328 Böhme, Gernot: Atmosphäre: Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1995. Böhme
nennt vier Vertreter verschiedener ästhetischer Ansätze und Theorien, die ihm wichtig sind: Loytard, Welsch, Seel, Baudrillard und Flusser (S. 10 f.). 329 Ebd., S. 16. 330 Ebd., S. 14. Als weitere Thesen werden angeführt: 2.) dass Atmosphären, wie man sie in Umgebungen, aber auch an Dingen oder an Menschen empfindet, das zentrale Thema der Ästhetik sind; 3.) dass die Kunst nicht mehr das zentrale Thema der Ästhetik ist, sondern nur eine besondere Form ästhetischer Arbeit; 4.) dass die ästhetische Theorie viel von den Praktikern (z. B. Theatermacher, Bühnenbildner, Landschaftsgestalter, Innenarchitekten, Designer, Werbe- und Verkaufsfachleute) lernen kann, denn diese Leute wissen, wie man Atmosphären herstellt (S. 14–18). 331 Ebd., S. 22 f. Böhme führt weiter aus, dass das Neue dieser neuen Ästhetik sich in dreierlei Weise formulieren lässt: A) „Die bisherige Ästhetik ist im wesentlichen Urteilsästhetik, d. h., es geht in ihr weniger um Erfahrung oder gar sinnliche Erfahrung.“ B) „Die zentrale Stellung des Urteils in der Ästhetik und ihre Orientierung an Mitteilbarkeit hat zu einer Dominanz von Sprache, heute zu einer Dominanz der Semiotik in der ästhetischen Theorie geführt.“ Ein Bild (wie z. B. das der
3 Szenogreffieren 107
Für Böhme bezeichnet Atmosphäre den Grundbegriff und zentralen Erkenntnisgegenstand seiner neuen Ästhetik. Ihm zufolge ist die Atmosphäre sowohl für den Rezipienten als auch für das, was wahrgenommen wird, gemeinsame Wirklichkeit. Sie ist „die Wirklichkeit des Wahrgenommenen als Sphäre seiner Anwesenheit und die Wirklichkeit des Wahrnehmenden, insofern er, die Atmosphäre spürend, in bestimmter Weise leiblich anwesend ist“.332 Als ästhetische Kategorie kann die Atmosphäre als eine Räumlichkeit insofern bestimmt werden, als sie „durch die Anwesenheit von Dingen, von Menschen oder Umgebungskonstellationen, d. h. durch deren Ekstasen ‚tingiert‘“ ist.333 Als „Sphären der Anwesenheit von etwas, ihre Wirklichkeit im Raume“ sind Atmosphären laut Böhme nicht frei schwebend, sondern an die Anwesenheit von Dingen, von Menschen oder Umgebungskonstellationen gebunden und werden aus ihnen heraus gedacht und geschaffen.334 In seinen Überlegungen über das Machen von Atmosphären verweist er auch auf die Theorie und ein Inszenierungsbeispiel aus der Gartenkunst, deren Vokabular eine Nähe zur Bühnenbildnerei aufweist. Es heißt dort, dass durch das Arrangement von „Gegenständen, von Farben, Geräuschen usw. ‚Szenen‘ bestimmter Gefühlsqualitäten hervorgebracht werden“.335 Räume können also durch vielerlei Anwesenheiten gestimmt werden, und Atmosphären können evoziert werden durch das Arrangement einzelner Gestaltungselemente. Böhme formuliert, dass auch Mona Lisa) müsse jedoch nicht als Zeichen für dessen Bedeutung gelesen werden, sondern als Erfahrung der Präsenz des Dargestellten. C) Seit Benjamin ginge es nicht mehr primär darum zu bestimmen, was ein Kunstwerk ist, sondern um die Produktion von Atmosphären als ästhetische Arbeit. Aufseiten der Praktiker und Produzenten ist die neue Ästhetik eine allgemeine Theorie ästhetischer Arbeit und wird verstanden als die Herstellung von Atmosphären (S. 22–25). 332 Ebd., S. 34. Zuvor verweist Böhme auf Schmitz, der den Atmosphären eine zu große Selbstständigkeit gegenüber den Dingen zubillige. Böhme geht davon aus, dass Atmosphären durch dingliche Qualitäten (z. B. die Farbe Blau) hergestellt werden können, durch deren Wirkung, Ausdehnung – Voluminizität. Die klassische Ding-Ontologie versteht das Volumen eines Dings als die Eigenschaft, ein bestimmtes Raumstück einzunehmen oder zu besetzen. Böhme entgegnet und führt aus: „Die Ausdehnung eines Dinges und sein Volumen sind aber auch nach außen hin spürbar, geben dem Raum seiner Anwesenheit Gewicht und Orientierung. Volumen, gedacht als Voluminizität eines Dinges, ist die Mächtigkeit seiner Anwesenheit im Raum. Auf der Basis der so veränderten Ding-Ontologie ist es möglich, die Atmosphären sinnvoll zu denken.“ (S. 32 f.) 333 Ebd., S. 33. „Tingiert“ im Sinne von gefärbt, getunkt, eingetaucht. 334 Ebd. 335 Ebd., S. 36. Mit „Szenen“ werden Arrangements bezeichnet, die bestimmte, z. B. heitere oder ernste Atmosphären hervorbringen. Böhme bezieht sich in seinem Beispiel auf Ausführungen des Gartentheoretikers und Philosophen Christian Cajus Lorenz Hirschfeld (1742–1792). Ergänzend sei hier die Architekturästhetik von Nicolas Le Camus de Mézières erwähnt (1721–1789, Architekt von Hallen und Gebäuden im heutigen Quartier des Halles in Paris), der die Wirkung und den Ausdruck einer Architektur in der Proportion begründet sah. Diese, verstanden als eine Harmonie der Masse und als „Charaktere“ des Raums, verband sich über Formen, Farben etc. bei dem Rezipienten mit bestimmten Gedanken und Vorstellungsverknüpfungen, die der Architekt einplanen konnte. Vgl. zu Le Camus de Mézières auch Nerdinger, W./Strobl, H.: Architektur wie sie im Buche steht: fiktive Bauten und Städte in der Literatur, München: Architekturmuseum der Technischen Universität München 2006, S. 236.
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Worte oder Gemälde Atmosphären erzeugen können und dass die Ganzheit der Atmosphäre mehr ist als ihre Teile (die Einzelelemente).336 Dies lässt vermuten, dass sich Lotmans Metapher337 als eine begründete These erweisen wird. So stark Böhmes produktionsästhetischer Ansatz ist, so lässt er doch einerseits produktionsästhetisch relevante Fragen auf semiotischer Ebene offen, was die Bedeutung der einzelnen Elemente anbelangt und über die Beobachtung ihres Gestaltungsarrangements hinausgeht. Andererseits gilt das auch im Hinblick auf die Ästhetik aus dem Blickwinkel des Rezipienten. Denn nicht nur die Herstellung von Atmosphären ist, mit Böhme gesprochen, „ästhetische Arbeit“, sondern eine hergestellte Atmosphäre bedeutet auch ästhetische Arbeit – Wahrnehmungsleistung – für den Rezipienten. „Wahrnehmung qua Befindlichkeit“ reicht für eine spürbare Präsenz 338 zumeist nicht aus, wie sich aus eigener künstlerischer Empirie sagen lässt. „Eine umfassende Untersuchung des Praxiswissens dieser ganzen Gattung vom Bühnenbildner bis zur Kosmetikerin würde sicher die ästhetischen Gegenstände einschließlich der Kunstwerke in einem neuen Licht erscheinen lassen. Ihre Eigenschaften würden als Bedingungen ihrer atmosphärischen Wirkung verstanden werden.“339 Um die „Eigenschaften“ der inszenierten Atmosphäre, die von einer Szenografie ausgeht, als eine Inszenie-
336 Böhme,
Gernot: Atmosphäre, a. a. O. 1995, S. 38. Zur literarischen Geschichte stellt er fest, dass sie eine Atmosphäre nicht nur beschreibt, sondern „sie zitiert diese Atmosphäre selbst herbei, beschwört sie. Ähnlich sind Bilder, die eine melancholische Szene darstellen, ja nicht nur Zeichen für diese Szene, sondern erzeugen diese Szene selbst.“ 337 Lotman, Jurij: „Über die Semiosphäre“, in: Posner, Roland (Hg.): Kultur und Evolution, a. a. O. 1990, S. 290. Lotmans Kuh-Beefsteak-Metapher verdeutlichte bereits, dass sich durch bloßes Zusammenkleben einzelner Zeichen/Elemente keine Ganzheit (Semiosphäre) herstellen lässt. 338 Böhme, Gernot: Atmosphäre, a. a. O. 1995, S. 96. Ihm zufolge geht es dabei einerseits um die Umgebung, die eine Atmosphäre ausstrahlt, und andererseits um den Rezipienten, das Ich, „indem ich in meiner Befindlichkeit an dieser Stimmung teilhabe und darin gewahre, dass ich jetzt hier bin. Wahrnehmung qua Befindlichkeit ist also spürbare Präsenz.“ Der analytische Schritt, das „ich sehe dies, ich höre dies, ich rieche dies“, ereigne sich erst im zweiten Schritt. Böhme übersieht an dieser Stelle jedoch, dass die spürbare Präsenz unter dem Einfluss kultureller Erfahrungen (Semiosphäre) steht und ein Szenograf auf diese Erfahrungen, mithin auf Zeichen/Codes, rekurriert, damit die inszenierte Atmosphäre als Inszenierungsmittel in Anschlag gebracht und mit dem ersten Gefühl wirken, d. h. evoziert werden kann. Der Rezipient, bewusst oder unbewusst, nimmt sein Wahrnehmen wahr, indem er das, was er wahrnimmt, in seine „Welt“ einbettet. Somit vollbringt er eine ästhetische Wahrnehmung im Sinne einer Wahrnehmungsleistung. 339 Ebd., S. 39. An anderer Stelle führt Böhme aus: Ein Architekt z. B. schafft durch sinnliche Items wie Farben, Oberflächengestalt, Linienführung etc. – „Arrangements und Konstellationen“ – eine „Physiognomie“, von der eine bestimmte Atmosphäre ausgeht … was jedem ästhetischen Arbeiter selbstverständlich ist. Dabei sind die sinnlichen Eigenschaften, die der Praktiker dem Produkt verleiht, nie einzeln, „sondern in der Fülle ihrer synästhetischen Wirkung relevant. Das, was ein Philosoph demgegenüber in Erinnerung zu bringen hätte, ist, daß es niemals bloß um die Gestaltung eines Gegenstandes geht, sondern immer zugleich um die Schaffung der Bedingungen seines Erscheinens.“ (S. 97 f.) Vgl. auch Michael Bockemühl: „Atmosphären sehen. Ästhetische Wahrnehmung als Praxis“, in: Mahayni, Ziad (Hg.): Neue Ästhetik. Das Atmosphärische und die Kunst, München: Fink 2002, S. 219.
3 Szenogreffieren 109
rungsstrategie genauer verstehen zu können, führt der folgende Weg über die Atmosphären, die ein Bühnenbild erzeugt. Laut Böhme kann man bei der Kunst des Bühnenbildes – ergänzend sei hier auch die Kunst der Szenografie genannt – im Bereich Stadtplanung, Innenarchitektur, Marketing etc. insofern „von praktischer oder besser: poetischer Phänomenologie reden“, als es die Kunst ist, etwas in Erscheinung zu bringen.340 Böhme führt ebd. weiter aus, dass diese intentionale Inszenierungskunst und Atmosphären deshalb in der ästhetischen Theorie Platz finden, weil Inszenierung – von Politik, Persönlichkeiten, Städten, Waren etc.341 – ein „Grundzug unserer Gesellschaft geworden ist“. Dabei spiegelt das Paradigma Bühnenbild, das er für die Kunst der Erzeugung von Atmosphären wählt, nicht nur die reale Theatralisierung des Lebens, sondern verleiht „dem Begriff von der Herstellung von Atmosphären objektive Realität“.342 Die Bühnenbildkunst, von der Böhme (dem zugestimmt werden kann) sagt, dass sie den praktischen Beweis liefert, dass Atmosphären künstlich herstellbar sind, wäre in der Tat sinnlos, „wenn jeder Theaterbesucher etwas nur Subjektives wahrnehmen würde“.343 Als so etwas wie die ästhetische Qualität einer Szene sind Bühnenbild-Atomsphären „Totalitäten“, die das Ganze der Welt oder eines Anblicks einfärben und die „Mannigfaltigkeiten von Eindrücken in einer Stimmungslage“ zusammenfassen.344 Das trifft auch auf Szenografie-Atmosphären zu, deren Unterschied zu Bühnenbild-Atmosphären allerdings darin besteht, nicht aus der Ferne in passiver Sitzhaltung (wie es die klassische Theaterorganisation vorsieht) wahrgenommen zu werden, sondern nahsichtig und durch körperliche Bewegung, was weitere Auswirkungen auf die Wahrnehmung (wie im Gesamtkapitel 3.2, insbesondere in 3.2.4 dargelegt wird) und auch auf szenografische Produktionsprozesse hat. Im erwähnten Beispiel „Ghost Machine“ wurde bereits veranschaulicht, dass Atmosphären einen Raum total einnehmen können. Die ausschnitthafte Verschleppungsszene und die vielen verschiedenen Eindrücke (die virtuellen Akteure im Film des Kameradisplays, die realen Schauspieler und Besucher, die Lichtgestaltung etc.) werden in eine Krimi-Atmosphäre eingefasst und darin 340 Gernot
Böhme: „Die Kunst des Bühnenbildes als Paradigma einer Ästhetik der Atmosphäre“, in: Bohn, Ralf/Wilharm, Heiner (Hg.): Inszenierung und Vertrauen: Grenzgänge der Szenografie, Bielefeld: transcript 2011, S. 109–117, hier S. 115 f. 341 Siehe zur gegenwärtigen „Inszenierungsgesellschaft“ auch Wilharm, Heiner: Die Ordnung der Inszenierung, a. a. O. 2015, S. 16, 59 f., 589. 342 Böhme, Gernot: Die Kunst des Bühnenbildes als Paradigma einer Ästhetik der Atmosphäre, http:// www.cresson.archi.fr/PUBLI/pubCOLLOQUE/AMB8-confGBohme-de.pdf (letzter Zugriff: 17.02.2011). 343 Gernot Böhme, „Die Kunst des Bühnenbildes als Paradigma einer Ästhetik der Atmosphäre“, in: Bohn, Ralf/Wilharm, Heiner (Hg.): Inszenierung und Vertrauen, a. a. O. 2011, S. 109. 344 Ebd., S. 110.
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gehalten. Dieses Phänomen oder, wie Böhme es nennt, „Unfassliche“ vermag die Bühnenbildnerei wie die Szenografie fasslich zu machen, indem sie Atmosphären dergestalt herstellen, dass diese von vielen ähnlich, d. h. von einem Publikum als etwas „Quasi-Objektives“ empfunden werden.345 Wenn dies nicht gelingt, ist es kaum möglich, das Wesen, den Charakter, die Grundstimmung einer Geschichte oder eines Themas intersubjektiv zu vermitteln.346 Was aber sind die Bedingungen, dass etwas „quasi objektiv“ wirkt und als solches wahrgenommen wird? Aus produktionsästhetischer, mithin eigener Perspektive kann als begründete These gelten, dass der szenografische Raum und seine atmosphärische Räumlichkeit als Kommunikationsmedien zum Ziel haben, das einzufangen oder auszustrahlen, worum es eigentlich geht und was hinter der vordergründigen (z. B. erzählten) Geschichte steht. Es gilt existenzielle Empfindungen anzusprechen und das als etwas Immaterielles und Atmosphärisches zu kreieren, was der Geschichte, ihrem Inhalt oder ihren Figuren vorausgeht. Im Fall der im Beispiel beschriebenen Verschleppungsszene ist es Angst. Dementsprechend stimmt das, womit ein Szenograf das im Raum Installierte auflädt, den Rezipienten nicht auf freudige, sondern auf geheimnisvolle oder bedrohliche Geschehnisse ein, die dann auch folgen oder sich in eine andere Atmosphäre transformieren und dementsprechend auch mit Spannung vom Publikum erwartet werden. Das Prinzip, das Wesentliche einzufangen, dieses dann in eine räumliche Struktur zu übersetzen und schließlich als Phänomen zum Zünden zu bringen, beruht auf Simplifikation347 und bezieht sich auf die leiblichen Dynamiken, in die jeder Mensch existenziell und pragmatisch eingebunden ist und die der Szenograf beim Rezipienten zu erreichen versucht. Mit Schmitz wurden diese Dynamiken bereits beschrieben: Freude, Angst, Schmerz, Trauer, Müdigkeit, Frische, Wollust, Entzücken, Erleichterung und dergleichen. „Quasi objektiv“, wie Böhme es nennt, ist etwas, über das man sich auch über die jeweils nur eigene Erfahrung hinaus sprachlich verständigen kann. So kommt zum Quasi-Objektiven die Qualität einer Intersubjektivität hinzu, „die nicht in einem identischen Objekt ihren Grund hat“.348 Dass eine Atmosphäre von vielen in ungefähr gleicher Weise erfahren werden kann, setzt 345 Ebd.,
S. 111 f. Mit der Bezeichnung „quasi-objektiv“ meint Böhme ein gemeinsames kulturelles Verständnis, das Publikum muss „kulturell in bestimmte Wahrnehmungsweisen einsozialisiert sein.“ 346 Ebd. 347 Jurij Lotman beschreibt kreative Prozesse wie folgt und trifft damit einen zentralen Punkt: Ein Kunstwerk entsteht in Entsprechung zu der Struktur, die nach des Künstlers Meinung den vorliegenden Phänomenen der Wirklichkeit eigen ist. Lotman, Jurij M.: Vorlesungen zu einer strukturalen Poetik, München: Fink 1972b, S. 23. 348 Böhme, Gernot: „Die Kunst des Bühnenbildes als Paradigma einer Ästhetik der Atmosphäre“, in: Bohn, Ralf/Wilharm, Heiner (Hg.): Inszenierung und Vertrauen, a. a. O. 2011, S. 111.
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nicht nur eine gewisse Gleichheit der Wahrnehmenden voraus349, sondern mithin einen weiteren primären Verständnisrahmen, den es hier aufzuzeigen gilt: eine „Sprache“ der Dinge, die von den Dingen aus, die wahrgenommen werden, als Äußerungsform in den Raum als Atmosphäre greift. Die Codes350 dessen, was vom Wahrnehmenden als Wahrgenommenes erspürt wird, müssen mehr oder weniger kollektiv dechiffrierbar351 und erkennbar sein. Die Sprache der „Ekstasen der Dinge“352 ist ein Artefakt aus Zeichen, Symbolen, Bildern, Hinweisen, Schwingungen und dergleichen, die der Bühnenbildner oder Szenograf setzt und arrangiert, um einerseits Bedeutungsebenen und Raumsemantiken zu erzeugen, andererseits infolgedessen beim Rezipienten Assoziationen353 zu generieren, die er einplant – wohl wissend um Emergenzen354, denn eine atmosphärische Räumlichkeit ist immer performativ und daher unberechenbar. Die Assoziationsgenerierung – wie das Erinnern an selbst erlebte Atmosphären, Stimmungen, Gefühle, Personen, Situationen oder Orte etc. – konstituiert sich als eine Wahrnehmungsleistung des Rezipienten, eine Art Korrespondenz auf das vom Szenografen Vermittelte und seine Gestaltungsleistung. Die beabsichtigte Wahrnehmungsleistung, Beteiligung und Mitwirkung des Rezipienten ermöglicht es, dass er die eigene Gestimmtheit und eigene Assozia tionen in das vom Szenografen im Raum Installierte einordnen oder damit konfrontieren kann – der Rezipient wird integriert und affiziert. Er erhält und schafft sich damit selbst zusätzlich einen zur äußeren Szenografie gehörenden inneren Spielraum, dessen Dimension sich durch seine körperliche Bewegung im Raum potenziert. Denn durch die Bewegung im und durch den Raum ist die Inszenierung aus vielen verschiedenen Richtungen her wirksam. Im Vergleich zu einer Bühnenbild-Atmosphäre – denn „das Sehen ist kein Drin-Sein, sondern schafft Distanz“355 – vermag die hergestellte Atmosphäre einer Szenografie 349 Ebd.,
S. 112.
350 Regelsysteme (zur Hervorbringung und Interpretation von Zeichen bzw. deren Zusammenhängen),
die einem gesellschaftlichen Konsens darüber unterliegen, welche Zeichen mit welchen Bedeutungen verbunden sind, die wiederum mit existenziellen Dynamiken verbunden sein können (Freude, Angst etc.). 351 Damit etwas z. B. als Trauer empfunden wird, ist es hierzulande wenig hilfreich, sich des japanischen Vokabulars zu bedienen, das nicht Schwarz, sondern Weiß zum Zeichen dafür hat. 352 Vgl. Gernot Böhme, „Das Ding und seine Ekstasen“, in: Ders.: Atmosphäre, a. a. O. 1995, S. 31–34. 353 Es wird auf die Erzeugung von Vorstellungen beim Betrachter gezielt, um Phänomene erscheinen zu lassen. Vgl. Böhme, Gernot: „Die Kunst des Bühnenbildes als Paradigma einer Ästhetik der Atmosphäre“, in: Bohn, Ralf/Wilharm, Heiner: Inszenierung und Vertrauen, a. a. O. 2011, S. 113. 354 Lemma „Emergenz“, in: Fischer-Lichte, E./Kolesch, D.: Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart/ Weimar: Metzler 2005, S. 85 f. Emergenz meint die Nichtvorhersagbarkeit neuer Erscheinungen. In Systemtheorien sind es Eigenschaften, die als irreduzibel gelten, d. h. nicht auf die Eigenschaften der Systemteile zurückgeführt werden können. 355 Vgl. Gernot Böhme: „Raum wird genuin erfahren dadurch, dass man im Raum ist. Durch leibliche Anwesenheit. Die einfachste und überzeugendste Art, sich der leiblichen Anwesenheit in einem Raum zu versichern, ist Bewegung. … [W]echselnde Perspektive und wechselnde Fixierung [sind] am besten geeignet, uns den Eindruck von Räumlichkeiten zu vermitteln.“ Der „Sinn, den man
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einen Rezipienten räumlich womöglich mehr zu involvieren. Dennoch wird sie nicht nur affektiv wahrgenommen, denn dadurch, dass sich der Rezipient einen eigenen Spielraum schafft, wird das Wahrgenommene auch reflektiert356. Zumal der Rezipient weiß, dass er sich in einer Inszenierung357 befindet – wie im Fall von „Ghost Machine“. Vor diesem Hintergrund kann also das, was in den Raum sozusagen „hinausstrahlt“, auch als eine semiotische Dimension ausgemacht und als eine Eigenschaft dafür herausgestellt werden, dass man sich über eine Atmosphäre, die eine Szenografie hervorbringt, intersubjektiv verständigen kann. Das bestärkt die These der vorliegenden Arbeit, dass sich die Szenografie durch eine performative und semiotisch atmosphärische Ästhetik konstituiert. Böhme geht in seinen Überlegungen zur „Kunst des Bühnenbildes als Paradigma einer Ästhetik der Atmosphäre“ jedoch nicht weiter auf die Semiotizität ein; er nimmt auch nicht die Zeichenwahrnehmung in den Blick, sondern konzentriert sich auf das, was ihr vorausgeht: die atmosphärische Wahrnehmung. Da eine solche Betrachtungsweise für die Konturierung einer – der These nach – performativen und semiotisch atmosphärischen Ästhetik nicht ausreicht, wird die Thematik Semiotizität in Kapitel 3.1.3 erörtert. Indes richtet sich der Blick auf eine „Technik“, die Böhme hervorhebt und die auch für das Verständnis der Herstellung von inszenierten Atmosphären einer Szenografie fruchtbar ist. Dabei handelt es sich allerdings weniger um eine Methode oder Technik als vielmehr um ein Wissen, das bereits seit der Antike bekannt ist. Für die Herstellung einer Atmosphäre ist laut Böhme der Umgang mit materiellen Bedingungen – Dingen, Licht, Ton – entscheidend, denn die Bedingungen, die gesetzt werden und unter denen die Atmosphäre erscheint, sind Befindlichkeit nennt“, ist der Sinn für das Darin-Sein. „Im Befinden spüren wir, wo wir uns befinden.“ Gernot Böhme: „Über Architektur reden, Architektur wahrnehmen, Architektur machen“, in: Ursprung, Philip: Herzog & de Meuron: Naturgeschichte. Ausstellungskatalog Canadian Centre for Architecture, Montréal, Baden/CH: Müller 2002, S. 410–417. 356 Sabine Schouten kommt, wie Fischer-Lichte, in ihren theaterwissenschaftlichen Untersuchungen zur Atmosphäre zu sehr ähnlichen Ergebnissen, denen aus eigener Empirie zugestimmt werden kann. Sabine Schuten: „Der Begriff der Atmosphäre als Instrument der theaterästhetischen Analyse“, in: Kurzenberger, H./Matzke, A. (Hg.): TheorieTheaterPraxis, Berlin: Theater der Zeit 2004, S. 56–65. Die Theaterwissenschaft geht allerdings vom Bühnenbild aus und nimmt (Aufführungs-)Analysen aus rezeptionsästhetischer Sicht vor. 357 Lemma „Inszenierung“, in: Fischer-Lichte, E./Kolesch, D.: Metzler Lexikon Theatertheorie, a. a. O. 2005, S. 146 ff., 151. Inszenierung bezeichnet den Vorgang und Prozess, der sich in einer Aufführung vollzieht. (Eine Aufführung wird verstanden als ein performatives Ereignis, das weder ein Werk noch ein Produkt ist, sondern eine dynamische Kategorie, die von einem Zusammenwirken von Akteuren und Publikum ausgeht.) Inszenierung als ästhetischer und zugleich die Wirklichkeit ästhetisierender Vorgang meint die Herstellung von Schein. Siehe auch Lemma „Aufführung“: „Die Semiotizität eines Ereignisses, seine Bedeutungsebene, konstituiert sich in der Wahrnehmung des Zuschauers oder Besuchers, und zwar als Wahrnehmung a) selbstbezüglicher Phänomene, b) von Figuren, Objekten, weiteren symbolischen Ordnungen und c) als Umspringen der Wahrnehmung zwischen a) und b).“ (S. 20).
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ihm zufolge das Erzeugende, welches das Erscheinen des Phänomens ermöglicht; dieses Erscheinen erläutert Böhme mit Rückgriff auf Platons „phantastike techne“.358 In der Kunst ermöglicht sie, etwas in Erscheinung treten zu lassen: „[D]as Phantasma, das die phantastike techne produziert, ist eine Erscheinung, der man als solcher noch nicht ansieht, ob sie Wahres darstellt oder nicht“; ein Bild wird als etwas „Anscheinendes“ oder „ähnlich Gemachtes“ gedacht.359 Der Blick des Betrachters wird einbezogen, um etwas „richtig“ erscheinen zu lassen. Dabei liegt des Künstlers Ziel weniger in den Objekten selbst als vielmehr in der Vorstellung und Einbildungskraft – „imaginatio“ –, die der Betrachter durch das Objekt empfängt.360 Dass in der Antike Balken eines Tempels leicht geschwungen gebaut wurden, damit sie dem Betrachter als waagerecht erscheinen361, liegt im speziellen Projektionsverfahren begründet, das bereits erwähnt wurde: Der konkaven Netzhaut des Auges angepasst, wurde nicht planperspektivisch durch den Raum geschnitten, sondern sphärisch. Panofsky bezieht sich in seinem Aufsatz über die „Perspektive als symbolische Form“ auf die Ausführungen des römischen Architekten Vitruv, der mit dem Begriff „skenographia“ jene Gestaltungspraxis meint, welche in der bildenden und bauenden Kunst optische Gesetze anwendet, um den durch den Sehvorgang bedingten Scheinverzerrungen entgegenzuwirken. So müsse der Maler bei der perspektivischen Darstellung eines dreidimensionalen Gebildes auf einer Fläche nicht die wahren, sondern die scheinbaren Maße zur Wiedergabe bringen, und der Architekt nicht die abstrakt mathematische, sondern die subjektiv eindrucksmäßige Wohlgestalt anstreben.362 Böhme beschreibt die „skenographia“ demnach als eine Kunst, die in ihrem „Tun auf die Erzeugung von Vorstellungen“ beim Zuschauer gerichtet ist. Dabei steht nicht die Behandlung der Objekte im Vordergrund, sondern sie „dient lediglich der Herstellung von Bedingungen, unter denen diese Phänomene in Erscheinung treten können“.363 Die Szenografie, die damals wie heute den Blick des Betrachters einbezieht und auf die Mitwirkung des Subjekts (des Besuchers) setzt, zielt auf die Erzeugung von Vorstellungen beim Betrachter und „will nicht Gegenstände formieren, sondern vielmehr Phänomene schaffen“.364 358 Gernot Böhme: „Die Kunst des Bühnenbildes als Paradigma einer Ästhetik der Atmosphäre“, in:
Bohn, Ralf/Wilharm, Heiner (Hg.): Inszenierung und Vertrauen, a. a. O. 2011, S. 112. Gernot: Theorie des Bildes, München: Fink 1999, S. 19 f. 360 Gernot Böhme: „Die Kunst des Bühnenbildes als Paradigma einer Ästhetik der Atmosphäre“, in: Bohn, Ralf/Wilharm, Heiner (Hg.): Inszenierung und Vertrauen, a. a. O. 2011, S. 113. 361 Ebd. 362 Panofsky, Erwin: „Die Perspektive als symbolische Form“, in: Panofsky, Erwin/Oberer, H./Verheyen E. (Hg.): Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft, Berlin: Volker Spiess 1985 (1964), S. 106. 363 Böhme, Gernot: „Die Kunst des Bühnenbildes als Paradigma einer Ästhetik der Atmosphäre“, in: Bohn, Ralf/Wilharm, Heiner: Inszenierung und Vertrauen, a. a. O. 2011, S. 113. 364 Ebd. 359 Böhme,
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Für die Erzeugung von Vorstellungen und Phänomenen ist, über die von Böhme angeführte „phantastike techne“ hinaus, jedoch eine weitere Technik bzw. ein anderes Wissen maßgebend, das sich auf Strukturgestaltung und -hervorbringung bezieht und im Gesamtkapitel 3.2 ausgeführt wird. Die bisherigen Untersuchungen zeigen, dass die hergestellte und inszenierte Atmosphäre einer Szenografie eine künstlerische Inszenierungsarbeit ist. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass unter dem Arbeitsbegriff „Szenosphäre“ vorläufig Folgendes zu verstehen ist: Erstens hat sich die hergestellte und inszenierte Atmosphäre einer Szenografie, die Szenosphäre also, als eine Inszenierungsstrategie herausstellt. Zweitens hat sie als solche zum Ziel, beim Rezipienten ein Sich-Einfühlen365 in das Vorgeführte zu ermöglichen und die atmosphärische Eigenart der Szenografie sowie der darin eingebetteten Szenen zu unterstreichen. Drittens zielt sie darauf ab, zur Bedeutungskonstitution beizutragen. Viertens strebt sie danach, durch ihre Situationshaftigkeit die Darbietung affektiv und zeitlich zu strukturieren und den Rezipienten zu ergreifen. Fünftens: Als „Scheinwirklichkeit[], die sich als Realität“366 gibt, ist sie das, womit einerseits ein Szenograf das im Raum Installierte auflädt, und das, was andererseits ein Rezipient wahrnimmt: gleichermaßen reale Erfahrungsgestaltungen wie -inszenierungen und spatiale Ereignisse, die erscheinen. Unter dieser Lesart wird der Arbeitsbegriff „Szenosphäre“ nun in den folgenden Kapiteln verwendet und darüber hinaus weiter kontextualisiert. Bevor der Bedeutungskonstitution – der Performativität und den Zeichen – weiter nachgegangen wird, ist es für die weitere Erforschung der Raumästhetik der Szenografie zunächst notwendig, das Erscheinen des Phänomens Szenosphäre schärfer zu konturieren und mittels der „Ästhetik des Erscheinens“ (Seel) zu beleuchten.
365 Vgl. Lemma „Einfühlung“ in: Fischer-Lichte, E./Kolesch, D.: Metzler Lexikon Theatertheorie, a. a. O.
2005, S. 83 ff. Siehe auch Schouten, Sabine: Sinnliches Spüren. Wahrnehmung und Erzeugung von Atmosphären im Theater, Berlin: Theater der Zeit 2011 (2007). 366 Gernot Böhme: Atmosphäre, a. a. O. 1995, S. 47.
3 Szenogreffieren 115
3.1.2 Das Inszenieren und Erscheinen(lassen) Die Raumästhetik der Szenografie beinhaltet auch eine Ästhetik der Inszenierung367 und eine Ästhetik des Erscheinens368. Die Szenografie ist eine Inszenierungskunst und bringt Szenosphären, d. h. hergestellte und inszenierte Atmosphären hervor. Inszenieren ist ein In-Szene-Setzen, und das, was dabei erscheint, sind Szenosphären, die sich ereignen. Um weitere Erkenntnis darüber zu erlangen, wie das Inszenieren und das Erscheinen zusammenhängen, wird mittels der „Ästhetik des Erscheinens“ von Martin Seel im Folgenden der Frage nachgegangen, inwiefern die Szenografie ein Inszenieren im Sinne eines Erscheinenlassens ist und welche gestalterischen Mittel dabei zum Einsatz kommen. Zudem wird untersucht, auf welche Weisen das erscheint, womit einerseits ein Szenograf das im Raum Installierte auflädt, und das, was andererseits ein Rezipient wahrnimmt. Künstlerische Inszenierungen präsentieren – wie sich herausstellen wird – Gegenwart und Präsenz, und das auf eine außergewöhnliche Weise369. Inszenieren als ein Zur-Erscheinung-Bringen impliziert auch Simulation und Virtualität.370 Was bedeutet das für eine Szenosphäre, die durch elektronische Medien hergestellt ist? Sie wird sich als eine Wirkkraft erweisen, in der ein Präsenz-Absenz-Verhältnis371 erkennbar ist und sich die Räume der Wahrnehmung, Darstellung und Anschauung kreuzen. Das Beispiel „Ghost Machine“ hat gezeigt, dass Inszenierungen mit Absichten verbunden sind. Diese Beobachtung, dass ein Szenograf mithin strategisch vorgeht, kann nochmals mit Seel flankiert werden. Er stellt im Hinblick auf die Reichweite des Begriffs Inszenierung zunächst fest, dass Inszenierung als etwas verstanden wird, das sich als „intentionale szenische Darbietung“ vollzieht oder als eine Folge von Ereignissen, die sich durch inszenatorische Vorgaben ermög367 Vgl. Früchtl, Josef/Zimmermann, Jörg (Hg.): Ästhetik der Inszenierung: Dimensionen eines künst-
lerischen, kulturellen und gesellschaftlichen Phänomens, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001. Seel, Martin: Ästhetik des Erscheinens, München: Hanser 2000. 369 Martin Seel: „Inszenieren als Erscheinenlassen. Thesen über die Reichweite eines Begriffs“, in: Früchtl, Josef/Zimmermann, Jörg (Hg.): Ästhetik der Inszenierung, a. a. O. 2001, S. 48–62, hier S. 58. 370 Früchtl, Josef/Zimmermann, Jörg (Hg.): Ästhetik der Inszenierung, a. a. O. 2001, S. 29. 371 Vgl. Christiane Heibach: „Manipulative Atmosphären. Zwischen unmittelbarem Erleben und medialer Konstruktion“, in Heibach, Christiane (Hg.): Atmosphären. Dimensionen eines diffusen Phänomens, Bd. 3 der Reihe HfG Forschung, München: Fink 2012, S. 265 f. Sie erläutert zum Propagandafilm „Triumph des Willens“, dass an ihm „Überlagerungen von sozialen und medialen Atmosphären besonders manifest [werden], ebenso zeigen sich verschiedene Dimensionen des räumlich wie zeitlich strukturierten Absenz-Präsenz-Verhältnisses medialer Atmosphären“. Vgl. auch Hans Ulrich Gumbrecht: „Produktion von Präsenz, durchsetzt mit Absenz. Über Musik, Libretto und Inszenierung“, in: Früchtl, Josef/Zimmermann, Jörg (Hg.): Ästhetik der Inszenierung, a. a. O. 2001, S. 63 ff. 368 Vgl.
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licht.372 Inszenierungen sind laut Seel „absichtsvoll herbeigeführte, ausgeführte oder in Gang gebrachte Prozesse“, und jede Inszenierung impliziert ein intentionales Handeln und „ist das Ergebnis eines komplexen intentionalen Prozesses“ – „Inszenierungen, mit einem Wort, sind ein intentional erzeugtes Geschehen.“373 Inszenierungen sind aber nicht nur komplexe Prozesse, die vor einem Publikum dargeboten werden, sondern in ihnen ergibt sich auch „eine auffällige spatiale und temporale Anordnung von Elementen, die auch anders hätte ausfallen können“.374 Tatsächlich sind Inszenierungen „arbiträre[] Arrangement[s]“375, d. h. eine dem Ermessen überlassene beliebige Zusammenstellung des Regisseurs376, hier des Szenografen. Der Begriff Arbitrarität gibt, aus einem anderen Blickwinkel betrachtet, auch eine Vorschau auf das, was in Kapitel 3.1.4 erörtert wird, nämlich auf das Herstellungsmodell selbst – die Szenografie als Gesamtsystem –, auf das bereits (unter 3.1) hingewiesen wurde. Es spiegelt die individuelle Raumempfindung und -vorstellung des Konstrukteurs, des Szenografen also. Als eine Struktur, die semantisierte Räume ausbilden kann, verräumlicht das Herstellungsmodell die Inhalte (z. B. eine Geschichte), die inszeniert werden. Nach der Darlegung, was eine Inszenierung im Wesentlichen ist, richten sich die folgenden Ausführungen auf szenografische Gestaltungspraktiken – Arrangements – und den damit verbundenen Sinn. Die Zusammensetzung einer Inszenierung, d. h. das Arrangement, ist komplex und vor allem auffällig, weil es sich von nichtinszenierten Handlungen abhebt, also artifiziell ist.377 Die auffällige zeitliche Anordnung in künstlerischen Inszenierungen wird unter anderem durch die Situationshaftigkeit der hergestellten und inszenierten Atmosphäre gestaltet, wie im Anschluss an Schmitz bereits dargelegt wurde. Seel bezeichnet künstlerische Inszenierungen als „artifiziell präsentierte Situationen“378. Die von Böhme angeführte Gartenkunst, die ebenfalls ad libitum und mittels entsprechender Arrangements als „Auftritte“ oder „Szenen“ bestimmte Gefühlsqualitäten hervorbringen kann (siehe vorheriges Kapitel), lässt neben der zeitlichen Anordnung vor allem das Potenzial der 372 Martin
Seel: „Inszenieren als Erscheinenlassen“, in: Früchtl, Josef/Zimmermann, Jörg (Hg.): Ästhetik der Inszenierung, a. a. O. 2001, S. 49. 373 Ebd. 374 Ebd., S. 51. 375 Ebd., S. 51 f. 376 Semantisch gehört der Begriff Inszenierung dem Theaterumfeld an und kommt in dem Moment in Deutschland zum Tragen, als sich „der Aufstieg des Regisseurs vom Arrangeur zum Künstler vollzieht“. Früchtl, Josef/Zimmermann, Jörg (Hg.): Ästhetik der Inszenierung a. a. O. 2001, S. 10. 377 Martin Seel: „Inszenieren als Erscheinenlassen“, in: Früchtl, Josef/Zimmermann, Jörg (Hg.): Ästhetik der Inszenierung, a. a. O. 2001, S. 52. 378 Ebd., S. 59.
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möglichen spatialen Anordnungen von Elementen erkennen. Die Anordnungen sind vom Szenografen beliebig gesetzt und werden „dadurch bedeutsam …, dass sich aus vielen … Möglichkeiten gerade diese Folge von Konstellationen ergibt. … Der Sinn von Inszenierungen … verdankt sich wesentlich diesem Effekt“.379 In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach der Funktion einer Inszenierung, um weitere Erkenntnisse über das Inszenieren und das Erscheinen(lassen) in einer Szenografie zu erlangen. Seels These folgend ist jede Inszenierung eine Inszenierung von Gegenwart.380 Somit ist auch eine Szenografie, die eine künstlerische Inszenierung ist, eine Inszenierung von Gegenwart. Als ein „auffälliges Herstellen und Herausstellen einer Gegenwart von etwas, das hier und jetzt geschieht“, entzieht sie sich einer vollständigen Erfassung, denn sie stellt „etwas in einer Fülle von Möglichkeiten des Wahrnehmens und Verstehens heraus“.381 In gleicher Weise gibt auch die Szenografie dem Rezipienten keine Überschau über die Ereignisse, sondern sie ist, nicht zuletzt durch die Bewegungsfreiheit des Rezipienten und sein „Drin-Sein“382 im Raum, ausschnitthaft angelegt. Dadurch wird Gegenwart im Sinne eines Möglichkeitsraums und eines Zustandes erfahrbar: als ein „offener … Horizont der spürenden, handelnden und erkennenden Begegnung mit Vorhandenem. Diese Begegnung ist als solche weder ästhetisch noch ästhetisch inszeniert“.383 Seel führt hier weiter aus, dass ästhetische Inszenierungen eine Gegenwart erzeugen, die auffällig erscheint und deren primäre Leistung es ist, dass durch sie Gegenwart bemerkbar wird. Neben dieser Funktion lässt sich auch ein weiterer Sinn in szenografischen Arrangements erkennen und am Beispiel „Ghost Machine“ zeigen. Im zweiten Teil der Inszenierung begegnet der Rezipient nicht nur Vorhandenem, sondern auch sich selbst, seiner eigenen Gegenwart, die ihm auffällig wird: Er erlebt seine Gegenwart ebenso real wie medial inszeniert, denn er steht mit Kamera und Kopfhörer im Rampenlicht auf der Bühne und hört Lachen aus dem Zuschauerraum, den und dessen Publikum er in diesem Moment wegen des blendenden Gegenlichts nicht erkennen kann. Darüber hinaus erweist sich die Begegnung mit sich selbst aber vor allem als eine ästhetische Wahrnehmung. „Ästhetische Wahrnehmung ist Wahrnehmung von etwas in seinem Erscheinen, um dieses 379 Ebd., 380 Ebd., 381 Ebd.
S. 52. S. 53 f.
382 Vgl. Franz Xaver Baier: Durch das „Drin-sein wird die An-sicht zur Ein-sicht“. Baier, Franz Xaver:
Der Raum: Prolegomena zu einer Architektur des gelebten Raumes, Köln: König 1996, S. 26. Vgl. auch Gernot Böhme: In der Bewegung gibt es einen „spezifischen Sinn für das Darin-Sein, den Sinn, den man Befindlichkeit nennt“. Gernot Böhme: „Über Architektur reden, Architektur wahrnehmen, Architektur machen“, in: Ursprung, Philip: Herzog & de Meuron: Naturgeschichte, a. a. O. 2002, S. 410–417. 383 Martin Seel: „Inszenieren als Erscheinenlassen“, in: Früchtl, Josef/Zimmermann, Jörg (Hg.): Ästhetik der Inszenierung, a. a. O. 2001, S. 54.
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Erscheinens willen“384. Künstlerische Inszenierungen stellen, laut Seel, jedoch nicht nur eine auffällige Gegenwart her und heraus, sondern „sie bieten Gegenwarten dar“ und als Imaginationen menschlicher Gegenwarten produzieren sie nicht allein Präsenz, sondern präsentieren sie Präsenz. Die Imaginationsprozesse, die entfaltet werden, „sind komplexe Zeichen menschlicher Gegenwarten“.385 Damit benennt Seel wichtige Voraussetzungen, die für das Verständnis der Raumästhetik der Szenografie wesentlich beitragen. Szenografien erzeugen nämlich durch ihre Performativität (siehe Kapitel 3.1.3) solch eine Präsenz, Gegenwart(en) und Prozesse, und sie haben dadurch die besondere Fähigkeit, „das [zu sein], „was sie zeigen“386. Denn künstlerische Inszenierungen lassen es zu einer auffälligen Gegenwart kommen und bieten diese zugleich dar, „indem sie sich ihrerseits als eine auffällig vorübergehende Gegenwart präsentieren“.387 Szenografien sind also insofern ein Inszenieren im Sinne eines Erscheinenlassens, als sie als Inszenierungen das sind, „was sie in und mit ihrem Verlauf zur Darbietung bringen – nämlich vergehende Gegenwart“388. Inszenierungen tun dies – ihr Publikum auf Gegenwart aufmerksam machen oder es darin verstricken – „im Medium des Erscheinens“, sie lassen etwas in einer phänomenalen Fülle erscheinen.389 Hier wird die Wirkkraft der szenografischen Gestaltungspraktik, spatiale und zeitliche Elemente zu komponieren und in einen Raum zu installieren, als ein ästhetischer Sinn erkennbar. Das, was künstlerische Rauminszenierungen, d. h. Szenografie erscheinen lassen können, sind Szenosphären. Sie können auf verschiedene Weisen erscheinen, und diese Weisen zu untersuchen, bringt nochmals genaueren Aufschluss über die Ästhetik der Szenografie. Seel stellt mit der Ausdifferenzierung der ästhetischen Wahrnehmungssituation drei Dimensionen vor, in denen die Wahrnehmung an ihren Gegenständen auf ein sehr unterschiedliches Erscheinen treffen kann.390 Doch erst wenn man 384 Seel,
Martin: Ästhetik des Erscheinens, München: Hanser 2000, S. 146. Seel macht den Vorschlag, die Ästhetik nicht bei den Begriffen des Soseins oder des Scheins beginnen zu lassen, sondern mit dem Begriff des Erscheinens, wie er schreibt. In der Ästhetik des Erscheinens gewinne die Wahrnehmung der unverfügbaren Gegenwart des Lebens Anschauung und Aufmerksamkeit. Werke der Kunst entfalten ihm zufolge ihre Energien aus ihrer Präsenz als sinnenfällige Gebilde. Der Sinn ästhetischer Praxis liegt in der Annahme, dass wir uns in ihren vielfältigen Formen auf ein Spiel um eine Anschauung unserer Gegenwart einlassen (S. 9 ff.). 385 Martin Seel: „Inszenieren als Erscheinenlassen“, in: Früchtl, Josef/Zimmermann, Jörg (Hg.): Ästhetik der Inszenierung, a. a. O. 2001, S. 58. 386 Ebd., S. 59. 387 Ebd., S. 60. 388 Ebd. 389 Ebd., S. 56. 390 Seel, Martin: Ästhetik des Erscheinens, München: Hanser 2000, S. 148. Ihm zufolge sind ästhetische Objekte Anlässe oder Gelegenheiten einer bestimmten Art des sinnlichen Vernehmens, insofern sie sowohl Objekte in einer besonderen Situation der Wahrnehmung als auch für eine solche Situation sind (S. 44 ff.). Ästhetische Objekte sind Objekte des Erscheinens, und ästhetisches
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dem, was erscheint, einen gegenständlichen Objektcharakter unterstellt, kann dieses Etwas – hier das Phänomen Szenosphäre – durch verschiedene Erscheinungscharaktere, die im nächsten Absatz vorgestellt werden, zur Bestimmung gebracht werden. Prämisse für ästhetische Wahrnehmung ist – im Anschluss an Seel – konstitutive Offenheit. Die Offenheit der ästhetischen Wahrnehmung ermöglicht es zum einen, das ästhetische Ding mit Imaginationen – realen oder irrealen räumlichen wie zeitlichen Verhältnissen – aufzuladen.391 Wie bereits erörtert wurde, konstituiert sich die Assoziationsgenerierung – wie das Erinnern an selbst erlebte Atmosphären, Stimmungen, Gefühle, Personen, Situationen oder Orte – als eine „ästhetische Arbeit“ (Böhme), genauer als Wahrnehmungsleistung des Rezipienten. Dessen ästhetische Wahrnehmung kann als eine Art Korrelation auf das vom Szenografen Vermittelte verstanden werden. Zum anderen können durch ästhetische Wahrnehmung „Kalküle und Konstruktionen von Objekten des Erscheinens eruiert“ werden; im Wahrnehmungsprozess wird soziales und kulturelles Wissen verwendet, das dazu dient, „komplexen Prozessen am Gegenstand dieser Wahrnehmung auf die Spur zu kommen“.392 Das bedeutet, dass sich also mit diesem produzierten Wissen auch auf die Intention(en) und Konstruktion der Szenografie schließen lässt, eben auf das, was der Szenograf zu vermitteln beabsichtigt und womit er das im Raum Installierte atmosphärisch bzw. szenosphärisch sozusagen „auflädt“. Dass eine Szenografie überhaupt eine bestimmte Wirkung ins Kalkül zieht, ist hier bereits vorausgesetzt. Das bestätigt das bisherige Untersuchungsergebnis (siehe vorheriges Kapitel), dass es sich bei einer hergestellten und inszenierten Atmosphäre einer Szenografie auch um eine Inszenierungsstrategie handelt (und lässt nochmals die Differenz zu Böhmes Auslegungen der Atmosphäre393 als ein Erscheinungsphänomen erkennen). Das Aufladen mit Imaginationen wie das Schlussfolgern über Intentionen unterliegt verschiedenen Situationen und Erscheinungsweisen, und Seels Ausführungen dazu sind für die Untersuchung der Ästhetik der Szenografie insofern fruchtbar, als mit ihnen die verschiedenen Situationen und Erscheinungsweisen von Szenosphären genauer dargelegt werden können. Seel stellt folgende drei Dimensionen des Erscheinens vor: das „bloße Erscheinen“, das „atmosphärische Erscheinen“ und das „artistische Erscheinen differenziert sich von sinnlichem Sosein als ein Modus des sinnlichen Gegebenseins von etwas. Seel führt aus: Ästhetisch sind Objekte, die in einer ausgezeichneten Weise sinnlich erfasst werden, sie heben sich in ihrem Erscheinen von ihrer begrifflichen Fixierbarkeit ab. In der Annahme, dass das Erscheinen ein konstitutives Element aller Formen der ästhetischen Herstellung und Wahrnehmung ist, sind Kunstwerke demnach nicht Erscheinungsdinge mit daneben noch einem geistigen Gehalt, sondern genuine Ereignisse des Erscheinens (S. 47 f.). 391 Ebd., S. 146 f. 392 Ebd., S. 148. 393 Böhme, Gernot: Atmosphäre: Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1995.
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Erscheinen“394, wobei insbesondere die beiden letzten Erscheinungsweisen für die vorliegende Untersuchung von Interesse sind. Erstere ist mit Kontemplation verbunden, die ohne Imagination oder Reflexion beim Phänomen verweilt.395 „Bloß erscheinen“ kann auch eine Szenosphäre, doch von Herstellerseite und aus produktionsästhetischer Sicht nur dem Schein nach, denn in diesem Fall bietet sie sich im Kostüm der Kontemplativität396 dar. Wohingegen sich z. B. eine Wohnungseinrichtung, die einen trügerischen Wohlstand suggeriert, in „atmosphärischem Erscheinen“ zeigt, denn sie lässt die davon ausgehende Bedeutsamkeit und den (mit)geschaffenen Charakter der Situation erkennbar werden: „Atmosphäre ist ein sinnlich und affektiv spürbares und darin existentiell bedeutsames Artikuliertsein von realisierten oder nicht realisierten Lebensmöglichkeiten.“397 In Abgrenzung zu Böhmes Atmosphären-Begriff sind Atmosphären bei Seel „ein aus Temperaturen, Gerüchen, Geräuschen, Sichtbarkeiten, Gesten und Symbolen bestehendes Erscheinen einer Situation, das die, die sich in dieser Situation befinden, auf die eine oder andere Weise berührt und betrifft“.398 Es geht laut Seel weniger um eine generelle Spürbarkeit von Atmosphären, sondern das atmosphärische Erscheinen ist vielmehr „als ein sinnlich-emotionales ‚Gewahrsein‘ existentieller Korrespondenzen zu verstehen“.399 Das Aufladen mit Imaginationen wird ermöglicht und das Atmosphärische zeigt oder ergibt sich „aus einer Korrespondenz zwischen … Lebensvorstellungen und -erwartungen und dem, wie eine Situation … im Licht dieser Dispositionen erscheint“.400 Was hier als korresponsive ästhetische Wahrnehmung bezeichnet wird, lässt sich weiterdenken in Anknüpfung an den Begriff der Referentialität401 und richtet den Blick auf kulturelle Bezüge und das Verhältnis zwischen Signikant und Signifikat, worüber im nächsten Kapitel (3.1.3) ausführlich berichtet wird. Denn die Wahrnehmung atmosphärischer Korrespondenz ist immer ein sinnhaftes Vernehmen, bei dem ein Wissen um kulturelle Codes aktiviert wird und das Imaginationen für Raum und Zeit – eine andere Gegenwart oder Erinnerungen402 – öffnet. Atmosphärische Korrespondenz kann auch in eine noch andere 394 Seel,
Martin: Ästhetik des Erscheinens, a. a. O. 2000, S. 148 f. S. 151. 396 Kontemplativität wird so inszeniert, dass ihre Inszeniertheit möglichst unentdeckt bleibt. Beispiele hierfür finden sich möglicherweise in szenografischen Inszenierungen aus dem Bereich der Freizeitindustrie: Wellness-Oasen oder All-Inclusive-Urlaub-Resorts mit künstlichen Stränden etc. 397 Seel, Martin: Ästhetik des Erscheinens, a. a. O. 2000, S. 152. 398 Ebd., S. 153. 399 Ebd. 400 Ebd., S. 154. 401 Vgl. Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004, S. 246 ff. 402 Seel, Martin: Ästhetik des Erscheinens, a. a. O. 2000, S. 146 f. 395 Ebd.,
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Richtung weitergedacht und kontextualisiert werden. Nämlich im Anschluss an die Theorie Bourdieus über den sozialen und den symbolischen Raum403, was eine weitere Erkenntnis über die Gestaltungspraxis des Szenografen zum Vorschein bringt: Lebensstile können durch die künstlerisch szenografische Raumgestaltung zurückübersetzt werden, und das ermöglicht dem Rezipienten auf die Position zu schlussfolgern, die z. B. eine Figur eines Theaterstückes bzw. Kunstereignisses im dargestellten sozialen Raum einnimmt. Atmosphären bzw. Szenosphären, die durch die szenografische Raumgestaltung evoziert werden können, können also auch eine lokalisierende und strukturbildende Funktion haben. Kunstwerke404 können laut Seel auch Objekte des bloßen Erscheinens oder einer korrespondierenden Wahrnehmung sein, aber vor allem sind es Objekte eines „artistischen Erscheinens“; mit dieser Dimension des Erscheinens ist eine besondere Darbietungsqualität gemeint.405 Insofern Szenografien Kunstwerke sind – wobei die Bezeichnung Hervorbringung oder Kunstereignis treffender ist –, öffnet die Annahme eines möglichen „artistischen Erscheinens“ eine Perspektive, die vor allem über die Wahrnehmung des Rezipienten (dem bewusst ist, sich in einem Kunstereignis wie z. B. „Ghost Machine“ zu befinden) weitere Erkenntnisse bringen kann. Denn Kunstwerke sind laut Seel konstellative Darbietungen, und konstellativ sind Darbietungen dann, wenn sich ihre Gehalte allein im Prozess ihrer internen Konstellationen, die nicht ersetzbar sind, entfalten.406 Seel führt an gleicher Stelle weiter aus, dass sie „Gebilde eines artikulierenden Erscheinens“ sind, und sie verlangen eine besondere Rezeption und einen Mitvollzug insofern, als sie Objekte sind, „die in ihrem performati403 Siehe Bourdieus Diagramm „Die feinen Unterschiede“ in „Sozialer Raum, symbolischer Raum“,
in: Günzel, Stephan/Dünne, Jörg (Hg.): Raumtheorie: Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006, S. 357. Demnach stehen bestimmte Lebensstile (beispielsweise eine Wohnungseinrichtung) für bestimmte Positionen im relationalen sozialen Raum; soziale Differenzen werden durch Distanzen und Abstände gespiegelt. Bourdieu führt aus: „Vermittelt über den Raum der Dispositionen … der Akteure, wird der Raum der sozialen Positionen in einen Raum der von ihnen bezogenen Positionen zurückübersetzt“ (S. 359 f.). 404 Kunstwerke sind laut Seel „mit einem Wort, Präsentationen einer besonderen Art. … [Sie geben] in ihren raumzeitlichen Konfigurationen etwas wahrzunehmen und zu verstehen …, das an genau diese individuelle Kombination von Materialien, Formen und Zeichen gebunden ist. Zwar kann man auch von einer schönen Lampe sagen, dass sie Kraft ihrer Form … etwas zum Leuchten bringt; aber diese Präsentation … geht in dem atmosphärischen Erscheinen eines solchen Gebildes auf. Anders bei künstlerischen Artefakten: Vermöge ihres Erscheinens bieten sie Gehalte dar, die sich allein im Prozess ihrer internen Konstellationen entfalten. … [S]obald [Objekte] als künstlerische Objekte aufgefasst und anerkannt werden, erscheinen sie ganz anders, als sie für das bloße Auge, ein bloßes Hören … vorhanden sind. Sie werden zu Potentialen eines interpretierenden Vernehmens.“ Martin Seel: „Über die Präsentation von Kunstwerken und den Opportunismus der Kritik“, Vortrag im Rahmen der Veranstaltung: Durch die Formate. Wie die Gegenwartskunst in den Medien erscheint, Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien, 23.11.2007, www.mumok. at/fileadmin/files/Downloads/pdfs/SeelPraesentation.pdf, S. 3 f. (letzter Zugriff: 23.09.2010). 405 Seel, Martin: Ästhetik des Erscheinens, a. a. O. 2000, S. 156 f. 406 Ebd.
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ven Kalkül verstanden sein wollen“ und das Schlussfolgern über Intentionen zulassen; dieses Verstehen kann auch ein leibliches sein, Seel verweist hier auf den Tanz zu einer Musik oder auf die Erkundung einer Rauminstallation407 – und damit auf diejenige Art des Zugangs zum Wahrgenommenen, die für die Raumästhetik der Szenografie relevant ist. Dieser Zugang oder dieses Verstehen entfaltet sich „im Kontext einer interpretierenden, imaginativen und manchmal auch reflexiven Erschließung“408 und durch den Raum. Eine Differenz zu den ästhetischen Objekten der Kontemplation und der Korrespondenz – also zum bloßen und atmosphärischen Erscheinen – liegt laut Seel darin, auf implizites oder explizites Verstehen angewiesen zu sein. Zwar enthalte auch das atmosphärische Bewusstsein ein komplexes Verständnis unserer selbst und der Welt, doch ohne dass die Situationen selbst zu Objekten eines besonderen Verstehens würden. Gegenstände, die in ihrem artistischen Erscheinen als Kunstwerke aufgefasst werden, sind auf Auslegung oder Interpretation ausgelegt.409 In welcher Weise nun erscheint die künstlerisch hergestellte und inszenierte Atmosphäre einer Szenografie? Als ein bislang auch von Seel nicht bedachter Sonderfall stellt sich die Frage, was ein atmosphärisches Erscheinen ist, das zugleich ein Kunstwerk ist (bzw. ein Kunstereignis, wie die Szenografie eines ist). Abgesehen von der spezifisch semiotischen Erscheinungsdimension, auf die später noch eingegangen wird, kann hier als Zwischenerkenntnis festgehalten werden, dass eine Szenosphäre sowohl Wissen produziert als auch kulturelle Codes aktiviert und dass sie als eine konstellative performative Hervorbringung verstanden werden kann. In ihr und durch sie können (nicht) realisierte Lebensmöglichkeiten410 gewahr oder vom Szenografen getriggert werden. Das, womit einerseits ein Szenograf das im Raum Installierte auflädt und was andererseits ein Rezipient wahrnimmt, zeigt sich dabei auf eine Weise, die zwei verschiedene Erscheinungsweisen miteinander verbindet: die atmosphärische und die artikulierende. So wie eine Szenografie Darbietung und Präsenz ist, ist auch eine Szenosphäre beides zugleich. Inszenieren ist ein In-Szene-Setzen und ein Zur-Erscheinung-Bringen, impliziert aber auch Simulation und Virtualität.411 Im nächsten Abschnitt wird der abschließenden Frage nachgegangen, welche Art von Präsenz eine Szenosphäre in sich birgt, die vor allem durch elektronische Medien hervorgebracht wird. Seel 407 Zum Zusammenspiel zwischen Kunst und Raum vgl. Heideggers Ausführungen dazu am Beispiel
der Plastik in: Heidegger, Martin: Die Kunst und der Raum, St. Gallen: Erker 1969. Martin: Ästhetik des Erscheinens, a. a. O. 2000, S. 158. 409 Ebd. 410 Ebd., S. 152. 411 Früchtl, Josef/Zimmermann, Jörg (Hg.): Ästhetik der Inszenierung, a. a. O. 2001, S. 28 f. 408 Seel,
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und Böhme, die kontrovers zueinander stehen, zusammenzudenken und Überlegungen zum Raum als Medium einzubeziehen, führen zu einem weiteren Erkenntnisgewinn. Im Beispiel von „Ghost Machine“ treffen der leibliche und der mediale Raum aufeinander. In der Szene, in der die Stimme plötzlich „Hilf mir!“ flüstert, konstituiert sich der mediale Raum durch die Bilder der Videokamera und die akustischen Signale, die aus den Kopfhörern kommen. Der leibliche Raum wird im Moment des Erschreckens über die Stimme spürbar, und beide Räume (Räumlichkeiten) sind mit einem mathematischen Raumverständnis nicht zu fassen. Böhme gelangt zu einer Präzisierung von Präsenz, indem er den Raum als Medium der Darstellung erörtert und am Beispiel des Anschauungsraums virtueller Räume demonstriert412. Er konstatiert, dass der leibliche Raum insofern ein absoluter Ort ist und als ein Existenzbegriff verstanden werden kann, als er selbstbezüglich ist; er definiert das subjektive Sein im Hier und Jetzt. Mathematisch ausgedrückt413 kann man ihn einen richtungsabhängigen topologischen Raum nennen, doch drückt diese Bezeichnung nicht seinen existenziellen Charakter als Handlungs-, Stimmungs- und Wahrnehmungsraum aus.414 Diese drei Facetten des Raumes beschreibt Böhme wie folgt: Der leibliche Raum wird als ein Handlungsraum erfahren, als ein Spielraum möglicher Handlungen, die eigene „sphaera activitatis“. Als Stimmungsraum spricht er den 412 Sybille Krämer über den Beitrag von Gernot Böhme: „Der Raum der leiblichen Anwesenheit und
der Raum als Medium von Darstellungen“, in: Krämer, Sybille: Performativität und Medialität, München: Fink 2004, S. 129–140. Krämer resümiert, dass (wie Böhme zeigen wird) die räumlichen Phänomene zumeist Mischformen dieser beiden Raumtypen sind (S. 26). 413 Böhme führt über den Raum als Darstellungsmedium aus: Die Mathematik behandelt den Raum als Menge mit einer bestimmten Struktur. Die Dimensionalität, Topologie und Metrik sind einige davon. Im kantischen Raum wird das Feld der Wahrnehmung durch Verstand und Einbildungskraft zu Anschauungen organisiert und die Natur wird als Erscheinung erkannt: „Die Dinge sind Erscheinung, insofern ihre Beziehungen zueinander als räumliche Beziehungen, nämlich im Medium Raum dargestellt werden. Diesen Gedanken kann man nach Albert Einstein … verallgemeinern als die Ereignismannigfaltigkeit.“ Durch die vierte Dimension der Zeit können auch Kausalbeziehungen zwischen Ereignissen als räumliche Beziehungen dargestellt werden. Die wesentliche Funktion mathematischer Räume liegt Böhme zufolge darin, als Medien für die Darstellung der Beziehungen innerhalb von Gegenstandsmannigfaltigkeiten zu dienen; Beziehungen werden als Beziehungen im Raum dargestellt und diese Darstellung heißt Veranschaulichung. Häufig erkennt man die Beziehungen erst durch deren Darstellung im Raum, z. B. in räumlichen oder grafischen Modellen. Ergänzend sei hier erwähnt, dass z. B. Diagramme grafische Modelle sind (siehe Kapitel 3.2.1 der vorliegenden Arbeit). Böhme führt weiter aus: „Diese Einsicht auf Angewiesenheit trägt in gewisser Weise Kants Einsicht Rechnung, dass das Moment der Anschauung durch die Darstellung im Raum erbracht wird. Gernot Böhme: „Der Raum leiblicher Anwesenheit und der Raum als Medium von Darstellung“, in: Krämer, Sybille (Hg.): Performativität und Medialität, München: Fink 2004, S. 132 f. 414 Ebd., S. 134. Mathematisch gesprochen ist der leibliche Raum ein „zentrierter Raum mit Richtungen, in dem sich um das Zentrum geschichtete Umgebungen aufbauen“. Diese Beschreibung täuscht aber über das wahre Wesen des leiblichen Raumes – er ist Handlung, Stimmung, Wahrnehmung – hinweg; entscheidend ist „meine Involviertheit in diesen Raum bzw. sein existentieller Charakter“.
124 Szenosphäre & Szenotopie
Einzelnen affektiv an und lässt ihn die eigene, gestimmte Ausgedehntheit räumlich spüren. Der Wahrnehmungsraum wird durch die Reichweite der Wahrnehmung – Hören, Sehen, Riechen – aufgespannt und ist zugleich die Ausbreitung seines (Mit)Erlebens, seiner Teilhabe an der Umwelt.415 Spielraum, Ausdehnung und Aufspannung/Ausbreitung in der Verschränkung mit Handlungsmöglichkeit, Stimmung und Wahrnehmung lassen zugleich die Differenz wie die Verwobenheit zwischen dem Raum leiblicher Anwesenheit und dem Raum als Medium von Darstellung(en) erkennen. Böhmes Thesen folgend sind die beiden Raumanschauungen miteinander „verfilzt“ und überlagern sich.416 In seinen weiteren Ausführungen bespricht er zwei solcher Überlagerungsformen: den Anschauungsraum und den virtuellen Raum.417 In Bezug auf die Szenografie (und mit ihr in Bezug auf die Szenosphäre) bringt das zunächst den Erkenntnisschritt, dass mediale optische und akustische Räumlichkeiten nur insofern virtuell sind und Präsenz oder Absenz produzieren, als sie an den leiblichen Raum gebunden sind. Mit dem Anschauungsraum, der nicht der Wahrnehmungsraum ist, ist Böhme zufolge der Raum unserer Anschauung in der Alltagspraxis gemeint, in dem wir unsere Wahrnehmung der Umgebung mit kulturell eingeübten Mustern der Repräsentation überlagern und ordnen.418 Als Lebenswelt419 versteht er sich, laut Böhme, als ein Zwitterwesen, denn in ihm bringen wir Wahrgenommenes nicht nur zur Anschauung, sondern „draußen bei den Dingen … [ordnen wir] unsere Anwesenheit nach den Mustern möglicher Darstellung, d. h. wir nehmen die Dinge wahr, aber wir schauen sie an als dieses und jenes. Die virtuellen Räume nun sind diejenigen Räume, die heute überhaupt die Bestimmung auf die Differenz von Raum als Darstellungsmedium und dem Raum leiblicher Anwesenheit erzwingen.“420 Denn virtuelle Räume sind zumeist „schlicht Bilder, d. h. zwei- oder dreidimensionale Medien, in denen eine Mannigfaltigkeit zur 415 Ebd., 416 Ebd.
417 Ebd.,
S. 134 ff.
S. 136–139. S. 136 f. 419 Vgl. Anke Finger: „Gesamtkunstwerk atmosphärisch: Vom Zerstäuben der Pixel in der Intermedialität“, in: Heibach, Christiane (Hg.): Atmosphären, a. a. O. 2012, S. 310. Finger rekurriert in ihrer Untersuchung der Lebenswelt als Gesamtkunstwerk auf Böhmes Atmosphäre-Untersuchungen, in denen er sich auch mit dem Begriff des „ki“, der im asiatischen Raum die Atmosphäre bezeichnet, auseinandersetzt. Sie schreibt: „Prinzipiell ist die Atmosphäre ein Gesamtkunstwerk; besonders dann, wenn das Augenmerk nicht mehr auf den ‚Neuen Medien‘ einer expressionistisch-ästhetisierten Moderne liegt, sondern die Perspektive sich um 180 Grad dreht und die Umgebung, die Umwelt und Lebenswelt als Neues, Soziales, Interaktives wahrgenommen und erfahrbar wird. Etwa als ‚ki‘, als Dunst, Atem, Dampf, der den Alltag mit und um den Menschen bildet.“ Die Atmosphäre wird ihr zufolge „anhand der intermedialen, intersensorischen Charakteristik des Raum-ObjekteLeib-Konstrukts geschaffen.“ 420 Gernot Böhme: „Der Raum leiblicher Anwesenheit und der Raum als Medium von Darstellung“, in: Krämer, Sybille: Performativität und Medialität, a. a. O. 2004, S. 137. 418 Ebd.,
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Darstellung kommt“421, und Simulationen sind nichts weiter als audiovisuelle Darstellungsräume. Im Beispiel „Ghost Machine“ wird z. B. durch die Stimme, die „Hilf mir“ flüstert, ein virtueller Raum erzeugt, der an sich jedoch nur ein digital akustisches Signal ist. Böhmes These folgend, können erst durch die Verschränkung mit dem Rezipienten und seiner leiblichen Anwesenheit Simulationen als solche erfahrbar werden422. Das veranschaulicht sich durch die Kopfhörerstimme: Die hier erzeugte Szenosphäre ist nur dadurch Anwesendes oder Abwesendes und produziert gegenwärtiges Erleben oder ein Mit-/Nacherleben, indem „ein Subjekt auf irgendeine Weise in sie involviert“423 ist. In der Szenografie geht es um eine solche Involviertheit, ein Erleben, Nachleben und Miterleben. Erlebt wird im Hier und Jetzt, miterleben kann man Situationen, und durch Simulationen können Situationen auch nacherlebt und zu Präsenz werden. Der Rezipient kann also auf vielfältige Art und Weise und durch verschiedene Medien (Realraum oder audiovisuelle Medien) in etwas verwickelt werden, in eine Handlung, Situation oder eine Atmosphäre bzw. Szenosphäre. Durch zeitbasierte Medien, die ortsungebunden machen – man kann an einem Ort sein, ohne dass man physisch dort anwesend ist – verlagert sich dieses Mit(er)leben auf die Raumzeit. Das Mit(er)leben ist hier eine mediale Konstruktion424 und konstituiert sich durch sie. Im Beispiel „Ghost Machine“ zeigt sich das z. B. in der Szene, wo man auf dem Monitor der Videokamera eine Verschleppungsszene sieht, die einem ein gegenwärtiges Miterleben in einem Raum suggeriert, wo man sich real jedoch nicht befindet. Sondern zu dieser Zeit befindet man sich irgendwo anders im Theatergebäude. Dennoch stellt sich der Eindruck ein, dass man sich an einem Tatort befindet, man bewegt sich durch Räumlichkeiten, die atmo- bzw. szenosphärisch unheimlich wirken. Oder in der besagten anderen Szene (wenn die Kopfhörerstimme „Hilf mir!“ ins Ohr flüstert) wird suggeriert, dass sich ein Opfer mit im Raum befindet. Dieses ist optisch zwar nicht wahrnehmbar, aber trotzdem scheint es anwesend zu sein und die Situation des Rezipienten mitzuerleben: Ein günstiger Augenblick wird abgewartet, um den Besucher anzusprechen und ihn um Hilfe zu bitten – Präsenz und Absenz425 werden inszeniert. Der Besucher versteht das Zeichen der Stimme, die sich ihm im medial akustischen Darstellungsraum vermittelt, er 421 Ebd. 422 Ebd.
423 Ebd.,
S. 139. Christiane Heibach: „Manipulative Atmosphären. Zwischen unmittelbarem Erleben und medialer Konstruktion“, in Heibach, Christiane (Hg.): Atmosphären, a. a. O. 2012, S. 265 f. Heibach unterscheidet die von und durch Massenmedien erzeugten Atmosphären von solchen, die „in einer zeitlichen und örtlichen Präsenzsituation entstehen, wobei diese durchaus ebenso techno-medial konstruiert sein können“. Das Nacherleben und das eigene Erleben von Atmosphären sind ihr zufolge ein Interferenzphänomen. 425 Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht: „Produktion von Präsenz, durchsetzt mit Absenz“, in: Früchtl, Josef/Zimmermann, Jörg (Hg.): Ästhetik der Inszenierung, a. a. O. 2001, S. 64 f. 424 Vgl.
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nimmt das Zeichen in seinem Wahrnehmungsraum affektiv wahr und kann es in einen anderen Raum, nämlich in seinen Anschauungsraum, einordnen. Damit eine szenografisch und mit medialen Mitteln erzeugte Szenosphäre wirkt, d. h. Codes getriggert und korresponsive Vorstellungen, Stimmungen, Assoziationen oder Erinnerungen ausgelöst und die Kalküle des Szenografen entschlüsselt werden können, muss – wie bereits erörtert – auf eine mehr oder weniger allgemein bekannte Verständigungssphäre (Zeichenvokabular) zurückgegriffen werden. Demnach zeigt sich einerseits eine (durch Medien ermöglichte) Ortsungebundenheit und andererseits eine kulturelle Gebundenheit an Zeichen im Sinne eines kollektiven Verstehens von deren Bedeutungen, eines mentalen Kontextes also. Darüber hinaus erweist sich das Wechselverhältnis zwischen dem leiblichen Raum und der medial konstruierten szenosphärischen Räumlichkeit als eine Beziehung, die mit physischer An- und Abwesenheit sowie mit mentalem Mit- und Nacherleben spielt. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Szenografien Gegenwart(en) erscheinen lassen können. Dabei werden Situationen präsent, durch sie und in ihnen können die möglichen Inszenierungsabsichten des Szenografen zum Vorschein kommen sowie die Interpretationen, Imaginationen und Reflexionen des Rezipienten. Das, womit einerseits ein Szenograf das im Raum Installierte auflädt und was andererseits ein Rezipient wahrnimmt, zeigt sich als ein sowohl atmosphärisch korresponsives als auch artistisch artikulierendes Erscheinen, wie sich mit Seel sagen lässt. Als Erfahrungsinszenierungen sind Szenosphären Darbietung und Präsenz zugleich. Wenn sie durch mediale Mittel erzeugt sind, treffen in ihnen der Raum leiblicher Anwesenheit und der mediale Raum sowie der Wahrnehmungs-, Darstellungs- und Anschauungsraum aufeinander. Sie phänomenalisieren, indem sie durch diese Räume und als räumlich und zeitlich strukturierte Phänomene das Nacherleben und das gegenwärtige Erleben miteinander verschränken können.
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3.1.3 Das Performative und die Zeichen Der These folgend, dass sich die Szenografie und mit ihr das, was sie hervorbringt – die Szenosphäre –, nicht nur durch eine atmosphärische, sondern auch durch eine performative und semiotische Ästhetik konstituiert, wird unter Rekurs auf die „Ästhetik des Performativen“426 nun der Dimension der Zeichen427 nachgegangen. Mit „semiotisch“ ist – basierend auf der „Semiotik des Theaters“428, die eine Aufführung als „Text“ versteht – diejenige Ästhetik gemeint, welche sich aus der performativen Ästhetik begründet. Um herauszuarbeiten, inwiefern eine semiotische Dimension die Bedingungen für das Atmosphärische und für die Möglichkeit der Bedeutungserzeugung ist, lauten die Fragestellungen: Auf welche zeichenhafte Weise erscheint eine Szenosphäre und inwiefern ist die Relationalität eine performative Materialität? Stilfiguren, die zur Bedeutungserzeugung 426 Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004. Diese Ästhetik
nimmt aus theaterwissenschaftlichem Blick neben Inszenierungen auch „cultural performances“, Events, politische Versammlungen, Konzerte oder Kunst als Interart-Phänomene in den Blick und intendiert deren Entgrenzung und Liminalität. Performativität fokussiert die Wahrnehmungsprozesse, die das Kunstwerk mit konstituieren, und so werden Hervorbringungen der Performance- und Installationskunst durch die Ästhetik des Performativen nicht als Werke, sondern als Ereignisse beschrieben. Attribute wie performativ, theatral, inszenierend, inszenatorisch werden für den kunstwissenschaftlichen Diskurs fruchtbar. 427 Lemma „Semiotik“, in: Fischer-Lichte, E./Kolesch, D.: Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart/ Weimar: Metzler 2005, S. 299–302. Für die französische und italienische Theatersemiotik ist der Zeichenbegriff von Ferdinand de Saussure konstitutiv, für die angelsächsische und deutsche der von Charles Peirce und Charles Morris. Der Zeichenbegriff ist ein Relationsbegriff, der sich nach de Saussure auf eine dyadische (zweistellige) Relation zwischen Signifikant und Signifikat bezieht. Peirce definiert eine triadische (dreistellige) Relation aus Zeichenträger, Zeichennutzer und Gegenstand, und Morris entwickelt daraus drei zweistellige Relationen und leitet die Relation des Zeichenträgers zu anderen Zeichenträgern als eine syntaktische, semantische und pragmatische Dimension ab. Die erste Dimension betrifft die Möglichkeit und Regeln für eine Kombination von Zeichen; die zweite zielt auf das ab, was mit Zeichen gemeint ist, und die dritte manifestiert die Abhängigkeit des Zeichens von den Modalitäten seiner Verwendung. In den 1970er Jahren wurde eine Aufführung noch als ein Zeichensystem, letztlich als ein „Text“ verstanden. In den 1990er Jahren wurde die Theatersemiotik jedoch um einen performativen und phänomenologischen Ansatz ergänzt, sodass Aufführungselemente insbesondere bezüglich ihrer spezifischen Performativität und Materialität, die als wesentliche Bedingungen für die Möglichkeit der Bedeutungserzeugung gelten, untersucht werden. Siehe auch Fischer-Lichtes Ausführungen in ihrer Schrift Ästhetische Erfahrung: Das Semiotische und das Performative, Tübingen: Francke 2001, S. 9 f.: Der Begriff „linguistic turn“ verweist auf eine Wende, die sich in den 1960er/1970er Jahren vollzieht. Kulturelle Beschreibungen als „Textanalysen“ durchzuführen, resultierte aus der Annahme, kulturelle Phänomene und ganze Kulturen als strukturierten Zusammenhang von Zeichen begreifen zu können. Da sich „Text“ in diesem Zusammenhang nicht wörtlich auf Literatur beziehen muss, wird dieser „turn“ auch „semiotic turn“ genannt. In den 1950er/1960er Jahren begründete John Austin die Sprechakttheorie („How to Do Things with Words“, 1962). Der Begriff „performativ turn“ verweist auf eine Wende in den 1990er Jahren und versteht „Kultur als Hervorbringung, Aufführung, Performance“; es werden die Tätigkeit des Herstellens, Machens und Handlungen, Strukturveränderungen, Dynamiken, Prozesshaftigkeit sowie Materialität und Medialität in den Blick genommen. Beide Wenden stehen bis heute in einem Spannungsverhältnis zueinander. 428 Fischer-Lichte, Erika: Semiotik des Theaters, Bd. 3, Tübingen: Narr 1983b.
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in Benutzung kommen, können hier konkret ausgemacht werden, und die Relationalität wird sich als eine in der „Ästhetik des Performativen“429 bislang fehlende Kategorie erweisen. Zu den semiotischen Grundbegriffen zählen der Zeichen- und der Code-Begriff. Der Zeichenbegriff versteht sich – nach Ferdinand de Saussure – als ein zweistelliger Relationsbegriff, mit dem die Beziehung zwischen einem mentalen Vorstellungsbild (Signifikat, das „Bezeichnete“) und einem Lautbild (Signifikant, das „Bezeichnende“) gemeint ist. Die deutsche Theatersemiotik beruft sich überwiegend auf die Zeichenbegriffe von Charles Peirce und Charles Morris.430 Im Theater als einem System der Produktion von Bedeutungen kann der theatrale Prozess als Semiose bestimmt werden, als ein unabschließbarer Zeichenprozess, durch den Bedeutung entsteht und den der Zuschauer vollzieht. In diesem Prozess haben theatrale Zeichen ein hohes Maß an „Mobilität“ und sie sind „polyfunktional“. So kann z. B. eine Geste eine Geste bedeuten oder ein beliebiges anderes Zeichen, etwa ein Wort oder Gegenstand etc. Anders als bei der Sprache setzt sich das theatrale Zeichensystem aus „heterogenen signifikativen Einheiten“ zusammen.431 Für das Verstehen von Zeichen ist ein Code, d. h. ein „Regelsystem zur Hervorbringung und Interpretation von Zeichen bzw. Zeichenzusammenhängen“ vonnöten. Als „Kode [wird] die Gesamtheit von Zeichenrepertoire sowie von syntaktischen, semantischen und pragmatischen Regeln definiert“, und Kommunikation im Theater kann nur dann glücken, wenn „ein für Produzenten und Rezipienten zumindest in Grundzügen gemeinsamer Kode vorhanden ist“, der jedoch instabil, d. h. „in seiner geschichtlichen Bedingtheit begründet“ ist.432 Der semiotische Zeichenbegriff des Theaters (der nicht mit dem literarischen zu verwechseln ist) ermöglicht es, eine Aufführung „als einen strukturierten Zusammenhang von Zeichen und in diesem Sinne als ‚Text’“ zu definieren. Dabei entsteht Bedeutung einerseits durch „interne Umcodierung“ sinnbildender Zusammenhänge der Einzelelemente im Text und andererseits durch „externe Umcodierung“, in der Einzelelemente „auf Kontexte außerhalb der Aufführung bezogen werden“.433 Eine semiotische Aufführungsanalyse ist für „unterschiedlichste Prozesse der Bedeutungsgenerierung offen“, und Bedeutung ist eine bewegliche, variable und dynamische Größe, was „durch den triadischen Zeichenbegriff garantiert [wird]“.434 Die Inszenierung „als Interpretant … des 429 Fischer-Lichte,
Erika: Ästhetik des Performativen, a. a. O. 2004. „Semiotik“, in: Fischer-Lichte, E./Kolesch, D.: Metzler Lexikon Theatertheorie, a. a. O. 2005, S. 299. 431 Ebd., S. 300. 432 Ebd. 433 Ebd., S. 301. 434 Ebd. 430 Lemma
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Dramas [zu] bestimmen“, als interpretierendes Bewusstsein des Zeichennutzers also, ermöglicht sich durch den Peirce’schen Zeichenbegriff, mit dem die Inszenierung sowohl als selbstständiges Werk wie auch als Transformation des Dramas verstanden werden kann.435 Allerdings kann eine semiotische Analyse die „je spezifische Materialität theatraler Zeichen“ nicht immer hinreichend untersuchen.436 Zumal Aufführungen seit den 1960er/1970er Jahren und performative Ausdrucksformen Merkmale wie Ambiguität, Prozess, Nicht-Textualität etc. aufweisen437, die zu einem Theater aufrufen, das „sich veranlasst sieht, jenseits des Dramas zu operieren“.438 Im postdramatischen Theater verstehen sich Texte als vielschichtige Sprachflächen mit eigenständiger Theatralik439, und „theatrale Kommunikation [hat] grundsätzlich Ereignischarakter“440. Es wird eine „eigene, nicht aus dem Zeichenstatus resultierende Wirkung hervor[gerufen]“441, was eine hermeneutische Ästhetik, die das Verstehen eines Kunstwerkes zum Ziel hat, und eine semiotische Ästhetik nicht hinreichend zu analysieren vermögen442. Demnach müssen zu den semiotischen auch phänomenologische Ansätze hinzukommen, die „sich auf die Wahrnehmung der Elemente in … ihrem besonderen Inder-Welt-Sein“ beziehen.443 Fischer-Lichte hat mit ihrer Schrift „Ästhetik des Performativen“ einen solchen Ansatz geliefert. In ihrem dreiteiligen Band „Semiotik des Theaters“ verfolgt sie jedoch (noch) einen semiotischen Ansatz, bei dem sie sich auf Jurij Lotman444 und damit auf einen dyadischen Zeichenbegriff bezieht. Da sich das Semiotische und das Performative (dem Phänomenologisches innewohnt) ergänzen, weil durch Zeichen Phänomene evoziert werden können (und umgekehrt) und bei einer „zweistellige[n] Relation, [weil sie] ein Subjekt impliziert … letztlich von einer dreistelligen Relation auszugehen“445 ist, ist es für die vorliegende Arbeit sinnvoll, sich auf beide Ansätze zu beziehen, um die Ästhetik des Szenografie hinreichend analysieren zu können. Da die vorliegenden Arbeit 435 Ebd.,
S. 302. S. 301. 437 Lehman, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, Frankfurt a. M.: Verlag der Autoren 2008 (1999), S. 29. 438 Ebd., S. 30. 439 Ebd., S. 14 f. 440 Lemma „Ereignis“, in: Fischer-Lichte, E./Kolesch, D.: Metzler Lexikon Theatertheorie, a. a. O. 2005, S. 93. 441 Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, a. a. O. 2004, S. 21. 442 Ebd., S. 19. Siehe hierzu auch Bohn, Ralf: Szenische Hermeneutik. Verstehen, was sich nicht erklären lässt, a. a. O. 2015. 443 Lemma „Semiotik“, in: Fischer-Lichte, E./Kolesch, D.: Metzler Lexikon Theatertheorie, a. a. O. 2005, S. 302. 444 Siehe Kapitel 3.1.4 der vorliegenden Arbeit. 445 Lemma „Semiotik“, in: Fischer-Lichte, E./Kolesch, D.: Metzler Lexikon Theatertheorie, a. a. O. 2005, S. 299. 436 Ebd.,
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jedoch keine zeichentheoretische Analyse der Szenografie zum Ziel hat, sondern vor allem herausarbeiten will, auf welche Art und Weise, also wie wirklichkeitskonstituierende Bedeutungen (auch aus produktionsästhetischer Perspektive) hervorgebracht werden, liegt der Fokus auf jener semiotischen Dimension, die der Ästhetik des Performativen inhäriert. Bevor in den kommenden Ausführungen die „Ästhetik des Performativen“ im Hinblick auf die Szenografie erörtert wird, wird im Folgenden der Textbegriff rekapituliert, wie ihn Fischer-Lichte in ihrer „Semiotik des Theaters“ darlegt. Sie definiert ein theatrales Zeichen als „ein Zeichen eines Zeichens“446 und einen theatralen Text mit Rekurs auf Lotman als einen „künstlerischen Text“, der folgende Merkmale aufweist: „Explizität“ (das Verstehen der codierten Information), „Begrenztheit“ (vom Umraum, z. B. von der Stadt, wenn die Aufführung innerhalb eines Theaterbaus stattfindet) und „Strukturiertheit“ (innere Organisation und die Kombination, die die Zeichen untereinander eingehen).447 Zudem ist Fischer-Lichte zufolge ein theatraler Text bzw. eine Aufführung auch ein „multimedialer Text“, der „mit Hilfe unterschiedlicher Medien – wie Filmbild und Ton, Schrift und Bild, Schauspieler, Bühnenraum … etc. kommuniziert werden“ kann.448 Vor allem aber ist er auch ein „polyphoner Text“, der sich aus den verschiedenen an ihm beteiligten Personen und Gegebenheiten (Darsteller, Künstler des Produktionsstabs, Zuschauer, Bühnenraum, Technik etc.) zusammensetzt und sich demnach als eine „Vielheit von Sinn“ verstehen lässt449, wie Fischer-Lichte vor dem Hintergrund der Intertextualitätstheorie von Michail Bachtin450 herausarbeitet.451 Sie bezieht sich in diesem Zusammenhang auch auf Julia Kristeva452 und bestimmt die Aufführung als einen Text, der von mehreren Subjekten konstituiert wird.453 Eine Aufführung nun aber nicht weiter als Text, sondern als Ereignis454 zu bestimmen, ermöglicht sich durch die Inblicknahme 446 Fischer-Lichte, 447 Fischer-Lichte, 448 Ebd.,
Erika: Semiotik des Theaters, Bd. 1, Tübingen: Narr 1983a, S. 19. Erika: Semiotik des Theaters, Bd. 3, a. a. O. 1983b, S. 11 f.
S. 19. S. 33. 450 Weitere Ausführungen dazu im Kapitel 3.2.3 der vorliegenden Arbeit. 451 Fischer-Lichte, Erika: Semiotik des Theaters, Bd. 3, a. a. O. 1983b, S. 19. 452 Ebd., S. 22 f. „Kristeva bestimmt die Konstitution des poetischen Textes als ‚Erkundung des Prozesses, der das Subjekt konstituiert‘.“ 453 Ebd., S. 32 f. 454 Siehe Fischer-Lichtes weitere Ausführungen in ihrer Schrift Ästhetische Erfahrung: Das Semiotische und das Performative, a. a. O. 2001, S. 149 f.: In einer Darbietung, die als Ereignis im performativen Sinne verstanden wird, sind drei Punkte hervorzuheben: 1.) Nicht die Relata selbst (Subjekt und Objekt, Beobachter und Beobachtetes) und ihre Differenzierung, sondern ihr Verhältnis, die Relation zwischen ihnen affiziert und ist das (Ein-)Wirkende. „Es geht hier um ein Phänomen, auf das Merleau-Pontys ‚Zwischenleiblichkeit‘ und ‚Fleisch‘, Victor Turners ‚betwixt‘ und ‚between‘ oder Gernot Böhmes ‚Ekstasen der Dinge‘ hinzudeuten scheinen, d. h. um ein raum-zeitliches Kräftefeld, das zwischen den Körpern der Beteiligten entsteht und sie affiziert.“ 2.) Ästhetische 449 Ebd.,
3 Szenogreffieren 131
all dessen, was sich nicht (mehr) durch einen strukturierten Zusammenhang von Zeichen begründen lässt, wie bereits besprochen wurde. Als Ereignisse eröffnen Aufführungen nämlich „allen Beteiligten … die Möglichkeit, in ihrem Verlauf Transformationen zu erfahren – sich zu verwandeln“, wie sich mit Fischer-Lichte sagen lässt. Zwar bleiben bisherige ästhetische Theorien „in mancher Hinsicht durchaus weiter auf [die performative Wende] anwendbar. Das entscheidende … Moment jedoch, den Wechsel vom Werk und den mit ihm gesetzten Relationen von Subjekt vs. Objekt und Material- vs. Zeichenstatus zum Ereignis, vermögen sie nicht zu fassen. Um es in seiner besonderen Eigenart in den Blick nehmen, untersuchen … zu können, bedarf es … einer Ästhetik des Performativen.“455 In den folgenden Ausführungen, in denen untersucht wird, auf welche zeichenhafte Weise eine Szenosphäre erscheint, werden zunächst die Materialitäten, durch die sich ein performatives Ereignis konstituiert, in den Blick genommen und damit die spezifische Wahrnehmung, die ein Besucher dabei macht. Nach einer Erörterung des Atmosphäre-Begriffs in der Theaterwissenschaft wird herausgearbeitet, wie sich Wirkung und Bedeutung in einer Szenografie konstituieren können. In der Ästhetik des Performativen gehören zu den Materialitäten, durch die sich ein performatives Ereignis konstituiert, die Kategorien Körperlichkeit, Lautlichkeit, Zeitlichkeit und Räumlichkeit456. Vor allem mit Zeit und Raum, Zeitlichkeit und Räumlichkeit operiert die Szenografie. Dabei ist der szenografische Raum sowohl ein performativer Raum457 als auch ein atmosphärischer, denn er hält liminale458 Erfahrungen bereit und in ihm werden Verwandlungen durchlaufen.459 Ästhetische Erfahrung im Theater ist laut Fischer-Lichte liminales Erleben, das sich durch das Aufbrechen gewohnter Wahrnehmungen Bedeutung ist als eine Emergenz zu verstehen, als ein performativer Prozess. Unterscheidungen zwischen Signifikant und Signifikat, Präsenz und Repräsentation werden unterlaufen. 3.) „Die … Unterscheidung zwischen Produktions-, Material-, Werk- und Rezeptions- bzw. Wirkungsästhetik wird … fragwürdig. Inszenierung und Wahrnehmung, Erfahrung, Bedeutung und Wirkung sind … unmittelbar aufeinander bezogen.“ Für eine Ästhetik des Performativen ist die Kategorie des „‚Zwischen‘ eine Leitkategorie – auszugehen ist von ‚(Kraft- bzw. Energie-)Feldern‘.“ 455 Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, a. a. O. 2004, S. 29 f. 456 Ebd., S. 129–239. 457 Über den performativen Raum siehe ebd., S. 187–199. 458 Lemma „Liminalität“, in: Fischer-Lichte, E./Kolesch, D.: Metzler Lexikon Theatertheorie, a. a. O. 2005, S. 186 ff. „Der Begriff bezeichnet Schwellenerfahrungen, Prozesse der Grenzüberschreitung und Zustände des ‚Zwischen‘, wie sie u. a. im Rahmen kultureller Aufführungen und ästhetischer Ereignisse auftreten können. Der Begriff … wird erst in den letzten Jahrzehnten vermehrt in theatralen Kontexten und speziell auf Wirkungen des Kunsttheaters angewendet. … Aus heutiger Perspektive stellt sich Liminalität … als ein offenes, weiter auszuarbeitendes theoretisches Konzept dar, das für Aufführungsanalysen erhebliches heuristisches Potenzial bringt, wenn es darum geht, den Wirkungen performativer Prozesse bzw. den Erfahrungen ihrer Teilnehmer nachzugehen. Erhellend ist dabei nicht zuletzt die Ambiguität [Mehrdeutigkeit] der Metaphorik von Grenze und Schwelle: Viele Grenzen werden überhaupt erst dadurch erfahrbar, dass man sie überschreitet.“ 459 Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, a. a. O. 2004, S. 208.
132 Szenosphäre & Szenotopie
und den Vorstoß in neue Erfahrungsdimensionen kennzeichnet.460 Dabei spielen Atmosphären eine wesentliche Rolle, denn nicht zuletzt durch sie ist eine ästhetische Erfahrung überhaupt erst möglich. Die bisherigen Ausführungen zu „Ghost Machine“, wo z. B. die Kopfhörerstimme „Hilf mir“ flüstert, haben das bereits gezeigt. Um die Szenosphäre zwischen der performativen, semiotischen und atmosphärischen Ästhetik näher zu bestimmen, ist wiederum eine theaterwissenschaftliche Perspektive hilfreich, die im Folgenden eingenommen wird. Denn aus ihr heraus wird klarer, wieso eine semiotische Dimension zu jeder Inszenierung, d. h. zu jedem performativen Ereignis dazugehört. Während das Semiotische Deutungen und den Bedingungen der Möglichkeiten für die Entstehung von Bedeutungen nachgeht und unterschiedliche Zeichenprozesse untersucht, stehen beim Performativen seine Selbstreferentialität und Ereignishaftigkeit, die Fähigkeit der Wirklichkeitskonstitution und der Wirkung im Fokus461. Fischer-Lichte führt weiter aus, dass die wirklichkeitskonstitutiven Akte des Performativen auf Bedeutungskonstitutionen zurückgeführt werden können, und umgekehrt ist das Semiotische auf das Performative insofern bezogen, als es wesentliche Bedingungen für die Möglichkeit der Bedeutungserzeugung darstellt.462 Die Atmosphäre ist im Theaterkontext ein Phänomen, das sich einerseits auf die spezifische Umgebung und andererseits auf die subjektive Empfindung oder Stimmung des Wahrnehmenden bezieht.463 Hergestellt von den Künstlern des Produktionsstabs sowie vom Rezipienten erspürt und durch Wahrnehmung hervorgebracht, ist sie ein Inszenierungselement, das auf das Erleben der eigenen Befindlichkeit innerhalb der räumlichen Situation verweist und die subjektive Wahrnehmung und spezifische Umgebung umhüllen kann.464 Um näheren Aufschluss über ihre Wirkkraft, Zeitlichkeit und Räumlichkeit zu erlangen, müssen sowohl die Art der Herstellung als auch die Weise der Wahrnehmung in den Blick genommen werden.465 Die theaterwissenschaftlichen Erkenntnisse über die Atmosphäre, die im Folgenden zusammenfassend referiert werden, bestätigen sich in der Praxis: Die durch die Atmosphäre geschaffene Räumlichkeit ist ein unbeständiges Phänomen. Zu den Atmosphäre stiftenden Gestaltungs460 Ebd.,
S. 187.
461 Fischer-Lichte,
Erika: Ästhetische Erfahrung: Das Semiotische und das Performative, Tübingen: Francke 2001, S. 20. 462 Ebd. 463 Lemma „Atmosphäre“, in: Fischer-Lichte, E./Kolesch, D.: Metzler Lexikon Theatertheorie, a. a. O. 2005, S. 13–16. Begriffsgeschichtlich sind „Stimmung“ und „Einfühlung“ – die Friedrich Vischer, Theodor Lipps und Moritz Geiger im Fin de siècle einführen – die Vorläufer der (neu)phänomenologischen Begriffsbestimmung „Atmosphäre“, die Hermann Schmitz gegen Mitte und Gernot Böhme zu Ende des 20. Jahrhunderts in den Ästhetik-Diskurs einbringen. 464 Ebd., S. 13 f. 465 Ebd., S. 14.
3 Szenogreffieren 133
faktoren zählen – neben vielen anderen szenischen Mitteln – vor allem raumschaffende Umgebungsqualitäten wie der Ton und die Lichtgestaltung. Die Stimmung, in die der Zuschauer durch die Atmosphäre versetzt wird, ist kein Zufallsprodukt, sondern inszenatorisch herstellbar und im Probenverlauf überprüfbar. Die ungefähre atmosphärische Wirkung ist bestimm- und abschätzbar, was erforderlich ist, um ein breites Publikum zu erreichen. Dennoch bleibt die tatsächliche Erfahrung emergent und es gibt unvorhersagbare Faktoren. So kann die Stimmung der Zuschauer oder die Atmosphäre des Zuschauerraums eine völlig andere sein als die von der Bühne ausgehende – dann erzielt die Szenerie nicht die intendierte atmosphärische Wirkung, sondern bleibt zeichenhaft.466 Viele dieser theaterwissenschaftlichen Untersuchungsergebnisse treffen auch auf die hergestellte und inszenierte Atmosphäre einer Szenografie zu, ebenso finden sich Parallelen bei der Frage nach den Wahrnehmungsweisen. So wie bei der theatralen (Bühnenbild-)Atmosphäre ist auch bei der Szenosphäre die Erfahrungsdimension, die Gernot Böhme der Leiblichkeit überantwortet, von grundlegender Bedeutung. In ihr geht es weniger um materielle Qualitäten und auch nicht darum, „einem Ding … bestimmte Eigenschaften zu geben …, sondern es in bestimmter Weise aus sich heraustreten zu lassen und dadurch die Anwesenheit von etwas spürbar werden zu lassen“.467 Im Kontext theatraler468 Inszenierungen, zu denen eine Szenografie gehört, gilt es aber auch diejenige Wahrnehmung in den Blick zu nehmen, die nach der ersten atmosphärischen Wahrnehmung aufgerufen wird: die Zeichen-Wahrnehmung469. Dazu ist es zunächst wichtig, die Bedeutungsebene der Szenosphäre im Hinblick auf die strukturelle Beschaffenheit der Szenografie und ihrer dramaturgischen, ästhetischen und inhaltlichen Elemente nachzuvollziehen470. Denn das, was sich innerhalb einer Szenografie als Erfahrungsdimension ermöglicht, ist abhängig vom räumlich szenografischen Sinngefüge. Im Anschluss an theaterwissenschaftliche 466 Ebd.,
S. 14 f.
467 Böhme, Gernot: Atmosphäre: Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1995, S. 33 f. 468 Vgl. Lemma „Theatralität“, in: Fischer-Lichte, E./Kolesch, D.: Metzler Lexikon Theatertheorie, a. a. O.
2005, S. 360. Als ästhetische Kategorie wird der Begriff verwendet zur Beschreibung „originärer Qualitäten von Kunstwerken oder künstlerischen Prozessen. Die klassische Definition … stammt von Roland Barthes und lässt sich auf die Formel ‚Theater minus Text = Theatralität‘ bringen.“ Die Formel zielt auf Eigenheiten theatraler Kunst und fasst darunter all diejenigen Aspekte, „die sich nicht mit einem Dramentext verrechnen lassen. Theatral sind demnach Zeichen und Erfahrungen …, die im Verlauf einer Aufführung evoziert werden.“ Theatralitätsdefinitionen im Hinblick auf Avantgarde-Theater und Performance-Kunst stehen in produktivem Widerspruch zum alltäglichen Sprachgebrauch, der Theatralität weithin mit einem historisch begrenzten Verständnis aus dem 18. Jahrhundert verbindet. 469 Vgl. Rodatz, Christoph: Der Schnitt durch den Raum: Atmosphärische Wahrnehmung in und außerhalb von Theaterräumen, Bielefeld: transcript 2010. 470 Lemma „Atmosphäre“, in: Fischer-Lichte, E./Kolesch, D.: Metzler Lexikon Theatertheorie, a. a. O. 2005, S. 15. Bei diesen aufführungsanalytischen Betrachtungen zur Untersuchung der Atmosphäre wird ebenso vorgegangen.
134 Szenosphäre & Szenotopie
Erkenntnisse kann festgehalten werden: Einerseits sind die Wirkkräfte einer Raumkonstellation für den Künstler, der sie herstellt, nicht nur nicht ohne die von ihnen ausgehende Bedeutung zu denken, sondern sie stellen sich oft erst über sie und ihre Bedeutungen her; andererseits kann die durch sie generierte Stimmung Einfluss auf die Wahrnehmung des Zuschauers nehmen, indem sie ihm beispielsweise eine Einfühlung in die Darbietung ermöglichen, zur Bedeutungskonstitution beitragen oder Irritation auslösen.471 Der Unterschied zwischen einer (Bühnenbild-)Atmosphäre eines Theaterstücks und einer Szenosphäre ist allerdings der, dass bei einer Szenosphäre die leiblich-affektive Wahrnehmung tatsächlich in Analogie zum Raum, d. h. zur strukturellen Beschaffenheit der Szenografie steht. Denn die Bewegung durch den szenografischen Raum kommt – wenn man so will – einem Tasten472 gleich. Der Raum wird in seinem Erscheinen schrittweise und aus verschiedenen Blickwinkeln mit allen Sinnen abgetastet, daher erschließt er sich visuell nicht zuallererst optisch – so wie dies beim Bühnenbild der Fall ist, das den Rezipienten auf Distanz hält –, sondern eher haptisch. Die Szenografie, vor der man nicht wie vor einem (Bühnen-)Bild sitzt, macht eine Wahrnehmung erfahrbar, die bereits Alois Riegl in den Blick genommen hat und auf die sich Deleuze/Guattari in ihrem Ästhetikmodell473 beziehen. Riegl spricht von einer visuell-optischen Wahrnehmung im Unterschied zu einer haptisch-optischen, einer nahsichtigen Anschauung und einem haptischen Raum474. Deleuze/Guattari sprechen davon (über das Bild als Gegensatz verdeutlicht sich der Unterschied), dass ein Bild eher auf Fernsicht angelegt ist, „von nahem gemacht und von (relativ) fern betrachtet wird“475. Die Szenografie wird zwar auch von Nahem gemacht, aber zumeist eben auch aus relativer Nähe betrachtet bzw. durchschritten. Das Durchschreiten ermöglicht eine nahsichtige Anschauung, die Szenografie ist nicht auf eine Fernsicht angelegt und konstituiert sich als Handlung. Der Rezipient hat keine Überschau auf das Bühnengeschehen, sondern befindet sich inmitten desselben, und Vorgänge werden ausschnitthaft – sowohl simultan als auch in einer Abfolge – wahrgenommen. 471 Ebd.,
S. 15 f. Vgl. auch Schouten, Sabine: Sinnliches Spüren. Wahrnehmung und Erzeugung von Atmosphären im Theater, Berlin: Theater der Zeit 2011 (2007), S. 208–210, 218, 229. 472 Vgl. Heinz von Foerster: Es „sind die durch Bewegung hervorgebrachten Veränderungen des Wahrgenommenen, die wir wahrnehmen. Wie der Biologe Humberto Maturana sagt: ‚Wir sehen mit unseren Beinen.‘ Man braucht nur unserer Sprache zuhören; ‚wahr-nehmen‘, ‚be-greifen‘, ‚ver-stehen‘!“ Humberto Maturana: „Wahrnehmen wahrnehmen“, in: Barck, Karlheinz (Hg.): Aisthesis: Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig: Reclam 1993, S. 440. 473 Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Tausend Plateaus: Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin: Merve 1992 (1980), S. 682–693. 474 Riegl, Alois: Spätrömische Kunstindustrie, Wien: Österreichische Staatsdruckerei 1927 (1901), S. 32 ff. 475 Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Tausend Plateaus: Kapitalismus und Schizophrenie, a. a. O. 1992 (1980), S. 682 f.
3 Szenogreffieren 135
Das Wissen, das aus diesem Unterschied erwächst, kann die theaterwissenschaftlichen Atmosphäre-Erkenntnisse – die zumeist aus Untersuchungen resultieren, welche sich weitgehend auf das klassische Bühnenbild und rezeptionsästhetische (Aufführungs-)Analysen konzentrieren – insbesondere im Hinblick auf bestimmte „Signifikationspraktiken“476 erweitern, die am Ende des Kapitels „Szenotopie“ ausführlich dargelegt werden. Diese bedeutungserzeugenden Praktiken werden dadurch auf den Weg gebracht, dass die Zeichen und das Atmosphärische vom Szenografen so konzipiert werden, dass sich ihre Bedeutungskonstitution von Nahem und durch partielle Sinneseindrücke entfalten kann. Atmosphärische und semiotische Wahrnehmung, leibliche und reflexive Prozesse bestimmen sich wesentlich über diese räumlichen und raumstrukturellen Beschaffenheiten und ermöglichen sich durch sie. Reflexive Prozesse sind für die semiotische Wahrnehmung, die mittels der kommenden Ausführungen genauer bestimmt wird, insofern grundlegend, als etwas bewusst wahrnehmen bedeutet, es als etwas wahrzunehmen477. Atmosphären ermöglichen eine spezifische Erfahrung von Räumlichkeit und gehören nicht dem geometrischen, sondern dem performativen Raum an, der immer zugleich auch ein atmosphärischer ist.478 Die spezifische Atmosphäre ist laut Fischer-Lichte das, was sich zwischen den Dingen und dem wahrnehmenden Subjekt im performativen Raum ergießt.479 „Diese Verlagerung des Schwerpunkts von den Bedeutungen zur leiblichen Erfahrung“ teilt die Theaterwissenschaftlerin (ebenso wie die vorliegende Arbeit) mit Böhme, der Fischer-Lichte zufolge „seine Ästhetik der Atmosphäre als Antithese zu einer semiotischen Ästhetik entwickelt [hat]“.480 Sie bestreitet allerdings, dass man die Bedeutungsdimension ausklammern kann, denn Bedeutungen haben einen entscheidenden Anteil an der Wirkung von Atmosphären.481 Im Anschluss an Fischer-Lichte wird im Folgenden der Frage nachgegangen, „wie in ihnen [den Atmosphären, R.P.] die Materialität der Dinge, die in deren Ekstasen in Erscheinung tritt, mit den Bedeutungen, die sie für das wahrnehmende Subjekt besitzen mögen, zusammenwirken“.482 Die Ergebnisse 476 De
Certeau, Michel: Kunst des Handelns, Berlin: Merve 1988 (1980), S. 21. Fußgänger, die sich durch „Signifikationspraktiken“ den Stadtraum aneignen, bezeichnet de Certeau als „stillschweigende Erfinder eigener Wege“, sie bilden „Irr-Linien“ und Querverbindungen, die die Stadtplaner nicht vorgesehen hatten. Die Bezugnahme auf de Certeau begründet sich in der möglichen Analogie zwischen Fußgänger + Stadtplaner sowie Besucher/Rezipient + Szenograf. 477 Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, a. a. O. 2004, S. 245. 478 Ebd., S. 200 f. 479 Ebd., S. 203. 480 Ebd., S. 208. 481 Ebd., S. 209. 482 Ebd.
136 Szenosphäre & Szenotopie
im Hinblick auf Wirkung qua (Be-)Deutung werden die These zur anteilig vorhandenen semiotischen Dimension der Szenosphäre begründen. Der performative Raum ist transitorisch und unbeständig, die Material- und Zeichenhaftigkeit sowie Wirkung und Bedeutung stehen nicht per se in dichotomischen Verhältnissen zueinander, sondern diese Größen werden miteinander verhandelt.483 Dabei tauchen einzelne Elemente, darunter Phänomene wie Atmosphären auf, stabilisieren sich vorübergehend und verschwinden wieder.484 Fischer-Lichte führt aus, was beispielsweise die Herauslösung einzelner theatraler Elemente aus einem übergeordneten Kontext zur Folge hat485: Logische Handlungsketten werden aufgebrochen; zum einen erscheinen solche Elemente desemantisiert, sie werden nicht als Träger von Bedeutungen wahrgenommen, sondern in ihrer spezifischen Materialität, d. h. selbstreferientiell. Zum anderen sind es aber gerade sie, die beim Rezipienten eine Fülle von Assoziationen, Vorstellungen, Gedanken, Erinnerungen, Gefühle hervorrufen und Beziehungen zu anderen Phänomenen herstellen.486 „Die Dinge bedeuten das, als was sie in Erscheinung treten. Etwas als etwas wahrnehmen heißt also, es als bedeutend wahrzunehmen. In der Selbstreferentialität fallen Materialität, Signifikant und Signifikat zusammen. … Die Materialität des Dings nimmt … in der Wahrnehmung des Subjekts die Bedeutung seiner Materialität an, das heißt seines phänomenalen Seins. Das Objekt, das als etwas wahrgenommen wird, bedeutet das, als was es wahrgenommen wird.“487 Ein Beispiel aus dem Alltag verdeutlicht dies: Im Auto bei Regen an einer Verkehrsampel stehend, kann das Rot nicht nur als ein Zeichen für „Anhalten“ wahrgenommen werden, sondern auch als ein Farb- und Akustikphänomen, das wie ein Aquarell zerläuft und dabei laut auf die Scheibe prasselt.488 So gesehen erzeugt laut Fischer-Lichte bewusste Wahrnehmung also immer Bedeutung. Im Folgenden wird eine bewusste Wahrnehmungsweise erörtert, in der Materialität, Signifikant (das Bezeichnende) und Signifikat (das Bezeichnete) jedoch nicht zusammenfallen. Sie ist in Bezug auf die Semiotizität und die Wahrnehmungsweise der Szenosphäre nämlich insofern besonders aufschlussreich, als durch sie Aspekte sichtbar werden, die über eine Selbstreferentialität hinausgehen. Außerdem verdeutlicht sich, dass der Erscheinungsweise der Szenosphäre – die mittels Seel bereits erarbeitet wurde – eine Wahrnehmung 483 Ebd.,
S. 242. S. 243. 485 Ebd., S. 243 f. Theatrale Elemente können z. B. Gesten wie Langsamkeit bei Stücken von Robert Wilson sein oder Farben wie das Rot in Hermann Nitschs Blut-Aktionen. 486 Ebd., S. 243. 487 Ebd., S. 245. 488 Ebd., S. 246. 484 Ebd.,
3 Szenogreffieren 137
zugrunde liegt, die das Phänomen als das Bezeichnende wahrnimmt. Und das bringt einen weiteren Wissensfortschritt für die Ästhetik der Szenografie, insbesondere in produktionsästhetischer Hinsicht. Wie zu Beginn in Aussicht gestellt, werden Stilfiguren sichtbar, die zur Bedeutungserzeugung zum Einsatz kommen und mit denen ein Szenograf im Herstellungsverfahren arbeitet. Fischer-Lichtes Argumentation folgend wird das Phänomen, hier die Szenosphäre, „zunächst in seinem phänomenalen Sein wahrgenommen, dann jedoch … als ein Signifikant, mit dem sich die unterschiedlichsten Assoziationen … als seine Signifikate verbinden“.489 Ein Beispiel aus der Weltliteratur, das Fischer-Lichte anführt, zeigt, was damit gemeint ist: Die von Proust in Tee getauchte Madeleine setzt durch ihren Duft einen Erinnerungsstrom in ihm frei, der mit dem Gebäck als solchem nichts mehr zu tun hat.490 Hier werden Praktiken sichtbar, die unterschiedlichste Assoziationen oder Handlungen generieren können. Solche Assoziationen entspringen zumeist menschlichen Erfahrungen und damit einem soziokulturellen Repertoire: „Wir alle tragen solche Geschichten, mehr oder minder diffus, mit uns, ob wir wollen oder nicht – der Bildbestand ist durchaus einem kollektiven oder gesellschaftlich Imaginären entsprungen“.491 Dabei begünstigt die „Szene … die so wichtige Interpretationsarbeit, sie hilft dabei, aus dem Wahrnehmungsstrom kleinere Sinneinheiten heraus zu modellieren“.492 In der Wahrnehmung, in der Materialität, Signifikant und Signifikat auseinanderfallen, wird ein Kunstwerk in seiner Kontextoffenheit offenbar493, das – mit der „Ästhetik der Installation“ gesprochen – weniger ein „Werk[] denn [ein] Modell[] [seiner] Möglichkeit“ und in dem die Rolle des Rezipienten konstitutiv ist494. Indem das Phänomen, hier die Szenosphäre, zunächst als ein Signifikant wahrgenommen wird, beziehen sich Assoziationen
489 Ebd., 490 Ebd.
S. 247.
Hier sei ein weiterführender Hinweis auf das gegeben, was erst zum Schluss des Kapitels 3.2 der vorliegenden Arbeit ausgeführt wird, hier aber einen möglichen Ursprung findet, siehe dazu die bereits erwähnte Schrift von Michel de Certeau „Kunst des Handelns“: Er gibt an, dass Lesen wie Gehen sei: Der Literatur-Leser oder Stadt-Fußgänger bringt (durch performative Praktiken) aus dem System, im dem er sich befindet (Literatur oder Stadt), unvorhergesehene neue Räumlichkeiten hervor. 491 Reck, Hans Ulrich: Kunst als Medientheorie. Vom Zeichen zur Handlung, München: Fink 2003, S. 142 f. Sprachliche und bildsprachliche Systeme sind ihm zufolge eingebunden in die Konstruktion des „Settings“, d. h. der „Inszenierung und Ausstattung, den Aufbau einer Bühne für das Arrangement der Zeichen“. Form und Ausdruck, Substanz und Inhalt treten dabei in unverbrüchlicher Einheit auf und als solche, scheinbar paradox, als Moment der Aktualpräsenz. Danach und davor zerfallen sie wieder, andere Beziehungen werden möglich. 492 Christians, Heiko: Crux Scenica, a. a. O. 2016, S. 10. 493 Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, a. a. O. 2004, S. 249. 494 Rebentisch, Juliane: Ästhetik der Installation, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008, S. 15.
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in Form von Erinnerungen auf Erlebtes495 und auf kulturelle Codes496, über die man sich – wie über Szenosphären – intersubjektiv verständigen kann; Böhme hat diese Verständigungsmöglichkeit zu Bühnenbild-Atmosphären ausgeführt. Es kommen also gesellschaftliche Erfahrungsschemata und Organisationsprinzipien zum Tragen, mithin „primäre Rahmen“, die oft unbewusst zur Einordnung von Wahrgenommenem beitragen. Ein „primärer Rahmen“ kann laut Goffman „einen sonst sinnlosen Aspekt der Szene zu etwas Sinnvollem“ machen.497 Ihm zufolge werden Bedeutungserzeugung und Sinnverarbeitung durch eine Modulation, durch einen Wechsel des Kontextes oder eines Rahmens hervorgebracht. Der Rahmen, verstanden als ein Theater-/Aufführungsrahmen oder eine Inszenierung, ermöglicht Transformationen und zeigt, „in welch unterschiedlichem Sinn“ gleiche Handlungen oder Sachverhalte verschiedene Wirklichkeitsbezüge haben und „als etwas ganz anderes gesehen“ werden können.498 Rahmenwechsel und Transformationen werden in der Szenografie vor allem auch durch die Bewegung (des Rezipienten) erzeugt. Im weiteren Verlauf können beim Rezipienten aber auch außerordentliche Assoziationen und Imaginationen auftreten, die weder der Szenograf noch er selbst intendiert haben und über die man eben nicht mehr „quasi-objektiv“ (Böhme) kommunizieren kann. Insbesondere diese Wahrnehmungsleistung des Rezipienten und diese szenografische Produktionsleistung sind es, die für beide Seiten einen Spielraum öffnen und Spannung mit sich bringen, denn diese Bedeutungsgenerierungen „lassen sich in diesem Sinne als Emergenzen begreifen“499. Sie lassen sich aber auch als Relationen zwischen Kunst und Wirklichkeit begreifen, mit der sowohl Rezipient (SzenografieBesucher) als auch Produzent (Szenograf ) agieren, es sind Raumpraktiken im Sinne von „Kombinationsmöglichkeiten von Handlungsweisen“500, wie in Kapitel 3.2.4 erörtert werden wird. Bei den außerordentlichen und willkürlichen Assoziationen lässt sich die erste Bedeutungsgenerierung noch irgendwie auf das Wahrgenommene, den Auslöser beziehen, wohingegen jede weitere Bedeutungsassoziation, die wiederum weitere Bedeutungen emergiert, kaum mehr in Beziehung zum Urereignis steht.501 Diese Wahrnehmungsart und Bedeutungsassoziierung weist Parallelen
495 Vgl. die Ausführungen im vorherigen Kapitel: In der Szenografie geht es um ein Mit(er)leben und
ein Nacherleben, das mit dem, was der Rezipient z. B. in seinem Alltag schon einmal erlebt hat, verbunden werden kann. Etwas unmittelbar zu erleben, bedeutet etwas von Nahem zu erleben. 496 Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, a. a. O. 2004, S. 248 f. 497 Goffman, Erving: Rahmen-Analyse, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1980, S. 31. 498 Ebd., S. 55. Vgl. auch Goffman, Erving: Wir alle spielen Theater: die Selbstdarstellung im Alltag, München: Piper 2003. 499 Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, a. a. O. 2004, S. 249. 500 De Certeau, Michel: Kunst des Handelns, a. a. O. 1988 (1980), S. 12. 501 Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, a. a. O. 2004, S. 250.
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zum „Anderssagen“, zur rhetorischen Stilfigur der Allegorie 502 auf; auch in ihr fällt die Trias Materialität–Signifikant–Signifikat auseinander.503 Die These, dass sich die Szenosphäre nicht nur atmosphärisch, sondern auch durch eine semiotische Dimension konstituiert, kann nun spätestens dadurch als begründet gelten, dass die Verfahren zur Bedeutungsgenerierung konkret aufgezeigt werden können. Die rhetorische Figur der Allegorie ist nicht nur ein Generator des Rezipienten, sondern auch ein Strategiemittel des Szenografen, der Szenosphären herstellt und ein Setting installiert, durch das sich der mobile Rezipient in der Zeit, d. h. stationsweise hindurchbewegt. Als räumliche Zeitstruktur gedacht, ist die Figur der Allegorie ein richtungsweisender Parcours. Das, was Seel dem artistischen Erscheinen von Kunstwerken als Kalkül zuweist, ist aus produktionsästhetischer Perspektive dem Szenografen (hier in der Rolle eines Allegorikers) zuzuschreiben, ist „allein die Intention des Allegorikers, er ist es, der dem wahrgenommenen Ding willentlich diese Bedeutung beilegt“504. Da rhetorische Figuren, mithin alle semiotischen Zeichen Relationen sind, kann die Relationalität hier als eine Materialität ausgemacht werden, die als solche in der „Ästhetik des Performativen“ von Fischer-Lichte bislang nicht explizit zu den Materialitäten zählt. Ein Vorschlag wäre, die Relationalität als performative Materialität in einem zukünftigen Diskurs fortzuschreiben – nicht zuletzt im Hinblick auf die ebenfalls „fehlende“ Kategorie Bildlichkeit505, unter der die Relationaliät ihren Platz fände. Die Relationalität verbände zugleich die Bildlichkeit mit der Mate502 Diese
künstlerische Vorstellungs- oder Darstellungsform ist eine Stilfigur und gehört – neben Metapher, Ironie, Metonymie und Synekdoche – zu den rhetorischen Tropen (semantischen Figuren). Sie bietet den Sinn nicht unmittelbar dar, sondern indirekt, abstrakt und gebrochen, sodass der für den Sinn stehende Inhalt, z. B. ein Bild, als Zeichen eingesetzt wird, das über die Metapher hinausgeht. Außerdem steht das eingesetzte Zeichen in einem Spannungsverhältnis zum Sinn, der vermittelt werden soll, und es wird erst durch Wissen, Reflexion oder Imagination verständlich; ein bekanntes Beispiel dafür ist Dürers Meisterstich „Melencolia“ (1514). Walter Benjamin, auf den auch Fischer-Lichte verweist, sieht im kunsttheoretischen Begriff der Allegorie keine „Bildertechnik“, sondern „die versinnlichte, verkörperte Idee selbst“. Er denkt die Allegorie weniger als Bild denn vielmehr als eine zeitliche Struktur. In seinen Überlegungen zu „Allegorie und Trauerspiel“ schreibt er: „Unter der entscheidenden Kategorie der Zeit, welche in dieses Gebiet der Semiotik eingetragen zu haben die große romantische Einsicht dieser Denker war, läßt das Verhältnis von Symbol und Allegorie eindringlich und formelhaft sich feststellen.“ Der „Kern der allegorischen Betrachtung“ ist das Durchlaufen von „Stationen“ der „Geschichte als Leidensgeschichte der Welt“. Tiedemann, R./Schweppenhäuser, H. (Hg.): Walter Benjamin. Gesammelte Schriften, Bd. I.1, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974, S. 141 ff., S. 342 f. Zu „Allegorie“ (Bild, Diagramm und Methapher) siehe auch Wilharm, Heiner: Die Ordnung der Inszenierung, a. a. O. 2015, S. 343 f. 503 Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, a. a. O. 2004, S. 250 ff. 504 Ebd., S. 253. 505 Zu den wenigen Beiträgen, die sich mit Bildlichkeit im Aufführungszusammenhang auseinandersetzen, siehe Röttger, Kati (Hg.): Theater und Bild: Inszenierungen des Sehens, Bielefeld: transcript 2008.
140 Szenosphäre & Szenotopie
rialität Räumlichkeit, zu der – neben den performativen Räumen und Atmosphären – auch die Szenosphären gehören, welche sich aus einer semiotisch atmosphärischen Ästhetik begründen. Das Performative fragt nach dem Wie und das Semiotische nach dem Was, nach Zeichen und deren Bedeutungen. Kunst als „Zeichen“ (als Ausdruck und als eine Relation zur Wirklichkeit) zu verstehen, schlägt verschiedene semiotische Einfassungen vor, in denen die Relation stets Bindeglied ist.506 Jurij Lotman versteht Kunst als eine Relation zur Wirklichkeit und stellt ein Denkmodell zur Verfügung507, durch das weitere Erkenntnisse über die Ästhetik der Szenografie erlangt werden können, auch im Hinblick auf die Performativität von Kultur. Über das Wie des semiotisch Atmosphärischen kann – im folgenden letzten Unterkapitel – das Darstellungssystem selbst, d. h. die Szenografie Aufschluss geben, die nun mittels Lotman als ein bedeutungserzeugendes „modellbildendes System“508 und als ein räumlich und zeitlich strukturiertes Sinngefüge untersucht wird.
506 Fischer-Lichte,
Erika: Ästhetische Erfahrung: Das Semiotische und das Performative, a. a. O. 2001, S. 34 f. Sie verweist nebst Jurij Lotman auch auf die semiotische Kunsttheorie von Julia Kristeva. 507 Vgl. ebd. 508 Lotman, Jurij M.: Vorlesungen zu einer strukturalen Poetik, München: Fink 1972b.
3 Szenogreffieren 141
3.1.4 Die modellierte Ganzheit, Struktur und (Ko-)Relation Insofern eine semiotische Ästhetik die Bedingungen in den Blick nimmt, unter denen Bedeutung im Kunstwerk erzeugt wird, stellt sich damit auch die Frage nach der Eigenart des jeweiligen Darstellungssystems, das diese Bedingungen ermöglicht.509 Um das Darstellungssystem, d. h. in diesem Fall die Szenografie in ihrer Eigenart und als ein bedeutungserzeugendes System herauszuarbeiten, wird sie im Folgenden mit Jurij Lotman510 als „sekundäres modellbildendes System“ und mit dem Begriff „Semiosphäre“ (ders.) untersucht. Denn so kann sie einerseits als ein ästhetisches Strukturmodell erkennbar werden und andererseits als ein System, das Information enthält und mit Relationen und semantischen Verbindungen operiert. Als Struktur- und Informationsmodell hält die Szenografie spezifische Mittel bereit, um etwas darzustellen, auszudrücken oder – wie im Fall der Szenosphäre – hervorzurufen. Dabei wird sich neben der bereits erörterten Allegorie die Metonymie als ein weiteres Stilmittel erweisen. Im Hinblick auf die Struktur werden topologische Eigenschaften sichtbar, die sich – vor dem Hintergrund der Semiosphäre – als ein konkreter Raum denken lassen. Lotman entwirft mit dem Begriff „Semiosphäre“ eine Art Verständigungs- und Sinnsphäre, einen abstrakten Zeichenraum, doch besitzt er anschauliche räumliche Eigenschaften wie Zentrum, Peripherie, Grenzen und Richtungen. Diese „semiosphärische Glocke“511 ist eine Räumlichkeit, die als eine Kommunikationsmatrix verstanden werden kann und alle Zeichen und Zeichenbenutzer einer Kultur umfasst. Innerhalb der Semiosphäre gibt es verschiedene Subsysteme, darunter fallen auch „künstlerische Texte“512, wie Lotman sie nennt. Mit „künstlerischen Texten“ sind Ausdrucksformen und Sprachen wie z. B. Theateraufführungen, Malerei, Poesie, Film, Szenografie – ist Kunst gemeint. Kunst ist so verstanden ein modellierendes und modellbildendes System und sekundär insofern, als das vom Künstler Wahrgenommene ein zweites Mal (eben durch die Kunst) zu einem Ausdruck 509 Vgl. Fischer-Lichte, Erika: Ästhetische Erfahrung: Das Semiotische und das Performative, Tübingen:
Francke 2001, S. 142.
510 Jurij Lotman (1922–1993, russischer Literaturwissenschaftler, Strukturalist, Semiotiker, Mitbegründer
der Moskauer-Tartuer Schule der Semiotik in den 1960er Jahren) leistete einen entscheidenden Beitrag zur semiotischen Kulturtheorie. Nach Lotman ist Raum das Erzeugnis kultureller Zeichenverwendungen. Kunst bezeichnet er als ein „sekundäres modellbildendes System“. Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte, München: Fink 1972a, S. 22 f. Vgl. auch dessen Vorlesungen zu einer strukturalen Poetik, München: Fink 1972b. Die „Gesamtheit aller Zeichenbenutzer, Texte und Kodes einer Kultur als semiotischen Raum“ bezeichnet er als „Semiosphäre“; Jurij Lotman: „Über die Semiosphäre“, in: Posner, Roland (Hg.): Kultur und Evolution. Zeitschrift für Semiotik, Bd. 12, Heft 4, 1990, S. 287–305. 511 Peter Sloterdijk bezeichnet den semiotischen Kulturraum als „semiosphärische Glocke“, die Bedeutungszuschreibungen präfiguriert und in gesellschaftliches Wissen, Diskurse und Kontexte einbettet. Sloterdijk, Peter: Blasen, Sphären Bd. 1, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1998, S. 60. 512 Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte, a. a. O 1972a, S. 8.
142 Szenosphäre & Szenotopie
gelangt, der von einem Rezipienten wahrgenommen werden kann513. Wo sich diese Ausdrucksform im Gesamtsystem der Semiosphäre verortet, wird nicht nur Aufschluss geben über die Verständigung über „Realität“ (und wie diese, innerhalb einer Szenografie, sozusagen atmo- bzw. szenosphärisch „aufgeladen“ wird), sondern auch darüber, wie sie strukturiert und vom Szenografen hergestellt wird. Darüber hinaus liefern Lotmans Theorien auch eine Vorschau auf die These der Szenotopie (Kapitel 3.2), die davon ausgeht, dass der Szenografie ein relationales und topologisches Raumverständnis zugrunde liegt. Denn Lotman stellt ein Denkmodell zur Verfügung, das genuin räumlich, d. h. topologisch und mithin diagrammatisch konzipiert sowie kultursemiotisch angelegt ist, und dieser Ansatz ermöglicht es, Text auch als eine „signifikante Praxis“514 aufzufassen. Ein künstlerischer Text, wie ihn Fischer-Lichte in ihrer Schrift „Semiotik des Theaters“ im Sinne Lotmans als „komplex aufgebaute[n] Sinn“ definiert – „[a] lle seine Elemente sind sinntragende Elemente“515 –, lässt sich aus topologischer und kultursemiotischer Sicht auch ausdeuten als eine „signifikante Praxis, die in einem konkreten sozialen und gesellschaftlichen Kontext entsteht“516, was – über das Semiotische hinaus – den performativen Charakter eines künstlerischen Textes und damit „die Performativität von Kultur in den Blick rückt“517. Denn Kultur als ein hervorgebrachtes Bedeutungsgewebe und komplexer Sinn können nur durch eine Struktur entstehen518, und in einer topologischen Struktur geht Sinn – als Struktureffekt – aus der Stellung der Elemente 519, ihren Lagebeziehungen und modularen Verhältnissen hervor. Lotman erörtert solche Art Verhältnisse z. B. anhand einer Theateraufführung: Sie illustriere „anschaulich eine wichtige Eigenschaft der Kunst – die paradoxe Homöomorphie der Teile und des Ganzen“520. 513 Lotman,
Jurij M.: Vorlesungen zu einer strukturalen Poetik, a. a. O 1972b, S. 38. „Textualität“, in: Fischer-Lichte, E./Kolesch, D.: Metzler Lexikon Theatertheorie, a. a. O. 2005, S. 333. 515 Fischer-Lichte, Erika: Semiotik des Theaters, Bd. 3, a. a. O. 1983b, S. 11. Sie zitiert Lotman, der schreibt: „Ein künstlerischer Text ist komplex aufgebauter Sinn. Alle seine Elemente sind sinntragende Elemente.“ 516 Lemma „Textualität“, in: Fischer-Lichte, E./Kolesch, D.: Metzler Lexikon Theatertheorie, a. a. O. 2005, S. 333. 517 Ebd., S. 334. 518 Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte, a. a. O 1972a. S. 27. Eine Idee bedarf einer „sie realisierende[n] Struktur“. Ihm zufolge muss „der Dualismus Form – Inhalt … ersetzt werden durch den Begriff der Idee, die sich in adäquater Struktur realisiert und außerhalb dieser Struktur nicht vorhanden ist“. 519 Siehe Deleuzes Ausführungen über den Strukturalismus in Kapitel 3.2 der vorliegenden Arbeit unter der Überschrift „Topologisches Raumverständnis“. 520 Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte, a. a. O, 1972a, S. 355 f. Objekte sind dann homöomorph (gleichgestaltig, ein Begriff aus dem mathematischen Teilgebiet Topologie), wenn sie stetig abgebildet bzw. ineinander überführt werden können. 514 Lemma
3 Szenogreffieren 143
Lotmans Werk kann grob in eine Entwicklungslinie gebracht werden, die vom Text hin zu menschlichen Denkprozessen bis zur Kultur als Ganzes reicht. Seine Untersuchungen sind in den 1960er/1970er Jahren geprägt von linguistisch strukturalistischen, in den 1990er Jahren dann von kultursemiotischen Ansätzen, aus denen er eine dynamische Kulturtheorie entwickelt. Er arbeitet sowohl den „künstlerischen Raum“ literarischer Texte 521 als auch den kultursemiotischen Raum (die Semiosphäre)522 als einen topologischen Raum (Räumlichkeit) heraus. Dass er dabei ein Denkmodell zur Verfügung stellt, das topologisch konzipiert ist, benennt zugleich der Grund, warum in der vorliegenden Arbeit mit diesem Modell gearbeitet wird. Daher richten sich die kommenden Untersuchungen auch nicht auf Lotmans Zeichenbegriff, zumal er selbst keinen eindeutig definierten Zeichenbegriff vertritt und in der vorliegenden Arbeit auch nicht zeichentheoretisch, sondern räumlich gedacht wird. Allgemein vertritt Lotman einen dyadischen Zeichenbegriff (wonach sich ein Zeichen einerseits aus dem Zeichenträger und andererseits aus dem Bezeichneten konstituiert), doch eine „eindeutige Berufung auf Saussure oder auf die Peircesche Tradition fehlt“523. Sein Textbegriff ist einerseits binaristisch angelegt und die andere Seite lässt – auf metalinguistischer Ebene – „einen eher ‚dialogisch‘ verstandenen Zeichenbegriff vermuten, der an eine in der russischen Wissenschaftstradition bestehende semantische Theorie anknüpfen kann, die von Bachtin ausformuliert worden ist“524, Text kann als ein „Speicher“ verstanden werden, „der eine semiotische Potenz anbietet“.525 Lotmans strukturalistische Überlegungen zur Kultur, die zwar der Saussure’schen Tradition verhaftet sind, aber doch Unterschiede zu ihr aufweisen, sind geprägt von Linguistik, Mathematik und Kybernetik.526 Dabei 521 Ebd.,
S. 311–329. Jurij M.: Die Innenwelt des Denkens, Berlin: Suhrkamp 2010a, S. 163–190. 523 Steger, Hugo (u. a. Hg.): Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft, Bd. 13.2, Berlin/New York: de Gruyter 1998, S. 2291. Die Moskauer-Tartuer Schule, der Lotman angehört, „unterscheidet sich von vergleichbaren Gruppen im Westen vor allem durch den Verzicht auf die Ausarbeitung einer Theorie. Die sowjetische Semiotik ist eine angewandte Semiotik“ (S. 2289). Schon in der ersten Phase (1960–1964) wird eine Konzeption der Kultursemiotik eingebracht (S. 2294). In der Phase der angewandten Semiotik (1964–1970) werden die Begriffe „Text“ und „Sprache“ erweitert, was zu einer Auffassung von Kultur als größter semiotischer Einheit führt; eine Ausweitung der Untersuchungen auf allgemeine Kulturprobleme ist zu beobachten (S. 2295). In der Phase der Kultursemiotik (1970–1979) wird Kultur als ein von Raum und Zeit abhängiges Phänomen betrachtet: die „Auffassung von Kultur als gesellschaftlich und historisch bedingtem Mechanismus der Sinngenerierung“ (ebd.). In der Ausklangphase (1980–1990) wird der Textbegriff immer mehr erweitert: „Text“ heißt Kultur, Kultur ist ein Text mit einer Sprache und die Semiosphäre (Begriff und Konzeption) erweist sich als Synonym für Kultur (S. 2296 f.). 524 Lachmann, Renate: „Jurij Lotman: Die vorexplosive Phase“, in: Frank, Susi K. (u. a. Hg.): Explosion und Peripherie. Jurij Lotmans Semiotik der kulturellen Dynamik revisited, Bielefeld: transcript 2012, S. 101. 525 Ebd., S. 104. 526 Fesenmeier, Ludwig/Wegmann, Nikolaus: „Semiotik und Kultursemiotik“, in: Liebrand, Claudia (u. a. Hg.): Einführung in die Medienkulturwissenschaft, Münster: LIT 2005, S. 71. 522 Lotman,
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ist die Modellbildung von zentraler Bedeutung. Das Zeichen gilt in der Tartuer Schule, der Lotman angehört, „als Kulturgegenstand, der sich – sei es Roman, Film, Koordinatensystem – durch zwei Eigenschaften von der nichtzeichenhaften Welt unterscheidet: Das kulturelle Objekt, in sich gegliedert und endlich, bildet ein Modell des ungegliederten und unendlichen Realen“527. Will man kulturelle Objekte bzw. sekundäre modellbildende Systeme beschreiben, bedarf es einer Metasprache, die nicht die eigene (natürliche) Sprache sein kann, aus der man nicht herauskommt.528 Lotman „entfernt sich nun insofern von Saussures Vorstellungen, als [er] nicht das sprachliche Zeichen, sondern das mathematische Zeichen zum Ausgangspunkt nimmt: Die Topologie, eine mathematische Disziplin, die sich mit den Eigenschaften zusammenhängender Räume befasst, ermöglicht es etwa, die Semantik von Kultur zu räumlicher Modellierung in Bezug zu setzen. … [D]ie abstrakte Topologie [bietet] eine Struktur, an der sich (nicht unbedingt sprachliche) topographische Konkretisierungen und (sprachlich ausdrückbare) Bedeutungen und Wertungen anlagern.“529 Bedeutungen und Wertungen werden also nicht aus der Zeichenebene im engeren Sinne gewonnen, sondern Lotmans Metasprache typologischer Kulturbeschreibungen gründet in „einer mathematischen Disziplin, die die Eigenschaften der Räume untersucht, die sich bei homöomorphen Transformationen nicht verändern“530. Für die kommenden Untersuchungen ist das relevant, was jeder Zeichentheorie vorausgeht und zugleich erklärt, was Lotman dazu bewogen hat, überhaupt einen mathematischen Ansatz in Anschlag zu bringen: ein durch die Topologie begründetes und so entstandenes kognitives Modell von Welt, das sich – über die textanalytische Ebene hinaus – als ein dynamischer Kulturraum im Sinne eines Wissensraums versteht. Denn Wissensräume sind Erfahrungsräume, und Wissen und Erfahrung bedingen sich durch das Körperschema als ein leibgebundenes „Zur-Welt-Sein“531; siehe in diesem Zusammenhang auch Ludwig Fromms Herausarbeitungen zu „bewegungsorientierten räumlichen Situationen“532, ohne die sich eine Verräumlichung von Ideen und Situationen mit inszenatorischen Mitteln nicht ermöglichen könnte. 527 Ebd. (Lotman führt in seiner Schrift Die Struktur literarischer Texte auf S. 301 aus: „Das Kunstwerk,
das selbst begrenzt ist, stellt ein Modell der unbegrenzten Welt dar.“)
528 Ebd.
529 Ebd.,
S. 72.
530 Lotman, Jurij: „Zur Metasprache typologischer Kulturbeschreibungen“ (1969), in: Eimermacher,
Karl (Hg.): Aufsätze zur Theorie und Methodologie der Literatur und Kultur, Kronberg: Scriptor 1974, S. 343. Zum Thema Topologie siehe auch Günzel, Stephan: „Spatial turn – topographical turn – topological turn. Über die Unterschiede zwischen Raumparadigmen“, in: Döring, Jörg/ Thielmann, Tristan (Hg.): Spatial Turn: Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld: transcript 2008, S. 225. 531 Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin: de Gruyter 1966, S. 10. 532 Fromm, Ludwig: Die Kunst der Verräumlichung, Kiel: Muthesius Kunsthochschule 2009, S. 68–77 (Bd. 7 der Reihe „Gestalt und Diskurs“).
3 Szenogreffieren 145
Lotman stellt also ein Denkmodell zur Verfügung, dem die menschliche Eingebundenheit in Dimensionen und Relationen zugrunde liegt: „Jede [menschliche] Existenz ist an konkrete räumliche und zeitliche Formen gebunden“, was Einfluss darauf hat, „wie der Mensch die Welt in seinem Bewusstsein modelliert.“ 533 Dieser Zusammenhang zwischen Inhalt/Idee und Form/ Struktur – die Szenografie als eine die Idee realisierende Form – und die damit verbundenen Bedeutungszuweisungen wurden bereits in Kapitel 2 herausgearbeitet534. „Nicht minder wichtig sind die physischen Konstanten des menschlichen Körpers, die ein bestimmtes Verhältnis zur Außenwelt vorgeben. … Das Zusammenspiel … hat den in allen Menschenkulturen vorhandenen Gegensatz von oben und unten hervorgebracht, mit den dazugehörigen inhaltlichen (religiösen, sozialen, politischen, moralischen usw.) Interpretationen.“535 Dass der Mensch stets dadurch in die Welt eingebunden, weil er sich durch sie bewegt und dabei selbst erfährt, kommt durch die Sprache, mit der wir die uns umgebende Welt „bilden“ (repräsentieren, organisieren, abstrahieren, erfinden etc.), zum Ausdruck, und Lotman arbeitet sie der räumlichen Eingebundenheit des Menschen entsprechend folglich als eine „Sprache räumlicher Relationen“536 heraus. Sprache wird als Material verstanden, sie dient Lotman zufolge „als Material zum Aufbau von Kulturmodellen“537, die er untersucht. Somit geht sein Ansatz weit über einen rein text- und zeichenanalytischen Erkenntnisanspruch hinaus und ist auch für die Kulturwissenschaft von großem Interesse, obgleich seine Arbeiten immer noch in erster Linie als strukturalistische (Erzähl-)Textanalysen verstanden werden; seine Kultursemiotik538 ist in deutscher Übersetzung erst seit 2010 zugänglich. Als Vorbereitung auf die kommenden Untersuchungen, in denen die Szenografie als ein modellbildendes System und mit dem Begriff Semiosphäre analysiert wird, wird im Folgenden ein Kurzüberblick zu Lotmans Herausarbei533 Lotman,
Jurij M.: Die Innenwelt des Denkens, a. a. O. 2010a, S. 175. wie eine Bauform Auskunft über das ihr zugrunde liegende Raumverständnis der jeweiligen Epoche gibt (Diskurse können sich in Form von Theaterbauten materialisieren) oder auch Spielformen Auskunft über das „Weltbild“ geben (z. B. ist im Mittelalter das theatrale Geschehen in eine Ost-West-Ausrichtung aufgeteilt), so gibt auch ein literarischer Text Auskunft über das ihm zugrunde liegende „Weltbild“ (das sich zum einen aus individuellen Erfahrungen des Erzählers/ Autors speist und zum anderen aus allgemeinen gesellschaftlichen Annahmen des jeweiligen geschichtlichen Zeitraums). 535 Lotman, Jurij M.: Die Innenwelt des Denkens, a. a. O. 2010a, S. 175. Siehe auch ders.: Die Struktur literarischer Texte, a. a. O. 1972a, S. 26: „Das Leben … ist außerhalb von dessen physischer Struktur undenkbar … Ein Literaturwissenschaftler, der hofft, die Idee eines Werkes losgelöst von der Modellierung der Welt durch den Autor, losgelöst von der Struktur des Werkes zu erfassen, erinnert an einen idealistischen Gelehrten, der versucht, das Leben von jener biologischen Struktur zu isolieren, deren Funktion es doch ist.“ 536 Lotman, Jurij: Die Struktur literarischer Texte, a. a. O. 1972a, S. 313. 537 Ebd. 538 Insbesondere seine Schriften „Die Innenwelt des Denkens“ und „Kultur und Explosion“. 534 So
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tungen zum „künstlerischen Raum“ literarischer Texte und zum kultursemiotischen Raum (Semiosphäre) gegeben. Lotman betont bei seiner Untersuchung von Texten, dass sich der „semantische Wert von Zeichen aus den Oppositionsbeziehungen ergibt, die sie zu anderen Zeichenverwendungen desselben Systems unterhalten“. Anhand semantischer Teilbereiche eines Textes, die ihm zufolge das semantische Feld bilden, kann er aufzeigen, dass „räumliche Relationen häufig der Darstellung nicht-räumlicher Rela tionen wie etwa von Regeln oder Normen dienen“.539 So erhalten Begriffspaare wie z. B. „nah – fern“ die Bedeutungen von „eigen – fremd“: Das „Nahe“ wird identifiziert mit „dem Verständlichen, Eigenen, Vertrauten, und [das ‚Ferne‘] mit dem Unverständlichen, Fremden“.540 Wird dieses semantische Feld nun durchquert – hier findet sich eine direkte Analogie zur Szenografie: zum Durchlaufen des Parcours –, kann Handlung entstehen. Handlung oder das „Sujet“541, wie Lotman es nennt, entsteht also durch Bewegung im Raum, und „Beweglichkeit heißt Verwandlung“542. Diese Bewegung versteht sich nicht als gewöhnliche Fortbewegung, sondern als eine Grenzüberschreitung; und die Verletzungen „einer im Text als normal gesetzten Grenze bringen die normative Ordnung der fiktionalen Welt ins Wanken und sind nach Lotman genau das, was die Handlung in Gang setzt: Die Figur, die den Raum durchquert … und auf diese Weise einen Aktionsraum schafft, löst Instabilitäten aus“ … und damit den Plot.543 „Diese Tatsache relativiert den Eindruck der Statik, der sich angesichts der scheinbar rigiden Binarismen in Lotmans Modell ergibt und der [bei] heutigen, poststrukturalistisch informierten Lesern … erweckt“ werden kann.544 Lotman betont, dass die abstrakte Struktur des Weltbildes „von sujethaften Texten tendenziell unterlaufen [wird]“545, womit Subversivität, Dynamik und die performative Dimension von Kultur in den Blick rücken. Sujetlose Texte haben dagegen die Eigenschaft der „Bestätigung einer bestimmten Ordnung der inneren Organisation ihrer Welt“.546 Den Inhalt des 539 Hallet,
Wolfgang/Neumann, Birgit: „Raum und Bewegung in der Literatur: Zur Einführung“, in Hallet, Wolfgang/Neumann, Birgit (Hg.): Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn, Bielefeld: transcript 2009, S. 17. 540 Lotman, Jurij: Die Struktur literarischer Texte, a. a. O. 1972a, S. 313. 541 Ebd., S. 329–340. 542 Ebd., S. 319. 543 Hallet, Wolfgang/Neumann, Birgit: „Raum und Bewegung in der Literatur: Zur Einführung“, a. a. O. 2009, S. 17. Lotman zufolge endet mit dem Ende der Bewegung auch die Handlung, wenn z. B. „der Verliebte heiratet“, wie er als Beispiel anführt. Lotman, Jurij: Die Struktur literarischer Texte, a. a. O. 1972a, S. 343. 544 Frank, Michael C.: „Die Literaturwissenschaften und der spatial turn: Ansätze bei Jurij Lotman und Michail Bachtin“, in: Hallet, Wolfgang/Neumann, Birgit (Hg.): Raum und Bewegung in der Literatur, a. a. O. 2009, S. 67. 545 Ebd., S. 68. 546 Lotman, Jurij: Die Struktur literarischer Texte, a. a. O. 1972a, S. 337. Als Beispiel für einen sujetlosen Text führt er das Telefonbuch an: Eine alphabetische „Verschiebung der Namen unter Verletzung der gewählten Ordnung ist nicht zulässig.“
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Sujets macht „gerade das [aus], was die sujetlose Struktur als unmöglich behauptet.“ Lotman zufolge ist „das Sujet … ein ‚revolutionäres Element‘ im Verhältnis zum ‚Weltbild‘“.547 In seiner späteren Schrift „Die Innenwelt des Denkens“, in der er den Kulturraum als eine Räumlichkeit herausarbeitet, in der sich Normen im Kern verorten lassen und Devianz in der Peripherie, schließt Lotman an diese Überlegungen an. Zwar liegt der Fokus nicht mehr auf der „Wirkungsmächtigkeit kultureller Texte (‚Weltbilder‘)“548, doch auch hier, in der Semiosphäre, ist die Grenze bzw. ihre Überschreitung Voraussetzung für die Entstehung von Kultur. Es geht um die „stete Umformung des semiotischen Raumes“549. Da der symbolische Raum der Literatur für Lotman, im Gegensatz zu „anderen strukturalistischen Ansätzen der Zeit, untrennbar verflochten [ist] mit kulturhistorischen Kontexten und deren spezifischen Wertevorstellungen“550, gehen fiktionale oder auch real sich ereignende Grenzüberschreitungen „immer auch einher mit einer Infragestellung historisch gegebener Sinnsysteme“551. Ein solches Sinnsystem kann auch ein Theater sein, womit sich die Fragestellungen nun auf die Szenografie richten, auf szenografische Arbeitsweisen und hier im Speziellen auf das Projekt „Ghost Machine“ von Cardiff/Miller. Die Szenografie ist der Ausgangspunkt für den „discours“552, und das szenografische Modell553 lässt sich als ein „sekundäres modellbildendes System“ im Sinne Jurij Lotmans auffassen. Als ein solches wird die Szenografie im Folgenden untersucht, und in dieser Lesart lässt sich Kunst als Szenografie und der Künstler als Szenograf verstehen. Lotman versteht Kunst als einen Modus der Erkenntnis, der sich insbesondere auf einer strukturalen Ebene vollzieht. Dabei geht er von Strukturen aus, „denen eine natürliche Sprache zugrunde liegt. Darüber hinaus jedoch enthält ein solches System eine zusätzliche sekundäre Struktur ideologi547 Ebd.,
S. 339. Michael C.: „Die Literaturwissenschaften und der spatial turn: Ansätze bei Jurij Lotman und Michail Bachtin“, a. a. O. 2009, S. 70. 549 Ebd. 550 Hallet, Wolfgang/Neumann, Birgit: „Raum und Bewegung in der Literatur: Zur Einführung“, a. a. O. 2009, S. 17. 551 Ebd., S. 18. 552 Vgl. Ausführungen in Kapitel 3.1 der vorliegenden Arbeit. Als eine Relation zur Wirklichkeit und als räumliche Struktur, die semantische Räume ausbildet, ist das Herstellungsmodell (hier die Szenografie) der Ausgangspunkt für den „discours“, d. h. die Form/-sprache, mit der der Inhalt (der Stoff, z. B. eine Geschichte) verräumlicht wird. 553 Der Begriff Modell (lat. modulus, dt. das Maß, ital. modello) wird auch in der Systemtheorie und der Kybernetik gebraucht, stammt aber aus der Architektur (vgl. Kapitel 2.1). Bernd Mahr zufolge vermittelt ein Modell nicht nur Informationen, sondern es ist auch Mittel, Träger und Transporteur weltanschaulicher und ästhetischer Vorstellungen, die räumlich übersetzt und kommuniziert werden; „Modelle werden dadurch zum Medium von Ideen und lösen sich weitgehend von ihrer festen Bindung an bestimmte Vorstellungsinhalte“. Mahr, Bernd: „Modellieren. Beobachtungen und Gedanken zur Geschichte des Modellbegriffs“, in: Krämer, S./Bredekamp, H. (Hg.): Bild, Schrift, Zahl, Paderborn: Fink 2003, S. 65, 75. 548 Frank,
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scher, ethischer, künstlerischer oder irgendeiner anderen Art“554. Der Künstler bringt etwas – beispielsweise eine Zeichnung, Klangkomposition oder Szenografie – hervor, indem er es „in Entsprechung zu der Struktur, die seiner Meinung nach den vorliegenden Phänomenen der Wirklichkeit eigen ist“, wiedergibt.555 Lotman führt weiter aus, dass die den Künstler umgebenden Wirklichkeiten – phänomenale und materielle Strukturen, Atmosphären, Systeme von Relationen etc. – durch den Künstler modelliert werden, indem er sie sozusagen zu Hyperstrukturen transformiert556, die als konstitutives Relationsgefüge topologisch und damit diagrammatisch lesbar sind (siehe Kapitel 3.2.1). Den Künstler bzw. Szenografen kann man sich demnach als eine Art Seismograph vorstellen, der Schwingungen einfängt und diese dann „graphiert“, d. h. in den Raum „hineinschreibt“ in Form eines im Raum installierten begehbaren Zusammenhangs: einer Szenografie. Dabei erfordern Produktion, Rezeption und Entschlüsselung eines solchen Kunstwerks ein besonders künstlerisches Verhalten, das einem Spielverhalten ähnelt 557, denn die Struktur eines Kunstwerks (im Sinne eines Ereignisses) ist nicht seine äußere „Form“, sondern die Realisierung der im Modell enthaltenen Information558. Die vielfache semantische Interpretierbarkeit bewirkt, dass Kunstwerke „im Vergleich zu logisch-wissenschaftlichen Modellen als ‚semantisch reich und besonders ausdrucksstark empfunden werden‘“559. Lotman zufolge unterscheidet sich die Kunst von den anderen Erkenntnisformen insofern, als sie nicht auf Analysen und Schlussfolgerungen basiert, sondern „die den Menschen umgebende Wirklichkeit zum zweiten Mal mit den ihr zugänglichen Mitteln nachbildet“; wobei mit „Nachbildung“ kein mimetisches Nachbilden gemeint ist, sondern eine Übersetzungsleistung in Form eines „sekundären modellbildenden Systems“, das der Modellkonstrukteur (hier Szenograf ) als eine Relation zur Wirklichkeit entwirft.560 Damit benennt Lotman bereits wesentliche Aspekte, die Aufschluss über die Eigenart der Szenografie, ihre Rezeption und die „ästhetische Arbeit“ (Böhme) des Szenografen geben. Um nähere Erkenntnisse über die angewandten Stilmittel des Modellkonstrukteurs zu erlangen, werden nun die Relation und Relationalität genauer untersucht. Lotmans Ausführungen zum modellbildenden System als eine Rela554 Lotman, 555 Lotman, 556 Ebd.
557 Lotman,
Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte, a. a. O. 1972a, S. 61. Jurij M.: Vorlesungen zu einer strukturalen Poetik, a. a. O. 1972b, S. 22 f.
Jurij M.: Kunst als Sprache, Leipzig: Reclam 1981, S. 78. S. 68. 559 Ebd., S. 75. 560 Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte, a. a. O. 1972a, S. 22. Siehe auch Lotman, Jurij M.: „Künstlerischer Raum, Sujet und Figur“, in: Günzel, Stephan/Dünne, Jörg (Hg.): Raumtheorie: Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006, S. 532. Lotman zufolge entsteht ein „System räumlicher Relationen“, das in Relation zur Wirklichkeit steht, es entsteht die „Struktur des Topos“. 558 Ebd.,
3 Szenogreffieren 149
tion zur Wirklichkeit sind im Hinblick auf die Beziehung der Szenografie zu ihrem Umraum weiterführend, denn so wird eine Eigenart bezüglich ihrer (Un-) Sichtbarkeit erkennbar. Lotman stellt heraus, dass in dieser Relation, die als solche nicht darstellbar ist, „nur das ‚Spezifische‘ nachgebildet [wird], das mit dem Ganzen gleichgesetzt wird“, was der rhetorischen Figur der Metonymie entspricht 561. Dies lässt sich weiterdenken und eröffnet zwei Perspektiven. Erstens ist es die Perspektive in Bezug auf den szenografischen Raum. Wenn man die Szenografie als eine Relation versteht, dann ist der szenografische Raum ein metonymischer Raum – Pars pro Toto. Und damit stellt sich die Szenografie als eine postdramatische Theater- bzw. Raumform heraus, in der „der metaphorisch-symbolische[] Raum … zu einem metonymischen [wird]“562 und die Raum nicht in Gestalt einer dramatischen Fiktionsbühne (re-)präsentiert. Wie sich im Anschluss an Lehmann sagen lässt, findet der szenografische Raum, der als Fortschreibung des Theaterraums hervorgehoben und besetzt werden will, seine Fortsetzung demnach auch „außerhalb des Theaters, in der städtischen Umgebung“563, es gibt also einen Anschluss an den Umraum564. Im Beispiel „Ghost Machine“ wird der szenografische Raum in den Stadtraum insofern fortgeschrieben, als Stadtbewohner zu Mitspielern werden: Im oberen Foyer bittet die Kopfhörerstimme den Theaterbesucher, nach außen auf den Balkon zu 561 Lotman,
Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte, a. a. O. 1972a, S. 25 f. Lotman verdeutlicht die Metonymie anhand eines Beispiels: Beim Erblicken einer Malerei eines Apfels sagen wir den Satz: „Das ist ein Apfel“, d. h., wir erkennen an, dass diese Erscheinung etwas Grundlegendes bewahrt – sonst würden wir diesen Satz nicht sagen (können). Er legt dar, dass der „Metapher: Die Darstellung des Apfels ist der Apfel (‚ich erkenne in der Kombination von Farben und Linien einen Apfel‘)“ eine Metonymie zugrunde liegt: „Der Apfel, unter Verlust dessen, was mit den Mitteln der Malerei nicht übertragen werden kann, ist der Apfel. Eine derartige ‚Metonymie‘ (ein Teil steht für das Ganze) bildet die Grundlage der künstlerischen Erkenntnis.“ 562 Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, Frankfurt a. M.: Verlag der Autoren 2001. Die begriffliche Bestimmung der Postdramatik datiert auf die 1990er Jahre, in denen die „Neuen Medien“ aufkommen. Im postdramatischen Theater stehen nicht mehr der literarische Dramentext und seine Wiedergabe im Vordergrund. Er schreibt, dass wenn die Grenze zwischen realem und fiktivem Erlebnis verschwimmt, „hat das weitreichende Konsequenzen für das Verständnis des Theaterraums: er wird von einem metaphorisch-symbolischen zu einem metonymischen Raum. Die rhetorische Figur der Metonymie stellt die Beziehung und Äquivalenz zwischen zwei Größen nicht wie die Metapher dadurch her, dass sie eine Ähnlichkeit betont“, sondern „indem sie einen Teil als das Ganze gelten lässt … oder einen ähnlichen Zusammenhang benutzt“. „Im Sinne dieser metonymischen oder Kontiguitätsbeziehung können wir den szenischen Raum … metonymisch nennen“ (S. 287 ff.). 563 Primavesi, Patrick: „Szenografie zwischen urbanem Raum, Kulisse und Situation“, in: Archithese – Szenografie. Internationale Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur, 4.2010, Sulgen: Niggli AG 2010, S. 46–51, hier S. 50. Er, der ebenfalls auf Hans-Thies Lehmann verweist, schreibt: „Die Öffnung der Stadttheater gegenüber Arbeitsweisen von experimentellen Gruppen wie Rimini Protokoll ist ein langwieriger Prozess, der das Selbstverständnis professioneller Theatermacher ebenso in Frage stellt wie die Struktur der Apparate.“ Vgl. in diesem Zusammenhang Kapitel 5 der vorliegenden Arbeit. 564 Zum Verhältnis von Raum – Mensch, Theater – Umraum (das sich baulich durch architektonische Trennlinien ablesen lässt) und Bühne – Besucher siehe Gesamtkapitel 2.
150 Szenosphäre & Szenotopie
gehen. Man hört die Frage „Siehst du den da gegenüber?“ und beginnt, jeden dort unten auf der Straße zu beobachten, Fahrradfahrer oder Sitzende an der Bushaltestelle. Über die Kopfhörer vernimmt man die unten vorbeifahrenden Autos hautnah, und auf dem Mittelstreifen steht ein Mann; das Kamerabild, das ihn zeigt (nicht als Life-Bild, sondern als vorproduziertes Video), zoomt heran und man erkennt, dass er, dort gegenüber, der Verschleppte aus der ersten Szene ist. Dann sagt die Kopfhörerstimme, dass man wieder ins Foyer zurückgehen soll, und man setzt seinen Rundgang durch das Theater fort. Die Metonymie ist also – neben der Allegorie – ein Stilmittel, mit dem der Modellkonstrukteur (Szenograf ) arbeitet, um Fiktion und Realität miteinander und über das Theater(gebäude) hinaus zu verhandeln, um etwas auszudrücken, sichtbar bzw. spürbar werden und evozieren zu lassen: hier eine geheimnisvolle Atmo- bzw. Szenosphäre, die sich in den realen Stadtraum fortschreibt. Die zweite Perspektive, die sich öffnet, und zwar in Bezug auf den Begriff Relation, ist folgende: Unter der Voraussetzung, dass der Künstler und die ihn umgebende Realität (die er in Form einer Szenografie „nachbildet“) die Relata565 sind und dass die Relation als solche unsichtbar ist, könnte man sagen, dass die Szenografie ihrem Wesen nach unsichtbar566 ist. Ihre besondere Eigenart liegt nicht in ihrer sichtbaren, äußeren Form, denn als eine Relation zur Wirklichkeit stellt sie das unsichtbare „Zwischen“ der Relata dar und konstituiert sich als eine Beziehung nicht zwischen Objekten, sondern zwischen dem Künstler und dem Rezipienten der Szenografie. Im oben genannten Beispiel „Ghost Machine“ ist genau das der Fall. Nicht die Relata selbst und ihre Differenzierung, sondern ihr Verhältnis, d. h. die Relation zwischen ihnen affiziert und ist das (Ein-) Wirkende 567. Visuell sichtbar umgesetzt und real gebaut, kann die Szenografie sodann verschiedenartige Gestalten und Formen annehmen, die das Einwirkende noch verstärken können. Die Relation(en), dieses unsichtbare „Zwischen“, lässt sich darüber hinaus – wie eingangs in Aussicht gestellt – auch als eine „modellierte Ganzheit“ verstehen, wie im Folgenden gezeigt wird. Denn das sekundäre modellbildende System, das der Szenograf herstellt, ist nicht nur eine Relation zur Wirklichkeit, 565 Eine
Relation ist eine Beziehung zwischen zwei oder mehreren Entitäten, die Relata genannt werden. Wenn der Vater dem Sohn ein Buch schenkt (X schenkt dem Y das Z), ist das eine dreistellige Relation. Einstellige Relationen sind Eigenschaften (Prädikate): X ist Vater. Hingegen ist „X von Y“ eine zweistellige Relation. Zwischen dem Relatum „X“ und dem Relatum „Y“ ist das Wort „von“ der Relator. In dem Satz „X schenkt dem Y ein Z“ ist der Relator (das sprachliche Zeichen, das die Relation zwischen den beiden Relata X und Y ausdrückt) immateriell und an sich unsichtbar. Seine Gestalt ist nur durch bzw. als Kasus erkennbar – hier als Dativ. Eine Relation hat also keinen eigenen Ausdruck. 566 Vgl. Scorzin, Pamela: „Szenografie ist unsichtbar“, http://www.plotmag.com/blog/2011/04/ pamela-scorzin/(letzter Zugriff: 14.05.2011). 567 Vgl. Fischer-Lichte, Erika: Ästhetische Erfahrung, a. a. O. 2001, S. 150.
3 Szenogreffieren 151
sondern Lotman zufolge eine ganzheitliche Konzeption mit räumlichen Eigenschaften. Diese Ganzheit ist nicht homogen, sondern uneinheitlich. Der Künstler hat – im Gegensatz zur Schaffung eines wissenschaftlichen Modells – eine heterogene, aber dennoch „geschlossene Vorstellung von der Ganzheit des zu reproduzierenden Objektes, und eben diese Ganzheit modelliert er“.568 Aus diesem Ganzheits- bzw. Gesamtmodell treten wiederum Ganzheiten hervor, mithin Szenosphären. Und auch diese können nicht nur als eine Relation zur Wirklichkeit, sondern als eine Wirklichkeit und Ganzheit erfahren werden, nämlich durch ein affektives Betroffensein. Dabei ist das Gesamtmodell einerseits bedingt durch die Subjektivität des Künstlers (sein Welt- bzw. Raumempfinden) und andererseits unterliegt es der künstlerischen Sprache, derer er sich bedient 569, d. h., es unterliegt den arbiträren Setzungen des Szenografen. In Erweiterung zu Seels Ausführungen über das Erscheinen und die verschiedenen Erscheinungsweisen (Kapitel 3.1.2) kann an dieser Stelle ergänzt werden, dass ein Kunstwerk oder Ereignis (und somit auch eine Szenosphäre und Szenografie) auch „gleichzeitig als Modell zweier Objekte – des Phänomens der Wirklichkeit und der Persönlichkeit des Autors“570 – erscheinen kann. Die Setzungen, die der Szenograf vornimmt, ergeben einen „künstlerischen Text“, wobei Text nicht wörtlich Literatur meint, sondern eine ästhetische Struktur, für die die Semantik der Wörter der natürlichen Sprache nicht mehr als Rohmaterial ist 571 – in der szenografischen Praxis geht es um ein Sinngefüge aus Phänomenen und Zeichen, die kontextuell semantisiert werden können. Lotman zufolge und wie sich aus eigener Erfahrung bestätigt, ist die ästhetische Struktur zudem ein räumlich, zeitlich und dramaturgisch strukturierter Zusammenhang, durch den vom Rezipienten Sinn interpretiert wird: Der Wahrnehmende stellt Beziehungen zwischen Zeichen und Bedeutungen her, eine Art Netzwerk (das sich wiederum mit dem szenografischen Parcours verwebt). Dieses ist immer auch in die Wahrnehmungs- und Lebenserfahrungen und Weltempfindungen des Rezipienten gebettet, die mit dem Kunstwerk verglichen bzw. ihm gegenübergestellt werden.572 Kunst und Leben stehen also in Beziehung zueinander573 und deshalb „verlangt das aus der vergleichenden Zusammenstellung mit der
568 Lotman,
Jurij M.: Vorlesungen zu einer strukturalen Poetik, a. a. O. 1972b, S. 37. Fischer-Lichte, Erika: Ästhetische Erfahrung, a. a. O. 2001, S. 37. 570 Lotman, Jurij M.: Vorlesungen zu einer strukturalen Poetik, a. a. O. 1972b, S. 38. 571 Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte, a. a. O. 1972a, S. 249. 572 Lotman, Jurij M.: Vorlesungen zu einer strukturalen Poetik, a. a. O. 1972b, S. 28. 573 Die Erkenntnisse, die in Kapitel 3.1.2 gewonnen wurden, finden hier Anschluss: Laut Seel ist das atmosphärische Erscheinen „als ein sinnlich-emotionales ‚Gewahrsein‘ existentieller Korrespondenzen zu verstehen“. Seel, Martin: Ästhetik des Erscheinens, München: Hanser 2000, S. 153. 569 Vgl.
152 Szenosphäre & Szenotopie
Wirklichkeit begriffene Werk einen erneuten Vergleich mit der jeweils neu verstandenen Wirklichkeit“574. In der Szenografie fordern die unsichtbaren Beziehungen zwischen Künstler, Kunstwerk (Ereignis) und Rezipient – mithin die Szenosphären – diesen Vergleich. Dabei kann logischerweise „der Erkenntnisprozess [des Rezipienten] in Bezug auf die Ähnlichkeit von Kunst und Leben nicht mit einer Geraden verglichen werden, sondern mit einer Spirale … Real stellt sie jedoch eine bewegliche Korrelation, eine Korrelativität dar.“575 Vor diesem Hintergrund kann als Zwischenergebnis festgehalten werden, dass die Szenografie als eine modellierte Ganzheit, Struktur und (Ko-)Relation576 verstanden werden kann. Um die Ergebnisse weiter zu schärfen und den räumlichen Eigenschaften dieser modellierten Ganzheit auf die Spur zu kommen, wird im Folgenden die Szenografie mittels des Begriffs der „Semiosphäre“ (Lotman) analysiert. Lotman fasst seine Ausarbeitungen zur Semiosphäre wie folgt zusammen: Sie ist „gekennzeichnet durch ihre Individualität und Homogenität, den Gegensatz von Innen und Außen und die Ungleichmäßigkeit in der Struktur des Inneren. Die Grenze zwischen dem Inneren und dem Äußeren einer Semiosphäre wird durch die gegenseitige Fremdheit der Zeichenbenutzer, Texte und Codes aufrechterhalten und ist durch Übersetzungsprozesse partiell überwindbar. Die Ungleichmäßigkeit des Inneren einer Semiosphäre, das sich in einen Kernbereich und zur Peripherie hin zunehmend amorpher werdende Bereiche gliedert, ist verantwortlich für die innere Dynamik der Semiosphäre. Im Kernbereich befinden sich die dominierenden Zeichensysteme … Der Austausch zwischen Innerem und Äußerem sowie zwischen Kernbereich und Peripherie einer Semiosphäre führt zur Schaffung neuer Kodes, zur Produktion neuer Arten von Texten und zu Veränderungen bei den Zeichenbenutzern, die sie für neuen Sinn empfänglich machen.“577 Die Semiosphäre besitzt also anschauliche räumliche Eigenschaften, und über den semiosphärischen Raum lassen sich Rückschlüsse auf gesellschaftliche Raumverständnisse (vgl. Kapitel 2 und 3.1.1) ziehen, die wiederum durch Spra574 Lotman, 575 Ebd. 576 Das
Jurij M.: Vorlesungen zu einer strukturalen Poetik, a. a. O. 1972b, S. 28 f.
Motiv der „Spirale“ ist genau diejenige (topologische) Form, die Friedrich Kiesler für seine Raumbühne wählt (siehe Kapitel 4). Kiesler fasst seine Theorie zu Architektur und Design in der Wortschöpfung „Correalismus“ (1937) zusammen, die den Begriff Korrelation enthält. Seine Theorie geht von Entwurfsprozessen aus, die soziale, technologische und biosphärische Umgebungen und deren Strukturen mitdenken. Zum Motiv „Spirale“ vgl. auch die Ausführungen in Kapitel 3.1 der vorliegenden Arbeit und den Hinweis auf Bachelard, der in seiner „Poetik des Raums“ konstatiert, dass es die Spirale sei, in der man sich hinsichtlich der Seins-Frage bzw. -Form befinde. 577 Jurij Lotman: „Über die Semiosphäre“, in: Posner, Roland (Hg.): Kultur und Evolution. Zeitschrift für Semiotik, Bd. 12, Heft 4, 1990, S. 287.
3 Szenogreffieren 153
che und in Kunstwerken („künstlerische Texte“ wie die Szenografie) zum Ausdruck kommen, „beschrieben“ werden können. Das Wort Szenografie kann in diesem Zusammenhang auch doppelt gelesen werden: zum einen als künstlerischer Text und zum anderen als Szeno-Graphie im Sinne eines literarischen Textes, der Szenen (be-)schreibt. Lotman stellt in seiner kultursemiotisch angelegten Schrift „Die Innenwelt des Denkens“578 ein anschauliches Beispiel für Szenen (be)schreibende Räume vor, das als eine Szeno-Graphie gelesen werden kann (in Kapitel 3.2.2 wird die Szeno-Graphie ausführlich als eine szenografische Praxis herausgearbeitet, die nicht mit Text, sondern mit räumlichen Mitteln einen Raum beschreiben, d. h. szeno-graphieren kann). Lotman stellt die „Göttliche Komödie“579 vor, die seines Erachtens nach nicht bloß den Gang eines Sünders durch die Hölle schildert, sondern neben der erzählten Handlung vor allem „ein gewaltiges architektonisches Gebilde, eine Rekonstruktion des Universums“ erschafft, in dem die Welt als Botschaft ihres Schöpfers erscheint. Dante zeigt diese Welt (des Mittelalters) in seinem Text also ein zweites Mal. Die Mitteilung des Werkes ist „in der Sprache der räumlichen Struktur chiffriert“.580 Durch Grenzüberschreitungen entsteht in Dantes Werk Handlung581, und so durchschreitet und übertritt die sogenannte „bewegliche Figur“582 (der Sünder, Ich-Erzähler) Räume und bewegt sich nicht irgendwie, sondern signifikant, nämlich spiralförmig als Ausdruck für eine Bewegung ins Unendliche 583. Und der Ich-Erzähler bewegt sich nicht irgendwo und irgendwann, sondern in einem Chronotopos584, d. h. in einer Raum-ZeitStruktur, die ordnet, trennt und heterogene Orte und Räume in ein Nach barschaftsverhältnis bringt. Der Sünder bewegt sich zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und auf der Vertikalen585, d. h. zwischen zwei bedeutungsvollen Orten und Richtungen: Himmel und Hölle, Gutem oben und Bösem unten. Die Begegnungen, die er auf seinem Gang durch die klassifizierten Höllenkreise macht, sind nicht nur erschaudernde Szenen, sondern können auch als Atmosphären bzw. Szenosphären gelesen werden, die sich durch ein 578 Lotman,
Jurij M.: Die Innenwelt des Denkens, a. a. O. 2010a. „Göttliche Komödie“ des italienischen Dichters Dante Alighieri (1265–1321). 580 Lotman, Jurij M.: Die Innenwelt des Denkens, a. a. O. 2010a, S. 244. 581 Vgl. Lotman, Jurij M.: „Künstlerischer Raum, Sujet und Figur“, in: Günzel, Stephan/Dünne, Jörg (Hg.): Raumtheorie, a. a. O. 2006, S. 529–543. 582 Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte, a. a. O. 1972a, S. 338. 583 Lotman, Jurij M.: Die Innenwelt des Denkens, a. a. O. 2010a, S. 251. 584 Nach Michail Bachtin ist ein Chronotopos der grundlegende wechselseitige Zusammenhang der in der Literatur künstlerisch erfassten Zeit-Raum-Beziehungen. Bachtin, Michail: Chronotopos. Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008. Siehe auch Kapitel 3.2.3 der vorliegenden Arbeit. 585 „Die Achse Oben – Unten organisiert die gesamte Sinn-Architektur des Textes.“ Lotman, Jurij M.: Die Innenwelt des Denkens, a. a. O. 2010a, S. 248. 579 Die
154 Szenosphäre & Szenotopie
affektives Betroffensein („leiblich sein, heißt erschrecken zu können“586) kennzeichnen. „Das Raummodell der Dante’schen Welt stellt ein Kontinuum dar, in das die Trajektoren individueller Wege und Schicksale eingeschrieben“587, man könnte auch sagen, (szeno-)graphiert sind. Dantes Sprache kann als räumliches Bild der Semiosphäre verstanden werden, das genuin räumlich und zeitlich konzipiert ist und räumliche Eigenschaften aufweist: Zentrum (Kern), Peripherie, Grenzen und Richtungen. Dabei hat das Sujet „mit dem Zeit-Erleben zu tun“588. Lotman zufolge sind Denken und Sprache als organisierende Grundstruktur und Sinnfunktion also auch szenisch angelegt, um sich in der Welt überhaupt orientieren zu können.589 Die „Sprache der räumlichen Relationen“590, durch die sich „nicht-räumliche Vorstellungen ausdrücken lassen“591 und z. B. das „Nahe“ mit Verständlichem, Eigenem etc. gleichsetzt wird592, erweist sich vor diesem Hintergrund auch als wesentliches Gestaltungsmittel des Szenografen, der sich dieser Sprache mit dem Ziel bedient, dass der Rezipient bestimmte Gleichsetzungen vornimmt (vornehmen kann). In diesem Zusammenhang kann der Rezipient einer Szenografie auch mit der Lotman’schen „beweglichen Figur“ verglichen werden, die das Sujet in Gang setzt 593: Im Projekt „Ghost Machine“ überschreitet der Theaterbesucher Grenzen, indem er sich (dem szenografischen Parcours folgend) einerseits frei im gesamten Theaterbau des Hebbel-Theaters bewegt und damit die Normen – die „Ordnung“ – des klassischen Theaterraums im wahrsten Sinne „unterläuft“, sich andererseits von einem zum anderen semantischen Teilbereich bewegt: von der Krimi-Ebene im ersten Teil zur selbstreflexiven Ebene im zweiten Teil des Stückes. Als eine Möglichkeitsbedingung aller Kommunikation und Dinge entstehen in dieser (Raum-)Sprache dynamische Übersetzungsprozesse, Semiosen also, und man kann „die Semiosphäre insgesamt als Informationsgenerator betrachten“594. Womit sich erklärt, dass Lotmans Denkweise auch kybernetisch motiviert ist, denn das, wovon er spricht, sind im weitesten Sinne Steuerungen. Er befasst sich mit Schaltungen und deren Relationen; so gesehen erzeugt 586 Schmitz,
Hermann: Was ist Neue Phänomenologie?, Rostock: Ingo Koch 2003, S. 24. Jurij M.: Die Innenwelt des Denkens, a. a. O. 2010a, S. 252. 588 Ebd., S. 203. 589 Lotman, Jurij M.: „Künstlerischer Raum, Sujet und Figur“, in: Günzel, Stephan/Dünne, Jörg (Hg.): Raumtheorie, a. a. O. 2006, S. 530 f. 590 Ebd. 591 Lotman, Jurij M.: Die Innenwelt des Denkens, a. a. O. 2010a, S. 202. 592 Lotman, Jurij M.: „Künstlerischer Raum, Sujet und Figur“, in: Günzel, Stephan/Dünne, Jörg (Hg.): Raumtheorie, a. a. O. 2006, S. 530 f. 593 Wie bereits ausgeführt wurde, ist Lotman zufolge „das Sujet … ein ‚revolutionäres Element‘ im Verhältnis zum ‚Weltbild‘“ und die „bewegliche Figur … eine, die das Recht hat, die Grenze zu überschreiten“. Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte, a. a. O. 1972a, S. 338 f. 594 Lotman, Jurij M.: Die Innenwelt des Denkens, a. a. O. 2010a, S. 169. 587 Lotman,
3 Szenogreffieren 155
sich Wirklichkeit immer wieder selbst (neu). Daher rekurriert er in seinem Semiosphären-Konzept wohl auch auf die Biosphäre 595, auf systemische Prozesse also. Hier findet sich eine Verbindung zur „Ästhetik des Performativen“, der eine semiotische Ästhetik inhäriert. Denn performative Prozesse und emergente Phänomene, die freigesetzt werden, machen Aufführungen zu Ereignissen und Sinnverläufen, und diese im Gesamtsystem (der Inszenierung) freigesetzten phänomenalen Prozesse beschreibt Fischer-Lichte bezeichnenderweise als „autopoietische feedback-Schleifen“596, eine Art Werdensprozesse also. Insofern kann die Szenografie daher auch als eine Art autopoietisches Raummodell597 verstanden werden. Es kreiert durch das szenografische Setting (durch das wiederum Szenosphären evoziert werden) Informations- und Assoziationsgeneratoren, die „sich durch Inszenierungsstrategien weder tatsächlich unterbrechen noch gezielt steuern lassen“598. Zur abschließenden Frage, wo sich nun die Künste und Inszenierungen wie „Ghost Machine“ von Cardiff/Miller verorten – wie eingangs konstatiert, gibt die Verortung der Künste im semiosphärischen Gesamtsystem Aufschluss über die Verständigung über Realität, wie diese strukturiert ist und (szenografisch) hergestellt werden kann – geben Lotmans Untersuchungen zur Semiosphäre Antworten: Er sieht die heterotopischen Peripherie-Bereiche 599 der Semiosphäre als genau diejenigen Zonen – „anderen Räume“600 –, die Dynamik ins System bringen, wo Information generiert wird, sich Transformationen ereignen und Kultur entsteht. Die Künste wohnen also im Feld der 595 Lotman, Jurij M.: „Über die Semiosphäre“, in: Posner, Roland (Hg.): Kultur und Evolution, a. a. O.
1990, S. 289. Vladimir Vernadskij (1863–1945, russischer Geologe, Biogeochemiker) entwickelte 1926 die Biosphäre, ein Konzept, das man heute als „globales Ökosystem“ kennt. Lotman definiert seine Semiosphäre in Analogie zur Biosphäre. 596 Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004, S. 61. Sie bezieht sich nicht (direkt) auf Niklas Luhmanns Betrachtung sozialer Systeme, sondern auf das Konzept der Biologen Humberto Maturana und Francisco Varela („Der Baum der Erkenntnis“, 1987). Zu Thema Bedeutung, Inszenierung und hermeneutische Situation siehe Bohn, Ralf: Szenische Hermeneutik, a. a. O. 2015; inbesondere Kapitel II. der Schrift. 597 Vgl. den operativen Ansatz in der architektonischen Systemtheorie. 598 Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, a. a. O. 2004, S. 61. 599 Lotman verweist auf frühere Gesellschaftsanordnungen und stellt die Zone hinter der Grenzlinie des städtischen Zentrums als ein Feld heraus, das eine spezifische Personengruppe inkludiert: hier, in der Peripherie, siedeln Personen mit besonderen Gaben (z. B. Zauberer, Künstler) oder mit besonderen Tätigkeitsmerkmalen (z. B. Henker, Schmied), die Kontakte zwischen den beiden Welten (Zentrum und Peripherie als semantische Räume) ermöglichen. Lotman, Jurij M.: „Über die Semiosphäre“, in: Posner, Roland (Hg.): Kultur und Evolution, a. a. O. 1990, S. 292 f. 600 Lotman argumentiert zwar mit der topologischen Opposition des inneren, eigenen Raums versus des äußeren, „anderen“ Raums, doch dieser Außenraum ist Teil des Modells und laut Warning „also nicht zu verwechseln mit jenem ‚anderen Raum‘ [Foucaults], der als heterotope Inversion das … Kulturmodell als Ganzes unterläuft“. Warning, Rainer: Heterotopien als Räume ästhetischer Erfahrung, München 2009, S. 21.
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Peripherie, hier siedeln sie (genauer die Avantgarde-Bewegungen), die Grenzen überschreiten, zunächst Unverständnis mit sich bringen, sich dann aber etablieren (können) und eine neue „Sprache“ ins homotopische Zentrum der Semiosphäre eingebracht haben601 – so lange, bis wieder neue „Semionauten“602 auf die Spielfläche treten. Insbesondere die Peripherie ist die Zone verstärkter Sinnbildung und autopoietischer Prozesse, wie sich mit Lotman sagen lässt; hier in der Randzone (oder möglicherweise gar außerhalb dieser) siedelt das Projekt „Ghost Machine“ – es erzeugt und bewegt Kultur –, verorten sich die Szenografie und jene anderen szenografische Projekte, die in Kapitel 4 besprochen werden. Im Folgekapitel wird das untersucht, was mit „Szenotopie“ bezeichnet wird: das Hergestellte/im Raum Installierte und vom Rezipienten Wahrgenommene. Hier treffen die Phänomenologie, eine (post-)strukturalistische Raumauffassung und das topologische Raumverständnis der Phänomenologie aufeinander und es wird die Raumvorstellung, die der Szenografie zugrunde liegt, herausgearbeitet. Im ersten Unterkapitel (3.2.1) des Folgekapitels wird die Szenografie als ein „anderer Raum“ im Sinne Foucaults untersucht; die Brücke, die somit zwischen dem struktural-kultursemiotischen Raummodell von Lotman zu Foucaults diskursanalytischen Raumuntersuchungen geschlagen wird, begründet sich darin, dass beide „die räumliche Dimension von Kultur fokussieren und sich mit der symbolischen Konzeptualisierung des kulturellen Raumes auseinandersetzen“603. 601 Lotman,
Jurij M.: Die Innenwelt des Denkens, a. a. O. 2010a, S. 177 f. Bourriaud, Nicolas: Radikant, Berlin: Merve 2009. Er veröffentlichte 1998 „L‘esthétique relationnelle“ und schrieb seine Überlegungen in der „Radikant“ fort. Die heutige Moderne nennt er „Altermodernität“, „radikante“ Kunst spiegle ihre Struktur und der Künstler sei ein „Radikant“. Diese botanische Metapher meint Gewächse, die ohne existenzielle Wurzel polyzentrisch wachsen und sich immer neu verwurzeln können (Beispiel: Efeu). Die im Buch aus ästhetischer Perspektive untersuchte Globalisierung führt zur Frage, wie sich „dieses Phänomen auf das Leben der Formen“ auswirkt. Die ästhetische Problematik der heutigen Zeit sieht Bourriaud in der Verflechtung von Raum und Zeit begründet: Die zeitgenössische Kunst bringt Formen hervor, die diese Erfahrung zur Welt erfassen und aus der Bewegung im Raum entnommen sind. So scheint die heutige Kunst „also durch den Rückgriff auf eine Geometrie der Übersetzung die Schaffung von neuen Formen des Raumes zu verhandeln, sprich durch … die Topologie“ (S. 87). Der radikante Künstler, der nomadische Eigenschaften besitzt, erfindet nun Wegstrecken zwischen den Zeichen, schneidet Bedeutungsfragmente aus, sammelt Muster und arbeitet transdisziplinär. Als ein Denker der Übersetzung wird der Künstler zum sogenannten „Semionauten“. Die Wortschöpfung intendiert, dass Künstler Zeichen und Formen in Bewegung setzen, und sie erfinden „durch sie und mit ihnen Wege … während gleichzeitig ihre Werke entstehen“ (S. 54 f.). Der Übergang der Zeichen von einer Form in die andere erfolgt durch die Praxis der Verlagerung und des Transfer (S. 150) – der Semionaut ist ein „Schöpfer von Wegen in einer Zeichenlandschaft“ (S. 108). Das lässt die Folgerung zu, dass Zeichen – wie im Lotman’schen Sinne – in andere „Sprachen“, d. h. Räume/Räumlichkeiten übersetzt werden. 603 Frank, Susi K.: „Jurij Lotman. Der semiotische Raum“, in: Claus Leggewie (u. a. Hg.): Schlüsselwerke der Kulturwissenschaften, Bielefeld: transcript 2012, S. 71. 602 Vgl.
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So wie bei Lotman ein „Ensemble semiotischer Gebilde der einzelnen Sprache voraus[geht] (nicht heuristisch, sondern funktional) und die Bedingung für die Existenz der letzteren [bildet]“604, geht bei Foucault ein Diskurs der einzelnen Sprache voraus, der dieselbe bedingt. Mittels seines Heterotopie-Konzeptes kann das ausgeschlossene Andere der Semiosphäre in den Blick genommen werden, das funktional zur kulturellen Ordnung gehört.
604 Lotman, Jurij M.: „Über die Semiosphäre“, in: Posner, Roland (Hg.): Kultur und Evolution, a. a. O.
1990, S. 289.
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3.2 Szenotopie „Wir wollen … topologisch statt geographisch denken lernen und die Stadt … als Krümmung in einem Feld ansehen. [S]ie ist … eine Kerbe in Feldern … Es muß hinzugefügt werden, daß wir uns das zwischenmenschliche Netz als mit anderen Netzen verfilzt vorzustellen haben. [D]ie Hoffnung … eine allgemeine Feldtheorie aufstellen zu können, ist vorläufig aufgegeben … Ein Spaziergang durch Köln kann helfen, das Bild etwas materieller erscheinen zu lassen. Noch Heine meinte, dass es sich … im heiligen Strome spiegele, wir hingegen müssen versuchen, es sich im Relationsfeld spiegeln zu lassen. Was als erstes auffällt, sind die Verkaufsauslagen, worin Masken zur Identifikation angeboten werden. Man identifiziert sich mit und als Kleid, als ein paar Schuhe, als Kochtopf. Man ist, was immer man ist, erst wenn man beginnt, in diesem … Kochtopf zu tanzen … Köln erweist sich als Wellental im Relationsfeld, worin diese Beziehungen in Masken eingesammelt werden … Die Bewohner Kölns sind dicht gestreute Punktschwärme … Häuser … der Dom sind als Oberflächenphänomene, als geronnene, ‚materialisierte‘ Masken zu sehen …“ Vilém Flusser 605
Unter dem Arbeitsbegriff „Szenotopie“ soll hier diejenige Raumvorstellung verstanden werden, die einer Szenografie zugrunde liegt. Also das, was einerseits ein Szenograf im Raum installiert und was andererseits ein Rezipient wahrnimmt: eine topologische und relationale Räumlichkeit. Auch dieser Arbeitsbegriff soll (wie zuvor der Arbeitsbegriff „Szenosphäre“, der die Raumwahrnehmung der Szenografie untersucht) den Komplex aus gestalterischem Tun und der Wahrnehmung des Rezipienten in einem Wort zusammenfassen und damit die Beschreibungen in den kommenden Untersuchungen vereinfachen. Er verbindet die Wörter Szenografie + (Hetero-)Topologie miteinander und dient dazu, die Raumstruktur der Szenografie und die Raumvorstellung, die der Szenografie zugrunde liegt, zu untersuchen. Die Analyse dessen, was einerseits ein Szenograf im Raum installiert und andererseits ein Rezipient wahrnimmt, ist notwendig, um zu Erkenntnissen zu gelangen, die die folgende These bestärken. Im Folgenden wird davon ausgegangen, dass der Szenografie ein topologisches und relationales Raumverständnis zugrunde liegt, das ich als „szenotopisch“ bezeichne. Dazu wird die Raumvorstellung der Szenografie in Rekurs auf die Begriffe „Heterotopie“606 (Foucault), 605 Flusser, Vilém:
Medienkultur. Frankfurt a. M.: Fischer, S. 175–180.
606 Foucault, Michel: „Von anderen Räumen“, in: Günzel, Stephan/Dünne, Jörg (Hg.): Raumtheorie:
Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006, S. 317–329.
3 Szenogreffieren 159
„Chronotopos“607 (Bachtin), „das Glatte und das Gekerbte“608 (Deleuze/Guattari) und im Hinblick auf „Praktiken im Raum“609 (de Certeau) untersucht. Für die Untersuchung des Komplexes aus gestalterischem Tun und der Wahrnehmung des Rezipienten werden die Phänomenologie und der Strukturalismus herangezogen und zusammengeführt, was sich dadurch begründet, dass es in der Szenografie einerseits um Raum als Erfahrungs- und Erlebnisräumlichkeit geht (Szenosphäre) und andererseits um eine Struktur. Diese Struktur wird im Folgenden als ein strukturierter Zusammenhang von Beziehungen, Zeichen und deren Bedeutungen untersucht. Strukturalistisch betrachtet handelt es sich bei der Szenografie um ein spatiales Gewebe oder Geflecht, das räumlich übersetzt wird in Gestalt von gebauten Formen mit Farben, Bildern, Bewegtbildprojektionen (Film/Video), Licht, Schatten, Akteuren, Musik und dergleichen. Diese Elemente sind miteinander verwoben und bilden Semantiken aus. Mathematisch-topologisch gesprochen, kann man die Elemente als eine strukturbildende Menge aus Punkten bezeichnen, die in Relation zueinander stehen und Nachbarschaftsbeziehungen ausbilden. Im Folgenden wird diesem strukturierten Zusammenhang als Argument nachgegangen, um die These – dass der Szenografie ein relationales und topologisches Raumverständnis zugrunde liegt – zu begründen. Der Konzeption dieses Kapitels liegen folgende Überlegungen zugrunde: Das spatiale Gewebe oder Geflecht, das den Raum (be-)schreibt – graphiert –, ist nicht nur lesbar als ein künstlerischer Text (im Sinne Lotmans), sondern auch real begehbar in Form einer offenen Bühne, die der Szenograf im Raum installiert und die der Rezipient durchschreitet. Der Szenografie wohnt etymologisch die Graphie, d. h. die (Be-)Schreibung inne, aber sie ist keine Schrift, die sich wie ein literarischer Text in Form von Buchstaben auf einem Blatt Papier ereignet, sondern eine Raumschrift, eine „écriture dans l‘espace“ (Pavis): eine RaumKonfiguration, wie in Kapitel 3.2.2 erörtert werden wird. Diese wird aus Raumelementen, die zueinander in Beziehungen stehen, komponiert und konstituiert sich im Sinne Foucaults als ein „Ensemble von Relationen“, in denen die Dinge ihre (Un-)Ordnung haben. Dieses Ensemble ist eine Struktur, die den Inhalt – d. h. das, was dem Rezipienten als Geschichte oder auch nicht-narrativ vermittelt werden soll – als eine dreidimensionale Sprache (Form) und in eine RäumlichVgl. auch Foucault, Michel/Bischoff, Michael (Übers.): Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005. 607 Bachtin, Michail M.: Chronotopos. Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008. 608 Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: „1440 – Das Glatte und das Gekerbte“, in: Günzel, Stephan/Dünne, Jörg (Hg.): Raumtheorie: Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006, S. 434–446. 609 De Certeau, Michel Kunst des Handelns, Berlin: Merve 1988.
160 Szenosphäre & Szenotopie
keit übersetzt. Diese Übersetzungsleistung vollbringt nicht allein der „ästhetische Arbeiter“610 (Szenograf ), sondern auch der Rezipient, der – und hier findet sich die Parallele zum Lesen von Literatur – sich die beschriebene Welt imaginiert und sie durchlebt: Gedanken und Dinge werden als „Text“ lesbar, d. h. durch Sprache strukturiert und geordnet. In der Struktur literarischer Texte sowie in der der Semiosphäre gibt es – so Lotman und wie bereits untersucht wurde – Grenzen, die das homotopische Zentrum von der heterotopischen Peripherie trennen. Die Bewegung der Überschreitung (von Grenzen) ist dabei sowohl Voraussetzung für die Entstehung von literarischer Handlung als auch Bedingung für das Fortbestehen der gesamten Sphäre einer Kultur; diese kann sich nur durch dynamische Prozesse, d. h. das Hineintragen von „Anderem“ ins Zentrum weiterentwickeln611. Wie bereits dargelegt wurde, findet sich an dieser Stelle der Anschluss an den Begriff „Heterotopie“, der im ersten Unterkapitel (3.2.1) herausgearbeitet wird. Denn sowohl in der strukturalistischen Literaturwissenschaft als auch in Foucaults „anderen“ Räumen und seiner Theorie der „Heterotopie“ realer Orte mit impliziten Heterochronien – für die vorliegende Studie und den Arbeitsbegriff „Szenotopie“ – sind jene wirksamen Orte, Räume und Zeiten relevant, „die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet [man könnte sagen, „graphiert“, R.P.] sind, sozusagen Gegenplatzierungen oder Widerlager“612. Die Szenografie kann nämlich insofern als eine Art Widerlager bezeichnet werden, als sie im Theaterkontext eine Gegenplatzierung in Form von Rezipienten-Mobil machung, d. h. freie Bewegung im Raum ermöglicht und damit die Vorstellung von Raum als einer Art Behälter/etwas Absolutem und damit auch eine dieser Bestimmung folgenden raumstrukturelle Raum(an)ordnung und Bühnenform (siehe Kapitel 2) unterläuft. In der Szenografie bleibt der Raum nicht wie in der Literatur für den Rezipienten imaginiert und immateriell, sondern kann konkret erfahren werden als real begehbares dreidimensionales Raumbild, das sich als szenografischer Parcours begründet. In dieser Struktur als zeit- und richtungsweisender Parcours findet Handlung statt, wird der Raum „von der Zeit mit Sinn erfüllt und dimensioniert“, wird Raumzeit erfahrbar und „verschmelzen räumliche und zeitliche Merkmale zu einem … konkreten Ganzen“613 – zu einem „Chronotopos“ 610 Böhme, Gernot: Atmosphäre: Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1995, S. 16 ff.
611 Jurij Lotman: „Über die Semiosphäre“, in: Posner, Roland (Hg.): Kultur und Evolution. Zeitschrift
für Semiotik, Bd. 12, Heft 4, 1990, S. 293 ff. Vgl. auch Jurij Lotman: „Künstlerischer Raum, Sujet und Figur“, in Günzel, Stephan/Dünne, Jörg (Hg.): Raumtheorie: Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006, S. 539 f., sowie Lotman, Jurij M.: Die Innenwelt des Denkens, Berlin: Suhrkamp 2010a, S. 165. 612 Michel Foucault: „Andere Räume“, in: Barck, Karlheinz (Hg.): Aisthesis: Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik Leipzig: Reclam 1993, S. 39. 613 Bachtin, Michail M.: Chronotopos. Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008, S. 7.
3 Szenogreffieren 161
(Bachtin), wie in Kapitel 3.2.3 erörtert wird. Dieser Parcours, den der Szenograf in den (Theater-, Ausstellungs- oder öffentlichen) Raum hineingezeichnet und als Raum-Zeit-Struktur installiert hat, konstituiert sich durch und als Bewegung des Rezipienten, seine raumbildende Handlung. An dieser Stelle wird die Brücke zu de Certeau und Deleuze/Guattari geschlagen. Denn der Bewegung wohnen dem Wortlaut nach das Gehen als „spatiierende Praktik“ (de Certeau) und das „reine Spatium“ (Deleuze) inne 614. Nach Deleuze ist das Spatium die vom Spazieren(gehen) abstrahierte Struktur, und genau dieser Ansatz verbindet zwei Theorieansätze, er „lässt die strukturalistische Raumauffassung mit dem topologischen Raumverständnis der Phänomenologie vergleichbar werden“615. Davon ausgehend, dass die Szenografie eine Raumsprache ist und dass – in Anschluss an de Certeau – das Lesen wie das Gehen Raum produziert, kann die Szenografie als Einschreibung – oder, mit Deleuze gesprochen, als das „Gekerbte“ – im Raum verstanden werden. Sie kann verstanden werden als dreidimensionale „Szeno-Graphie“616 im Sinne einer medialen Konstruktion von Räumlichkeit, die szenische Orte, Räume und Zeiten durch räumliche Mittel (z. B. Licht) beschreibt und der ein relationales und topologisches Raumverständnis zugrunde liegt. De Certeau nimmt in seiner Untersuchung „Kunst des Handelns“ den Raum (die Stadt ist für ihn ein mit den Augen sowie mit den Beinen lesbares Textgewebe) aus zwei verschiedenen Perspektiven in den Blick, wie in Kapitel 3.2.4 dargelegt wird, womit er zugleich die Theorie zurück in die Praxis überführt: Dem Überblick, der Vogelperspektive des Stadtplaners folgt der Einblick des Fußgängers, das Handeln und Drin-Sein617 im Raum. Der Überblick (der mehr mit einer reflexiven Wahrnehmung verbunden ist) und die eher intuitive, atmosphärische Ästhetik (die mehr mit der Einsicht einhergeht) veranschaulichen zugleich auch eine produktions- und rezeptionsästhetische Sicht: einerseits die des Szenografen (der den Überblick über das Bühnengeschehen hat) und andererseits die des fußläufigen Besuchers der Szenografie. In dieser Hinsicht sind die Raumaneignungen im Sinne von de Certeau für die vorliegende Arbeit (welche die Szenografie ausgehend von einer theoretischen Überschau aus der 614 Günzel, Stephan (Hg.): Topologie: Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften,
Bielefeld: transcript 2007, S. 25.
615 Ebd. 616 Vgl.
Neumann, G./Pross, C./Wildgruber, G. (Hg.): Szenographien. Theatralität als Kategorie der Literaturwissenschaft, Freiburg i. B.: Rombach 2000. Vgl. auch Stockhammer, Robert (Hg.): TopoGraphien der Moderne: Medien zur Repräsentation und Konstruktion von Räumen, München: Fink 2005. Der Raum als „Produkt[] graphischer Operationen im weitesten Sinne“ (S. 15). Die Beiträge beziehen sich leitmotivisch auf das Wort „kerben“ (franz.: strier) – welches Deleuze/ Guattari geprägt haben –, das sich etymologisch auch mit „gráphein“ (kratzen/ritzen, eingraben, be- und einschreiben) zurückführen lässt. 617 Franz Xaver Baier: Durch das Drin-Sein wird die „An-sicht“ zur „Ein-sicht“. Baier, Franz Xaver: Der Raum: Prolegomena zu einer Architektur des gelebten Raumes, Köln: König 1996, S. 26.
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Praxis heraus reflektiert) und für den Weg des Arbeitsbegriffs „Szenotopie“ relevant. Zumal die Figur des Fußgängers und die de Certeau’schen „Praktiken im Raum“ für die vorliegende Studie auch eine gewisse dramaturgische Funktion einnehmen: Mit ihnen und durch sie können die Stationen der abstrakten Raumtheorien (Lotman, Foucault, Bachtin und Deleuze/Guattari) durchschritten und dann wieder ein Stück weit in die Praxis zurückgeführt werden. Bevor die zweite These der vorliegenden Arbeit über die genannten Stationen ausgeführt wird, werden im Folgenden als Einführung in die Topologie Stephan Günzels Ausführungen zu den Begriffen Topos, relationales und topologisches Raumverständnis und deren zeitlichen Entwicklungen referiert sowie Michaela Otts Ausarbeitungen zum Raum als „heterogenisierender Relationsbegriff“.618 Topos Die Topostheorie wurde durch Aristoteles (384–322 v. Chr.) begründet, seine „Theorie der Örter“ konzipiert Raum „weder nach einer Umfassung noch von einer Grenzziehung aus …, sondern von derjenigen Raumstelle aus, dem Ort, an dem sich Dinge, Menschen etc. befinden“.619 Als zunächst rein sprachliche Kategorie (die Antwort auf die Frage: Wo?) ist der Ort („Topos“) in physikalischer Hinsicht auch eine Art Gefäß: „das unmittelbare Umfassen des Gegen618 Die
vornehmlich verwendeten Quellen, die im Folgenden mit Name und Jahreszahl abgekürzt werden, sind: - Günzel 2005 = Stephan Günzel „Philosophie und Räumlichkeit“, in: Kessl, F./Reutlinger, Ch./ Maurer, S. (Hg.): Handbuch Sozialraum, Wiesbaden: VS 2005, S. 89–111. Günzel vertritt einen geophilosophischen Ansatz, der für die vorliegende Arbeit fruchtbar gemacht wird, denn er versteht Raum(epochen) als Form(en) materieller Schichten, ihren Verwerfungen und Relationen. Aus dieser Perspektive stellt er „Raum“ in der Geschichte seines Begriffswandels vor. - Ott 2003 = Michaela Ott: „Raum“, in: Barck, Karlheinz (Hg.) Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 5, Postmoderne – Synästhesie, Stuttgart/Weimar: Metzler 2003, S. 113–148. Sie rekonstruiert den Raumbegriff in Übernahme der Begriffsprägungen von Cassirer, Foucault und Deleuze/Guattari unter der Überschrift „heterogenisierender Relationsbegriff“ (S. 118), welcher für meinen Arbeitsbegriff „Szenotopie“ ergiebig ist. - Günzel 2007 = Günzel, Stephan (Hg.): Topologie: Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften, Bielefeld: transcript 2007, S. 13–29. Günzels Einleitung zum Thema Raum, Topografie und Topologie verschafft einen Überblick über die gegenwärtige Raumdebatte, für die – Günzel zufolge – nicht der Raum als physikalische Entität relevant ist, „sondern die Möglichkeit einer Beschreibung räumlicher Verhältnisse hinsichtlich kultureller und medialer Aspekte“. - Günzel/Dünne 2006 = Günzel, Stephan/Dünne, Jörg (Hg.): Raumtheorie: Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006. Diese Grundlagentexte geben einen Überblick über das Raumdenken von der Neuzeit bis zur Gegenwart. 619 Günzel 2005, S. 93, mit dem Hinweis, dass diese „Örterlehre“ weder mit der modernen Topologie noch mit der Topik (Anleitung zur Bildung von Argumenten oder in der Literaturwissenschaft die Bezeichnung von Gemeinplätzen) verwechselt werden darf. Dies ist insofern auch für den Arbeitsbegriff „Szenotopie“ wichtig, als sich seine Endung „-topie“ auf das heutige Raumverständnis der Topologie bezieht.
3 Szenogreffieren 163
standes“, das vom Gegenstand verschieden, aber mindestens gleich groß ist wie er.620 Die griechische Welt ist vom Bild der Chora („Platz bietendes Land“), die allem Raum gibt, bestimmt, und Raum wird als übergeordnete Instanz verstanden – nicht als gelebter Sozialraum.621 Erst im 3. Jahrhundert v. Chr. entwickelt sich mit Euklid ein Begriff von Raum, „der ‚Ort‘ und ‚Raum‘ als konträre Alternativen erscheinen lassen wird“.622 In der Antike münden die räumlichen Vorstellungen – Raum kann ein Ort, eine Ausdehnung, ein vorstädtisches Gebiet oder auch ein Zwischenraum zwischen Säulen sein – „in Konzeptionen geschlossener und überschaubarer Gestalt in einem semantisch durchstrukturierten Universum“, das sich der Mensch als Kugel vorstellt.623 Im Anschluss an die antiken Theoreme bahnt sich im Mittelalter ein Übergang an, der für die Konzeptualisierung von Raum insofern ein entscheidender ist, als er das „Denken in Kategorien des Ortes für eine naturphilosophische Begrifflichkeit“ öffnet; Ort und Zeit werden substantialisiert und als eine die Dinge umfassende Räumlichkeit erkannt.624 In der Neuzeit wird Raum individuell fassbar, nicht zuletzt durch die perspektivische Berechnung und Konstruktion, die es nun ermöglicht, Raum aus den Fluchtlinien eines subjektiven Standpunkts heraus als eine Fläche darstellbar zu machen.625 Vor dem Hintergrund der Unterscheidung von Kosmos, Ort, Raum und den Errungenschaften der analytischen Geometrie lässt sich nicht nur im Theoretischen von einer tatsächlichen Raumschöpfung sprechen, sondern auch in der Praxis: „Entscheidende Veränderungen in der Raumwahrnehmung ergeben sich … auch aus realen Raumausgriffen“626. In der Entdeckung von Raum – durch die Weltumsegelungen seit dem 15. Jahrhundert – sieht die heutige Phänomenologie „die Eröffnung eines richtungsindifferenten globalen ‚Ortsraums‘“627. Dieser heutige Raum ist durch die Lage bestimmt, d. h. durch Nachbarschaftsbeziehungen zwischen Punkten und Elementen, die Räumlichkeit hervorbringen.628 Antike/Mittelalter – Neuzeit – Gegenwart stellen sich strukturalistisch betrachtet als Lokalisierung – Ausdehnung – Lage 629 dar.
620 Ebd. 621 Ebd.
622 Ebd.,
S. 94. 2003, S. 119. 624 Ebd., S. 120 f. 625 Ebd., S. 122 f. 626 Ebd., S. 124. 627 Ebd. mit einem Verweis auf den „Ortsraum“, siehe Schmitz, Hermann: System der Philosophie, Bd. 3.1, Bonn: Bouvier 1967, S. 431–434. Zum Ortsraum siehe auch Kapitel 3.1.1 der vorliegenden Arbeit. 628 Günzel, 2005, S. 98. 629 Michel Foucault: „Andere Räume“, in: Günzel/Dünne 2006, S. 318. 623 Ott
164 Szenosphäre & Szenotopie
Relationales Raumverständnis Der Topologie liegt ein relationales Raumverständnis zugrunde, das sich dadurch kennzeichnet, von Beziehungen auszugehen, und diese kommen dann in den Blick, wenn es um mehr als um ein einzelnes Etwas geht, also um ein Gegenüber, Mit- oder Nebeneinander, was den dialogisch nachbarschaftlichen Charakter erkennen lässt. Zur Form der Bezugnahme (auch der Selbstbezüglichkeit) gehören demnach mindestens Zwei (zwei „Etwasse“), die äußerlich in Relativität zueinander stehen und deren Verhältnis, d. h. innerer Zusammenhang ein relationaler ist: ein Strukturgebilde 630. Mit dem Einsetzen der neuzeitlichen Naturwissenschaften zeigt sich, dass Verhältnisse, in denen Dinge stehen, auch fundamental sein können, d. h., Relationen sind konstitutiv für den Aufbau als ein Zusammenhang von etwas.631 Mit der Neuzeit erweitert sich Raum als ein „Möglichkeitshorizont ins Unendliche, dem entgegen heute (wieder) seine Endlichkeit (nun) im Angesicht des Globalen im Vordergrund steht“.632 Auf den neuen Möglichkeitshorizont und die „kopernikanische Wende“633 gab es maßgebliche philosophische Reflexionen – von Réne Descartes, Baruch de Spinoza, Isaac Newton und Gottfried W. Leibniz –, deren neue „Raumbilde[r] mit der Existenz Gottes“ in einem Spannungsverhältnis standen.634 Newton, der nicht wie Descartes Materie und Ausdehnung (Volumen) gleichsetzt, versteht Raum als eine substanzlose Realität und geht von einem absoluten und einem relativen Raum aus, wonach ersterer als übergeordnetes Bezugssystem die Voraussetzung zur Bestimmung von Bewegung ist.635 In ihm ist – anders als im aristotelischen Weltbild – alles in Bewegung und darin gilt Ruhe als Ausnahme, als Sonderfall der Bewegung.636 Das Bild eines Schiffs als beweglicher, relativer Raum im absoluten Bezugsraum des Ozeans veranschaulicht die lokale und die globale Ordnung: „Was das Schiff als relatives Bezugs system für die beinhalteten Körper ist, ist der absolute Raum als universeller Con630 Vgl. Günzels einleitende Ausführungen zu Newton versus Leibniz, in: Günzel/Dünne 2006, S. 25 ff.
„Während Newton die Bewegung der Körper relativ bezüglich eines absoluten Bezugssystems beschreibt, geht es Leibniz um die Relation möglicher Orte, die ein Körper einnehmen kann.“ 631 Vgl. auch Günzel 2005, S. 100. „Wie die Materie den Raum … krümmen kann, so … kann auch die soziale ‚Masse‘ den Raum transformieren (Baudrillard 1979).“ 632 Günzel 2005, S. 90. 633 Stephan Günzel in: Ders. (Hg.): Raum: Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar: Metzler 2010, S. 77–89, hier S. 87. Zur Umwendung der kopernikanischen Wende (kosmologische Dezentralisierung der Erde) siehe Husserls phänomenologisches Raumverständnis, in dem die Erde als „Ur-Arche“ wieder das Zentrum der Erkenntnis ist. Siehe auch Stephan Günzel in: Günzel/ Dünne 2006, S. 111. „Dies kommt der faktischen Rücknahme des neuzeitlichen Weltbilds nach Galilei gleich.“ 634 Günzel 2005, S. 95. 635 Ebd. 636 Stephan Günzel in: Günzel/Dünne 2006, S. 25.
3 Szenogreffieren 165
tainer für alle relativen Räume.“637 Newtons Zeitgenosse Leibniz geht hingegen davon aus, dass Raum durch die Relationen von Raumstellen bestimmt wird, und begründet dies in seiner „Analysis situs“ von 1693.638 Demnach ist nicht die Distanz, die mithilfe der Metrik bestimmt wird, ausschlaggebend und es gibt auch nicht zuerst ein dreidimensionales Koordinatensystem, sondern zunächst „Relationen von Gegenständen, die durch ihre Lagebestimmung eine jeweilige Räumlichkeit hervorbringen“.639 Im Briefwechsel mit dem Theologen Samuel Clark, der Newtons Position verteidigt, schreibt Leibniz, dass Raum „kurzum das [ist], was sich aus den Orten ergibt, wenn man sie zusammenführt“640. Im Unterscheid zu Newtons relativem Raumkonzept benötigt das relationale Raummodell von Leibniz kein absolutes Bezugssystem, und demnach sei es nicht notwendig, „einen Raum zu postulieren, der unabhängig von den Relationen besteht“.641 Leibniz prägt damit ein mathematisches Raumverständnis, das Johann B. Listing im 19. Jahrhundert (1847) mit dem Begriff „Topologie“ bezeichnen wird.642 Das Raumverständnis der Aufklärung wird von Kant geprägt, der zunächst versucht, die relationale Raumvorstellung von Leibniz mit der Newton’schen Annahme des absoluten Raumes zu versöhnen.643 Dann aber versteht er (1781 in seiner Schrift „Kritik der reinen Vernunft“) Raum weder (so wie Newton) als Behältnis noch als etwas, das (wie Leibniz meint) verschwindet, wenn es keine Objekte in ihm gibt.644 Er spricht sich also „für die Apriorizität des Raums … aus, welche er später dann als selbst lebensweltlich fundiert … ansieht“645. Er vertritt die Auffassung, dass der Begriff des Raumes eine „reine Anschauung“646 ist, und damit, dass „jede Wissenschaft, die Objekte vermisst, dies notwendig innerhalb eines dreidimensionalen Raumes tun muss“, um nachvollziehbare und auch unabhängig vom vorhandenen Einzelobjekt gültige Ergebnisse zu erlangen.647 Diese Bestimmung ist in zweierlei Hinsicht folgenschwer, denn einerseits wird die Physiologie als physikalisches Modell beibehalten (was zu Ver637 Ebd.
638 Ebd.,
S. 26. 2005, S. 98. 640 Leibniz zitiert nach: Günzel/Dünne 2006, S. 69. 641 Stephan Günzel in: Günzel/Dünne 2006, S. 27. Innerhalb der neueren Raumsoziologie wird Raum als (Leibniz’sches) Relationengefüge und als (An-)Ordnung von Michel Foucault („Des espaces autres“), von Henri Lefèbvre („La production de l’espace“) und Edward Soja („Thirdspace“) fortgeschrieben werden. 642 Stephan Günzel in: Günzel/Dünne 2006, S. 26. Vgl. auch Marie Luise Heuser: „Die Anfänge der Topologie in Mathematik und Naturphilosophie“, in: Günzel 2007, S. 183 f. 643 Günzel 2005, S. 98. 644 Stephan Günzel in: Günzel/Dünne 2006, S. 31. 645 Ebd., S. 28. 646 Kant: „Von dem Raume“, zitiert nach: Günzel/Dünne 2006, S. 76 f. 647 Günzel 2005, S. 96. 639 Günzel
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wechslungen des Konstruktionsraums von Euklid, Newton und Kant mit dem Wahrnehmungsraum führt 648) und andererseits werden nicht parallelaxiomisch begründete Raumdefinitionen aus dem Fokus gerückt.649 Diese kommen erst später – mit Carl F. Gauß und Bernhard Riemann – wieder in den Blick und führen im 20. Jahrhundert in die nichteuklidische Geometrie.650 Damit verbunden ist die – ebenfalls im letzten Jahrhundert erkannte – Phänomenologie und der „lebensweltliche Orientierungsraum“, dem nicht zuletzt auch Kant den Weg bereitet hat; in seinen Geographie-Vorlesungen deutet sich Topologisches an: dass „der Räumlichkeit ein Ordnungsverhältnis im Sinne relationaler Räumlichkeit vorausliegt“ – Raum wird als „ein Spektrum an Orientierungsrichtungen“ gedacht.651 Orientierungsspektren wie nichteuklidische Geometrie(n) nähern sich „paradoxerweise der ursprünglichen Idee von Geometrie als Erdvermessung wieder an“652, und so kann die Sphäre – wie im Kapitel „Szenosphäre“ bereits erörtert wurde – aus zwei unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden: als atmosphärischer Umraum aus der Phänomenologie der Wahrnehmung heraus sowie als Gestalt und Struktur, also Kugel/Hülle, Globus. Topologisches Raumverständnis In Gestalt einer Kugeloberfläche ist die Sphäre aus Sicht eines topologischen Raumverständnisses ein gern gewähltes Beispiel für eine Mannigfaltigkeit 653, die die Eigenschaft hat, eine Metrik zu besitzen. Zunächst verweist der Begriff Me648 Ebd.,
S. 97: Der Clou der Zentralperspektive bestehe drin, die physiologischen Grundlagen zu missachten und ein mit zwei Augen ausgestattetes Wesen dazu zu bringen, „einen Raum‚ in der Fläche‘“ zu sehen. 649 Ebd., S. 96. 650 Ebd., S. 96 f. 651 Stephan Günzel in: Günzel/Dünne 2006, S. 33 f. Lebensweltliche Orientierungsräume werden im II. Kapitel unter der Überschrift „Soziale Räume“ beleuchtet. Mit dem Verweis auf Martina Löws Schrift „Raumsoziologie“ hebt Dünne (S. 290) die „jeder räumlichen Beschreibung von Gesellschaft zu Grunde liegende Doppelheit von strukturalem Ordnungs- und prozessualem Handlungsaspekt“ hervor. Die Verschiebung von der Akzentuierung der Raumordnung hin zur Hervorhebung der raumkonstitutiven Praxis dient dabei als Leitfaden (vgl. auch Günzel 2005). Die Hervorhebung des Pols der raumkonstitutiven Praxis und die Verbindung zwischen Handlungs- und Strukturebene sind auch für den Arbeitsbegriff „Szenotopie“ der rote Faden, der an raumsoziologische Positionen anschließt und sich von strukturalen und topologischen Ordnungsaspekten bis hin zu Michel de Certeaus raumkonstitutiven Praktiken durchzieht. 652 Günzel 2005, S. 97. 653 Die „Mannigfaltigkeit“ ist eine Raumauffassung, in der Raum als beliebig vieldimensional und transformativ aufgefasst wird; er lässt sich lokal über „Karten“ beschreiben. In ihm gibt es innere und äußere Geometrien und Krümmungsgrößen. Riemann war ein Gauß-Schüler, er entwickelte die Gauß‘sche Flächentheorie weiter und löste zweidimensionale Flächen durch n-dimensionale Mannigfaltigkeiten ab.
3 Szenogreffieren 167
trik allgemein auf Messbarmachung und Maß – im Bereich Musik oder Literatur demnach auf Takt, Organisations- und Rhythmusstrukturen; ein Maßraum kann auch ein Wahrscheinlichkeits- und Hypothesenraum sein, dem Annahmen, Phänomene oder „emergente Ordnungen“654 zugrunde liegen. In der Mathematik besagen die Grundbegriffe der Topologie Folgendes655: Die Topologie untersucht räumliche Verhältnisse, die sich durch Beziehungen und Positionen im Raum konstituieren und nicht durch Messungen von Winkeln oder Strecken, wie sie im alltäglichen Raum zur Anwendung kommen. Dennoch bewirkt die Topologie „bei den vielen zunächst ganz abstrakten und unanschaulichen Problemen einen Anschluß an unser räumliches Vorstellungsvermögen. Viele … Sichtweisen lassen sich im gewöhnlichen Raume ganz adäquat veranschaulichen“656. Mit „topologisch“ wird auf den metrischen Raum als eine Funktion verwiesen, in der Elementen einer Menge Nähe/Nachbarschaft/Konvergenz zugewiesen und messbar gemacht wird. Die Elemente der Menge sind Punkte, die in Relation zueinander stehen, Raum konstituiert sich demnach als Punktmenge und die Topologie als Struktur, welche die Menge bildet und definiert. Durch die Punkte und Verbindungen erhält die Menge eine Struktur und wird zu einer Umgebung, die durch Abstände und Nachbarschaftsbeziehungen gekennzeichnet ist und Teilmengen ausbilden kann. Im topologischen Raum wird die Lage von Punkten durch die Umgebung definiert, die mithilfe der Metrik definiert werden kann. Der topologische Raum beschäftigt sich also mit Lagebeziehungen zwischen verschiedenen Punkten und Orten und kann dem gewöhnlichen räumlichen Vorstellungsvermögen nach als die strukturtragende Menge aufgefasst werden.657 Im topologischen Raum werden Mainzer zufolge anschauliche Repräsentationen von Raum658 abstrahiert. Mit der Topologie, die nicht mit Koordinaten operiert, kommt es zur „Klärung des Dimensionsbegriffs, der … nicht mehr wie in der analytischen Geometrie durch die Anzahl der Punktkoordinaten definiert werden“ kann. Damit kommen auch topologische Gebilde und die Analyse ihrer Strukturen in den Blick, z. B. das Möbiusband. Zwei- und dreidimensionale topologische Räume (Punktumgebungen) lassen sich als „Gummihäute oder Gummikörper vorstellen, die belie654 Luhmann, Niklas: Soziales System, Gesellschaft, Organisation, Wiesbaden: Springer VS 2005, S. 62 f.,
130.
655 Die folgenden Ausführungen versuchen den mathematischen Sachverhalt im Sinne dieser Unter-
suchung auszudeuten. Dazu dienen folgende Quellen: erstens die Einleitung und das erste Kapitel „ Grundbegriffe“ (S. 1–12) aus: Jänich, Klaus: Topologie, Berlin/Heidelberg: Springer 2005. Und zweitens „I. Grundlagen“ von Klaus Mainzer, in: Günzel, Stephan (Hg.): Raum: Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar: Metzler 2010, S. 12 f. 656 Jänich, Klaus: Topologie, Berlin/Heidelberg: Springer 2005, S. 2. 657 Ebd., S. 1–12. 658 Anschauliche Repräsentationen von Raum in der Topografie in Form von Erdvermessungen, Ortsbeschreibungen, Karten etc.
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big deformierbar sind“.659 Lexikalisch wird die Topologie als dasjenige Teilgebiet der Mathematik ausgewiesen, das jene Eigenschaften geometrischer Gebilde behandelt, die bei stetigen Veränderungen erhalten bleiben, z. B. die Nachbarschaftsbeziehungen zwischen Punkten.660 Der topologische Ansatz lässt sich zurückführen auf die Zeit der Algebraisierung der Geometrie; nach den Entdeckungen von Listing gelangt das topologische Raumverständnis durch Bernhard Riemann zu neuen Erkenntnissen, der n-dimensionale Räume und Mannigfaltigkeiten einführte.661 Da in ihnen die Strecken zwischen den Punkten eine beliebig geformte Relation ist, kann Raum „daher auch gekrümmt, gedehnt oder gestaucht sein“662. Riemann legt mit seinem Konzept der mannigfaltigen Räumlichkeit mathematische Erkenntnisse zugrunde, die auch in der allgemeinen Relativitätstheorie, der Raumzeit 663 und Quantentheorie von Bedeutung sind. Ihm zufolge bildet der uns bekannte und gewöhnlich allgemein gültige euklidische Raum nur einen besonderen Fall einer „dreifach ausgedehnten Größe“.664 In den Kultur- und Sozialwissenschaften, die an den mathematischen Anspruch der Moderne anbinden, bleibt demnach eine Raumbeschreibung unvollständig, „wenn sie sich auf die Beschreibung von Erscheinungsräumlichkeit einerseits oder topographischer Kontingenz andererseits beschränkt. Im 20. Jahrhundert wird dieses Topologie-Modell von Vertretern der Phänomenologie wie auch des Strukturalismus aufgegriffen.“665 Die Sozial- und Kulturwissen schaften (die für die vorliegende Untersuchung insofern von Bedeutung sind, als 659 Klaus
Mainzer, in: Günzel, Stephan (Hg.): Raum: Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/ Weimar: Metzler 2010, S. 12 f. 660 Lemma „Topologie“, in: F. A. Brockhaus: Der Neue Brockhaus, Wiesbaden: Brockhaus Verlag 1968, S. 261. 661 Günzel 2007, S. 21 ff. Algebra widmet sich der Struktur, Relation und Menge. Die anschauliche Repräsentation von Raum und Raumobjekten wird in einen unanschaulichen, d. h. gerechneten und nur errechenbaren Raum überführt. Ende des 19. Jahrhunderts wird Topologie von Johann B. Listing als eine Lehre „modaler Verhältnisse räumlicher Gebilde“ eingeführt; demnach ist Raum nicht mehr nur Quantität, sondern Modalität. 662 Ebd., S. 22 f. 663 Bachtin (siehe Kapitel 3.2.3 der vorliegenden Arbeit) rekurriert mit seinem Begriff „Chronotopos“ explizit auf Einsteins Relativitätstheorie. Bachtin, Michail M.: Chronotopos. Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008, S. 7, 213. 664 Bernhard Riemann: „Beitrag zur Grundlegung der Geometrie“, in: Wußing, H./Alten, H. W./ Wesemüller-Kock, H./Zeidler, E.: 6000 Jahre Mathematik: Von Euler bis zur Gegenwart, Berlin/ Heidelberg: Springer 2008, S. 162. 665 Günzel 2007, S. 23. Er führt weiter aus: „Während der Strukturalismus der ursprünglichen mathematischen Konzeption mithin stärker verbunden ist, insofern die topologische Struktur als dem Raum unbedingt vorrangig angesehen wird, ist dem phänomenologischen Ansatz eigen, dass er in der Raumbeschreibung zunächst immer noch von einer Erfahrungsräumlichkeit auszugehen versucht.“ Er verweist weiterführend auf Ernst Cassirer („eine Schlüsselfigur im Übertrag von Leibniz’ Raumvorstellung auf kulturwissenschaftliche Fragen“), der beiden Vertretern (den Strukturalisten und Phänomenologen) nahestand.
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sie „Weltbilder“ untersuchen, die mitunter in der Kunst und mit ihr in der Szenografie verhandelt werden) greifen diese mathematischen wie philosophischen Entgrenzungen durch Raumwenden auf: in den 1990er Jahren durch den „spatial turn“ und seit der Jahrtausendwende durch den „topographical turn“ und „topological turn“.666 Sie fragen nach „Möglichkeiten einer Beschreibung räumlicher Verhältnisse hinsichtlich kultureller und medialer Aspekte“ – also nicht wie Raum, sondern wie Räumlichkeit bedingt ist.667 Im „topographical turn“ (der auch in den Literaturwissenschaften von Bedeutung ist, wie später dargelegt wird) geht es um Topografie als kartografische Ortsbeschreibung, Messung und die Fragen der „Repräsentationsformen von Raum“.668 Dagegen fokussiert der „topological turn“ auf Topologie: „Relationen, die selbst nicht räumlich (im Sinne von Ausdehnung oder Materialität) sind“, d. h. auf Transformationen von Raum, in denen die Relationen erhalten bleiben669 – es geht demnach um strukturelle Ähnlichkeit. Diese ist von relationalem Charakter und beinhaltet Raummuster, deren Ordnung jedoch „nicht auf die Ordnung des Realen, nicht auf die des Imaginären reduzibel ist und tiefer reicht als sie“670. Deleuze erläutert am Beispiel des Schachspiels anschaulich, woran man Strukturalismus – der eine Neigung „für gewisse Räume des Spiels und des Theaters“ habe – erkenne: „Die edelsten Spiele … sind jene, die eine Kombinatorik der Plätze in einem reinen spatium organisieren, das unendlich tiefer ist als das tatsächliche Ausmaß des Schachbretts und die imaginäre Ausdehnung der Figur.“671 Sinn – so gesehen als ein Struktureffekt – geht demnach „notwendig und einzig aus der Stellung“ hervor, es handelt sich „um Plätze und Orte in einem eigentlichen strukturellen, das heißt topologischen Raum. Was struktural ist, ist der Raum, aber ein unausgedehnter, prä-extensiver, reines spatium, … als Nachbarschaftsordnung“.672
Cassirer – Günzels Verweis sei hier ausgeführt – definiert in seinem Text „Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum“ die Welt weder als ein Ganzes von Körpern im Raum noch als ein Geschehen in der Zeit, sondern die Welt werde als ein „System von Ereignissen“ genommen, und in die Bestimmung dieser Ereignisse gehen Raum und Zeit als Bedingungen ein. Wie für das Sein die Identität, so bilde für die Ordnung die Mannigfaltigkeit gewissermaßen das Lebenselement. Ernst Cassirer in: Günzel/Dünne 2006, S. 490 f. 666 Günzel, Stephan: „Spatial Turn – Topographical Turn – Topological Turn. Über die Unterschiede zwischen Raumparadigmen“, in: Döring, J./Thielmann, T. (Hg.): Spatial Turn: das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld: transcript 2008, S. 219–237. 667 Günzel 2007, S. 13–27, hier S. 13. 668 Ebd. 669 Ebd.; vgl. auch Stephan Günzel in: Döring, J./Thielmann, T. (Hg.): Spatial Turn, a. a. O. 2008, S. 222. 670 Deleuze, Gilles: Woran erkennt man den Strukturalismus?, Berlin: Merve 1992, S. 13. 671 Ebd., S. 19. 672 Ebd., S. 15. Unter „spatium“ versteht Deleuze einen strukturalen Raum, der sich als Ordnung der Nachbarschaft herausbildet; der Begriff Nachbarschaft hat jedoch keine Bedeutung in der Ausdehnung, sondern ihm zufolge zunächst einen ordinalen Sinn.
170 Szenosphäre & Szenotopie
Bevor über den Raumbegriff als ein „heterogenisierender Relationsbegriff“ (Ott) referiert wird, folgt an dieser Stelle ein kurzer Hinweis auf die Verbindung zwischen Sinn, Struktur, Sprache und Text, um den Zusammenhang zwischen Szenografie, Raumsprache und Szeno-Graphie 673 zu verdeutlichen. Sinn als Struktureffekt kann sich auch durch Sprache bzw. als geschriebener Text konstituieren, „dessen Zeichen und Spuren semiotisch, grammatologisch oder archäologisch zu entziffern sind“674. Räumlichkeit ist hier medial konstruiert und wird als Geschriebenes, wörtlich als „Topo-Graphie“ lesbar sowie als Korpus (im Sinne einer sinnstrukturierten Welt der Bedeutungen) für kulturwissenschaftliche Fragen zugänglich; insofern ist also der „topographical turn“ der Kulturwissenschaften mit dem literaturwissenschaftlichen Paradigma „Kultur als Text“ verbunden.675 Versteht man das Wort „graphieren“ als schreiben oder eingravieren, dann ist die Topo-Graphie ein literarischer Text, der einen Ort oder Raum beschreibt und selbst zu einem Raum (Räumlichkeit) wird; folglich kann die Szeno-Graphie einen Ort oder Raum als Szene beschreiben.676 Die Verbindung zur Szenografie besteht darin, dass sie ein „künstlerischer Text“677 ist, der Topo-Graphien oder Szeno-Graphien in eine dreidimensionale Raumschrift/ -sprache übersetzen und diese als Rauminstallation arrangieren (aufbauen) kann.
673 Davon
ausgehend, dass die Szenografie eine Raumsprache ist und dass – in Anschluss an de Certeau – das Lesen wie das Gehen Raum produziert, kann die Szenografie als Einschreibung im Raum verstanden werden oder als dreidimensionale „Szeno-Graphie“, die szenische Orte, Räume und Zeiten beschreibt und der ein relationales und topologischen Raumverständnis zugrunde liegt. 674 Sigrid Weigel: „Zum topographical turn“, in: KulturPoetik. Zeitschrift für kulturgeschichtliche Literaturwissenschaft, Bd. 2, Heft 2, 2002, S. 160. Weigel bezieht sich auf die „Arts de faire“ von Michel de Certeau und schreibt: „Der Raum ist hier nicht mehr Ursache oder Grund, von der oder dem die Ereignisse oder deren Erzählung ihren Ausgang nehmen, er wird vielmehr selbst als eine Art Text betrachtet, dessen Zeichen … zu entziffern sind.“ 675 Jörg Döring/Tristan Thielmann: „Einleitung: Was lesen wir im Raume? Der Spatial Turn und das geheime Wissen der Geographen“, in Döring, Jörg/Thielmann, Tristan (Hg.): Spatial Turn, a. a. O. 2008, S. 16 f. Die beiden verweisen neben Sigrid Weigel auch auf Bachmann-Medick, Doris (Hg.): Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft, Frankfurt a. M.: Fischer, 1996, sowie auf Stockhammer, Robert (Hg.): TopoGraphien der Moderne: Medien zur Repräsentation und Konstruktion von Räumen, München: Fink 2005. 676 Neumann, G./Pross, C./Wildgruber, G. (Hg.): Szenographien. Theatralität als Kategorie der Literaturwissenschaft, Freiburg: Rombach 2000. Neumann will literarische Texte als „die ‚Instanz der Szene‘ im Feld der Kultur“ verstanden wissen, in Texten werden Fragen von „kulturellem Sinn und kultureller Ordnung aufgeworfen“. Neumann führt aus, dass Literatur „gewissermaßen der ‚andere Ort‘, die ‚andere Szene‘ des kulturellen Prozesses“ sei, und bezieht sich damit möglicherweise auf Foucault. Sprache und Szene sind, so Neumann, untrennbar miteinander verknüpft und diese Verknüpfung wird – er rekurriert an dieser Stelle auf Roland Barthes – „als ‚Szeno-Graphie‘ verstehbar: … indem sie Sprachproduktion selbst als Zeichentheater installiert. Sprache wird … nicht erst auf Schaubühnen ‚theatral‘, sondern ist … inszenatorische Praxis der Herstellung von sozialem Sinn“ (S. 14 f.). 677 Im Sinne Lotmans ist jede Form von bildender, darstellender oder sonstiger Kunst ein „künstlerischer Text“.
3 Szenogreffieren 171
So erklärt sich, dass und warum die vorliegende Arbeit die Szenografie mit dem literaturwissenschaftlichen Paradigma in Verbindung bringt. Die Verbindung zum Raum als topologische Struktur findet sich im Anschluss an Michaela Ott in der Ausdeutung des Raums als ein „heterogenisierender Relationsbegriff“. Heterogenisierender Relationsbegriff Otts „heterogenisierender Relationsbegriff“678 rekonstruiert den Raumbegriff in Übernahme der Begriffsprägungen von Cassirer, Foucault und Deleuze/Guattari. Einleitend skizziert sie die Entwicklungen der Moderne wie folgt: Neue „Wissensbereiche wie die Soziologie und Ethnologie widmen sich vergleichenden Studien von Sozial- und Kulturräumen, … die Medien Fotografie und Film eröffnen Räume des Unbewussten. Die Kunstgeschichte beginnt ihre Stilanalysen in Raumbildungsanalysen zu transformieren [und] die Architekturtheorie setzt mit der Formulierung eines Raumbegriffs ein. Diese plurale Dimensionierung des Räumlichen erfährt schließlich eine theoretische Begründung in Ernst Cassirers ‚Philosophie der symbolischen Formen‘ (1923–1929)“.679 Ott führt aus, dass Cassirer darin fordert, die Raumerörterung von der Natur- in die Kulturphilosophie zu verlagern, und er ersetzt (in seiner Schrift „Mythischer, ästhetischer und technischer Raum“, 1931) den substanziellen Raumbegriff „durch ein formales Prinzip bzw. die Annahme des ‚Vorrangs des Ordnungsbegriffs von dem Seinsbegriff‘. Nur bei Anlegung eines Ordnungsbegriffs läßt sich die Divergenz von abstraktem Raumbegriff und konkreter Ortsbestimmung der Dinge auflösen.“ Für Cassirer haben, wie er 1931 schreibt, der Raum und die Zeit „ihre wahrhafte Objektivität in der ‚Wahrheit von Beziehungen‘“; für ihn, der sich auf Leibniz‘ Definition von Raum bezieht, sind Raum und Zeit keine Substanzen, sondern er bezeichnet sie als „reale Relationen“ und die Welt als ein „System von Ereignissen“. Diese, wie Ott fortführt, „kulturphilosophische Multiplizierung des Räumlichen“ bedeutet einen „Paradigmenwechsel, der die Moderne von der neuzeitlichen Entwicklung trennt. … [D]ie noch in Kants Raumapriori eingehende homogene Raumanschauung wird nun … als je andere strukturelle [zeitliche wie örtliche] Kombination differenziert.“680 Zu Cassirer sei hier Folgendes weiter ausgeführt: Er vertritt ein relationales Konzept von Raum, dessen Ganzes nicht gegeben, sondern erst erzeugt wird: Es „setzt sich nicht aus den Elementen ‚zusammen‘, sondern es baut sich 678 Michaela Ott: „Raum“, in: Barck, Karlheinz (Hg.) Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 5, Postmoderne –
Synästhesie, Stuttgart/Weimar: Metzler 2003, S. 113–148. S. 114 f. 680 Ebd. 679 Ebd.,
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aus ihnen, als konstitutiven Bedingungen, auf.“681 Cassirer spricht von etwas, was der spätere Diskurs als Performativität bezeichnen wird und der Szenografie inhäriert. In seinen weiteren Ausführungen (die für die vorliegende Arbeit besonders fruchtbar sind, weil sie sich auf die Verbindung zwischen Raumordnung und praktischer Raumgestaltung beziehen) betont er, „daß der Raum … seinen Gehalt … erst von der ‚Sinnordnung‘ erhält, innerhalb deren er sich jeweils gestaltet. Je nachdem er als mythische, als ästhetische oder als theoretische Ordnung gedacht ist, wandelt sich auch die ‚Form‘ des Raumes … Die Sinnfunktion ist das primäre und bestimmende, die Raumstruktur das sekundäre und abhängige Moment.“682 Cassirers Grundannahmen und ästhetische Ansätze sind für die Szenografie konstitutiv. Ott erläutert in ihren Ausführungen zum „heterogenisierenden Relationsbegriff“ weiter, dass der Ordnungs- und Relationsbegriffs von Cassirer durch Lévi-Strauss, der „poststrukturalistisches Differenzdenken“ in Anschlag bringt, entscheidend weitergeführt wird.683 Sie fährt ebd. mit Foucault fort und erläutert, dass er 1967 „diese Raumausrichtung als differenzgenerierende Methode … auch für die zeitorientierte Geschichtswissenschaft“ fordert und „den qualitativen Orts- und Relationsraum des ‚Innen‘ im Sinne Cassirers als heterogenetischen ästhetischen Begriff gegen homogenisierende Raumverständnisse ins Feld [führt]; vor allem aber ist ihm an der Sichtbarmachung verdeckter Räume … ‚Heterotopien‘ … gelegen.“ Ott sieht „[d]as philosophische Pendant zu Foucaults methodischer Weitung und räumlicher Dehnung des historischen Feldes“ im Denken von Gilles Deleuze und Félix Guattari. Bei der (begrifflichen) Bestimmung von Raum schält sich Ott zufolge eine Entwicklungslinie heraus von imaginär angeleiteter Raumschöpfung über eine Homogenisierung hin zu einer Auffächerung des Raums in der Moderne.684 Nach dieser Einführung in die Thematik der Topologie konturiert sich das, was zunächst mit dem Arbeitsbegriff „Szenotopie“ gemeint ist: eine szenografisch inszenierte topologische Räumlichkeit. In den folgenden vier Kapiteln wird den Thesen nach herausgearbeitet, dass diese Räumlichkeit als ein Relationenensemble mit heterotop(olog)ischen und raumzeitlichen Merkmalen verstanden werden kann. Des Weiteren, dass sie eine Raumsprache ist, deren Sinn sich nicht im Buchstäblichen, sondern über die räumlichen Mittel, mit denen die Szenografie operiert, erschließt. Und dass die Szenotopie als eine eher nahsichtig wahr681 Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen: Zweiter Teil: Das mystische Denken, Hamburg:
Meiner 2010 (1925), S. 104. Ernst: „Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum“, in: Günzel/Dünne 2006, S. 489, 494. 683 Ott 2003, S. 117. 684 Ebd., S. 118. 682 Cassirer,
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zunehmende Räumlichkeit zu verstehen ist und sich als eine Raumaneignung und -praktik darstellt, der ein relationales und topologisches Raumverständnis zugrunde liegt.
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3.2.1 Raum-Konfigurationen und „andere“ Räume Mit dem Arbeitsbegriff „Szenotopie“ ist zunächst eine szenografisch inszenierte topologische Räumlichkeit gemeint. In diesem Kapitel wird sich zeigen, dass und wie sich diese Räumlichkeit als eine Sinn(un)ordnung konstituiert und als ein Wissensraum und Strukturgewebe darstellt, dessen heterogene räumliche und zeitliche Elemente sich über eine Menge von Relationen definieren. Die Szenografie ist ein spatiales Gewebe oder Geflecht, das den Raum (be-)schreibt – „graphiert“ –, und ist nicht nur lesbar als ein künstlerischer Text (im Sinne Lotmans), sondern als ein solcher auch real begehbar im Sinne einer offenen Bühne. Um der Struktur dieses offenen, begehbaren Geflechts und künstlerischen Textes, d. h. dieser Raumsprache auf die Spur zu kommen – und damit dem zugrunde liegenden Raumverständnis, das der These nach ein relationales und topologisches ist –, wird die Szenografie zunächst als ein „anderer Raum“ mithilfe Michel Foucaults Begriff der „Heterotopie“ untersucht. Es wird sich zum einen zeigen, dass die Szenografie sowohl eine Raum-Konfiguration und ein Ensemble von Relationen ist als auch ein wirklicher und wirksamer Ort im Sinne eines Gegen-Raums oder Widerlagers, das einer anderen (Theater-)Ordnung folgt. Neben der Frage, um welche Art anderer Ordnung es sich genau handelt, stellt sich vor allem die nach dem Ursprungsort des Heterotopie-Begriffs, denn die Herkunft bringt Erkenntnisse über den Zusammenhang zwischen Sprache und Raum, der für die Raumsprache Szenografie fruchtbar gemacht werden kann. So wird sich zum anderen zeigen, dass die Szenografie aus produktionsästhetischer Sicht auch als eine Art dreidimensionales Diagramm685 lesbar ist. Der Ursprung des Heterotopie-Begriffs findet sich nicht, wie oft vermutet, in der Architekturtheorie, in der er Verbreitung gefunden hat. Dass die Szenografie Inhalte, die einem Rezipienten durch eine Inszenierung dargeboten werden, in eine dreidimensionale Sprache und Räumlichkeit übersetzen kann, lässt erahnen, in welche Richtung die folgenden Überlegungen zielen und wo sich die Begriffsquelle verortet. Wenn Gedanken und Dinge durch Sprache und Schrift (Wissensräume) strukturiert und geordnet werden (können) – also eine „Sprache der räumlichen Relationen“686 für existenzielle Leib- und Wirklichkeitswahrnehmung vonnöten ist –, dann erschließt sich auch die Szenografie als eine (Raum-) Sprache und als ein Wissensraum, der als organisierende Grundstruktur und Sinnfunktion räumliche Ordnungsbeziehungen bildet und hervorbringt. Über 685 Vgl.
Matthias Bauer: „Die ‚Szenographie‘ – ein Schlüsselbegriff der Kultur-, Kognitions- und Bildwissenschaft“, in: Geist & Natur. Forschungsmagazin der Johannes Gutenberg-Universität, 1/2005, S. 41–45. Vgl. auch die Untersuchungen von Gerhard Dirmoser zur „Diagrammatik der Ausstellungskunst“ unter http://gerhard_dirmoser.public1.linz.at/FU/(letzter Zugriff: 01.11.2012). 686 Jurij Lotman: „Künstlerischer Raum, Sujet und Figur“, in: Günzel/Dünne 2006, S. 530.
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welche Strukturen und Formen also – jenseits sprachlicher oder schriftlicher Syntax – können Zusammenhänge räumlich dargestellt werden und sich entfalten? Nur an einem „Nichtort der Sprache“687, womit gleichsam der Ursprungsort des Heterotopie-Begriffs in Erscheinung tritt: Foucault untersucht in „Die Ordnung der Dinge“688 sprachliche Heterotopien – Nichtorte der Sprache – und das Sprachbild Tableau689. In „Überwachen und Strafen“690 ist es das Sprachbild des Diagramms, das als grafische Übersetzung einer (Macht-)Architektur und eines Ordnungsprinzips lesbar ist. Das Tableau wie das Diagramm sind Sprachbilder und Graphien verräumlichten Wissens. Vor diesem Hintergrund wird die Szenografie nicht nur als ein wirklicher und wirksamer Ort lesbar, sondern auch als eine Art räumliches Diagramm oder Graph (Graphentheorie) im Sinne eines Geflechts oder Netzwerks, das sowohl einen Ort markiert als auch für ein Verfahren steht und sich Raum aneignet. Ein Netzwerk – ob in Form eines Diagramms, einer Szenografie oder als Internet 3.0 – ist genuin relational, topologisch, dementsprechend strukturiert und insofern eine (künstlerische) Praktik, als es eine Raumsprache modelliert, die eine Räumlichkeit hervorbringt, in der sich Raum als verräumlichtes Wissen, Simultaneität und als ein arbiträres Geflecht aus Nachbarschaftsbeziehungen konstituiert. Solch eine Struktur folgt keiner Syntax im Sinne einer grammatischen Ordnung, sondern „theatralisiert“ und ist eine performative Praktik, weil sie semantische Verknüpfungen hervorbringt 691. An dieser Stelle werden der Aspekt einer Verräumlichung der Schrift und der Begriff „Écriture“, den auch Roland Barthes verwendet hat, weiterführen, wie im nächsten Unterkapitel erläutert wird. Inwiefern nun ist die Szenografie eine Raum-Konfiguration und ein Ensemble von Relationen? Um diesem Relationsensemble auf die Spur zu kommen, ist es in einem ersten Schritt hilfreich, sich einen realen Ort, z. B. ein Museum (eine Ausstellung) vorzustellen. Denn hier veranschaulicht sich Raum als ein Ensemble, das es „vermag, an einem einzigen Ort mehrere Räume, mehrere Platzie687 Nachwort von Daniel Defert: „Raum zum Hören“, in: Foucault, Michel/Bischoff, Michael (Übers.):
Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005, S. 75. „Als der Ort, an dem sie eigentlich entstanden sind, eignet die Literaturwissenschaft sich die Heterotopien mit Brian McHale und Michel de Certeau wieder an“ (S. 90). 688 Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997 (1966). 689 Ein Tableau erfasst und gibt eine Übersicht über (Er-)Kenntnisse, die räumlich angeordnet und dadurch geordnet werden. 690 Foucault, Michel: Überwachen und Strafen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1975. 691 Vgl. Foucault: Die Ordnung der Dinge, a. a. O. 1997 (1966), S. 20. Vgl. auch Derrida, Jacques/ Rheinberger, Hans-Jörg: Grammatologie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974. Vgl. auch Petra Maria Meyer: „Der Raum, der Dir einwohnt“, in: Bohn, Ralf/Wilharm, Heiner (Hg.): Inszenierung und Ereignis: Beiträge zur Theorie und Praxis der Szenografie, Bielefeld: transcript 2009, S. 105–134.
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rungen zusammenzulegen“, und die Idee verfolgt, „einen Ort aller Zeiten zu installieren“.692 Ebenso bringen Foucault zufolge auch Theater, Kinos oder Gärten (auf die später eingegangen wird) „an ein und demselben Ort mehrere Räume zusammen, die eigentlich unvereinbar sind“.693 Über diese Vorstellungen erschließen sich zunächst die „anderen Räume“, doch ihre Dimension liegt – mit Deleuze gesprochen694 – unendlich tiefer als ihre tatsächliche Ausdehnung; sie liegt in, oder genauer gesagt, unterhalb der Sprache verborgen. Für Foucault ist die Sprache eine Sache des Raumes695, sie entfaltet sich in ihm. In seiner Schrift „Die Sprache des Raumes“ führt er dazu aus: „[O]b man [den Raum] beschreibt oder durchquert, spielt dabei … keine wesentliche Rolle“. Die Sprache schiebt sich in den Raum hinein, in ihm trifft sie ihre Wahlen und entwirft ihre Figuren und Übertragungen, „in ihn versetzt sie sich, in ihm ‚metaphorisiert‘ sich ihr Sein“.696 Zum Werk „Été indien“ des Schriftstellers Claude Ollier erläutert er des Weiteren: In diesem eröffneten Raum „entfalten sich all die zusammengesetzten Bewegungen“ und Blicke, um sie in die „Komposition eines Filmes eingehen zu lassen … [D]iese ‚Ansichten‘ … bilden zusammen mit der Sprache das Webmuster“.697 Mit einem Hinweis auf solche „Räume“ bzw. erzählten oder imaginierten Strukturen beginnt Foucaults Radiovortrag „Die Heterotopien“698. In ihm heißt es, es gebe Städte, Kontinente und Planeten, die keinem Raum angehörten, weil sie, „wie man so sagt, im Kopf der Menschen entstanden [sind] oder eigentlich im Zwischenraum zwischen ihren Worten, in den Tiefen692 Michel Foucault: „Andere Räume“, in: Barck, Karlheinz (Hg.): Aisthesis: Wahrnehmung heute oder
Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig: Reclam 1993, S. 42 f. Michel/Bischoff, Michael (Übers.): Die Heterotopien, a. a. O. 2005, S. 14. 694 Vgl. Deleuze, Gilles: Woran erkennt man den Strukturalismus?, Berlin: Merve 1992, S. 19. 695 Vor allem folgende Werke von Foucault zeugen von diesem Zusammenhang: „Die Sprache des Raumes“ (1964), „Die Heterotopien“ (1966), „Die Ordnung der Dinge“ (1966) und „Von anderen Räumen“ (1967). 696 Michel Foucault: „Die Sprache des Raumes“, in: Foucault, Michel/Defert, D./Ewald F. (Hg.): Dits et Écrits, Bd. 1, 1954–1969, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001, S. 533–539, hier S. 534, 537. 697 Ebd., S. 537. 698 Defert erläutert die Entwicklungsgeschichte wie folgt: „Les Heterotopies“ wird 1966 als Radiovortrag ausgestrahlt, woraufhin Foucault auf einen Architekturkongress eingeladen wird, auf dem er den Vortrag – nun überarbeitet und unter dem Titel „Les espaces autres“ – nochmals hält. Der Text wird an alle Teilnehmer verteilt und zirkuliert seither in Architektenkreisen. Der Begriff Heterotopie kommt dann Mitte der 1970er Jahre wieder über eine Architektenschule in die Diskussion. Auch wird der Begriff für die Berliner Bauausstellung 1984 zum Programm. Später wird der Stadtplaner/Geograf Edward Soja in Los Angeles an der University of California ein Lehrstuhl für Heterotopologie ins Leben rufen. Foucault veröffentlicht den Text in nochmals überarbeiteter Version 1984 unter dem Titel „Des espaces autres“, der dann in deutscher Übersetzung („Andere Räume“) erstmalig 1990 im Band „Aisthesis“ (Barck) erscheint. Daniel Defert: „Raum zum Hören“, in: Foucault, Michel/Bischoff, Michael (Übers.): Die Heterotopien, a. a. O. 2005, S. 69–92. Der Text „Andere Räume“ ist in einer Neuübersetzung unter dem Titel „Von anderen Räumen“ auch abgedruckt in: Günzel/Dünne 2006, S. 317–327. 693 Foucault,
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schichten ihrer Erzählungen …, kurz gesagt, in den … Gefilden der Utopien.“ Dann weist er darauf hin, dass es in allen Gesellschaften auch Utopien gibt, „die einen genau bestimmbaren, realen, auf der Karte zu findenden Ort besitzen und auch eine genau bestimmbare Zeit“; diese „utopischen Orte“ und „uchronischen Augenblicke“ kann man sich als Ausschnitte vorstellen, die sich wohl jede Gesellschaft aus dem Raum und der Zeit, die sie besetzen, herausschneidet.699 In diesem Sinne sind Szenografien sowohl Gebilde, die in den Gefilden der Utopien entstehen, als auch utopische Orte, deren Raum und Zeit konkret bestimmbar ist. Nämlich weil sie einerseits im Kopf des Rezipienten entstehen und andererseits uns eine Zeit lang (im Fall des videowalk „Ghost Machine“ von Cardiff/Miller sind es knapp 30 Minuten) einen Raum- und Zeitausschnitt spüren lassen, der – wie Foucault ihn bestimmt – kein leerer, neutraler Raum700 ist. Sondern „wir leben, … sterben und … lieben in einem gegliederten, vielfach unterteilten Raum mit hellen und dunklen Bereichen, mit unterschiedlichen Ebenen, Stufen, Vertiefungen“.701 Es geht also um Erfahrungswirklichkeiten, die sich mit Foucault als „Ensembles von Relationen“702 verstehen lassen und in einem „Analogieverhältnis zum realen Raum der Gesellschaft stehen“703. Daraus lässt sich schließen, dass ihnen ein der heutigen Epoche entsprechendes Raumverständnis zugrunde liegt, womit sich die These, dass der Szenografie ein der heutigen Epoche entsprechendes, also ein relationales und topologisches Raumverständnis zur Basis hat, untermauern lässt. Künstlerische Ausdrucksformen wie z. B. „Ghost Machine“ folgen einem heutigen Raumverständnis, um nämlich den realen Raum der Gesellschaft so verhandeln zu können, dass sich der Rezipient von ihm betroffen fühlen kann. Foucault diagnostiziert die zeitgenössische Epoche als „eine Epoche des Raumes“ – die Welt erfahre sich als „ein Netz, das seine Punkte verknüpft und sein Gewirr durchkreuzt“ –, und er versteht das heutige Raum-Zeit-Gefüge als eine strukturalistische „Konfiguration“.704 Die heutige Zeit, „in der sich uns der Raum in Form von Relationen der Lage darbietet“, wird bestimmt „durch Nachbarschaftsbeziehungen zwischen Punkten und Elementen, die man formal als mathematische Reihen, Bäume oder Gitter beschreiben kann“.705 Dieser 699 Foucault, 700 Ebd. 701 Ebd.
702 Michel
Michel/Bischoff, Michael (Übers.): Die Heterotopien, a. a. O. 2005, S. 9.
Foucault: „Andere Räume“, in: Barck, Karlheinz (Hg.): Aisthesis, a. a. O. 1993, S. 34. Foucault: „Von anderen Räumen“, in: Günzel/Dünne 2006, S. 320. 704 Michel Foucault: „Andere Räume“, in Barck, Karlheinz: Aisthesis, a. a. O. 1993, S. 34. Der Strukturalismus ist ihm zufolge „der Versuch, zwischen Elementen, die in der Zeit verteilt worden sein mögen, ein Ensemble von Relationen zu etablieren, das sie als nebeneinandergestellte, einander entgegen gesetzte, ineinander enthaltene erscheinen läßt: also als eine Art Konfiguration; … es handelt sich um eine bestimmte Weise, das zu behandeln, was man die Zeit und was man die Geschichte nennt.“ 705 Michel Foucault: „Von andere Räumen“, in: Günzel/Dünne 2006, S. 317 f. 703 Michel
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Raum ist also eine „Menge von Relationen, die Orte definieren“; dabei erfolgt die Beschreibung der Orte über die Untersuchung der sie definierenden Relationsmenge.706 Die Untersuchung der Szenografie mithilfe des Arbeitsbegriffs „Szenotopie“ ist also insofern weiterführend, als mit ihm die Szenografie definierenden Strukturen und Relationen näher bestimmt werden können und sich damit auch künstlerische (szenografische) Praktiken erklären lassen. In der Praxis strukturiert ein Szenograf Raum (Relationen-Ensemble) zu einer Konfiguration, die er aufspannt und in einen Raum installiert/vernetzt. Diese Konfiguration beinhaltet Ausschnitte aus Raum und Zeit und materialisiert sich als Raum-ZeitGefüge in Form von Bauten, (Bewegt-)Bildern, Farben, Licht und dergleichen. Diese Raumstruktur ist, wie sich mit Ernst Cassirer sagen lässt (siehe vorheriges Kapitel), das von der Sinnfunktion abhängige Moment. Sie kann als ein einen „Ort definierendes Relationsbündel“707 betrachtet werden, weil sie Stellen im Sinne von Örtlichkeiten markiert und Raum als topologische Struktur und Beziehungsgeflecht verhandelt. Der Besucher durchläuft im szenografischen Parcours diese Örtlichkeiten – Stationen –, die der Szenograf im Relationsbündel einbettet; in der Arbeit „Ghost Machine“ sind diese Örtlichkeiten einerseits real (das Foyer des Hebbel-Theaters, die Bühne etc.) und andererseits medial (audiovisuelle Filmaufnahmen, durch die man z. B. akustisch in einem Auto, also an einem anderen Ort landet) sowie imaginär (auf der Bühne stehend hört man über die Kopfhörer Applaus aus dem Zuschauerraum, der in Wirklichkeit leer ist). Der „videowalk“ kann hier als eine ästhetische Erfahrung verstanden werden im Sinne einer „tatsächlich verwirklichten Utopie[], in [der] die realen Orte … [einer] Kultur … zugleich repräsentiert, in Frage gestellt und ins Gegenteil verkehrt werden“708. Foucault bezeichnet diese Orte als „Heterotopien“. Es sind im Gegensatz zu den Utopien (Orte ohne realen Ort) Orte, die real existieren und die Eigenschaft haben, sich zu widersetzen und völlig anders zu sein „als all die Orte, die sie spiegeln und von denen sie sprechen“.709 Er sieht die eigentliche Wesensart 706 Ebd., S. 319 f. Als Beispiele für solche „Räume“ führt Foucault an: die Durchgangszonen (Straßen
etc.) sowie offene oder geschlossene Ruheplätze (das Café oder das Zuhause). Siehe auch Foucault, Michel/Bischoff, Michael (Übers.): Die Heterotopien, a. a. O. 2005, S. 9 f. 707 Ebd., S. 320. „[D]as Relationsbündel, das den Ort definiert.“ 708 Ebd. 709 Ebd. In „Die Heterotopien“ (a. a. O. 2005, S. 10 ff.) benennt Foucault als Beispiele für solche Gegenräume – wie Kinder sie kennen – z. B. den Dachboden oder das Ehebett, das z. B. ein Federhimmel sein kann, den man durchspringt. Die Gegenräume der Erwachsenen sind z. B. Irrenanstalten, Friedhöfe, Bordelle etc. Im Text „Andere Räume“ führt er deren Eigenschaften näher aus: Es gibt wirkliche und wirksame Orte, „die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplazierungen oder Widerlager“, die trotzdem „geortet werden können“; Michel Foucault, in: Barck, Karlheinz (Hg.): Aisthesis, a. a. O. 1993, S. 39.
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der Heterotopien darin – und hier lässt sich eine Verwandtschaft zur Szenografie aufzeigen –, dass sie alle anderen Räume infrage stellen, „entweder … indem sie eine Illusion schaffen, welche die gesamte übrige Realität als Illusion entlarvt, oder indem sie ganz real einen anderen realen Raum schaffen, der im Gegensatz zur wirren Unordnung unseres Raumes eine vollkommene Ordnung aufweist“.710 Im „videowalk“ von Cardiff/Miller werden Realität, Raum und Zeit als mediale Konstruktion erkennbar gemacht, die einer eigenen und strukturell bestimmbaren Ordnung folgt. Zwar ist das künstlerische Arrangement beliebig und eine freie Setzung des Szenografen (vgl. Kapitel 3.1.3), doch ist es klar strukturiert und gegliedert. Denn der Künstler hat – im Gegensatz zur Schaffung eines wissenschaftlichen Modells – eine heterogene, aber dennoch „geschlossene Vorstellung von der Ganzheit … und eben diese Ganzheit modelliert er“711, wie bereits erörtert wurde. Zu den eingangs erwähnten „anderen Räumen“, die alle anderen Räume infrage stellen, zählt Foucault auch den (persischen) Garten und die Literatur, das Theater und Kino sowie die Museen und Bibliotheken.712 Zum Theater und zum Kino führt er aus, dass ersteres auf der horizontalen Fläche der Bühne „nacheinander eine ganze Reihe von Orten zur Darstellung [bringt], die sich gänzlich fremd sind“ und dass es als eine „zeitweilige Heterotopie“ zu verstehen ist, weil es temporär angelegt ist, nicht „ewigkeitsorientiert“. Und das Kino, „an dessen Ende man auf eine zweidimensionale Leinwand einen dreidimensionalen Raum projiziert“, agglomeriere Orte auf der vertikalen Ebene.713 Die Museen und Bibliotheken seien darüber hinaus auch „Heterochronien“, in denen Wissen und verschiedene Zeiten akkumuliert werden mit der „Idee, das allgemeine Archiv einer Kultur zu schaffen“.714 Theater, Kinos, Museen und Bibliotheken sind immer auch Text- und Wissensräume, und vor diesem Hintergrund lässt sich besser verstehen, warum Foucaults Radiovortrag „Die Heterotopien“ im selben Jahr ausgestrahlt wird, als auch sein Werk „Die Ordnung der Dinge“ erscheint, und warum sich eben hier der Ursprung des Begriffs „Heterotopie“ findet. Foucault versucht in seinem Werk die Erfahrung, die eine Kultur durch Ordnungen macht, und die Bedingungen, unten denen diese Ordnungen entstehen, zu analysieren – er ist bemüht festzustellen, „nach welchem Ordnungsraum das Wissen sich konstituiert hat“.715 710 Ders.,
a. a. O. 2005, S. 19 f.
711 Lotman, Jurij M.: Vorlesungen zu einer strukturalen Poetik, München: Fink 1972b, S. 37. Vgl. auch
Kapitel 3.1.4 der vorliegenden Arbeit. Foucault, a. a. O. 2005, S. 14 ff. Dass man den Eindruck haben kann, „Romane ließen sich leicht in Gärten ansiedeln“, liegt ihm zufolge daran, dass das „Schreiben … eine gärtnerische Tätigkeit [ist]“ (S. 15). 713 Ebd., S. 14. 714 Ebd., S. 16. 715 Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge, a. a. O. 1997 (1966), S. 24 f. 712 Michel
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In diesem Zusammenhang wird im folgenden Abschnitt dem Argument nachgegangen, dass die im Raum installierte Szenografie (die ein Wissensraum ist, der sich ereignet) auch als eine Art drei- bzw. vierdimensionales raumzeitliches Diagramm lesbar ist, das sich zugleich als sein Ordnungsraum begründet. Die Entstehung des Werkes „Die Ordnung der Dinge“ hat Foucault, wie er sagt, einem Text von Jorge Luis Borges716 zu verdanken. Die von Borges zitierte (fiktive) chinesische Enzyklopädie (eine fremde Taxonomie, die Tiere in vierzehn Klassen einteilt) ist eine Heterotopie, ein fremdartiges Ordnungssystem, das einen Wissensraum hervorbringt, der unterhalb des Sicht- und Sagbaren liegt – am „Nichtort der Sprache“.717 Denn er folgt keiner üblichen Syntax, sondern unterminiert die Sprache, und das, was „die Wörter und Sachen (die einen vor und neben den anderen) ‚zusammenhalten‘ läßt“, fällt auseinander.718 Borges ordnet die Tiere, indem er sie durch ein Klassifikationsschema erfasst, und das Netz, das er dazu anordnet und „jede Vorstellungskraft … überschreitet, ist einfach die alphabetische Serie (A, B, C, D), die jede Kategorie mit allen anderen verbindet“.719 Durch diese Serie kommt es zu einem Zusammentreffen, das nur die Sprache (oder ein Diagramm, das die „Ähnlichkeit der Dinge“ in abstrakte Beziehungen überführt) ermöglicht, aber in der Natur niemals möglich wäre. Es werden Verknüpfungen aufgespannt, die man sich „schon auf einem Blatt Papier aufzeichnen müsste, wenn wir das System oder die ‚Ähnlichkeitsräume‘ verstehen wollten“720. Das, wovon Defert hier in Bezug auf Borges spricht, ist letztlich das, was auch ein Szenograf praktiziert: (Un)mögliche Verbindungen, die einer ganz eigenen Logik folgen und örtlich weit Entferntes miteinander in Beziehung setzen, werden gedacht, aufgezeichnet und aufgezeigt. Und diese Verbindungen werden dann in eine reale Verknüpfungsarchitektur – Szenografie – übersetzt und in den Raum installiert. Dabei hat das dem dreidimensionalen Raumbild vorausgehende zeichnerische Bild (der szenografische Entwurf als Zeichnung auf einem Blatt Papier) „eine eigene, eine [ihm] zugehörige Logik“, und 716 Jorge Luis Borges: „Die analytische Sprache John Wilkins‘“, in: Borges, Jorge Luis: Das Eine und
die Vielen. Essays zur Literatur, München: Hanser 1966, S. 212; zitiert nach Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge, a. a. O. 1997 (1966), S. 17. 717 Nachwort von Daniel Defert: „Raum zum Hören“, in: Foucault, Michel/Bischoff, Michael (Übers.): Die Heterotopien, a. a. O. 2005, S. 75. 718 Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge, a. a. O. 1997 (1966), S. 20. 719 Ebd., S. 18. Foucault zitiert Borges‘ Gruppierungen: „a) Tiere, die dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte Tiere, c) gezähmte, d) Milchschweine, e) Sirenen, f ) Fabeltiere, g) herrenlose Hunde, h) in diese Gruppierung gehörige, i) die sich wie Tolle gebärden, k) die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind, l) und so weiter, m) die den Wasserkrug zerbrochen haben, n) die von weitem wie Fliegen aussehen.“ (S. 17) Dazu erläutert Foucault: Diese Tiere „könnten sich nie treffen, außer in der immateriellen Stimme, die ihre Aufzählung vollzieht, außer auf der Buchseite, die sie wiedergibt. Wo können sie nebeneinandertreten, außer in der Ortlosigkeit der Sprache?“ (S. 18 f.) 720 Daniel Defert: „Raum zum Hören“, a. a. O. 2005, S. 75.
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mit Logik ist die „konstitutive Erzeugung von Sinn aus genuin bildnerischen Mitteln“721 gemeint, wie sich im Anschluss an die Bilduntersuchungen von Gottfried Boehm sagen lässt. Ihm zufolge entstand im 18. Jahrhundert „die erfolgreichste und bis heute omnipräsente kognitive Bildform, nämlich das Diagramm“.722 Bilder – und damit auch szenografische Bildräume und Raumbilder – „benötigen keine … Rechtfertigung durch das Wort“, und „[j]enseits der Sprache existieren gewaltige Räume von Sinn, ungeahnte Räume der Visualität, des Klanges … und der Bewegung“.723 Denkt man diese Räume weiter und setzt sie fort als Räume, die (Er-)Kenntnis über etwas haben, erschließen sie sich auch als „Wissensräume“724 – als Räume, die Wissen zeigen und erzeugen. Foucault untersucht die Entstehungsbedingungen der neuen Wissenschaften, die sich im 19. Jahrhundert ausbilden (z. B. Biologie, politische Ökonomie etc.) mit Fokus auf die Episteme der Renaissance und die der Klassik: Es geht ihm um „die Möglichkeit eines Wissens, das auf der Grundlage der so genannten Ähnlichkeit der Dinge entstanden ist“.725 In der Renaissance 721 Boehm, Gottfried: Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens, Berlin: University Press 2007,
S. 34.
722 Ebd.,
S. 51. Diagramme können „eine ganz unglaubliche Veranschaulichung … zustande bringen … Sie versetzen das Abstrakteste … in eine visuelle Konfiguration, die zeigt, was man aus bloßen Zahlenkolonnen niemals lesen könnte.“ Mit „zeigen“ meint Boehm einen Sinn, der sich dem Auge eröffnet und Bedeutung stiftet: Es wird ermöglicht, „das eine im Lichte des anderen und wenige Striche beispielsweise als eine Figur zu sehen“ (S. 37). 723 Ebd., S. 53. 724 Einen systematischen Versuch zu „Wissensräumen“ unternimmt Hubertus Busche. Für das „Knowhow“ der Szenografie sind vor allem die weiter unten genannten Wissensraumtypen 1.) und 2.) relevant. Laut Busche kann Wissen, das mit Erkenntnis verbunden ist, sein: theoretisches Wissen, dass … (Know that), oder praktisches Wissen, wie … (Know how), oder Wissen, wie es ist … (Know to be). Ersteres ist wissenschaftliches Wissen, wohingegen das praktische Wissen auf ein Können (Sachkunde, Kunst, techné) zielt, und Letzteres ist ein Wissen im Sinne eines Kennens aus eigenem Erleben. Allen dreien kommen kognitive Vermögen hinzu: a) Wahrnehmung (aisthesis), b) Vorstellung/Imagination (phantasia) und c) gedankliche Einsicht (noesis), um Zusammenhänge zu erfassen; dies setzt Sprache und Erfahrung voraus. Je nachdem, ob sinnliche oder geistige Erkenntnis vollzogen wird, kommt der Raum in unterschiedlicher Weise ins Spiel (S. 23 ff.). Zu den „Verbindungen … in denen das Wissen zum Raum steht“, zählen die Typen: 1.) das leibliche Wissen, das auf Erkenntnissen körperlicher Prozesse/Bewegung beruht; 2.) Wahrnehmungen räumlicher Verhältnisse: Etwas als etwas erkennen, beinhaltet „Wissen von Räumlichem“ und gedankliche Einsicht. „Vorstellungsgebundenes Denken ist deshalb verräumlichtes Denken.“ (S. 26 f.) Hubertus Busche: „Wissensräume“, in: Joisten, Karen (Hg.): Räume des Wissens. Grundpositionen in der Geschichte der Philosophie, Bielefeld: transcript 2010, S. 17–30. 725 Ruoff, Michael: Foucault-Lexikon, Paderborn: Fink 2007, S. 28 ff. Foucault gibt an („Dits et Écrits“, Bd. 1, S. 644) aufzeigen zu wollen, „wie Gesellschaften mit der Ähnlichkeit zwischen den Dingen umgehen und wie die Unterschiede zwischen den Dingen beherrscht, zu Netzen angeordnet und durch rationale Schemata erfasst werden können“. Rouff erläutert weiter: In der Renaissance sind die Sprache und die Zeichen der Dinge durch eine „unendliche Verweisungsstruktur“ (Signaturenlehre) verwoben, die sich als „Indizien unsichtbarer Beziehungen (Ähnlichkeiten) zeigen“; „Natur und Text oder Schrift und Welt können so zusammenfallen“ und spannen ein „lesbares Netz“ auf. In der Klassik des 17. und 18. Jahrhunderts
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besteht eine Verbindung zwischen dem Sichtbaren und seinem Zeichen, die in der Klassik aufgebrochen wird: Nun ordnet die Sprache. Abstraktion überführt die „Ähnlichkeit der Dinge“ in Beziehungen und ordnet (diese Relationen) durch z. B. skalierbare Abstände, wie man es von Klassifikationsschemata der Botanik/Zoologie (vgl. Borges’ Taxonomie) kennt, von Diagrammen also, die der Modellbildung dienen. Diese Verknüpfungsarchitekturen entsprechen der Figur einer ins Räumliche übersetzen Wissensordnung und -inszenierung, und diese Denkfigur stiftet die Verbindung zur Szenografie. Das Theater, in dem die Szenografie wurzelt, hat von jeher sowohl einen Blick auf als auch in die Welt erlaubt und damit auch ein Wissen um sie und deren (Un-)Ordnung, die in Szene gesetzt wird, gehabt. Schon das „Gedächtnistheater“726 des Renaissance gelehrten Giulio Camillo (ca. 1480–1544), das sich als eine Szenografie verstehen lässt, war eine Art dreidimensionale begehbare Enzyklopädie. Nicht als Guckkasten, sondern als offene Raum-Bühne konzipiert, bot dieses in Holz gebaute Konzept einen Blick in die Welt. An diesem Theater kann exemplarisch ein Wissen, „das auf der Grundlage der so genannten Ähnlichkeit der Dinge entstanden ist“727, gezeigt werden. Camillo versuchte mit seiner „Idea del teatro“ etwas Unsichtbares sichtbar zu machen, nämlich die Struktur einer Weltordnung, doch kann, wie er schreibt, unsere Sprache nicht zur Welt durchdringen, sie nicht erfassen oder ausdrücken, es sei denn durch Zeichen oder Ähnlichkeiten, um von den sicht-
erfährt diese Struktur eine fundamentale Veränderung: Die Klassik antwortet „auf die Frage nach der Verbindung zwischen Zeichen und Bedeutung mit der Repräsentation“ – die Ähnlichkeit „aus gesehenen Zeichen auf der Oberfläche der Dinge und den gelesenen Worten“ bricht auseinander. Die Sprache verwandelt nun mithilfe der Grammatik „die Gleichzeitigkeit der Gedanken in die sprachliche Ordnung einer linearen Abfolge“ und pflegt einen bestimmten Diskurs (S. 28 ff.). Die neue Funktion des Tableaus für die Sprache macht es jetzt auch möglich, heterogene Inhalte zu verorten und „so zu strukturieren, dass sie auf einen Blick erfassbar werden“ (S. 204). Im 19. Jahrhundert ist Sprache weniger Diskurs als Interpretation oder Formalisierung. „Ein zentraler Befund in ‚Die Ordnung der Dinge‘ hält für die Moderne fest, dass der Abgrund zwischen Diskurs und Repräsentation zu einer Zersplitterung des Seins der Sprache geführt hat“ (S. 31). 726 Camillo erbaute sein, wie Lotman sagen würde, „sekundäres modellbildendes System“ in Anlehnung an den römischen Architekten Vitruv, aber er drehte die Blickrichtung um und bestückte die kreisförmig aufsteigenden Ränge und Sitzplätze (7 × 7 Bereiche) mit Bildern: „imagines agentes“, d. h. lebendige Erinnerungsanlässe, die den, der sich erinnert, bewegen/erschüttern – oder wie Hermann Schmitz oder Gernot Böhme sagen würden: ihn affektiv betroffen machen. Diese Bilder betrachtet der Besucher von der Bühne aus, was ihn zum handelnden Akteur macht. Im Gedächtnistheater wurden die Episteme und das gesamte Wissen der Welt durch mnemotechnische Bilder gespeichert, verortet, geordnet und performativ hervorgebracht – durch Ordnungs- und Ortungsmethoden, wie sie das menschliche Gedächtnis (Netzwerk) gebraucht: rhetorische Figuren, syntagmatische und paradigmatische Nachbarschaftsbeziehungen, Gedächtnisorte, Verknüpfungen, Ähnlichkeiten und Repräsentationen. Vgl. mein Projekt „Ulysses“ (1994), Inszenierung eines virtuellen Datenraums als Gedächtnistheater, in: KHM Köln (Hg.): Lab – Jahrbuch 1995/96 für Künste und Apparate, Köln 1996, S. 314–318. 727 Ruoff, Michael: Foucault-Lexikon, Paderborn: Fink 2007, S. 28.
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baren Dingen zum Unsichtbaren aufzusteigen.728 Ihm ging es darum, eine Ordnung zu schaffen, die das Gedächtnis erschüttert und sich über Assoziationen, Imagination und kombinatorische Fantasie herstellt, vor allem aber ging es ihm auch um die Erfindung von Wissen und von Ordnung.729 Womöglich lässt sich dieser Bereich mit jener Region in Foucaults Schrift „Die Ordnung der Dinge“ in Verbindung bringen, die er als „Mittel-Region“ bezeichnet: eine Substruktur, die unterhalb der bestehenden Ordnung und unsichtbar zu ihr existiert 730. Zur Erfindung von Wissen und Ordnung ist eine Denkweise „jenseits von Abbildlichkeit, begriffslogischer Deduktion und berechenbarer generatio“731 vonnöten, und nicht zuletzt bedarf es auch einer Rezeptionsform, die den Blick nicht in einen Fluchtpunkt verengt, sondern ihn auffächert, was sich im architektonischen Grundriss des Gedächtnistheaters widerspiegelt: Die Theatron-Form732 gibt dem Blick freien Raum, den der Rezipient optisch abtasten kann. Das Gedächtnistheater ist eine Heterotopie, denn es unterläuft, indem es die Zentralperspektive aushöhlt, die bestehende Ordnung der Blickrichtung und damit den gesamten Diskurs, es bringt Beziehungsgefüge zur Vorstellung, die syntagmatische Ordnungen bestreiten, wodurch Räume (Räumlichkeiten) entstehen, die Wissen zeigen, erzeugen und inszenieren. 728 Camillo, Giulio/Bolzoni, Lina (Hg.): L‘idea del teatro, Palermo: Sellerio 1991, S. 49. Camillo führt
weiter aus, „der Ordnung eine Ordnung … geben“ und das Wissen „als Schauspiel oder besser als Theater“ den Forschern vor Augen stellen zu wollen (S. 58). 729 Camillo konfiguriert nicht nur die bestehende Sehordnung und die Raumordnung von Wissens neu, sondern er eröffnet dem Rezipienten auch neue Einsichten: einerseits in einen Arkan-Bereich, indem er nämlich die in den Rängen platzierten Bilder sehr stark – auch allegorisch – verrätselt. Und dies, um andererseits den Rezipienten zu befreien, d. h. ihm zur Einsicht zu verhelfen, dass es neben der (An-)Ordnung („dispositio“) vor allem auch um die Erfindung („inventio“) von Wissen und von Ordnung geht (ebd., S. 58ff). Man könnte sagen, dass Camillo mit seinem Gedächtnistheater eine Art „Interface-Design“, eine dreidimensionale „Oberflächenprogrammierung“ entworfen hat; vgl. Peter Matussek: „Der Performative Turn: Wissen als Schauspiel“, in Fleischmann, Monika/ Reinhard, Ulrike: Digitale Transformationen: Medienkunst als Schnittstelle von Kunst, Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft, Heidelberg: Whois 2004, S. 90–95. Zur Beziehung zwischen Gedächtnistheater und heutigem Interface-Design siehe weiterführend Peter Matussek: „Computer als Gedächtnistheater“, in: Darsow, Götz-Lothar (Hg.): Metamorphosen. Gedächtnismedien im Computerzeitalter. Stuttgart: Frommann-Holzboog 2000, S. 81–100. Matussek weist darauf hin, dass einerseits durch Steve „Jobs … die alte Erkenntnis, daß bildbasierte Topiken die höchste mnemotechnische Effizienz aufweisen, für den Computermarkt erneuert“ wurde. „Daß es sich dabei um eine historische Reprise handelte, ist von Apples Human Interface Group niemals reflektiert worden.“ Und andererseits, so Matussek, „daß bei dieser Zunahme an adressierbaren Speicherorten die Memorialarchitektur der Desktop-Metapher aus den Fugen geraten muß – so wie es den klassischen Gedächtnispalästen ja auch widerfuhr, als sie in der Nachantike durch die Menge des aufgezeichneten Wissens gleichsam gesprengt wurden. … Augustinus antizipierte auch schon die Lösung des Problems: den Perspektivenwechsel vom fixierten Standort innerhalb der klassischen Memorialarchitektur, die die einzelnen Gedächtnisorte wie von einer Wachstafel abliest, hin zur freien Bewegung im Raum“. 730 Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge, a. a. O. 1997 (1966), S. 23 f. 731 Keller-Dall‘asta, Barbara: Heilsplan und Gedächtnis, Heidelberg: Winter 2001, S. 204. 732 Vgl. Kapitel 2.
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Das Können und Wissen des Szenografen wird hier als eine Raumtechnik im Sinne eines Verfahrens erkennbar, das aus Formen räumlichen Denkens733 hervorgeht und zwischen „Denken und Wirken“734 oszilliert. Das, was einerseits der Szenograf zeigt und im Raum installiert und was andererseits der Rezipient wahrnimmt und erzeugt, ist eine relationale und topologische Räumlichkeit (dem Arbeitsbegriff nach eine „Szenotopie“), in der Raum als Lagebeziehung735 verhandelt wird. Hier wird die Verbindung zwischen Sprache und Raum nochmals erkennbar und damit die Szenografie als eine Raumsprache, der als strukturelles Ensemble von Relationen ein (hetero-)topologisches Raumverständnis zugrunde liegt. Dies lässt sich auch anhand des Projekts „Ghost Machine“ von Cardiff/ Miller veranschaulichen. Diese dem Titel nach gespenstische Theater- oder Geistermaschine ist auch eine Art Gedächtnistheater, das aber eher diagrammatisch zu lesen ist, denn die „Ordnung der Dinge“ wird hier in ein abstraktes Gefüge unterschiedlicher Beziehungen und Ebenen (Raum- und Zeitebenen) überführt. „Ghost Machine“ spannt durch heutige Medien (Video, Ton) und medial räumliche Mittel („videowalk“) einerseits sowie durch die aktive Bewegung des Rezipienten andererseits ein semantisches Netz im Hebbel-Theater auf. Es folgt weder den Regeln der Grammatik noch denen der üblichen Rezeption (vom Zuschau733 Für
Foucault ist gebaute Architektur eine, wie er sie nennt, „Wissensform“. In einem Gespräch mit P. Rabinow über Raum, Wissen und Macht erklärt er – auf die Feststellung hin, dass er in der Schrift Die Ordnung der Dinge „frappierende räumliche Metaphern zur Beschreibung von Denkstrukturen benutzt“ habe –, dass es sich bei Klassifikationsschemata nicht um Metaphern, sondern um „Techniken des Raumes“ handelt. Er meint damit die „von den Griechen so genannte techné, also eine … von bewussten Zielen geleitete … praktische … Rationalität“. Foucault spricht demnach von einer Inszenierungsstrategie, und als eine solche wurde die Szenografie bereits analysiert (siehe Kapitel 3.1 „Szenosphäre“). Auf die Frage, um welche Wissenschaft es sich bei Architektur handele, führt Foucault im Interview mit Rabinow weiter aus, dass er in ihr „wie in der Praxis des Regierens und in der Praxis anderer Formen sozialer Organisation“ eine techné erblicke, „die gewisse Elemente der Physik oder Statistik zu nutzen vermag“. Zum Regieren gehöre neben politischem Führen auch „die Führung von Individuen, … die Leitung der Familie“. Foucault, Michel: „Raum, Wissen und Macht“, in: Foucault, Michel/Defert, D., Ewald F. (Hg.): Dits et Écrits, Bd. 4, 1980–1988, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005, S. 339 ff. Aus der Perspektive der hier vorliegenden Arbeit gehört dazu auch die Führung von Akteuren und Besuchern, also das räumliche Regieführen: die Szenografie. 734 Ernst Cassirer: „Form und Technik“, in Cassirer, Ernst/Orth, Ernst Wolfgang (Hg.): Symbol, Technik, Sprache: Aufsätze aus den Jahren 1927–1933, Hamburg: Meiner 1985, S. 52. Ihm zufolge ist alle „geistige Bewältigung der Wirklichkeit … an [einen] Akt des ‚Fassens‘ gebunden: an das ‚Begreifen‘ der Wirklichkeit im sprachlich theoretischen Denken und an ihr ‚Erfassen‘ durch das Medium des Wirkens; an die gedankliche wie an die technische Formgebung“. 735 Laut Foucault wird die „Lage … bestimmt durch Nachbarschaftsbeziehungen zwischen Punkten oder Elementen“. Mit einem Verweis auf die moderne Informationstechnologie weist er auf die Speicherung von Information hin: auf das Auffinden von markierten und codierten Elementen „innerhalb einer Menge, die entweder eine Zufallsverteilung aufweist oder durch eindeutige bzw. mehrdeutige Zuordnungen geordnet ist“. Michel Foucault: „Von anderen Räumen“, in: Günzel, Stephan/Dünne, Jörg (Hg.): Raumtheorie, a. a. O. 2006, S. 318.
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erraum aus), sondern diagrammatisch den Beziehungen zwischen Inhalt und Bedeutung. Raum konstituiert sich als eine topologische Informationsstruktur, womit Cardiff/Miller das zum Ausdruck bringen, was Foucault beobachtet: „Wir sind in einer Epoche …, in einem Moment, wo sich die Welt weniger als ein großes, sich durch die Zeit entwickelndes Leben erfährt, sondern eher als ein Netz, das seine Punkte verknüpft und sein Gewirr durchkreuzt“736. „Ghost Machine“ bietet uns Raum in Form von Relationen der Lage dar und macht die heutige Zeit gleichsam als Relationen-Ensemble präsent und erfahrbar. Dazu werden verschiedene Orte, Räume und Zeiten zusammengebracht 737. Das Hebbel-Theater trifft mit „Ghost Machine“ auf eine Theatermaschine, d. h auf einen „videowalk“, der Wirklichkeit als (Informations-)Struktur inszeniert. Foucault hat für Strukturentsprechungen und topologische Ordnungen die Bezeichnung „Diagramm“ gebraucht 738, womit sich die Annahme, dass eine Szenografie als eine Art 3-D-Diagramm gelesen werden kann, nochmals untermauern lässt. „Im Einklang mit dem semiotischen Diagrammbegriff von Charles S. Peirce wird damit eine Ähnlichkeitsbeziehung bezeichnet, die nicht auf einer Identität der Erscheinung (ikonische Ähnlichkeit) beruht, sondern auf struktureller Homologie: Eine architektonische Skizze … oder auch Karten werden daher nicht als Abbilder der Welt auf ihre Repräsentativität hin befragt, sondern als Ausdruck eines konstitutiven Relationsgefüges angesehen“739; dies ist auch bei Litmans Denkmodell (vgl. Kapitel 3.1.4) der Fall. In „Ghost Machine“ sind es vor allem Medien (Ton und technische Bilder: Video), ist es der „videowalk“, durch den sich das ins Räumliche übersetzte Relationsgefüge konstituiert. Die Struktur dieses Gefüges kann Aufschluss darüber geben, wie durch ein Relationsgefüge (hier durch „Ghost Machine“) eine Beziehung zum Rezipienten hergestellt werden kann und die Raumtechnik des Szenografen funktioniert: Cardiff/Miller ordnen die bereits erwähnten Orte, Räume und Zeiten, indem sie sie durch ein Abstraktionsschema erfassen; und das diagrammatische Netz, 736 Foucault:
„Andere Räume“, in Barck, Karlheinz: Aisthesis, a. a. O. 1993, S. 34. Orte sind das Hebbel-Theater selbst (das als Guckkastentheater konzipiert ist), der Außenraum und Stadtausschnitt Berlins (vom Balkon aus zoomt man auf die öffentliche Straße) und Orte, die für die Dauer der Aufführung real erscheinen (Tatorte/kriminalistische Szenen sowie Erinnerungsorte, z. B. Keller oder Dachboden). An dieser Stelle sei auf Bachelard verwiesen, denn er setzt sich mit dem – wie er es nennt – „Sinne der Hütte“ auseinander: mit dem Haus vom Keller bis zum Dachboden. Bachelard, Gaston: Poetik des Raumes, München: Hanser 1960, S. 40. Er geht in seiner „Topos-Analyse“ von früh prägenden räumlichen Erinnerungs-, Raum- und Ordnungsstrukturen aus. Zimmer und Haus seien „Diagramme der Psychologie, welche die Schriftsteller und Dichter in der Analyse der Innerlichkeit leiten“ (S. 70). Hierzu sei angemerkt, dass dies gleichermaßen für die Praktiken eines Szenografen gelten kann. 738 Stephan Günzel in: Günzel, Stephan (Hg.): Topologie: Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften, Bielefeld: transcript 2007, S. 20 f., mit einem Verweis auf Foucaults Schrift Überwachen und Strafen. 739 Ebd. 737 Die
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das die dazu anordnen, ist einfach die spezifische dramaturgische Abfolge/Auswahl der verschiedenen realen, imaginativen, medialen Orte und Wirklichkeitsebenen, die jede Kategorie mit allen anderen verbindet. Durch diese Abfolge/ Auswahl und ihre freie Setzung kommt es zu Zusammentreffen, die in der Realität niemals möglich wären. Relationsverhältnisse und Übertragungen werden ermöglicht, und so treffen z. B. reale auf imaginierte Orte und verschiedene Zeiten aufeinander: Das Videobild beispielsweise, das eine Kellertreppe zeigt und dem man folgt, ist nicht als ein (Ab-)Bild, sondern als ein Konzept 740 zu verstehen, und so kann der reale Weg in den Keller des Theaters gleichzeitig der imaginierte Weg in den „Keller der eigenen Kindheit“ werden und somit zu einem Weg der Angst (die Stimme spricht vom gefürchteten Gang in den Keller, um den Eltern seinerzeit Kohlen hochzubringen); man will den Keller tatsächlich – so wie in Kindertagen – schnell wieder verlassen. Der ausgewählten Struktur/Kommunikationsform dieses Relationsgefüges liegt also ein Inhalt im Sinne einer bestimmten Funktion/Absicht zugrunde, und die eingesetzten Mittel (Video) sind entsprechend nicht als Repräsentationen zu verstehen, sondern als „Begriffe“, wie sich im Anschluss an Vilém Flusser sagen lässt. Er untersucht in seiner Schrift „Kommunikologie“ diskursive und dialogische Kommunikationsformen741 sowie technische Bilder (Fotografie, Video, Verkehrszeichen, Kurven und Diagramme etc.), die er als „Technobilder“ bezeichnet und die ihm zufolge keine Bilder bedeuten, sondern Verhältnisse aufzeigen und somit Texte/Begriffe bedeuten742. Insbesondere durch diese Begriffe (die sich vor allem die Massenmedien, deren Kommunikation er als „Amphi740 Vgl.
Flusser, Vilém/Bollmann, Stefan (Hg.): Kommunikologie, Frankfurt a. M.: Fischer 1998, S. 138 ff. 741 Zu den diskursiven Kommunikationsformen/-strukturen gehören Theater-, Pyramiden-, Baum- und Amphitheaterdiskurse (ebd., S. 21–29), zu den dialogischen die Kreis- und Netzdialoge (S. 29–34). Im „Amphitheaterdiskurs“ (Beispiele dafür sind die Massenmedien Presse, Fernsehen/Video, Plakate etc.) geht es um Aussendung von Information, Informationserhaltung und darum, den Empfänger auf die gesendete Information hin zu programmieren (S. 27 ff.). Im Theaterdiskurs geht es aber mehr darum, „die Empfänger der verteilten Information für diese Information verantwortlich zu machen und sie zu künftigen Sendern zu machen“ (S. 21 f.). Auch wenn „kein echter Dialog stattfindet, ist die aktive Beteiligung des [Rezipienten] … gegeben“ (S. 281). Hingegen ist die dialogische Kommunikationsstruktur „Netzdialog“ (das Grundnetz aller Kommunikation) als „offene Schaltung“ zu verstehen und „in diesem Sinne auf authentische Weise demokratisch“; es geht darum, „neue Information aus vorhandenen zu synthetisieren“ – (freie) Meinung kann entstehen (S. 32 ff.). 742 Ebd., S. 140 f. Zum Beispiel bedeutet ein Reklamebild nicht das, was es abbildet, sondern „Kauf mich!“. Die Verbindung zur „Ordnung der Dinge“ von Foucault kann mit einem Hinweis von Flusser nochmals verdeutlicht werden: Flusser stellt die „reine Begrifflichkeit“ als das Ziel heraus, „auf das die Geschichte seit der Erfindung der Schrift zusteuert“ (S. 136). Die Beziehung zwischen Bild und Text, Imagination und Konzeption veranschaulicht er an Leonardo da Vinci, dem „eine ‚phänomenologische‘ Wissenschaft [vorschwebte], deren Begriffe Bilder von Szenen und nicht ‚reine Verhältnisse‘ bedeuten, in der Akustik mit einem singenden Vogel und nicht mit Schwingungskurven zu tun hat“ (S. 161).
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theaterdiskurs“ bezeichnet, zunutze machen) sei die Kommunikation kodifiziert und die Realität des Alltags bestimmt.743 Was passiert, wenn eine diskursive und eine dialogische Kommunikationsform aufeinandertreffen und technische Bilder zum Einsatz kommen, zeigt sich in der Praxis wie folgt: „Ghost Machine“ unterläuft die diskursive Kommunikationsstruktur des Hebbel-Theaters, weil es strukturell als offener Netz-Dialog konzipiert ist – es (re-)präsentiert das Theater und zugleich stellt es das Theater infrage und verkehrt es raumstrukturell. Mit dieser Kommunikationsstruktur weisen die Künstler zum anderen (in funktionaler Hinsicht) möglicherweise auf das hin, was Flusser diagnostiziert und als eine Raumstrategie (mit der Cardiff/Miller spielen) bezeichnet werden kann: „Charakteristisch für unsere Lage ist … vor allem die Synchronisation von technisch hochentwickelten Amphitheaterdiskursen mit anarchisch gebliebenen, aber immer besser bearbeitbaren Netzdialogen – eine totalitäre Entpolitisierung bei scheinbar allgemeiner Partizipation“744. Betrachtet man das Relationsgefüge, das Cardiff/Miller im Hebbel-Theater aufspannen, vom strukturalen Standpunkt aus, erschließt es sich als ein Möglichkeitsraum und eine netzwerkartige Wissensarchitektonik, die diagrammatisch lesbar ist. Folgt man den Annahmen von Hans-Jörg Rheinberger, kann man eine Szenografie als ein „epistemisches Ding“ oder „Wissensding“ deuten, zumal ein Szenograf „arbiträre Arrangements“745 entwirft und es sich bei einer Szenografie immer auch um eine experimentelle Anordnung handelt. Wissens- oder epistemische Dinge, wie Rheinberger sie bezeichnet, sind „nicht unbedingt Objekte im engeren Sinn, es können auch Strukturen, Reaktionen, Funktionen sein … [, und sie] präsentieren sich … in einer für sie charakteristischen, irreduziblen Verschwommenheit und Vagheit“.746 In der Praxis ist ein auf ein Blatt Papier ge743 Ebd.,
S. 49.
744 Ebd., S. 34. „Nur Netzsysteme [können] den Massenmedien die Stirn bieten“ (S. 288). „Die Masse
dialogisiert nicht im griechischen Sinn, weil sie ständig von Diskursen berieselt wird und daher nur über Informationen verfügt, die für alle ausgestrahlt wurden“ (S. 292). Siehe zu Flussers Medientheorie auch Christians, Heiko: Crux Scenica, a. a. O. 2016, S. 252-257. Sowie Bohn, Ralf/Wilharm, Heiner (Hg.): Inszenierung und Politik, a. a. O. 2015, S. 20 f. 745 Siehe Ausführungen im Kapitel „Szenosphäre“ und Martin Seel: „Inszenieren als Erscheinenlassen“, in: Früchtl, Josef/Zimmermann, Jörg (Hg.): Ästhetik der Inszenierung: Dimensionen eines künstlerischen, kulturellen und gesellschaftlichen Phänomens, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001, S. 52. 746 Rheinberger, Hans-Jörg: Experimentalsysteme und epistemische Dinge: eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Göttingen: Wallstein 2002, S. 24 f., 53. Epistemische Dinge verkörpern „das, was man noch nicht weiß“. Ein Diagramm versteht Rheinberger als „Überblicks-Schema“. Das Experiment als eine Suchbewegung ist stets Bestandteil künstlerischer Forschung; er führt dazu auf einer Konferenz aus: Das „Grundproblem [des Forschens] besteht darin, dass man nicht genau weiß, was man nicht weiß. Damit ist das Wesen der Forschung kurz, aber bündig ausgesprochen.“ Die Suchmaschine (das Experiment) „erzeugt Dinge, von denen man immer nur nachträglich sagen kann, dass man sie hätte gesucht haben müssen.“ Hans-Jörg Rheinberger hielt den Vortrag „Experiment, Forschung, Kunst“ auf der Jahreskonferenz 2012 der Dramaturgischen
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zeichnetes Diagramm einerseits eine Art endogene 747 Suchbewegung und andererseits deren Externalisierung sowie ein Überblicksschema, das mögliche Zusammenhänge (gefundene Gründe), räumliche und zeitliche Abläufe grafisch darstellen kann, wie sich aus eigener künstlerischer Empirie sagen lässt (vgl. Kapitel 1.1, mein dortiges Entwurfsdiagramm zum Projekt VIA). Diagramme und Szenografien – wenn man sich eine Szenografie als eine Art begehbares 3-D-Diagramm vorstellt – können als Formen eines künstlerisch topologischen relationalen Denkens bezeichnet werden, und für den Szenografen können es der Art nach deiktische 748 Sinnbildungsinstrumente sein, die topografisch und topologisch verfahren. Als Raumpraktiken und als Praktiken, sich Raum (und damit auch Wissen) anzueignen, notieren sie strukturelle Verwebungen, entwerfen Möglichkeiten oder behaupten etwas, und den Verbindungen wird eine gewisse „Netzspannung“ verliehen, indem Knotenpunkte gesetzt werden (im szenografischen Parcours können das die einzelnen Stationen sein, die der Rezipient abläuft: die „Stops“ im „Go“). Als bislang kaum untersuchte Gestaltungsmittel749 sequenzieren und takten sie den Ablauf und machen das spatiale Relationsgefüge als Verräumlichung der Zeit interpretierbar, d. h. diagrammatisch lesbar. Erkenntnistechnisch sichtbar kann ein Relationsgefüge durch einen Graphen werden. In einem solchen werden mathematische Funktionen, wird Sinn visualisiert, demnach können z. B. die Positionen des Szenografie-Besuchers als eine Funktion der Zeit 750 sichtbar gemacht werden. Durch die Übersetzung in ein abstraktes Relationsgefüge kann sich Raum (Räumlichkeit) strukturell veranschaulichen als z. B. Gesellschaft, International Performing Arts Festival am Oldenburgischen Staatstheater, wo über das Verhältnis des Theaters insbesondere zu den Naturwissenschaften konferiert wurde. 747 Vgl. Endogene in der Botanik: Kräfte im Pflanzen- oder Erdinneren, die neue Pflanzenteile entstehen lassen, mitunter Nebenwurzeln. Neben- bzw. Vielwurzler (z. B. Efeu) sind sogenannte Radikanten, siehe dazu Ausführungen im Kapitel 3.1.4 mit Hinweis auf Nicolas Bourriauds Schrift Radikant. 748 Vgl. Gottfried Boehm: Die Hintergründigkeit des Zeigens. Deiktische Wurzelns des Bildes, in: Boehm, Gottfried: Wie Bilder Sinn erzeugen: die Macht des Zeigens, Berlin: University Press 2007, S. 19–33. 749 Kunstwissenschaftliche Untersuchungen zur Diagrammatik als künstlerische Praxis und Wissens produktion liegen kaum vor. So schreibt etwa Astrit Schmidt-Burkhardt in ihrer Schrift (Die Kunst der Diagrammatik. Perspektiven eines neuen bildwissenschaftlichen Paradigmas, Bielefeld: transcript 2012, S. 7): „Seit der Jahrtausendwende sind verstärkt Versuche unternommen worden, die Koordinaten der Diagrammatik zu vermessen. Allerdings wurde die Universalgeschichte des Diagramms noch nicht geschrieben, weder für die Philosophie noch für die Literatur- und schon gar nicht für die Kunstwissenschaft.“ Mit der 2015 erschienenen Schrift von Heiner Wilharm: Die Ordnung der Inszenierung (Bielefeld: transcript) könnte sich dieser Zustand geändert haben; unter der Überschrift „Raumstrategie & Entwurfsdiagrammatik“ (Kapitel III) werden grundlegende Erkenntnisse zur Topologie, Diagrammatik, szenografischen Modellierung und diagrammatischen Entwurfsgestaltung geliefert. 750 Im zeit- und richtungsweisenden Parcours der Szenografie findet Handlung statt, hier „verschmelzen räumliche und zeitliche Merkmale zu einem … konkreten Ganzen“ – zu einem „Chronotopos“, wie sich mit Bachtin sagen lässt. Bachtin, Michail M.: Chronotopos. Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008, S. 7.
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Prozess, Modell, Liste, Partitur, Graph, Diagramm, U-Bahn-Plan etc. Oder ein dergestalt strukturell transformierter Raum kann sich auch im oder als Theater zeigen: als „Ghost Machine“. Die Idee, Raum als operationalisierende Figur, d. h. als eine Art Netzwerk in Form einer Wissensarchitektonik zu präsentieren, findet sich bereits bei Jacob Levy Morenos „Soziometrie“ und seinem Stegreiftheater wie auch bei Wsewolod Meyerholds „Szenometrie“ und seiner Biomechanik in den 1920er Jahren – wie im folgenden Kapitel ausgeführt wird.
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3.2.2 Das Zwischenzeilige und die Écriture Die szenografisch inszenierte topologische Räumlichkeit, die sich über eine Menge von Relationen definiert 751, ist als eine Raumsprache lesbar, die im Folgenden im Hinblick auf ihre „Theatralität“752 und Inszenierungspraktik untersucht wird. Zur Frage, wie Relationsgefüge räumlich inszeniert und wahrgenommen werden und theatralisieren können, werden zunächst Jacob Levy Morenos753 „Soziometrie“, Wsewolod Meyerholds754 „Szenometrie“ und Stéphane Mallarmés755 textuelle Bewegungsstrukturen untersucht. Der Begriff „Écriture“, der von Roland Barthes genutzt wird, wird dann weiterführen, um zu verstehen, warum der Theaterwissenschaftler Patrice Pavis die Szenografie als eine „écriture dans l’espace“ bezeichnet: Das erweiterte Textverständnis der Szenografie, das mit einem erweiterten Raumverständnis einhergeht, hat nicht zum Ziel, Dramentexte zu visualisieren, sondern „des espaces autres“ zu schaffen.756 Diese „anderen Räume“ (siehe Kapitel 3.2.1) können als Bewegungen verstanden werden, die „diskursive[] und repräsentationslogische[] Grenzen“ überschreiten und als offene Bedeutungsprozesse im Denken, Schreiben oder Agieren wirken können, wie sich mit Petra Maria Meyer sagen lässt.757 Die Szenografie kann vor diesem Hintergrund als eine Raumsprache verstanden werden, deren Sinn weniger im Buchstäblichen liegt als vielmehr intertextuell (zwischen Wort und Raum) hervorgebracht wird. Dabei sind das szenografische Arrangement sowie die Bewegung des Wahrnehmenden Voraussetzung für das Sujet (Handlung/Ereignis), und der Szenograf erweist sich als eine Art „traceur“ – Vorzeichner – des Parcours. Dieser Parcours bzw. dieses durch räumliche Mittel inszenierte spatiale 751 Diese
szenografisch inszenierte topologische Räumlichkeit ist das, was einerseits der Szenograf herstellt und andererseits der Rezipient wahrnimmt und mit dem Arbeitsbegriff „Szenotopie“ bezeichnet wird. 752 Vgl. Petra Maria Meyer: „Der Raum, der Dir einwohnt. Zu existentiellen Klang- und Bildräumen“, in Bohn, Ralf/Wilharm, Heiner (Hg.): Inszenierung und Ereignis: Beiträge zur Theorie und Praxis der Szenografie, Bielefeld: transcript 2009, S. 110 ff. 753 Jacob Levy Moreno (1889–1974, österreichisch-amerikanischer Arzt und Psychiater, Soziologe und Regisseur) begründete das Psychodrama und die Soziometrie. Mitte der 1920er Jahre wanderte er in die USA aus, wo ein seine Forschungen fortsetzte. 754 Wsewolod Meyerhold (1874–1940, russischer Theaterregisseur und Schauspielschulleiter) begründete die Szenometrie und wandte eine Ausbildung („Biomechanik“) an, die Bewegungsstrukturen und Körperhaltungen zum Inhalt hatte. 755 Stéphane Mallarmé (1842–1898, französischer Sprachforscher, Poet) veröffentlichte u. a. visuelle Poesien/szenografische Typografien. 756 Ebd., S. 110. Für ihre Forschungen erwies sich, wie sie schreibt, „ein offener Theatralitäts-Begriff als fruchtbarer Suchbegriff“. Entsprechend nutzt sie, wie sie weiter ausführt, „seit 1996 eine Definition von Roland Barthes, ‚Qu‘est-ce que théâtraliser? Ce n‘est pas décorer la représentation, c‘est illimiter le langage‘“, die ihr „die Berücksichtigung einer Vielzahl unterschiedlicher Untersuchungsgegenstände von Performance Art über Film und Fernsehen bis zur Videokunst ermöglichte“. 757 Ebd.
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Geflecht wird durch die Bewegung des Rezipienten, d. h. „von der Zeit mit Sinn erfüllt“ (Bachtin), womit gleichsam die Schnittstelle zum nächsten Unterkapitel benannt ist, in dem die Szenografie als Raum-Zeit-Beziehung untersucht wird. Relationsgefüge können auf verschiedene Weisen theatralisieren, räumlich inszeniert und wahrgenommen werden, und die Arbeiten von Moreno und Meyerhold sind insofern für die vorliegende Untersuchung aufschlussreich, als an ihnen Raumsprachen sichtbar werden, durch die Raum (Räumlichkeit) strukturell transformiert wird. Zudem stehen ihre Arbeiten in Verbindung mit Friedrich Kieslers Raumbühne, und dessen Werk steht im Mittelpunkt der Betrachtungen von Kapitel 4. In Morenos Stegreiftheater758, das er als „Theater ohne Zuschauer“ bezeichnete, wird der Raum (die räumliche Dimension des Lebens) als eine Art soziales Netzwerk und Maßverhältnis gedacht und optisch visualisiert, wie seine Skizzen und ein Modell im Wiener IAT-Katalog759 zeigen. Jacob Levy Moreno gilt als Begründer des Psychodramas, der Soziometrie und als Mitbegründer der Gruppenpsychotherapie. Er gründete 1922/23 in Wien das Stegreiftheater, aus dem sich das Psychodrama entwickelte. In seiner Funktion als Arzt und Psychiater setzte er das Psychodrama ein, das „als psycho- und sozialtherapeutische Aktionsmethode eine besonders lebensnahe Form der Gruppenpsychotherapie dar[stellt]“ und dem die „von Moreno empirisch entwickelte Soziometrie als Lehre der zwischenmenschlichen Beziehungen zugrunde“ liegt.760 Sein handlungsorientierter Ansatz ermöglicht es, mittels Szenen die eigene Lebensgeschichte und soziale Rolle innerhalb einer Gruppe im Hinblick auf (un-)mögliche Handlungsfreiheiten zu bearbeiten; Ziel ist die „Aktivierung und Integration von Spontaneität und Kreativität“.761 Sein Anliegen, durch Handeln die Wahrheit der Seele zu ergründen, bezieht sich „auf die Menschheit als Ganzes“, die Zukunft und (Neu-)Orientierung der Gesellschaft hänge von der „kreativen und destruktiven Interaktion einzelner Menschen in Gruppen ab“ und von verschiedenen Gruppen untereinander.762 „Das Psychodrama ‚ist Einladung zu einer Begegnung‘ – im Spiel“763, und die Bedeutung seines „théatre immé-
758 Das
Stegreiftheater wurde (als Modell) parallel zu Kieslers Raumbühne auf der internationalen Theater-Ausstellung (IAT) Wien 1924 präsentiert, was zu einem Rechtsstreit zwischen Moreno und Kiesler führte. Moreno sah in der Raumbühne einen Nachbau seines Stegreiftheaters. 759 Kiesler, Friedrich (Hg.): Katalog/Programm/Almanach: Internationale Ausstellung neuer Theatertechnik im Rahmen des Musik- und Theaterfestes der Stadt Wien, Wien: Würthle 1924, S. 67. 760 Leutz, Grete: Das klassische Psychodrama nach J. L. Moreno, Berlin u. a.: Springer 1974, S. 4. 761 Moreno, Jacob L.: Gruppenpsychotherapie und Psychodrama. Einleitung in Theorie und Praxis, Stuttgart: Thieme 2008 (1959), S. 34. 762 Leutz, Grete: Das klassische Psychodrama nach J. L. Moreno, a. a. O. 1974, S. 1 f. 763 Ebd., S. 66.
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diat“ lag ihm zufolge „in der Wirkung des spontanen Spielens“764. Dabei ist das „Soziogramm … die graphische Darstellung der dynamischen emotionalen Tiefenstruktur einer Gruppe“.765 Moreno untersucht also gesellschaftliche und individuelle „Lebensbedingungen und Verfasstheiten“, die zum einen soziometrisch ((Macht-)Positionen im Sozialraum) und zum anderen an den Rhythmus der Zeit gebunden sind.766 Die Darstellung dieser „Beziehungsgeflechte und Bewegungen“ gelingt ihm durch Partituren, die mittels Kurven und Geraden Erlebnis- und Bewegungslagen grafisch visualisieren, und die architektonische Übersetzung dieser Darstellung wird durch eine Raumbühne realisiert, die viele gleichwertige Spielzentren in Form von unterschiedlich erhöhten Spielpodien (Einzelrosetten) beinhaltet.767 Er ist bestrebt, die „Zeit-Räume des Lebens als Szenenraum der Begegnung“ und Bewegung strukturell zu denken und darzustellen768, und seine raumsoziologischen Forschungen untersuchen Raum als ein aus dem (Er-)Leben hervorgebrachtes Relationsgefüge. Diesem Gefüge geht er im freien Spiel mit Schauspielern und Laien nach, und in seinem „Theater ohne Zuschauer“ (in dem jeder Dichter, Schauspieler und Zuschauer in einer Person sein konnte)769 geht es nicht länger um Theatertexte, sondern um Teilnahme, dabei stehen der Körper und die Bewegung im Mittelpunkt 770 – es wird nicht durch sprachliche, sondern durch räumliche Mittel kommuniziert und theatralisiert. Der russische Regisseur Wsewolod Meyerhold771 führt in derselben Zeit (1920er Jahre) das Fach „Szenometrie“ an seiner Schauspielschule ein. Dieses Fach steht in enger Verbindung mit dem Fach „Biomechanik“, in dem Bewegungsstrukturen und Körperhaltungen gelehrt werden, und es ist kein sprachliches, sondern ein tänzerisches Ausdrucksfach: Beziehungsstrukturen, der Raum (des Körpers des Schauspielers auf der Bühne) und der Textraum (der durch den Schauspieler gesprochene Theatertext) werden als eine Art kinesphärisches772 764 Ebd.,
S. 31. S. 7. 766 Brigitte Marschall: „Jakob Levy Morenos Theaterkonzept: Die Zeit-Räume des Lebens als Szenenraum der Begegnung“, in: Szenenaufbau und Aufstellungen. Zeitschrift für Psychodrama und Soziometrie, Heidelberg: Springer VS, Vol. 4, Nr. 2, 2005, S. 229–243, hier S. 229. 767 Ebd. 768 Ebd. 769 Ebd., S. 230. 770 Ebd., S. 239. 771 Er arbeitete auch mit El Lissitzky zusammen, dabei wurde nach „grundsätzlichen architektonischen Lösungen für ein neues Theater“ jenseits der Guckkastenbühne gesucht. Lissitzkys Entwurf verband das Theater mit dem Leben: Eine Rampe führte aus dem Theater und mündete in eine öffentliche Straße; Kieslers Raumbühne (siehe Kapitel 4 der vorliegenden Arbeit) war mithin Ausgangspunkt für diese Konzeption, wie sich im Anschluss an Hemken sagen lässt. Hemken, Kai-Uwe: El Lissitzky: Revolution und Avantgarde, Köln: DuMont 1990, S. 166–169. 772 Die Kinesphäre ist der Umraum des Körpers bzw. die Bewegungssphäre, die den Tänzerkörper stets umgibt und so weit reicht, wie die Gliedmaßen reichen, vgl. die Bewegungsstudien von 765 Ebd.,
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Netzwerk übersetzt.773 Im Lehrfach Szenometrie geht es um die architektonische Übersetzung dieses Netzwerks: die Realisierung mittels Bühnenbauten774, die die Bewegungsstrukturen der Schauspieler szenografisch beschreiben, es geht also um den „Aufbau von Arrangements“775 und deren Metrie (die Metrik betreffend). Für Meyerhold sind Worte „nur Muster im Gewebe der Bewegungen“776, und so gilt es das auszudrücken, was die Sprache nicht vermag: das Unsagbare 777 und Unsichtbare, das sich in keine Syntax fassen lässt. Ziel ist es, eine Sprache jenseits von Textualität und Verbalität zu entwickeln, d. h. einen Ausdruck, der sich durch den Körper in Form von tänzerischen und auch pantomimischen Bewegungen konstituiert.778 Diese zwei Modelle, Morenos wie Meyerholds, verdeutlichen nicht nur szenografische Denk- und Vorgehensweisen und lassen die Szenografie noch schärfer als eine Raumsprache und Struktur erkennbar werden, die der These nach relational konzipiert sind und aus einem topologischen Raumverständnis resultieren. Sondern hier verdeutlicht sich auch, dass nicht nur ein geschriebener oder gesprochener Text einen Raum beschreiben, sondern auch Bewegung einen Raum beschreiben („graphieren“) kann – sich in den Raum einzuschreiben vermag. Bei Moreno geht es um „räumliche und zeitliche Bewegungs- und Erlebnislagen“779, bei Meyerhold um szenografische Raum(er)messung und Rudolf von Laban (1879–1958) und seine Tanznotationen. Die Choreografen Merce Cunningham (1919–2009) und William Forsythe (geb. 1949) z. B. werden den kinesphärischen Raum durch Medientechnologie sichtbar und interaktiv erfahrbar machen. Weiterführende Literatur dazu siehe Evert, Kerstin: DanceLab: Zeitgenössischer Tanz und Neue Technologien, Würzburg: Königshausen & Neumann 2003. 773 Vgl. Wjatscheslaw Iwanow: „Moderne Wissenschaft und Theater“, in: Kunst und Literatur. Zeitschrift zur Verbreitung sowjetischer Erfahrungen. Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft (Hg.), Berlin: Verlag Kultur und Fortschritt, Bd. 26, 2. Halbjahr 1978, S. 743, 747. 774 Meyerhold erwarb 1920 das ehemalige Moskauer Zon-Theater, das er (indem er u. a. die Bühnenrampe entfernte) in einen alternativen „Speicher“ verwandelte. Seine erste Inszenierung war eher eine „oberflächliche Dekoration“; erst mit der Bühnenbildnerin Popowa fand er jemanden, „der das Material dreidimensional in enger Ausrichtung auf das Agieren der Schauspieler nutzen konnte“. Sie entwickelte Arrangements, die die Bewegungsstrukturen der Schauspieler räumlich übersetzten mittels konstruktivistischer Elemente, Licht- und Schattenspiele, flexibler Holzkonstruktionen etc., die heutzutage an Op-Art-Mechanismen erinnern können. Spielmann, Heinz: Die russische Avantgarde und die Bühne 1890–1930, Schleswig: Schleswig-Holsteinisches Landesmuseum 1991, S. 35 ff. 775 Wjatscheslaw Iwanow: „Moderne Wissenschaft und Theater“, in: Kunst und Literatur, a. a. O. 1978, S. 747. 776 Meyerhold, Wsewolod/Tairow, A./Wachtangow, J./Hoffmann, Ludwig (Hg.): Theateroktober: Beiträge zur Entwicklung des sowjetischen Theaters, Leipzig: Reclam 1972, S. 71. 777 Vgl. die Heterotopie(n) als ein „Nichtort der Sprache“ (Defert), siehe dazu vorheriges Kapitel. 778 Tichwinskaja, L.: „Die kabarettistischen Intermezzi Wsewolod Meyerholds“, in: Kunst und Literatur. Zeitschrift zur Verbreitung sowjetischer Erfahrungen. Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft (Hg.), Berlin: Verlag Kultur und Fortschritt, Bd. 36, 1988, S. 208. 779 Brigitte Marschall: „Jakob Levy Morenos Theaterkonzept“, in: Szenenaufbau und Aufstellungen, a. a. O. 2005, S. 229.
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dynamisches Inszenieren780 – „dynamic staging and setting up the structure of the performance“781. Hier werden also Graphien der Lagen und Metrik erkennbar und damit szenografische Raumpraktiken. Bei Moreno sind es raumsoziologische Beziehungsgefüge, die sich in den Raum einschreiben, und bei Meyerhold ist es der kinesphärische Raum, der durch die „Bewegung der Gegenstände und Personen auf der Bühne (Szenometrie)“782 zum Ausdruck kommt und Spuren zieht. Hier werden also letztlich räumliche Einschreibungen, wird der Raum als plastische Einschreibfläche erkennbar, in der Gebärden/Gesten, Bewegung/Tanz etc. dem Text übergeordnet werden. In der Szenografie, wie sie die vorliegende Arbeit untersucht, ist es vor allem die Bewegung des Besuchers im Raum, die den Raum dadurch zugleich graphiert (zeichnet, beschreibt, einschreibt). Dabei hat der Szenograf die mögliche(n) Wegstrecke(n) des Rezipienten bereits vorgezeichnet/vorbereitet, indem er einzelne Raumstationen/Inseln installiert, die der Besucher durch Wege/Spuren/Bahnen im Raum zu einem Netzwerk/relationalen Gefüge verbindet. Um diese Raumschrift als räumliche Einschreibungen genauer herauszuarbeiten, ist der Begriff „Écriture“, der von Roland Barthes genutzt wird, weiterführend, um die Szenografie schließlich als eine „Écriture dans l’espace“ (Pavis) verstehbar zu machen783, wie sich mit Petra Maria Meyer sagen lässt. Barthes Textverständ780 Der
Schauspieler Erast Garin, der mit Meyerhold zusammenarbeitete, schrieb über ihn: He „introduced a new subject to theoretical studies, ‚scenometry, where questions of blocking, the actor’s position on the stage, became enormously important. [This] produced in us a distaste for ‚literature‘ on stage, that is, for a theater where action and physical expressivness were made to yield to the literary-narrative passivity of conversational theater. This was the kind of theater with which our teacher constantly waged war.“ Erast Garin in: Schmidt, P./Levin, I.: Meyerhold at work, New York: Applause 1996, S. 41. Vgl. auch André van Gyseghem, englischer Schauspieler und Theaterdirektor, der schrieb: This is „a theatrical tapestry which is composed … of geometrical designs“. Van Gyseghem, André: Theatre in Soviet Russia, London: Faber & Faber Limited 1943, S. 20. 781 Gino Brazzoduro: „Kosovel our contemporary“, in: Le livre slovène. Slowenische literarische Zeitschrift, Bd. 22, 2/3, 1984, S. 63. Brazzoduro führt über die Struktur (Text, Szenerie, Schauspiel) weiter aus: „the structure … which is composed like a ‚mechanodrama‘, the new technique of the player – worker is ‚biomechanics‘; with which we must not forget that the technique of playing known as ‚ostranenje‘ [von Viktor Sklovskij], from which Brecht’s Verfremdung developed, originated in Meyerhold’s ‚scenometry‘. The movements … decide the techtonics, the ‚factor‘ and the construction that harmonise with the organicness of the synthesis between the content and the form“. 782 Mailand-Hansen, Christian: Mejerchol’ds Theaterästhetik in den 1920er Jahren, Kopenhagen: Rosenkilde und Bagger 1980, S. 175. 783 Zur Barthes’schen Semiotik und zum Begriff „Écriture“ siehe Meyer, Petra Maria: Intermedialität des Theaters: Entwurf einer Semiotik der Überraschung, Düsseldorf: Parerga 2001, insb. S. 78–93. Siehe auch Meyers Erläuterungen in ihrem Text „Der Raum, der Dir einwohnt“ (in: Bohn, Ralf/ Wilharm, Heiner (Hg.): Inszenierung und Ereignis: Beiträge zur Theorie und Praxis der Szenografie, a. a. O. 2009, S. 112): „Der im Unterschied zum deutschen Terminus ‚Schrift‘ sehr viel umfassendere, weiter reichende Begriff ‚écriture‘ ist Bestandteil einer poststrukturalistischen Differenzphilosophie
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nis784 inhäriert Bewegung und Performativität, in diesem Sinne kann Text theatralisieren, mithin sich selbst. Das Inszenieren und In-Szene-Setzen der Schrift, d. h. die theatralisierende Form des Textkörpers führt zu einer Sinn(er)findung der Worte und folglich zu einer Sinnverschiebung und -inszenierung des Inhalts des Textkörpers: Die Bedeutung der Worte wird inszeniert.785 Barthes stellt die Opposition „zwischen einer literarischen Kultur von Texten … und einer theatralen, der Bewegung des Körpers geschuldeten Kultur des Performativen“ infrage und rückt damit die Schrift als einen inszenatorischen Akt in den Fokus.786 In der Darlegung seines Verständnisses von Theatralität, worin er der Szene gegenüber dem Spiel (dem Spielenden auf der Bühne) den Vorrang gibt, rekurriert Barthes auf den Begriff der Szenografie, der in der antiken Theatertheorie wurzelt. Und zwar deshalb, weil der Begriff mit dem Wortfeld der Schrift (Graphie) – graphe, greffier (siehe Kapitel 3) – verbunden ist und „zugleich den Gestus einer ‚In-Szene-Setzung‘ in sich“787 trägt. In seiner Schrift über Ignatius von Loyola, Charles Fourier und Marquis de Sade bezeichnet er diese drei Sprachbegründer als Szenografen, und er geht den jeweiligen textuellen Theatralitätsmustern und Inszenierungen nach. Er fragt nach dem, was Theatralität ist, und stellt eine formale Gemeinsamkeit der Schreibweisen der drei Autoren fest: eine in Frankreich, die Denker wie Jacques Derrida, Michel Foucault oder Julia Kristeva ebenso umfasst wie Roland Barthes. Écriture ist eng verbunden mit einem anderen Textverständnis (du texte), das wiederum den Wandel vom Bühnenbild zur Szenografie begleitet.“ 784 Von seinem Textverständnis ist bereits 1953 zu lesen; Barthes geht in Degré zéro der Frage nach, wie frei Sprache sein kann. Er stellt heraus, dass Schrift/Schriftweisen („écritures“) sozial und historisch geprägt sind und deren Freiheit auch von der Freiheit des Autors abhängt, von der des Lesers und von dem, was der jeweilige Zeitgeist an Literatur zulässt. Barthes, Roland: Am Nullpunkt der Literatur, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1982 (1953). 785 Gerhard Neumann, in: Neumann, G./Pross, C./Wildgruber, G. (Hg.): Szenographien. Theatralität als Kategorie der Literaturwissenschaft, Freiburg: Rombach 2000, S. 16 f. Siehe auch Barthes, Roland: Kritik und Wahrheit, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1967, S. 57. Er spricht von (subversiven) Sprach- und Sprechverschiebungen: „Die Klassifikation ändern, das Sprechen verschieben heißt, eine Revolution machen.“ 786 Gerhard Neumann, in: Neumann, G./Pross, C./Wildgruber, G. (Hg.): Szenographien, a. a. O. 2000, S. 12 f. Neumann, der Barthes‘ Ausführungen zur Szenografie erläutert, führt weiter aus: Die Beleuchtung des Problems „der Theatralität, als einer Bindung des inszenatorischen Aktes auch an die Schrift, nicht nur an den Körper des Schauspielers, hat … Folgen gezeigt. … [M]it dem Argument, Theater sei mehr und anderes als nur der durch Schauspieler aufgeführte dramatische Text, hat die Theaterwissenschaft einst ihren Austritt aus dem Verbund der Philologien begründet.“ Theatralität ist „auch als inneres Dispositiv anderer gründender Verhaltensweisen in der Kultur wirksam … als ein dynamisches Muster …, als ein performativer Gestus …, welcher als impliziter Habitus des Denkens, Sprechens, Schreibens und Phantasierens seine Wirkung entfaltet [und] … der Sprache selbst innewohnt.“ Daher könne „die Produktion von Sinn … nicht anders denn als theatral (oder ‚konstruktiv‘, ‚szenographisch‘) gedacht werden“ (S. 20). Der Band zeigt auch auf, dass „die Geschichte des … Problems der Theatralität als Denkfigur durch … Krisen des Theaters als Institution markiert ist. Mit Blick auf das 20. Jahrhundert dürfte diese Krise, wie Jacques Derrida und vor ihm schon Roland Barthes gezeigt haben, im Verständnis von Theatralität bei Mallarmé einsetzen, bei Artaud sich verschärfen und in Brecht … ihre deutlichste Artikulation erfahren haben“ (S. 22 f.). 787 Ebd., S. 11 f.
196 Szenosphäre & Szenotopie
neue Sprache, die er als eine szenografische Praxis ausweist: Sie sind „formulators (commonly known writers). In fact to found a new language through and through, a fourth operation is required: theatricalization. What is theatricalization? It is not designing a setting for representation, but unlimiting the language. … Sade is no longer an erotic, Fourier no longer an utopian, Loyola no longer a saint: all that is left in each of them is a scenographer: he who disperses himself across the framework he set up and arrange ad infinitum.“788 Theatralisieren bedeutet nach Barthes also nicht eine Sprache der Repräsentation, sondern erfordert ein „Unbegrenzen“789 derselben, „to invent a language activity completely other than description and pass, as Mallarmé hoped it would, from the tabelau vivant to the ‚scene‘ (to scenography)“790. Wie ein solches „Unbegrenzen“ in der Praxis aussehen kann, hat Stéphane Mallarmé, auf den Barthes nicht ohne Grund verweist, bereits 1897 mit seinem Gedicht „Würfelwurf“791 gezeigt. Mallarmé spricht von „Partituren“ einer „geistigen Inszenierung“792, und er versteht das Weiß – „le blanc“ – zwischen den Buchstaben nicht als Leere, sondern als eine Bühne, auf der die Schrift tanzt und sich die textuelle Choreografie ereignet. Dabei bilden die „Typographie und ‚kartographische‘ Anordnung der Textfläche (als Konstellation) … neue, integrierende Gestaltungselemente“, und bei der „Lenkung des (lesenden) Blicks“ wird die Schrift gar zu einer „Topographie, wo sie Höhenniveaus in die Konstellation einschreibt“.793 Mallarmé, der seine „écriture“ (visuelle Poesie) in enger Beziehung sieht zu theatralen Raum- und Körperkonzepten und zum Tanz, findet diese z. B. in den Bewegungen der Tänzerin Loïe Fuller (1862–1928) 788 Barthes, Roland: Sade, Fourier, Loyola, Berkeley, L. A.: University of California Press 1989 (1971),
S. 5 f.
789 Petra
Maria Meyer, die – wenn man wie sie sagt, „in diesem Sinne unter Theatralität ein generatives Element medialer Prozesse der Unbegrenzung versteht“ – die Leitbegriffe der Szenografie (Theatralität, Intermedialität, erweiterter Raum) als untrennbar miteinander verbunden sieht. Petra Maria Meyer: „Der Raum, der Dir einwohnt“, in: Bohn, Ralf/Wilharm, Heiner (Hg.): Inszenierung und Ereignis, a. a. O. 2009, S. 110 f. Gerhard Neumann spricht ebenfalls von Theatralität als ein „dem Textgeschehen eingefaltetes ‚generatives‘ Element, das den Stil der Wahrnehmung, Darstellung und Erkenntnis prägt“. Gerhard Neumann in: Szenographien, a. a. O. 2000, S. 13. Siehe auch Stricker, Achim: Text-Raum. Strategien nicht-dramatischer Theatertexte. Gertrude Stein, Heiner Müller, Werner Schwab, Rainald Goetz, Heidelberg: Winter 2007, S. 63 ff. 790 Barthes, Roland: Sade, Fourier, Loyola, a. a. O. 1989 (1971), S. 156. Siehe auch Barthes, Roland: Kritik und Wahrheit, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1967, S. 57: Dass Schrift eine performative Hervorbringung sein kann, sei seit „ungefähr hundert Jahren, ganz gewiß aber seit Mallarmé“ bekannt. 791 Mallarmé veröffentlicht mit seinem Gedicht eine visuelle Poesie: Er kreiert einen Raumtext, in dem er die Buchstaben auf dem Blatt frei flottieren lässt. Die Idee von animierten Buchstaben (heute als Kinetic Typography/Motion Design aus dem Bereich Fernseh-/Filmtitel-Animation bekannt) begründet sich in den ersten fotochoreografischen Experimenten (z. B. von Étienne-Jules Marey oder Eadweard Muybridge) und zeigt sich schon 1899 in Werbefilmen von Georges Méliès. 792 Mallarmé, Stéphane/Goebel, Gerhard (Hg.): Gedichte, Gerlingen: Schneider 1993, S. 244 ff. 793 Stricker, Achim: Text-Raum, a. a. O. 2007, S. 73.
3 Szenogreffieren 197
verlebendigt – als „écriture corporelle“794: Bei Pirouetten mit den Schwüngen der Stoffbahnen ihres Kostüms zeichnet die Tänzerin kinesphärische Graphien/ Spuren in den Raum. Ein weiteres Praxisbeispiel für ein solches „Unbegrenzen“795, wie Petra Maria Meyer es nennt, findet sich im japanischen Theater796 (auf das Barthes in seiner Schrift Das Reich der Zeichen verweist). In ihm zeigt sich, wie nicht durch Tanz, sondern durch Schauspieler und durch eine Szenografie Spuren gezeichnet und in den Raum eingeschrieben werden können. Die Ästhetik dieses Theater verdeutlicht, dass die Herstellung von Ordnungsmustern und damit „die Produktion von Sinn … nicht anders denn als ‚theatral‘ (oder ‚konstruktiv‘, ‚szenographisch‘) gedacht werden kann“.797 Denn im Spiel des japanischen Bunraku-Theaters798 konstituiert sich das räumliche Schreiben, Graphieren und Eingravieren über drei Stimmen bzw. drei Figuren, die semantische Verknüpfungen ausbilden. Barthes bezeichnet diese als „drei Schriften“799: die ausgeführte, die ausführende und die stimmliche Gebärde, die der Bunraku „gleichzeitig an drei Orten des Schauspiels zu lesen gibt: die Marionette, den Spieler und den Sprecher“; die drei voneinander getrennten Ausdrucksformen sind das „Spiel einer Kombinatorik, die sich in den ganzen Theaterraum hinein öffnet“.800 Der Zusammenhang zwischen Raumerzeugung (Sinnbildung), Raum ordnung/-organisation und praktischer Raumgestaltung wird hier klar erkennbar: Es zeigt sich, dass die Raumstruktur von der Sinnfunktion abhängt und dass der Raum seine Gestalt und „Struktur erst kraft des allgemeinen Sinnzusam-
794 Vgl.
ebd., S. 75. Maria Meyer, in: Inszenierung und Ereignis, a. a. O. 2009, S. 110 f. Auch sie verweist auf Barthes‘ Schrift Sade, Fourier, Loyola und auf seine Untersuchungen zum japanischen Theater (S. 112). 796 Der Ort oder die Szene (japanisch Basho genannt) versteht sich nicht als Lokalisation, sondern als Inklusion; Raum wird als eine Art offenes Feld gedacht; siehe Kitaro, Nishida/Elberfeld, R. (Hg.): Logik des Ortes: der Anfang der modernen Philosophie in Japan, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1999. 797 Gerhard Neumann, in: Neumann, G./Pross, C./Wildgruber, G. (Hg.): Szenographien, a. a. O. 2000, S. 14, 20. 798 Im Bunraku-Theater kommen lebensgroße Figuren (Puppen) zum Einsatz, die schnurlos von mehreren Puppenspielern, die für das Publikum sichtbar sind, geführt werden. Auf einer eigenen Seitenbühne befindet sich der Joruri-Darsteller, der die Handlung durch Wort und Gesang rezitiert, sowie der (oder die) Shamisen-Spieler, der das Geschehen mit einem Saiteninstrument punktiert und atmosphärisch rhythmisiert; die beiden Figuren verleihen der Puppe die Stimme. Alle drei folgen einer gemeinsamen Metrik und können, so Roesner, als eine „heterogene Polyphonie“ bezeichnet werden. Roesner, David: Theater als Musik: Verfahren der Musikalisierung in chorischen Theaterformen bei Christoph Marthaler, Einar Schleef und Robert Wilson, Tübingen: Narr 2003, S. 250 f. 799 Barthes, Roland/Bischoff, Michael (Hg.): Das Reich der Zeichen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1981 (1970), S. 67–75. 800 Ebd., S. 70, 75. 795 Petra
198 Szenosphäre & Szenotopie
menhangs, innerhalb dessen sein Aufbau sich vollzieht“801, gewinnt. Der Szenografie, d. h. der Organisation und Gestaltung des Aufbaus des Settings liegt dabei eine topologische und relationale Raumvorstellung zugrunde, und diese Szenotopie (das, was einerseits der Szenograf installiert und andererseits der Rezipient wahrnimmt) konstituiert sich hier als die „drei Schriften“: Sie theatralisieren, inszenieren und sind die Szenografie definierende Strukturen und Relationen, das Raumbildende also. Das folgende letzte Praxisbeispiel, welches zeigt, wie Spuren gezeichnet werden können, liefert „Ghost Machine“. Hier sind es weder Tänzer noch Schauspieler, sondern die Besucher und die Szenografie, die den Raum „unbegrenzen“. Sind es im Bunraku-Theater laut Barthes „drei Schriften“, so übernehmen dies bei Cardiff/Miller die Bewegung des Besuchers und mit ihm der szenografische Parcours, die Kopfhörerstimme sowie die Videobilder802, die sich in den Raum einschreiben. Vor diesem Hintergrund erklärt sich die Bezeichnung „Écriture dans l’espace“ und kann die Szenografie als eine solche bezeichnet werden, wie sich mit Patrice Pavis sagen lässt. Ihm zufolge zeichnet sich die Szenografie dadurch aus, keine Dekoration, sondern eine Raumsprache zu sein, die den Raum strukturell zu organisieren und metonymisch fortzuschreiben vermag.803 Wie sich aus eigener künstlerischer Empirie sagen lässt, liegt der Sinn dieser Raumsprache weniger im Buchstäblichen, sondern wird vielmehr zwischen Wort und Raum hervorgebracht. Der Szenograf ist dabei derjenige, der den Parcours „vorzeichnet“, er ist eine Art „traceur“. Die Einschreibungen, diese sichtbaren und unsichtbaren Spuren, die als Strukturen (Menge von Relationen) den szenografischen Raum gestalten und hervorbringen, werden durch räumliche Mittel realisiert, z. B. durch das Spiel aus Licht und Schatten, Atmo- bzw. Szenosphären, die Zeit, zeitbasierte Medien (Bilder, Film und Video) oder durch im Raum installierte Sounds/Tonspuren. „Inszenieren ist nur die Fortsetzung 801 Ernst Cassirer: „Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum“, in: Günzel, Stephan/Dünne,
Jörg (Hg.): Raumtheorie: Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006, S. 494. 802 Hier werden Verständigungsräume evoziert, die dadurch entstehen, dass (Schrift-)Zeichen, (Bewegt-) Bilder und Sprache überlagert und zu einer Art Informationsbühne werden, durch die kommuniziert wird und die die Realität erweitert, d. h. durch mehrere Informationsebenen verdichtet. Im „videowalk“ von Cardiff/Miller auf der dOKUMENTA (13) erscheinen auch grafische Informationssignale: Im Film-Display wird z. B. ein inszeniertes blinkendes Batteriesignal gezeigt, das die Realität (man läuft durch den Kasseler Hauptbahnhof ) mit einer Informationsebene verdichtet, die den Rezipienten glauben lässt, dass der Welt (am Draht) bald die Energie ausgehe. 803 Pavis: „Au sense moderne, [la scénographie] c’est la science et l’art de l’organisation de la scène et de l’espace théâtral. C’est aussi par métonymie, le décor lui-même, ce qui résulte du travail du scénographe. Aujourd’hui, le mot s’impose de plus en plus à la place de décor … . La scénographie marque bien son désir d’être une écriture dans l’espace tridimensionnel (auquel il faudrait même ajouter la dimension temporelle), et non plus un art pictural de la toile peinte, comme le théâtre s’est longtemps contenté d’être jusqu’au naturalisme.“ Pavis, Patrice: Dictionnaire du théâtre, Paris: Dunod 1996, S. 114 ff.
3 Szenogreffieren 199
des Schreibens mit anderen Mitteln“804, was sich gleichermaßen auch für das Szenografieren, d. h. das Regieführen im Raum sagen lässt. Festzuhalten ist, dass die „anderen Mittel“, die den Raum inszenieren und als szenische Einschreibungen verstanden werden können, zum einen theatralisieren und die Szenografie als eine performative Praktik auszeichnen, zum anderen zeugen sie von einer Raumtechnik, die unterhalb des Sicht- und Sagbaren und mithin im Zwischenzeiligen operiert.
804 Bei der Frage nach seiner Arbeitsweise gibt der Regisseur Heiner Müller in einem Interview, das er
gemeinsam mit seinem Bühnenbildner Erich Wonder gab, zu verstehen, dass bereits Tabori gesagt hat: „Inszenieren ist nur die Fortsetzung des Schreibens mit anderen Mitteln.“ Das eigentliche Geheimnis einer Inszenierung bestehe nach Müller womöglich darin, diese – wie einen Schreibprozess – offen zu lassen, d. h. „diesen Punkt zu finden, wo es nicht fertig ist, wo der Zuschauer das fertig machen muss“. Heiner Müller: „Gegen die Idiotie des Professionalismus. Ein Gespräch zwischen Heiner Müller und Erich Wonder, mit A. Murschetz und S. Suschke, Bayreuth, 20. Juni 1993“, in: Suschke, Stephan: Müller macht Theater. Zehn Inszenierungen und ein Epilog, Berlin: Theater der Zeit 2003, S. 42. Das Interview beginnt aufschlussreich, indem es tiefe Einblicke in bühnenbildnerische und szenografische Denk- und Arbeitsweisen (und auch in Lehrkonzepte, wie ich durch mein Bühnenbildstudium bei Erich Wonder an der Akademie der Bildenden Künste Wien sagen kann) gewährt: Suschke: „Welchen Text von Heiner hast du als ersten gelesen?“ Müller: „Der hat nie einen Text gelesen.“ Wonder: „Ich habe schon ein paar Mal angefangen, bin aber nie weit gekommen … Ich habe ein Bild vor mir: Eine ganze Seite, wo nur Großbuchstaben und Kleinbuchstaben sind. Wenn du Phantasie hast für Bilder, reicht es, sie anzuschauen. Man muß es nicht durchlesen.“ Suschke: „Also Heiner hat dir den Inhalt der Stücke erzählt, und du benutzt das, was dir interessant daran erscheint?“ Wonder: „Inhalt hat er eigentlich auch nicht erzählt. Er hat Strukturen erzählt, vom Eiswürfel zum Brühwürfel zum Beispiel. Das reicht, um einen Abend von Stunden zu gestalten.“
200 Szenosphäre & Szenotopie
3.2.3 Zeiträume und Raumkerben Zu einer Raumsprache, die unterhalb des zuvorderst Sicht- und Sagbaren operiert und mit räumlichen Mitteln inszeniert, gehört auch der Faktor Zeit und ihre Gestaltung. Die Zeit bildet mit dem Raum die vierdimensionale Raumzeit, und um die Szenografie raumzeitlich näher zu bestimmen, werden im Folgenden ihre Dimensionen als „Chronotopos“ (Bachtin)805 untersucht. Im szenografischen Parcours, der vom Szenografen im Raum installiert wird und den der Besucher durchläuft, konstituiert sich Sinn (Zeit) als Bewegung, und so lässt sich mit dem Begriff „Chronotopos“ die Szenografie als eine Struktur (Räumlichkeit) fassen, die „von der Zeit mit Sinn erfüllt und dimensioniert“806 wird. Im szenografischen Raum – dem im zweiten Schritt als „Spatium“ nachgegangen wird und den man sich als mannigfaltiges Punkte-Netz/Gewebe im Sinne einer Beziehungsstruktur vorstellen kann – verdichtet sich die Zeit und gerinnt zu Ereignissen: Situationen, Atmosphären bzw. Szenosphären, Licht- und Schattenspielen, Bildern, Bewegtbildern, Ton – Szenen. Diese schreiben sich in den Raum ein, man könnte auch sagen, dass sie ihn sozusagen „kerben“, womit auf Deleuze/Guattari rekurriert wird. Mit dem „Glatten“ und dem „Gekerbten“ stellen die beiden einen Raumansatz zur Verfügung, der sich szenografisch perspektivieren lässt und durch den die Szenografie als ein spatiales (topologisches) Gewebe erkennbar wird, das einerseits als konkrete Installation (Einkerbung) sichtbar wird und andererseits als etwas Glattes und Nichteuklidisches erscheinen kann, das „mehr von Ereignissen … als von geformten oder wahrgenommenen Dingen besetzt“807 wird. Der szenografische Raum, der als heterotopisches bzw. szenotopisches Punktebündel an die Zeit gebunden ist, wird somit als künstlerische Einfassung raumzeitlicher Beziehungen und als eine dramaturgische Struktur erkennbar. Michail Bachtin untersucht die Beziehung zwischen Raum, Zeit und Ort in der Literatur und geht diesen Kategorien als einer untrennbaren Einheit in seiner Schrift Chronotopos nach.808 Er bezieht sich in seiner Chronotopos-Theorie auf 805 Bachtin, Michail M.: Chronotopos. Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman, Frankfurt a. M.:
Suhrkamp 2008. S. 7. 807 Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Tausend Plateaus: Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin: Merve 1992 (1980), S. 663 f. 808 Bachtin, Michail M.: Chronotopos, a. a. O. 2008. Sein Text entstand bereits 1937/38; die deutsche Übersetzung erschien erstmals 1973. Dass der Chronotopos-Aufsatz noch nicht in der aktuellen Raumdebatte („Spatial turn“) etabliert ist, liegt – so Michael C. Frank und Kirsten Mahlke in ihrem Nachwort – möglicherweise daran, dass in einer auf den ersten Blick „literaturwissenschaftlichen … Analyse … kein Ansatzpunkt vermutet wird, der sich auch auf gänzlich andere Bereiche übertragen läßt“. Bachtins Ansatz bietet für die Fachbereiche der Raumdebatte diverse Anschlussmöglichkeiten. „[S]ein Versuch eines doppelten Brückenschlags zwischen Natur- und Geisteswissenschaften und zwischen Raum- und Zeitfokussierung könnte als Korrektiv für viele 806 Ebd.,
3 Szenogreffieren 201
die mathematische Raumzeit, auf mehrdimensionale Räume und damit insgesamt auf ein nichteuklidisches Raumwissen (und Zeitwissen); er untersucht, wie solch ein Wissen und mehrdimensionale Räume in der Literatur hergestellt und dargestellt werden können.809 Sein Anliegen ist es, „epische Texte von der Antike bis ins 19. Jahrhundert in ihrer raum-zeitlichen Korrelativität zu beschreiben“810, und seiner Auffassung nach lässt sich „mit jeder der besonderen Arten von Raum und Zeit eine besondere Romangattung“811 verbinden. Für Bachtin ist die „literarische Aneignung der realen historischen Zeit und des realen historischen Raumes sowie des – in ihnen zutage tretenden – realen historischen Menschen“ ein komplizierter Prozess, aus dem sich genrebezogene „Methoden zur Widerspiegelung und künstlerischen Aufbereitung dieser angeeigneten Realitätsaspekte“ herausbilden.812 Solch ein Untersuchungsansatz findet sich ähnlich auch bei Lotman813, und die Möglichkeit und Sinnfälligkeit, literaturwissenschaftliche Erkenntnisse für die Ästhetik und Struktur der Szenografie fruchtbar zu machen, wurde bereits in Kapitel 3.1.4 herausgearbeitet. Versteht man die Szenografie als einen zu einseitig orientierte Herangehensweisen dienen.“ Bachtin, Michail M.: Chronotopos, a. a. O. 2008, S. 229. 809 Bachtin, Michail M.: Chronotopos, a. a. O. 2008, S. 7, sowie Franks und Mahlkes Nachwort ebd., S. 213 ff. 810 Sylvia Sasse: „Raumzeit-Paradigma“, in: Günzel, Stephan (Hg.): Raum: Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar: Metzler 2010, S. 299 f. 811 Wjatscheslaw Iwanow: „Moderne Wissenschaft und Theater“, in: Kunst und Literatur. Zeitschrift zur Verbreitung sowjetischer Erfahrungen, Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft (Hg.), Berlin: Verlag Kultur und Fortschritt, Bd. 26, 2. Halbjahr 1978, S. 745. Er führt weiter aus: „Gewiß lassen sich ähnliche Schlussfolgerungen für die Theatergattungen ziehen. Die Theorie der Einheit von Raum und Zeit im klassischen Drama war bereits eine sehr simple Vorwegnahme der Idee des dramaturgischen Chronotopos.“ Vgl. auch Wolfgang Kemp, der den Tiefenraum in der Malerei des 14. bis 19. Jahrhunderts als „Erzählraum“ untersucht. Er erläutert zu Bachtin: „Sehr verkürzt gesprochen leben z. B. der Abenteuer- und Ritterroman von den chronotopischen Grundformen der Reise, des Weges, der Straße …, und zu ihrer Durchführung gehören Subkategorien und Prädikate“, z. B. das Fremde/ Ferne, Zufall/Begegnung oder „abstrakte räumliche Extensität“. Kemp, Wolfgang: Die Räume der Maler: zur Bilderzählung seit Giotto, München: Beck 1996, S. 31 f. 812 Bachtin, Michail M.: Chronotopos, a. a. O. 2008, S. 7. Frank und Mahlke führen im Nachwort (S. 210) dazu aus: Bachtin ist „von der kulturellen Bedingtheit der Weltwahrnehmung überzeugt, welche er für historisch variabel [und begrenzt] hält. Die Erkenntnismöglichkeiten … erfolgen durch eine Brille, die sich – mit einem von Michel Foucault entlehnten Begriff – als ‚historisches Apriori‘ beschreiben läßt. ‚Reale Wirklichkeit‘ bezeichnet die objektiv an Texten ablesbare Gegebenheit kultureller Semantiken des Raumes und der Zeit“. Wie bereits dargelegt wurde (siehe Kapitel 3.2.1 der vorliegenden Arbeit), spricht Foucault von „utopischen Orten“ und „uchronischen Augenblicken“, und die Szenografie wurde vor diesem Hintergrund bereits als ein Gebilde herausgearbeitet, das mit dem heutigen Raum- und Zeitempfinden korrespondiert. Nun – mit Bachtin – erschließt sie sich auch als eine raumzeitliche Raumaneignung. 813 Er untersucht unter anderem, „wie ein künstlerischer Text zum Träger eines bestimmten Gedankens, einer Idee wird, und wie sich die Textstruktur zur Struktur einer solchen Idee verhält.“ Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte, München: Fink 1972a, S. 18. Darüber hinaus geht es in seinen späteren Schriften um dynamische Strukturen, auch Zeitstrukturen in der Kultur.
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(ins Dreidimensionale und Raumzeitliche übersetzten) künstlerischen Text – ein Strukturgebilde, aus dem sich Praktiken formen und Methoden einer szenografischen Raumaneignung herauslesen lassen – kann man bereits Bachtins einleitende Worte zum Begriff „Chronotopos“ auf die Szenografie übertragen. Denn dass sich, wie Bachtin es in Bezug auf die Literatur beschreibt, durch künstlerische Aneignungen Methoden herausbilden, gilt gleichermaßen auch für die Szenografie. Bachtins Ansatz ist also für die in ihr verarbeiteten Realitätsaspekte und die damit verbundene Raumvorstellung der Szenografie (Gesamtkapitel 3.2) sowie die Frage nach dem Warum des Ausdrucks (Kapitel 2) gewinnbringend. In einer Szenografie verschmelzen, ebenso wie Bachtin in Bezug auf Literatur erklärt, „räumliche und zeitliche Merkmale zu einem sinnvollen und konkreten Ganzen“814. Er bezeichnet mit „Chronotopos“ den „grundlegenden wechselseitigen Zusammenhang der in der Literatur künstlerisch erfassten Zeit-undRaum-Beziehungen“815 und versteht diesen als eine „Form-Inhalt-Kategorie“816. Die Szenografie und die durch sie hervorgebrachte topologische und relationale Räumlichkeit (die einerseits der Szenograf herstellt und andererseits der Rezipient wahrnimmt, die Szenotopie also) können somit als eine künstlerisch erfasste Zeit-Raum-Beziehung untersucht werden. Als eine Form-Inhalt-Kategorie berührt der Chronotopos insofern ästhetische und damit auch szenografische Fragen, als es dabei um die Beziehung zur Außenwelt und die Wahrnehmung der Wirklichkeit geht, die dann (im künstlerischen Schaffensprozess) verarbeitet und in eine entsprechende Form gebracht, d. h. in eine raumzeitliche Struktur übersetzt wird: in eine Szenografie oder (bei Bachtin) in einen Roman. Solche Hervorbringungen (vgl. Lotmans „sekundäres modellbildendes System“) gründen für Bachtin in einer neurophysiologischen Übersetzungsleistung, die er für seine Romantheorie übernimmt 817. Dabei 814 Bachtin,
Michail M.: Chronotopos, a. a. O. 2008, S. 7.
815 Ebd. Bachtin führt aus, dass er den mathematisch naturwissenschaftlichen Terminus Raumzeit „fast
(wenn auch nicht ganz) wie eine Metapher“ auf die Literaturwissenschaft überträgt. Damit folgt Bachtin einem erweiterten Raumverständnis. Vgl. dazu Franks und Mahlkes Ausführungen im Nachwort (S. 214 f.): Das dynamische Konzept einer Raumzeit hat den statisch absoluten Raum, in dem Zeit gleichmäßig verrinnt, überholt. „Den mathematischen Bezugsrahmen der allgemeinen Relativitätstheorie liefert schließlich die nichteuklidische Geometrie: Der vierdimensionale Raum ist durch Materie und Energie gekrümmt, das heißt: raumzeitliche Abstände liegen nur noch im Grenzfall der ebenen Fläche auf einer Geraden; ansonsten folgen sie geodätischen Linien entlang von Kraftfeldern … In einem solchen Bezugsrahmen kann die Raumzeit nicht länger als Kulisse für energetische und materielle Ereignisse angesehen werden, sondern als Akteur.“ Demnach sind die Ereignisse (innerhalb der literarischen Raumzeit des Romans) auch „nicht auf ein Koordinatensystem des absoluten und homogenen Raumes und der Zeit abbildbar. Sie sind förmlich Konkretionen der spezifischen Raumzeit, wobei unendlich viele Räume und Zeiten denkbar sind, die jeweils in Relation zueinander betrachtet werden müssen.“ 816 Ebd., S. 8. 817 Frank und Mahlke führen dazu aus (ebd., S. 211 f.): Der russische Naturwissenschaftler A. A. Uchtomskij hält 1925 einen Vortrag (den Bachtin hört), in dem er über das „Konzept der Dominante“ spricht: ein „physiologisch-psychischer Prozeß“, bei dem Außenreize durch den
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erweist sich die Wahrnehmung (das Zusammenspiel zwischen den äußeren Reizen und der inneren Verarbeitung derselben) als eine ästhetische Erfahrung zwischen Geist und Organismus: als eine Körpergebundenheit. Bereits MerleauPonty spricht in diesem Zusammenhang von einem Sehen, „von dem man nur eine Vorstellung haben kann, indem man es ausführt“.818 „Sehen in actu“ meint ein In-Tätigkeit-Sein und bedeutet in der Praxis Bewegung. Und in dieser bzw. durch diese Bewegung wird Raum als Zeit erfahrbar – wird der Raum zu einer Zeit- und Sinnerfahrung (Sinnbildung). So wird verständlich, was Bachtin meint, wenn er schreibt, dass „der Raum … von der Zeit mit Sinn erfüllt“819 wird: Sinn und Bedeutung entstehen in actu, folglich konstituiert sich Sinn (Zeit) als Bewegung. Damit ist eines der Grundprinzipien der Szenografie benannt: Wahrnehmung von Veränderung durch Bewegung; und Wahrnehmung von Veränderung führt letztlich zu Erkenntnis – ähnlich wie es bei der Anamorphose der Fall ist. Daraus lässt sich folgern, dass zu den „Verbindungen …, in denen das Wissen zum Raum steht“820, auch die Zeit zählt, und so scheint die Szenografie nicht nur ein Wissensraum zu sein (siehe vorherige Kapitel), sondern auch eine Art Wissenszeit, womit ein weiterer neuer Untersuchungsaspekt benannt ist, der an Bachtins Studie anschließt. Im Anschluss an ihn lässt sich sagen, dass der Chronotopos eine Form-Inhalt-Kategorie ist, welche der „künstlerischen Erkenntnis (des künstlerischen Sehens)“821 auch in der Szenografie dient. Denn Zeit verOrganismus koordiniert werden. „Die Annahme, daß das chaotische Rauschen der Umwelt durch Reiz-Reaktionsmuster rhythmisiert beantwortet und in ein harmonisches Klanggefüge verwandelt wird, führt Uchtomskij … zu der Annahme, daß die Dominante ein raumzeitliches Kontroll- und Organisationsprinzip ist; sie funktioniert chronotopisch“. In Bachtins Verständnis wird „der biologische Außenreiz zur ‚realen Wirklichkeit‘.“ 818 Er spricht über das Sehen als eines, „das zwischen den Raum und das Denken die autonome Ordnung eines aus Körper und Seele Zusammengesetzten einführt. Das Rätsel des Sehens ist nicht eliminiert: Es wird vom ‚Denken des Sehens‘ auf das Sehen in actu verwiesen.“ Maurice Merleau-Ponty: „Das Auge und der Geist“, in: Günzel, Stephan/Dünne, Jörg (Hg.): Raumtheorie: Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006, S. 188. Vgl. auch Heinz von Foerster, der mit einem Verweis auf den Biologe Humberto Maturana schreibt: „Wir sehen mit unseren Beinen.“ Heinz von Foerster: „Wahrnehmen wahrnehmen“, in: Barck, Karlheinz (Hg.): Aisthesis: Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig: Reclam 1993, S. 440. 819 Bachtin, Michail M.: Chronotopos, a. a. O. 2008, S. 7. 820 Hubertus Busche: „Wissensräume“, in: Joisten, Karen (Hg.): Räume des Wissens. Grundpositionen in der Geschichte der Philosophie, Bielefeld: transcript 2010, S. 26 ff. Er zählt zu den Wissensräumen, d. h. zu den „Verbindungen …, in denen das Wissen zum Raum steht“ (die für die Szenografie relevant sind, wie in Kapitel 3.2.1 herausgearbeitet wurde): erstens das leibliche Wissen: Erkenntnisse „haben ihre psychophysischen Korrelate in leiblichen … Bewegungen.“ Zweitens die Räumlichkeit im Bewusstsein: Etwas als etwas erkennen, beinhaltet „Wissen vom Räumlichen“ und gedankliche Einsicht, „vorstellungsgebundenes [mithin sprachliches] Denken ist deshalb verräumlichtes Denken“. 821 Bachtin, Michail M.: Chronotopos, a. a. O. 2008, S. 8. Der Chronotopos bestimmt ihm zufolge auch „das Bild vom Menschen in der Literatur; dieses Bild ist in seinem Wesen immer chronotopisch“. In der Fußnote notiert er: „In seiner ‚Transzendentalen Ästhetik‘ … hat Kant Raum und Zeit als notwendige Formen jeglicher Erkenntnis … definiert. Wir können seiner Einschätzung
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geht – Zeit bedeutet, dass etwas „ver-geht“ –, und diese Lesart verdeutlicht, dass die Zeit eng an die Bewegung des Gehens822 gebunden ist. Die Zeit konstituiert sich sozusagen als szenografischer Parcours, den der Besucher durchläuft, sie wird für ihn sichtbar und erfahrbar823 und erweist sich als ein (weiteres) Sinnbildungsinstrument. Neben der physischen Bewegung und dem zuvorderst Sichtbaren geht es in der Szenografie aber eben auch um mentale Fortbewegung und Zeiträume, die insofern für die chronotopische Untersuchung der Szenografie relevant sind, als sie sich unterhalb des Sicht- und Sagbaren (siehe vorheriges Kapitel) abspielen. Es geht um die Zeiträume (Zeiten), die sich im Feld des Zusammenspiels zwischen den äußeren Reizen und der inneren Verarbeitung derselben bewegen und die Bachtin als Bedingungen für die Hervorbringung des künstlerisch-literarischen Chronotopos untersucht. Er nimmt dabei jene spürbaren und unterschiedlichen Zeiträume in den Blick, von denen Alexej A. Uchtomskij in seinem Vortrag (über den Chronotopos in der Biologie) spricht, und übernimmt diese und die vorgetragenen Erkenntnisse dazu für seine Chronotopos-Theorie 824. Es sind einerseits die Räume der physikalischen Zeit „als gleichmäßig fließender Strom“ und andererseits die Räume der psychologischen Zeit, „in der Ereignisse des menschlichen Lebens und Emotionen mit Hilfe der Erinnerung nacherlebt werden können“.825 Durch ihr Zusammenspiel kann ein „sinnvolle[s] und konkrete[s] Ganze[s]“826 entstehen, und das Theater und die Szenografie tragen diesem Zusammenspiel Rechnung, indem sie Heterochronien und Chronotopoi (in denen es Erzählzeiten sowie erzählte Zeiten gibt, wie später erörtert wird) szenisch auf die Bühne bringen, Zeitempfindungen miteinander verbinden und verhandeln. Das „sinnvolle und konkrete Ganze“, das im Theater entsteht, ist eine Aufführung (Ereignis), und sie entsteht dadurch, dass sich in den Akten zustimmen, begreifen diese Formen jedoch – im Unterschied zu Kant – … als Formen der realen Wirklichkeit selbst. Wir wollen versuchen darzustellen, welche Rolle [sie] im Prozeß der konkreten künstlerischen Erkenntnis (des künstlerischen Sehens) unter Bedingungen, die dem Romangenre eignen, spielen.“ 822 Günzel, Stephan (Hg.): Topologie: Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften, Bielefeld: transcript 2007, S. 24 f. 823 Bachtin, Michail M.: Chronotopos, a. a. O. 2008, S. 7. Ihm zufolge verdichtet sich im Chronotopos die Zeit, „sie zieht sich zusammen und wird auf künstlerische Weise sichtbar; der Raum gewinnt Intensität, er wird in die Bewegung der Zeit, des Sujets, der Geschichte hineingezogen.“ 824 Ebd. 825 Wjatscheslaw Iwanow: „Moderne Wissenschaft und Theater“, in: Kunst und Literatur, a. a. O. 1978, S. 745 f. Er führt weiter aus, dass man im modernen Theater häufig auf die „Verletzung der Einheit der physikalischen Zeit unter Wahrung der Einheit der psychologischen Zeit“ stößt (das Stück als innerer Monolog). „Eine andere Struktur haben Stücke, in denen die Einheit der physikalischen Zeit verletzt wird, die Einheit der psychologischen Zeit des Helden aber nur in der Identität mit sich selbst in seinem Bewusstsein gewahrt wird, jedoch nicht in der Wahrnehmung derer, die ihn umgeben.“ 826 Bachtin, Michail M.: Chronotopos, a. a. O. 2008, S. 7.
3 Szenogreffieren 205
und Szenen verschiedene (Bühnen-)Bilder zeigen, welche das Stück räumlich und zeitlich zu einer sinnfälligen Ganzheit zusammensetzen. Was bei einer Aufführung erlebt wird, hängt Hinderk Emrich zufolge „ganz wesentlich von unserer eigenen … Erlebnis- und Erlebensgeschichte ab: Es geht dabei um … Erinnerungen; und diese sind sowohl rein neurobiologischer Natur als auch auf psychische Hintergründe bezogen“. Dabei hat der „identitätsbildende Charakter der Vergangenheitsbeziehung des Menschen“ zwei Aspekte: die physikalische Zeit, in die wir eingebettet sind, und die sozusagen „innere“ Zeit, in der die Vergangenheit präsent ist. So ist die (Neuro-)Psychologie der Zeit „eng verknüpft mit der Frage nach dem Bewusstsein“. Bewusstsein ist Emrich zufolge „Kohärenz von Repräsentation von Semantik in der Zeit“.827 In der Szenografie konstituiert sich das „sinnvolle und konkrete Ganze“ (Bachtin) durch Raumbilder, durch begehbare Zeiten und Räume (Räum lichkeiten), und das Ereignis der Begegnung mit diesen Heterochronien und Chronotopoi wird selbst zur Szene. Dabei verschachteln sich die Raumbilder mit und in der Zeit (die der Rezipient im szenografischen Parcours innerhalb einer gewissen Zeitspanne zurücklegt) und der szenometrische Aufbau des Settings (vgl. vorheriges Kapitel), d. h. das szenografische Arrangement, ist selbst chronotopisch: Form und Inhalt korrespondieren und erweisen sich in der Praxis als eine Kategorie (nicht als zwei verschiedene). Iwanow kommt in seinem Aufsatz mit der Überschrift Moderne Wissenschaft und Theater zu sehr ähnlichen Ergebnissen und erkennt diese strukturale Beziehung und Übersetzungsleistung zwischen Form und Inhalt folgendermaßen: „Die Idee des Chronotopos ist nicht nur für das Verständnis von Raum und Zeit in einem Stück und seiner Aufführung interessant. Die einzelnen Arrangements … werden ebenfalls durch ihre zeitliche und räumliche Struktur charakterisiert.“828 Im Roman sind es keine real räumlichen Arrangements, sondern künstlerisch-literarische Bilder und Vorstellungen, und durch das, was Bachtin zu diesen Immaterialitäten herausarbeitet, kann auch die Szenografie (die sich als eine Raum- und Zeitkunst versteht) genauer bestimmt werden. Es können die durch sie hervorgebrachten Bilder, Räumlichkeiten und Zeiten sowie die in 827 Emrich, Hinderk: „Zeitphilosophische Aspekte der Wahrnehmung: Gibt es so etwas wie ‚Zeittrans
zendenz‘?“, in: Fischer-Lichte, E./Risi, C./Roselt, J.: Kunst der Aufführung – Aufführung der Kunst, Berlin: Theater der Zeit 2004, S. 201–208, hier S. 201. Er führt weiter aus, dass der Wahrnehmungsprozess, wie er sich bei einer Aufführung vollzieht, „ein Geschehen [ist], das man als ‚internen Dialog‘ verschiedener System-Teilkomponenten darzustellen versuchen kann“; er resultiere aus erstens den eingehenden Sinnesdaten, zweitens der internen Konzeptualisierung und drittens der internen Kontrolle (S. 205). 828 Wjatscheslaw Iwanow: „Moderne Wissenschaft und Theater“, in: Kunst und Literatur, a. a. O., 1978, S. 747. Er führt weiter aus: „Eisenstein träumte von einer exakten Sprache für die Beschreibung der Arrangements, die eine eindeutige Definition ihrer geometrischen Struktur in den vier räumlichen und zeitlichen Dimensionen ermöglicht … In ähnlicher Richtung suchte sein Lehrer Meyerhold, der in seinen theoretischen Unterricht ein spezielles Fach einbezog, die Szenometrie.“
206 Szenosphäre & Szenotopie
der szenografischen Entwurfspraxis zum Einsatz kommenden Methoden, die Raumbildung, Raumaneignung und auch Zeitaneignung zum Ziel haben (siehe Kapitel 2), näher beschrieben werden. Bachtin führt aus, dass jedes künstlerischliterarische Bild chronotopisch ist und dass die „Sprache als Schatzkammer der Bilder“ räumliche Bedeutungen auf zeitliche Beziehungen übertragen kann und die Aneignung der Zeit ermöglicht 829. Dabei kann die Sprache aus den künstlerisch-literarischen Bildern poetische Bilder machen830, und er beschreibt die „Chronotopie des poetischen Bildes als [die] eines Bildes der zeitlichen Kunst, welche die räumlich-sinnlichen Erscheinungen in ihrer Bewegung und in ihrem Werden darstellt“; vor diesem Hintergrund werde „die Besonderheit der … sujetbildenden Chronotopoi verständlich“.831 Den Bildern inhäriert demnach auch eine deiktische Komponente und eine gewisse Poiesis. Poetische (mithin poietische) Raumzeitbilder, wie Bachtin sie im Roman erkennt, können das reale Leben widerspiegeln und in der Literatur durch verschiedene Motive (z. B. Weg, Straße, Schloss, Provinzstädtchen, die Schwelle etc.)832 zum Ausdruck kommen. In „Ghost Machine“ von Cardiff/Miller ist das Motiv womöglich die mediale Erfahrungswirklichkeit in all ihrer Vielschichtigkeit, sind es all ihre Räume, Ränder, Relationen, Zeiten, Zentren, Zustände, Schichten, Atmosphären etc., die als szenografische Chronotopoi gleichsam das Sujet bilden. Die hervorgebrachten und vom Rezipienten wahrgenommenen Bilder, Räumlichkeiten und Zeiten verstehen sich aus produktionsästhetischer Sicht auch als Absichten und szenografische Arbeitsweisen der Raum-Zeit-Bildung und -Aneignung seitens des Szenografen. Dabei lassen sich eine Vielzahl von Chronotopoi und deren Wechselbeziehungen untereinander beobachten, ähnlich wie Bachtin dies innerhalb eines literarischen Werkes gegeben sieht. 829 Bachtin, Michail M.: Chronotopos, a. a. O. 2008, S. 188 f. Bachtin verweist in diesem Zusammen-
hang auf die Philosophie der symbolischen Formen von Cassirer, in der „die Aneignung der Zeit durch die Sprache“ untersucht wird. 830 Ebd. Bachtin versteht (auch laut Untertitel im Inhaltsverzeichnis) seine Arbeit als „Untersuchungen zur historischen Poetik“. Vgl. Bachelard, Gaston: Poetik des Raumes, München: Hanser 1960. 831 Ebd., S. 189. Lessing habe, so Bachtin, das „Prinzip der Chronotopie des künstlerisch-literarischen Bildes“ in seinem „Laokoon“ erschlossen und indirekt das „Problem der Aneignung der historischen Wirklichkeit im poetischen Bild“ berührt. 832 Ebd., S. 180–186: Er erläutert, dass und wie die verschiedenen Räume idealtypisch verschiedene Zeiten widerspiegeln können: Ein als Chronotopos bevorzugtes Motiv der Antike ist z. B. der Weg, eines des 16./17. Jahrhunderts die Straße. Darauf folgen das Schloss, die Provinz und die Schwelle im 18. und 19. Jahrhundert. Auf dem Weg ereignet sich die Zeit oder veräußerlicht sich der Raum durch Bewegung als eine Begegnung z. B. zweier Menschen. Auf der Straße sind es zumeist zufällige Ereignisse, im Schloss wird die Zeit zum Schauplatz, im Provinzstädtchen ist die Zeit eher klebrig und kriecht dahin, und im Motiv der Schwelle (z. B. bei Dostojewski) steht der Chronotopos für Krisen und Wendepunkte im Leben. Zur für die vorliegende Arbeit relevanten Frage, was ein Chronotopos des 21. Jahrhunderts sein kann, sei hier angemerkt, dass in der heutigen Metropole die Zeit dahineilt, die Nacht zum Tag geworden und der Raum informationsgeladen ist: Die Wirklichkeit kann womöglich als eine „erweiterte“, d. h. eine Art „augmented reality“ bezeichnet werden.
3 Szenogreffieren 207
Ihm zufolge können in Textwelten verschiedene räumliche und zeitliche Phänomene und Zeit-Raum-Beziehungen koexistieren; sie durchdringen einander und verflechten sich auf vielfältige Art und Weise, indem sie sich anziehen, abstoßen, sich entgegenstehen oder ineinander auf- und übergehen.833 Damit wird ein heterotopischer Raum erkennbar (vgl. Kapitel 3.2.1), der zeitlich organisiert und vielschichtig strukturiert, aber kaum fassbar ist und sich einem dimensionalen Zugriff entzieht. Auch Lotman spricht von einer „Polyphonie der Räume“, wenn er in seinen Ausführungen zum künstlerischen Raum, der durch Handlung (Zeit) gestaltet wird, darauf hinweist, dass durch eine vielfältige Art und Weise zeitlicher und räumlicher Verkoppelung sich „ein und dieselbe Welt eines Textes“ in verschiedener Weise aufgeteilt erweist.834 Bachtins und Lotmans Erkenntnisse lassen die chronotopische Dimension der Szenotopie nochmals schärfer erkennbar werden. Die Wechselbeziehungen, von denen Bachtin spricht, geben auch Aufschluss hinsichtlich der Frage, wie die hervorgebrachten und vom Rezipienten wahrgenommenen Bilder, Räumlichkeiten und Zeiten entstehen und das Zusammenspiel zwischen szenografischer Produktion und Rezeption funktioniert. Die Wechselbeziehungen sind laut ihm „dialogisch“ und haben zu tun mit den unterschiedlichen Blickpunkten, die ein Autor, ein interpretierender Künstler, ein Zuhörer oder Leser835 auf ein Werk hat. Eine kurze Darlegung von Bachtins Zeichenbegriff an dieser Stelle verhilft zu einem besseren Verständnis des Dialogischen. Er vertritt eine Zeichen- und Texttheorie, die geprägt ist von prinzipieller Offenheit und Unabschließbarkeit der Zeichen, im Fokus stehen die Kontextualität und die Pluralität der Bedeutungen in Texten. Texte sind Bachtin zufolge vielstimmig, da jeder Text Texte („Stimmen“) aus der Vergangenheit und der Zukunft enthält und somit auch eine Vielfalt von vergangenen und zukünftigen sozialen „Weltbildern“. Indem also jeder Text in Bezug zum allgemeinen Diskurs der Zeit steht, ist er Teil eines größeren Ganzen und es kann seine Bedeutung, sein Sinn nicht nur durch das verwendete linguistische Wortmaterial erschlossen werden.836 Damit distanziert sich Bachtin von der rein immanenten Sprachbetrachtung im Sinne von de Saussure.837 Bachtins Theorien gaben der Texthermeneutik entscheidende Impulse 838, und sein Dialogizitätsmodell, das den Intertextualitätstheorien ursprünglich zugrunde liegt, wurde seit den 1960er Jahren von Poststrukturalisten, etwa von Barthes, Foucault und „Julia Kristeva weiterentwi-
833 Ebd.,
S. 190. Jurij: Die Struktur literarischer Texte, a. a. O. 1972a, S. 328 f. 835 Bachtin, Michail: Chronotopos, a. a. O. 2008, S. 190. 836 Nöth, Winfried: Handbuch der Semiotik, Stuttgart/Weimar: Metzler 2000, S. 96. 837 Schmidt, Ulrich: Literaturtheorien des 20. Jahrhunderts, Stuttgart: Reclam 2010, S. 80. 838 Ebd., S. 81. 834 Lotman,
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ckelt und in das Konzept eines entgrenzten ‚Textuniversiums‘ überführt“.839 Die unterschiedlichen Denkrichtungen dieser Theorien lassen sich auf den „kleinsten gemeinsamen Nenner bringen, der von Intertextualität als einem Text-TextBezug … spricht“. Ein Einzeltext wird nun als ein „Textraum“ gedacht und Literatur als ein „Netzwerk“, ein „sich unablässig erweiternde[s] ‚Textuniversum‘“, in dem Sinnkonstitution durch ein Aufeinandertreffen verschiedener Texte und Kontexte erfolgt.840 Ein solcher „Textbegriff setzt allerdings eine Vorstellung vom Autor als Leser voraus, die jeden Textproduzenten als aktiven Rezipienten anderer Texte versteht und damit als jemanden, der seine Leseerfahrung durch Zitate oder Allusionen … in den eigenen Werken zum Ausdruck bringt“.841 Bei einer solchen Dynamisierung des Textbegriffes kommt es zu einer „Textauffassung, die soziale Strukturen, Kultur, aber auch Ideologie als Text begreift“842, und Kristeva denkt Textstrukturen nicht als „unveränderliche Gegebenheiten, sondern … als Prozess und Transformation“.843 Basierend auf Bachtins Theorie der Dialogizität prägte sie den Begriff „Intertextualität“, wobei sie 1974 diesen Begriff durch den der „Transposition“844, den Lotman bereits 1969 einführte 845, ersetzt. Bachtin gehört Kristeva zufolge „zu den ersten, die die statische Zerlegung der Texte durch ein Modell ersetzen, in dem die literarische Struktur nicht ist, sondern sich erst aus der Beziehung zu einer anderen Struktur herstellt. Diese Dynamisierung des Strukturalismus wird erst durch eine Auffassung möglich, nach der das ‚literarische Wort‘ nicht ein Punkt (nicht ein feststehender Sinn) ist, sondern eine Überlagerung von Text-Ebenen, ein Dialog verschiedener Schreibweisen: der des Schriftstellers, der des Adressaten (oder auch der Person), der des gegenwärtigen oder vorangegangenen Kontextes.“846 So kommt es zu Mehrfachcodierungen von Texten, wie dies auch Lotman (freilich auf andere Art und Weise)
839 Ebd., 840 Ebd., 841 Ebd.
842 Ebd.,
S. 76. S. 77.
S. 84. S. 86. 844 Kristeva, Julia: Revolution der poetischen Sprache, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1978 (1974), S. 69. 845 Lotman untersucht mit dem Begriff „Transposition“ die Bezogenheit von Zeichen (Bedeutungen) auf nichtsprachliche (Zeichen-)Systeme. Jurij M. Lotman: „Zur Metasprache typologischer Kulturbeschreibungen“ (1969), in: Eimermacher, Karl (Hg.): Aufsätze zur Theorie und Methodologie der Literatur und Kultur, Kronberg: Scriptor 1974, S. 99–156. Siehe auch Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte, München: Fink 1972a, S. 62 f.: Hier spricht er davon, dass durch „multiple[] interne[]“ und „externe Umcodierung“ Bedeutung entsteht, wobei „das Zeichen nicht mehr ein äquivalentes Paar darstellt, sondern ein Bündel einander wechselseitig äquivalenter Elemente verschiedener Systeme“ – auch nichtsprachlicher Systeme. 846 Kristeva, Julia: „Wort, Dialog und Roman bei Bachtin“, in: Ihwe, Jens (Hg.): Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven. Bd. 3: Zur linguistischen Basis der Literaturwissenschaft II, Frankfurt a. M.: Athenäum 1972, S. 345–376, hier S. 346. 843 Ebd.,
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insbesondere in seinem Spätwerk847 beschreibt. Kristeva zufolge begründet sich die Mehrfachcodierung von Texten darin, dass sich jeder „Text … als Mosaik von Zitaten auf[baut], jeder Text ist Absorption und Transformation eines anderen Textes. An die Stelle des Begriffs der Intersubjektivität tritt der Begriff der Intertextualität, und die poetische Sprache läßt sich zumindest als eine doppelte lesen.“848 Eine Dynamisierung des Textbegriffs Bachtins und Lotmans ist für die Untersuchung der Struktur der Szenografie also überaus fruchtbar, doch möglicherweise nur bis zu dem Punkt, wo eine gewisse räumliche und zeitliche Bestimmung noch gegeben ist bzw. der Textraum nicht vollständig entgrenzt wird, wie etwa bei Derrida, der von einem „grenzen- und nahtlosen ‚texte général‘ aus[geht]“ und damit in „diametralem Gegensatz zu Bachtin“849 steht. Denn wie sich im Anschluss an Bachtin und Lotman, vor allem aber aus eigener künstlerischer Praxis heraus sagen lässt, können Theoriegebilde und intertextuelle Bezüge insofern nicht sinnvollerweise gänzlich universell oder unendlich (ein) gesetzt werden, als der Mensch stets durch seine Bewegung im Raum physisch und (neuro-)psychologisch in die Welt eingebunden und somit auch zeitlich und kulturell an dieselbe gebunden ist, wie sich in Inszenierungen und deren Produktionsprozessen immer wieder zeigt. Nach diesem Einschub und zurückkommend auf die zuvor erwähnten Wechselbeziehungen, die laut Bachtin „dialogisch“ sind, lässt sich an dieser Stelle nicht nur die Beziehung zwischen dem Autor und Leser – übertragen auf die Szenografie zwischen dem Szenografen und Rezipienten – ausleuchten. Sondern es lässt sich auch das in den Fokus nehmen, was daraus hervorgeht: die hervorgebrachte topologische und relationale Räumlichkeit, die mehr ist als das, was der Szenograf herstellt, nämlich eine von allen Beteiligten „modellierte Ganzheit“ (vgl. Lotman). Bachtin zufolge befinden sich alle (Autor/Künstler und Zuhörer/Leser/Rezipient) in der Wirklichkeit der real historischen Zeit 847 Dass
Lotman jedoch bis heute als Opponent von Bachtin und Kristeva rezipiert wird (siehe Kapitel 3.1.4 der vorliegenden Arbeit), resultiert vor allem aus einem oftmals nicht erkannten Unterschied (nicht Gegensatz) wie N. Chevtchenko anmerkt: „Der Text interessierte Lotman vor allem als Vehikel der Entzifferung kultureller Zeichen, Kristeva hingegen (in Anschluß an Bachtin) als Ort des ununterbrochenen Wandels intertextueller Strukturen.“ Nadejda Chevtchenko: „Zur Rezeption Jurij M. Lotmans in (West-)Deutschland“, in: Habermas, Rebekka (u. a. Hg.): Interkultureller Transfer und nationaler Eigensinn, Göttingen: Wallenstein 2004, S. 146. Zu Lotman sei hier zudem angeführt, dass er sich bei der Bestimmung der kreativen Funktion(en) eines Textes bzw. der informationsgenerierenden Aspekte insofern auf Bachtin bezieht, als er (in Die Innenwelt des Denkens (S. 10, 19–30) herausarbeitet, dass jeder Text Texte enthält und immer neue Texte (auch mittels des Gedächtnisses) erzeugt, was – mit Chevtchenko gesprochen – einen ununterbrochenen Wandels auch intertextueller Strukturen impliziert. Lotman bezieht sich auch insofern auf Bachtin, als er erörtert, dass die Mechanismen des Dialogs (ebd., S. 191–202) eine der wesentlichen Bedingungen für die Entstehung von Kultur sind. 848 Ebd., S. 348. 849 Schmidt, Ulrich: Literaturtheorien des 20. Jahrhunderts, Stuttgart: Reclam 2010, S. 87.
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bzw. in einer Welt, die „von der im Text dargestellten Welt geschieden ist“ und die eine „den Text erschaffende Welt“ ist; seiner Auffassung nach sind alle „an der Erschaffung der im Text dargestellten Welt gleichermaßen beteiligt“, und so gehen aus den realen Chronotopoi „dann die … erschaffenen Chronotopoi … hervor“.850 Er versteht die zwischen Wirklichkeit und Werk bestehende Grenze als eine Art Membran, „ähnlich dem ununterbrochenen Stoffwechsel, der sich zwischen Organismus und seiner Umwelt abspielt“.851 Der Rezipient einer Szenografie erschafft also die erschaffenen Raumzeiten mit; er befindet sich – auch wenn er in einer anderen Zeit als der des Werkes lebt – physisch innerhalb der Szenografie und durchläuft den Parcours (was im nächsten Kapitel mit dem Begriffspaar „nahsichtige Anschauung – haptischer Raum“852 weiter ausgearbeitet wird). Der Szenograf oder bei Bachtin der Autor hat hingegen eher eine Fernsicht und befindet nicht direkt innerhalb des Werkes, sondern „außerhalb der dargestellten Chronotopoi, gleichsam auf einer Tangente zu ihnen“853. Damit lokalisiert Bachtin nicht nur die künstlerische Position, d. h. die um das eigene Kunstwerk kreisende Bewegung des Künstlers (hier Szenografen), sondern er benennt auch das, was die zentrale künstlerische Tätigkeit ausmacht: die Komposition854, aus der die zusammengestellten (real historischen und inszenierten) Raum- und Zeit-Konfigurationen hervorgehen. Die strukturierende und mithin (post-)strukturalistische Komposition ist insofern ein wichtiges szenografisches Instrumentarium, als damit die Szenografie zeitlich gestaltet und rhythmisiert werden kann, sei es durch zeit-, raum- und bildsprachliche Mittel oder durch Taktung (szenische Auf- und Abgänge oder eine Struktur bildende Lichtführung, z. B. Auf- und Abblendung) oder durch Medien (Echtzeitmedien oder filmische Bildräume, die die Zeit verräumlichen und den szenografischen Raum zusätzlich dynamisieren). Aus welchen Ereignissen setzen sich die (real historischen und inszenierten) szenografischen Raum- und Zeit-Konfigurationen nun zusammen? Bachtin führt in Bezug auf Literatur weiter aus – und das kann auch bezüglich der Szenografie gesagt werden –, dass wir es mit zwei Ereignissen zu tun haben: „dem Ereignis, von dem im Werk erzählt wird, und dem Ereignis des Erzählers selbst“. Ihm zufolge vollziehen sich „diese Ereignisse … in verschiedenen Zeiten (verschieden auch in ihrer Dauer) und an verschiedenen Orten und sind gleichzeitig fest zusammengeschlossen in einem einheitlichen, aber komple850 Bachtin,
Michail: Chronotopos, a. a. O. 2008, S. 191. S. 192. 852 Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Tausend Plateaus, a. a. O. 1992 (1980), S. 682. 853 Bachtin, Michail: Chronotopos, a. a. O. 2008, S. 192. 854 Ebd., S. 190,193. 851 Ebd.,
3 Szenogreffieren 211
xen Ereignis, das wir als das Werk in seiner Ereignisfülle bezeichnen können“.855 Im Beispiel der Arbeit „Ghost Machine“ von Cardiff/Miller ist dieses „komplexe Ereignis“ die Aufführung im Hebbel-Theater. Die Form, wie erzählt wird – „discours“856 –, d. h. die narrative Sinnordnung ist chronotopisch konzipiert, und die Erzählform folgt in „Ghost Machine“ keiner Linearität und chronologischen Entwicklung, sondern ist anders geordnet und an die Raumzeit rückgekoppelt, d. h. an eine Raum- und Zeitvorstellung, die in der nichteuklidischen Geometrie gründet und Newtons Konzept einer absoluten Zeit infrage stellt. Beziehungen stehen hier relational zueinander, sie werden augenblicklich und ausschnitthaft in nichtlinearen Verflechtungen gezeigt, die durch Rückblenden, Voraussichten und Simultaneitäten dem Rezipienten vermittelt werden.857 Wie bereits angeführt wurde, sind die Zeiten, die sich in „Ghost Machine“ zunächst zusammenhäufen, die knapp 30 Minuten der Inszenierung (die Erzählzeit) sowie die erzählte Zeit der kriminalistischen Geschichte im ersten und die der Selbstwahrnehmung im zweiten Teil des Stücks. Die erzählte Zeit im ersten Teil (die Verschleppung einer Person, ihre Wiedererkennung auf dem Standstreifen einer öffentlichen Straße etc.) beträgt wahrscheinlich mehrere Tage oder Wochen, und die der Selbstreflexion beträgt wenige Minuten und wird durch mehrere kurze Momentaufnahmen und Augenblicke erzählt. Die erzählte Zeit der Selbstreflexion vermittelt sich durch poetische Raumzeitbilder, die sich auf die Wahrnehmung von eigenen Lebenssituationen und -erfahrungen beziehen, z. B. die Szene, die einen in den unheimlichen Keller und zu Kindheitserinnerungen führt. Die Schnelligkeit oder Langsamkeit der einzelnen Ereignisse (z. B. ist die Erzählzeit der Kriminalgeschichte kürzer als die erzählte Zeit derselben, d. h., die Kriminalgeschichte wird zeitlich gerafft) bestimmen zusammen mit den Intervallen der einzelnen szenografischen Stationen den Rhythmus der Szenografie. In diesem kommt es zu dramaturgischen Rückwendungen und/oder zu Vorausdeutungen, insbesondere durch die medialen Zeit-, Bild- und Tonräume, die der Besucher über die Videokamera und die Kopfhörer erlebt. Im Aufbau des Settings, d. h. im szenografischen Arrangement, bemisst sich die erzählte Zeit als räumliche Ausdehnung, d. h. durch die insgesamt ca. 20 Stationen, die man durchläuft; die Linien und Bahnen der Zeit schreiben sich in den Erzählraum der Szenografie ein und graphieren 855 Ebd.,
S. 193.
856 Verkürzt könnte man sagen: In der Literaturtheorie ist der Inhalt (das Was) die „histoire“ und die
Form (das Wie) der „discours“. Gérard Genette und Tzventan Todorow leisteten einen bedeutenden Beitrag zur heutigen Erzähltheorie, indem sie die Begriffe „histoire“ „und „discours“ einführten. Für weiterführende Literatur hierzu siehe z. B. Schmid, Ulrich (Hg.): Literaturtheorien des 20. Jahrhunderts, Stuttgart: Reclam 2010. 857 Literarische Werke wie Dantes Göttliche Komödie (ca. 1310) oder Prousts Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (ca. 1910), die hier nicht weiter besprochen werden können, sind berühmte Beispiele für solche Zeitempfindungen und Weltansichten, relationale, nichtlineare und chronotopische Sinnordnungen und Erzählweisen.
212 Szenosphäre & Szenotopie
ihn – „kerben“ ihn, könnte man sagen. Die „Stops and Goes“, d. h. das Stehenbleiben und das Gehen858, takten die Ereignisse des Geschehens zusätzlich, und die Ereignisse, die mit Atmo- bzw. Szenosphären einhergehen, besetzen den szenografischen Raum, setzen sich gleichsam in ihm frei859 und schreiben ihn fort. Dabei werden verschiedene Zeiten860 chronotopisch ineinander verschachtelt: die Erzählzeit, die erzählte Zeit sowie die Zeit, die dem Empfinden (der Psyche) des Rezipienten nach schnell oder langsam vergeht, und außerdem die Zeit, die tatsächlich die Uhr anzeigt und physikalisch vergeht. Darüber hinaus gibt es die Zeit, die durch Medien (Sound, Video etc.) gestaltet und durch die Bild- und Tonmontage geschnitten und gespurt wird und die der Rezipient weitermontiert und imaginiert – dadurch kann eine Art „Affekt-Raum“861 entstehen, wie sich mit Deleuze/Guattari sagen lässt. Raumzeitlich gedacht geht es um Krümmungen und handelt es sich bei diesen Zeiten um Umbiegungen, die den Raum falzen und brechen und sich als Zeitfalten in ihn einschreiben. In diesem Sinne spricht in „Ghost Machine“ gleich zu Beginn die Kopfhörerstimme von Personen, die zwar auf dem Videomonitor zu sehen sind und im Geschehen eine reale Rolle spielen, doch in Wirk858 Vgl. einleitende Ausführungen im Kapitel 3.1 „Szenosphäre“: Die „Stops and Goes“ sind einerseits
die real-physische Bewegung des Besuchers im Raum und andererseits die Bewegungen, die sich aus der Montage der Filmbilder, d. h. aus den Strategien des „Point of View“ der filmisch-virtuellen Bildräume ergeben. 859 Vgl. Gilles Deleuze/Félix Guattari: „1440 – Das Glatte und das Gekerbte“, in: Günzel, Stephan/ Dünne, Jörg (Hg.): Raumtheorie, a. a. O. 2006, S. 435. 860 Zum Thema Zeit als ein Phänomen, das sich in verschiedene Gegenwarten wandeln kann, siehe Emrich, Hinderk M./Gerbothe, C. (Hg.): Über die Verwandlung von Zeit in Gegenwart im Film: zur philosophischen Psychologie von Realität und Traum im Kino. Vorlesungen an der Kunsthochschule für Medien Köln (KMH) 1995–2005, Göttingen: Cuvillier 2010. 861 Vgl. Gilles Deleuze/Félix Guattari: „1440 – Das Glatte und das Gekerbte“, in: Günzel, Stephan/ Dünne, Jörg (Hg.): Raumtheorie, a. a. O. 2006, S. 437. Ihnen zufolge ist die Linie im glatten Raum „eine Richtung und keine Dimension oder metrische Bestimmung“, und der glatte Raum wird „viel mehr von Ereignissen … als von geformten oder wahrgenommenen Dingen besetzt. Er ist eher ein Affekt-Raum als ein Raum von Eigenschaften. Er ist eher eine haptische als eine optische Wahrnehmung.“ Zum Affekt-Raum vgl. das „Affekt-Bild“ in Deleuze, Gilles: Das Bewegungs-Bild, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997 (1983), S. 152 f. Michaela Ott führt zum Affekt-Bild und Deleuzes Filmphilosophie aus, dass die Großbildeinstellung (durch Außer-Acht-Lassen der Tiefenperspektive und raumzeitlicher Koordinaten) den „beliebigen Raum“ (wie Deleuze ihn nennt) ermöglicht bzw. inszeniert. Er bezeichnet das Affekt-Bild als einen „taktilen Raum“, der sich, so Ott, „aus der nahsichtig-tastenden Einstellung ergibt“ oder durch eine bestimmte Bildgestaltung ermöglicht. Damit der Raum zu einer Art virtueller Verbindung werden kann, sei es entscheidend, dass er seine Containerform abstreift. Ott, Michaela: Affizierung: zu einer ästhetisch-epistemischen Figur, München: Edition Text + Kritik, Boorberg 2010, S. 473. Diese haptische Wahrnehmung ist genau jene Schnittstelle zur Szenosphäre: Sie wird eher haptisch (das Auge tastet den Raum nahsichtig ab) als visuell-optisch (fernsichtig) wahrgenommen und konstituiert sich mehr durch eine atmosphärische Ästhetik und weniger durch eine semiotische. Und die „Szenotopie“ lässt sich (ähnlich wie der glatte Raum von Deleuze/Guattari) nicht volumetrisch dimensional bestimmen, sondern versteht sich als ein topologisches Relationsgefüge, das als ein Handlungsraum von Akteuren (Szenografie-Besuchern und anderen Mitspielern) hervorgebracht wird.
3 Szenogreffieren 213
lichkeit nicht vor Ort bzw. virtuell sind. Die Stimme spricht auf stimmungsvolle Art und Weise von Imagination und von einem Erscheinen und Verschwinden der Dinge und der Menschen in der Zeit: „We shift into a different pocket of time.“ Diese sozusagen als Zeitfalten wahrgenommenen Stimmungsbilder und medialen Ereignisse lassen sich nicht nur als poetische Bilder verstehen, sondern auch als kristalline 862 Bildräume, die zwischen Aktuellem, Imagination und Virtualität wirken. Ihre spezifische Kraft liegt laut Deleuze darin, verschiedene Zeitebenen zu durchdringen und auf ihnen gleichzeitig spielen zu können; durch sie lassen sich Raum und Zeit ausschnitthaft befühlen und treten raumzeitliche Prozesse ins Bewusstsein, wird Reales und Inszeniertes, Gegenwärtiges und Vergangenes/Zukünftiges kaum unterscheidbar und überlagert sich. Sie können den Raum falten und gleichermaßen entfalten, sie rhythmisieren das Geschehen und haben als diffuse Orientierungsstruktur auch eine dramaturgische Funktion. Durch die „beliebige Zeit“863, d. h. mit den verschiedenen Zeitebenen, durch die sich diese Bildräume konstituieren, kann sich das Raumbild der Szenografie transformieren: Das Relationenensemble wird zu etwas Offenem, einem topologischen (Zeit-)Raum, der dimensional unbestimmt ist. Auf dem Weg durch den szenografischen Parcours oszillieren die verschiedenen Raum- und Zeiterfahrungen und es wechseln sich die dimensionale Unbestimmtheit und die konkreten Räume und Zeiten der einzelnen Stationen des realen Parcours ab. Am Ende des Stückes wird man durch die Tür zum Foyer entlassen: „Weitere Bewegung ist unmöglich“864. Die Rolle der Chronotopoi liegt (in ihrer gestalterischen Bedeutung und Aufgabe) darin, die grundlegenden Sujetereignisse zu strukturieren, in ihnen werden „die Knoten des Sujets geschürzt und gelöst“.865 Nur auf dieser Grundlage, so Bachtin, lassen sich Ereignisse zeigen und darstellen, „dank der besonderen Verdichtung und Konkretisierung der Kennzeichen der Zeit … auf bestimmten
862 Vgl. Gilles Deleuze: „Die Zeitkristalle“, in Deleuze, Gilles: Das Zeit-Bild, Frankfurt a. M.: Suhrkamp
1997 (1985), S. 95–131. Ein „Kristallbild“ ist ihm zufolge ein Bild, in dem sich verschiedene Zeiten (Reales, Erinnerungs- und Traumbilder) durchdringen. 863 Vgl. den „beliebigen Raum“ bei Deleuze. Er spricht in seiner Filmphilosophie von einem „beliebigen Raum“, der „keine abstrakte Universalie jenseits von Zeit und Raum [ist, sondern] ein einzelner, einzigartiger Raum, der nur seine Homogenität eingebüßt hat, das heißt das Prinzip seiner metrischen Verhältnisse oder des Zusammenhalts seiner Teile, so daß eine unendliche Vielfalt von Anschlüssen möglich wird. Es ist ein Raum virtueller Verbindungen, der als ein bloßer Ort des Möglichen gefaßt wird.“ Deleuze, Gilles: Das Bewegungs-Bild, a. a. O. 1997 (1983), S. 153. 864 Für die Handlung („Sujet“) ist die Bewegung als Überschreitung (der Grenze(n)) konstitutiv. Was in einer Erzählung die „bewegliche Figur“ ist (der Handlungsträger), kommt in der Szenografie der Rolle des sich bewegenden Besuchers gleich. Mit dem Ende der Handlung(en) stoppt auch die Bewegung, siehe dazu Ausführungen in Kapitel 3.1.4 sowie Jurij M. Lotman: „Künstlerischer Raum, Sujet und Figur“, in: Günzel, Stephan/Dünne, Jörg (Hg.): Raumtheorie, a. a. O. 2006, S. 529–545, insb. S. 543. 865 Bachtin, Michail M.: Chronotopos, a. a. O. 2008, S. 187.
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Abschnitten des Raumes“.866 So wie „der Chronotopos als Angelpunkt für die Entfaltung der ‚Szenen‘ im Roman“867 dient, kann er als der Drehpunkt in der Szenografie bezeichnet werden. Dabei liefert der Bereich der Kultur den notwendigen Kontext für das Werk, für die vom Autor (hier Szenograf ) eingenommene Position und die im Werk widergespiegelten Intentionen.868 Hier lässt sich die Brücke zu dem schließen, was bereits im Kapitel 3.1 „Szenosphäre“ ausgeführt wurde: die semiotische Dimension einer künstlerischen Hervorbringung und die Eingebundenheit derselben in die Semiosphäre (Lotman). Bachtin spricht in gleicher Denkrichtung von der „Sinnsphäre“. Er führt dazu aus, dass künstlerische Sinnbildungen eine „zeitlich-räumliche Ausdrucksform …, d. h. eine Zeichenform“ annehmen müssen, um in unsere Erfahrung eingehen zu können.869 Er nennt ebenda als mögliche Zeichenformen z. B. die Hieroglyphe oder eine mathematische Formel oder einen Ausdruck durch Sprache, Wort oder Zeichnung etc. Hier seien ergänzend auch z. B. die Musik(note), Licht, audiovisuelle Aufschreibsysteme und freilich die Szenografie mit all ihren räumlichen und zeitlichen Inszenierungsmitteln zu nennen. Bachtin zufolge macht eine „solche zeitlich-räumliche Ausdrucksform“ abstraktes Denken überhaupt erst möglich – „[m]ithin kann die Sphäre der Sinnbildung nur durch die Pforte der Chronotopoi betreten werden“.870 Sein metaphorisches Schlussbild öffnet den Weg zurück zum Thema Raumkerben, das in den vorigen Ausführungen zur Arbeit „Ghost Machine“ von Cardiff/Miller angeschnitten wurde und im Folgenden nochmals genauer untersucht wird. Wie eingangs in Aussicht gestellt, bringen Deleuze/Guattari mit ihrer Idee des „Glatten“ und „Gekerbten“ eine Denkansatz 871 ein, der für die Theoriebildung 866 Ebd., 867 Ebd.
868 Ebd.,
S. 188
S. 194. Auch wenn Literatur oder Szenografie weder eine Intention noch Bedeutung oder Sinn haben müssen, haben sie zumindest die Intention, sich an einen Leser bzw. Besucher zu richten und gesehen werden zu wollen. Eine Szenografie stellt als ein Kunstwerk/Ereignis etwas aus, d. h. sie stellt eine Welt auf, in die sie (Besucher) einlädt. Fragen zum Begriff „Autor“, den Bachtin verwendet, oder was ein Autor ist (oder ob ein Szenograf ein solcher ist), werden in der vorliegenden Arbeit nicht besprochen. 869 Bachtin, Michail M.: Chronotopos, a. a. O. 2008, S. 187 f., 196. 870 Ebd. 871 Der Denkansatz lässt sich laut Jörg Dünne als „Metatheorie der Räumlichkeit des Politischen zwischen geographischer Bindung und Lösung aus dieser Bindung“ verstehen. Das (deterritorialisierte, nomadische) „Glatte“ und das (reterritorialisierte, sesshafte) „Gekerbte“ verstehen sich als ästhetisch verwendete topologische Begriffe. Historischer Ausgangspunkt der Überlegungen von Deleuze/ Guattari ist das Jahr 1440, in dem portugiesische Seefahrer mit der Erforschung der Küste Afrikas beginnen und somit (durch Navigationstechniken) mit der Einkerbung (zunächst Vermessung) des Meeres begonnen wird; das Meer ist für Deleuze/Guattari der Archetyp des glatten Raumes. Jörg Dünne: Einleitung Teil V, Politisch-geografische Räume, in: Günzel, Stephan/Dünne, Jörg (Hg.): Raumtheorie, a. a. O. 2006, S. 381 ff.
3 Szenogreffieren 215
des szenografischen Raums perspektiviert werden kann. Das umfassende Werk von Deleuze und Guattari, eines der Hauptwerke des Poststrukturalismus, kann im Rahmen der vorliegenden Arbeit jedoch nur punktuell skizziert werden. Und zwar im Hinblick auf das Konkrete und Sichtbare einerseits: den im Raum installierten Parcours, der sich mit Deleuze/Guattari als eine Art „gekerbter Raum“ ausdeuten lässt, sowie das Unbestimmte und Unsichtbare andererseits: das im Parcours Wahrgenommene und medial Hergestellte, das sich nicht dimensional fassen und als eine Art „glatter Raum“ verstehen lässt. Um dem abstrakten Denken über das „Glatte“ und „Gekerbte“ näher zu kommen, helfen chronotopische Bilder oder Modelle (Stadt, Meer, Musik), die die Autoren selbst zur Verfügung stellen und hier zum Einstieg verhelfen. Grundsätzlich gilt, dass die beiden Raumtypen (der glatte und der gekerbte Raum) sich stets wechselseitig ineinander überführen872. Der Denkansatz ist für die Szenografie insofern aufschlussreich, als es in ihm um Erfahrungen von Räumlichkeiten geht, die sich in Handlungen und Strukturen begründen, welche sich aus einem „ganze[n] Komplex von Praktiken“873 hervorbringen. Es sind Prozesse gemeint, die Räumlichkeiten erschaffen und die dann als Raumaneignungen sichtbar und erfahrbar werden können. Diese Prozesse der Herstellung und Transformation sind einerseits topografisch und andererseits topologisch konzipiert und in der Praxis als (topografische) Einkerbungen oder als (topologische) strukturelle Ordnungs- und Relationengefüge beschreibbar. Zu den Bildern/Modellen, die das „Gekerbte“ veranschaulichen, zählt die Stadt; bei Deleuze/Guattari ist sie die Einkerbungskraft und „der eingekerbte Raum par excellence“.874 Hingegen ist „das Meer der Archetyp des glatten Ergänzend sei hier ausgeführt: Die nautische Aneignung des Meeres erfolgt entweder durch Punkt (Sternennavigation) oder durch Strecke (terrestrische Navigation: kartografische Positionsbestimmung durch Längen- und Breitenkreise). Deleuze/Guattari zufolge werden im gekerbten Raum „Linien oder Bahnen tendenziell Punkten untergeordnet: Man geht von einem Punkt zum nächsten. Im glatten Raum ist es umgekehrt: die Punkte sind der Bahn untergeordnet.“ Gilles Deleuze/Félix Guattari: „1440 – Das Glatte und das Gekerbte“, in: Günzel, Stephan/Dünne, Jörg (Hg.): Raumtheorie, a. a. O. 2006, S. 436. Robert Stockhammer verweist in seiner Schrift TopoGraphien der Moderne (Ausführungen dazu siehe Kapitel 3.2 der vorliegenden Arbeit) auf den Raum als „Produkte graphischer Operationen im weitesten Sinne“ und rekurriert auf Einschreibungen (Graphien), die hier nun als topografische Einkerbungen konkret sichtbar werden: Das Meer wird durch Vermessung gekerbt, also gerastert und damit auch dimensional fassbar und beherrschbar. Vor diesem Hintergrund erschließt sich nochmals der Zusammenhang zwischen „Szeno-Graphien“ (vgl. Kapitel 3.2.2) und der Szenografie, welche sich Raum aneignet und Raum produziert, indem sie Einschreibungen vornimmt. Als Hervorbringung einer szenografischen Operation wird die Szenografie (der Parcours) als eine Art Einkerbung im Sinne einer Szene sichtbar, sie wird zur Szene selbst. 872 Gilles Deleuze/Félix Guattari: „1440 – Das Glatte und das Gekerbte“, in: Günzel, Stephan/Dünne, Jörg (Hg.): Raumtheorie, a. a. O. 2006, S. 434. 873 Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Tausend Plateaus, a. a. O. 1997 (1980), S. 206. 874 Gilles Deleuze/Félix Guattari: „1440 – Das Glatte und das Gekerbte“, in: Günzel, Stephan/Dünne, Jörg (Hg.): Raumtheorie, a. a. O. 2006, S. 441.
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Raumes“.875 Am Beispiel der Musik als einer zeitlich-räumlichen Ausdrucksform veranschaulichen sie die Beziehung zwischen dem „Glatten“ und „Gekerbten“. In ihrem „Modell der Musik“ beziehen sie sich auf den Komponisten Pierre Boulez, der ihrer Meinung nach „der erste [war], der ein Ensemble von einfachen Gegensätzen und komplexen Differenzen, aber auch von nicht symmetrischen wechselseitigen Korrelationen zwischen dem glatten und dem gekerbten Raum entwickelt hat“.876 Im Zusammenspiel von gerichteten und dimensionalen Räumen einerseits und von Riemann’schen Mannigfaltigkeiten877 (siehe Kapitel 3.2878) andererseits ist in der Musik das „Gekerbte …, was das Festgelegte und Variable miteinander verflicht, … ordnet … und was horizontale Melodielinien und vertikale Harmonieebenen organisiert. Das Glatte ist kontinuierliche Variation, die kontinuierliche Entwicklung der Form und die Verschmelzung von Melodie und Harmonie zugunsten einer Freisetzung von im eigentlichen Sinne rhythmischen Werten“.879 Die Szenografie kann so gesehen als eine Praktik bezeichnet werden, die sich sowohl durch ordnende und organisierende als auch durch frei sich entwickelnde Eingriffe und Setzungen und nicht zuletzt auch mittels medialer Techniken realisiert. Insbesondere die Szenografie, die sich durch zeitbasierte Medien konstituiert und als eine Kunst durch Medien versteht, schreibt den realen Raum fort und macht ihn in seiner Entwicklung variabel, operiert mit Bewegtbildern (Video etc.) und so mit Techniken wie der des „beliebigen Raums“880. Ein „beliebiger Raum“ ist „glatt“ und rein topologisch konzipiert, bar jeder Eigenschaft und insofern praktisch (in der Praxis funktional), als damit „eine
875 Ebd., S. 439. Zum „Modell des Meeres“ führen sie aus (S. 437 f.): „Die Wahrnehmung besteht hier
eher aus Symptomen und Einschätzungen als aus Maßeinheiten und Besitztümern. Deshalb wird der glatte Raum von Intensitäten, Winden und Geräuschen besetzt, von taktilen und klanglichen Kräften und Qualitäten, wie in der Steppe, in der Wüste oder im ewigen Eis. … Der eingekerbte Raum wird hingegen vom Himmel als Maßstab und den sich daraus ergebenden, meßbaren visuellen Qualitäten überdeckt.“ 876 Gilles Deleuze/Félix Guattari: „1440 – Das Glatte und das Gekerbte“, in: Günzel, Stephan/Dünne, Jörg (Hg.): Raumtheorie, a. a. O. 2006, S. 435 f. 877 „Es war ein entscheidendes Ereignis, als der Mathematiker Riemann das Vielfache aus einem Prädikat zu einem Substantiv machte, zur ‚Mannigfaltigkeit‘.“ Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Tausend Plateaus, a. a. O. 1997 (1980), S. 669. 878 Wie bereits dargelegt, lässt sich der topologische Ansatz auf die Zeit der Algebraisierung der Geometrie zurückführen; nach den Entdeckungen von Listing gelangt das topologische Raumverständnis durch Bernhard Riemann zu neuen Erkenntnissen, der n-dimensionale Räume und Mannigfaltigkeiten einführte. 879 Gilles Deleuze/Félix Guattari: „1440 – Das Glatte und das Gekerbte“, in: Günzel, Stephan/Dünne, Jörg (Hg.): Raumtheorie, a. a. O. 2006, S. 435 f. 880 Wie bereits ausgeführt, wird der „beliebige Raum“ bei Deleuze „als ein bloßer Ort des Möglichen gefasst“, als ein „Raum virtueller Verbindungen“. Deleuze, Gilles: Das Bewegungs-Bild, a. a. O. 1997 (1983), S. 153.
3 Szenogreffieren 217
unendliche Vielfalt von Anschlüssen möglich wird“881. Laut Hinderk Emrich ermöglicht „in Anspruch genommener Raum“882 diese Kerben. Der Umgang mit (filmischen) Techniken lässt Rückschlüsse auf die Konzeption der Szenografie zu, die der Szenograf als eine Inszenierungsstrategie anlegt und im Raum installiert. Durch die beliebigen Zeiten und die beliebigen Räume (die sich durch Filmschnitt, Montage sowie durch Imagination ermöglichen) sowie durch die arbiträren Umschnitte und Bewegungsrichtungen der medialen und imaginativen Bildräume (die sich wiederum mit den Realbauten des szenografischen Arrangements zeitlich und räumlich verschachteln) zeigt sich der schöpferische Standpunkt des Szenografen. Damit lässt sich im Grunde genommen auf ein der heutigen Epoche entsprechendes Raum- und Zeitverständnis schließen, aus dem er schöpft und das er der Szenografie zugrunde legt. Es zeigt sich – filmisch gesprochen – die „Bildeinstellung“, die der Szenograf auf die „reale Wirklichkeit“883 hat: die Sichtweise der von ihm künstlerisch erschaffenen Welt, die er als Möglichkeitsraum vom Rezipienten gesehen wissen will. Deleuze spricht in seiner Schrift Das Zeit-Bild von „Riemannschen Räumen“ – in Filmen (Sichtweisen) bei Regisseuren wie Bresson, Robbe-Grillet, Resnais, Herzog und Tarkovskij884 – sowie von „Kristallbildern“885, die sich auch in der Szenografie finden. So kann in diesem Bezugsrahmen886 gesagt werden, dass die Szenografie zwischen dem „Gekerbten“ und dem „Glatten“ changiert, dass sie einerseits als konkrete Installation (Einkerbung) sichtbar werden und andererseits als etwas Nichteuklidisches erscheinen kann, das „mehr von Ereig881 Ebd.
882 Hinderk
Emrich in einem Interview, das ich mit ihm 2014 geführt habe; dabei wurden Aspekte zum perspektivischen Sehen und zur Philosophie des Raumes im Kino diskutiert. 883 Die ästhetische Verarbeitung von biologischen Außenreizen „wird in Bachtins Verständnis zur ‚realen Wirklichkeit‘, die … mit chronotopisch strukturierten Romanen beantwortet wird“; vgl. Franks und Mahlkes Nachwort, in: Bachtin, Michail M.: Chronotopos, a. a. O. 2008, S. 212. Zur Frage der Authentizität von Bildern oder Wirklichkeiten vgl. auch Emrich. Ihm zufolge wird „Realität … nicht gewusst – Realität wird ‚geglaubt‘; und zwar dies in dem Sinne, wie es eine tiefe Überzeugung gibt über die Realität der Begegnung mit anderen.“ Emrich, Hinderk: Zur Entstehung authentischer Bilder. Beiträge der Neurobiologie, Vortrag auf den 44. Internationalen Kurzfilmtagen Oberhausen. Siehe www.nachdemfilm.de/content/zur-entstehung-authentischerbilder-beiträge-der-neurobiologie (letzter Zugriff:10.12.2013) 884 Deleuze, Gilles: Das Zeit-Bild, a. a. O. 1997 (1985), S. 172 f. 885 Deleuze, Gilles: „Die Zeitkristalle“, in ebd., S. 95–131. Wie bereits ausgeführt, folgt das „Kristallbild“ keiner linear-chronologischen, sondern einer „kristallinen“ Zeitordnung. Die Bildordnung (Bildfolge) lässt sich als eine Schichtung verstehen – die Zeit als Hybridation: Verschiedene Zeitebenen (Gegenwart, Vergangenheit etc.) werden übereinander und ineinander gelagert, sodass sich die Bilder der Wirklichkeit (nach Bachtin Bilder der „real historische Zeit“, bei Deleuze sind es die „aktuellen“ Bilder), die Erinnerungsbilder und die Traumbilder (Deleuze nennt sie „virtuellen“ Bilder) durchdringen. Ihr Zusammenspiel sieht Deleuze im bzw. als Kristallbild realisiert. Dazu schreibt er: „Das Kristallbild ist der Punkt der Ununterscheidbarkeit zwischen den beiden Bildern, dem aktuellen und dem virtuellen“ (S. 112). 886 Siehe zum „Bewegungs-Bild“ und „Zeit-Bild“ von Deleuze auch Wilharm, Heiner: Die Ordnung der Inszenierung, a. a. O. 2015, S. 30, 345 f.
218 Szenosphäre & Szenotopie
nissen … als von geformten oder wahrgenommenen Dingen besetzt”887 wird. Auch nach Bachtins Idee des Chronotopos als einer möglichen Raumzeit-Konfiguration ist Raum als eine Art Zustand und nicht als Abstand aufzufassen, d. h. als beliebig vieldimensional und transformativ, als eine Mannigfaltigkeit also, in der die euklidische Metrik nicht Voraussetzung ist. Damit spannt sich der Bogen zurück zu dem, was Deleuze einige Jahre vor seinem „Bewegungs-Bild“ und „Zeit-Bild“ entwarf: die Idee des „glatten“ und des „gekerbten“ Raumes. Ersterer ist reines Spatium und lässt sich als die „von dieser Tätigkeit [des Spazierens] abstrahierte Struktur“888 verstehen: weder als Maß noch als Volumen, sondern als Richtung und Beziehung und als Räumlichkeit im Sinne eines offenen Wirkfelds (dynamische Strukturen), das dem Geschehen und Werdensprozessen Rechnung trägt. Das, was struktural ist, ist der „prä-extensive[] Raum, reines spatium, das allmählich als Nachbarschaftsordnung herausgebildet wurde, in der der Begriff der Nachbarschaft … nicht eine Bedeutung in der Ausdehnung [hat]“.889 Der gekerbte Raum hingegen besitzt dimensionale Eigenschaften. Beide unterliegen einer jeweils verschiedenen Ästhetik890, wie im folgenden Unterkapitel genauer untersucht wird. Die Welt als mögliche Raumzeit-Konfiguration oder als einen Möglichkeitsraum zu entwerfen oder rezipieren zu wollen – so wie dies im Projekt „Ghost Machine“ von Cardiff/Miller geschieht –, setzt dabei voraus, den dreidimensionalen Raum unserer alltäglichen Wahrnehmung (der Riemann zufolge nur ein besonderer Fall einer dreifach ausgedehnten Größe ist) zu entgrenzen. In „Ghost Machine“ wird diese Größe durch audiovisuelle Informationsebenen erweitert und mit ihr die soziale Welt, die uns als eine Art erweiterte Realität widergespiegelt wird. Sowohl die Konzeption, Herstellung als auch die Rezeption dieser Realität lassen sich wohl nur erfassen, „wenn man ganz in die Besonderheit einer empirischen, in der Geschichte räumlich und zeitlich bestimmba887 Gilles Deleuze/Félix Guattari: „1440 – Das Glatte und das Gekerbte“, Günzel, Stephan/Dünne,
Jörg (Hg.): Raumtheorie, a. a. O. 2006, S. 437. Stephan: Topologie, a. a. O. 2007, S. 24 f. 889 Deleuze, Gilles: Woran erkennt man den Strukturalismus?, Berlin: Merve 1992, S. 15. Nach Deleuze haben die Elemente der Struktur weder äußerliche Bezeichnung noch innere Bedeutung, sie haben „nichts anderes als einen Sinn: einen Sinn, der notwendig und einzig aus der ‚Stellung‘ hervorgeht. Es handelt sich … um Plätze und Orte in einem eigentlichen strukturellen, das heißt topologischen Raum.“ 890 Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Tausend Plateaus, a. a. O. 1997 (1980), S. 682 ff. In ihrem „Modell der Ästhetik“, in dem sie sich auf Alois Riegl, W. Worringer und H. Maldiney beziehen, sprechen sie dem gekerbten Raum eine eher optische Wahrnehmung und eine fernsichtige Anschauung zu. Der glatte Raum hingegen verweise auf eine eher haptische Wahrnehmung und nahsichtige Anschauung: „Dort, wo die Anschauung nah ist, ist der Raum nicht visuell, … hat das Auge … nicht optische Funktion: … es gibt keinen Horizont, keinen Hintergrund, keine Perspektive“. Hier sei auch auf Kapitel 3.1 der vorliegenden Arbeit verwiesen: Szenosphären unterliegen einer Nah-Anschauung, ihre Räumlichkeit konstituiert sich nicht durch einen Raum als Fläche oder durch einen perspektivischen Schnitt durch den Raum (wie dies bei Bühnenbild-Atmosphären der Fall ist). 888 Günzel,
3 Szenogreffieren 219
ren Realität eindringt, aber nur um sie als ‚besonderen Fall des Möglichen‘ zu konstruieren, wie Gaston Bachelard das nannte …, also als Einzelfall in einem endlichen Universum von möglichen Konfigurationen“891, wie sich mit Pierre Bourdieu sagen lässt. Ihm zufolge ist das Reale relational892, und diese Lesart ermöglicht den fruchtbaren Anschluss von der Theorie zur (praktischen) „Kunst des Handelns“893, der im kommenden Unterkapitel zum Thema „Szenotopie“ nachgegangen wird.
891 Pierre Bourdieu über den sozialen und symbolischen Raum in „Praktische Vernunft. Zur Theorie
des Handelns“, in: Günzel, Stephan/Dünne, Jörg (Hg.): Raumtheorie, a. a. O. 2006, S. 354.
892 Pierre Bourdieu ebd., S. 354, 356 ff. Bourdieu versteht seine Analyse des sozialen Raums als eine
„auf die Gegenwart angewandte vergleichende Geschichtswissenschaft …, die den Zweck verfolgt, das Invariante, die Struktur, in der beobachteten Variante zu erfassen“. Das, was man „gemeinhin einen Unterschied nennt [, ist] in Wirklichkeit nur eine Differenz“. Er entwickelt sein Modell über die feinen (sozialen) Unterschiede aus dem Raum selbst bzw. aus einem relationalen und topologischen Raumverständnis heraus: Der Raum ist ein relationaler, weshalb sich der soziale Raum nicht substanziell, sondern nur struktural (relational) ausdeuten lässt. Er veranschaulicht sein Modell interessanterweise durch ein Diagramm (zum Diagramm siehe Kapitel 3.2.1 der vorliegenden Arbeit). In Bourdieus Diagramm entsprechen den „räumlichen Distanzen auf dem Papier … soziale Distanzen“. 893 De Certeau, Michel: Kunst des Handelns, Berlin: Merve 1988 (1980).
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3.2.4 Raumpraktiken und Einsichten Die folgenden Überlegungen zum Thema Szenotopie widmen sich Raumpraktiken und der „Kunst des Handelns“894. Ausgehend von raumtheoretischen Texten und Untersuchungen entwickelt sich in Michel de Certeaus gleichnamiger Schrift eine Inblicknahme raumpraktischer Aspekte, z. B. raumbildende Praktiken des Gehens.895 Und dieser Entwicklungslinie folgend werden auch die im Gesamtkapitel 3 erörterten Überlegungen ein Stück weit in die Praxis zurückgeführt – zumal im sich anschließenden Kapitel 4 drei künstlerische Projekte besprochen werden. De Certeau arbeitet mit einem Modell der zwei Perspektiven – in diesem gibt es einerseits einen Überblick auf etwas und andererseits einen Einblick, d. h. ein Drin-Sein in etwas –, das er seinen Analysen zu den „Praktiken im Raum“ voranstellt und mit dem er den ästhetischen Unterschied zwischen diesen beiden Wahrnehmungsmodi verdeutlicht. Dieses Modell ist sowohl für die Wahrnehmung als auch für die Herstellung des szenografischen Raums fruchtbar: zum einen für die rezeptionsästhetische und zum anderen für die produktionsästhetische Untersuchung der Raumwahrnehmung und Raumstruktur der Szenografie. Die Wahrnehmung und Herstellung des szenografischen Raums ist für den Szenografen eine andere als für den Rezipienten, wobei sich das Neue dieser Beobachtung – das über das bisher Erarbeitete und über das Modell von de Certeaus hinausgeht – in der Bezugnahme auf spezielle Wahrnehmungs-, Gestaltungs- und Darstellungsformen findet: im „Haptisch-Optischen“896. Wie sich zeigen wird, gibt es eine bislang kaum herausgearbeitete Verbindung zwischen den Überlegungen von de Certeau zur Wahrnehmung des Rezipienten, d. h. desjenigen, der keine Überschau, sondern einen Einblick in einen Raum hat, und dem „Modell der Ästhetik“897 von Deleuze/Guattari. Sie beziehen sich in ihrem Modell auf Vertreter der frühen Kunstgeschichte und -wissenschaft, insbesondere auf Alois Riegl, der von einer nahsichtigen Auffassung und einer hap894 Ebd.
895 Im zweiten Teil seiner Schrift widmet er sich der Theorie, genauer den „Theorien über die Kunst
des Handelns“ mit Fokus auf Foucault und Bourdieu sowie der „Kunst der Theorie“. Im dritten Teil beschäftigt er sich dann mit der Praxis, den „Praktiken im Raum“, so die betreffende Überschrift (S. 179). 896 Vgl. Riegl, Alois: Spätrömische Kunstindustrie, Wien: Österreichische Staatsdruckerei 1927 (1901). Vgl. Deleuzes Ausführungen zum „Affekt-Bild“, in: Deleuze, Gilles: Das Bewegungs-Bild, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997 (1983). Nach Merleau-Ponty wird der Raum von innen erlebt, „ich bin in ihn einbezogen. Schließlich ist die Welt um mich herum, nicht vor mir“. Maurice Merleau-Ponty: „Das Auge und der Geist“, in: Günzel, Stephan/Dünne, Jörg (Hg.): Raumtheorie: Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006, S. 190. In seinen weiteren Ausführungen bezieht sich Merleau-Ponty auf den Maler Cézanne, auf den auch Deleuze/Guattari in ihrem „Modell der Ästhetik“ hinweisen. 897 Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Tausend Plateaus: Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin: Merve 1992 (1980), S. 682–693.
3 Szenogreffieren 221
tischen Wahrnehmung spricht 898. Diese Verbindung, die herausgearbeitet wird, bringt nicht nur produktions- und rezeptionsästhetische Erkenntnisse, sondern lässt auch die Relation zwischen Szenotopie und Szenosphäre noch schärfer erkennbar werden. Im Folgenden wird sich die Szenografie als eine künstlerische Raumsprache erweisen, die sich mit de Certeau nochmals anders lesen lässt, als es im bisher Erarbeiteten dargelegt wurde. Dabei werden im Anschluss an de Certeaus „Praktiken im Raum“ szenografische Raumpraktiken sowie haptische und optische Wahrnehmungs-, Gestaltungs- und Darstellungsformen aufgezeigt und einzelne Aspekte, die in den acht Unterkapiteln von Kapitel 3 erarbeitetet wurden, hervorgehoben. De Certeau setzt sich in der Kunst des Handelns mit Diskursformen auseinander und untersucht, welchen Gebrauch die Gesellschaft, d. h. die Verbraucher oder Konsumenten davon machen (können). Es geht z. B. um Fragen, wie die „vom Fernseher verbreiteten Bilder (Vorstellungen) und [die] vor dem Fernseher verbrachte[] Zeit (ein Verhalten) durch eine Untersuchung dessen ergänzt werden kann, was der Kulturkonsument während dieser Stunden und mit diesen Bildern ‚fabriziert‘. Dasselbe gilt auch für den Gebrauch des städtischen Raumes“, der Medien oder des Supermarkts (Einkauf ) etc.899 Die Konsumenten sind also aktiv/kreativ, und de Certeau sieht sie als „Produzenten“. Die „Fabrikation“ der Produzenten, der er in seiner Studie nachgeht, stellt er dabei als eine „Poiesis“ heraus, die „allerdings unsichtbar ist, da sie sich in der von den Systemen der (televisuellen, urbanen, kommerziellen etc.) ‚Produktion‘ definierten und besetzten Bereiche verbirgt“.900 Dem Gebrauch inhäriert demnach eine Zielgerichtetheit und ein mithin subversives Potenzial, das sich Ordnungen/Systeme zunutze macht, um sich Raum anzueignen oder zurückerobern zu können; die 898 Riegl,
Alois: Spätrömische Kunstindustrie, a. a. O. 1927 (1901), S. 32. Zur Vereinfachung wird diejenige Wahrnehmung, von der Riegl spricht (und die mit dem Tastsinn verbunden ist), im Folgenden mit „haptisch-optische Wahrnehmung“ bezeichnet. 899 De Certeau, Michel: Kunst des Handelns, a. a. O. 1988, S. 11 ff. 900 Ebd., S. 13. Die Frage, was der Konsument aus vorgegebenen Ordnungen/Systemen macht (um die von ihm „fabrizierte“ Raumproduktion verstehen zu können), gelte auch für den Gebrauch, „den bestimmte Volksschichten von den Kulturen machen, die ‚Eliten‘ als Sprachproduzenten verbreiten und aufzwingen“. Damit lässt de Certeau auch eine gewisse Kritik am wissenschaftlichen Diskurs laut werden. Zu Erfahrungs-, Ordnungs- und Wissensräumen und de Certeaus Einlassungen dazu vgl. Jan Lazardzig: „Das Labyrinth der Welt. Raumwahrnehmung und Wissensproduktion im 17. Jahrhundert“, in: Röttger, Kati (Hg.): Welt- Bild- Theater: Politik des Wissens und der Bilder. Forum Modernes Theater, Bd. 37, Tübingen: Narr 2010, S. 26 f. Lazardzig fasst de Certeaus wissenschaftskritische Überlegungen folgendermaßen zusammen: „Ein generelles Merkmal neuzeitlicher Wissenschaft besteht also darin, dass konkrete Erfahrungsräume durch abstrakte Ordnungsräume überlagert und zugleich zugerichtet werden.“ Siehe in diesem Zusammenhang (Wissenschaft in Form von Texten oder Ausstellungen und „Verweisungstechniken gegen ihren Gebrauch zu nutzen“) auch Bohn, Ralf/Wilharm, Heiner (Hg.): Inszenierung und Politik, a. a. O. 2015, S. 21 f.
222 Szenosphäre & Szenotopie
von den „Produzenten“ (Verbraucher, Konsumenten, Rezipienten) dazu herausgebildeten Alltagspraktiken bilden de Certeau zufolge „letztlich das Netz einer Antidisziplin“.901 Damit rekurriert er auf Foucaults Gesellschaftsanalysen und Untersuchungen zum „Dispositiv“, das sich als ein Machtnetz verstehen lässt.902 De Certeaus Anliegen ist die Sichtbarmachung von Unsichtbarem und dem, was sich unterhalb von Ordnungssystemen (z. B. Sprache, Stadt) bewegt; es geht ihm um Fragen, wie Ordnungssysteme, die das menschliche Denken, Sein und Handeln bestimmen, zu Umnutzungszwecken gebraucht werden können. Vor diesem Hintergrund setzt er sich in einem zweiten Schritt damit auseinander, wie sich dieser Gebrauch in der Praxis äußern und sich in „Praktiken im Raum“903 widerspiegeln kann, z. B. in der Stadt oder beim Lesen als raumbildende Praktiken des Gehens oder Erzählens: „An die Stelle des Autors tritt eine völlig andere Welt (die des Lesers)“904, und Lesen bedeutet „in einem vorgegebenen System herumzuwandern (im System des Textes, analog zur gebauten Ordnung einer Stadt oder eines Supermarktes)“905. Eine mögliche urbane Umnutzung und Alltagspraktik zum eigenen Nutzen kann z. B. sein, nicht die von Stadtplanern vorgesehenen Wege zu benutzen, sondern eigene: Abkürzungen zu nehmen und Pfade jenseits der offiziellen Straßen ins Verkehrsnetz zu schlagen, um schneller von A nach B zu gelangen – die Spur kann „Handeln in Lesbarkeit … übertragen“.906 Sein Zwei-Perspektiven-Modell, in dem de Certeau zunächst vom (ehemaligen) World Trade Center aus auf New York schaut und sich anschließend hinunter in die Stadt begibt 907, dient ihm schließlich als Methode, um die Wahrnehmungsdifferenz zwischen einer Übersicht (des Stadtplaners/Herstellers) und einer Einsicht (des Fußgängers/Rezipienten) herauszuarbeiten. 901 De
Certeau, Michel: Kunst des Handelns, a. a. O. 1988, S. 15 f. Er geht davon aus, dass die Konsumenten die Ökonomie umnutzen, und die „Vorgehensweisen, Hilfsmittel, Wirkungen und Möglichkeiten dieser ameisenhaften Aktivitäten“ will er untersuchen. 902 Ebd. Er schreibt zur zweiten Zielrichtung seiner Untersuchung: „In Überwachen und Strafen ersetzt Michel Foucault die Analyse von Apparaten … durch eine Analyse von ‚Dispositiven‘“. De Certeau zufolge sei es wichtig zu untersuchen, welche „Praktiken … mit den Mechanismen der Disziplinierung“ spielen. Er fragt: „[W]elche ‚Handlungsweisen‘ bilden auf Seiten der Konsumenten … ein Gegengewicht zu den stummen Produzenten, die die Bildung der soziopolitischen Ordnung organisieren? Diese ‚Handlungsweisen‘ sind die abertausend Praktiken, mit deren Hilfe sich die Benutzer den Raum wiederaneignen.“ In Analogie zu Foucaults Buch geht es darum, „die quasi mikrobenhaften Operationen zu bestimmen, die sich im Inneren der technokratischen Strukturen verbreiten“. Konträr zu Foucault geht es darum, „die untergründigen Formen ans Licht zu bringen, welche die … taktische und bastelnde Kreativität von Gruppen und Individuen annimmt, die heute von der ‚Überwachung‘ betroffen sind. Diese Praktiken und Listen von Konsumenten bilden letztlich das Netz einer Antidisziplin …, die das Thema des vorliegenden Buches ist.“ 903 Titel des dritten Teils seiner Schrift. 904 Ebd., S. 27 905 Ebd., S. 299 f. 906 Ebd., S. 189 f. 907 Ebd., S. 179–182.
3 Szenogreffieren 223
Im folgenden Abschnitt wird de Certeaus erster Schritt für die Szenografie fruchtbar gemacht. Seine thematische Einführung und Bezugnahmen auf raumtheoretische Texte – bevor er im zweiten Schritt die Praxis, d. h. das Gehen in der Stadt untersucht – zeichnen einen Weg, dem gefolgt wird. Auf diesem Weg nämlich verweist de Certeau indirekt auf vieles, was im Gesamtkapitel 3 der vorliegenden Arbeit bereits erarbeitet wurde und nun im Hinblick auf den Gebrauch von Ordnungssystemen und die Hervorbringung von Raumpraktiken kontextualisiert und genauer analysiert werden kann. Beispielsweise kann mit de Certeaus Bezugnahme auf John Austins Sprechakttheorie die Verbindung zur (szenografischen) Produktion von Präsenz (Kapitel 3.1.2) aufgezeigt werden; weitere Verbindungslinien werden zu einer Verdichtung der Erkenntnisse führen. Bei der „Fabrikation“ der Produzenten, die de Certeau als eine „Poiesis“ herausstellt 908, geht es ihm um eine Handlungspraktik, die sich auf eine Vorstellung bezieht, welche Systeme (im weitesten Sinne) verbreiten.909 Seinen Untersuchungsraum beschreibt er als einen Bereich zwischen „der Produktion eines Vorstellungsbildes“ einerseits und der „sekundären Produktion, die in den Anwendungsweisen verborgen ist“, andererseits.910 Ebenda bringt er seine Untersuchung in Verbindung mit Sprache (Linguistik), und er schlägt diese Brücke, indem er weiter anführt, dass der theoretische Bezugspunkt seiner Analyse „die Konstruktion eigener Sätze mit Hilfe eines übernommenen Vokabulars und einer übernommen Syntax sein [könnte]“. Er bezieht sich, wie er näher erläutert, auf die Performanz in der Linguistik und auf die Sprechakttheorie von John L. Austin911, und dieser Bezugspunkt lässt die Alltagspraktiken mit einem Äußerungsakt vergleichbar werden.912 Er betont, dass sich der Sprechakt nicht auf die Kenntnis der Sprache reduzieren lässt und stellt dazu vier Eigenschaften heraus: erstens den Vollzug (innerhalb des Sprachsystems), zweitens die Aneignung (der Sprache durch den Sprecher), die der Sprechakt fordert, drittens die Präsenz, die der Sprechakt begründet in Abhängigkeit von Raum und Zeit; und viertens führt der Sprechakt zu einem Vertrag mit dem Gesprächspartner „in einem Netz von Orten und Beziehungen“.913 Diese Eigenschaften finden sich ihm zu908 Ebd.,
S. 13.
909 Als historisches Beispiel führt er die spanische Kolonialisierung der indianischen Völker an (S. 14):
Diese unterwanderten ihren Eroberer, indem sie aus dessen Vorstellungen und Gesetzen „oft etwas ganz anderes [machten,] als der Eroberer bei ihnen erreicht zu haben glaubte“. Die Vorstellungen und Gesetze wurden „zu Zwecken und mit Bezugspunkten gebraucht, die dem System, welchem [die Völker] nicht entfliehen konnten, fremd waren.“ 910 Ebd. 911 Vgl. Ausführungen im Kapitel 3.1.3. 912 De Certeau, Michel: Kunst des Handelns, a. a. O. 1988, S. 14. 913 Ebd., S. 15.
224 Szenosphäre & Szenotopie
folge auch in Alltagspraktiken, und mit der Parallele werde eine Zielrichtung deutlich, die davon ausgeht, dass Verbraucher die „herrschende Kulturökonomie“ in eine „Ökonomie ihrer eigenen Interessen und Regeln ‚umfrisieren‘“.914 Die Hervorbringungen der Verbraucher können demnach als raumzeitliche Aneignungspraktiken und eine Raumsprache verstanden werden, die auch „andere Räume“915 ermöglichen, womit sich zugleich de Certeaus Nähe zu Foucault erklärt und sich auch szenografische Merkmale herauslesen lassen. Es können sich Räume ermöglichen, „in denen die realen Orte … [einer] Kultur … zugleich repräsentiert, in Frage gestellt und ins Gegenteil verkehrt werden“916, wie in Kapitel 3.2.1 bereits herausgearbeitet wurde. Wenn de Certeau von „anderen Räumen“ bzw. der Produktion von Präsenz beim Äußerungsakt spricht, und wenn der Äußerungsakt als eine Praktik zu verstehen ist, unter die ihm zufolge auch das Gehen (wie das Lesen, sich Unterhalten, Wohnen, Kochen) fällt 917, dann produziert das Gehen Präsenz und zugleich Raum/Räumlichkeit. Dieses Gehen ist nun das, in dem sich die Verbindung zur Szenografie findet, denn in der Szenografie ist das Gehen die Bewegung des Rezipienten durch den Parcours. Der durch das Gehen produzierte Raum (Räumlichkeit) ist ein performativer, und dieser Zusammenhang ist insofern relevant, als sich daran die Frage nach der Produktion von Präsenz bei künstlerischen Inszenierungen (zu denen auch szenografische gehören) anschließt. Wie bereits in Kapitel 3.1.2 erarbeitet wurde, ermöglichen Inszenierungen „ein Erscheinenlassen von Gegenwart“, wie sich mit Martin Seel sagen lässt.918 Im Anschluss an Seel und an de Certeaus Herausarbeitungen über das Gehen als ein Akt der Raumproduktion, welcher Präsenz begründet, wird im Folgenden der Gebrauch von dazu eingebrachten „Signifikationspraktiken“919 in den Blick genommen. Auch hier findet sich eine Bezugnahme auf Linguistik und raumtheoretische Texte, etwa von Lotman, auf den de Certeau verweist 920, und damit die Verbindung zu den Kapiteln 3.1.3 und 3.1.4. 914 Ebd.
915 Michel
Foucault: „Von anderen Räumen“, in: Günzel, Stephan/Dünne, Jörg (Hg.): Raumtheorie: Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006, S. 317–327. 916 Ebd., S. 320. Vgl. auch Kapitel 3.2.1 der vorliegenden Arbeit. 917 De Certeau, Michel: Kunst des Handelns, a. a. O. 1988 (1980), S. 26 f. 918 Martin Seel: „Inszenieren als Erscheinenlassen“ (S. 53, 56 ff.) sowie Hans Ulrich Gumbrecht: „Produktion von Präsenz, durchsetzt mit Absenz“ (S. 63, 74 f.), in: Früchtl, Josef/Zimmermann, Jörg (Hg.): Ästhetik der Inszenierung: Dimensionen eines künstlerischen, kulturellen und gesellschaftlichen Phänomens, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001. 919 De Certeau, Michel: Kunst des Handelns, a. a. O. 1988 (1980), S. 21. 920 Ebd., S. 217. Er erläutert: „Wie einst die Signifikationspraktiken, die sich auf den Sprachgebrauch beziehen, aus der Sicht linguistischer Systeme betrachtet werden, so werden heute die Verräumlichungspraktiken von den Codes und Taxonomien aus der Sicht der räumlichen Ordnung erforscht.“ Seine Untersuchung zählt er zu „dieser ‚zweiten‘ Analysestufe“.
3 Szenogreffieren 225
Unter der Überschrift „Das Formale der Praktiken“ geht de Certeau der Logik der Praktiken der Verbraucher (Konsumenten) nach und entfaltet diese als eine „Kunstfertigkeit“, die sich als eine „Kombinationskunst“ darstellt, die es vermag, „das Denken auf das Handeln zu beziehen“ und aus dem Handeln einen taktischen Mehrwert zu gewinnen.921 Zieht man eine Parallele zwischen dem Verbraucher bzw. Konsumenten bei de Certeau und dem Rezipienten bzw. Besucher einer Szenografie (die ein Assoziationsgenerator sein kann, siehe Kapitel 3.1.3), liegt die kreative Fertigkeit des Rezipienten darin, sich abseits der vorgegebenen szenografischen Bild- und Raumsprache einen eigenen Spielraum zu schaffen, in dem persönliche Erinnerungen oftmals völlig freie Assoziationsketten fabrizieren. Das, was die Verbraucher laut de Certeau mittels „Signifikationspraktiken“ und interpretativer Bedeutungszuweisungen herstellen, könnte ihm zufolge – zeichnerisch vorgestellt – „die Gestalt von Irr-Linien“ haben: Graphien922. Diese Denkfigur veranschaulicht er über die Sprache und bezeichnet das vom Verbraucher Hervorgebrachte als „unlesbare ‚Querverbindungen‘“, die sich zwar des Vokabulars der „gängigen Sprachen“ bedienen und im System der „vorgeschriebenen Syntax … bleiben“, aber auf Interessen/Wünsche verweisen, die das System nicht vorgesehen hat.923 Das trifft in der Szenografie sowohl für den Szenografen zu (der andere Räume kreiert, als der traditionelle Theaterdiskurs mit der Guckkastenbühne vorsieht) als auch auf den Besucher, der durch eigene Bedeutungszuweisungen wiederum „andere Räume“ zur Szenografie entwirft 924. Diese Tätigkeiten können in Taxonomien, wie sie ein System vorgibt, nicht eingefangen werden925. Im nächsten Abschnitt wird die Szenografie vor dem Hintergrund von de Certeaus zweitem Schritt untersucht. Seine Inblicknahme der Praktiken in der Stadt ist insofern für die Szenografie erkenntnisreich, als sich im Anschluss an de Certeaus Zwei-Perspektiven-Modell die Sichtweisen des Szenografen einerseits und die des Szenografie-Besuchers andererseits veranschaulichen lassen. Die Ergebnisse werden Antworten darauf geben, welche raumbildenden Praktiken
921 Ebd.,
S. 17.
922 Ebd., S. 21. „Eine Tätigkeit wird durch einen Graphen ersetzt“ (S. 23). Vgl. hierzu Kapitel 3.2.1
der vorliegenden Arbeit und die Herausarbeitung der Szenografie als ein künstlerisch arbiträres Diagramm. 923 Ebd., S. 22. 924 Das, was der Besucher als „andere Räume“ entwirft und zur Szenografie hervorbringt, könnte man als Heterotop(olog)ien bzw. Szenotopien zweiten Grades bezeichnen. Hier sei angemerkt, dass der Sinn einer Szenografie freilich nicht darin liegt, ein normatives System aufzustellen. Es geht vielmehr darum, dass der Szenograf („Traceur“) einen Weg (Parcours) vorzeichnet und einen „anderen Raum“ (Foucault) anbietet, in den der Besucher eingeladen wird. 925 De Certeau, Michel: Kunst des Handelns, a. a. O. 1988 (1980), S. 23. Vgl. die „unsystematische“ Taxonomie von Borges, die Foucault zu seiner Schrift Die Ordnung der Dinge inspiriert hat; siehe dazu Kapitel 3.2.1 der vorliegenden Arbeit.
226 Szenosphäre & Szenotopie
sich im szenografischen Parcours ereignen und welchen Wahrnehmungsmodi sie unterliegen. Der Ausgangs- bzw. Aussichtspunkt seiner Ausführungen zu „Praktiken im Raum“926 ist für de Certeau die 110. Etage des (ehemaligen) World Trade Center. Der Überblick über die Stadt bedeutet für ihn den „maßlosesten aller menschlichen Texte zu ‚überschauen‘“ und dem „mächtigen Zugriff der Stadt entrissen zu werden“.927 Demnach verleiht der Überblick eine gewisse Macht und andererseits ermöglicht er es, sich dieser zu entziehen. De Certeau verweist zu diesem Überblick einerseits auf die Perspektive in der Malerei, die als bildnerische Praktik einen alles überschauenden Blick – „Voyeur-Gott“ – ermöglicht. Andererseits verweist er auf architektonische Praktiken, auf real räumliche Anordnungen wie z. B. das Panopticon928.929 Im Panopticon sieht Foucault (auf den de Certeau rekurriert) das Konzept des Diagramms, d. h. das Konzept einer diagrammatischen Überschau architektonisch übersetzt und verdimensionalisiert, wie in Kapitel 3.2.1 bereits erörtert wurde. Überblicksschemata und Diagramme sind auch Entwurfswerkzeuge und bildnerische Praktiken der Szenografie (sie können den Inhalt, d. h. die Idee der räumlich architektonischen Anordnung struktural übersetzen), womit de Certeaus Erläuterungen zum Stadt-Überblick einen Anschluss an szenografische Praktiken finden, an produktionstechnische wie -ästhetische Mittel und Medien. Er spricht von Raum-, Stadtplanern und Kartografen, die eine „Projektion erzeugen, welche in gewisser Weise eine Distanz herstellt“, und er bezeichnet das „gewaltige Textgewebe“ unter ihm als „eine Vorstellung, ein optisches Artefakt“, wohingegen die Benutzer der Stadt, d. h. die Fußgänger dort leben, „wo die Sichtbarkeit aufhört“: unten930. Diese Rollenverteilung entspricht ungefähr auch jener, die in einer Szenografie gegeben ist: In Analogie zum Szenografen als dem Raumplaner entspricht die Rolle des Szenografie-Besuchers der des Fußgängers. (Der Szenograf befindet sich als Konzeptioner über dem Geschehen, seine Wahrnehmung resultiert aus einer produktionsästhetischen Sichtweise; der Besucher hingegen befindet sich inmitten des Geschehens, er hat keinen überschauenden Blick auf die Szenografie und seine Wahrnehmung resultiert aus einer rezeptionsästhetischen Sichtweise.) Obwohl die Szenografie eine Inszenierung und die Stadt, von der de Certeau spricht, das wirkliche Leben ist, ermöglicht der Gedanke, dass es sich in beiden Fällen um ein Konzept handelt, eine Parallelisierung und Übertragung 926 Ebd.,
S. 179–238. S. 179 f. 928 Certeau verweist auf Michel Foucault: „L‘oeil du pouvoir“, in: de Certeau, Michel (u. a.): Jeremy Bentham (1791), Le Panoptique, Paris: Belfond 1977, S. 16. 929 Ebd., S. 181. 930 Ebd. 927 Ebd.,
3 Szenogreffieren 227
zwischen Stadt und Szenografie – nicht zuletzt auch wegen der Diagrammatik, die de Certeau (bezogen auf Stadt) konkret anspricht und die in der vorliegenden Arbeit (bezogen auf Szenografie) bereits untersucht wurde. De Certeau selbst formuliert die Allianz und Symbiose zwischen Stadt und Konzept: „Stadtplanung bedeutet, gleichzeitig die Pluralität (auch der Wirklichkeit) zu denken und diesem Pluralitätsgedanken Wirklichkeit zu verleihen; und das wiederum bedeutet, wissen und artikulieren zu können.“931 Damit spricht de Certeau einen wesentlichen Punkt der Szenografie-Planung an (siehe Ausführungen zur Szenografie als ein Wissensraum in Kapitel 3.2.1). Ebenso verweist er auf Verfahren, die in der künstlerischen Praxis der Szenografie von Relevanz sind, damit der Rezipient z. B. freie Assoziationsketten generieren kann (siehe Ausführungen zum „Gedächtnistheater“, ebenfalls in Kapitel 3.2.1) Die Stadt wird de Certeau zufolge durch ein operatives Konzept realisiert, insbesondere durch „spekulative“ Verfahren, mit denen er Erinnerungspraktiken meint 932. Versteht man vor diesem Hintergrund den realisierten Raum als einen Äußerungsakt – der Akt des Gehens ist das, was der Sprechakt „für formulierte Aussagen ist“933 –, so wird die Szenografie in topografischer wie topologischer Hinsicht als eine Aneignung sowie Realisierung der durchschrittenen „Räume und Orte“934 verstehbar, denn sie beschreibt Örtlichkeiten, Ereignisse, Räume und zugleich topologische Räumlichkeiten im Sinne von modularen Beziehungen. Dabei ist der öffentliche Raum, d. h. die Erfahrungswirklichkeit der real historischen Zeit (die der Szenografie als raumzeitlicher Bezugsrahmen dient, siehe Kapitel 3.2.3) zugleich auch immer ein theatraler Raum, zumal die „topologische Organisation einer Stadt psychophysische und soziometrische Strukturen (wieder-)erkennen“935 lässt. In den Praktiken des Fußgängers erkennt de Certeau eine Art Auswahlverfahren, in dem es bevorzugte und vermiedene Wege gibt und neue Möglichkeiten ge- und erfunden werden: Abkürzungen, Umwege, Prädikationszonen und dergleichen.936 Indem der Geher „eine Auswahl unter den Signifikanten der räumlichen ‚Sprache‘ vornimmt“, macht er durch sein Gehen „aus der Umgebung etwas Organisch-Bewegliches, eine Abfolge von phantastischen topoi“, und 931 Ebd.,
S. 183 f. Er verweist dabei in einer Fußnote auf die Schrift Die Kunst des Erinnerns von Frances A. Yates, die in ihrer Arbeit die „Idea del teatro“ bzw. das sogenannte „Gedächtnistheater“ von Giulio Camillo herausstellt. 933 De Certeau, Michel: Kunst des Handelns, a. a. O. 1988 (1980), S. 189. 934 Ebd., S. 217 ff. Für de Certeau scheint „die Erzeugung eines Raumes … immer durch eine Bewegung bedingt zu sein, die ihn mit einer Geschichte verbindet“. Vgl. auch das dritte Projektbeispiel, siehe Kapitel 1 der vorliegenden Arbeit. 935 Brigitte Marschall: „Öffentlicher Raum als theatraler Raum“, in: Bohn, Ralf/Wilharm, Heiner (Hg.): Inszenierung und Ereignis: Beiträge zur Theorie und Praxis der Szenografie, Bielefeld: transcript 2009, S. 177. 936 De Certeau, Michel: Kunst des Handelns, a. a. O. 1988 (1980), S. 190 f. 932 Ebd.
228 Szenosphäre & Szenotopie
es entsteht eine „Rhetorik des Gehens“.937 Dies kann gleichermaßen auch für die Szenografie aus rezeptionsästhetischer Perspektive gesagt werden, es schließt an Bachtins Chronotopoi sowie an die Raum-(Ent)-Faltungen von Deleuze/Guattari an und wirft darüber hinaus einen Blick auf das voraus, was im Kapitel 4 die Untersuchung zu Friedrich Kieslers Raumstadt (1925) zeigen wird: „hodologische Wege“938. Sie sind das, was produziert wird, was phänomenologisch wahrgenommen wird und was das Unsichtbare in Stadtplänen oder Szenografien ist. Produktion und Präsenz von Räumlichkeit wird durch Bewegung realisiert, und diese ist nicht nur Fortbewegung, sondern Raumaneignung im Sinne einer kreativen (Um-)Nutzung, in der situative Momente erkannt und relationale Beziehungen generiert werden können.939 Die „räumliche Sprache“, die de Certeau aus rezeptionsästhetischer Sicht erkennt, geht mit narrativen Handlungen dergestalt einher, dass sowohl Räume (Richtungen) als auch Orte (Ordnungen) zur Beschreibung kommen, deren Grenzen überschritten werden.940 Dabei, in diesem Inmitten-Sein des Geschehens, kommt dem Gehen die Rolle zu, raumbildende Handlungen hervorzubringen, und dem Sehen jene, eine Ordnung zu erkennen.941 Dem Sehen von produktionsästhetischem Standpunkt aus (die Überschau auf das Geschehen), d. h. dieser „Karte“ als „Gesamt-Schauplatz“, wie de Certeau es bezeichnet, obliegt es indes, „wie hinter den Kulissen des Theaters, diejenigen Handlungen [zu verbergen], deren Ergebnis oder deren künftige Möglichkeit sie ist“.942 Im Hinblick auf nahsichtige Wahrnehmungsformen, die sich – wie eingangs in Aussicht gestellt – im „Modell der Ästhetik“943 von Deleuze/Guattari finden, muss noch einmal de Certeaus Modell der zwei Perspektiven beleuchtet werden, um zu abschließenden Überlegungen zu gelangen. Bei de Certeau erschließt sich dem Auge von oben gesehen die Stadt als ein Abstraktum: eine Linienballung und ein Hell-Dunkel-Spiel aus Flächen, das keinen Aufschluss über das zu-
937 Ebd. De Certeau liest aus den Bewegungen rhetorische Tropen heraus und er beschreibt Stilfiguren
als „Geh-Figuren“ (S. 194 f.). Baier, Franz Xaver: Der Raum: Prolegomena zu einer Architektur des gelebten Raumes, Köln: König 1996. Vgl. auch Bollnow, Otto Friedrich: Mensch und Raum, Stuttgart: Kohlhammer 2004, S. 191–213. 939 Vgl. de Certeaus Herausarbeitungen zu „Taktiken“ (versus „Strategie“). 940 De Certeau, Michel: Kunst des Handelns, a. a. O. 1988 (1980), S. 217 f. Er nennt in diesem Zusammenhang bereits vorliegende wissenschaftliche Untersuchungen, darunter namentlich Jurij Lotmans „Struktur literarischer Texte“: die Kultur als eine räumliche Metasprache. 941 Ebd., S. 221. 942 Ebd., S. 225. 943 Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Tausend Plateaus: Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin: Merve 1992 (1980), S. 683–693. 938 Vgl.
3 Szenogreffieren 229
lässt, was sich unten abspielt und wie es sich dort anfühlt oder anhört.944 Wenn de Certeau von einem überschaubaren Textgewebe spricht, das sich als Ausblick entfaltet, kann man sich dieses Gewebe bildlich vorstellen, nämlich in Form einer kartografischen Darstellung. Eine solche ist zwar relativ leicht lesbar, lässt aber keinen eindeutigen Aufschluss darüber zu, welche Bedeutungen der Darstellungselemente ihr innewohnen – der Theorie fehlt die Praxis, oder anders gesagt: Die Darstellung ist nur aufgrund vorher getätigter räumlicher Erfahrung lesbar945. Der Sinn der Darstellung liegt also anderswo verborgen bzw. ermöglicht sich erst durch eine andere Lesart, die jedoch einen Standortwechsel erfordert. Wechselt man – ähnlich wie bei der Anamorphose – den Betrachtungsstandpunkt, sieht die Stadt bzw. die Welt ganz anderes aus. Wenn man, wie de Certeau, einen Perspektivwechsel vornimmt und nun nicht mehr über der Stadt steht, sondern sich in ihr bewegt, wird sie lesbar (erfahrbar) durch Bewegung und leibliche Wahrnehmung: Aus einer Fernsicht ist eine Nahsicht geworden. De Certeaus Ausführungen über die Wahrnehmung aus dieser Perspektive 946 lassen sich mit Merleau-Ponty, auf den de Certeau Bezug nimmt947, pointieren: „Sein hat nur Sinn durch seine Orientierung“948, und diese Ästhetik ist zuallererst eine leibliche, haptische, taktile und keine rein visuelle: Die optische Wahrnehmung und Orientierung folgt den Beinen949, d. h., sie richtet sich durch den Körper und nicht durch das aus, was in einem Wahrnehmungsfeld an Zeichen, Bildern (Vorstellungen) erscheint. Merleau-Ponty hat diese Erkenntnis anhand eines Brillenexperiments veranschaulicht.950 Demnach lassen sich nur durch Bewegung Dinge leibhaftig erfassen, im Sitzen951 oder Liegen ist dies hingegen 944 Vgl. Lechtermann, C./Wagner, K./Wenzel, H. (Hg.): Möglichkeitsräume: Zur Performativität von
sensorischer Wahrnehmung, Berlin: Erich Schmidt 2007, S. 134 f.
945 Vgl. Ian Buchanan: „Heterophenomenology, or de Certeau’s Theory of Space“, in: Social Semiotics,
6.1, Abingdon: Taylor & Francis 1996, S. 111–132. Certeau, Michel: Kunst des Handelns, a. a. O. 1988 (1980), S. 181 f. 947 Ebd., S. 182, 219. 948 Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin: de Gruyter 1966, S. 294 ff. 949 Vgl. Heinz von Foerster, der auf den Mathematiker und Physiker Henri Poincaré verweist; dieser habe „die Frage nach der erlebten Dreidimensionalität des Raumes“ dadurch gelöst, indem er „die Beziehungen einer bewußten Änderung des Blicks mit der dazugehörigen Veränderung der Sicht in sein Gleichungssystem“ aufnahm. Nach von Foerster sind es „die durch Bewegung hervorgebrachten Veränderungen des Wahrgenommenen, die wir wahrnehmen. Wie der Biologe Humbert Maturana sagt: ‚Wir sehen mit unseren Beinen.‘“ Heinz von Foerster: „Wahrnehmen wahrnehmen“, in: Barck, Karlheinz (Hg.): Aisthesis: Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig: Reclam 1993, S. 440. 950 Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, a. a. O. 1966, S. 286 ff. 951 Daher ist es im Grunde nicht nachvollziehbar, warum in theaterwissenschaftlichen Untersuchungen zum Thema Erfahrungsräumlichkeit und Atmosphäre oftmals Merleau-Ponty (bevorzugt seine Ausführungen über den Leib und den Raum) herangezogen wird, obwohl er eben nicht von einer visuellen Wahrnehmung ausgeht, die aber in einer Guckkasten- bzw. Bildbühne (vor-)gegeben ist. Denn für eine tatsächlich leiblich haptische Erfahrung, die über ein affektives Betroffensein hinausgeht, und für räumliche und zeitliche Umnutzungskonzepte des Rezipienten fehlt die körperliche Fortbewegung, die aber Voraussetzung für eine leibhaftige Wahrnehmung ist. 946 De
230 Szenosphäre & Szenotopie
kaum möglich. De Certeau stellt die Praktiken des Fußgängers als eine Wahrnehmung heraus, die keine Oberflächen kennt: „Diese Art mit dem Raum umzugehen … verweist auf eine undurchschaubare und blinde Beweglichkeit der bewohnten Stadt.“952 In einer Szenografie geht der Besucher in ähnlicher Art und Weise mit Raum um, und die „blinde Beweglichkeit“ und die Nahsichtigkeit benennen das Wesen(tliche) der szenografischen Produktion, also Präsenz und Aneignung von Raum, wie sich aus der künstlerischen Praxis sagen lässt. Die Differenz zur bewohnten Stadt liegt freilich darin, dass dem Szenografie-Besucher bewusst ist, sich in einer theatralen Rauminstallation bzw. Inszenierung zu befinden, und dieses Wissen addiert eine semiotisch atmosphärische Dimension zu seiner „blinden“ Wahrnehmung; dabei liegt die Betonung auf dem Atmosphärischen und nicht auf dem Semiotischen (siehe Kapitel 3.1.3). Eine „blinde Beweglichkeit“, wie sie die Szenografie ermöglicht, erfordert ein „In-mitten-Sein“953 in etwas, wohingegen eine Fernsicht auf etwas (auf eine Stadt, ein Gemälde oder eine Bühne) eine räumliche Distanz schafft: Man sitzt oder steht vor etwas, das man überschaut, und auch wenn ein affektives Betroffensein möglich ist, hat die Raumanordnung wie die -struktur eine Auswirkung auf die emotionale Reichweite der Involviertheit ins Geschehen.954 Wie etwas wahrgenommen wird, ist also abhängig von und entspricht gleichzeitig zumindest teilweise der Struktur und Gestalt dessen, was wahrgenommen wird. Die „blinde Beweglichkeit“ oder Blindwahrnehmung, wie sie de Certeau beim Fußgänger feststellt und wie sie sich auch in der Szenografie findet, bedingt sich einerseits durch die Szenosphäre und andererseits durch die Szenotopie. Als Struktur und Gestalt hat die Szenotopie als ein raumzeitliches Relationengefüge eine Realität955, die nicht überschaubar ist, weil sie vom Beobachter (und seinen „Signifikationspraktiken“956) hervorgebracht wird und sich ihre Eigenschaften mitunter erst durch die Wahrnehmung selbst konstituieren. In dieser Hinsicht ist das Wahrgenommene also nicht schon gegeben, und wie sich im Anschluss an de Certeau sagen lässt, „ist der Raum ein Ort, mit 952 De
Certeau, Michel: Kunst des Handelns, a. a. O. 1988 (1980), S. 182.
953 Vgl. Merleau-Ponty: „Das Auge und der Geist“, in: Günzel, Stephan/Dünne, Jörg (Hg.): Raum-
theorie, a. a. O. 2006, S. 180–191. Vgl. auch Petra Maria Meyer: „Der Raum, der Dir einwohnt“, in: Bohn, Ralf/Wilharm, Heiner: Inszenierung und Ereignis, a. a. O. 2009, S. 105–134. 954 Siehe einleitende Ausführungen zum Thema Szenosphäre und das als Gegenbeispiel angeführte Gemälde Der Wanderer über dem Nebelmeer von Caspar David Friedrich. 955 Vgl. die Erkenntnisse in den Naturwissenschaften. Auf der dOCUMENTA (13) veranschaulichten im Fridericianum Quantenphysiker (Anton Zeilinger und seine Studenten) mittels einer Versuchsanordnung, was Licht ist. Gezeigt wurde, dass es „nichtlokale Realitäten“ und „Korrelationszustände“ gibt und dass ein Teilchen (bei einer „Quantenverschränkung“) seine Eigenschaften erst durch die Messung annimmt. In einem früheren Zeitungsgespräch sagte Zeilinger, wie verblüfft er darüber sei, dass gerade die Philosophen am physikalischen Realismus festhalten; siehe Artikel von Ulf von Rauchhaupt in der „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ vom 22.04.2007, Nr. 16 (S. 65). 956 De Certeau, Michel: Kunst des Handelns, a. a. O. 1988 (1980), S. 21. Vgl. auch Kapitel 3.1.3 der vorliegenden Arbeit.
3 Szenogreffieren 231
dem man etwas macht“ – er entsteht, „wenn man Richtungsvektoren, Geschwindigkeitsgrößen und die Variabilität der Zeit in Verbindung bringt. Der Raum ist ein Geflecht von beweglichen Elementen“.957 Um diesem Geflecht (dem Raum als Struktur) bzw. seinen Elementen einen Anstoß/Impuls zu verleihen, bedarf es Energie, und diese bringen die Szenografie-Besucher ein – in der Stadt sind es die Stadtbewohner, die de Certeau in der Rolle von Akteuren sieht. Er beschreibt die Blindwahrnehmung als ein Spiel der Stadtbewohner mit „unsichtbaren Räumen, in denen sie sich ebenso blind auskennen, wie sich die Körper von Liebenden verstehen. Die Wege, auf denen man sich in dieser Verflechtung trifft … entziehen sich der Lesbarkeit. … Die Netze dieser … ‚Schriften‘ bilden ohne Autor … eine vielfältige Geschichte, die sich in Bruchstücken von Bewegungsbahnen und in räumlichen Veränderungen formiert“.958 An gleicher Stelle verweist er in einer Fußnote auf Descartes, demzufolge der Blinde erkennt, hingegen der Sehende sieht und mithin Illusionen und Irrtümern unterliegt. Diese Annahme, dass es in einer Räumlichkeit, durch die man sich fortbewegt, nicht vornehmlich um eine optisch visuelle, sondern vielmehr um eine tastende oder haptisch visuelle Wahrnehmung geht, findet sich auch in der modernen Kulturtheorie. So beschreibt etwa Ian Buchanan de Certeaus Theorie über Raum (Räumlichkeit) als eine „Heterophänomenologie“, und er hebt in seiner Schrift hervor, dass es nicht die Architektur (der Stadt) ist, sondern dass es die Sinne sind, die Wahrnehmung und damit Raumbildung ermöglichen: Die Überschau über die Stadt, d. h. eine Lesbarkeit ist nur deshalb möglich, weil man von unten kommt und damit die Kenntnis (dass Raum ein Wissen und eine körperliche Erfahrung ist) mit nach oben bringt.959 Die nahsichtige Wahrnehmung, von der de Certeau spricht, findet sich auch bei Deleuze/Guattari und ihren Ausführungen, in denen sie auf die frühe Kunstgeschichte und -wissenschaft960 rekurrieren. Sie beziehen sich in ihren Überlegungen über das „Glatte“ und das „Gekerbte“ – in ihrem Ästhetik957 De
Certeau, Michel: Kunst des Handelns, a. a. O. 1988 (1980), S. 218. S. 182. 959 Ian Buchanan: „Heterophenomenology, or de Certeau’s Theory of Space“, in: Social Semiotics, 6.1, Abingdon: Taylor & Francis 1996, S. 111–132, hier S. 118, 120. Vgl. auch die Untersuchungen von Jan Lazardzig und Kirsten Wagner. Sie sehen die Pointe bei de Certeau darin, sich „über das Verhältnis von Theorie und Praxis hinaus auf die epistemologischen – und lebenswirklichen – Konsequenzen einer Wissenschaft zu beziehen, die sich mit der Neigung ihrer taktischen Voraussetzungen den Anschein universeller Faktizität gibt, oder – bildlich gesprochen – immer wieder die symbolische Fahrt in den 110. Stock des World Trade Center unternimmt.“ Lazardzig, Jan/Wagner, Kirsten: „Raumwahrnehmung und Wissensproduktion“, in: Lechtermann, C./Wagner, K./Wenzel, H. (Hg.): Möglichkeitsräume: Zur Performativität von sensorischer Wahrnehmung, Berlin: Erich Schmidt 2007, S. 136 f. 960 Die Untersuchung von Stimmungen – die wiederum den Weg für die Atmosphären-Forschung geebnet hat – beginnt insbesondere mit Friedrich Vischer und Theodor Lipps, Heinrich Wölfflin und Alois Riegl. 958 Ebd.,
232 Szenosphäre & Szenotopie
Modell – insbesondere auf Alois Riegl961 und mit ihm auf sein Begriffspaar: „nahsichtige Anschauung – haptischer Raum“962. Riegl spürte zur Jahrhundertwende um 1900 eine Hinwendung zu einer sinnlichen Wahrnehmung auf und verband diese mit einer Stilgeschichte der Kunst. Er stellt in seiner Schrift „Spätrömische Kunstindustrie“963 eine Beziehung zwischen unterschiedlichen Wahrnehmungs- und Zugangsweisen her, die er anhand der ägyptischen und griechischen Kunst im Übergang zur römischen Kunst exemplifiziert. Dabei nähren sich seine umfangreichen Untersuchungen (die im Folgenden nur punktuell wiedergegeben werden können) aus der Beobachtung einer haptisch-optischen sowie einer visuell-optischen Wahrnehmung und Darstellungsform.964 Erstere ist eine Nahsicht, und Riegl sieht – ebenso wie es Deleuze/Guattari in ihrem Ästhetik-Modell aufgreifen – die Konzeption der nahsichtigen Anschauung in der ägyptischen Pyramide in Reinform übersetzt, denn sie erschließt sich dem Betrachter als die einheitliche Ebene gleichschenkliger Dreiecke ohne dahinterliegenden Tiefenanschluss.965 Riegl zufolge suggeriert die Nahsicht auf einer Ebene „die Wahrnehmung des Tastsinns“, indem eine Tiefenwirkung (z. B. durch verräterische Schatten) vermieden wird; in der griechischen Antike wird Raum z. B. durch Aneinanderreihung von Säulen geschaffen und Zusammenhang durch individuelle Einheit gebildet, es dürfen Halbschatten auftreten, doch Tiefendimension erscheint nicht notwendig.966 Dagegen wird in der römischen Baukunst Raum als solcher (der geschlossene Raum) geschaffen; das Pantheon erhält seine Tiefenwirkung zudem durch den Kuppelbau.967 Die visuell-optische Wahrnehmung ist Riegl zufolge demnach eine Fernsicht, bei der der Tastsinn zugunsten des Gesichtssinns zurücktritt; Tiefenwirkung ist gewollt, Dinge verschwimmen mit der Umgebung und die aufgegebene „Geschlossenheit der stofflichen Individualität“ fordert nun die „ergänzende[] Mithilfe des subjektiven Bewusstseins“.968 Vor diesem Hintergrund bringen Deleuze/Guattari die Nah- und Fernsicht, das „Glatte“ und das „Gekerbte“, wie folgt miteinander in Verbindung: Das Glatte ist „Gegenstand einer nahsichtigen Anschauung par excellence und
961 Alois
Riegl (1858–1905) war österreichischer Kunsthistoriker, Denkmalpfleger, Wiener Universitätsprofessor und Kustos für Textilien im MAK. 962 Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Tausend Plateaus, a. a. O. 1992 (1980), S. 682. 963 Riegl, Alois: Spätrömische Kunstindustrie, a. a. O. 1927 (1901). 964 Ebd., S. 42. Ihm zufolge beruht die ägyptische Pyramide auf einer Nahsicht, das griechische Säulenhaus auf einer Nah-/Normalsicht und das römische Pantheon auf einer Fernsicht. 965 Ebd., S. 36. 966 Ebd., S. 31 ff. 967 Ebd., S. 25 ff., 34 f. 968 Ebd., S. 35 f.
3 Szenogreffieren 233
zugleich Element eines haptischen Raumes“, wohingegen das Gekerbte „auf eine eher fernsichtige Anschauung und auf einen eher optischen Raum“ verweist.969 Die in der vorliegenden Arbeit vertretene Argumentation, dass die „blinde Beweglichkeit“970 bzw. Blindwahrnehmung, von der de Certeau spricht, im Zusammenhang mit einer (bezogen auf die Szenografie) nahsichtigen Anschauung steht, erschließt sich nun in zweierlei Hinsicht. Zum einen wird der Überblick über die Stadt bzw. über die Szenografie als eine visuell optische Wahrnehmung erkennbar, die sich als theoretisches Artefakt nur durch eine vorherige, mithin körperliche Praxiserfahrung971 ermöglicht. Bezogen auf den Szenografen bedeutet dies, dass er aus einer Erfahrung und einem Wissen heraus das Artefakt konzipiert: Die Szenografie wird sozusagen aus einer Innenperspektive gestaltet und zugleich in ein Überblicksschema (z. B. in eine diagrammatische Zeichnung) übersetzt. Zum anderen erweist sich der Einblick in die Stadt, d. h. die Fußgänger-Wahrnehmung bzw. die Wahrnehmung des Szenografie-Besuchers, als eine Art Blindheit dergestalt, dass Ebenen mit dem Auge optisch abgetastet und sukzessiv972 erfasst werden; diese Art Wahrnehmung ist demnach eine eher haptische ästhetische Erfahrung. Dabei bilden verschiedene Einheiten (Szenen, Bild-, Licht- sowie Tonausschnitte und -folgen) einen strukturierten und strukturierenden Zusammenhang in Form eines Relationengefüges; sie affizieren, wobei zwischenzeitliche Fernsichten den Rezipienten doch auch wieder auf eine gewisse Distanz bringen, womit der Szenograf Spannung/Kurzweil erzeugen kann. Dieses Wechselspiel geschieht im Projektbeispiel „Ghost Machine“ von Cardiff/Miller z. B. dort, wo der Besucher auf den Balkon geführt wird und er das Treiben im öffentlichen Raum einen Moment lang kontemplativ973 überblickt, bis ihn die Kopfhörerstimme wieder zurückholt, ins Geschehen verstrickt und er optisch die Szene abtastet, um schließlich den Verschleppten auf dem 969 Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Tausend Plateaus, a. a. O. 1992 (1980), S. 682 f. Haptisch-optische
und visuell-optische Wahrnehmung wechseln sich ab, ebenso wie das Glatte und das Gekerbte. Der gekerbte Raum wird ihnen zufolge definiert durch „Bestätigung der Richtung, Veränderung des Abstands durch den Austausch von starren Anhaltspunkten“. Im glatten Raum ist die Anschauung nah; Horizont, Hintergrund, Perspektive, Grenze, Umriss oder Form, Zentrum gibt es nicht: „[J] eder Abstand liegt im Zwischenraum. Zum Beispiel der Eskimo-Raum“ (S. 684). 970 De Certeau, Michel: Kunst des Handelns, a. a. O. 1988 (1980), S. 182. 971 Vgl. auch die erwähnten Ausführungen von Ian Buchanan. 972 Siehe auch Kapitel 2.1 und 2.3 der vorliegenden Arbeit. 973 Vgl. auch Alois Riegls Stimmungsaufsatz; hier zeigt sich eine mögliche Parallele in Bezug auf die Fern- und Nahsicht. Er schreibt: „Auf einem einsamen Alpengipfel habe ich mich niedergelassen. … Eine Gemse ist in der Nähe aufgesprungen … Und nun? … Ein so subtiles Ding ist diese Stimmung, daß eine Lebensregung in der Nähe genügt, um sie hinwegzublasen. … Es ist die Gegenprobe auf jene Elemente – Ruhe und Fernsicht –, aus denen die Stimmung hervorgeht: Bewegung und Nahsicht haben mich in den Kampf ums Dasein zurückgeschleudert.“ Alois Riegl: „Die Stimmung als Inhalt der modernen Kunst“ (1899), in: Riegl, Alois/Rosenauer, Artur (Hg.): Gesammelte Aufsätze. Klassische Texte der Wiener Schule der Kunstgeschichte, Abt. 1 Bd. 5, Wien: Wiener Universitäts Verlag 1996, S. 27 ff.
234 Szenosphäre & Szenotopie
Standstreifen in Nahaufnahme („Affekt-Bild“974) zu entdecken. Hier wird vor allem in produktionsästhetischer Hinsicht nochmals klarer, wie szenografische Herstellungsprozesse ablaufen und funktionieren können. Die Ausführungen von Deleuze/Guattari zur nahsichtigen Anschauung sind insofern aufschlussreich, als sie mithin jene Voraussetzungen und Methoden, die für den Künstler konstitutiv sind, benennen. Denn tatsächlich geht alles „so vor sich, als ob eine Blindheit die organisierenden Praktiken … charakterisierte“975: „Man kann von einer Sache zurücktreten, aber wer von dem Bild, das er gerade malt, zurücktritt, ist kein guter Maler. Und auch was die ‚Sache‘ betrifft: Cézanne sprach von der Notwendigkeit, das Kornfeld nicht mehr zu sehen … und sich ohne Anhaltspunkt im glatten Raum zu verlieren. Danach kann es zur Einkerbung kommen: die Skizze, die Strata … der ‚Weltmaßstab‘ … Auf die Gefahr hin, daß das Gekerbte seinerseits in einer ‚Katastrophe‘ endet, zugunsten eines neuen glatten Raumes und eines neuen gekerbten Raumes“.976 Vom Systematischen wird nun zum Exemplarischen übergegangen – das Folgekapitel „Sprossachsen“ widmet sich der Praxis und bespricht drei Projektbeispiele, anhand derer sich Szenosphäre und Szenotopie veranschaulichen lassen.
974 Deleuze,
Gilles: Das Bewegungs-Bild, a. a. O 1997 (1983), S. 153. Siehe auch Kapitel 3.2.3 der vorliegenden Arbeit. 975 De Certeau, Michel: Kunst des Handelns, a. a. O. 1988 (1980), S. 182. 976 Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Tausend Plateaus, a. a. O. 1992 (1980), S. 682 f. Sie erläutern weiter: „Ebenso könnte man sagen, daß ein Komponist nicht hört: daß er von nahem hört, der Zuhörer hingegen von ferne. Und der Schriftsteller schreibt mit einem Kurzzeitgedächtnis, während man vom Leser [ein Langzeitgedächtnis] annimmt.“
235
4. Sprossachsen Dieses Kapitel widmet sich der Untersuchung dreier künstlerischer Projekte, die als szenografische Arbeiten herausgestellt und in denen sowohl Szenosphären evoziert als auch Szenotopien vom Rezipienten wahrgenommen werden. Die drei Kunstwerke bzw. Ereignisse, die in einem Theaterkontext stehen, werden aus zwei Perspektiven untersucht: erstens aus phänomenologischer Sicht – performativ und semiotisch atmosphärisch, zweitens aus einem topologischen Blickwinkel heraus – relational und (post-)strukturalistisch. Der Theaterkontext (siehe Kapitel 2) wirft zum einen künstlerisch-ästhetische Fragen auf im Hinblick auf Bühnenformen, Raumbilder und Bildräume, Bild- und Raumbühnen, Zwei- und Dreidimensionalität, aber auch auf gesellschaftliche Raumvorstellungen und -formen. Zum anderen ist der Theaterkontext an daran anschließende aktuelle Überlegungen gebunden, die auf die Kontiguität977 des Theaters als Illusionsraum zum unmittelbaren Umfeld, d. h. zur Stadt und damit zum Leben zielen. Denn gegenwärtige Gesellschaftsformen können sich in gegenwärtig gewünschten Theaterspielformen spiegeln, die sich wiederum in Theaterbauten/Bühnenformen widerspiegeln (sollten)978. Die Projekte, die im Folgenden vorgestellt werden, versuchen sich auf ihre jeweils unterschiedliche Art und Weise Raum zu verschaffen, indem sie die Bühne als einen offenen Raum verstehen. Vor dem Hintergrund des Theaterkontextes und in Bezug auf Bild und Raum werden die ersten Arbeiten von Friedrich Kiesler (1923/24) und das Projekt „Ex Machina“ von Fabrizio Plessi (1994) untersucht. In Bezug auf die Kontiguität zur Stadt und zum Leben wird – nach der Besprechung weiterer Werke von Kiesler (1924/25) – die Arbeit „Ghost Maschine“ (2005) von Janet Cardiff & George Bures Miller analysiert.
977
Vgl. Primavesi, Patrick: „Szenografie zwischen urbanem Raum, Kulisse und Situation“, in: Archithese – Szenografie. Internationale Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur, 4.2010, Sulgen: Niggli AG, 2010, S. 46–51, hier S. 50. „Die Öffnung der Stadttheater gegenüber Arbeitsweisen von experimentellen Gruppen wie Rimini Protokoll ist ein langwieriger Prozess, der das Selbstverständnis professioneller Theatermacher ebenso in Frage stellt wie die Struktur der Apparate.“ 978 Vgl. Werner Ruhnaus und Ferdinand Kriwets Manifest „Gesellschaftsform Theaterform, Theaterform Gesellschaftsform“ (1968), in: Ruhnau, Werner/Lehmann-Kopp, Dorothee: Werner Ruhnau. Der Raum, das Spiel und die Künste, Berlin: Jovis, Museum für Architektur und Ingenieurkunst NRW (anlässlich der gleichnamigen Ausstellung im Musiktheater im Revier, Gelsenkirchen) 2007, S. 72. Ruhnau und Kriwet gehen davon aus, dass Gesellschafts- und Theaterformen in Korrelativität zueinander stehen: „Einer offenen Gesellschaft entsprechen offene Theaterformen“, und diese „verlangen … veränderbare Theaterarchitekturen“, variable Bühnenformen also, die außer der Guckkastenrezeption auch andere Theaterspielformen zulassen, den Zuschauer zu einem Mitspieler (Akteur) machen und die Trennung zwischen Zuschauer und Bühne, Bühne und Stadt aufheben.
236 Szenosphäre & Szenotopie
Kiesler verräumlichte nach seinen ersten bühnenbildnerischen Arbeiten (1923/24) die Bildbühne zu einem offenen Raum, und durch seine sogenannte „Raumbühne“ (1924) eröffnete er eine damals neue Perspektive, die sowohl auf die Theoriebildung in der Kunst als auch auf die künstlerische Praxis bis heute nachwirkt: die Auseinandersetzung mit Lagebeziehungen im Raum und mit einem aktiven Betrachter bzw. Installationsbesucher. In seiner sogenannten „Raumstadt“ (1925), die er aus seiner „Raumbühne“ entwickelte, wurde Raum als ein System von Spannungen und Kräften im freien Raum979 offenbar. Bei den sich daraus ergebenden künstlerisch-ästhetischen Fragen geht es nicht mehr nur um das Verständnis von Bild und Raum und ihr Verhältnis zueinander, sondern auch um die Wahrnehmung des Betrachters, der das, was er sieht, zu einem relationalen Gefüge zusammensetzt: Raum als Ereignis und Ensemble. Diese Auseinandersetzung mit Bild, Raum und Betrachter findet auch in der malerischen Bildarbeit Kieslers – in den sogenannten „galaxies“, die ebenfalls untersucht werden – ihre Fortsetzung. Dabei wird das Bild als ein Raumgefüge wahrnehmbar und partikelartig in Einzelteile zerlegt, die in relationaler Beziehung zueinander stehen; die Einzelbilder werden nicht additiv und als eigenständige Bildflächen in den Raum gehängt, sondern als Ensemble im Sinne eines zusammengehörenden Raumbildes und als Raum-Zeit-Kontinuum980 im Raum installiert. Nach Kieslers frühen Bühnenbilderarbeiten wird das Projekt „Ex Machina“ von Fabrizio Plessi/KHM Köln untersucht, an dem sich der Umgang mit Bildflächen und Raum (2-D/3-D) auf ähnliche Art und Weise zeigt. Bildräume und Raumbilder werden nicht bildhaft zweidimensional, sondern als Ensemble konzipiert und immersiv erfahrbar. Zwar kann man nicht in die Bühne eintreten oder sie durchwandern, doch sind die Bildwelten insofern räumlich, als sie dramaturgisch mit dem realen Bühnengeschehen verschachtelt sind und das Bild der Bühne (ein Schwimmbad) anamorphotisch konzipiert ist. In einer Zwischenbetrachtung über die Perspektive als medialer Apparat bei Andrea Pozzo wird das Wesen solcher Raumbilder nochmals genauer herausgearbeitet: Seine nicht Bild-, sondern Raumhaftigkeit erzeugt eine Räumlichkeit, in der der „Widersinn: Bild – Bühne“981 zwischen Zwei- und Dreidimen979 Kiesler
980
981
schreibt in seinem Manifest „Vitalbau – Raumstadt – Funktionelle Architektur“ von einem „System von Spannungen (tension) im freien Raum“. Friedrich Kiesler in: Doesburg, Theo von (Hg.): De Stijl 10/11 (1925). Vgl. auch Bogner, Dieter (Hg.): Friedrich Kiesler, 1890–1965: inside the endless house, Wien [u. a.]: Böhlau 1997, S. 10. Vgl. ebd., S. 16. Bogner sieht die Galaxie-Konzeption in Kieslers correalistischer Theorie und der Innenraumgestaltung seiner Architekturvision des „Endless House“ übertragen: „Kiesler selbst vergleicht eine Galaxy mit der Familie als kleinste soziale Einheit.“ Für Kiesler ist die Bildbühne (Guckkasten) ein Widersinn, denn „Bühne ist Raum, Bild Fläche“. Friedrich Kiesler: „Debacle des Theaters“, in Kiesler, Friedrich: Katalog/Programm/Almanach: Internationale Ausstellung neuer Theatertechnik im Rahmen des Musik- und Theaterfestes der Stadt Wien, Wien: Würthle 1924, S. 52. Seine Auffassung über die Bildbühne bringt ihn zur Konzeption seiner „Raumbühne“ und schließlich zum Entwurf seiner „Raumstadt“.
4 Sprossachsen 237
sionalität, Fläche und Raum überwunden wird. Durch einen nicht additiven, sondern integralen Umgang mit Bild (und -technik) werden in „Ex Machina“ Bilder und Bewegtbild-Projektionen nicht als Flächen eingesetzt, sondern als Räumlichkeiten verstanden. Vor dem Hintergrund des Theaters in Bezug auf seine Kontiguität zur Stadt und zum Leben sind Kieslers „Raumbühne“ und „Raumstadt“ (1924/25) sowie „Ghost Machine“ von Cardiff/Miller, die in den Folgekapiteln untersucht werden, erkenntnisreich. Denn bei Kiesler wird die Stadt – als Bühne – zum Gegenstand und Ausdruck dessen, was in der Phänomenologie und heutigen Raumsoziologie zum Tragen kommt: Stadt bzw. Raum ist nicht schon gegeben, sondern wird durch Handlung(en) und Raumpraktiken hervorgebracht 982, z. B. durch Gehen – laut Hinderk Emrich handelt es sich um eine Form von „Raum eroberung“983 –, und das Gehen ist für die Szenografie konstitutiv. Raum wird durch (körperliche) Fortbewegung hervorgebracht und zeitlich strukturiert, was die Performativität von Raum (Räumlichkeit) herausstellt und damit auch die der Szenografie. Die Künstler Cardiff/Miller lassen ihren Anspruch, den heutigen Raum als elektronische Lebenswirklichkeit über Information, Kamerabild, Navigation etc. hervorzubringen, in einem Theaterkontext erfahrbar und zu einem Ereignis werden. In ihrem Projekt „Ghost Machine“ werden Geschichten erzählt und Situationen gewahr, indem nicht Illusionsräume gezeigt, sondern reale und filmische Ereignisse hergestellt und miteinander verhandelt werden, die oftmals ununterscheidbar sind: Digitale Bildräume und der analoge physische Erfahrungs- und Architekturraum überlagern sich und bilden ein relationales Gefüge. Neben Cardiff/Miller und Plessi, die insbesondere auch wegen des Medieneinsatzes in ihren Arbeiten für die vorliegende Untersuchung relevant sind, steht das Werk Friedrich Kieslers im Mittelpunkt der Betrachtungen. Denn er hat aus seiner künstlerischen Praxis heraus Beiträge zur Theoriebildung geleistet984, und sein Werk ist für die Raumästhetik sowie für die Struktur der 982
Vgl. de Certeau, Michel: Kunst des Handelns, Berlin: Merve 1988 (1980). Vgl. auch Forschungsergebnisse, die daran anschließen, z. B. Löw, Martina: Raumsoziologie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001. 983 Hinderk Emrich in einem Interview, das ich mit ihm 2014 geführt habe; dabei wurden (neben Aspekten zum perspektivischen Sehen und zur Philosophie des Raumes im Kino) auch Raumpraktiken und räumliche Eroberungsformen diskutiert. 984 Friedrich Kiesler (1890–1965), Studium von 1908 bis 1913 in Wien an der Akademie der Bildenden Künste und der Technischen Hochschule, 1926 Auswanderung in die USA, seit 1937 Professor an der School of Architecture an der Columbia University, Gründung des „Laboratory for Design Correlation“. Kiesler hat ca.100 Schriften veröffentlicht, u. a. „Manifeste du Corréalisme“ (1947) in: L’Architecture d’Aujourd’hui, Paris 1949. In „Pseudo-Functionalism in Modern Architecture“, in: Partisan Review, New York 07/1949, S. 740 ff., schreibt er: „Form folgt nicht der Funktion, Funktion folgt der Vision, Vision folgt der Realität.“
238 Szenosphäre & Szenotopie
Szenografie insofern relevant, als über seine Entwicklung und Stationen (Theater – Ausstellung – Installation – Architektur) eine szenografische Raum-Entwicklung und -Erweiterung sichtbar wird. Darüber hinaus beschreibt Kieslers Werk, das die Vorstellung von Raum als ein endloses, räumlich zeitliches Kontinuum reflektiert985, die Spannungsfelder zwischen Bild und Bühne, Bühne und Raum, Raum und Bewegung, Bewegung und Wahrnehmung, Wahrnehmung und Erkenntnis, in denen sich auch die szenografischen Arbeiten von Plessi und Cardiff/Miller bewegen. Kiesler hat zudem die Raumbühne als Denkmodell konzipiert, das für die vorliegende Studie im Hinblick auf Wissensproduktion und -gestaltung insofern von Interesse ist, als Wissensorganisation und -inszenierung eine räumliche und performative, mithin szenografische Praktik ist, die mit bildsprachlichen und räumlichen Mitteln operiert. Gemäß der szenografischen Raum-Entwicklung und -Erweiterung, die aufgezeigt werden soll, werden die drei genannten Projekte nicht chronologisch gemäß ihrer Entstehungsjahre vorgestellt, sondern ausgehend von der Bildbühne und dem körperlich passiven Zuschauer hin zur Raumbühne und -installation mit dem aktiven Besucher. Dementsprechend werden sie unter folgenden Kapitelüberschriften analysiert: Bühnenbild –Bildbühne, Bildraum – Raumbild, Raumbühne – Rauminstallation sowie Rauminstallation – Environment. Die Projektanalysen werden die bisher gewonnenen Erkenntnisse verdichten. Dabei werden die Raumästhetik der Szenografie sowie ihre -struktur durch die zwei Arbeitsbegriffe „Szenosphäre“ und „Szenotopie“ und im Folgenden durch die Untersuchung der drei künstlerischen Arbeiten veranschaulicht, was zum einen die Wirkung und Wahrnehmung, zum anderen die Form, (System-)Struktur und Beschaffenheit der Szenografie erkennbar werden lässt.
985
Der „endlose Raum“ als Feld, Wechselwirkung, Kraft zwischen Mensch, Kunst, Natur(wissenschaft) und Raum ist Kieslers Lebenswerk. Die Entwicklungsgeschichte seines Spätwerks „Endless House“ ab 1950 beginnt mit der „Raumbühne“ (1924) und setzt sich fort über: „The Endless Theatre“ (1923-25), Ausstellungsarchitektur „Raumstadt“ (1925), „Nucleus House“ (1926-28), „Woodstock Theatre“ (1931), „Space House“ (1933), Ausstellungskonzepte und -architekturen in New York (1942, 1947), Moskau (1944) und Paris (1947). Hinzu kommen eigene Einzelausstellungen (ab 1954), „World House Gallery“ (1957), „Universal Theatre“ (1962), skulpturale Environments (ab 1963) und „Shrine of the Book“ (1965).
4 Sprossachsen 239
4.1 Bühnenbild – Bildbühne: Friedrich Kiesler
Um Kieslers Raumbühne und seine damit verbundene Vorstellung von Raum als ein endlos räumliches Kontinuum deutlich werden zu lassen, sind seine ersten bühnenbildnerischen Entwürfe aufschlussreich, mit denen seine internationale Karriere986 begann und seine Zeit-Raum-Architektur987 ihren Ursprung findet.988 Das Spannungsfeld zwischen Bild und Bühne, der zweidimensionalen Fläche und dem dreidimensionalen Raum, mit dem er sich schon bei seinem ersten Bühnenentwurf von 1923 für das Stück „W.U.R.“989, das in einer Guckkastenbühne spielt, konfrontiert sieht, lässt ihn einen reliefartigen Prospekt gestalten. Dazu wird er später im IAT-Katalog990 unter der Überschrift „De La Nature Morte Vivante“ schreiben: „Die Bildstarre ist zum Leben erweckt. Die Kulisse ist aktiv, spielt mit. De la nature morte vivante. Mittel der Verlebendigung sind: Bewegung der Linien, grelle Kontrastierung der Farben. Überleitung von Flächen in Relief-Formen bis zur Rundplastik MENSCH (Schauspieler). Bewegungsspiel farbiger Lichter und Scheinwerfer auf der Kulisse. Rhythmisch akzentuiert, dem Sprechen und Bewegen der Schauspieler koordiniert. TEMPO …“991
Den Schauspieler sieht Kiesler also nicht als eine Figur, die eine Rolle darstellt, sondern als vitale Kraft992, die im Raumspiel die Dichtung lebendig verkörpert. 986
Kiesler lernt über seine Bühnenentwürfe Hans Richter, Theo van Doesburg, László Moholy-Nagy und El Lissitzky (und über diesen auch Kasimir Malewitsch) kennen, was seine künstlerische Laufbahn beeinflussen wird. 987 Bogner, Dieter (Hg.): Friedrich Kiesler, 1890–1965: inside the endless house, Wien [u. a.]: Böhlau 1997, S. 10. Zu den weiteren relevanten Schriften, die im Folgenden hinzugezogen und ausgewertet werden, zählen auch: Bogner, Dieter/Boeckl, Matthias: Friedrich Kiesler: Architekt, Maler, Bildhauer; 1890–1965, Wien: Löcker 1988, sowie Lesak, Barbara: Die Kulisse explodiert: Friedrich Kieslers Theaterexperimente und Architekturprojekte 1923–1925, Wien: Löcker 1988. 988 Die folgenden Ausführungen über Kiesler basieren auf Fotos und Dokumenten, die ich im Wiener Kiesler-Archiv (Österreichische Friedrich und Lillian Kiesler Privatstiftung) zu Forschungszwecken eingesehen und ausgewertet habe. 989 „W.U.R.“ (Werstands Universal Roberts) von Karel Čapek. Regie: John Gottowt, Premiere am 29.03.1923 im Theater am Kurfürstendamm Berlin, deutsche Erstaufführung. Zu dem Projekt sind neben einigen Zeitungsartikeln nur drei Schwarz-Weiß-Fotografien sowie eine kurze Aufzeichnung Kieslers erhalten. Das Theaterstück öffnet vor dem Hintergrund der Mensch-MaschineProblematik und aus heutiger Sicht möglicherweise eine Assoziation zum Science-Fiction-Film „Terminator“ (1984). 990 Internationale Ausstellung neuer Theatertechnik im Rahmen des Musik- und Theaterfestes der Stadt Wien, September bis Oktober 1924, abgekürzt IAT, mit der Kiesler als künstlerischer Leiter aufgrund seiner Bühnenbilderfolge betraut wird. Er ist auch Herausgeber des dazugehörigen Katalogs, in dem er zahlreiche Schriften veröffentlicht. 991 Kiesler, Friedrich (Hg.): Katalog/Programm/Almanach: Internationale Ausstellung neuer Theatertechnik im Rahmen des Musik- und Theraterfestes der Stadt Wien, Wien: Würthle 1924, S. 20 f. 992 Vgl. Helmuth Plessner, der die Fähigkeit des Schauspielers, einen anderen Menschen zu verkörpern, mit einem Raumbild in Verbindung bringt: „[D]iese Bilder stellen Menschen dar … Sie
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Kieslers reliefartiger Prospekt993 (siehe nachfolgende Abbildung994) als eine aus der Fläche hervortretende Komposition ist ebenso lebendig. Er dient dem Roboterstück nicht als abbildhafte Malerei, sondern als „elektro-mechanischer“995 Hintergrund, der als Maschinenapparatur tatsächlich funktioniert – lebt.
Abb. 12 Bühnenbild zu W.U.R, Friedrich Kiesler
Kieslers reliefartiger Prospekt kann durch seine Überwachungsfunktion im szenischen Geschehen mitspielen und benötigt Strom. Er ist demnach nicht bloß gemalte Kulisse und Illusion, sondern die Einzelelemente der Maschinenapparatur können kreisen, Licht- und Tonsignale senden, sich öffnen, schließen, verschalten etc. und haben einen Realitätsanspruch, wie aus Kieslers Text „De La Nature Morte Vivante“ hervorgeht. Zum ersten Mal996 werden auch Filmprojektion und Television eingesetzt997 und es kommt die Idee Fernanwesenheit998 existieren nicht als farbige Figuren auf einer Fläche, auch nicht als lebende Bilder und bewegte Skulpturen. Sie sind von Menschen verkörperte und bedeutete Menschen.“ Plessner, Helmuth: „Zur Anthropologie des Schauspielers“, in: Gebauer, Gunter (Hg.): Anthropologie, Leipzig: Reclam 1998, S. 185 ff. 993 Dokumente im Kiesler-Archiv zeigen seinen Entwurf. Kiesler selbst beschreibt den Bühnenprospekt in seinem Text „De La Nature Morte Vivante“ ausführlich: Es gibt Lichtspiele, Tastaturen, Sirenentöne, Stimmen aus Megaphonen, grelle Farbkontrastierungen, einen Seismograph, und der „Filmprojektor rattert“. Er gibt auch über die eingesetzten Medien Auskunft: links eine Irisblende und rechts ein Tanagra-Apparat. 994 © 2015 Österreichische Friedrich und Lillian Kiesler Privatstiftung. Bezeichnung der Abbildung: „PHO 185/0. Friedrich Kiesler, Bühnenbild zu „W.U.R.“, Theater am Kurfürstendamm Berlin, 1923.“ 995 Aus Kieslers Text „De La Nature Morte Vivante“, a. a. O. 1924. 996 1923 verwendet auch Sergei Eisenstein erstmals Filmsequenzen in einem Theaterstück von Ostrowski. Hieraus entwickelt er sein Manifest „Montage der Attraktionen“, das auf eine neue Wirkungsästhetik zielt. 997 Brauneck, Manfred: Theater im 20. Jahrhundert: Programmschriften, Stilperioden, Reformmodelle, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1982, S. 221. 998 Vgl. Faßler, Manfred: Netzwerke: Einführung in die Netzstrukturen, Netzkulturen und verteilte Gesellschaftlichkeit, München: Fink 2001, S. 135 f. Fernanwesenheit meint eine Anwesenheit durch
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zum Vorschein. Das bedeutet, dass Kiesler Räume und Zeiten auf die Bühne holt, die jenseits derselben und des Theatergebäudes spielen. Er hatte links in den Prospekt eine übergroße Irisblende eingebaut, hinter der eine kurze Filmsequenz lief, und war nicht bestrebt, mit großer Perspektive zu arbeiten, d. h. eine Fläche wie einen Raum aussehen zu lassen. Die Frontalaufnahme, die den reliefartigen Prospekt dokumentiert, zeigt ein Filmstandbild ohne tiefenräumliche Illusionswirkung, und die weitläufige Roboter-Fabrikanlage (die im Stück „W.U.R.“ die Zeit und den Ort des Geschehenes markiert) wird nicht in großer Flucht und der Totalen gezeigt, sondern eher nahsichtig (ausschnitthaft als Nahaufnahme). Auch fungiert der Film nicht als eigenständige, in den Bühnenraum gehängte Bildfläche, sondern ist als architektonisches Element konzipiert. Wie Archivbilder zeigen999, ist die Bildfläche als Irisblende integraler Bestandteil des Prospektes und als solcher als Funktionsteil in ihn eingelassen. Darüber hinaus ist rechts ein Bildschirm in den Maschinenprospekt montiert, der die Idee von Television und einer Live-Übertragung von Ereignissen realisiert und (aus heutiger Sicht) Personen wie auf einem Fernseh- oder Computerbildschirm erscheinen lässt. Durch einen optischen Trick (mithilfe eines Tanagra-Apparats1000, der über Spiegel ein Miniaturbild projiziert) simuliert der Bildschirm also eine Art Fernsehapparat oder Webcam, auf dem/der die Zuschauer das Geschehen hinter der Bühne und die Schauspieler miteinander kommunizieren sehen können. Dadurch, dass im Spielverlauf dieselben Personen wenig später auf der Bühne erscheinen und wieder verschwinden (bzw. im selben Moment auf dem Bildschirm auftauchen), war Kiesler nicht bloß ein Effekt1001 gelungen, sondern Weitreichenderes: ein performatives Moment und die dramaturgische Verbindung zwischen der Realität auf der Bühne und einer anderswo stattfindenden Realität mittels einer Bildprojektion, eine neue ortlose, noch unverortete Raumerfahrung also. Voraussetzung für Kieslers Motivation, die menschliche Sinneswahrnehmung und den leiblich erfahrbaren Raum paradigmatisch zu erweitern, war möglicherweise mit einer Medien-Erfahrung verbunden. Nämlich mit jener, dass seit der Telegraphie zum „absoluten ersten Mal … Information als masseloser Fluß elektromagnetischer Wellen abgekoppelt von Kommunikation [war]“; im Gegensatz zu vormodernen Systemen werden Raum und seine „Distanzen (wie in der zeitgleichen mathematischen Topologie) … nicht mehr Medien (z. B. Telefon, Fernsehen) zur selben Zeit, aber nicht am selben Ort; Kommunikation wird in diesem Sinne ortlos. 999 Abbildungen eingesehen im Wiener Kiesler-Archiv. 1000 Eine nach 1873 entwickelte Miniaturbühne, auf der über Spiegelprojektion Schauspieler live, aber 8- bis 10-fach verkleinert agieren; vgl. Nekes, Werner/Dewitz, Bodo (Hg.): Ich sehe was, was du nicht siehst! Sehmaschinen und Bilderwelten. Die Sammlung Werner Nekes., Göttingen: Steidl 2002, S. 449, 430. 1001 Brauneck, Manfred: Theater im 20. Jahrhundert, a. a. O. 1982, S. 221.
242 Szenosphäre & Szenotopie
berechnet“.1002 Die Möglichkeit der immateriellen Fernübertragung von Information1003 bedingt die Veränderung der Raumerfahrung insofern, als räumliche Distanz und zeitliche Dauer nicht mehr gleichgesetzt werden, wodurch die Entfernung kürzer und der Raum kleiner wird: Raum und Zeit stehen relativ zueinander und ihr innerer Zusammenhang ist ein relationaler. Das ist im Hinblick auf Kieslers Schaffen von Bedeutung, denn (siehe Kapitel 3.1.4) zumeist besteht ein Zusammenhang zwischen Raumerfahrung und Raumgestaltung: Der Künstler bringt etwas hervor, indem er es „in Entsprechung zu der Struktur, die seiner Meinung nach den vorliegenden Phänomenen der Wirklichkeit eigen ist“1004, wiedergibt. Der Verlust des Raums1005, der mit dem damaligen Zeitalter der Industrialisierung und der damit verbundenen Geschwindigkeit und Informationsübertragung in Verbindung steht, ist auch ablesbar am Abbau der Tiefenillusion von Räumlichkeit bzw. der Perspektive in der Malerei1006 und im Theater. Kieslers durch Farben grell kontrastierter Bühnenprospekt – in seiner Funktion aus heutiger Sicht eine Art Platine – kann als ein vom Kubismus inspiriertes konstruktivistisches1007 Reliefbild bezeichnet werden, das nicht linear-, sondern parallelperspektivisch gedacht und von axonometrischer1008 Gestalt ist. Seine Elemente stehen in strukturaler Beziehung zueinander, nicht perspektivisch im Sinne einer hintereinander gestaffelten Linearität, sondern sie werden
1002 Friedrich Kittler: „Kommunikationsmedien“, in: Wulf, Christoph (Hg.): Vom Menschen: Handbuch
historische Anthropologie, Weinheim/Basel: Beltz 1997, S. 656.
1003 1833 gelang die erste telegrafische Nachrichtenübertragung und die Bildtelegrafie wurde ab 1901
entwickelt. Jurij M.: Vorlesungen zu einer strukturalen Poetik, München: Fink 1972b, S. 22 f. 1005 „Durch die Eisenbahn wird der Raum getötet, und es bleibt uns nur noch die Zeit“, postulierte Heinrich Heine bereits 1840. Der euklidische Raum wird auch in die Physik überwunden werden: 1854 von der Riemann‘schen Geometrie, durch Hermann Minkowskis Raum- und Zeit-Vorstellung sowie durch die Relativitätstheorie, die Einstein ab 1905 vorträgt. 1006 Der Suprematist Malewitsch entwirft 1913 die Ausstattung für die Oper „Sieg über die Sonne“ und zeigt (neben der Bühnenmaschinerie, die er zwecks Desillusionierung bewusst offenlegt) ein „schwarzes Quadrat“ auf weißem Grund als Bühnenbild, woraus 1915 sein gleichnamiges Gemälde entsteht. 1007 Lesak bezeichnet die „W.U.R.“-Kulisse als ein repräsentatives „Beispiel für die mechanischkonstruktivistischen Kunsttendenzen ihrer Zeit“. Lesak, Barbara: Die Kulisse explodiert, a. a. O. 1988, S. 81. 1008 In der Axonometrie gibt es keinen zusammenlaufenden Fluchtpunkt; im Anschluss an Schneider kann gesagt werden, dass sie das sichtbar macht, was man vom Objekt weiß, und nicht das, was man sieht. Schneider, Bernhard: „Perspektive bezieht sich auf den Betrachter, Axonometrie bezieht sich auf den Gegenstand“, in: Daidalos 1, Architektur-Fachzeitschrift, 1981, S. 81–95, hier S. 81. Vgl. auch Heinrich Klotz: „Im Kubismus wurde der Illusionsraum vernichtet“, in: Nerdinger, Winfried/Zimmermann, Florian (Hg.): Die Architekturzeichnung vom barocken Idealplan zur Axonometrie, München: Prestel 1985, S. 7. Vgl. auch McLuhan, der im Kubismus die Illusion der dritten Dimension durch ein Wechselspiel von Ebenen und Widersprüchen ersetzt sieht. McLuhan, Marshall: Die magischen Kanäle, Düsseldorf [u. a.]: Econ-Verlag 1968, S. 19. 1004 Lotman,
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nebeneinander und simultan gesehen, was einer raumzeitlichen1009 Konzeption entspricht. Bild und Bühne, Raum und Fläche sind das Spannungsfeld, in dem sich Kieslers Entwurf bewegt, doch setzt er sich nicht nur gestalterisch mit dem Theater auseinander, sondern auch ideologisch. Er kritisiert den Geist, der im Theater vorherrscht bzw. in seinen Augen hinter der Zeit zurückgeblieben ist und der dem neuen Zeitgeist, der von Dynamik und Geschwindigkeit geprägt ist, keine Entfaltungsmöglichkeiten gibt.1010 Kiesler will die neuen Impulse der Zeit zum Ausdruck bringen und ihnen Raum (ver)schaffen. Drei Monate nach der Premiere von „W.U.R.“ in Berlin äußerte er sich öffentlich und schrieb seinen Aufsatz „Theater der Zeit“1011, in dem er die „überindividuelle dynamische Raumgestaltung“ forderte: „Nicht die Geste muß sich ändern, sondern der Geist selbst. … [E]s geht um das Melos der gesamten Bühnengestalt. Soll das Theater … ein lebendiger Faktor der Zeit sein, dann muß es aus dem Boden der Zeit wachsen. … Die Bühne ist keine Kiste mit einem Vorhang als Deckel, in die Panoramen eingeschachtelt werden. Die Bühne ist ein elastischer Raum. … Wer das nicht begreift, für den bleibt die Guckkastenbühne beste Manege für neue Dressuren.“
Kieslers Ausdruck „elastischer Raum“ zielt auf eine Raumvorstellung, die der eines statischen Behälters entgegensteht und seine Konzeption eines offenen Railway-Theaters (das in Kapitel 4.3 untersucht wird) auf den Weg bringen wird. Bis zur Realisierung seiner Raumbühne, die sich auf das Railway-Theater bezieht, versuchte sich Kiesler weiter an im Grunde geschlossenen Räumen (Bildbühnen). Auch das Stück „Kaiser Jones“1012, Kieslers zweiter Bühnenbildauftrag, spielt in einer Guckkastenbühne, doch versucht er die Produktionsbedingungen durch eine „mechanische Raumszenerie“1013 zu überwinden, die er mit dem Begriff „Raumbühne“ kennzeichnet.1014 Die Raumszenerie muss als Konzept verstanden werden, das zum einen die eigentliche Raumbühne (die er erst neun Monate später umsetzen und auf der Internationalen Ausstellung neuer Theatertechnik (IAT) 1009 Kieslers Privatbibliothek (eingesehen im Wiener Kiesler-Archiv) bezeugt seine intensive Ausein-
andersetzung mit den neuen (natur-)wissenschaftlichen Erkenntnissen, die Anfang des 20. Jahrhunderts gemacht wurden und ihn nachhaltig beeinflusst haben. 1010 Lesak, Barbara: Die Kulisse explodiert, a. a. O. 1988. Sie fasst Kieslers Angriffspunkte kurz zusammen (S. 44): 1. Der Widerstand des alten Theaters gegen die Einflüsse der Neuzeit, 2. der geschäftsmäßig geführte Theaterbetrieb, 3. die Guckkastenbühne, 4. das Ausstattungswesen, 5. die Kulissenmalerei und 6. die individualistische Schauspielkunst. 1011 Veröffentlichung im Berliner Tageblatt vom 01.06.1923. 1012 „Kaiser Jones“ von Eugene O’Neill. Regie: Berthold Viertel, Premiere am 08.01.1924 im Berliner Lustspieltheater, deutsche Erstaufführung. 1013 Kiesler, Friedrich: Katalog/Programm/Almanach, a. a. O. 1924, S. 24 f. 1014 Lesak, Barbara: Die Kulisse explodiert, a. a. O. 1988, S. 85.
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präsentieren sollte) vordenkt und zum anderen Raum als eine dynamische und raumzeitliche Struktur auffasst. Wie Abbildungen seines Entwurf zeigen, besteht die Idee seiner mechanischen Raumszenerie – weg vom Bild hin zum Raum – darin, innerhalb nur einer einzigen abstrakten Gestaltung über eine fließende Raumorganisation und unsichtbare Verwandlungen verschiedene Ortswechsel sowie Innen- und Außenräume sichtbar zu machen1015, was dem Rezipienten einen entsprechend offenen Imaginationsraum anbieten kann und zugleich von einem erweiterten Raumverständnis Kieslers zeugt. Sein Ansatz (der sich somit als ein produktionsästhetisches Konzept bestimmen lässt, das von der Bildbühne zum Bildraum übergeht) will die Frage nach dem grundsätzlichen Verhältnis von Mensch und Raum1016 und damit auch die der (Re-)Präsentation neu verhandeln und eine neue Seherfahrung erproben, was aus rezeptionsästhetischer Sicht auf eine konzeptionelle Einbindung des Betrachters hinzielt, auf performative Akte also. Er will keine Kulissenbühne entwerfen und Panoramen einschachteln1017, sondern die Bühne selbst als Struktur, Raum- und Zeitkontinuum und als szenosphärischen Handlungs- und Wahrnehmungsraum gestalten. Sein Vorhaben zu „Kaiser Jones“ überforderte jedoch die gängige Theaterpraxis ebenso wie die Vorstellungskraft der Zuschauer, die dem Stück in seiner Ästhetik nicht folgen konnten, aber auch die der Kritiker, die keine Raumexperimente, sondern eine Illustration des Stückinhalts1018 sehen wollten. Darüber hinaus konnte die vorhandene Bühnentechnik Kieslers Vision nicht umsetzen, sondern forderte umständliche Umbauphasen einzelner Bühnenelemente.1019 Das machte einen kontinuierlichen Spielablauf und die gewünschte flüssige Einzelbild-Abfolge unmöglich; bei Kiesler sind es (noch) keine 24 fps (Einzelbilder pro Sekunde) wie beim Kinofilm, sondern sechs Bilder in 45 Minuten, dennoch ist die Zielrichtung, die er mit seiner „mechanischen Raumszenerie“ verfolgte, klar: Er will Raum als Räumlichkeit, genauer gesagt als Zeiträumlichkeit und Raumzeitlichkeit zur Darstellung bzw. zum Ereignis bringen und ein Zeit-Raum-Kontinuum erfahrbar machen. Im zur IAT gehörenden Katalog veröffentlichte Kiesler rückblickend zu seiner Konzeption, die er nicht verwirklichen konnte, eine Fotosequenz zu seinem Entwurf. In den Erläuterungen zu den Bildeinstellungen heißt es: 1015 Das
Stück thematisiert das Schicksal afrikanischer Sklaven, und für die acht Szenen und zwei Schauplätze (Palast und Wald), in denen das Stück spielt, entwirft Kiesler nur einen Raum als Einheitsdekoration. Lesak, Barbara: Die Kulisse explodiert, a. a. O. 1988, S. 84–90. 1016 Vgl. Ernst Machs, Edmund Husserls, Helmuth Plessners und Martin Heideggers phänomenologische Ansätze zur Raumwahrnehmung sowie Schriften von Siegfried Kracauer, die Kiesler beeinflussten. Machs Buch Analyse der Empfindungen und des Verhältnisses des Physischen zum Psychischen (1902) findet sich ebenfalls in Kieslers Privatbibliothek. 1017 Kiesler spricht in seinem Text „Debacle des Theaters“ von einer „dynamische[n] Überleitung auf die Umgebung“ und dass die räumlichen Begrenzungen Bewegungen vorzubereiten hätten. Kiesler, Friedrich: Katalog/Programm/Almanach, a. a. O. 1924, S. 52. 1018 Lesak, Barbara: Die Kulisse explodiert, a. a. O. 1988, S. 88 ff. 1019 Ebd.
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„6 Momentaufnahmen vom Spielablauf einer mechanischen Raumszenerie. Zeitdauer: 45 Minuten. Die szenische Abwandlung entwickelt sich sukzessiv aus einer Typenform (hier ein vierkantiger Trichter), deren Konstruktion sämtliche beabsichtigte Raumfolgen beinhaltet.“1020
Zusammenzufassen ist: Raum als eine dynamische Struktur und Zeitlichkeit aufzufassen, ein arbiträres Arrangement auf der Bühne zu installieren, Assoziationsgenerierung beim Rezipienten evozieren zu wollen und andere als die erwarteten Räume hervorzubringen sowie mit räumlichen Mitteln und chronotopischen Elementen zu inszenieren, Raum zu sequenzieren und mit Ereignissen zu besetzen – all das sind erste szenotopische und szenosphärische Anzeichen. Und diese weisen ebenso auf ein topologisches und relationales Raumverständnis hin wie auf eine phänomenologische, mithin atmosphärische Wahrnehmungsweise von Raum, der auch eine Ästhetik des Erscheinenlassens1021 inhäriert. Im IAT-Katalog fordert Kiesler in einem weiteren Text, in dem er das „Debacle des Theaters“ beschreibt, die Abschaffung der Guckkastenbühne – Bildbühne –, „um sie in Raum aufzulösen“ zugunsten der „Raumbühne, die nicht nur a priori Raum ist, sondern auch als Raum erscheint“1022, und er spricht sich für eine Verbindung zwischen Bühne und Zuschauerraum aus. Diese Verbindung wird in seinen späteren Entwürfen mit einer Verringerung der Distanz zwischen Geschehen und Rezipient und einer eher nahsichtigen Anschauung1023 einhergehen.
1020 Kiesler,
Friedrich: Katalog/Programm/Almanach, a. a. O. 1924, S. 24–25.
1021 Vgl. Seel, Martin: „Inszenieren als Erscheinenlassen. Thesen über die Reichweite eines Begriffs“,
in: Früchtl, Josef/Zimmermann, Jörg: Ästhetik der Inszenierung: Dimensionen eines künstlerischen, kulturellen und gesellschaftlichen Phänomens, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001. 1022 Ebd., S. 53. 1023 Vgl. Kapitel 3.2.4 der vorliegenden Arbeit.
246 Szenosphäre & Szenotopie
4.2 Bildraum – Raumbild: Fabrizio Plessi/KHM Köln
Das Projekt „Ex Machina“1024 von Fabrizio Plessi1025/KHM Köln und Frédéric Flamand ist im Hinblick auf mediale Bildräume und Raumbilder für die Untersuchung der Ästhetik der Szenografie relevant, denn es zeigt das Spannungsfeld zwischen Bild (Videoprojektion), Bühne und Raum und thematisiert Raum als virtuelles Konstrukt und Bilder als räumliche Medien. Das Stück wurde in einem stillgelegten Schwimmbad der Stadt Charleroi aufgeführt, das vor Probenbeginn im Computer rekonstruiert wurde, um mittels dieses virtuellen Modells die Choreografie zu entwickeln. „Ex Machina“ ist eine Bildbühne, die ihre medialen Bildwelten in Szene setzt und untersucht. Und dieser Bühnenentwurf, der im Folgenden aus der szenografischen Praxis heraus untersucht wird, lässt sich mit einer weiteren Frage kontextualisieren, die Mitte der 1990er Jahre zunehmend auch im wissenschaftlichen Diskurs gestellt wird: Was ist ein Bild1026? Nicht Sprache, sondern Bilder (Videoprojektion) nehmen die fundamentale Rolle in der Struktur des Werkes ein, das nicht als Sprech-, sondern Tanztheater und Site Specific Performance dargeboten wird. Bildwelten werden nicht verbal, sondern eher szenometrisch1027 darstellt und dadurch für den Rezipienten nicht nur sichtbar, sondern auch erfahrbar. Die im Stück projizierten Bilder werden nicht als Medien eingesetzt, die etwas zeigen, indem sie etwas illustrieren, sondern sie sind als Sicht, Blick und Sinn konzipiert: Bilder als projektive Wahrneh-
1024 Premiere
1994 in einem stillgelegten Schwimmbad der Stadt Charleroi. Bühnengestaltung: Fabrizio Plessi in Zusammenarbeit mit Studierenden der Kunsthochschule für Medien Köln (KHM); Choreografie: Frédéric Flamand, Compagnie Charleroi/Danses. Auch dieses Projekt gewährt tiefe Einblicke in bühnenbildnerische und szenografische Denk- und Arbeitsweisen (und auch in Lehrkonzepte, wie ich durch mein Studium – u. a. bei F. Plessi an der KHM Köln – sagen kann); vgl. Kapitel 3.2.2. 1025 Fabrizio Plessi (geb. 1940, Installations- und Medienkünstler) vertrat an der KHM seit 1990 den Lehrstuhl „Humanisierung der Technologien“ und von 1992–1998 den Lehrstuhl „Elektronische Szenographie“. 1026 Die Frage resultiert aus dem „pictoral turn“ oder „iconic turn“, den W. J. Thomas Mitchell und Gottfried Boehm postulieren, nebst Hans Belting, Horst Bredekamp, Jörg R. J. Schirra, Klaus Sachs-Hombach und anderen. Siehe Mitchell, W. J. Thomas: „The Pictorial Turn“, in: ArtForum, New York 1992, S. 89–95; deutsche Übersetzung in: Kravagna, Christian (Hg.): Privileg Blick: Kritik der visuellen Kulturen, Berlin: Edition ID-Archiv 1997, S. 15–40. Vgl. auch Boehm, Gottfried: Was ist ein Bild?, München: Fink 1994. In Abkehr von einer Bildbestimmung, die das Bild der Sprache unterwirft, geht es laut Boehm um eine Erweiterung und Transformation des „Logos über seine eingeschränkte Verbalität hinaus, um die Potenz des Ikonischen“. Gottfried Boehm: Jenseits der Sprache? Anmerkungen zur Logik der Bilder, in: Maar, Christa/Burda, Hubert: Iconic turn: die neue Macht der Bilder, Köln: DuMont 2004, S. 30. 1027 Siehe Kapitel 3.2.2 und die dortigen Ausführungen zu Meyerholds Lehrfach „Szenometrie“.
4 Sprossachsen 247
mungen, die einen Sinn erzeugen und in denen sich etwas zeigt1028 – nicht zuletzt auch Präsenz 1029, die ein Bild jenseits des Sichtbaren mitliefert. Das, was sich durch die im Stück projizierten Bilder zeigt, ist eine Wirklichkeitskonstruktion und -simulation des Menschen, die auf sein Verhältnis zur künstlichen Welt verweist und zugleich auch das zentrale Thema1030 des Stückes darstellt. „Ex Machina“ ist ein dicht inszenierter Zeit-Raum, in dem eine Schnittstelle, „möglicherweise und sehr wahrscheinlich die entscheidende Schnittstelle des 20. fin de siècles“1031 erkundet wird: Mensch trifft auf Maschine, Tänzerkörper treffen auf Programme, die auf der Flucht vor der Gravitation1032 und zugleich auf der Suche nach ihrer sinnlichen Wiedererfahrbarkeit sind.1033 In der Performance wird die Bilder-Überproduktion und -Allmacht der medialen Bildwelt spürbar und damit auch die Isoliertheit und Ortlosigkeit („connected isolation“, so der Untertitel des Stückes), in der Raum und der Einzelne nur eine austauschbare und unendlich kombinierbare Datensammlung darstellen.1034 In „Ex Machina“ sind mit der im Titel benannten Maschine (ital. „macchina“) die Mitte der 1990er Jahre neuen Technologien gemeint sowie die Bilder, die aus der Welt der elektronischen Datenverarbeitung – ex machina – generiert und rein formal betrachtet immaterielle Information sind: binärer Code.1035 Durch diese Information und Bilderwelt konstituiert sich die theatrale Installation1036 „Ex Machina“, in der nicht nur Text und Sprache in den Hintergrund rücken, sondern auch die Maschinerie der Bühne weggelassen bzw. immaterialisiert wird. Das Konzept von „Ex Machina“ beginnt mit der Wahl des Aufführungsortes: einem Schwimmbad, das im Spannungsverhältnis zwischen Bühne und Raum nicht nur experimenteller Schauplatz ist, sondern als Kunstraum bespielt und zum Mitspieler wird. Obwohl die Zuschauer dem Bühnengeschehen im 1028 Vgl. Boehm, Gottfried: Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens, Berlin: University Press
2007.
1029 Präsenz
als „räumliches Verhältnis“ zur Welt: die Relation zwischen Welt und Erfahrung von Welt. Dabei geht es weniger um ein geistiges Verstehen als vielmehr um ein sinnliches Begreifen: eine an den Körper gebundene Erfahrung und Erkenntnis. Gumbrecht, Hans Ulrich/Schulte, Joachim: Diesseits der Hermeneutik: die Produktion von Präsenz, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004, S. 11. 1030 Plessi und Flamand in einem Gespräch mit Paolo Atzori, in: Programmheft „Ex Machina“, Charleroi 1994, S. 9. 1031 Siegfried Zielinski: „Dramatisierung der Schnittstelle“, in: Programmheft „Ex Machina“, a. a. O. 1994, S. 5. 1032 Vgl. Friedrich Kiesler: „Die Raumbühne … schwebt im Raum. Sie benützt den Boden nur mehr als Stütze“. Ders.: „Das Railway-Theater“, in Kiesler, Friedrich (Hg.): IAT-Katalog/Programm/ Almanach, a. a. O. 1924, S. II. 1033 Siegfried Zielinski: „Dramatisierung der Schnittstelle“, in: Programmheft „Ex Machina“, a. a. O. 1994, S. 5. 1034 Ebd., S. 3. 1035 Ebd., S. 9. 1036 Vgl. Gronau, Barbara: Theaterinstallationen: Performative Räume bei Beuys, Boltanski und Kabakov, München: Wilhelm Fink 2010.
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Becken und dem Bildgeschehen auf der Projektionsfläche frontal gegenübersitzen1037, und trotz der physisch fixierten Beobachterposition, versteht sich die Organisation des Spielortes als Raumbühnen-Konzept. Denn der Seh-Akt der Zuschauer/Besucher vollzieht sich durch den Raum selbst: das Schwimmbad bzw. sein virtuelles Konterfei, in das die Besucher optisch eintauchen – sie bewegen sich fortan in ihm bzw. nehmen das Stück, das in verschiedenen Szenen dargeboten wird, aus einer Innenperspektive wahr: aus einem „In-Mitten-Sein“1038, als stünden sie in dieser künstlichen Welt. Dazu wird die reale Architektur (die zuvor im Computer nachgebaut wurde) als virtuelles CAD-Modell per Video-Aufprojektion auf das reale Schwimmbad projiziert, Realraum und virtueller Raum überlagern und durchdringen sich also. Vor der Rückwand des realen Schwimmbads steht ein „Bildschirm“, d. h. eine zur realen Rückwand passgenaue Projektionsfläche, die sich öffnen/verschieben kann. Die nachfolgenden Abbildungen1039 zeigen neben dem Aufführungsort (unten li. im Bild) das CAD-Modell/
Abb. 13 Szenografie zu Ex Machina, KHM Köln/F. Plessi 1037 Zum
Bühnenaufbau siehe Plessis Erläuterungen in: Programmheft „Ex Machina“, a. a. O. 1994, S. 9. „Die Bilder wurden auf eine 9 × 12 m große, der Architektur des Schwimmbads entsprechende Fläche projiziert, die … modular verändert werden kann.“ Im Becken (mit eingebautem Zwischenboden), in dem die Tänzer agieren, befindet sich auch ein Teil der Zuschauertribüne. 1038 Vgl. Petra Maria Meyer: „Der Raum, der Dir einwohnt“, in: Bohn, Ralf/Wilharm, Heiner (Hg.): Inszenierung und Ereignis: Beiträge zur Theorie und Praxis der Szenografie, Bielefeld: transcript 2009, S. 113 f. 1039 Bilder vom Aufführungsort und der Computeranimation: © Detlev Schwabe. Szenenfoto: © Fabien de Cugnac. KHM Köln (F. Plessi) und Charleroi/Danses Plan K (Frédéric Flamand), „Ex Machina“ 1994, Tanztheaterstück.
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Computeranimation (oben li.) und eine Szene aus dem Stück (Bild rechts). Auf dieser Projektionsfläche spielen die gesamten elektronischen Bilder, aus denen sich das „Bühnenbild“ materialisiert: aus Lichtspielen. Im Prolog sieht man eine virtuelle Kamerafahrt durch das CAD-Modell, die optisch im Becken des realen Schwimmbads endet, und die Handlung beginnt; im Epilog wird die Rückwand des virtuellen Schwimmbads auf die Rückwand des realen Schwimmbads projiziert, die optisch zu verfließen scheint, und das Stück ist zu Ende. Dementsprechend ist die Übersetzung des Realen ins Virtuelle die ästhetische Klammer, in der das Stück spielt und wahrgenommen wird, und die gesamte Inszenierung, die sich durch die artifiziellen Bildwelten konstituiert, kann als eine mediale Konstruktion von Wirklichkeit und Wahrnehmung bestimmt 1040 werden. Die bühnentechnische und -gestalterische Umsetzung folgt dieser Bestimmung, denn die Eliminierung mechanischer Bühnentechnik („machina“) und die Entfernung der Maschinerie von der Szene/Bühne entspricht der Immaterialität von elektronischer Information und deren Wahrnehmung. Formal gesehen geht es im Bühnenaufbau darum, die gesamte Szenografie auf eine vertikale Ebene zu verschieben, während auf der horizontalen sich die Choreografien realisieren1041; wirklich erschlossen bzw. geöffnet wird der Raum erst durch die Vertikale 1042 und durch die Zeit als vierte Dimension: Film, Video und Computeranimationen, zeitbasierte Medien also, verzeitlichen den Raum und lösen ihn konzeptuell aus der Fläche. In „Ex Machina“ kommt die „machina“ (Bühnentechnik) aus der Maschine (Computer) bzw. ist „Ex Machina“ die elektronische Bildmaschine 1043 selbst. Sie spielt mit Bildräumen und Raumbildern, deren (Un-)Wirklichkeiten und mit der Perspektive. Mitunter kann die Perspektive selbst (die perspektivische Konstruktion, die Bilder als Räume erscheinen lässt)
1040 Diese Bestimmung spiegelt sich auch in einem zentralen „Bild“ (einem „Kerkerbild“ von Giovanni
B. Piranesi, ca. 1750), das als begehbare Bildprojektion in einer Szene im Stück zitiert und als eine Architektur bespielt wird, die sich als ein Mensch-Raum-Verhältnis versteht, das es im Stück zu erörtern gilt. Siehe zu „Bilder“, die „nicht nur dazu [taugen], als Bilder angeschaut zu werden“ auch Wilharm, Heiner: Die Ordnung der Inszenierung, a. a. O. 2015, S. 345 f. 1041 Fabrizio Plessi, in: „Plessi und Flamand in einem Gespräch mit Paolo Atzori“, in: Programmheft „Ex Machina“, a. a. O. 1994, S. 9. 1042 Vgl. Vilém Flusser, der bemängelt, dass Lebensraum zumeist als eine lange, breite, flache Kiste wahrgenommen und gestaltet werde; die Höhe (Vertikale) übertreffe kaum einige Meter. Ihm zufolge würden Raumgestalter nicht eigentlich räumlich (topologisch) denken, sondern flächenartig (geometrisch), und sie würden Raum demnach nicht allumfassend – sphärisch und nichteuklidisch – begreifen und niedrige Kisten in Unterräume aufteilen, anstatt Lebensräume zu bauen. Vilém Flusser: „Räume“, in: Günzel, Stephan/Dünne, Jörg (Hg.): Raumtheorie: Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006, S. 278. 1043 Vgl. das Projekt „Ghost Machine“ von Cardiff/Miller, das sich dem Titel nach als eine „gespenstische Theatermaschine“ versteht.
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als eine Art „abstrakte Maschine“ verstanden werden1044; in „Ex Machina“ wird die Perspektive möglicherweise als eine solche inszeniert. Um über die Perspektive und ihren Einsatz in „Ex Machina“ näheren Aufschluss zu erlangen (siehe das virtuelle CAD-Modell, durch das der Besucher optisch ins Bühnengeschehen eintaucht), wird im Folgenden ein spezielles bild- und sinngebendes Verfahren, eine künstlerische (Raum-)Technik erörtert: die Anamorphose. Sie lässt sich für die Untersuchung der Ästhetik der Szenografie fruchtbar machen, denn bei ihr kommt es ebenfalls zu einem Eintauchen in ein Bildgeschehen, das als eine virtuelle Räumlichkeit 1045 wahrgenommen und erfahren werden kann. Der Ausdruck „machina“1046 ist schon in bühnentechnischen Abhandlungen in Werken von Nicola Sabbatini1047 im 17. Jahrhundert zu finden und beschreibt dort „Bildmaschinen“ im Sinne illusionistischer Bühnenbilder, Dekorationsmalerei und Festausstattungen, deren Erzeugung im Barock zur hohen Kunst der linearperspektivischen Darstellung zählte. Ihre Bildwirkung bzw. räumliche Tiefenästhetik auf der Bühne gelangt im Anschluss an die Kulissenbühne von Giovanni B. Aleotti durch die Erfindung der Schrägkulisse von Giulio Troili, Lodovico Burnacini und Andrea Pozzo zur Perfektion1048. Pozzos perspektivische Darstellungen (siehe Kapitel 2.2) finden sich auch außerhalb des Theaterbaus: in der Kirchenmalerei, so zeigt beispielsweise sein anamorpho1044 Vgl.
Haß, Ulrike: Das Drama des Sehens: Auge, Blick und Bühnenform, Paderborn: Fink 2005, S. 56 f. Sie schreibt über die „abstrakten Maschinen“ von Deleuze/Guattari („Tausend Plateaus“) in Bezug auf die Perspektive: „Abstrakte Maschinen strukturieren ein Gefüge … [Sie] sind wesentlich … das Muster einer Wirkung.“ Die Zentralperspektive stellt ihr zufolge einen „Code bereit“. Sie „ist, neben der Geldform, überhaupt die abstrakte Maschine, die Potentiale und Linien der Deterritorialisierung mit paradigmatischem Gewicht bündelt. In ihr kulminiert die allen bildgebenden Verfahren trotzende Nichtbildhaftigkeit dessen, was Anschauung fürderhin und bis in unsere heutige Zeit hinein formt.“ Deleuze/Guattari über „Abstrakte Maschinen (Diagramm und Phylum)“, siehe Deleuze, Gilles/ Guattari, Félix: Tausend Plateaus: Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin: Merve 1992 (1980), S. 706–710. Ihnen zufolge übercodieren Befehls- oder Erschaffungsmaschinen die Sprache oder den Körper, es werden Codes produziert: „[E]s geht keineswegs um Illusion, sondern um reale Wirkungen von Maschinen.“ 1045 Vgl. Burda-Stengel, der nach Analysen zu Andrea Pozzo mit einem barocken Blick auf die Videokunst die Arbeiten von Bill Viola, Bruce Nauman und Gary Hill untersucht. Burda-Stengel, Felix: Andrea Pozzo und die Videokunst: neue Überlegungen zum barocken Illusionismus, Berlin: Mann 2001. Vgl. auch Grau, der Immersionsräume untersucht und zugleich die Entwicklung von historischen Illusionsräumen bis zu interaktiven Computerinstallationen aufzeigt. Grau, Oliver: Virtuelle Kunst in Geschichte und Gegenwart: visuelle Strategien, Berlin: Reimer 2001. Vgl. auch Foucaults Analyse zum Gemälde „Las Meninas“ von Diego Velázquez (1656), in dem der Betrachter Bestandteil des Bildes ist, in: Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997 (1966). 1046 Erst im 18. Jahrhundert etabliert sich der lexikale Begriff „Theatermaschine“, der für verschiedenste bühnentechnische Erscheinungs-, Flug-, (Bild-)Effekt- und Verwandlungsmaschinen steht. 1047 Sabbattini, Nicola/Flemming, Willi (Hg.): Anleitung, Dekorationen und Theatermaschinen herzustellen: 1639, Weimar: Gesellschaft der Bibliophilen 1926. 1048 Für eine Übersicht zur Geschichte des Sehens und Bühnenformen vom Amphitheater bis Pozzo siehe: Haß, Ulrike: Das Drama des Sehens, a. a. O. 2005.
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tisches Deckenfresko in der Wiener Universitäts-Jesuitenkirche eine beeindruckende Scheinkuppel. Ihre Gestalt vervollkommnet sich jedoch nur aus einem einzigen, dem perspektivisch „richtigen“ Blickwinkel (Betrachtungsstandpunkt) heraus, aus dem sich das Raumbild konstruiert – was aus produktionsästhetischer Sicht für diesen Fall erklärt, „wie Bilder Sinn erzeugen“1049 können. Die Bildsinn-Erzeugung1050 lässt sich nicht verbal fassen, sondern nur durch den Sehakt selbst erfahren, der zum einen der im Bild liegenden Logik und zum anderen der im Betrachter liegenden Logik1051 folgt. Dabei geht die BetrachterLogik der Bildlogik möglicherweise voraus, nämlich indem die Wahrnehmung des Rezipienten zuerst eine leibliche, mithin atmo- bzw. szenosphärische ist und erst im zweiten Schritt eine visuell-reflexive. Das anamorphotische Deckenfresko (das den Tastsinn anspricht, aber körperlich unerreichbar bleibt) versteht sich als ein konzeptuelles Modell, und es zeugt auf optischer Ebene von einer eher haptischen Wahrnehmung und Sinnbildung1052 und erzeugt eine solche. Bereits Heinrich Wölfflin spracht in diesem Zusammenhang vom „Malerischen“, d. h. von einer „Erweiterung der Linie“ im 17. Jahrhundert, und davon, „die Sichtbarkeit in ihrer Gesamtheit als schwebenden Schein aufzufassen“: „[H]ier spielt die Erscheinung ins Unbegrenzte hinüber“.1053 Das performative und erzeugende Moment und die szenografische Kon zeption eines Bildsinns, wie er in anamorphotischen Raumbildern zum Tragen kommt, lässt sich, wie im Folgenden ausgeführt wird, in dreierlei Hinsicht bestimmen: bezogen auf Bildaufbau, -erweiter ung und -abbau. Wichtig in Bezug auf „Ex Machina“ ist dabei, dass für einen gewissen Zeitraum etwas Virtuelles real erscheint und Präsenz inszeniert wird. Dass es bei dieser Präsenz auch um rezeptionsästhetische Fragen geht und darum, inwiefern die Wahrnehmung „von (inneren) Rezeptionsvorgaben und (äußeren) Zugangsbedingungen“1054 1049 Boehm,
Gottfried: Wie Bilder Sinn erzeugen, a. a. O. 2007. die Ausführungen zur diagrammatischen Entwurfspraxis, Kapitel 3.2.1 der vorliegenden Arbeit. 1051 Ebd., S. 48 ff. 1052 Siehe Kapitel 3.2.4 der vorliegenden Arbeit und die dortigen Ausführungen zu Alois Riegl. Dieser spricht in seiner Schrift (Spätrömische Kunstindustrie, Wien 1927 (1901), S. 32) von einer nahsichtigen Auffassung und einer haptischen Wahrnehmung: Das Auge tastet die Oberfläche ab. 1053 Wölfflin, Heinrich: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe: das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst, München: Hugo Bruckmann 1917 (1915), S. 15. Er bringt Renaissance – Barock (ihren Übergang) in Analogie zu Fläche – Tiefenraum (Tiefe als Eigenschaft/ästhetische Form/Qualität). Vgl. auch Riegl (siehe Kapitel 3.2.4 der vorliegenden Arbeit), der eine Hinwendung zur Tiefe in der Entwicklungslinie ägyptische – griechische – römische Kunst zu erkennen glaubt. Vgl. auch Deleuze/Guattari (siehe Kapitel 3.2.4 der vorliegenden Arbeit), die in ihrem „Modell der Ästhetik“ und mit dem Begriffspaar „glatt – gekerbt“ auf Riegl und Worringer Bezug nehmen. 1054 Kemp, Wolfgang (Hg.): Zeitgenössische Kunst und ihre Betrachter, Jahresring 43, Köln: Oktagon 1996, S. 22. Kemp gibt zu bedenken (S. 19 f.), dass „[p]artizipatorische Installationen, Environments und Systeme“ zwar die „Betrachter/Benutzer-Position [stärken], aber sie entsprechen in ihrer konkreten Ausformung einer poststrukturalistischen Theorie des zeitgenössischen Betrachters 1050 Vgl.
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abhängt, begründet sich bei „Ex Machina“ im ästhetischen Konzept selbst, denn hier ist das Virtuelle sozusagen die „Zugangsbedingung“ zur Bildwelt, ihrem künstlichen Geschehen und dem realen Bühnengeschehen mit den Tänzern. Die szenografische Inszenierungsstrategie1055 besteht erstens darin, den Betrachter in Bewegung zu versetzten und ihn in eine bestimmte Position zu bringen. Es ist die Körperbewegung des Betrachters, durch die sich der SehAkt als Ereignis konstituiert und sich die perspektivischen Verzerrungen optisch entzerren, sodass das Gesehene einen „Sinn“ ergibt, d. h. als Kuppel wahrgenommen wird, wenn der Betrachter den „richtigen“ Standpunkt unterhalb der Decke gefunden hat, nach oben schaut und meint, in eine Halbkugel zu blicken. Zweitens ist die Überlagerung von Realraum (Decke) und virtuellem Raum (Halbkugel als Bildprojektion/Rahmen) entscheidend, weil sich durch sie die Öffnung des Bildrahmens als offenes Fenster1056 in den Realraum ermöglicht – der Erfahrungsraum wird erweitert. Drittens liegen die performative Wirkästhetik und die szenografische Konzeption dieses spatialen Bildraums in der „Ent-Täuschung“, d. h. Rückwärtsbewegung/-abwicklung des Geschehens: im „Zusammenbruch“ des Bildes bzw. seines virtuellen Raums selbst (wenn sich der Betrachter vom optisch „richtigen“ Standpunkt wieder wegbewegt und mit ihm der Bildsinn – was bleibt, ist ein Gewirr aus verzerrten Linien und Flächen). Der Bildsinn, der hier erzeugt wird, ergibt sich aus dem Medium, aus dem sich das Bild konstruiert: der Perspektive und ihrem Spiel mit dem Betrachter. So könnte aus szenografischer Sicht die Frage nach der McLuhan’schen „message“1057 dahingehend beantwortet werden, dass es dabei um eine Inszenierung von Bild und Raum und eine immersive Raumerfahrung geht, die sich im Spannungsfeld zwischen Illusion, Imagination, Zerstörung und Wirkung bewegt. nicht“, denn die „erste Bindung dieser Kunst, die den Betrachter befreien will, ist die an das Programm“. Ihm zufolge lässt sich „Wahlfreiheit nur simulieren, nicht programmieren“, was für das hier untersuchte Projekt insofern relevant ist, als damit auch die perspektivische Konstruktion und die „Neue Medien“ (der 1990er Jahre) als Programmierungen verstanden werden können, welche „Ex Machina“ produziert und als ästhetische Klammer zugleich zur Disposition stellt. 1055 Eigene Empirie, vgl. mein künstlerisches Projekt „Perspective Case“ (1996): eine interaktive Rauminstallation mit (durch Motion-Tracking-Technologie) in Echtzeit steuerbaren Anamorphosen (Videoprojektionen). 1056 Das Traktat über die Malerei von Leon Battista Alberti (1435) beschreibt das „aperta finestra“ zum einen als offenes, architektonisches Fenster und zum anderen als Metapher für den Rahmen des Bildes: die Bildprojektion. Das Fenster, genutzt als Rahmen, impliziert aber nicht, dass der Gegenstand, der gemalt wird, genau das ist, was man durch ein architektonisches Fenster sehen würde. Denn Perspektive bedeutet nicht etwas anschauen/ansehen, sondern Durchsehung, wie aus der Wortherkunft hervorgeht: „Durchsehung“ zielt auf ein Durchschauen und Begreifen in Sinne eines Erkenntnisprozesses, der das Bild jenseits des Sichtbaren zu einem Erfahrungsraum erweitert. Alberti, Leon Battista/Bätschmann, Oskar (Hg.): Über die Malkunst, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2002. 1057 McLuhan, Marshall/Fiore, Quentin: Das Medium ist Massage, Frankfurt a. M. [u. a.]: Ullstein 1969. S. 52 f.
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In diesem Spannungsfeld bewegt sich auch die Bildwelt von „Ex Machina“, denn auch wenn der Betrachter hier seinen Standpunkt nicht frei im Raum wählen kann, so doch in seiner Imagination. Dabei lässt sich aus produktionsästhetischer und mit Wolfgang Kemp aus rezeptionsästhetischer Sicht sagen, dass „sich Wahlfreiheit nur simulieren, aber nicht programmieren läßt“1058, womit sich zugleich auch die Grenzen der medialen Bildwelten (in die der Betrachter in „Ex Machina“ ähnlich wie bei einer Anamorphose eintaucht und die damit eben auch zur Disposition stehen) zeigen. Diese Spannung als ambivalentes Kräftefeld ist die ästhetische Klammer des Stücks, in dem sich reale und virtuelle Räume und Bilder überlagern, synthetisieren und schließlich brechen. Dabei werden Szenosphären evoziert und räumlich und zeitlich strukturierte Absenz-Präsenz-Verhältnisse wahrgenommen (siehe Kapitel 3.1.2), Gegenwart wird aus- und herausgestellt und der Rezipient in dieselbe verstrickt1059, er wird Teil des Ganzen. Bis sich diese inszenierte Gegenwart wieder bricht (im Epilog), passiert im Stück und auf bühnengestalterischer Ebene Folgendes: Die virtuelle Kamera (im Point-of-View-Shot/subjektive Bildeinstellung) springt aus der Vogelperspektive kopfüber ins virtuelle Wasser und nimmt den Rezipienten optisch und gefühltermaßen dorthin mit. Im selben Augenblick wechselt das Licht, die Szene wird beleuchtet und das reale Wasserbecken sichtbar. Im Becken befinden sich die Tänzer, die sich in 14 Szenen durch elektronische Bildwelten – Bildprojektionen – bewegen und in welche zugleich auch der Zuschauer eingetaucht ist und involviert1060 wird. Die Zuschauer befinden sich gleichzeitig im virtuellen und realen Schwimmbad, durch das sich das Bildgebilde (die Bildprojektionen und reale Architektur) konstituiert und materialisiert. Im weiteren Verlauf des Stückes setzt sich dieses Spiel auch durch ein zentrales Bild (aus dem Zyklus „Carceri d’invenzione“ von Giovanni Battista Piranesi, ca. 1750) fort, das als Raum (begehbare Bildprojektion) mit einer sich darin bewegenden Tänzerin inszeniert wird. Auch durch diese (Gefängnis-1061)Architektur von Piranesi, in der es physikalisch unmögliche Treppen, Mauern, Spiralen, Türme etc. gibt, scheint man sich als Besucher mit hindurchzubewegen1062. Das im Raum Installierte wird aufgeladen „mit unterschiedlichem Bedeutungspotential durch das Erinne1058 Kemp, Wolfgang:
Zeitgenössische Kunst und ihre Betrachter, a. a. O. 1996, S. 20. Seel: „Inszenieren als Erscheinenlassen“ (S. 53, 56 ff.) sowie Hans Ulrich Gumbrecht: „Produktion von Präsenz, durchsetzt mit Absenz“ (S. 63, 74 f.), in: Früchtl, Josef/Zimmermann, Jörg (Hg.): Ästhetik der Inszenierung: Dimensionen eines künstlerischen, kulturellen und gesellschaftlichen Phänomens, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001. 1060 Vgl. Seel, Martin: Ästhetik des Erscheinens, München: Hanser 200, S. 153: Das atmosphärische Erscheinen ist „als ein sinnlich-emotionales ‚Gewahrsein‘ existentieller Korrespondenzen zu verstehen“, was den Zuschauer ins Geschehen verstricken kann. Siehe auch Kapitel 3.1.2 der vorliegenden Arbeit. 1061 Vgl. Kapitel 3.2.4 und darin die Erläuterungen zum „Panopticon“ von Michel Foucault. 1062 Vgl. Kapitel 3.2.4 und das sich Hindurchbewegen und Gehen durch eine Stadt. 1059 Martin
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rungs-, Assoziations- und Vorstellungsvermögen der Zuschauer“1063 und durch die Aktionen der Tänzer, wodurch Szenosphären evoziert werden; in der Piranesi-Architektur kommt es zu Gefühlen wie Enge, die den Betrachter affizieren können. In einer anderen Szene, in der ein Transitraum (Flughafen) inszeniert wird, kommt es hingegen zu einer Art Aufbruchsstimmung: Virtuelle Gepäckstücke (Bildprojektionen) laufen optisch auf einem Kofferband und schließlich aus der Leinwand heraus und werden sodann als reale Objekte von den Tänzern angenommen (vgl. Kieslers Projektionen im Bühnenbild zu „W.U.R.“, die sich ebenfalls mit dem realen Bühnengeschehen verschachteln). Im Epilog des Stückes wird die Rückwand des virtuellen Schwimmbads (CAD-Modell) auf die passgenaue Projektionsfläche projiziert, die vor der Rückwand des realen Schwimmbads steht. Hier bricht sich das Simulacrum (das virtuelle CAD-Modell) an der Realität (dem realen Schwimmbad). Durch diese szenografische Gestaltungspraxis sieht der Zuschauer nicht nur eine Bildprojektion, sondern in ihr genau das, was sich hinter der Projektionsfläche befindet: die reale Architektur. Er sieht also etwas, was er wirklich sähe, wenn die Projektionsfläche dort nicht stünde, wodurch – vergleichbar mit Pozzos Deckenfresken – „die potentielle Seherfahrung und das tatsächliche Seherlebnis zusammenfallen“1064. Die virtuelle Materialität der Bilder und des Gebäudes wird auf den realen Raum zurückgebunden und gleichsam zerstört. Dazu erscheint auf der realen Architektur, die jetzt durch die Öffnung der „Bildschirms“ (die Projektionsleinwand öffnet sich) sichtbar wird, zum ersten Mal echtes Wasser, das das gesamte elektronische Bildgebilde – die „machina“ – verzeitlicht und mit sich spült1065: Der Blick auf das Bild wird durch das Bild selbst inszeniert. Parallel zur realen „Flutung“ auf der Rückwand des Schwimmbads zerfließt optisch die virtuelle Rückwand bzw. die Bildprojektion, indem ihre Farben wie eine Aquarellmalerei herunterlaufen, und das Bild bricht zusammen, so als hätte man sich bei einer Anamorphose aus dem perspektivisch „richtigen“ Betrachtungspunkt hinausbewegt. In diesem Augenblick wird das Bild als Bild und als Medium an den Betrachter, seinen Körper, gebunden, an welchem sich die Bilder verorten und durch den der Wahrnehmungsakt durch das Bild vollzogen1066 wird. Dagegen sind die Bilder selbst nicht mehr an den Bildschirm gebunden, sie haben ihren „Rahmen“ verlassen und sind Raum (Räumlichkeit) geworden. Die hier zum Einsatz kommenden räumlichen und bildlichen Medien können als gestalterische und gestal1063 Fischer-Lichte,
Erika: Kurze Geschichte des deutschen Theaters, Tübingen [u. a.]: Francke 1999, S. 419 f. 1064 Burda-Stengel, Felix: Andrea Pozzo und die Videokunst, a. a. O. 2001, S. 127. 1065 Fabrizio Plessi, in: „Plessi und Flamand in einem Gespräch mit Paolo Atzori“, in: Programmheft „Ex Machina“, a. a. O. 1994, S. 9. 1066 Vgl. Belting, Hans: Bild-Anthropologie: Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München: Fink 2001, S. 9, 57 f. Sowie Belting, Hans: Der zweite Blick: Bildgeschichte und Bildreflexion, München: Fink 2000, S. 9.
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tende „deiktische Ausdrücke“ verstanden werden, „die als Ausdrucksmittel in der Lage [sind], den Angesprochenen … zu orientieren“.1067 Das Schlussbild des Epilogs ist auf besondere Art und Weise präsent, denn es wird nicht als Fläche wahrgenommen, „sondern als (tatsächliche, außerbildliche) Gegenwart dessen, was im Bild dargestellt“1068 ist. Dabei gibt die Bildöffnung nicht nur den Blick frei auf das „Dahinter“, sondern „das Loch in der Leinwand“1069 verweist auch auf das, was dahintersteht: „die Authentizität der Szene“1070 und die Erfahrung von Gegenwart. Man kann sagen, dass in dieser Überlagerung von Raum und dynamischer (Bild-)Information die Wahrnehmung des Betrachters zu einem Mitspieler an der Schnittstelle zwischen zwei Realitäten und Bildwirklichkeit/ Räumlichkeiten geworden ist, die oszillieren und sich gegenseitig durchdringen. „Ex Machina“ kann somit als eine Bild-Raum-Installation bestimmt werden, in der Realraum und Spielraum, raumbildliche und -bildnerische Prozesse, Bild und Bühne, Fläche und Raum zu einem Raumkontinuum verschmelzen und inszeniert werden. Dabei wird Raum/Räumlichkeit auch als eine topologische und relationale Räumlichkeit erfahrbar, denn das, was im Raum installiert und vom Rezipienten wahrgenommen wird, versteht sich als eine Szenotopie, die sich durch Relationengefüge und die Beziehungen zwischen Bild, Raum und Mensch (Betrachter) konstituiert. Betrachtet man diese Ausführungen nun im Hinblick auf konkrete Produktionsbedingungen, werden in „Ex Machina“ die raumbildlichen und -bildnerischen Prozesse vor allem dadurch spürbar, dass als „Bühnenbild“ nur noch eine Video-Datei produziert wird, die abgespielt wird, was die künstlerisch gestalterische Ausführungspraktik dahingehend ändert, dass der Szenograf (Raumkünstler) zu einem Bildregisseur wird, wie in Kapitel 1 bereits dargelegt wurde. Mit dem Bestreben, keine „Flächenfilme“1071, sondern „Raumfilm“1072 zu produzie1067 Fromm,
Ludwig: „Raum und Bewegung – Orientierte phänomenale Räume“, in: Großheim, Michael/Volke, Stefan (Hg.): Gefühl, Geste, Gesicht: zur Phänomenologie des Ausdrucks, Freiburg i. B. [u. a.]: Alber 2010, S. 267. 1068 Seel, Martin: Ästhetik des Erscheinens, München: Hanser 2000, S. 279. 1069 Vgl. Joachim Paechs gleichnamigen Beitrag zu (projizierten) Löchern in Kinoleinwänden, in: Röttger, Kati: Theater und Bild: Inszenierungen des Sehens, Bielefeld: transcript 2008, S. 143. 1070 Fabrizio Plessi, in: „Plessi und Flamand in einem Gespräch mit Paolo Atzori“, in: Programmheft „Ex Machina“, a. a. O. 1994, S. 9. 1071 Vgl. den Publikumswunsch jenseits eines „Bildertheaters“ für das Jahr 2004 an der Berliner Volksbühne, siehe Diederichsen, Dieter: „Theater ist kein Medium – aber was bewirkt es, wenn der Mann mit der Videokamera auf der Bühne arbeitet?“, in: Dramaturgie. Magazin der Dramaturgischen Gesellschaft, 01/2004, S. 3–7. 1072 Im Vergleich zu Eisensteins „Raumfilm“ (ders.: „Über den Raumfilm“ (1947), in Eisenstein, Sergej/ Bulgakowa, Oksana (Hg.): Das dynamische Quadrat. Schriften zum Film, Köln: Pahl, Rugenstein 1988) ist hier keine filmisch-totalitäre, sondern eine architektonisch-integrative Wirkästhetik das gestalterische Ziel.
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ren, öffnet sich eine Perspektive, die auch Denkansätze zum Szenografie-Diskurs in den Blick rückt. Die Produktion von „Raumfilmen“ zielt auf eine architektonisch-integrative Wirkästhetik, für die es eines besonderen Umgangs mit Flächenmedien (Bildern) bedarf: Raum wird nicht als dreidimensionaler „Behälter“ (vgl. Friedrich Kiesler über die Bildbühne) gedacht, der mit Bildern befüllt wird; und wie (Bewegt-)Bilder in Szenografien Sinn erzeugen können, beantwortet sich durch ihre Bühnenkonzeption selbst, die Aufschluss über das Raumverständnis des Konzepters und Konstrukteurs gibt, des Szenografen also. Raum und Bild werden nicht zuletzt durch den Einsatz von Bewegtbildmedien und der aktiven Beteiligung des Besuchers (Bewegung) zeitbasiert, vieldimensional und topologisch im Sinne eines relationalen Beziehungsgefüges gedacht. Dies setzt jedoch eine Bildbestimmung und -auffassung sowie ein Raumverständnis voraus, die nach der Räumlichkeit von Bildern und ihrer Materialität fragen und daran anschließende Überlegungen nicht unberücksichtigt lassen (können), etwa zur „performativen Hervorbringung von Materialität“1073, wie sie der theaterwissenschaftliche Diskurs stellt. In der „Ästhetik des Performativen“1074 fehlt die Kategorie „Bildlichkeit“1075, ebenso wie im Szenografie-Diskurs die Inszeniertheit von Räumlichkeit in der Topologie kaum zu finden ist. Aus künstlerischer Forschungsperspektive käme somit ein „scenographic turn“1076 in den Blick, der sich möglicherweise zum einen über die Untersuchung zum „performative turn“ in Bezug auf Bildlichkeit begründen ließe und zum anderen mit dem „topological turn“ in Bezug auf inszenierte Räumlichkeit.
1073 Kapitel 4 aus Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004. 1074 Ebd.,
gesamte Schrift.
1075 Bildwissenschaftliche Forschungsbeiträge bietet z. B. die Publikation: Finke, Marcel/Alloa, Emma-
nuel: Materialität und Bildlichkeit. Visuelle Artefakte zwischen Aisthesis und Semiosis, Berlin: Kulturverlag Kadmos 2012. Zur Bildlichkeit im Theaterkontext siehe die erste deutschsprachige Publikation: Röttger, Kati: Theater und Bild: Inszenierungen des Sehens, a. a. O. 2008. Zur fehlenden Kategorie „Bildlichkeit“ siehe Ausführungen in Kapitel 3.1.3 der vorliegenden Arbeit. 1076 Siehe die von Heiner Wilharm und Ralf Bohn seit 2009 initiierte und herausgegebene Reihe „Szenografie & Szenologie“ (transcript Verlag) und die an der FH Dortmund stattfindenden Szenografie-Kongresse, in denen seit 2006 raum- und ereignisbezogene Gestaltung untersucht wird. Pamela Scorzin verwendet den Begriff „scenographic turn“ in Bezug auf Mode/FashionShows, in Bohn, R./Wilharm H.: Inszenierung und Effekte, a. a. O. 2011, S. 46 f.
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4.3 Raumbühne – Rauminstallation: Friedrich Kiesler
Kiesler leitete und gestaltete die 1924 in Wien stattfindende Internationale Ausstellung neuer Theatertechnik (IAT)1077, und mit seinem Ausstellungsbeitrag zeigt sich in seinem Werk eine Wende hin zum Raum. Das Wiener Konzerthaus1078 diente der Veranstaltung als Präsentationsort, in dem Kiesler sein realisiertes Ausstellungskonzept „Leger- und Trägersystem“1079 zeigte sowie seine „Raumbühne“ im Maßstab 1:1. Er stellte mit Letzterer nicht nur ein Objekt in den Raum, sondern ein Denkmodell über die Vorstellung von Raum und Räumlichkeit, das künstlerisch auch das aufgespürt hatte, zum Ausdruck und in Gestalt brachte, was technisch in der Gesellschaft passiert war: die neue Dynamisierung, Geschwindigkeit – Aufbruch. Die Wahrnehmungen von Fernand Léger1080 und Marcel Duchamp schon auf dem Pariser Luftfahrt-Salon 1912 („Die Malerei ist zu Ende. Wer kann etwas Besseres machen als diese Propeller?“)1081 bekunden den neuen Zeitgeist und nicht zuletzt auch Kieslers Bestreben, das neue Tempo und Technik, Dynamik, Stadt, Raum, Leben künstlerisch verhandeln zu wollen. Die Erfahrung, dass der Theaterbetrieb diesen gesellschaftlichen, künstlerischen und auch bühnenbaulichen Bedürfnissen nicht hinreichend Folge leisten konnte, hat Kiesler bereits in 1077 Internationale
Ausstellung neuer Theatertechnik im Rahmen des Musik- und Theaterfestes der Stadt Wien, September bis Oktober 1924, abgekürzt IAT, mit der Kiesler als künstlerischer Leiter betraut wird. Er ist auch Herausgeber des Katalogs (IAT-Katalog), in dem er zahlreiche Schriften veröffentlichte. 1078 Eröffnung 1913, Bauarchitekt Ludwig Baumann, bestehend aus „Großem Saal“, „Mozart-Saal“ und „Schubert-Saal“. Im Schubert-Saal fand die Ausstellung Platz, in der Kiesler sein Legerund Träger-System zeigte. Für die Präsentation seiner Raumbühne im Großen Saal hatte er die Parkettbestuhlung entfernen lassen. 1079 Fotos vom System geben zu verstehen, dass das System (mit dem Bühnenmodelle, neueste bühnentechnische Erfindungen, Materialien, Zeichnungen, Bilder etc. ausgestellt wurden) auf einer rechtwinkligen Konstruktion basiert, welche Leger und Träger beinhaltet. Die Träger-Type besteht aus einem offenen Gerippe, verbunden mit einer vertikalen Fläche, die Bilder etc. tragen kann. Die Leger-Type besteht aus Flächenelementen mit Hänge- und Legefunktion für Modelle etc. Siehe Kieslers Text „Ausstellungssystem Leger und Träger“, in: Theo van Doesburg (Hg.): De Stijl, Nr. 10/11, Leiden 1925. Auch abgedruckt in: Bogner, Dieter (Hg.): Friedrich Kiesler, 1890–1965: inside the endless house, Wien [u. a.]: Böhlau 1997, S. 32, sowie in Lesak, Barbara: Die Kulisse explodiert: Friedrich Kieslers Theaterexperimente und Architekturprojekte 1923–1925, Wien: Löcker 1988, S, 108 –110. Zur Raumbühne siehe ihre Ausführungen ebd., S. 111–160. 1080 Fernand Léger war von Kiesler eingeladen worden, seinen Film „Ballett méchanique“ auf der Raumbühne erstmalig öffentlich vorzuführen; die Raumbühne diente auf der IAT auch als Präsentationsplattform und Rednerpult. 1081 „Duchamp plötzlich zu Brancusi: ‚Die Malerei ist zu Ende. Wer kann etwas Besseres machen als diese Propeller? Du etwa?‘ Darauf Léger: ‚Mein Gott, was für ein Wunder!‘“, in: Schneede, Uwe M.: Die Geschichte der Kunst im 20. Jahrhundert: von den Avantgarden bis zur Gegenwart, München: Beck 2001, S. 52 f.
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seinen Bühnenbildentwürfen zu „W.U.R.“ und „Kaiser Jones“ gemacht. Nun will er ein Theater, das in der Guckkastenbühne „im Grunde gar nicht mehr funktionieren [darf ]“1082 – keine Verbesserungsvorschläge also, sondern kompromisslos eine vollkommen neue Form und Struktur von Spielraum (Bühne), der dem Zuschauer neue Wahrnehmungsmöglichkeiten eröffnen soll. Vor diesem Hintergrund veröffentlicht er im IAT-Katalog nicht weniger als fünf Schriften in Manifestform, die seiner Überzeugung und Forderung nach einem „Theater der Zeit“1083 Ausdruck verleihen, und er leitet direkt mit dem Text „Railway-Theater“1084, der sein Konzept zur Raumbühne beschreibt, ins Programm ein: „Die Raumbühne des Railway-Theaters, des Theaters der Zeit, schwebt im Raum. Sie benützt den Raum nur mehr als Stütze. … Der Zuschauerraum kreist in schleifenförmigen elektromotorischen Bewegungen um den sphärischen Bühnenkern.“
Die Bezeichnung „sphärisch“ und die Ellipsenbahn deuten auf eine Raumvorstellung, die Raum nicht mehr in drei Dimensionen denkt, sondern immateriell, mitunter auch szenosphärisch aufgeladen, als eine Struktur. Kieslers Konzept, das Theater als „kreative Bewegungsmaschine“1085 zu konzipieren und die Zuschauer wie auf einer Achterbahn um das Geschehen sausen lassen zu wollen – womit eine neue Rezeptionsform erfunden war –, begründet sich möglicherweise im dynamischen Raumverständnis, das durch Bernhard Riemann, Hermann Minkowski und Albert Einstein ins Bewusstsein getreten war. Eine mögliche Analogie zu einem System mit emergenten Eigenschaften1086, zum topologischen Raum der Mathematik mit Mannigfaltigkeiten und zum Atommodell, in dem Elektronen schleifenförmig um den Kern kreisen, liegt nahe.1087 Kieslers Raumbühne basiert auf der Form genuiner Räumlichkeit, der Kugel, und in seinem Text „RailwayTheater“ formuliert er weiter: „Das Theater der Zeit ist ein Theater der Geschwindigkeiten. Deshalb ist seine konstruktive Form und das Spiel der Bewegung polydimensional, das heißt: sphärisch.“
1082 Roselt,
Jens: Phänomenologie des Theaters, München: Fink 2008, S. 85. im Berliner Tageblatt vom 01.06.1923. 1084 Kiesler, Friedrich (Hg.): Katalog/Programm/Almanach: Internationale Ausstellung neuer Theatertechnik im Rahmen des Musik- und Theraterfestes der Stadt Wien, Wien: Würthle 1924, S. II. 1085 Lesak, Barbara: Die Kulisse explodiert, a. a. O. 1988, S. 52. 1086 Vgl. Kapitel 3.1.4 der vorliegenden Arbeit. Siehe auch Fischer-Lichte über Emergenz und Bedeutung; ders.: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004. 1087 Zahlreiche naturwissenschaftliche Bücher finden sich in Kieslers Privatbibliothek (eingesehen im Wiener Kiesler-Archiv), darunter z. B. Gibson, Ch.: Was ist Elektrizität?, Stuttgart: Kosmos 1911, oder Weyl, H.: Kommentar zu Riemanns Über die Hypothesen, welche der Geometrie zugrunde liegen, Berlin: Springer 1919. 1083 Veröffentlichung
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In seiner Raumbühne, als offenes Spielgerüst erbaut, geht es um horizontale, vertikale, diagonale und radiale Bewegungsmöglichkeiten1088 im freien Raum, die reale Eigenschaften von Raum sichtbar werden lassen, und damit geht es auch darum, Ereignishaftigkeit zuzulassen, was über die Absicht, „das Erlebnis der Theatermaschine an sich erfahrbar werden zu lassen“1089, hinausgeht. Denn Kieslers Raumbühne ist von spiraler Gestalt und aus der Vorstellung von Schweben und Schwerelosigkeit heraus gebaut, Raum ist nicht gegeben, sondern wird hervorgebracht, was das performative Moment der Konstruktion erkennen lässt. Seine Idee, dass die Raumbühne den Raum nur mehr als Stütze benutzt, realisiert er folglich nicht mittels eines Massivbaus, sondern eines Skelettbaus1090, einer Konstruktion also, in der Form und Funktion korrelieren und Spannungen zwischen den Freiflächen raumkonstituierend sind. In seiner Konstruktion werden durch mehrere Spielebenen – filmisch gesprochen – Parallelmontagen ermöglicht, was sich als ein erweitertes Raum- und Zeitverständnis1091 Kieslers ausdeuten lässt. Weniger die Theatermaschine als vielmehr das Leben und Raum als eine „modellierte Ganzheit“1092 erfahrbar werden zu lassen, ist (aus produktionsästhetischer Sicht) vermutlich die eigentliche künstlerische Kraft und Intention. Seine Raumbühne (mit sieben Metern Bauhöhe) bietet simultane Spielflächen und damit die Koexistenz verschiedener Räume und Zeiten. Sie ist unterteilt in „eine vom Parkett aus ansteigende, spiralförmig gewundene, eine halbe Umdrehung beschreibende Rampe sowie in einen mittleren Ring, in den die Rampe einmündet[], und in eine vom Mittelring abgesetzte, nach oben gehobene runde Plattform“ mit einem Durchmesser von sieben Metern1093, siehe nachfolgende Abbildung1094.
1088 Lesak,
Barbara: Die Kulisse explodiert, a. a. O. 1988, S. 64.
1089 Koneffke, Silke: Theater-Raum: Visionen und Projekte von Theaterleuten und Architekten,1900–1980,
Berlin: Reimer 1999, S. 152. „Leiter Building“ von William LeBaron Jenney (1889) gilt als erster reiner Skelettbau. Im sogenannten „freien Grundriss“ gibt es die tragende Konstruktion als Bezugsrahmen für frei zur Verfügung stehende Elemente (Wände). „Form und Raum [können] nach den Kriterien des Gebrauchs konstituiert werden, d. h. daß die Form nun nicht mehr im Hinblick auf ihre symbolische Bedeutung entworfen wird, sondern für eine Bedeutung, die sich im Gebrauch (statt in der Betrachtung) für den Nutzer erschließt.“ Thut, Doris/Thut, Ralph: „Architektur des Gebrauchs“, in: ARCH+ 100/101: Service Wohnung. Zeitschrift für Architektur und Städtebau, Aachen: ARCH+ Verlag GmbH, 1989, S. 60 f. 1091 Das Wissen um Raumzeit (vgl. Kapitel 3.2.3), Simultaneität und n-Dimensionalität. 1092 Siehe Lotman zum „sekundären modellbildenden System“; ders.: Die Struktur literarischer Texte, a. a. O. 1972a, S. 22 f. Vgl. auch Kapitel 3.1.4 der vorliegenden Arbeit. 1093 Lesak, Barbara: Die Kulisse explodiert, a. a. O. 1988, S. 120. 1094 © 2015 Österreichische Friedrich und Lillian Kiesler Privatstiftung. Bezeichnung der Abbildung: „PHO 5627/0. Friedrich Kiesler, Raumbühne, Internationale Ausstellung neuer Theatertechnik Wien, 1924.“ 1090 Das
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Abb. 14 Raumbühne, Friedrich Kiesler
Kieslers Konzept, das „In-Mitten-Sein“1095 im Raum erlebbar zu machen, zeigt sich auch in der Innenkonstruktion und durch die Spielwege für die Darsteller. Die Plattform der Raumbühne ist nämlich nur vom Mittelring aus und nur über Leitern zu erreichen, der Mittelring auch über einen Aufzugschacht, der sich im Inneren der Spirale1096 befindet. Diese architektonische Gesamterscheinung sorgte für Aufregung, führte mithin auch zu Empörung1097, und die Ästhetik dieses Holz- und Eisengerüsts stand in krassem Gegensatz zum neobarocken Wiener Konzertsaal, den Kiesler als „Rahmen“ für die IAT ablehnte, der aber zugleich seine Raumbühne (aus heutiger Sicht) als eine Art Rauminstallation1098 erschienen ließ. Mit der Form der Spirale zitierte Kiesler möglicherweise elementare Struktur- und Bewegungsprinzipien der Natur und damit des Menschen, und durch die Erschließung der Vertikalen hatte sie eine größtmögliche Raumdynamik erreicht. „[S]ie war tektonischer Ausdruck des transitorischen Prinzips.“1099 1095 Vgl. Petra Maria Meyer: „Der Raum, der Dir einwohnt“, in: Bohn, Ralf/Wilharm, Heiner (Hg.):
Inszenierung und Ereignis: Beiträge zur Theorie und Praxis der Szenografie, Bielefeld: transcript 2009, S. 113 f. 1096 Lesak, Barbara: Die Kulisse explodiert, a. a. O. 1988, S. 120. 1097 Ebd., S. 156. Sie berichtet von einer satirischen Kurzszene vom Wiener Journalisten Friedrich Porges, in der von Zuschauern der Raumbühne fiktive Gespräche geführt werden; es gibt einen Dialog, in dem sich das Mädel „‚Maizl‘ empört, anstatt eines Theaters einen Zirkus vorgesetzt zu bekommen“. 1098 Ebd., S. 120. Lesak zitiert einen Augenzeugen (Theaterkorrespondent Anton Kuh vom Prager Tageblatt), der schrieb: „Dem Eintretenden bietet sich folgendes Bild: Dort, wo die Parkettreihen sein sollten, erhebt sich saalfüllend ein Rundgerüst, nackt ragende Eingeweide aus Eisenstangen“. 1099 Ebd., S. 121.
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Raum nicht als einen Behälter oder euklidisch geometrisch, sondern als etwas Transitorisches zu verstehen, als Zustand, Übergang, Möglichkeit, Bewegung, räumliche und zeitliche Durchschreitung oder Zwischenraum (Relation) also, lässt die Aussage zu, dass es sich bei dem, was Kiesler mit der Raumbühne im Konzertsaal installiert und was vom Rezipienten wahrgenommen wird, um eine topologische und relationale Räumlichkeit handelt, eine Szenotopie also. Als ein „anderer (Spiel-)Ort“1100 und „Chronotopos“1101 besetzt seine Raumbühne den Raum mit Ereignissen, die Kiesler den Rezipienten im Gehen und sukzessiv1102 erfassen lässt. Die Ausstellungsbesucher der IAT konnten sich frei im Raum und um die Raumbühne bewegen, ihnen bot sich keine Fernsicht auf die Bühne, sondern eine Nahsicht und ein Einblick ins Geschehen1103. Während einer Aufführung saßen die Zuschauer nicht vor der Raumbühne, sondern im ersten Rang des Konzertsaals um sie herum1104, sie konnten also das Geschehen aus jeweils verschiedenen Perspektiven verfolgen, was zum einen für eine „Bedeutung … im Gebrauch (statt in der Betrachtung)“1105 spricht. Zum anderen lässt sich eine szenosphärische, d. h. semiotisch atmosphärische Ästhetik erkennen, denn der Erscheinung der Raumbühne inhäriert auch eine Bedeutungsebene1106: Sie ist in ihrer Form genuin räumlich und zeitlos, und das raumsprachlich dafür gefundene Motiv: die Spirale1107, die sich aus der Kugel1108 ableitet, kann der Betrachter in seiner Wahrnehmung und Imagination fortschreiben als eine Art räumlich „ergossenes“ Gefühl1109, ein ihn orientierendes Phänomen. Dieses erscheint sowohl atmosphärisch als auch artistisch, stellt Prä1100 Eine Raumbühne sieht der damalige Theater-Diskurs nicht vor, wie aus Kapitel 4.1 hervorgeht.
Vgl. auch Kapitel 3.2.1 der vorliegenden Arbeit sowie Foucault über „andere“ Räume, in: Foucault, Michel/Bischoff, Michael (Übers.): Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005, S. 14 ff. 1101 Siehe Bachtin über Strukturen, die von der Zeit mit Sinn erfüllt werden; Bachtin, Michail M.: Chronotopos. Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008, S. 7. Vgl. auch Kapitel 3.2.3 der vorliegenden Arbeit. 1102 Kiesler schreibt über sein Ausstellungssystem, das an die Konzeption der Raumbühne anschließt: Der „Ausstellungssaal [kann] … nicht mehr simultan, sondern nur sukzessiv erfasst werden.“ Friedrich Kiesler: „Ausstellungssystem Leger und Träger“, in: De Stijl, Nr. 10/11, Leiden 1925. 1103 Vgl. Kapitel 3.2.4 der vorliegenden Arbeit sowie de Certeau über das Haptisch-Optische; De Certeau, Michel: Kunst des Handelns, Berlin: Merve 1988 (1980). 1104 Lesak, Barbara: Die Kulisse explodiert, a. a. O. 1988, S. 132. 1105 Thut, Doris/Thut, Ralph: „Architektur des Gebrauchs“, in: ARCH+ 100/101, a. a. O. 1989, S. 60 f. 1106 Vgl. Kapitel 3.1.3. 1107 Vgl. Gaston Bachelard zur Dynamik und Rundheit des Lebens: „Und welche Spirale ist das Sein des Menschen!“ Gaston Bachelard in: Günzel, Stephan/Dünne, Jörg (Hg.): Raumtheorie: Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006, S. 172. 1108 Für Kiesler ist die Sphäre (Kugel) der „Inbegriff des Räumlichen“; Kiesler, Friedrich: Katalog/ Programm/Almanach, a. a. O 1924, S. 58. 1109 Siehe Schmitz über Atmosphären und Gefühle; Schmitz, Hermann: Was ist Neue Phänomenologie?, Rostock: Ingo Koch 2003, S. 44 f. Vgl. auch Kapitel 3.1.1 der vorliegenden Arbeit.
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senz her und ist erlebte Gegenwart1110. Zudem schreibt die Raumbühne auch das fort, was sich außerhalb des Theaters ereignet, nämlich das Leben, sodass Kieslers Raumbühne auch als Metonymie1111 verstanden werden kann. Dadurch, dass Kiesler die Voraussetzung dafür schafft, dass die Rezipienten das Spielgeschehen auf der Raumbühne multiperspektiv erleben können, sind schleifenförmige Umkreisungen (vgl. sein Railway-Theater) wenn auch nicht physisch, so doch mental möglich und – wie zu vermuten ist – strategisches Ziel Kieslers. Die neue Raumorganisation zwischen Bühne und Zuschauer ist einer der Kerngedanken des Denkmodells Raumbühne, und so mündet ihre verbindende Raumstruktur konsequent in einem dynamischen Raumkontinuum, in dem die psychophysische1112 Wahrnehmungswelt des Menschen eine zentrale Rolle spielt. Folglich kann der Raumbühne neben ihrer Phänomenologie auch ein soziometrisches1113 Potenzial zugesprochen werden. Die Mittel, mit denen Kiesler einerseits das im Raum Installierte auflädt, und was andererseits vom Rezipienten wahrgenommen wird, sind insbesondere folgende: Die Szenenwechsel auf der Raumbühne erfolgen über Lichtwechsel, denn Vorhänge gibt es nicht und die Lichttechnik wird von einem Beleuchtungsmast aus gesteuert, dabei werden Bewegungen auf der Bühne durch sogenannte Verfolger ins Visier1114 genommen. Dekorationselemente, Prospekte und eigenständige Bildflächen fehlen, lediglich zeitbasierte Medien wie Ton oder Filmprojektionen oder transparente Materialien1115 hält Kiesler für akzeptable Inszenierungsmittel, mit denen er Szenosphären realisiert. Die Raumbühne selbst ist das „Bühnenbild“, das es als solches im Sinne einer Bildhaftigkeit oder Ausstattung nicht mehr gibt. Kiesler gibt in seinem Text „Debacle des Theaters“1116 zu verstehen: 1110 Siehe
Seel über Inszenierung und Präsenz; Martin Seel: „Inszenieren als Erscheinenlassen“, in: Früchtl, Josef/Zimmermann, Jörg: Ästhetik der Inszenierung, a. a. O. 2001, S. 58.Vgl. auch Kapitel 3.1.2 der vorliegenden Arbeit. 1111 Vgl. Kapitel 3.1.4 der vorliegenden Arbeit sowie Lotman über diese rhetorische Figur; Lotman, Jurij M.: Vorlesungen zu einer strukturalen Poetik, München: Fink 1972b, S. 25 f. 1112 Ernst Machs Buch Analyse der Empfindungen und des Verhältnisses des Physischen zum Psychischen (1902) findet sich in Kieslers Privatbibliothek. Auch das Stegreif-Theater von Jakob Levy Moreno (das mit Entwürfen auf der IAT vorgestellt wurde) befasste sich mit menschlichen Verfasstheiten. Im Stegreif-Theater (siehe Kapitel 3.2.2 der vorliegenden Arbeit) ging es, ebenso wie in Kieslers Raumbühne, um räumliche Dimension und Relationen des Lebens. 1113 Zu Moreno siehe Marschall, Brigitte: „Jakob Levy Morenos Theaterkonzept: Die Zeit-Räume des Lebens als Szenenraum der Begegnung“, in: Zeitschrift für Psychodrama und Soziometrie, Vol. 4, Nr. 4, 2005. Vgl. auch Kapitel 3.2.2 der vorliegenden Arbeit. 1114 Lesak, Barbara: Die Kulisse explodiert, a. a. O. 1988, S. 125. 1115 Ebd., S. 129. Kiesler Vorzug immaterieller oder (fast) unsichtbarer Materialien liest sich auch aus seinem Text zum Railway-Theater (im IAT-Katalog, S. II), das in seinen Grundprinzipien der Raumbühne folgt: „Milieu-Suggestion schafft die Filmprojektion. Plastische Formen entstehen aus glasartigem Ballonstoff.“ 1116 Kiesler, Friedrich: Katalog/Programm/Almanach, a. a. O. 1924, S. 43–59. Auf den beiden letzten Seiten gibt er zwölf Gesetzmäßigkeiten der Guckkastenbühne bekannt.
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„Der neue Wille sprengt die Bildbühne, um sie in Raum aufzulösen, wie es das Spiel verlangt. Er schafft die Raumbühne, die nicht nur a priori Raum ist, sondern auch als Raum erscheint.“1117
Die Bildbühne (die Bühne, vor der der Zuschauer wie vor einem Bild sitzt, welches durch das Bühnenportal eingerahmt wird und das die Bühne und den Zuschauerraum vertikal schneidet, der Guckkasten) bietet Kiesler also keinen Raum. Als plastisches Element der Guckkastenbühne sieht er den Menschen und nicht die Kulisse, und Raum ist ihm zufolge „nur für denjenigen Raum, der sich in ihm bewegt“1118, womit sich prinzipiell alle Erneuerungsversuche in einer Bildbühne erledigen, denn diese ist von ihrer Raumorganisation her nicht dafür angelegt, dass Zuschauer sie durchschreiten. Erst wenn die Bühne, die keine Kiste mit einem Vorhang als Deckel sei, aufgehört habe, Bild zu sein, könne ihm zufolge das Spiel ein Organismus, d. h. ein offenes System werden.1119 Die räumlichen Begrenzungen des szenischen Grundrisses hätten nach allen Seiten mitzuschwingen wie die Resonanzwände eines Toninstruments. Kiesler konstatiert: „Dann erst können wir mit der Möglichkeit absoluter Spieleinheit rechnen. Diese Spieleinheit bleibt aber unerreicht auf einer Bildbühne. Und Bildbühnen bieten alle unsere heutigen Theater. Der Widersinn: Bild – Bühne ist im allgemeinen unentdeckt geblieben. Denn Bühne ist Raum, Bild Fläche. Ein räumlicher Zusammenschluß von Bühne und Bild ergibt jenen verlogenen Kompromiß: Bühnen-Bild, auf dessen Wirkung alles heutige Theater eingestellt ist.“1120
Der Widersinn, von dem Kiesler spricht, kann als ein noch heute bestehendes Problem des Theaters angesehen werden, in Anbetracht der „verflachten Szenografie“1121 und des seit den 1990er Jahren einsetzenden „Bildertheaters“1122. Dabei wird das Bild zumeist nicht als räumlich-architektonisches Element gedacht und eingesetzt, sondern oftmals als eigenständige, d. h. in den Raum hi1117 Ebd.,
S. 53. S. 52. 1119 Ebd., S. 57 f. 1120 Ebd., S. 52. 1121 Trüby, Stephan: „Die gesprengte Szene. Eine kurze Geschichte der Szenografie“, in: Archithese – Szenografie. Internationale Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur, 4.2010, Sulgen: Niggli AG, 2010, S. 41. Er schreibt weiter: „So kommt eine kurze Geschichte der Szenografie an ihr relatives Ende: jene eines skene genannten [Raums] in einem Theater, der … dann als gesprengte Guckkastenbühne zu Beginn des 20. Jhs. zum Immersionsraum des Publikums wurde – und der dann schließlich, gegen Ende desselben, den Triumph der Szenografie als eine Feier der Zweidimensionalität mit sich brachte. Letztere bildet nach wie vor die Messlatte – auch für ein erweitertes Szenografieverständnis, wie es sich in den letzten Jahren zu etablieren vermochte.“ 1122 Mit Bildertheater ist ein vom Bild her dominiertes Regietheater gemeint. Mögliche Beispiele sind Inszenierungen von Robert Wilson oder von Frank Castorf; zu einem der „Wünsche für 2004“ des Publikums zählte, dass die Berliner Volksbühne im kommenden Jahr nur einmal auf eine Videoprojektion verzichten möge, siehe dazu Diederichsen, Dieter: „Theater ist kein Medium – aber was bewirkt es, wenn der Mann mit der Videokamera auf der Bühne arbeitet?“, in: Dramaturgie, Zeitschrift der Dramaturgischen Gesellschaft, 1/10, S. 3 f. 1118 Ebd.,
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neingehängte Bildfläche, die nur selten als bewusst gewollter Schnitt durch den Raum installiert wird, wie sich aus eigener künstlerischer Praxis sagen lässt.1123 Kiesler führt zur Ästhetik von Bewegtbildern und ihrem Zusammenspiel mit dem Raum aus: „Die Fläche mit täuschender Räumlichkeit ist Wurzel eines neuen Spiels, des Kinos, geworden. Das Raumspiel ist die Wirkungskraft des Theaters. Niemand ist gezwungen, sich Umraumbühnen erst vorstellen zu müssen: jede bestehende Bühne ist Bildbühne, also klassische Umraumbühne. … Der Film hat nichts mit der sinfonischen Raumorganisation der Bühnenelemente zu tun. Seine Aufgabe ist es, sich von der Nachäffung des Theaters loszulösen; Aufgabe der Bühne bleibt es, ihre eigenen Gesetze zu vertiefen und keine Kopie des Films zu werden. … [K]inoide Sackgassen. … Und das allgemeine, kritiklose Hinnehmen des Widersinns Bildbühne zeigt, wie notwendig der scheinbare Pleonasmus: Raumbühne … ist.“1124
Auf die Frage, wie man das Raumerlebnis der Raumbühne adäquat erfahrbar machen könne, gibt Kiesler folgende Antwort: „Es gibt nur eine Möglichkeit, das Raumerlebnis optisch exakt zu vermitteln: Die Bewegung, die sich in Raum umsetzt.“1125
Damit spricht er einerseits von einer Verzeitlichung von Raum und andererseits von Graphien, d. h. Raumeinschreibungen, die – vor dem Hintergrund des Begriffs „écriture“1126 – ein Theater aufrufen, das mit räumlichen und zeitlichen Mitteln inszeniert, was verdeutlicht, dass die Szenografie eine Regieleistung ist: Raumregie. Der Spielstil und die Regie wurden durch die Konzeption der Raumbühne bestimmt, in der das Geschehen von Bewegung und Dynamik geprägt und selbst zu Raum wird. Neben Theaterstücken, die während der IAT geprobt wurden, gab es Vorträge und gelangten auch Tanzstücke (Ausdruckstanz) zur Aufführung, die sich als am homogensten zur Raumbühne1127 erwiesen. Der Ausdrucktanz (der die Geometrie des klassischen Balletts zugunsten einer neuen Bewegungsfreiheit überwunden hatte) fand in der Raumbühne seine bühnenarchitektonische Entsprechung, und man kann sagen, dass die im Tanz formulierte Analogie zu Raum/Räumlichkeit1128 in der Raumbühne fortgeschrieben wird. Konzeptionell stehen sich die Raumbühne und der Tanz (Tanz als der 1123 Vgl.
auch die Ausführungen in Kapitel 4.2 zum Umgang mit Bildprojektionen. In dem dort erörterten Projekt verstehen sich die medialen Anfangs- und Endprojektionen als der Bühnenraum selbst und sind als räumlich-architektonische und raumorganisierende Elemente konzipiert. 1124 Kiesler, Friedrich: Katalog/Programm/Almanach, a. a. O. 1924, S. 55 f. 1125 Ebd., S. 54. 1126 Vgl. Kapitel 3.2.2. 1127 Lesak, Barbara: Die Kulisse explodiert, a. a. O. 1988, S. 132, 136. 1128 Vgl. in Kapitel 3.2.2 die Ausführungen zu Mallarmé, der seine visuelle Poesie in den Bewegungen der Tänzerin Loïe Fuller als „écriture corporelle“ verlebendigt sah.
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durch Bewegung gestaltete Raum um den Körper) nämlich insofern besonders nah, als es bei beiden um raumgreifende Handlung, Dynamik und Kinesphären geht: Im Tanz verkörpert sich die Raumbühne selbst – die Bühne (sozusagen als exogene Raumplastik) ist zu ihrem eigenen Umraum geworden. Die Ausstellung In der Ausstellung (die in einem anderen Saal aufgebaut war) konnte Kiesler mit der um die Raumbühne herum fehlenden physischen Besucherbewegung experimentieren, hier konnte er die Raumbühne zu physisch begehbaren Raumbildern erweitern, wie die folgenden Untersuchungen zeigen werden. In seinem Leger- und Trägersystem1129, das er für die Ausstellung entwickelt hatte (zur Präsentation von Arbeiten, z. B. Bühnenmodellen, Materialien, Bildern etc.) und das ästhetisch an die Raumbühnen-Konzeption anschließt, standen die Leger und Träger entweder frei für sich im Raum oder schlossen sich zu Raumparzellen zusammen, die variabel1130 organisiert waren. Sein System verabschiedete sich von der klassischen Bildhängung und schrieb Ausstellungsgeschichte, da es Objekte nicht länger linear lesbar an der Wand hängend zeigte, sondern frei in den Raum stellte und dadurch Raumbilder kreierte, welche die Objekte vollkommen neuartig präsentierten1131: als Rauminstallationen. Angenommen werden kann1132, dass es Kiesler dabei weniger um die Frage geht, welche Objekte in seinem Ausstellungssystem Platz finden, als vielmehr darum, wie Objekte ausgestellt werden können und wie er diese Überlegung mit einer weiter reichenden Aussage – zu dem, was ihn über sein Leger- und Trägersystem hinaus interessiert – verknüpfen kann. Um seinem eigentlichen Ziel auf die Spur zu kommen, wird im Folgenden untersucht, was in seinem Ausstellungskonzept geschieht und was dadurch produziert wird. In seinem Konzept sind die Wege der Besucher und der erlebte Raum zwischen den Stationen der Wegeraum, der die Ausstellung szenografiert. Durch 1129 Siehe Einleitung in Kapitel 4.3 zur Beschreibung des Systems. Die Träger-Type besteht aus einem
offenen Gerippe, verbunden mit einer vertikalen Fläche, die z. B. Bilder etc. tragen kann. Die Leger-Type besteht aus Flächenelementen mit Hänge- und Legefunktion für z. B. Modelle etc. 1130 Lesak, Barbara: Die Kulisse explodiert, a. a. O. 1988, S. 105. 1131 Zur Partizipation des Betrachters in räumlichen Situationen siehe Kemps Ausführungen zum „subjectivist turn“ und „situativen Verstehen“. Wolfgang Kemp: „Zeitgenössische Kunst und ihre Betrachter: Positionen und Positionszuschreibungen“, in: Kemp, Wolfgang (Hg.): Zeitgenössische Kunst und ihre Betrachter, Jahresring 43, Köln: Oktagon 1996, S. 16 f., 18 f. 1132 Kieslers Auseinandersetzung mit Architektur und sein späterer Entwurf des „Endless House“ (für ein Einfamilienhaus) beginnt Bogner zufolge „bereits in den zwanziger Jahren mit der Wiener Raumbühne von 1924 sowie der Pariser Raumstadt und dem Universal Theatre von 1925.“ Bogner, Dieter (Hg.): Friedrich Kiesler, 1890–1965, a. a. O. 1997, S. 10. Siehe auch Bogner, Dieter/Boeckl, Matthias: Friedrich Kiesler, a. a. O. 1988, S. 231. Siehe auch Kapitel 4 der vorliegenden Arbeit.
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diesen Raum, der als hodologischer Raum1133 interpretiert werden kann, wird der Ausstellungsraum als ein inszenierter Informations- und Wissensraum1134 erschlossen, den die Besucher durch ihre Bewegungen „spuren“ (Spuren ziehen) und „beschreiben“1135, mitgestalten und hervorbringen. Das Raumverhalten der Besucher stellt also Verbindungen und Relationen zwischen den Objekten her, sodass eine immaterielle Struktur geschaffen wird, die „mit der Zeit mit Sinn erfüllt wird“1136 und die sich mit der Zeit durch mehr Besucher immer mehr verdichtet. Dabei geht es nicht um den Abstand und die mathematisch kürzeste Strecke, die zwei Punkte auf gerader Linie miteinander verbindet, sondern um den „ausgezeichneten Weg“, der von der „Geometrie des Lebensraums“ im Sinne der individuellen Verfasstheit1137 einer Person abhängt. Im Fall einer Ausstellung hängt der „ausgezeichnete Weg“ demnach auch von der individuellen Fähigkeit und Kreativität zur Wahrnehmung und Wissensproduktion ab. Wissensorganisation will Kiesler nicht statisch, sondern dynamisch und als einen Handlungsprozess konzipieren, demzufolge er den Besucher nicht irgendwie an den Objekten vorbeilaufend, sondern bewusst durch die Ausstellung gehen sehen will, wie er in einem Text über sein Leger-und-Träger-Ausstellungssystem betont: „Zweck: Da das bisherige Ausstellungssystem romantischer Museumsersatz ist, die Behängung der Wandflächen dekorativer Bluff, soll die Möglichkeit gegeben werden, die Starre des Raums aufzulösen, dergestalt, dass die Raumarchitektur den Besucher zwingt, nichts zu übergehen … Die Passagedistanz um jede Konstruktion beträgt 1,5 bis 2 m. … Durch die räumliche Anordnung der L- und T-Typen einerseits und durch ihren räumlichen Aufbau andererseits kann der Ausstellungssaal nicht mehr simultan, sondern nur sukzessiv erfasst werden.“1138
Seine Raumarchitektur, die nahsichtig1139 konzipiert ist und die Objekte schrittweise zeigt, sowie die Architektur bzw. Vernetzungen, die der Besucher durch sein individuelles Raumverhalten kreiert, überlagern und durchdringen sich. So entsteht eine Raumkonstruktion, die Sinnkonstruktion und -produktion ermög1133 Zum hodologischen Raum siehe Stefan Günzel: „Lewin und die Topologie des Sozialraums“, in:
Kessl, Fabian/Reutlinger, Christian (Hg.): Schlüsselwerke der Sozialraumforschung: Traditionslinien in Text und Kontexten, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2008, S. 102 ff. 1134 Vgl. Kapitel 3.2.1. 1135 Vgl. Kapitel 3.2.2. 1136 Bachtin, Michail M.: Chronotopos 2008, a. a. O., S. 7. Vgl. auch Kapitel 3.2.2 der vorliegenden Arbeit. 1137 Vgl. Bullnow über den hodologischen Raum bei Lewin; Bollnow, Otto Friedrich: Mensch und Raum, Stuttgart: Kohlhammer 2004, S. 196 f. Ausgezeichnete Wege sind z. B. jene, welche man ohne Umwege (Vermeidungen), also unbelastet gehen kann. 1138 Kiesler, Friedrich: „Ausstellungssystem Leger und Träger“, in: De Stijl, a. a. O. 1925. Auch abgedruckt in: Lesak, Barbara: Die Kulisse explodiert, a. a. O. 1988, S. 108–110, hier S. 110, sowie in: Bogner, Dieter (Hg.): Friedrich Kiesler, 1890–1965, a. a. O. 1997, S. 32. 1139 Vgl. Kapitel 3.2.4.
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licht. Demnach kann Kieslers Raumbühne, die hier als begehbarer Wissensraum ihre Fortsetzung findet, als ein erweitertes Modell – Modell des Wissens1140 – verstanden werden, in dem einerseits Raum zum Informationsträger und andererseits Wissen durch bzw. als eine räumliche und performative Praxis generiert wird. Dieses Wissen wird durch Nachbarschaften hergestellt, die sich zum einen durch die Anordnung der Objekte, die wie das Leger- und Träger-System selbst variabel organisiert sind, ergeben, zum anderen durch die Sinnverknüpfungen, die der Besucher daraus spinnt. Kiesler schreibt in seinem Text zum Zusammenspiel der ausgestellten Arbeiten: „Organische Demonstration zueinandergehöriger Arbeiten, absolut selbständiges Wirken jeder einzelnen Arbeit.“1141
Dabei ist die Erfassung der Arbeiten auf sukzessive Art und Weise vergleichbar mit dem Gehen1142 durch eine Stadt. Kieslers Ausstellungssystem kann somit eine gewisse Kontiguität zum unmittelbaren Umfeld, d. h. zur Stadt Wien und damit zum Leben zugesprochen werden. Bedenkt man, dass „Architektur, Innenarchitektur, Design … per definitionem die Aufgabe [haben], Objekt und Räume mit atmosphärischem Potential, ja mit Gefühlen zu versehen“, und dass Raum und Gefühl in ihrer „Verschränkung Mentalitäten, Lebensformen und Lebensstile einer Kultur [konstituieren]“1143, wird klar, dass Kieslers Raumkonstruktion auch Szenosphären konstruiert. Das, was in Kieslers Ausstellungskonzept geschieht und was es produziert, kennzeichnet zugleich das Grundverständnis der Gestaltungspraxis Szenografie. Relationalität und Nachbarschaft als räumliche Struktur sowie Betrachterpartizipation kennzeichnen als Paradigmen die Szenografie, die zur Erzeugung von Sinnbildung beim Rezipienten mit Erinnerungs- und mentalen Bildern sowie mit rhetorischen Stilfiguren (z. B. der Metonymie) arbeitet, um neben Gefühlen/Atmosphären und Imaginationen auch Raumaneignungen und Raumpraktiken beim Szenografie-Besucher hervorzurufen. Vor diesem Hintergrund erweist sich Kieslers Arbeit als eine Szenografie, die den Besucher zum Mitgestalter derselben macht, darüber hinaus erschließt sich auch seine (wie eingangs erwähnt) weiter reichende Aussage/Vision, die er
1140 Modell der Art und Weise, wie Wissen generiert und gespeichert wird. Was für ein Wissen generiert
wird, dazu siehe Ausführungen in Kapitel 3.2.1. Siehe auch Hubertus Busche: „Wissensräume“, in: Joisten, Karen (Hg.): Räume des Wissens. Grundpositionen in der Geschichte der Philosophie, Bielefeld: transcript 2010, S. 17–30. 1141 Kiesler, Friedrich: „Ausstellungssystem Leger und Träger“, in: De Stijl, a. a. O. 1925 1142 Vgl. de Certeau, Michel: Kunst des Handelns, Berlin: Merve 1988 (1980). 1143 Lehnert, Gertrud (Hg.): Raum und Gefühl: der Spatial Turn und die neue Emotionsforschung, Bielefeld: transcript 2011, S. 9 f.
268 Szenosphäre & Szenotopie
verfolgt: eine Architekturdebatte1144, die an sein Wiener Ausstellungssystem bzw. die Konzeption begehbarer Raumbilder anschließt – und die er wenig später in Paris mittels eines sehr ähnlichen Ausstellungssystems zum Ausdruck bringt. Dies lässt sich anhand eines Manifests, das im kommenden Abschnitt untersucht wird, sagen und auch aus der Gesamtbetrachtung/Entwicklungslinie1145 seines Schaffens ablesen, dies wird auch in der Forschung bestätigt1146. Seine Auseinandersetzung bzw. Kritik an der bestehenden Architektur richtet sich letztlich gegen Lebensbedingungen; damit verweist Kiesler auf den zwischenmenschlichen Lebensraum, den öffentlichen Raum: die Stadt als (Raum-)Bühne. Die Raumstadt (1925) Das Konzept der Stadt als (Raum-)Bühne entwickelte er weiter und stellt ein Jahr nach der IAT in Wien1147 seine „Raumstadt“ in Paris vor. Ein weiteres Jahr später wird er in die USA auswandern und gemeinsam mit Knud Lönberg-Holm und Buckminster Fuller die „Structural Study Associates“ (die Architektur in Informationsarchitektur transformieren) gründen1148. Mit seiner Raumstadt, die er im Pariser Grand Palais installiert, vollendet und präsentiert er sein in Wien begonnenes Ausstellungskonzept. Seine raumgreifende Konstruktion aus Holzlatten, -platten und Leinwänden installiert er in einen ca. 24 × 11 × 8 Meter hohen Raum1149. Kieslers Hauptinteresse liegt vermutlich auch dieses Mal nicht vorrangig darin, dass Bühnenmodelle, Bilder, Figurinen etc. ausgestellt werden, denn er will mit seinem Ausstellungssystem eine über dem Boden schwebende Stadt abstrahieren und zur Darstellung bringen, wie aus seinem Manifest „Vitalbau – 1144 Bereits
1908 verfasst Georg Simmel zum Thema Raumsoziologie die Schrift Der Raum und die räumlich Ordnung der Gesellschaft, in der er Nachbarschaften und Grenzen als soziologische Strukturen kennzeichnet, die sich räumlich formen. In Simmel, Georg: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Leipzig: Duncker & Humblot 1908. 1145 Siehe Kapitel 4 der vorliegenden Arbeit. 1146 Bogner, Dieter (Hg.): Friedrich Kiesler, 1890–1965, a. a. O. 1997. Siehe auch Bogner, Dieter/ Boeckl, Matthias: Friedrich Kiesler, a. a. O. 1988, sowie Lesak, Barbara: Die Kulisse explodiert, a. a. O. 1988. 1147 Infolge des großen Erfolgs der IAT wird Kiesler mit der Gestaltung des österreichischen Pavillons auf der Exposition Internationale des Arts Décoratifs et Industriels Modernes betraut, die 1925 in Paris stattfindet; Kiesler präsentiert im Grand Palais sein Ausstellungssystem, in dem Bühnenmodelle, Bilder, Figurinen etc. von österreichischen Künstler gezeigt werden. Im selben Jahr entwickelt er auch seine Raumbühne zum „Endless Theatre“ und „Universal Theatre“ weiter. Dank des Erfolgs in Paris wird er 1926 die International Theatre Exposition in New York konzipieren; er lebt fortan in den USA. 1148 Siehe Vortrag von Joachim Krausse Unsichtbare Architektur, gehalten an der Leopold-FranzensUniversität Innsbruck im November 2008. 1149 Bogner, Dieter/Boeckl, Matthias: Friedrich Kiesler, a. a. O. 1988, S. 231.
4 Sprossachsen 269
Raumstadt – Funktionelle Architektur“ hervorgeht. Er stellt also nicht nur ein Ausstellungssystem, sondern eine Installation und ein Denkmodell über Stadt, Architektur und Lebensraum aus. Zu dieser Konzeption schreibt er: „Aus Not entsteht die neue Form der Stadt … die Zeitstadt, weil die Zeit der Maßstab ihrer Raumorganisation ist; die Raumstadt: weil sie frei im Raum schwebt, dem Terrain entsprechend föderativ dezentralisiert ist; … Wir wollen keine Mauern mehr, Kasernierungen des Körpers und des Geistes …, wir wollen: Umwandlung des sphärischen Raums in Städte … ein System von Spannungen (Tension) im freien Raume … Den Bau der Elastizität der Lebensfunktion adäquat.“1150
Seine Raum-Zeit-Stadt, die frei im Raum schwebt, von einer städtebauliche Vision geleitet ist und sich als Widerlager1151 zur bestehenden Architektur1152 versteht, beinhaltet demnach eine raumzeitliche1153 Dimension und erfordert Raumdurchschreitung1154 als Voraussetzung für die Wahrnehmung von Architektur durch Bewegung. Wie zuvor im Ausstellungssystem auf der IAT in Wien bringt dabei das Raumverhalten der Besucher Verbindungen und Relationen hervor; hier in der Raumstadt (siehe nachfolgende Abbildung1155) ist „der Raum ein Ort, mit dem man etwas macht“1156, wie sich mit de Certeau sagen lässt. Der Sinn von Kieslers Kreation findet sich folglich weniger auf der semiotischen Bedeutungsebene der Raumstadt als vielmehr in der „Bedeutung, die sich im Gebrauch (statt in der Betrachtung) für den Nutzer erschließt“1157, wie bereits sein Text „Debacle des Theaters“1158 (im IAT-Katalog) zu verstehen gibt. Er schreibt, dass man nur dann Raum erfahren kann, wenn man sich in ihm bewegt: Ein starrer Raum (womit er die Bildbühne meint) könne „optisch niemals kubisch exakt ausgewertet werden, es sei [denn], daß er bereits vom Beschauer durchmessen wurde, so daß er, wiedergesehen, mit Hilfe der Erfahrung 1150 Kiesler, Friedrich: „Vitalbau – Raumstadt – Funktionelle Architektur“, a. a. O. 1925. Auch abge-
druckt in: Lesak, Barbara: Die Kulisse explodiert, a. a. O 1988, S. 168–173, hier S. 170, sowie in: Bogner, Dieter (Hg.): Friedrich Kiesler, 1890–1965, a. a. O. 1997, S. 33. 1151 Vgl. Kapitel 3.2.1 der vorliegenden Arbeit sowie Michel Foucault: „Von anderen Räumen“, in: Günzel, Stephan/Dünne, Jörg (Hg.): Raumtheorie, a. a. O. 2006, S. 317–327. 1152 Kiesler schreibt: „Es ist genug Architektur gemacht worden. Wie wollen keine Neuauflage, und sei sie noch so klug erdacht.“ Kiesler, Friedrich: „Vitalbau – Raumstadt – Funktionelle Architektur“, a. a. O. 1925. 1153 Vgl. Kapitel 3.2.3 der vorliegenden Arbeit. Vgl. auch Bachtin, Michail M.: Chronotopos, a. a. O. 2008. 1154 Bereits 1905 wurde von Schmarsow in der Architekturtheorie auf die Bedeutung von Wahrnehmung durch Bewegung aufmerksam gemacht: Raumabtastung als eine Abfolge optischer Eindrücke. Schmarsow, August: Grundbegriffe der Kunstwissenschaft, Teuber: Leipzig 1905, S. 39 ff. 1155 © 2015 Österreichische Friedrich und Lillian Kiesler Privatstiftung. Bezeichnung der Abbildung: „PHO 875/0. Friedrich Kiesler, Raumstadt, Exposition Internationale des Arts Décoratifs et Industriels Modernes, Paris 1925.“ 1156 De Certeau, Michel: Kunst des Handelns, a. a. O. 1988 (1980), S. 218. 1157 Thut, Doris/Thut, Ralph: „Architektur des Gebrauchs“, in: ARCH+, a. a. O. 1989, S. 60 f. 1158 Kiesler, Friedrich: Katalog/Programm/Almanach, a. a. O. 1924, S. 43–59.
270 Szenosphäre & Szenotopie
Abb. 15 Raumstadt, Friedrich Kiesler
rekonstruiert wird“.1159 Kiesler geht es also mehr um ein Erleben als um ein Verstehen: Er kreiert kein optisches Artefakt, das einer Rekonstruktion bedarf, keine Projektion, keine Bildbühne, keinen fernsichtigen Überblick auf, sondern eine nahsichtige Einsicht in eine Stadt1160, eine an den Leib gebundene Erfahrungsräumlichkeit also. Die Annahme, dass der große Erfolg, den Kiesler mit seiner Raumkonstruktion erzielt, „nicht auf ihrer eigentlichen Funktion als Ausstellungssystem, sondern auf ihrer Deutung als visionäres Modell einer frei im 1159 Ebd.,
S. 53 f.
1160 Siehe Kapitel 3.2.4 der vorliegenden Arbeit sowie die Ausführungen zu de Certeau’schen Raum-
praktiken und sein Zwei-Perspektiven-Modell. Siehe auch Buchanan über de Certeau: Die Überschau über die Stadt, d. h. eine Lesbarkeit ist nur deshalb möglich, weil man von unten kommt und damit die Kenntnis (dass Raum ein Wissen und eine körperliche Erfahrung ist) mit nach oben bringt. Ian Buchanan: „Heterophenomenology, or de Certeau’s Theory of Space“, in: Social Semiotics, 6.1, Abingdon: Taylor & Francis 1996, S. 111–132.
4 Sprossachsen 271
Raum schwebenden Mega-Stadt“1161 beruht, ist daher zu kurz gegriffen. Denn einer Deutung inhäriert zwar immer eine semiotische Bedeutung, aber eine solche ist für den Erfolg, d. h. die Wirkung von Kieslers Raumstadt nicht allein ausreichend, neben der Bedeutungsebene kommt eine weitere hinzu. Kiesler belädt sein visionäres Modell zusätzlich mit „Suggestionskraft“1162 und mit Atmosphärischem, und diese szenosphärische Kraft (über die Dokumentationsfotos1163 eine Vorstellung geben können), die sich somit entfaltet, realisiert er durch räumliche Inszenierungsmittel. Dies vor allem mit Licht und durch ein „Erscheinenlassen von Gegenwart“, wie sich mit Martin Seel sagen lässt: Seine Inszenierung „produziert Präsenz“ und „bietet Gegenwarten dar“1164 bzw. Zukünfte, die den Besucher beim Durchschreiten der Raumstadt affizieren. Aus produktionsästhetischer Sicht kann Kieslers Raumkonstruktion demnach als eine „Atmosphärenkonstruktion“1165 bzw. Szenosphären-Konstruktion bezeichnet werden. Hier „[stehen] Räume und Gefühle … in produktivem Austausch“1166, die den Rezipienten durch die Raunstadt leiten. In diesem Bezugssystem (Mensch, Raum, Zeit, Wahrnehmung, Bewegung) bringt Kieslers Installation die Vorstellung von Stadt, der neuen Stadt, zum Ausdruck1167, und die Raumstadt stellt sich als ein Organismus zwischenmenschlichen Zusammenlebens in Gestalt eines offenen Raumsystems1168 dar. Dabei stehen die Objekte und Menschen in relationaler Beziehung zueinander, Kultur wird zu einem Raumkonzept. Darüber hinaus kann die Raumstadt auch als ein Raumbild1169, das soziologische Informationen bereithält, gelesen werden. Kieslers Raumverständnis kann mit der aktuellen Vorstellung von Raum als „heterogenisierender Relationsbegriff“1170, topologisches und „relationales 1161 Bogner,
Dieter/Boeckl, Matthias: Friedrich Kiesler, a. a. O. 1988, S. 231.
1162 Vgl. Kiesler über seine Wiener Ausstellung: dass der Saal nur sukzessiv erfasst werden kann und
sich dadurch ein „Überraschungsmoment“ ergibt, „das alleine die Suggestionskraft besitzt, jedes Objekt demonstrativ zur Geltung zu bringen.“ Kiesler, Friedrich: Ausstellungssystem Leger und Träger, a. a. O. 1925. 1163 Im Wiener Kiesler-Archiv. 1164 Martin Seel: „Inszenieren als Erscheinenlassen“, in: Früchtl, Josef/Zimmermann, Jörg: Ästhetik der Inszenierung, a. a. O. 2001, S. 58. Der Begriff Gegenwart im Sinn eines offenen Horizonts „der spürenden, handelnden und erkennenden Begegnung mit Vorhandenem“ (S. 54). 1165 Fromm, Ludwig: Die Kunst der Verräumlichung, Kiel: Muthesius Kunsthochschule 2009, S. 97 ff. (Bd. 7 der Reihe „Gestalt und Diskurs“). 1166 Lehnert, Gertrud: Raum und Gefühl, a. a. O. 2011, S. 9 f. 1167 Bogner, Dieter (Hg.): Friedrich Kiesler, 1890–1965, a. a. O. 1997, S. 10 f. 1168 Ebd. 1169 Nur wenige Jahre später (1930) verfasst Siegfried Kracauer seine Schrift „Über Arbeitsweisen. Konstruktion eines Raumes“, in der er der Entzifferung der Städte und ihrer „hieroglyphischen Raumbilder“ eine soziale Wirklichkeit zugrunde legt. Kracauer, Siegfried: Straßen in Berlin und anderswo. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1964. 1170 Michaela Ott: „Raum“, in: Barck, Karlheinz (Hg.) Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 5, Postmoderne – Synästhesie, Stuttgart/Weimar: Metzler 2003, S. 113–149.
272 Szenosphäre & Szenotopie
Gefüge“1171 bestimmt und seine Raumstadt somit als eine Szenotopie bezeichnet werden, in der Szenosphären evoziert werden. Kieslers Manifest zur Raumstadt beinhaltet auch Überlegungen, die er mit naturwissenschaftlichen (biotechnischen) Erkenntnissen, die er in einer späteren Schrift „On Correalism and Biotechnique“ (1939) veröffentlicht, verbindet1172: Im Mittelpunkt des Beziehungsgeflechts zwischen dem „Human“, „Natural“ und „Technological Environment“, wie Kiesler es nennt, steht sein ganzheitliches Verständnis von Mensch und künstlerischer Gestaltungsarbeit. Dieses Verständnis und die Kräfte der Natur sowie die Kernprinzipien aus Biologie, Chemie und Physik verdeutlicht er durch ein Diagramm1173, das eine Nebeneinanderstellung einer biologischen, chemischen und elektr(on)ischen Zelle zeigt.1174 In seinem „Manifeste du Corréalisme“1175 (1949) entwickelt er ausgehend von elementaren Strukturprinzipien der Natur (die in der Lage sind, sich verschiedenartig auszudifferenzieren) seine Überlegungen auch zu einer Entgrenzung der Künste und ihren Transformationsmöglichkeiten. Demnach könne auch das Bild zur Architektur, die Skulptur zum Bild oder die Architektur zur Farbe werden.1176 Schon in der Raumstadt sind die dort ausgestellten Arbeiten keine Wandbehänge, sondern als Raum-Inseln/Arrangements konzipiert, und in dem offenen Systemfeld (Raum), in dem sie sich bewegen, changieren sie zwischen Architektur und Bild, 3-D und 2-D, Raum und Fläche. Kieslers „Galaxies“ (die er ab 1947 entwickelt) sind Bildkompositionen, die aus mehreren Bildern (zweidimensionalen Flächen) bestehen und deren Eigenschaft es ist, nicht als Einzelbilder zu „funktionieren“, sondern nur in Wechselbeziehung zueinander und durch den Raum, in dem sie installiert sind. Dabei sind die Abstände zueinander genau bestimmt, und die Zwischenräume und Intervalle der Elemente einer „Galaxy“ sind ebenso wichtig wie die einzelnen Elemente selbst, weil die Zwischenräume fließend in den Umraum übergehen und sich mit diesem verbinden1177. Diese Bild- bzw. Raumkomposition ermöglicht es, dass der Betrachter zu einem Gehenden1178 wird (werden muss, um die „Galaxy“ Bild für 1171 Vgl.
Löw, Martina: Raumsoziologie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001. Dieter (Hg.): Friedrich Kiesler, 1890–1965, a. a. O. 1997, S. 10 f. 1173 Zum Entwurfsinstrument Diagramm siehe Kapitel 3.2.1 der vorliegenden Arbeit. 1174 Kiesler, Friedrich: „On Correalism and Biotechnique“, in Architectural Record, New York 09/1939, abgebildet auch in Bogner, Dieter/Boeckl, Matthias: Friedrich Kiesler, a. a. O. 1988, S. 92 f. 1175 Friedrich Kiesler: „Manifeste du Corréalisme“, in: L’Architecture d’Aujourd’hui, Paris 1949. 1176 Ebd. Siehe auch Bogner, Dieter (Hg.): Friedrich Kiesler, 1890–1965, a. a. O. 1997, S. 14. 1177 Friedrich Kiesler in einer Notiz, auf die Bogner verweist (ebd., S. 16). 1178 Vgl. Kapitel 3.2.4 der vorliegenden Arbeit sowie de Certeau, Michel: Kunst des Handelns, a. a. O. 1988 (1980). 1172 Bogner,
4 Sprossachsen 273
Bild wahrnehmen bzw. in ihrer Ganzheit1179 erfassen zu können). Auf eine Fernsicht sind die „Galaxies“ nicht angelegt, ihr Sinn1180 liegt vielmehr darin, von Nahem1181 betrachtet werden zu wollen, wodurch die gesetzten Zwischenräume und Intervalle zu denen des sich fortbewegenden Rezipienten werden/sich übertragen: Es entstehen Zeitabstände im (Ausstellungs-)Raum, er wird durch die „Stops and Goes“1182 des Rezipienten getaktet und zeitlich gestaltet. Der Raum zwischen den Einzelelementen im Bild und der, der durch den Betrachter geschaffen wird, sind demnach keine leeren Räume, sondern als Felder und Rauminklusionen zu verstehen, die sich durchdringen und Umräume bilden. So kann auch Kieslers Bildverständnis als szenotopisch bezeichnet werden, denn in seinen „Galaxies“ sind Bilder „dezentralisierte Komposition[en]“1183, die sich als relationale Raumgefüge konstituieren. Aus heutiger Sicht könnte man Kieslers szenografische Arbeiten auch als Environments bezeichnen.
1179 Vgl. Kapitel 3.1.4 der vorliegenden Arbeit sowie Lotman, Jurij M.: Vorlesungen zu einer strukturalen
Poetik, a. a. O. 1972b.
1180 Vgl. Cassirer, Ernst/Orth, Ernst Wolfgang (Hg.): Symbol, Technik, Sprache: Aufsätze aus den Jahren
1927–1933, Hamburg: Meiner 1985, S. 93–119.
1181 Vgl. Kapitel 3.2.4 der vorliegenden Arbeit sowie Riegl über die nahsichtige Anschauung und den
haptischen Raum, in: Riegl, Alois: Spätrömische Kunstindustrie, Wien: Österreichische Staatsdruckerei 1927 (1901), S. 32 ff. 1182 Vgl. die Vorgänge im Projekt „Ghost Machine“ von Cardiff/Miller, wie sie in Kapitel 3.2.3 beschrieben sind. 1183 Friedrich Kiesler in einer Notiz, in: Bogner, Dieter (Hg.): Friedrich Kiesler, 1890–1965, a. a. O. 1997, S. 16.
274 Szenosphäre & Szenotopie
4.4 Rauminstallation – Environment: Janet Cardiff & George B. Miller
Das Projekt „Ghost Machine“ von Cardiff/Miller1184 ist ein Hör- und Sehgang durch das Berliner Hebbel-Theater, aufgeführt 2005. Es spielt im und mit dem Spannungsfeld zwischen Bild und Bühne, Bühne und Raum, Raum und Bewegung, Bewegung und Wahrnehmung, Wahrnehmung und Erkenntnis. Raum konstituiert sich durch bzw. als ein audiovisueller „videowalk“, den der Besucher durch das Theater unternimmt und der für ihn über eine Videokamera und eine immersive Tonspur erfahrbar wird. Das Stück trägt zur Erkundung des ästhetischen Potenzials „der Überlagerung von Informations- und physischem Raum“1185 bei, womit zugleich Produktionsverfahren und Wahrnehmungsformen der (insbesondere mit Medien arbeitenden) Szenografie in den Untersuchungsfokus rücken. Auch hier geht es, ähnlich wie bei Friedrich Kieslers „Raumbühne“ und „Raumstadt“, um die Gestaltung und Wahrnehmung eines räumlichen Gefüges. Denn Raum wird als ein Ereignis inszeniert und als Ensemble erfahrbar, dessen reale und mediale Elemente in relationaler Beziehung zueinander stehen. Darüber hinaus kommt es (vgl. Kapitel 4.2) auch bei „Ghost Machine“ zu einer Überlagerung von Raum und dynamischer (Bild-)Information an der Schnittstelle zwischen realer Räumlichkeit und medialer Bildwirklichkeit. Die Inszenierung wird im Folgenden in Ausschnitten vorgestellt und untersucht, obwohl Teile daraus bereits in Kapitel 3 in Auszügen analysiert wurden. Es geht darum, die bisher gewonnenen Erkenntnisse im Hinblick auf ihre Implikationen für die Leitfrage der vorliegenden Arbeit zu fokussieren. An der Eingangsgarderobe erhält jeder Besucher eine Videokamera mit Kopfhörern, und mit Beginn des Films startet jeder seinen Rundgang, den er allein durch die Räume des Theaters beschreitet. Die Tonspur des Films ist eine binaurale Tonaufnahme bzw. Kunstkopfstereofonie, die eine sehr gute Richtungslokalisation der Schallereignisse erzielt und eine immersive räumliche Akustik vermittelt. Auf dem Rundgang hat der Besucher den Kopfhörer auf und hält die Kamera vor sich, mit der er jedoch nicht selbst filmen kann. Auf dem Kameradisplay sieht er die Bilder eines laufenden (vorproduzierten) Films und vernimmt 1184 Janet
Cardiff (geb. 1957) und George Bures Miller (geb. 1960) sind Installationskünstler und Filmemacher. Die Premiere von „Ghost Machine“ erfolgte im Jugendstiltheater „Theater Hebbel am Ufer“ (HAU1) in Berlin im Dezember 2005; die Arbeit gehörte mit zum Rahmenprogramm der Berlinale (Wiederaufnahme im Juni 2010). 1185 Lev Manovich zufolge wird der physische Raum zu einem Datenraum, und als künstlerische Beispiele eines solchen Ansatzes nennt er den „videowalk“ von Cardiff/Miller. Die Überlagerung von Bild- bzw. Datenschichten erhält eine „3D-Qualität, die verbunden ist mit räumlichen Parametern der Navigation“, siehe www.medienkunstnetz.de/themen/medienkunst_im_ueberblick/ museum/21/(letzter Zugriff: 13.09.2011).
4 Sprossachsen 275
dabei über die Kopfhörer die Stimme einer Schauspielerin (in der deutschen Version die von Sophie Rois), welche die Geschichte, die auf dem Monitor zu sehen ist, erzählt und dazu Handlungsanweisungen gibt. Zuallererst nimmt der Besucher auf einem Stuhl vor einem Spiegel Platz, und auf dem Display sieht er eine Frau, die das Gleiche tut und dabei sagt: „Folge der Kamerabewegung des Films, den Du auf dem Kameramonitor siehst.“ Die Kamera zeigt also während des gesamten „videowalk“ Bilder, die entstünden, wenn der Besucher aus seiner Sicht filmen würde, sie nimmt durch diesen sogenannten Point-of-View-Shot die Position des Besuchers ein. Die „subjektive Kamera“ zeigt den Blick durch die Augen einer Figur, wodurch sich der Betrachter (hier Theaterbesucher) mit dieser Figur (hier der Frau vor dem Spiegel) identifizieren kann; er durchläuft aus dieser Perspektive den Film und zugleich die reale Theaterarchitektur. Die nachfolgenden Abbildungen1186 zeigen die Besucher-Perspektive (Person mit Kamera und Kopfhörer) und zwei Szenen aus „Ghost Machine“. Mit der Anweisung der Kopfhörerstimme, sich nun bitte auf den Weg zu machen, beginnt der Besucher seinen Rundgang, und die Frau im Display setzt sich gemeinsam mit dem Besucher in Bewegung. Sie spricht: „Seien Sie vorsichtig, hier geht‘s eine Stufe runter.“ Doch zügig driftet das, was über Kamera und Kopfhörer zu sehen und zu hören ist, mit dem auseinander, was im realen Raum zu sehen und zu hören ist: Man ist noch nicht weit gekommen, da sieht man z. B. auf dem Display, wie ein Bewusstloser auf die Seitenbühne weggeschleppt wird. Auf der medialen Ebene passieren also Dinge, die in diesem Moment im Realraum nicht zu sehen sind. Dieses Gestaltungsprinzip vermag es, hier eine unheimliche Szenosphäre evozieren zu lassen1187. Denn man ist inmitten eines Geschehens, das man weder optisch überblicken noch inhaltlich durchschauen kann: Es gibt weder eine Überschau (wie sie eine Vogelperspektive oder eine Guckkastenbühne bieten kann) noch Einblicke 1188, d. h. keine Hintergrundinformationen zum Bewusstlosen oder dazu, warum diese Szene, die man im Realraum nicht sieht, gezeigt wird. Es scheint, als habe man etwas übersehen oder als könne die Kamera mehr sehen als man selbst. Sobald diese kriminalistische Sequenz auf dem Display wieder erlischt, folgen Filmaufnahmen, die ankommende Theaterbesucher im Foyer zeigen. Im Gegensatz zur vorherigen Sequenz scheint sich dieser Anblick mit der Realität zu decken, denn wenn man den Blick hebt und über die Kamera hinwegschaut, sieht man den realen Raum des Foyers und tatsächlich ankommende Besucher. Dennoch bleibt 1186 ©
Janet Cardiff and George Bures Miller; Courtesy of the artists and Luhring Augustine, New York. Project „Ghost Machine“, 2005, Video walk, Duration: 27 minutes, Photo credit: 2005 © Thomas Aurin. 1187 Zur Herstellung von Atmosphären siehe Kapitel 3.1.1 der vorliegenden Arbeit. 1188 Zur Differenz zwischen dem Gesamtüberblick (den der Hersteller der Szenografie hat) und dem Raum- und Bildausschnitt (den der Besucher der Szenografie hat) siehe Kapitel 3.2.1 und 3.2.4 der vorliegenden Arbeit.
276 Szenosphäre & Szenotopie
Abb. 16 Ghost Machine, J. Cardiff & G. B. Miller
die Aufmerksamkeit erhöht und die vorherige Verschleppungsszene als offene Frage im Raum. Diese „Leerstelle“ ist aus gestalterischer und produktionsästhetischer Sicht jedoch genau jene „Füllmasse“, die den Imaginationsraum des Besuchers anspornt und zu nähren vermag1189. Während die Filmsequenz weiter ankommende Besucher zeigt und auch tatsächlich ankommende Besucher zu sehen sind, die mit ihrem Rundgang beginnen, wird man von der Frauenstimme in den Kopfhörern weitergeführt durch die Foyers und Außenbereiche. Im oberen Foyer wird man von der Stimme gebeten, nach außen zu gehen auf den Balkon1190. Man hört: „Siehst du den da gegenüber?“, und beginnt den 1189 Zur Emergenz von Bedeutung und wie Aufmerksamkeit, Assoziationen, Vorstellungen etc. beim
Rezipienten hervorgerufen werden können, siehe Kapitel 3.1.3 der vorliegenden Arbeit.
1190 Zu Theaterbauten und Theaterspielformen verschiedener Epochen, in denen ein direkter Anschluss
zum Umraum – der Stadt – gegeben war, siehe Kapitel 2.1 und 2.3 der vorliegenden Arbeit. Und
4 Sprossachsen 277
Verkehr, Autos und die Leute zu beobachten, die dort zu sehen sind: gehende oder auf dem Fahrrad vorbeifahrende oder an der Bushaltestelle sitzende Passanten, Bewohner der Stadt Berlin also, die zufällig an diesem Ort zu dieser Zeit anwesend, aber nicht an der Inszenierung beteiligt sind. Diese Unbeteiligten werden für den Theaterbesucher jedoch zu Mitspielern, mithin zu möglichen Verdächtigen, denn dass die Passanten (bis auf einen) keine Schauspieler sind, weiß der Besucher nicht, und die Verschleppungsszene, mit der er auf die verschiedenen Wahrnehmungsebenen von „Ghost Machine“ eingestimmt1191 wurde, ist noch in Erinnerung. Zudem sind über die Kopfhörer Verkehrsgeräusche zu hören, die sich mit jenen des realen Verkehrs akustisch decken, und so entsteht der Eindruck, als stünde man dort unten mit auf der Straße oder fahre gar in einem Auto. Die akustische Ebene vermag es also, die optische Distanz zu verkürzen und damit den Besucher gefühltermaßen an einen anderen Ort zu (ver)setzen: vom Balkon nach unten inmitten1192 des Geschehens. Darüber hinaus kommt ein weiteres intentionales Gestaltungsmittel zum Einsatz, nämlich die Nahaufnahme 1193: Die Kopfhörerstimme fordert den Besucher auf, heranzuzoomen, und die Stimme sagt: „Ich habe Dich gesucht.“ Dann vergrößert der Film von ganz alleine auf einen Mann, und man erkennt diesen als den Bewusstlosen wieder, der zu Beginn des Stückes anscheinend gekidnappt wurde. Die Audiospur und die Bildebene (die hier den Raum optisch abtastende Bildeinstellung1194) machen den Besucher somit nicht nur zu einem Mitspieler, sondern sie können ihn auch zu einer Art Mitwisser im Spiel mit dem Erscheinen und Verschwinden von Dingen oder Menschen machen, d. h. ihm eine bestimmte Rolle zuweisen, sodass er dramaturgisch ins Geschehen und in verschiedene Zeitebenen verstrickt wird. Im weiteren Verlauf der Szene wird der Besucher aufgefordert, wieder in das Theaterhaus hineinzugehen und den Balkon zu verlassen. Im Zuschauerraum angelangt, sagt die Stimme im Kopfhörer: „Manchmal kommt es mir vor,
zur Kontiguität des Theaters als Illusionsraum zum unmittelbaren Umfeld, d. h. zur Stadt und damit zum Leben, siehe die Einleitung zu Kapitel 4. 1191 Vgl. Lemma „Einfühlung“ in: Fischer-Lichte, E./Kolesch, D.: Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart/Weimar: Metzler 2005, S. 85. „Die wesentliche Erweiterung des Verständnisses von Einfühlung liegt darin, dass diese nunmehr auch auf das Verhältnis zwischen Mensch und durch die Wahrnehmung gegenwärtigen Objekte … bezogen wird“ (siehe auch Lemma „Atomsphäre“). Siehe auch Kapitel 3.1.1 der vorliegenden Arbeit. 1192 Zu Szenografien, die nicht auf Distanz, sondern auf ein Sein im Geschehen zielen, vgl. Petra Maria Meyer: „Der Raum, der Dir einwohnt“, in: Bohn, Ralf/Wilharm, Heiner (Hg.): Inszenierung und Ereignis: Beiträge zur Theorie und Praxis der Szenografie, Bielefeld: transcript 2009, S. 113. 1193 Zur Nahaufnahme im Film siehe Kapitel 3.2.3 und 3.2.4 der vorliegenden Arbeit; darin vgl. auch das „Affekt-Bild“ bei G. Deleuze. 1194 Vgl. Riegls Begriffspaar „nahsichtige Anschauung – haptischer Raum“ in Kapitel 3.2.4 der vorliegenden Arbeit.
278 Szenosphäre & Szenotopie
als gerate ich in eine Zeitfalte“1195, wobei man gerade über eine Treppe in den zweiten Rang steigt, wie es die Anweisung verlangt. Dabei kann die Botschaft der Kopfhörerstimme als eine Art verschlüsselte Nachricht aufgefasst werden, und Gegenwärtiges, Vergangenes und Zukünftiges scheinen hier ineinanderzugreifen. Der Parcours, den der Besucher weiter durchläuft, führt auch „backstage“, d. h. in den Betriebsbereich und z. B. in Künstlergarderoben, man könnte sagen, in den Arkan-Bereich also. Hinter was der Besucher hier schauen darf – hinter die Fassade des Theaters oder hinter die der inszenierten Geschichte –, bleibt jedoch ungeklärt, was zur Spannung und zu den Szenosphären des Stücks beiträgt. Mittels der hier von den Künstlern Cardiff und Miller eingesetzten szenografischen Gestaltungsmittel kommt es erneut zu einer Durchdringung von Realem und Medialem/Virtuellem, nämlich dergestalt, dass sich akustische Schritte (aus den Kopfhörern) mit den eigenen Schritten (denen des Besuchers) überlagern. Dabei kann der Besucher dahingehend affiziert werden, dass er ein leibliches Betroffensein1196 spürt, was möglicherweise ein Handeln seinerseits auslöst und vom Szenografen mithin beabsichtigt ist. Aus dem Gefühl heraus, verfolgt zu werden, kann es zu einer schnelleren Gehgeschwindigkeit kommen, womit der Besucher dann zur Zeitgestaltung des Stücks beiträgt, was wiederum Auswirkungen auf die Synchronisation von Video- und Realbild hat und ein weiteres Spannungsmoment öffnet: Einerseits möchte man das Kamerabild mit der realen Umgebung in Deckung bringen, andererseits ist es durch die schnelleren Schritte und den dadurch erzielten optischen Vorsprung aber umso schwieriger, Video- und Realbild abzugleichen. Will man dem Stück und den Anweisungen folgen, ist man sozusagen gezwungen, die akustischen Schritte, d. h. die unsichtbare Person im nahen Umraum zuzulassen. Damit veranschaulicht sich zugleich auch die szenografische Situations- und Erlebnisgestaltung1197. Die beim Besucher entstandenen „Bewegungsmotivationen“1198 begründen sich hier durch die vom Szenografen eingesetzten medialen und räumlichen Mittel, die 1195 Zu Zeiträumen, Raumzeiten und Ereignissen, die einen Raum besetzen können, siehe Kapitel 3.2.3
der vorliegenden Arbeit. Schmitz, Hermann: Was ist Neue Phänomenologie?, Rostock: Ingo Koch 2003. Siehe auch Kapitel 3.1.1 der vorliegenden Arbeit. 1197 Zum Raum-Erleben des Menschen vgl. von Dürckheim, Karlfried: Untersuchungen zum gelebten Raum: Erlebniswirklichkeit und ihr Verständnis, München: Beck 1932. 1198 Fromm, Ludwig: Die Kunst der Verräumlichung, Kiel: Muthesius Kunsthochschule 2009, S. 66 f. (Bd. 7 der Reihe „Gestalt und Diskurs“). Der Wahrnehmende vergegenwärtigt Raum durch seine Körperorientierung, und dabei entsteht eine Situation, die z. B. durch die Beziehung von Nähe und Ferne (dem Hier und Dort) bestimmt wird, durch Momente also. „Aus der Differenz zwischen nah und fern kann sich ein Programm entwickeln (das etwas so oder anders sein möge), das in einem Motiv, in einer Motivation mündet, zum Beispiel die Ferne zu besetzen. … Der Grund für eine Entscheidung kann im Dort gesucht werden, das es zu erreichen gilt. Als Ursache kommt aber auch das Hier in Frage, das zu verlassen geraten scheint.“ 1196 Vgl.
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als Situationen und Bedeutungen „im Sinne von Möglichkeitsstrukturen … als räumliche Angebote existieren“1199. Im weiteren Verlauf der Inszenierung und schließlich auf der Bühne angekommen, ist es dort sehr dunkel und finster, und in dieser Szenosphäre, die als geheimnisvoll empfunden werden kann, hört man plötzlich aus den Kopfhörern die Stimme eines Schauspielers, die den Besucher sozusagen „beschleicht“: In einem verstörten Tonfall flüstert die Stimme leise, aber eindringlich ins Ohr: „Hilf mir!“ Erschrocken dreht man sich in die Richtung, aus der die Stimme kommt, doch niemand ist zu sehen. Auch hier werden also räumliche und mediale Gestaltungsmittel eingesetzt, die zum einen gefühls- und stimmungsbildend sind und zum anderen eine Szenotopie, d. h. Räumlichkeit hervorbringen, die sich durch bzw. als ein sich bedingendes Beziehungsgeflecht (Bild, Raum, Mensch) begründet und Raum als eine beliebige Größe versteht. In der zweiten Hälfte des Stückes setzen sich diese Gestaltungsmittel fort, darüber hinaus tritt die Krimi-Ebene zugunsten eines theatralen Spiels von Abund Anwesenheit in den Hintergrund. Beispielsweise wird derjenige Besucher, der gerade auf der Bühne steht, zum Blickpunkt für andere Besucher, und da man nicht weiß, ob er möglicherweise ein Schauspieler ist, wird er zu einem Akteur mit dramaturgischer Funktion. Im weiteren Spielverlauf tritt der Besucher noch einmal auf die Bühne, die nun – anders als in der oben ausgeführten Szene – nicht dunkel und finster ist, sondern hell erleuchtet. Die Augen sind geblendet vom Gegenlicht der Scheinwerfer, die von der Beleuchtungsbrücke strahlen, und der Zuschauerraum, der vor einem liegt, ist nicht zu erkennen. In Lichtspots gesetzt, fühlt man sich nicht nur beobachtet, sondern es geht von dieser Situation auch ein unangenehmes Gefühl des Nackt- und AusgeliefertSeins aus, denn aus dem Zuschauerraum ist das Gelächter eines Publikums zu hören, dessen Reaktion nicht einzuordnen ist. Durch die Lichtgestaltung und das Publikum wird die Trennung zwischen Bühne und Zuschauerraum betont und zugleich der Raum, in dem der Besucher steht (die Bühne), als konkreter Spielort markiert bzw. dem Besucher als ein solcher bewusst gemacht. Der Besucher begegnet hier sich selbst und seiner eigenen Gegenwart. Diese wird ihm „auffällig“; die Präsenz, die dabei zum einen erzeugt wird, kann zum anderen „zugleich als Darbietung von Präsenz verstanden werden“, und es kommt zu einer „Dramatisierung“ dieses Verhältnisses.1200 Schnell will man die Bühne verlassen, einige Stufen führen hinunter in den Zuschauerraum, doch dort angekommen erkennt man, dass dieser leer ist: Ein reales Publikum existiert gar nicht, die Sitzreihen sind leer. Akustisch ist der Raum hingegen übervoll und 1199 Ebd.,
S. 68 f.
1200 Martin Seel: „Inszenieren als Erscheinenlassen“, in: Früchtl, Josef/Zimmermann, Jörg (Hg.): Ästhetik
der Inszenierung: Dimensionen eines künstlerischen, kulturellen und gesellschaftlichen Phänomens, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001, S. 60. Siehe auch Kapitel 3.1.2 der vorliegenden Arbeit.
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es hört sich an, als wären Hunderte präsent. Nach einiger Zeit wandelt sich das Gelächter allmählich in Applaus, die Szenosphäre entspannt sich und man fühlt sich nun integrierter, weil man Teil des imaginären Publikums geworden ist: Man schaut mit distanziertem Blick auf die Bühne und fängt an, mitzuapplaudieren. Nach insgesamt ca. 30 Minuten ist das Stück zu Ende und mit ihm der Film, der gelaufen ist. Die Stimme bittet nun darum, Kamera und Kopfhörer wieder an der Garderobe abzugeben. Vor dem Hintergrund dieser Darlegungen kann gesagt werden, dass das Kunstereignis „Ghost Machine“ zwischen technischen Medien, Kunst und Theater spielt und sich im Spannungsfeld zwischen „Spiel-Kultur, Kultur- und Theater-Kontext, Theater-Spiel“1201 sowie zwischen Hör-Spiel und Spiel-Film bewegt. Doch es ist keine kollektive Theatererfahrung an einem Ort zur selben Zeit, die der tradierten Raumorganisation folgt, ein Ereignis gemeinsam im Zuschauerraum zu erleben. Es ist vielmehr eine „ästhetische Erfahrung“1202, der individuell atmosphärische wie reflexive Momente eingeschrieben sind und in der sich die Rolle des Zuschauers in eine Besucher- und Akteursrolle transformiert. Der Besucher wird zu einem aktiv Handelnden, und durch seine körperliche Fortbewegung und (leibliche) Wahrnehmung wird der „videowalk“ als eine Erlebnisräumlichkeit erfahrbar. Dabei vollzieht sich die Ineinanderblendung von Sichtbarem und Hörbarem vielschichtig, und sie kann im engeren Sinne als intermedial bestimmt werden, da es zu hybriden Verbindungen, Verschiebungen, Differenzen und Übergängen zwischen Bild-, Ton- und Realitätsebenen kommt. Dadurch können Transformationsprozesse und Übersetzungsleistungen des Besuchers und einzelner Medien hervorgebracht werden und kann sich das Spiel mit der Wahrnehmung und Realität, das „Ghost Machine“ thematisiert, ermöglichen. Die visuellen und akustischen Ebenen entspringen dabei zwei Informationsräumen: zum einen dem medialen Raum (Kamera/Kopfhörer) und zum anderen dem Realraum (Theaterumgebung), den der Betrachter durchläuft. Sie überlagern und durchdringen sich, und diese beiden Räume (Räumlichkeiten) verschmelzen zu einer Art erweiterter Realität im Sinne einer erweiterten Wahrnehmung – „augmented space“ –, wie sich im Anschluss an Lev Manovich sagen lässt1203. Die Sinne des Rezipienten (der wie üblich im 21. Jahrhundert die 1201 Lemma „Theatrales Ereignis“, in: Fischer-Lichte, E./Kolesch, D.: Metzler Lexikon Theatertheorie,
a. a. O. 2005, S. 94.
1202 Lemma „Ästhetische Erfahrung“, ebd., S. 94, 100 f. Als eine Schwellenerfahrung, in der „Rahmen
aufgerufene[r] Regeln, Normen, Ordnungen“ aufgebrochen werden können, steht die ästhetische Erfahrung, „die Dinge in ihrem momentanen und simultanen Erscheinen wahrnimmt“, der lebensweltlichen Erfahrung gegenüber. 1203 Manovich, Lev: The Poetics of Augmented Space: Learning from Prada, 2002 (updated 2005), als PDF auf http://manovich.net/index.php/projects/the-poetics-of-augmented-space (letzter Zugriff: 10.11.2012). Manovich schreibt (S. 13): „In my view … her ‚walks‘ represent the best realization of the augmented space paradigm so far. They demonstrate the aesthetic potential of laying new information over a physical space.“
4 Sprossachsen 281
spatiale Hermeneutik der Welt verkabelt wahrnimmt und transmedial zu begreifen versucht) verlieren sich dabei nicht in theatraler Illusion, sondern oszillieren zwischen Information, Fiktion und Realität. „Ghost Machine“ ist zwar keine „augmented reality“, wie wir sie herkömmlich z. B. aus GPS-Anwendungen oder iPhone-Apps kennen (in denen computergenerierte Zusatzinformationen oder virtuelle Objekte mittels Einblendung auf das Monitorbild/Interface geschichtet werden)1204, doch arbeitet die – dem Titel nach – „gespenstische Theater maschine“ mit ähnlichen Prinzipien. In „Ghost Machine“ zeigt sich Raum nicht nur als ein Informationsraum, sondern auch als eine Inszenierung, in der die Wirklichkeit durch Informationsstrukturen verdichtet wird. Dabei lagern elektronische Ebenen, in denen Raum über digitale Bildräume erfahrbar wird, über dem analogen physischen Erfahrungs- und Architekturraum. Die Arbeit von Cardiff/Miller inszeniert damit das, womit wir selbstverständlich und alltäglich konfrontiert sind: die Situation, dass unsere Lebensrealität aus mehreren Schichten besteht. Die Künstler kreieren damit eine Verständigungs- und Sinnsphäre, die unsere Erfahrungswelt in ein Phänomen und Strukturmodell übersetzt1205, in dem Raum als ein Gebilde modularer Verhältnisse verstanden wird. Lebensweltliche Erfahrung kann hier zu einer ästhetischen Erfahrung1206 werden. Diese Schichten wirksam zu kreieren, ist nicht nur Aufgabe szenografischer Gestaltungsarbeit, sondern vor allem auch eine künstlerische Auseinandersetzung mit heutigen Raumvorstellungen und -verständnissen, deren Untersuchung im Hinblick auf eine topologische Bestimmung von Raum zu weiteren Erkenntnissen führt. „Ghost Machine“ kann als eine künstlerisch mediale Erweiterung der Realitätswahrnehmung verSiehe auch Lev Manovich/Tristan Thielemann: „Geomedien: Raum als neue Medienplattform? Ein Interview mit Lev Manovich“, in: Döring, J./Thielmann, T. (Hg.): Mediengeographie, Bielefeld: transcript 2009, S. 394 f. 1204 In dem erwähnten Interview mit T. Thielmann betont Manovich, dass es weniger um den „erweiterten Raum“ als vielmehr um „erweiterte Wahrnehmung“ geht. Die Frage, ob er den „spatial turn genau auf das Phänomen [bezieht], dass einerseits durch Google Earth und Google Maps ‚echte‘ topographische Daten verfügbar gemacht werden und wir es andererseits hierbei aber eigentlich mehr mit 3D- statt mit 2D-Bildern zu tun haben“, bejaht Manovich. Er erläutert, dass hier „[d]reidimensionale Räume … eine Art Plattform [sind], auf die man verschiedene Grafiken und flache Bilder genauso wie dreidimensionale Objekte platzieren kann“, und „auch wenn das Ergebnis wie 2D aussehen mag, [ist] die zugrundeliegende Logik dieser Bilder – ihre Ästhetik und oft nur partiell vorhandenen visuellen Narrationen – … 3D“. Manovich zufolge unterscheidet sich der heutige spatial turn gegenüber dem der 1990er Jahre dadurch, dass heute der reale Raum das Interessante und Wichtige ist. „Andererseits gibt es bei den Künstlern, Designern und Unternehmern aber auch ein wachsendes Interesse, Prozesse in Diagrammen abzubilden.“ Zum Thema spatial turn und topological turn siehe Kapitel 3.2 der vorliegenden Arbeit; zum Thema Diagramm vgl. Kapitel 3.2.1, und zum Thema Bildlogik und Bildlichkeit als Materialität vgl. Kapitel 4.2. 1205 Zur modellierten Ganzheit und zu Jurij Lotmans „Kunst als sekundäres modellbildendes System“, zu seiner „strukturalen Poetik“ und „Semiosphäre“ siehe Kapitel 3.1.4 der vorliegenden Arbeit. 1206 Siehe Lemma „Ästhetische Erfahrung“, in: Fischer-Lichte, E./Kolesch, D.: Metzler Lexikon Theatertheorie, a. a. O. 2005, S. 94, 100 f.
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standen werden, in der sich Raumbilder in Verschränkung mit Videobildern zu fiktiven und imaginären Bildräumen anreichern und erweitern (und umgekehrt). Die „Poetiken“ eines solch angereicherten Raumes, wie Manovich sie nennt1207, liegen in der Überlagerung von Raum und dynamischer Information verborgen und fügen sich zu einer phänomenologischen Gestalt im Spannungsfeld zwischen physischem Raum, Hörraum und gefilmtem, durch den Monitor beobachteten Raum („monitored space“). Der „videowalk“ entfaltet sein „ästhetisches Potential in der Überlagerung von Informations- und physischem Raum, und seine Energie liegt in der Interaktion zwischen diesen beiden Räumen – zwischen Vision und Hören und zwischen Gegenwart und Vergangenheit“.1208 Seine Kraft wird also durch räumliche Relationen hervorgebracht, und seine Räumlichkeit kann somit als eine topologische und relationale und „Ghost Machine“ als eine Szenotopie bestimmt werden. Dabei kommen Verfahren zum Einsatz, wie sie bereits die Theaterwissenschaft zur Untersuchung der „Ästhetik des Performativen“1209 herausgearbeitet hat und die in „Ghost Machine“ zum Tragen kommen: die Verwendung variabler Arrangements, welche neue Möglichkeiten der Aushandlung von Beziehungen (Akteure und Zuschauer, Bewegung und Wahrnehmung) vorsehen, und Umnutzungskonzepte (Räume werden nicht wie vorgesehen genutzt, sondern anders)1210. Der Raum, in dem sich „Ghost Machine“ als Ereignis abspielt, der Theaterraum also, versteht sich als ein performativer Raum, denn er verändert sich durch jede Bewegung des Besuchers oder durch Licht und Laute etc.1211. Und die dadurch entstehende Räumlichkeit, die sich durch Überblendung von realen und imaginierten Räumen (und von medialen Räumen wie in „Ghost Machine“) realisiert, „weist so den performativen Raum als Zwischenraum aus“1212. Dieser Zwischenraum entfaltet sich in der Zeit und kann als Intervall, d. h. als jener Zeitraum1213 verstanden werden, der diese drei Räume in „Ghost Machine“ in Relation setzt, zu einem Kontinuum verbindet und von dem die Kopfhörerstimme im Ohr als Zeitfalte spricht, in die der Besucher in der besagten Szene gerät. 1207 Manovich,
Lev: The Poetics of Augmented Space, a .a. O. 2002. Zur Beziehung zwischen der Struktur eines Raums und seiner Poetik vgl. Bachelard, Gaston: Poetik des Raumes, München: Hanser 1960. 1208 Manovich, Lev: The Poetics of Augmented Space, a. a. O. 2002, S. 13. 1209 Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004. Siehe auch Kapitel 3.1.3 der vorliegenden Arbeit. 1210 Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, a. a. O. 2004, S. 192. 1211 Ebd., S. 187. Als Hör-Raum verliert er seine Grenzen; sie öffnen sich in den umgebenden Raum, der durch Laute, Geräusche, Stimmen in den performativen Raum dringt (S. 216). Die Stimme tritt als Räumlichkeit in Erscheinung, weil sie sich als Laut im Raum ausbreitet (S. 226). 1212 Ebd., S. 199. 1213 Siehe Kapitel 3.2.3 der vorliegenden Arbeit.
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Die akustische Dimension dieser gespenstischen Theatermaschine weist mindestens drei Geräuschtypen auf, die atmosphärisch wirksam sind. Ludwig Fromm hat verschiedene Geräuschtypen in seiner Schrift „Die Kunst der Verräumlichung“ analysiert, und wie sich im Anschluss an ihn sagen lässt, können insbesondere durch Präsenzgeräusche, Ambient und durch technische Mittel erzeugte Geräuscheffekte Atmosphären evoziert werden.1214 Präsenzgeräusche vermitteln den „Widerhall des Physischen im Raum“, wie Fromm ebenda schreibt. Im Projekt „Ghost Machine“ sind es, wie oben beschrieben, z. B. die eigenen Schritte im Raum oder die einer unsichtbaren Person. Die zweite Kategorie „Ambient“ macht Innenarchitektur auf klanglicher Ebene und als eine Umgebungsqualität erfahrbar, sie ermöglicht „räumliche Effekte, Geräusche, die durch Einleibung atmosphärisch wirken“1215 und affizieren. In „Ghost Machine“ ist Raum in Klang z. B. in dem Moment gefasst, wenn man sich im oberen Foyer befindet (bevor man auf den Balkon tritt) und neben der Kopfhörerstimme auch Bar-Geräusche, Hintergrundmusik, Gläserklingen und Publikumsgespräche wahrnimmt. Und die dritte Kategorie (Fromm führt als Beispiel die Orgel in der Kirche sowie heutige Sound- und Lichtanlagen in Diskotheken an) vermag es, Raum durch Licht und Schall aufzulösen1216. Bei „Ghost Machine“ ist dies z. B. in der Szene der Fall, wo sich der Publikumsraum in Licht (der Besucher auf der Bühne wird geblendet) und Gelächter verflüchtigt. Die Akustik- und Bildräume, die über den Realraum gelagert – man könnte auch sagen, szeno-graphiert, d. h. geschrieben1217 – werden, erhalten eine Qualität, die nicht mehr innerakustisch und innerbildlich als Diegese zu denken ist, sondern als räumliche Eigenschaften, und so wird die Komposition und Struktur von konstruierter filmischer Zeit als eine Räumlichkeit offenbar, die sich in den Realraum fortschreibt. Dabei wird der Besucher in reale, mediale, fiktive und imaginäre Wirklichkeitssphären und Zeitebenen verwickelt1218 – letztlich in das, „was auch als Gegenwart im Alltag bereits [heute] erfahrbar ist: die zunehmende Überlagerung und Durchdringung realer und fiktiver, physikalischer und elektronischer Räume zu einem wirksamen Kommunikations- und Handlungsraum, der als eine erweiterte Wirklichkeit mit eigenem Wahrheitsanspruch
1214 Fromm, Ludwig: Die Kunst der Verräumlichung, Kiel: Muthesius Kunsthochschule 2009, S. 121–
127 (Bd. 7 der Reihe „Gestalt und Diskurs“) sowie dort das Kapitel „Auditive Szenographie“ (S. 128–130). 1215 Ebd., S. 123. 1216 Ebd., S. 126. 1217 Zum „Zwischenzeiligen“ und zur Szenografie als eine Raumsprache bzw. -schrift siehe Kapitel 3.2.2 der vorliegenden Arbeit. 1218 Siehe auch die Ausführungen in Kapitel 1 zu meiner Bühnengestaltung für das Projekt „Orte der Sehnsucht“.
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anspruch erlebt wird“.1219 Damit stehen grundlegende Wahrnehmungsmuster und Denkstrukturen zur Disposition, die experimentell infrage gestellt und in „Ghost Machine“ zu einem heterotopologischen Erfahrungsraum1220 inszeniert werden. Als ein ortsspezifisches Kunstereignis entsteht die Arbeit von Cardiff/ Miller jedoch weniger „als Resultat der Interaktion zwischen Darstellern und Zuschauern“1221 denn vielmehr als Ergebnis der Interaktion zwischen User (Besucher) und Medium, in dem die Bewegung in Form von Gehen1222 als Erkundungsinstrument und Produktionsprozess1223 eingesetzt wird. „Ghost Machine“ kann in dieser Bestimmung als eine Art „inszenierter Programmraum“1224 verstanden werden, der als ein solcher zum Ziel hat, Kontext(e) zu schaffen mit den künstlerisch gestalterischen Mitteln der „Atmosphärenkonstruktion“1225, also mit szenosphärischen, sowie mit Mitteln der Konstruktion von Räumlichkeiten und Relationen, also szenotopischen.
1219 Pamela C. Scorzin: „Vom Realwerden des Imaginären und Irrealisieren des Realen“, in: Brejzek,
T./Greisenegger, W./Wallen, L.: Space and Truth = Raum und Wahrheit, Zürich: ZHdK 2009, S. 138–149, hier S. 148. Sie untersucht die Illusionsräume von Cardiff und Miller. 1220 Vgl. Foucaults Grundsätze zu Heterotopien, die sich als topologische Räume auszeichnen, in: „Von anderen Räumen“, in: Günzel, Stephan/Dünne, Jörg (Hg.): Raumtheorie: Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006, S. 324. Siehe auch Kapitel 3.2.1 der vorliegenden Arbeit. 1221 Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, a. a. O. 2004, S. 47. 1222 Vgl. Michel de Certeau, der den Raum als ein Geflecht von beweglichen Beziehungen sieht: „Insgesamt ist der Raum ein Ort, mit dem man etwas macht“, mit dem Hinweis, dass bereits Merleau-Ponty zwischen dem geometrischen und anthropologischen Raum unterschieden habe. Michel de Certeau: „Praktiken im Raum“, in: Günzel, Stephan/Dünne, Jörg (Hg.): Raumtheorie, a. a. O. 2006, S. 345. Siehe auch Kapitel 3.2.4 der vorliegenden Arbeit. 1223 Vgl. Henri Lefebvre, der drei Raumverhältnisse benennt: räumliche Praxis, Darstellungen des Raums und darstellende Räume, in: Lefebvre, Henri: The production of space, Oxford [u. a.]: Blackwell 1991, S. 33. 1224 Fromm, Ludwig: Die Kunst der Verräumlichung, a. a. O. 2009, S. 103 f. 1225 Ebd. Der Begriff „Programm“ meint ein Konzept/Vorhaben. Die Form eines Programmraums folgt dabei der Funktion, wobei mit Funktion sinnstiftende Bedingungen gemeint sind, die Situationen und Beziehungen zwischen Menschen, Objekten, Szenen etc. ermöglichen. Ein „inszenierter Programmraum“ ist z. B. eine Ausstellung.
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5. Klimazonen und Ernte 5.1 Häuser und Ausblick Theaterneubauten seit den 1990er Jahren und aktuelle Entwicklungen1226 zeugen von einem zunehmenden Interesse an Theaterarchitektur und einem gewissen Bauboom, doch bleibt der Grundtypus des Guckkastens in den Theaterhäusern zumeist erhalten.1227 Vor diesem Hintergrund ist die Frage nach den Aussichten umso wichtiger: Wo gedeiht und findet die Szenografie – und mit ihr die Szenosphäre und Szenotopie – ihren Platz? Zu dieser Frage wird im Folgenden ein außergewöhnlicher Theaterbau von Joshua Prince-Ramus (REX) und Rem Koolhaas (OMA) vorgestellt, zudem sind ein Gespräch mit dem Theaterarchitekten Prof. Werner Ruhnau und ein Interview mit Dr. Ralf Hertling (tätig am Deutschen Schauspielhaus Hamburg) dokumentiert. Der Theaterbau von REX und OMA wurde 2009 in Dallas (USA) eröffnet, er verfügt über knapp 600 Plätze und ist eine von mehreren Spielstätten des dortigen AT&T Performance Center. Das Theater, benannt nach seinen Stiftern Dee und Charles Wyly, ist ein Neubau mit zwölf Stockwerken und insofern eine Innovation, als darin eine Architektur umgesetzt ist, die für die Avantgarde des 20. Jahrhunderts eine bauliche Vision geblieben war. Variable Raum- und Bühnenformen lassen entsprechend viele Möglichkeiten für Regie und Ausstattung zu und das Guckkastenprinzip als bisherigen Status quo hinter sich. Koolhaas kommentiert: „[W]e create a situation where the technologies of the stage define an infinite variety of theatre arrangements, from the completely open to the completely enclosed. … The Wyly uses a state-of-the-art ‚superfly‘ tower, able to efficiently move both scenery and seating, facilitating unprecedented flexibility and experimentation in the configuration of a theatre
1226 Roman Hollenstein: „Raum für Spiele – Entwicklungen und Tendenzen in der Theaterarchitektur“,
in: Detail, Musik und Theater. Zeitschrift für Architektur + Konzept, 3.2009, München: Institut für internationale Architektur-Dokumentation, 2009, S. 146-150. 1227 Ebd., S. 147. Traditionelle Rangsäle werden gebaut, obwohl durch bautechnische Errungenschaften weit mehr möglich wäre. Schon 1993 beim Lyoner Opernhaus „beugte sich Jean Novel dem Diktat der Tradition“. Es folgten Toyo Ito mit dem Performance Arts Center in Matsumoto 2004 oder das Büro Snohetta mit dem Opernhaus in Oslo 2008. Siehe auch Barbara Söldner/Tobias Söldner: „Große Kultur – Kulturbauten für das 21. Jahrhundert“, in Detail, Musik und Theater. Zeitschrift für Architektur + Konzept, a. a. O., mit ihrem Fazit (S. 153): „[S]tellt sich ... die Frage nach der Bespielung der Räume. ... Kann eine aufmerksamkeiterregende Hülle ohne adäquaten Inhalt ... allein durch Gastspiele von Superstars mit Bedeutung gefüllt werden?“
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space: proscenium, thrust, traverse, arena, studio, and flat floor arrangements can be set up in less than a day.“1228
Das Theater wurde für diese Leistung mit zahlreichen Ehrenpreisen ausgezeichnet. Abbildungen1229 zeigen, dass das Theater kein geschlossener (ummauerter) Baukomplex ist, sondern eine Architektur, die keine Trennung zum Umraum – Stadt – konstituiert. Um eine unmittelbare Verbindung zwischen Theater und Stadt zu schaffen, gibt es umlaufende Glasfronten, sodass die Stadtbewohner für die Theaterbesucher und umgekehrt zu Akteuren werden1230 und sozusagen „mitspielen“. Die Glasfronten gewähren den Stadtbewohnern wie Theaterbesuchern nicht nur einen Einblick ins Innere, sondern auch ins Technische des Hauses. Das, was normalerweise für Außenstehende unsichtbar bleibt, wird damit für Blicke geöffnet: die Bühnenmaschinerie. Das Sichtbargemachte zeigt nicht nur das Betriebssystem und technische Funktionsweisen, sondern das Theater zugleich als eine Maschine 1231, die zum einen außerhalb und zum anderen innerhalb desselben neue Rezeptionserfahrungen ermöglicht. Die zur Stadt hin geöffnete „macchina“1232 verbindet sich mit dem urbanen Getriebe 1233 und die Bühne mit dem Treiben der Metropole. Ohne Bühnenrückwand, sondern mit bzw. durch die Glasfronten – die offen bleiben oder verhängt werden können – bildet dabei die Stadt Dallas den Hintergrund für das (Bühnen-)Geschehen und bietet sich als Ausblick im Sinne einer optische Fortsetzung dar: „the city of Dallas as a backdrop“1234. Dieses Bild ist weniger als Metapher denn vielmehr als eine Metonymie zu verstehen, denn es steht als Teil für das Ganze1235. Innerhalb des Gebäudes und bezogen auf die Bühne-Zuschauer-Raumorganisation bieten sich der Wahrnehmung insofern neue Perspektiven, als die Bühnentechnik nicht nur für die Bühne einsetzbar ist, wie Fotos und Animatio-
1228 http://oma.eu/news/2009/wyly-theatre-opens-in-dallas
(letzter Zugriff: 15.02.2013). (letzter Zugriff: 15.02.2013). 1230 Vgl. die Glasfront des Musiktheaters im Revier Gelsenkirchen (MiR), das Werner Ruhnau in den 1950er Jahren gebaut hat; siehe dazu auch nachfolgendes Interview mit ihm. 1231 The „design transforms the building into a ‚theater machine‘“, http://www.rex-ny.com/work/ wyly-theatre (letzter Zugriff: 15.02.2013). 1232 Schon der (Theater-)Architekt und Ingenieur Nicola Sabbattini (1574–1654) veröffentlicht mit seiner zweibändigen Schrift Pratica di fabricar scene e macchine ne‘ teatri (1637 in Pesaro, 1638 in Ravenna) Abhandlungen über Bühnenmaschinerien, welche – für die damaligen Zuschauer jedoch unsichtbar – wundersame Verwandlungen auf der Bühne ermöglichen. Siehe Flemming, Willi (Übers. u. Hg.): Anleitung Dekorationen und Theatermaschinen herzustellen. Von Nicola Sabbattini, Weimar: Gesellschaft der Bibliophilen 1926. Siehe auch Kapitel 4.2 der vorliegenden Arbeit. 1233 Stadtplan und Google Street View zeigen das urbane Getriebe und das Treiben der Stadt: angrenzende Autobahnen und Straßenverkehr, Parkplätze und Passanten umgeben das Theater. 1234 Siehe http://oma.eu/projects/2009/dee-and-charles-wyly-theater (letzter Zugriff: 15.02.2013). 1235 Vgl. Kapitel 3.1.4. 1229 http://oma.eu/projects/2009/dee-and-charles-wyly-theater
5 Klimazonen und Ernte 287
nen1236 zeigen. Was Bühnenraum und was Zuschauerraum ist, ist nicht festgelegt, die Bühnenmaschinerie ist also für beide Bereiche gleichermaßen einsetzbar und bestimmt, was viele verschiedene Spielformen ermöglicht. Durch die Bühnenmaschinerie können auch die Besuchertribünen verschoben, gedreht, nach oben gezogen oder versenkt und die Besuchergalerien entfernt werden. Dadurch sind zahlreiche Anordnungen von Bühne und Besucherzone möglich: z. B. Guckkasten, Theatron (Hufeisenform, Halbrund oder -oval), Arena (Ringform), Traverse (flankierend), diverse andere Raumbühnenformen sowie eine leere Halle, die freie Bewegung im und durch den Raum, auch Ausstellungen, zulässt1237. Somit kann man sagen, dass die Bühnenarchitektur an die Konzeption des „leeren Raums“1238 anschließt bzw. ein solcher ist. Denn erst mit der Zuweisung durch Zonen, Bühnenaufbauten und Besucherflächen/-tribünen wird er zu einem Theaterraum – das, was er ist, wird er erst durch seinen Gebrauch. Durch diese Möglichkeit, verschiedene Raumbeziehungen zu schaffen, ist also eine variable Bühnentopografie möglich1239, und es können szenografische Gestaltungen, können Szenosphären und Szenotopien Raum finden. Zudem ist es durch die Wahl austauschbarer Materialien möglich, den Boden von Bühne und Auditorium beliebig zu verarbeiten, was einem Szenografen ganz neue Gestaltungsfreiheiten bietet. Die Oberflächen können geschnitten, gebohrt, lackiert, geschweißt, gesägt, genagelt, geklebt oder genäht werden1240. Durch eine kreative Nutzung solcher Möglichkeiten und der variablen Bühne-Besucher-Anordnung sind über das Visuelle hinaus auch neue haptische oder akustische Erfahrungen für das Publikum möglich und können neue Raumqualitäten entstehen – und somit Szenotopien realisiert und Szenosphären evoziert werden. Die Innovation des Baus liegt den Architekten zufolge letztlich im Konzept begründet, die üblicherweise neben- und hintereinanderliegenden Räume (Foyer, Zuschauerraum, Bühne, Vor- und Hinterbühnenbereich) nicht in der
1236 Siehe
http://oma.eu/projects/2009/dee-and-charles-wyly-theater (letzter Zugriff: 15.02.2013). Darüber hinaus verdeutlichen erläuternde Informationstexte die Konzeption des Theaters. 1237 Ebd. 1238 Vgl. den Entwurf von Adolphe Appia, der 1911 für das Festspielhaus Hellerau den ersten Spielraum ohne Trennung zwischen Bühne und Saal baute. Siehe dazu auch nachfolgendes Interview mit Werner Ruhnau, der formoffene Theaterbauten realisiert hat. 1239 Vgl. das „Podienklavier“ von Werner Ruhnau, das ebenfalls variable Bühnentopografien ermöglicht. 1240 Siehe http://oma.eu/projects/2009/dee-and-charles-wyly-theater (letzter Zugriff: 15.02.2013).
288 Szenosphäre & Szenotopie
Horizontalen anzuordnen, sondern das Theater in der Vertikalen zu organisieren: durch Stapelung1241, wie die nachfolgende Abbildung1242 zeigt.
Abb. 17 Wyly Theatre Dallas, Architekten REX und OMA
Zur eingangs gestellten Frage, wo szenografische Konzepte Raum finden können, und zur Beobachtung, dass auch bei Theaterneubauten zumeist die Bauform des Guckkastens gewählt wird1243, liefert Koolhaas‘ Antwort einen Ausblick. In einem Gespräch1244 auf die Frage zur gegenwärtigen Entwicklung in der Theaterlandschaft gibt er zu verstehen: „Es ist erschreckend, dass im 21. Jahrhundert alle neuen Theater ‚19.-Jahrhundert-Theater‘ werden, als ob das 20. Jahrhundert nie existiert hätte – ein großer Fehler.“ Zu Theaterbau- und Bühnenformen der Avantgarde des 20. Jahrhunderts wurde bereits in Kapitel 2 ausgeführt. 1241 Siehe
http://www.archdaily.com/37736/dee-and-charles-wyly-theatre-rex-oma (letzter Zugriff: 15.02.2013): „Instead of circling front-of-house and back-of-house functions around the auditorium and fly tower, the Wyly Theatre stacks these facilities below-house and above-house. This unprecedented stacked design transforms the building into a ‚theater machine‘, that ... extends the technologies of the fly tower and stage into the auditorium ... . Stacking the ... facilities ... also liberates the performance chamber’s entire perimeter. No longer separated by transitional and technical zones – such as lobbies, ticket counters, and backstage facilities – fantasy and reality can mix when and where desired.“ Siehe auch ein Interview von Carsten Krohn mit Rem Koolhaas: „Die Neuerfindung des Theaters“, in: db, deutsche bauzeitung. Zeitschrift für Architekten und Bauingenieure, 06.2011, LeinfeldenEchterdingen: Konradin Medien 2011, S. 50 ff. 1242 Diagram 1, Copyright OMA. Office for Metropolitan Architecture (OMA). Heer Bokelweg 149, 3032 AD Rotterdam, The Netherlands, www.oma.com. 1243 Siehe Roman Hollenstein: „Raum für Spiele – Entwicklungen und Tendenzen in der Theaterarchitektur“, in: Detail, Musik und Theater. Zeitschrift für Architektur + Konzept, a. a. O. 3.2009, S. 146–150. Siehe auch Barbara Söldner/Tobias Söldner: „Große Kultur – Kulturbauten für das 21. Jahrhundert“, in ebd., S. 151–155. 1244 Interview von Carsten Krohn: „Die Neuerfindung des Theaters“, in: db, deutsche bauzeitung, a. a. O. 06.2011, S. 52. Koolhaas führt fort: „Wir konnten mit unserem Entwurf nur fortfahren, weil wir belegten, dass auch eine traditionelle Organisation möglich ist.“
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Bevor noch einige weitere innovative Theaterneu- und -umbauten genannt werden und die Schlussinterviews folgen, kann festgehalten werden: „Was der Guckkasten gewesen ist, darüber belehrt uns die Theatergeschichte. Was er noch sein könnte, das zu erkunden wird Aufgabe einer innovativen Praxis sein.“1245 Zu den Neu- bzw. Umbauten in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, die auch nichttraditionelle Raumorganisationen ermöglichen, zählt z. B. die Berliner Schaubühne am Lehniner Platz, die 1981 im neuen Haus den Spielbetrieb aufnahm und „die als ein Ereignis der performativen Wende der sechziger Jahre gelten kann“1246. Das Theater beschreibt seine Architektur und Bühnenvariabilität (siehe nachfolgende Abbildung1247) wie folgt1248: Es gibt „keine Trennung zwischen Zuschauerraum und Bühnenbereich mehr, wie es in konventionellen Theatern der Fall ist, denn der Theaterraum kann überall als Zuschauer- wie auch als Bühnenfläche genutzt werden. Zwei große Rolltore ermöglichen es außerdem, den Gesamtraum von 67,5 m Länge und 21 m Breite in die drei Säle A, B und C zu unterteilen. In der Praxis können damit drei Vorstellungen nebeneinander stattfinden oder zwei oder alle drei Räume zu einem größeren Saal zusammengelegt werden. So lassen sich nicht nur sämtliche klassischen Theaterformen technisch realisieren – von der Guckkastenbühne über Transversale, große Arena, Opernbühne mit Orchestergraben bis hin zum Amphitheater oder einer Kabuki-Bühne –, das Haus ist außerdem für alle möglichen Bühnenexperimente, die noch kommen mögen, bestens aufgestellt.“ Neben der Berliner Schaubühne sind als Häuser, die variable Anordnungen von Zuschauer- und Spielflächen ermöglichen, z. B. auch das PodiumTheater in Ulm oder am Nationaltheater Mannheim, Staatstheater Mainz und Schauspielhaus Kiel jeweils die „Kleinen Häuser“1249 zu nennen. Zudem hat der Theaterarchitekt Werner Ruhnau variable Spielräume geschaffen an den „Kleinen Häusern“ am Theater Gelsenkirchen (1956–1959), in Münster (1971) und am Schauspielhaus Frankfurt (1978) sowie im Ebertbad
1245 Troller, Urs: Welche Bedeutung hat der Guckkasten für das Theaterspielen, da er immer noch da ist? In:
dramaturgie, Zeitschrift der Dramaturgischen Gesellschaft, Berlin: Dramaturgische Gesellschaft, 01/2010, S. 9. 1246 Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004, S. 191. 1247 © Schaubühne am Lehniner Platz Berlin. 1248 http://www.schaubuehne.de/de/seiten/hausarchitektur.html (letzter Zugriff: 12.11.2013). Siehe auch den auf der Homepage einzusehenden „Technical Reader“ (PFD-Format) zur Bühnentechnik, woraus auch die Abbildungen stammen. 1249 Vgl. Ruhnau, Werner: Versammlungsstätten, Gütersloh: Bertelsmann Fachverlag 1969. Siehe auch Ruhnau, Werner: Quadriennale Prag 1999, Theaterbau in Deutschland 1995–99, auf: http://www. ruhnau.info/baukunst/raeume-klavier-menu (letzter Zugriff: 18.03.2014). Siehe auch: „Offene Spielräume“. Aufbrechen traditioneller Theaterformen in der Bundesrepublik seit 1945. Bühnentechnische Rundschau, Sonderheft, Zürich: Orell Füssli und Friedrich Verlag, 1983.
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Oberhausen (1989), am Grillo-Theater Essen (1986–1990) und am Theater der Altmark Stendal (1992–1996).
Abb. 18 Umbau möglichkeiten, Schaubühne Berlin
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5.1.1 Interview 1 mit Prof. Werner Ruhnau
Im folgenden Interview (geführt 2014) spreche ich (nachfolgend RP) mit Prof. Werner Ruhnau (entspr. WR) über Bühnentopografien, Theater- und Rezeptionsformen. „Einer offenen Gesellschaft entsprechen offene Theaterspielformen. Offene Theaterspielformen verlangen offene Theaterbauformen. Offene Theaterbauformen schließen alle vergangenen und gegenwärtig gewünschten Theaterspielformen ein.“ Werner Ruhnau und Ferdinand Kriwet, 1968
1.) RP: Wir befinden uns hier im Musiktheater im Revier Gelsenkirchen (MiR), das Sie Ende der 1950er Jahre gebaut haben. Die vollverglaste Fassade zwischen dem Außen- und Innenraum spiegelt Ihr Anliegen, zwei „Spielorte“ miteinander zu verknüpfen: Stadt und Theater, und sie macht Ihre Architektur zu einem Konzeptbau und einer szenischen Erscheinung. Wie und wo sehen Sie heute den Austausch/Dialog zwischen Stadt und Theater? WR: Ich sehe die Hauptaufgabe des Theaters darin, ein Ort der Auseinandersetzung mit dem (Stadt-)Leben und der eigenen Erfahrungswelt zu sein. Theatrale Ereignisse im öffentlichen Raum oder das Einbeziehen der Bürger in Inszenierungen könnten eine Möglichkeit sein, die Trennung zwischen Bühnenund Stadtraum durchlässiger werden zu lassen. Architektonisch habe ich eine Verbindung zwischen dem Außen und dem Innen durch die transparente Glasfront realisiert, die es ermöglicht, dass Theaterbesucher im Foyer zu Akteuren für die Bürger werden, die vor dem Theater stehen, gehen, fahren etc. Und auch umgekehrt bietet die Stadt den Zuschauern eine Bühne. Ich wollte die Stadt auch durch z. B. Bürgersteigplatten ins Theater ziehen, doch solch einem „Bodenbelag“ wurde damals nicht zugestimmt. 2.) RP: Kommen wir zum Inneren des Theaters, ins Kleine Haus, wo variable Bühnenformen möglich sind. Ihr Credo lautet: „Nicht nur im, sondern auch mit dem Raum spielen.“ Wie kann Ihr Angebot, das Theater als Bestandteil urbanen Lebens zu erfahren, hier konkret in die Praxis umgesetzt werden? WR: Das Kleine Haus bietet viele Spiel-Möglichkeiten: Guckkasten-, Arenatheater oder Mitspiel-Aktionen. Auch kann der Saal zum Foyer hin geöffnet werden, sodass dieses zu einem weiteren Spielort werden kann. Zudem ist auch hier die große Glasfront zur Stadt hin keine abschließende „Rückwand“, sondern sie bietet die Möglichkeit zum Anschluss an die Stadt, das Spiel kann sich optisch ins Offene fortsetzen. Der Saal kann also über das Foyer hinaus
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geöffnet werden. Im Saal selbst können die Holzpodeste, auf denen die Stuhlreihen für Zuschauer platziert sind, umgebaut werden – ähnlich der Praktikablen von Adolphe Appia, der 1911 den ersten Spielraum ohne Trennung zwischen Bühne und Saal baute. 3.) RP: Welche Stücke lassen ein Spielen nicht im Bühnenraum (Vorspiel), sondern mit dem Bühnenraum zu (Mitspiel)? WR: Ich denke, dass das eine Frage der Regie ist. Grundsätzlich würde ich sagen, dass die meisten Stücke ein Spiel mit dem Raum zulassen – „und Shakespeare geht immer“. Aber wirklich für den (variablen) Raum geschriebene Stücke gibt es nur wenige, was daran liegt, dass solche Stücke nicht in Auftrag gegeben werden. 4.) RP: Sie sind sowohl Architekt als auch Regisseur. 1997 konzipierte die „Arbeitsgruppe Bau“ des Fördervereins Hellerau, in der Sie mitwirkten, einen Stückewettbewerb. Ziel war es, dass das Publikum in die Verantwortung am Spielergebnis einbezogen werden sollte. Was für Projekte wurden eingereicht und gelangten zur Aufführung? WR: Das Internationale Theaterinstitut und die Theatertechnische Gesellschaft hatten unser Projekt nicht unterstützt. Es gibt immer noch Vorbehalte! Ein Beispiel für solche Auseinandersetzungen ist z. B. das Streitgespräch zwischen Claus Bremer und Max Frisch in meinem Buch „Versammlungsstätten“1250. Der Dramaturg Claus Bremer1251 bewertete meine erste Theaterarchitektur für das Theater Münster (1955) als konventionell; er forderte zusätzlich zum „Guckkasten“ auch andere mögliche Formen der Zuordnung zwischen Bühne und Saal. Das machte mir die Notwendigkeit variabler Bühnenformen klar, mein Entwurf „Podienklavier“ (1958) trägt dieser Erkenntnis Rechnung. 1250 Ruhnau, Werner: Versammlungsstätten, Gütersloh: Bertelsmann Fachverlag 1969. Dort auf S. 13ff:
Frisch: „Jede architektonische Bemühung, Rampe und Rahmen abzubauen, beruht auf einem Mißverständnis dessen, was Theater ist und immer sein wird.“ Bremer: Dies „ist die Bemühung, zugunsten des Zusammenspiels der Darsteller miteinander und mit dem Publikum die Rolle des Publikums aus ihrer Passivität zu befreien, d. h. sie der Rolle der Darsteller gleichwertig zu machen“. Frisch spricht im Weiteren von der Wichtigkeit der Rampe als der geistigen Trennung von Spiel- und Zuschauerraum. Bremer: „Das Theater hat seit langem die Tendenz, einerseits durch Aktivierung des Zuschauers, andererseits durch Angleichung seiner Ausdrucksmittel an die Welt seiner Zuschauer, seinen Spielraum zu erweitern. Über die Bühne, den Zuschauerraum, das Foyer, das Theatergebäude, die ganze Stadt hinaus. Die Rampe muß … gedanklich ... das ganze Theater umgrenzen können. Womit sie sich aufhebt.“ Max Frisch hatte anlässlich des Architekturwettbewerbs für das Züricher Schauspielhaus 1964 Forderungen gestellt, die Claus Bremer (in der Fachzeitschrift Bühnentechnische Rundschau, Heft 1, 1965) kommentierte. 1251 Bremer, Claus/Weibel, Peter/Jost, Holger (Hg.): Claus Bremer: mitspiel. Die Aktivierung des Publikums: vom dynamischen Theater zur Theaterstadt, Berlin: Alexander Verlag 2014.
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5.) RP: Gibt es Verbindungen zu heutigen Intendanten/Dramaturgen, mit denen Sie sich über Stücke, die kein Gegenüber mit Rampe und Rahmen, sondern formoffene Raumverhältnisse benötigen, austauschen? WR: Ja, es gibt z. B. Verbindungen zum MiR, und mit dem Intendanten Michael Schulz gelangen viele großartige Inszenierungen und Projekte. Beispielsweise aus 2012 die Arbeit „John Cage, Song Books“ oder „SMS“, eine musikalische Installation anlässlich des 50. Todestages von Yves Klein. Und das Stück „Sprung in die Leere“, eine zu diesem Gedenktag in Auftrag gegebene Komposition. Diese experimentelle Inszenierung war ein großer Erfolg mit der Bespielung des Foyers, dem mobilen Chor und dass die Besucher – nicht zuletzt auch mittels der MiR-Drehsessel – dem Geschehen multiperspektivisch1252 folgen konnten. Danach habe ich die Dramaturgin vor Freude umarmt und zu ihr gesagt: „Sehen Sie, geht doch!“ 6.) RP: Ihr Entwurf „Podienklavier“1253 schließt an den Entwurf von Adolphe Appia an, der im Festspielhaus Hellerau mittels „Praktikablen“ variable Spielräume ermöglichte. Ihr „Podienklavier“ ermöglicht es, dass der Regisseur (wenn er denn möchte) auch während einer Inszenierung die Bühnentopografie durch höhenverstellbare hydraulische Hubpodien verändern kann. Auch könnte das Publikum (unter Berücksichtigung von Sicherheitsbestimmungen) von dieser Möglichkeit Gebrauch machen. In welchen Theatern kommen Ihre Podienklaviere heute zum Einsatz? WR: „Es gab für 1 x 1-Meter-Podien einen Nachmacher in Berlin.“ Für Reihenpodien habe ich 1978 zum ersten Mal am Theater Frankfurt höhenverstellbare Sitzreihen realisiert. Die Herren Minks und Schaaf haben gerne damit gearbeitet. Auch dem Publikum hat es gefallen, den Bühnenarbeitern aber weniger: „Die haben die Podien zerstört, weil diese schlecht funktionierten und ihnen der Aufwand zu groß war.“ Derzeit in Gebrauch sind fahrbare Podienreihen in der Philharmonie Essen und im Theater Stendal, und sie kommen auch oft zum Einsatz. Im Essener GrilloTheater gibt es Podien in Form von „Tischen“ (2 x 1-Meter-Platten mit höhenverstellbaren Steckbeinen), davon wird wegen des hohen Arbeitsaufwandes seltener Gebrauch gemacht; der Intendant Weber hat sie gar nicht genutzt.
1252 Nur
das „Multiformtheater“ ist der Aufgabe gewachsen, dem Besucher seine eigene Sicht zu ermöglichen. „Der heutige Kunstbetrachter wird nicht vor eine Form gestellt, die er nachvollziehen soll, sondern in das Werk werden Wahlmöglichkeiten oder gar Beeinflussungsmöglichkeiten für den Betrachter eingeplant“, er soll sich „dem Kunstwerk gegenüber in einer Lage [erkennen], die seiner Lage im täglichen Leben entspricht“. Ruhnau, Werner: Versammlungsstätten, a. a. O. 1969, S. 17. 1253 Nachfolgende Abbildung: „Podienklavier“ © Werner Ruhnau, Modell im Maßstab 1:50. Archiv von Werner Ruhnau, Essen 2014, Foto: Ruth Prangen.
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Abb. 19 Podienklavier, Werner Ruhnau
7.) RP: Ihr „Podienklavier“ macht den Raum zu einer Spielwerkstatt, zum Bauwerk, das nicht in Bühnen- und Zuschauerhaus untergliedert ist. Ihre Entwürfe verstehen sich als technische Spiel-Instrumente, um damit verschiedene räumliche Zuordnungen herstellen und gestalten zu können. Ihr „Podienklavier“ kann damit in einem weiter gefassten Sinne auch als eine Architektur des Ausdrucks von Beziehungen zwischen Mensch und Raum verstanden werden. Könnte man sagen, dass damit ein Bühnenbild im klassischen Sinne überflüssig ist, oder anders gefragt: Ist das „Bühnenbild“ die Bühnentopografie, d. h. der Raum und damit die Szenografie selbst? WR: Ich bevorzuge den Ausdruck „Spielraum“, weil – anders als beim Theater – der Regisseur sich beim darstellenden Spiel seine Räume selber bauen kann. „Thea“ heißt Aussicht auf die Skene, die dem „Theatron“ gegenüberliegt. „Wenn Sie unter einer Wetterschutzhaut ein Podienklavier haben, können Sie sich Ihre Spielräume selber bauen, indem Sie mit den Hubpodien Ihre Topografien, sprich Sitzreihen, machen, auf denen die ‚raumbildenden Besucher‘ mit den natürlich in der Regel dünner gesäten raumbildenden Spielern (gegenübersitzend oder -stehend) den Spielraum bilden.“ Im Shakespeare-Theater beispielsweise war die „Bühne“ in der Mitte und zum Himmel hin offen, weshalb bei Regen oder im Winter kein darstellendes Spiel stattgefunden hat. Hier gab es den von Wänden (die die Sitztribünen trugen) gebildeten Raum, in dessen Mitte die Spieler agierten. Ein Bühnenbild gab es da genauso wenig wie in jeder anderen Art von Raumtheater, weil die raumbildenden Wände durch die Besucher selbst hergestellt werden. Im zuschauerleeren Epidaurus wirkt das steinerne Parkett natürlich raumbildend und hinter der Szene stand ja auch in der Regel ein Haus als Abschluss zur Natur. Also quasi eine erste Art von Bühnenbild, hier achte man auf die Sprache: „Bild“ ist etwas Flächiges, allenfalls Raumbildendes, nicht selbst Raum.
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Wenn ich also von Spielraum rede, gibt es allenfalls einige Versatzstücke, Möbel oder Sonstiges im Spielbereich, also auf der Bühne, und das außen herum auf Stufen sitzende Publikum bildet den Raum; Prospekte, von Zügen heruntergelassen, bilden den rückwärtigen Abschluss der Bühne vom Saal her gesehen als Bild, werden nicht selbst Raum ... 8.) RP: Ihr „Podienklavier“ ermöglicht eine Variabilität der Beziehungen zwischen Spiel- und Platzflächen, alle Spielräume können hiermit selber gebaut werden. Inwiefern hat dieses Raumkonzept auch eine politische Dimension? WR: Ja, es geht ganz bestimmt auch um Politik, heute um Mündigkeit der Bürger. Heutiges Theater muss, wie in allen Zeiten zuvor, unsere heutige politische Wirklichkeit widerspiegeln und aktuelle Fragen sichtbar machen. Da die Leute sich aber lieber unterhalten lassen, folgen sie aus Gewohnheit vorgegebenen (Raum-)Strukturen. Bühnenpodien verschieben zu können, wie es schon mein erster Podienklavier-Wettbewerbsentwurf 1958 für die Theater Bonn und Düsseldorf vorsah, und mit dem Raum etwas machen zu können, wird auch heute zumeist als eine Überforderung empfunden. „Wer noch nicht einmal zur Wahl geht, dem sind neue Spielmöglichkeiten lästig.“ 9.) RP: So gesehen könnte man Ihr „Podienklavier“ als eine Art Umnutzungskonzept im Sinne einer „Antidisziplin“1254 zu vorgegebenen räumlichen Zuordnungen und damit auch zu vorgegebenen gesellschaftlichen Strukturen verstehen – Agieren anstatt Zuschauen. Können die Menschen von heute noch selbst spielen oder nur noch auf Programme im weitesten Sinne (Ökonomie, Medien, Religion, das Wohnen etc.) reagieren – und wollen konsumieren? WR: Theater ist auch ein Medium zur Aufklärung, dabei kommt dem Schauspieler neben seiner Rolle als Unterhalter auch die des Infrage-Stellers zu. Das setzt jedoch Kommunikationsbereitschaft und Interesse am Weltgeschehen anstatt Konsumverhalten voraus. Ich sehe das Problem vor allem in der Vereinzelung der Menschen; gemeinschaftliches Geschehen wird zwar global geteilt, aber selten an realen Kommunikationsorten wie z. B. dem Marktplatz miteinander erlebt. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es Initiatoren braucht, auf die reagiert wird, und dass es dann zu einem Agieren kommen kann. Auf dem Essen Kettwiger Markt habe ich z. B. im Jahr 2009 einen Mai-Tanz initiiert, und die Leute waren dankbar, dass es eine Gelegenheit gab, gemeinsam ein Fest zu feiern, das sie mitgestaltet haben. Vom Stadttheater zu einer „Theaterstadt“, in der das Spiel ohne festes Spielhaus (Theater) integrativer Bestandteil des Lebens ist, wird es – wenn überhaupt – aber wohl erst in einigen Generationen kommen.
1254 Vgl.
Kapitel 3.2.4 und die Ausführungen zu Michel de Certeaus „Kunst des Handelns“.
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10.) RP: Die Konsequenz selbst ge- oder erfundener Spielorte wäre so gesehen, dass es gar keine Theaterhäuser mehr braucht? Ihr „Theater der Leere“1255 könnte eine Antwort darauf sein. Liegt deshalb der Schwerpunkt Ihrer heutigen Arbeit mehr auf städtebaulichen Konzepten? WR: Möglicherweise – „die Bühne ist dort und das, wo Darstellung passiert.“ Derzeit engagiere ich mich z. B. bei einer Initiative der Bürger von Essen zur Stadtgestaltung, sodass es wieder zu einer Belebung und Mischung der einzelnen Lebensbereiche kommt. Das Motto „Ab in die Mitte“ zielt auf eine neue Stadtgestaltung, wo es auch ein Wohnen, nicht nur Banken, Geschäftsstraßen etc. im Zentrum der Städte gibt. 11.) RP: Kommen wir zu einem Baukonzept der Stadt Köln. Die Bühnen Köln werden nicht neu gebaut, sondern derzeit saniert. Sie haben die Architekturentwürfe für einen Neubau des Schauspielhauses, der zeitweise erwogen wurde, gesehen. Wie erklären Sie sich das Phänomen, dass im 21. Jahrhundert Raumkonzepte des 19. Jahrhunderts aufgegriffen wurden1256, d. h. für den Neubau klassische Guckkastenbühnen vorgesehen waren? WR: Ich denke, dass es dabei weniger um ästhetische Konzepte denn vielmehr um ökonomische Interessen ging. Solche Entwürfe – „einfache Schuhkartons“ – können sich nicht aus künstlerischen Überzeugungen heraus erklären, die auch nach offenen Theaterbauformen fragen. Ich erinnere mich, dass eine riesige Bühnenmaschinerie vorgesehen war und dass die Grundrisse auch übermäßig große Seiten- und Hinterbühnen zeigten. „Man dachte wohl, Bühnenmaschinerie ist schon Theater genug.“ Aber gutes Theater erreicht man nicht mit mehr Technik, die alles ermöglicht, nur leider eben keine variablen Raumorganisationen, mit denen aber sowohl vergangene als auch gegenwärtig gewünschte Theaterspielformen erzielt werden könnten. 12.) RP: Was sind Ihrer Meinung nach die gegenwärtig gewünschten Theaterspielformen? WR: Neben dem „Vorspiel“ auch das „Mitspiel“ im Theater sowie darstellende Spiele außerhalb des Theaters, z. B. in Form von Festen. Die von der Bevölkerung gewünschte Theaterspielform ist immer noch die des „Vorspiels“, des Guckkastens. Diese Art Spielform kann die heutige politische, mediale oder individuell erlebte Wirklichkeit jedoch nicht hinreichend sichtbar machen. Die 1255 Die
Inszenierung spielt nicht auf einer Bühne, sondern in den Köpfen der Zuschauer. „Theater der Leere“, entworfen von Yves Klein und Werner Ruhnau 1957/58 für das Kleine Haus Gelsenkirchen. 1256 Siehe die Äußerungen von Rem Koolhaas zum Wyly-Theater Dallas im Interview mit Carsten Krohn: „Die Neuerfindung des Theaters“, in: db, deutsche bauzeitung. Zeitschrift für Architekten und Bauingenieure, 06.2011, S. 50 ff.
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Leute sehen vermutlich keinen Grund dafür, sich selbst darzustellen – „Freiheit ist anstrengend.“ 13.) RP: Wie sieht für Sie die Theaterbauform der Zukunft aus? WR: „Offen, einer offenen Gesellschaft entsprechend“, und ich würde jederzeit wieder „Podienklaviere“ entwerfen. Wie genau die aussehen würden, ergäbe sich im Arbeitsprozess.
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5.1.2 Interview 2 mit Dr. Ralf Hertling
Im folgenden Interview (geführt 2014) mit Dr. Ralf Hertling (ehemaliger Betriebsdirektor der Bühnen der Stadt Köln, jetziger Betriebsdirektor und stellv. Geschäftsführer des Deutschen Schauspielhauses Hamburg; nachfolgend RH) spreche ich über Theater- und Rezeptionsformen, die Sanierung der Kölner Bühnen und über die Szenografie als gestalterische (Un-)Möglichkeit. I.) RP: In Ihrer Funktion kennen Sie einerseits die betrieblichen und wirtschaftlichen Erfordernisse eines Theaters und andererseits die künstlerischen Bedürfnisse von Theatermachern. Inwiefern sehen Sie eine Notwendigkeit für Theaterneubauten, die variable Bühnenformen zulassen (siehe das Wyly-Theater in Dallas)? Und sind solche Konzepte von den Erfordernissen her aufwändiger? RH: Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass die räumliche Organisation eines Theaters ganz eng mit seinen künstlerischen Möglichkeiten verknüpft ist und gleichzeitig auch unmittelbaren Einfluss auf die organisatorischen und finanziellen Möglichkeiten bzw. Erfordernisse hat. Das gilt für ganz traditionelle genauso wie für experimentelle Theaterbauten. Die traditionellen Stadttheater in ihrer Eigenart als produzierende Repertoiretheater mit eigenem Ensemble demonstrieren in eindrucksvoller Weise, wie beide Aspekte – der künstlerische einerseits und der ökonomisch-organisatorische andererseits – zu einer komplexen, effizienten architektonischen Einheit zusammengeführt werden können. Mir scheint, dass diese traditionellen Theaterbauten in gewisser Hinsicht eine perfekte Form für die ästhetische und gesellschaftliche Funktion der Stadttheateridee gefunden haben. Das Stadttheater von heute ist ja in seiner Zielrichtung seit der Mitte des 18. Jahrhunderts entwickelt worden und fand im 19. Jahrhundert zu der baulich und organisatorisch ausdifferenzierten Form, die in wesentlichen Aspekten bis heute Bestand hat. Bis heute geblieben sind die klaren Trennungen von Stadtraum und Innenraum sowie von Bühne und Publikum, geblieben sind die zentrale Lage und die repräsentative Erscheinung im städtebaulichen Zusammenhang. Geblieben ist die komplexe, personalintensive und arbeitsteilige Produktionsstruktur, geblieben ist auch der Anspruch des Stadttheaters, Forum zu sein für die Belange der Bürger. Innerhalb dieser Parameter konnten sich die Theaterästhetik und das Selbstverständnis von Theater und Publikum innerhalb der letzten 250 Jahre durchaus vielgestaltig entwickeln. Aber es konnten selbstverständlich keine theaterästhetischen Ideen realisiert werden, die gerade keine Trennung von Zuschauerraum und Bühne bzw. von Innenraum und Stadtraum zum Ausgangspunkt haben. Und natürlich ist es eine berechtigte und notwendige Frage, welche ästhetischen
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und gesellschaftlichen Einschränkungen diese prinzipielle Grenze der traditionellen Stadttheaterbauten mit sich bringt. Meiner Meinung nach widersprechen Konzepte der Aufhebung von Trennung zwischen Innen und Außen und von Bühne und Publikum nicht allein prinzipiell der Architektur der Stadttheater, sondern auch prinzipiell der Organisationsform eines produzierenden Repertoiretheaters mit eigenem Ensemble. Wenn die Architektur die Möglichkeit bietet, eine Portalsituation aufzuheben, und wenn dann von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht wird, gibt es nur noch ganz schwer ein organisatorisches Zurück in die Stadttheaterstruktur. Denn die Repertoirefähigkeit solcher Konzepte ist außerordentlich eingeschränkt, unter vertretbarem finanziellem Aufwand lässt sich dann allenfalls noch ein Spielplan im Blocksystem realisieren. Solche Konzepte werden daher aktuell nur als sogenannte Nebenspielstätten oder Experimentalbühnen Teil eines Stadttheaters. Meist sind diese Spielstätten dann als Black Box mit durchgehender GridDecke und flexibler Tribüne konzipiert, in ihren Dimensionen oft an Vorgaben der Verordnungen zu Versammlungsstätten orientiert, d. h. dass die Szenenfläche selten 200 Quadratmeter übersteigt und das Publikum oft auf 99 Plätze beschränkt bleibt. Daher ist offensichtlich, dass der hier vorgestellten Konzeption eines von der Szenografie her gedachten Theaters nichts weniger als eine prinzipiell anders geartete Theaterkonzeption zugrunde liegt. Oder umgekehrt formuliert: Diese Konzeption kann Grundlage sein, Theater in allen Aspekten neu zu denken. Und die aktuelle Stadttheaterdebatte zeigt ja auch, dass es ein verbreitetes Bedürfnis gibt, Theater als Stadttheater zu hinterfragen und von Alternativen her neu zu denken. II.) RP: Theaterbauten und Spielpläne sind Zeitzeugen, spiegeln Lebensstrukturen und gesellschaftliche Wahrnehmungen ihrer jeweiligen Epoche. Wie sehen Sie den Zusammenhang zwischen dem Theater und seinem Umraum und wo die Anschlussfähigkeit zur Stadt? RH: Das Stadttheater definiert seinen Bezug zum Umraum, seine Anschlussfähigkeit zur Stadt vor allem in thematischer, diskursiver Weise. Eine sinnliche Komponente etabliert seine traditionelle Architektur und stadtplanerische Verortung vor allem im Sinne einer Repräsentation des Bürgertums. Ein grundsätzlich anderes architektonisches Konzept, wie das von Rem Kohlhaas, muss also zwangsläufig mit einer Neubestimmung der Funktion von Theater einhergehen, um ein sinnvolles Ganzes zu ergeben. Hier kann es nicht um architektonische Originalität gehen, hier muss es, nimmt man die Sache ernst, konsequenterweise um die Revolutionierung des Theaters gehen. Die Neudefinition des Theatralen von der Szenografie aus kann Teil dieser Revolutionierung sein. Die so gestellte Aufgabe ist allerdings gewaltig – geht es doch letztlich um nichts weniger als um eine Neudefinition der Moderne. Eine Neudefinition, die
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Bewegung und Dynamik auch da als konstituierend annimmt, wo traditionell Diskursivität und statische Themenstellung die Ankerpunkte bilden. Offensichtlich hat die Moderne außerordentlichen Wert darauf gelegt, dem Theater neben den anderen politischen, sozialen und ökonomischen Institutionen und Strukturen einen einzigartigen, bedeutenden, kraftvollen, ja gleichberechtigten Raum im Zentrum der Gesellschaft zu sichern. Mit der Stadttheaterfabrik hat sich die mitteleuropäische Moderne einen spielerischen Konterpart entworfen, ein notwendiges Gegengewicht, eine unverzichtbare Ergänzung zu den anderen – in weiten Teilen von politischer oder ökonomischer Vernunft getragenen – Errungenschaften der modernen Gesellschaft. Dieser Konterpart ist kein Anhängsel, kein arbiträres Beiwerk, er ist essenzieller Bestandteil des Gleichgewichts, indem er auf spezifische Weise Entfaltungsräume bietet für das, was sonst außer Sicht zu geraten droht. Denn das Stadttheater kann all das bündeln und verhandeln, was den Menschen in seiner Ganzheit betrifft. Im StadttheaterHybrid ist der Mensch nicht bloß politisches, ökonomisches oder forschendes Wesen, nicht bloß gläubiges oder ästhetisches, nicht bloß geistiges oder körperliches, nicht bloß soziales oder meinetwegen asoziales, vereinzeltes oder kollektives Wesen. Er ist vielmehr all das zusammen. Mir scheint, dass wir einen solchen Ort nach wie vor brauchen. Es gehört aber auch zu solch einem exponierten Ort dazu, dass er sich immer wieder neu definiert. Ich glaube nicht, dass ein szenografisch orientiertes Theater das alte Stadttheater ersetzen kann. Ich glaube aber, dass Konzeptionen wie diese – selbst wenn sie nicht realisiert werden – unbedingt notwendig sind, um immer wieder aus einer anderen Perspektive das Bestehende zu hinterfragen und zu ergänzen. Die äußere Erscheinungsweise eines Theaters allein aber bleibt ohne inhaltliche Konsequenz offensichtlich bedeutungslos. III.) RP: Nach einer langen finanziellen Debatte über die Kölner Bühnen und einer Bürgerinitiative „Mut zu Kultur. Inhalt vor Fassade“ wurde entschieden, dass die Oper und das Schauspielhaus nicht neu gebaut, sondern entkernt und generalsaniert werden. Warum wird saniert, wenn man für ca. 70 Millionen Euro einen Neubau (wie das Wyly-Theater) mit multiplen Bühnenformen (oder siehe auch die Schaubühne Berlin) hätte bekommen können? RH: Die Schaubühne ist vor vierzig Jahren in ein Bestandsgebäude eingebaut worden und das Wyly-Theater ist kein produzierendes Repertoiretheater mit zwei Sparten. Die Kosten sind nicht vergleichbar. In Köln wird das meiste Geld für das Operngebäude ausgegeben. Für die Oper wird praktisch ein komplett neuer Bühnenturm errichtet mit einem neuen Probenzentrum. Außerdem erhält die Oper eine neue, unterirdisch angelegte Kammeroper. Die Ausgaben für die Sanierung des Schauspielhauses sind dagegen vergleichsweise gering. Der zunächst geplante Neubau des Schauspielhauses hätte jedenfalls ein Vielfaches
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gekostet, die Sanierung war einfach die kostengünstigere Lösung. Da der Entwurf für den Neubau sich im Laufe der Planung zudem noch als wenig überzeugend herausgestellt hatte, gab es zu der Sanierungsentscheidung letztlich gar keine Alternative. IV.) RP: War der vom Preisgericht ausgewählte Neubauentwurf ein Guckkastenoder ein Raumbühnen-Konzept, und wer saß in der Jury? RH: Die Jury war mit Architekten und Vertretern der Stadt besetzt. Die ausgewählten Entwürfe waren alles traditionelle Schauspielhäuser, weil das schon in der Ausschreibung so verlangt war. Die Kölner Bühnen sind nun mal ein Stadttheater. Und das ist, wie gesagt, neben der architektonischen Gestalt auch eine Organisationsform mit bestimmten inhaltlichen Zielsetzungen. Es hätte keinen Sinn gemacht, dieser Organisationsform ein Gebäude zu bauen, das ihr nicht entspricht. V.) RP: Welche bühnentechnischen Möglichkeiten wird es nach der Sanierung geben? Sind in Zukunft multiple Bühnenformen und damit neue Spielmöglichkeiten machbar oder bleiben das Schauspielhaus und die Oper vom Konzept her Guckkastenbühnen? RH: Schauspiel und Oper bleiben im Prinzip Guckkastenbühnen. Das ist in der traditionellen Oper so allein schon durch die Notwendigkeit eines Orchestergrabens vorgegeben. Im Schauspiel wird es Modifikationsmöglichkeiten der Portalzone geben. Damit wird sich die Raumsituation aber nicht grundsätzlich ändern. Die Experimentierbühne in den ehemaligen Opernterrassen wird dagegen eine Black Box sein. VI.) RP: Der Neubau der sogenannten „Opernterrassen“ sieht also ein Raumbühnen-Konzept vor. Szenografische Konzepte und Eingriffe in die Raumstruktur beeinflussen ja auch die Regie, d. h. die Personenführung. Inwiefern verändern sich Arbeitsabläufe, wenn es plötzlich zwei Regisseure gibt: einen Personen-Regisseur und einen Raum-Regisseur bzw. Szenografen? RH: Auch diese Fragestellung ist ein sehr gutes Beispiel dafür, warum Überlegungen zu einem szenografisch konzipierten Theater ein sehr guter und notwendiger Anlass sind, das traditionelle Stadttheater zu hinterfragen. Stadttheater vereint ja Spezialisten aller Art unter seinem Dach, und der Umstand, dass der Spielbetrieb und Aufführungen erst durch das Zusammenspiel mannigfaltiger Charaktere, Meinungen, Haltungen und Fertigkeiten möglich wird, bietet auch ein einzigartiges Potenzial. Die Aufführung bleibt nicht auf einen zentrierenden Schöpfer angewiesen, vielmehr wird sie erst möglich, weil ein Zusammenspiel verschiedenster Kräfte stattfindet, und das an einem Ort, der so zu einem Kulturkraftwerk in einer multiperspektivischen Gesellschaft werden
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kann. Aber im Gegensatz zu diesem Potenzial hat sich in den letzten dreißig Jahren so etwas wie die Alleinherrschaft des Regisseurs herausgebildet. Diese Alleinherrschaft muss durchaus infrage gestellt werden. Allerdings ist es aufgrund der Notwendigkeit der Schauspielerführung nicht damit getan, einen zweiten Regisseur, einen Raumregisseur, zu etablieren. Der wichtigste Energiekern des Kulturkraftwerks namens Stadttheater ist das Ensemble, dieses findet sich einzig und allein im deutschen Stadttheater. Ein Ensemble ist nämlich viel mehr als nur eine Gruppe von Schauspielern, die sich sporadisch für eine Produktion zusammenfindet. Ein Ensemble ist ein kreatives Team, das sich erst über eine mehrjährige Zusammenarbeit in unterschiedlichsten gemeinsamen Herausforderungen modelliert. Nur das subventionierte Stadttheater kann die notwendige Kontinuität zu einer solchen Ensemblebildung bieten, die zu einzigartigen ästhetischen Resultaten führen kann. Schauspieler sind nicht einfach mobiles Inventar, das in einem Bühnenraum zu arrangieren ist – egal ob diese Aufgabe ein Regisseur oder ein Szenograf übernimmt. Ich denke eher, dass sich das Rollenverständnis der Regie hier verändern muss. Dem Regisseur sollte in diesem von vielen kreativen Potenzialen getragenen Vorgang die Rolle des Alchemisten zufallen, der Prozesse in Gang setzt und an bestimmten Punkten zusammenführt. Er sollte nicht mehr Schöpfergott sein, sondern Impulsgeber. So erhält der Theaterabend eine Eigenbewegung, die klüger ist als jeder Einzelne seiner Akteure und Rezipienten, auch klüger als der Regisseur und der Szenograf. VII.) RP: Projekte, d. h. Szenografien, die sich im Bereich zwischen Theater/Medienkunst/Performance/Installation bewegen, finden zwar auf Medienkunst-Festivals oder in der freien Szene Platz, aber kaum in den Spielplänen der Stadt- und Staatstheater. Woran könnte das liegen? RH: Abgesehen davon, dass möglicherweise inhaltliche Überlegungen wie die oben angedeuteten eine Rolle spielen, würde ich zunächst einmal vermuten, dass dies ganz praktische Gründe hat. Die Stadttheater stehen zunehmend unter finanziellem Druck. Sie müssen möglichst hohe Zuschauerzahlen präsentieren und setzen die zur Verfügung stehenden Ressourcen daher notgedrungen eher für die großen Häuser ein. Kostspielige Installationen auf der Experimentierbühne, möglicherweise noch mit High-Tech-Equipment, das nicht zur Theaterausstattung dazugehört, sondern angemietet werden muss, kann sich kaum ein Theater leisten. Und wenn das doch einmal gelingt, wissen die Medien unter Umständen nicht, wen sie zur Berichterstattung schicken sollen: jemanden aus dem Bereich Kunst oder Theater oder vielleicht doch eher Wissenschaft? Damit läuft das Theater Gefahr, dass selbst der mediale Ertrag gering bleibt.
5 Klimazonen und Ernte 303
VIII.) RP: Durch welche Ästhetik konstituiert sich Ihrer Meinung nach die Szenografie? RH: Der Gestaltung von Situationen, Ereignissen, Atmosphären liegt vermutlich eine aktive Einbindung des Besuchers zugrunde. Die mobilen Zuschauer werden so auf sehr besondere Weise aufgefordert, das Geschehen mit den eigenen Empfindungen und Erinnerungen etc. zu verbinden. Aber ich denke, bei solchen Projekten sollte auch auf Produzentenseite nicht das Besondere des Theatralen preisgegeben werden, dass nämlich viele Köpfe und Körper gleichzeitig miteinander (das heißt auch oft produktiv gegeneinander) arbeiten und kreieren. Das Zusammentreffen von dem, was da ist, der Schauspieler, der Text, der Musiker, der Komponist, die Assoziationen vom Regisseur. Das alles wartet auf einen Zusammenstoß. Aus dieser ungereinigten Mischung von Gedanken, Assoziationen, Zuständen und Emotionen muss der Theaterabend entstehen. Es ist die Aufgabe, Klarheit nur da zu schaffen, wo unbedingt notwendig, und Lücken zu lassen, wo immer möglich. IX.) RP: Was meinen Sie, welches Raumverständnis der Szenografie zugrunde liegt? RH: Theater meint ja schon von der Definition her immer ein gemeinsames Raum-Zeit-Kontinuum von Publikum und theatraler Aktion. Dieses Kontinuum kann durch verschiedene Strategien als solches erlebbar gemacht werden. Beispielsweise auch dadurch, dass es gemeinsam erarbeitet wird. Raum dabei nicht als vorgegebene Schachtel zu verstehen, sondern als etwas Offenes, als topologisches Gefüge verhandeln zu wollen, ist ein sehr emanzipierter, wenn man so will: ein basisdemokratischer Gedanke, dem sich das traditionelle Theater stellen muss. Das ist aber schon allein von der Form her sehr schwierig, denn die Guckkastenbühnenform versteht Raum eher als etwas Absolutes. X.) RP: Bleibt die Szenografie ohne entsprechende Neubauten oder Raumbühnen-Angebote eine produktionsästhetische Unmöglichkeit? RH: Ja, dies wird wohl so sein. Aber unabhängig davon ist das Konzept der Szenografie ein wichtiger Beitrag zur Weiterentwicklung des Theaters. So wie auch einige andere theaterästhetische Ideen der Vergangenheit auf das Theater eingewirkt haben, obwohl sie nur in kleinen Ansätzen oder auch gar nicht realisiert werden konnten. Insofern steht zu hoffen, dass in Zukunft mehr Raumbühnen-Angebote gemacht werden.
304 Szenosphäre & Szenotopie
5.2 Fazit Die inhaltliche Ausrichtung wurde in Kapitel 2 durch die Frage bestimmt, inwiefern sich Bedingungen in Theaterbau- und Bühnenformen ausmachen lassen, die Raumbildung und -aneignung durch Theaterbesucher begünstigen und ermöglichen oder erschweren und verhindern. Zugrunde liegt die Beobachtung, dass in der heutigen Szenografie zunehmend gestalterische Methoden zum Einsatz kommen, die weniger eine optisch bildhafte Raumdarstellung und eine passive Raumbetrachtung derselben zum Ziel haben als vielmehr eine Raumbildung und -aneignung, auch Zeitaneignung. Zur gestellten Frage konnte gezeigt werden, dass raumstrukturelle Anordnungen, die keine klaren Trennlinien zwischen Publikums- und Bühnenbereich ziehen, Raumbildung und -aneignung durch den Besucher begünstigen bzw. erst ermöglichen. Auch der Umkehrschluss konnte bewiesen werden: Raumbildung und Raumaneignung werden dann durch räumliche Beziehungen erschwert, ja sogar verhindert, wenn räumliche Trennungen zwischen Publikums- und Bühnenbereich bestehen. Die Untersuchungen von auf Fernsicht und Illusion angelegten Guckkastenbühnen haben darüber hinaus ergeben, dass geschlossene Formen ab der Neuzeit eine optisch bildhafte Raumdarstellung und eine passive Raumbetrachtung begünstigen. Hier spielt auch die Zentralperspektive eine durchaus erkennbare Rolle; ihre Bildebene, auf die Raum projiziert wird, fungiert sozusagen als „Trennscheibe“ zwischen Raum (Bild) und Betrachter. Gezeigt hat sich dabei zweierlei: zum einen, dass der ästhetische Sinn dieser Bühnen(bild)form ein Spielen vor dem Raum und nicht mit dem Raum ist; zum anderen, dass das Bühnengeschehen dabei eher semiotisch als atmosphärisch wahrgenommen wird. Außerdem stellte sich heraus, dass bei raumstrukturell offen(er)en Formen (ohne Rampe und Rahmen und auf Nahsicht angelegt) die Zuschauer zur Aktivität neigen, mobil werden oder sich dies wünschen. Anhand von Recherchen räumlicher Bedingungen des Theaters der griechischen Antike, des Mittelalters und der Avantgarde des 20. Jahrhunderts konnte diese These untermauert werden. Klar wurde auch, dass dabei nicht das Zeigen im Vordergrund steht, sondern dass es um das Erzeugen von Raum (3-D) und Räumlichkeit geht. Weiterhin konnte festgestellt werden, dass Bewegung durch den Raum weniger mit einer reflexiven Wahrnehmung von Zeichen als vielmehr mit einem atmosphärischen, mithin leiblichen Wahrnehmen korrespondiert; raumstrukturell offen(er)e Formen begünstigen also keine semiotische, sondern eine semiotisch atmosphärische Wahrnehmung. Diese Erkenntnisse gelten auch für die sich am günstigsten für Raumaneignung und -bildung durch den Rezipienten erwiesenen variablen Bühnenfor-
5 Klimazonen und Ernte 305
men und theatrale Installationen (seit den 1960er Jahren), in denen es klassische Bühnenausstattungen (z. B. Bühnenbilder mit in den Raum gehängten Kulissen) kaum mehr gibt, die (Raum-)Bühne ist hier selbst die Szenografie. Die insgesamt gewonnenen Ergebnisse konnten durch eine Engführung erzielt werden, die schrittweise ausgehend vom Verhältnis Raum – Mensch über das Verhältnis von Theater – Umraum zum Verhältnis Bühne – Besucher führte. lich auch Bühnengestaltungen Über das letztere Verhältnis konnten schließ in den Blick genommen werden. Diese Schritte wurden auch deshalb unternommen, um herauszufinden, inwiefern Bühnengestaltungen nicht nur von den jeweils aktuellen Raumvorstellungen der Bühnenraumgestalter abhängen, sondern auch vom Raum-Mensch-Verhältnis bestimmt werden, d. h. von der jeweils epochal unterschiedlichen Vorstellung von Raum. Wie sich im Ergebnis gezeigt hat, hängen die Ästhetik und Struktur von Bildbühnen und Bühnenbildern, Raumbühnen und Szenografien und deren Wahrnehmung wesentlich von raumstrukturellen Anordnungen ab. Und diese hängen wiederum von der Bühnen- und Theaterbauform ab, die ihrerseits durch die jeweiligen Vorstellungen von Raum bedingt sind, wie zu erkennen war. Es konnten also auch ineinanderwirkende Abhängigkeitsverhältnisse herausgearbeitet werden, die über das Warum des jeweiligen Ausdrucks (Theaterbau-, Bühnen-, Spielform, Szenografie) mitentscheiden. Diese Ergebnisse waren für das Folgekapitel 3 gewinnbringend, denn eine an die Erkenntnisziele gebundene und leitende Forschungsfrage lautete: Welche Vorstellung von Raum liegt der Szenografie zugrunde, wird Raum als etwas Absolutes, Relatives, Relationales oder Topisches aufgefasst? Aus der begründeten Annahme, dass künstlerisch-räumliche Ausdrucksformen im Theaterkontext mit epochalen Raumvorstellungen korrelieren, konnten das Warum des Ausdrucks und die gestalterischen Mittel der heutigen Szenografie (die mithilfe von Theorieansätzen durchleuchtet wurden und deren Ausrichtung und Inhaltlichkeit in den Wortschöpfungen „Szenosphäre“ und „Szenotopie“ zum Ausdruck kamen) genauer bestimmt werden. Raumwahrnehmung und Raumstruktur der Szenografie begründen sich im Wesentlichen in den phänomenologischen wie auch raumstrukturellen und strukturalen Implikationen der Topologie 1257, wie sich insgesamt sagen lässt.
1257 Siehe
Ausführungen in Kapitel 1.4 „Methodische Angaben“: Phänomenologische und (post-) strukturalistische Theorien des 20. Jahrhunderts greifen die Topologie (Teilgebiet der Mathematik) auf, um Raum als Gebilde modularer Beziehungen (Phänomene und deren strukturelle Zusammenhänge/Struktur) zu untersuchen.
306 Szenosphäre & Szenotopie
Die einzelnen Untersuchungen unter der Überschrift „Szenotopie“ (Gesamtkapitel 3.2) haben im Hinblick auf die Struktur der Szenografie gezeigt, dass ihr keine Behälter-Vorstellung von Raum zugrunde liegt, sondern von einem relationalen topologischen Raumgefüge ausgegangen werden muss. Dabei ist Bewegung konstitutiv und raumbildend, es geht um ein Erzeugen von Raum und Räumlichkeit und deren Transformationsmöglichkeiten und -prozesse. Diese Ergebnisse konnten anhand des Projekts von Cardiff/Miller herausgearbeitet und durch eine Untersuchung erzielt werden, die sich über vier Unterkapitel (3.2.1 bis 3.2.4) erstreckte. Mit der relationalen topologischen Bestimmung der Szenografie hat sich einerseits ergeben, dass die Szenografie variable Arrangements in den Raum installiert, in denen die Dinge (Ereignisse) eine andere, d. h. ihre eigene (Un-) Ordnung haben. Darüber hinaus wurde die Erkenntnis gewonnen, dass sich die Szenografie als eine Raumsprache verstehen lässt, die sich in den Raum einschreiben (ihn sozusagen „szeno-graphieren“) kann und deren gestalterische Mittel auch zeitgestaltend wirken. Bezüglich der Bewegung des Rezipienten im konkreten szenografischen Parcours konnte festgestellt werden, dass das Geschehen nahsichtig wahrgenommen wird. Die nähere Bestimmung dieser Wahrnehmung hat gezeigt, dass sie insofern haptisch ist, als die optische Abtastung des Raums den Tastsinn anspricht und damit auch die leiblichen Fähigkeiten der Besucher angesprochen werden können. Andererseits konnte im Hinblick auf die Bühnengestaltung (den Parcours) auch dasjenige raumstrukturell näher bestimmt werden, womit der Szenograf das im Raum Installierte auflädt, nämlich als Relation. Die Untersuchungen unter der Überschrift „Szenosphäre“ (Gesamtkapitel 3.1) haben ergeben, dass es sich bei dieser Relation um eine atmosphärische Räumlichkeit handelt. Die in diesem Kapitel an die Erkenntnisziele gebundene und leitende Forschungsfrage lautete: Durch welche Art Ästhetik konstituiert sich die Szenografie? Wie anhand des Projekts von Cardiff/Miller gezeigt und über vier Unterkapitel (3.1.1 bis 3.1.4) herausgearbeitet wurde, konnte festgestellt werden, dass diese atmosphärische Räumlichkeit von der Szenografie hervorgebracht und vom Szenografen gestaltet und hergestellt werden kann. Dabei hat sich ergeben, dass die gestalterischen Mittel (Tools) auch eine semiotische Wirksamkeit aufweisen müssen, um in der Lage zu sein, an der Bedeutungserzeugung mitwirken zu können. Ohne diese Tools wäre die Szenosphäre keine atmosphärische und zugleich kulturell codierte Verständigungssphäre, mit der der Szenograf im Hinblick auf die Wahrnehmung der Besucher operieren kann. Anhand dieses Befundes konnte festgestellt werden, dass sich die Szenografie durch eine performative und eine semiotisch atmosphärische
5 Klimazonen und Ernte 307
Ästhetik konstituiert, doch ob und wie diese raumstrukturell bedingt ist, konnte erst mittels der Untersuchungen im Gesamtkapitel 3.2 herausgearbeitet werden. Bei der Untersuchung der ästhetischen Aspekte der Szenografie wurde deutlich, dass sich insbesondere durch Bewegung (das Gehen durch den Parcours) eine atmosphärische Wahrnehmung einstellt, da das Gefühl des InmittenSeins den Rezipienten unmittelbar(er) betrifft. Im szenografischen Parcours hat der Besucher keinen distanzierten Überblick, sondern einen Einblick; er (er-) lebt das Geschehen kognitiv, leiblich und im optischen Sinne nahsichtig bzw. haptisch. Wie sich insgesamt sagen lässt, hängt die Art und Weise, wie etwas wahrgenommen wird, also wesentlich von den raumstrukturellen Formen dessen ab, was wahrgenommen wird. Das, womit ein Szenograf das im Raum Installierte auflädt und was ein Rezipient wahrnimmt, begründet sich in dem, was ein Szenograf im Raum installiert und vom Rezipienten wahrgenommen wird: eine topologische und relationale Räumlichkeit. Insgesamt lässt sich hieraus der Schluss ziehen: Die Szenosphäre ist ein Phänomen, das einem bestimmten Strukturmodell entspringt: der Szenotopie. Die Untersuchungen im Kapitel 4 haben den gefolgerten Schluss insofern bestätigt, als sich durch die vorgestellten künstlerischen Projekte von Kiesler, Plessi und Cardiff/Miller das jeweils Szenosphärische und Szenotopische exemplifizieren ließ und konkret benannt werden konnte. Die von den Künstlern für ihre Raumbühnen-Projekte gewählten Theaterspielorte haben im Ergebnis gezeigt, dass sich die Bühnenform des Guckkastens raumstrukturell nur bedingt, in Umnutzung ihres ästhetischen Sinns oder gar nicht für szenografische Projekte eignet. Die sich daraus in der Praxis ergebende Schwierigkeit der Umsetzung solcher Projekte an Stadt- und Staatstheatern ist evident. Wie sich im Ergebnis zu Kapitel 5 sagen lässt, gibt es einige Häuser, die variable Bühnen- und Spielformen ermöglichen, doch hängt diese Möglichkeit neben dem künstlerischen Wollen auch von Produktions- und technischen Bedingungen sowie Zuschauererwartungen ab. Welche Theaterbau- und Bühnenformen, die die Vorstellung von Raum im 21. Jahrhundert widerspiegeln, in Zukunft geschaffen werden (können), bleibt in Aussicht gestellt. Aus theoretischer Sichtweise kann resümiert werden, dass die Szenosphäre und die Szenotopie ein noch weiter zu ergründendes Phänomen bzw. Strukturmodell sind. Zudem sind die von Szenografen geschaffenen räumlichen Installationen in ihrer Bedeutung erst ansatzweise verstanden und gewürdigt. Doch haben sich die in der vorliegenden Untersuchung verwendeten Arbeitsbegriffe bereits
308 Szenosphäre & Szenotopie
als Instrumentarien erwiesen, deren Gewinn darin liegt, dem Szenografie-Diskurs ein spezifisches Vorzeichen für kommende Analysen anbieten zu können. Aus der Praxis heraus betrachtet lässt sich abschließend sagen, dass nicht jede Epoche ihre eigenen Theaterbau-, Bühnen- und Spielformen hervorgebracht hat. Doch wurde mit dieser künstlerisch-wissenschaftlichen Arbeit ein Ansatz vorgelegt, die Diskussion über die Notwendigkeit und Berechtigung eines produktiven Nebeneinanders von unterschiedlichen Aufführungspraktiken wieder neu zu beleben und diesen Diskurs zu perpetuieren und nachhaltig (besonders) auf der Ebene der Theaterschaffenden zu verankern. Auf den nachfolgenden Seiten werden abschließend eine Raumbühnen-Matrix und eine Argumentenliste gezeigt. Sie haben den Zweck, einen tabellarischen Überblick über die Untersuchungsergebnisse und zugleich einige aus dieser Arbeit resultierende Anregungen für zukünftige Aufführungspraktiken und die Szenografie-Forschung bereitzustellen. In der Raumbühnen-Matrix werden – um Beziehungen zwischen verschiedenen Raumkategorien und Betrachtungswinkeln zu veranschaulichen – auf der Horizontalen die wichtigsten Aspekte, Attribute und Möglichkeiten der Raumbühne auf fünf verschiedene Betrachtungsebenen gespiegelt. Die dabei gefundenen Begrifflichkeiten oder Spezifika verstehen sich als aggregierte Größen.
Betrach- A tungswinkel Theoretisch Aspekte der Raumbühne 1 Raum + Zeit Gleichzeitigkeit, Diskonti nuität 2 Diskurs Raum vorstellung zeitgenössisch 3 Raumform variabel
Zeichen und Maßstab
B
C
Sicht des Szenografen
Sicht des Rezipienten
D
E
Technische Inszenatorische Möglich- Möglichkeiten keiten
hohe Differen- Konstruktion zierbarkeit des des Geschehens Geschehens
Inmitten-Sein
hoch
Topologie, Relationalität
erlebte Gegenwart (Alltag)
begrenzt aufgrund von Raumbühnenmangel
aufwändig
Sinnbildung
Komplexität des Geschehens
zunehmend
hoch, aber auch aufwändig
5 Klimazonen und Ernte 309
Betrach- A tungswinkel Theoretisch Aspekte der Raumbühne 4 Raumstruktur (post-)strukoffen turalistische Theorien 5 Raumdichte 6 Raum richtungen alle, offen 7 Raum strategie(n) 8 Raumordnung 9 Raumwissen 10 Raumwahrnehmung leiblich, ästhetisch und sprachlichkognitiv
11 Raumästhetik 12 Raumwirkung leiblich und ästhetisch 13 Raum aneignung und -bildung
D
E
B
C
Sicht des Szenografen
Sicht des Rezipienten
Module, relationale und geometrische Relationen
Parcours
variabel
variabel
physikalisch
Perforation
Involviertheit
hoch
hoch
Form- und Inhaltsbezüge werden generierbar
keine Ein eindeutigkeit
Körperschema steuert Teilnahme
hoch
hoch, aber auch aufwändig
MenschRaum-Beziehung
Inszenierung, Wirklichkeits konstruktion
Umnutzung
hoch
hoch
Devianz, Assoziationen Diagrammatik
hoch
divers
Diskurs
Technische Inszenatorische Möglich- Möglichkeiten keiten
Erkenntnis
Erfahrung
Nutzung
hoch
hoch
phänomenologisch und semiotisch
Codierung
Nachsicht auf das Geschehen (leiblich), Erlebnis (ästhetisch), Verständnis schaffen (sprachlichkognitiv)
vielschichtig
hoch
hoch
hoch
ästhetische Theorien
Atmosphären- Wirklichkeitssphären herstellung, Emergenz
phänomeno logisch
Absicht
Betroffenheit (leiblich) und Intensität (ästhetisch)
anregend
hoch
soziologisch
Bewegungs führung, Regie
Bewegung im Raum, Aktivität
hoch
aufwändig
310 Szenosphäre & Szenotopie
Betrach- A tungswinkel Theoretisch Aspekte der Raumbühne 14 theaterwissen Raum schaftlich bespielung real 15 Raum bespielung medial 16 Raumebenen 17 Raum anbindung Stadt 18 Raumkommuni kation 19 Raum attraktivität und Vermarktung 20 Raum kompatibilität zu anderen performativen Kulturen
D
E
B
C
Sicht des Szenografen
Sicht des Rezipienten
Akteure und Besucher
Performance sowie eigenes Mitspiel
keine Trennung zwischen Bühne und Zuschauer
divers
medienwissen schaftlich
audiovisuell
Sequenz erlebnis(se)
intermedial
aufwändig
Formen der Anschauung
Verschachte lung
Ununter scheidbarkeit
hoch
aufwändig
Postdramatik
Kontextuali sierung
Gedächtnis, Geschichts schreibung
auch im Außenraum
divers
linguistisch
Dialog
Gespräche, Unterhaltung ist möglich
zunehmend
leicht
emotional basiert
Anbindung an die Wirtschaft ermöglicht aufwändige(re) Inszenierungen
Anziehung steigt
ökonomische Aspekte
divers
multikulturell
Inter disziplinarität
Verständnis und Nähe
multi funktionale Erschließung von Räumlichkeiten
aufwändig
Technische Inszenatorische Möglich- Möglichkeiten keiten
Die obige Raumbühnen-Matrix sowie die nachfolgende Argumentenliste für die Raumbühne (RB) gelten als nicht abgeschlossen. In der folgenden Liste sind die zusammengestellten Hauptargumente jeweils den Bereichen zugeordnet, in denen das Argument hauptsächlich angesiedelt ist; falls sich ein Argument prozentual auch auf einen weiteren Bereich bezieht, ist in diesem Bereich ein Kreuz gesetzt.
5 Klimazonen und Ernte 311
Argumente für die Raumbühne 1
2
3
4
5
6
Raumbezogen Im Gegensatz zur Guckkastenbühne kann die RB die heutige topologische Vorstellung von Raum als ein modulares Verhältnis adäquat widerspiegeln. Es findet ein Erkenntnisprozess statt, der dem menschlichen Sein entspricht: Wahrnehmung von Veränderung durch Bewegung. Raumaneignung und -erzeugung werden ermöglicht; Raum ist nicht schon gegeben, sondern wird hervorgebracht.
Zuschauerbezogen
Diskursbezogen
Erörtert im Gesamtkapitel
x
Szenotopie
x
x
Szenotopie
x
x
Szenosphäre
x
Rekonstruktion und Sprossachsen
x
Rekonstruktion und Sprossachsen
x
Rekonstruktion und Sprossachsen
Die Grenze zwischen Bühne und Zuschauer raum ist entweder aufgehoben oder durchlässig: Es wird dezentral inszeniert. Das Geschehen kann ausschnitthaft verfolgt werden. Jeder sieht etwas anderes, es gibt keine Überoder Fernsicht, sondern eine Nahsicht. Der Besucher kann sich frei bewegen und selber entscheiden, was er sehen möchte: Es gibt Handlungs optionen.
312 Szenosphäre & Szenotopie
Argumente für die Raumbühne
Raumbezogen
7
x
8
x
9
x
10
Zuschauerbezogen Durch die Körperbezogenheit und die Bewegung im Raum wird ein leibliches Betroffen-Sein ermöglicht. x
x
Diskursbezogen
Erörtert im Gesamtkapitel
x
Szenosphäre
Raum wird eher phänomenal, atmosphärisch und performativ als semiotisch wahr genommen. Normvarianten bzw. andere Ordnungen (im Sinne andere Räume) werden ermöglicht. Inblicknahme von Praktiken der Zuschauer im Raum
Szenosphäre
Szenotopie
Szenotopie
Nachfolgend ist diese Liste als Diagramm (Abb. 20, Argumente Raumbühne) dargestellt:
313
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Danksagung Mein Dank richtet sich an all diejenigen Menschen, die mich bei dem langjährigen Entstehungsprozess der vorliegenden Arbeit auf unterschiedlichen Ebenen unterstützt haben. Dazu gehören insbesondere mein Doktorvater Ludwig Fromm und mein Zweitbetreuer Hinderk Emrich; ihre konstruktive Kritik hat mich stets motiviert, und sie haben mir immer zielweisende Richtungen auf meinem Forschungsweg aufgezeigt. Ich danke der Muthesius Kunsthochschule Kiel für ihr Interesse an meiner Forschungsarbeit sowie der Hochschule für Bildende Künste Hamburg (vor allem Michael Diers und Michaela Ott), die es mir durch ein Pro-ExzellenziaStipendium ermöglichte, mich voll und ganz auf die Arbeit konzentrieren zu können. Auch danke ich der Kunsthochschule für Medien Köln (vor allem Hans Ulrich Reck und Heide Hagebölling), die mir durch Lehraufträge bzw. die Betreuung praktischer szenografischer Projekte von Studierenden einen Anknüpfungspunkt für meine theoretischen Untersuchungen und Thesen bot. Zudem möchte ich mich bei der Universität zu Köln bedanken, wo mir Gerald Köhler, Lutz Ellrich, Clemens Stepina, Johannes Stier und Steffen Goldbecker bei theaterwissenschaftlichen Überlegungen wertvolle Impulse gegeben haben. Mein Dank gilt auch meinen Interview-Partnern Ralf Hertling und Werner Ruhnau, die sich mit großem Interesse meinen Fragen gestellt haben, ebenso meinen Fachkollegen Christoph Rodatz und Antonia Wunderlich, deren wertvolle Anregungen eine Bereicherung im Schreibprozess waren, sowie Heiner Wilharm von der FH Dortmund. Er hat mich in meinem Vorhaben, eine Forschungsarbeit zu beginnen, bestärkt und bei den ersten Überlegungen zum Thema beraten; die künstlerisch-wissenschaftlichen Szenografie-Symposien an der FH Dortmund waren (und sind) ein wertvolles Forum, um die Frage des Diskurses in direkter Wechselwirkung mit der Praxis zu stellen. Doch ohne die Unterstützung meines privaten Umfeldes wäre die Arbeit nicht zustande gekommen. Gewidmet ist das Buch meiner Mutter. Und mein Dank gilt meiner Familie und meinen Freunden, die mich stets motiviert haben. Mein letzter Dank geht an meine Suzuki „DR“ – der Name war Programm –, die mir mit frischem Fahrtwind immer wieder einen freien Kopf und Energie für die Schreibtischarbeit geschenkt hat.
Szenografie & Szenologie Ralf Bohn Vom Zeichen zur Szene Der Diskurs der Bedeutungsproduktion in Präsenzgesellschaften Dezember 2016, 204 Seiten, kart., 36,99 €, ISBN 978-3-8376-3836-3
Pamela C. Scorzin Scenographic Fashion Design – Zur Inszenierung von Mode und Marken Februar 2016, 272 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3413-6
Ralf Bohn, Heiner Wilharm (Hg.) Inszenierung und Politik Szenografie im sozialen Feld 2015, 346 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3105-0
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Szenografie & Szenologie Ralf Bohn Szenische Hermeneutik Verstehen, was sich nicht erklären lässt 2015, 486 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3151-7
Heiner Wilharm Die Ordnung der Inszenierung 2015, 682 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2665-0
Ralf Bohn Inszenierung als Widerstand Bildkörper und Körperbild bei Paul Klee 2009, 282 Seiten, kart., zahlr. Abb., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1262-2
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Szenografie & Szenologie Nebojsa Tabacki Kinetische Bühnen Sean Kenny und Josef Svoboda – Szenografen als Wiedererfinder des Theaters 2014, 242 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2876-0
Christine Schranz Von der Dampf- zur Nebelmaschine Szenografische Strategien zur Vergegenwärtigung von Industriegeschichte am Beispiel der Ruhrtriennale 2013, 214 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2693-3
Ralf Bohn, Heiner Wilharm (Hg.) Inszenierung und Effekte Die Magie der Szenografie
Ralf Bohn, Heiner Wilharm (Hg.) Inszenierung und Vertrauen Grenzgänge der Szenografie 2011, 392 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1702-3
Sandra Schramke Kybernetische Szenografie Charles und Ray Eames – Ausstellungsarchitektur 1959 bis 1965 2010, 186 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1508-1
Ralf Bohn, Heiner Wilharm (Hg.) Inszenierung und Ereignis Beiträge zur Theorie und Praxis der Szenografie 2009, 406 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1152-6
2013, 410 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2303-1
Paul Divjak Integrative Inszenierungen Zur Szenografie von partizipativen Räumen 2012, 140 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1942-3
Ralf Bohn, Heiner Wilharm (Hg.) Inszenierung der Stadt Urbanität als Ereignis 2012, 372 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2034-4
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