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German Pages 279
Alexander W. Reichhuber Strategie und Struktur in der Automobilindustrie
GABLER RESEARCH Schriften zur Unternehmensentwicklung Herausgegeben von Professor Dr. Max J. Ringlstetter
In dieser Schriftenreihe werden aktuelle Forschungsergebnisse im Bereich der Unternehmensentwicklung präsentiert. Die einzelnen Beiträge orientieren sich an Problemen der Führungs- bzw. Managementpraxis. Im Mittelpunkt stehen dabei die Themenfelder Strategie, Organisation und Humanressourcen-Management.
Alexander W. Reichhuber
Strategie und Struktur in der Automobilindustrie Strategische und organisatorische Programme zur Handhabung automobilwirtschaftlicher Herausforderungen Mit einem Geleitwort von Prof. Dr. Max J. Ringlstetter
RESEARCH
Bibliograische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliograie; detaillierte bibliograische Daten sind im Internet über abrufbar.
Dissertation Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt, 2009
1. Aulage 2010 Alle Rechte vorbehalten © Gabler | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010 Lektorat: Ute Wrasmann | Stefanie Loyal Gabler ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.gabler.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-8349-2218-2
Für Susanne und Magnus
Geleitwort
VII
GELEITWORT Die Automobilindustrie blickt auf eine lange Tradition zurück und ist dennoch aufgrund aktueller Berichterstattung präsenter denn je. Trotzdem wird sie in der öffentlichen Diskussion oft als marode „Altindustrie“ dargestellt. Nicht erst im Rahmen der aktuellen Wirtschaftkrise sondern bereits in den 90er-Jahren des letzten Jahrhunderts testierten verschiedene Studien den traditionellen Automobilherstellern Nordamerikas und Europas angesichts der aufkommenden japanischen Konkurrenz keine guten Zukunftschancen. Folgt man dieser Argumentation, so erscheint eine erneute wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem „Auslaufmodell“ auf den ersten Blick wenig erstrebenswert. Die Geschichte lehrt uns aber auch, dass man nicht voreilig ganze Industrien zu Grabe tragen soll. So entwickelte sich allen Unkenrufen zum Trotz die europäische Automobilindustrie, allen voran die deutschen Premiumhersteller, bis zum Einsetzen der momentanen Wirtschaftskrise positiv. Die japanische Automobilindustrie hingegen geriet trotz aller Vorschusslorbeeren Ende der 90er-Jahre unter Druck. Der Verfasser der vorliegenden Arbeit handelt nicht vorschnell und wagt den Blick in die Zukunft. Er vertritt die Meinung, dass die Automobilindustrie, nach der Massenproduktion, der schlanken Fertigung und der globalen Konsolidierung vor einem erneuten revolutionären Einschnitt steht. Extern betrachtet müssen sich Automobilhersteller in Zukunft wieder klarer im Wettbewerbsfeld positionieren. Intern muss sich ein Übergang von einer funktionalen, proprietären zu einer kompetenzgetriebenen, offenen Wertschöpfungsstruktur vollziehen. Der Autor begründet diesen Veränderungszwang durch den stetig zunehmenden Kostendruck und die steigenden Kundenansprüche, welche die Unternehmen der Automobilindustrie angesichts von Überkapazitäten und der Absatzstagnation in den Triademärkten in ein „Produktivitätsdilemma“ manövrieren. Basierend auf den aktuellen und künftigen automobilen Herausforderungen erarbeitet und konkretisiert der Autor im zweiten Hauptteil der Arbeit generische Optionen anhand strategischer Programme. Dem Aktionismus in der Praxis, der prima facie zu Einzelmaßnahmen führt und somit nicht der Vielschichtigkeit der Herausforderungen gerecht wird, begegnet er durch eine integrative, ganzheitliche Sichtweise im Sinne des strategischen Managements. Kritisch hinterfragt er beispielsweise die ressourcenorientierte Ingenieurslastigkeit der Branche und stellt der ausgeprägten Produktorientierung die Kundensicht als alternative Betrachtungsperspektive zur Seite.
VIII
Geleitwort
Im Sinne einer integrativen, ganzheitlichen Sichtweise geht der Autor im letzten Hauptteil auf die Organisationsstruktur von Automobilherstellern ein, die zugleich als Folge der Strategiewahl sowie als deren Basis verstanden wird. Zur Erfassung der Vielschichtigkeit und Komplexität automobiler Leistungserstellungssysteme konstruiert der Autor ein differenziertes Organisationsverständnis, das eine Betrachtung verschiedener Organisationsebenen über die klassischen Alternativen Markt und Hierarchie hinaus erlaubt. Unternehmensintern wird bspw. die Logik modularer Produktplattformen auf die Organisation übertragen und so ein Organisationsbild entworfen, welches sowohl stabilisierende als auch flexible Elemente beinhaltet. Unternehmensübergreifend wird u.a. auf die verschiedenen Rollenbilder und deren Konfiguration eingegangen, wobei bspw. die zunehmende Konfluenz von Hersteller und Zulieferunternehmen thematisiert und ein kritischer Diskurs über das dominierende, herstellermachtbasierte Kooperationsdesign geführt wird. Durch den gewählten theoretisch-konzeptionellen Zugang zu automobilwirtschaftlichen Herausforderungen gelingt es dem Verfasser, eine Basis zur kritischen Reflexion aktueller Vorgehensweisen durch das Management zu legen und Impulse für neue Ideen, Ansichten und Denkweisen des Managements zu geben. Die Übertragung strategischer und organisatorischer Konzepte auf die Automobilbranche ist dabei hervorragend gelungen. Ich kann jedem interessierten Leser diese Lektüre nur wärmstens empfehlen. Prof. Dr. Max Ringlstetter
Vorwort
IX
VORWORT Aktuelle Branchen- und Umfeldbedingungen deuten darauf hin, dass die Automobilindustrie, Untersuchungsobjekt dieser Arbeit, nach der Massenproduktion, der schlanken Fertigung und der globalen Konsolidierung vor einem erneuten revolutionären Einschnitt steht. Vor dem Hintergrund anstehender strategischer und organisatorischer Sprünge erscheint das momentan vorherrschende Rezeptionsdefizit der Strategie- und Organisationsforschung im Bereich der Automobilwirtschaft durchaus erstaunlich. Abgesehen von einer breiten Anzahl praxeologischer Veröffentlichungen beschäftigen sich kaum wissenschaftliche Arbeiten in der Breite mit diesem Thema, sondern wählen eine stark auf Einzelaspekte fokussierte Betrachtung, wodurch die komplexen Gesamtzusammenhänge kaum Berücksichtigung finden. Anknüpfend an diese Ausgangslage ist Zielsetzung der vorliegenden Arbeit, das Defizit der fehlenden wissenschaftlichen Gesamtbetrachtung zu schmälern, indem ein integrativer, umfassender Beitrag zum Thema Strategie und Organisation in der Automobilindustrie geleistet wird. Hierbei gilt es, eine Symbiose von Theorie und Praxis herbeizuführen, um auf Basis theoretischer Konzepte des strategischen Managements und der Organisationslehre umfassende Hilfestellung für das Management von Automobilherstellern zu erbringen. Der ganzheitliche, theoretischkonzeptionelle Zugang zu automobilwirtschaftlichen Herausforderungen versteht sich dabei als Basis für eine kritische Reflexion aktueller Vorgehensweisen durch das Management, indem die theoretisch-konzeptionelle Anreicherungsdichte als Impulsgeber für neue Ideen, Ansichten und Denkweisen des Managements dient. Ähnlich dem Automobil, das einen komplexen Leistungsverbund zur Fertigung benötigt, wäre auch die vorliegende Arbeit ohne zahlreiche Unterstützer, die direkt als Leistungspartner oder indirekt als Impulsgeber für den Autor fungierten, nicht existent. Ich möchte daher dieses Vorwort, das ja prozessual gesehen eher ein Nachwort und damit eine Dokumentation der Erfahrung darstellt, nutzen, um all jenen zu danken, die sich mit mir gemeinsam auf diese akademische Expedition eingelassen haben. Mein Dank gilt meinem Doktorvater Herrn Prof. Dr. Max Ringlstetter, der mir die notwendigen Freiräume zur akademischen und persönlichen Entfaltung während der gesamten Promotionszeit schuf. Sein von mir geteilter Wille nach uneingeschränkter Freiheit ging zuletzt soweit, dass es meinem Sohn vergönnt ist, trotz der „Gnade der späten Geburt“, zumindest den finalen Akt der Inszenierung mitzuerleben und ich meiner Partnerin in den schließenden Worten als Ehefrau danken darf. Ferner danke ich ihm für all die wertvollen Erfahrungen, die
X
Vorwort
ich an seinem Lehrstuhl sammeln durfte. Herrn Prof. Dr. Anton Burger danke ich herzlich für die Übernahme des Korreferats. Im Sinne einer dualistischen Sichtweise von Wissenschaft und Praxis danke ich auch Herrn Prof. Dr. Andrej Vizjak. Die bei ihm gesammelten Erfahrungen haben dafür gesorgt, dass ich neben aller Theorie die Praxisrelevanz nie aus den Augen verloren habe. In diesem Zusammenhang möchte ich auch meinem damaligen und jetzigen Arbeitgeber, der Unternehmensberatung A.T. Kearney danken. Ich bin in der glücklichen Situation, dass eine Vielzahl meiner Kollegen auch Freunde sind und so die Unterstützung sowohl beruflicher als auch privater Natur war. Auch bin ich den vielen Interviewpartnern dankbar, die mir wertvolle Einblicke in die Unternehmenspraxis gewährten. Ich bin auch zahlreichen meiner damaligen Kollegen und aktuellen Mitarbeitern des LSR zu Dank verpflichtet. Zu nennen sind hier insbesondere meine Freunde und Kollegen Simone Kansy, Martin Stolz, Johannes Dölle und Dr. Gordon Müller-Seitz für die gründliche Durchsicht des Manuskripts und letzte hilfreiche Anmerkungen. Sämtliche noch enthaltene Fehler habe ich nachträglich hinzugefügt. Hervorheben möchte ich auch Frau Walburga Mosburger, die in unnachahmlicher Weise mit Herzlichkeit, Menschlichkeit, Ehrlichkeit und Offenheit meine Zeit am Lehrstuhl prägte. Besonders bedanken möchte ich mich bei denjenigen, die nicht nur in einzelnen Phasen involviert waren, sondern Glück und Elend der gesamten akademischen Reise miterleben durften/ mussten. Neben allen meinen guten Freunden, empfinde ich insbesondere große Dankbarkeit gegenüber meinen Eltern Konrad und Heiderose Reichhuber, ohne deren Unterstützung und Glauben an mich diese Arbeit und mein gesamter Ausbildungsweg nicht möglich gewesen wären. Am meisten aber danke ich meiner Ehefrau Susanne, ohne die es diese Sätze nicht geben würde. Sie ist eine Meisterin der Geduld, Akzeptanz und Gelassenheit. In ihrem meist aussichtslosen Kampf gegen den akademischen Wahnsinn wurde sie auf den letzten Meilen durch unseren Sohn Magnus unterstützt. Durch ihre Lebensfreude erschien die lange Reise am Ende doch kurzweilig. Es ist daher wenig überraschend, dass dieses Buch, wie auch mein ganzes Leben, ihnen gewidmet ist. Alexander Wilhelm Reichhuber
Inhaltsverzeichnis
XI
INHALTSVERZEICHNIS GELEITWORT ............................................................................................................................ V
VORWORT ................................................................................................................................ IX
INHALTSVERZEICHNIS ............................................................................................................. XI
ABBILDUNGSVERZEICHNIS ................................................................................................. XVII
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS .................................................................................................. XXI
EINFÜHRENDE BEMERKUNGEN ................................................................................................. 1
TEIL I:
(1)
Defizite in der Automobilforschung und Zielsetzung der Arbeit ....................................................... 3
(2)
Herangehensweise und Aufbau der Arbeit ........................ 8
GRUNDLAGEN UND HERAUSFORDERUNGEN DER AUTOMOBILINDUSTRIE ............ 15 I.1
Grundlagen zur Automobilindustrie und ihrer Historie ....................... 15 I.1.1
I.1.2
Einführende Bemerkungen zur Automobilwirtschaft .................... 16 (1)
Automobilhersteller als zentrale Akteure der Automobilwirtschaft ........................................................ 17
(2)
Grundlegendes zur Zulieferindustrie der Automobilwirtschaft ........................................................ 22
(3)
Die automobile Leistungserstellung ................................ 27
Strategie und Struktur – eine Betrachtung der Automobilhistorie .......................................................................... 31 (1)
Die fordistische Massenproduktion ................................. 32
(2)
Lean Management – Aufstieg der asiatischen Automobilhersteller ......................................................... 36
XII
Inhaltsverzeichnis
(3)
I.2
Globale Herausforderungen in der Automobilindustrie ........................ 46 I.2.1
I.2.2
I.2.3
I.3
Die Automobilindustrie in der weltweiten Konsolidierung ................................................................ 41
Management der Angebotskomplexität ......................................... 48 (1)
Steigerung der Fahrzeugvarietät ...................................... 48
(2)
Steigende Angebotsdynamik ........................................... 50
Erschließung neuer Wachstumsmärkte.......................................... 52 (1)
Wettbewerbssituation in den Triademärkten ................... 52
(2)
Chancen in den Wachstumsmärkten................................ 54
Sicherung der Ertragssituation ....................................................... 56 (1)
Sinkende Mehrpreisbereitschaft und allgemeine Preiserosion ................................................... 58
(2)
Ausdünnung der Mitte ..................................................... 60
(3)
Kostensteigerung in der Fahrzeugentwicklung und Produktion ................................................................ 61
Zwischenbetrachtung: Automobilindustrie – Quo vadis? ..................... 63
TEIL II: STRATEGISCHE ANSATZPUNKTE ZUR HANDHABUNG AUTOMOBILWIRTSCHAFTLICHER HERAUSFORDERUNGEN ................................... 65 II.1
Strategische Positionierungsprogramme für Automobilhersteller ....... 71 II.1.1
Marktstrategien zwischen Globalisierung und Lokalisierung ................................................................................. 72 (1)
Standardisierungsstrategien im globalen Wettbewerb ...................................................................... 73
(2)
Lokalisierung als entscheidender Wettbewerbsvorteil .......................................................... 74
(3)
Erste Überlegungen zur Strategie der standardisierten Lokalisierung......................................... 77
Inhaltsverzeichnis
XIII
II.1.2
II.1.3
II.2
(1)
Optimierung auf Programmebene ................................... 80
(2)
Optimierung auf Fahrzeugebene – Bedarfsorientiertes Produktmanagement ......................... 85
(3)
Potenziale durch das Automobil als Systemgeschäft ................................................................ 89
Wettbewerbsstrategien im reifen Markt ........................................ 93 (1)
Integratives Markenmanagement als Differenzierungsoption im Rahmen der Kundenorientierung ......................................................... 93
(2)
Kostenführerschaft durch Imitation und Nutzung von Volumenvorteilen ...................................... 97
Strategische Leistungserstellungsprogramme für Automobilhersteller ................................................................................. 100 II.2.1
II.2.2
II.3
Produktstrategien vor dem Hintergrund ausdifferenzierter Kundenwünsche und sinkender Margen ........................................................................................... 79
Unternehmensübergreifende Wertschöpfungsstrategien im globalen Kontext .................................................................... 100 (1)
Optimierung der vertikalen Wertschöpfungsarchitektur anhand möglicher Kernkompetenzprofile ................................................... 101
(2)
Wertschöpfungspartner im automobilen Leistungsverbund .......................................................... 104
(3)
Verlagerung der physischen Leistungserstellung ........................................................ 112
Kompetenztypen und ihr Management im Rahmen einer Ressourcenstrategie ............................................................ 115 (1)
Leistungsbezogene Kompetenztypen ............................ 117
(2)
Prozessuale Kernkompetenzen ...................................... 123
Zwischenbetrachtung: Die Modularisierung als Pfeiler zentraler Maßnahmen .............................................................................................. 126
XIV
Inhaltsverzeichnis
(1)
Die Produktmodularität als „kleinster gemeinsamer Nenner“ ................................................... 126
(2)
Implikationen der Produktmodularität .......................... 128
TEIL III: ANSATZPUNKTE ZUR ORGANISATION DES AUTOMOBILEN LEISTUNGSVERBUNDS ........................................................................................... 129 III.1 Konfiguration des automobilen Leistungsverbunds ............................. 133 III.1.1
III.1.2
III.1.3
Der Automobilhersteller als Plattform modularer Teileinheiten ................................................................................ 134 (1)
Grundlegende Überlegungen zur Modularisierung von Teileinheiten ............................... 136
(2)
Erklärungsansätze zur Notwendigkeit eines Organisationskerns als Plattform ................................... 140
(3)
Rekapitulation des theoretischen Diskurses am Beispiel der internen Entwicklungsorganisation ............................................. 145
Zur Konfiguration externer Leistungspartner im automobilen Netzwerkverbund .................................................... 148 (1)
Zur Hierarchisierung des Zuliefersystems ..................... 148
(2)
Konfigurationsüberlegungen zum automobilen Vertriebsnetz .................................................................. 152
Überlegungen zur Konfluenz zwischen Automobilunternehmen und Umfeld ........................................... 156 (1)
Push – Die gewollte Differenzierung interner Einheiten ........................................................................ 157
(2)
Pull – Die Integration externer Einheiten in den automobilwirtschaftlichen Leistungsprozess ............................................................ 162
III.2 Ansatzpunkte zur Koordination im automobilen Leistungsverbund..................................................................................... 171 III.2.1
Ansatzpunkte zur Koordination von Automobilunternehmen als Plattformorganisationen .................. 171
Inhaltsverzeichnis
XV
III.2.2
(1)
Überlegungen zur teileinheitsspezifischen Rahmenprogrammierung in modularen Konfigurationen ............................................................. 175
(2)
Schnittstellensysteme zur Integration modularer Einzelleistungen ........................................... 177
(3)
Kulturarbeit als Lavieren zwischen Corporate und Organizational Culture ........................................... 182
Ansatzpunkte der Koordination externer Partner im automobilwirtschaftlichen Leistungsverbund .............................. 191 (1)
Anwendbarkeit und Grenzen marktbasierter Koordination im automobilwirtschaftlichen Leistungsverbund .......................................................... 192
(2)
Macht als Koordinationsinstrument im automobilwirtschaftlichen Leistungsverbund ............... 195
(3)
Koordination durch soziale Plattformen ........................ 200
III.3 Zwischenbetrachtung: Rekapitulation eines differenzierten Organisationsbildes.................................................................................. 210
SCHLUSSBETRACHTUNG ........................................................................................................ 213 (1)
Reflexion zentraler Ergebnisse der Arbeit..................... 213
(2)
Ausblick und Ansatzpunkte für weitere Forschungsbemühungen ................................................ 216
LITERATURVERZEICHNIS ...................................................................................................... 223
Abbildungsverzeichnis
XVII
ABBILDUNGSVERZEICHNIS Abb. E-1:
Literaturkasten mit ausgewählten Veröffentlichungsbeispielen ...................... 4
Abb. E-2:
Grundelemente des Gesamtkonzeptes ........................................................... 10
Abb. E-3:
Übersicht zu den Expertengesprächen ........................................................... 12
Abb. E-4:
Aufbau der Arbeit .......................................................................................... 13
Abb. I-1:
Klassifizierung von Automobilherstellern ..................................................... 18
Abb. I-2:
Top 10 Automobilhersteller in Absatzmengen (in Millionen Stück) ............ 19
Abb. I-3:
Top 10 Zulieferunternehmen in Umsatz (in Milliarden USD) ...................... 23
Abb. I-4:
Die automobilwirtschaftliche Wertschöpfungskette ...................................... 28
Abb. I-5:
Unterschiede in der Produktion zwischen Ford und Toyota.......................... 40
Abb. I-6:
Internationale Cross- vs. Intra-Industrie-M&A aus Sicht der Automobilindustrie ........................................................................................ 42
Abb. I-7:
Internationales Transaktionsvolumen in der Automobilindustrie ................. 43
Abb. I-8:
Herstellerverflechtung der Automobilindustrie (Auswahl an OEM) ............ 45
Abb. I-9:
Marktattraktivitätsmatrix ............................................................................... 55
Abb. I-10:
Mehrpreisbereitschaft für elektronische Überlagerungslenkung in EUR ...... 59
Abb. I-11:
Segment-Entwicklung.................................................................................... 60
Abb. I-12:
Phasenbetrachtung der automobilwirtschaftlichen Entwicklung ................... 63
XVIII
Abbildungsverzeichnis
Abb. II-1:
Wachstumsperformance ausgewählter Automobilhersteller ......................... 66
Abb. II-2:
Strategische Programme als Komponenten des strategischen Managements ................................................................................................. 69
Abb. II-3:
Strategisches Spielfeld und Manöver zur Markterschließung ....................... 73
Abb. II-4:
Strategisches Spielfeld und Manöver für Produktstrategien.......................... 79
Abb. II-5:
Leveragemöglichkeiten innerhalb von Plattformen ....................................... 84
Abb. II-6:
Auswahl premiummarkenrelevanter Module am Bsp. BMW ....................... 87
Abb. II-7:
Strategisches Spielfeld und Manöver innerhalb des Wertschöpfungssystems............................................................................... 101
Abb. II-8:
Leistungsverteilung in Abhängigkeit des Lieferantentypus ........................ 105
Abb. II-9:
Entwicklung der Produktionskapazitäten 2006-2014 .................................. 112
Abb. II-10:
Kompetenztypen und Kompetenzraum ....................................................... 117
Abb. II-11:
Kompetenzportfolio und Normstrategien .................................................... 120
Abb. II-12:
Auswirkung der Modularität auf die strategischen Programme an ausgewählten Beispielen .............................................................................. 127
Abb. III-1:
Optionen der Leistungskonfiguration .......................................................... 139
Abb. III-2:
Modulare Konfiguration der Teileinheiten .................................................. 146
Abb. III-3:
Konzentration im Zulieferbereich ................................................................ 150
Abb. III-4:
Hierarchische Zulieferkette.......................................................................... 151
Abbildungsverzeichnis
XIX
Abb. III-5:
Klassische und zukünftige Vertriebsstrukturen ........................................... 154
Abb. III-6:
Vertriebsgemeinschaft unter der Niederlassungsfreiheit ............................. 155
Abb. III-7:
Der Konfluenzraum als diffuse Unternehmensgrenze ................................. 157
Abb. III-8:
Konfigurationsmöglichkeiten der Integration externer Leistungspartner .... 167
Abb. III-9:
Räumliche Verortungsvarianten von Leistungspartnern ............................. 169
Abb. III-10:
Abgrenzung und Systematisierung der Netzwerksteuerung ........................ 172
Abb. III-11:
Corporate und Organizational Culture in modularen Plattformorganisationen ............................................................................... 187
Abb. III-12:
Ausgewählte Netzwerkbeziehungen und ihre Steuerung ............................ 191
Abb. III-13:
Zusammenhang von Kooperationscharakteristika und sozialen Steuerungsmöglichkeiten ............................................................................. 201
Abb. III-14:
Überblick über die verschiedenen Konfigurations- und Koordinationsformen ................................................................................... 210
Abkürzungsverzeichnis
XXI
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS Abb.
=
Abbildung
ABS
=
Antiblockiersystem
ADAC
=
Allgemeiner Deutscher Automobil-Club
AEG
=
Allgemeine Elektrizitätsgesellschaft
a. M.
=
am Main
Anm.
=
Anmerkung
A. R.
=
Alexander Reichhuber
Art.
=
Artikel
B2B
=
Business-to-Business
B2C
=
Business-to-Consumer
BMW
=
Bayerische Motorenwerke
BRIC(K)
=
Staatsgruppe bestehend aus Brasilien, Russland, Indien, China (und Korea)
bspw.
=
beispielsweise
bzgl.
=
bezüglich
bzw.
=
beziehungsweise
CAD
=
Computer Aided Design
CAGR
=
Compound Annual Growth Rate
CAM
=
Computer Aided Manufacturing
CO2
=
Kohlendioxid
debis
=
Daimler-Benz InterServices AG
DIN
=
Deutsches Institut für Normung
d. h.
=
das heißt
DMU
=
Digital Mock-up
EBIT
=
Earnings before Interest and Taxes
EDM
=
Engineering Data Management
Engl.
=
Englisch
et al.
=
et alteri/ et alii
etc.
=
et cetera
EU
=
Europäische Union
EUR
=
Euro
XXII
Abkürzungsverzeichnis
exempl.
=
exemplarisch
f./ff.
=
folgende/fortfolgende
FuE/ F&E
=
Forschung und Entwicklung
GB
=
Großbritannien
gem.
=
gemäß
GM
=
General Motors
GVO
=
Gruppenfreistellungsverordnung
GUS
=
Gemeinschaft Unabhängiger Staaten
GW
=
Gebrauchtwagen
Herv.
=
Hervorhebung
Hrsg.
=
Herausgeber
IAM
=
Independent After Market
IBM
=
International Business Machines
IDL
=
Ingenieurdienstleister
i. d. R.
=
in der Regel
ISO
=
International Standard Organisation
IuK
=
Informations- und Kommunikationstechnologie
Kap.
=
Kapitel
KFZ
=
Kraftfahrzeug
LKW
=
Lastkraftwagen
M&A
=
Merger & Acquisition
MBB
=
Messerschmitt-Bölkow-Blohm
MBV
=
Market Based View
Mio.
=
Million
MIT
=
Massachusetts Institute of Technology
Mrd.
=
Milliarde
MTU
=
Motoren- und Turbinenunion München
MPV
=
Multi Purpose Vehicle
Nr.
=
Nummer
NW
=
Neuwagen
Abkürzungsverzeichnis
XXIII
OEM
=
Original Equipment Manufacturer
OES
=
Original Equipment Supplier
OICA
=
Organisation Internationale des Constructeurs d’Automobiles
o. Jg.
=
ohne Jahrgang
o. O.
=
ohne Ort
o. S.
=
ohne Seite
o. V.
=
ohne Verfasser
PDM
=
Product Data Management
PKW
=
Personenkraftwagen
PSA
=
Peugeot Société Anonyme
RBV
=
Resource Based View
ROCE
=
Return on Capital Employed
RU
=
Russland
S.
=
Seite
SAIC
=
Shanghai Automotive Industry Corporation
SIC
=
Standard Industrial Classification
Sp.
=
Spalte
sog.
=
so genannt
SUV
=
Sport Utility Vehicle
teilw.
=
teilweise
u. a.
=
unter anderem
ULEV
=
Ultra Low Emission Vehicle
u. R. a.
=
unter Rekurs auf
US
=
United States
USA
=
United States of America
USD
=
US Dollar
usw.
=
und so weiter
VDA
=
Verband der Automobilindustrie
VDI
=
Verein Deutscher Ingenieure
vgl.
=
vergleiche
XXIV
Abkürzungsverzeichnis
VW
=
Volkswagen
www
=
World Wide Web
WS
=
Wertschöpfung
WTO
=
World Trade Organization
z. B.
=
zum Beispiel
zit. nach
=
zitiert nach
Einführende Bemerkungen
1
EINFÜHRENDE BEMERKUNGEN Henry Ford erkannte bereits in den Geburtsjahren der Automobilindustrie die Bedeutung des Automobils für die gesamtökonomische Entwicklung des letzten Jahrhunderts: „Wir fahren nicht nur Auto, weil wir so reich sind, sondern wir sind auch so reich, weil wir Auto fahren.“ (Ford (o. Jg.), zit. nach Diez et al. (2005), S. 63).
Heute ist die Automobilbranche mit ihrer 120-jährigen Geschichte nicht nur mit fast 47 Millionen jährlich produzierten Fahrzeugen und 1,9 Billionen Euro Jahresumsatz ökonomisch eine der bedeutendsten Industrien,1 sondern auch Impulsgeber und Schrittmacher für weite Teile der industriellen Produktion; die wohl wichtigsten produktionstechnischen Erfindungen, die Fließbandfertigung2 und die schlanke Produktion3, sind automobilen4 Ursprungs.5 Dennoch wird die Automobilindustrie in der öffentlichen Diskussion oft als marode „Altindustrie“ dargestellt.6 Bereits in den 90er-Jahren des letzten Jahrhunderts testierte die MIT Studie „The Machine that Changes the World“ den traditionellen Automobilmärkten Nordamerika und Europa angesichts der aufkommenden japanischen Konkurrenz keine guten Zukunftschancen.7 Folgt man dieser Argumentation, so erscheint eine erneute wissenschaftliche Auseinandersetzung mit einem „Auslaufmodell“ wenig erstrebenswert.
8
Allen Unkenrufen
zum Trotz entwickelte sich jedoch in den 90er-Jahren und im neuen Jahrtausend insbesondere die europäische Automobilindustrie, allen voran die deutschen Premiumhersteller, durchaus positiv. Dahingegen geriet die japanische Automobilindustrie trotz aller Vorschusslorbeeren Ende der 90er-Jahre selbst in eine wirtschaftliche Krise.9 Richtet man den Blick in die Zukunft, so steht die Automobilindustrie, trotz der weitläufigen Ansicht, die Industrie stelle ein „Auslaufmodell“ dar, vor einem erneuten revolutionären
1
2 3 4
5 6 7 8 9
Hierbei handelt es sich um die Produktion von PKW sowie Transportern unter 7,5t für den privaten Gebrauch im Jahr 2005. Vgl. Wright Curtis et al. (2006), S. 6f. Die Umsatzzahlen beziehen sich auf den OICA-Report vom 29.11.2006. Vgl. OICA (2006). Somit ist die Automobilindustrie die sechstgrößte Industrie der Welt. Vgl. Ackermann (2004), S. 33, und Womack et al. (1990), S. 21ff. Zur vertiefenden Lektüre zur schlanken Produktion vgl. exempl. Womack et al. (1990), Womack/ Jones (2004), Cusumano (1985), Kiefer (1995) und für ein Praxisbeispiel Scheinecker (1988). Der Begriff „automobil“ wird in dieser Arbeit nicht in seiner originären Bedeutung „beweglich“ verwendet, sondern dient als zusammenfassender Begriff für „die Automobilindustrie/-branche betreffend“ oder auch „automobilwirtschaftlich“. Vgl. Radtke et al. (2004), S. 9, West (2000), S. 6, Braess (2006), S. 52ff., und Wolf (2006), S. 286. Vgl. Pries/ Hertwig (2005), S. 7. Vgl. Womack et al. (1990). Vgl. Pries (2005), S. 15. Vgl. hierzu exempl. Pries (2003), S. 3.
2
Einführende Bemerkungen
Einschnitt. Hüttenrauch & Baum (2008) veröffentlichten jüngst den Titel „Effiziente Vielfalt – Die dritte Revolution in der Automobilindustrie“ und Kalmbach (2006) betitelt eine seiner letzten Veröffentlichungen „Die nächste Runde im automobilen Powerplay“. Er stellt hierin fest:10 „Seit jeher haben tiefgreifende Veränderungen die Branche herausgefordert […]. Doch heute ist eine neue Qualität der Herausforderungen zu beobachten […]. Traditionelle Strukturen und Spielregeln gelten nicht mehr. Die ganze Branche verändert sich weltweit.“ (Kalmbach (2006), S. 31, Herv. A. R.)
Begründet wird die aktuelle Lage durch den stetig zunehmenden Kostendruck und die steigenden Kundenansprüche, welche die Unternehmen der Automobilindustrie angesichts von Überkapazitäten und der Absatzstagnation in den Triademärkten in ein „Produktivitätsdilemma“ manövrieren.11 Viele Automobilhersteller flüchten in dieser verschärften Wettbewerbssituation in die Produktdifferenzierung, um ihre Wettbewerbsposition zu verteidigen:12
Ehemalige Volumenmarken wie Toyota, Volkswagen und PSA13 drängen in den Premiumbereich, um u. a. die stabilere Nachfrage und die bessere Margensituation zu nutzen.
Premiumanbieter wie Audi, BMW und Daimler erweitern ihr Portfolio nach unten, um für die breite Masse Automobile anbieten zu können.14
Erfolgreiche Nischenhersteller wie bspw. Porsche betreten nicht nur weitere Nischen, sondern kaufen sich zunehmend bei etablierten Volumenherstellern wie bspw. Volkswagen ein.15
Die Programmerweiterung führt jedoch oft zu Positionierungsproblemen16 und die entstehenden Strukturen erweisen sich in der aktuellen Situation oft als zu behäbig und ineffizient.17
10 11
12 13 14 15 16
Auch Wolf (2006), S. 285, konstatiert: „Der nächste Evolutionsschritt der Automobilindustrie steht kurz bevor.“ Vgl. hierzu u. a. Verband der Automobilindustrie (2003b), S. 16f., Machart (1997), S. 2, Tropschuh (2007), S. VII, Radtke et al. (2004), S. 11 und 26ff., Pointner (2004), S. 52ff. Diese Probleme spiegeln sich auch in aktuellen Branchenbeispielen wieder: General Motors leidet unter Umsatz- und Gewinneinbrüchen (vgl. exempl. o. V. (2007f)), Ford steckt wie die anderen US-Autohersteller in einer Absatzkrise (vgl. exempl. o. V. (2007h)) und Daimler trennt sich nach Jahren unter Verlusten von Chrysler (vgl. exempl. Kuntz (2007)). Vgl. Berret (2006), S. 73, Becker (2007), S. 9, und Steger (2004), S. 52. PSA (Peugeot Société Anonyme) ist ein französischer Konzern, der u. a. die Automobilhersteller Peugeot und Citroen unter seinem Dach vereint. Vgl. hierzu auch ausführlich Hüttenrauch/ Baum (2008), S. 51f. Vgl. Becker (2007), S. 9 und 75. Vgl. u. a. Mercer Management Consulting (2003b), S. 1f., und in ähnlicher Weise Panke (2005), S. 12. Auch Dudenhöffer spricht in einem Interview mit dem Schweizer Magazin „Persönlich“ die Problemati-
Einführende Bemerkungen
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Zudem entwickelt sich das Automobil zeitgleich, getrieben durch den technischen Fortschritt, zu einem komplexen High-Tech-Massenprodukt, wodurch zusätzliche Herausforderungen entstehen.18 Die Symptome werden dabei meist mit Kostensenkungsprogrammen oberflächlich behandelt, wohingegen die eigentlichen Probleme weitgehend unberührt bleiben.19 Experten fordern daher zunehmend eine umfassende strategische und organisatorische Neuausrichtung und eine konsequente Fokussierung auf das Kerngeschäft bzw. auf die Kernkompetenzen.20 Extern betrachtet müssen sich Automobilhersteller in Zukunft wieder klarer im Wettbewerbsfeld positionieren. Intern muss sich ein Übergang von einer funktionalen, proprietären zu einer kompetenzgetriebenen, offenen Wertschöpfungsstruktur vollziehen.21 Es gilt, den Spagat zwischen schlanken Strukturen und proliferierenden Kundenanforderungen zu meistern.22 Vor diesem Hintergrund sollen im Folgenden zunächst der aktuelle Stand der Automobilforschung vorgestellt und die sich daraus ergebenden Defizite thematisiert werden (1). Aufbauend auf diesen wird eine konzeptionelle Gesamtsicht als Herangehensweise und als Basis für den Aufbau der Arbeit gewählt (2).
(1)
Defizite in der Automobilforschung und Zielsetzung der Arbeit
Aufgrund der geschilderten Problemstellung und der allgemeinen Branchenentwicklung ist die Automobilwirtschaft unverändert Gegenstand intensiver wissenschaftlicher Rezeption. _______________________________________________________________________________________
17 18 19 20
21 22
ken an, die mit einer Ausweitung des Fahrzeugportfolios einhergehen. Auf die Frage „Ist es mutig, VW gegen Mercedes zu positionieren?“ antwortet Dudenhöffer „Sehr mutig. Zu mutig. […] VW ist eine Volumenmarke […]. Wenn sich VW nun gegen Mercedes positioniert […] dann hat man Premium-Produkte und Premium-Preise, aber es fehlt das Volumen. VW muss herausfinden, wofür das Unternehmen eigentlich steht“ (Dudenhöffer (2004), zit. nach Oliver (2004), S. 7). Auf die Frage nach der aktuellen Situation von Fiat merkt er an: „Neben der Kleinwagenmarke Fiat bleibt das gesamte Markenportfolio der Gruppe mit Lancia und Alfa unklar“ (Dudenhöffer (2004), zit. nach Oliver (2004), S. 5). Auch Beutin (2004) stellt in diesem Zusammenhang fest: „Erfolgreiche [Automobil-]Unternehmen fokussieren sich auf ein engeres Produktprogramm“ (Beutin (2004), S. 1, Anm. A. R.). In Kürze seien an dieser Stelle strukturelle Überkapazitäten, explodierende Entwicklungskosten und sinkende Kapazitätsauslastungen genannt. Vgl. hierzu ausführlich Becker (2007) S. 75ff. Vgl. Pries (2005), S. 17ff. Vgl. Becker (2007), S. 10f., und auch Lührig (2006), S. 10. Vgl. Radtke et al. (2004), S. 11, Pointner (2004), S. 50f., Kurek (2004), S. 9, und PricewaterhouseCoopers (2003). Aktuelle Beispiele für eine Fokussierung auf das Kerngeschäft sind die Trennung von Daimler und Chrysler (vgl. exempl. o. V. (2007d) und die Überlegungen von Ford, die Premiumsparte zu verkaufen (vgl. exempl. o. V. (2007e)). Eine Trennung von Aston Martin hat bereits stattgefunden. Als historisches Beispiel sei zudem die Trennung von BMW und Rover genannt. Vgl. exempl. o. V. (2001). Vgl. Verband der Automobilindustrie (2003b), S. 3 und 44. Ähnlich zu finden bei Schindler (2006), S. 143, und Mattes et al. (2004), S. 22ff.
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Einführende Bemerkungen
Zunächst kann festgestellt werden, dass die Techniklastigkeit der Branche zu einem Veröffentlichungsschwerpunkt im Bereich der Ingenieurwissenschaften führt.23 Nähert man sich der eher managementorientierten, betriebswirtschaftlichen Literatur, so sind zwei Trends erkennbar (vgl. Abb. E-1): Praxeologische Veröffentlichungen
Auf Einzelaspekte fokussierte Veröffentlichungen
• Generelle Managementlektüre • Funktionale Fokusbetrachtung, z. B. Marketing - Radtke et al. (2004) „Die smarte Revolution in der und Vertrieb Automobilindustrie“ - Diez (2003) „Markenentwicklung und - Becker (2007) „Auf Crashkurs“ Vertriebsstrategien“ - Rosengarten/ Stürmer (2005) „Premium power“ - Krüger (1999) „Markenmanagement – - Gottschalk/ Kalmbach (2006a) „Mastering the Zukunftsorientiertes Automobilmarketing“ - Gottschalk et al. (2005) „Markenmanagement Automotive Challenges“ - Hüttenrauch & Baum (2008) „Effiziente Vielfalt in der Automobilindustrie“ Die dritte Revolution in der Automobilindustrie“ - Diez (2006) „Automobil-Marketing“ • Lehrbuchhafte Veröffentlichungen - Großkurth (2004) „Markenloyalität im - Diez et al. (2005) „Grundlagen der Premiumsegment des Automobilmarkts“ Automobilwirtschaft“ - Meinig (1993) „Automobilwirtschaft – - Ebel et al. (2004a) „Automotive Management“ Marketing und Vertrieb“ • Studien von Professional Service Firms • Regionale Fokusbetrachtung - Mercer Management Consulting & Fraunhofer - Chaveles (1997) „Wettbewerbsstrategien Gesellschaft (2004) „Future Automotive Industry japanischer und koreanischer Structure (FAST) 2015“ Automobilhersteller“ - Verband der Automobilindustrie (2003b) „HAWK - Cusumano (1985) „The Japanese automobile 2015 - Herausforderung automobile industry - Technology and management at Wertschöpfungskette“ Nissan and Toyota” - Boston Consulting Group (2001) „Steering - Gutberlet (1993) „Die Produktivität der Carmaking into the 21st Century“ japanischen Automobilindustrie - Ausmaß und • Fallstudienveröffentlichungen Ursachen der japanischen - Garibaldo/ Bardi (2005) „Company Strategies and Wettbewerbsvorteile gegenüber der deutschen Organisational Evolution in the Automotive Sector” Automobilindustrie“ - Bea et al. (1997) „Strategie und Organisation der - Neuner (1993) „Die Wettbewerbsfähigkeit der amerikanischen Automobilindustrie am Ende Daimler-Benz AG“ - Schnapp/ Comer (1979) „Corporate Strategies of der 80er Jahre“ the Automotive Manufacturers“ - Mikhalitsyna (2008) „Struktureller Wandel in - Pries (1999a) „Auf dem Weg zu global der Automobilindustrie - Am Beispiel der operierenden Konzernen? BMW, Daimler-Benz und Russischen Föderation“ Volkswagen – Die drei großen der deutschen Automobilindustrie“ - Mehl (1993) „Fiat Auto – Strategie schlägt Struktur“
Abb. E-1:
Literaturkasten mit ausgewählten Veröffentlichungsbeispielen
Dominante Praxisorientierung:24 Veröffentlichungen im Bereich der Automobilwirtschaft sind oft äußerst praxisgetrieben und weisen eher eine mangelnde theoretische Fundierung
23 24
Aufgrund der Vielzahl an Veröffentlichungen im Bereich Ingenieurwissenschaften soll eine tiefer gehende Literaturanalyse an dieser Stelle nicht erfolgen. Auch die gewählten Titel vieler Veröffentlichungen, wie u. a. Becker (2007) „Auf Crashkurs“, Becker (2003) „Automobilindustrie vor der Krise?“ oder Kuhlmann (2004) „Modellwechsel?“ weisen auf die starke praxeologische Ausrichtung der Automobilforschung hin.
Einführende Bemerkungen
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auf. Hierbei handelt es sich entweder um generelle Managementlektüren im Bereich Automobil wie bspw. von Radtke et al. (2004) „Die smarte Revolution in der Automobilindustrie“25, um lehrbuchhafte Veröffentlichungen wie von Diez et al. (2005) „Grundlagen der Automobilwirtschaft“26 oder um von Professional Service Firms – insbesondere Beratungen – durchgeführte Studien wie die der Mercer Management Consulting & Fraunhofer Gesellschaft (2004) „Future Automotive Industry Structure (FAST) 2015“27. Auch die jüngst erschienene Veröffentlichung von Hüttenrauch & Baum (2008) „Effiziente Vielfalt – Die dritte Revolution in der Automobilindustrie“ und die schön länger veröffentlichte Fallstudiensammlung „Company Strategies and Organisational Evolution in the Automotive Sector” von Garibaldo & Bardi (2005)28, die beide eine gewisse inhaltliche Nähe zur vorliegenden Arbeit aufweisen, sind tendenziell zu dieser Gattung von Veröffentlichungen zu zählen.
Fokussierung auf Einzelaspekte: Im Kontrast zu den breit angelegten praxeologischen Titeln wird in wissenschaftlichen Veröffentlichungen schnell eine fokussierte Betrachtung automobilwirtschaftlicher Einzelaspekte, bspw. in Form einzelner Wertschöpfungsstufen (hier meist mit Schwerpunkt auf Marketing und Vertrieb)29 oder Regionen (zunächst Japan, später die BRICK-Staaten)30, deutlich. Gottschalk & Kalmbach (2006b) halten hierzu in ihren einführenden Überlegungen fest:
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29
30
Weitere Veröffentlichungen sind bspw. Becker (2007) „Auf Crashkurs“, Rosengarten/ Stürmer (2005) „Premium power“ und Gottschalk/ Kalmbach (2006a) „Mastering the Automotive Challenges“. Auch bspw. Ebel et al. (2004a) „Automotive Management“ ist der Gattung der lehrbuchähnlichen Veröffentlichungen zuzurechnen. Zu dieser Gattung zählen z. B. der Beitrag vom Verband der Automobilindustrie (2003b) „HAWK 2015 Herausforderung automobile Wertschöpfungskette“ oder die Veröffentlichung der Boston Consulting Group (2001) „Steering Carmaking into the 21st Century“. Ähnlich auch die fallstudienorientierten Veröffentlichungen von Bea et al. (1997) „Strategie und Organisation der Daimler-Benz AG“, Schnapp/ Comer (1979) „Corporate Strategies of the Automotive Manufacturers“, Pries (1999a) „Auf dem Weg zu global operierenden Konzernen? BMW, Daimler-Benz und Volkswagen – Die drei großen der deutschen Automobilindustrie“ und Mehl (1993) „Fiat Auto – Strategie schlägt Struktur“. Hierunter fallen bspw. die Veröffentlichungen von Diez (2003) „Markenentwicklung und Vertriebsstrategien“, Krüger (1999) „Markenmanagement – Zukunftsorientiertes Automobilmarketing“, Gottschalk et al. (2005) „Markenmanagement in der Automobilindustrie“, Diez (2006) „Automobil-Marketing“, Großkurth (2004) „Markenloyalität im Premiumsegment des Automobilmarkts“ und Meinig (1993) „Automobilwirtschaft – Marketing und Vertrieb“ Zu diesem Typus zählen bspw. die Veröffentlichung von Chaveles (1997) „Wettbewerbsstrategien japanischer und koreanischer Automobilhersteller“, Gutberlet (1993) „Die Produktivität der japanischen Automobilindustrie – Ausmaß und Ursachen der japanischen Wettbewerbsvorteile gegenüber der deutschen Automobilindustrie“ und Cusumano (1985) „The Japanese automobile industry – Technology and management at Nissan and Toyota“. Für andere Wirtschaftsräume vgl. beispielhaft Neuner (1993) „Die Wettbewerbsfähigkeit der amerikanischen Automobilindustrie am Ende der 80er Jahre“ und Mikhalitsyna (2008) „Struktureller Wandel in der Automobilindustrie – Am Beispiel der Russischen Föderation“.
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Einführende Bemerkungen
„Publikationen zum Thema Automobilmanagement beschäftigen sich meist nur mit einzelnen Aspekten und Themenstellungen aus der Agenda des Managements. Eine gesamthafte Betrachtung fehlt bislang.“ (Gottschalk & Kalmbach (2006b), S. 8)
Hierdurch wird zwar eine ausreichende, argumentative Tiefe im Fokus sichergestellt, die komplexen Zusammenhänge werden aber meist nicht vermittelt. Einzelne wissenschaftliche Veröffentlichungen versuchen dennoch, sich von dieser Fokusbetrachtung zu lösen. Hierzu kann exemplarisch die Monografie von Marschner (2004) mit dem Titel „Wettbewerbsanalyse in der Automobilindustrie“ gezählt werden. Für die breit angelegte Analyse der automobilen Herausforderungen wird hierbei jedoch lediglich die reine Deskription gewählt, wodurch Implikationen der Herausforderungen zu großen Teilen vernachlässigt werden. Auch Tietze (2003) wählt in seiner Monografie „Strategische Positionierung in der Automobilbranche“ eine eher breite Herangehensweise an die Thematik. Mit seiner wissenschaftlichen Auseinandersetzung liefert er zwar einen fundierten Beitrag, fokussiert sich aber bei genauerem Hinsehen auf entwicklungsnahe Bereiche. Vor diesem Hintergrund erscheint eine erneute, ganzheitliche Auseinandersetzung mit der Thematik durchaus lohnenswert. Arbeiten, die ähnlich der Vorliegenden eine umfassende, integrative Sichtweise verfolgen, nehmen eher eine vergangenheitsgerichtete Perspektive ein und zeichnen sich vor allem durch einen wirtschaftshistorischen Charakter aus – exemplarisch sei hier die Arbeit von Kuhlmann (2004) genannt – oder sie basieren auf Untersuchungen, die bereits sehr weit in der Vergangenheit liegen, und liefern somit kaum Erkenntnisse zu neueren Organisationsformen.31 Hierunter fällt als prominentestes Beispiel das Werk „Strategy and Structure“ von Chandler (1993).32 Sieht man ferner die gestiegene Technologiekonvergenz in
31
32
Vgl. Snow et al. (2006), S. 6, und Donaldson (2006), S. 26f. Zur Unterscheidung von mechanistischen und organischen Organisationen sowie deren Auswirkungen auf die Fit-Überlegungen vgl. auch Eriksen (2006). Die Diskussion zum Verhältnis von Strategie und Struktur wird bis heute maßgeblich durch die Arbeiten von Chandler geprägt. Vgl. hierzu Galbraith/ Nathanson (1982), S. 12. Chandler (1993) erkannte bei seiner Analyse von amerikanischen Großunternehmen, dass die Unternehmen im Zeitverlauf einem vierphasigen Evolutionspfad folgen und jede Phase von einer bestimmten Strategie und Organisationsstruktur dominiert wird, wobei jede Strategie eine bestimmte Organisationsform impliziert (Strukturfolgehypothese). Vgl. Chandler (1993) und zusammenfassend u. a. auch Schewe (1998b), S. 55ff., Wolf (2000), S. 26ff., und Galbraith/ Nathanson (1982), S. 12ff. Neben der Strukturfolgehypothese und dem Evolutionspfad konnte Chandler (1993), S. 12ff. und 314ff., ferner Gründe für Probleme der Strategieimplementierung nachweisen. Diese grundlegenden Überlegungen von Chandler waren Basis und Ansatzpunkt einer Vielzahl von Folgestudien. So griff Scott (1973) Anfang der 70er-Jahre die Forschungsergebnisse von Chandler auf und entwickelte daraus ein Forschungsprogramm an der Harvard Business School. Insbesondere die daraus entstandenen Arbeiten von Wrigley (1970) und Rumelt (1988) beeinflussten nachträglich die Organisationslehre. Vgl. Frese (2000), S. 458, und für eine zusammenfassende Betrachtung der verschiedenen Arbeiten Schewe (1998b), S. 55ff., und Galbraith/ Nathanson (1982), 12ff.
Einführende Bemerkungen
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der Automobilbranche,33 so stellt sich erneut die Frage nach dem Spektrum und der Gestalt der Veränderungstreiber und den sich daraus ergebenden Herausforderungen für die Automobilhersteller und wirft die folgende Forschungsleitfrage auf: Forschungsleitfrage 1: Welche globalen Herausforderungen ergeben sich für die Automobilhersteller aufgrund der aktuellen und zukünftigen Veränderungstreiber? Daneben wurde die reine Deskription vieler Branchendarstellungen als ein Defizit in der Automobilforschung identifiziert. In einem zweiten Schritt ist daher ferner folgender Frage nachzugehen: Forschungsleitfrage 2: Welche strategischen Implikationen bringen die aktuellen Herausforderungen mit sich? Wie später in der Arbeit thematisiert, stellt die Organisationsstruktur zugleich die Folge aus der Strategiewahl sowie auch deren Basis dar und ist damit entscheidend für den unternehmerischen Erfolg. Treffend unterstreicht Mehl (1993) diesen Sachverhalt mit der Titelwahl seiner Monografie „Fiat Auto – Struktur schlägt Strategie“. Der integrative Ansatz der Arbeit verlangt daher eine ergänzende organisationale Betrachtung: Forschungsleitfrage 3: Welche organisatorischen Implikationen bringen die aktuellen Herausforderungen und die gewählten Strategien mit sich? Gründe für eine erneute Auseinandersetzung ergeben sich jedoch nicht nur aus der aktuellen Situation der Automobilbranche, sondern auch aus der Weiterentwicklung der zugrunde liegenden theoretischen Konzepte. In der Strategieforschung sei hier insbesondere auf die Lehre des strategischen Managements34 verwiesen, die eine Synthese der markt- und ressourcenorientierten Sichtweise sucht. Zusätzlich zu einer Sichtweise der Strategie als Umfeldreaktion rückt somit das interne Leistungspotenzial der Unternehmung mit in den Betrachtungsfokus. Es ist also durchaus von Interesse, die strategischen Implikationen vor diesem erweiterten inhaltlichen Rahmen erneut zu betrachten:
33 34
So bestimmt schon heute die Informations- und Kommunikationstechnologie einen entscheidenden Teil des Nutzenwertes eines Automobils. Vgl. Pries/ Hertwig (2005), S. 7. Zum Strategischen Managements vgl. u. a. Müller-Stewens (1992), Müller-Stewens/ Lechner (2003), Collis (1991), Knyphausen (1993), Grant (1991), Ansoff et al. (1976) und Ansoff (1990).
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Einführende Bemerkungen
Forschungsleitfrage 2a: Welche Strategieansätze eignen sich zur Erklärung und Ableitung von Lösungskonzepten zur ganzheitlichen Begegnung der automobilwirtschaftlichen Herausforderungen? Auch die Organisationsforschung entwickelt sich stetig weiter und neue Gedankenströme35 – wie bspw. modulare Organisationsansätze – konnten in Beiträgen mit ähnlicher Zielsetzung aufgrund des Erscheinungsjahres vieler Publikationen nicht behandelt werden bzw. wurden bewusst aufgrund der historischen Perspektive der Arbeiten oder aufgrund einer anderen Schwerpunktlegung nicht berücksichtigt. Eine erneute Auseinandersetzung mit organisatorischen Phänomenen in der Automobilbranche erscheint daher lohnenswert: Forschungsleitfrage 3a: Welche Organisationsansätze eignen sich zur Erklärung und Ableitung von Lösungskonzepten zur Begegnung mit den automobilwirtschaftlichen Herausforderungen und zur Realisierung geforderter strategischer Programme?
(2)
Herangehensweise und Aufbau der Arbeit
Anknüpfend an diese Überlegungen versucht die vorliegende Arbeit, das Defizit der fehlenden wissenschaftlichen Gesamtbetrachtung zu schmälern, indem ein integrativer, umfassender Beitrag zum Thema Strategie und Organisation in der Automobilindustrie geleistet wird. Im Folgenden soll die zugrunde liegende Herangehensweise näher thematisiert werden (a), bevor daraufhin der Aufbau der Arbeit vorgestellt wird (b). (a) Herangehensweise der Arbeit: Vor dem Hintergrund der thematisierten Fragmentlastigkeit in der Automobilforschung besteht die Herausforderung einer Gesamtsicht insbesondere in einer holistischen und zugleich wissenschaftlich fundierten Betrachtung. Hierzu ist es zunächst sinnvoll, zur Eindämmung des Untersuchungsobjekts eine spezifische Perspektive zu wählen. Anders als in den meisten praxisorientierten Veröffentlichungen, die für ein konsolidiertes Gesamtbild die Vielzahl automobilwirtschaftlicher Akteure behandeln, nimmt die vorliegende Arbeit daher bewusst die Perspektive der Führung von Automobilherstellern von Personenkraftwagen (PKW) ein und behandelt die anderen Akteure mithin als Kontextfaktoren.36 Dennoch besteht ein Selektionsproblem, da trotz Perspektivenwahl ein komplettes Ab35 36
Vgl. übersichtartig zu den neuen Organisationsformen Holtbrügge (2001) sowie allgemein zur Organisation die einleitenden Worte von Teil III. Ferner erfolgt eine primäre Betrachtung des Neuwagenmarkts. Der Gebrauchtwagenmarkt wird nur am Rande mit betrachtet.
Einführende Bemerkungen
9
bild den verfügbaren Rahmen sprengen würde. Um der angesprochenen Fragmentlastigkeit anderer wissenschaftlicher Veröffentlichungen entgegenzuwirken, ist es daher, analog dem Vorgehen von Ringlstetter (1995), in dieser Arbeit unabdingbar, „pragmatische Selektionsentscheidungen zugunsten übergreifender Themenstellungen und entsprechender Zusammenhänge zu treffen.“ (Ringlstetter (1995), S. 17)
Es werden daher an verschiedenen Stellen inhaltliche Verdichtungen durchgeführt, um einen Kompromiss zwischen Vollständigkeit bzw. vollkommener Konsistenz und Erklärbarkeit bzw. Verständlichkeit herbeizuführen. Die Aussagen können dabei im Sinne von „Theorien mittlerer Reichweite“37 verstanden werden, da das integrative Gesamtkonzept beobachtbare Phänomene theoretisch erfasst und strukturiert, jedoch nicht ganzheitlich theoretisch fundiert.38 Eine Konkretisierung des integrativen Gesamtkonzepts geschieht analog zum Verständnis von Kirsch & Obring (1991) in Form von Programmen.39 Umfeld, Strategie und Organisation werden dabei integrativ im Rahmen der Arbeit betrachtet und „[…] als komplexe, [dynamische] Fit-Konstellation [verstanden] […], wobei tendenziell von der Strategie eine Einfluss nehmende Wirkung auf die Struktur ausgeht. Eine FitKonstellation ist durch den Unternehmenserfolg als Ankervariable gekennzeichnet.“ (Schewe (1998b), S. 78, Anm. und Herv. A. R.)40
37
38 39
40
Der Begriff „Middle Range Theory“ wurde erstmals durch den Soziologen Robert Merton geprägt. Theorien mittlerer Reichweite liegen alltäglichen Arbeitshypothesen und ganzheitlichen Theorien zugrunde (vgl. Merton (1968), S. 39). Für einen zusammenfassenden Überblick vgl. Moore et al. (1980) sowie die dort angegebene Literatur. Vgl. Ringlstetter (1995), S. 18, sowie die dort angegebene Literatur. „Eine konzeptionelle Gesamtsicht umfasst, neben den Rahmenkonzepten, [der Soll-Vorstellung der Entwicklung eines Unternehmens], immer auch entsprechende Programme, in denen die zentralen Aussagen eines Rahmenkonzeptes konkretisiert und spezifiziert sind.“ (Kirsch/ Obring (1991), S. 376, Anm. A. R.) Vgl. hierzu auch die Harmoniethese des Konfigurationsansatzes bei Miller (1986), S. 236ff., und Miller/ Mintzberg (1983), S. 68ff., sowie zum Fit-Gedanken Jones/ Hill (1988), Donaldson (1984) und Hamilton/ Shergill (1992).
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Einführende Bemerkungen
Abb. E-2:
Grundelemente des Gesamtkonzeptes
Trotz der kritisierten praxeologischen Ausrichtung vieler Veröffentlichungen und der primär theoretisch-konzeptionellen Herangehensweise, liegt der Zielsetzung der Arbeit dennoch eine vollständige theoriegeleitete Auseinandersetzung fern.41 Es gilt vielmehr, eine Symbiose von Theorie und Praxis herbeizuführen42, wobei in dieser Arbeit die Praxis den Kontext und die Theorie die Erkenntnisquelle liefert.43 Es erfolgt also eine primär praxisorientierte Forschung auf Basis theoretischer Konzepte des strategischen Managements und der Organisationslehre mit dem Erkenntnisziel einer umfassenden Hilfestellung für das Management von Automobilherstellern. Denn wie Heinen (1974) richtig feststellt: „Die Betriebswirtschaftslehre hat einen Beitrag zur Lösung praktischer Probleme zu leisten.“ (Heinen (1974), S. 264)
An einzelnen Stellen werden auch neue Ansätze anhand von praktischen Problemstellungen entwickelt, bzw. bestehende Theorien im Branchenkontext adaptiert. Zielsetzung hierbei ist ein fusioniertes Sprachspiel des allgemein konzeptionellen Sprachspiels von Strategie und Struktur mit dem praktisch getriebenen Sprachspiel der Automobilwirtschaft. Die erzielte
41
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Hieraus ergibt sich freilich auch ein praxisnaher Schreibstil, der wie Hofstede (1994) bemerkt oft in Ländern wie Deutschland oder auch Frankreich fälschlicherweise als inadäquat für akademische Arbeiten eingestuft wird. „German students are brought up in the belief that everything which is easy enough for them to understand is dubious and probably unscientific” (Ströbe (o. Jg.), zit. nach Hofstede (1994), S. 119). Zur Relevanz der symmetrischen Betrachtung von Theorie und Praxis vgl. Grimm (1979), S. 3 und 7, sowie zur Annäherung der Betriebswirtschaftslehre an die Praxis Kirsch (1977). Vgl. hierzu auch die Ausführungen bei Kirsch (1996), S. 321ff., zur Lehre für die Führung auf Basis einer Lehre von der Führung.
Einführende Bemerkungen
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Übersetzungsleistung ist entscheidend für den empirischen Diskurs und keineswegs selbstverständlich, wie Pedhazur & Pedhazur Schmelkin (1991) anmerken: „Even for people who speak the same language, words have different meanings, depending on, among other things, who speaks, to whom, in what context, at what time, and with what purpose. […] The point is that the different terms reflect different outlooks, values, attitudes, and the like.” (Pedhazur & Pedhazur Schmelkin (1991), S. 164)
Die meisten automobilwirtschaftlichen Veröffentlichungen haben dennoch bislang kaum derartige Versuche unternommen, obgleich diese durchaus lohnenswert erscheinen. Deshalb sollen des Weiteren folgende Forschungsleitfragen im Rahmen der Arbeit geklärt werden: Forschungsleitfrage 2b: Wie können die identifizierten Strategiekonzepte in den Branchenkontext überführt werden und welche Lösungsansätze ergeben sich für den Automobilhersteller? Forschungsleitfrage 3b: Wie können die identifizierten Organisationskonzepte in den Branchenkontext überführt werden und welche Lösungsansätze ergeben sich für den Automobilhersteller? Zuletzt legt das pragmatische Vorgehen und der Anspruch der praktischen Verwendung nahe, auch Vertreter aus der Praxis zu zentralen Inhalten der Arbeit zu befragen (vgl. Abb. E-3). Ansonsten wäre die angewendete inhaltliche Selektion schnell der Kritik der Willkür ausgesetzt. Hierzu wurden zur empirischen Absicherung der Arbeit überwiegend halb strukturierte Befragungen durchgeführt, um so die in der Arbeit geführte Argumentation durch möglichst realitätsnahe Beiträge ergänzen zu können. Die Interviewfragen bezogen sich zunächst auf die allgemeinen Herausforderungen in der Automobilindustrie. In einem zweiten Fragenblock wurden die strategischen Implikationen abgefragt, wobei vertiefend auf die einzelnen Dimensionen der strategischen Programme eingegangen wurde. Ein analoges Vorgehen wurde für die Abfrage der organisatorischen Implikationen im schließenden, dritten Fragenblock gewählt. Um ein umfassendes Verstehen der Sachverhalte zu gewährleisten, wurden im Rahmen der Befragung Interviews mit drei Expertengruppen geführt.
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Einführende Bemerkungen
Interviewpartner
Position
Affiliation
Art/ Ort persönlich-mündlich / München (durchgeführt durch Eva Sesselmann) persönlich-mündlich / Frankfurt
Datum
Christian Kleinhans
Partner Global Automotive Practice
Oliver Wyman
Ralf Landmann
Partner Automotive Practice
Roland Berger
Christian Merten
Projektleiter
Institut für Automobilwirtschaft
fernmündlich/ Ingolstadt08.11.2007 Geislingen
Dr. Alexander Suhm
Partner
Unity AG
persönlich-mündlich / München
09.11.2007
Robert Bosch GmbH
fernmündlich/ MünchenStuttgart
09.11.2007
KPMG
persönlich-mündlich / München
19.11.2007
Thorsten M. Holl
Roland Schmid
Vice President Controlling, Planning and M&A Direktor Global Executive Automotive Products
Tim Löbig
Junior Manager
KPMG
Hans J. Berger
Leiter Markenstrategie
Audi AG
Projektmanager
MBtech (MercedesBenz)
Jürgen Jaquet
Abb. E-3:
persönlich-mündlich / München persönlich-mündlich / Ingolstadt fernmündlich/ MünchenSindelfingen
29.09.2006 22.10.2007
19.11.2007 20.11.2007 20.11.2007
Übersicht zu den Expertengesprächen
Führungskräfte von führenden Automobilherstellern und Zulieferunternehmen sicherten den Zugang zu automobilwirtschaftlichem Insiderwissen. Die notwendige Objektivität in der Argumentation ermöglichten die Befragungen branchennaher Experten in Form von Beratern und der Einbezug von Wissenschaftlern. Die Dauer der Interviews variierte dabei zwischen 60 bis 120 Minuten und wurde auf Wunsch der Interviewpartner zumeist nicht dokumentiert. (b) Aufbau der Arbeit: Auf Basis der vorgestellten Gesamtkonzeption gliedert sich die Arbeit neben einer Einleitung und einem Schlusskapitel in drei thematische Hauptteile (vgl. Abb. E4):
Einführende Bemerkungen
Abb. E-4:
13
Aufbau der Arbeit
In Teil I wird zunächst die Basis für die spätere Auseinandersetzung mit den strategischen und organisatorischen Aspekten der Automobilindustrie gelegt. Hierzu wird der Kontext bzw. das Umfeld, in dem Automobilunternehmen heute agieren, näher beschrieben. Kapitel I.1 vermittelt zunächst verständnisrelevantes, automobilwirtschaftliches Wissen. Die definitorischen Grundlagen sowie die Vorstellung der Branchenstruktur werden durch eine historische Abhandlung der Strategie und Struktur der Automobilindustrie ergänzt, um anhand praktischer Inhalte und Beispiele einen Einstieg in die integrative Herangehensweise der Arbeit zu erreichen. Nach dieser historischen Auseinandersetzung mit der Automobilindustrie erfolgt in Kapitel I.2 der Wechsel in die Gegenwart und Zukunft. Aus der Perspektive der Automobilhers-
14
Einführende Bemerkungen
teller werden aktuelle und künftige automobile Herausforderungen vorgestellt und anhand ihrer Auswirkung analysiert. Abgeschlossen wird der erste Teil durch eine Rekapitulation der zentralen Ergebnisse in Form einer Phasenbetrachtung der automobilwirtschaftlichen Entwicklung, die auch der Überleitung zu Teil II dient (Kapitel I.3). Auf den erarbeiteten Grundlagen sowie auf dem aktuellen Branchenverständnis baut Teil II der Arbeit auf. Basierend auf den beschriebenen Herausforderungen konkretisieren Kapitel II.1 und II.2 die strategischen Optionen bzw. Stoßrichtungen. Kapitel II.1 konzentriert sich dabei auf die strategischen Positionierungsprogramme, indem Internationalisierungs-, Produkt- und Wettbewerbsstrategien näher untersucht werden. In Kapitel II.2 wird im Sinne des strategischen Managements die marktorientierte Sichtweise durch eine ressourcenorientierte Betrachtung der strategischen Leistungserstellungsprogramme (Wertschöpfungs- und Ressourcenstrategien) ergänzt. Rekapituliert werden die Überlegungen in einer Zwischenbilanz (Kapitel II.3), wodurch insbesondere eine inhaltliche Fokussierung für Teil III herbeigeführt wird. Teil III behandelt die für die Strategieimplementierung relevante organisatorische Komponente. Die integrative Sichtweise von Umfeld, Strategie und Organisation implizieren, dass die in Teil II getroffenen, strategischen Gestaltungsempfehlungen auch einen erheblichen Einfluss auf die Organisation und ihre Struktur haben. Kapitel III.1 entwickelt, basierend auf den strategischen Implikationen, konkrete Gestaltungsempfehlungen der Konfiguration einzelner Komponenten des automobilwirtschaftlichen Leistungsverbunds44. Aufbauend hierauf ergänzt Kapitel III.2 die Ausführungen um den Koordinationsaspekt und zeigt Ansatzpunkte zur Steuerung des automobilwirtschaftlichen Leistungsverbunds auf. Die umfangreichen Ausführungen werden in einer Zwischenbilanz (Kapitel III.3) für den Leser prägnant zusammengefasst. Die Arbeit findet ihren Abschluss in einer Schlussbetrachtung. In dieser werden zunächst die zentralen Ergebnisse der Arbeit zusammenfassend rekapituliert. Beendet wird die Arbeit durch einen Ausblick mit Implikationen für die Praxis und Ansatzpunkte für weitere Forschungsbemühungen.
44
Die Begriffe Leistungs- und Wertschöpfungsverbund werden in dieser Arbeit synonym verwendet.
Teil I: Grundlagen und Herausforderungen der Automobilindustrie
TEIL I:
15
GRUNDLAGEN UND HERAUSFORDERUNGEN DER AUTOMOBILINDUSTRIE
Wie bereits die Titelwahl verdeutlicht, legt die vorliegende Arbeit einen eindeutigen Branchenschwerpunkt auf die Automobilindustrie. Teil I dient daher der Vermittlung des notwendigen Branchenwissens und bildet somit den thematischen Einstieg in die Arbeit. Hierzu wird zunächst verständnisrelevantes, automobilwirtschaftliches Wissen vermittelt, indem definitorische Grundlagen gelegt, in Grundzügen die Branchenstruktur beschrieben, die Hauptakteure auf Hersteller- und Zulieferseite vorgestellt und das Phänomen der Strategie und Struktur in der Automobilindustrie anhand einer historischen Phasenbetrachtung thematisiert werden (Kap. I.1). Im zweiten Hauptkapitel erfolgt dann der Wechsel in die Gegenwart und Zukunft der Automobilindustrie. Aus der Perspektive der Automobilhersteller werden aktuelle und künftige automobile Herausforderungen vorgestellt und anhand ihrer Auswirkung analysiert (Kap. I.2). Zusammengefasst werden die Ergebnisse dieses Teils in einer Zwischenbilanz (Kap. I.3), die zugleich dem thematischen Übergang zum nächsten Hauptteil dient.
I.1
Grundlagen zur Automobilindustrie und ihrer Historie
Die Verflechtungen der Branche mit vor- und nachgelagerten Industrien und der daraus folgende hohe Komplexitätsgrad führen dazu, dass im allgemeinen Sprachgebrauch und in der einschlägigen Literatur meist unterschiedliche Teilbranchen unter dem Begriff der Automobilindustrie subsumiert werden. Es ist daher zielführend, sich in einem ersten Schritt mit den verschiedenen Definitionen auseinanderzusetzen, um darauf aufbauend ein Arbeitsverständnis zu entwickeln (Unterkapitel I.1.1). Ergänzt wird der Versuch der Begriffskonkretisierung durch die Vorstellung der Hauptakteure aufseiten der Automobilhersteller und der Zulieferunternehmen sowie durch eine Strukturierung der Branche; beides ist aufgrund der bereits angedeuteten Branchenkomplexität für das Verständnis unabdingbar. Aufbauend auf diesem Grundverständnis wird in einem zweiten Schritt der thematische Einstieg zum Zusammenhang von Strategie und Struktur am Beispiel der Automobilhistorie vollzogen (Unterkapitel I.1.2). Hierdurch wird dem Leser zum einen der oftmals komplexe Zusammenhang von Strategie und Struktur an praktischen Beispielen aus der Historie der Automobilbranche verdeutlicht, zum anderen wird das automobile Grundwissen um interessante Aspekte ergänzt.
16
I.1.1
Teil I: Grundlagen und Herausforderungen der Automobilindustrie
Einführende Bemerkungen zur Automobilwirtschaft
Wie bereits angesprochen, lässt sich in Theorie und Praxis eine Vielzahl von Definitionen zur Automobilindustrie45 finden, die sich in ihrem Inhalt durchaus unterscheiden. Erschwerend kommt hinzu, dass Unterschiede nicht nur in Bezug auf den definitorischen Inhalt, sondern auch in Bezug auf die verwendeten Termini existieren. So spricht beispielsweise das Statistische Bundesamt vom „Straßenfahrzeugbau“ und nicht von der Automobilindustrie und subsumiert hierunter neben den gängigen Gütern auch Fahrräder, also nicht-motorisierte Straßenfahrzeuge.46 Um diese Definition einzugrenzen, liefern Diez et al. (2005) eine eigene Auslegung: „Die Automobilwirtschaft umfasst alle Unternehmen, die überwiegend mit der Herstellung, Vermarktung, Instandhaltung sowie Entsorgung von Automobilen und Automobilteilen beschäftigt sind.“ (Diez et al. (2005), S. 59, Herv. A. R.)
Umfasst die Automobilwirtschaft die Gesamtheit aller an der Wertschöpfung beteiligten Akteure, also auch Kundendienstleister und Verwerter, so setzt der Verband der Automobilindustrie (2000) durch die seinerseits abgeleitete Definition einen engeren Fokus:
„[Die Automobilindustrie ist derjenige Industriezweig] welcher die Hersteller von Kraftwagen und deren Motoren, Sattelzugmaschinen, Anhänger, Aufbauten, Kraftfahrzeugteile und -zubehör [umfasst].“ (Verband der Automobilindustrie (2000), S. 6, Anm. und Herv. A. R.)47
Die vorliegende Arbeit konzentriert sich auf die Automobilhersteller, weshalb eine weitere Eingrenzung vorgenommen wird. In Anlehnung an Wolters (1995) sollen „Automobilhersteller als wirtschaftliche Einheiten, die in Eigenleistung hergestellte
oder durch Fremdleistung entstandene Komponenten, Systeme sowie Module kombinieren und als Endprodukt ein Fahrzeug erhalten, definiert werden. Dieses Fahrzeug wird am Markt Endverbrauchern angeboten.“48 Neben der Definition der zentralen Begrifflichkeiten ist für ein fundiertes Verständnis eine Systematisierung der Branche erforderlich, d. h. eine Auseinandersetzung mit den zentralen Marktakteuren der Automobilwirtschaft. Hierzu werden Automobilhersteller anhand verschiedener Kriterien strukturiert und die zentralen Unternehmen vorgestellt (1). Ergänzt wer-
45 46 47 48
Im Folgenden werden die Begriff Automobilindustrie und Automobilbranche synonym verwenden. Vgl. Diez et al. (2005), S. 59. Ähnlich zu finden auch bei Meinig (1995b), S. 59. Vgl. hierzu auch Wolters (1995), S. 6f., Diez (1994), S. 14, und Meinig (1995b), S. 58.
Teil I: Grundlagen und Herausforderungen der Automobilindustrie
17
den diese Überlegungen um die Zulieferindustrie, wobei auch diese zunächst in ihren Grundzügen vorgestellt und anschließend zentrale Zulieferunternehmen behandelt werden (2).49 Eine Auseinandersetzung mit der automobilen Leistungserstellung bildet den Abschluss der einführenden Bemerkungen zur Automobilwirtschaft (3).
(1)
Automobilhersteller als zentrale Akteure der Automobilwirtschaft
Im Rahmen dieser Arbeit erfolgt – Bezug nehmend auf das Absatzobjekt – eine Fokussierung auf die Hersteller von Personenkraftwagen50 und des Weiteren insbesondere auf Volumenhersteller.51 Die DIN-Norm 70010 definiert dabei einen Personenkraftwagen als Kraftwagen der „nach seiner Bauart und Einrichtung hauptsächlich zum Transport von Personen, deren Gepäck und/oder von Gütern bestimmt ist und maximal neun Sitzplätze hat.“ (Diez et al. (1994), S. 45)
Anders als die im allgemeinen Sprachgebrauch gängige Unterscheidung in Volumen- und Premiumhersteller wird dabei anhand des Kriteriums „Markenwert“ und Positionierung in Premiummarken52 und Volumenmarken53 unterschieden (vgl. Abb. I-1).
49
50
51 52
53
Um die komplette Wertschöpfung abzubilden, werden ferner Unternehmen des Kraftfahrzeuggewerbes, die entweder als fabrikatsgebundene oder sog. freie Betriebe die Vermarktung und Instandhaltung des Produkts übernehmen, sowie Entsorgungsunternehmen in die Betrachtung eingeschlossen; sie bilden jedoch nicht den Fokus der Betrachtung. Vgl. Diez/ Reindl (2005a), S. 61, und Steger (2004), S. 53. Einige Aussagen lassen sich bestimmt auch auf den Markt für Lastkraftwaren übertragen. Dennoch erscheint eine Trennung sinnvoll, da der Personenkraftwagenmarkt primär ein B2C-, der Lastkraftwagenmarkt hingegen ein B2B-Geschäft ist. Nischenhersteller werden aufgrund ihrer Besonderheiten im Rahmen dieser Arbeit nur thematisch angeschnitten. Kennzeichen einer Premiummarke ist die Durchsetzbarkeit eines Preispremiums im Vergleich zu Konkurrenzprodukten. Vgl. Diez (2001), S. 3, und Kapferer (2000), S. 320. Der Status als Premiummarke ist aber, anders als bei Marschner (2004), S. 106, definiert, nicht von einem niedrigen Marktanteil abhängig, da auch Premiummarken wie Mercedes-Benz einen hohen Marktanteil aufweisen können. Volumenmarken sind durch eine erhöhte Preissensibilität gekennzeichnet, die je nach Markenwert unterschiedlich stark ausgeprägt ist. Vgl. Diez (2006), S. 573. Sie repräsentieren im Unternehmen die Kompetenz der Wirtschaftlichkeit. Vgl. Mercer Management Consulting/ Fraunhofer Gesellschaft (2004), S. 12. Für eine ähnliche Unterteilung vgl. auch Panke (2005), S. 12.
18
Teil I: Grundlagen und Herausforderungen der Automobilindustrie
OEM Absatzobjekt
Absatzvolumen
Markenwert/ Positionierung Abb. I-1:
PKW
Volumenhersteller
Premiummarke
LKW
Nischenhersteller
Volumenmarke
Klassifizierung von Automobilherstellern
Die Argumentationsbasis bilden für die weiteren Ausführungen ausschließlich Einzelmarken oder Markenfamilien, die ein oder mehrere, aber nicht zwingend alle Produkte eines Unternehmens umfassen.54 Für einen besseren Überblick erfolgt jedoch die Vorstellung der drei führenden PKW-Hersteller im Volumenbereich Toyota, General Motors55 und als deutscher Repräsentant Volkswagen56 auf Konzernebene (vgl. Abb. I-2). Die vorgestellten Unternehmen stehen dabei beispielhaft für die Automobilindustrie, nicht nur weil sie einen signifikanten Anteil der abgesetzten Automobile repräsentieren, sondern auch die momentane Situation in den einzelnen Triademärkten wiedergeben.
54
55 56
Vgl. Diez (2006), S. 550f., Großkurth (2004), S. 23, und Marschner (2004), S. 106. Somit werden einzelne Produktmarken, wie die BMW 3-er Serie, bzw. übergeordnete Firmennamen, wie z. B. DaimlerChrysler, nicht fokussiert betrachtet. General Motors wird im Folgenden auch mit GM abgekürzt. Volkswagen wird im Folgenden auch mit VW abgekürzt.
Teil I: Grundlagen und Herausforderungen der Automobilindustrie
19
9,37 8,81 8,90 8,68
Toyota Motor Corp. General Motors 6,19 5,72 5,96 6,01
Volkswagen AG
Ford Motor Co. 3,96 3,76 3,83 3,60 3,68 3,48 3,43 3,37
Hyundai-Kia Automotive Group Honda Motor Co. Ltd. Nissan Motor Co.
PSA/Peugeot-Citroen SA Chrysler LLC Fiat S.p.A.
Abb. I-2:
2,68 2,70 2,62 2,29
2007
2006
Top 10 Automobilhersteller in Absatzmengen (in Millionen Stück) Quelle: Automotive News Data Center et al. (2008).
Die Toyota Motor Cooperation wurde 1936 von Kiichiro Toyoda gegründet und agiert heute global mit Fabriken in Australien, Südafrika, Indien, Osteuropa, Südostasien und Südamerika.57 Mit 9,5 Millionen produzierten und 9,4 Millionen abgesetzten Automobilen in 200758 ist Toyota momentan der größte Hersteller für Automobile weltweit und weist ein starkes jährliches Umsatz- (+11 Prozent) und Ergebniswachstum (+10 Prozent) für den Zeitraum 2003 bis 2007 auf.59 Darüber hinaus zählt Toyota weltweit zu den zehn Unternehmen mit der höchsten Marktkapitalisierung.60 Das Produktportfolio umfasst dabei die komplette Bandbreite von Kleinwagen bis zu Lastkraftwagen, wobei das Luxussegment durch die 1989 in den USA gegründete Marke Lexus, die junge Kundengruppe durch die Marke Scion und das Kleinstwagensegment mit der Marke Daihatsu adressiert werden. Insgesamt basieren 29 Fahrzeugvarianten auf vier Hauptplattformen, womit Toyota zusammen mit Volkswagen eine führende Rolle bei den Plattformstrategien einnimmt.61 Das Wachstum wurde bislang, gegen den all57 58 59
60 61
Vgl. hierzu und im Folgenden insbesondere den Unternehmensreport von Urquhart/ Fletcher (2008). Vgl. Automotive News Data Center et al. (2008), o. S. Eigene Berechnung auf Basis der Zusammenfassung der Unternehmenszahlen bei Urquhart/ Fletcher (2008), S. 16. Meist verkauftes Automobil war dabei der Toyota Corolla mit 1,04 Millionen verkauften Einheiten im Jahr 2007. Vgl. Urquhart/ Fletcher (2008), S. 14. Vgl. Financial Times Deutschland (2007), o. S. Vgl. hierzu Urquhart/ Fletcher (2008), S. 19, und die Ausführungen zur Plattformstrategie in Unterpunkt II.1.2 (1). Volkswagen produziert 35 Modelle basierend auf den konzerneigenen vier Plattformen. Vgl. ausführlich zur Volkswagen Plattformstrategie auch Ryard (2008), S. 22f.
20
Teil I: Grundlagen und Herausforderungen der Automobilindustrie
gemeinen Industrietrend,62 primär organisch getrieben, wobei die Entwicklung von ausgewählten strategischen Joint Ventures – wie das NUMMI JV mit General Motors in den USA oder die Kleinwagenkooperation mit PSA für den europäischen Markt – unterstützt wurde.63 Stärken von Toyota liegen insbesondere in der Produktionskompetenz, in der intelligenten Besetzung von Wachstumssegmenten – Toyota ist heute führend im Bereich Sport Utility Vehicles (SUV)64 und Multi Purpose Vehicles (MPV)65 – und in der Marktführerpositionierung im Bereich alternative Antriebstechnologien, insbesondere Hybrid. Schwächen von Toyota können in der ausufernden Produktpalette im Heimatmarkt und den damit verbunden Variantenkosten, in der starken Japanzentrierung des Top-Managements und im fehlenden Produktangebot von Ultra-Low-Cost Vehicles66 gesehen werden.67 General Motors wurde 1908 von William Durant durch den Zusammenschluss mit Buick gegründet und war 76 Jahre lang der größte Automobilhersteller, bevor 2007 Toyota die führende Rolle übernahm.68 Im Jahr 2007 setzte General Motors mit seinem breit diversifizierten Markenportfolio69 8,9 Millionen Automobile ab und erzielte 181 Milliarden Euro Umsatz. Insgesamt sanken insbesondere die Ergebniszahlen von General Motors in den letzten Jahren von 3,5 Milliarden im Jahr 2003 auf -38,7 Milliarden Euro im Jahr 2007 und verursachten ein Umdenken in der auf anorganischem Wachstum ausgerichteten Strategie.70 Im Zuge einer globalen Desinvestitionsstrategie zog sich General Motors seit 2005 zunehmend aus seinen Beteiligungen in Asien, insbesondere Japan, zurück und verkaufte die Anteile an Fiat sowie
62 63
64
65
66 67 68 69
70
Vgl. hierzu die Ausführungen in Unterkapitel I.1.2 (3). Weitere geplante Kooperationen sind unter anderem angedacht mit General Motors und Volkswagen im Bereich Telematik, mit General Motors im Bereich der Brennstoffzelle, mit Nissan im Bereich Fahrzeugelektronik und außerhalb der Automobilindustrie mit Panasonic im Bereich Batterietechnologie. Vgl. hierzu Urquhart/ Fletcher (2008), S. 4. SUV steht für Sport Utility Vehicle. Ein SUV ist ein PKW mit limousinenähnlichem Fahrkomfort bei gleichzeitig erhöhter Geländegängigkeit sowie einer Karosserie, die an das Erscheinungsbild von Geländewagen angelehnt ist. MPV steht für Multi Purpose Vehicle und ist ein internationaler Name für ein Automobildesign, das oft auch als Minivan bezeichnet wird. Ein Minivan ist ein Kleinwagen, der sich durch eine möglichst optimale Raumausnutzung in Bezug auf die Fahrzeuggrundfläche auszeichnet. Allgemein zu Ultra-Low-Cost Vehicles vgl. beispielhaft Mayer/ Pleines (2008). Zusammenfassende Darstellung basierend auf Urquhart/ Fletcher (2008), S. 28. Vgl. hierzu und im Folgenden insbesondere Bragman (2008). Zur Historie von General Motors vgl. ferner die Ausführungen in Unterkapitel I.1.2. General Motors hat das breiteste Markenportfolio aller Automobilhersteller. Es umfasst als 100-ProzentBeteiligungen Chevrolet, Buick, GMC, Cadillac, Pontiac, Saturn, Hummer, Saab, Opel, Vauxhall, Daewoo und Holden. Vgl. hierzu Bragman (2008), S. 4. Für eine Übersicht der Finanzkennzahlen vgl. Bragman (2008), S. 25.
Teil I: Grundlagen und Herausforderungen der Automobilindustrie
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den 51-Prozent-Anteil an dem Finanzdienstleister GMAC.71 Trotz dieser Konzentration und zahlreicher Kosteneinsparungsprogramme, insbesondere durch die Schließung zahlreicher Produktionsstätten in den USA,72 befindet sich General Motors heute, primär bedingt durch die zurückhaltende Kaufbereitschaft in den Kernmärkten Nordamerika und Europa, kurz vor der Insolvenz.73 Bereits im ersten Halbjahr 2008 fielen die Umsätze um 10 Prozent auf 81 Milliarden Dollar mit einem negativen Betriebsergebnis von fast 19 Milliarden Dollar. Im zweiten Halbjahr 2008 belief sich der Rückgang auf 18 Prozent mit 38 Milliarden Dollar Umsatz und über 15 Mrd. Dollar Verlust im Betriebsergebnis.74 Die aktuelle Entwicklung spiegelt dabei auch die größten Schwächen von General Motors wieder. Insbesondere die hohe Abhängigkeit vom nordamerikanischen Markt, die Benzin konsumierende Produktpalette, der hohe Nachholbedarf im Bereich alternativer Antriebskonzepte und die aggressive Preispolitik beim Endkunden wirken sich aufgrund der aktuellen Krise und dem gestiegenen ökonomischen Bewusstsein negativ aus.75 Die Volkswagen AG wurde 1937 gegründet, produzierte aber, bedingt durch den zweiten Weltkrieg, ihr erstes kommerziell nutzbares Fahrzeug im Jahr 1945.76 Heute ist Volkswagen der größte europäische Automobilhersteller mit 6,2 Millionen verkauften Personenkraftwagen im Jahr 2007, einer Steigerung von 7,6 Prozent im Vergleich zum Vorjahr, und einem erzielten Umsatz von 109 Mrd. Euro. Historisch war die Entwicklung von Volkswagen durch ein sehr stark anorganisches Wachstum mit zahlreichen Akquisitionen, u. a. von Seat, Skoda und Audi, geprägt. Ferner ist der Konzern an zahlreichen Joint Ventures, insbesondere im asiatischen (z. B. mit SAIC und China’s First Automotive Works) und osteuropäischen Raum (z. B. mit der ukrainischen Eurocar), beteiligt. Im Bereich der alternativen Antriebstechnologien sichert sich VW über konzerninterne und -externe Kooperationen und Partnerschaften, bspw. intern mit Porsche und Audi im Bereich Hybrid und extern mit Sanyo bei der Batterietechnologie sowie mit ZF und Continental im Bereich alternativer Antriebskonzepte, eine strategische Zukunftsposition.77 Insgesamt hat sich Volkswagen, besonders im Kernmarkt
71 72 73 74 75 76 77
Vgl. Bragman (2008), S. 5. Für eine Übersicht über die geschlossenen Produktionsstätten vgl. Bragman (2008), S. 8. Vgl. u. a. Brückner/ Herz (2008) und o. V. (2008c). Vgl. Bragman (2008), S. 24. Für eine Übersicht der Schwächen vgl. Bragman (2008), S. 37. Vgl. hierzu und im Folgenden insbesondere Ryard (2008). Für einen Überblick über die Joint Ventures und strategischen Partnerschaften vgl. Ryard (2008), S. 5f.
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Teil I: Grundlagen und Herausforderungen der Automobilindustrie
Europa und in vielen Schwellenländern, eine kompetitive Wettbewerbsposition verschafft. 78 Dennoch hängt momentan der Erfolg von VW stark von der Polo-, Golf- und Passat-Baureihe ab. Interessante Nischen, wie Einstiegs- und Mittelklassegeländewagen (VW Tiguan, Audi Q5) und die Coupé-Klasse (Scirocco, Passat CC)79, wurden erst in der jüngeren Vergangenheit besetzt, wobei der Tiguan als Einstiegsgeländewagen bereits sehr gute Ergebnisse erzielt.80 Die nachhaltige Positionierung der Einzelmarke VW in der Oberklasse kann momentan, wie später noch ausführlicher diskutiert wird, als nicht gelungen gewertet werden. 81 Konzernweit sieht die Situation mit Marken wie Audi oder Lamborghini anders aus.
(2)
Grundlegendes zur Zulieferindustrie der Automobilwirtschaft
Zulieferunternehmen82 liefern – in Form zwischenbetrieblicher Arbeitsteilung – industrielle Vorprodukte und zugehörige Dienstleistungen für ein in der Wertschöpfungskette nachgelagertes Unternehmen.83 Hierbei findet zur Komplexitätsbeherrschung eine Hierarchisierung der Zulieferbeziehungen statt, wobei je nach Position in der vorgelagerten Wertschöpfungskette Tiers („First-Tier“ bis „n-Tier“) unterschieden werden.84 Zulieferer treten dabei in unterschiedlichen Ausprägungen auf, welche im Folgenden kurz erläutert werden. Systemintegratoren befassen sich mit der Entwicklung und Integration diverser Module und Systeme. Durch zahlreiche Akquisitionen sind sie zunehmend global aufgestellt und verfügen über komplette Produktportfolios. Modul- und Systemspezialisten entwickeln und produzieren komplette Module und Systeme; hierbei müssen sie stets auf eine Optimierung der Funktionalität achten und Veränderungen rechtzeitig erkennen. Die Komponentenspezialisten besitzen unter den Zulieferern das höchste Innovations-Know-how und differenzieren sich daher über besondere technologische Funktionen und Produkte, welche sie an Systemintegratoren und Automobilhersteller vermarkten. Teilehersteller befassen sich mit Standardteilen und versuchen mittels
78 79 80 81 82
83
Ausnahme bildet hierbei China, wo Volkswagen bislang eher unterrepräsentiert ist. Vgl. hierzu Ryard (2008), S. 27, und die Ausführungen in Unterkapitel I.2.2. Ausnahme hierbei bildet sicherlich der Audi TT, der jedoch eher als Einstiegssportwagen und nicht als Coupé zu klassifizieren ist. Vgl. hierzu beispielhaft o. V. (2008b). Für einen Überblick über die Stärken und Schwächen von Volkswagen vgl. Ryard (2008), S. 27, sowie für die Ausführungen zu den Oberklassenproblemen den Unterpunkt II.1.2 (1). Zulieferunternehmen sind Unternehmen, die „(...) einem produzierenden Unternehmen Vorprodukte, Rohmaterialien oder Dienstleistungen liefern, welche in das Endprodukt einfließen oder zu dessen Herstellung benötigt werden“ (Meinig (1995a), S. 486). Vgl. exempl. Tietze (2003), S. 19.
Teil I: Grundlagen und Herausforderungen der Automobilindustrie
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einer Kostendegressionsstrategie, hohe Marktanteile zu erreichen. 85 Eine spezielle Position zwischen Automobilherstellern und den Zulieferern im klassischen Sinne nehmen ferner reine Entwicklungsdienstleister (Engineeringdienstleister) ein. Diese unterstützen je nach Auftrag des Kunden z. B. die Entwicklung von Karosserien sowie der Elektronik oder die Konstruktion von Fahrwerkskomponenten. Neben Unterstützungsleistungen tätigen sie auch Entwicklungsarbeiten in Eigenregie.86 Wie aus getätigten Ausführungen ersichtlich, kann als alternative Systematisierung eine funktionale Unterscheidung in Entwicklungs- bzw. Ingenieurdienstleister, Systemintegratoren, Modul- und Komponentenspezialisten sowie Volumenlieferanten vorgenommen werden.87 Die Industriestruktur besteht dabei aus wenigen global aufgestellten Zulieferkonzernen (vgl. Abb. I-3) wie Bosch88, Denso oder Magna und einer Vielzahl kleiner bis mittelständischer Unternehmen.89 Bosch
39,00
Denso
33,20
Magna
26,10
Bridgestone
23,40
Michelin
Delphi
22,00
Aisin Saiki
22,00
Johnsons Controls Continental
Goodyear
Abb. I-3:
22,70
21,90 21,10 19,60
Top 10 Zulieferunternehmen in Umsatz (in Milliarden USD) Quelle: übernommen aus o. V. (2008j).
Für eine praktische Abrundung der eher theoretisch getriebenen Auseinandersetzung mit den Zulieferunternehmen der Automobilindustrie soll im Folgenden kurz auf die drei größten Zu_______________________________________________________________________________________ 84 85 86 87 88 89
Vgl. hierzu ausführlich Unterpunkt III.1.2 (1) und die dort angegebene Literatur. Vgl. Mercer Management Consulting/ Hypovereinsbank (2001), S. 5f. Vgl. Kurek (2004), S. 11. Vgl. hierzu exempl. Becker (2007), S. 167ff., und Tietze (2003), S. 19. Bosch wird synonym mit Robert Bosch GmbH verwendet. Vgl. Diez et al. (1994), S. 15.
24
Teil I: Grundlagen und Herausforderungen der Automobilindustrie
lieferunternehmen – Bosch, Denso und Magna – eingegangen werden. Dies erscheint insbesondere interessant, da diese Unternehmen nicht nur eine gewisse Marktdominanz innehaben, sondern auch jeweils in einem der Triademärkte beheimatet sind und so Einsichten in die einzelnen Absatzmärkte erlauben. Die Robert Bosch GmbH erzielte im Geschäftsjahr 2007 einen Gruppenumsatz von 46,3 Milliarden Euro und ein Nettoergebnis von 2,9 Milliarden Euro.90 Momentan entfallen 61,4 Prozent des Gruppenumsatzes und damit 28,4 Milliarden Euro auf die Automobilsparte und Bosch ist somit das größte Automobilzulieferunternehmen der Welt.91 Beschäftigungsfelder der Robert Bosch GmbH im Bereich Kraftfahrzeugtechnik sind dabei Einspritzsysteme, Karosseriesysteme, elektrische Antriebe, Anlasser, Lichtmaschinen, Multimedialösungen, Elektronik und Lenksysteme. Seit Längerem fokussiert sich die Robert Bosch GmbH zunehmend auf ihre Kernkompetenzfelder und tätigte im Zuge dieser Konzentrationsstrategie gezielte strategische Devestitionen, bspw. im Bereich der Telekommunikationstechnologie.92 Die Stärkung der strategischen Kompetenzfelder erreicht Bosch durch einen weit über Branchendurchschnitt liegenden Forschungs- und Entwicklungsaufwand von 2,9 Milliarden Euro für das vergangene Geschäftsjahr (ca. 10 Prozent des Umsatzes)93 und geplante Entwicklungsausgaben auf ähnlichem Niveau. Hierdurch festigt Bosch nicht nur seine Marktführerstellung im Bereich Bremssysteme/ABS und im Bereich der Direkteinspritzungssysteme, sondern baut auch sukzessive Kompetenzen in zukünftigen Wachstumsfeldern aus. So entfallen ca. 50 Prozent des geplanten Entwicklungsbudgets auf ökologische Fahrzeugtechnologien.94 Gestützt wird diese Wachstumsstrategie durch starke anorganische Aktivitäten. Ein hoher Anteil der Investitionen von 1,8 Milliarden Euro im Jahr 2007 (77 Prozent der gesamten Gruppeninvestitionen) wurde für strategische Kooperationen und Gemeinschaftsunternehmen (Joint Ventures) verwendet.95 Als Bestandteile dieser Strategie können bspw. die Kooperationen mit Michelin und Hyundai Mobis im Bereich Bremstechnologie, mit Philips Electronics im Bereich Halbleiter und mit dem zweitgrößten Zulieferunternehmen Denso bei der Entwicklung und
90 91 92 93 94 95
Vgl. hierzu und im Folgenden insbesondere o. V. (2008d), S. 2ff. Für einen Überblick über die Finanzzahlen vgl. auch Robert Bosch GmbH (2008), o. S. Vgl. hierzu auch Robert Bosch GmbH (2008), S. 14 und 38. Vgl. o. V. (2008d), S. 11. Vgl. Robert Bosch GmbH (2008), S. 38. Der Branchendurchschnitt beläuft sich auf 3,8 Prozent. Vgl. PricewaterhouseCoopers (2007), S. 52. Vgl. o. V. (2008d), S. 12. Für einen Überblick über die Aktivitäten vgl. Robert Bosch GmbH (2008), S. 40ff. Vgl. o. V. (2008d), S. 2, und Robert Bosch GmbH (2008), S. 38.
Teil I: Grundlagen und Herausforderungen der Automobilindustrie
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Herstellung von Partikelfiltern gesehen werden.96 Neben der Ergänzung des Kompetenzportfolios dienen Firmeninvestitionen zur geografischen Ausweitung der Geschäftsaktivitäten, insbesondere in den asiatischen Raum.97 Langfristig plant Bosch eine Ausweitung des Auslandsumsatzes von heute 33 auf 50 Prozent. Hauptwachstumsregionen sind hierbei China, gefolgt von Osteuropa und Russland.98 Insbesondere die Common-Rail-Technologie99 spielt als technologischer Treiber eine entscheidende Rolle bei der Internationalisierung.100 Zweitgrößtes Automobilzulieferunternehmen im Jahr 2007 war das japanische Unternehmen Denso mit einem Jahresumsatz von 30,6 Milliarden USD und einem Nettoergebnis von 1,7 Milliarden USD.101 Hauptgeschäftszweig ist mit einem 96,7-prozentigen Anteil am Gesamtumsatz die Automobilsparte. Gegründet wurde Denso 1949 als ein Spinn-Off von Toyota und firmierte bis 1996 unter dem Namen Nippon Denso. Auch heute noch hat die wirtschaftliche und rechtliche Verbindung zu Toyota Bestand. Momentan hält Toyota 33,27 Prozent der Aktien an Denso102 und 48,6 Prozent des Umsatzes 2007 wurden mit der Toyota Gruppe (Toyota, Daihatsu und Hino) generiert.103 Neben einer starken Fokussierung auf Toyota als bei Weitem größten Kunden ist auch eine starke regionale Konzentration auf Japan mit 52,8 Prozent Umsatzanteil erkennbar.104 Kernkompetenzen von Denso liegen u. a. im Bereich thermische Technologien (31,5 Prozent Umsatzanteil), Antriebsstrangtechnologien (23,0 Prozent Umsatzanteil), Fahrzeugelektronik (17,8 Prozent Umsatzanteil),105 Informations- und Sicherheitssysteme (16,2 Prozent Umsatzanteil) und Kleinmotoren (6,9 Prozent Umsatzanteil).106 Ähnlich wie die Robert Bosch GmbH verfolgt Denso eine klare Innovationsführerstrategie in den strategischen Kerntätigkeitsfeldern und investiert stark in Forschung und Ent-
96 97 98 99 100 101 102 103 104 105 106
Vgl. Robert Bosch GmbH (2008), S. 40 und o. V. (2008d), S. 10. Für eine Übersicht über die einzelnen Investitionen vgl. o. V. (2008d), S. 10f. Vgl. o. V. (2008d), S. 11. Bei der Common-Rail-Einspritzung handelt es sich um Einspritzsysteme für Verbrennungsmotoren, bei denen eine Hochdruckpumpe den Kraftstoff auf ein hohes Druckniveau bringt. Vgl. o. V. (2008d), S. 2, und Robert Bosch GmbH (2008), S. 45. Für die kommenden Ausführungen vgl. insbesondere o. V. (2008e). Für einen Überblick über die Finanzkennzahlen vgl. auch Denso (2008), S. 2. Vgl. Denso (2008), S. 76. Interessanterweise hält auch das größte Automobilzulieferunternehmen Robert Bosch GmbH 5,82 Prozent der Aktien an Denso und ist somit zweitgrößter Anteilseigner. Zweitgrößter Kunde ist Honda mit 7,5 Prozent Umsatzanteil und General Motors mit 5,3 Prozent. Vgl. o. V. (2008e), S. 10. Vgl. o. V. (2008e), S. 2, und Denso (2008), S. 3. Fahrzeugelektronik umfasst die Geschäftsbereiche „Electric Systems“ und „Electronic Systems“. Vgl. Denso (2008), S. 16f. Vgl. o. V. (2008e), S. 3, und Denso (2008), S. 16f.
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Teil I: Grundlagen und Herausforderungen der Automobilindustrie
wicklung (7,8 Prozent des Umsatzes im Jahr 2007).107 Zukünftige Wachstumsfelder sieht Koichi Fukaya, Vorstandsvorsitzender von Denso, insbesondere in der Hybridtechnik, in der Denso sich von einem Auftragslieferantenstatus für Toyota zu einem globalen Marktführer entwickeln will.108 Auch im Bereich der konventionellen Antriebskonzepte ist Hauptzielsetzung, die Umweltverträglichkeit zu erhöhen, bspw. durch verstärkte Investitionen in Dieseldirekteinspritzungstechnologien.109 Neben dem strategischen Ausbau der Kernkompetenzfelder und dem Besetzen von Zukunftsmärkten fokussiert sich die Wachstumsstrategie von Denso insbesondere auf eine verstärkte Penetration der Absatzregion Europa. Ein erster wichtiger Schritt, um die Präsenz und die Marktpositionierung in Europa auszubauen, ist in der Akquisition des Zulieferunternehmens Magenti Marelli zu sehen. Hierdurch erhöhte Denso seinen Marktanteil im Bereich elektronischer Antriebskonzepte in Europa auf 20 Prozent und baute seine Position im Bereich Fahrzeugklimatechnik auf 10 Prozent Marktanteil aus.110 Magna ist eines der am schnellsten wachsenden Zulieferunternehmen und etablierte sich als drittgrößtes Automobilzulieferunternehmen der Welt.111 Nach knapp über drei Milliarden USD Umsatz im Jahr 1995 erwirtschaftete Magna im Geschäftsjahr 2007 bereits 26,1 Milliarden USD mit einem Nettoergebnis von 663 Millionen USD.112 Das rapide Wachstum wurde durch eine stark anorganische Unternehmensentwicklung ermöglicht. In den 90er-Jahren wurden zahlreiche Akquisitionen getätigt und heute ist Magna einer der am breitesten aufgestellten Automobilzulieferer. Magna entwickelt und fertigt die komplette Bandbreite von Exterieur-, Interieur- und Chassissystemen und bietet darüber hinaus auch die Auftragsfertigung ganzer Fahrzeuge an.113 Die einzelnen Akquisitionen – wie Donnelly, Decoma, Intier und Tesma – wurden dabei nicht in den Magna Konzern eingegliedert, sondern als rechtlich eigenständige Firmen am Kapitalmarkt platziert. Diese sogenannte Spinco-Strategie wurde von Magna über 20 Jahre bis zum Jahr 2004 verfolgt, bevor Magna überraschenderweise den vollkommenen Rückkauf und die Integration von Decome, Intier und Tesma in den Magna Konzern bekannt gab.114 Neben weiteren Akquisitionen sieht Magna insbesondere in der Ver107 108 109 110 111 112 113 114
Vgl. o. V. (2008e), S. 12, und Denso (2008), S. 2. Auch in Zukunft ist geplant, den Umsatzanteil der Forschungs- und Entwicklungsausgaben auf 8 Prozent zu fixieren. Vgl. Denso (2008), S. 6. Vgl. o. V. (2008e), S. 12, und auch Denso (2008), S. 10. Vgl. Denso (2008), S. 10. Vgl. o. V. (2008e), S. 10f. Vgl. hierzu und im Folgenden insbesondere o. V. (2008f). Für einen Überblick über die Finanzzahlen vgl. Magna (2008), S. 30. Vgl. o. V. (2008f), S. 2, und Magna (2008), S. 6. Vgl. o. V. (2008f), S. 2.
Teil I: Grundlagen und Herausforderungen der Automobilindustrie
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breiterung seiner Kundenbasis und der zunehmenden Penetration asiatischer Märkte zukünftige Wachstumsopportunitäten.115 Bislang konzentrierte sich die Kundenbasis von Magna in erster Linie auf Nordamerika und Europa. Die größten Kunden waren im Jahr 2006 General Motors (25,1 Prozent Umsatzanteil), DaimlerChrysler (23,5 Prozent), BMW (17,8 Prozent) und Ford (14,4 Prozent).116 Erste Erfolg versprechende Verträge mit Toyota und Suzuki sind Grundlage für die geplante Wachstumsstrategie mit asiatischen OEM, deren Umsatzanteil sich von heute vier bis sieben Prozent auf zehn bis fünfzehn Prozent im Jahr 2010 steigern soll.117
(3)
Die automobile Leistungserstellung
Ein Zugang zur automobilen Leistungserstellung bzw. Wertschöpfung118 kann über das Modell der Wertschöpfungskette erfolgen. Dieses erfasst und strukturiert alle wertschöpfenden Aktivitäten, die bei der Leistungserstellung von Produkten oder Dienstleistungen anfallen, wobei je nach Definition der Umfang der einbezogenen Aktivitäten und beteiligten Einheiten variieren kann.119 Argumentiert man auf der Ebene von Unternehmensmehrheiten, wie dies insbesondere in Teil II und III der Arbeit geschieht, so kann in Anlehnung an Menzer et al. (2001) die Wertschöpfungskette als das Zusammenspiel von zwei oder mehreren Einheiten (Organisationen oder Individuen), die direkt am Upstream- und Downstream-Fluss von Produkten, Dienstleistungen, finanziellen Transaktionen und/oder Informationen bis hin zum Kunden beteiligt sind, verstanden werden.120
Innerhalb des unternehmensübergreifenden Wertschöpfungsprozesses sind Wertketten einzelner Unternehmen eingebettet121, die den Gesamtwert122 der Leistungserstellung eines Unter-
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Vgl. o. V. (2008f), S. 9f. Neben dem asiatischen Wirtschaftsraum sind Russland und die osteuropäischen Staaten wichtige Zukunftsmärkte für Magna. Vgl. Magna (2008), S. 1 und 6. Vgl. o. V. (2008f), S. 7. Vgl. o. V. (2008f), S. 9. In der Arbeit wird der Begriff der Leistungserstellung im Sinne der Wertschöpfung verwendet. Allgemein wird unter der Wertschöpfung der durch die Kombination der Produktionsfaktoren Arbeit, Betriebsmittel und Werkstoffe im Rahmen der Bearbeitung im Unternehmen geschaffene Mehrwert verstanden. Vgl. hierzu exempl. Porter (1999a), S. 33ff., Weber (1980), S. 1ff., und Weigert/ Pepels (1999), S. 648. Für verschiedene Definitionen vgl. exempl. Lambert et al. (1998). Vgl. hierzu Menzer et al. (2001), S. 3f. Das durch die Einbindung verschiedener Wertketten entstehende umfassende System wird auch als value system bezeichnet. Vgl. Eisenbarth (2003), S. 17, und Porter (1999b), S. 83. Im Wettbewerbsrahmen stellt der Wert denjenigen Beitrag dar, den der Abnehmer für die bereitgestellte Leistung zu bezahlen bereit ist. Vgl. Porter (1999b), S. 68.
28
Teil I: Grundlagen und Herausforderungen der Automobilindustrie
nehmens abbilden und sich aus den Wertaktivitäten (primäre und sekundäre Aktivitäten123) und der Gewinnspanne124 zusammensetzen. Zur Komplexitätsreduktion und aus Gründen des Pragmatismus erfolgt ein Fokus auf den Leistungserstellungsprozess gleich dem Geschäftssystemmodell von McKinsey & Company, welches den Fokus auf die primären Aktivitäten setzt. Sekundäre Aktivitäten fließen jedoch situativ in die Diskussion mit ein (vgl. Abb. I4).125
F&E
Beschaffung
Produktion
Upstream-Prozesse Abb. I-4:
Marketing
Vertrieb & After Sales
Downstream-Prozesse
Die automobilwirtschaftliche Wertschöpfungskette Quelle: in Anlehnung an Diez (2006), S 18.
Der Leistungserstellungsprozess kann hierbei in vorgelagerte, sog. Upstream-Prozesse (F&E, Beschaffung und Produktion126), und nachgelagerte Aktivitäten, sog. Downstream-Prozesse (Marketing, Vertrieb127 und After-Sales), gegliedert werden. Der Bereich F&E128 umfasst alle Aktivitäten, die dem Hervorbringen neuer marktfähiger Produkte und Prozesse mit neuen oder veränderten Technologien dienen129 und wird – wie die Beschaffung – wesentlich durch die Zusammenarbeit mit den Zulieferern geprägt.130 Je nach
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Unter dem Begriff primäre Aktivitäten werden die Bereiche Eingangslogistik, Operationen (Produktion), Marketing und Vertrieb, Ausgangslogistik und Kundendienst erfasst. Als sekundäre Aktivitäten gelten die Beschaffung, die Technologieentwicklung, die Personalwirtschaft und die Unternehmensinfrastruktur. Vgl. Porter (1999b), S. 66. Die Gewinnspanne lässt sich als Differenz zwischen Gesamtwert und der Summe der durch die Wertaktivitäten entstandenen Kosten ermitteln. Vgl. exempl. hierzu Esser/ Ringlstetter (1991), S. 516, u. R. a. Timmermann (1982). In Anlehnung an die Ausführungen von Chandler (1993), wonach sowohl direkt als auch indirekt produktive Bereiche als wertschöpfend und damit als Teil der Wertschöpfungskette verstanden werden, sind auch die vor- und nachgelagerten Wertschöpfungsaktivitäten unabhängig vom Ort der Erbringung als wertschöpfend zu verstehen. Vgl. Chandler (1993), S. 383ff. Innerhalb der Produktion können einzelne Subaktivitäten bereits den Downstream-Prozessen zugeteilt werden. Diese umfassen die Kundenindividualisierung, bspw. im Rahmen der Individualisierungsprogramme der Automobilhersteller (Porsche Exklusiv, BMW Individual etc.). Hierunter werden auch die Finanzdienstleitungen subsumiert. „Forschung und Entwicklung ist eine Kombination von Produktionsfaktoren, die die Gewinnung neuen Wissens ermöglichen soll“ (Brockhoff (1999), S. 48). Vgl. Eisele (2006), S. 30, und Schaaf (1999), S. 23. Generell können in der automobilen Produktentwicklung verschiedene Bearbeitungsschritte der Fahrzeug- und Komponentenentwicklung, wie z. B. das Testing, der gesamte Prozess der Integration bei der Fahrzeugentwicklung und die Entwicklung von Systemen und Modulen ausgegliedert werden. Vgl.
Teil I: Grundlagen und Herausforderungen der Automobilindustrie
29
der Ausprägung der direkten wirtschaftlichen Verwertbarkeit der Resultate wird zwischen der Grundlagenforschung, der angewandten Forschung sowie der Entwicklung unterschieden. 131 Haben die Grundlagenforschung und die angewandte Forschung die Erlangung bzw. die Erweiterung neuer Kenntnisse als Zielsetzung, befasst sich die Entwicklung mit der Nutzung vorhandener bzw. durch die Forschung gewonnener Kenntnisse, um neue oder verbesserte Produkte oder Verfahren zu konzipieren, und weist damit eine höhere Marktorientierung auf. Innerhalb der Entwicklung wird teilweise noch zwischen Vor- und Produktentwicklung unterschieden.132 Der Bereich Beschaffung umfasst alle Funktionen, die der Bereitstellung der zur Leistungserstellung benötigten Produktionsfaktoren dienen. Eng verzahnt hiermit ist die Logistik, die die räumliche, zeitliche und mengenmäßige Differenz zwischen den Lieferanten und dem Unternehmen überbrückt.133 Die Produktionsfaktoren sind hierbei Material, Halbfabrikate und Handelswaren.134 Die Funktion der Beschaffung erfolgt klassischerweise durch den Hersteller. Dennoch spielen auch die Zulieferer eine entscheidende Rolle, da zum einen in Zukunft keine reinen Kauftransaktionen, sondern vermehrt symbiotische Zusammenarbeiten diese Beziehung charakterisieren,135 zum anderen über eine Hierarchisierung eine Reduktion des Beschaffungsaufwands herbeigeführt wird. Unter der Automobilproduktion wird im Folgenden die Herstellung eines Automobils unter der Verwendung von vorgefertigten Produkten und Rohstoffen sowie dem Einsatz von Maschinen und Humanressourcen verstanden, wobei das fertige Automobil das Ausbringungsgut darstellt.136 Die Produktion von Komponenten und Modulen durch die Zulieferer fällt daher nicht in den Definitionsrahmen der Automobilproduktion, weshalb in der Regel die Wert-
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Steinhorst (2005), S. 41. Die gesamte Serienentwicklung wurde bspw. beim Audi Q7 oder beim Bentley Cabriolet an Zulieferer ausgelagert. Vgl. Arthur D. Little (2004b), S. 7. Vgl. hierzu exempl. Bullinger/ Renz (2005), S. 86. Vgl. u. a. Blomeyer (2003), S. 9f., Brockhoff (1999), S. 52, Disselkamp (2005), S. 43, Kaltwasser (1994), S. 24f., und Pepels (1999), S. 58f. Vgl. Tempelmeier (1998), S. 237ff. Eine Betrachtung der Logistik erfolgt nur fallweise. Vgl. Bichler (1992), S. 16, und auch Arnold et al. (1993), S. 22. Die Beschaffung von Humanressourcen und Kapital erfolgt durch die sekundären Aktivitäten „Personalwirtschaft“ und „Unternehmensinfrastruktur“. Vgl. Porter (1999b), S. 74f. Eine breitere Definition liefern Grochla/ Schönbohm (1986), laut welcher zur Beschaffung „[…] alle Kostengüter, für die Märkte vorhanden sind […]“ (Grochla/ Schönbohm (1986), S. 17), zählen. Vgl. hierzu auch die empirische Untersuchung zwischen amerikanischen Automobilherstellern und ihren Zulieferunternehmen von Gulati/ Sytch (2007). Definition in Anlehnung an Günther/ Tempelmeier (2005), S. 6.
30
Teil I: Grundlagen und Herausforderungen der Automobilindustrie
schöpfung in der Produktion durch den Hersteller erzielt wird.137 Dennoch existieren Beispiele, in denen OEM die Endmontage von Kleinserien und Sonderfertigungen vollständig an die Zulieferer auslagern.138 Originäre Aufgabe des Marketings ist die systematische Gestaltung der Informationsübermittlung, um Einstellungen und Verhaltensweisen bestimmter Zielgruppen gemäß spezifischer Ziele zu steuern.139 Als Schnittstelle zum Vertrieb werden zusätzliche Aufgaben des Handelsmarketings (Präsentation der Marke am Point of Sale) und des Kundenmanagements übernommen. Aufgrund der strategischen Relevanz liegt der Bereich des Marketings traditionell in der Verantwortung der OEM. Der Vertrieb zur Belieferung nationaler Märkte wird meist über Großhändler, 140 die Belieferung des Endkunden über den Einzelhandel abgewickelt. Im Einzelhandel dominieren die Absatzwege über den Direktvertrieb, d. h. über die zentrale Verkaufsabteilung des OEM, über werkseigene Niederlassungen sowie über die Vertragshändler141, wobei letztere insbesondere für Premiummarken heute den größten Stellenwert haben.142 Ergänzt wird die Vertriebsaktivität durch das Finanzdienstleistungsgeschäft mit den Schwerpunkten Finanzierung und Leasing. Sowohl für die Absatzförderung und Kundenbindung als auch für die Gewinnerzielung haben diese komplettierenden Dienstleistungen erheblich an Bedeutung gewonnen. 143
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Uneinigkeit herrscht bei der Frage, inwiefern vorgefertigte Zuliefermodule bereits als Wertschöpfung der Produktion angesehen werden, bzw. noch der Beschaffung zuzuordnen sind. So produzieren bspw. große Tier-1 Zulieferer (vertiefend in Punkt III.1.2 (1) behandelt) für Automobilhersteller Nischenfahrzeuge (BMW X3 Magna Steyr oder Chrylser Crossfire Karmann). Vgl. Kraus (2005), S. 170, und Arthur D. Little (2004b), S. 7. Vgl. Bruhn (1997), S. 1, und Diez (2006), S. 423. Für eine vertiefende Lektüre zum Kommunikationsmarketing vgl. Diez (2006), S. 423ff., und die dort angegebene Literatur. Der Vertrieb auf Großhandelsebene verläuft über vertragsgebundene Importeure, über herstellereigene Tochtergesellschaften sowie über Joint Ventures. Vgl. Diez (2006), S. 269ff. Der Händler verpflichtet sich hierbei zur Förderung des Absatzes der Vertragswaren und zur Beachtung der damit verbundenen Weisungsrechte des Herstellers. In diesem Zusammenhang fällt immer öfter das Schlagwort „selektive Vertriebssysteme“, d. h. eine Selektion der Vertragspartner anhand von quantitativen und qualitativen Kriterien. Vgl. Diez/ Reindl (2005b), S. 97f., Creutzig (2005), S. 129 ff., und Diez (2006), S. 274. Der Umsatzanteil der Vertragshändler belief sich 2004 bei Neuwagen auf 39 Prozent und bei Gebrauchtwagen auf 36 Prozent. Niederlassungen kommen auf 7 Prozent (NW) bzw. 5 Prozent (GW), der Direktvertrieb (Herstellerbanken und Firmenangehörige im NW-Bereich) auf 28 Prozent. Vgl. Mercer Management Consulting (2005), S. 4. 2004 wurde in Deutschland ein Gewinn von 1,5 Mrd. Euro im Bereich automobile Finanzdienstleitungen erwirtschaftet (36 Prozent des Gesamtgewinns in der Automobilbranche). Das Neuwagengeschäft erwirtschaftete im gleichen Zeitraum 0,2 Mrd. Euro (5 Prozent des Gesamtgewinns). Bei der Marge ist der Unterschied noch eklatanter: 11 Prozent (Finanzdienstleistungen) gegenüber 0,3 Prozent (Neuwagen). Im Neuwagen- und Leasinggeschäft agieren insbesondere herstellergebundene Finanzdienstleister (56 Prozent Anteil). In der Gebrauchtwagenfinanzierung und im Leasing haben freie Autobanken, wie CC-Bank oder GE Money, ihre Stärken. Geschäftsbanken konzentrieren sich in der Regel ausschließlich auf die Fi-
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Unter den After-Sales-Bereich fallen das Service- und Teilegeschäft. Insbesondere für die Kundenzufriedenheit sind die Dienstleistungen nach dem Kauf entscheidend.144 Trotz aufkommender Konkurrenz durch freie Anbieter ist das Ersatzteilgeschäft für die OEM noch eine relativ wettbewerbsresistente Ertragsquelle.145 Dennoch zeichnet sich auch in Deutschland ein Trend hin zu den Fast-Fittern146 und freien Werkstätten ab. Experten gehen für Deutschland von einem Rückgang des Marktanteils des herstellerkontrollierten Werkstattmarkts von aktuell 55 Prozent147 auf die bereits in den USA und England existierenden 35 Prozent aus.148 Durch den Fall des Designschutzes und den liberaleren Umgang mit dem Begriff „Originalteil“ zeichnet sich in jüngster Vergangenheit ein ähnlicher Trend bei den Ersatzteilen ab.149
I.1.2
Strategie und Struktur – eine Betrachtung der Automobilhistorie
Nach einer Auseinandersetzung mit den Grundlagen der Automobilwirtschaft widmet sich dieses Unterkapitel der automobilen Historie. In Einklang mit der thematischen Zielsetzung der Arbeit, ein integratives Bild von Strategie und Struktur in der Automobilindustrie zu vermitteln, wird auch die Geschichte der Automobilindustrie im Hinblick hierauf thematisiert. Hierbei zeigt sich, dass sich die Branche nicht kontinuierlich entwickelte, sondern vielmehr von drei einschneidenden historischen Wellen gekennzeichnet ist: der fordistischen Massenproduktion (1), dem Aufkommen von Lean Produktion und Management (2) sowie der globalen Konsolidierung (3).
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nanzierung. Vgl. Mercer Management Consulting (2005), S. 4ff. Nach Umfragen wird die Relevanz von Finanzdienstleistungen in Zukunft noch zunehmen. Vgl. Accenture (2001), S. 7. Vgl. Diez (2006), S. 183ff., und Capgemini (2005), S. 22f. Für Ausführungen zu weiteren Mobilitätsdienstleistungen wie Fuhrparkmanagement und Autovermietung siehe Diez (2006), S. 186ff. Für den momentan noch stabilen Marktanteil der OEM am Werkstattmarkt vgl. Deutsche Automobil Treuhand (2006), S. 27ff. Auch die Marge mit 5 Prozent liegt deutlich über der Rentabilität des Neuwagengeschäfts. Fast-Fitter sind Betriebe, die sich auf Verschleißreparaturen aller Fabrikate spezialisieren und sich als effizienzorientierter Preisführer positionieren (Bsp. Pit-Stop). Oft wird dieses Konzept auch mit Fachmärkten kombiniert (Bsp. Auto Teile Unger, Autoplus). Vgl. Arthur D. Little (2004a), S. 2. Marktanteil im Wartungs- und Reparaturmarkt (ohne Unfallreparaturen) in Deutschland für das Jahr 2005. Vgl. Deutsche Automobil Treuhand (2006), S. 36. 58 Prozent der Gewinne in der deutschen Automobilindustrie im Jahr 2004 wurden durch Teile und Zubehör erwirtschaftet. Vgl. Mercer Management Consulting (2005), S. 5. Vgl. Mercer Management Consulting (2005), S. 8.
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(1)
Teil I: Grundlagen und Herausforderungen der Automobilindustrie
Die fordistische Massenproduktion
Die im internationalen Vergleich sehr niedrigen Rohstoff-, bzw. Benzinpreise,150 der Aufschwung der amerikanischen Mittelschicht als volumenstarker Nachfragegruppe und die hohen Investitionen in das Straßennetz führten zu einer enormen Mobilitätsnachfrage im Amerika der 20er-Jahre.151 Grundvoraussetzung für die Bedienung der Massennachfrage war ein Geschäftssystem, das konsequent auf das Volumengeschäft ausgerichtet war.152 Den benötigten Übergang von der handwerklichen Fertigung zur Massenfertigung153 markierte Fords Einführung des Erfolgsmodells „Modell T“.154 Die Innovation der Massenfertigung bestand jedoch nicht, wie allgemein angenommen, in der Einführung des Fließbandes – dieses wurde erst sechs Jahre später angewendet –, sondern in der Verwendung von austauschbaren, d. h. standardisierten, und leicht kombinierbaren Gleichteilen sowie in der sequenziellen Anordnung von Spezial- und Einzweckmaschinen.155 Zu den produktpolitischen Ergänzungen zählten die Konzentration auf ein massenkompatibles, kostengünstiges Produkt156 und die damit einhergehende produkt- und produktprogrammbezogene Standardisierung; Qualitäts- und Kundenwünsche spielten in Fords damaliger Produktpolitik kaum eine Rolle.157 Im Wettbewerb brachte das revolutionäre Produktionssys-
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In Amerika wurden zu dieser Zeit enorme Erdölreserven in Texas entdeckt und erschlossen. Vgl. Schwarz (1994), S. 105. Vgl. Schwarz (1994), S. 111ff., und die dort angegebene Literatur. In Europa und insbesondere Deutschland hingegen verhinderten ungleich höhere Unterhaltskosten, die billigen Arbeitskräfte und die politische Situation eine Massenmobilisierung und damit die Verbreitung der Massenfertigung; der Markt beschränkte sich bis in die 50er-Jahre auf die Fertigung von Luxusautomobilen. Vgl. u. a. Kuhlmann (2004), S. 64ff., Schwarz (1994), S. 119, Raisch (1973), S. 60, sowie Essig (1935), S. 8ff. Ausnahme stellt der Laubfrosch von Opel dar, der als erstes Volksauto in Deutschland bezeichnet werden kann. Opel verfolgte mit ihm eine Einproduktstrategie, um zu ähnlichen Konditionen wie die Amerikaner Automobile für den Massenmarkt anbieten zu können. Vgl. Kuhlmann (2004), S. 67f., sowie die dort angegebene Literatur. Vgl. Möser (2002), S. 158. Die Auseinandersetzung mit der Massenfertigung erfolgt vorwiegend anhand der Beispiele Ford und General Motors. Eine separate Thematisierung der europäischen Automobilindustrie findet nicht statt, da sich die Massenproduktion in Europa nach den gleichen Mustern, nur zeitversetzt, entwickelte. Vgl. Womack et al. (1990), S. 47. Vgl. Womack et al. (1990), S. 26. Vgl. Womack et al. (1990), S. 26f. und S. 36, Möser (2002), S. 156f., Kuhlmann (2004), S. 63, und die dort angegebene Literatur. Für eine ausführliche Auseinandersetzung mit den Spezial- und Einzweckmaschinen vgl. auch die Ausführungen bei Hammer (1959), S. 10ff., zur Transfermaschine. Der Preis für ein T-Modell sank durch die Massenproduktion von 780 USD (1911) auf 360 USD (1914). Der Marktanteil von Ford stieg von 9,4 Prozent (1908) auf 48,0 Prozent (1914). Vgl. Halberstam (1988), S. 65f. Vgl. hierzu Möser (2002), S. 158, und Starkey/ McKinlay (1993), S. 16. Resultat dieser konsequenten Produktausrichtung, die sich vielleicht am besten durch das Zitat von Ford „Whatever color you want, as
Teil I: Grundlagen und Herausforderungen der Automobilindustrie
33
tem Ford den entscheidenden Vorteil bei der Massenmotorisierung und der Marktanteil stieg von neun Prozent im Jahr 1908 auf 48 Prozent im Jahr 1914.158 Zur vollen Nutzung der Potenziale baute Ford die Fertigungstiefe vom Verbund zu einem vollkommen autarken Wertschöpfungssystem aus, da Zulieferbetriebe sich damals nicht durch ein vergleichbares Produktionsniveau auszeichneten.159 Die Änderungen im Geschäftssystem hatten neben den strategischen Implikationen auch signifikante Einflüsse auf die Arbeits- und Sozialstrukturen sowie die Betriebsorganisation in den fordistischen Betrieben,160 die heute unter dem Schlagwort tayloristisch-fordistische Organisationsstrukturen161 zusammengefasst werden: Dequalifikation der Arbeiter, Ausdifferenzierung der Betriebsstrukturen und Entfremdung der Arbeit.162 Henry Ford schrieb damals: „[The] carefully designed assembly processes […] reduced the necessity for thought on the part of the worker.” (Ford (o. Jg.), zit. nach Schwarz (1994), S. 106 u. R. a. Dyer et al. (1987), S. 35, Anm. A. R.)163
Hierdurch wurde der breite Einsatz von ungelernten Arbeitern erst ermöglicht, der Grundlage für die schnelle Expansion Fords war.164 Von dieser Dequalifikation betroffen waren interessanterweise auch hierarchisch höhergestellte Positionen wie die der Meister, wodurch sich das Machtgefüge stark in Richtung der zentralen Unternehmensführung verschob. 165 Briefs (1931) stellt die Auswirkungen für die Meister wie folgt dar: „Der alte Meister war der Mann von großer Gelerntheit und großer Betriebserfahrung, ein kleiner Pascha im Betrieb, dem die Festsetzung der Akkorde, das Anlegen und Abkehren von Leuten, neben seinen sonstigen technischen Aufgaben und Arbeitskontrollen überlas_______________________________________________________________________________________
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long as it is black“ (Ford (o. Jg.), zit. nach Horizon (2001), S. 1) ausdrücken lässt, war ein undifferenziertes Einzelprodukt. Vgl. Halberstam (1988), S. 66. Vgl. Kuhlmann (2004), S. 56, u. R. a. Lewchuk (1987). S. 42ff., Schwarz (1994), S. 117, und Womack et al. (1990), S. 231ff. Vgl. West (2000), S. 6f. In der damaligen Diskussion stand das „Taylor-System“ für die Planung und Kontrolle von Arbeitsprozessen durch zentrale Instanzen sowie die Trennung von „Hand-„ und „Kopfarbeit; das „Ford-System“ für Fließproduktion, Massenfertigung, Mechanisierung und hohe Löhne. Vgl. hierzu Radkau (1989), S. 269ff., und Mikl-Horke (1994), S. 58. Vgl. Schwarz (1994), S. 105f., West (2000), S. 6f., Womack et al. (1990), S. 30ff., und Hammer (1959), S. 8. Henry Ford schätzte, dass der Anteil der Arbeiter, die 2 Wochen Einarbeitungszeit benötigen, 85 Prozent der Belegschaft ausmachte, 43 Prozent brauchten sogar weniger als einen Tag. Vgl. hierzu Dyer et al. (1987), S. 35. Dieses Zitat spiegelt sehr gut die tayloristische Sichtweise von Ford wieder. „You are not supposed to think, there are other people paid for thinking around here” (Taylor (o. Jg.), zit. nach West (2000), S. 7). In Amerika waren insbesondere Farmarbeiter und Einwanderer die primäre Arbeitnehmergruppe. Vgl. Womack et al. (1990), S. 31, und Dyer et al. (1987), S. 35. Vgl. Wiedemann (1967), S. 82f. Kugler (1987), S. 318, betitelte passend die Betriebsorganisation in der Manufaktur als „Föderativsystem selbständiger Meisterrepubliken“.
34
Teil I: Grundlagen und Herausforderungen der Automobilindustrie
sen war. […] Der neue Meister ist schärfer an das Arbeitsbüro und seine Verfügungen und Anordnungen gebunden. Er ist weniger souverän, stärker spezialisiert und in seinen Befugnissen beengter und gebundener.“ (Briefs (1931), S. 43)
Mit den entstehenden monolithisch-hierarchischen Strukturen166 und den einfachen, monotonen Arbeitsinhalten (Technisierung des Arbeitsprozesses) ging eine zunehmende Entfremdung der Arbeit einher. Ein anschauliches Beispiel für das maschinenähnliche Menschenbild167 liefert Hammer (1959), der wie folgt berichtet: „Bei den Transfermaschinen hat die hochgradige Automatisierung […] den […] Bereich manueller Funktion noch weiter eingeschränkt […]. Diese nehmen nur noch einen geringen Teil seiner Person in Anspruch, sind aber gerade wegen dieser Einseitigkeit oft äußerst monoton und ermüdend.“ (Hammer (1959), S. 13)
Flankiert wurde die „inhumane“ Arbeit von einer erhöhten Mitarbeiterfluktuation, welcher mit überdurchschnittlichen Löhnen entgegengesteuert wurde. Hohe Lohnzahlungen prägten daher als Nebeneffekt das fordistische Zeitalter.168 Mitte der 20er-Jahre des letzten Jahrhunderts geriet das fordistische Geschäftsmodell trotz seiner Erfolgsgeschichte in eine tiefe Krise. Zurückzuführen ist dies nicht zuletzt auf die Emanzipation der Kundenanforderungen an das Automobil, die Fords Einheitsprodukt nicht zeitgemäß erscheinen ließ.169 General Motors setzte an diesem Schwachpunkt an und bediente die neuen Kundenwünsche mit einem differenzierten Angebotsportfolio und zielgruppenorientierten Markenfamilien.170 Alfred Sloan beschrieb die damalige Situation wie folgt:
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Hinter einer monolithischen Führungsauffassung steht eine stark zentralistische Sichtweise der Führung; die Entscheidungs- und Weisungsbefugnisse konzentrieren sich in wenigen Einheiten an der Organisationspitze. Zu den Begriffen der Monolithik und Polyzentrik sowie für die folgende Argumentation vgl. insbesondere Gomez/ Zimmermann (1993), S. 82ff., und Bleicher (2001), S. 342f. Die Sichtweise des Menschen als maschinenähnlichem Produktionsfaktor spiegelt folgendes Zitat von Henry Ford wider: „A business is men and machines united in the production […] both men and machines need repairs and replacements […] Machinery wears out and needs to be restored. Men grow uppish, lazy, or careless […]” (Ford (O. Jg.), zit. nach Rothschild (1973), S. 34). Vgl. Möser (2002), S. 159, Kuhlmann (2004), S. 99ff., sowie die dort angegebene Literatur. Auch deutsche Betriebe erkannten die Gefahren in der monotonen Arbeit und zahlten überdurchschnittliche Gehälter. Ford hielt an seiner Einstellung, Humanressourcen gleich Maschinen als reine Produktionsmittel zu sehen, bis nach dem zweiten Weltkrieg fest, obgleich andere Automobilhersteller wie General Motors bereits das breite Spektrum menschlicher Bedürfnisse erkannten. Vgl. hierzu West (2000), S. 9f. Vgl. Schwarz (1994), S. 108f., u. R. a. Dyer et al. (1987), S. 28, sowie Möser (2002), S. 160ff. Styling, Farbe, Interieur und ein differenziertes Produktportfolio nahmen nun einen tendenziell höheren Stellenwert als die für Fords Einheitsmodell typischen Eigenschaften wie Verlässlichkeit, Solidität und Preis ein. Vgl. Möser (2002), S. 162ff., und Chandler (1993), S. 142f. Der Massenmarkt wurde über die billigen Chevrolets, die breite Mittelschicht über die Marken Pontiac, Oldsmobile und Buick, das Luxussegment über Cadillac bedient. Vgl. hierzu Dyer et al. (1987), S. 26. General Motors baute zumeist auf Kosten von Ford seinen Marktanteil auf 50 Prozent im Jahr 1950 aus; Ford hingegen verbuchte im gleichen Zeitraum einen Rückgang von 48 Prozent auf 25 Prozent. Vgl. Schwarz (1994), S. 110, und Halberstam (1988), S. 66.
Teil I: Grundlagen und Herausforderungen der Automobilindustrie
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„The line of products that we had was very defective. […] We had too many cars in some places and no cars in other places. One of the first things we did was to develop a line of products that meet competition in the various positions in which competition was offered.” (Sloan (o. Jg.), zit. nach Chandler (1993), S. 143)
Die Produktdiversifikation stand dabei weiter unter den Prämissen der Massenfertigung, indem zwar eine äußerliche, von Kunden wahrnehmbare Individualisierung stattfand, jedoch in kundenirrelevanten Bereichen konsequent auf Gleichteile und Plattformen gesetzt wurde:171 „It is perfectly possible, from the engineering and manufacturing standpoint, to make two cars at not a great difference in price and weight, but considerably different in appearance […].” (Sloan (o. Jg.) zit. nach Rothschild (1973), S. 38f.)
Die Hauptherausforderung von General Motors lag jedoch weniger auf strategischer als auf organisatorischer Ebene, da lange Zeit die Organisationsstruktur nicht an die aktuellen Anforderungen angepasst wurde: „structure was forgotten for strategy“ (Chandler (1993), S. 122). Es galt, die Vorteile des dezentralen Firmenportfolios und damit die Bandbreite des Produktprogramms mit einer gruppenweiten Koordination zu verbinden.172 Hierzu wurden fünf markenorientierte Divisionen mit weitreichenden Entscheidungskompetenzen in ihrer Marketingund Produktpolitik konfiguriert, deren Führung im Sinne von Profit Centern über Kennzahlen durch die Zentrale stattfand.173 Zusätzlich wurden hierfür das Kontroll-, Bericht- und Planungswesen bei General Motors signifikant verbessert.174 Neben der dezentralen Strukturierung der Divisionen war ein weiterer zentraler Bestandteil die Neustrukturierung der Zentrale und ihrer Funktionen.175 Die zentrale Instanz bildete hierbei das „Executive Committee“, das für die gruppenweite strategische Ausrichtung zuständig war.176 Unterstützt wurde dieses durch Zentraleinheiten im Bereich Finanzierung, Controlling und Unternehmensentwicklung. Eine Sonderrolle in der divisionsübergreifenden Aktivitätenbündelung nahmen die funktionsorientierten „Interdivisional Relations Committees“ ein, die als Querschnittseinheiten den gruppenweiten Informationsfluss verbessern sollten.177
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Vgl. Friedman (1983), S. 350, und Möser (2002), S. 161ff. Selbst in den Luxusautomobilen wurden günstige Standardteile versteckt. Beide Ansprüche finden sich in der Zielsetzung des Organisationsprojekts von Sloan wieder. Vgl. Chandler (1993), S. 133 und S. 161. Vgl. hierzu auch Schwarz (1994), S. 109f., und Chandler (1993), S. 144. Hierzu entwickelte General Motors nicht nur vergangenheitsorientierte Kennzahlen und Steuerungsgrößen, sondern investierte auch sehr stark in Prognosemodelle. Vgl. Chandler (1993), S. 145ff. Zur Strukturierung der Zentrale vgl. die Ausführungen bei Chandler (1993), S. 142ff. Vgl. Chandler (1993), S. 157ff. Vgl. Chandler (1993), S. 155ff., zum „Interdivisional Relations Committee“.
36
Teil I: Grundlagen und Herausforderungen der Automobilindustrie
Zusammenfassend kann man sagen, dass die flexible Massenproduktion, Grundlage der modernen Automobilindustrie, aus zwei Komponenten bestand. Zum einen aus einem fordistischen Kernbereich mit maschineller Fließbandarbeit und langen Produktionszyklen, zum anderen aus einer sloanistischen Ergänzung, insbesondere im Bereich der Karosseriefertigung und der Montage, mit kürzeren Zyklen und einem höheren Anteil an Handarbeit. Womack et al. (1990) fassen die Synthese der fordistischen und sloanistischen Systeme treffend zusammen, indem sie resümieren:178 “Sloan would make the system Ford had pioneered complete, and it is this complete system to which the term mass production applies today.” (Womack et al. (1990), S. 40)
(2)
Lean Management – Aufstieg der asiatischen Automobilhersteller
Obgleich die Automobilindustrie auch noch lange nach dem 2. Weltkrieg von den fordistischen und sloanistischen Errungenschaften geprägt war,179 ereignete sich einer der entscheidenden Schritte für das heutige Branchenbild in Japan. Mit dem Schlagwort „schlanke Produktion“ wird die Erfolgsgeschichte japanischer Automobilunternehmen in den 70er- und 80er-Jahren betitelt, die nachhaltig die gesamte Branchenstruktur prägen sollte und zu einer globalen Verschiebung der Weltmarktanteile führte.180 Als Gründe für diese Entwicklung werden allgemeinhin die verfehlte Produktpolitik der Amerikaner und das revolutionäre, schlanke Produktionssystem der Japaner genannt.181 Ursächlich hierfür war das systeminhärente Trade-Off der Massenproduktion zwischen Differenzierung und Kostenführerschaft. Ein namhafter Analyst beschrieb in der Business Week vom 16.03.1974 die damalige Lage wie folgt: „You can’t have great efficiency and real innovation. There’s no such thing as a free lunch.” (o. V. (1974), zit. nach Friedman (1983), S. 369)
178 179 180
181
Vgl. hierzu auch Möser (2002), S. 163, und Starkey/ McKinlay (1993), S. 41. Vgl. Friedman (1983), S. 367. In den Jahren von 1960 bis 1975 wuchs die Produktion japanischer Automobile jährlich mit durchschnittlich 175 Prozent, die Exportquote stieg von 10 Prozent im Jahr 1965 auf über 50 Prozent im Jahr 1980 und der Weltmarktteil von etwas über einem Prozent auf 25 Prozent im Jahr 1982. Gleichzeit fiel im gleichen Zeitraum der Weltmarktanteil von Amerika von 50 Prozent auf 18 Prozent. Vgl. Kohn (1998), S. 28f., sowie die dort angegebene Literatur. Vgl. u. a. Kohn (1998), S. 29f., und Bender (1996), S. 81. Im Folgenden soll aber primär von einem schlanken Geschäftssystem gesprochen werden, da die schlanke Produktion nur ein Bestandteil ist. Vgl. hierzu auch Schwarz (1994), S. 171, Rothschild (1973), S. 226, und auch die Ausführungen bei Keuper (2001), S. 66. Auch Fink et al. (2004) sprechen in Zusammenhang von Lean Production von schlanker Produktion, schlankem Management und schlanken Betrieben.
Teil I: Grundlagen und Herausforderungen der Automobilindustrie
37
Die Amerikaner legten ihre Präferenzen auf die Absatzmenge und generierten hieraus Kostenvorteile zu Lasten der Differenzierung; die Europäer verfolgten größtenteils eine kundenorientierte Differenzierungsstrategie, waren jedoch hinsichtlich der Fahrzeugpreise im internationalen Markt nicht konkurrenzfähig.182 Der zunehmende globale Wunsch nach individueller Mobilität brachte die fordistische Massenherstellung an ihre Grenzen. 183 Zudem änderten die beiden Ölkrisen die Kundenwünsche grundlegend und schlagartig. 184 Lock-In Effekte der Massenfertigung185 verhinderten damals eine schnelle Reaktion der traditionellen, amerikanischen Automobilhersteller.186 Zusätzlich wurde die Gefahr durch die japanischen Hersteller lange von den traditionellen Märkten Europa und Amerika trotz eindeutiger Zeichen, wie dem Aufbau von Transplants187, nicht erkannt.188 Dies in Kombination mit der „Tabula rasa“Situation der japanischen Automobilindustrie nach dem zweiten Weltkrieg führte zu einem strategischen Zeitvorsprung der japanischen Hersteller gegenüber der Konkurrenz.189
182
183 184
185
186 187
188
189
Wie sich später zeigen wird ergaben sich durch den Markteintritt der asiatischen Hersteller insbesondere Probleme für Volumenmarken wie bspw. Fiat. Vgl. Bender (1996), S. 75. Durch die Ausweitung des Produktprogramms litten aber auch zunehmend höher positionierte deutsche Volumenmarken unter der asiatischen Konkurrenz. Vgl. Bender (1996), S. 67. Vgl. hierzu auch Kuhlmann (2004), S. 121. Selbst GM „fiktive“ Typenvielfalt konnte diesen Anforderungen nicht mehr gerecht werden. Vgl. hierzu u. a. Kohn (1998), S. 29, und Bloomfield (1991), S. 20 und 31. Durch den niedrigeren Verbrauch der Automobile waren die europäischen Hersteller nicht so stark betroffen. Dennoch wirkte sich die allgemeine Kostensensibilisierung auch auf die Anschaffungspreise aus, weshalb auch europäische Hersteller aufgrund ihrer hochpreisigen Automobile unter Absatzrückgängen litten. Vgl. Schwarz (1994), S. 201. Hierzu zählen unter anderem die hohen Kosten der Spezialmaschinen und die mangelnde Qualifikation der Humanressourcen (vgl. Friedman (1983), S. 379) sowie die aufgrund der hohen Losgrößen immensen Lagerbestände (vgl. hierzu exempl. Shingo (1992), S. 62f.). Vgl. Friedman (1983), S. 364, und Kohn (1998), S. 29. 1980 hatten 78 Prozent der amerikanischen Motoren mehr als 4 Liter Hubraum. Vgl. Friedman (1983), S. 360. Der Begriff Transplant wurde durch die japanische Transnationalisierung in der Automobilindustrie geprägt. Hierunter werden ausländische Produktionswerke verstanden, die einerseits in ihrer Konzeption den schlanken Systemen in den japanischen Fabriken gleichen, anderseits lokale Anforderungen in den jeweiligen Märkten mitberücksichtigen. Vgl. hierzu Pries (1999b), S. 28. Zunächst waren dies nur Vertriebsgesellschaften. Toyota eröffnete bereits 1957 mit United States Toyota eine Vertriebsgesellschaft in Amerika. Als erster der japanischen Automobilhersteller begann Honda 1982 mit der Realisierung einer amerikanischen Produktion. Vgl. Miyakawa (1991), S. 88 und 96, sowie Schwarz (1994), S. 211. Zur amerikanischen Produktion und zum europäischen Markteintritt Toyotas vgl. exempl. Becker (2006), S. 181ff. Vgl. für Amerika Neuner (1993), S. 98ff., und für Europa Bender (1996), S. 171ff., Kiefer (1995), S. 171ff., Chaveles (1997), S. 71ff., und Schwarz (1994), S. 219ff., sowie allgemein Friedman (1983), S. 36. Als der damalige Chef von Mercedes Benz in einem Interview gefragt wurde, was er von den japanischen Autos halte, schaute er verdutzt den Journalisten an und fragte: „Autos? Habe ich Sie richtig verstanden Autos?“ Vgl. hierzu Schwarz (1994), S. 198. Vgl. hierzu auch Kohn (1998), S. 29. In Europa kam hinzu, dass die positive Entwicklung der Branche, insbesondere in den 80er-Jahren, die Gefahren übertünchte und ein Festhalten an den etablierten Produktionsweisen forcierte. Vgl. hierzu auch Schwarz (1994), S. 219f. So antwortete 1993 Ferdinand Piech auf
38
Teil I: Grundlagen und Herausforderungen der Automobilindustrie
Die japanischen Hersteller ihrerseits reagierten auf das entstehende Angebotsvakuum durch ein kunden- und absatzmarktorientiertes Programmangebot.190 Zunächst in Amerika, später auch in Europa, ermöglichte die Zusammenarbeit mit lokalen Zulieferern und die Produktion in ausländischen Transplants eine zunehmende Orientierung an den lokalen Bedürfnissen.191 Ferner wurde mittels eines proprietären Händlernetzes der Zugang zum Marktwissen sichergestellt.192 Dies zusammen mit der Auftragsfertigung ermöglichte eine ausgeprägte Kundenorientierung und eine umfangreiche Produktdiversifikation.193 „As for the market analysis, the importers have learned as much about the U.S. as the domestic have, and more about it in some areas. The importers were quick to seize on the value of market fragmentation, the splitting up of the total market into many mini-markets […]. ” (o. V. (1971), zit. nach Friedman (1983), S. 369, Herv. A. R.)
Ermöglicht wurde dies durch das schlanke Produktionssystem, das konsequent auf Produktionseffizienz durch Vermeidung von Verschwendung und Produktionseffektivität durch Kundenorientierung ausgelegt war. Die Verschwendung („muda“) bezieht sich dabei nicht nur auf das Material, sondern auch auf weitere Produktionsfaktoren, wie die menschliche Arbeit, Zeit und Finanzmittel. 194 Die Materialverschwendung wurde durch ein konsequentes Qualitätsmanagement195 und durch die Reduktion der Überschussproduktion, ermöglicht durch die kundenorientierte Auftragsfertigung und die nachfrageorientierte Just-In-Time-Belieferung und Produktionssteuerung,196 gesenkt. Eine Optimierung der Faktoren Mensch und Zeit erreichte die schlanke Produktion
_______________________________________________________________________________________
190 191 192
193 194
195 196
die Frage eines Reporters der Süddeutsche Zeitung, „[…] warum […] die europäische und die deutsche Autoindustrie erst so spät auf diese neuen Erkenntnisse [kommt] [und … ob] man geschlafen [hätte]“: „Nein. Aber wir waren nicht in Not. (Gute Zeiten machen träge)“ (Piech (1993), zit. nach Schwarz (1994), S. 262). Vgl. Friedman (1983), S. 366. Ein erstes Beispiel hierfür war der Toyota Corolla in den späten 60er-Jahren, der extra für den amerikanischen Markt entwickelt und gebaut wurde. Vgl. Friedman (1983), S. 366, u. R. a. Kamiya (1976), S. 119. Vgl. Womack et al. (1990), S. 66ff., und allgemein zum Prinzip des schlanken Vertriebs Keuper (2001), S. 75f. Im fordistischen System hingegen war die Händlerbeziehung eher distanziert und auch die Beziehung zwischen OEM und Endkunde spielte kaum eine Rolle. Vgl. Womack et al. (1990), S. 66 und 170ff. Vgl. hierzu auch die Ausführungen bei Friedman (1983), S. 358ff. Sekine (1994), S. 83, unterscheidet als Quellen für Verschwendung insgesamt sieben Kategorien (Überproduktion, Wartezeit, Transport, Arbeitsprozess, Bestände, Bewegung, Produktionsfehler), die sich aber im Wesentlichen auf die Angeführten reduzieren lassen. Vgl. Haak (2005), S. 472f. Vgl. Haak (2005),S. 470f., Cusumano (1985), S. 265ff., und ausführlich Shingo (1992), S. 139ff. Kritisch hierbei ist aber anzumerken, dass die genaue Abstimmung der einzelnen Prozessschritte und die konsequente Vermeidung von Zwischenlagern bei einem Fehler im System die gesamte Produktion still legen könnte.
Teil I: Grundlagen und Herausforderungen der Automobilindustrie
39
insbesondere durch eine Mehrmaschinenbedienung durch Automatisierung.197 Anstelle des Kalküls der Maschinenzeitoptimierung verfolgte die schlanke Produktion, aufgrund der ungleich höheren Fixkosten der Humanressourcen, eine konsequente Ausrichtung an der Maxime der Vollauslastung des humanen Faktors.198 Die hohe Produktionseffektivität, also die Produktion der „richtigen“ Güter, ist maßgeblich durch das Vertriebssystem begründet. Anders als in der fordistischen Produktion, in der Automobile in großen Mengen und zu einem gewissen Grad auch in großer Varianz auf Lager produziert wurden und beim Händler vorrätig waren, arbeitete der schlanke Vertrieb mit Auftragslieferung.199 Hierdurch wurde einerseits der Kapitalbedarf erheblich gesenkt und die Kundenindividualität erhöht, andererseits ergaben sich aber aufgrund der erwarteten Lieferzeiten auch große Herausforderungen an die Produktion.200 Für eine ökonomische Kundenorientierung war entscheidend, die Massenfertigung (ökonomische Perspektive) mit der Individualisierung (Kundenperspektive) in Einklang zu bringen; kleine Losgrößen201 und ein gemischter Produktionsfluss zur Auslastung sowie ein kontinuierlicher Materialfluss zur Verkürzung der Produktionszeit spielten dabei eine entscheidende Bedeutung (vgl. Abb. I-5).
197
198 199
200
201
Vgl. Shingo (1992), S. 39ff. Zusätzlich wurden zur Produktionszeitverbesserung die Leerlaufzeiten durch eine teilw. Automatisierung der Wartung (vgl. Cusumano (1985), S. 274) und durch die Verkürzung der Rüstzeiten (vgl. Cusumano (1985), S. 285ff., und Shingo (1992), S. 48) reduziert. Für ein Praxisbeispiel zur Verkürzung der Rüstzeiten vgl. auch Kiefer (1995), S. 112. Vgl. hierzu auch Womack et al. (1990), S. 54f. Zum schlanken Vertrieb und zur Auftragsfertigung vgl. exempl. Shingo (1992), S. 55ff., Keuper (2001), S. 74f., und allgemein Womack et al. (1990), S. 169ff. Auch Burger (1992) stellt allgemein fest: „Auf käuferdominierten Märkten lösen wechselnde Kundenwünsche neue Fertigungsaufgaben aus. Der Hersteller kann grundsätzlich nicht von der Nachfrage emanzipiert fertigen; er baut keine Fertigwarenlager auf, sondern fertigt absatznah“ (Burger (1992), S. 26). Insbesondere die Flexibilität von Fertigungslagern stellt unter den geschilderten Marktbedingungen einen entscheidenden Erfolgsfaktor dar. Vgl. hierzu und zu den verschiedenen Flexibilitätsarten Burger (1992), S. 26ff. Vgl. Shingo (1992), S. 48.
40
Teil I: Grundlagen und Herausforderungen der Automobilindustrie
Merkmal
Ford
Toyota
Vorteile Toyota
1 kontinuierlicher Materialfluss
nur in der Montage
kürzere Zyklen Bearbeitung und Montage verringerte sind unmittelbar Fertigteilbestände miteinander verbunden verringerte Durchlaufzeiten
2 Losgröße
groß
klein
geringere Losverzögerungen auftragsbezogene Fertigung
3 Teilefluss
nur ein Produkt (wenige Varianten)
gemischter Produktfluss (viele variantenreiche Modelle)
Losverzögerung gegen 0 auf Wechsel eingestellt bevorzugt Auslastungsausgleich
Abb. I-5:
Unterschiede in der Produktion zwischen Ford und Toyota Quelle: Shingo (1992), S. 64.
Die Null-Fehler- und Null-Pufferproduktion der schlanken Produktion hatte auch signifikante Einflüsse auf die Konfiguration und Koordination. Im Gegensatz zur funktionsorientierten Stellenspezialisierung der fordistischen Massenproduktion erfolgt die schlanke Produktion in objektorientierten, crossfunktionalen Teams mit weitreichenden Kompetenzen des Projektleiters („shusha“).202 Das Empowerment der Arbeiter („teiki ido“) über horizontale (Job Enlargement) und vertikale Aufgabenerweiterung (Job Enrichment)203 und die damit einhergehende Qualifikation ermöglichten eine teilautonome Koordination, wodurch indirekt-produktive, kontrollierende Stellen reduziert und die Nullfehlerproduktion durch eigeninitiatives Handeln der Produktionsmitarbeiter sichergestellt wurden.204 Grundlegend hierfür war ein ausgereiftes und umfassendes Kommunikationssystem.205 Neben der operativen Abstimmung in der Pro-
202
203
204
205
Vgl. hierzu u. a. Friedman (1983), S. 356, West (2000), S. 15, und vertiefend Gutberlet (1993), S. 151ff., sowie insbesondere Gutberlet (1993), S. 200ff., für die Teamorganisation. Der Projektleiter hat nicht nur Weisungsrechte, sondern auch Beurteilungskompetenzen und damit Personalmanagementverantwortung. Vgl. Knyphausen-Aufseß (1995), S. 126. Im Gegensatz hierzu waren in der europäischen und amerikanischen Automobilindustrie die Kompetenzen der Projektleiter meist auf die Koordination beschränkt. Vgl. Kohn (1998), S. 38. Vgl. hierzu u. a. Keuper (2001), S. 85, Gutberlet (1993), S. 169, und Friedman (1983), S. 377f. Studien zeigen, dass die dynamische Zusammensetzung von Teams nicht nur direkt die Flexibilität erhöht, sondern auch indirekt auf die Lernkurve der Arbeiter und damit auf die Produktivität Auswirkungen hat. Vgl. hierzu Friedman (1983), S. 378f. So wurde ein Arbeiter in den japanischen Fabriken im Durchschnitt 380 Stunden gegenüber 173 Stunden in Europa und 46 Stunden in Nordamerika geschult. Vgl. Womack et al. (1990), S. 92. Vgl. Kohn (1998), S. 32f., und Womack et al. (1990), S. 99. Die für das fordistische System klassische Trennung von Kopf- und Handarbeit hebt die schlanke Produktion in weiten Teilen auf. Vgl. hierzu Gutberlet (1993), S. 151. Vgl. ausführlich zum Kommunikations- und Informationssystem Gutberlet (1993), S. 155ff.
Teil I: Grundlagen und Herausforderungen der Automobilindustrie
41
duktion über Anzeigetafeln206 erfolgte durch das „Ringi-System“ (rin=Zirkulation, gi=Diskussion) auch auf strategischer Ebene ein „Bottom-up-Entscheidungsprozess“. Auf allen Ebenen wurden Verbesserungsvorschläge formuliert und in Form von Entscheidungsgrundlagen („Ringi-sho“) an das Management kommuniziert.207 Dennoch muss festgehalten werden, dass nicht, wie gemeinhin angenommen, die schlanke Produktion den Gegenpol zu den fordistischen Methoden darstellt; vielmehr stellt sie eine dynamische Weiterentwicklung dar, die eine Massenproduktion mit kleinen Losgrößen und minimalen Lagerbeständen ermöglicht.208
(3)
Die Automobilindustrie in der weltweiten Konsolidierung
Bislang war eine Analyse der strategischen und organisatorischen Auswirkungen Zielsetzung der Ausführungen zu den einzelnen historischen Phasen. Da die strategischen und organisatorischen Implikationen in den folgenden beiden Hauptteilen der Arbeit noch detailliert beschrieben und analysiert werden, beschränken sich kommende Ausführungen zur weltweiten Konsolidierung der Automobilindustrie jedoch auf die reine Deskription der historischen Branchenkonsolidierung, die maßgeblich das heutige Branchenbild der Automobilindustrie prägt. Ohne auf später im Detail vorgestellte Inhalte vorwegzugreifen, soll so die Lücke zum heutigen Branchenbild geschlossen und damit der Brückenschlag in die Gegenwart vollzogen werden. Betrachtet man die Konsolidierung in der Automobilindustrie, so ist diese von zwei prägnanten Wellen geprägt. In einer frühen Phase der internationalen Konsolidierungsbewegung wurden neben Zielfirmen im Bereich Automobil auch vermehrt branchenfremde Unternehmen akquiriert (Cross-Industrie M&As). Der Höhepunkt dieser Bewegung fand in den frühen 80er-Jahren statt (vgl. Abb.I-6).209
206 207 208 209
Vgl. hierzu auch Keuper (2001),S. 85, und Womack et al. (1990), S. 99. Vgl. Gutberlet (1993), S. 153. Vgl. Shingo (1992), S. 65. Datenbasis dieser und folgender Abbildungen (I-6, I-7) ist die A. T. Kearney (2008) Value Building Growth Database. Ausgewertet wurden Transaktionen mit Mehrheitsbeteiligungen und einem Volumen größer 100 Mio. USD im Zeitraum von 1982-2006. Das aufkaufende Unternehmen gehört nach SIC Code zu den Automobilherstellern.
42
Teil I: Grundlagen und Herausforderungen der Automobilindustrie
Transaktionsvolumen in Mrd. USD 60
Cross-Industrie
50
Intra-Industrie
40 30 20
10 0
Zeitraum 82-86
Abb. I-6:
87-91
92-96
97-01
02-07
Internationale Cross- vs. Intra-Industrie-M&A aus Sicht der Automobilindustrie Quelle: eigene Berechnungen auf Basis A. T. Kearney (2008).
Um die Beweggründe dahinter zu verstehen, bietet es sich an, die Fallstudie Daimler-Benz AG zu betrachten.210 In Europa brachte der automobile Aufschwung in den 70er-Jahren hohe Gewinne und Cash-Flows. Auf der anderen Seite verdeutlichten die Entwicklungen in der amerikanischen Automobilindustrie, ausgelöst durch den einsetzenden Siegeszug der japanischen Hersteller, die Verwundbarkeit der Branche. Um einerseits rentable Investitionsmöglichkeiten für das freie Kapital zu schaffen, andererseits ein risikodiversifiziertes Portfolio zu generieren, verfolgte u. a. die Daimler-Benz AG insbesondere in den 80er-Jahren eine technologiekonzentrische Diversifikation mit Ziel der Schaffung eines Technologiekonzerns.211 Neben den Diversifikationsbestrebungen der Industrie, primär aus finanz- und risikoorientierten Gründen sowie zur Sicherung von Technologien, prägt insbesondere die noch anhaltende globale Intrabranchenkonsolidierung bis heute das Bild der Automobilindustrie. Fan-
210 211
Vgl. hierzu und im Folgenden insbesondere die Ausführungen zur Entwicklung der Strategie und Organisation bei Bea et al. (1997). Unter dieser Zielsetzung wurde die ehemals aus den Bereichen Nutzfahrzeuge und Personenkraftwagen bestehende Daimler-Benz AG durch Akquisitionen um die Geschäftsbereiche MTU (Maschinenbau), Dornier (Luft- und Raumfahrt), MBB (Wehrtechnik und Luftfahrt), AEG (Industrie- und Gebrauchsgüter), Deutsche Aerospace (Luft- und Raumfahrt) sowie durch interne Auslagerung um den Geschäftsbereich debis (Dienstleistungen) erweitert. Vgl. hierzu Bea et al. (1997), S. 30f. Ähnliche Diversifikationsbestrebungen finden sich bspw. auch bei Chrysler mit den Akquisitionen von Gulfstream Aerospace Corporation (Luft- und Raumfahrt) und Electrospace Systems (Elektrotechnik mit Schwerpunkt auf Luftfahrt und Wehrtechnik) und General Motors mit Electronic Data Systems (Dienstleistungen) und Hughes Aircraft Company (Elektrotechnik mit Schwerpunkt Luftfahrt). Vgl. Neuner (1993), S. 29 und 77, sowie Bloomfield (1991), S. 40 und 44.
Teil I: Grundlagen und Herausforderungen der Automobilindustrie
43
den bis in die 80er-Jahre Zusammenschlüsse primär auf nationaler Ebene statt,212 so zeichnete sich bereits Anfang der 90er-Jahre eine globale Branchenkonsolidierung ab, die ihren Höhepunkt um die Jahrtausendwende fand (vgl. Abb. I-7). Internationales Transaktionsvolumen in Mrd. USD 60 50 40 30 20
10 0
Zeitraum 82-86
Abb. I-7:
87-91
92-96
97-01
02-07
Internationales Transaktionsvolumen in der Automobilindustrie Quelle: eigene Berechnungen auf Basis A. T. Kearney (2008).
Intentionen der Hersteller lagen dabei insbesondere in der schnellen Ausweitung der Angebotsprogramme und der Beschaffungskanäle sowie im Aufbau eines globalen Produktionsnetzes. Daimler erhoffte sich bspw. durch den Zukauf von Chrysler im Jahr 1998 eine Ausweitung des Produktprogramms in die mittleren und unteren Kundenschichten, ohne dabei das Kerngeschäft der Marke Mercedes zu gefährden. Mazda und Isuzu ermöglichten Ford und GM den Zugang zu umfangreichen Produktionskapazitäten in Asien. Ferner konnte Ford die guten Lieferantenbeziehungen von Mazda in Thailand nutzen.213 Diesen strategischen Überlegungen stehen Effizienzüberlegungen über Synergien und Economies of Scale und Scope gegenüber.214 Hierbei wurden die Synergiepotenziale aber in einigen Bereichen überschätzt. Der von Analysten gelobte strategische Fit (gegenseitige Ergänzung der Beschaffungsquellen, der Produktionsstandorte, des Produktprogramms etc.) vieler Fusionen und Akquisitionen
212 213 214
Ausnahmen hierbei sind die General Motors Akquisitionen Adam Opel AG und Vauxhall Motors Limited und die Chrysler Akquisitionen Simca und Rootes Motors. Vgl. Gempt (1971), S. 4f. Vgl. hierzu Sturgeon/ Florida (2000), S. 70. Vgl. exempl. Dudenhöffer (2001), S. 396ff. Aufgrund des zunehmenden Wettbewerbs durch die asiatischen Hersteller und dem damit einhergehenden Preiswettbewerb ist die Optimierung der Produktionskosten, insbesondere über Gleichteile- und Plattformstrategien sowie über die Steigerung der Produktionsauslastung, zu einem Haupteffizienzkriterium und zu einer Grundvoraussetzung für die Margenabsicherung geworden.
44
Teil I: Grundlagen und Herausforderungen der Automobilindustrie
steht im klaren Widerspruch zu kostenorientierten Überlegungen.215 Sturgeon & Florida (2000) halten treffend fest: „Daimler had to explicitly state that its merger with Chrysler would not lead to downsizing or plant closings. In the context of the Renault/Nissan alliance it is likely to be exceedingly difficult - in political terms - for a French company to take the lead on a radical program of rationalization in Japan.” (Sturgeon & Florida (2000), S. 71)
Die Kostensituation wird folglich kaum durch die bekannten Megafusionen gelöst, sondern oft noch intensiviert. Die Konsolidierung jedoch führt zu stark vernetzten Unternehmensverbünden, die besondere Herausforderungen an die Organisation stellen (Abb. I-8). Diese werden im dritten Teil der vorliegenden Arbeit noch näher thematisiert.
215
Vgl. hierzu und im Folgenden Sturgeon/ Florida (2000), S. 71.
Teil I: Grundlagen und Herausforderungen der Automobilindustrie
Abb. I-8:
45
Herstellerverflechtung der Automobilindustrie (Auswahl an OEM)
Dennoch ist trotz der hohen Branchenkonsolidierung216 von einer weiteren Reduktion der unabhängigen OEM auf bis zu neun Hersteller im Jahr 2015 auszugehen.217 Nach dem IWK-
216
Betrachtet man das von A.T. Kearney verwendete Konzentrationsmaß CR3 (Umsatzanteil der drei größten Marktspieler), so ist in den letzten Jahrzehnten keine Konsolidierung im engeren Sinne zu erkennen.
46
Teil I: Grundlagen und Herausforderungen der Automobilindustrie
Survival-Index (ISI)218 sind hierbei die japanischen Hersteller, allen voran Nissan, Honda und Toyota, eindeutige Sieger. Im Mittelfeld befinden sich die größeren deutschen Konzerne DaimlerChrysler219 und Volkswagen und als „junger“ Kandidat Hyundai. Die Ausnahme bildet BMW, die trotz einer geringen Marktgröße den 3. Platz im Ranking belegen. Schlusslicht bilden die amerikanischen Hersteller und Fiat.220
I.2
Globale Herausforderungen in der Automobilindustrie
Der Versuch, Herausforderungen für eine Branche abzuleiten, stößt oftmals auf die Problematik der mangelnden Abgrenzung und Strukturierung des Umfelds. Eine allgemeine Auslegung des Umfelds221, in der „ganz allgemein […] alles zum Umfeld eines Unternehmens zu rechnen [ist], was nicht unmittelbar das Unternehmen selbst ausmacht,“ (Ringlstetter (1997), S. 24., u. R. a. Scott (1986), S. 229, Anm. A. R.) ist oftmals nicht zielführend, da eine holistische Betrachtung zumeist an die Grenzen des Machbaren stößt. Ferner gilt es, wie bereits in den einleitenden Worten der Arbeit festgestellt, Selektionsentscheidungen zu treffen. Die Zielsetzung der Selektion legt dabei eine Sichtweise des Umfelds im Sinne der Systemtheorie nahe, in dem die Organisation im Innenverhältnis durch Selektion ein reduziertes und damit steuerbares Abbild der Umwelt schafft (Komplexitätsgefälle). Über die Selektion bestimmt die Organisation selbst ihr relevantes Umfeld (Differenzbildung) und nimmt damit Einfluss auf die Makroumwelt.222 Diese Sichtweise eignet sich aus zweierlei Gründen sehr gut für die Argumentation der Arbeit. Zunächst erfordern die Perspektive auf Ebene von Unternehmensmehr_______________________________________________________________________________________
217
218
219 220 221 222
In den 60er-Jahren deckten die „Big-Three“ GM, Ford und Chrysler ca. 50 Prozent des Marktes ab, heute sind es ungefähr 30 Prozent. Vgl. A. T. Kearney (2005a) und allgemein zur Branchenkonsolidierung Deans et al. (2002). Vgl. hierzu exempl. Becker (2007), S. 140, und Heneric et al. (2005), S. 33ff. Für das aktuelle Beispiel der geplanten Fusion zwischen Shanghai Automotive Industry Corp. und Nanjing Automobile Corp. Vgl. o. V. (2007c). Der ISI setzt sich zusammen aus Kennzahlen der aktuellen wirtschaftlichen Lage (Marktanteile, Wachstumsdynamik, Marktwert des Eigenkapitals, Bonität, Produktivität, Profitabilität und Stabilität) und zukunftsorientierten Maßzahlen (Investitionstätigkeit, Innovationsorientierung, Globalisierungsgrad, Potenzialnutzung, Kundenzufriedenheit/Image und Qualität des Managements). Vgl. ausführlich Becker (2007), S. 141ff. Die Studie bezieht sich auf das Jahr 2006. Vgl. Becker (2007), S. 164f. Weitere Ansätze finden sich unter anderem bei Cyert/ March (1998), March/ Simon (1958) und Kirsch (1988). Vgl. Schreyögg (2003), S. 306ff., u. R. a. Luhmann (1973), Luhmann (1982) und Luhmann (1997). Auch Fombrun (1989) erweitert in seinem Modell die interne Strukturperspektive um die Strukturierung von relevanten Umweltsystemen.
Teil I: Grundlagen und Herausforderungen der Automobilindustrie
47
heiten und die Thematisierung von unternehmensübergreifenden Wertschöpfungssystemen eine aktive Umweltgestaltung im Sinne der Selektion.223 Child (1997) hält hierzu fest: „Attention to the ways in which actors seek to realize their goals through selection between environments needs to be complemented by attention to the ways they may seek to attain their objectives through accommodation and collaboration with parties within an existing environment.” (Child (1997), S. 54f., Herv. A. R.)
Hierdurch wird die Problematik der Grenzziehung zu einem gewissen Grad gelöst, da nicht ein starrer Katalog herangezogen wird, sondern das relevante Umfeld Essenz eines aktiven, zu einem gewissen Grad selbstbestimmten Selektionsprozesses ist.224 Dies konstruiert ferner ein für die Umweltanalyse elementares, limitiertes Betrachtungsspektrum225 und lässt für den vereinfachten argumentativen Zugang eine von fixen Erhebungsschemata losgelöste Aggregation zu globalen Herausforderungen zu. Hierbei wurden einzelne Veränderungstreiber mittels Durchsicht vorhandener Studien, Expertenmeinungen und Veröffentlichung erhoben 226 und aufgrund ihrer Wirkung zu den wesentlichen Herausforderungen – Management der Angebotskomplexität (I.2.1),227 Erschließung neuer Wachstumsmärkte (I.2.2) und Ertragssicherung im Volumensegment (I.2.3)228 – zusammengefasst, wobei die aggregierten Haupttrends durch Experteninterviews verifiziert wurden.
223 224
225
226
227
228
Vgl. hierzu auch die Gedankengänge zur strategischen Wahl bei Child (1997), S. 54f. Problematisch ist jedoch, dass die gewollte Umfeldselektion des Managements ein zusätzliches Bedrohungspotenzial darstellt, da das Ignorieren der „Restumwelt“ zur Bedrohung werden kann. Vgl. hierzu auch Schreyögg (2003), S. 307. Vgl. zu den Subsystemen des Umfelds auch exempl. Ringlstetter (1997), S. 26. Relativierend zu den Aussagen bleibt aber festzuhalten, „dass es das Umfeld nicht gibt, sondern, dass das Umfeld eines Unternehmens – je nach gewählter Perspektive – anders aussehen kann“ (Ringlstetter (1997), S. 26). Die Branchenanalyse erfolgt dabei nach dem im Structure-Conduct-Performance-Paradigma (vgl. Bain (1968)) begründeten Industriemodel von Porter (1999a). Vgl. hierzu u. a. Baum et al. (2004), S. 53, Hungenberg (2006), S. 102, und für den Kontext der Automobilindustrie Tietze (2003), S. 59ff. Die globale Umfeldanalyse geschieht anhand der fünf Dimensionen politisch-rechtliche, ökonomische, gesellschaftliche, ökologische und technologische Aspekte. Vgl. hierzu exempl. Hungenberg (2006), S. 97, Hungenberg/ Wulf (2006), S. 164ff., Schreyögg (2003), S. 316f., und Porter (1999a), S. 33ff. Weitere Kataloge finden sich u. a. bei Farmer/ Richman (1965), Hall (1972) und Fahey/ Narayanan (1986) sowie ursprünglich bei Dill (1958), S. 424. Über 95 Prozent der im Rahmen einer vom Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation mitbetreuten Studie befragten Unternehmen in der Automobilindustrie stimmen einem Komplexitätszuwachs in der Automobilindustrie zu. Vgl. hierzu Hab et al. (2003), S. 20. Die Branchen- und Umfeldanalyse wurde hierbei als Screeninginstrument zur Erfassung der einzelnen Treiber genutzt. Die Veränderungstreiber wurden anschließend zu globalen Herausforderungen aggregiert und durch die Expertenbefragung verifiziert. Auch Karsten/ Sommerlatte (1999), S. 10f., identifizieren diese Kategorien als zentrale Herausforderungen. Für Herausforderungen in der Automobilindustrie vgl. u. a. Kalmbach (2006), S. 32ff., Marschner (2004), S. 79ff., Ebel et al. (2004b), S. 3ff., Tietze (2003), S. 52ff., und Becker (2007), S. 1ff. Diese lassen sich aber zumeist in die gewählten Kategorien subsumieren.
48
I.2.1
Teil I: Grundlagen und Herausforderungen der Automobilindustrie
Management der Angebotskomplexität
Der Begriff der Komplexität wird in den verschiedenen Anwendungsdisziplinen durchaus unterschiedlich verwendet und eine einheitliche Definition von Komplexität lässt sich nur sehr schwer identifizieren.229 Dies liegt nicht zuletzt am „in sich selbst komplex gebauten Begriff der Komplexität“ (Luhmann (1993), S. 45). Dennoch lassen sich in den verschiedenen Ansätzen Gemeinsamkeiten erkennen, die eine für die vorliegende Arbeit hinreichende Verdichtung auf die wesentlichen Merkmale zulassen. Hierfür wird die allgemeingültige, formal geschlossene und theoretisch umfassende Definition von Ulrich & Probst (1988) herangezogen, die in der Kompliziertheit und Dynamik die wesentlichen Bestandteile der Komplexität sieht.230 Die Kompliziertheit wächst mit der Anzahl und Unterschiedlichkeit der vorhandenen Elemente. Programmbezogene Kompliziertheit entsteht somit insbesondere durch die Ausweitung und Differenzierung des Produktportfolios im Zuge der Erschließung von Kunden- und Marktsegmenten. Die Produktkompliziertheit hingegen lässt sich primär auf die gestiegenen Kundenanforderungen an ein Automobil und damit einhergehend auf die ausgeweitete Ausstattung zurückführen. Zusammen bewirken sie eine erhöhte Varietät (1). Die schnelllebige Konsumlandschaft und die Beschleunigung der Technologiezyklen hingegen treiben die Veränderungsgeschwindigkeit sowie den Veränderungsumfang und damit die Dynamik (2).231
(1)
Steigerung der Fahrzeugvarietät
Automobilhersteller entwickelten sich in jüngerer Vergangenheit, getrieben von der Ausdifferenzierung der Kundenwünsche und der Sättigung in den klassischen Marktsegmenten, zunehmend zu Vollsortimentsanbietern.232 Während noch in den 70er-Jahren der Besitz eines Automobils einen besonderen Status signalisierte und die Basisfunktion eines bezahlbaren Transportmittels im Mittelpunkt stand, wird automobile Mobilität heute aufgrund verbesserter 229
230 231 232
Eigene Begriffsdefinitionen finden sich mitunter in den Disziplinen der Kybernetik, der Physik, der Biologie, der Meteorologie, der Informationstechnologie und zunehmend auch in Bereichen der Medizin bzw. der Psychologie. Vgl. Bliss (1998), S. 4, und für eine ausführliche Darstellung Zippel (2005), S. 15ff. Vgl. Ulrich/ Probst (1988), S. 61, und zusammenfassend im Kontext des Umfelds auch Ringlstetter (1997), S. 27f. Ähnliche Komplexitätstreiber identifiziert auch Pointner (2004), S. 56ff., der als Haupttreiber die Modellvielfalt, die Markenvielfalt, die verkürzten Modellzyklen und neue Technologien sieht. Vgl. Karsten/ Sommerlatte (1999), S. 10, und zur Ausdifferenzierung der Kundenwünsche Tietze (2003), S. 85f. Unter Full-Line-Anbietern werden Automobilhersteller verstanden, die durch eine hohe Programmbreite idealtypisch alle Kundentypen abdecken.
Teil I: Grundlagen und Herausforderungen der Automobilindustrie
49
Einkommens- und Wohlstandsverhältnisse als Selbstverständlichkeit angesehen. Die gestiegenen Bedürfnisse sind Konsequenzen des gesellschaftlichen Wertewandels, der sich in der Akzeptanz pluralisierter Lebensstile widerspiegelt.233 Die Hersteller beantworten diese Entwicklung mit einer explodierenden Variantenvielfalt (Programmtiefe), wobei auch neue und innovative Fahrzeugkonzepte – basierend auf spezifischen Kundenwünschen – im Zuge der Erlebnisorientierung entstanden sind (Programmbreite).234 Zeitgleich steigt auch die Kompliziertheit der einzelnen Fahrzeuge. Das Differenzierungsstreben in Zusammenhang mit dem fortlaufenden technischen Fortschritt und damit dem stetig wachsenden Pool an Ausstattungsoptionen führen zu einer produktinternen Mikrofragmentierung. Dabei werden insbesondere moderne Informations- und Kommunikationstechniken, ein differenziertes Design sowie Komfortmerkmale als entscheidungsrelevante Kriterien herangezogen.235 Zudem führt die Veralterung der Gesellschaft zu einer steigenden Nachfrage nach Assistenzsystemen, die dem erhöhten Sicherheitsbedürfnis Rechnung tragen und die produktinterne Kompliziertheit weiter steigern.236 Neben diesen bedürfnisorientierten F&E-Produktinnovationen (Demand-Pull) führt die zunehmende Technologisierung zu einem Technologie-Push.237 Momentan verfolgt die Automobilindustrie, bedingt durch die Ingenieurlastigkeit der Führung und durch den starken Differenzierungswettbewerb, eine technologieorientierte Produktpolitik. Das technisch Machbare wird weitgehend ausgelotet und so kundenunabhängig die Varietät betrieben: „Mein Wunsch wäre, dass die großen Hersteller sich weniger auf das Machbare und mehr auf das Sinnvolle konzentrieren“ (Wilhelmi (2008), zit. nach Dalan (2008), o. S.). Zudem wirkt sich der kontinuierliche technische Fortschritt auf die Informationsbeschaffung und das Erwartungsbild der Automobilkäufer aus. Die Prägung der Kundenerwartungen erfolgt dabei nicht alleinig durch die Technologieorientierung der Automobilindustrie, sondern aufgrund einer 233
234
235 236 237
Vgl. Becker (2002), S. 2, Diez (2006), S. 92ff., Ebel et al. (2004b), S. 4, Mattes et al. (2004), S. 18, Marschner (2004), S. 83ff., Tietze (2003), S. 61, und Winzen (2002), S. 8. Im Vergleich zu Früher sind die o. g. Lebenswelten auch mittlerweile nahezu vollständig gesellschaftlich akzeptiert und tragfähig geworden. Vgl. Heinrichs/ Kaelber (2000). Zu den verschiedenen Bedürfnissen allgemein vgl. auch Maslow (1999). Zu den innovativen Fahrzeugkonzepten zählen Multi Activity Vehicles, Sport Utility Vehicles (SUV), Micro-Vans, Vario-Cars und Cross-over Fahrzeuge. Vgl. Diez (2006), S. 90, und Mattes et al. (2004), S. 19. Vgl. exempl. Ebel et al. (2004b), S. 6f., KPMG (2006b), S. 13, Marschner (2004), S. 84, und Schindler (2006), S. 107f. Vgl. Dudenhöffer (2004), S. 272f., und Verband der Automobilindustrie (2006), S. 135f. Vgl. Ackermann (2004), S. 37 ff. Schindler (2006), S. 106 spricht dabei von einem „Technologie weckt Bedarf“-Ansatz.
50
Teil I: Grundlagen und Herausforderungen der Automobilindustrie
zunehmenden technologischen Konvergenz im Fahrzeug auch durch branchenfremde Bereiche, bspw. die Unterhaltungselektronik. Die Automobilindustrie ist damit in einer Situation, in der sie sich nicht nur intern orientieren kann, sondern vielmehr mit branchenfremden Trends mithalten muss.
(2)
Steigende Angebotsdynamik
Die Marktanforderungen wirken sich nicht nur auf die Programm- und Produktvarietät aus, sondern beschleunigen auch die Technologiezyklen, wobei insbesondere die gestiegene Technologiediffusion und die Dynamisierung von Trends die Automobilhersteller vor zentrale Herausforderungen stellen:
Gestiegene Technologiediffusion: Ursprünglich erfolgte die Diffusion technologischer Entwicklungen top-down durch die einzelnen Fahrzeugsegmente, wodurch Mehrpreisbereitschaften systematisch abgeschöpft werden konnten. Die gehobenen Ansprüche der Kunden, aber auch die Ausstattungspolitik der asiatischen Konkurrenz führen dazu, dass Differenzierungstechnologien heute sehr viel schneller in untere Fahrzeuggruppen diffundieren und nur noch einen zeitlich sehr stark limitierten Wettbewerbsvorteil liefern. 238 Können heute Hersteller Innovationsvorsprünge oft nur über einen Zeitraum von zwei bis drei Jahren sicherstellen, dauerte es früher bspw. beim Airbag 10 Jahre und beim ABSSystem sogar 20 Jahre bis eine einigermaßen breite Marktdurchdringung erreicht war.239
Dynamisierung von Nachfragetrends: Neben der beschleunigten Technologiediffusion wirken auch die Dynamisierung von Nachfragepräferenzen und die damit einhergehenden, abnehmenden Trendhalbwertzeiten240 auf die Produktlebenszyklen und damit Entwicklungszeiten ein.241 Ehemaligen Entwicklungszeiten von drei bis fünf Jahren bis zur Serienreife stehen heute 18 bis 24 Monate gegenüber.242 Die hohe Relevanz einer kurzen „Time-
238 239
240 241 242
Vgl. Schindler (2006), S. 105ff., und Pointner (2004), S. 58f. Zur Entwicklungshistorie des Airbags vgl. Brockhoff (1999), S. 46, und für das Beispiel des ABSSystems Schindler (2006), S. 109. Hüttenrauch/ Baum (2008), S. 55, sprechen sogar von 20 Jahren für das Airbag-Beispiel. Vgl. Tietze (2003), S. 93f. Vgl. exempl. Kurek (2004), S. 19. Vgl. Fitzek (2006), S. 6f. In den letzten 20 Jahren hat sich die Zahl der Neueinführungen pro Jahr bei DaimlerChrysler mehr als verdreifacht. Vgl. Fitzek (2006), S. 4. Auch der Fiat 500 wurde binnen 18 Monaten von der Designabnahme bis zum Serienanlauf entwickelt. Vgl. Lamparter (2007).
Teil I: Grundlagen und Herausforderungen der Automobilindustrie
51
to-Market“243 und die drohenden Verluste bei verspäteten Produkteinführungen bewirken oftmals, dass speziell in den ersten Serien Qualitätsprobleme billigend in Kauf genommen werden;244 genannt seien hier nur die Rückrufaktionen der Mercedes-Benz A-Klasse oder des Audi TT.245 Die wachsende Ökologisierung der Gesellschaft246 und die rechtlichen Rahmenbedingungen247, wie bspw. die sukzessive Reduzierung der zulässigen Emissionsgrenzwerte (Euro-VNorm, ULEV, Kyotoprotokoll),248 in Verbindung mit dem nachweisbar ungebrochenen fundamentalen Bedürfnis nach individueller Mobilität intensivieren den entstehenden Innovationsdruck, insbesondere im Bereich alternativer Antriebstechnologien 249, weiter.250 Dabei nimmt die Automobilindustrie in der Regel im Auge der Gesellschaft eine Schlüsselrolle ein. Es gilt daher, den Mobilitätsdrang der Gesellschaft zu decken und zugleich die knappe Ressource Umwelt zu schonen.251 Die Folgen sind nicht nur weitere Fahrzeugvarianten- und Mo243 244 245
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Unter Time-to-Market wird die Zeitspanne zwischen Beginn der Entwicklung und der abschließenden Markteinführung verstanden. Vgl. hierzu Eisele (2006), S. 59. Eine um sechs Monate verspätete Markteinführung einer gehobenen Mittelklasselimousine kann schnell 300 Mio. Euro Deckungsbeitragsverlust bedeuten. Vgl. Tietze (2003), S. 94. Vgl. Pointner (2004), S. 58. Insbesondere in der Elektronik stellen die immer kürzeren „Time-toMarkets“ aufgrund der zunehmenden Vernetzung und damit der Systemkomplexität ein entscheidendes Problem dar. Vgl. hierzu auch Bauer (2006), S. 270f. Laut ADAC sind 60 Prozent der Pannen durch die Elektronik induziert. Neben dem Imageschaden entstehen auch signifikante Mehrkosten. Vgl. hierzu auch Roland Berger (2005), S. 4. Die Investment Bank Goldman Sachs schätzt, dass Mercedes 2004 2400 EUR Garantieleistungen pro verkauftem Fahrzeug hatte. Vgl. Schindler (2006), S. 114f. Nach einer aktuellen Studie von Capgemini (2007), S. 10, können sich bereits 13 Prozent den Kauf eines Fahrzeuges mit alternativen Antriebskonzepten vorstellen bzw. haben bereits eines erworben. 75 Prozent interessieren sich für die neuen effizienteren und konventionellen Fahrzeuge bzw. haben bereits eines erworben. Die Aktualität des Themas in der Branche wurde nicht zuletzt durch den Jahresbericht 2006 des Verbandes der Automobilindustrie deutlich, in dem die deutsche Automobilindustrie unter der ökologischen Maxime „Der Weg zu neuer Nachhaltigkeit“ aufgefordert wird, ihre Produktion, ihre Produkte und deren Nutzung immer weiter zu optimieren und dabei den fortwährend steigenden Anforderungen an Effizienz und Ressourcenschonung Rechnung zu tragen. Vgl. Verband der Automobilindustrie (2006), S. 12f., und ähnlich Knell (1999), S. 211ff. Vgl. hierzu und für die CO2-Richtlinien allgemein Verband der Automobilindustrie (2006), S. 96ff. Zur Erreichung der vorgegebenen achtprozentigen CO 2-Reduktion für die Europäische Union ist eine Verbrauchssenkung um vier Prozent pro Jahr nötig. Vgl. Steger et al. (2002), S. 182, und Steger (2004), S. 55. Die Einhaltung der Euro-V-Norm, gültig ab dem 01.09.2009, und der ULEV (Ultra Low Emission Vehicle) als US-amerikanischer Norm, erweist sich als wesentlicher Einflussfaktor im Bereich F&E. Vgl. Crate (2006), S. 56, und Mattes et al. (2004), S. 21f. Des Weiteren muss ab dem 01.07.2007 die EUAltautorichtlinie mit schärferen Auflagen in der Wiederverwertung und Entsorgung eingehalten werden. Vgl. Steger (2004), S. 53, und Verband der Automobilindustrie (2003a), S. 171ff. Für eine umfassende Lektüre zu alternativen Antriebstechnologien vgl. Hüttenrauch/ Baum (2008), S. 88ff. Im Oktober 2006 waren erstmals mehr als 1 Prozent der Neuzulassungen Fahrzeuge mit alternativen Antrieben. Vgl. o. V. (2006b). Vgl. Becker (2002), S. 3, Radtke et al. (2004), S. 102f., und Verband der Automobilindustrie (2006), S. 12f. Vgl. exempl. Meinig/ Mallad (2000) und Verband der Automobilindustrie (2005), S. 124f.
52
Teil I: Grundlagen und Herausforderungen der Automobilindustrie
dellreihen und damit eine Ausweitung des Produktprogramms, sondern auch eine Dynamisierung, da neue Umweltvorschriften oft sehr kurzfristig und in zunehmender Taktung verabschiedet werden.252
I.2.2
Erschließung neuer Wachstumsmärkte
Der bereits bestehende Kostendruck in Verbindung mit den stagnierenden Absatzvolumen in der Triade sind die wichtigsten Triebkräfte für die zunehmende Penetration neuer Wachstumsmärkte durch amerikanische und europäische Automobilhersteller.253 Im Folgenden soll zunächst die aktuelle Situation in den Hauptabsatzmärkten der Triade skizziert werden (1). Hierauf aufbauend erfolgt ein Diskurs potenzieller Chancen in neuen Wachstumsregionen (2).
(1)
Wettbewerbssituation in den Triademärkten
Die reifen254 Automobilmärkte in der Triade befinden sich aktuell und mittelfristig aufgrund des geringen Wachstums der Wirtschaft und der Realeinkommen, einer fortschreitenden Veralterung der Gesellschaft sowie einem eher zurückhaltenden Konsumklima in einer Sättigungsphase.255 Auch die bislang verfolgte Strategie der Differenzierung und Nischenbildung scheint vor dem Hintergrund der bereits angesprochenen Mikrofragmentierung der Märkte an ihre Grenzen zu stoßen. Ferner sind die Wachstumspotenziale aufgrund der bereits hohen Fahrzeugpenetration, auch vor dem Hintergrund begrenzter Infrastrukturen, gering; es ist kaum davon auszugehen, dass in Zukunft jeder Einwohner in der Triade mehr als ein Fahrzeug besitzen wird.256 Ein Wachstum ist daher nur durch die Verdrängung etablierter Anbieter möglich.257 Gleichzeitig wird der Wettbewerb durch immer neue Wettbewerber auf Hersteller- und Vertriebsebene weiter verschärft:
252 253 254 255
256 257
Ferner führt die entstehende Unsicherheit bzgl. der Vorschriften zu einer Verunsicherung und Zurückhaltung der Käufer mit negativen Auswirkungen auf den Absatz aktueller Modelle. Vgl. exempl. Marschner (2004), S. 88f., Karsten/ Sommerlatte (1999), S. 10, und Wolters/ Hocke (1999), S. 13ff. Zur weitergehenden Charakterisierung des Automobilmarktes als reifer Markt vgl. Diez (2006), S. 20f. Vgl. hierzu und im Folgenden Becker (2007), S. 12 und S. 89ff., sowie Ebel et al. (2004b), S. 3f., Ebel et al. (2004b), S. 3f., und Kalmbach (2006), S. 32ff. Die Kraftfahrzeugdichte beträgt in den EU-15-Staaten im Durchschnitt 501 PKW, in den USA und Kanada 690 PKW und in Japan 520 PKW pro 1000 Einwohner (Stand 2006). Vgl. hierzu Hüttenrauch/ Baum (2008), S. 34. Vgl. hierzu Radtke et al. (2004), S. 26f. Vgl. Mattes et al. (2004), S. 15.
Teil I: Grundlagen und Herausforderungen der Automobilindustrie
53
Die hohe Imitationsgeschwindigkeit und der effiziente Ausbau von Vertriebswegen durch chinesische und südostasiatische OEM, vereinfacht durch die Möglichkeit des Mehrmarkenhandels,258 sowie deren Kostenvorteile lassen eine kurz- bis mittelfristige Verschärfung des Wettbewerbs, insbesondere im Volumenbereich, mit signifikanten Einflüssen auf die Ertragssituation der Triadehersteller erwarten.259 Momentan haben viele chinesische und südasiatische Hersteller noch Probleme mit Qualität, Design, Markenstärke und den Vertriebsnetzen. Eine deutliche Marktanteilsverschiebung ist daher kurzfristig nicht zu erwarten.260 Dennoch zeichnen sich bereits erste Anzeichen für den europäischen Markteintritt ab. So gingen Tata Motors und Chery Auto Co. Kooperationen mit Fiat ein, 261 der chinesische Hersteller SAIC sicherte sich die Markenrechte an Rover und Nanjing Automobile erwarb die Fabrikanlagen von Rover.
Auf europäischer Ebene führt zudem die neue Gruppenfreistellungsverordnung (GVO) 1400/2002)262 aufgrund ihres weit reichenden Einflusses auf die Vertriebsstrukturen der OEM in Verbindung mit dem Wegfall der Location Clause263 zu einer Einflusserosion der Automobilhersteller und damit zu Markteintrittschancen von branchenfremden Anbietern im Vertriebsbereich.264 Neben freien Händlern und Mehrmarkenhändlern drängen sogenannte „Non-Captives“ in Form von unabhängigen Finanzinstituten und klassischen Ge-
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263 264
Asiatische Hersteller nutzen die GVO, um kosteneffizient ein flächendeckendes Verkaufs- und Vertriebsnetz über den Mehrmarkenhandel aufzubauen. Vgl. Diez/ Merten (2005), S. 24. Im Zeitraum 1998 bis 2004 haben die Marken Kia und Hyundai ihr Verkaufs- und Servicenetz in Westeuropa um 21 Prozent ausbauen können. Vgl. auch allgemein für die Auswirkungen der GVO auf die Vertriebsstrategie Mattes et al. (2004), S. 30ff. Vgl. hierzu exempl. Kalmbach (2006), S. 37f., Richter/ Hartig (2007), S. 251f., und Hüttenrauch/ Baum (2008), S. 52, sowie allgemein zur Zukunft Chinas in der Automobilindustrie Hofer et al. (2004), S. 156ff., und Verband der Automobilindustrie (2006), S. 29f. Vgl. Sedran (2006), S. 70. In einem Interview mit „Autor, Motor und Sport“ äußerte sich der Daimler Vorstandsvorsitzende Dieter Zetsche zu den Wachstumschancen von Tata in Europa wie folgt: „Ich glaube nicht, dass Tata in den nächsten fünf Jahren in den entwickelten europäischen Märkten eine Rolle spielen wird“ (Zetsche (2008), zit. nach Ostmann (2008b), S. 21). Dennoch ist die Gefahr laut der befragten Experten nicht zu unterschätzen. Vgl. exempl. o. V. (2006a). Vgl. hierzu auch Berg/ Wenzel (2004), S. 420f. Bei der Gruppenfreistellungsverordnung handelt es sich um eine generelle Freistellung (gem. Art. 81 (3) EU-Vertrag) einer bestimmten Art von Verträgen vom Kartellverbot (gem. Art. 81 (1) EU-Vertrag). Vgl. hierzu im Original Europäische Kommission (2002), S. 8ff., und ferner exempl. auch Creutzig (2005), S. 129ff., Verband der Automobilindustrie (2003a), S. 85ff., und Mattes et al. (2004), S. 31ff. Der Wegfall der Location Clause ermöglicht jedem Vertragshändler, in der EU Verkaufs- oder Auslieferungsstellen zu errichten. Vgl. hierzu Brachat (2005b). Vgl. Accenture (2001), S. 2f., Mercer Management Consulting (2003a) und ausführlich zu den Auswirkungen für den Automobilhersteller Diez (2002), S. 67ff.
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Teil I: Grundlagen und Herausforderungen der Automobilindustrie
schäftsbanken zunehmend auf den Markt und attackieren im Leasing- und Finanzierungsbereich die Herstellerbanken.265
(2)
Chancen in den Wachstumsmärkten
Zur Kompensation der Wachstumsschwäche in den Triademärkten sehen viele Automobilhersteller ihre Zukunft in den neuen Wachstumsregionen. Die Internationalisierung ist dabei jedoch aufgrund rechtlicher Regulierung oft mit großem Aufwand verbunden. Hinsichtlich der internationalen Handelsbeziehungen ist insbesondere auf die protektionistischen Aktionen in Form von tarifären Interventionen – in asiatischen Schwellenländern liegen die Einfuhrzölle teilweise bei 80 Prozent –266 und auf die markenrechtsgefährdenden Imitationsstrategien Chinas hinzuweisen.267 In den kommenden Jahrzehnten werden sich dennoch die Gravitationszentren der weltwirtschaftlichen Wachstumsdynamik zunehmend nach Asien (insbesondere China), Osteuropa und teilweise Lateinamerika verlagern. Der wirtschaftliche Aufschwung und damit der Wunsch nach Konsum, im konkreten Fall nach Mobilität vergleichbar mit dem Amerika des frühen Fordismus, sowie die bislang niedrige Motorisierung von 50 bis 100 Fahrzeugen pro 1000 Einwohner führen zumindest mittelfristig zu einer steigenden Nachfrage nach Automobilen (vgl. Abb. I-9).268 Eine Analyse von Roland Berger geht dabei von einem Wachstum in den Schwellenländern von 12,5 Prozent pro Jahr bis 2010 aus (gegenüber 1,8 Prozent in der Triade).269
265
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269
Unter Captives werden Herstellerbanken und OEM Eigenmarken (White-Laber-Anbieter) subsumiert. Non-Captives sind alle Anbieter, die von den OEM unabhängig sind, und bestehen insbesondere aus unabhängigen Finanzinstituten (Sixt, FFS Bank Leasing Versicherung, GE Capital Bank, etc.) und Geschäftsbanken (Deutsche Bank, VR Leasing, etc.). Vgl. Verband der Automobilindustrie (2006), S. 23. China verzichtet bspw., trotz WTO-Beitritts, nicht auf – faktisch im Sinne von Local-Content-Zwängen wirkende – tarifäre Interventionen. Vgl. Europäische Kommission (2006), S. 6, Verband der Automobilindustrie (2005), S. 25, und Verband der Automobilindustrie (2006), S. 15. Vgl. Marschner (2004), S. 89, Ho/ Lo (2005), S. 2, Verband der Automobilindustrie (2006), S. 26ff., und auch Sturgeon/ Florida (2000), S. 44ff. Heute liegen die USA, Deutschland, Frankreich, Japan und Großbritannien mit 500 bis 750 Fahrzeugen pro 1000 Einwohner an der Spitze. Vgl. Diez/ Reindl (2005c), S. 107. Vgl. hierzu Kalmbach (2006), S. 32.
Teil I: Grundlagen und Herausforderungen der Automobilindustrie
55
durchschnittliches Marktwachstum (% p.a.) niedrig < 3% mittel 3-9% groß >9%
Indien
Tschechien
Polen Malaysia
Rumänien
Mexiko Finnland Griechenland Neuseeland Norwegen
Thailand Schweden Schweiz Portugal Südafrika
GUS
Südkorea Brasilien
Türkei
Spanien Italien Frankreich Japan
Argentinien Taiwan Niederlande
Österreich
Chile
Großbritannien
Venezuela Israel
Australien
Kanada
Deutschland USA
Dänemark
niedrig < 0,2m
mittel 0,2-1,0m Neuwagenpotenzial p.a. in Zulassungen
Wachstumsmärkte Abb. I-9:
China
Ungarn
groß >1,0m
Gesättigter Markt
Marktattraktivitätsmatrix Quelle: leicht verändert übernommen aus Diez & Reindl (2005c), S. 108.
Für viele europäische Automobilhersteller, insbesondere für die deutschen Fabrikate, ist China Hauptabsatzmarkt und Wachstumshoffnung für die Zukunft. Dennoch stellten sich unerwartet schnell auch hier Absatzprobleme ein. Volumenhersteller verfehlen ihre Wachstumsziele und der Eintritt neuer lokaler und asiatischer Anbieter verschärft zunehmend den Preiswettbewerb.270 Insbesondere im Hauptabsatzsegment, der Preisklasse unter 8000 Euro,271 fehlt bislang den Triadeherstellern das passende Produktprogramm an Low-Cost-Cars.272 Dennoch zeigen Beispiele, wie der von Renault entwickelte Dacia Logan, dass auch hier Chancen für westliche Automobilhersteller existieren. Auch im Bereich der Premiummarken
270 271 272
Vgl. hierzu auch Verband der Automobilindustrie (2006), S. 30. Vgl. Sedran (2006), S. 62. Für einen ausführlichen Exkurs zu Low-Cost-Cars vgl. auch Hüttenrauch/ Baum (2008), S. 77ff. Eine Expansion im Low-Cost-Car-Segment ist auch vor dem Hintergrund des CO2-Flottenverbrauchs durchaus interessant.
56
Teil I: Grundlagen und Herausforderungen der Automobilindustrie
ist nach der Anfangseuphorie teilweise Ernüchterung eingetreten. Zwar profitieren Marken wie Audi oder BMW noch von der wachsenden Oberschicht in den Wachstumsmärkten, aber auch in diesem Segment hat sich mittlerweile ein Preiswettbewerb mit Preisnachlässen von bis zu 20 Prozent durchgesetzt.273 Zusammenfassend bleibt zu konstatieren, dass die Automobilindustrie ohne tief greifende strategische Maßnahmen trotz einer Erholung der wirtschaftlichen Situation in den Hauptabsatzmärkten nicht ihre Probleme überwinden wird. Auch die Wachstumschancen in den Schwellenländern sind bei Weitem nicht so leicht realisierbar wie allgemeinhin angenommen. Es kann daher Christopher Benko, Leiter des Automotive Institutes von PricewaterhouseCoopers, zugestimmt werden, wenn er feststellt: “The industry […] is not going to grow its way out of its problems. North America and Europe are mature markets, and while there are opportunities for growth in emerging markets, those opportunities are still in their nascent stages.” (PricewaterhouseCoopers (2006a), S. 1).
Für einen nachhaltigen Erfolg ist eine Lokalisierung der Produktstrategien unumgänglich. Ferner müssen insbesondere im Volumensegment Low-Cost-Strukturen aufgebaut werden, die einen Wettbewerb mit den lokalen Anbietern ermöglichen. Hierzu zählt auch die Verlagerung von Leistungsumfängen im Bereich Entwicklung, Beschaffung und Produktion in die Schwellenländer.274 Die Implikationen für die strategischen Positionierungs- und Leistungserstellungsprogramme werden später noch näher thematisiert.
I.2.3
Sicherung der Ertragssituation
Die automobile Ertragssituation muss sich wachsenden Ansprüchen der globalisierten Kapitalmärkte stellen.275 Insbesondere die Vernachlässigung assetintensiver Unternehmen am Kapitalmarkt führt dabei zu einem nachhaltigen Erfolgsdruck für die Automobilhersteller.276 Aktuell ist die Performance vieler Automobilhersteller, auch aufgrund der aktuellen Finanzkrise, wenig zufriedenstellend.277 Die Automobilindustrie befindet sich in der Krise. Stellte im 273 274 275 276 277
Vgl. Sedran (2006), S. 62. Vgl. Sedran (2006), S. 65ff. Vgl. hierzu und im Folgenden Pointner (2004), S. 59f., und Tietze (2003), S. 66. Zu der angesprochenen Problematik vgl. auch Mikhalitsyna (2008), S. 46, und die dort angegebene Literatur. Vgl. hierzu auch die aktuelle Performance-Prognose des FHDW Center of Automotive. Zusammenfassend dargestellt bei Bratzel (2008).
Teil I: Grundlagen und Herausforderungen der Automobilindustrie
57
April 2008 der Produktionsvorstand der BMW Group, Frank-Peter Arndt, in einem Interview noch zuversichtlich fest, dass man „von einer Krise […] Lichtjahre entfernt [sei]“ (Arndt (2008), zit. nach Götz (2008), S. 21, Anm. A. R.), so teilte der BMW Vorstandsvorsitzende Norbert Reithofer den Journalisten im November mit: „Die Krise übertrifft alles was wir kennen. […] Eine seriöse Prognose ist für 2008 nicht mehr möglich“ (Reithofer (2008), zit. nach o. V. (2008a), o. S.). Auch die anderen europäischen Marken und selbst Toyota, wo erstmals in der Firmengeschichte ein operativer Verlust ausgewiesen wird,278 leiden an den Auswirkungen der globalen Finanzkrise.279 Die Absätze in den Triademärkten sind um bis zu 10 Prozent im Jahr 2008 zurückgegangen – im Monat November sogar um bis zu 50 Prozent im Vergleich zum Vorjahr280 – und Experten sehen einen weiteren Rückgang um fünf Prozent für das Jahr 2009 voraus.281 Ferner wurden die Kompensationsmöglichkeiten durch die Schwellenländern überschätzt.282 Noch dramatischer ist die Lage bei den amerikanischen Automobilunternehmen.283 General Motors, Ford und Chrysler stehen trotz der staatlichen Nothilfepakete vor der Insolvenz. Laut Mody's-Ökonom Mark Zandi wären bis zu 125 Milliarden USD notwendig, um die drei angeschlagenen Automobilkonzerne zu retten.284 Hierbei ist jedoch wichtig anzumerken, dass die aktuelle Finanzkrise als Intensivierung der eigentlichen Problemfelder zu verstehen ist und nicht ein isoliertes Problem an sich darstellt. Automobilexperte Wolfgang Meinig drückt es noch prägnanter aus, indem er feststellt, dass die Krise hausgemacht sei.285 Im Folgenden sollen daher die originären Hauptproblemfelder diskutiert werden,286 wobei der Margensicherung zukünftig eine zentrale Schlüsselrolle zu-
278 279 280 281
282 283 284
285 286
Vgl. o. V. (2008k), o. S. Vgl. beispielhaft Wassink (2008), o. S., und zu den Auswirkungen auf den europäischen Markt auch Verband der Automobilindustrie (2008), o. S. Vgl. Verband der Automobilindustrie (2008), o. S. Vgl. beispielhaft Bratzel (2008), S. 1. Das Marktforschungsinstitut CSM Worldwide rechnet sogar mit einem weltweiten Absatzrückgang von 7,9 Prozent für 2009, wobei Europa mit -14 Prozent und Nordamerika mit -11 Prozent am stärksten betroffen sind. Vgl. o. V. (2008i), o. S. Vgl. beispielhaft Schwarzer (2008), o. S. Vgl. u. a. Schwarzer (2008), o. S. und Bräuer (2008), o. S. Vgl. hierzu beispielhaft Bräuer (2008), o. S. Auch Stefan Bratzel stellt fest: „Größte Verlierer sind die amerikanischen Konzerne GM, Ford und Chrysler, die ohne staatliche Hilfe das nächste Jahr nicht überleben werden. Für eine Sanierung sind jedoch hohe zweistellige Milliardenbeträge ebenso notwendig wie die drastische Reduzierung von Produktionskapazitäten sowie die Entwicklung eines technologisch weitgehend neuen Modellportfolios“ (Bratzel (2008), S. 2). Vgl. o. V. (2008h), o. S. Ähnlich sieht es auch der Automobilexperte Ferdinand Dudenhöffer. Vgl. Schwarzer (2008), o. S. Dem Autor ist hierbei durchaus bewusst, dass es sich bei den ausgewählten Problemfeldern nur um eine Selektion im Sinne der gewählten Herangehensweise der Arbeit handeln kann. Alle Problemfelder in einer hinreichenden Tiefe zu analysieren, würde für die Zielsetzung der vorliegenden Arbeit zu weit führen.
58
Teil I: Grundlagen und Herausforderungen der Automobilindustrie
kommt.287 Der zunehmende Wettbewerb und das Verbraucherverhalten, geprägt von SmartShopping und einer sinkenden Mehrpreisbereitschaft (1), drücken auch über die Finanzkrise hinweg nachhaltig die Preise. Zudem schrumpft das ehemals margenträchtige Volumengeschäft aufgrund der Polarisierung der Einkommensverhältnisse (2). Schlussendlich verschärfen ansteigende Kosten in der Fahrzeugentwicklung und in der Produktion die Situation (3).288
(1)
Sinkende Mehrpreisbereitschaft und allgemeine Preiserosion
Insbesondere im Volumengeschäft sind Automobilhersteller heute mit zwei stark zusammenhängenden Trends konfrontiert: einer quasi nicht mehr vorhandenen Mehrpreisbereitschaft für technische Innovationen und einer Preiserosion im Zuge eines zunehmenden SmartShopping Verhaltens. Die schwierige wirtschaftliche Situation und die stagnierenden Realeinkommen führen beim Verbraucher zu einer zunehmenden Preissensibilität, wobei der Anspruch an die Serienausstattung aufgrund einer Sophistizierung und Vervielfachung der Kundenanforderungen stetig steigt.289 Eine Mehrpreisbereitschaft aufgrund der gestiegenen Anforderungen existiert, mit Ausnahme des Premiumbereichs, dabei kaum (vgl. Abb. 1-10).290
287 288 289
290
Bei einer Umfrage von KPMG (2006a) antworteten 28 Prozent der Befragten, dass in Zukunft mit einem Margenrückgang zu rechnen ist; 35 Prozent sehen eine Gefährdung der Margen in der Zukunft. Vgl. hierzu auch Berhart (2004), S. 4. Vgl. Diez/ Merten (2005), S. 26f., Diez (2006), S. 95f., und Becker (2007), S. 107ff. Hierbei rücken Innovation, Service, Ausstattung und das Gesamterlebnis zunehmend in den Vordergrund bei der Kaufentscheidung; ehemalige Kriterien wie Qualität und Zuverlässigkeit gelten mittlerweile als Grundvoraussetzung. Vgl. Becker (2002), S. 2f. Vgl. u. a. Radtke et al. (2004), S. 19ff., Roland Berger/ Burda Community Network (2007), S. 19, Verband der Automobilindustrie (2003b), S. 12f., IBM Business Consulting Services (2002), S. 10f., und Bauer (2006), S. 268f.
Teil I: Grundlagen und Herausforderungen der Automobilindustrie
Kompaktklasse (z.B. Golf)
59
175
Mittelklasse (z.B. C-Klasse)
650
Oberklasse (z.B. 7er)
1500 Mehrkosten für den Einbau
Abb. I-10:
Mehrpreisbereitschaft für elektronische Überlagerungslenkung in EUR Quelle: Verband der Automobilindustrie (2003b), S. 13.
Grauel (2004) hält daher treffend fest: „Die beliebtesten Extras werden gerne mitgenommen. So lange sie nichts extra kosten“ (Grauel (2004), S. 77). Nach Meinung von Experten wird trotz gestiegenen Ausstattungsumfangs der inflationsbereinigte Endpreis eines Automobils in 10 Jahren auf dem heutigen Niveau liegen.291 Verschärft wird dieser Trend durch den zunehmenden Preiswettbewerb im Markt. Die japanischen und koreanischen Hersteller positionieren sich mit umfangreichen Serienausstattungen preislich attraktiv und intensivieren den Preisdruck auf die europäischen und amerikanischen Hersteller durch ein gutes Preis-Leistungs-Image.292 Zudem drängen chinesische und südostasiatische Anbieter verstärkt auf den amerikanischen und nordeuropäischen Markt und reduzieren erneut das Preisniveau.293 Karl-Heinz Engels, Geschäftsführer der Hyundai Motor Deutschland, äußert sich hierzu wie folgt: „Die Chinesen werden noch mal 20 Prozent billiger sein als wir“ (Engels (2005), zit. nach Freitag (2005), S. 79).294 Reagiert wird meist mit Preisnachlässen und Incentives.295 Hierdurch entsteht, nicht zuletzt aufgrund der zunehmenden Angebotshomogenisierung, ein zunehmendes Smart-Shopping-Verhalten der Kunden. Insbe-
291 292
293 294 295
Vgl. Verband der Automobilindustrie (2003b), S. 12f. Vgl. Diez/ Merten (2005), S. 26f. In einer aktuellen Umfrage schneiden zumeist asiatische Hersteller sehr gut im Preis-Leistungs-Image ab; europäische und amerikanische Premiumhersteller belegen dabei die hinteren Ränge. Für eine Studie mit ähnlichen Ergebnissen vgl. auch Dudenhöffer et al. (2007), S. 7. Zu den Lohnkosten in der Automobilindustrie vgl. Becker (2007), S. 43ff. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Limousine „Zhonghua“ von Brilliance (europäischer Name BS6), die im europäischen Markt für preisaggressive 19.000 Euro angeboten werden soll. Vgl. Sedran (2006), S. 57. Vgl. hierzu auch Steger (2004), S. 50, Hillebrand/ Schneider (2005), S. 73f.
60
Teil I: Grundlagen und Herausforderungen der Automobilindustrie
sondere die Verbreitung des Internets bietet dem Kunden dabei neue Beschaffungsmöglichkeiten und eine bis dahin nicht realisierbare Markt- und Preistransparenz. 296
(2)
Ausdünnung der Mitte
Die geringe Mehrpreisbereitschaft und die zunehmende Preisorientierung der Kunden als Folge einer Polarisierung der Einkommenswelten stellen außerdem die Ursachen für die Ausdünnung der Mitte297 der Automobilmarktstruktur dar und wirken so negativ auf das margenträchtige Volumengeschäft (vgl. Abb. I-11).298
16%
17%
22%
82%
79%
72%
2%
1985 Low-Cost-Produkt Abb. I-11:
6%
4% 1995 Volumen-Produkt
2005 Premium-Produkt
Segment-Entwicklung Quelle: A. T. Kearney (2005b), S. 8.
Gestärkt wird dieser Trend durch die steigenden Rohstoffpreise und die Ökologisierung des Verbraucherverhaltens sowie die Urbanisierung der Lebenswelten.299 Erstere wirken direkt über die Verbrauchs- und Unterhaltskosten sowie indirekt über ein umweltfreundliches Denken auf die Kaufentscheidung ein und favorisieren den Kauf kleinerer, sparsamerer Autos.300 Die zunehmende Urbanisierung und damit der hohe Anteil an kurzen Städtefahrten verstärken
296
297
298 299 300
Vgl. exempl. Diez (2006), S. 95f., Kalmbach (2006), S. 38f., Reers (2006), S. 145f., Accenture (2001), S. 3, Capgemini (2006), S. 7f., Mattes et al. (2004), S. 33, und Pointner (2004), S.62, sowie allgemein zu den Kaufmotiven in Deutschland Deutsche Automobil Treuhand (2006). Antworteten bei einer Umfrage von Roland Berger im Jahr 2000 noch 64 Prozent, dass die Marke/das Modell kaufentscheidend ist, so sind es heute nur noch 53 Prozent; 47 Prozent setzen sich eine bestimmte Preisobergrenze. Analog zur Einkommensentwicklung erfolgt eine Polarisierung der Märkte zugunsten des Premiumsegments und der kleineren Fahrzeugsegmente, insbesondere Low-Cost-Cars. Unter Druck geraten die Volumensegmente der Mittelklasse. Vgl. Becker (2007) S. 30f., und ADAC (2007), S. 10. Insgesamt wollen bei der Wiederbeschaffung immer weniger Leute mehr Geld ausgeben. Vgl. ADAC (2007), S. 5. Vgl. exempl. Reers (2006), S. 148f., Mattes et al. (2004), S. 19f., und Marschner (2004), S. 88. Vgl. hierzu auch ausführlich Hüttenrauch/ Baum (2008), S. 60ff. Vgl. Becker (2002), S. 3. Für die Auswirkungen des Ölpreises auf die Nachfrage der einzelnen Fahrzeugklassen vgl. auch Wardell et al. (2008).
Teil I: Grundlagen und Herausforderungen der Automobilindustrie
61
zudem aufgrund begrenzter Infrastrukturen, bspw. in Form von Parkmöglichkeiten, und dem erhöhten Stadtverbrauch diesen Trend.
(3)
Kostensteigerung in der Fahrzeugentwicklung und Produktion
Eine weitere Intensivierung erfährt die Margensituation durch steigende Kosten in allen Fahrzeugsegmenten und über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg.301 Der höhere Zeitdruck und die zunehmende Fahrzeugkomplexität erhöhen die Kosten in der Entwicklung, die komplexitätsinduzierten Mehrkosten verschärfen die Situation in der Produktion und die Mikrofragmentierung der Fahrzeugklassen verschlechtert aufgrund sinkender Stückzahlen und damit höherer Fixkosten die Gewinnsituation pro Modellvariante.302 Intensiviert wird die Kostensituation durch die Absatzstagnation in den Triademärkten und die entstehende Wettbewerbsintensität. Der zunehmende Wettbewerb hat bereits hohe Investitionen in das Produktprogramm und damit in die Fertigungstechnologie gefordert und forcierte nach wie vor die Branchenkonsolidierung, ohne dass die entstehenden Kapazitäten vom Markt kompensiert werden. Sturgeon & Florida (2000) resümieren: „The sheer volume of recent and planned investment, and the willingness that we found in our interviews for automakers to endure negative returns on new […] investments in the short- to medium-term, give the recent capacity expansion all the earmarks of a classic speculative overextension, where supply far outpaces demand as large groups of investors try to gain an early advantage at the same time.” (Sturgeon & Florida (2000), 48f.)
Die Folge sind strukturelle Überkapazitäten mit einer Fertigungskapazitätsauslastung von 80 Prozent.303 Becker (2007) bemängelt zusätzlich das „lemminghafte Investitionsverhalten sämtlicher Hersteller bei der Erweiterung ihrer Modellpaletten“ (Becker (2007), S. 21.), das nicht an die real existierenden Marktvolumen angepasst ist und somit keinen langfristigen Beitrag zur Kapazitätsauslastung leistet. Neben diesen primär nachfrageinduzierten Kostentreibern wirken weitere Kostenfaktoren nachhaltig auf die Situation von Automobilherstellern ein. So führt das verstärkte Outsourcing
301 302 303
Vgl. exempl. Ebel et al. (2004b), S. 10, KPMG (2006b), S. 8, und Verband der Automobilindustrie (2003b), S. 12, und zur Steigerung der Entwicklungskosten auch Becker (2007), S. 79ff. Vgl. exempl. Becker (2007) S. 28, Radtke et al. (2004), S. 26f., und Marschner (2004), S. 88. Vgl. exempl. West (2000), S. 21, Gottschalk (2006), S. 11f., Becker (2007), S. 21ff., Diez/ Reindl (2005d), S. 106f., KPMG (2006b), S. 5, und Radtke et al. (2004), S. 27f. Zu den Überkapazitäten pro Region und ausgewähltem Hersteller vgl. hierzu und im Folgenden ausführlich Becker (2007), S. 25ff.
62
Teil I: Grundlagen und Herausforderungen der Automobilindustrie
von Fertigungs- und Entwicklungsdienstleistungen304 zu einer gestiegenen Machtposition der Zulieferunternehmen direkt durch eine zunehmende Abhängigkeit und indirekt durch eine Intensivierung der Branchenkonsolidierung der Zulieferindustrie.305 Greca (2005) äußert sich hierzu wie folgt: „Some of the first-tier suppliers become global players themselves and turned into bigger enterprises than the car manufacturers […] with capacity to produce a car by themselves […]. The tendencies described changed the relationships between car producers and the suppliers, because the character of the relation (e.g. power based on strategic knowledge, R&D skills, global links) between producers and suppliers has altered.” (Greca (2005), S. 108)
Die entstehende Kostensituation durch die zu erwartenden Nachteile bei Preisverhandlungen wird zudem durch gestiegene Rohstoffpreise verstärkt.306 Ferner existieren standortspezifische Nachteile bei den Faktorkosten der Triadehersteller, insbesondere Lohnkosten, im internationalen Vergleich.307 Für die Automobilhersteller ergibt sich ein „strategisches Dilemma“. Auf der einen Seite bewirken insbesondere gesellschaftliche und gesetzliche Treiber eine gestiegene Komplexität durch die Zunahme des Varianten- und Ausstattungsumfangs und führen somit zwangsläufig zu längeren Entwicklungszeiten und höheren Produktkosten. Auf der anderen Seite steigt der Zwang, die Entwicklungszeiten aufgrund einer Dynamisierung der Anspruchsgruppen stark zu verkürzen und eine wettbewerbsfähige Kostenposition aufzubauen. 308 Zudem intensivieren die gestiegenen Einkaufs- und Faktorkosten und die strukturellen Überkapazitäten insbesondere in den Bestandsmärkten die Kostensituation. Die Globalisierung zusammen mit der bereits erwähnten hohen Angebotskomplexität und dem damit verbundenen Zeit- und Kostendruck stellen die zentralen Triebfedern des Wettbewerbs der Automobilindustrie dar.309
304
305
306 307 308 309
Es wird erwartet, dass sich der Anteil der Zulieferer an der gesamten Wertschöpfung von heute 65–75 Prozent bis 2010 auf 70–80 Prozent erhöhen wird. Der Anteil des OEM an der Entwicklung wird nur noch bei knapp 50 Prozent liegen. Vgl. A. T. Kearney (2005b), S. 6 Vgl. u. a. Accenture (2001), S. 5, Boston Consulting Group (2004), S. 12f., Kurek (2004), S. 15f., KPMG (2003), S.3, Landesbank Baden-Württemberg (2002), S. 4f., Mattes et al. (2004), S. 26ff., Tietze (2003), S. 202ff., und Sturgeon/ Florida (2000), S. 64ff. Zur Finanzierungsproblematik vgl. auch Arthur D. Little (2004b), S. 10ff. Vgl. hierzu auch Verband der Automobilindustrie (2006), S. 20. Vgl. ausführlich Becker (2007), S. 43ff. Vgl. Bleicher (1990), S. 40, und Marschner (2004), S. 98. Vgl. Marschner (2004), S. 99, und Boston Consulting Group (2001), S. 20.
Teil I: Grundlagen und Herausforderungen der Automobilindustrie
I.3
63
Zwischenbetrachtung: Automobilindustrie – Quo vadis?
Betrachtet man zusammenfassend die bisherige automobile Entwicklung und die skizzierten Herausforderungen, so sind zwei Trends erkennbar. Zum einen bewegt sich die Branche sowohl strategisch als auch organisatorisch in Wellenbewegungen. Zum anderen war bislang jede Phase durch strategische und organisatorische Umbrüche gekennzeichnet, die jeweils tief greifende Einflüsse auf die gesamte Branche hatten (vgl. Abb. I-12). Wachstum
Strat. Fokus
? Effizienz
Organisationsform
Dezentral
Geschäftsbereichsorganisation
Funktionale Organisation
Konzern-/ Holdingorganisation Teamorganisation
?
Zentral
Bsp. Abb. I-12:
Ford ab 1900
GM ab 1920
Toyota ab 1950
Daimler-Benz 90er Jahre
Phasenbetrachtung der automobilwirtschaftlichen Entwicklung Quelle: eigene Überlegungen in Anlehnung an Ringlstetter (1997), S. 317.
Die frühe Phase der Industrialisierung der Automobilindustrie war durch einen enormen Nachfragesog und damit einhergehend durch die Produktion von massenkompatiblen Gütern gekennzeichnet. Die strategische Ausrichtung war dabei rein wachstumsorientiert, um den starken Nachfrageanstieg nach Automobilen befriedigen zu können. Der Erfolg der frühen automobilen Phase lässt sich zum einen auf das fordistische Produktionssystem zurückführen, zum anderen wurde das Wachstum der Unternehmen erst durch Sloans organisatorische Verbesserungen, allen voran die dezentrale Geschäftsbereichsorganisation, möglich. Nach der allgemeinen Blütezeit der fordistischen Produktionsmethoden in Amerika und Europa änderte sich die Branchenlogik durch die Einführung des schlanken Geschäftssystems der japanischen Automobilunternehmen. Für die japanischen Hersteller war der strategische Fokus durchaus auf Wachstum eingestellt, aus der europäischen und amerikanischen Sichtweise führten die Innovationen der schlanken Produktion jedoch eher zu einem Effizienz-
64
Teil I: Grundlagen und Herausforderungen der Automobilindustrie
druck. Organisatorisch war insbesondere die Teamorganisation, mit hohen Delegationsgraden und Empowerment der Mitarbeiter, prägend für die Phase. Zuletzt führte der sich verschärfende Wettbewerb durch die asiatischen Hersteller sowie die strukturellen Überkapazitäten im Markt, aber auch die freien Finanzmittel zu einer M&AWelle in der Automobilindustrie.310 Hierbei kauften Unternehmen nicht nur brancheneigene, sondern auch branchenfremde Unternehmen auf und entwickelten sich schrittweise zu diversifizierten Konzernen. Die Automobilbranche ist also gekennzeichnet von einer sprunghaften Entwicklung. Mintzberg & Westley (1992) sprechen hierbei auch von „Periodic Bumps“:311 Längere Phasen der Stabilität werden unterbrochen durch revolutionäre strategische und organisatorische Sprünge.312 Vor dem Hintergrund der aktuellen Lage, mit steigenden Kundenanforderungen auf der einen und sinkenden Erlösen auf der anderen Seite, scheint die Industrie kurz vor einem neuen „großen Sprung“ mit weitreichenden strategischen und organisatorischen Implikationen zu stehen. Deshalb widmet sich die restliche Arbeit den strategischen (Teil II) und organisatorischen Implikationen (Teil III) vor dem Hintergrund der identifizierten Herausforderungen Management der Angebotskomplexität, Erschließung neuer Wachstumsmärkte und Ertragssicherung im Volumensegment.
310 311 312
Vgl. West (2000), S. 20. Vgl. Mintzberg/ Westley (1992), S. 49ff. Vgl. hierzu und im Folgenden Knyphausen-Aufseß (1995), S. 166.
Teil II: Strategische Ansatzpunkte zur Handhabung automobilwirtschaftlicher Herausforderungen
65
TEIL II: STRATEGISCHE ANSATZPUNKTE ZUR HANDHABUNG AUTOMOBILWIRTSCHAFTLICHER HERAUSFORDERUNGEN
Wie in den abschließenden Worten der automobilen Historie angemerkt, wurde noch vor wenigen Jahren in Fusionen die Rettung der Automobilindustrie gesehen. Die Integration komplementärer Geschäftsfelder löste zwar in großen Teilen das Problem der Ausdifferenzierung der Kundenwünsche, verschärfte jedoch aufgrund eingeschränkter Synergien und Redundanzen andere Problemfelder, wie bspw. die strukturellen Überkapazitäten und die Ertragssituation.313 So zeigt sich bei einer Analyse des nachhaltigen Wachstums führender Automobilhersteller, dass kein etablierter Automobilhersteller, Porsche ausgenommen, im Zeitraum von 2002 bis 2006 nachhaltig, d. h. sowohl im Absatz als auch im Wert, wachsen konnte (vgl. Abb. II-1).314
313 314
Vgl. Sturgeon/ Florida (2000), S. 70f. Vgl. hierzu auch Söllner et al. (2007). Für die Analyse wurde die Value-Grower-Analyse von A. T. Kearney angewandt. Hierbei wird das durchschnittliche Absatz- und Wertwachstum (Marktkapitalisierung) mittels CAGR für einen bestimmten Zeitraum berechnet und mit dem Industrieschnitt verglichen. Nur die Unternehmen, die nachhaltig über Industrieschnitt im Wert und Absatz wachsen, werden als Value Grower bezeichnet.
66
Teil II: Strategische Ansatzpunkte zur Handhabung automobilwirtschaftlicher Herausforderungen Absatzwachstum
Tata
20% FAW
Porsche
Porsche (aktuell)
BMW
10% Suzuki Hyundai-Kia Honda Nissan Industrie-
Toyota
Mazda
durchschnitt ( = 5%) Fuji Heavy (Subaru)
0%
AvtoVaz
Isuzu Volkswagen Fiat
PSA General Motors
DaimlerChrysler
Ford
-10% -15% 1) DaimlerCrysler ab 03.08.2007 getrennt
aktuelle Marktkapitalisierung
Abb. II-1:
Renault SAIC 10%
Mitsubishi 35%
Industriedurchschnitt ( = 13%)
60% Wertwachstum
Wachstumsperformance ausgewählter Automobilhersteller Quelle: leicht verändert übernommen aus Söllner et al. (2007), S. 2.
Die Ursachen hierfür sind vielschichtig, weshalb isolierte strategische Maßnahmen kaum zur Problemlösung ausreichen. Es gilt vielmehr, umfassende Maßnahmenbündel zu implementieren. Für eine vollständige Sichtweise erscheint daher ein breites Strategieverständnis im Sinne des strategischen Managements sinnvoll.315 Grundgedanke des strategischen Managements ist, dass die einseitige Innen- (ressourcenorientierter Ansatz)316 oder die Außenorientierung (marktorientierter Ansatz)317 durch flexible, ganzheitliche Strategien (Integrativität, Anpas-
315
316
317
Zum Strategischen Management vgl. exempl. Müller-Stewens (1992), Sp. 2350f., Müller-Stewens/ Lechner (2003) und Ansoff et al. (1976). Neben dem Einbezug der Produkt-Markt-Beziehungen in das strategische Kalkül werden beim Strategischen Management auch andere System-Umfeld-Beziehungen wie die Struktur und die Unternehmenskultur mit berücksichtig. Vgl. Kreikebaum (1997), S. 24, und Kirsch (1979), S. 15ff. Der ressourcenorientierte Ansatz sieht die internen Ressourcen – wie u. a. die gewachsene Organisationsstruktur und -kultur sowie die Humanressourcen – als Quelle von Wettbewerbsvorteilen an. Er zeichnet sich somit durch eine interne Fokussierung aus. Vgl. Staehle/ Conrad (1999), S. 606f., und zusammenfassend auch Freiling (2002), S. 4ff. Bedeutende Vertreter des ressourcenorientierten Ansatzes sind u. a. Barney (1991), Penrose (1995), Peteraf (1993), Teece (1982) und Wernerfelt (1984). Vgl. ferner für einen Überblick exempl. Rühli (1994) und die Ausführungen bei Knyphausen-Aufseß (1995), S. 82ff. Für potenzialrelevante Ressourcencharakteristika vgl. exempl. Barney (1991), S. 105ff. Zum Konstrukt der Kernkompetenzen als ressourcenorientierte Perspektive vgl. ferner exempl. Prahalad/ Hamel (2006), S. 277ff., Zahn (1995), S. 359, und Zahn (1996), Sp. 884ff., sowie zu den Spezifika Corsten/ Will (1995), S. 12ff., und Hinterhuber (1996), S. 11f. Essenzen marktorientierter Strategiemodelle sind eine sehr hohe Kontextbezogenheit und Umfeldzentriertheit, wobei der Unternehmenserfolg seine Wurzeln in den Charakteristika des Wettbewerbsumfelds und dem Marktverhalten hat. Vgl. hierzu Zahn (1995), S. 356, Friedrich et al. (2002), S. 32. Die marktorien-
Teil II: Strategische Ansatzpunkte zur Handhabung automobilwirtschaftlicher Herausforderungen
67
sungsfähigkeit) bzw. eine geplante Evolution (Lernfähigkeit) ersetzt werden.318 Der Strategie wird dabei der Schein des Absoluten, Technischen und Allgemeingültigen genommen. Sie ist eher als Navigator, bzw. „als grundsätzliche Ausrichtung des generellen Kurses des Unternehmens“ (Kirsch et al. (1989, S. 9.), welche die Handlungen der einzelnen Unternehmensmitglieder auf ein langfristiges Ziel abstimmt, zu verstehen:319 Die Strategie ist eine richtungsweisende Determinante bzw. ein grundlegendes Muster der gegenwärtigen und zukünftigen Ressourcenentfaltung und der Interaktion mit dem Umfeld mit dem Ziel der Schaffung und Sicherung von Erfolgspotentialen und positionen320 sowie der Bedürfnisbefriedigung mittel- und unmittelbar Betroffener, wobei ihre Konkretisierung in strategischen Programmen 321 statt findet.322
Diese Sichtweise eignet sich insbesondere für die Automobilindustrie aufgrund ihrer Integrität, der dynamischen Betrachtung und der Möglichkeit der Konturierung eines holistischen Analyserahmens. Die Integrität ist wichtig, da sowohl eine reine Innen- als auch eine reine Außenorientierung vor dem Hintergrund des gewählten Branchenfokus problematisch erscheinen. Die starke Umfelddependenz der marktorientierten Sichtweisen vernachlässigt die gestaltgebende Rolle der Automobilunternehmen aufgrund ihrer wirtschaftlichen Macht.323 Gleichzeitig bewegen _______________________________________________________________________________________
318
319
320
321 322
323
tierte Sichtweise wird vor allem von Bain (1956), Porter (1999a), Porter (1999b) und Schmalensee (1985) vertreten und hat ihre theoretischen Wurzeln im „Structure-Conduct-Performance“-Paradigma. Vgl. hierzu auch Bain (1968). Für den deutschsprachigen Raum vgl. auch Bircher (1976) und Hinterhuber (1996). Vgl. Müller-Stewens (1992), Sp. 2350f., Staehle/ Conrad (1999), S. 61, und für die Konzepte der fortschrittsfähigen Organisation exempl. Kirsch (1979) und Malik (2003). Für einen Überblick über die Forschungsthemen im strategischen Management und deren Veränderung im Zeitablauf vgl. KnyphausenAufseß (1995), S. 28. Das Strategische Management versteht sich dabei weniger als Gestaltungsmethodik, denn als spezifische Denkhaltung; es gilt, sich die Unternehmensentwicklung bewusst zu machen und darauf aufbauend zu handeln. Vgl. Müller-Stewens/ Lechner (2003), S. 21, Knyphausen-Aufseß (1995), S. 20, und Kirsch (1996), S. 130. Laut Gälweiler (1986), S. 26ff., wird unter Erfolgspotenzialen eine Kombination von Ressourcen bzw. Fähigkeiten oder Kompetenzen verstanden, die es der Unternehmung gestatten, diese über eine längere Frist zur Generierung von Wettbewerbsvorteilen zu nutzen. Gälweiler (1986) verwendet den Begriff in erster Linie für Produkt-/Marktkombinationen, wohingegen Pümpin (1986) den Begriff Erfolgsposition im Kontext des Wettbewerbes verwendet. Zur Grundidee der strategischen Programme vgl. die Ausführungen bei Bleicher (2001), S. 276ff., Kirsch (1990), S. 366, und Kirsch et al. (1989), S. 11. Begriffsannäherung in Anlehnung u. a. an Hofer/ Schendel (1989), S. 25, Bleicher (2001), S. 75, sowie Wolf (2000), 10ff., und die dort angegebene Literatur. Vgl. hierzu auch die Überlegungen bei Naujoks (1998), S. 176ff., zur Strategischen Intelligenz. Vgl. hierzu auch Perrow (1974): „[Big enterprises] select the environment they want to deal with, create new environments if necessary, and change those that threaten to produce instability“ (Perrow (1974), S. 41, Anm. A. R.) Inwieweit die Organisation das Umfeld aktiv mitgestalten kann, soll im Folgenden abhängig von der wirtschaftlichen Macht sein. Zum Begriff der wirtschaftlichen Macht vgl. Steinmann (1969), S. 155ff., und zur umfassenden Lektüre vgl. Arndt (1980). Porter (2006), S. 269, sieht in der aktiven Mitgestaltung des Umfelds einen entscheidenden Erfolgsfaktor von Unternehmen. „There are at least
68
Teil II: Strategische Ansatzpunkte zur Handhabung automobilwirtschaftlicher Herausforderungen
sich Automobilhersteller aber in einem stark regulierten Markt, weshalb eine rein interne Betrachtung, wie durch die ressourcenorientierte Sichtweise favorisiert, auch ein verzerrtes Bild zeichnen würde. Ferner ist eine dynamische Sichtweise für die Betrachtung der Automobilindustrie entscheidend. In komplexen Umfeldern, wie in der Automobilindustrie unterstellt,324 ist von einer Allwissenheit des Managements als Basis der strikten Trennung von Strategieformulierung und -implementierung325 nicht mehr auszugehen.326 Hippner (1998) führt hierzu anschaulich aus: „Seit einigen Jahren entwickelt sich der deutsche Automobilmarkt durch das aggressive Wettbewerbsverhalten ausländischer Anbieter, steigende Marktsegmentierung, verändertes Kundenverhalten, usw. zu einem immer komplexeren Gebilde und erschwert so in hohem Maße den Entscheidungsfindungsprozess im strategischen Bereich.“ (Hippner (1998), S. 81)
Die strategischen Überraschungen327 erschweren eine vollständige Umfeldprognose, weshalb die Strategie einer kontinuierlichen Adaption aufgrund praktischer Erfahrungen bei der Implementierung unterliegt.328 Die Grenzen zwischen Formulierung und Implementierung verwischen dabei zunehmend.329 Zuletzt lässt die Sichtweise des strategischen Managements eine schrittweise Konkretisierung der Strategie und damit eine konturierte Herangehensweise zu. Das „grundlegende Muster“ stellt die oberste Hierarchieebene dar und ist als stabilisierender, richtungsweisender Faktor zu verstehen, der von der Unternehmensführung bewusst installiert wird (strategische
_______________________________________________________________________________________
324 325
326 327 328
329
as many manipulable variables in the environment and in the organization-environment links as in the organization itself” (Starbuck/ Dutton (1973), S. 23). Vgl. hierzu die Analyse der Veränderungstreiber und die abgeleiteten Herausforderungen Kapitel I.2. Eine erste Unterteilung des Strategieprozesses in Formulierung und Implementierung findet sich bei Andrews (1987) in seinem Werk „The Concept of Corporate Strategy“. Für eine genaue Beschreibung der Strategiephasen vgl. Uyterhoeven et al. (1977), S. 13ff., sowie für eine grafische Aufbereitung Andrews (1987), S. 21. Inwieweit die Zielbildung Bestandteil der Strategie ist, wird kontrovers diskutiert. Ein expliziter Einschluss der Zielbestimmung findet sich bei Chandler (1993) und Porter (1981). Anderer Meinung ist u. a. Kreikebaum (1997), S. 26, der die Zielbestimmung explizit ausschließt. Vgl. Knyphausen-Aufseß (1995), S. 38f., und Mintzberg (1990), S. 184ff. Vgl. Ansoff (1976), S. 131. Vgl. u. a. Hamel (1974), S. 41ff., Hauschildt (1977), S. 112ff., Staehle/ Conrad (1999), S. 613, und Kirsch et al. (1989), S. 7. Ferner auch Mintzberg/ Waters (1990), S. 1ff., und für die Ausführungen zur Zielvariation Lehnert (1983), S. 40ff, sowie Ansoff (1990), S. 47ff., zum Problem der mangelnden Prognostizierbarkeit. Vgl. Knyphausen-Aufseß (1995), S. 38f., und die Ausführungen bei Kirsch (1996) zur Strategiegenese. Auch Witte (1968), S. 625ff., und Mintzberg et al. (1976), S. 246ff., bestätigen, dass bei strategischen Entscheidungsprozessen ein nach Phasen strukturiertes Verhalten meist nicht möglich ist.
Teil II: Strategische Ansatzpunkte zur Handhabung automobilwirtschaftlicher Herausforderungen
69
Stoßrichtung).330 Jede strategische Stoßrichtung kann wiederum einer bestimmten Zielgruppe zugeordnet werden und bietet in einem ersten Konkretisierungsgrad Normstrategien. Die strategische Stoßrichtung findet hierbei eine erste Detaillierung in der Produkt-/Marktstrategie, die auf Unternehmensebene die einzelnen Produkt- und Geschäftsfelder definiert, sowie davon abhängig in einem zweiten Schritt in den Geschäftsbereichsstrategien (Wettbewerbs-, Wertschöpfungs- und Ressourcenstrategien). Zusammen ergeben sie die strategischen Programme bzw. das strategische Profil einer Unternehmung und dienen als Analyserahmen für
Ressourcenperspektive
Marktperspektive
die weiteren Ausführungen.331
Abb. II-2:
Produktstrategie
Marktstrategie
Wettbewerbsstrategie
Strategische Positionierungsprogramme Strategische Leistungsprogramme
Wertschöpfungsstrategien
Ressourcenstrategien
Strategische Programme als Komponenten des strategischen Managements Quelle: stark verändert übernommen aus Müller-Stewens & Lechner (2003), S. 41.
Produkt-, Markt- und Wettbewerbsstrategien spiegeln dabei die strategische Positionierung der Unternehmung am Markt (Marktperspektive) wider (Kapitel II.1), indem sie die zwei primären Anspruchsgruppen der Unternehmung, die Kunden und die Konkurrenten, auf der Marktseite berücksichtigen.332 Ihre Aufgabe liegt in der Festlegung der Positionierung gegenüber den einzelnen Marktsegmenten bzw. Zielgruppen in einem strategischen Geschäftsfeld, indem die Frage beantwortet wird, „was für wen angeboten werden soll“.333 Strategische Positionierungsprogramme wiederum bestehen in ihrer Essenz aus der Kombination verschiedener
330 331
332 333
Vgl. Macharzina (1993), S. 217, und die Überlegungen von Mintzberg (1979) zur „Deliberate Strategy“. Vgl. Macharzina (1993), S. 210ff., Hinterhuber (1990), S. 60, und Kirsch et al. (1989), S. 17. Für eine Lektüre zu Geschäftsbereichsstrategien vgl. exempl. u. a. Müller-Stewens/ Lechner (2003), S. 252ff., und Bea/ Haas (2005), S. 184ff., sowie die anschließenden Ausführungen zur Strategieprofilierung. Vgl. Müller-Stewens/ Lechner (2003), S. 252. Vgl. Müller-Stewens/ Lechner (2003), S. 253, und Macharzina (1993), S. 211.
70
Teil II: Strategische Ansatzpunkte zur Handhabung automobilwirtschaftlicher Herausforderungen
Wertschöpfungsaktivitäten (Wertschöpfungsstrategie)334 und der optimalen Vorhaltung entsprechender Ressourcen (Ressourcenstrategien); je optimaler die Wertschöpfungs- und Ressourcenstrategien auf die Produkt- und Wettbewerbsanforderungen abgestimmt sind, desto nachhaltiger können diese verfolgt werden.335 Gemeinsam verkörpern sie das interne Potenzial der Unternehmung (Ressourcenperspektive) und bilden das strategische Leistungsprogramm (Kapitel II.2). Strategische Manöver bilden dabei die Substanz der einzelnen strategischen Programme, indem sie mögliche Wege zur Strategierealisation aufzeigen. 336 Innerhalb dieser Wege konkretisieren und realisieren die betroffenen Teileinheiten selbstständig die Strategien (Strategieimplementierung), wobei Freiräume für Flexibilität (Anpassungsfähigkeit) und ein evolutionäres, emergentes Vorgehen (Lernfähigkeit) bestehen. Die Erfahrungen fließen wiederum in die strategischen Programme und damit schlussendlich in die strategische Stoßrichtung mit ein.337 Diese integrative und dynamische Betrachtung erlaubt die Entwicklung eines ganzheitlichen strategischen Profils und schmälert so das Defizit der oftmals isolierten Betrachtung von Einzelaspekten. In einer abschließenden Zwischenbilanz (Kap. II.3) werden die einzelnen strategischen Programme noch einmal prägnant zusammengefasst. Dabei wird herausgearbeitet, dass die Modularität als gemeinsamer Pfeiler zu identifizieren ist und das gemeinsame Fundament der strategischen Programme darstellt. Es ist daher zielführend, diesen gemeinsamen Nenner als Bindeglied zu dem dritten Hauptteil zu nutzen, weshalb der Zwischenbilanz auch die Funktion einer thematischen Überführung zukommt.
334
335
336
337
Oft wird in der Literatur die Wertschöpfung in ihre Funktionen zerteilt und der Strategiebegriff auf einzelne Elemente (Entwicklung, Produktion, Absatz etc.) angewendet. In diesem Fall wird allgemein von Funktionsbereichsstrategien gesprochen. Vgl. für Funktionsbereichsstrategien exempl. Bea/ Haas (2005), S. 188ff., und Müller-Stewens/ Lechner (2003), S. 476ff. Vgl. Lombriser/ Abplanalp (2005), S. 272. Die Wertschöpfungs- und Ressourcenstrategien sollen im Folgenden zwar einzeln betrachtet werden, die enge Integrativität der beiden strategischen Komponenten darf dabei aber nicht vergessen werden. Vgl. Mintzberg (1987), S. 71ff., Hinterhuber (1990), S. 60, und die Überlegung zur „Emergent Strategy“ bei Mintzberg (1979). Für die Überlegungen in Teil II und III sind die Überlegungen eines evolutionären Prozesses in der Strategiekonkretisierung und -umsetzung grundlegend. Vgl. hierzu auch die Ausführungen zur japanischen Automobilindustrie bei Pascale (1984), S. 63f. Diese Sichtweise kommt der Zielsetzung der vorliegenden Arbeit sehr nahe. Ziel ist nicht, ein umfassendes, ganzheitliches Lösungskonzept zu erarbeiten. Vielmehr soll das Aufzeigen einer Vielzahl von Ansatzmöglichkeiten als Anregung für das Management dienen.
Teil II: Strategische Ansatzpunkte zur Handhabung automobilwirtschaftlicher Herausforderungen
II.1
71
Strategische Positionierungsprogramme für Automobilhersteller
Allgemein wird die prekäre Lage der Automobilindustrie durch den stetig zunehmenden Kostendruck und die steigenden Kundenansprüche, die die Unternehmen der Automobilindustrie angesichts von Überkapazitäten und der Absatzstagnation in den Triademärkten in ein „Produktivitätsdilemma“ bringen, begründet.338 In dieser Lage stellt sich Diez (2006) bewusst die Frage nach der Sinnhaftigkeit einer marktorientierten Betrachtung und führt dabei aus: „Macht es in einer solchen Situation Sinn, ein Buch auf den Markt zu bringen, in dem die grundlegenden Strategien, Konzepte und Instrumente des Automobil-Marketings dargestellt werden? […] Dem wäre sicher [nicht] so, wenn der heute weithin sichtbare Aktionismus die Lösung der Probleme wäre. Tatsächlich ist es ein Teil des Problems. Die vorliegende 5. Auflage […] hält an dem Konzept einer systematischen Gesamtdarstellung […] fest, […] aus der Überzeugung das gerade in Zeiten des stürmischen Wandels nur strategisches Denken und Handeln ein Unternehmen auf Kurs halten können.“ (Diez (2006), S. 13, Anm. und Herv. A. R.)
Diese Sichtweise vertritt auch die vorliegende Arbeit. Wie in den einführenden Worten dieses Hauptteils festgestellt wird, sind aktionistische Einzelmaßnahmen nicht mehr ausreichend, um Antworten auf die vielschichtigen und komplexen Herausforderungen der modernen Automobilindustrie zu geben.339 Im Bereich der Internationalisierung werden neue Wachstumsmärkte von den Automobilherstellern oft als Kompensationsmöglichkeit der Wachstumsschwäche in der Triade angeführt, ohne dabei die wirklichen Implikationen zu beachten. In einem ersten Schritt soll daher dieses Defizit geschmälert werden, indem verschiedene Optionen der Internationalisierung im Spannungsfeld von Standardisierung und Lokalisierung vorgestellt und analysiert werden (Unterkapitel II.1.1). Auch im Produktprogramm wird oft vorschnell gehandelt: Getrieben durch die emanzipierten und pluralisierten Kundenwünsche werden Produktprogramme sukzessive ausgedehnt und die entstehenden Probleme oftmals durch Kostensenkungsprogramme kosmetisch bereinigt. Als Reaktion auf die aufkommende asiatische Konkurrenz wird mit Preisnachlässen gekontert, also mit „Aktionen zur Sicherung der Wachstumsstory, die später auf die Gewinne drücken“ (Katemann (2007), S. 172), wie Katemann (2007) feststellt. Von dieser einseitigen Wachstumsorientierung wird in Kapitel II.1.2 bewusst Abstand genommen
338 339
Vgl. hierzu exempl. Verband der Automobilindustrie (2003b), S. 16f., Machart (1997), S. 2, Tropschuh (2007), S. VII, Radtke et al. (2004), S. 11 und 26ff., sowie Pointner (2004), S. 52ff. Auch Radtke et al. (2004) hinterfragen kritisch: „Was ist zu tun? Wird es im Einzelfall ausreichen, an einigen Stellschrauben zu drehen, oder ist eine umfassende Neuorientierung der Industriestruktur notwendig“ (Radtke et al. (2004), S. 28).
72
Teil II: Strategische Ansatzpunkte zur Handhabung automobilwirtschaftlicher Herausforderungen
und es werden ganzheitliche Ansätze entwickelt, die sowohl die Umsatz- als auch die Kostenseite mitberücksichtigen. Ergänzt werden die Überlegungen um einen Diskurs möglicher Positionierungsmöglichkeiten im Wettbewerb (Unterkapitel II.1.3). Betrachtet man den momentanen Preisdruck im Markt, stellt sich dabei insbesondere die Frage, ob überhaupt noch Differenzierungsmöglichkeiten existieren oder ob eine alleinige Kostenorientierung nicht zielführender ist.
II.1.1
Marktstrategien zwischen Globalisierung und Lokalisierung
Als Motive der Globalisierung in der Automobilbranche werden allgemein die Realisierung von Economies of Scale (Ausweitung des Absatzgebietes und damit der Stückzahlen) und von Economies of Scope (Nutzung von Marktsynergien) genannt.340 Hierdurch sollen die Absatzstagnation in den Triademärkten überwunden und die strukturellen Überkapazitäten durch den Export schrittweise abgebaut werden. Im Folgenden werden mögliche Markteintrittsoptionen vor dem Hintergrund der Automobilindustrie thematisiert. Eine interessante Herangehensweise in diesem Zusammenhang liefert die Marktbearbeitungs-/Wertschöpfungsmatrix auf Basis des Modells von Diez & Reindl (2005c), da sie im Sinne des integrativen Vorgehens sowohl Markt- als auch Ressourcenaspekte in sich vereint (vgl. Abb. II-3).341
340 341
Vgl. Diez/ Reindl (2005c), S. 115. Vgl. Diez/ Reindl (2005c), S. 116, und die Konfigurations-/Leistungsstrategiematrix bei Kutschker/ Schmid (2002), S. 978, sowie ausführlich zu den einzelnen Strategien Kutschker/ Schmid (2002), S. 812ff. Eine Betrachtung von Zielmarktstrategien findet aufgrund der bereits diskutierten Zielregionen nicht explizit statt. Eine Betrachtung der Allokationsstrategien erfolgt vertiefend bei den Wertschöpfungsstrategien (Unterkapitel II.2.1), organisatorische Implikationen der Internationalisierung werden in Teil III berücksichtigt.
Strategie der internationalen Differenzierung
Strategie des Multidomestic
Strategie der internationalen Standardisierung
Multinationale Globalisierungsstrategie
73
global standard.
Marktbearbeitung
national differenziert
Teil II: Strategische Ansatzpunkte zur Handhabung automobilwirtschaftlicher Herausforderungen
ein nationaler Standort
Abb. II-3:
Wertschöpfung
mehrere intern. Standorte
Strategisches Spielfeld und Manöver zur Markterschließung Quelle: ergänzend übernommen aus Diez & Reindl (2005c), S.116.
Hierbei lassen sich anhand der Dimensionen Marktbearbeitung und Wertschöpfung vier generische Strategietypen unterscheiden, wobei die Strategie der internationalen Standardisierung und die multinationale Globalisierungsstrategie einer Produktstandardisierung unterliegen (1). Die Strategie der internationalen Differenzierung und die Strategie des Multidomestic hingegen bearbeiten die Märkte mit unterschiedlichen Produkten (2). Erweitert werden diese generischen Strategien um die hybride Lösung der standardisierten Lokalisierung (3).
(1)
Standardisierungsstrategien im globalen Wettbewerb
Im Kontext internationaler Wettbewerbsvorteile unterscheidet Ghoshal (1987) bei Standardisierungsstrategien zwischen Volumen- und Verbundeffekten. Diese ergeben sich – auf Basis der Produktstandardisierung – aufgrund der Ausweitung der Geschäftsaktivitäten auf andere Länder und durch Kostenvorteile aufgrund der physischen Verlagerung von Wertschöpfungsaktivitäten und der damit verbundenen Nutzung lokaler Ressourcen. Zielsetzung der internationalen Standardisierung ist die Erschließung neuer Wachstumsmärkte zur Kompensation der Wachstumsschwächen in den Bestandsländern.342 Über Generalimporteure oder eigene Vertriebsgesellschaften wird ein reines Exportgeschäft betrieben, wobei die gesamte Marktbearbeitung – soweit möglich – über die Länder hinweg standardisiert ist. Wettbewerbsvortei-
342
Vgl. hierzu insbesondere Diez/ Reindl (2005c), S. 117.
74
Teil II: Strategische Ansatzpunkte zur Handhabung automobilwirtschaftlicher Herausforderungen
le werden hierbei insbesondere auf der Kostenseite durch Volumen- und Verbundeffekte (Economies of Scale and Scope) generiert.343 Meist stellt die Strategie der internationalen Standardisierung die erste Stufe in der globalen Ausrichtung eines Unternehmens dar. Im Gegensatz hierzu werden bei der multinationalen Globalisierung durch die Internationalisierung der Wertschöpfungsaktivitäten zusätzlich lokale Kostenvorteile genutzt.344 Aktuelle Beispiele zeigen jedoch deutlich die Grenzen der globalen Produktstandardisierung auf. Die fragmentierenden Einflüsse345 in Form von Kundenpräferenzen, Marktanforderungen und rechtlichen Bestimmungen führen dazu, dass anders als von Levitt (1983) angenommen in der Automobilbranche nicht von einem globalen Markt gesprochen werden kann.346 Insbesondere die Liberalisierung der Märkte und die zunehmend globale Informationsdiffusion bewirken eine weltweite Emanzipierung der Kundenerwartungen auch im Volumenbereich, weshalb bisherige Strategien wie der Abverkauf veralteter Produkte in den Wachstumsregionen – bspw. der VW Käfer in Mexiko und Brasilien und der City Golf als Golf 1-Derivat in Südafrika – nicht mehr Erfolg versprechend sind.347 Zudem forciert die aufkommende nationale Konkurrenz in den einzelnen Zielmärkten durch ihr marktgerichtetes Produktangebot den Druck zur Marktanpassung und Lokalisierung auf die Importeure.
(2)
Lokalisierung als entscheidender Wettbewerbsvorteil
Im freien Handel würde sich zur Lokalisierung die Option der internationalen Differenzierung anbieten.348 Die Konzentration an einem Wertschöpfungsstandort ermöglicht eine zumindest teilweise Kompensation der Differenzierungskosten durch Verbund- und Volumenef343 344
345 346
347
348
Vgl. hierzu auch die Ausführungen bei Ghoshal (1987) und Freyssenet/ Lung (2000), S. 88. Vgl. exempl. Diez/ Reindl (2005c), S. 118f., und auch Marschner (2004), S. 90f. Für einen Überblick über die Lohnkosten an den einzelnen Automobilstandorten vgl. auch Becker (2007), S. 47, und ausführlich zur Internationalisierung der Wertschöpfung Becker (2007), S. 100ff. Fayerweather (1981) identifizierte bereits 1981 fragmentierende und vereinende Einflüsse auf international agierende Unternehmen. Vgl. Marschner (2004), S. 118, und Roxin (1992), S.108. Diese Marktunterschiede gehen weiter als einst von Kogut (1985) für die Automobilindustrie angenommen und beschränken sich nicht mehr nur auf landestypische Adaptionen aufgrund rechtlicher Regularien, sondern beinhalten grundlegende Unterschiede in den Konsumpräferenzen. In Europa stehen Komfort, Prestige und das Erlebnis im Vordergrund, in Japan die Technologie und in Amerika sowie insbesondere in den Wachstumsmärkten primär die Anschaffungskosten. Vgl. hierzu und im Folgenden Sedran (2006), S. 65f. Ähnliche Strategien finden sich auch bei BMW und Daimler-Benz in den 90er-Jahren. Vgl. hierzu Pries (2005), S. 28. Auch eine Vielzahl der Branchenexperten verwiesen im Gespräch auf die begrenzten Einsatzmöglichkeiten einer Zweitverwendungsstrategie vor dem Hintergrund der aktuellen Marktbedingungen. Vgl. Diez/ Reindl (2005c), S. 118.
Teil II: Strategische Ansatzpunkte zur Handhabung automobilwirtschaftlicher Herausforderungen
75
fekte. Trotz der zunehmenden Integration einzelner Wirtschaftsräume zu Handelszonen und bi- bzw. multilateraler Handelsabkommen, verhindern aber insbesondere in den asiatischen Schwellenländern die hohen Importzölle von bis zu 80 Prozent eine reine Exportstrategie. 349 Zudem forciert die hohe Relevanz der Produktionskosten, insbesondere im Volumenbereich, die Verlagerung der Wertschöpfung in die kostengünstigeren Schwellenländer. 350 Auch absatzorientierte Überlegungen können bei der Entscheidung einer Produktionsverlagerung in die Emerging Markets351 eine Rolle spielen. Durch die Ansiedelung lokaler Produktionsstätten erhöhen sich ex natura auch die Wirtschafts- und damit die Kaufkraft in der Region, weshalb auch von einer absatzpolitischen Entwicklungshilfe gesprochen werden kann.352 Neben den Kostenmotiven spielen aber auch zunehmend Wissensmotive für den Markterfolg eine entscheidende Rolle.353 Die Produktion am Ort der Nachfrage öffnet den Unternehmen einen weitaus intensiveren Zugang zum Markt, der für den Erfolg entscheidend sein kann (Relevanz der strategischen Nähe).354 Porter (1990) stellt in diesem Zusammenhang fest: „Understanding needs requires access to buyers, open communication between them and a firm’s top technical and managerial personnel, and an intuitive grasp for buyers’ circumstances. […]. This is extremely difficult to achieve, in practice, with foreign buyers because of distance to headquarters and because the firm is not truly an insider with full acceptance and access.” (Porter (1990), S. 86f., Herv. A. R.)355
349
350 351
352 353 354
355
Vgl. exempl. Nunnenkamp (2005), S. 41f., und Marschner (2004), S. 90. BMW baut bspw. die 3er-Reihe seit 2007 in dem neuen Werk in Chennai (Indien). Neben der Umgehung von Einfuhrzöllen erlaubt die lokale Produktion auch den Ausgleich von Währungsschwankungen durch Natural Hedging und die Nutzung lokaler Kostenvorteile. Vgl. BMW AG (2008b), S. 4. Vgl. Sedran (2006), S. 66f., Nunnenkamp (2005), S. 40, und Marschner (2004), S. 41. Der Ausdruck Emerging Market (Schwellenland) wird sehr häufig im Finanz- und Börsenbereich verwendet und steht für einen aufstrebenden Markt wie es bspw. die großen Staaten Volksrepublik China oder Indien, aber auch kleinere Staaten in Osteuropa wie Bulgarien und Rumänien sind. Diese Überlegungen wurden insbesondere durch die Diskussion mit Dr. Alexander Suhm, persönlichmündlich am 09.11.2007, angeregt. Vgl. hierzu auch Marschner (2004), S. 90. Augenscheinlich widersprüchlich zu den Grundsätzen des schlanken Managements verkannten die japanischen Hersteller lange die Relevanz der strategischen Nähe zu den europäischen Märkten und verpassten so den Dieseltrend. Vgl. Marschner (2004), S. 118. Die Wichtigkeit einer Lokalisierung und einer physischen Präsenz verdeutlichen auch Yeung et al. (2001): „This [localization] strategy is necessary for two reasons. First, even within the relative market homogeneity at the regional scale, localised management is required to understand fully the nature and ever-changing conditions of host regions. Secondly, managing from a distance, particularly cross-regional management, is no longer an acceptable tool for strategic management in a world of keen competition and high demand for local responsiveness” (Yeung et al. (2001), S. 158, Anm. A. R.).
76
Teil II: Strategische Ansatzpunkte zur Handhabung automobilwirtschaftlicher Herausforderungen
Eine umfassende Lokalisierungsstrategie fußt daher auf der Strategie des Multidomestics.356 Anders als bei der Strategie der internationalen Differenzierung erfolgen bei einer Multidomestic-Strategie einzelne Wertschöpfungsstufen in den Regionen zur Fertigung marktindividueller Fahrzeuge. Hierdurch ergeben sich sowohl Kosten- als auch Differenzierungsvorteile, wie Humphrey & Memedovic (2003) prägnant festhalten: „The initial attraction for […] extending production networks from North America and Western Europe to the peripheral regions was a combination of access to growing markets and reducing costs through the development of low-cost production sites.” (Humphrey & Memedovic (2003), S. 34, Herv. A. R.)357
Etwas anders verhält es sich momentan noch bei den Premiummarken. Hier wären eine differenzierte Marktbearbeitung und eine Verlagerung der Wertschöpfung aufgrund der homogeneren Kundengruppe und begrenzten Volumina in den Zielmärkten auf den ersten Blick kontraproduktiv.358 Ferner besteht ein Herkunftsvorteil aufgrund der Heimatprägung bei Premiummarken (Country-of-Origin-Effekt).359 Relativierend muss aber auch hier festgehalten werden, dass der zunehmende Wettbewerbsdruck und die Ausdifferenzierung und Emanzipation der Kundenpräferenzen aufgrund reifender Märkte auch das Premiumgeschäft betreffen. So scheiterte bspw. Mercedes-Benz Mitte der 90er-Jahre mit dem Versuch, die damalige EKlasse Typ W124 (Laufzeit in den Triademärkten 1985-1994) für den indischen Markt weiterzubauen. Vielmehr gilt es, den globalen Premiumstandard durch geringfügige Adaptionen an die lokalen Bedürfnisse anzupassen, ohne dabei das Premiumimage zu schädigen. Gelungen ist dies bspw. Audi, die als einer der ersten Automobilhersteller im Premiumbereich auf
356
357
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359
Vgl. Diez/ Reindl (2005c), S. 122f. und BMW AG (2008b), S. 4. Auch VW überlegt intensiv, verstärkt in den amerikanischen Markt zu investieren. Hierzu Stefan Jacoby, Chef von Volkswagen USA, in einem Interview: „Sie [die USA-Strategie] stützt sich auf fünf Säulen: die Entwicklung von Produkten speziell für den US-Markt, eine Stärkung der Markenpositionierung, eine Optimierung des Händlernetzwerks, eine Verbesserung der eigenen Organisation und schließlich die Prüfung einer Produktion in den USA“ (Jacoby (2008), zit. nach Hamprecht/ Katemann (2007), S. 170). Ähnlich argumentiert auch Pries (1999a), S. 31, am Beispiel des VW-Konzerns und sieht die primäre Motivation hinter der Integration von Seat im Jahr 1986 und von Skoda im Jahr 1990 sowohl in produktund marktpolitischen Überlegungen als auch unter dem Kostenaspekt. In den einzelnen Expertengesprächen wurde auch auf die notwendige Unterscheidung zwischen Volumen- und Premiummarken im Rahmen der Lokalisierung hingewiesen. Für das Volumengeschäft wurde dabei eine zwingende Notwendigkeit der Lokalisierung gesehen. Premiumprodukte hingegen sind eher global standardisiert mit wenigen lokalen Adaptionen. Vgl. Diez/ Reindl (2005c), S. 117f., Diez/ Merten (2005), S. 69, Pries (2005), S. 27, Pries (2003), S. 1, und auch die Überlegungen zum „premium prototype approach“ bei Niederländer (2000), S. 62ff., sowie die dort angegebene Literatur. Für die länderspezifische Entwicklungsstrategie von BMW vgl. ferner Schlenker (2000), S. 161ff.
Teil II: Strategische Ansatzpunkte zur Handhabung automobilwirtschaftlicher Herausforderungen
77
die Lokalisierungsanforderungen reagierten und einen leicht adaptierten Audi A6 für den chinesischen Markt auflegten.360
(3)
Erste Überlegungen zur Strategie der standardisierten Lokalisierung
Bislang wurden die Strategien der Standardisierung und Lokalisierung als separate Strategieoptionen vorgestellt. Vorteile der Standardisierung ergeben sich insbesondere auf der Kostenseite durch Gleichteileverwendung. Die Lokalisierung hingegen orientiert sich am Kunden und bietet Differenzierungsvorteile im Markt. Die Sichtweise des Automobils als komplexes Leistungsbündel ermöglicht aber die Kombination von Standardisierung und Lokalisierung, indem die einzelnen Strategien nicht auf Fahrzeug- sondern auf Komponenten- und Teileebene ansetzen. Hierzu spielt die später noch genauer beschriebene Modularität eine entscheidende Rolle. Modulare Produktarchitekturen ermöglichen Automobilherstellern durch die physische und funktionale Entkoppelung einzelner Segmente einen länderübergreifenden Einsatz in mehreren Fahrzeug- und Modellvarianten und spielen damit eine entscheidende Rolle in der Internationalisierungsstrategie führender Automobilhersteller: „Despite the highly divergent character of emerging markets - and between emerging markets and large existing markets - nearly all automakers are striving to commonalize underbody platforms and breaking the car up into front, middle, and rear systems.” (Sturgeon & Florida (2000), S. 54)
Hierdurch können Fahrzeugmodule, die keine spürbare Kundenrelevanz haben, standardisiert über Länder hinweg produziert werden, wobei anstelle einer absatzmarktorientierten Produktionszentralisierung eine komponentenorientierte Zusammenlegung erfolgt. 361 Die Koordination übernimmt hierbei das Heimatland.362 Die Lokalisierung in den kundenrelevanten Bereichen findet dann aufbauend auf der globalen Fahrzeugarchitektur gemäß den Kundenpräferenzen statt. Auch hier werden Volumeneffekte der Globalisierung genutzt, indem nicht länderspezifisch, sondern soweit wie möglich nach Kundengruppen gebündelt die Herstellung der Lokalisierungsteile erfolgt. Minimale Anpassungen werden dann abschließend im Zielmarkt durch die Landesgesellschaft oder den
360
361
Fondorientierter Audi A6 (Beinfreiheit, Bedienelemente) aufgrund primärer Nutzung als Chauffeurslimousine. Auch BMW bietet bspw. die 3er-Reihe mit erhöhter Bodenfreiheit in den Absatzmärkten China, GUS und Burma an, um den schlechteren Straßenverhältnissen Rechnung zu tragen. Vgl. Schlenker (2000), S. 161. Auch im Interview mit Herrn Löbig, persönlich-mündlich am 19.11.2007, wurde der Plattformansatz für die Lokalisierung diskutiert.
78
Teil II: Strategische Ansatzpunkte zur Handhabung automobilwirtschaftlicher Herausforderungen
Importeur vorgenommen. Somit wird der größtmögliche Anteil an Teilen und Komponenten unter Ausnutzung von Synergien und Volumenvorteilen produziert. Sturgeon & Florida (2000) halten hierzu fest: „When module sub-assembly is taken off-line, it becomes geographically and organizationally separable from the final assembly plant, making initial automotive assembly investments less "lumpy," and the "deverticalization" of the industry more viable.” (Sturgeon & Florida (2000), S. 56)
Notwendig hierfür sind neben einer ausgeprägten Koordinations- und Integrationskompetenz flexible, auf geringe Kapazitäten ausgelegte, lokale Fertigungs- und Montagewerke. Fertigungsanlagen, die der vorgelagerten Komponentenfertigung dienen, sind hingegen nach der Logik einer kosteneffizienten, aber wenig flexiblen Fertigung aufgebaut, wobei die internationale Verwendung regionale Absatzschwankungen ausgleicht. Diese Denkweise unterscheidet sich grundlegend von dem weit verbreiteten, kostenintensiven „Re-Engineering“.363 Hier wird ein Fahrzeug für den Fokusmarkt entwickelt und dann nachträglich für die einzelnen Märkte angepasst, bzw. lokalisiert. Yeung et al. (2001) sprechen hierbei vom lokalen Implementieren und stellen fest: „A local implementer, for example, is expected to have only limited geographical, product and value-added scope. Its existence is merely to localize the global strategy predetermined by the parent TNC [transnational company].” (Yeung et al. (2001), Anm. A. R.)364
Die neue Denkweise sieht aber die regionalen Teileinheiten nicht als reaktive Anpasser, sondern vielmehr als integrative Bestandteile einer globalen Programmstrategie. Sie partizipieren aktiv an der Leistungserstellung, indem sie einen physischen Beitrag in Form von vorgelagerten Komponenten und lokalen Teilen sowie einen immateriellen Beitrag in Form von landesspezifischem Wissen liefern. Gupta & Govindarajan (1991) sprechen in einem ähnlichen Kontext von einem „integrated player“.365
_______________________________________________________________________________________ 362 363 364 365
Birkinshaw/ Morrison (1995), S. 734 beschreiben diese Rollenverteilung als „specialized contributor“. Vgl. Sturgeon/ Florida (2000), S. 55. Vgl. hierzu auch die Überlegungen zum lokalen Implementierer bei Birkinshaw/ Morrison (1995), S. 733f. Vgl. Gupta/ Govindarajan (1991), S. 774
Teil II: Strategische Ansatzpunkte zur Handhabung automobilwirtschaftlicher Herausforderungen
II.1.2
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Produktstrategien vor dem Hintergrund ausdifferenzierter Kundenwünsche und sinkender Margen
Als Reaktion auf das Produktivitätsdilemma und die Mikrofragmentierung der Kundenpräferenzen wird zumeist eine Angebotsausweitung sowohl des Produktprogramms (Programmbreite und -tiefe)366 als auch auf Fahrzeugebene367 gewählt, wodurch in erster Linie eine Wachstumsstrategie verfolgt wird und die Kostenseite zumeist erst nachträglich in Form von oberflächlichen Kostensenkungsmaßnahmen in die Überlegungen mit einfließt. Die eigentliche Herausforderung der Automobilhersteller und insbesondere der Produktstrategien besteht aber darin, zugleich dem Marktdruck in Form von wachsenden Ansprüchen der verschiedenen Stakeholdergruppen und dem Kostendruck gerecht zu werden. Aufbauend auf den thematisierten Expansionsebenen werden im Folgenden Optimierungsansätze diskutiert, die diese integrative Sichtweise berücksichtigen (vgl. Abb. II-4). Programmbreite
Programmtiefe
2
1 1
Abb. II-4:
3
Strategisches Spielfeld und Manöver für Produktstrategien
Zur Optimierung der Programmebene werden in einem ersten Schritt Möglichkeiten der Variantenreduktion diskutiert (1). Eine Optimierung auf Produktebene erfolgt insbesondere durch eine kosten- und komplexitätsorientierte Optimierung des Fahrzeuges mittels eines bedarfsorientierten Technologiemanagements (2). Abgeschlossen wird die Produktbetrachtung durch das Verständnis des Automobils als Systemgeschäft, wodurch sich alternative Ertragsquellen, insbesondere im Service- und Finanzierungsbereich, zum Margenausgleich identifizieren lassen (3).
366 367
Zur Unterteilung in Programmtiefe und Programmbreite siehe auch Paul/ Harms (2004), S. 328. Vgl. Diez (2006), S. 146. Komponenten der kundengesteuerten Form der Produktproliferation sind individuelle Sonderausstattungen, das Tuning (nachträglich durchgeführte technische und/oder optische Modifikationen am Basisfahrzeug) und die Produktdifferenzierung durch Zubehör.
80
(1)
Teil II: Strategische Ansatzpunkte zur Handhabung automobilwirtschaftlicher Herausforderungen
Optimierung auf Programmebene
Zielsetzung der Optimierung auf Programmebene ist eine Reduktion der Varietät, die sich aufgrund der Differenzierung der Lebenswelten in den einzelnen Kulturräumen sowie den kulturellen und rechtlichen Unterschieden im internationalen Kontext ergibt. Zunächst kann hierzu das faktische Angebot durch Produktelimination reduziert werden (externe Varietät) (a). Neben der externen, d. h. der vom Kunden wahrgenommenen Varietät, kann ferner eine Optimierung auf Basis der internen Varietät bzw. des Umfangs der Mengenlastigkeit und des Unterschieds der zur Produktion benötigten Teile erfolgen (Plattformstrategien) (b). Durch diesen Perspektivenwechsel kann die faktische von der suggerierten, kundenwahrgenommenen Varietät differenziert und eine Optimierung des Leistungsprogramms weitgehend ohne externe Auswirkungen durchgeführt werden. (a) Optimierung der externen Varietät durch Produktelimination: Eine Optimierung der externen Varietät durch eine Refokussierung des Produktprogramms ist zunächst augenscheinlich widersprüchlich zu einem Bild ausdifferenzierter Kundenwünsche. Dennoch ist die primär aus Wachstumsgründen verfolgte Produktdifferenzierung mit offensichtlichen Risiken behaftet. Zunächst sind hier einmal angesprochene Mehrkosten in allen Wertschöpfungsstufen zu nennen.368 Ferner bestehen signifikante markenpolitische Risiken in Form von Substitutionseffekten und bei der Markenführung in Form der Markenverwässerung.369 So zeigen bspw. die Diversifikationsbestrebungen bei VW mit dem Modell Phaeton und dem Luxusmarkenportfolio Bentley, Lamborghini und Bugatti negative Auswirkungen auf die Kernmarke in Form eines überteuerten Images.370 Der VW Betriebsratschef Klaus Volkert und der ehemalige Markenvorstand Wolfgang Bernhard skizzieren das entstandene Problem wie folgt: „Volkswagen muss jetzt überlegen, ob man dem Namen Volkswagen noch gerecht wird, wenn man ein großes Klientel nicht mehr bedienen kann, das nachweislich keine große 368
369 370
Vgl. exempl. Paul/ Harms (2004), S. 226, Becker (2007), S. 28, und Diez (2006), S. 148f. Laut Wildemann (1990) steigen bei einer Verdoppelung der Variantenanzahl die Stückkosten um 20-30 Prozent. Im Bereich Forschung und Entwicklung ergeben sich sowohl typspezifische Mehrkosten (Konstruktionsleistungen, Versuchsläufe etc.) als auch programmspezifische Mehrkosten (komplexere Plattformen aufgrund gestiegener Aufbauformen). In der Produktion erhöht die Varietät den logistischen Aufwand und die Umrüstkosten sowie die Anlagenkosten aufgrund der höheren Anforderung an Flexibilität. Schlussendlich steigen in Vertrieb und Service die Kosten aufgrund von typspezifischen Kommunikationsmaßnahmen sowie der gestiegenen Anzahl der Ersatzteile und der Vorführ-/Lagerfahrzeugen. Vgl. Diez (2006), S. 147, u. R. a. Meffert (2000), S. 448, Pischetsrieder (2006), S. 234f., und Becker (2007), S. 29. Bernd Pischetsrieder erwartete eine achtprozentige Mehrpreisbereitschaft für den VW Golf gegenüber der Konkurrenz Opel, Renault und Ford. Ein weiteres Beispiel für einen missglückten Premiumversuch ist der hochmotorisierte Passat W8. Vgl. Lamparter (2004).
Teil II: Strategische Ansatzpunkte zur Handhabung automobilwirtschaftlicher Herausforderungen
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Kaufkraft mehr hat." (Volkert (2004), zit. nach o. V. (2004), o. S.) „Gleichzeitig müssen wir feststellen, dass wir Schwächen haben, die nicht mit diesem Markenbild übereinstimmen. Zum einen sind wir kaum noch in der Lage, wirklich preiswerte Volkswagen anzubieten.“ (Bernhard (2005), zit. nach Ziesche & Esders (2005), o. S.)
Zudem führt im Allgemeinen die entstehende Segmentüberfüllung zu Orientierungsproblemen auf Kundenseite, da die ehemalige Signalwirkung von Marken aufgrund der internen Programmdiffusion zunehmend verloren geht. Auch Leendertse (2007) sieht in der Kundenüberforderung die Kehrseite der Individualisierung: „Auf diesen Weg [den der individualisierten Massenfertigung] hat sich in den vergangenen Jahrzehnten die deutsche Automobilindustrie gemacht, um mit dem persönlichen Wunschfahrzeug die Einheitsmodelle vor allem aus Japan zu übertreffen. Doch jetzt zeigt sich, dass viele Verbraucher das gar nicht wollen. Die meisten sind froh, wenn für sie eine Vorauswahl getroffen wird.“ (Leendertse (2007), S. 106)
Es ist daher anzudenken, ob eine marktkonforme Schärfung des Portfolios, um damit einerseits varietätsbedingte Kosten einzusparen und sich andererseits wieder klarer im Markt zu positionieren, sinnvoll ist.371 Eine nachträgliche Elimination von einzelnen, erfolglosen Produktlinien – wie bspw. der Audi A2 oder die BMW 8er-Serie – kann dabei jedoch nur als kosmetische Korrektur bezeichnet werden, da ein Großteil der Kosten bereits in der Forschung und Entwicklung angefallen sind.372 Vielmehr gilt es, bereits im Voraus den Marktund Markenfit der geplanten Modellreihen zu prüfen, wobei sich die Hersteller zunehmend weg von einer Produkt- hin zu einer Kundenorientierung bewegen müssen.373 Insbesondere im Volumenbereich scheinen hierdurch Einsparungspotenziale zu existieren, da oft ein kundengruppenorientiertes Packaging vom Kunden als Vorteil wahrgenommen wird; im Premiumbereich spielt hingegen die Individualisierung eine entscheidende Rolle.374 (b) Optimierung der internen Varietät durch modulare Plattformstrategien: Zur Optimierung der internen Varietät und damit zur Begrenzung variantenabhängiger Kosten eignen sich prinzipiell alle Strategien, die eine Gleichteileverwendung anstreben. Je nach Umfang kann hier-
371
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373 374
Auch bei den Expertengesprächen wurde die enorme Programmkomplexität thematisiert. Eine Programmschärfung auch vor dem Hintergrund des Markenfits wurde von einzelnen Gesprächspartnern durchaus als mögliche Option genannt. Dennoch muss diese Option, insbesondere im Premiumbereich, kritisch geprüft werden, da die Kundenanforderung an die Individualität sehr hoch sind. Allgemein wird davon ausgegangen, dass die Produkt- und Prozessentwicklung ca. 75-85 Prozent der kumulativen Produktlebenskosten festlegt. Vgl. hierzu exempl. Specht et al. (2002), S. 5, sowie die dort angegebene Literatur. Vgl. Pischetsrieder (2006), S. 235, und Diez/ Merten (2005), S. 69. Vgl. exempl. Leendertse (2007), S. 109f. Bernhard Grünewald, Markenmanager bei Toyota, äußerte sich zur komplexitätsreduzierten Variantenpolitik wie folgt: „Wir produzieren eine überschaubare Anzahl
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Teil II: Strategische Ansatzpunkte zur Handhabung automobilwirtschaftlicher Herausforderungen
bei zwischen Gleichteilen, Modulen (Kombination mehrerer Teile zu einer standardisierten, unabhängigen Baugruppe)375 sowie Plattformen376 (Zusammenfassung integraler Basisfunktionalitäten zu produktübergreifenden Standardbaugruppen) unterschieden werden.377 Die folgenden Ausführungen beziehen sich dabei auf Plattformen und die ihnen zugrunde liegende modulare Produktarchitektur:378 „Modularity [is …] an NPD [new product development] strategy in which the interfaces shared among the components of a given product architecture become standardized and specified to allow for greater substitutability of components across product families.” (Mikkola (2006), S. 130) „For a modular product, the goal is to cluster components according to similar functional impact and to reduce dependencies between components assigned to different clusters.” (Pil & Cohen (2006), S. 997, u. R. a. Gershenson et al. (2003))
Insbesondere die herbeigeführte funktionale (Wiederverwendbarkeit ohne Änderung an der eigentlichen Plattform) und physische Unabhängigkeit (Anschlussfähigkeit verschiedener Komponenten an die Plattform) sind für die Potenzialnutzung von Plattformen entscheidend.379 Auf der Kostenseite führt die Wiederverwendbarkeit zu einer Reduktion der internen,
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vorkonfigurierter Modell- und Ausstattungsvarianten, die den breiten Geschmack treffen und die Kunden gut erfassen können“ (Grünewald (2007), zit. nach Leendertse (2007), S. 110). Vgl. hierzu u. a. Pil/ Cohen (2006), S. 997, und auch die Ausführungen bei Hüttenrauch/ Baum (2008), S. 129ff. und insbesondere das Schaubild auf S. 131. Allgemein werden die Unabhängigkeit von Produktkomponenten und die Standardisierung von Schnittstellen als Definitionseigenschaften der Modularität hervorgehoben. Vgl. hierzu Sanchez/ Mahoney (1996), S. 65f. Meyer/ Lehnerd (1997) definieren Plattformen als: „a set of subsystems and interfaces that form a common structure from which a stream of derivative products can be efficiently developed and produced” (Meyer/ Lehnerd (1997), S. xii.). Vgl. zusammenfassend Diez (2006), S. 152, und Piller/ Waringer (1999), S. 64ff., sowie für eine Annäherung an Plattformstrategien auch Cornet (2002), Dudenhöffer (2000), S. 145, und Müller (2000b), S. 59ff. Eine Unterscheidung der einzelnen, auf Gleichteilen basierenden Strategien fällt aufgrund der unterschiedlichen Verwendung in der Literatur und Praxis schwer. Im Folgenden soll verallgemeinernd von Plattformen und Modulen gesprochen werden, wobei diese unterschiedliche Umfänge aufweisen können. Auch die von Pischetsrieder (2006) verwendete Modulstrategiedefinition ähnelt sehr stark der Plattformstrategie. Produktmodularisierung ist bereits seit Längerem Gegenstand des wissenschaftlichen Diskurses. Vorreiter hierbei waren Alexander (1964), Parnas (1972) und Suh (1984). Eine Methodologie hinter dem Konzept entwickelt sich aber nur sehr langsam. Vgl. Gershenson et al. (2003), S. 998, u. R. a. Ethiraj/ Levinthal (2004). Gegenposition der Modularität ist die Integralität. Hierbei werden die einzelnen Baugruppen in gegenseitiger Abhängigkeit optimiert. So nutzte Ferrari beim Sportwagen 360 Modena zur Gewichts- und Stabilitätsoptimierung die tragende Fähigkeit des Motors anstelle der Karosserie zur hinteren Achsaufhängung. Vgl. Müller (2000a), S. 44. Für die Gedankengänge zur Notwendigkeit der funktionalen und physischen Unabhängigkeit vgl. Göpfert (1998) und auch Cornet (2002), S. 63f., sowie Pfaffmann/ Stephan (2002), S. 390. Zur Anschlussfähigkeit von Modulen an Plattformen vgl. auch Tietze (2003), S. 89f., und die Ausführungen zur individuellen Modularisierung bei Piller/ Waringer (1999), S. 48.
Teil II: Strategische Ansatzpunkte zur Handhabung automobilwirtschaftlicher Herausforderungen
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kostentreibenden Varietät durch Standardisierung von nicht-kundenwerten Komponenten.380 Hierbei lassen sich nicht nur komplexitätsinduzierte Koordinationskosten reduzieren, 381 sondern auch Volumeneffekte aufgrund der breiteren Verwendung entwickelter Plattformen und Module erzielen.382 Der BMW Entwicklungs- und Einkaufsvorstand Klaus Draeger verdeutlicht den Effekt am Beispiel des Dieselmotors: „Bei unseren Dieselmotoren haben wir ganz konsequent auf das Thema Baukasten gesetzt. Es ist wirklich alles – von der Ventilfeder über das Ventil bis zur Einspritzdüse – identisch. Im Prinzip produzieren wir Millionen von Zylindern, mal sind vier, mal sind sechs im Paket.“ (Draeger (2008), zit. nach Ostmann (2008a), S. 141)
Die Wiederverwendbarkeit reduziert ferner das Fehlerrisiko, da in großem Maße auf bereits getestete Plattformen und Module zurückgegriffen wird.383 Vorteile auf der Kundenseite hingegen sind insbesondere im preisattraktiven Angebot eines umfangreichen Produktprogramms sowie in schnelleren Modellzyklen aufgrund tendenziell kürzerer Entwicklungszeiten384 zu sehen.385 Beschränkt man dabei die Idee der Modularisierung nicht auf das Gesamtfahrzeug, sondern betrachtet auch modulare Plattformen, so wird deren Varietät und Dynamik dahin gehend erhöht, dass eine Kombination einzelner Plattformen bzw. Plattformmodule zu neuen Plattformen ermöglicht wird.386 Imai (2000) beschreibt diesen Effekt wie folgt: „A platform is a subsystem, and therefore a platform made up of other platforms, or a combination of platforms, is possible. In other words, a combination of several platforms can create an entirely new system.” (Imai (2000), S. 313)
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Vgl. u. a. Niederländer (2000), S. 156, und Pischetsrieder (2006), S. 234. Für weitere Vorteile der Modularisierung vgl. auch die Aufstellung bei Burr (2004), S. 455, sowie die Ausführungen bei Piller/ Waringer (1999), S. 74ff. Vgl. hierzu auch Ethiraj/ Levinthal (2004): „ Modular designs are useful means of managing complexity” (Ethiraj/ Levinthal (2004), S. 159). Vgl. exempl. Marschner (2004), S. 129, und Cornet (2002), S. 64 und 72. Vgl. Cornet (2002), S. 74, u. R. a. Robertson/ Ulrich (1999), S. 76f. Ethiraj/ Levinthal (2004) halten hierbei im Kontext der Modularität fest: „Modularization, if carried out properly, is expected to accelerate product innovation primarily through two mechanisms, autonomous (within component) and modular (mix and match of modules) innovation” (Ethiraj/ Levinthal (2004), S. 159, u. R. a. Baldwin/ Clark (2000). Vgl. Marschner (2004), S. 129. Zu den einzelnen Vorteilen vgl. auch Cornet (2002), S. 71ff., Diez (1999a), S. 18, und Dudenhöffer (1995), S. 116ff., sowie zusammenfassend Diez (2006), S. 153. Wichtig ist anzumerken, dass Kunden bei Kenntnis einer Plattformverwendung niedrigere Preise erwarten. Vgl. Ebel/ Zatta (2005), S. 4. Vgl. hierzu auch die Überlegungen bei Pischetsrieder (2006), S. 235, und Mercer Management Consulting/ Hypovereinsbank (2001), S. 2. Piller/ Waringer (1999), S. 67f., nennen als Beispiel die Audi A4/A6 Plattform.
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Teil II: Strategische Ansatzpunkte zur Handhabung automobilwirtschaftlicher Herausforderungen
Hierauf aufbauend bestehen verschiedene Leveragemöglichkeiten je nach Ausgestaltung der Plattform (vgl. Abb. II-5).387 Diese sollen im Folgenden anhand der Optionen Varianten-, Marken- und Klassenleverage näher ausgeführt werden.
Abb. II-5:
Leveragemöglichkeiten innerhalb von Plattformen
Zunächst besteht die Möglichkeit, innerhalb einer Modellreihe eine Ausdifferenzierung über Varianten herbeizuführen (Variantenleverage), um damit spezifische Kundenwünsche zu befriedigen.388 Aufgrund des eher gering einzuschätzenden Leveragepotenzials, ist diese Plattformstrategie aber eher für Premiummodelle mit hohen Deckungsbeiträgen oder für Nischenanbieter zu empfehlen.
Verfügt ein Automobilhersteller über mehrere Marken, so bietet sich ein Markenleverage an, wobei Plattformen der gleichen Klasse über Marken hinweg mehrfach verwendet werden (bspw. Audi A3, VW Golf, Skoda Octavia und Seat Cordoba).389 Ein Extrem der markenübergreifenden Verwendung ist das „badge engineering“, bei dem annähernd gleiche Automobile unter verschiedenen Marken angeboten werden (z. B. der VW Polo und der Audi 50 in den 70er-Jahren des vorherigen Jahrhunderts und aktuell der Opel GT und der Saturn Sky).390 Neben dem firmeninternen Markenleverage gewinnt aber auch zunehmend das firmenübergreifende Markenleverage an Bedeutung. Fiat bspw. entwickelt fast alle neu
387
388
389 390
Vgl. hierzu in ähnlicher Weise auch Müller (2000a), S. 25. Hierbei ist aber auch auf die Risiken von Plattformstrategien zu verweisen. Plattformstrategien suggerieren eine quasi kostenfreie Möglichkeit der Produktproliferation. Durch diesen Irrglauben kann es schnell zu einer zu starken Programmdehnung kommen. Vgl. hierzu Diez (2006), S. 154, und Pischetsrieder (2006), S. 234f. Für einen Überblick über die Ausweitung der einzelnen Produktprogramme vgl. für den Premiumbereich Diez/ Merten (2005), S. 65f., Paul/ Harms (2004), S. 325, und allgemein Becker (2007), S. 27ff. BMW hat diese Art der Differenzierung bereits in den 80er-Jahren sehr stark vorangetrieben. Vgl. Niederländer (2000), S. 163. Beispielhaft kann hier die 3er-Reihe genannt werden, die als Limousine, Coupe, Cabrio und Touring produziert wurde. Vgl. Niederländer (2000), S. 164f. Insbesondere VW und Skoda machen sich aber aufgrund der Gleichteileverwendung interne Konkurrenz. Vgl. Ebel/ Zatta (2005), S. 3. Zum badge-engineering vgl. exempl. Diez (2006), S. 151, und Piller/ Waringer (1999), S. 105.
Teil II: Strategische Ansatzpunkte zur Handhabung automobilwirtschaftlicher Herausforderungen
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auf den Markt kommenden Fahrzeuge in Kooperation mit anderen Herstellern 391 und das Joint Venture Toyota Peugeot Citroën Automobile produziert in einem gemeinsamen Werk in Tschechien die baugleichen Kleinwagen Peugeot 107, Citroen C1 und Toyota Aygo.392
Eine Stufe weiter geht der Leverage über Fahrzeugklassen hinweg. In einem ersten Schritt wurde dieser bei Fahrzeugen angewendet, die äußerlich sehr stark divergieren, innerlich aber auf der fast gleichen Technik und Plattform aufbauen (z. B. Audi TT auf GolfPlattform oder Z3/4 auf 3er-Plattform). Die Modularisierung innerhalb von Plattformen ermöglicht aber weitaus breitere Einsatzmöglichkeiten durch Kombinatorik. So besteht der äußerlich sehr eigenständige Skoda Roomster aus einer neu entwickelten modularen Plattform an der Plattformmodule des Fabia (Vorderachsenbereich) und des Octavia (Hinterachsenbereich) angegliedert wurden.393 Einschränkend ist aber auf die Gefahr eines Leverage über zu viele Fahrzeugklassen hinzuweisen. Ein gutes Beispiel ist hier die Premier Automotive Group von Ford und die bekannten Probleme der Nutzung von FordKomponenten im Luxussegment.394
Unabhängig von der Art der Plattformverwendung unterscheidet sich der Umfang stark zwischen den einzelnen Herstellern. Als Vorreiter einer umfassend genutzten Plattformstrategie kann, wie auch schon die Beispielwahl zeigt, der VW-Konzern gelten, der primär konzerneigene Plattformen nutzt (3,7 Modelle pro Plattform).395 Der Fiat-Konzern hingegen fokussiert sich in letzter Zeit auf eine firmenübergreifende Plattformkooperation, hebelt nur sehr geringfügig das interne Plattformpotenzial und kommt dabei auf nur 2,3 Modelle pro Plattform.
(2)
Optimierung auf Fahrzeugebene – Bedarfsorientiertes Produktmanagement
Zielsetzung eines bedarfsorientierten Produktmanagements ist die Reduktion der Fahrzeugkomplexität ohne negative Einflüsse auf die Kundenwahrnehmung. Hierzu beitragen kann ein bedarfsorientiertes Technologiemanagement, das eine Fokussierung auf kunden- und wettbe-
391 392 393 394
Beispielhaft sei hier die Kooperation mit General Motors für den Nachfolger des Alfa Romeos 166 genannt. Ein firmenübergreifendes „badge-engineering“-Beispiel ist der VW Sharan, Seat Alhambra und Ford Galaxy. Vgl. o. V. (2006c). Vgl. Butler (2005), S. 41f. In diesem Zusammenhang stellt Diez (2006) fest: „Plattform-Strategien führen zwangsläufig zu einer Erosion des Wertes von Premiummarken“ (Diez (2006), S. 155). Ähnlich könnte es auch dem VW-Konzern gehen, der für den Bentley Continental GT/GTC und Flying Spur die Plattform des Phaeton/A8 nutzt.
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werbsrelevante Fahrzeugmerkmale vorantreibt (a). Neben dieser entwicklungsorientierten Reduktion der Fahrzeugkomplexität kann ergänzend die kundeninduzierte Komplexität im Absatz gesteuert werden (b). (a) Bedarfsorientiertes Technologiemanagement:396 Wie bereits in der Einleitung kurz angedeutet, fordern Experten zunehmend eine Fokussierung der Aktivitäten auf die DownstreamProzesse. Mercer Management Consulting & Fraunhofer Gesellschaft (2004) stellen in ihrer „Future Automotive Industry Study“ fest: „[…] Jede Automobilmarke benötigt zukünftig eine klare, marken- und baureihenorientierte Wertschöpfungskette […]“ (Mercer Management Consulting & Fraunhofer Gesellschaft (2004), S. 176). Anstelle einer Markenorientierung soll im Folgenden aber eine konsequente Bedarfsorientierung, die sich aus den Komponenten Kunden- und Wettbewerbsbedarf zusammensetzt, betrachtet werden. Hierdurch soll vom eigentlichen Produkt als Markenträger Abstand genommen und die Unternehmensexterne in den Fokus der Produktplanung gerückt werden. Erster Ansatzpunkt einer bedarfsorientierten Technologieorientierung ist eine konsequente Fokussierung auf die Kundenwünsche.397 Clark & Fujimoto (1991) beschreiben diese neue Ausrichtung, die als Differenzierungsmerkmal nicht mehr die klassischen Optionen Kosten und Qualität beinhaltet, als Produktintegrität, die den Kunden in den Mittelpunkt rückt, und fassen dabei zusammen: „But in many of today’s industries – including automobiles […] – neither component performance nor cost is the sole driver; in these industries product integrity has become the focus of competition. […] In essence, the customer is consuming the product experience, not the product itself. […] A powerful product concept […] defines the character of the product from a customer’s perspective.” (Clark & Fujimoto (1991), S. 30 und S. 281)
Für das Innovationsmanagement in der Automobilbranche bedeutet dies, dass nur derartige Innovationen im Rahmen der Kundenorientierung zu verfolgen sind, die den Kundenwert erhöhen. Hierunter fallen zunächst nutzenwerterhöhende Innovationen, wie bspw. das Navigationssystem.398 Dass hierbei innovativer Vorsprung nicht gleich mit Kundennutzen zu set-
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397 398
Vgl. Ebel/ Zatta (2005), S. 2. Vgl. hierzu und im Folgenden insbesondere Schindler (2006). Auch im Expertengespräch mit Hr. Löbig und Hr. Schmid vom 19.11.2007 wurde auf die Bedeutung eines kundenorientierten Technologie- und Produktmanagements hingewiesen. Vgl. hierzu auch ausführlich Oliver Wyman (2007), S. 14ff., und die Ausführungen zum anwenderbezogenen Qualitätsansatz und zur Kundenorientierung bei Schwarze (2003), S. 17 und 92ff. Vgl. hierzu auch Radtke et al. (2004), S. 90.
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zen ist, zeigt die erste Generation des iDrives von BMW.399 Aber auch branchenweit besteht noch Nachholbedarf in der Kundenorientierung, wie Hab et al. (2003) deutlich hervorheben: „Rund die Hälfte der Interviewpartner sind der Meinung, dass die Leistungsmerkmale des Endproduktes „Automobil“ bezogen auf den Kundennutzen stärker evaluiert und überprüft werden müssen. So ermöglicht der massive Einzug von Elektronik in das Auto heute Leistungsmerkmale, die der Endkunde zwar als selbstverständlich wahrnimmt, die jedoch im Betrieb des Fahrzeuges kaum genutzt werden.“ (Hab et al. (2003), S. 102)
Neben der Nutzenwertmaximierung spielt auch Markenrelevanz eine entscheidende Rolle. Die Marke dient als Instrument der Selbstdarstellung und steigert somit den Kundenwert,400 wobei zeitgleich die Marke im Wettbewerbsumfeld positioniert wird. Marktprägende Module (Abb. II-6)401 müssen also ergänzend zu den den Kundennutzen erhöhenden Modulen in die Ressourcenallokation mit einfließen.
Premiummarken relevante Module
Module mit geringer BMW-Markenrelevanz
Fahrwerks/Antriebselektr.
Komfortelektronik
Beleuchtungsanlagen
Dachsysteme (Exterieur)
Abgasanlage
Kommunik./ Entertainment
Boardnetz-/ Bussysteme
Antriebswellen/ Achsgetriebe
Dach (Interieur)
Fahrgastzelle
Fenster/ Glas
Sicherheitselektronik
Bremssysteme
Beatmung/ Gemischaufb.
Kühlung
Innenraumbelüftung
Front-/ Heckklappe
Getriebe
Lenkung
Insassenschutz
Sitze
Frontend/ Rearend
Hinterwagen
Hohe Fremdleistung sinnvoll
hohe Eigenleistung sinnvoll
BMW-Marken relevante Module
…
Abb. II-6:
Auswahl premiummarkenrelevanter Module am Bsp. BMW Quelle: verändert übernommen aus Becker (2007), S. 109.
Im Rahmen eines bedarfsorientierten Technologiemanagements spielen neben der Orientierung am Kunden auch Differenzierungsüberlegungen jenseits der vom Kunden wahrnehmbaren, aber kostentreibenden Bereiche eine Rolle. Das Network of Automotive Excellence, eine Zusammenarbeit von Audi, Mercedes-Benz, BMW und deren Zulieferunternehmen, hat zur Zielsetzung, gerade in diesem Bereich unternehmensübergreifend Kosten zu sparen. Klaus Alters, Leiter des Komplexitätsmanagements von Audi, beschreibt die Motivation wie folgt:
399 400 401
Vgl. Schindler (2006), S. 111f. Entscheidend ist hierbei die richtige Vermittlung und Kommunikation der neuen Technik. Vgl. Oliver Wyman (2007), S. 16. Vgl. hierzu exempl. Diez (2003), S. 47, und Diez (2006), S. 523. Vgl. hierzu auch Berret (2006), S. 77, und Dudenhöffer et al. (2007), S. 4.
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Teil II: Strategische Ansatzpunkte zur Handhabung automobilwirtschaftlicher Herausforderungen
„Wir haben in Deutschland alle das Problem, dass diejenigen, die weniger Varianten anbieten, in unsere Kernmärkte hinein wollen. Wir müssen überlegen, wo Synergien sind, die nicht im wettbewerbsrelevanten Raum liegen. Ein Beispiel dafür wäre etwa ein Elektromotor für einen Fensterheber“ (Alters (2006), zit. nach Andres (2006))402
Relativierend bleibt aber festzuhalten, dass auch in Bereichen jenseits der Kundenwahrnehmung wettbewerbsdifferenzierende Innovationen liegen können. So stärkt bspw. BMW durch die Innovationen im Bereich Wasserstoffantriebe nachhaltig seine Position in einem Zukunftsmarkt ohne ersichtliche Kundenrelevanz in der Gegenwart. (b) Steuerung der kundeninduzierten Produktproliferation: Neben der Reduktion der reellen Produktkomplexität durch eine Reduktion auf bedarfsrelevante Innovationen kann eine Reduktion der Angebotskomplexität auch nach der eigentlichen Leistungserstellung durch den Vertrieb erfolgen. Hierbei ist zwischen einer faktischen Steuerung und Beeinflussung der kundeninduzierten Komplexität und einer suggestiven Steuerung durch Beeinflussung des Konsumentendenkens zu unterscheiden. Die faktische Reduktion der Komplexität durch den Vertrieb kann durch den Einsatz von Ausstattungspaketen und das Angebot von Sondermodellen erfolgen. Je nach Umfang sind Ausstattungspakete entweder bewusst installierte Interdependenzen zwischen einzelnen Sonderausstattungen, die die Kombinationsmöglichkeiten des Kunden einschränken,403 oder zielgruppenspezifische, meist preislich attraktive Ausstattungsbündelungen, wie bspw. das BMW M-Paket für den sportlich ambitionierten Fahrer.404 Zuletzt bieten Sondermodelle durch die ausgeprägte Vorkonfiguration Standardisierungsvorteile. Ihren Einsatz finden sie entweder preislich aggressiv im Markt positioniert als Abverkaufskanal für Auslaufmodelle oder als limitierte Sonderserien zur gezielten Bearbeitung spezieller Kundenschichten. Die suggestive Steuerung durch Beeinflussung des Konsumentendenkens kann direkt im Kontakt mit dem Kunden durch das Vertriebspersonal am Point of Sale erfolgen. Ferner kann eine indirekte Beeinflussung über verschiedene Kommunikationskanäle geschehen. Im Bereich der klassischen Werbung können bspw. einzelne Ausstattungsdetails, Linien oder Farb-
402
403
Ähnlicher Meinung ist auch Dr. Klaus Draeger, Entwicklungs- und Einkaufsvorstand der BMW Group: „Damit wir auch profitabel wachsen, müssen wir möglichst viele Gleichteile im nicht kundenrelevanten Bereich verwenden und dennoch die einzelnen Modelle und Marken deutlich differenzieren“ (Draeger (2007), zit. nach BMW AG (2007b), S. 5). Vgl. hierzu und im Folgenden insbesondere Diez (2006), S. 146, und zum Gedanken des Preisvorteils und der Komplexitätsreduktion Schlegel (1978), S. 72, sowie zum Aspekt der Zielgruppenbearbeitung auch Bauer et al. (1997), S. 3. So sind Ledersitze oft nur mit Sitzheizung bestellbar und Regensensoren mit einer bestimmten Frontscheibe.
Teil II: Strategische Ansatzpunkte zur Handhabung automobilwirtschaftlicher Herausforderungen
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kombinationen gezielt an den Konsumenten übermittelt werden, um somit zu versuchen, sein Kaufverhalten in die gewünschte Richtung zu lenken. Ferner spielt der Konfigurator eine entscheidende Rolle in der Automobilbranche. Durch die Interaktion kann ähnlich wie in einem Verkaufsgespräch das Verhalten der Konsumenten gezielt beeinflusst werden. Das Tracking von registrierten Benutzern ermöglicht zudem Rückschlüsse auf die präferierte Ausstattungskombination, die wiederum in die Paket- und Sonderreihengestaltung einfließen können.
(3)
Potenziale durch das Automobil als Systemgeschäft
Der bereits thematisierte Margendruck bringt insbesondere das Neuwagengeschäft zunehmend in Bedrängnis. Zudem bewirkt das rechtliche Umfeld, insbesondere die GVO 1400/2002, dass immer mehr alternative Vertriebsformen in den Markt der Neuwagenverkäufe drängen. So geht die Studie „Systemprofit Automobilvertrieb 2015“ von Mercer Management Consulting (2005) im Worst-Case-Szenario davon aus, dass der OEM-Anteil am Neuwagengeschäft von heute 75 Prozent durch das Emporkommen von freien Leasinggesellschaften, Autovermietungen und Mega-Dealern (Mehrmarkenhändler) auf 50 Prozent sinken könnte. Ein Umdenken ist daher gefragt, welches das Automobil als entscheidende, aber nicht alleinige Säule im Herstellergeschäft sieht, auf dessen Basis weitere rentable Systemgeschäfte, insbesondere Finanzdienstleistungen (a) und Teile- und Zubehörverkäufe (b) aufsetzen: „Der Fahrzeugkauf dient als profitabler Einstieg in das Geschäftsmodell“ (Mercer Management Consulting (2005), S. 12).405 (a) Finanzdienstleistungen: Das Finanzdienstleistungsgeschäft406 stellt eine der wichtigsten Säulen des automobilen Systemgeschäfts dar. Momentan werden bereits rund 75 Prozent aller in Deutschland zugelassenen Fahrzeuge finanziert oder geleast, wobei der Trend aufgrund der sinkenden Kaufkraft der Kunden im Volumensegment (Pay-As-You-Earn-Effekt)407 und dem _______________________________________________________________________________________ 404 405 406
407
Die Preisvorteile für den Kunden werden durch die komplexitätsinduzierten Kostenvorteile sowie den tendenziell höheren Sonderausstattungsumfang auf Herstellerseite ausgeglichen. Vgl. u. a. Mercer Management Consulting (2005), S. 1ff., sowie auch Blanchet/ Rade (2006), S. 204f., Diez (2006), S. 167, und Marschner (2004), S. 127f. Das Finanzdienstleistungsgeschäft setzt sich insbesondere aus der Finanzierung und dem Leasing zusammen. In jüngster Vergangenheit diversifizierten die Herstellerbanken jedoch zunehmend ihr Produktportfolio und bieten nun auch „klassische“ Bankdienstleistungen wie Girokonten und Kartenprodukte an. Vgl. allgemein zu den Finanzdienstleistungen Diez (2006), S. 166ff., und Mummert Consulting (2003), S. 14ff. Unter dem „Pay-As-You-Earn”-Vorteil versteht man den Liquiditätseffekt, der sich aus einer Parallelisierung der Einnahmen und Ausgaben ergibt. Vgl. Diez (2006), S. 167.
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wachsenden Anteil an gewerblichen Kunden in Zukunft noch an Bedeutung gewinnen wird.408 Aus Sicht der Hersteller ergeben sich durch Finanzdienstleistungen insbesondere Vorteile bei der Absatzförderung, Kundenbindung und in der Gewinnerzielung.409 Absatzpolitisch bieten Leasing und Finanzierung aufgrund der geringen Vergleichbarkeit preispolitische Potenziale ohne langfristige Auswirkung auf das Preisgefüge. Zudem werden aufgrund der Kostenintransparenz im Finanzierungsbereich tendenziell höherwertige Fahrzeuge nachgefragt und diese öfter ersetzt.410 Im Rahmen des Kundenbindungsmanagements ergeben sich weitere Vorteile aufgrund der vertraglich geregelten Kundenkontakte.411 Die rechtlichen Bedingungen, vor allem die neue GVO, verschärfen jedoch das Wettbewerbsumfeld für Herstellerbanken und OEM.412 Unabhängige Finanzdienstleister dehnen ihr Geschäft auf Kleinunternehmen und Privatleute aus und bieten so dem Händler Alternativen zur Herstellerbank.413 Im Bereich der händlerunabhängigen Kredite (Outside-Point-of-Sale) und im Gebrauchtwagenmarkt dominieren die traditionellen Geschäftsbanken, die ihrerseits wiederum über Fuhrparkunternehmen und freie Händler in den Markt der „Point-of-Sale“Kredite vorstoßen.414 Reaktionsmöglichkeiten liegen für OEM in exklusiven Angebotspaketen, die nur durch den engen Herstellerkontakt möglich sind. Hierzu bedarf es aber für ein Komplettangebot intensiver Kooperationen, insbesondere in bislang vernachlässigten Bereichen wie dem Versicherungswesen.415 Ferner muss der Erstzugang zum Kunden durch bspw. Probefahrten oder Verkaufsgespräche genutzt werden, um die zusätzlichen Dienstleistungen emotional mit dem Kernprodukt zu verbinden.416
408 409 410
411 412 413 414
415 416
Zur Übersicht über die Kreditentwicklungen in Europa vgl. Blanchet/ Rade (2006), S. 188f. Vgl. hierzu und im Folgenden insbesondere Diez (2006), S. 166f. Bei einer Umfrage des Arbeitskreises Autobanken über den Einfluss des Leasings bzw. der Finanzierung auf den Neuwagenkauf antworten 48 Prozent der Befragten, dass sie eine umfangreichere Ausstattung gewählt haben, als dies beim Barkauf der Fall gewesen wäre (37 Prozent Neuwagen statt Gebrauchtwagen; 29 Prozent früherer Anschaffungszeitpunkt, 23 Prozent größeres Modell). Vgl. Arbeitskreis der Automobilbanken (2006), S. 14. Ferner verkürzt sich die Haltedauer von 66 Monaten bei Kaufwägen auf 37 Monate bei Leasingfahrzeugen. Vgl. Schürmann (2005), S. 18. Studien zeigen, dass die Kundenbindung bei finanzierten oder geleasten Fahrzeugen tendenziell höher als bei Kauffahrzeugen ist. Vgl. exempl. Arbeitskreis der Automobilbanken (2006), S. 15. Vgl. Diez (2006), S. 171, sowie die dort angegebene Literatur. Vgl. Mercer Management Consulting (2005), S. 7. Vgl. hierzu u. a. Blanchet/ Rade (2006), S. 190f., Mercer Management Consulting (2005), S. 7, und Diez (2006), S. 172. So hat die CC-Bank in Deutschland bereits einen Marktanteil von 10 Prozent bei Neuwägen und 20 Prozent bei Gebrauchtwägen. Vgl. hierzu Mercer Management Consulting (2005), S. 7. Vgl. Diez (2006), S. 172. Dieser Effekt funktioniert schon sehr gut bei Statussymbolen wie bspw. Kreditkarten. Vgl. Blanchet/ Rade (2006), S. 203. Zur vollen Potenzialausnutzung müssen aber auch originär negative Produkte positiv emotionalisiert werden.
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(b) Teile-/ Zubehörgeschäft und Services: Die Situation im Teile- und Zubehörgeschäft wird durch die Eurodesign-Verordnung nachhaltig verändert. Deren Einführung ermöglicht Zulieferern die Herstellung und den Vertrieb von OEM-Ersatzteilen ohne Zustimmung der einzelnen Händler unter Einhaltung bestimmter Qualitätsstandards. Die entstehenden IAMKanäle417 erlauben den Direktvertrieb rabattierter Originalteile an freie Werkstätten.418 Die Unternehmensberatung Roland Berger schätzt, dass im Zuge der Einführung der EurodesignVerordnung der Anteil von OEM-vertriebenen Originalteilen von heute 77 Prozent auf 25 Prozent mit signifikanten Auswirkungen auf die Profite aus dem Ersatzteilgeschäft fallen könnte.419 Reaktionsmöglichkeiten auf Herstellerseite bestehen nur sehr beschränkt. Eine Möglichkeit wäre die Etablierung einer Billigmarke, um am aufstrebenden Markt für Billigersatzteile partizipieren zu können. Kritisch zu prüfen sind hierbei aber die Auswirkungen auf die Kernmarke. Ferner sichert der Vertrieb über die Vertragshändler ein gewisses Grundvolumen, das jedoch aufgrund des schlechten Preis-Leistungs-Images der Vertragswerkstätten sowie der durch die GVO 1400/2002 ermöglichten Trennung von Vertragshandel und Service gefährdet ist.420 Dennoch können die OEM im Ersatzteilebereich aufgrund ihres Vollsortimentsangebots einen strategischen Vorteil gegenüber den IAM-Anbietern sichern.421 Zudem lässt die Produktmodularisierung Überlegungen eines Add-on-Geschäfts zu. Hierunter wird allgemein die nachträgliche Aufwertung von Automobilen durch Zusatzmodule verstanden, die aufgrund ihrer Systemintegrität tendenziell durch die OEM zu vertreiben sind. Denkbar im Bereich Elektronik wäre bspw. das Aufspielen eines softwaregestützten Fahrwerk- und Motorensetups. So könnte z. B. im Premiumbereich der tendenziell besserverdienende, seniore Neuwagenkäufer eine Komforteinstellung wählen und der jüngere Gebrauchtwagenkäufer im gleichen Fahrzeug nachträglich ein Sportsetup aufspielen.422 Etwas anders sieht momentan noch die Situation im Servicebereich aus. Die technische Entwicklung und die Qualitätsverbesserung der Fahrzeuge führen zwar zu einer Verringerung
417 418 419 420 421
Allgemein wird in der Automobilbranche zwischen Independent-Aftermarket-Kanälen (IAM) und Original-Equipment-Supplier-Kanälen (OES) unterschieden. Vgl. hierzu auch Blanchet/ Rade (2006), S. 187f. Vgl. hierzu Blanchet/ Rade (2006), S. 184f., Mercer Management Consulting (2005), S. 8, und Diez (2006), S. 180. Vgl. hierzu Diez (2006), S. 179. Vgl. Blanchet/ Rade (2006), S. 187f. Hierbei ist jedoch festzuhalten, dass auch dieser Wettbewerbsvorteil gefährdet ist, da IAM-Großhändler wie Temot und ATR sowohl in Angebots- als auch in Servicequalität aufschließen.
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der Wartungs- (1980: 1,5-mal pro Jahr, 2005: 1-mal pro Jahr) und Reparaturhäufigkeit (1980: 1,4-mal im Jahr, 2005: 0,8-mal pro Jahr), dieser Effekt wird aber durch die steigende Gesamtzahl an Fahrzeugen überkompensiert.423 Auch die oft befürchtete Konkurrenz von freien Werkstätten, insbesondere den sogenannten Fast-Fittern, konnte bislang empirisch nicht nachgewiesen werden;424 alleinig bei den Fahrzeugen mit hohem Alter haben die freien Anbieter (46 Prozent) die Vertragswerkstätten (33 Prozent) überholt.425 Dennoch gefährden auch hier die rechtlichen Rahmenbedingungen, insbesondere die reparaturunabhängige Herstellergarantie und die Trennung von Service und Handel, die Stellung der OEM, indem sie neue Kooperationsmöglichkeiten zwischen Händlern und freien Werkstätten, vor allem im Bereich Mehrmarkenvertrieb, ermöglichen. Mögliche Resultate derartiger Liberalisierungsbestrebungen zeigen die Märkte Amerika und Großbritannien mit einem geringen Vertragswerkstättenanteil von ca. 35 Prozent.426 Reaktionsmöglichkeiten ergeben sich für den Hersteller auch in diesem Bereich in sehr limitiertem Umfang. Als Reaktion auf den steigenden Anteil von freien Serviceketten (White-Laber-Werkstätten und Fast-Fitter) versuchen OEM, vermehrt in dieses Geschäftsmodell vorzustoßen.427 Ferner verhelfen die technische Komplexität und damit der hohe Reparaturaufwand den OEM zu strategischen Vorteilen. Der Verkauf von Spezialwerkzeugen und Prognosegeräten an freie Werkstätten ist mittlerweile zwar gesetzlich bestimmt, die teuren Anschaffungskosten und das sehr limitierte Einsatzspektrum erschweren aber oft die Anschaffung für kleinere Werkstätten.428 Zur nachhaltigen Sicherung des Systemprofits müssen OEM das volle Potenzial integrierter Geschäftsmodelle nutzen. OEM sind offensichtlich die einzigen Anbieter im Markt, die den kompletten Produktlebenszyklus durch Produkte und Services (Neuwagenkauf, Wartung und
_______________________________________________________________________________________ 422
423 424
425 426 427
428
Auch im Rahmen des Gespräches mit Herrn Dr. Alexander Suhm, persönlich-mündlich am 09.11.2007, wurde ausführlich die Option eines automobilen Systemgeschäfts mit nachträglichen modularen Add-ons diskutiert. Vgl. Diez (2006), S. 177, u. R. a. Deutsche Automobil Treuhand (2006), S. 26ff. Der Marktanteil über alle Fahrzeugalter hinweg ist seit 1998 bei den Vertragswerkstätten auf einem stabilen Niveau von 50-55 Prozent, die freien Werkstätten kommen stabil auf 25-30 Prozent. Vgl. Deutsche Automobil Treuhand (2006), S. 36. Vgl. Deutsche Automobil Treuhand (2006), S. 36. Vgl. Mercer Management Consulting (2005), S. 8. Ford kaufte bspw. 1999 die Kwik-Fit Holding, zu der auch die deutsche Tochtergesellschaft Pit-Stop Auto Service GmbH gehört (mittlerweile in Private Equity Besitz) und Renault, GM und Citroen positionierten die Werkstattketten Motrio, ACDelco und Eurorepair am Markt. Vgl. Mercer Management Consulting (2005), S. 8. Vgl. Blanchet/ Rade (2006), S. 183.
Teil II: Strategische Ansatzpunkte zur Handhabung automobilwirtschaftlicher Herausforderungen
93
Reparatur, Rück-/Wiederverkauf) abdecken können.429 Als Differenzierungsoption müssen zielgruppenorientierte, integrative, sich über die einzelnen Wertschöpfungsstufen erstreckende Pakete geschnürt werden.430 So wäre es bspw. denkbar, Pakete in Abhängigkeit der jeweiligen Lebensumstände der Kunden zu entwickeln, die abgestimmte Fahrzeugkonzepte, Finanzierungs-, Versicherungs- und Zusatzdienstleistungen beinhalten.431
II.1.3
Wettbewerbsstrategien im reifen Markt
Betrachtet man die Automobilindustrie als reifen Markt, so stellt sich zwangsweise die Frage nach verbleibenden Differenzierungsoptionen für die Automobilhersteller. Insbesondere vor dem Hintergrund standortbedingter Faktorkostennachteile in Europa und Nordamerika und dem zunehmenden asiatischen Konkurrenzdruck ist eine nachhaltige Positionierung im Wettbewerb entscheidend. Im Folgenden sollen daher ausgewählte Differenzierungsoptionen diskutiert werden, die trotz der Marktreife Potenziale bieten (1). Anschließend erfolgt eine kritische Beurteilung der Potenziale hinter einer Strategie der Kostenführerschaft für die Automobilhersteller der Triademärkte (2), um auch kostenseitig im Hinblick auf die asiatische Konkurrenz wettbewerbsfähig zu bleiben.
(1)
Integratives Markenmanagement als Differenzierungsoption im Rahmen der Kundenorientierung
Aufgrund der zunehmenden Technologiediffusion sowie der zunehmenden Anpassung der Fahrzeugeigenschaften und -konzepte wird es für die Automobilhersteller immer schwieriger, sich über technologische Innovationen bzw. Produkteigenschaften einen lang anhaltenden Wettbewerbsvorteil zu sichern.432 Das Markenmanagement gewinnt deshalb für eine nachhaltige Differenzierung an Relevanz.433 Die Hersteller werden sich verstärkt Marken prägenden Elementen wie Design, Markenerlebnis, Image sowie Vertriebs- und Servicestrategien zu-
429 430 431
432
Vgl. Blanchet/ Rade (2006), S. 204f. Vgl. Mercer Management Consulting (2005), S. 12ff., und Diez (2006), S. 173. Vgl. hierzu auch Mercer Management Consulting (2005), S. 18. Ein Familienpaket bspw. könnte neben einer günstigen 3-Wege-Finanzierung des PKW, Finanzdienstleistungen wie eine Lebensversicherung oder auch Sonderkonditionen für Zweitwägen sowie Garantien zur Sicherung der Familienmobilität beinhalten. Vgl. Pointner (2004), S. 74, Pischetsrieder (2006), S. 231f., Heß (1998b), S. 1f., und Mercer Management Consulting/ Fraunhofer Gesellschaft (2004), S. 10.
94
Teil II: Strategische Ansatzpunkte zur Handhabung automobilwirtschaftlicher Herausforderungen
wenden müssen.434 Jürgen Hubbert, ehemaliges Vorstandsmitglied der DaimlerChrylser AG, erkannte diesen Trend schon 2001 und führte dazu aus: „Brands are becoming more and more important. We will have to sell by brand because products are becoming more and more comparable […].” (Hubbert (2001), zit. nach Pointner (2004), S. 73f.)
Um eine ganzheitliche, markenorientierte Ausrichtung des Unternehmens zu erreichen, müssen alle Schritte entlang der Wertschöpfungskette daraufhin überprüft werden, welche Bedeutung sie für die Marke und damit für den Unternehmenserfolg haben (Markenintegration).435 Heß (1998b) spricht hierbei auch von einer „integrated ownership experience“, die sich aus dem Kauf- und Serviceerlebnis (händlerdominiert) sowie den Produkt- und sonstigen Markenerlebnissen (herstellerdominiert) zusammensetzt.436 Produktpolitische Elemente des Markenmanagements wurden bereits im Rahmen der Produktstrategien thematisiert. Neben dem eigentlichen Produkt spielen aber auch die Preis-, Distributions- und insbesondere die Kommunikationspolitik vor dem Hintergrund des integrativen Markenmanagements eine wichtige Rolle.437 Die Preispolitik hat vor allem im Volumenbereich eine hohe Relevanz. Vor dem Hintergrund des zunehmenden Preisdrucks im Markt müssen sich Volumenhersteller preisgünstig im Markt positionieren (Aufbau einer Value-for-Money-Marke). Eine preisaggressive Reaktion auf die aufkommende asiatische Konkurrenz ist langfristig aufgrund der schlechteren Kostenposition nicht durchzuhalten und führt eher zu einer weiteren Intensivierung des Preisproblems. Auch im Premiumbereich spielt die Preispolitik und insbesondere die Preisabfolgepolitik in der Markenbildung eine entscheidende Rolle. Die geringe Preiszufriedenheit aufgrund der teuren Neuwagenpreise im Premiumsegment muss durch ein Preisvertrauen durch Preissicherheit kompensiert werden. Sondermodellaktionen und ein lebenszyklusorientiertes Pricing sowie hohe individuelle Rabatte können dieses Vertrauen nachhaltig schädigen. _______________________________________________________________________________________ 433 434 435
436 437
Vgl. u. a. Landesbank Baden-Württemberg (2002), S. 6, Diez (2003), S. 44, und Heß (1998b), S. 1. Vgl. Mercer Management Consulting/ Fraunhofer Gesellschaft (2004), S. 5f. Vgl. Gottschalk (2005), S. 15ff., Mercer Management Consulting (2003a), o. S. und die Überlegungen bei Heß (1998a), S. 19. Das Verständnis der Markenintegration in dieser Arbeit unterscheidet sich aber grundlegend von dem Verständnis von Pointner (2004), S. 81ff. Dieser sieht in der Markenintegration die alleinige Konzentration auf die Downstreamprozesse und geht soweit, dass im Extrem die komplette Entwicklung und Produktion ausgegliedert sind und der Hersteller sich alleinig um die Vermarktung kümmert. Dies ist jedoch als problematisch einzustufen, da somit die Substanz der Marke nicht mehr für den Kunden ersichtlich ist und Vertrauens- und Identifikationsprobleme entstehen können. Vgl. Heß (1998b), S. 15f. Vgl. Diez (2006), S. 547f., und Heß (1998a), S. 18.
Teil II: Strategische Ansatzpunkte zur Handhabung automobilwirtschaftlicher Herausforderungen
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Bei der Distributionspolitik ist insbesondere die Marken prägende Bedeutung eines selektiven Vertriebssystems und des Direktvertriebs über Niederlassungen hervorzuheben, da hierdurch konsistente und umgreifende Markenwelten im Kundenkontakt aufgebaut werden können.438 Hierzu äußert sich der ehemalige Vertriebsleiter der Region V1 (Deutschland) der BMW Group Ludwig Willisch439 in einem Interview wie folgt: „[…] Niederlassungen sind nach wie vor integraler Bestandteil unserer Vertriebsstrategie in Deutschland. [… ] Dieser Premium-Gedanke [gilt] auch für den Kontakt mit dem Kunden und Interessenten, für Produktpräsentation und Service.“ (Willisch (2007), zit. nach BMW AG (2007f), S. 13)
Dabei wirkt die gesamte Instore-Kommunikation – d. h. die Einrichtung, die Ausstattung, das Ambiente und nicht zuletzt das Service- und Verkaufspersonal – auf das Markenbild des Unternehmens ein.440 Thiemer (2004) verweist in diesem Zusammenhang auch auf die Relevanz sogenannter erlebnisorientierter Kommunikationsplattformen für die Automobilhersteller und definiert diese als: „alle hersteller- bzw. markeneigenen, physischen, dreidimensionalen, realen, dauerhaften oder temporären Orte mit Kommunikationsabsicht, an denen die Möglichkeit zu einer persönlichen (face-to-face) Begegnung zwischen Plattformbesucher und der Marke besteht.“ (Thiemer (2004), S. 77)
Die Relevanz derartiger erlebnisorientierter Plattformen erklärt sich Heß (1998b) durch die zunehmende Erlebnisorientierung der Kundschaft und knüpft an: „Speziell in der Automobilwirtschaft geht der Begriff “Marke” weit über die Sphäre der physischen Produkte und die Markenimages hinaus. Mehr noch als in anderen Branchen knüpft die Einordnung der Marke im Vorstellungs- und Erlebnisraum der Konsumenten hier an den sogenannten “Momenten der Wahrheit” an.“ (Heß (1998b), S. 5)
So verwundert es wenig, dass mittlerweile fast alle Automobilhersteller Markenwelten an ihrem Hauptsitz eröffnet haben, die einen markenkonformen Vertrieb und eine erlebnisorientierte Auslieferung ermöglichen. Weitreichende Präsentationsflächen dienen ferner der Produktkommunikation und angeschlossene Museen vermitteln die automobile Tradition der jeweiligen Unternehmen.441 Laut Stenzel (2001) entdeckt „die Automobilindustrie […] das Erlebnismarketing“ (Stenzel (2001), S. 36). 438 439 440 441
Vgl. Diez (2006), S. 547f. Seit Januar 2008 ist Ludwig Willisch Geschäftsführer der BMW Motorsport GmbH. Vgl. Thiemer (2004), S. 59, und auch die Überlegungen zum Handelsmarketing bei Büker (1994), S. 308. Vgl. Thiemer (2004), S. 108f., sowie die dort angegebene Literatur. Als einer der letzten deutschen Premiumhersteller hat BMW im Herbst 2007 die BMW Welt als erlebnisorientiertes Auslieferungszentrum in München eröffnet. Vgl. BMW AG (2007a), S. 13. Michaela Mattejat, Leiterin des Teilprojekts „Mar-
96
Teil II: Strategische Ansatzpunkte zur Handhabung automobilwirtschaftlicher Herausforderungen
Im Rahmen der Kommunikationspolitik gilt es, den Fit zwischen der Ideenwelt (durch die Marke suggeriert) und der realen Welt (Erfahrungen des Konsumenten) herzustellen, wobei insbesondere bei Premiummarken das Image der Fahrer ein aktiv-integraler Bestandteil der Markenbildung ist.442 Neben klassischen Aufgaben der Kommunikationspolitik443 stellt die zunehmende Ökologisierung der Gesellschaft die Automobilindustrie vor besondere marketingpolitische Herausforderungen, wobei speziell in diesem Bereich noch Defizite in der Markenführung existieren: „Umwelt und Klimaschutz bleibt ein zusätzliches und anderen Faktoren untergeordnetes Werbemotiv. Kein Hersteller hat bisher, wie Prof. Ferdinand Dudenhöffer (FH Gelsenkirchen) fordert, den Klimaschutz in seinem Markenkern verankert.“ (Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (2007), S. 8)
Fahrzeuge mit alternativen Antrieben (bspw. die Hybridmodelle von Lexus)444 oder auf Basis umweltbewusster, konventioneller Antriebe (bspw. Mercedes-Benz BlueTec, Audi TDI e, VW BlueMotion)445 müssen daher bewusst durch ihre Kernstärken wie niedrigen Verbrauch und geringe Emissionswerte im Markt platziert werden, wobei hierdurch sowohl zusätzliche Zielgruppen erschlossen als auch positive Effekte für das Unternehmensimage erzielt werden.446 Dr. Klaus Draeger, Entwicklungs- und Einkaufsvorstand von BMW, hebt in seinen Äußerungen den Stellenwert alternativer Antriebskonzepte für das Marketing hervor: „Wir werden […] in absehbarer Zeit auch mit Vollhybridfahrzeugen antreten und setzen langfristig nach wie vor auf den Wasserstoff-Antrieb. All das bringt uns aktuell ein hervorragendes Image bei Kunden und Medien […].“ (Beham (2007), zit. nach BMW AG (2007b), S. 5)447 _______________________________________________________________________________________
442 443
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446
447
kenauftritt“ bei der BMW Group, sieht die Aufgabe der neuen BMW Welt „als Bühne für Produktneuheiten, Studien und Innovationen, aber auch für Themen, die Haltung und Werte der Marke BMW vermitteln.“ (Mattejat (2007), zit. nach BMW AG (2007d), S. 15). Vgl. Diez (2006), S. 148f., u. R. a. Meffert/ Burmann (2002), S. 54, und Diez (2006), S. 549f. Klassische Bereiche der Kommunikationspolitik sind die Werbung, die Direktkommunikation, die Verkaufsförderung, Public Relations, Sponsoring, Product Placement, das Event-Marketing, Messen und Ausstellungen. Vgl. exempl. Thiemer (2004), S. 57. Vgl. Becker (2006), S. 31ff. Ein weiteres Beispiel für ein marktreifes Fahrzeug im Bereich alternativer Antriebsformen ist der BMW Hydrogen 7 auf Wasserstoffbasis. Vgl. BMW AG (2007e), S. 2. Für den Mercedes BlueTec vgl. Weber (2006) und auch o. V. (2007i) sowie das BlueTec Portal von Mercedes-Benz (2007). Für den Audi TDI e o. V. (2007a) und für das Programm VW BlueMotion Volkswagen AG (2007) und o. V. (2007b). Vgl. Kalmbach (2006), S. 42. BMW bewirbt bspw. gezielt seine umweltorientierten Innovationen zur Reduzierung beim CO2-Ausstoß und beim Verbrauch im Fahrzeug- und insbesondere im Motorenbereich durch das Programm EfficientDynamics. Vgl. hierzu BMW AG (2007c), S. 5. Ähnlichen Stellenwert räumt auch der Experte Georg Kacher den Hybridantrieben von Lexus ein: „Die neuen Fahrzeuge treffen die Konkurrenz genau dort, wo es weh tut – mit gefälligen Formen, aufwendigen Interieurs, stark verbessertem Fahrverhalten und Hybrid-Antrieb“ (Kacher (2005), o. S.).
Teil II: Strategische Ansatzpunkte zur Handhabung automobilwirtschaftlicher Herausforderungen
97
Für die meisten Automobilhersteller beschränken sich Herausforderungen jedoch nicht auf eine Marke. Bedingt durch den Konzentrationsprozess müssen die meisten Hersteller mehrere Marken managen und diese möglichst überschneidungsfrei am Markt positionieren.448 Nur wenn die Marken sich nicht kannibalisieren oder gegenseitig verwässern, d. h., wenn jede Marke eine für den Kunden klar wahrnehmbare und stimulierende Identität besitzt, kann das volle Vielfaltspotenzial eines ausgeglichenen Markenportfolios genutzt werden.449 Nach Ludwig Willisch ist daher eine eigenständige Markenpolitik im gesamten Marketingmix entscheidend, wie er am Beispiel Mini verdeutlicht: „Diese Markentrennung im Auftritt entsprach schon immer der MINI Markenstrategie. Die Trennung ist eine Voraussetzung, die Absatzziele zu erreichen […] und ist mit mir nicht verhandelbar.“ (Willisch (2007), zit. nach BMW AG (2007f), S. 13)
Die Einteilung der Einzelmarken kann hierbei jedoch nicht nur an den klassischen Kriterien Premium und Volumen erfolgen, sondern es können auch zielgruppenspezifisch Marken im Markt positioniert werden. Interessante Beispiele sind hierfür die Lifestylemarken Smart (urbane Trendsetter) und Scion (trendbewusste Automobileinsteiger).450 Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass auch im Markenmanagement ein Wandel vom Funktions- zum Kundendenken vollzogen werden muss. Der Kunde nimmt hierbei nicht die einzelnen Funktionen und Aktivitäten des Automobilherstellers, sondern seine Kontaktpunkte mit dem Endprodukt entlang dessen Lebenszyklus wahr. Dieses Prozessdenken muss auch vom Hersteller und vom Handel aufgegriffen werden, um ein konsistentes Markenbild entlang der gesamten Wertschöpfungskette aufbauen zu können.451
(2)
Kostenführerschaft durch Imitation und Nutzung von Volumenvorteilen
Vor dem Hintergrund des steigenden Wettbewerbsdrucks aus den Wachstumsmärkten im unteren Preissegment sowie der zunehmenden Bedeutung des Low-Cost-Segments im Volumenbereich aufgrund polarisierender Einkommensverhältnisse, steht die Wettbewerbsfähig-
448
449 450
Vgl. Pointner (2004), S. 73, und Krüger (1999), S. 100. Hierbei sehen sich insbesondere Mischkonzerne, die sowohl Volumen- als auch Premiummarken im Portfolio haben, vor Herausforderungen gestellt. Zur Problematik des Mehrmarkenmanagements in der Automobilindustrie vgl. auch Ealey/ TroyanoBermudez (2000), S. 78. Vgl. Diez (2006), S. 572. Vgl. Becker (2006), S. 32. Für Europa ist der Toyota Aygo als Automobil geplant, das bewusst die Zielgruppe „junger urbaner Menschen, die das moderne Leben großer Metropolen prägen“ (Becker (2006), S. 32) anspricht.
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Teil II: Strategische Ansatzpunkte zur Handhabung automobilwirtschaftlicher Herausforderungen
keit der Automobilhersteller aus der Triade auf dem Prüfstand. Insbesondere die Nachteile in den Faktorkosten lassen die Diskussion aufkommen, ob überhaupt der Wettbewerb in den unteren Preissegmenten für die europäischen und amerikanischen Volumenmarken zu gewinnen ist und wenn ja, mit welchen Mitteln. Ein Weg könnte in einem imitativen Wettbewerbsverhalten verbunden mit der konsequenten Nutzung von Volumenvorteilen zur Kostenreduktion liegen (Volumenimitation). Die Volumenimitation ergibt sich als kombinierte Strategie zur Kostenführerschaft und steht für das Ziel, größtmögliches Volumen im Markt abzusetzen und dabei kostenoptimal zu produzieren und zu vertreiben. Die Imitation bestehender Technologien sowie die überdurchschnittliche Innovationskraft im Fertigungsprozess sollen sich zu Kernkompetenzen des Herstellers entwickeln und Teil der F&E-Strategie sein. Der Imitationsaspekt zielt dabei in erster Linie auf die Aktivitäten in Forschung und Entwicklung ab. Hierbei steht nicht mehr die produktorientierte Innovationskraft im Vordergrund, sondern die Fähigkeit, Produktinnovationen der Premiumhersteller schnellstmöglich zu imitieren und durch massenkompatiblen Vertrieb günstig anbieten zu können.452 Levitt (1967) spricht in ähnlich gelagertem Kontext von einer „umgekehrten“ F&E-Strategie und führt hierzu aus: „This means the company will, insofar as products and processes are concerned, have to actively engage in reverse R&D – will have to try to create its own imitative equivalents of the innovative products created by others.” (Levitt (1967), S. 38)
Zusätzlich begünstigt das aktuelle Branchenumfeld die Imitation. 453 Zunächst sind Innovationsanreize vor dem Hintergrund des ausgeprägten Preiswettbewerbs sowie der hohen Technologiedynamik und -diffusion eher gering.454 Zudem erleichtern modulare Produktarchitekturen die Diffusion und Imitation durch die Reduktion der Fahrzeugkomplexität in leichter erfassbare Subsysteme und durch die Standardisierung von Teilen und Komponenten:455 „Paradoxerweise erleichtert die Modularisierung […] ihre Imitation durch Wettbewerber […] und reduziert damit die Verteidigungsfähigkeit des Wettbewerbsvorteils. Dies hat mittelfristig in Branchen, in denen modulare Produktarchitekturen eine bedeutende Rolle _______________________________________________________________________________________ 451 452
453
454 455
Vgl. hierzu auch die Kritik von Heß (1998a), S. 19f., an der funktionalen Denke der OEM. Vgl. hierzu auch Sands (1979), S. 46, und auch die Überlegungen bei Rese (2002), S. 265ff. Auch Oliver Wyman (2007), S. 24, wendet die Imitation als Charakterisierungskriterium für seine Herstellerarchetypen an. Unterscheiden lassen sich bei den Innovationsfolgern die imitierenden Folger, welche eine reine Imitation anstreben und sich über den Preis differenzieren möchten, sowie modifizierende Folger, welche das Produkt im Sinne der Kunden modifizieren und somit eine größere Bedrohung für den Innovationsführer darstellen. Vgl. Renz (2004), S. 67f. Vgl. hierzu Aghion et al. (2001), S. 467f., sowie die dort angegebene Literatur. Vgl. hierzu auch die Überlegungen bei Pil/ Cohen (2006), S. 999, und die dort angegebene Literatur.
Teil II: Strategische Ansatzpunkte zur Handhabung automobilwirtschaftlicher Herausforderungen
99
spielen, eine Verkürzung des Produktlebenszyklus und intensivierten Wettbewerb zur Folge.“ (Burr (2004), S. 463)
Die Imitationswahrscheinlichkeit und damit die Nachhaltigkeit von Innovationen werden ferner durch die zunehmende Wertschöpfungsdekomposition und Zulieferintegration erhöht. Die Konsolidierung auf Zulieferseite und damit die Etablierung von Systemintegratoren und Komponentenlieferanten steigern dabei den Wissensumfang der externen Einheiten und damit die Gefahr eines kritischen Wissensabflusses. Die Wahrscheinlichkeit, Innovationen nachhaltig zu schützen, ist daher eher als niedrig einzustufen. Neben dem Imitationsaspekt ist die zweite wichtige Komponente bzgl. der Volumenstrategie die Fertigungseffizienz. Vor allem vor dem Hintergrund steigender Inputpreise, aber auch durch die zunehmenden komplexitätsinduzierten Kosten aufgrund der Produktproliferation nimmt die Produktion eine entscheidende strategische Wettbewerbsposition insbesondere für das Volumensegment ein. Auch die Toyota Motor Corporation (2007) erkennt die Wettbewerbsrelevanz eines modernen, effizienten Produktionssystems und hält hierzu fest: „As an automaker, manufacturing lies at the core of our competitiveness. By continuing to innovate production engineering technologies, which underpin manufacturing, and strengthening international competitiveness, Toyota will sustain dynamic growth.” (Toyota Motor Corporation (2007), S. 21)
Als Differenzierungsmerkmale rücken dabei die operative Prozessexzellenz sowie die perfektionierte Anwendung der Lean-Manufacturing-Ansätze in den Vordergrund. Mit dem Ausschöpfen von Skaleneffekten, dem Durchschreiten stark abfallender Erfahrungskurven und einer daraus resultierenden hohen Produktionsqualität bei schneller Durchlaufzeit kann in Kombination mit der Volumenimitation eine nachhaltige Differenzierung vom Wettbewerber erreicht werden.456 Hierbei sind ganzheitliche Ansätze gefragt, die später auch noch im Rahmen der Wertschöpfungsstrategien ausführlicher thematisiert werden, denn wie Radtke et al. (2004) richtig feststellen: „[…] Operative Exzellenz allein wird in Zukunft nicht mehr ausreichen. Zusätzlich ist eine strukturelle Veränderung der Wertschöpfungskette erforderlich“ (Radtke et al. (2004), S. 29).
456
Vgl. hierzu auch die Überlegungen von Tietze (2003), S. 232f. zum Produktionsspezialisten.
100
Teil II: Strategische Ansatzpunkte zur Handhabung automobilwirtschaftlicher Herausforderungen
II.2
Strategische Leistungserstellungsprogramme für Automobilhersteller
Aufgrund der integrativen Arbeitskonzeption bietet es sich an, auch bei der Betrachtung der strategischen Leistungserstellungsprogramme eine markt- und ressourcenkombinierte Sichtweise einzunehmen. Aufbauend auf kernkompetenzorientierten Überlegungen erfolgt zunächst eine Auseinandersetzung mit den Wertschöpfungsstrategien von Premium- und Volumenmarken (II.2.1). Die gewonnenen Erkenntnisse fließen anschließend in die Überlegungen zur Ressourcenstrategie ein (II.2.2).
II.2.1
Unternehmensübergreifende Wertschöpfungsstrategien im globalen Kontext
Im Folgenden soll die Wertschöpfung vor dem Hintergrund der diskutierten strategischen Positionierungsprogramme näher beleuchtet werden. Die operative Exzellenz, ehemals entscheidender Wettbewerbsvorteil der schlanken Fertigung, ist in der heutigen Automobilindustrie zunehmend zum Standard geworden und die Optimierung orientiert sich an der ganzheitlichen Wertschöpfungslogik.457 Diese betrachtet das gesamte Wertschöpfungssystem mit allen am Leistungsprozess beteiligten Akteuren und beschränkt sich nicht auf isolierte, unternehmensspezifische Einzelaspekte. Berret (2006) hält hierzu fest: „Nur wem es gelingt, seine zukünftigen Kernkompetenzen marktgerecht festzulegen und seine Standort-Netzwerke kostenoptimiert zu gestalten, wird überlebensfähig sein. Der wesentliche Schlüssel zur Bewältigung dieser Aufgaben ist ein Mehr an bewusst gestalteter Kooperation.“ (Berret (2006), S. 104, Herv. A. R.)
Im Folgenden soll diese ganzheitliche Betrachtung weiter konkretisiert werden, wobei in Anlehnung an Berret (2006) insbesondere drei Ansatzpunkte zur Verbesserung des Wertschöpfungssystems vor dem Hintergrund der globalen Herausforderungen erarbeitet werden (Abb. II-7).
457
Vgl. Radtke et al. (2004), S. 152f. und Verband der Automobilindustrie (2003b), S. 17.
Teil II: Strategische Ansatzpunkte zur Handhabung automobilwirtschaftlicher Herausforderungen
Abb. II-7:
101
Strategisches Spielfeld und Manöver innerhalb des Wertschöpfungssystems
Zunächst erfordert der Kosten- und Innovationsdruck eine effiziente Ausrichtung der Wertschöpfungskette auf die Kundenbedürfnisse von Premium- und Volumenmarken (1). Die Konzentration auf einzelne Kompetenzen impliziert ferner die Integration eines externen Partners in einem partnerschaftlichen Wertschöpfungsverbund (2).458 Zuletzt führt die Globalisierung vor dem Hintergrund unterschiedlicher Faktorkosten zu Überlegungen bzgl. der Verlagerung der physischen Leistungserstellung (3).
(1)
Optimierung der vertikalen Wertschöpfungsarchitektur anhand möglicher Kernkompetenzprofile
Insbesondere in hochtechnologischen Branchen, deren jeweiliges Umfeld von hoher Dynamik und Wettbewerbsintensität geprägt ist, ist ein Trend zur vertikalen Spezialisierung beobachtbar.459 In der Praxis zeigt sich jedoch, dass sich Automobilhersteller häufig ihrer Stärken und auch fehlenden Fähigkeiten in den einzelnen Wertschöpfungsstufen nicht bewusst sind und aus diesem Grund das strategische Wertschöpfungsdesign vernachlässigen. Folgen dieser mangelnden Beachtung sind häufig Dekompositionsentscheidungen, die zwar unter Beurteilung operativer Aspekte sinnvoll erscheinen, aber aufgrund einer fehlenden Gesamtstrategie nicht im Kontext der gesamten Wertschöpfungskette bewertet werden können. Aufbauend auf diesem Defizit erfolgt im Folgenden ein auf die Gesamtstrategie ausgerichteter Diskurs verschiedener Fokussierungsoptionen. 458 459
Vgl. Mercer Management Consulting/ Fraunhofer Gesellschaft (2004), S. 3. Vgl. hierzu exempl. Pfaffmann (2001), Takeishi (2001) und für das Beispiel der Softwareindustrie Ethiraj et al. (2005).
102
Teil II: Strategische Ansatzpunkte zur Handhabung automobilwirtschaftlicher Herausforderungen
Die limitierten Differenzierungspotenziale im Design und bei den technischen Komponenten führen hierbei zu der Frage, in welchen Bereichen zukünftig überhaupt noch Kernkompetenzen der Hersteller liegen können. Auf der einen Seite werden im Zuge der bereits thematisierten Margenproblematik kostenorientierte Kompetenzen wie die operative Prozessexzellenz und die Erzielung kostenoptimaler Fertigungsstrukturen durch modulare Produktplattformen diskutiert. Ferner wurden im Rahmen der Wettbewerbsstrategie Kernkompetenzen in Bezug auf eine kostenoptimale Produktentwicklung durch Imitation angesprochen. Im Rahmen des kundenorientierten Technologiemanagements wurde trotz zunehmend schwierigerer Differenzierung die bedeutsame Rolle der Produktinnovationen – insbesondere dann, wenn ihre Ausgestaltung marken- und kundenwertprägend wirkt – thematisiert. Ergänzt wurden die Überlegungen um das Service- und After-Sales-Geschäft. Getätigte Aussagen implizieren bereits gewisse Kompetenzschwerpunkte in der Wertschöpfungskette, wobei eine produkt- und kundenorientierte Schwerpunktlegung unterschieden werden kann. Volumenmarken konzentrieren sich hierbei insbesondere auf produktorientierte Fähigkeiten und Ressourcen zur kostenoptimalen Produkterstellung, wie operative Prozessexzellenz, hohe Innovationsrealisation sowie kostenoptimale Fertigung und Entwicklung (Strategie der Volumenimitation (a)). Eine starke Kundenorientierung, ausgedrückt durch ein effektives Kunden- und Markenmanagement, einen leistungsstarken Vertrieb sowie die Fähigkeit, Produktinnovationen mit Marken prägendem Charakter zu realisieren, findet sich verstärkt bei Premiummarken (Strategie der Markenintegration (b)). (a) Strategie der Volumenimitation: Die Volumenimitationsstrategie verfolgt das Ziel, LowCost-Strukturen in allen Wertschöpfungsaktivitäten zu erreichen. Aus Kostengründen wird hierfür der vertikale Integrationsgrad der Hersteller von Volumenmarken so weit wie möglich reduziert. Eine imitative Produktstrategie ruft eine Kompetenzverlagerung in Richtung der Upstreamprozesse (Imitationskraft im Bereich F&E, Innovationskraft im Fertigungsprozess) hervor, wobei an den Zulieferer zunehmend Entwicklungs- und Produktionsumfänge (Modulund Komponentenfertigung) ausgelagert werden. Stellt die Entwicklung in den Upstreambereichen eher eine Intensivierung bisheriger Outsourcingaktivitäten dar, markiert die Restrukturierung des Marketing- und Vertriebsbereichs einen tief greifenden Wandel. Die Volumenimitationsstrategie erfordert im Vertrieb die Nutzung weitreichender Vertriebskanäle, wobei ein wesentlicher Anteil der Verkäufe über neue Low-Cost-Kanäle wie Mehrmarken-Massenhändler, Supermärkte, wirtschaftlich selbstständi-
Teil II: Strategische Ansatzpunkte zur Handhabung automobilwirtschaftlicher Herausforderungen
103
ge Absatzmittler oder das Internet erfolgen soll.460 Dieses Vorgehen erlaubt den OEM, einen hohen Marktausschöpfungsgrad zu erzielen. Zudem können die durchschnittlichen Vertriebskosten durch Verringerung des Anteils eigener Niederlassungen und durch Verschlankung des Markenauftritts beim Händler unter Berücksichtigung der Erwartungen der Zielkunden gesenkt werden.461 (b) Strategie der Markenintegration: Für den Hersteller von Premiummarken werden – wie bereits mehrfach erwähnt – Kundenkontakt, Image und Markendifferenzierung bei eher geringer werdender technischer Produktdifferenzierung entscheidende Erfolgsfaktoren im Wettbewerb der Premiummarken darstellen, sodass sich die Hersteller zukünftig stärker den Aufgaben widmen, die der Produktion nachgelagert sind: Vertrieb, Services und Kundenbetreuung (Konzentration auf das sog. Downstream-Geschäft). Im Zuge dessen verlagern sich Aktivitäten im Bereich Automobilentwicklung und Produktion – soweit nicht markenprägend und einen Kundennutzen stiftend – verstärkt auf die Zulieferer. 462 Der Zulieferer trägt dabei die Verantwortung für wesentliche Teile der Produktentwicklung und übernimmt die Innovationsführerschaft für Teile ohne nachhaltige Differenzierungsvorteile. Der Fokus der Markenintegrationsstrategie liegt jedoch auf der Erhöhung der Tätigkeitsanteile der OEM in Kompetenzbereichen, die erheblich auf die Kundenwahrnehmung wirken. Dem Markenmanagement wird aufgrund seiner wertschöpfungsstufenübergreifenden Bedeutung innerhalb der Markenintegrationsstrategie besondere Beachtung geschenkt. Im Vertrieb zielt die Markenintegrationsstrategie auf eine spürbare Entmachtung der Händler durch Vorwärtsintegration ab. Durch eine aggressive Händlerakquise soll der Anteil der OEM am Vertriebsnetz erheblich vergrößert werden, um den Ertrag der Hersteller von Premiummarken
460
461
462
Diversifizierte Vertriebskanäle von Markenshops, über freie Händler und Outlets, bis hin zum Internet sind in anderen Branchen – wie Unterhaltungselektronik und weiße Ware – bereits üblich. Vgl. Bain & Company (2005), S. 9, und Mercer (2003), S. 138. Aufgrund des als hoch empfundenen Kaufrisikos (fehlendes Einkaufserlebnis und mangelnder persönlicher Verkaufskontakt) beschränkt sich die Nutzung des Internets in der Automobilbranche aber größtenteils auf die Informations- und Anbahnungsphase. Hier wird das Internet insbesondere zur Informations- und zum Preisvergleich genutzt. Vgl. hierzu auch die empirischen Ergebnisse von Betz (2003) zusammenfassend dargestellt auf S. 278 und ausführlich auf S. 245ff. Ein Vertrieb über Low-Cost-Kanäle wie Supermärkte fand in Deutschland bislang kaum statt. Im Rahmen einer McKinsey-Studie wurde ermittelt, dass es sich 41 Prozent der Autokäufer vorstellen können, ihr Auto bei entsprechendem Preisvorteil im Supermarkt zu kaufen. 17 Prozent könnten sich sogar vorstellen, ihr Auto im Internet ohne Probefahrt zu kaufen. Vgl. Mercer (2003), S. 139, und für ähnliche empirische Ergebnisse auch Capgemini (2007), S 12ff. Zu anderen Ergebnissen kommt die Umfrage von Methner (2002), S. 195. Hier können sich nur 3,1 Prozent den Neuwagenkauf über alleinige Nutzung des Internets vorstellen. Vgl. Gottschalk (2005), S. 21.
104
Teil II: Strategische Ansatzpunkte zur Handhabung automobilwirtschaftlicher Herausforderungen
durch stärkere Beteiligung am Vertriebs- und Werkstättengeschäft zu erhöhen (selektivexklusives Vertriebssystem mit hohem Niederlassungsanteil) sowie einen konsistenten Markenauftritt in allen Wertschöpfungsstufen sicherzustellen.463
(2)
Wertschöpfungspartner im automobilen Leistungsverbund
Die angesprochene kernkompetenzfokussierte Ausrichtung der automobilen Wertschöpfung impliziert die Interaktion mit externen Akteuren auf verschiedenen Stufen der Wertschöpfungskette. Im Upstreambereich sind hier neben klassischen Zulieferunternehmen (a), die sich ihrerseits anhand spezifischer Rollen differenzieren lassen, insbesondere Entwicklungs- und Produktionsdienstleister (b) als Kooperationspartner zu nennen. Ferner nehmen die herstellerübergreifenden Kooperationen (c) eine immer bedeutendere Rolle in der automobilen Leistungserstellung ein. Im Downstreambereich führt insbesondere die GVO 1400/2002 zu neuen Herausforderungen und zu alternativen Kooperationsformen im Vertrieb (d). Hier ist der Vertragshandelsbereich von den freien Händlern und Werkstätten zu unterscheiden. Ferner spielen branchenfremde Dienstleister wie Versicherungsgesellschaften als angebotsergänzende Kooperationspartner im Rahmen des Systemgeschäfts eine zunehmende Rolle. (a) Zulieferunternehmen treten in unterschiedlichen Ausprägungen auf und lassen sich hinsichtlich ihres Leistungsumfangs sowie ihrer Integrationsintensität in den Herstellerleistungsprozess kategorisieren (vgl. Abb. II-8)
463
In der Praxis hat sich die BMW Group als Vorreiter für eine markenfokussierte Unternehmensstrategie etabliert. BMW hat in den letzten Jahren die Marke in den Mittelpunkt der Wertschöpfungsaktivitäten gestellt; dies hat zur Auslagerung von Wertschöpfungsaktivitäten und der verstärkten Fokussierung auf wettbewerbsdifferenzierende Kompetenzen geführt.
Teil II: Strategische Ansatzpunkte zur Handhabung automobilwirtschaftlicher Herausforderungen
Teilelieferant
Komponenten-/ Modullieferant
105
Systemlieferant
Fahrzeugkonzept
Teilekonzept
Fahrzeugkonzept
Fahrzeugkonzept
Teileauswahl
Teilespezifikation
Teilespezifikation
Teilespezifikation
Alternativen
Prototyp
detail. Teilelastenheft
Fahrzeugtests
Prototyp
Teileproduktion
Prototyp
Komponentenproduktion
Systemproduktion
Fahrzeugfertigstellung
Fertigstellung
Fahrzeugfertigstellung
Fertigstellung
Fahrzeugfertigstellung
Fertigstellung
OEM
Zuliefer.
OEM
Zuliefer.
OEM
Zuliefer.
Abb. II-8:
Leistungsverteilung in Abhängigkeit des Lieferantentypus Quelle: in Anlehnung an Mikkola (2003), S. 447.
Auf unterster Ebene lassen sich Teilelieferanten verorten. Diese bieten standardisierte Massengüter herstellerunabhängig am Markt an und können als traditioneller Zuliefertypus verstanden werden.464 Im Rahmen der Teileentwicklung findet keine Interaktion mit den jeweiligen Automobilherstellern statt.465 Der Hersteller sucht sich die passenden, vordefinierten Teile für seine Produktion aus dem Lieferantenangebot aus.466 Vom Leistungsumfang eine Stufe höher einzustufen sind die Komponenten- und Modullieferanten. Neben der reinen Produktion kommt es hierbei auch zu Entwicklungs- und insbesondere Montageleistungen für den OEM.467 Die Entwicklungsleistung beschränkt sich aber auf ein Minimalmaß. Meist handelt es sich um die reine Auftragsfertigung von herstellervordefinierten Modulen und Komponenten, sogenannten detailled-controlled parts.468 Der Zulieferer fertigt herstellerspezifische Prototypen an, die nach Freigabe durch den Hersteller in die Serienauftragsfertigung übergehen. Hierbei fließt zwar die im Modul bzw. in der Komponente internalisierte Entwicklungskompetenz des Zulieferers indirekt in die Fahrzeuggesamtkonzeption mit ein, eine kooperative Gesamtfahrzeugentwicklung findet jedoch nicht statt. 464 465 466 467 468
Vgl. Mercer Management Consulting/ Hypovereinsbank (2001), S. 5., und Diez/ Reindl (2005b), S. 91. Vgl. hierzu auch ausführlich Punkt III.2.1 (3). Vgl. hierzu auch die Ausführungen zu den „supplier proprietary parts“ bei Mikkola (2003), S. 445, sowie die dort angegebene Literatur. Vgl. zu den Komponenten- und Modullieferanten exempl. Diez/ Reindl (2005b), S. 91f., und die Ausführungen bei Tietze (2003), S. 203f. Vgl. hierzu Mikkola (2003), S. 445f.
106
Teil II: Strategische Ansatzpunkte zur Handhabung automobilwirtschaftlicher Herausforderungen
Die zunehmende Vernetzung der Fahrzeugfunktionen führt auf Zuliefererseite jedoch zu einer Umorientierung von vertikal orientierten Baugruppenspezialisten (bspw. Cockpitmodullieferant) zu horizontalen Systemlieferanten, die zukünftig über die einzelnen Baugruppen hinweg lösungsbasierte Leistungen erbringen (bspw. Boardnetzspezialist). Die Integration des Zulieferers findet dabei bereits früh in der Gesamtfahrzeugkonzeption statt, um bestmöglich die verschiedenen Kompetenzen auf Hersteller- und Zulieferseite zu nutzen.469 Ziel der Hersteller ist die schrittweise Übertragung von Entwicklungs- und Herstellungsleistungen eines Automobils auf die Zulieferer, um damit auch teilweise das Marktrisiko an der Gesamtfahrzeugentwicklung zu verteilen.470 Um der gestiegenen Kompetenzanforderung zu begegnen, kommt es auch aus finanzorientierten Überlegungen471 aufseiten der Zulieferindustrie zur Konsolidierung einzelner Funktionsspezialisten, also Systemintegratoren bzw. -lieferanten, die sich mit der Entwicklung, Produktion und Integration diverser Module und Systeme beschäftigen, um den OEM Komplettlösungen anbieten zu können. 472 Hierzu koordinieren sie ihrerseits ein globales Beschaffungsnetzwerk mit Standard-, Komponenten- und Modullieferanten und stehen als Entwicklungsberater im engen Austausch mit den OEM.473 (b) Produktions- und Entwicklungsdienstleister: Neben den klassischen Automobilzulieferern, die sich anhand ihrer Verortung in der Zulieferpyramide kategorisieren lassen,474 etabliert sich zunehmend ein auf Produktions- und Entwicklungsdienstleistungen spezialisierter Sektor im Zuliefergeschäft:
Neben den Systemintegratoren unterstützen Ingenieurdienstleister475 die OEM im Automobilentwicklungsprozess, wobei diese sich im Unterschied zu den Systemintegratoren auf
469 470 471 472
473 474 475
Mikkola (2003), S. 446, spricht hierbei von sogenannten „black-box parts“. Vgl. Diez/ Reindl (2005b), S. 92. Zur Finanzierungsproblematik von Zulieferunternehmen vgl. auch Arthur D. Little (2004b), S. 10ff. Vgl. u. a. Radtke et al. (2004), S. 114ff. und S. 177, sowie Diez/ Reindl (2005b), S. 91ff., Mercer Management Consulting/ Hypovereinsbank (2001), S. 6, Wagner (2003), S. 38, und für eine Übersicht wichtiger Mega-Lieferanten Greca (2005), S. 108ff. Zur Konfiguration des Zuliefernetzwerkes vgl. ausführlich auch Punkt III.1.2 (3). Ein weiteres Beispiel für die Entwicklung eines Zulieferers zum Systemintegrator ist die Brose Fahrzeugteile GmbH & Co. KG. Über manuelle Fensterheber (Volumenlieferant) entwickelte sich die Firma zu einem Zulieferer für Türmodule (Modulspezialist) und später zu einem Türintegrator (Türmodul inkl. Elektronik für HiFi, Sitzverstellung, Außenspiegel etc.). Vgl. Berret (2006), S. 81f. Vgl. hierzu exempl. Tietze (2003), S. 208, sowie die dort angegebene Literatur. Vgl. hierzu ausführlich Punkt III.1.2 (1). Die Begriffe Ingenieur- und Entwicklungsdienstleister werden synonym verwendet.
Teil II: Strategische Ansatzpunkte zur Handhabung automobilwirtschaftlicher Herausforderungen
107
Dienstleistungen spezialisieren und keine eigenen Bauteile produzieren. 476 Untereinander unterscheiden sich die Entwicklungsdienstleister hinsichtlich ihres Angebotsportfolios entlang des Entwicklungsprozesses, das von der Konzeption und der Entwicklung von Fahrzeugteilen, -komponenten und -modulen bis zum Modell- und Prototypenbau reichen kann.477 Neben den genannten Unterstützungsleistungen tätigen IDL auch Entwicklungsarbeiten in Eigenregie.478 In Bezug auf die Angebotsbreite des einzelnen IDL reicht das Spektrum von kleinen Spezialisten, wie z. B. dem Motorenspezialisten AVL List GmbH, bis hin zur Gesamtfahrzeugentwicklungskompetenz, wie z. B. der Bertrandt AG. Bezüglich der Zukunft von Ingenieurdienstleistern divergieren die Experteneinschätzungen. Die zunehmende Nutzung von Systemintegratoren für die Entwicklungsarbeit sowie die freien Entwicklungskapazitäten der Hersteller sprechen für einen tendenziellen Rückgang bei den IDL.479 Die industrieweiten Standardisierungsbemühungen der Hersteller, insbesondere im Bereich Elektronik480, eröffnen wiederum Wettbewerbspotenziale für IDL aufgrund ihrer Spezialisierungs- und herstellerübergreifenden Bündelungsvorteile.481
Analog existieren im Produktionsbereich sogenannte Produktionsdienstleister, die sich auf die Auftragsfertigung von Gesamtfahrzeugen spezialisiert haben (bspw. Valmet für den Porsche Boxster oder Magna Steyr für den Aston Martin Rapide). Für den Fahrzeughersteller bieten Produktionsdienstleister durchaus interessante strategische Optionen.482 Im Bereich der Internationalisierung ergeben sich attraktive Optionen zur Einhaltung von Local-Content-Vorschriften, indem sie eine lokale Wertschöpfung ohne ausländische Direktinvestitionen ermöglichen. Zudem flexibilisieren sie die Produktionskapazitäten der Hersteller, indem sie als sogenannte „Spitzenbrecherwerke“ zum Ausgleich von Produktionsspitzen dienen (peak shaving) und so den internen Kapazitätsbedarf auf ein kontinuierli-
476
477
478 479 480 481 482
Die Unterscheidung von Systemintegratoren und Entwicklungsdienstleistern ist oft fließend. So kategorisiert bspw. Berret (2006) die Engineering und Design AG (EDAG) als Entwicklungsdienstleister, obgleich diese auch produzierende Aktivitäten durchführt. Vgl. hierzu auch die Grafik bei Berret (2006), S. 83, und die Ausführungen bei Wagner (2003), S. 39. Weitere Einsatzgebiete sind bspw. das Projektmanagement, die Produktionsplanung und die Anlagenrealisierung. Vgl. Kurek (2004), S. 11. Vgl. hierzu auch Hab et al. (2003), S. 28 und 35. 2003 wurde zur Standardisierung der Elektronikarchitektur die Industriepartnerschaft AUTOSAR (Automotive Open System Architecture) gegründet. Vgl. hierzu Fehrenbach (2006), S. 217f. Vgl. Berret (2006), S. 82f. Vgl. hierzu und im Folgenden insbesondere Berret (2006), S. 84f.
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Teil II: Strategische Ansatzpunkte zur Handhabung automobilwirtschaftlicher Herausforderungen
ches Minimalmaß reduzieren.483 Zuletzt eignen sich Produktionsdienstleister mit ihren markenunabhängigen Produktionsanlagen (flex plants) im Rahmen der Programmpolitik zur kostengünstigen Produktion von Nischenmodellen durch die Nutzung herstellerübergreifender Produktionssynergien.484
Das Angebotsportfolio vieler Produktionsdienstleister beschränkt sich aber nicht nur auf die Produktion von Fahrzeugen, sondern es wird vermehrt auch die Gesamtfahrzeugentwicklung angeboten. Sogenannte Full-Service-Dienstleister, als weitere mögliche Ausprägung von Zulieferunternehmen, können als Konsequenz einer umfangreichen Auslagerung von Wertschöpfungsumfängen gesehen werden und decken die gesamte UpstreamWertschöpfung ab.485 Unternehmen wie Karmann oder MagnaSteyr übernehmen hierbei ganze Fahrzeugmodelle (bspw. BMW X3, Mercedes CLK oder Jeep Grand Cherokee), entwickeln diese bis zur Serienreife und stellen die gesamte Serienproduktion her. Alleinig die Vermarktung und ggf. geringfügige Entwicklungsleistungen bleiben in Herstellerhänden. Der Trend geht aber aufgrund der strukturellen Überkapazitäten und aus strategischen Überlegungen vor allem zur Kompetenzsicherung zum Insourcing ehemals ausgelagerter Fahrzeugreihen.486
(c) Hersteller: Als zentrales Motiv für die Zusammenarbeit mit Wettbewerbern im Innovationsprozess wird der Wunsch gesehen, von den spezifischen Kompetenzen und Fähigkeiten der Konkurrenten zu lernen, um das eigene Innovationspotenzial zu erhöhen und damit die Wettbewerbsfähigkeit zu steigern.487 Neben dem Wissensmotiv spielt in der Automobilbranche auch das Kostenmotiv eine entscheidende Rolle. Insbesondere in nicht Marken prägenden Bereichen werden Entwicklungs- und Produktionskosten durch unternehmensübergreifende Kooperationen reduziert. So entwickelte und baute BMW die Mini Motoren der ersten Generation in Zusammenarbeit mit Chrysler (Einsatz im Neon und PT Cruiser) im gemeinsamen 483
484 485 486 487
Der Vorteil liegt insbesondere darin, dass die OEM keine zusätzlichen Humanressourcen in der Fertigung binden müssen und somit etwaige arbeitspolitische Risiken bei Kapazitätsschwankungen auf die Produktionsdienstleister überwälzen. Vgl. hierzu auch Wolf (2006), S. 305f. Ein Beispiel hierfür ist das Magna-Steyr-Produktionssystem (MSPS). Vgl. hierzu exempl. Radtke et al. (2004), S. 170, und Berret (2006), S. 84f. Vgl. hierzu Berret (2006), S. 85. Vgl. Hamel et al. (1989), S. 134 und 139, Biemans (1992), S. 83f., und Marschner (2004), S. 136. Neben der Internalisierung von wettbewerbsrelevantem Wissen bietet die Zusammenarbeit im Innovationsprozess die Möglichkeit, ein ausführliches Benchmarking durchzuführen, wodurch im eigenen Unternehmen neue Innovationsimpulse ausgelöst werden können, ohne dass die Fähigkeiten und Kompetenzen der Konkurrenten lediglich imitiert werden.
Teil II: Strategische Ansatzpunkte zur Handhabung automobilwirtschaftlicher Herausforderungen
109
Werk in Campo Largo in Brasilien und Isuzu erhöht seine Auslastung in Vietnam durch den Verkauf von freien Lackierkapazitäten an das nahegelegene DaimlerChrysler-Werk.488 (d) Vertriebspartner: Die GVO 1400/2002 hat tief greifende Veränderungstendenzen im Automobilvertrieb initiiert.489 Insbesondere die Liberalisierung im Mehrmarkenhandel und die mögliche Trennung von Handel und Service lassen neue Überlegungen zum Vertriebsnetz zu.490 Über die genauen Auswirkungen lässt sich bisher jedoch nur mutmaßen. Prinzipiell geht die Unternehmensberatung Mercer Management Consulting (2003a) von einem Rückgang der traditionellen Einmarkenhändler um bis zu 50 Prozent und der Vertragshändler um bis zu 20 Prozent aus.491 Im Premiumbereich wird sich das duale Vertriebssystem aus Niederlassungen und Vertragshändlern größtenteils halten,492 wohingegen sich im Volumenbereich zunehmend der Mehrkanalvertrieb mit Mehrmarkenhändlern als wichtige Vertriebsform etablieren wird.493 Neben den reinen Verkaufskanälen spielen ferner branchenfremde Dienstleister im Rahmen des automobilen Systemgeschäfts als Leistungspartner eine immer bedeutendere Rolle.
„klassischer Vertragshändler“:494 Bis zum 30. September 2003 wurden fabrikneue Fahrzeuge in Deutschland alleinig über das sogenannte selektive und gebietsexklusive Vertriebssystem verkauft.495 Automobilhersteller selektierten hierbei ihre Verkaufs- und Werkstattpartner und begrenzten sowohl Anzahl als auch regionalen Wirkungsbereich. Auch heute noch erfolgen die Vertriebsstrategien von Vertragshändlern in enger Absprache mit dem Hersteller, die von qualitativen und quantitativen Erfolgskriterien bis zur
488
489
490 491 492
493 494 495
Vgl. Radtke et al. (2004), S. 169f., und die Ausführungen zu firmenübergreifenden Plattform- und Gleichteilestrategien in Punkt II.2.2 (2). In sogenannten OEM-Parks schließen sich zunehmend mehrere Hersteller zusammen und betreiben gemeinsam eine Fertigungseinrichtung. Zum Isuzu-Beispiel vgl. Sturgeon/ Florida (2000), S. 57. Für einen Überblick über die verschiedenen Formen des Automobilvertriebs vgl. zusammenfassend Reindl (2005a), S. 17ff., sowie für die Auswirkungen der GVO 1400/2002 für den Vertrieb Reindl (2005a), S. 39ff. Vgl. hierzu auch ausführlich die Überlegungen zum Händlernetz bei Woltermann/ Breyer (2005), S. 467ff. Vgl. Mercer Management Consulting (2003a) Vgl. Mercer Management Consulting (2003a), S. 3. Niederlassungen werden als quasi-interne Verkaufseinheit im Rahmen der externen Leistungspartner nicht weiter vertieft. Insbesondere BMW und Mercedes-Benz arbeiten mit werkseigenen Niederlassungen. Vgl. Diez (2003), S. 50. Vgl. hierzu auch exempl. Diez/ Reindl (2005b), S. 100f., und Mercer Management Consulting (2003a), S. 3. Vgl. zu den Auswirkungen im Vertriebsbereich auch ausführlich Punkt III.1.2 (2). Vgl. zu diesem Punkt auch die Ausführungen bei Creutzig (1995), S. 29ff.
110
Teil II: Strategische Ansatzpunkte zur Handhabung automobilwirtschaftlicher Herausforderungen
konkreten Ausgestaltung der Point of Sales reichen.496 Die hohen Anforderungen von Herstellerseite können viele, kleinere Vertragshändler schon heute kaum noch erfüllen.497 Zudem führt die ausufernde Produktpalette vieler Automobilhersteller dazu, dass kleinere Vertragshändler kaum noch die Sortimentsfunktion wahrnehmen können. Daher wird es zukünftig zu einer verstärkten Konsolidierung der Vertragshändler zu Händlergruppen kommen.498 Im Premiumbereich wird der Rückgang der Händlerzahlen zudem durch die Rückintegration der Vertriebsfunktion zum Hersteller in Form von Niederlassungen und Markenwelten verstärkt.499
Mehrmarkenhandel: Die GVO 1475/95 von 1995 verhinderte bislang eine Verbreitung des Mehrmarkenvertriebs in Deutschland aufgrund signifikanter Mehrkosten im Vergleich zum Einmarkenhandel:500 Zum Mehrmarkenhandel in einer Verkaufsstätte mussten die Hersteller zustimmen und ein Mehrmarkenhandel durch mehrere markenexklusive Verkaufsstätten war nur bei rechtlicher Unabhängigkeit der einzelnen Betriebe und bei Einsatz von markenspezifischem Verkaufspersonal möglich.501 Die Liberalisierung im Rahmen der GVO 1400/2002 änderte die Rahmenbedingungen für den Mehrmarkenvertrieb grundlegend und ermöglicht nun Mehrmarkenverkaufsstellen nach amerikanischem Vorbild.502 Um ein Gefühl für die möglichen Auswirkungen zu bekommen, soll kurz auf das Beispiel Republic Industrie eingegangen werden. Das Portfolio von Republic Industries503 umfasst neben dem klassischen Gebrauchtwagenmarkt inkl. Teile und Zubehör sowie Werkstattdienstleistungen auch das Neuwagengeschäft inkl. der Neuwagenfinanzierung. Republic Industries ist es so gelungen, die Hauptertragsquellen der Automobilhersteller für sich zu erschließen. Insbesondere bei Volumenmarken wird es im Vertriebsbereich auch in
496 497 498 499
500 501 502 503
Vgl. Creutzig (2005), S. 129, und Diez (2003), S. 50. Auch KPMG (2005), S. 4, sieht für die kleinen Automobilhändler die größten Schwierigkeiten. Vgl. hierzu exempl. Diez/ Reindl (2005b), S. 100, und die Ausführungen zur Vertriebsnetzkonfiguration in Punkt III.1.2 (2). Vgl. für diesen Abschnitt auch ausführlich Diez (2003), S. 49ff., und Diez/ Reindl (2005b), S. 100. KPMG (2005), S. 8, prognostiziert einen Zuwachst von 38 Prozent in den nächsten 10 Jahren bei den Niederlassungen im Neuwagendirektvertrieb. Vgl. Jensen (2001), S. 59, und Creutzig (2002), S. 45f. Vgl. Creutzig (2002), S. 45f. Vgl. hierzu auch Mercer Management Consulting (2005), S. 4, und zum Mehrmarkenhandel exempl. Creutzig (2002), S. 45f. und Diez (2002), S. 81. Ausführlich zum Fallbeispiel Republic Industries vgl. Heß (1998b), S. 10ff., und für den Konkurrenten CarMax mit ähnlicher Geschäftsstrategie Heß (1998b), S. 8f.
Teil II: Strategische Ansatzpunkte zur Handhabung automobilwirtschaftlicher Herausforderungen
111
Deutschland und Europa zunehmend zum Mehrmarkenhandel im Neuwagenbereich kommen:504 „Das Mehr-Marken-Autohaus wird sowohl in Deutschland als auch in der Schweiz dabei klarer Trend. In den nächsten zehn Jahren werden in Deutschland rund 55 Prozent aller Autohäuser mehr als eine Automarke vertreiben.“ (KPMG (2005), S. 4)
Eine Studie von KPMG geht dabei von zwei bis vier Marken pro Betrieb aus.505 Die Gefahr auf Herstellerseite, insbesondere im Premiumbereich, liegt in der Positionierungsstrategie der freien Vertriebsketten, die nicht zwingend kompatibel zur eigenen Markenbotschaft sind.506 Die Herausforderung der Hersteller, insbesondere der Premiummarken, liegt nun im Umgang mit dieser neuen Vertriebsform. Ein Ansatzpunkt wäre die weitere Emotionalisierung der Marke entlang der gesamten Wertschöpfungskette durch eigene Erlebnis- und Markenwelten, um ein Differenzierungsmerkmal zum Mehrmarkenhandel herzustellen. Ferner wäre ein Transfer des Markenbildes auf den Mehrmarkenhändler nach dem Konzept einer Shop-in-Shop-Lösung denkbar.507 Embargostrategien hingegen scheinen, wie Beispiele aus Amerika zeigen, kaum erfolgreich zu sein, da freie Megahändler zukünftig eine wichtige Absatzsäule darstellen.
Branchenfremde Dienstleister: Für das Angebot von kundenorientierten Gesamtmobilitätspaketen, wie im Rahmen der Produktstrategien bereits unter dem Schlagwort Systemgeschäft thematisiert, sind branchenfremde Dienstleister als Ergänzung zum herstellereigenen Angebotsportfolio hinzuzuziehen. Im Finanzierungsbereich sind die Hersteller durch hauseigene Automobilbanken oder Kooperationen mit namhaften Bankinstituten bereits sehr gut aufgestellt. Im Bereich Versicherung hingegen fehlt es bislang an ausreichenden Kooperationen. Dies nutzen Versicherungs- und Leasingunternehmen aus, um in Zusammenarbeit mit freien Werkstätten vom Herstellereinfluss autonome Mobilitätslösungen anzubieten.508
Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass der Facettenreichtum an Akteuren sowohl im Upstream- als auch im Downstreambereich zukünftig tendenziell zunehmen wird. Im Ups-
504 505
506 507
Vgl. hierzu auch Mercer Management Consulting (2003b), S. 2. Mercer Management Consulting (2005), S. 6, geht von einem Anteil um die 20 Prozent am Neuwagengeschäft aus. Vgl. KPMG (2005), S. 9. Auch in Deutschland existieren bereits Mehrmarkenhändler. So bietet bspw. die Schwabengarage neben den Konzernmarken von Ford auch Hyundai, Subaru und Skoda im Neuwagenbereich an. Auch die MAHAG hat neben den VW-Konzernmarken die Marke Kia im Programm. Vgl. Heß (1998b), S. 14f., und auch die Überlegungen bei Diez (2003), S. 57. Auch Mercer Management Consulting (2005), S. 6, hebt die Bedeutung eines konsistenten Markenauftritts auch beim Mehrmarkenhändler hervor.
112
Teil II: Strategische Ansatzpunkte zur Handhabung automobilwirtschaftlicher Herausforderungen
treambereich ergeben sich hieraus Chancen bspw. aufgrund eines herstelleroptimierten Angebots von Produkt-Dienstleistungsbündeln. Gleichzeitig führt der Herstellerdruck aber zu einer Konsolidierung der Zulieferunternehmen und dadurch zu einer Verschiebung der Machtverhältnisse. Gleiches gilt für den Vertriebsbereich, wobei hier zusätzlich die geänderten gesetzlichen Rahmenbedingungen die Herstellermacht tendenziell reduzieren.
(3)
Verlagerung der physischen Leistungserstellung
Die Frage, inwieweit europäische und nordamerikanische Hersteller Kosten senken und das Potenzial in den neuen Wachstumsregionen nutzen können, hängt auch entscheidend von der Verlagerung der Leistungserstellung und des Leistungserstellungsortes ab. Hierbei ist ein eindeutiger Trend zur Verlagerung in die Schwellenländer zu erkennen (vgl. Abb. II-9).509 AsienPazifik
Osteuropa
EU
Mittlerer Osten/ Afrika
CAGR KAP (06-14)
2,4%
5,4%
0,7%
3,5%
0,1%
1,6%
KA 2006
37,0%
4,3%
27,5%
3,1%
23,0%
5,1%
KA 2014
39,4%
5,8%
25,7%
3,6%
20,4%
5,1%
N-Amerika S-Amerika
KA=Anteil an der weltweiten Produktionskapazität, KAP=Produktionskapazität
Abb. II-9:
Entwicklung der Produktionskapazitäten 2006-2014 Quelle: eigene Berechnungen auf Basis PricewaterhouseCoopers (2006b)
Insbesondere im Volumensegment wird eine zentrale Rolle der Verlagerung bestätigt. Ein Vertreter eines europäischen OEM hierzu: “Let’s admit it: low cost cars can only be developed in low-cost countries” (o. V. (2004), zit. nach Roland Berger (2004), S. 5). Ferdows (1997) sieht dabei insbesondere kosten- und wissensorientierte Gründe und unterscheidet hierbei verschiedene Stufen der Aktivitätsverlagerung.510
_______________________________________________________________________________________ 508 509
510
Vgl. hierzu Mercer Management Consulting (2005), S. 7 und 15. „Zusätzliche Fertigungskapazitäten wird die Automobilindustrie künftig fast ausschließlich in Wachstumsmärkten aufbauen. 84 Prozent des Zuwachses bei der Montage von PKW und Kleinlastwagen sollen zwischen 2005 und 2010 aus Schwellenländern stammen“ (PricewaterhouseCoopers (2006c), o. S.). Ferdows (1997) unterscheidet originär in Kostengründe, Marktnähe und Zugang zu Management- und Fertigungskompetenzen. Letztere können jedoch beide unter das Wissensmotiv subsumiert werden. Vgl. hierzu auch zusammenfassend Schlüchtermann (1999), S. 64. Für einen breiten Überblick über die einzelnen Funktionen von ausländischen Teileinheiten vgl. auch Schmid et al. (1999), S. 103. In der Auto-
Teil II: Strategische Ansatzpunkte zur Handhabung automobilwirtschaftlicher Herausforderungen
113
Bei den kostenorientierten Gründen sind insbesondere die bereits angesprochenen lokalen Unterschiede in den Faktorkosten zu nennen.511 Neben der Lokations-entscheidung spielt aber auch der Umfang der Verlagerung eine entscheidende Rolle. Hierbei kann zwischen einzelnen Komponenten (BMW Motoren GmbH in Österreich), Plattformen (VW Touareg, Porsche Cayenne, Audi Q7 in der Slowakei), Produkten (X3 bei MagnaSteyr in Österreich) oder ganzen Produktlinien (BMW Z-Reihe im amerikanischen Werk in Spartanburg) differenziert werden.512 Ferdows (1997) unterscheidet ferner je nach Verlagerung von Entscheidungskompetenzen zwischen „Offshore-“ und „Source-Factories“. Beide haben die Nutzung lokaler Kostenvorteile zur Zielsetzung, wobei die „Source-Factories“ auch über Managementkompetenzen im Bereich Beschaffung, Logistik und Personalführung verfügen. 513 Zusätzlich zu den Faktorkostenvorteilen ergeben sich auch Verbund- und Volumeneffekte durch Pooling. Um die Volumennachteile eines zentralisierten Entwicklungs- und Produktionsstandortes (WorldScale-Fabrik) auszugleichen,514 können durch ein kundenorientiertes Aktivitätenpooling, aufgrund der zu vernachlässigenden Transportkosten, neue Volumen- und Verbundeffekte auf globaler Ebene generiert werden. Hedlund & Rolander (1990) halten hierbei fest: „Particularly on a global scale, the scope of creating “new opportunities” by combining elements so far unconnected, and to select the structure of the firms environment, is very large.” (Hedlund & Rolander (1990), S. 30)
Wie bereits bei der Internationalisierung thematisiert, wäre im Bereich der Upstreamprozesse denkbar, dass nicht kundenrelevante Teile wie Plattformen zentral an einem Standort produziert oder Entwicklungsaktivitäten in virtuellen Netzwerken geografisch unabhängig nach Zielgruppenclustern erbracht werden.515 Im Bereich der Downstreamprozesse sind die Zentralisierungsoptionen geringer, dennoch lassen sich bestimmte Bereiche im Marketing länderübergreifend organisieren. Der Vertrieb erfolgt aufgrund der Kundennähe aber meist dezentral in den einzelnen Regionen. Von den kostenorientierten unterscheiden sich die wissensorientierten Motive, die zum einen in der Kundenorientierung durch Marktnähe, zum anderen im Zugang zu Management_______________________________________________________________________________________
511 512 513 514
mobilindustrie spielen ferner rechtliche Aspekte eine entscheidende Rolle bei der Bestimmung von Produktionsstandorten (local content). Vgl. hierzu exempl. auch Ghoshal (1993), S. 181. Für einen Überblick über die Bewertungsfaktoren der Verlagerung der physischen Leistungserstellung vgl. auch Berret (2006), S. 91. Vgl. exempl. Schuh (1999), S. 85. Vgl. Schlüchtermann (1999), S. 65f., u. R. a. Ferdows (1997). Vgl. für ein ähnliches Modell auch Schuh (1999), S. 84ff. Vgl. Schlüchtermann (1999), S. 60, und in ähnlicher Weise auch bei Pearce (1994), S. 187.
114
Teil II: Strategische Ansatzpunkte zur Handhabung automobilwirtschaftlicher Herausforderungen
und Fertigungskompetenzen in Leadmärkten begründet sind.516 Vor dem Hintergrund der Internationalisierung ist insbesondere in den frühen Phasen der Produktentwicklung die Nähe zu den einzelnen Abnehmermärkten wichtig, da regionale Bedarfsunterschiede auch regionale Technologieunterschiede und damit Innovationsanforderungen bewirken.517 Jolly (1989) hält dabei fest: „Physical proximity to consumers […] is important to obtain rapid feedback during the early stages of product development.” (Jolly (1989), S. 63)518
Eine vor diesem Hintergrund alleinige Verlagerung der Produktion reicht folglich nicht aus, wie das Beispiel der GM-Marken Opel und Saab, die lange Zeit – trotz europäischer Produktionsstätten – aufgrund der strategischen Heimatmarktorientierung des Gesamtkonzerns grundlegende Trends in Europa verpassten, verdeutlicht.519 Zur Nutzung der Marktnähe ist es vielmehr von Bedeutung, kundennahe und entwicklungsrelevante Aktivitäten auf nationaler Ebene zu verorten.520 Ferdows (1997) spricht in diesem Zusammenhang von „ContributorFactories“, die durch ihre Marktnähe ergänzendes landesspezifisches Know-how beisteuern. Neben der Kundennähe spielt aber auch die Nähe zu Forschungsspitzenzentren eine entscheidende Rolle.521 Insbesondere in technologieintensiven Branchen (bspw. Pharma oder Informationstechnologie) erfolgt oftmals eine Verortung der Forschungseinrichtungen an führenden Spitzenzentren. Auch eine Orientierung am Wettbewerb kann zur Wissensaneignung sinnvoll sein. So bietet es sich bspw. für Premiumhersteller an, Einheiten nahe der deutschen Automobilwirtschaft zu verorten. Zum Aufbau von Low-Cost-Kompetenzen hingegen ist eine Verlagerung in die Wachstumsmärkte, insbesondere in die BRICK-Staaten, interessant.
_______________________________________________________________________________________ 515 516
517 518
519 520 521
Vgl. hierzu auch die Überlegungen bei Bartlett/ Ghoshal (1989). Vgl. hierzu allgemein Schlüchtermann (1999), S. 64ff., u. R. a. Ferdows (1997), o. S., Fuchs (2005), S. 95, und zum Gedanken der Lead-Märkte Gerybadze (1998), S. 243ff. Vgl. ferner zur wissensorientierten Motivation Ghoshal (1993), S. 179ff., sowie die dort angegebene Literatur. Vgl. hierzu und im Folgenden insbesondere Gerybadze (1998), S. 243ff. Die Wissensmotive hinter einer Wertschöpfungsverlagerung stellt auch ein BMW Manager heraus: „Globalisierung ist für BMW immer marktbezogen. Es ist falsch, allein aus Kostengründen in anderen Ländern zu produzieren. Dazu sind die payback-periods viel zu lang“ (o. V. (1997), zit. nach Pries (1999a), S. 57). Vgl. Marschner (2004), S. 117. Vgl. hierzu auch die Ausführungen zur physischen Verlagerung der Wertschöpfungsaktivitäten in Unterkapitel II.2.1. Vgl. Gerybadze (1998), S. 252ff., Türck (1998), S. 210f., und Pearce (1994), S. 190.
Teil II: Strategische Ansatzpunkte zur Handhabung automobilwirtschaftlicher Herausforderungen
II.2.2
115
Kompetenztypen und ihr Management im Rahmen einer Ressourcenstrategie
In der Diskussion wurde der Kompetenzbegriff522 des Öfteren erwähnt, ohne diesen jedoch näher theoretisch zu fundieren. So war von Kernkompetenzen wie Innovativität und Produktmanagement im Rahmen der Produkt-/Marktstrategien die Rede. Die Wettbewerbsstrategien thematisierten das Markenmanagement und die Imitationsfähigkeit als zentrale Kernkompetenzen. Explizit wurde im Rahmen der Wertschöpfungsstrategien von Kompetenzgravitationszentren gesprochen, die in Abhängigkeit von der gewählten Strategie auf unterschiedlichen Wertschöpfungsstufen liegen. Hierbei wurde meist implizit eine gewisse Zeitpunktbetrachtung eingenommen; für bestimmte Herausforderungen wurden bestimmte strategische Reaktionen erarbeitet. Zeitgleich wurde aber durchweg die Flexibilität und Dynamik thematisiert, die weniger einer Zeitpunkt- als einer Zeitraumbetrachtung, d. h. einem Wandel folgen. Beispiele hierfür finden sich in der Argumentation zu Plattformstrategien und zur unternehmensübergreifenden Wertschöpfung. So entfaltet sich das Potenzial von Plattformen erst im Zeitverlauf durch die Wiederverwendung in verschiedenen Produkten. Teece et al. (1997) sprechen hier von der Kompetenz der Replikationsfähigkeit: „Die Replikationsfähigkeit stellt eine Meta-Fähigkeit des Unternehmens zur Multiplikation operativer Prozessfähigkeiten des laufenden Geschäftsbetriebes dar.“ (Burmann (2002), S. 116, u. R. a. Teece et al. (1997))
Übertragen auf die Plattformstrategien bedeutet dies nichts anderes, als dass für den Entwicklungsprozess durch Wissenskodifizierung in Form der Plattform eine Wiederverwendbarkeit geschaffen wird, wodurch sich Zeit- und Kostenvorteile ergeben.523 Die Kompetenz ist also nicht nur im Resultat, sondern auch im dahinterliegenden Prozess zu sehen (Dynamik). Ähnlich verhält es sich im Rahmen der Wertschöpfungsstrategien. Bedingt durch das Produktivitätsdilemma der Automobilbranche wurde die Verbundwertschöpfung als Lösungsweg thematisiert. Die angesprochenen Flexibilitätsvorteile ergeben sich aber nicht automatisch durch den
522
523
Kompetenzen basieren auf einer zielgerichteten Kombination von Ressourcen und Fähigkeiten eines Unternehmens (vgl. u. a. Habann (2002), S. 148, Fitzek (2002), S. 25, Danneels (2002), S. 1102). Als Ressourcen können alle materiellen und immateriellen Güter, Vermögensgegenstände sowie Einsatzfaktoren, über die ein Unternehmen verfügt, verstanden werden. Fähigkeiten dagegen beschreiben, inwieweit ein Unternehmen in der Lage ist, seine Ressourcen durch zielorientierte Ausrichtung und Koordination zu nutzen. Vgl. hierzu auch Zahn (1996), Sp. 884. Sanchez/ Heene (1997), S. 306, sprechen hier von „competence leveraging“. Zur Bedeutung der Wissenskodifizierung im Rahmen des dynamischen Kompetenzansatzes vgl. Burmann (2002), S. 117.
116
Teil II: Strategische Ansatzpunkte zur Handhabung automobilwirtschaftlicher Herausforderungen
Einbezug externer Möglichkeiten, sondern hängen darüber hinaus maßgeblich von der Rekonfigurationsfähigkeit ab. Teece et al. (1997) verstehen hierunter: „The ability to sense the need to reconfigure the firm’s asset structure, and to accomplish the necessary internal and external transformation.” (Teece et al. (1997), S. 520)
Ferner wird im Rahmen der Wertschöpfungsstrategien das Unternehmen als offenes System verstanden. Neben dem internen Aufbau von Ressourcen und der Beschaffung von externen Ressourcen über Faktormärkte wurde explizit auch auf Wertschöpfungskooperationen eingegangen. Der Handlungsraum der Unternehmung wurde also von den proprietären Ressourcen (firm-specific resources) auf die adressierbaren Ressourcen erweitert (firm-addressable resources).524 Lavie (2006) hält hierbei fest: „However, in recent years, evidence has accumulated suggesting that resources of alliance partners transferred via direct interfirm interactions have a considerable impact on firm performance. These resources can be referred to as network resources that extend the opportunity set of the firm.” (Lavie (2006), S. 641)
Zuletzt legt die Forschungskonzeption einen Ansatz nahe, der neben den „klassischen“ Ressourcen einer Unternehmung auch organisationale Aspekte in die Kompetenzbetrachtung mit einbezieht. Getätigte Aussagen verdeutlichen die Vielschichtigkeit des Kompetenzphänomens. Diesen Umstand greift Freiling (2000) im Rahmen seines „Strategischen Kompetenzansatzes“ auf, indem er auf Basis der richtungsweisenden Veröffentlichungen von Heene und Sanchez525 die ressourcenorientierte Sichtweise zu einem ganzheitlichen Bezugsrahmen erweitert. Bestandteile hierbei sind eine „dynamische Weiterentwicklung der Kompetenzbasis“, ein „Verständnis der Unternehmung als offenes System“ und der „Einbezug organisatorischer und verhaltenswissenschaftlicher Aspekte“.526 In Anlehnung an dieses umgreifende Verständnis erfolgt eine theoretische Untermauerung bislang getätigter Aussagen durch die Vermittlung eines differenzierten Ressourcenbildes. Hierzu werden zunächst leistungsbezogene Kompetenzen anhand des Verständnisses eines offenen Ressourcenraums typologisiert (1). Aufbauend auf diesem erweiterten Grundverständnis von Ressourcen erfolgt eine Thematisierung der pro-
524 525
526
Vgl. Sanchez/ Heene (1997), S. 306. Hierunter fallen insbesondere Sanchez et al. (1996) „Dynamics of competence based competition – Theory and practice in the new strategic management”, Heene/ Sanchez (1997) “Competence based strategic management” und Sanchez/ Heene (1997) “Reinventing strategic management – New theory and practice for competence-based competition”. Vgl. Freiling (2000) und zusammenfassend auch die Ausführungen zum strategischen Kompetenzmanagement bei Tietze (2003), S. 40ff.
Teil II: Strategische Ansatzpunkte zur Handhabung automobilwirtschaftlicher Herausforderungen
117
zessorientierten Ressourcen, die zur Nutzbarmachung der einzelnen leistungsbezogenen Ressourcen notwendig sind (2).
(1)
Leistungsbezogene Kompetenztypen
Im Rahmen der einführenden Überlegungen im Grundlagenteil wurde bereits über die Motive von proprietären und unternehmensübergreifenden Wertschöpfungssystemen diskutiert. Überträgt man diese Überlegungen auf die Ressourcensicht, so lassen sich interne (Fokuskompetenzen) von externen Kompetenzen (transaktionale Kompetenzen) unterscheiden. Relationale Kompetenzen als weitere Ausprägung weisen einen semi-externen bzw. semi-internen Charakter auf, da sie nur durch Zusammenarbeit von internen und externen Akteuren generiert werden können (vgl. Abb. II-10). Unternehmen D
Unternehmen C adressierbarer Ressourcenraum
´Fokusunternehmen
Partner-
relationale Kompetenzen Fokus-kompetenzen
unternehmen A
Transaktionskompetenzen Unternehmen B
Abb. II-10:
Kompetenztypen und Kompetenzraum Quelle: angelehnt und erweitert nach Lavie (2006), S. 644.
Der adressierbare Kompetenzraum umfasst alle für die Unternehmung adressierbaren Kompetenzen, wobei diese jedoch nicht zwingend genutzt werden müssen (Unternehmen B). Ferner gibt es im Wettbewerbsumfeld Kompetenzen, die nicht adressierbar sind (Unternehmen C und D). Diese Kompetenzen können bspw. proprietäre Ressourcen der Konkurrenz oder in Zulieferunternehmen verortet sein, die über Exklusivverträge an andere Hersteller gebunden sind. Zudem ist denkbar, dass die Ressourcen zwar prinzipiell adressierbar wären, der Fit zum eigenen Unternehmen aber nicht gegeben ist. Dies verdeutlicht, dass der Kompetenzraum auch immer Konstrukt interner Entscheidungen ist. Im Folgenden soll näher auf die einzelnen Typen adressierbarer Kompetenzen eingegangen werden:
118
Teil II: Strategische Ansatzpunkte zur Handhabung automobilwirtschaftlicher Herausforderungen
Fokuskompetenzen können als proprietäre Kernkompetenzen verstanden werden, die ohne das Zuwirken Dritter alleinig auf dem unternehmensinternen Potenzial entstehen.527 Kernkompetenzen wiederum unterscheiden sich von Kompetenzen dadurch, dass sie Basis langfristiger Wettbewerbsvorteile sind (Dauerhaftigkeit), sich in verschiedene Anwendungsgebiete transferieren lassen (Transferierbarkeit) und sich in Kernprodukten und Dienstleistungen manifestieren, die einen wahrnehmbaren Kundennutzen stiften, den der Kunde abzugelten bereit ist (Nutzenstiftung).528 Tampoe (1994) sieht Kernkompetenzen daher als „a technical or management subsystem which integrates diverse technologies, processes, resources and know-how to deliver products and services which confer sustainable and unique competitive advantage and added value to an organization.” (Tampoe (1994), S. 69)
Lavie (2006) spricht hierbei von internen Renten.529 Die verschiedenen Kompetenzbündel lassen sich wiederum zu Profilen aggregieren, die sich in den Aussagen zur Volumenimitation und Markenintegration im Rahmen der Wettbewerbsstrategien wiederfinden.530
Transaktionskompetenzen sind frei am Markt verfügbar. Sie können von beliebigen Unternehmen durch Transaktion bezogen werden und haben daher isoliert kaum strategisches Differenzierungspotenzial.531 Da durch die Transaktion nicht nur das Gut in den Verfügungsraum der Unternehmung übergeht, sondern auch die im Gut gebündelte Kompetenz, wird bewusst von Transaktionskompetenzen und nicht von Transaktionsgütern gesprochen. Diese Sichtweise erscheint insbesondere im automobilen Kontext sinnig, da sie eine Unterscheidung in einfache Transaktionsgüter (bspw. Rohstoffe) und kompetenzintensive Transaktionen zulässt. Bei kompetenzintensiven Transaktionen sind für die Entwicklung und Herstellung des transferierten Guts weitreichende Kompetenzen erforderlich, die vom Bezugsunternehmen kaum erbracht werden könnten.532 Nicht nur das Gut, sondern auch die
527
528 529 530 531
532
Eine Sonderform stellen sogenannte „detailed-controlled“-Teile dar. Diese werden durch internes Knowhow entwickelt, zur Produktion jedoch an Zulieferer vergeben. Vgl. hierzu Mikkola (2003), S. 445, sowie die dort angegebene Literatur. Vgl. u. a. Habann (2002), S. 147, Freiling (2002), S. 22, Prahalad/ Hamel (2006), S. 277ff., und zusammenfassend auch Zahn (1996), Sp. 885f. Vgl. Lavie (2006), S. 644. Vgl. hierzu auch die Überlegungen zu den einzelnen Kompetenzprofilen bei Tietze (2003), S. 227ff. Vgl. exempl. Mikkola (2003), S. 447f. Dennoch kann in der Durchführung der Transaktion ein Differenzierungsvorteil zum Wettbewerb bestehen. Eine professionelle Einkaufsabteilung kann bspw. Kostenvorteile generieren. Ein gutes Beispiel hierfür sind Reifen. Sie haben auf Ebene der OEM kaum strategisches Differenzierungspotenzial, da sie frei am Markt für alle erhältlich sind. Dennoch weisen sie eine hohe Wissensintensität auf, die nur durch spezialisierte Firmen erbracht werden kann.
Teil II: Strategische Ansatzpunkte zur Handhabung automobilwirtschaftlicher Herausforderungen
119
Kompetenz des externen Faktors sind somit Bestandteile der im Endprodukt gebundenen Kompetenzen; diese können aber nicht isoliert vom Produkt durch das Zielunternehmen genutzt werden.533 Ferner erweitert diese Kompetenzsichtweise den Transaktionsumfang dahin gehend, dass auch Wissensdienstleistungen, wie bspw. die Auftragsforschung, in den Rahmen der Transaktion fallen.
Relationale Kompetenzen: Die Betrachtung von Unternehmen als offene, interagierende Systeme lässt eine weitere Gattung von externen Ressourcen bzw. Kompetenzen zu. Diese sind im Gegensatz zu transaktionalen Ressourcen und Kompetenzen nicht frei auf Faktormärkten verfügbar, sondern entstehen erst durch die Kooperation mehrerer Akteure, wobei die fokale Unternehmung Teilnehmer dieses Leistungsverbundes ist (relationale Kompetenzen).534 Sanchez & Heene (1997) meinen hierzu: „By linking firm-addressable resources, capabilities and competences in networks of cooperating firms, all firms in the network may increase their strategic flexibilities to quickly configure new resource chains to serve rapidly changing market opportunities.” (Sanchez & Heene (1997), S. 314)
Gereffi et al. (2005), S. 84, sprechen in diesem Zusammenhang auch von relationalen Wertschöpfungsketten mit hoher gegenseitiger Abhängigkeit. Vorteile hierbei sind insbesondere in der kollektiven Nutzenoffenheit zu sehen. Die Einbindung des externen Ressourcenraums erlaubt, durch Kombinatorik die externe Varietät zu erhöhen und zeitgleich die interne Wertschöpfungskomplexität zu reduzieren.535 Dieser Aspekt war ein zentraler Punkt der Wertschöpfungsdiskussion in dieser Arbeit. Nachdem die einzelnen leistungsbezogenen Kompetenztypen kurz inhaltlich thematisiert wurden, stellt sich die Frage, welche Rolle sie im Rahmen eines Kompetenzmanagements
533
534
535
Ähnlich argumentiert auch Fitzek (2002), S. 20, bei der Unterscheidung von funktionalem und substanziellem Wissen. Funktionales Wissen bezieht sich alleinig auf das Verwendungswissen, substanzielles Wissen hingegen hat das innere Verständnis des Produktes zum Gegenstand. Fitzek (2002) verdeutlicht dies am Beispiel der Hinterachsmontage. Für den OEM reicht das Wissen über die korrekte Installation im Fahrzeug aus. Der Zulieferer hingegen benötigt tieferes Produktwissen zur Konzeption und Fertigstellung des Gutes. Vgl. hierzu auch Lavie (2006), S. 645. Dyer/ Singh (1998) halten hierzu fest: „In summary, at a fundamental level, relational rents are possible when alliance partners combine, exchange, or invest in idiosyncratic assets, knowledge, and resources/capabilities, and/or they employ effective governance mechanisms that lower transaction costs or permit the realization of rents through the synergistic combination of assets, knowledge, or capabilities” (Dyer/ Singh (1998), S. 652). Vgl. hierzu auch die Überlegungen bei Tietze (2003), S. 42.
120
Teil II: Strategische Ansatzpunkte zur Handhabung automobilwirtschaftlicher Herausforderungen
spielen.536 Bislang wurde in der Diskussion eine abstrakte Ebene eingenommen. Im Rahmen der externen Analyse der Umfeldbedingungen wurde der Bedarf an zukünftigen Kernkompetenzen in Abhängigkeit von der gewählten Strategie bestimmt. Eine interne Analyse fand bislang nur ansatzweise statt, indem über mögliche Kompetenzgravitationszentren innerhalb der Wertschöpfungskette gesprochen wurde. Auch Williamson & Haas (1999) kritisieren die mangelnde Operationalisierung des Kernkompetenzkonzepts: „There being no apparatus by which to advise firms on when and how to reconfigure their core competences, the argument relies on ex post rationalization.” (Williamson & Haas (1999), S. 1093)
Daher werden die vorhergehenden abstrakten Überlegungen durch das Kernkompetenzstrategieportfolio ergänzt, das eine Ableitung von Normstrategien je individueller Kompetenzbasis
strategische Relevanz niedrig hoch
ermöglicht (vgl. Abb. II-11).537 kritische Kompetenzlücke: Schließung durch relationale Kompetenzen
strategisch relevante Kompetenz: Aufbau von Fokuskompetenzen
irrelevante Kompetenzlücke: Bezug von Transaktionskompetenzen
Kompetenzüberschuss: Desinvestition oder Vitalisierung
niedrig
hoch
unternehmensinternes Potenzial Abb. II-11:
Kompetenzportfolio und Normstrategien Quelle: eigene Überlegungen in Anlehnung an Thiele (1997), S. 85, und Fitzek (2002), S. 49.
Die Überlegungen zu strategisch relevanten Kompetenzen folgen sehr stark dem Diskurs möglicher Differenzierungsoptionen im Rahmen der Wettbewerbs- und Wertschöpfungsstra-
536
537
„Unter dem Begriff Kompetenzmanagement lassen sich alle Entscheidungen und Handlungsaktivitäten zusammenfassen, die auf potentielle und aktuelle Kernressourcen des Unternehmens ausgerichtet sind“ (Habann (2002), S. 159). Vgl. hierzu und im Folgenden insbesondere Thiele (1997), S. 84ff., und auch Habann (2002), S. 159ff. Unter einem Kernkompetenzmanagement werden Identifikation, Aufbau/Erwerb, Erhaltung und Nutzung
Teil II: Strategische Ansatzpunkte zur Handhabung automobilwirtschaftlicher Herausforderungen
121
tegien. Kompetenzen in diesem Bereich ermöglichen eine nachhaltige Differenzierung vom Wettbewerb und weisen noch ungenutzte Entwicklungspotenziale für die unternehmerische Zukunft auf (hohes Diversifikations- und Innovationspotenzial). Insbesondere der zweite Aspekt spielt eine entscheidende Rolle, da auch dieser Bereich einer kontinuierlichen Kultivierung bedarf.538 Ferner besteht aufgrund von Umfeldveränderungen ein Drang, neue Kompetenzen, bspw. im Bereich alternativer Antriebskonzepte, aufzubauen. Das hohe unternehmensinterne Potenzial ermöglicht zumeist eine Eigenentwicklung neuer Kompetenzen, ohne auf externe Akteure zurückgreifen zu müssen, wodurch sich nach Szyperski (1993) die Erfolgswirksamkeit erhöht.539 Ferner ist bei der Integration eines externen Partners die Gefahr einer ungewollten Wissensdiffusion im strategisch relevanten Bereich erhöht, wodurch zur Sicherung ein erhöhter Kultivierungsaufwand notwendig wird.540 Kritisch hierbei ist jedoch anzumerken, dass insbesondere in der Automobilindustrie oft die Zeit und das Budget fehlen, um eigenständig Kompetenzen aufzubauen. Kritische Kompetenzlücken sind insofern als problematisch einzuschätzen, da erstens das interne Leistungspotenzial unter der gegebenen Zeit- und Kostenrestriktion nicht ausreicht, die Lücke zu schließen, und zweitens die Schließung für eine nachhaltige Wettbewerbspositionierung entscheidend ist.541 Laut Reiß (2001) entsteht hierdurch ein zunehmender Vernetzungsdruck, da eine reine Wissenstransaktion für eine langfristige Wissensintegration aufgrund des auf die geringe Interaktion und Partizipation im Kompetenzaufbau zurückzuführenden, erschwerten Lernprozesses nicht ausreicht.542 Ferner ist eine Lösung einzelner Kompetenzen von deren Basis oft nur sehr schwer möglich und gefährdet deren Substanz. Vetschera (1999) hält hierzu fest:
_______________________________________________________________________________________
538 539
540 541 542
von Kernkompetenzen subsumiert. Für ein Messverfahren zum Kompetenzmanagement vgl. auch die Ausführungen bei Fitzek (2002), S. 31ff. Vgl. hierzu Proff (2002), S. 182f. Vgl. Szyperski (1993), S. 65. Unter externen Faktoren können in Anlehnung an die Innovationsforschung Lieferanten, Kunden, Wettbewerber sowie Forschungsinstitute verstanden werden. Vgl. hierzu die Studien von Roberts (2001) und Tether (2002). Ferner können durch die Internalisierung von Kompetenzträgern neue Kompetenzbereiche aufgebaut und bestehende weiterentwickelt werden. Thiele (1997) verweist hier auf das Praxisbeispiel des Managers Lopez, der mit seinem Wechsel von General Motors zu VW auch ein umfangreiches Wissen zur Konkurrenz brachte. Vgl. hierzu Thiele (1997), S. 90f. Vgl. hierzu auch die Gedankengänge bei Proff (2002), S. 181ff. Vgl. hierzu und im Folgenden auch Thiele (1997), S. 85f. Vgl. Reiß (2001), S. 123f. Hierbei kommt der Wissensdiffusion innerhalb des Unternehmens eine entscheidende Rolle zu, da bei einem sogenannten „single point of skill“, der Verankerung des Wissens an einer einzelnen Person, das Risiko des Wissensverlusts durch Ausscheiden der Person zu groß wäre.
122
Teil II: Strategische Ansatzpunkte zur Handhabung automobilwirtschaftlicher Herausforderungen
„Integration into an existing hierarchical structure might destroy precisely those processes, behavioral patterns and cultural traits in which the knowledge one wants to obtain is embedded.” (Vetschera (1999), S. 232)
Denkbar wäre eine Integration der kritischen Kompetenzen durch Unternehmensakquisitionen. Diese sind aber aufgrund der geringen Flexibilität, dem hohen ex-ante Zeit- und Kostenaufwand und der mangelnden Prognostizierbarkeit vieler, zukünftiger Kompetenzanforderungen als riskant einzustufen. Picot et al. (2001) identifizieren daher als dominante Organisationsform hybride Verbindungen – wie die Kooperation (sog. Closing-Gap-Allianzen)543 –, die auch in der automobilen Praxis einen hohen Stellenwert haben. Insbesondere in Zukunftsfeldern wie den alternativen Antriebstechniken verringern Kooperationen das Risiko, indem sie auf der Wissensseite Erfahrungen führender Hersteller verbinden (relationale Kompetenzen) und auf der Kostenseite die Einzelbelastung senken. Aufgrund der strategischen Relevanz ist jedoch die Gefahr des Wissensabflusses, insbesondere in OEM-OEM-Kooperationen, als kritisch einzustufen. Irrelevante Kompetenzlücken544 sind eher als unkritisch zu betrachten. Kompetenzen in diesem Bereich sind für den nachhaltigen Erfolg am Markt nicht entscheidend. Dennoch können sie, anders als in der produktorientierten Argumentation von Thiele (1997), ein integraler Bestandteil eines strategisch wichtigen Endproduktes sein. Ihre Irrelevanz rührt alleinig daher, dass die Kompetenz isoliert und für den Automobilhersteller als unkritisch einzustufen ist. Dies ist insbesondere bei Transaktionskompetenzen, die frei am Markt verfügbar sind, der Fall. Hier wäre der Kosten- und Zeitaufwand für einen Kompetenzaufbau nicht zu rechtfertigen, da der freie Marktzugang einen langfristigen Bezug und damit eine indirekte Sicherung des externen Wissens erlaubt. Als Praxisbeispiel hierfür können Reifen genannt werden. Der Reifen stellt für den automobilen Kunden selten ein Kaufentscheidungskriterium dar. Zudem ist der Wechsel zwischen einzelnen Lieferanten aufgrund einer hohen Standardisierung verhältnismäßig leicht zu bewerkstelligen. Eine Sicherung des im Reifen gebundenen Wissens durch einen internen Kompetenzaufbau ist daher nicht lohnenswert. Kompetenzüberschüsse finden sich insbesondere in Bereichen, die ehemals von strategischer Bedeutung waren, heute aber aufgrund geänderter Umfeldbedingungen an Relevanz verloren haben.545 Sie sind für die Wettbewerbsposition zunächst unkritisch, binden aber un-
543 544 545
Vgl. Picot et al. (2001), S. 289ff., und auch Freiling (1998), S. 27ff. Vgl. hierzu und im Folgenden insbesondere Thiele (1997), S. 85. Vgl. hierzu und im Folgenden Thiele (1997), S. 87.
Teil II: Strategische Ansatzpunkte zur Handhabung automobilwirtschaftlicher Herausforderungen
123
ternehmensinterne Ressourcen, die ggf. an anderer Stelle sinnvoller eingesetzt werden könnten. Es ist daher eine Selektionsentscheidung zu treffen, ob diese sukzessive durch Desinvestitionen abgebaut, wie im Fall des Audi A2, oder revitalisiert, d. h., in wettbewerbsrelevante Kompetenzen transferiert werden (competence replication).546 Ein gutes Beispiel hierfür ist der bereits thematisierte Vertrieb von Auslaufmodellen in neuen Märkten (VW Käfer in Mexiko). Ist dies nicht oder nur unter einem nicht vertretbaren Aufwand möglich, so ist die Option der Desinvestition zu wählen. Helfat & Peteraf (2003) sprechen hier von „competence retrenchment“.547
(2)
Prozessuale Kernkompetenzen
Aussagen zu den leistungsbezogenen Kernkompetenzen beantworten zwar in Teilen den Umfang und Status von Kompetenzen, erklären jedoch nicht deren Herkunft. Isoliert betrachtet besitzen sie daher nur begrenzte Erklärungskraft. Insbesondere die dynamischen Umfelder im heutigen Wettbewerb werfen die Frage nach dem Kompetenzaufbau bzw. nach Vorsteuergrößen der Kernkompetenzen auf.548 Im Folgenden soll auf mögliche Vorsteuergrößen, die als prozessuale Kernkompetenzen zu verstehen sind, eingegangen werden.549 Klein et al. (1991) sehen hierbei vier fundamentale Fähigkeiten: Lernen, Innovieren, Kategorisieren und Verankern. Ähnlich verstehen Teece et al. (1997) prozessuale Kernkompetenzen als „Dynamic Capabilities“ und definieren diese als „the ability to integrate, build, and reconfigure internal and external competences to address rapidly changing environments.” (Teece et al. (1997), S. 516)
Die Integrationskompetenz als Bestandteil prozessualer Kernkompetenzen wird von mehreren Autoren genannt. Kogut & Zander (1992) benutzen beispielsweise den Ausdruck „combinati-
546
547 548
549
Vgl. hierzu auch Helfat/ Peteraf (2003), S. 1005f., und die dort verwendete Literatur. Eine Unterform der Replikation ist die Umstrukturierung (redeployment), d. h. die leichte Anpassung zur Bearbeitung neuer Märkte. Diese Sichtweise findet sich insbesondere bei der Lokalisierung im Rahmen der Produktprogrammstrategien wieder. Vgl. Helfat/ Peteraf (2003), S. 1005f. Vgl. hierzu auch Friedrich et al. (2002), S. 36. Hierdurch wird unterstellt, dass leistungsbezogene Kompetenzen für ihren Wandel unterstützende prozessuale Kompetenzen benötigen. Helfat/ Peteraf (2003) sind anderer Auffassung und unterstellen, dass Kompetenzen sich auch ohne Unterstützung von prozessualen Kompetenzen im Zeitverlauf entwickeln. Diese Arbeit folgt dieser Argumentation jedoch nicht. Auch Weinert (2001), S. 49, geht in seinen Ausführungen auf prozessuale Kompetenzen ein. Danneels (2002), S. 1112ff., spricht in diesem Zusammenhang von „Second-Order Competences“. Aufgrund ihrer inhaltlichen Nähe zu späteren Ausführungen im Bereich der Organisation erfolgt an dieser Stelle nur eine kurze Thematisierung, die dem Grundverständnis für spätere Aussagen dienen soll.
124
Teil II: Strategische Ansatzpunkte zur Handhabung automobilwirtschaftlicher Herausforderungen
ve capabilities“ im Kontext organisationaler Routinen zur Schaffung neuer Kernkompetenzen. Dougherty (1992) und Helfat & Raubitschek (2000) führen das Beispiel des Produktentwicklungsprozess als Integrationskompetenz an. Die Integration kann hierbei, wie bereits thematisiert, auf Basis interner Kompetenzen erfolgen oder auch unter Einbezug externer Faktoren.550 Insbesondere vor dem Hintergrund der dekomponierten Wertschöpfungskette kommt ihr eine zentrale Stellung in der Automobilindustrie zu. Der Einbezug eines externen Faktors erfordert ferner eine Beziehungskompetenz. Die in der Literatur vereinzelt auffindbaren Publikationen zum Thema Beziehungskompetenz beziehen sich dabei meist auf einzelne Fragmente wie bspw. auf die Sozialkompetenz.551 Eine Totalbetrachtung vermisst man bislang zumeist. Sich dieses Defizits bewusst, wird der vorliegenden Arbeit ein breiteres Verständnis zur Beziehungskompetenz zugrunde gelegt und diese verstanden als, die „[…] Fähigkeit von Personen [und Organisationen], durch multipersonale Interaktionen zum Aufbau, zur Entwicklung und zum Erhalt vielfältiger, langfristig angelegter […] Beziehungen beizutragen.“ (Stahl (1996), S. 230, Anm. A. R.) 552
Diese Perspektivenausdehnung inkludiert neben der konkreten Interaktion in der einzelnen Leistungserstellung (transaktionsbezogene Beziehungskompetenz) die langfristige Beziehungsdimension, d. h. den Aufbau von fortlaufenden Geschäftsbeziehungen (netzwerkbezogene Beziehungskompetenz).553 Insbesondere diese scheint vor dem Hintergrund der Automobilbranche entscheidend. Zunächst bedarf die Komplexität der Leistungserstellung meist langfristiger Kooperationen. Diese sind aufgrund der hohen strategischen Relevanz und damit dem Sicherheitsaspekt sowie den hohen gegenseitigen Investitionen kurzfristigen Arrangements vorzuziehen. Nicht zuletzt stellen Kernkompetenzen Bündel von Fähigkeiten und Ressourcen dar. Deshalb spielt die architektonische Kompetenz eine entscheidende Rolle. Hierunter sollen Prozesse und Routinen verstanden werden, die es den Managern ermöglichen, Kernkompetenzen zu
550 551
552
Vgl. Eisenhardt/ Martin (2000), S. 1108, sowie die angegebene Literatur. Sozialkompetenz ist nach Schuler/ Barthelme (1995) die Fähigkeit, „[…] in sozialen Situationen unter Berücksichtigung situationsspezifischer Anforderungen Ziele zu erreichen und Pläne zweckrationell zu realisieren“ (Schuler/ Barthelme (1995), S. 80). Zur Verdeutlichung der Mannigfaltigkeit des Begriffes vgl. auch den tabellarischen Definitionsüberblick bei Hennig-Thurau/ C. (1999), S. 300f., und die enumerative Aufzählung bei Orendi et al. (1986), S. 4ff. Vgl. Hennig-Thurau/ C. (1999), S. 303. Diese Sichtweise der Beziehungskompetenz orientiert sich stark an Goleman (1999), der soziale Kompetenz als „die Fähigkeit Beziehungen zu unterhalten und Netzwerke aufzubauen […]“ (Goleman (1999), S. 29) versteht.
Teil II: Strategische Ansatzpunkte zur Handhabung automobilwirtschaftlicher Herausforderungen
125
kopieren, diversifizieren und rekonfigurieren.554 Henderson & Cockburn (1994) halten in diesem Zusammenhang fest: „The architectural competence of an organization allows it to integrate them together in new and flexible ways and to develop new architectural and component competencies as they are required.” (Henderson & Cockburn (1994), S. 66)
Diese kontinuierliche Dynamik im Kompetenzbildungsprozess ist entscheidend für ein Überleben in dynamischen Umfeldern. Architektonische Kompetenzen erleichtern das Management des kontinuierlichen Wandels, indem sie Prozesse, Tools und Routinen für die verschiedenen Aufgabenfelder bereitstellen.555 Getätigte Überlegungen zeichnen ein differenziertes Ressourcenbild, welches das Spannungsfeld zwischen Stabilität und Dynamik an grundlegenden Stellen löst. Stabilität in der Kompetenzbasis wird insbesondere durch die Fokuskompetenzen sichergestellt. Flexibilität in strategischen Aktionsfeldern wird einerseits durch den situativen Einbezug externer Ressourcen (Transaktion), anderseits durch die Kombinatorik interner und externer Kompetenzbasen (Relation) erreicht. Hierbei wird ein Dynamisierungsverständnis ähnlich dem von Teece et al. (1997) gewählt, welche nicht wie Eisenhardt & Martin (2000) eine Dynamisierung aller Kompetenzen anstreben, sondern bewusst dynamische Kompetenzen als einen ergänzenden Kompetenztyp in das Gesamtkonzept integrieren. 556 Die sog. dynamischen oder auch prozessualen Kompetenzen führen damit nicht wie bei Eisenhardt & Martin (2000) zu einer Erosion der eigentlichen Substanz von Kernkompetenzen. 557 Vielmehr stellen sie selbst eine beständige Kompetenz auf Prozessebene dar, da sie als Routinen dauerhaft im Unternehmen implementiert sind. Auf Wirkungsebene ermöglichen sie jedoch eine dynamische Anpassung der gesamten Kompetenzbasis im Rahmen eines Kompetenzmanagements.
_______________________________________________________________________________________ 553 554 555 556 557
Die netzwerkbezogene Beziehungskompetenz ist stark an die relationale Kompetenz von Stahl (1996), S. 228ff., angelehnt. Vgl. Eisenhardt/ Martin (2000), S. 1107, sowie die angegebene Literatur. Vgl. Teece et al. (1997), S. 520f. Vgl. hierzu auch die Ausführungen bei Schreyögg/ Kliesch (2006), S. 462ff. Vgl. hierzu auch die Ausführungen bei Schreyögg/ Kliesch (2006), S. 467f.
126
II.3
Teil II: Strategische Ansatzpunkte zur Handhabung automobilwirtschaftlicher Herausforderungen
Zwischenbetrachtung: Die Modularisierung als Pfeiler zentraler Maßnahmen
Zielsetzung einer Zwischenbilanz ist gemeinhin die Zusammenfassung und Rekapitulation bisheriger Ergebnisse. Ferner stellt sie ein Bindeglied zwischen dem bereits Geschriebenen und dem noch zu Schreibenden dar. Bereits in der Einleitung wurde auf die Problematik einer Branchengesamtsicht hingewiesen und postuliert: Um der angesprochenen Fragmentlastigkeit anderer wissenschaftlicher Veröffentlichungen entgegenzuwirken, ist es auch in dieser Arbeit unabdingbar, pragmatische Selektionsentscheidungen zugunsten übergreifender Themenstellungen und entsprechender Zusammenhänge zu treffen. Vorliegende Arbeit führt daher an verschiedenen Stellen inhaltliche Verdichtungen durch, um eine Kompromiss zwischen Vollständigkeit bzw. vollkommener Konsistenz und Erklärbarkeit bzw. Verständlichkeit herbeizuführen. (Literaturverweise weggelassen)
Im Zuge dessen wurde anfangs eine Verdichtung der vielfältigen Veränderungstreiber in der Automobilindustrie zu globalen Herausforderungen vorgenommen. Eine ähnliche Verdichtung erscheint, wenn überhaupt möglich, an dieser Stelle angebracht, um einerseits im Sinne einer Zusammenfassung die bisherigen Ergebnisse verständlich zu rekapitulieren und andererseits einen verständlichen Einstieg in die weitere Thematik zu finden. Es ist nämlich offensichtlich, dass eine Abbildung aller Umfeld-Strategie-Struktur-Konstellationen weder der Zielsetzung der Arbeit, der Vermittlung einer strukturierten, verständlichen Gesamtsicht, dienlich noch im Rahmen dieser Arbeit abzubilden ist. Im Folgenden soll daher gezeigt werden, dass in der Produktmodularität der „kleinste gemeinsame Nenner“ bisheriger Ausführungen zu sehen ist (a). Diese soll auch als Hauptbindeglied zu Teil III verstanden werden, wobei anderer Faktoren komplettierend betrachtet werden. Ergänzt wird die Zusammenschau durch einen kurzen Abriss der Implikationen der Produktmodularität (b). Dies dient insbesondere dem Einstieg in den kommenden Teil.
(1)
Die Produktmodularität als „kleinster gemeinsamer Nenner“
Im Rahmen der Produktprogrammstrategien wurde Modularität definiert als eine „NPD [new product development] strategy in which the interfaces shared among the components of a given product architecture become standardized and specified to allow for greater substitutability of components across product families.” (Mikkola (2006), S. 130)
Teil II: Strategische Ansatzpunkte zur Handhabung automobilwirtschaftlicher Herausforderungen
127
Hierbei wurde insbesondere die physische und funktionale Entkoppelung einzelner Module als konstitutives Merkmal hervorgehoben. Eine Rekapitulation der bisherigen Ergebnisse zeigt, dass genau dieses Funktionsprinzip Einfluss auf signifikante Bereiche aller vier Betrachtungsfelder der strategischen Programme hat (Abb. II-12).558 Produkt-/Marktstrategien Optimierung der Programmkomplexität Steuerung der kundeninduzierten Produktproliferation Grundlage der standardisierten Lokalisierung
Wertschöpfungsstrategien Grundvoraussetzung für die Dekomposition der WSK Auswirkungen auf die OEM-ZulieferBeziehung
Abb. II-12:
Wettbewerbsstrategien Relevanz bei der Kostenführerschaft Relevanz bei der Imitation Auswirkungen auf die Nachhaltigkeit von Differenzierungsvorteilen
Modularität
Ressourcenstrategien
Einfluss bei den Transaktionsressourcen Gedankenbasis für die prozessualen Ressourcentypen
Auswirkung der Modularität auf die strategischen Programme an ausgewählten Beispielen
Im Rahmen der Produkt-/Marktstrategien wurde explizit auf die Bedeutung der Modularität für das Management der Programmkomplexität eingegangen. Betrachtet man den Vorteil der Kombinatorik modularer Architekturen, kann in ihr ferner die Grundlage zur Steuerung der kundeninduzierten Produktproliferation über Ausstattungspakete gesehen werden. Zuletzt ermöglicht erst die physische und funktionale Entkoppelung die Anwendung der Strategie einer standardisierten Lokalisierung. Im Bereich der Wettbewerbsstrategien wurde im Rahmen der Volumenimitation auf die Auswirkungen der Modularität, auf die Kostenstrukturen sowie auf die Imitation und damit auf die Nachhaltigkeit von Differenzierungsvorteilen eingegangen. Bei den strategischen Leistungsprogrammen spielt die Modularität eine entscheidende Rolle bei der Dekompositionsfähigkeit von Wertschöpfungssystemen und damit auch bei der Externalisierung von Leistungsumfängen.559 Ferner wirkt sie auf die OEM-Zulieferbeziehung 558
559
Auch Hüttenrauch/ Baum (2008) heben die zentrale Rolle der Produktmodularität für die Lösung von Vielfalt und Effizienz hervor. Vgl. hierzu insbesondere Kapitel 5 „Die Lösung des Konfliktes – Modularisierung“ der Veröffentlichung von Hüttenrauch/ Baum (2008), S. 127ff. Vgl. hierzu zusammenfassend Mikkola (2003), S. 444, und ausführlich Unterkapitel III.1.2.
128
Teil II: Strategische Ansatzpunkte zur Handhabung automobilwirtschaftlicher Herausforderungen
ein, wie später im Rahmen der Konfiguration und Koordination noch tiefer gehend behandelt wird. Zuletzt bildet sie die Basis für die Überlegungen im Rahmen der Ressourcenstrategie und insbesondere für den Diskurs prozessualer Kompetenzen. Deutlich wird dies insbesondere in den Ausführungen zur architektonischen Kompetenz.
(2)
Implikationen der Produktmodularität
Modularität darf jedoch nicht nur als Lösungsansatz betrachtet werden, sondern impliziert weitere Herausforderungen, die sich insbesondere aufgrund der Kompetenzstreuung ergeben. Unternehmensintern wurde im Rahmen der Wettbewerbs- und Wertschöpfungsstrategien auf eine ganzheitliche Ausrichtung aller Abteilungen auf die Strategie hingewiesen. Die Strategie der Lokalisierung im Rahmen der Internationalisierungsüberlegungen fördert die globale Verteilung von Kompetenzzentren, insbesondere in den kundennahen Bereichen. Schlussendlich bewirkt die Verbundleistungserstellung eine Verteilung der Kompetenzen über den direkt beeinflussbaren Raum der Unternehmung hinweg, indem Zulieferunternehmen zunehmend ganze Leistungsumfänge der OEM übernehmen. Gleichzeitig sind jedoch die Module als Vorleistungen zu sehen, die isoliert für den Endkunden keinen Nutzen bringen. Erst die Integration der einzelnen Module bzw. Kompetenzen über die Akteure hinweg zu einem endkundenfähigen Produkt ermöglicht die Positionierung im Markt. Im Rahmen der Ressourcenstrategien wurde daher neben den leistungsbezogenen insbesondere auf die Bedeutung der prozessualen Kompetenzen hingewiesen, ermöglichen sie doch erst eine Integration der Vorleistung zu einem Endprodukt. Die Modularität ist somit ein „zweischneidiges Schwert“. Zum einen ermöglicht sie durch die Dekomposition der komplexen Gesamtaufgabe in Teilaufgaben eine effiziente Leistungserstellung vor dem Hintergrund der automobilen Herausforderungen. Zum anderen jedoch führt sie zu einem komplexen Leistungssystem, dass seinerseits gesteuert werden muss. Unternehmensintern erhöhen temporäre Sekundärstrukturen, wie Projekte und Teams, und die globale Verteilung von Teileinheiten den organisatorischen Aufwand. Zudem ist eine Vielzahl an verschiedenen Akteuren jenseits der Unternehmensgrenzen an der Leistungserstellung beteiligt, die wiederum verschiedene Anforderungen an die Organisation stellen. Es ist daher unumgänglich, neben einer strategischen Analyse des automobilen Leistungsverbunds eine organisatorische Betrachtung vorzunehmen, um den vielfältigen konfiguratorischen und koordinatorischen Anforderungen gerecht zu werden und ein Gesamtverständnis zu generieren.
Teil III: Ansatzpunkte zur Organisation des automobilen Leistungsverbunds
129
TEIL III: ANSATZPUNKTE ZUR ORGANISATION DES AUTOMOBILEN LEISTUNGSVERBUNDS Die globale Verteilung von Kompetenzen stellt die Organisation vor die Herausforderung der Wissens- und Zielrealisierung auf Ebene von Unternehmens- (Leistungsverbund) und Kontextmehrheiten (Globalisierung).560 Zusätzlich wurden bei den Herausforderungen der Zeitdruck und die Dynamik thematisiert. Vor diesem Hintergrund stellte Pries (1999a) bereits früh die klassische Konzernkonfiguration für die Automobilindustrie in Frage: „Für Volkswagen stellt sich z. B. die große Frage, ob die traditionelle Konzernkonfiguration mit einer alles andere beherrschenden und überragenden Zentrale in Wolfsburg bestehen bleiben wird und wie sie unter diesen Bedingungen die konzernweite Koordination der inzwischen über den gesamten Erdball verstreuten und mit immer mehr eigenständigen Funktionen aufgeladenen Standorte bewerkstelligen kann.“ (Pries (1999a), S. 71)
Außerhalb der Automobilwissenschaft werden zeitgleich in der Theorie im Zuge der charakterisierten Entwicklung immer häufiger netzwerkartige Organisationsmodelle gefordert, woran sich auch Zahn & Hülsmann (2007) anschließen:561 „In solchen durch höhere Komplexität und Dynamik gekennzeichneten Wettbewerbslandschaften wird den Unternehmen eine größere Response- und Anpassungsfähigkeit abverlangt. […] Als Konsequenz gewinnen Unternehmensnetzwerke als organisationale Arrangements an Bedeutung.“ (Zahn & Hülsmann (2007), S. 109)
Vor dem Hintergrund der aktuellen Branchensituation erscheint es daher wenig überraschend, dass auch in der Automobilforschung das Netzwerk den momentan vorherrschenden organisationalen Forschungsgegenstand darstellt.562 Gottschalk (2007) verdeutlicht dies durch die Titelwahl einer seiner neueren Veröffentlichungen „Netzwerkmanagement – Ein strategischer Imperativ für die Automobilindustrie“ und auch Tietze (2003) verweist auf die Vorteilhaftigkeit von Netzwerken in der Automobilindustrie: „Vor dem Hintergrund eines ausdifferenzierten, globalen und volatilen Wettbewerbsumfelds gewinnen Kooperationsbeziehungen […], insb. in der Ausprägungsform „Netz560 561
562
Vgl. hierzu auch die Überlegungen bei Klemm (1997), S. 1ff. Vgl. zu diesem Gedankengang auch Klemm (1997), S. 1ff., sowie die dort angegebene Literatur. Ferner stellte Naujoks (1998), S. 12ff., einen gewissen Zusammenhang zwischen den in dieser Arbeit thematisierten Herausforderungen (Individualisierung der Kundenwünsche, Innovationsrate der Branche und Technologiekonvergenz) und der organisationalen Komplexität fest. Bereits 1992 stellten Snow et al. (1992) fest: „BMW, for example, is organized as a stable network. In principle, any part of a BMW is a candidate for outsourcing, and somewhere between 55 and 75 percent of total production costs at BMW come from outsourced parts” (Snow et al. (1992), S. 13). Veröffentlichungen, die sich auch mit dem Netzwerk in der Automobilwirtschaft beschäftigen, sind u. a. Becker et al. (2005), Fehrenbach (2006), Hanke (1993), Mattes et al. (2004) und Garcia Sanz et al. (2007).
130
Teil III: Ansatzpunkte zur Organisation des automobilen Leistungsverbunds
werk“ mehr und mehr an Bedeutung. So werden auch in der Fahrzeugentwicklung als Antwort auf die Wettbewerbsdynamik vermehrt horizontale und vertikale Kooperationen […] durchgeführt.“ (Tietze (2003), S. 195)
Derartige und ähnliche Zitate zeigen den scheinbaren Vorteil von Netzwerkstrukturen. Der Flexibilität wird dabei meist ein herausragender Stellenwert beigemessen, wobei andere organisationale Charakteristika, wie bspw. Stabilität und Größe, meist in den Hintergrund geraten, wie auch die Beobachtungen von Holtbrügge (2001) unterstreichen: „Vor allem aber führen die immer kürzer werdenden Innovations- und Produktlebenszyklen dazu, daß die Zeit eine zunehmende Bedeutung als Wettbewerbsfaktor erlangt. Das zentrale organisatorische Gestaltungsproblem ist nicht mehr die Gewährleistung von Stabilität als vielmehr die Dynamisierung der gesamten betrieblichen Wertschöpfungsund Kommunikationsprozesse.“ (Holtbrügge (2001), S. 338, Herv. A. R.)563
Die eingenommene, dichotome Sichtweise kann jedoch, wie später noch ausführlicher zu diskutieren sein wird, zu weitreichenden Problemen führen. So spielt beispielsweise eine gewisse stabile Größe für das Überleben im globalen Merger Endgame und bei der Netzwerkmoderation eine entscheidende Rolle. Zudem unterliegt die Automobilbranche, ähnlich den anderen Branchen, einer kontinuierlichen Konzentration, die quasi ex natura einen tendenziellen Zuwachs der Unternehmensgrößen bewirkt.564 Naujoks (1998) fordert daher ganz allgemein neue Organisations- und Steuerungsformen, die sowohl der Größe als auch der Flexibilitätsanforderung gerecht werden.565 Dieser Grundhaltung folgt auch Bühl (1990) mit seiner Forderung nach einer „Sowohl-als-auch“-Betrachtung von Stabilität und Dynamik:566 „Das Hauptproblem des Wandels [bzw. der Flexibilität] komplexer Geschäftssysteme ist das einer dynamischen Stabilität, d. h. der Verbindung von Stabilität und Dynamik, von Kontroll- und Wandelfähigkeit […].“ (Bühl (1990), S. 40, Herv. und Anm. A. R.)
Ähnlich gehen auch Bahrami & Evans (2005) bei ihrem Konzept der „Super Flexibility“ vor, indem sie bewusst die Robustheit und die Belastbarkeit in ihre Überlegungen zur Flexibilität mit einfließen lassen:567
563 564 565 566
567
Vgl. hierzu auch die Überlegungen bei Nadler/ Tushman (1999), S. 52ff. Vgl. hierzu die Ausführungen zum Merger Endgame bei Deans et al. (2002). Vgl. Naujoks (1998), S. 138. Naujoks (1998) greift diesen Umstand bei seinen Überlegungen zu einem Management von Dualitäten auf und fordert, auf Basis einer „Sowohl-als-auch“-Betrachtung die Vorteile der bipolaren Paradigmen „Stabilität“ und „Dynamik“ zu vereinen. Hierzu auch Richardson (1995): „In contrast, successful organizations are more likely to work from a broader, “double-sided” belief base […] and with control systems and management styles which reflect this” (Richardson (1995), S. 5). Vgl. Bahrami/ Evans (2005), S. 16ff.
Teil III: Ansatzpunkte zur Organisation des automobilen Leistungsverbunds
131
„On the one hand, it needs to be agile and versatile, capable of harnessing novel situations with speed and efficiency. On the other hand, it has to be robust and resilient, able to absorb shocks, withstand pressure and bounce back from the brink of disaster.” (Bahrami & Evans (2005), S. 19)
Im Folgenden wird gezeigt werden, dass auch im Kontext der Automobilbranche eine alleinige Betrachtung von Netzwerkaspekten unter dem Flexibilitätsaspekt zu simplifizierend ist.568 Vielmehr handelt es sich bei automobilen Leistungsverbünden um komplexe organisationale Gebilde, die netzwerkartige Aspekte inkludieren, jedoch nicht alleinig daraus bestehen. Diesen komplexen Gebilden liegt ein institutionelles Begriffsverständnis569 zugrunde, dass die Organisation als ein dauerhaft soziales Gebilde, in dem durch die Koordination ihrer Mitglieder spezifische, rationale Ziele erreicht werden, versteht:570 Eine Organisation ist ein offenes, soziales Gebilde, in der korporative Organisationsmitglieder arbeitsteilig ein dauerhaftes Ziel verfolgen, wobei die Koordination über formale und informale Instrumente erfolgt.571
Diese Sichtweise ist sinnvoll, da der breit angelegte Fokus der Arbeit auch eine breite Auffassung von Organisation und insbesondere der Struktur nahe legt.572 Ferner verlangt der komplexe Charakter der automobilen Leistungserstellung den Einbezug externer Kooperationspartner und erfordert daher ein offenes Organisationsverständnis.573 Das Erkenntnisobjekt be568
569
570 571 572
573
Zur Auflösung der Spannung zwischen Dynamik und Stabilität werden oft Netzwerkstrukturen herangezogen. Dies ist jedoch kritisch zu betrachten, wie Reiß (1998) verdeutlicht: „Hinsichtlich der Vorteile repräsentieren organisatorische Netzwerke insofern echte »Sowohl-als-auch-Organisationen«, als sie die Stärken von Markt und von Hierarchie in sich vereinen. Hinsichtlich der Nachteile handelt es sich bei Netzwerkgebilden hingegen um eine »Weder-noch-Organisation«. Netzwerkgebilde sind weder mit den Schwächen des anonymen Marktes noch mit Nachteilen der bürokratischen Unternehmungen belastet. […] Spätestens an dieser Stelle taucht der Verdacht auf, daß hier nicht mit einem organisatorischen Werkzeug, sondern mit einem Mythos oder einer Ideologie gearbeitet wird“ (Reiß (1998), S. 224). Zum institutionellen Organisationsbegriff vgl. ausführlich Bea/ Göbel (2006), S. 6f. Unter Institutionen werden allgemein sanktionierbare Erwartungen verstanden, die sich auf Verhaltensweisen von einzelnen Individuen oder Personenmehrheiten (in vorliegender Arbeit korporative Gebilde bzw. Unternehmen) beziehen. Zu Institutionen im organisatorischen Kontext vgl. exempl. Picot et al. (2005) S. 9ff. Die Gegenposition stellt die instrumentelle Sichtweise dar. Die Organisation ist hierbei eine „endgültig gedachte Strukturierung, die in der Regel auf längere Sicht gelten soll. […] Durch die Struktur erhält die Unternehmung aufgrund eines bestimmten Bauplans ihre besondere Gestalt“ (Kosiol (1976), S. 20 u. 28). Sie beschränkt sich dabei auf das formale Regelwerk. Vgl. hierzu Schewe (1998b), S. 51, sowie zusammenfassend Schanz (1992), Sp. 1460f. Vgl. hierzu Presthus (1966), S. 13, Etzioni (1973), S. 13, sowie Mayntz (1976), S. 36, und zusammenfassend bei Schanz (1992), Sp. 1460. Definition in Anlehnung u. a. an Hoffmann (1976), S. 210, und North (1992), S. 5 und 87. Auch Chandler (1993), S. 14 und S. 157ff., fasst den Strukturbegriff in seinem Werk „Strategy and Structure“ sehr weit, indem er auch informale Bestandteile, wie bspw. das Rollenverständnis der Führung (engl. Executive Commitee), behandelt. Die starken Wettbewerbs-, Kunden- und Marktorientierungen, die zentrale Bestandteile der Arbeit darstellen, fordern eine interne und externe Ausrichtung der Organisation. Vgl. hierzu Picot et al. (2005), S. V und S. 25.
132
Teil III: Ansatzpunkte zur Organisation des automobilen Leistungsverbunds
schränkt sich also nicht auf den Binnenbereich der Unternehmung, sondern es werden auch unternehmensübergreifende Aspekte in das Kalkül mit einbezogen:574 Zudem erfordert der hohe Koordinationsaufwand (Produktkomplexität, Vielzahl der beteiligten Akteure etc.) flankierende informelle Koordinationsmechanismen.575 Folgt man schließlich der Argumentation, dass das signifikante Merkmal der Organisation im Tatbestand der Struktur zu sehen ist und dass sich Struktur originär aus Spezialisierung (Konfiguration 576) und Koordination577 zusammensetzt,578 so gliedert sich die weitere Argumentation nach den Grundbestandteilen Konfiguration und Koordination. Aufbauend hierauf wird in einem ersten Schritt ein differenziertes Organisationsverständnis konfiguriert, dass eine Analyse der einzelnen Ebenen im automobilen Leistungsverbund zulässt (Kap. III.1). Im zweiten Kapitel wird die Koordination innerhalb der einzelnen Bereiche vor dem Hintergrund der sich ergebenden Anforderungen diskutiert (Kap. III.2).
574
575
576
577
578
Vgl. Picot et al. (2005), S. V und S. 29f., sowie zur Institutionensichtweise S. 9ff. Eine vertiefende Betrachtung von Institutionen soll nicht erfolgen. Übernommen wird die Grundidee, dass Institutionen bzw. Unternehmen nicht isoliert, sondern in der Gesamtheit des Gefüges zu sehen sind. Vgl. hierzu u. a. Wilkins/ Ouchi (1983), o. S., Bartlett/ Ghoshal (1993), S. 40, und Kieser/ Walgenbach (2007), S. 129ff. Hierbei ist die Organisationskultur insbesondere bei hohem Risiko und Komplexität für die Steuerung von Organisationen und für die Realisierung der Strategien von entscheidender Bedeutung. Vgl. Wilkins/ Ouchi (1983), S. 477, und Hax/ Majluf (2006), S. 77. Ferner fordert Schewe (1998a), S. 29, bei einer langfristigen Strategie den Einbezug von informellen Strukturelementen in den Abstimmungsprozess. Im Folgenden findet das Konfigurationsverständnis von Ringlstetter (1997), S. 57ff., Anwendung, der die Konfiguration als die Abgrenzung von Teilaufgaben und deren Zuordnung auf organisatorische Teileinheiten und damit als die Voraussetzung für Arbeitsteilung bzw. Spezialisierung versteht. Andere Autoren trennen stärker die Konfiguration von der Spezialisierung, indem sie die Aufgabenanalyse nicht explizit der Konfiguration zurechnen und in der Konfiguration eher das Resultat – „[Konfiguration] ist die äußere Form des Stellengefüges“ (Kieser/ Walgenbach (2007), S. 137, u. R. a. Pugh et al. (1968), Anm. A. R.) – als den Prozess sehen. Ähnlich auch Bea/ Göbel (2006), S. 322. Für einen thematischen Überblick zur Koordination vgl. Rühli (1992), Sp. 1164ff. Ringlstetter (1997), S. 136ff., spricht in diesem Zusammenhang von Integrationsmechanismen. Der Begriff Integration geht über eine formale Koordination hinaus. Neben formalen Koordinationsinstrumenten werden weitere Integrationsmechanismen wie die Unternehmenskultur oder die Reputation von Personen mit einbezogen. Vgl. hierzu auch die Ausführungen bei Tomer (1995), S. 412f. Im Folgenden wird der Begriff der Koordination verwendet, wobei die weichen Integrationsmechanismen Bestandteil der informellen Koordination sind. Vgl. exempl. Kosiol (1976), S. 19f., Schewe (1998b), S. 51f., und Kieser/ Walgenbach (2007), S. 77f. Auch Picot et al. (2005) sehen die Organisationsstruktur als „die Gesamtheit organisatorischer Regeln“ (Picot et al. (2005), S. 26).
Teil III: Ansatzpunkte zur Organisation des automobilen Leistungsverbunds
III.1
133
Konfiguration des automobilen Leistungsverbunds
Automobilwirtschaftliche Publikationen mit organisatorischem Inhalt beschäftigen sich – wie bereits mehrfach angesprochen – zumeist mit interorganisationalen Netzwerken und konzentrieren sich dabei insbesondere auf die OEM-Zulieferbeziehung. Erste Arbeiten hierzu lieferten Devlin & Bleackley (1988) und Nohria & Garcia-Pont (1991). In jüngerer Vergangenheit thematisierte bspw. Berret (2006) die verschiedenen Kooperationsformen im automobilen Leistungsverbund und forderte eine stärkere firmenübergreifende Vernetzung. Tietze (2003) vertiefte mögliche Netzwerkoptionen vor dem Hintergrund einer kompetenzfokussierten Strategieausrichtung der Automobilhersteller und Fitzek (2006) lieferte mit seiner Monografie einen Beitrag zum Anlaufmanagement in automobilen Netzwerken. In der Organisationsforschung finden sich parallel zunehmend Bemühungen, den Netzwerkgedanken in die Binnenperspektive von Organisationen zu tragen, um insbesondere deren Flexibilitätsvorteile für die fokale Organisation nutzbar zu machen.579 Hierzu zu zählen sind bspw. die frühen Überlegungen bei Miles & Snow (1995) und Miles et al. (1997) zur „spherical structure“ bzw. zur „cellular firm“, die einen internen Restrukturierungsbedarf aufgrund der zunehmenden Einbettung von Organisationen in Netzwerken identifizierten:580 “Successful multifirm networks combine the resources of two or more firms with complementary competencies. […]However, one set of new management requirements presents a conceptual barrier. These requirements, increasingly apparent in network organizations, stem from the need to manage internal demands in response to external network opportunities.” (Miles & Snow (1995), S. 6)
Folglich ist eine gewisse Dependenz zwischen intra- und interorganisationalen Netzwerken zu sehen. Einen ersten theoriegeleiteten Versuch der Integration beider Konzepte unternahm Coulson-Thomas (1991) mit der Konzeptionierung einer „responsive network organization“. Netzwerkverbindungen existieren hierbei nicht nur außerhalb der Organisation zu Kunden, Wettbewerbern und Lieferanten, sondern auch intern zwischen den einzelnen Einheiten. Die einzelnen Akteure sind hierbei auf verschiedenen Internalisierungsebenen zu verorten und werden durch einen stabilen, organisationalen Kern gelenkt.581 Ein Transfer dieser Grundidee 579 580
581
Vgl. hierzu auch die Ausführungen zur Netzwerk-Organisation bei Holtbrügge (2001), S. 342f. Ähnliche Ansätze sind bspw. die Orbital-Organisation, die die Organisation metaphorisch dem Sonnensystem mit einer energiegebenden Quelle (Zentrale) und eigenständigen planetaren Systemen (Teileinheiten) gleichsetzt (vgl. Lehr/ Rodriguez (1987)), oder auch Holarchien (vgl. exempl. Rodriguez et al. (2007)). Vgl. Coulson-Thomas (1991), S. 244. Hierbei unterscheidet er unter anderem zwischen dem organisatorischen Kern, den Projektteams, „Intrapreneuren“, Beratern und den Zulieferern.
134
Teil III: Ansatzpunkte zur Organisation des automobilen Leistungsverbunds
wurde bislang für den Fall der Automobilbranche nicht unternommen, obwohl dieser vor dem Hintergrund des komplexen Leistungssystems durchaus lohnenswert erscheint.582 Aufbauend auf der Grundidee der verschiedenen organisationalen Schichten wird daher in einem ersten Schritt das fokale Unternehmen als Plattform thematisiert, auf dessen Basis Teileinheiten unter Einbezug der Erkenntnisse inner-organisationaler Netzwerke auf verschiedenen Externalisierungsstufen verortet werden (Unterkapitel III.1.1). Ergänzt werden die Überlegungen um eine Betrachtung interorganisationaler Netzwerke in der Automobilindustrie (Unterkapitel III.1.2). Abschließend wird noch die zunehmende Konfluenz inner- und extraorganisationaler Strukturen im automobilen Kontext diskutiert (Unterkapitel III.1.3).583
III.1.1
Der Automobilhersteller als Plattform modularer Teileinheiten
Neuere Ansätze der innerorganisationalen Netzwerkforschung beschäftigen sich zunehmend mit dem Konzept der Modularität, wobei ein Transfer der Erkenntnisse modularer Produktarchitekturen auf die Organisationskonfiguration versucht wird.584 Spitta (1998) hält hierzu fest: „Die von Picot, Reichwald und Wigand propagierte „modulare Organisation“ […] ist analog zum technischen Begriff zu sehen. Die Intention der Zerlegung von großen, monolithischen in modulare, aus kleineren Einheiten zusammengesetzte Organisationen ist mit der Sichtweise der Technik identisch.“ (Spitta (1998), S. 5, u. R. a. Picot et al. (2001))
Vor dem Hintergrund der in Teil II erarbeiteten Inhalte erscheint eine tiefere Auseinandersetzung mit diesem Forschungsfeld für die vorliegende Arbeit durchaus lohnenswert. Hierbei fällt in einem ersten Zugang auf, dass fast allen Veröffentlichungen eine quasi dichotome
582
583
584
Eine Ausnahme stellt die fallstudienorientierte Veröffentlichung von Frigant/ Talbot (2005) „Technological Determinism and Modularity – Lessons from a Comparison between Aircraft and Auto Industries in Europe“ dar. Diese behandelt die Thematik jedoch eher oberflächlich. Ferner betrachten Fourcade/ Midler (2004) in „Modularisation in the auto industry – can manufacturer’s architectural strategies meet supplier’s sustainable profit trajectories?” die organisationalen Auswirkungen der Modularität im Kontext der Automobilindustrie, fokussieren sich jedoch in ihrer Betrachtung auf die Zulieferindustrie. Ähnlich identifizieren auch Picot et al. (2005), S. 29f., drei Organisationsebenen: die Organisation des Binnenbereichs, die Organisation zwischenbetrieblicher Beziehungen und die Organisation der wettbewerblichen Rahmenbedingungen. Vgl. hierzu exempl. auch Langlois (2002), S. 19, und Schilling (2000), S. 312. Die Analogie zwischen der Modularisierung auf Produkt- und Organisationsebene heben Schilling/ Steensma (2001) hervor: „The loosely coupled organizational forms allow organizational components to be flexibly recombined into a variety of configurations, much as a modular product system enables multiple endproduct configurations from a given set of components” (Schilling/ Steensma (2001), S. 1149).
Teil III: Ansatzpunkte zur Organisation des automobilen Leistungsverbunds
135
Verwendung von Modularität und Hierarchie zugrunde liegt, wie die Ausführungen von Schilling & Steensma (2001) unterstreichen: „Organizational systems become increasingly modular when firms begin to substitute loosely coupled forms for tightly integrated, hierarchical structures.” (Schilling & Steensma (2001), S. 1151)
Dabei wird jedoch oft vernachlässigt, dass analog zur Funktionsweise modularer Produktarchitekturen erst hierarchische Grundstrukturen im Sinne von Plattformen die einzelnen modularen Teileinheiten in einen Gesamtzusammenhang bringen können. Nadler & Tushman (1999) verdeutlichen diesen Gedanken in einem ähnlichen Kontext wie folgt: „We now believe that the organization of the future will seek congruence [respectively consistency] at the enterprise level, providing an effective framework that successfully melds a broad array of different architectures at the business unit level and beyond.” (Nadler & Tushman (1999), S. 54, Anm. A. R.)
Unterstützt wird die mögliche Koexistenz von Hierarchie und modularen Netzwerkstrukturen ferner durch die empirischen Ergebnisse von Hoetker (2006): „ […] Modularity is not a monolithic concept. Most of the modularity literature has treated it as one. This study shows that loosely coupled, reconfigurable networks and moving out of hierarchy are separate phenomena and that one can exist without the other. Future studies will need to define ‘modular organizations’ carefully according to their context. Greater attention to the multiple facets of organizational modularity should allow clearer, richer insights.” (Hoetker (2006), S. 514)
Vor diesem Hintergrund erscheint es abwegig, Modularität und Hierarchie als Dichotome zu verstehen. Vielmehr ergänzen sie sich gegenseitig zu einer organisationalen Gesamtarchitektur. Ähnliche Schlüsse bewegen auch Kieser (1994) festzuhalten: „Voraussetzungen der Selbstorganisation müssen durch Fremdorganisation geschaffen werden.“ (Kieser (1994), S. 219)
Im Folgenden wird dieses Grundverständnis aufgegriffen, indem nicht alleinig die Modularisierung von Teileinheiten (1) betrachtet, sondern auch auf den organisationalen Kern als stabilisierende und ordnende Plattform eingegangen wird (2).585 Geschlossen wird das Unterkapitel mit einem praktischen Diskurs der erarbeiteten Ergebnisse im Kontext der Forschungsorganisation von Automobilherstellern (3).
585
Getätigte Aussagen erweitern die klassische Diskussion dahingehend, dass nicht nur die Relationen zwischen den einzelnen Akteuren sowie deren Einflussvariablen betrachtet werden, sondern auch eine höhere, ordnende Kontextebene in die Überlegungen mit einfließt. Vgl. hierzu auch Ciborra (1996), S. 113.
136
(1)
Teil III: Ansatzpunkte zur Organisation des automobilen Leistungsverbunds
Grundlegende Überlegungen zur Modularisierung von Teileinheiten
Im Rahmen der Produktstrategien und bei der externen Leistungsvergabe wurde bereits vermehrt auf die Vorteile von modularen Produktarchitekturen hingewiesen. Insbesondere die funktionale und physische Entkopplung wurde dabei ins Zentrum der Betrachtung gerückt. Zeitgleich wird in der Organisationstheorie die Vorteilhaftigkeit von modularen Organisationsstrukturen zur modularen Leistungserstellung thematisiert, wie beispielhaft Ethiraj & Levinthal (2004) zusammenfassen: „In an organizational context, it is argued that modularization of product designs can pave the way for similar modularization of organization designs, thus facilitating coordination of activities via an “information structure” rather than managerial authority or hierarchy.” (Ethiraj & Levinthal (2004), S. 159, u. R. a. Sanchez & Mahoney (1996))
Es erscheint daher nahe liegend, eine erste Annäherung an die Organisation von Automobilherstellern auf Basis des bereits erarbeiteten Modularitätsverständnisses vorzunehmen. Für diesen Transfer ist es dabei zunächst sinnvoll, eine möglichst allgemeine Definition von Modularität anzuwenden, wobei Schilling (2000) herangezogen werden kann. Dieser definiert Modularität allgemein als „a general system concept: it is a continuum describing the degree to which a system’s components can be separated and recombined, and it refers both to the tightness of coupling between components and the degree to which the “rules” of the system architecture enable (or prohibit) the mixing and matching of components.” (Schilling (2000), S. 312)
Überträgt man diese generische Sichtweise auf die organisationale Konfiguration, so zeichnen sich modulare Teileinheiten durch eine vergleichsweise hohe Autonomie von der Kernorganisation (Distanzierung) und eine hohe Autarkie586 von anderen Teileinheiten (funktionale Entkoppelung) durch Vorabdefinition der Schnittstellen und der Kontexte (Kompatibilität) aus:587 „A module is a unit whose structural elements are powerfully connected among themselves and relatively weakly connected to elements in other units.“ (Baldwin & Clark (2000), S. 63, Hervorhebungen weggelassen) „[In modular configurations] ‘‘organisational interfaces’’ are formed: they correspond to the various processes of inter- [and intra-]firm coordination implemented.” (Frigant & Talbot (2005), S. 343, Anm. A. R.)
586 587
Nach Ringlstetter (1997), S. 45, determiniert Autarkie die Eigenständigkeit der Aufgabe. Autonomie wiederum gibt an, in welchem Umfang die einzelne Teileinheit Entscheidungsgewalt besitzt. Der Kontext- und Schnittstellenaspekt wird noch ausführlich in Kap III.2 im Rahmen der Koordination thematisiert. Kompatibilität ist ein relationales Attribut, das die Schnittstellen und Interaktionsregeln zwischen einzelnen Teileinheiten definiert. Vgl. hierzu auch Garud/ Kumaraswamy (1995), S. 94.
Teil III: Ansatzpunkte zur Organisation des automobilen Leistungsverbunds
137
Distanzierung und funktionale Entkoppelung führen dabei zu einem Differenzierungspotenzial der modularen Einheit, welches im Rahmen der Konfluenzbetrachtung noch einen zentralen Stellenwert einnehmen wird.588 Die Autarkie modularer Einheiten verringert den Kommunikationsbedarf zur abteilungsübergreifenden Abstimmung und wirkt sich positiv auf die Eigeninteressenproblematik589 aus. Daher kann Pil & Cohen (2006) zugestimmt werden, wenn sie behaupten: „A third factor enhancing the speed with which designers evaluate the solution space is that modular product development generally entails hierarchical decoupling. Engineers can work more closely with others in their unit, and development activities are less likely to be delayed because of conflicts between groups with different performance priorities.” (Pil & Cohen (2006), S. 1001, u. R. a. Sanchez & Mahoney (1996) und Ulrich & Tung (1991), Literaturverweise weggelassen)
Zudem wirkt die Entkoppelung beschleunigend auf die Ablauforganisation ein, indem eine parallele Abarbeitung von Aufgaben ermöglicht wird.590 Geht man ferner von einem Machtstreben einzelner Abteilungen aus, so kann die Parallelvergabe von identischen Aufgaben zu Mobilisierungsvorteilen591 führen, indem eine Wettkampfsituation simuliert wird.592 Zuletzt führt die Autarkie in Zusammenhang mit der vordefinierten Kompatibilität zu Kombinatorikund damit Flexibilitätsvorteilen, wie Schilling & Steensma (2001) hervorheben: „The loosely coupled organizational forms allow organizational components to be flexibly recombined into a variety of configurations, much as a modular product system enables multiple endproduct configurations from a given set of components.” (Schilling & Steensma (2001), S. 1149)
Die hohe Autonomie wiederum kann indirekt auf das Konfliktpotenzial zwischen Teileinheiten und Zentrale wirken, indem sie durch die tendenziell höheren Freiheitsgrade modularer Einheiten Motivations- und damit Identifikationseffekte mit dem Unternehmensziel herbei-
588 589 590
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592
Vgl. hierzu ausführlich die Überlegungen in Unterkapitel III.1.3. Ähnlich der Differenz konzeptioniert Backmann (2001), S. 30ff., die Steuerungsdistanz. Eigeninteressen resultieren aus den Machtbestrebungen der Teileinheiten sowie deren eigenen Zielagenden. Vgl. Ringlstetter (1997), S. 12f., und vertiefend auch Ringlstetter (1995), S. 62ff. Die Probleme einer parallelen Abarbeitung bei gekoppelten Elementen beschreibt Terwiesch et al. (2002) wie folgt: „To speed development, tasks often proceed in parallel by relying on preliminary information from other tasks, information that has not yet been finalized. This frequently causes substantial rework using as much as 50 Prozent of total engineering capacity” (Terwiesch et al. (2002), S. 402). „Ganz allgemein geht es dabei [bei der Mobilisierung] um „die Verfügbarmachung latenter Energie“, die zu einer Leistungssteigerung bei der Aufgabenerfüllung führen soll“ (Ringlstetter (1997), S. 40, u. R. a. Etzioni (1975), S. 406, Anm. A. R.). Zum Begriff der Mobilisierung im organisationalen Kontext vgl. auch Deeken (1997), S. 56ff., sowie die dort angegebene Literatur. Im Bereich der Automobilindustrie kommt es oft zu einer Parallelvergabe von Designaufgaben im Rahmen der Konzeptphase.
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führt. Ferner ermöglicht sie kreative Freiräume, die im Rahmen der gewollten mentalen Differenzierung von Teileinheiten eine entscheidende Rolle spielen.593 Neben der Differenz als konstituierendem Merkmal modularer Teileinheiten ist die Binnenhomogenität zu nennen. Die Modularität zerteilt den Gesamtkontext der Unternehmen in voneinander abgrenzbare Mikrokontexte, innerhalb derer eine hohe Kontexthomogenität herrscht.594 In der Entwicklung sind dies bspw. einheitliche Technologien, im Marketing spezifische Produkt- oder Kundengruppen und im Vertrieb bestimmte Regionen. Pil & Cohen (2006) verdeutlichen diesen Sachverhalt wie folgt: „A second factor that facilitates finding superior solutions in a modular environment is that modular components tend to be clustered according to technological similarities, such as reliance on common materials or scientific principles. This enables more shared knowledge for those designing the subsystem, accelerating joint problem solving.” (Pil & Cohen (2006), S. 1001)
Modularisierung eignet sich also zumindest teilweise zur Lösung des Problems inkommensurabler Eigenlogiken.595 Hieraus ergeben sich nicht nur Geschwindigkeitsvorteile aufgrund einer Beschleunigung der Abstimmungsprozesse, sondern es reduziert sich auch der konkrete Abstimmungsaufwand für die Zentrale.596 Versucht man die modulare Konfiguration von anderen Leistungskonfigurationen abzugrenzen, so kann dies anhand der beiden genannten Merkmale Differenz und Homogenität erfolgen (Abb. III-1).
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596
Dieser Punkt wird im Rahmen der Diskussion zur Konfluenz interner und externer Leistungsbeziehungen in Unterkapitel III.1.3 vertiefend behandelt. Hierbei ist jedoch relativierend anzumerken, dass bspw. im Bereich Entwicklung durch die steigende Technologiekonvergenz verschiedene Kontexte gebündelt werden. Vgl. hierzu auch die Überlegungen zum „local search“ bei Ethiraj/ Levinthal (2004), S. 164. Das Problem inkommensurabler Eigenlogiken resultiert insbesondere aus den divergierenden Kontexten unterschiedlicher Individuen und Teileinheiten. Vgl. hierzu Ringlstetter (1995), S. 66ff., und Ringlstetter (1997) S. 10ff. „Ein Kontext ist dabei eine Menge miteinander zusammenhängender und sich damit auch wechselseitig verstehbar machender Begriffe, Vorstellungen und Inhalte von Wahrnehmungen und Denkprozessen“ (Ringlstetter (1997), S. 10, u. R. a. Kirsch (1993), S. 211). Auch Cowen/ Middaugh (1990) identifizierten einen positiven Zusammenhang zwischen Einflussbedarf der Zentrale und Komplexität. Geht man davon aus, dass Modularität komplexitätsreduzierend wirkt, so beeinflusst sie auch den Einflussbedarf der Zentrale.
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139
hoch Modul
Objekt Differenz
Funktion niedrig niedrig Abb. III-1:
Homogenität
hoch
Optionen der Leistungskonfiguration
Die objektorientierte Konfiguration von Teileinheiten bewirkt, ähnlich der modularen Konfiguration, eine hohe Differenz. Die hohe Autarkie resultiert aus der Bündelung aller überlebensnotwendigen Funktionen und der prinzipiellen Unabhängigkeit von dem Gesamtangebot der Unternehmung.597 Zeitgleich bedingt die Eigenständigkeit der Teileinheit eine gewisse Autonomie, da zur funktionsübergreifenden Steuerung ausreichende, meist in Querschnittsteileinheiten verankerte Entscheidungskompetenzen vorhanden sein müssen. Die Homogenität ist jedoch, anders als bei einer funktionalen und modularen Konfiguration, als niedrig einzustufen. Dies ergibt sich ex natura aus der Kombination aller überlebensnotwendigen Funktionen, die sich teils erheblich hinsichtlich ihrer Ausprägung unterscheiden können. Funktionsorientierte Teileinheiten wiederum ähneln modularen Einheiten bezüglich der Kontexthomogenität und somit der Spezialisierung. Der signifikante Unterschied liegt ähnlich zu den Überlegungen integrierter und modularer Produktarchitekturen jedoch in der Differenz. Insbesondere die Autarkie auf Teileinheitenebene ist bei einer funktionalen Gliederung sehr gering, da diese zur „Erstellung der Gesamtleistung zusammenwirken müssen [und] bei Ausfall die Gesamtleistung auf Null zurück [geht].“ (Ringlstetter (1995), S. 44, Anm. A. R.)
Insbesondere in der zweiten Erkenntnis ist ein Differenzierungsmerkmal modularer Teileinheiten zu sehen. Für ein marktfähiges Gut müssen diese zwar auch schlussendlich integriert werden, die lose Kopplung verringert aber die negativen Rückwirkungen auf das Gesamtsystem.598 Entsprechend konstatiert Schilling (2000): „Systems are said to have a high degree of modularity when their components can be disaggregated and recombined into new configuration – possibly substituting various new 597 598
Vgl. hierzu Ringlstetter (1995), S. 44, sowie die dort angegebene Literatur. Ähnlich argumentiert auch Hoetker (2006), S. 504, bei der Analyse der Auswirkungen der Modularität auf die Hersteller-Lieferanten-Beziehung: „That is, it may allow a firm to add new suppliers and drop existing suppliers while creating minimal disruption throughout the design process.“
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Teil III: Ansatzpunkte zur Organisation des automobilen Leistungsverbunds
components into the configuration – with little loss of functionality.” (Schilling (2000), S. 315)
Neben der hohen Autarkie ist auch die Autonomie bei modularen Teileinheiten tendenziell als hoch einzustufen.599 Ziel modularer Teileinheiten ist eine gewisse Selbstkoordination unter vorab definierten Prämissen. Zur freien Potenzialentfaltung benötigen sie daher eine gewisse Distanz zur Leitung und damit bestimmte Entscheidungskompetenzen. Hüttenrauch & Baum (2008) fordern daher explizit Modulverantwortliche in der Automobilindustrie: „Eine stärkere Fokussierung der Organisationsstrukturen auf Module ist notwendig, beispielsweise durch die Etablierung von Modulverantwortlichen. Diese Einheiten sind verantwortlich für die Koordination aller Aufgaben hinsichtlich eines spezifischen Moduls.“ (Hüttenrauch & Baum (2008), S. 142).
Trotz der augenscheinlichen Vorteilhaftigkeit modularer Strukturen wäre es dennoch falsch, von einer „Sowohl-als-auch"-Konfiguration zu sprechen, die die Vorteile beider Konfigurationen vereint.600 Wie sich später zeigen wird, sind insbesondere der Autarkie und Autonomie gewisse Grenzen gesetzt, woraus sich ein gewisser Koordinationsbedarf ergibt.
(2)
Erklärungsansätze zur Notwendigkeit eines Organisationskerns als Plattform
Im Zuge der Diskussion über modulare Organisationsformen stellt sich zwangsweise die Frage, welche Rollen die Zentraleinheiten überhaupt einnehmen sollen oder noch einen Schritt weiter gedacht, ob ein organisationaler Kern601 im klassischen Sinne überhaupt noch notwendig ist. Einen ersten bejahenden Hinweis liefert Langlois (2002), indem er feststellt: „The idea that the essence of the firm is nonmodularity seems to me a robust one” (Langlois (2002), S. 35). Auch Ciborra (1996) sieht neben modularen Einheiten die Notwendigkeit einer Plattform als Ressourcen-, Prozess- und Instrumentenpool. Bahrami & Evans (2005) gehen einen Schritt weiter und konkretisieren die „neuen“ Aufgaben der Zentraleinheit, die sich insbesondere auf die Koordination bzw. Integration sowie die Synergierealisierung zurückführen las-
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601
Ähnliche Charakteristika weist auch die Cluster-Organisation nach Mills (1991) auf. Vgl. hierzu zusammenfassend auch Thiele (1997), S. 208ff., sowie die dort angegebene Literatur. Frigant/ Talbot (2005) sehen genau diese Vorteile modularer Konfigurationen: „Thus, modularity seeks to bring together task specialisation and the autonomy of the teams involved in the conception/production” (Frigant/ Talbot (2005), S. 342). Die Begriffe Kernorganisation, organisationaler Kern, Zentrale und Zentraleinheit werden im Folgenden synonym verwendet und beinhalten die klassischen Bestandteile „strategische Spitze“ (Geschäftsführung), „Technostruktur“ (analytische Zentraleinheiten) und „Hilfsstab“ (Unterstützungsleistungen für die Zentrale und die Teileinheiten). Vgl. Mintzberg (1992), S. 26ff.
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sen.602 Ferner sprechen, wie später noch ausführlich dargelegt wird, Sicherheitsaspekte für einen organisationalen Kern. Wie bereits in der Einleitung mehrfach angesprochen, heben verschiedene Autoren die Bedeutung der Hierarchie bzw. des Organisationskerns als koordinierende Instanz für modulare Organisationsformen hervor. Mit als Erste versuchten beispielsweise Astley & Zajac (1991), die Vorteile einer losen (Module) und einer starren Kopplung (Hierarchie) in ihrem Konzept der flexiblen Kopplung zu vereinen und halten hierbei fest: „An organization is characterized by flexible coupling if it has interdependent parts in which the pattern of interdependencies between parts is constantly changing. […] The ad hoc nature of coordination in flexibly coupled organizations might suggest the absence of a formally organized structure. This, however, is not the case. While constantly changing everyday operations make a specific "system" of work hard to discern, the processes through which decisions are made reflect a high degree of functional integration and organization.” (Astley & Zajac (1991), S. 406, Herv. im Original)
Die Funktion der Plattform besteht in diesem Verständnis in der Bereitstellung formalisierter Koordinationsprozesse und der hierfür benötigten informationstechnischen Infrastruktur. Ähnlich argumentiert auch Tietze (2003) im Zusammenhang mit der virtuellen Produktentwicklung von Automobilen: „Die Projektsteuerung und Entscheidungsfindung bei der DvA [durchgängig virtuellen Produktentwicklung] [erfolgt] maßgeblich auf Basis der zentralen Informationsträger der Produkt- und Prozessmodelle […]. Zur Sicherstellung [der notwendigen Produkt- und Prozessdaten] stehen die Automobilhersteller damit vor der Herausforderung, einen im Vergleich zu einem konventionellen Entwicklungsprozess noch transparenteren und verbindlicheren [formalisierten] Entwicklungsansatz zu gestalten.“ (Tietze (2003), S. 184, Anm. A. R.)
Zudem erfordert die Modularität eine übergeordnete, integrative und planende Instanz, da Modularität zur physischen und funktionalen Entkoppelung eine Vorabdefinition der Schnittstellen und der Regeln voraussetzt.603 Bei der modularen Konfiguration geht es also weniger
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Vgl. Bahrami/ Evans (2005), S. 165ff. Inwieweit diese Erkenntnisse gänzlich neu sind, bleibt zu hinterfragen. Ähnliche Rollendefinitionen finden sich bereits bei Bühner (1996b), S. 5ff., und Bühner (1996a), S. 227f., der als wesentliche Aufgaben die Leitung, Kontrolle und Koordination sowie den Service (Unterstützung) sieht. Die Relevanz einer ordnenden und planenden Instanz heben auch Frigant/ Talbot (2005) hervor: „In a strictly modular architecture two key agents exist. The first is the architect of the product. His function is to define the general characteristics of the product and to specify the interfaces. The second agent consists in the development and production of the modules” (Frigant/ Talbot (2005), S. 341). Zur Relevanz der Standardisierung und Plattformbereitstellung für die Modularität äußern sich auch Schilling/ Steensma (2001), S. 1155: „Through specifying and standardizing the nature of an activity and the terms of exchange, a standard interface makes assets nonspecific. For exchanges between organizations (or between different activities within an organization), standards such as uniform employment policies, shared
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um die Formalisierung konkreter Aufgabenbereiche, als vielmehr um eine Festlegung der Plattform, auf deren Basis flexible, eigeninitiierte Aktionen ablaufen. 604 Diese zentrale Aufgabenstellung sehen auch Levinthal & Warglien (1999): „Self-organizing processes depend upon the context within which they arise. By manipulating the context, one may indirectly affect the dynamics of the process. Such efforts require a new set of design concepts that provide a language for addressing the seeming contradiction of designing for autonomous action and, in turn, pose a new set of design questions.” (Levinthal & Warglien (1999), S. 342)
Neben diesen eher auf Formalisierung basierenden Überlegungen spielt eine stabile Kerngröße auch unter informellen Gesichtspunkten eine entscheidende Rolle. Hierbei ist insbesondere auf das Machtverhältnis zwischen Führung und Teileinheiten zur Bändigung der organisationalen Zentrifugalkräfte hinzuweisen.605 Zur Kompensation muss der organisatorische Kern ein eigenes Machtpotenzial aufbauen, um integrierend gegensteuern zu können. Morgan (1981) adressiert in seiner Argumentation dieses Machtspiel: „The degree of interpendence and functional unity of a the system as a whole calls for continuous management of competing strains and tensions which often seek to move the system towards incompatible ends. The process above all else is to be seen as a power play.” (Morgan (1981), S. 29)
Neben der Bedeutung der Macht der Zentraleinheit für die interne Stabilität spielt diese auch eine entscheidende Rolle für den unternehmensexternen Raum. Wie bereits im Grundlagenteil angesprochen, ermöglicht eine wirtschaftliche Macht den Organisationen, Umfelder in ihrem Sinne mitzubestimmen.606 Ferner erhöht die Macht den Spielraum bei der Netzwerkmoderation und bei Transaktionen mit externen Lieferanten.607 Auf diese Ausführungen wird später im Rahmen der Koordination noch näher einzugehen sein. Neben der Koordinationsfunktion zentraler Einheiten, sind auch synergetische Überlegungen bei der Ausgestaltung der Zentraleinheit anzustellen. Hierbei ist bei der Festlegung bzw. Rechtfertigung einer gewissen organisationalen Kerngröße weniger auf Synergien aufgrund _______________________________________________________________________________________
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"groupware" platforms, and even process protocols such as ISO 9000 can serve as standard interfaces to facilitate certain types of exchange.” In diesem Zusammenhang haben auch Baldwin/ Clark (1997), S. 85, die Unterscheidung in für den „Architekten“ sichtbare und unsichtbare, modulinhärente Elemente getroffen. Vgl. Klemm (1997), S. 45. Auch Ringlstetter/ Morner (1998), S. 13, weisen darauf hin, dass insbesondere lokale Teileinheiten oft spezifisches landestypisches Wissen und Ressourcen besitzen, die für die Zentrale von Bedeutung sind. „Solche „Lokalmatadore“ werden dann zunehmend „unersetzlich“ (Ringlstetter/ Morner (1998), S. 13) und bauen so ein eigenes Machtpotenzial auf. Vgl. allgemein zum Machtpotenzial großer Firmen exempl. Damanpour (1996), S. 695, und Perrow (1974), S. 41. Vgl. hierzu exempl. Redondo/ Fierro (2007), S. 237, und die dort angegebene Literatur.
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eines optimierten Zusammenspiels von Teileinheiten einzugehen,608 als vielmehr auf Synergieauswirkungen im Rahmen der organisatorisch-strukturellen Zusammenführung von einzelnen Funktionen zu Zentraleinheiten.609 Bühner (1996a) äußert hierzu: „Die Zentralbereiche sollen Größenvorteile und Größendegressionseffekte (Synergieeffekte) nutzen, die sich aufgrund von unteilbaren Ressourcen oder gleichartigen Aufgaben in mehreren Geschäftsbereichen ergeben. Beispiele solcher Zentralbereiche sind die Zentralbereiche »Beschaffung und Materialwirtschaft«, »Forschung und Entwicklung« oder »Technik«.“ (Bühner (1996a), S. 288, Herv. im Original)
Allgemein kann hierbei zwischen einer Konzentration von Primär- und Sekundäraufgaben unterschieden werden.610 Ist eine Konzentration von Sekundärfunktionen, insbesondere wenn diese eine hohe Identität bzw. Ähnlichkeit aufweisen, noch unter vergleichsweise geringen Risiken möglich, so ist eine Zentralisierung primärer, erfolgskritischer Funktionen äußerst sorgfältig abzuwägen. Insbesondere die reduzierte Autarkie und Autonomie der Teileinheiten kann vor dem Hintergrund der zu diskutierenden Kunden- und Marktnähe sowie den Flexibilitätsanforderung kritisch sein.611 Im Bereich Produktion verhindern insbesondere die thematisierten handelsrechtlichen Barrieren, aber auch Unterschiede in den Faktorkosten eine Zentralisierung an einem Standort.612 Im Bereich Marketing und Vertrieb erfordern die Lokalisierung der Produkte und damit einhergehend die Kundenorientierung eine lokale Präsenz und dadurch eine dezentrale Struktur. Am ehesten wäre im Bereich Einkauf eine Zentralisierung aufgrund der weitgehenden Güterstandardisierung im Rahmen der Gleichteile- und Plattform-
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Synergetische Koordination fließt implizit in die Diskussion zur allgemeinen Koordination mit ein. Zum Begriff der synergetischen Koordination vgl. Steidl (1999), S. 155f., und die dort angegebene Literatur. Pfeffer (1978) verdeutlicht die Motivation von Teileinheiten, Autarkie anzustreben, indem er festhält: „If the subunit can reduce its dependence on other subunits within the organization, it can further enhance its power” (Pfeffer (1978), S. 63). Vgl. Steidl (1999), S. 65, sowie die dort angegebene Literatur. Die Verwendung Synergie wird hier bewusst aufgrund des allgemeinen Sprachgebrauchs gewählt. Anders sieht Steidl (1999), S. 66ff., Synergievorteile insbesondere im Zusammenspiel verschiedener Teileinheiten und ordnet die Effizienzvorteile durch Verschmelzung dem Spezialisierungsphänomen zu. Gleichzeitig verweist er auf die Schwierigkeit, die im Sprachspiel der Synergie und Spezialisierung liegt, und weicht den Synergiebegriff bspw. bei der Diskussion zu Synergiepotenzialen in Duplikatbürokratien (vgl. Steidl (1999), S. 115) in Richtung Spezialisierung auf. Aus Gründen der Verständlichkeit wird daher auch in dieser Arbeit durchaus verallgemeinert insgesamt von Synergien gesprochen. Vgl. hierzu und im Folgenden exempl. Steidl (1999), S. 102f. Vgl. hierzu auch die kommenden Ausführungen zur Konfiguration der Zentrale und der modularen Teileinheiten sowie zum allgemeinen Diskurs der Chancen und Risiken der Konzentration primärer und sekundärer Funktionen zu Zentraleinheiten Steidl (1999), S. 101ff. Insgesamt ist bei der deutschen Automobilindustrie, insbesondere bei den Premiumherstellern, immer noch eine starke Heimatmarktorientierung bezüglich der Produktion zu erkennen. So produziert BMW über 60 Prozent der Fahrzeuge am Heimatstandort in Deutschland. Für einen Überblick über das BMW Produktionsnetz vgl. Richter/ Hartig (2007), S. 260.
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Teil III: Ansatzpunkte zur Organisation des automobilen Leistungsverbunds
strategie denkbar.613 So bündelte BMW bspw. in dem neu geschaffenen M-Ressort alle Einkaufs- und Lieferantenaktivitäten. Hierzu der BMW-Vorstand für das Lieferanten- und Einkaufsnetzwerk Herbert Diess: „Wir verantworten den Großteil der Wertschöpfung und haben damit auch das größte Optimierungspotential. […] Durch die organisatorische Bündelung von Kaufteilen, Qualität, Logistik, Komponentenfertigung und Einkauf des direkten und indirekten Materials, sowie aller Dienstleistungen können wir noch erhebliche Leistungspotenziale für die BMW Group erschließen.“ (Diess (2008), zit. nach BMW AG (2008a), S. 5)
Mit Blick auf eine ergebnisorientierte Steuerung der einzelnen Geschäftsbereiche erscheint jedoch eine Zentralisierung des Hauptkostenblocks aus motivatorischer Sicht problematisch.614 Ferner erschwert, wie Boganschewsky & Kohler (2007) im Rahmen ihrer Analyse zur Beschaffung in der Automobilindustrie feststellen, ein zentraler Einkauf den Zugang zu lokalen Lieferanten in den einzelnen Märkten: „Auch das Zurückgreifen auf die weltweit besten Lieferanten im Rahmen einer Global Sourcing-Strategie führt dazu, dass die Beschaffung kaum zentrale Strukturen aufrecht erhalten kann, da auch an dieser Schnittstelle enge Abstimmungen notwendig sind, die oft den persönlichen Kontakt vor Ort erforderlich machen.“ (Boganschewsky & Kohler (2007), S. 158)
Daher fordern sie neben einem Zentraleinkauf vermehrt sogenannte International Procurement Offices (IPO), die den Kontakt zu den lokalen Lieferanten pflegen und regionales Expertenwissen generieren.615 Zuletzt ist eine gewisse Größe unter Bestand sichernden Überlegungen relevant. Zunächst einmal spielt die Größe einer Unternehmung, wie bereits in den vorangegangenen Kapiteln erwähnt, für ein Überleben in der globalen Branchenkonsolidierung eine entscheidende Rolle.616 Auf den ersten Blick wäre hierzu eine optimale Gesamtgröße ausreichend, wobei die Kerngröße eine untergeordnete Rolle spielt. Die zunehmende Modularisierung der Organisationsstrukturen wirkt jedoch – trotz absoluter Größe – bestandsgefährdend. Direkt erniedrigt die Modularität die Bindungsintensität der einzelnen Geschäftsfelder und erleichtert so die Zerschlagung von Unternehmen. So verfolgte bspw. General Motors nach einer Phase der
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Vgl. Boganschewsky/ Kohler (2007), S. 149ff., und ähnlich auch Steidl (1999), S. 114. Laut Becker (2007), S. 45, entfallen 47 Prozent der Gesamtkosten in der automobilen Wertschöpfung auf das Material. Zur Relevanz internationaler Einkaufbüros am Beispiel BMW vgl. auch Richter/ Hartig (2007) und für das Beispiel VW auch Garcia Sanz (2007), S. 17f. Insbesondere Währungsschwankungen, die Relevanz einer internationalen Präsenz für die Vertriebsstrategie, die Nutzung von Kostenpotenzialen in internationalen Märkten sowie die rechtlichen Local-Content-Vorschriften erfordern eine globale Einkaufsstrategie. Vgl. Richter/ Hartig (2007), S. 256.
Teil III: Ansatzpunkte zur Organisation des automobilen Leistungsverbunds
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Dezentralisierung bewusst eine Zentralisierungsstrategie in den 60er-Jahren, um einer drohenden Zerschlagung durch das amerikanische Kartellamt zu entgehen.617 Indirekt erodiert die Modularisierung die Wettbewerbsposition, indem sie die Imitation erleichtert. Modulare Geschäftssysteme sind aufgrund der standardisierten und reduzierten Beziehungen und Schnittstellen einfacher durch die Konkurrenz erfass- und damit kopierbar. 618 Die Rückintegration einzelner Teileinheiten zu einem organisationalen Kern erhöht vice versa also nicht nur direkt die Bindungsintensität, sondern erschwert auch die Imitation durch Wettbewerber und sichert somit den Wettbewerbsvorteil.
(3)
Rekapitulation des theoretischen Diskurses am Beispiel der internen Entwicklungsorganisation
Die Vielschichtigkeit des Produktentwicklungsprozesses619 und die Dekomposition des Fahrzeuges in einzelne Komponenten bzw. Module führen insbesondere vor dem Hintergrund der Koordination zu einer dynamischen Aufgabenverteilung zwischen zentral verorteten Querschnittseinheiten und dezentralen Entwicklungsteileinheiten (vgl. Abb. III-2).620
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Vgl. hierzu ausführlich Deans et al. (2002). Vgl. Neuner (1993), S. 33. Die Überlegungen von Pil/ Cohen (2006), S. 999, zur Produktimitation lassen sich auch auf die Organisation übertragen: „The structural complexity embedded in a product may hinder reverse engineering. In particular, products that embody many dependencies between components and rely on multiple components and subsystems to implement a given function will take longer to decipher. […] Interdependence among multiple elements that affect a given performance dimension means that the performance landscape for that dimension has many local optima, making imitation more difficult.” Einer ähnlichen Argumentation folgt Schilling (2000), S. 329, die hinter der Integration die Intention des Machtaufbaus sieht. Vgl. ausführlich zum Produktentstehungsprozess Tietze (2003), S. 50ff., sowie die dort angegebene Literatur. Morner (1997), S. 161, spricht in einem ähnlichen Kontext von einer hybriden Konfiguration, bei der einzelne dezentrale Einheiten Entwicklungsaufgaben übernehmen, die Gesamtkonzeption und Integration jedoch zentral verortet ist.
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Teil III: Ansatzpunkte zur Organisation des automobilen Leistungsverbunds
F&E Zentraleinheit Globale F&E Strategie Modulebene 1
Abb. III-2:
Modulebene 2
Legende ZE = Zentraleinheit F&E = Forschung und Entwicklung PF = Projektführung HL = Heimatland R = Region
Lokale F&E ZE Lokale F&E Strategie PF PF PF F&E-Funktionen (HL)
F&E Funktionen (R)
Modulare Konfiguration der Teileinheiten
Die Formulierung einer globalen F&E-Strategie sowie die strategische Grobkonzeption der einzelne Fahrzeuge und der Fahrzeugprogramme übernimmt eine zentrale F&E-Instanz, wobei sukzessive einzelne, funktionale Teileinheiten und interdisziplinäre Projektteams in die Ergebnisgenerierung inkludiert werden.621 Zielsetzung hierbei ist die Formulierung der strategischen Stoßrichtung sowie die zur Modularisierung notwendige Festlegung des Systemdesigns inklusive der Lastenhefte für die einzelnen Module (Kompatibilität):622 For the modular architecture the focus of system-level design and planning is to carefully define component interfaces, specifying the associated standards and protocols. Performance targets and acceptance criteria are set for each component, corresponding to the particular functional element implemented by the component. […] Management of the detailed design process consists of monitoring the progress of each individual component design activity relative to the component performance targets and interface specifications. The component design teams are 'supplier-like' in that interaction is structured and relatively infrequent.” (Ulrich (1995), S. 435, Herv. A. R.)
Die Detailentwicklung hingegen läuft weitgehend parallel und autonom in den einzelnen modularen Teileinheiten und bei externen Leistungspartnern ab.623 Hierbei kann in der Binnenperspektive zwischen zwei Modularisierungsebenen unterschieden werden. Zur Berücksichtigung der Lokalisierungsanforderungen in den einzelnen Absatzregionen wird auf regionaler
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Vgl. zur interdisziplinären Zusammensetzung von Entwicklungsteams auch Piller/ Waringer (1999), S. 87, und zu den Überlegungen zu zentralen Querschnittseinheiten als Koordinationsinstrument auch Steidl (1999), S. 200ff., sowie Eisele (2006), S. 113ff. Im Fall von BMW übernehmen bspw. sogenannte Modulteams die Entwicklung einzelner Module, wobei die Integration durch Integrationsteams und die Koordination durch Projektteams sichergestellt wird. Vgl. Schlenker (2000), S. 157. Vgl. Piller/ Waringer (1999), S. 89. Zu ähnlichen Aufgaben der Zentrale kommen auch Johne/ Vermaak (1993), S. 412, bei ihrer empirischen Analyse im Finanzsektor. Vgl. Blomeyer (2003), S. 12, Eisele (2006), S. 31, und Piller/ Waringer (1999), S. 89.
Teil III: Ansatzpunkte zur Organisation des automobilen Leistungsverbunds
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Ebene eine weitere Zentralinstanz mit umfangreichen Entscheidungskompetenzen zur landesspezifischen Adaption installiert. Auf Modulebene 2 kommt eine crossfunktionale Projektstruktur zum tragen. Projektbezogen finden sich einzelne Fachabteilungen zusammen, um bestimmte Fahrzeugmodule eigenständig zu entwickeln, wobei die Projektführung jeweils von einer Fachabteilung übernommen wird. Die Gliederungslogik hinter den modularen Projektteams orientiert sich heute noch stark an den einzelnen Fahrzeugkomponenten.624 Die zunehmende modulübergreifende Funktionskonvergenz führte jedoch zu weitreichenden Problemen in der Gesamtorganisation sowie bei der Optimierung des Gesamtfahrzeuges. Ferner erfordert eine konsequente Kundenorientierung einen Wandel vom Komponenten- hin zum Funktionsdenken. Cusumano & Nobeoka (1998) skizzieren das Problem folgendermaßen: „Companies need to solve a delicate strategic and organizational dilemma: how to integrate different engineering functions to create distinctive individual products while sharing technologies and coordinating multiple projects.” (Cusumano & Nobeoka (1998), S. 186f.)
Zukünftig wäre daher eine funktionsorientierte Entwicklungskonfiguration, die sich am Kundenerlebnis orientiert, denkbar.625 Ein gutes Beispiel hierfür ist der Bereich Infotainment. Moderne Multimediaanlagen benötigen die Abstimmung des gesamten Innenraums für ein optimales Kundenerlebnis. So sitzen bspw. die Lautsprecher nicht nur in der Cockpitverkleidung, sondern auch in den Türen und im Fond.626 Es ist daher folgerichtig, die modularen Projektteams nicht mehr alleinig an einzelnen Modulen festzumachen, sondern vermehrt die Funktionsperspektive in die Teamkonfiguration mit einfließen zu lassen. Berhart (2004) hierzu: „BMW hat z. B. 2003 eine funktionsorientierte Organisation eingeführt. Damit wird abgesichert, dass funktionale Kundenanforderungen produktlinienübergreifend mit gleichen technischen Konzepten realisiert werden.“ (Berhart (2004), S. 4)
Die Strategieberatung Roland Berger geht dabei noch einen Schritt weiter, indem die Erlebnisorientierung in der Linie verankert wird. Nicht nur die Sekundärstruktur, sondern auch die
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Vgl. hierzu und im Folgenden insbesondere Tietze (2003), S. 188ff. Beim Smart, Vorreiter im Hinblick auf eine modulare Produktentwicklung, bestanden die Teams bspw. aus Karosserie und Ausstattung, Cockpit- und Frontmodul, Antrieb sowie Türen, Klappen und Dach. Vgl. Pfaffmann (2001), S. 44ff. Vgl. hierzu Tietze (2003), S. 190, und auch Schindler (2006), S. 128. Gleiches gilt bspw. für die Bedienelemente. Diese orientieren sich besonders in der Oberklasse zunehmend nicht mehr alleinig am Fahrer (Cockpit), sondern auch an den Fahrgästen (Fond).
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Teil III: Ansatzpunkte zur Organisation des automobilen Leistungsverbunds
Primärstruktur wird am Kundenerlebnis ausgerichtet. So ersetzt beispielsweise die Abteilung „Fahrer- und Passagierergonomie“ die klassische Entwicklungsabteilung für Sitze.627
III.1.2
Zur Konfiguration externer Leistungspartner im automobilen Netzwerkverbund
Die Treiber der Konfigurationsänderungen – sowohl auf der Input- als auch auf der Outputseite des automobilen Leistungssystems – sind zum einen in den strategischen Motiven der Hersteller und zum anderen in den aktuellen Umfeldbedingungen zu sehen. Auf strategischer Ebene spielen insbesondere herstellerinduzierte Bemühungen zur Komplexitätsreduzierung des automobilen Leistungsverbunds und damit zur Reduzierung firmenexterner Kontaktpunkte eine entscheidende Rolle bei der Hierarchisierung der Zulieferstruktur und der Ausdünnung des Vertriebsnetzes. Bei den umfeldinduzierten Treibern sind insbesondere der weitergereichte Margendruck und auf Vertriebsseite die neuen rechtlichen Rahmenbedingungen für aktuelle Strukturänderungen verantwortlich. Um die momentane Konfiguration in der Zulieferindustrie (1) und im Automobilvertrieb (2) besser verstehen zu können, werden beide getrennt voneinander vorgestellt. Der Diskurs erfolgt hierbei insbesondere gestützt auf die bereits im Rahmen der Wertschöpfungsstrategie erarbeiteten Erkenntnisse.
(1)
Zur Hierarchisierung des Zuliefersystems
Die steigende Komplexität im Angebotsprogramm, der Zeitdruck sowie die verschärfte Kostensituation führen, wie bereits mehrfach thematisiert, zu einer verstärkten Dekomposition der Wertschöpfung aufseiten der OEM und damit zu einer zunehmenden Verlagerung von Leistungsumfängen auf die Zulieferindustrie.628 Zudem fordern die Hersteller ein immer breiteres Leistungsspektrum ihrer Hauptlieferanten, um die externen Kontaktpunkte auf ein Minimum zu reduzieren und damit die entstehende Systemkomplexität in der Wertschöpfung beherrschbar zu machen.629 Die Zulieferunternehmen fungieren dabei nicht mehr als reine Beschaffungsquelle, sondern werden als strategische Leistungspartner in die gesamte Wertschöpfung
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Vgl. Schindler (2006), S. 137f. Vgl. hierzu exempl. Kurek (2004), S. 21, und Becker (2007), S. 193f., sowie für eine empirische Validierung die Studie von KPMG (2003), S. 3. Vgl. Kurek (2004), S. 22.
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integriert.630 Auf Zulieferseite bedeutet die zunehmende Kompetenzübernahme ein erhöhtes Investitions- und Marktrisiko und somit eine verschärfte Kostensituation. Neben der zunehmenden Überwälzung der Funktionsverantwortung auf den Zulieferer führt die erhöhte Leistungsintegration zu einem erhöhten Investitionsdruck, bspw. in Form eines OEM-induzierten Internationalisierungsdrucks.631 Aufgrund dieser und anderer steigender Finanzierungsherausforderungen stehen viele Automobilzulieferer vor dem Problem, dass technisch mögliche Produktentwicklungen nicht oder nicht im vollen Umfang finanziert werden können:632 „Haben zu Beginn der 90er Jahre Themenstellungen wie Qualitäts- und Kostenmanagement dominiert, so ist heutzutage die Sicherstellung der Finanzierung in der mittelständisch geprägten Zuliefererindustrie zur zentralen Themenstellung geworden.“ (KPMG (2003), S. 7)
Die Finanzierungsprobleme und der sich weiter verschärfende Wettbewerb intensivieren die Konsolidierung und manifestieren sich im Entstehen international agierender „MegaZulieferer“633 mit Sublieferanten sowie Nischenspezialisten im Leistungsverbund.634
630 631 632
633 634
Vgl. hierzu auch Garcia Sanz (2007), S. 17. Vgl. zu diesem Punkt auch Kurek (2004), S. 14, und Becker (2007), S. 202f. Verschärft wird das Finanzierungsproblem durch den Wandel der Vergütungsmodelle. Früher wurden große Teile der Zulieferentwicklung großzügig vom OEM kompensiert. Heute erfolgt dies meist durch Anrechnung auf die gelieferten Komponenten, wodurch der Zulieferer stärker vom Markterfolg des OEM abhängt. Vgl. KPMG (2003), S. 3. Auch genannt Integrierte Partner, Value Added Partner, Total Process Partner oder Systemintegratoren. Vgl. Tietze (2003), S. 203. Vgl. Accenture (2001), S. 5, Boston Consulting Group (2004), S. 12f., Kurek (2004), S. 15f., Landesbank Baden-Württemberg (2002), S. 4f., Mattes et al. (2004), S. 26ff., PricewaterhouseCoopers (2006d), S. 8, und Tietze (2003), S. 202ff. Auch Becker (2007), S. 175ff. thematisiert die Überforderung mittelständischer Zulieferbetriebe. Probleme sieht er insbesondere in der Ressourcen-, Kompetenz- und Finanzausstattung.
150
Teil III: Ansatzpunkte zur Organisation des automobilen Leistungsverbunds
Anzahl Zulieferunternehmen 35.000 30.000
30.000
25.000 20.000
-90% 15.000 10.000
8.000 5.600
5.000
3.000
0
1988
Abb. III-3:
1998
2000
2010
Aktuelle Prognose
Konzentration im Zulieferbereich Quelle: A. T. Kearney (2005b), S. 11.
Verstärkt wird die Entwicklung durch die Bemühungen der Automobilhersteller, die Anzahl an direkten Leistungspartnern durch die Vergabe breiterer Leistungsspektren zu reduzieren (Single Sourcing oder Modular Sourcing).635 Die von Tietze (2003) aufgestellte Prognose zur Konsolidierung der Zulieferunternehmen erscheint vor dieser Ausgangslage durchaus nachvollziehbar: „Für die Zukunft wird davon ausgegangen, dass weltweit ca. 30-50 solcher MegaZulieferer die Zulieferpyramide anführen werden, deren Anteil an der entwicklungsspezifischen Wertschöpfung von heute 33% auf über 50% steigen wird.“ (Tietze (2003), S. 203)
Gleichzeitig können jedoch auch große Hauptlieferanten die kompletten Leistungsanforderungen nicht intern abdecken und beziehen daher ihrerseits Lieferanten in die Systemerstellung mit ein. Im Gegensatz zur Vergangenheit, in der oftmals autarke Lieferanten Einzelleistungen am Markt anboten, kommt es in Zukunft verstärkt zur Vernetzung der Zulieferunternehmen und zu vordefinierten Lieferketten.636 Resultat ist eine zunehmende, pyramidale Hierarchisierung der Zulieferkette, in der der Hauptumfang von sogenannten First-Tier-Suppliern (Systemlieferanten) übernommen wird (Abb. III-4).637 635 636 637
Zum Modular Sourcing vgl. Piller/ Waringer (1999), S. 98ff., und zum Single Sourcing auch Mattes et al. (2004), S. 27. Vgl. Kurek (2004), S. 23. Die inhaltliche Definition des Tiers kann durchaus variieren. So können bspw. bei Becker (2007), S. 168f., Lieferanten unabhängig ihres Zuliefertypus verschiedene Tier-Stufen einnehmen. Das Verortungs-
Teil III: Ansatzpunkte zur Organisation des automobilen Leistungsverbunds
151
OEM
0,5-Tier-Supplier
First-Tier-Supplier (Systemlieferanten)
Second-Tier-Supplier (Modul- und Komponentenlieferanten)
Third-Tier-Supplier (Rohstoff-, Halbfabrikate- und Teilelieferanten)
Abb. III-4:
Hierarchische Zulieferkette Quelle: in Anlehnung an Piller & Waringer (1999), S. 116, und Kurek (2004), S. 21.
Der Kompetenz des Systemlieferanten kommt dabei eine entscheidende Rolle zu. Zum einen steht er im direkten Kontakt mit dem Hersteller und übernimmt von diesem anspruchsvolle Leistungsumfänge, zum anderen fungiert er als Koordinator für die unteren Hierarchieebenen der Zulieferpyramide.638 Trotz der bereits thematisierten Konsolidierung in der Zulieferindustrie zu sogenannten „Mega-Zulieferern“ (Tier-1) ist dennoch auch in Zukunft davon auszugehen, dass es erfolgreiche Lieferanten auf hierarchisch tieferen Stufen geben wird. 639 Modul- und Komponentenlieferanten (Tier-2) werden sich auf bestimmte Gebiete und Nischen spezialisieren, um in diesen, trotz geringerer Größe, über einzigartige Kompetenzen konkurrenzübertreffende Lösungen anbieten zu können. Diese werden entweder als integraler Bestandteil eines Systems an die Systemintegratoren oder direkt an den Hersteller geliefert. Auch besteht die Möglichkeit, dass Second-Tier-Lieferanten ihre Breitennachteile durch Kooperationen mindern.640 Auf unterster Ebene (Tier-3) agieren Lieferanten, die Rohstoffe, _______________________________________________________________________________________
638 639 640
kriterium ist hier die Kontaktnähe zu dem Hersteller. In dieser Arbeit wird aber die gängigere Herangehensweise gewählt, in der bestimmte Zuliefertypen einer bestimmten Stufe angehören. Vgl. Mattes et al. (2004), S. 28, und Arthur D. Little (2004b), S. 27. Vgl. Mattes et al. (2004), S. 28f. Vgl. Piller/ Waringer (1999), S. 117, Becker (2007) S. 201 und 209, sowie Arthur D. Little (2004b), S. 27. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Kooperation ADCSteyr. Hierbei gingen unabhängige Engineeringdienstleister aus der Region Steyr eine Kooperation ein, um durch sich ergänzende Kompetenzen die ganze Systemanforderung der Automobilindustrie besser abdecken zu können. Vgl. hierzu Verband der Technologiezentren Österreichs (o. Jg.).
152
Teil III: Ansatzpunkte zur Organisation des automobilen Leistungsverbunds
Halbfabrikate oder Standardteile entweder an Zulieferunternehmen oder direkt an den OEM liefern. Deren Wettbewerbsposition ergibt sich meist durch ein volumenbasiertes, kostenorientiertes Geschäftsmodell.641 Als quasi neue Hierarchieebene gewinnt die intermediäre Stufe zwischen OEM und First-Tier (Tier 0,5) zunehmend an Bedeutung. Piller & Waringer (1999) führen hierzu anschaulich aus: „Ein solcher Wertschöpfungspartner [gemeint sind Systemlieferanten] vollzieht ganzheitliche Aufgabenkomplexe, da er meist nicht nur in die Produkte, sondern auch in die unternehmensübergreifende Prozessentwicklung integriert ist. […] Gemeinsame Arbeitsgruppen, IuK-technikgestützte Zusammenarbeit während der Entwicklung des Bauteils sind wichtige organisatorische Voraussetzungen.“ (Piller & Waringer (1999), S. 100f., Anm. A. R.)
Insbesondere in der Produktentwicklung rückt der Systemlieferant zunehmend näher an den Hersteller heran und übernimmt Aufgaben, die früher von den Entwicklungsdienstleistern ausgeführt wurden. Die Systemlieferanten bauen dabei zunehmend Entwicklungskompetenzen auf und etablieren sich als dominanter Spieler auf Tier-0,5-Stufe.642 Dieser Punkt wird später noch in den Ausführungen zur Integration externer Einheiten in Punkt III.1.3 (2) näher ausgeführt.
(2)
Konfigurationsüberlegungen zum automobilen Vertriebsnetz
Die gesetzliche Liberalisierung sowie der zunehmende Margendruck in der Automobilindustrie führen zu tief greifenden Veränderungen im Rahmen der Konfiguration des Vertriebsnetzes, insbesondere bei den Volumenmarken. Prinzipiell kann herstellerseitig von einem Übergang vom „Einkanalvertrieb“ über Vertragshändler zum „Mehrkanalvertrieb“ mit neuen, innovativen Vertriebswegen gesprochen werden (a).643 Händlerseitig ist eine direkte Folge der Wettbewerbsverschärfung ein branchenweiter Trend zur Ausdünnung der Vertriebsnetze nach amerikanischem Vorbild und zur Schaffung größerer, effizienterer Vertriebseinheiten (b).644 (a) Auswirkungen auf Herstellerebene: Die Hersteller versuchen, dem Trend zur Liberalisierung des Neuwagenvertriebs entgegenzuwirken, indem sie, insbesondere im Premiumbereich, ihre Kontrolle über den Aufbau eines flächendeckenden Niederlassungsvertriebs sichern. Ne-
641 642 643
Vgl. hierzu auch Mercer Management Consulting/ Hypovereinsbank (2001), S. 5, und Arthur D. Little (2004b), S. 27. Vgl. hierzu exempl. Kurek (2004), S. 15f. Auch die empirischen Ergebnisse von Hab et al. (2003), S. 28 und 35f., zeigen ein Erstarken der Systemlieferanten bei den Entwicklungsaufgaben. Vgl. Mercer Management Consulting (2003a), S. 3.
Teil III: Ansatzpunkte zur Organisation des automobilen Leistungsverbunds
153
ben dem Bau neuer Niederlassungen werden hierzu zunehmend ehemalige Vertragshändler und Händlergruppen aufgekauft und in das eigene Vertriebssystem integriert.645 Ferner wird insbesondere im Volumensegment diskutiert, inwieweit ein Automobilvertrieb über die neuen Medien realisiert werden kann. Erste Ansätze im Gebrauchtwagenmarkt sind durch herstellereigene Portale als Reaktion auf die freien Internetplattformen, wie mobile.de, bereits heute erkennbar. Der Direktvertrieb wird folglich zukünftig größere Anforderungen an die interne Organisation stellen. Insbesondere die Kombination von tangiblen Kundenkontaktpunkten – durch die Bereitstellung von Probefahrzeugen – mit den Vorteilen eines Internetdirektvertriebs gilt es zukünftig abzubilden.646 Neben den direkt kontrollierbaren Absatzwegen entstehen durch den Mehrmarkenhandel aber auch Kooperationspartner, die im Einflussbereich mehrerer OEM agieren. Die organisatorischen Herausforderungen bestehen nun einerseits in der Kontrolle der nur bedingt beeinflussbaren Bereiche und andererseits in der Koordination der verschiedenen Absatzwege. Die Kontrolle der Mehrmarkenhändler ist elementar, da nicht nur bilaterale Beziehungen zwischen Hersteller und Händler existieren, sondern sich die eigene Marke auch im direkten, physischen Wettbewerb mit anderen Herstellermarken befindet. Hierdurch erhöht sich die Händlermacht im Bereich Produktmix signifikant, da nicht mehr nur herstellereigene Modelle, sondern auch Konkurrenzmodelle um die Verkaufsfläche konkurrieren und somit eine Substitution einzelner Fahrzeuge erleichtert wird. Der Betreuung der wichtigen Vertriebspartner kommt daher eine besondere Rolle zu, die organisatorisch abgebildet werden muss. Hierzu muss das Thema Mehrmarkenhändler oder Mega-Händler als eigene Abteilung in der Vertriebsorganisation verankert werden. Ferner sind in diesem Zusammenhang zukünftig interne Key-Account-Abteilungen647 für die wichtigen Kooperationspartner als organisatorische Ergänzung zu diskutieren. Zur Intensivierung des Kontakts sind auch Modelle denkbar, die die Integration von Zulieferer und OEM spiegelverkehrt in den Vertrieb anwenden. Analog zu den Resident Engineers würde dies eine dauerhafte, örtliche Präsenz von Vertriebsmitarbeitern bei den Mega-Dealern (Key Accounts) bedeuten.
_______________________________________________________________________________________ 644 645 646 647
Vgl. Marschner (2004) S. 110f. Vgl. hierzu auch Diez/ Reindl (2005b), S. 100. Ähnliche Themeninhalte wurden auch im Gespräch mit Dr. Alexander Suhm, persönlich-mündlich am 09.11.2007, diskutiert. Vgl. zusammenfassend zur Key-Account Organisation Kieser/ Walgenbach (2007), S. 159, sowie die dort angegebene Literatur.
154
Teil III: Ansatzpunkte zur Organisation des automobilen Leistungsverbunds
(b) Auswirkungen auf Händlerebene: Vertriebspartner, die traditionell eine Marke bzw. ein Konzernmarkenportfolio angeboten haben, nutzen vermehrt die neue Gesetzeslage, um markenübergreifende Handelsorganisationen aufzubauen (Abb. III-5). Angebotspolitisch versuchen die neuen Vertriebsformen durch eine Mengensteigerung das Neuwagen-, Gebrauchtwagen- und Serviceportfolio auszubauen, um somit einerseits die herstellergegebenen Absatzziele zu erreichen, andererseits den differenzierten Kundenwünschen gerecht zu werden. Kostenseitige Vorteile sind insbesondere in Synergien in indirekt-produktiven Bereichen (z. B. Verwaltung) und in der Preisverhandlungsmacht, insbesondere bei herstellerungebunden Teilen, zu sehen.648 Bei den Zusammenschlüssen zu unterscheiden sind hierbei der indirekte und direkte Mehrmarkenhandel. Hersteller
Klassisch Niederlassungen
Vertragshändler
Hersteller Händlergruppe (Vertrag)
Zukunft Niederlassungen
Filialbetriebe Abb. III-5:
Nachgeordnete Händlerbetriebe
Klassische und zukünftige Vertriebsstrukturen Quelle: verändert und ergänzend übernommen aus Diez (1999b), S. 157.
Beim indirekten Mehrmarkenhandel findet eine Bündelung der Aktivitäten ehemals selbstständiger Händler auf Gesellschaftsebene statt. In den einzelnen Handelsbetrieben findet weiterhin ein markenspezifischer Vertrieb statt. Auf Gesellschaftsebene werden hierzu Vertriebsgesellschaften oder Vertriebsgemeinschaften gegründet.649 Die jeweiligen Dachorganisationen verhandeln die Verträge mit den einzelnen Herstellern. Im Unterschied zur Vertriebsgesellschaft, in welcher der Verkauf dezentral durch die einzelnen Verkaufsstätten organisiert wird, entsendet die Vertriebsgemeinschaft eigenes Verkaufspersonal auf die angemieteten Händler-
648 649
Vgl. exempl. Woltermann/ Breyer (2005), S. 478f. Vgl. für die Organisationsformen „Vertriebsgesellschaft“ und „-gemeinschaft“ Woltermann/ Breyer (2005), S. 472ff.
Teil III: Ansatzpunkte zur Organisation des automobilen Leistungsverbunds
155
flächen (Abb. III-6).650 Findet auf Vertriebsgemeinschaftsebene ein Mehrmarkenhandel statt, so verhindert die funktionale Kopplung von Verkauf, Service und Teilvertrieb oft einen wirklichen Mehrmarkenhandel auf der Fläche. Händlervertrag
Automobilhersteller
Vertriebsgemeinschaften
Service- und Teilevertrag
Beteiligung Mietvertrag Ehemaliger Händler Werkstatt und Teileverkauf
Abb. III-6:
Verkaufs- und Ausstellungsfläche
Vertriebsgemeinschaft unter der Niederlassungsfreiheit Quelle: leicht verändert übernommen aus Woltermann & Breyer (2005), S. 476.
Der direkte Mehrmarkenhandel in den einzelnen Filialen ist bei einer Fusion mehrerer Autohäuser zu einer Gesellschaft wahrscheinlicher.651 Hierbei bestehen Händler-, Service- und Teileverträge zwischen der fusionierten Gesellschaft und dem Hersteller. Die neue Gesellschaft ihrerseits unterhält eigene Verkaufs- und Servicestellen. Der Sortimentsmix hängt auch hier mit den lokalen Ressourcen zusammen, die rechtliche Zusammengehörigkeit aller Downstreamwertschöpfungsstufen erleichtert jedoch den Mehrmarkenhandel auf der Fläche. Die Trennung von Service und Vertrieb ermöglicht dabei additive Händlernetze, die eine Kombination von zentralen Multibrand-Erlebniswelten und dezentralen Service- und Werkstattstützpunkten darstellen.652 In Ballungsräumen werden investitionsintensive, markenübergreifende Showrooms installiert, der flächendeckende Service wird durch kleinere fusionierte Betriebe gewährleistet. Dabei ist auch eine Kombination mit rechtlich selbstständigen Partnern in Analogie zum Geschäftsmodell der Systemlieferanten denkbar (Systemhändler).653
650
651 652 653
Hierin könnte auch eine Chance für den Hersteller zur Integration freier Händler in das proprietäre Vertriebsnetz bestehen. Die durch die neue GVO ermöglichte Trennung von Verkauf und Service könnten die Hersteller nutzen, um freie Flächen bei ehemaligen Vertragshändlern für den eigenen Verkauf zu erschließen. Vgl. zu Fusionen im Händlerbereich Woltermann/ Breyer (2005), S. 477f. Vgl. hierzu auch die Ausführungen zum additiven Händlernetz bei Jensen (2001), S. 60f. Vgl. hierzu und im Folgenden Diez (2003), S. 55ff., und das Szenario Automobilvertrieb 2010 bei Diez (1999b), S. 155ff. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Emil Frey Gruppe.
156
Teil III: Ansatzpunkte zur Organisation des automobilen Leistungsverbunds
Für die Hersteller sind die Konsolidierungstendenzen auf Zuliefer- und Vertriebsseite ein zweischneidiges Schwert. Auf der einen Seite benötigen Hersteller große Systemzulieferer für die Externalisierung von Entwicklungs- und Produktionsumfängen. Auch auf der Vertriebsseite ist eine bestimmte Betriebsgröße für die adäquate Präsentation des proliferierenden Produktangebots notwendig. Zudem reduziert die Konsolidierung die Kontaktpunkte und damit die Transaktionskosten. Auf der anderen Seite jedoch geht die Konsolidierung mit einem Machtzuwachs der externen Partner einher. Auf Zulieferseite hat dies insbesondere Auswirkungen auf die Verhandlungsposition der Hersteller; im Vertriebsbereich sehen sich die Hersteller mit einem firmenübergreifenden Wettbewerb an der Verkaufsstelle konfrontiert.654
III.1.3
Überlegungen zur Konfluenz zwischen Automobilunternehmen und Umfeld
Die momentanen Herausforderungen in der Automobilindustrie sowie deren strategische Implikationen führen dazu, dass in Zukunft die firmenübergreifende Zusammenarbeit zunehmend enger wird. Mikkola (2003) resümiert in diesem Zusammenhang: „Product design and implementation of complex systems, such as automobiles, must be tightly coordinated. […] Given the trend of increasing outsourcing activities by many high-tech firms, and increasing demand for product variety and customization, the supplier and the buyer have inevitably become more interdependent of one another.” (Mikkola (2003), S. 441, Literatur weggelassen)
Folglich wird in Zukunft nicht nur, wie bei den Plattformorganisationen thematisiert, die Anzahl firmeninterner Projektteams tendenziell zunehmen, sondern es werden zusätzlich firmenübergreifende Projektteams geschaffen, die entweder auf Hersteller- oder auf Zulieferseite verortet sind. Rahman & Bhattachryya (2002) sprechen hierbei sogar von einer „Heimatlosigkeit“ von einzelnen Einheiten: „Larger parts of the organisations will be made up of ad hoc mini organizations, projects collated for a particular time and purpose, drawing their participants from both inside and outside the parent organisation. The projects often will have no place to call their home.” (Rahman & Bhattachryya (2002), S. 35, Herv. A. R.)
Die Metapher der Heimatlosigkeit trifft insofern zu, da sich Teile des Teams immer auf fremdem Territorium bzw. in fremden Kontexten befinden. Sieht man ferner die Teams als temporäre Miniorganisationen, so sind diese unabhängig von der Verortung als semi-extern bzw. 654
Vgl. für den Vertriebsaspekt Diez (2003), S. 57.
Teil III: Ansatzpunkte zur Organisation des automobilen Leistungsverbunds
157
semi-intern zu bezeichnen. Die Unternehmensgrenzen verschwimmen und es entsteht eine zunehmende Konfluenz des unternehmensinternen und -externen Raums. Adressierbarer Ressourcenraum Pull ext. Einheiten
2
Konfluenzraum Push int. Einheiten
1
1 Kernorganisation
Teileinheiten Abb. III-7:
Der Konfluenzraum als diffuse Unternehmensgrenze
Aus der Perspektive der fokalen Organisation bedeutet dies, dass entweder Mitarbeiter temporär externalisiert werden müssen, um auf Zulieferseite in Projektteams mitzuarbeiten (1), oder externe Einheiten temporär internalisiert werden (2). Ergänzt werden die Überlegungen in Punkt (1) um weitere Externalisierungsmotive interner Einheiten.
(1)
Push – Die gewollte Differenzierung interner Einheiten
Die grundlegenden Überlegungen zur Modularisierung von internen Teileinheiten soll im Folgenden um einen neuen Aspekt ergänzt werden. Bislang wurde die Modularisierung rein auf interne Strukturen angewendet. Teileinheiten wurden meist in Form von temporären Sekundärstrukturen geschaffen, um im Sinne der Projektarbeit über einen spezifischen Zeitraum losgelöst von der internen Primärhierarchie Aufgaben zu erfüllen. Die Projekte sind hierbei zwar funktional von der Hierarchie entkoppelt und ihre Mitglieder agieren unter hohen Freiheitsgraden, dennoch befinden sie sich bewusst im Einflussbereich des Kernunternehmens. Dabei wurden Bestrebungen einzelner Teileinheiten, sich vom organisationalen Kern zu lösen, meist als negativ für das Gesamtunternehmen bewertet. An dieser Stelle setzen folgende Überlegungen an: Verdeutlicht man sich die dynamischen Wettbewerbsumfelder und damit die Flexibilitätsanforderungen an die Organisation sowie die Forderung nach konsequenter Kundenorientierung und sieht auf der anderen Seite die oft trägen und festgefahrenen Strukturen und Denkweisen großer Organisationen, dann lässt dies ein Gedankenspiel zu, durch wel-
158
Teil III: Ansatzpunkte zur Organisation des automobilen Leistungsverbunds
ches man durchaus Vorteile in einer mentalen Differenzierung von Teileinheiten sehen kann.655 Im Folgenden werden drei Gedankengänge zur mentalen Differenzierung näher vorgestellt:
Mentale Differenzierung zur firmenübergreifenden Zusammenarbeit: Im Zuge der Kernkompetenzfokussierung limitieren Unternehmen ihr Wissen zunehmend auf strategisch relevante Bereiche und gliedern große Wertschöpfungsumfänge an die Zulieferunternehmen aus. Zeitgleich erfordern aber die Gesamtfahrzeugintegration und das Risikomanagement die Aneignung eines Minimalwissens auch in den ausgelagerten Kompetenzbereichen, um einerseits eine reibungslose Gesamtintegration sicherzustellen, andererseits die Unabhängigkeit von einzelnen Leistungspartnern zu minimieren und so im Rahmen eines Risikomanagements die Rückintegration ausgelagerter Leistungen zu ermöglichen. Um dieses externe Wissen zu erschließen, entsenden OEM zunehmend eigene Mitarbeiter und integrieren diese in die Zulieferunternehmen.656 Der enge Kontakt soll hierbei insbesondere die Aneignung von implizitem Wissen fördern: „Da Wissensinhalte nicht kontextunabhängig vermittelt werden können und da direkte Gespräch zwischen Ingenieuren für das Verstehen von Problemen und Zusammenhängen unerlässlich ist, gibt es für Organisationsformen räumlicher Zusammenführung von Wissensträgern keine echten technologischen Alternativen.“ (Rentmeister (1999), S. 33)
Aufgrund der kontextuellen Wissenseinbettung müssen sich die entsendeten Mitarbeiter auf den neuen Kontext einlassen bzw. sich von den „alten Strukturen“ mental entkoppeln.657 Zeitgleich erfordert aber ein unternehmenszielorientiertes Agieren eine gewisse „Heimatorientierung“. Die Ausführungen von Morath (2002) mögen dies verdeutlichen: „Weder das totale Erinnern noch das totale Vergessen sind auf Dauer funktionale und innovations- und zukunftsfähige Erinnerungsmodi. Die Herausforderung liegt in einem balancierten Verhältnis zwischen Vergessen und Erinnern.“ (Morath (2002), S. 198)
655
656
657
Ähnlich argumentiert auch Ringlstetter (1995), der Vorteile in der mentalen Differenz der Konzernleitung zu den Teileinheiten sieht. Er resümiert: „Dadurch wird es der Konzernleitung möglich, einen eventuellen „Tunnelblick“ der Leitung der Basisteileinheiten aufzubrechen und neue Perspektiven und Kontexte einzubringen“ (Ringlstetter (1995), S. 103). Dieser Gedanke ist auch auf die Differenzierung von Teileinheiten zum Kerngeschäft übertragbar. Gleiche Überlegungen sind auch im Vertrieb anzustellen. Insbesondere der Trend zu Mehrmarkenverkaufsstätten und mögliche „Shop-in-Shop-Konzepte“ führen zu intensivierten Überlegungen, herstellereigenes Personal auch physisch an der Verkaufsstätte zu verorten. Auch die Überlegungen einer kooperativen Zusammenarbeit von Vertragshandel und Hersteller lässt eine zumindest temporäre, unterstützende Verortung von Herstellerpersonal beim Vertragshändler logisch erscheinen. Ähnliche Überlegungen sind auch zu finden bei Morath (2002), S. 219.
Teil III: Ansatzpunkte zur Organisation des automobilen Leistungsverbunds
159
Resultat ist oft ein „Zwischen den Stühlen“-Gefühl und die bereits in den einleitenden Sätzen thematisierte Heimatlosigkeit.658
Neben der mentalen Differenzierung einzelner Mitarbeiter oder Teams zur Realisierung von firmenübergreifenden Projektteams auf Zulieferseite findet auch zunehmend eine mentale Differenzierung innerhalb der Unternehmensgrenzen statt. Für die in den strategischen Positionierungsprogrammen thematisierte Lokalisierung und Kundenorientierung ist eine mentale Differenzierung von der Konzerndenkweise notwendig, um offen für die Umwelteinflüsse zu sein. Hab et al. (2003) halten hierzu fest: „Um aktuelle Trends, wie auch das Anforderungsprofil des Kunden richtig einschätzen zu können, sollte den entscheidenden Projektmitarbeitern die Möglichkeit gegeben werden, sich nah am Markt zu bewegen und Kundenbedürfnisse ungefiltert wahrnehmen zu können.“ (Hab et al. (2003), S. 71)
Kernunternehmensgeprägte Auslandstöchter können dieser Aufgabe nicht im vollen Umfang gerecht werden. Analog zu vorangegangenen Überlegungen ergibt sich erneut ein Spannungsfeld zwischen Integration und Externalisierung, wie folgendes Beispiel der Internationalisierung von BMW zeigt: „We decided to have a mixture so we brought in American know-how from some of the Japanese transplants, in particular Honda and Toyota, and then we brought in the Germans. Why? Because we needed connections to Munich.” (o. V. (2003), zit. nach Pries (2003), S. 6)
Auf der einen Seite müssen Teileinheiten zur Potenzialausschöpfung an der „langen Leine“ gehalten werden, auf der anderen Seite ist ein Mindestmaß an unternehmensweiter Koordination sicherzustellen.659
658
659
Morath (2002), S. 210, geht bei seinen Überlegungen davon aus, dass Individuen immer nach Sicherheit und Kohärenz streben. In einer ihnen fremden Situation fehlen diese, was zu einem Unbehagen führen kann. Auch Ringlstetter/ Morner (1998), S. 6, sprechen bei der Delegation lokaler Entscheidungen an Tochtergesellschaften im Rahmen eines dezentral geführten internationalen Konzerns von einem gewollten Polyzentrismus.
160
Teil III: Ansatzpunkte zur Organisation des automobilen Leistungsverbunds
Eine Extremform der mentalen Differenzierung unternehmensinterner Teileinheiten stellen die Kreativeinheiten bzw. Think Tanks dar.660 Die zunehmende Technologiekonvergenz und das allgemeine Innovationsstreben führen dazu, dass oft Schlüsseltechnologien in automobilfremden Bereichen zu signifikanten Änderungen im eigentlichen Kerngeschäft führen. Für ein Überleben im allgemeinen Technologiemarkt reicht es daher nicht mehr aus, sich alleinig an den Automobilherstellern zu messen: „Die Automobilindustrie muss sich mehr öffnen. Sie sollte in stärkerem Maße Trends aus anderen Branchen aufnehmen, etwa aus der Unterhaltungselektronik und der Telekommunikation.“ (Oliver Wyman (2007), S. 29)
Organisationen müssen daher in zunehmendem Maße für branchenfremde Trends sensibilisiert werden.661 Eine Möglichkeit hierzu bietet die mentale Differenzierung von Teileinheiten als sogenannte Think Tanks, wie bspw. bei BMW im Bereich Forschung und Entwicklung:662 „[…] in Palo Alto sollen neue, vor allem branchenfremde Technologien schnell in Form prototypischer Systeme oder Fahrzeuge dargestellt werden. Die unmittelbare Nähe zu Elektronik- und Softwareunternehmen im Silicon Valley und die engen Kontakte zu ortsansässigen Universitäten bieten dafür eine ausgezeichnete Grundlage.“ (Richter & Hartig (2007), S. 257f., Herv. A. R.)
Die mentale Differenzierung ist notwendig, da, wie Morner (1997) feststellt, bei der Entwicklung kernkompetenzferner Innovationen ein „freies Denken“ hilfreich und das konzerneigene Wissen eher hinderlich ist:663
„Für Durchbruchinnovationen kann sich ein derartiges Wissen bzw. derartige Kernkompetenzen der einzelnen Teileinheiten hinderlich auswirken. […] Vor diesem Hintergrund wird empfohlen, die Entwicklung radikaler Innovationen von den Teileinheiten, insbesondere von den Routineentwicklungen in dezentralen F&E-Einheiten, organisatorisch zu trennen.“ (Morner (1997), S. 163).664 660 661 662 663
664
Vgl. hierzu auch allgemein Bart (1988b) und Bart (1988a) und seine Ausführungen zu „new venture units“. Laut Morath (2002), S. 219, besteht ein positiver Zusammenhang zwischen loser Kopplung und Umweltsensibilität. 1998 gründete BMW ein Forschungszentrum am Hochtechnologiestandort Palo Alto. Vgl. Richter/ Hartig (2007), S. 257f. Vgl. hierzu auch die Ausführungen bei Morath (2002), S. 193ff. „Zentrale F&E-Abteilungen verfügen auf der anderen Seite über höhere Kapazitäten, interdisziplinäres Know-How und kurzfristige Unabhängigkeit von Ergebniszielen und eignen sich daher auch für Durchbruchsinnovationen.“ Vgl. Morner (1997), S. 163. Auch Baldwin/ Clark (1997) sehen die Notwendigkeit einer mentalen Differenzierung zur vollen Potenzialentfaltung modularer Organisationen: „To take full advantage of modularity, companies need highly
Teil III: Ansatzpunkte zur Organisation des automobilen Leistungsverbunds
161
Die Trennung ermöglicht den Think Tanks ein Agieren frei von den Restriktionen des Kerngeschäfts. So umgeht eine eigene Weisungs- und Berichtstruktur die oftmals protektionistischen Ressourcenansprüche des Kerngeschäfts und ermöglicht ein ziel- bzw. innovationsorientiertes Kontrollsystem.665 Neben einer ausreichenden Ressourcenausstattung wirkt auch die geringe organisatorische Komplexität mit kurzen Informations- und Entscheidungswegen positiv auf den Innovationsprozess mit ein. Geschilderte Beispiele verdeutlichen das Spannungsfeld, in dem sich externalisierte Einheiten bewegen. Einerseits besteht ihre Legitimation im „freien Denken“, andererseits erfordert die Unternehmensstrategie eine zumindest partielle Integration, um die Funktion der Gesamtorganisation sicherzustellen.666 Hinzu kommt eine Ressourcenabhängigkeit von der Kernorganisation.667 Der Erfolg differenzierter Teileinheiten hängt folglich einerseits von ihrer Differenz, andererseits aber auch von ihrer Zugehörigkeit zu einer Organisation ab. Holtbrügge (2001) und Rodriguez et al. (2007) thematisieren ein ähnliches Abhängigkeitsverhältnis bei ihren Untersuchungen zu Holarchien, wobei Holtbrügge (2001) ausführt: „Holone zeichnen sich durch zwei entgegengesetzte Bestrebungen aus, und zwar durch die Tendenz zur Selbstbehauptung (Wahrung der eigenen Autonomie) und durch die Tendenz zur Integration (Beitrag zur Erhaltung des Gesamtsystems). In Holarchien […] besteht dabei ein dynamisches Wechselspiel zwischen diesen beiden entgegengesetzten Bestrebungen.“ (Holtbrügge (2001), S. 343)
Holone668 haben folglich ihre Daseinsberechtigung in einem selbst gesteuerten, flexiblen Verhalten und gleichzeitig ihre Daseinsgrundlage in der Zugehörigkeit zu einem größeren Ganzen. Ferner ermöglicht die Kooperationsfähigkeit holonistischer Teileinheiten eine Quasikoppelung an die Hierarchie des Kernunternehmens.
_______________________________________________________________________________________
665 666
667 668
skilled, independent-minded employees eager to innovate. These designers and engineers do not respond to tight controls” (Baldwin/ Clark (1997), S. 92). Vgl. hierzu auch Bart (1988a), S. 36. Johne (1984) thematisiert dieses Spannungsfeld vor dem Hintergrund der verschiedenen Phasen im Innovationsprozess: „It can be seen that leader firms adopt structures which are predominantly loose (low) during the initiation phase and tight (high) during the implementation phase” (Johne (1984), S. 64). Dieses Spannungsfeld gilt es noch im Rahmen der Koordination im Konfluenzraum näher zu thematisieren. Vgl. hierzu und im Folgenden insbesondere Morner (1997), S. 167ff., und auch Überlegungen zu den Aufgaben der Zentrale bei Johne/ Vermaak (1993), S. 412f. Der Begriff des Holons geht auf den ungarischen Philosophen Arthur Köstler zurück, der damit natürliche und artifizielle Strukturen beschreibt, die weder Komplettsysteme noch Teilsysteme darstellen. Nach Köstler müssen Holone zugleich stabil, selbstständig und koordinationsfähig sein. Vgl. hierzu Rodriguez et al. (2007), S. 8.
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Teil III: Ansatzpunkte zur Organisation des automobilen Leistungsverbunds
(2)
Pull – Die Integration externer Einheiten in den automobilwirtschaftlichen Leistungsprozess
Bereits die Ausführungen zur Konfiguration des Zuliefersystems verdeutlichten die zunehmende Integration der externen Kooperationspartner in die Leistungserstellung des fokalen Automobilherstellers. Berkenhagen & Vrbica (2007) hierzu:669 „Dadurch [sprich durch Wertschöpfungskooperationen] werden vorgelagerte Wertschöpfungsebenen (Lieferanten) in die Kernprozesse des Unternehmens wesentlich stärker einbezogen und „quasi“ in das Unternehmen integriert.“ (Berkenhagen & Vrbica (2007), S. 265, Anm. A. R.)
Auf höchster Integrationsstufe nehmen externe Kooperationspartner eine quasi-internalisierte Stellung ein, da sie zwar arbeitsrechtlich nicht der Direktion des Unternehmens unterstehen,670 jedoch große Teile der Leistungserstellung (professionelle Dienstleistungen oder Kontraktgüter)671 beim OEM physisch oder virtuell verortet erbringen.672 Hierbei unterscheiden sie sich insbesondere in Punkt 2 von der klassischen Zulieferbeziehung, wie sie im Rahmen der Netzwerkkonfiguration thematisiert wurde. Die Motivlage hinter einer Quasiinternalisierung aus Sicht des fokalen Unternehmens soll im Folgenden näher untersucht werden (a). Aufbauend darauf werden anschließend potenzielle Akteure im Konfluenzraum vorgestellt und konfiguratorisch spezifiziert (b). (a) Die Motivlage hinter der Entscheidung einer integrativen Nutzung von externen Humanressourcen zur Bearbeitung verschiedener Leistungsumfänge kann als durchaus vielfältig cha-
669
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671
672
Ähnlich argumentieren auch Richter/ Hartig (2007): „Dabei [bei den Systemintegratoren] hat sich gezeigt, dass es insbesondere in der Phase der Ideengenerierung und Produktdefinition einer Öffnung der eigenen Unternehmensgrenzen bedarf, damit die Potenziale des Beschaffungsmarktes optimal genutzt werden können. Die sehr frühe Einbindung von Lieferanten in den Entwicklungsprozess ist dafür eine wichtige Voraussetzung“ (Richter/ Hartig (2007), S. 253, Anm. A. R.). Vgl. Kaiser et al. (2007), S. 15, und auch Matusik/ Hill (1998), S. 680. Eine Ausnahme stellt Leihpersonal dar, welches aufgrund der Relevanz für die Automobilbranche jedoch in den Definitionsrahmen inkludiert wird. Hierdurch soll eine Differenzierung von „einfachen“ Dienstleistungen, wie bspw. Catering und Reinigungsdienstleistungen, herbeigeführt werden, die durch oben genannte konstitutive Merkmale zu den quasi-internalisierten Einheiten gerechnet werden müssten, hinsichtlich ihres Managements jedoch signifikant zu unterscheiden sind. Zur Professionalität und zum Kontraktgutcharakter vgl. auch exempl. Kaiser et al. (2007), S. 16f. Kontraktgüter sind komplexe Dienstleistungen, Individualtransaktionen von Investitionsgütern oder Leistungsbündel, über die beim Kauf ein Kontrakt abgeschlossen wird, der die zu erbringende Leistung spezifiziert. Da das Resultat von der ex-ante kaum evaluierbaren Leistung des externen Mitarbeiters abhängt, ist das kaufende Unternehmen mit Informations- und Unsicherheitsproblemen konfrontiert. Zum Charakteristikum der örtlichen Zugehörigkeit vgl. Kaiser et al. (2007), S. 15f. Die virtuelle Verortung wird bewusst betont, da über moderne Kommunikationsmittel eine physische Verortung zur intensi-
Teil III: Ansatzpunkte zur Organisation des automobilen Leistungsverbunds
163
rakterisiert werden. Bereits im Rahmen der Diskussion über die Zuliefernetzwerke wurde die Koordinationsfunktion der integrierten Tier-0,5-Lieferanten hervorgehoben.673 Matusik & Hill (1998) sehen vor dem Hintergrund der Kosteneinsparung insbesondere in der Nutzung externer technischer Expertisen sowie den Kapazitäts- und Flexibilisierungseffekten weitere Motive. Ähnlich identifizieren Kaiser et al. (2007) u. a. den Zugang zu Kompetenzen und Wissen, die Steigerung der organisatorischen Flexibilität und die Vergrößerung der unternehmenseigenen Wissensbasis als Ziele des Einsatzes externer Mitarbeiter.674 Erstere können als Flexibilisierung der Humanressourcenausstattung verstanden werden und haben eher Ad-hocCharakter (aa). Die Entwicklung der eigenen Wissensbasis ist wiederum eher langfristiger, strategischer Natur und soll in einem eigenen Punkt behandelt werden (ab).675 (aa) Flexibilisierung der Human-Ressourcen-Ausstattung: Betrachtet man den Flexibilisierungsaspekt der Human-Ressourcen-Ausstattung, so kann dieser auf quantitativer und qualitativer Ebene geschehen. Schilling & Steensma (2001) unterscheiden hierbei zwischen einer quantitativen Kapazitätsanpassung zur Überbrückung personeller Engpässe und einer qualitativen Kapazitätsanpassung zur kurzfristigen Schließung temporärer Kompetenzlücken:676 „Employing individuals or groups of individuals on a short-term contract basis allows a firm to readily adjust both its scale and its managerial or technical talent mix.” (Schilling & Steensma (2001), S. 1152)
Der Bezug externer Mitarbeiter zur qualitativen Kapazitätsanpassung findet immer dann statt, wenn ein Ad-hoc-Bedarf entsteht und dieser unter gegebener interner Ressourcenrestriktion oder aufgrund gesetzlicher Vorschriften nicht bedient werden kann.677 Hierbei ist zunächst denkbar, dass exogen bedingte Veränderungen einen plötzlichen Handlungsbedarf initiieren. Ein gutes Beispiel hierfür ist die aufkommende Umweltdebatte und der damit einhergehende _______________________________________________________________________________________
673 674 675
676
677
ven Zusammenarbeit nicht mehr zwingend notwendig ist. Vgl. hierzu auch Tietze (2003), S. 176 und 199f., sowie die dort angegebene Literatur. Vgl. hierzu auch Mattes et al. (2004), S. 28, und für die koordinative Funktion der Entwicklungsdienstleister Tietze (2003), S. 208. Ähnliche Motive heben auch Abraham/ Taylor (1996) hervor. Zur Einteilung der langfristigen, strategischen und kurzfristigen Ziele des Einsatzes externer Mitarbeiter vgl. auch Kaiser et al. (2007), S. 23f. Neben den genannten Zielen werden weitere Ziele, wie bspw. Kostenvorteile, identifiziert, auf die nicht näher eingegangen werden soll. Analog unterteilen Kaiser et al. (2007), S. 23ff., die kurzfristigen, operativen Ziele in „Zugang zu Kompetenzen und Wissen“ (qualitative Kapazitätsanpassung) und „Kapazitätsanpassung“ (quantitative Kapazitätsanpassung). Vgl. hierzu exempl. Kaiser et al. (2007), S. 24. Gesetzliche Vorschriften, wie z. B. der Kündigungsschutz in Deutschland, schränken den flexiblen kurzfristigen Einsatz von Personal – insbesondere in der Produktion – ein. In diesem Zusammenhang werden vermehrt Leiharbeiter von Zeitarbeitsfirmen oder eben auch externe Produktionsfirmen genutzt.
164
Teil III: Ansatzpunkte zur Organisation des automobilen Leistungsverbunds
Wandel in der Fahrzeugentwicklung.678 Neben dem erzwungenen Kapazitätsengpass kann es unter strategischen Gesichtspunkten durchaus sinnvoll sein, bewusst Fähigkeiten und Kompetenzen, die nicht den eigenen Fokuskompetenzen zuzurechnen sind, situativ am Markt zu beziehen und damit eine latente interne Kapazitätsunterdeckung in Kauf zu nehmen. 679 Neben den qualitativen Gesichtspunkten spielt auch der quantitative Kapazitätsausgleich, insbesondere im Bereich der Automobilentwicklung, eine besondere Rolle. Obwohl auf den ersten Blick in der Automobilindustrie aufgrund des langfristigen und kontinuierlichen Charakters der Fahrzeugentwicklung eher von einem kontinuierlichen und damit planbaren F&EAufwand auszugehen ist, erfordert die hohe Innovationsdynamik den situativen Bezug von externen Mitarbeitern. Die zeitlich knapp bemessenen Projekte in Zusammenhang mit den differenzierten Kompetenzprofilen im Rahmen der Fahrzeugentwicklung würden unter der Prämisse der rein internen Abarbeitung einen sehr hohen Personalbedarf und damit enorme Personalkosten bedeuten. Nicht nur die direkten Personalkosten würden dabei steigen, sondern die entstehende Heterogenität im Stammpersonal würde auch die indirekten Kosten wie Weiterbildungs- und Verwaltungskosten treiben.680 (ab) Entwicklung der eigenen Wissensbasis: Als weiteres wichtiges Motiv beim Einsatz externer Mitarbeiter im Leistungserstellungsprozess ist die Entwicklung der eigenen Wissensbasis zu sehen. Neben dem bereits bei der qualitativen Kapazitätsanpassung beschriebenen Effekt der kurzfristigen Erweiterung der organisationalen Wissensbasis kann durch organisationales Lernen681 eine dauerhafte Kompetenzausweitung erfolgen. Dies ist der Fall, wenn externes Wissen auf unternehmensinterne Mitarbeiter übertragen oder verfügbar gemacht wird.682 678
679
680 681 682
Diese Überraschungssituation zeigte sich besonders deutlich auf der IAA 2007. Insgesamt wurden eher improvisierte Lösungen angeboten. Zukunftsweisende Technologien fanden sich nur stark vereinzelt. Hierzu der BUND (Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland) Verkehrsexperte Werner Reh: „Hersteller, Autoverbände und Politik werfen lauter Nebelkerzen, um von ihren Versäumnissen beim Klimaschutz abzulenken. Noch immer wird der Verbrauch der Fahrzeugflotten nicht konsequent reduziert. Stattdessen werden auf der IAA teure `Topsparautos` und `Zukunftsvisionen` vorgezeigt, die keinen Beitrag zum Erreichen der EU-Klimaziele leisten“ (Reh (2007), zit. nach o. V. (2007g)). Ausführlich zur ökologischen Einschätzung der IAA siehe auch Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (2007). Auf die Aspekte des Kompetenzmanagements wurde bereits ausführlich in Unterkapitel II.2.2 eingegangen. Kaiser et al. (2007), S. 26f., verweisen hierbei insbesondere auf etwaige Kostenvorteile durch den situativen Einsatz externer Humanressourcen und damit durch die Senkung des permanenten Humanressourcenpools. Vgl. hierzu auch Abraham/ Taylor (1996), S. 399. Diese verweisen auch auf mögliche Spezialisierungs- und damit Kostenvorteile aufseiten der externen Anbieter, weshalb der externe Bezug oft günstiger ist als die Eigenleistung. Ähnlich argumentieren auch Kaiser et al. (2007), S. 27. Zum organisationalen Lernen vgl. exempl. Pautzke (1989), S. 113f., sowie grundlegend Argyres/ Schön (1978). Vgl. Kaiser et al. (2007), S. 30.
Teil III: Ansatzpunkte zur Organisation des automobilen Leistungsverbunds
165
Externe Mitarbeiter sind vor diesem Aspekt besonders interessant, da sie durch ihre Funktion als Dienstleister nicht nur ihr konzeptionelles Wissen, sondern auch das Branchen- und Wettbewerbswissen durch den Einsatz in verschiedenen Kontexten kontinuierlich entwickeln, wie Matusik & Hill (1998) treffend herausstellen:683 „Also, since the variety of one's experiences is one of two factors influencing the quality of an individual's knowledge, contingent workers are likely to have higher knowledge levels in industry and occupational best practices than are their counterparts who remain in one or a few organizational settings.” (Matusik & Hill (1998), S. 686)
Die zunehmende Modularisierung in der Automobilindustrie senkt jedoch das Lernpotenzial durch den Einsatz externer Mitarbeiter. Insbesondere die bereits angesprochene Differenz führt zu Problemen bei der organisationalen Wissensübermittlung. Im Zuge der Modularisierung erfolgt oft nur eine Ergebnisübermittlung und das eigentliche Produkt- und Prozesswissen bleibt beim originären Ersteller. Hierzu hält Mikkola (2003) fest: „The higher the component modularity the less the inter-firm learning is expected to take place between suppliers and buyers.” (Mikkola (2003), S. 447)
Hierdurch wird zwar das Risiko eines Wissensabflusses auf beiden Seiten erniedrigt, da Wissensinhalte anderer Module nur sehr beschränkt ausgetauscht werden, zeitgleich senkt sich aber auch das Lernpotenzial für den OEM.684 Daher sind Automobilhersteller zunehmend darauf bedacht, den Informationsfluss vom Lieferanten zum Hersteller sicherzustellen. 685 Hierfür etablierte bspw. VW sein Programm „V.I.S.I.O.N: Forum Innovation/ Konzeptwettbewerbe“ und Audi das „Audi Value Management“ mit der Zielsetzung eines für beide Seiten kontrollierten und sicheren Informationsaustauschs zur Sicherstellung der gegenseitigen Innovationsposition.686 Neben der Akquisition neuen Wissens ist bei der Entwicklung der Wissensbasis im Rahmen einer dynamischen Strategiesichtweise auch die Reflexion der eigenen Wissensbasis zur kontinuierlichen Weiterentwicklung elementar. Um die festgefahrenen Ansichten und Herangehensweisen großer Organisationen von Zeit zu Zeit aufzubrechen und auf den Prüfstein zu
683 684
685 686
Vgl. hierzu auch Kaiser et al. (2007), S. 30, und auch Matusik/ Hill (1998), S. 686. In einem ähnlichen Kontext argumentieren auch Matusik/ Hill (1998), S. 687. Sie halten dabei fest, dass zwar das Risiko eines Wissensabflusses bei Komponentenwissen durch den Einsatz externer Mitarbeiter besteht, das gesamte Wertschöpfungssystem jedoch kaum einem Risiko unterliegt. Vgl. hierzu exempl. Piller/ Waringer (1999), S. 117. Vgl. hierzu exempl. Berkenhagen/ Vrbica (2007), S. 273ff. Die Bedeutung eines institutionalisierten Wissensaustauschs heben auch Matusik/ Hill (1998), S. 692ff., hervor. Hierauf ist später im Rahmen der Koordination und Integration noch näher einzugehen.
166
Teil III: Ansatzpunkte zur Organisation des automobilen Leistungsverbunds
stellen, eignet sich die Integration von externem Expertenwissen. Ronge (1989) verdeutlicht das wie folgt: „Zumindest von einer bestimmten Größe- und Komplexitätsordnung an werden institutionelle Kontexte gewissermaßen Sensoren zur Wirtschaft ausbilden, um ihre eigene Reflexion durch Hilfe von außen, also durch an anderer Stelle der Gesellschaft spezialisiert produziertes „Know how“, zu stärken.“ (Ronge (1989), S. 335)
Durch die Integration externer Mitarbeiter wird neues Gedankengut in die Organisation getragen und die bisherige Denkweise vor dem Hintergrund neuer Eindrücke und Erkenntnisse reflektiert.687 (b) Akteure und ihre Konfiguration im Konfluenzraum: Der Einsatz von externen Mitarbeitern ist prinzipiell auf allen Wertschöpfungsstufen denkbar. Im Rahmen der strategischen Planung arbeiten bspw. Unternehmensberater integrativ mit dem Kunden zusammen, die IT-Strategie wird begleitet durch IT-Beratungen und im Marketing sind Werbe- und Kommunikationsagenturen in den Leistungserstellungsprozess involviert. Hierbei ist jedoch kaum ein Unterschied zu anderen Branchen erkennbar. Charakteristisch für die Automobilbranche ist die Integration von Partnern in der Automobilentwicklung und -produktion. Zur näheren Thematisierung werden daher zunächst mögliche rollenspezifische Optionen der Integration und deren strategische Intentionen vorgestellt (ba). Oft ist eine inhaltliche Integration verbunden mit einer physischen Integration. Optionen einer räumlichen Integration beim Hersteller sollen daher ergänzend in einem zweiten Punkt behandelt werden (bb). (ba) Inhaltliche Integration externer Wertschöpfungspartner: Die Dekomposition der Wertschöpfungskette und die zunehmende Hierarchisierung der Zuliefernetzwerke bilden spezifische Rollenbilder von Akteuren aus, die sich hinsichtlich der Integrationsintensität und der strategischen Zielsetzung unterscheiden (Abb. III-8.).688
687 688
Ähnlich argumentieren auch Matusik/ Hill (1998), S. 687f. Ähnliche Überlegungen sind auch bei Hersteller-Hersteller-Kooperationen anzustellen, sollen im Folgenden jedoch nicht näher thematisiert werden.
Teil III: Ansatzpunkte zur Organisation des automobilen Leistungsverbunds
Abb. III-8:
167
Konfigurationsmöglichkeiten der Integration externer Leistungspartner
Im Folgenden sollen drei generische Grundtypen der Zusammenarbeit mit Zulieferunternehmen im Rahmen der Produktentwicklung näher thematisiert werden. Ausgangspunkt hierbei bildet das klassische Modell der „verlängerten Werkbank“. Zusätzlich werden die Kooperationsdesigns „Resident Engineer“ und „Entwicklungspartner“ näher betrachtet:
Verlängerte Werkbank: Zur Kapazitätserweiterung werden zunehmend Entwicklungsprojekte von Herstellern an Zulieferunternehmen und Entwicklungsdienstleister übergeben, wobei diese als sogenannte "verlängerte Werkbank" agieren.689 Hierbei übergibt der OEM vorab definierte Entwicklungsmodule an den externen Leistungspartner, die dieser dann eigenständig am eigenen Unternehmensstandort entwickelt und ggf. auch produziert. Zur Flexibilisierung eignet sich diese Konfiguration nur bedingt. Zwar kann durch den Einbezug externer Kompetenzbasen in die Leistungserstellung eine inhaltliche Flexibilisierung herbeigeführt werden, die notwendige Vorabformalisierung der Module durch Lastenhefte bedarf aber einer gewissen Vorabplanung, weshalb die zeitliche Flexibilität eingeschränkt ist. Da es sich bei der übermittelten Leistung um eine reine Transferkompetenz handelt, d. h. ein alleiniger Ergebnistransfer stattfindet, ist ferner das Entwicklungspotenzial der internen Wissensbasis sehr eingeschränkt. Die Zusammenarbeit erfolgt dabei durch ein
689
Vgl. Kirsten (2002), S. 4.
168
Teil III: Ansatzpunkte zur Organisation des automobilen Leistungsverbunds
Schnittstellenmodell, wobei die Koordination durch regelmäßige Projektmeetings durch die Projektleitung (P-Leitung) sichergestellt wird. Abgesehen von der Installation der Projektleitung ergeben sich für die fokale Organisation kaum konfiguratorische Auswirkungen.
Resident Engineer: Neben der reinen Auftragsforschung und -produktion bieten einige Zulieferunternehmen, insbesondere Entwicklungsdienstleister, ihre Leistungen in Form von sogenannten Resident Engineers, die einer Arbeitnehmerüberlassung gleich kommen, an.690 Dabei vermitteln Entwicklungsdienstleister ihre eigenen Ingenieure für bestimmte Entwicklungsprojekte an den Automobilhersteller, die dann als Resident Engineers unter der Führung des Automobilherstellers an Projekten mitarbeiten. 691 Zielsetzung aufseiten des OEM ist hierbei insbesondere die Flexibilisierung und Erweiterung der Humanressourcenausstattung, um auf Ad-hoc-Situationen schnell und ohne direkte Auswirkungen auf die eigene Personalpolitik reagieren zu können. Resident Engineers werden dabei primär in additiven Wissensbereichen eingesetzt, um diese als Baustein für das Gesamtprojekt zu nutzen (Transferkompetenzen). Die Aneignung von eigenen Kompetenzen in diesen Bereichen wird dabei meist nicht angestrebt. Konfiguratorisch werden Resident Engineers als additive Humanressourcen in die bestehende Primär- und Sekundärstruktur der Automobilhersteller eingebunden, ohne diese direkt zu beeinflussen. Die Koordination zwischen OEM und Resident Engineer findet innerhalb der einzelnen Abteilungen und Projektteams statt.
Entwicklungspartnerschaften: Die höchste Stufe der Integration stellen sogenannte Entwicklungspartnerschaften dar. Hierbei stehen für den OEM weniger die Kapazitätserweiterung und -flexibilisierung als vielmehr der Wissenstransfer im Vordergrund.692 Zielsetzung ist, durch eine enge Zusammenarbeit in Form eines Teammodells relationale Kompetenzen aufzubauen, die über das eigentliche Projekt hinweg von den OEM genutzt werden können. Zur Intensivierung des Wissensaustauschs kommt es hierbei auch oft zu einer räumlichen Konzentration der externen Entwicklungspartner auf der Projektfläche der OEM:
690 691 692
Vgl. exempl. Kurek (2004), S. 11, und Weber (2003). Vgl. hierzu auch Weber (2003). Vgl. Kurek (2004), S. 12.
Teil III: Ansatzpunkte zur Organisation des automobilen Leistungsverbunds
169
„Wir stellen ein klares Konzept auf, beschreiben Zielkorridor und Zielwerte. Noch in der Konzeptphase gehen wir auf die Lieferanten zu und diskutieren das Konzept […]. Nach der Auftragsvergabe geht der Lieferant mit seiner Mannschaft sofort mit auf die Projektfläche und arbeitet eng verzahnt mit den anderen Partnern und unserer Entwicklung.“ (Becker (2004), zit. nach Mercer Management Consulting & Fraunhofer Gesellschaft (2004), S. 16)
Anders als bei der Integration der Resident Engineers entsteht durch die Kooperation mit externen Leistungspartnern interner Konfigurationsbedarf. Für die Zusammenarbeit werden Projektstrukturen situativ geschaffen. Die Projektüberführung übernimmt hierbei meist der Hersteller. (bb) Räumliche Integration externer Leistungspartner: Zur Unterstützung der inhaltlichen Integration erfolgt meist analog eine räumliche Integration der Zulieferunternehmen beim Automobilhersteller. Bei Resident Engineers ist sie sogar fester Bestandteil des Geschäftsmodells. Ergänzend sollen daher kurz Optionen der räumlichen Integration vorgestellt werden, die insbesondere bei System-, aber auch im zunehmenden Maße bei Modul- und Komponentenlieferanten anzutreffen sind (vgl. Abb. III-9). Integration
Industriepark
TL 1
TL 2
Vor-Ort-Montage
TL 3
SL 1
TL 1
TL 2
TL 3
SL 1
Modulmontage SL1
Inhouse Production
TL 1
TL 2
TL 3
SL 1 OEM
OEM
Modulmontage SL1
Modulmontage SL1
Fahrzeugproduktion
Fahrzeugproduktion
Fahrzeugproduktion Modul SL1 Weitere Komp.
Vermarktung
Vermarktung
Vermarktung
OEM
TL = Teilelieferant; SL = Systemlieferant
Abb. III-9:
Zulieferleistung
Herstellerleistung
Räumliche Verortungsvarianten von Leistungspartnern Quelle: verändert und ergänzend übernommen aus Piller & Waringer (1999), S. 122.
Von einem Industriepark wird dann gesprochen, wenn sich verschiedene Hauptzulieferunternehmen zusammen an einem abnehmernahen Standort örtlich konzentrieren, um durch die
170
Teil III: Ansatzpunkte zur Organisation des automobilen Leistungsverbunds
Kombination spezifischer Einzelleistungen herstellernachgefragte Module zu fertigen.693 Hierbei handelt es sich meist um komplexe (Relevanz der Nutzung firmenübergreifender Kompetenzen) und voluminöse (Relevanz der örtlichen Nähe für den Transport) Module. Zudem erleichtert die Nähe zum OEM den Informationsaustausch und die oft geforderte Just-intime-Belieferung.694 Bei der Vor-Ort-Montage erbringt der Zulieferer die Modulmontage direkt auf dem herstellereigenen Produktionsgelände.695 Zusätzlich zu der Montage der eigenen Teile koordiniert er die Aktivitäten seiner Sublieferanten und komplettiert die Einzelleistungen zu einem OEMspezifischen Gesamtmodul. Da er direkt in den Produktionsprozess des Herstellers eingebunden ist, sind die Freiheitsgrade auf Zulieferseite sehr stark durch die Herstellervorgaben limitiert. Der Kontaktpunkt mit dem Hersteller findet durch die einbaufertige Modulübergabe bzw. -über-führung in den Herstellerleistungsprozess statt. Bezüglich der Integration der Zulieferleistung in die herstellereigene Wertschöpfung geht die sogenannte Inhouse Production noch einen Schritt weiter.696 Hierbei wird freie Fläche in den Produktionsanlagen des Herstellers von den Zulieferern angemietet, auf denen dann eine gemeinsame Leistungserstellung durch Mitarbeiter des Zulieferers und Herstellers erfolgt. Die Interaktion beschränkt sich folglich nicht nur auf die Übergabe, sondern über einen gewissen Zeitraum, indem Mitarbeiter von beiden Seiten zusammen an der Modulerstellung arbeiten. Hierdurch erhöht sich zwar der Integrationsaufwand, das gemeinsame Agieren fördert jedoch den Wissenstransfer und erhöht den Spielraum bei der Moduladaption.
693 694
695 696
Vgl. hierzu und im Folgenden insbesondere Piller/ Waringer (1999), S. 125f. Vgl. hierzu auch Mattes et al. (2004), S. 29. Ein gutes Beispiel ist der Industriepark nahe der Ford-Werke AG in Köln. Die Anbindung des Industrieparks erfolgt über eine Convoyer-Brücke, über die fertige Module direkt in die Ford-Produktion eingespeist werden. Vgl. hierzu und im Folgenden Piller/ Waringer (1999), S. 123. Vgl. hierzu und im Folgenden insbesondere Piller/ Waringer (1999)S. 123ff., sowie die dort angegebene Literatur. Ein gutes Beispiel hierfür ist auch die Produktion bei Smart. Hier wurden die einzelnen Zulieferbetriebe auf einer gemeinsamen Projektfläche auf dem Smart-Betriebsgelände angesiedelt, wobei die einzelnen Module von rechtlich selbstständigen Zulieferunternehmen eigenwirtschaftlich betrieben werden. Hierbei kann wirklich von einer Internalisierung von externen Teileinheiten gesprochen werden, da diese direkt mit der Entwicklung und Endmontage des fokalen Herstellers verbunden sind. Vgl. Diez/ Reindl (2005b), S. 93. Ähnlich funktioniert auch der Zulieferpark des Daimler-Benz Werks in Rastatt. Hier sind 10 Zulieferunternehmen, die gemeinsam 50 Prozent des gesamten Teilevolumens der A-Klasse ausmachen, Mieter auf dem Daimler-Benz Werksgelände.
Teil III: Ansatzpunkte zur Organisation des automobilen Leistungsverbunds
III.2
171
Ansatzpunkte zur Koordination im automobilen Leistungsverbund
Der wirtschaftliche Diskurs konzentrierte sich bislang primär auf das Netzwerkmanagement automobiler Leistungsverbünde und ging kaum auf die fokale Organisation selbst ein. Dies überrascht, da bereits Hillebrand (1996) feststellte, dass die Netzwerkperformance von der internen Koordinationsperformance abhängt. Automobilhersteller können also nur dann die vollen Potenziale eines partnerschaftlichen Leistungsverbunds nutzen, wenn sie intern gut koordiniert sind. Es ist daher nur konsequent, dass im Sinne der Forschungszielsetzung eine ganzheitliche Sichtweise des automobilen Leistungsverbunds aufgegriffen wird. Hierfür wird zunächst auf die interne Organisation von Automobilherstellern auf Basis der Erkenntnisse der Plattformorganisation eingegangen (Unterkapitel III.2.1). Erarbeitete Ergebnisse werden anschließend genutzt, um ergänzend die unternehmensübergreifende Perspektive zu erarbeiten (Unterkapitel III.2.2).
III.2.1
Ansatzpunkte zur Koordination von Automobilunternehmen als Plattformorganisationen
Das im Rahmen der Konfiguration genutzte Sprachspiel von Stabilität und Flexibilisierung, in dem stabile Hierarchien und flexible, modulare Strukturen bewusst als sich ergänzende organisatorische Konfigurationen verstanden wurden, soll im Folgenden auf die Überlegungen zur Koordination übertragen werden. Fichter (2003) hält hierzu in Analogie zu getätigten Konfigurationsüberlegungen treffend fest: „Mit zunehmender Komplexität und Dynamik muss sich der Schwerpunkt von Planung und Steuerung auf die Schaffung von Rahmenbedingungen und geeigneten Innovationskontexten verschieben. Die Idee besteht darin, dass die Unternehmens- oder Konzernführung die Bewegungsfreiheit der Einheiten erhält und damit auch die für Innovation so wichtigen kreativen Freiräume schafft.“ (Fichter (2003), S. 3, Herv. A. R.)
Als gedanklicher Ansatzpunkt der weiteren Überlegungen kann dabei das Konzept der Kontextsteuerung697 von Naujoks (1994) herangezogen werden. Aufbauend auf den Überlegungen von Wilke und Teuber entwickelte Naujoks (1994) eine Systematisierung von Steuerungsme-
697
Eine betriebswirtschaftliche Prägung des Begriffes der Kontextsteuerung fand bislang nur sehr vereinzelt statt. In der Gesellschaftstheorie wird er im deutschsprachigen Raum insbesondere von Willke (1987a),
172
Teil III: Ansatzpunkte zur Organisation des automobilen Leistungsverbunds
chanismen, die die tradierte Sichtweise von Fremd- und Selbststeuerung um die Komponente der Kontextsteuerung erweitert.698 Zur Typologisierung spielt er mit dem Spannungsfeld von Interdependenz und Autarkie und baut darauf die Dimensionen „Bedeutung endogener Faktoren“ (modulinhärente Faktoren) und „Bedeutung exogener Faktoren“ (durch andere Teileinheiten bestimmte Faktoren) auf (Abb. III-10).699 Oberfläche
dezentraltechnokrat.
direktivtechnokrat.
dezentralkulturell
direktivkulturell
Steuerungsebene Tiefe hoch Bedeutung endogener Faktoren niedrig
TE Selbststeuerung
Kontextsteuerung
keine Steuerung
Fremdsteuerung
niedrig
Bedeutung exogener Faktoren
Abb. III-10:
hoch
Steuerungsakteur
ZI
Legende: TE = Teileinheit ZI = Zentralinstanz
Abgrenzung und Systematisierung der Netzwerksteuerung Quelle: zusammenfassend und leicht verändert dargestellt aus Naujoks (1994), S. 115 und 117.
Eine Selbststeuerung tritt vor allem dann ein, wenn zur Potenzialentfaltung primär teileinheitenspezifische Faktoren entscheidend sind und eine teileinheitenübergreifende Steuerung durch die Leitung aufgrund der hohen Autarkie nicht notwendig erscheint, vielmehr sogar kontraproduktiv auf die Potenzialentfaltung wirken könnte.700 Selbstkoordination ist folglich insbesondere bei autarken und autonomen Teileinheiten anzutreffen. Dies würde der Sichtweise der modularen Teileinheit sehr nahe kommen. Wie einführende Anmerkungen zur Organisation von Plattformorganisationen aber feststellten, würde eine vollständige Selbststeuerung die Gesamtfunktionalität gefährden. _______________________________________________________________________________________
698 699 700
Willke (1987b), Willke (1989) und Teubner/ Willke (1984) verwendet. Vgl. hierzu auch Fichter (2003), S. 3. Vgl. hierzu und im Folgenden auch zusammenfassend Fichter (2003), S. 3ff. Vgl. Naujoks (1994), S. 114ff. Vgl. hierzu auch Teubner/ Willke (1984), S. 11ff.
Teil III: Ansatzpunkte zur Organisation des automobilen Leistungsverbunds
173
Die Fremdkoordination als Gegenpol zur Selbststeuerung findet insbesondere dann Anwendung, wenn starke Interdependenzen zwischen den einzelnen Teileinheiten herrschen, wie bspw. oft bei funktionsorientierten Konfigurationen. Übergeordnete Instanzen agieren dabei als Steuerungsarchitekt und regeln Kraft ihrer Autorisierungsrechte das Agieren ihrer jeweiligen Teileinheiten.701 Diese Vorstellung widerspricht jedoch klar der geforderten Autonomie modularer Teileinheiten. Eine Kombination von Selbst- und Fremdkoordination kann in der Kontextsteuerung gesehen werden. Bezug nehmend auf den dualen Charakter von Plattformorganisationen ist es Ziel, „eine produktive Kombinatorik von autonomer Selbstorganisation und [...] verbindlicher Kontextvorgaben“ (Teubner & Willke (1984), S. 6) zu erreichen. Die von KnyphausenAufseß (1995) verwendete Metapher der Arena mag dies verdeutlichen: „Es müssen Arenen eingerichtet werden, innerhalb derer die selbstorganisierenden Prozesse ablaufen können. […] Eingeschlossen sind hier Bemühungen der Konfliktregulierung und der „Übersetzung“ von Aussagen des einen Kontextes in Aussagen eines anderen Kontextes.“ (Knyphausen-Aufseß (1995), S. 343, Anm. A. R.)702
Naujoks (1994) definiert diese Arenen als Kontexte und versteht darunter ein „duales Zusammenspiel von Rahmenbedingungen [bzw. Oberflächenstruktur] und Tiefenstruktur“ (Fichter (2003), S. 3, Anm. A. R.).703 Die Oberflächenstruktur besteht dabei aus den „beobachtbaren Strukturen und Prozesse um die Organisation herum“ (Naujoks (1994), S. 116.) und bildet den koordinativen Rahmen. Naujoks (1998) schlägt hierzu Managementsysteme704 vor und stellt weiter fest: „Während eine ausschließlich zentrale Erarbeitung und Durchsetzung inhaltlicher Vorgaben an den bewusst geforderten Autonomie und Interessendivergenz der Leistungsmodule scheitern würde, ermöglicht ein indirektes Führungshandeln über die Vorgabe bestimmter Prozeduren und Regelungen eine eher mittelbare Beeinflussung operativer Entscheidungsprozesse.“ (Naujoks (1998), S. 187)
Dieses indirekte Führungsverhalten über die Vorgabe von verschiedenen Regeln, Prozessen und Leistungszielen (Rahmenprogrammierung) lässt Freiräume offen, wodurch die einzelnen Module selbst ihre Informationen und Kompetenzen in den Entscheidungs- und Koordinati-
701 702 703 704
Vgl. hierzu Fichter (2003), S. 4f., u. R. a. Naujoks (1994), S. 115. Eine ähnliche Argumentation findet sich bei Wüthrich (1991), S. 213. Vgl. zur Unterscheidung von Oberflächen- und Tiefenstruktur auch exempl. Kutschker/ Schmid (2002), S. 676ff., und die dort angegebene Literatur. Vgl. allgemein zu Managementsystemen exempl. Ringlstetter (1995), S. 155ff., sowie die dort angegebene Literatur.
174
Teil III: Ansatzpunkte zur Organisation des automobilen Leistungsverbunds
onsprozess einbringen können (1).705 Die Freiheitsgrade innerhalb der einzelnen Module können aber nur dann konfliktfrei genutzt werden, wenn die Anknüpfbarkeit an andere Module sichergestellt wird.706 Grundvoraussetzung der Autonomie ist also ein effizientes Schnittstellenmanagement, das als Integrator die Leitungsintensität der Führung substituiert (2).707 Sanchez & Mahoney (1996) halten hierbei fest: „Embedding coordination in fully specified and standardized component [respectively unit] interfaces can reduce the need for much overt exercise of managerial authority across the interfaces of organizational units […], thereby reducing the intensity and complexity of a firm’s managerial tasks […].” (Sanchez & Mahoney (1996), S. 73, Anm. A. R.)
Rahmenprogrammierung und Schnittstellenmanagement zielen gemeinsam auf eine Regulierung der geforderten Freiheitsgrade modularer Teileinheiten ab, indem sie mehr oder weniger formalisierte Rahmen der zielgerichteten Aktion und Interaktion vorgegeben. Die zielgerichtete Entfaltung der Freiräume findet dabei aber kaum Beachtung.708 Hierfür ist eine nähere Betrachtung der Tiefenstruktur notwendig. Durch die Annahme einer „kontextualen Doppelstruktur“ agieren Teileinheiten nicht nur in einem Kontext (Oberflächenstruktur), sondern auch vor einem Kontext (Tiefenstruktur), der das Handeln durch zugrunde liegende Werte und Normen innerhalb der gegebenen Oberflächenstruktur steuert. 709 Diese Tiefenstruktur ist zur Steuerung modularer Einheiten dahin gehend entscheidend, da insbesondere die gewollte Differenzierung modularer Einheiten im Rahmen der Konfluenzbetrachtung eine Reduzierung restriktiver Koordinationsinstrumente zur Potenzialentfaltung erfordert, zeitgleich dies aber im Interesse des Gesamtunternehmens geschehen soll. Als informelles, ergänzendes Steuerungsinstrument soll hierfür das Kulturmanagement näher thematisiert werden (3).
705 706 707
708 709
Vgl. exempl. Naujoks (1998), S. 187. Vgl. hierzu auch die Überlegungen zur Notwendigkeit der Schnittstellendefinition modularer Einheiten oder Objekte für die lose Koppelung. Vgl. hierzu auch die Ausführungen von Naujoks (1994), S. 128f., zur Kontextsteuerung über horizontale Strukturierung. Auch das bereits angeführte Zitat von Knyphausen-Aufseß (1995), S. 343, verdeutlicht die Wichtigkeit einer Konfliktregulierung und Übersetzung. Vgl. hierzu auch die einführenden Überlegungen zu den Grundfunktionen der Führung bei Ringlstetter (1997), S. 38f. Vgl. hierzu Naujoks (1994), S. 116ff., und zusammenfassend auch Fichter (2003), S. 3f.
Teil III: Ansatzpunkte zur Organisation des automobilen Leistungsverbunds
(1)
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Überlegungen zur teileinheitsspezifischen Rahmenprogrammierung in modularen Konfigurationen
Zur vollen Nutzung des teileinheiteninhärenten Potenzials müssen Instrumente gefunden werden, die einerseits die Leistungserbringung im Sinne der Unternehmen sicherstellen, andererseits die zur Nutzung der Modularitätsvorteile notwendige Autonomie der Leistungsteileinheiten gewährleisten. Vor diesem Hintergrund erscheinen Regeln, die sich eher durch einen „Kochbuchcharakter“ und strikte Handlungsanweisungen auszeichnen, insbesondere bei aktionsorientierten Managementsystemen710 nur sehr bedingt einsetzbar. Ein Beispiel aus der Automobilentwicklung mag dies verdeutlichen: Traditionell bestehen Lastenhefte aus konkreten Inhaltsangaben (Materialien, Beschaffenheit etc.) für die einzelnen Bauteile, Komponenten und Module. Zur Nutzung der Kompetenzbasen der internen und externen Leistungspartner erfolgt jedoch zunehmend ein Wandel zu funktionsorientierten Lastenheften (Qualitätsempfinden, Klangeigenschaften etc.); der Weg zur Zielerreichung ist damit den einzelnen Einheiten überlassen.711 Neben den konkreten Inhalten der Steuerungssysteme ist auch der Umfang bzw. die Reichhaltigkeit der Regelungen kritisch abzuwägen. Bereits im Grundlagenteil wurde auf den Trade-Off zwischen Praktikabilität und Vollständigkeit hingewiesen. Zudem konterkariert ein hoher Regelgehalt die geforderte Autonomie von modularen Teileinheiten und schränkt deren Potenzialentfaltung ein. Zeitgleich stellt jedoch Knyphausen-Aufseß (1995) fest, dass die Forderung nach Selbstorganisation nicht die Abstinenz jeglicher Regeln impliziert: „Es ist aber nicht einzusehen, warum nicht auch bestimmte substanzielle Eingaben erfolgen sollen – solange damit der Selbstorganisation des Systems nicht gleich wieder ein Ende gesetzt wird. […] Das kann durchaus in einer Weise geschehen, daß man Rahmendaten – seien es Verrechnungspreise, seien es Mengen oder Termine – vorgibt, an die sich die Aktoren zu halten haben.“ (Knyphausen-Aufseß (1995), S. 343)
Vor dem Hintergrund der Gesamtfunktionalität sind also Freiräume sorgfältig zu definieren, denn sind die Gestaltungsoptionen der einzelnen Teileinheiten zu groß, bzw. ist der Verifikationsprozess durch die Leitung zu einfach, besteht die Gefahr eines ungewollten Polyzentris-
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Aktionsorientierte Managementsysteme „beziehen sich auf konkrete Maßnahmen, die das Erreichen spezifischer Outputniveaus gewährleisten soll“ (Ringlstetter (1995), S. 165). Die zunehmende Funktionsorientierung war auch Inhalt des Gespräches mit Herrn Dr. Alexander Suhm, persönlich-mündlich am 09.11.2007. Vgl. auch die Ausführungen zur Funktionsorientierung bei Schindler (2006), S. 137ff. Langlois (2002) argumentiert ähnlich in Bezug auf die Lieferantenkommunikation: „Rather than handing suppliers detailed instructions, manufacturers now give suppliers interface specifications and then encourage them to design the parts as they see fit” (Langlois (2002), S. 34).
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mus.712 Konkret werden dabei die Teileinheiten ihre Freiheiten nutzen, um ihre eigene Position ggf. auch zu Lasten der Gesamtfunktionalität zu stärken. Das Optimum kann daher erst durch die Kombination von Freiräumen und Rahmenvorgaben erreicht werden, wie Edmondson (2006) auch am Beispiel von BMW ausführt:713 „BMW is one of a handful of global companies including Nokia (NOK) and Raytheon (RTN) that have turned to networks to manage day-to-day operations, superseding classic hierarchies. Those pioneering companies still turn to management hierarchies to set strategic goals, but workers have the freedom to forge teams across divisions and achieve targets in the best way possible.” (Edmondson (2006), o. S.)
Führt man diese Überlegungen vor dem Hintergrund der Modularität weiter, so erscheint eine Kombination von stabilen Plattformen und losen Systemmodulen als möglicher Lösungsweg. Auch Ringlstetter (1995) verweist auf die Koexistenz von stabilen Plattformen und modularen Systemfragmenten und hält im Kontext der Konzernorganisation fest: „Das schließt nicht aus, daß von der Konzernleitung ein relativ standardisierter „Strukturkern“ für das Management definiert wird […]. Der Strukturkern muß aber so aufgebaut sein, daß in den durch ihn definierten Managementsystemrollen ausreichende Freiräume für ein „Role-Making“ vorhanden sind. Dies kann in den Teileinheiten dazu genutzt werden, eigene Systemfragmente zu entwickeln, die an den Strukturkern angelagert werden.“ (Ringlstetter (1995), S. 202f.)
Ergebnisorientierte Systeme im Sinne von Plan- und Kontrollsystemen ergeben hierbei zusammen mit einem Grundstock von unternehmensweiten Richtlinien die stabilisierende Plattform, die eine Ausrichtung der Aktivitäten auf das Gesamtunternehmensziel und damit die Gesamtfunktionalität sicherstellen (direktiv-technokratische Steuerung). Diese Basissysteme sind dauerhaft für alle Teileinheiten installiert. Insbesondere bei ergebnisorientierten Managementsystemen ist der verbindliche Charakter entscheidend, da nur so die Relevanz der Zielerreichung nachträglich kommuniziert und ein einheitlicher Bewertungsmaßstab sichergestellt werden kann.714 Diese direkte Steuerung durch die Leitung bleibt dabei „primär ein hierarchisches Phänomen“ (Fichter (2003), S. 6). 712 713
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Zum Phänomen des Polyzentrismus am Bsp. des Konzerns vgl. auch exempl. Ringlstetter (1995), S. 246ff., und zu den einzelnen Arten von Polyzentrismus auch Ringlstetter/ Morner (1998), S. 3ff. Ähnlich argumentiert auch der ehemalige Entwicklungsvorstand von BMW, Burkhard Göschel, als er festhält: „Bietet ein Unternehmen die [für die Entwicklung kundenrelevanter Innovationen] notwendigen persönlichen, betriebswirtschaftlichen und technischen Freiräume und fördert die Vernetzung von Spezialisten verschiedener Fachrichtungen und Kulturen, so kann Innovativität langfristig und nachhaltig gesichert werden“ (Göschel (2006), zit. nach Richter/ Hartig (2007), S. 256, Anm. A. R.). Zum Konflikt zwischen standardisierten und maßgeschneiderten Kontrollsystemen vgl. ausführlich Dooms/ Van Oijen (2005). Die Grundstruktur der Planungs- und Kontrollsysteme sollte aus Gründen der Gerechtigkeit und der Vergleichbarkeit standardisiert sein. Die genaue inhaltliche Ausgestaltung kann aber zwischen den Modulen divergieren. Naujoks (1998) hierzu: „So spielen z. B. in rein operativen Leis-
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Neben einem dauerhaft installierten Gesamtsystem besteht ein Pool von Methoden, Vorgehensweisen, Regeln usw., auf die situativ zurückgegriffen wird. Diese gliedern sich nach logischen Anwendungsgruppen, unterscheiden sich aber aufgrund ihrer inneren Strukturiertheit von den eher starren und robusten Basissystemen.715 Die einzelnen Regelmodule sind wiederum lose gekoppelt mit dem Gesamtsystem, wobei die entstehende Struktur die Gesamtfunktionalität sicherstellt.716 Innerhalb der einzelnen Gruppen sind die Regelungen weniger stark miteinander verknüpft und lassen adaptive Freiräume zur problembezogenen Gestaltung.717 Diese Freiräume können zunächst für fallbezogene Ergänzungen und Anpassungen (bspw. im Rahmen der Lokalisierung im Vertrieb) genutzt werden. In einem weiteren Schritt erlauben sie jedoch auch die Weiterentwicklung von Managementsystemen durch die Leistungsteileinheiten und sichern so den Wissensrückfluss aus den verschiedenen Anwendungsbereichen bzw. -regionen in die Kernorganisation. Dabei adaptieren die Teileinheiten durch den operativen Umgang autonom die einzelnen Systeme innerhalb der bewusst eingeräumten Freiräume. Kommt es zu grundlegenden Änderungen innerhalb der einzelnen Managementsysteme bzw. betreffen die Änderungen auch teileinheitenexterne Bereiche, bedarf es der Verifikation durch die Leitung, um die Gesamtfunktionalität weiter sicherzustellen.718 Diese Sichtweise ähnelt stark der dezentral-technokratischen Steuerung von Naujoks (1994).
(2)
Schnittstellensysteme zur Integration modularer Einzelleistungen
Trotz der modularen Konfiguration sind die einzelnen Module nicht isoliert am Markt positionierbar. Der Kundennutzen entsteht vielmehr erst durch die Integration der Einzelleistungen zu einer Gesamtleistung. Neben der Sicherstellung der Funktionsfähigkeit der einzelnen _______________________________________________________________________________________
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tungsmodulen sicherlich finanzwirtschaftliche und effizienzorientierte Überlegungen eine größere Rolle, wohingegen in Wissensmodulen oder innovativen Modulen vermehrt Erfolgsmaßstäbe zum Einsatz kommen, die ihr Augenmerk auf die Innovationskraft und die Effektivität des eingeschlagenen Weges legen“ (Naujoks (1998), S. 197). Vgl. hierzu und im Folgenden auch die Ausführungen bei Ringlstetter (1995), S. 201ff., zur Flexibilisierung der Struktur von Managementsystemen. Zur Grundidee einer strukturierten Systemhierarchie vgl. Naujoks (1998), S. 196f., sowie die dort angegebene Literatur. Zur Baumstruktur finanzieller Kennzahlen auch Ringlstetter (1995), S. 169f. Vgl. hierzu Ringlstetter (1995), S. 201. Zur Rolle der Leitung als Verifikator vgl. auch Ringlstetter (1995), S. 181f. Ein ähnliches Vorgehen beobachteten auch Baldwin/ Clark (1997) bei IBM und hielten hierbei fest: „[…] the System/ 360’s designers divided the design into visible and hidden information. IBM set up a Central Processor Control Office, which established and enforced visible overall design rules that determine how the different modules of the machine would work together. The dozen of design teams scattered around the world had to adhere absolutely to these rules. But each team had full control over the hidden elements of design in its module” (Baldwin/ Clark (1997), S. 85).
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Module muss folglich auch die Funktionsweise des gesamten Leistungssystems über ein Schnittstellenmanagement sichergestellt und kontrolliert werden.719 Im Gegensatz zu teileinheitsbezogenen Systemen bedarf es bei den Schnittstellensystemen einer höheren Verbindlichkeit, wie auch Tietze (2003) für die Automobilentwicklung hervorhebt: „Zur Steuerung hochkomplexer Entwicklungsprozesse werden in der Unternehmenspraxis Strukturierungsansätze in Form meilensteingeprägter Phasenmodelle angewendet. […] Eine präzise, auf der Zeitachse detaillierte Definition der notwendigen Inhalte des integrierten Produktmodells leistet wertvolle Dienste. […][Ferner liegt] in einer stärkeren Formalisierung der Schnittstellen […] eine wirkungsvolle organisatorische Klammerfunktion. […] [Zur Sicherung der Anwendung und Befolgung] sind die Meilensteininhalte und Schnittstellendefinitionen noch als verbindlich für alle Beteiligten zu deklarieren.“ (Tietze (2003), S. 184f., Anm. A. R.)
Schnittstellensysteme dienen dabei in erster Linie der Integration, indem sie zum einen die Verknüpfungslogik zwischen den einzelnen Modulen definieren und zum anderen die Effizienz beim Leistungsaustausch sicherstellen.720 Zur Begegnung mit den automobilen Herausforderungen und zum Management einer dekomponierten Wertschöpfungskette spielt dabei die Möglichkeit, schnell, präzise und über große Distanzen hinweg zu kommunizieren, eine zentrale Rolle; entscheidend sind folglich die Übertragungseffektivität (a) und die Übertragungseffizienz (b).721 (a) Übertragungseffektivität: Die Präzision hat insbesondere koordinativen Charakter. Erst durch die Übermittlungen der richtigen und für alle verständlichen und bearbeitbaren Daten kann eine weitgehend leitungsautonome Koordination auf Modulebene ermöglicht werden. Monteverde (1995) argumentiert hierbei, dass ein einheitliches Verständnis primär innerhalb von hierarchischen Organisationen vorherrscht und losere Kopplungen wie Module eher mit inkommensurablen Eigenlogiken konfrontiert sind.722 Es bedarf daher der Systemplattformen, die über eine Standardisierung des Informationsaustauschs eine Übersetzungsarbeit leisten. 723
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Im Zuge der geforderten Kundenorientierung nimmt die von den Kunden wahrgenommene Qualität eine zentrale Stellung ein. Diese wird jedoch erst durch eine Integration von Marketing, Vertrieb und Entwicklung im Produktentwicklungsprozess möglich. Vgl. hierzu exempl. Schilling/ Steensma (2001), S. 1155. Die Produktqualität kann folglich als eine Summe aus der Qualität der einzelnen Komponenten bzw. Module, die ihrerseits über modulspezifische Lastenhefte und Kontrollsysteme sichergestellt wird, und der Prozessqualität entlang der Leistungserstellung bis zum Kunden verstanden werden. Vgl. hierzu exempl. Langlois (2002), S. 23. Vgl. hierzu Kim et al. (2006), S. 18. Ähnlich zu finden auch bei Snow et al. (1992), S. 10. Vgl. hierzu auch Argyres (1999), S. 171, und die Ausführungen bei Hoetker (2006), S. 503. Dieser Aspekt hängt freilich mit den beschriebenen Sozialisationsaspekten in Punkt 2 dieses Unterkapitels zusammen. Vgl. hierzu auch die Ausführungen zur „technical grammar“ bei Argyres (1999).
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Sanchez & Mahoney (1996) sprechen hierbei von einer „embedded coordination“ und halten fest: „Thus controlling the required output of component development processes [or any other business process] by standardizing the component interfaces permits effective coordination of […] processes without the continual exercise of managerial authority. […] In effect, the information structure provided by the standardized component interface specifications […] provides a means to embedded coordination of loosely coupled component development processes.” (Sanchez & Mahoney (1996), S. 66, Anm. A. R.)
Über die ex-ante Determinierung der notwendigen Schnittpunkte sowie deren Parameter wird die Anknüpfbarkeit an andere Module sichergestellt. Flankierend werden hierzu Format- und Prozessregeln festgelegt.724 Im Kontext der Automobilentwicklung spielen dabei standardisierte Übertragungsformate wie bspw. CAD-Zeichnungen725 für die reibungslose Übermittlung zwischen einzelnen Akteuren eine entscheidende Bedeutung.726 Ferner kommen unterstützende, Prozess steuernde Systeme wie bspw. das „Engineering Data Management“ (EDM) oder auch das „Product Data Management“ (PDM) zum Einsatz, um teileinheitenübergreifend eine standardisierte Verfügbarkeit aller notwendigen Daten sicherzustellen.727 Im Gegenzug hierzu werden schwächer formalisierte Daten (Reporte, Berichte, Dokumente etc.) situativ und manuell zwischen den Teileinheiten ausgetauscht. Die Übermittlung kann dabei auch über die IuK-Infrastruktur erfolgen, bedarf aber der menschlichen Aktion. Auch hier ist eine gewisse Formatierung sinnvoll. Im Vertrieb ist bspw. eine weltweite Standardisierung für die Vergleichbarkeit der Reporte entscheidend. Auch die inhaltliche Festlegung einzelner Prozesse mittels genauen Prozessbeschreibungen dient zur weltweiten Qualitätssicherung.728 (b) Übertragungseffizienz: Eng in Zusammenhang mit der inhaltlichen Ebene steht die prozessuale Ebene, die die Effizienz im Leistungsaustausch durch standardisierte Routinen sicherstellt. Hierbei sind technische Schnittstellensysteme und Systeme, die auf das Zusammen-
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Vgl. hierzu und im Folgenden insbesondere Spitta (1998), S. 6f. CAD steht für computergestütztes Design (Computer Aided Design). „Unter den C-Techniken werden computergestützte Planungs-, Steuerungs- und Konstruktionsverfahren zusammengefasst“ (Burger (1992), S. 9). Vgl. hierzu auch die Überlegungen von Masino (1999) und Lei et al. (1996). Zur allgemeinen Relevanz der Vorabdefinition von Standards zur Koordination vgl. auch Argyres (1999), S. 168f. Vgl. hierzu auch ausführlich Tietze (2003), S. 147ff. Bspw. macht es durchaus Sinn, den Kundenkontakt weltweit zur einheitlichen Markenführung zu standardisieren. Hierbei muss freilich auf lokale Kulturunterschiede Rücksicht genommen werden.
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spiel einzelner Akteure abzielen (aktorenbezogene Schnittstellensysteme), zu unterscheiden.729 Technische Schnittstellensysteme wie Telekooperationssysteme basieren primär auf der IuK-Technologie und bilden die technische Infrastruktur zum Leistungsaustausch. 730 Die Informationstechnologie erleichtert hierbei die Informationsdiffusion in dekomponierten Wertschöpfungsnetzwerken.731 Rahman & Bhattachryya (2002) halten im Kontext von General Motors fest: “General Motors, we find, has split into a dozen separate divisions, and these divisions have outsourced most of their traditional activities. […] They join together in small, ever shifting engineering and electrical system. These design coalitions are autonomous and self-organizing, and all depend on a universal, high speed computer network for communication […].” (Rahman & Bhattachryya (2002), S. 33f., Herv. A. R.)
Zur ortsungebundenen Zusammenarbeit gewinnen – neben Systemen zur effizienten persönlichen Kommunikation der Akteure wie Video- und Audiokonferenzen und E-MailApplikationen – Systeme zur physischen Entkoppelung der Leistungserbringungsorte in der Automobilindustrie zunehmend an Bedeutung.732 Hierzu werden Inhalte, Arbeitsobjekte und Informationen virtualisiert und die Leistungserstellung geschieht kooperativ in sogenannten virtuellen Clustern oder virtuellen Kompetenzzentren, wodurch eine orts- und zeitunabhängige Zusammenarbeit ermöglicht wird.733 In der Automobilindustrie spielt hierbei insbesondere das sog. „Digital Mock-Up“ (DMU) eine entscheidende Rolle. DMU-Systeme integrieren alle virtuellen, meist auf CAD-Zeichnungen basierenden Fahrzeugkomponenten zu einem virtuel-
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Ähnlich unterscheidet Becker (1996) zwischen formalen Austauschprozessen und kulturbasierten Metaprozessen. Auch Naujoks (1998), S. 159, hebt die Bedeutung von IuK-Technologien als Plattform zur Verbreitung von Informationen (im konkreten Fall zur Wissensdiffusion) in dezentralen Organisationskonfigurationen hervor. Insbesondere in der Produktentwicklung, aber auch in der Produktionssteuerung und im Vertrieb nehmen Informations- und Kommunikationstechnologien eine zunehmend zentrale Stellung in der Leistungserstellung und im Leistungsangebot ein. So geht bspw. Tietze (2003) in seiner Monografie auf die Einsatzmöglichkeiten verschiedener IuK-Technologien in der virtuellen Produktentwicklung ein und Diez (1999b) thematisiert die Einsatzmöglichkeiten neuer Medien im Automobilvertrieb. Masino (1999) hierzu: „On the other hand, other authors argue that since IT capabilities lead to a greater availability and diffusion of information throughout the firm, we should observe the diffusion of more decentralized organizational forms. […] This ''information transparency'' of and within organizational processes allows the enhancement of the relevance of decentralized decision making” (Masino (1999), S. 362). Vgl. hierzu und im Folgenden auch die Ausführungen zur virtuellen Projektrealisierung bei Hab/ Wagner (2006), S. 256ff. Vgl. hierzu ausführlich die Untersuchung von Argyres (1999) am Beispiel des B-2 Tarnkappenbombers. Vgl. zum Aspekt der virtuellen Cluster in der Automobilindustrie auch Warschat et al. (2005), S. 136f., und für eine Zusammenfassung der einzelnen Programme Greca (2005), S. 177f. Vor dem Hintergrund
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len Prototyp.734 Die zentrale Speicherung aller relevanten Entwicklungsdaten sowie die Standardisierung der Datenformate erleichtern hierbei die zur Gesamtleistung notwendige Integration der einzelnen Module.735 Neben den technischen Schnittstellensystemen zum Informationsaustausch erleichtern aktorenbezogene Schnittstellensysteme den informellen Informationsaustausch zwischen den einzelnen am Wertschöpfungsprozess beteiligten Akteuren. Dieser Informationsaustausch wurde bislang aufgrund der Modularitätsprämissen auf ein Minimum reduziert. Insbesondere das Problem inkommensurabler Eigenlogiken wurde dabei durch die Schnittstellenstandardisierung weitestgehend beseitigt. Dabei wurde jedoch außer Acht gelassen, dass unter gewissen Gesichtspunkten ein zwischenmodularer Informationsaustausch durchaus erwünscht ist.736 Insbesondere vor dem Hintergrund der Wissensgenerierung wurde bspw. bei der Entwicklungsorganisation auf die Bedeutung abteilungsübergreifender Teams hingewiesen. Spitta (1998) hält hierzu fest: „Ohne Zweifel kann nicht jede Interaktion auf Datenschnittstellen reduziert werden. Wesentliche Entscheidungen im Unternehmen und der damit verbundenen Informationsbeschaffung […] beruhen gerade auf nicht formalisierten Kanälen. Man kann sogar sagen, daß tendenziell nicht formalisierte Informationen die für unternehmerisches Handeln wesentlichen sind, da Unternehmertum auf Informationsvorsprüngen beruht […].“ (Spitta (1998), S. 8, Herv. im Original)
Die Herausforderung von aktorenbezogenen Schnittstellensystemen besteht nun gerade darin, diese Barrieren durch die Bereitstellung der notwendigen Infrastruktur aufzubrechen und damit den abteilungsübergreifenden Informationsaustausch zu erleichtern. Dies sieht auch Favela (1997): „In contrast, in a networked organization, analysis work will be done by each project team at separate facilities. Because of this, the manner by which different project teams [resp. modules] can learn from the experience gained in other projects [resp. modules], in ways other than by transferring employees from one project to another, becomes an important issue for the networked organization.” (Favela (1997), S. 206, Anm. A. R.)
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des Zeitdrucks, insbesondere in der Produktentwicklung, gewinnt die Ausnutzung von Zeitzonen, ermöglicht durch die örtliche Entkoppelung, zunehmend an Bedeutung. Vgl. hierzu auch vertiefend Tietze (2003), S. 139f., sowie die dort angegebene Literatur. Die einzelnen computergestützten Anwendungen, zusammenfassend CAX genannt, werden oft in sogenannten CPCSystemen (Collaborative Product Commerce) integriert, um eine einheitliche Begleitung entlang der Wertschöpfungskette sicherzustellen. Vgl. hierzu auch Kim et al. (2006), S. 10. Vgl. Tietze (2003), S. 140. Zur Bedeutung des Wissensaustauschs bei autonomen Einheiten zur unternehmensweiten Wissensgenerierung vgl. auch Reichwald/ Koller (1996), S. 249.
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Neben der Bereitstellung der Kommunikationsinfrastruktur kommt dabei der Übersetzungsfunktion zwischen den einzelnen Kontexten eine entscheidende Bedeutung zu.737 Eine alleinige Speicherung von modulinhärenten Informationen in zentralen Datenbanken reicht daher zur Problemlösung nicht aus. Vielmehr müssen aktorenbezogene Schnittstellensysteme auch einen kulturellen „Metaprozess“ anstoßen, der eine Austauschplattform unabhängig der Mikrokulturen und Hierarchien bietet bzw. zwischen den einzelnen Kulturkontexten vermittelt:738 „Workers at the Bavarian automaker are encouraged from their first day on the job to build a network or web of personal ties to speed problem-solving and innovation, be it in R&D, design, production, or marketing. Those ties run across divisions and up and down the chain of command.” (Edmondson (2006), o. S.)
Noch einen Schritt weiter geht das Projekt TRUST von DaimlerChrysler mit ausgewählten Zulieferunternehmen.739 Zentrales Element ist hierbei ein virtuelles Kompetenzzentrum, in dem neben konkreten Wissensinhalten auch Wissensträger bzw. Experten zu einzelnen Themen hinterlegt sind. Über informationstechnische Suchplattformen erlaubt das System, Kompetenzträger zu einzelnen Themengebieten zu identifizieren und mit diesen direkt einen problembezogenen Dialog zu initialisieren. Neben der passiven Wissensspeicherung erfolgt so ein aktiver Wissensaustausch, der wiederum neues Wissen generiert.
(3)
Kulturarbeit als Lavieren zwischen Corporate und Organizational Culture
Neben den klassischen Integrationsmechanismen Markt und Hierarchie sind seit längerem sogenannte „weiche Integrationsmechanismen“ Gegenstand betriebswirtschaftlicher Forschung. Insbesondere das Feld der Unternehmenskultur erfährt dabei seit den 70er-Jahren besondere Beachtung.740 Gemein ist vielen Ansätzen eine Homogenitätsannahme, d. h., die Integration wird über die gemeinsame Kulturplattform herbeigeführt. So beschreiben bspw.
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Vgl. hierzu auch die Ausführungen zu Interfacesystemen bei Ringlstetter (1995), S. 203, und die dort angegebene Literatur sowie allgemein auch die Überlegungen bei Knyphausen-Aufseß (1995), S. 343. Vgl. hierzu auch die Ausführungen bei Naujoks (1998), S. 160f., und die Ausführungen von Schmid (1999), S. 260f., zum Wissensmanagement im Forschungsinformationszentrum (FIZ) von BMW. Hierauf ist im Rahmen des Kulturmanagements in Punkt 3 noch näher einzugehen. Auch Devanna/ Tichy (1990) vertiefen diesen Aspekt: „In this organization, the integration would accomplish by highly sophisticated social networks comprised of knowledge individuals capable of problem solving and teaching others what they have learned so that the overall expertise of the organization is constantly expanding” (Devanna/ Tichy (1990), S. 464). Vgl. hierzu und im Folgenden Warschat et al. (2005), S. 142ff. Anfang der 80er-Jahre wurden beinahe zeitgleich vier zentrale Werke zum Thema Unternehmenskultur – Pascale/ Athos (1981), Deal/ Kennedy (1983), Peters/ Waterman (1984) und Ouchi/ Wilkins (1985) veröffentlicht – wodurch diese relativ schnell Eingang in die betriebswirtschaftliche Forschung fand.
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Peters & Waterman (1984) in ihrem wegweisenden Werk zur Organisationskultur die Wirkung wie folgt: „Die beherrschende Rolle einer in sich schlüssigen Firmenkultur erwies sich ausnahmslos als wichtiges Wesensmerkmal aller besonders erfolgreichen Unternehmen. Je stärker diese Kultur [zu beachten ist der Singular] ausgeprägt war und je marknäher sie war, umso weniger brauchte das Unternehmen geschäftspolitische Handbücher, Organigramme oder detaillierte Regeln und Verfahrensvorschriften.” (Peters & Waterman (1984), S. 102f., Anm. A. R.)
Zeitgleich finden sich jedoch, insbesondere initialisiert durch die Forschungsbemühungen im Bereich multinationaler Organisationen und durch die Konzerndiskussion, zunehmend Forschungsbemühungen in Richtung eines diversifizierten Unternehmenskulturverständnisses. Schreyögg (1998) spricht bspw. von den Alternativen einer pluralistischen und universellen Unternehmenskultur bei multinationalen Unternehmen. Letz (1998) untersucht Integrationsmöglichkeiten unterschiedlicher Unternehmenskulturen am Beispiel von BMW und hält hierbei fest: „Die besondere Herausforderung für unseren Konzern ist das Erarbeiten eines gemeinsamen Verständnisses davon, welche Werte für uns alle gelten, ist aber auch die Schaffung einer gemeinsamen Führungskultur und damit einer gemeinsamen Identität – multikulturell, aber einig in den Grundwerten.“ (Letz (1998), S. 60, Herv. A. R.)
Reflektiert man bereits Geschriebenes, so scheint auch bei Plattformorganisationen eine Koexistenz mehrerer Subkulturen zu bestehen, vielmehr sogar gewollt zu existieren. 741 Zunächst soll vor dem Hintergrund der Plattformorganisation diese Kulturdiversität näher betrachten werden (a), worauf aufbauend Ansatzpunkte einer Kulturarbeit im Spannungsfeld von kultureller Einheit und Vielheit andiskutiert werden (b). (a) Plattformorganisationen und Kulturdiversität: Für den Versuch, ein differenziertes Bild der Unternehmenskultur zu zeichnen, erscheint es in einem ersten Zugang sinnvoll, eine möglichst breite Definition wie die von Ulrich (1984) als Grundlage der nachfolgenden Überlegungen heranzuziehen. Ulrich (1984) versteht unter der Unternehmenskultur742 „[…] die Gesamtheit der im Unternehmen bewußt oder unbewußt kultivierten, symbolisch oder sprachlich tradierten Wissensvorräte und Hintergrundüberzeugungen, Denkmuster und Weltinterpretationen, Wertvorstellungen und Verhaltensnormen, die im Laufe der erfahrungsreichen Bewältigung der Anforderungen der unternehmerischen Erfolgssicherung nach außen und der sozialen Integration nach innen entwickelt worden sind und im Denken, Sprechen und Handeln der Unternehmensangehörigen regelmäßig zum Ausdruck kommen. Dieses `weiche` Traditionsgut prägt nicht nur die sozialen Interaktions741 742
Vgl. hierzu auch die Überlegungen von Schein (1995), S. 205ff. Eine ähnlich umfassende Definition liefert u. a. Schein (1995), S. 25.
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prozesse im Unternehmen, sondern durchdringt mehr oder weniger auch seine ´harten` sozialtechnologischen Managementmethoden und -instrumente, also seine Unternehmensstrategien, Organisationsstrukturen und Führungssysteme.“ (Ulrich (1984), S. 312)
Eine Komponente der Unternehmenskultur scheint folglich in der bewussten Installation einer gemeinsamen Kulturplattform im Sinne einer direktiven Kulturarbeit zu bestehen.743 Diese Denkweise folgt stark der Homogenitätsannahme früherer Definitionsansätze, die über eine kulturelle Einheit stabilisierend und integrierend auf den gesamtorganisatorischen Kontext einzuwirken versuchen.744 Eine genauere Betrachtung der im Englischen oft verwendeten „Corporate Culture“ mag dies verdeutlichen: „´Corporate culture` is most frequently the term used for the culture devised by management and transmitted, marketed, sold or imposed on the rest of the organization; with both internal and external images yet also including action and belief – the rites, rituals, stories, and values which are offered to organization members as part of seductive processes of achieving membership and gaining commitment.” (Linstead & GraftonSmall (1992), S. 333, Literaturverweise weggelassen)
Ihren Ursprung findet die Corporate Culture in der Unternehmensphilosophie.745 Dieses Set grundlegender Wert- und Normvorstellungen bildet den stabilisierenden und integrierenden Kern.746 Zusätzlich vermittelt die Unternehmensphilosophie die Vision und Mission747 der Unternehmung und „bildet [so] die prozeduralen Leitlinien und Prinzipien […]. Sie dienen gewissermaßen als oberste Strukturierungs- und Verhaltensprinzipien […].“ (Naujoks (1998), S. 126, Anm. A. R.)
Die Unternehmensphilosophie als oberstes Konvergenzkriterium bildet dabei den Rahmen aller Aktivitäten des Unternehmens und hat einen für alle verbindlichen, unveränderlichen Charakter.748 Das gewollt gewählte Bild der Vielfältigkeit modularer Plattformorganisationen, mit ihren verschiedenen Mikrokontexten auf verschiedenen Dezentralisierungsstufen, lässt ein allein
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Zur direktiven Kontextsteuerung vgl. auch Naujoks (1994), S. 118ff. Vgl. hierzu auch die Ausführungen zu den positiven Effekten der Unternehmenskultur bei Müller-Seitz (2008), S. 143, sowie die dort angegebene Literatur. Vgl. hierzu und im Folgenden besonders Naujoks (1998), S. 125. Vgl. hierzu zusammenfassend auch die Ausführungen bei Müller-Seitz (2008), S. 152f., sowie die dort angegebene Literatur. Vgl. zur Mission auch die Überlegungen bei Schein (1995), S. 64ff. Seine Sichtweise lautet: „Die Mission des Unternehmens als System von Überzeugungen zu seiner wesentlichen Kompetenzen und grundlegenden Funktionen in der Gesellschaft“ (Schein (1995), S. 64). Vgl. Naujoks (1998), S. 127f., und die Ausführungen zur einheitlichen Unternehmenskulturbei Kieser/ Walgenbach (2007), S. 129ff.
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auf der Homogenitätsannahme beruhendes Kulturverständnis fragwürdig erscheinen. Insbesondere die geforderte Flexibilität und Varietät von Plattformorganisationen implizieren vielmehr eine pluralistische Unternehmenskultur.749 Bleicher (1986) hebt dabei hervor: „Unter stabilen Verhältnissen dürfte dem Wunsch nach einer in sich schließenden, harmonischen, konfliktfreien Unternehmenskultur kaum argumentativ etwas entgegenzusetzen sein. […] [Mit zunehmender] Dynamik und Instabilität […] kann ein an sich kulturell harmonisiertes System schnell Züge der Dysfunktionalität gegenüber den Ansprüchen der Umwelt annehmen, die die Überlebensfähigkeit ernsthaft gefährden können. […] [Daher] muß der Wunsch nach einer in sich harmonisierenden Unternehmenskultur […] deutlich in Frage gestellt werden.“ (Bleicher (1986), S. 102, Hervorhebungen weggelassen)
Auch vor dem Hintergrund dieser Arbeit erscheint diese Sichtweise nachvollziehbar. Im Rahmen der Lokalisierung wurde die Bedeutung der Nähe zu den Märkten für die Wissensgenerierung und den Marktzugang hervorgehoben. Hierzu müssen sich die einzelnen lokalen Teileinheiten auf die jeweiligen Landeskulturkontexte einstellen und diese resorbieren750, d. h. mit ihnen verschmelzen.751 Kieser & Walgenbach (2007) verweisen hierbei auf die Bedeutung eines polyzentrischen Managements: „Das ethnozentrische Management, das von der Annahme ausgeht, dass sich die Organisationsstrukturen und Managementstile vom Stammland auf ausländische Tochtergesellschaften übertragen lassen, wird das polyzentrische Management gegenübergestellt, das von der Überzeugung getragen ist, dass Organisationsstrukturen, Führungs- und Managementstile, Anreizsysteme usw. die kulturellen und institutionellen Bedingungen der Gastländer und der Beziehung zwischen dem jeweiligen Gastland und dem Stammland reflektieren müssen.“ (Kieser & Walgenbach (2007), S. 309, u. R. a. Heenan & Perlmutter (1978), Hervorhebungen weggelassen)
Hierdurch ergeben sich „kulturelle“ Spezialisierungsvorteile, da die „eigenständigen Teilidentitäten […] eine spezifische Ausdifferenzierung von an die Teilumwelten angepasste Sinnund Orientierungs(sub)systemen erlauben“ (Naujoks (1998), S. 218, Anm. A. R.). Die Freiräume in der eigenen Identitätsbildung fördern dabei auch die Bereitschaft, sich mit den jeweiligen Umfeldfaktoren auseinanderzusetzen, und erhöhen so die kulturelle Anregungsdichte der Organisation.752 Dieser Aspekt ist insbesondere vor dem Hintergrund der zunehmenden
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Ähnliche Aussagen finden sich bei Schein (1995), S. 304. Das Problem der Beeinträchtigung der Flexibilität und Anpassungsfähigkeit durch eine Einheitskultur thematisieren ferner Kieser/ Walgenbach (2007), S. 135. Ringlstetter (1997), S. 109, verwendet den Begriff der Resorption zur Beschreibung des Implementierungsstatus von Regelungen. Analoge Überlegungen lassen sich bei einer funktionsorientierten Modularität anstellen. Vgl. zu den Auswirkungen der funktionalen und regionalen Konfigurierung auf die Bildung von Subkulturen beispielhaft die Überlegungen von Schein (1995), S. 207ff. Vgl. zu diesem Punkt insbesondere Naujoks (1998), S. 218.
186
Teil III: Ansatzpunkte zur Organisation des automobilen Leistungsverbunds
Technologiekonvergenz für die Automobilindustrie wettbewerbsentscheidend.753 Neben einer intendierten, top-down installierten Corporate Culture existiert folglich in modularen Plattformorganisationen ein Set von Subkulturen, die zwar indirekt durch die Corporate Culture geprägt sind, deren konkrete Ausgestaltung sich jedoch kontextabhängig organisch formt (Organizational Culture): „’organizational culture’ is more organic, being the culture which grows or emerges within the organization and which emphasizes the creativity of organizational members as culture makers, perhaps resisting or ironically evaluating the dominant culture.” (Linstead & Grafton-Small (1992), S. 333, Herv. im Original)
Diese Organizational Culture wächst durch das Agieren der Teileinheiten in verschiedenen Kontexten (bspw. Länder/Regionen, Produkte, Geschäftsbereich etc.)754 quasi natürlich und prägt die einzelnen Teileinheiten entscheidend.755 Corporate und Organizational Culture bilden hierbei nicht zwei entgegenwirkende Kräfte, sondern müssen vielmehr im Sinne einer pluralistischen Kulturarbeit integriert werden (Abb. III-11).756
753 754 755 756
Vgl. hierzu auch die Überlegungen zu den Think Tanks in Punkt III.1.3 (1). Für einen Überblick über die verschiedenen Kontexte vgl. auch Naujoks (1998), S. 221f., sowie die dort angegebene Literatur. Vgl. hierzu auch die Ausführungen bei Linstead/ Grafton-Small (1992), S. 336f. Auch Linstead/ Grafton-Small (1992) heben diesen Aspekt hervor: „The emphasis, nevertheless, is on shared meaning and the aggregation of shared cultural values overlapping across subcultures, in this way accommodating greater diversity by recognizing a commonality of forms whose precise meaning may differ amongst individual members yet still include the idea of a corporate culture” (Linstead/ Grafton-Small (1992), S. 333, Literaturverweise weggelassen). Weiter halten sie fest: „Plural interests will inevitably exist within organizations, yet they will need to be submerged behind co-operative activity in the interests of effective operation” (Linstead/ Grafton-Small (1992), S. 336f.).
Teil III: Ansatzpunkte zur Organisation des automobilen Leistungsverbunds
Abb. III-11:
187
Corporate und Organizational Culture in modularen Plattformorganisationen Quelle: leicht verändert übernommen aus Naujoks (1998), S. 227.
(b) Ansatzpunkte einer Kulturarbeit zur Koordination im Spannungsfeld von kultureller Einheit und Vielheit: Unter Betrachtung oben genannter Ausführungen ist die Kulturarbeit in Plattformorganisationen von zwei Ansatzpunkten aus zu betrachten. Zunächst ist eine homogene Corporate Culture vor dem Hintergrund der Integration durchaus positiv zu bewerten. 757 Ansatzpunkt einer Kulturarbeit wäre hierbei eine Assimilation der Subkulturen in die gemeinsame Corporate Culture, d. h. eine aktive Beeinflussung der organisationalen Kulturprozesse mit der einheitlichen Corporate Culture zur Erzielung eines kulturellen Fits (direktiv kulturelle Steuerung). Unternehmen wie BMW kommunizieren und verankern dabei bewusst eine einheitliche, Nationen überspannende Führungskultur im Unternehmen, die über gemeinsame Kernwerte ein konsistentes Agieren ermöglicht. Der Personalvorstand von BMW, Ernst Baumann, hierzu: „Die Grundüberzeugungen sind das Wertgerüst, das wir im Vorstand für jeden Mitarbeiter im Unternehmen als verbindlich definiert haben. […] Die Führungskräfte haben eine Schlüsselrolle, bei der Strategieumsetzung, wie auch bei den Grundüberzeugungen.“ (Baumann (2008), zit. nach BMW AG (2008c), S. 3)
757
Vgl. hierzu und im Folgenden insbesondere die Ausführungen zum kulturbewussten Management bei Naujoks (1998), S. 228ff.
188
Teil III: Ansatzpunkte zur Organisation des automobilen Leistungsverbunds
Im Fall der BMW AG wird hierfür Führungskräften länder- und markenübergreifend im International-Management-Training (IMT) eine einheitliche Corporate Culture und Führungsphilosophie vermittelt. Auf Mitarbeiterebene fördern zudem international besetzte Projekte im Rahmen des „International Project Working“-Programms den interkulturellen Austausch und die Entstehung eines einheitlichen Unternehmensbildes.758 Zeitgleich erkennt BMW jedoch eine pluralistische Sichtweise der Unternehmenskultur im Sinne der Organizational Culture an und sieht das Potenzial einer kulturellen Vielfalt:759 „Vor allen Dingen aber – und das ist die Erweiterung der internationalen Dimension – gilt es, gleich mit mehreren Kulturen nutzenbringend umzugehen: der amerikanischen, […], aber auch einer deutsch oder teilweise auch japanisch geprägten Kultur.“ (Letz (1998), S. 56)
Für die Integration dieser pluralistischen Subkulturen, ohne dabei ihr Potenzial durch eine Egalisierung im Rahmen der Assimilation zu gefährden, tritt an die Stelle eines assimilierenden ein akkommodierendes Kulturmanagement. Hierbei wird durch die Anpassung der Corporate Culture deren Responsiveness760 erhöht, um einen Fit zur pluralistischen Kultursituation im Unternehmen herbeizuführen und somit potenzielle Konflikte zu lösen. 761 Basis der Akkommodation bildet die Empathie, also die Fähigkeit „zur Beobachtung von Ereignissen auch aus der Sicht einer anderen Person oder Rolle“ (Willke (1989), S. 121). Erst so können andere Subkulturen und ihre Besonderheiten aufgenommen und vor diesem Hintergrund die eigene Kultur reflektiert und angepasst werden.762 Hierbei ist jedoch anzumerken, dass dies durchaus nicht einen kontinuierlichen Wandel der Corporate Culture bedeutet. Dieser würde die Organisation in eine ständige Unruhe versetzen und die gemeinsame Orientierung äußerst gefährden. Vielmehr gilt es, Aspekte in die Corporate Culture zu integrieren, die eine Koexistenz von stabilen Kulturplattformen (Werte, Normen, Zielvorstellungen etc.) und „organischen“ Subkulturen zulässt und zeitgleich den Teileinheiten vermittelt, „Teil eines Ganzen
758 759
760
761
Vgl. Letz (1998), S. 59. Zur theoretischen Fundierung vgl. auch Adler (1991): „Multicultural groups invent more options and create more solutions than do single culture groups. Diversity makes it easier for groups to create more and better ideas. […] [H]ighly productive and less productive teams differ in how they manage their diversity, not, as is commonly believed, in the presence or absence of diversity. When well managed, diversity becomes a productive resource of a team” (Adler (1991), S. 133f.). Ringlstetter (1997) beschreibt die Responsiveness u. R. a. Kirsch (1990), S. 492ff., und Kirsch (1992), S. 127f., „als “Empfänglichkeit“ für die Bedürfnisse und Interessen von Betroffenen“ (Ringlstetter (1997), S. 160). Vgl. Naujoks (1998), S. 233.
Teil III: Ansatzpunkte zur Organisation des automobilen Leistungsverbunds
189
darzustellen und dies in den Handlungen zu berücksichtigen“ (Naujoks (1994), S. 121). Ein Auszug aus den Verhaltensrichtlinien der Daimler AG mag diesen dualen Charakter verdeutlichen: „Der Schlüssel zu Spitzenleistungen, zu profitablem Wachstum und Erfolg liegt nicht zuletzt in unserer Unternehmenskultur. Sie soll sich an Werten orientieren, die wir im Vorstand intensiv erörtert und verbindlich festgelegt haben: Begeisterung, Wertschätzung, Integrität und Disziplin [Corporate Culture]. […] Alle Beschäftigten des Konzerns tragen zu einer Unternehmenskultur bei […]. Die Möglichkeit, andere Kulturen und Denkweisen in der Zusammenarbeit kennen zu lernen, ist eine Bereicherung für alle Mitarbeiter. Sie trägt zudem zur Motivation und Begeisterung der Mitarbeiter bei und ist die Basis für den nachhaltigen Unternehmenserfolg sowie für die Wertsteigerung [Organizational Culture].“ (Daimler AG (2007), S. 3 und 7, Anm. A. R.)
Die stabile Kulturplattform kann durch ein gezieltes Symbolmanagement beeinflusst werden. Symbolcharakter haben dabei insbesondere die Mission und Vision. Sie bieten Orientierungshilfe für die Mitarbeiter und kanalisieren die Entwicklung der einzelnen modularen Teileinheiten. Zeitgleich bilden sie die Basis der kontinuierlichen Weiterentwicklung. 763 Bretz (1988) verdeutlicht dies wie folgt: „Eine Vision eröffnet der Phantasie explosionsartig neue Welten und kanalisiert gleichzeitig die Handlungen der Beteiligten.“ (Bretz (1988), S. 125)
Die gemeinsame Vision und Mission sowie die gemeinsamen Wert- und Normenvorstellungen (Corporate Culture) schaffen durch ihre „Kanalwirkung“ auch Vertrauen in das Verhalten der Anderen.764 Dessen „Pfandcharakter“765 senkt den Koordinationsbedarf, indem es unabhängig von Freiheitsgrad und jeweiligem Kulturkontext das Einhalten der gemeinsamen Grundprämissen sichert und so „den gemeinsamen Kontext zwischen heterogenen Subkultu_______________________________________________________________________________________ 762
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Vgl. hierzu Naujoks (1998), S. 231f., und die Ausführungen bei Cui/ Awa (1992), S. 313, zur „cultural empathy“ sowie auch die Überlegungen zu den Eigenschaften von Führungspersönlichkeiten in lernenden Unternehmen bei Schein (1995), S. 307 und 311ff. Vgl. zusammenfassend Naujoks (1994), S. 127. Diese Sichtweise spiegelt sich bspw. auch in den Konzernstandards der Volkswagen AG (2008) wider: „Unsere Konzernwerte und -leitlinien sind die Grundlage für unsere Unternehmenskultur und die konzernweite Zusammenarbeit. Alle Prozesse und Tätigkeiten im Unternehmen an diesen Werten auszurichten, bildet die Voraussetzung für den wirtschaftlichen Erfolg“ (Volkswagen AG (2008), o. S.). Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Thematik des Vertrauens ist überaus vielschichtig und würde im Rahmen der Arbeit kaum abzuarbeiten sein. Eine geeignete Übersicht über die verschiedenen Ansätze und Forschungsrichtungen findet sich bspw. bei Bigley/ Pearce (1998) sowie bei Reed (2001). Eine prägnante Zusammenfassung des Vertrauenskonzepts ist ferner zu finden bei Ringlstetter (1997), S. 159. Vgl. Ringlstetter (1997), S. 158f. Das eigentliche Pfand ist die Reputation der vertrauten Person. Ringlstetter (1997) weiter: „Vertrauen wird einem Aktor aufgrund bisheriger positiver Erfahrungen selektiv “auf Widerruf“ zugesprochen […]. In seiner Wirkungsweise führt Vertrauen zu einem Ausschluss von Opportunismusgefahr auf Seiten der vertrauenden Betroffenen“ (Ringlstetter (1997), S. 159).
190
Teil III: Ansatzpunkte zur Organisation des automobilen Leistungsverbunds
ren“ (Naujoks (1998), S. 234) bildet.766 Vertrauen hängt ferner mit der Bereitschaft zur Verwundbarkeit zusammen.767 Diese Bereitschaft wirkt positiv auf die Responsiveness der Corporate Culture, indem sie die Angst vor dem Unbekannten reduziert und damit die Akzeptanz verschiedener Subkulturen erhöht.768 Khodyakov (2007) argumentiert hierzu: „Reliance on trust can be viewed as an indication of organizational willingness to embrace uncertainty and to be vulnerable to the behavior of its employees, who are expected, but not fully constrained, to perform actions that are beneficial for all members of the organization.[…] Moreover, because trust is fostered through open and sincere behavior, willingness to be obligated to others and recognition of shared interests among all people within an organization, it allows employees to freely express their opinions and innovate.” (Khodyakov (2007), S. 4, Literaturverweise weggelassen)
Eine vertrauensbasierte Zusammenarbeit leistet also zweierlei: Zunächst wirkt Vertrauen stabilisierend und integrierend, da die ihr zugrunde liegende Wert- und Normenplattform die einzelnen, nicht direkt kontrollierbaren Aktionen auf ein gemeinsames Ziel im Sinne der Corporate Culture ausrichtet.769 Die Corporate Culture fungiert dabei als gemeinsamer Kontext, ohne dabei das Potenzial des Diskurses der modularen Einheiten zu beschränken.770 Vertrauen geht aber über den eigentlichen Integrations- und Kontrollaspekt hinaus. Im Sinne der Organizational Culture ist sie zugleich die Plattform zur Entfaltung von Subkulturen, deren kulturelle Diversität in einem nächsten Schritt für die gesamte Organisation als kulturelle Anregung dienen kann. Erst das Vertrauen „erlaubt“ die Existenz von Freiräumen zur organischen Kulturentfaltung.
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770
Zur Integrationsfunktion des Vertrauens vgl. auch Bradach/ Eccles (1989), S. 104, und die dort angegebene Literatur. Auch die Überlegungen zum Clan von Ouchi (1980) folgen einer ähnlichen Argumentation. Vgl. hierzu auch den ausführlichen wissenschaftlichen Diskurs zum Vertrauen vor dem Hintergrund der Verletzlichkeit, zusammenfassend dargestellt bei Bigley/ Pearce (1998), S. 406ff. Diesen Aspekt heben auch Whitener et al. (1998) hervor: „[…] one cannot control or force the other party to fulfill this expectation – that is, trust involves a willingness to be vulnerable and risk that the other party may not fulfill that expectation” (Whitener et al. (1998), S. 513). Eine ähnliche Diskussion ist auch zu finden bei Sheppard/ Sherman (1998), S. 428. Den Aspekt der Angstreduktion durch Vertrauen heben auch Bradach/ Eccles (1989), S. 104 hervor. Vgl. hierzu auch die Ausführungen zur sozialen Kontrolle bei Das/ Teng (2001), S. 259. Khodyakov (2007) hierzu: „Some scholars even argue that trust is a mechanism of social control, which facilitates social-economic exchange by promoting norms of mutual obligation and creating a set of expectations shared by all those in an exchange. Behavior within the company is guided by the corporate philosophy communicated through organizational culture [in our understanding corporate culture]” (Khodyakov (2007), S. 4, Anm. A. R., Literaturverweise weggelassen). Ähnlich zu finden auch bei Willke (1989), S. 59, und Naujoks (1994), S. 121, sowie in den Guiding Principles der Toyota Motor Corporation (1997): „Foster a corporate culture that enhances individual creativity and teamwork value, while honoring mutual trust and respect between labor and management” (Toyota Motor Corporation (1997), o. S.).
Teil III: Ansatzpunkte zur Organisation des automobilen Leistungsverbunds
III.2.2
191
Ansatzpunkte der Koordination externer Partner im automobilwirtschaftlichen Leistungsverbund
Die zunehmende Spezialisierung in der Automobilindustrie führt zu einer Kontrollverteilung einzelner Wertschöpfungsunternehmen über das fokale Unternehmen hinaus.771 Automobilwirtschaftliche Wertschöpfungsprozesse sind daher von einer hohen unternehmensübergreifenden Arbeitsteilung gekennzeichnet, die besondere Implikationen für die Koordination bedeutet. Bellmann (1996) spricht hierbei von einer „Gratwanderung zwischen kooperativer und wettbewerblicher Koordination“ (Bellmann (1996), S. 53).772 Die konkrete Ausgestaltung der Interaktion hängt von einer Vielzahl verschiedener Faktoren ab. Einen pragmatischen und zugleich systematischen Zugang wählen Gereffi et al. (2005), der auch für die Gliederung dieses Unterkapitels verwendet werden soll (Abb. III-12).773 1 Markt
Modul
Kunden
OEM
2
3
Abhängigkeit
Partnerschaft OEM
OEM
Preis
1-TierLieferant
Lieferanten
n-Tier Lieferanten
niedrig Abb. III-12:
Lieferanten/ Händler
„weiche“ Steuerungsinstrumente Koordinationsaufwand
WSPartner hoch
Ausgewählte Netzwerkbeziehungen und ihre Steuerung Quelle: angelehnt an Gereffi et al. (2005), S. 89.
Im Folgenden werden prägnant die einzelnen Optionen und deren Implikationen für die Koordination der externen Leistungspartner diskutiert. Hierbei wird zunächst auf die vertrag771 772 773
Vgl. hierzu Macher/ Mowery (2004), S. 318. Vgl. hierzu auch Wildemann (2006), S. 235. Eine ähnliche Charakterisierung findet sich bei Humphrey/ Schmitz (2002), S. 1023. Sie unterscheiden zwischen Märkten, Netzwerken (analog zur Beziehung), Quasi-Hierarchien (analog zur Macht) und Hierarchien.
192
Teil III: Ansatzpunkte zur Organisation des automobilen Leistungsverbunds
liche Koordination im Rahmen von marktbasierten Transaktionen eingegangen, wobei die Modularität eine besondere Berücksichtigung erfährt (1). Transaktionskostenüberlegungen limitieren aber, insbesondere in Situationen von hoher Unsicherheit bzw. mangelnder ex-ante Kodifizierbarkeit und von hohen transaktionsspezifischen Investitionen, den Einsatzbereich marktbasierter Koordinationsformen. Andere Kooperationsdesigns treten daher an deren Stelle. Der klassischen Alternative Hierarchie kommt dabei das Koordinationsmittel Macht sehr nahe und ist auch aufgrund aktueller Branchenentwicklungen von Belang (2).774 Gulati & Sytch (2007) sehen jedoch in der Automobilindustrie einen Trend weg von der Macht hin zu gleichberechtigten Partnerschaften und führen dabei aus:775 „Current and future relationships between automotive manufacturers and suppliers are no longer seen merely as bargaining tugs-of-war driven solely by value appropriation motives; rather, they are now viewed as representing effective symbiotic coexistence wherein manufacturers aim for superior joint value creation as a foundation for their competitiveness.” (Gulati & Sytch (2007), S. 34)
Auch dieser Aspekt soll in die Überlegung zur Koordination des automobilwirtschaftlichen Leistungsverbunds mit einfließen. Die asymmetrische Machtperspektive wird daher um eine symmetrische Kooperationsperspektive im Rahmen einer vertrauensbasierten, partnerschaftlichen Beziehung ergänzt (3).776
(1)
Anwendbarkeit und Grenzen marktbasierter Koordination im automobilwirtschaftlichen Leistungsverbund
Prinzipiell bietet sich für alle Transaktionsgüter, die frei am Markt verfügbar und deren Spezifikationen kodifizierbar sind, eine marktbasierte Koordination an.777 Sie stellt die einfachste Form der Interaktion dar, da weder Käufer noch Verkäufer für die Kaufentscheidung direkte
774
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777
Auch Gereffi et al. (2005) sehen Parallelen zwischen der Funktionsweise der Macht und der der Hierarchie. Sie halten hierzu fest: „In captive global value chains, power is exerted directly by lead firms on suppliers, which is analogous to the direct administrative control […]. Such direct control suggests a high degree of explicit coordination and a large measure of power asymmetry with the lead firm […] being the dominant party” (Gereffi et al. (2005), S. 88). Ähnliche Entwicklungen vom Zuliefermarkt zum Zuliefernetzwerk identifiziert auch Semlinger (2006) für den deutschen Automobilmarkt. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch Reindl (2005a), S. 283, bei der Analyse der automobilwirtschaftlichen Vertriebssysteme. Gulati/ Sytch (2007), S. 58, sprechen hierbei von zwei Arten der Interdependenz: asymmetrische Abhängigkeitsverhältnisse im Sinne der Macht und symmetrische Abhängigkeitsverhältnisse, die sie „joint dependence“ nennen. Vgl. exempl. Gereffi et al. (2005), S. 86.
Teil III: Ansatzpunkte zur Organisation des automobilen Leistungsverbunds
193
Relevanz haben und die Such- und Anbahnungskosten sich auf ein Minimum reduzieren.778 Frost (2005) hält hierzu passend fest: „Das Preissystem stellt die unsichtbare Hand des Marktes dar und koordiniert ohne eine zentrale Planung die Entscheidungen sowie das Verhalten der zahlreichen ökonomischen Akteure in einer effizienten Weise.“ (Frost (2005), S. 14)
Auch die Kontrollkosten und Sanktionskosten sind eher gering, da die hohe Kodifizierbarkeit eine einfache ex-ante Vertragsgestaltung und eine effiziente ex-post Kontrolle zulässt. So erweist es sich beispielsweise als effizient, standardisierte C-Güter, also Güter von geringer strategischer Bedeutung, über automatisierte Ausschreibungsverfahren, sogenannte eAuctions, zu beschaffen.779 Erweitert wird das Spektrum der vertraglichen Koordination durch die Modularität, indem komplexe Systeme in kodifizierte, zerlegbare Subsysteme unterteilt werden, wodurch die Güterspezifität reduziert wird. Gereffi et al. (2005) sprechen hierbei von einer modular governance und führen aus: „[…] when product architecture is modular and technical standards simplify interactions by reducing component variation and by unifying component, product, and process specifications, and also when suppliers have the competence to supply full packages and modules, which internalizes hard to codify (tacit) information, reduces asset specificity and therefore a buyer’s need for direct monitoring and control.” (Gereffi et al. (2005), S. 86.)780
Ähnlich hierzu argumentieren auch Mikkola (2003) bei sog. „Black-Box-Teilen“, deren Schnittstellendefinition eine Kontrollmöglichkeit für den Hersteller zulässt, ohne dass dieser das gesamte technische Wissen zur Fertigstellung benötigt.781 Der Koordinationsaufwand ist dabei eher gering, da die Transaktionsleistung über Verträge leicht kontrollierbar, 782 das Risi-
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781 782
Vgl. hierzu und im Folgenden die einleitenden Worte von Goldberg (1976), S. 1ff., sowie zusammenfassend Humphrey/ Schmitz (2002), S. 1021 und 1023. Für die Grundlagen der Transaktionskostenökonomie vgl. Williamson (1979) und Williamson/ Haas (1999) sowie zusammenfassend auch zu finden bei Dyer (1997), S. 536f. Für eine theoretische Auseinandersetzung mit automatisierten Vergabeverfahren vgl. auch Neubert et al. (2003). Bei e-Auctions (elektronischen Auktionen) „erfolgt das Angebot über eine Business-Plattform im Internet. Interessenten können in bestimmten festgelegten Zeiträumen ihr Angebot für das zu versteigernde Produkt abgeben. Die Angebote sind [meist] für alle Teilnehmer sichtbar. Wie bei einer normalen Versteigerung erhält der Meistbietende den Zuschlag“ (o. V. (2008g), o. S.). Ähnlich auch zu finden bei Brusoni (2005): „Indeed, modularity allows the decoupling of complex artefacts into less complex, self contained modules. Each module, at the extreme, could become the sole business of a specialist firm, which would have complete design authority over the specific module on which it focuses” (Brusoni (2005), S. 1886). Vgl. hierzu auch Pil/ Cohen (2006), S. 1007. Vgl. Mikkola (2003), S. 446. Zur Bedeutung und Funktionsweise von Verträgen im Rahmen einer marktbasierten Koordination vgl. die Ausführungen von Williamson (1996), S. 95, und zum klassischen Vertragsrecht vgl. Picot et al. (2005), S. 16f.
194
Teil III: Ansatzpunkte zur Organisation des automobilen Leistungsverbunds
ko aufgrund geringer Wechselbarrieren783 und der niedrigeren Leistungsspezifität überschaubar ist und der Preis das entscheidende Transaktionsmedium darstellt.784 Die zunehmende Wertschöpfungsdekomposition mit partnerschaftlichen Kooperationsdesigns impliziert aber eine Zunahme der spezifischen Investitionen 785 und eine zunehmende Abhängigkeit von Kooperationspartnern. Eine Abdeckung über vertragliche Arrangements ist kaum noch möglich, da deren Komplexität die Operabilität übersteigen würde. 786 Problematisch ist hierbei, dass aufgrund der zunehmenden Spezialisierung nicht alle relevanten Informationen zur Steuerung arbeitsteiliger Aktivitäten und Transaktionen kodifizierbar und für das fokale Unternehmen erkennbar sind. Hierdurch ergeben sich Spielräume für ein opportunistisches Ausnutzen entstehender Vertragslücken (Hold-Up-Situation).787 So ist denkbar, dass ein Hersteller stark in den Markenaufbau investiert und so einen Nachfrage-Effekt für den Vertragshändler generiert. Dieser wiederum nutzt jedoch das entstandene Markenimage, um überteuerte Leistungen anzubieten, und schadet so dem Herstellerimage.788 Ein ähnliches Problem tritt auf, wenn die Verträge zwar vollständig sind, das Verhalten jedoch ex-post nicht beobachtbar ist (Moral Hazard). So können bei einem Modul alle relevanten Charakteristika und Schnittstellen eingehalten werden, der eigentliche Herstellungsprozess jedoch, z. B. die Verwendung von ethisch nicht korrekten Bezugsquellen (Kinderarbeit, Umweltverschmutzung etc.), bleibt dem Hersteller meist verborgen. Die daraus entstehende Unsicherheit und die hohen transaktionsspezifischen Investitionen favorisieren eine unternehmensinterne Organisation der Leistungserstellung, wohingegen marktbasierte Steuerungsmechanismen trotz hoher Anreizintensität wenig effizient sind.789 Die hohe Leistungskomplexität und die Dynamikanforderungen der Automobilindustrie erfordern jedoch eine Wertschöpfungsdekomposition und verhindern damit eine hierarchische Lösung, wie treffend von Jones et al. (1997) festgehalten wurde:
783 784 785 786 787 788 789
Hoetker (2006) hält hierzu fest: „Product modularity may reduce the risk of opportunism by making it easier to switch suppliers in the midst of the design process” (Hoetker (2006), S. 504). Vgl. hierzu zusammenfassend Humphrey/ Schmitz (2002), S. 1021, und auch die Ausführung zum „commodity supplier“ bei Sturgeon/ Lee (2001), S. 9, sowie bei Semlinger (2006), S. 41ff. Die Spezifität entsteht durch Investitionen in Güter, die ihren vollen Nutzen nur in der jeweiligen Kooperation entfalten können. Vgl. hierzu auch exempl. Williamson (1996), S. 59f. Vgl. hierzu Williamson (1975), S. 91, und auch die Ausführungen bei Dyer (1997), S. 537. Eine vertragliche Lösung wäre nur unter enormen Anbahnungs- und Kontrollkosten möglich. Zu einer Übersicht über die verschiedenen Grundtypen asymmetrischer Informationsverteilungen vgl. exempl. Spremann (1990), S. 564ff. Vgl. auch Jensen (2001), S. 29. Vgl. hierzu exempl. Humphrey/ Schmitz (2002), S. 1021.
Teil III: Ansatzpunkte zur Organisation des automobilen Leistungsverbunds
195
„The need for safeguarding and coordinating exchange inhibits parties from using market mechanisms for customized, complex tasks, and the need for adapting exchanges inhibits parties from using hierarchies, even though hierarchies facilitate complex, customized exchanges.” (Jones et al. (1997), S. 923)
Es scheint, als müsste die Steuerbarkeit unternehmensübergreifender Leistungsprozesse unter den beschriebenen Rahmenfaktoren durch sehr hohe Transaktionskosten „erkauft“ werden. In diesem Zusammenhang ist auch die Studie von Monteverde & Teece (1982) über die amerikanische Automobilindustrie zu sehen, die die hohe Wertschöpfungstiefe der Automobilindustrie primär auf die hohe Opportunismusgefahr zurückführt. Konträr zeigen jedoch erstaunlicherweise andere Studien wie die Untersuchung von Dyer (1997) zur japanischen und amerikanischen Automobilindustrie, dass Leistungsströme innerhalb der japanischen Automobilproduktion eine höhere Spezifität und zugleich niedrigere Transaktionskosten im Vergleich zur Amerikanischen aufweisen. Es scheint, als ob japanische Unternehmen Koordinationsinstrumente gefunden haben, die durch die Möglichkeit einer effizienten ex-post Steuerung, die Defizite der ex-ante Steuerung durch unvollständige Verträge kompensieren. Dies eröffnet die Frage nach der Existenz von Integrationsmechanismen jenseits der klassischen Alternativen Markt und Hierarchie.790
(2)
Macht als Koordinationsinstrument im automobilwirtschaftlichen Leistungsverbund
Allgemein wird Macht von Max Weber (1985) als Voraussetzung dafür verstanden, „den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen“ (Weber (1985), S. 28), also andere Personen zu Handlungen zu bringen, die sie ohne Machteinwirkung nicht getan hätten. 791 Je nach Machtfülle kann dies soweit gehen, dass der Betroffene gegen seine ureigenen Werte und Interessen handelt.792 Die Funktionsweise ist dabei ähnlich der des Vertrauens, da beide „die Möglichkeit der Gewährleistung des eigenen Anspruchs“ (Bachmann & Lane (2006), S.
790
791 792
Auch Ringlstetter (1997), S. 152ff., widmet sich dieser Thematik und identifiziert Charisma, Autorität, Reputation, Vertrauen, Solidarität und gemeinsame Werte als zusätzliche Integrationsmechanismen. Jones et al. (1997), S. 911, identifizieren eine zunehmende Relevanz von weichen Steuerungsmechanismen in Branchen mit dynamischen Umfeldern und komplexen Leistungsprozessen und sprechen hierbei von einer „network governance“: „Network governance involves a select, persistent, and structured set of autonomous firms (as well as nonprofit agencies) engaged in creating products or services based on implicit and open-ended contracts to adapt to environmental contingencies and to coordinate and safeguard exchanges. These contracts are socially-not legally-binding” (Jones et al. (1997), S. 914). Vgl. Dahl (1957), S. 202f. Vgl. hierzu die Ausführungen zur Machtfülle bei Ringlstetter (1997), S. 145.
196
Teil III: Ansatzpunkte zur Organisation des automobilen Leistungsverbunds
86) benötigen.793 Grundlage für die Funktionsweise von Macht als Koordinationsinstrument ist also die glaubhafte Übermittlung eines Bestrafungspotenzials im Falle eines nicht intendierten Verhaltens der Gegenpartei, wobei das Bestrafungspotenzial von der Strafhöhe (generelle Wichtigkeit der Ressource) und der Eintrittswahrscheinlichkeit (faktische oder vorgetäuschte Ressourcenkonzentration) abhängt. Erst so werden die theoretisch möglichen Handlungsalternativen eingegrenzt794 und damit Erwartungen und Interaktionen koordiniert.795 Nach Mintzberg (1983) hängt die Fähigkeit der Machtausübung von der Kontrolle von Ressourcen, technischen Fähigkeiten und Wissen sowie von formalen Regeln und Beziehungen zu Aktoren, die eine oder mehrere der aufgeführten Machtbasen aufweisen, ab. 796 Aufbauend auf diesem Grundverständnis soll geprüft werden, ob unter der gegebenen Branchensituation sowie den antizipierten Zukunftserwartungen eine Herstellermacht überhaupt noch vorhanden ist und falls ja, welche Auswirkung deren Nutzung auf die Kooperationsbeziehung hat. Hierzu soll zunächst auf die Hersteller-Lieferanten-Beziehung eingegangen werden (a). Analog wird anschließend das Machtverhältnis zwischen Hersteller und Händler untersucht (b). (a) Machtverhältnisse in der Hersteller-Lieferanten-Beziehung: Insbesondere in der Hersteller-Zuliefer-Beziehung wurde Macht lange Zeit als zentrales Mittel zur Sicherung ökonomischer Renten gesehen.797 Dore (1983) stellt bspw. bei der Analyse der japanischen Wirtschaft für Toyota bereits im Jahr 1983 fest: „Here again, the obligations of the relationship [between Toyota and its sub-contractors] are unequal; the sub-contractor has to show more earnest goodwill, more 'sincerity', to keep its orders than the parent company to keep its supplies.” (Dore (1983), S. 466, Anm. A. R.)
Auch heute noch nutzen Automobilhersteller ihre wirtschaftliche Macht zur Durchsetzung kostengünstiger Beschaffungskonditionen.798 Pressemeldungen spiegeln diese Denkweise wider:
793 794 795 796 797 798
Zur Dualität von Vertrauen und Macht vgl. auch die schließenden Anmerkungen dieses Kapitels und die dort angegebene Literatur. Macht „erbringt ihre Übertragungsleistung dadurch, daß sie die Selektion von Handlungen (oder Unterlassungen) angesichts anderer Möglichkeiten zu beeinflussen vermag“ (Luhmann (1988), S. 8f.). Vgl. Bachmann (2003), S.11, und Bachmann/ Lane (2006), S. 85f. Vgl. Mintzberg (1983), S. 24, und ähnlich auch Pfeffer/ Salancik (1978), S. 48f. Vgl. hierzu Gulati/ Sytch (2007), S. 34, u. R. a. Porter (1999a) und Perrow (1970). Vgl. hierzu ausführlich Becker (2007), S. 170ff. Auch Ford setzte bei der Einführung eines unternehmensübergreifenden Electronic-Data-Interchange-Systems auf seine Macht: „It is quite clear from both the design and implementation of Telstra Tradelink, that Ford does not regard their trading partner as if they were partnerships made on equal basis, but relationships involving domination and their subordination” (Ratnasingam (2002), S. 7).
Teil III: Ansatzpunkte zur Organisation des automobilen Leistungsverbunds
197
„Für einen Aufschrei sorgte zum Jahresbeginn das Preisgebaren von DaimlerChrysler. Die Stuttgarter verlangten pauschal eine Preissenkung um 15 Prozent innerhalb von nur drei Jahren. Offiziell als „normale Verhandlungsrunde" verkauft, machte Mercedes-Chef Jürgen Hubbert vor den versammelten Zulieferern klar, dass er keine Partnerschaft mehr kenne, nur noch Preise." Ford brachte seine Zulieferer ebenfalls gegen sich auf: „Beklagt wurde hier unter anderem, dass der Autohersteller seine Zulieferer „auspresse", um kurzfristige Kosteneinsparungen zu erzielen.“ (Hab & Wagner (2006), S. 262, Literaturverweise weggelassen)
Analysiert man jedoch die aktuellen Machtverhältnisse in der Automobilbranche, so ist ein Festhalten an einer machtdominierten, asymmetrischen Hersteller-Lieferantenbeziehung aufgrund der aktuellen Branchensituation nicht uneingeschränkt möglich.799 Folgt man der Definition von Thorelli (1986), so wird die Verhandlungsmacht des Herstellers durch die Anzahl der Zulieferunternehmen am Markt, die Wechselkosten zwischen den einzelnen Lieferanten und die Bedeutung des Herstellers im Angebotsportfolio des Zulieferunternehmens determiniert: „The buyer's position is strengthened the greater the number of alternate sources of supply, the less the transactions costs involved in switching to another supplier, and the greater his share of the vendor's total sales.” (Thorelli (1986), S. 40)
Durch die Bestrebungen, mit wenigen großen Zulieferunternehmen zusammenzuarbeiten, kam es zu einer Hierarchisierung der Automobilzulieferindustrie, die aufgrund des finanziellen Drucks als Folge höherer Kompetenzanforderungen von einer branchenweiten Konsolidierung begleitet wurde.800 Hierdurch reduzierte sich nicht nur direkt die Anzahl möglicher Kooperationspartner, sondern es kam aufgrund der zunehmenden Spezialisierung im Rahmen der Kompetenzverlagerung zu einer erhöhten Interdependenz und schließlich zu einer Symmetrierung der Machtverhältnisse; Hüttenrauch & Baum (2008) sprechen hierbei von der „Wertschöpfungsmacht“ der Lieferanten.801 Als Folge dieser Entwicklung sehen sich die Hersteller immer mächtigeren Lieferanten gegenüber.802 Bei Mercedes-Benz decken beispielsweise lediglich acht Prozent der 1000 Zulieferunternehmen 80 Prozent des Beschaffungsvolumens ab.803 799 800 801 802
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Zum Verhältnis zwischen Zulieferer und Hersteller am Bsp. der deutschen Automobilwirtschaft vgl. auch Becker (2007), S. 170ff. Vgl. auch Wildemann (2006), S. 244, und für eine ausführliche Auseinandersetzung mit den Umfängen der Leistungsverlagerung auf die Zulieferbranche exempl. Hüttenrauch/ Baum (2008), S. 171ff. Vgl. Hüttenrauch/ Baum (2008), S. 211. Vgl. exempl. Kalmbach (2006), S. 40f., Boucsein et al. (1998), S. 163f., Mattes et al. (2004), S. 26f., und zur Bedeutung der Unternehmensgröße für die Machtverhältnisse in einer HerstellerLieferantenbeziehung Redondo/ Fierro (2007), S. 237, sowie die dort angegebene Literatur. Vgl. Breckner (2004), S. 69.
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Teil III: Ansatzpunkte zur Organisation des automobilen Leistungsverbunds
Unabhängig von der Möglichkeit des Machteinsatzes zur Koordination stellen neuere Forschungsansätze prinzipiell die Vorteile einer asymmetrischen Machtverteilung in Frage. So zeigen die empirischen Ergebnisse von Gulati & Sytch (2007) zur amerikanischen Automobilindustrie, dass Herstellermacht kurzfristig zwar zu einer Erhöhung der ökonomischen Renten führt, langfristig-strategisch betrachtet aber durch gegenseitig opportunistisches Verhalten den Beziehungswert reduziert.804 MacDuffie & Helper (1997) heben weiter die Bedeutung einer gleichberechtigten Zusammenarbeit für das interorganisationale Lernen am Beispiel von Honda hervor. Dore (1983) verweist auf Reputationsprobleme im Zuge eines harten Lieferantenkurses und Dyer (2000) sieht in der intensiven Partnerschaft japanischer Firmen mit ihren Lieferanten den Hauptvorteil gegenüber den amerikanischen Herstellern.805 Auch die Aussagen von Greca (2005) sind vor diesem Hintergrund verständlich, wenn er feststellt: „[…] problems between car producers and suppliers were more often affected by communication problems, social discrepancies and cultural differences than by technical difficulties; very often employees and especially owners of the suppliers complained about the arrogance and authoritarian habits of the managers of the OEM.” (Greca (2005), S. 107)
Gestützt werden die Erkenntnisse durch die empirischen Ergebnisse einer Befragung des Fraunhofer Instituts.806 Inkludiert man zudem die Machtverschiebungen in der Automobilindustrie in die Überlegungen, so erscheint es lohnenswert, sich vom tradierten Koordinationsmittel Macht zumindest teilweise zu distanzieren und flankierende Koordinationsansätze in das Kalkül mit einzubeziehen. (b) Machtverhältnisse in der Hersteller-Händler-Beziehung:807 Anders als im HerstellerLieferanten-Verhältnis sind weniger die wirtschaftliche Stellung als vielmehr die historischen Regelungen des selektiven und exklusiven Vertriebssystems Ursprung einer gewachsenen Herstellermacht.808 Analysiert man deren Auswirkungen anhand der Machtdefinition von El804 805
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807 808
Vgl. hierzu auch Piskorski/ Casciaro (2006). Vgl. Dore (1983): „If the accountant in the costing department urge a tough line with sub-contractors, he may well tell them that they are short-sighted and even disloyal to the firm in underestimating the importance of its reputation” (Dore (1983), S. 466). Ein Textauszug aus der Studie mag dies verdeutlichen: „Vertrauensvolle Beziehungen belasten nach fast einhelliger Meinung der in den Interviews befragten Zulieferer nicht nur der knallharte Druck auf Preise und Termine sondern vor allem auch das Mistrauen […]. Einige Hersteller spielen dabei die anbietenden Parteien bewusst gegeneinander aus. Dies steht einer strategischen Prozessoptimierung in der Wertschöpfungskette […] im Wege“ (Bullinger et al. (2003), S. 85f.) Ausführlich wurde die Macht in automobilwirtschaftlichen Vertriebssystemen von Reindl (2005a) empirisch untersucht. Vgl. hierzu und im Folgenden Diez (1999b), S. 18f., und Creutzig (2005), S. 129ff. Zur Macht auf Basis rechtlicher Regulierungen vgl. auch Pfeffer/ Salancik (1978), S. 49.
Teil III: Ansatzpunkte zur Organisation des automobilen Leistungsverbunds
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Ansary & Stern (1972), so haben die rechtlichen Grundlagen signifikanten Allokationseinfluss: „[…] the power of channel member is his ability to control the decision variables in the marketing strategy of another member in a given channel at a different level of distribution.“ (El-Ansary & Stern (1972), S. 47)
Vor der Einführung der neuen Gruppenfreistellungsverordnung ist hier zunächst die Abnahmeverpflichtung von Vertragshändlern zu nennen, die den Herstellern Planungssicherheit bot und das Marktrisiko auf die Händler überwälzte. Das Selektionsrecht auf Herstellerseite in Verbindung mit den weitreichenden Ausgestaltungsmöglichkeiten an qualitativen Anforderungen räumte den Herstellern ferner weitreichende Kontrollkompetenzen ein. In Verbindung mit den hohen Wechselkosten bei einem Vertragswechsel auf Händlerseite entstand so eine kontrollierte Lock-In-Situation für die Händler und damit eine dominante Machtposition der Hersteller. Die neue GVO 1400/2002 führt aber zu einer nachhaltigen Veränderung der Rahmenbedingungen, wie auch Reindl (2005b) in einem Interview festhält: „Außerdem schränkt die GVO Nr. 1400/2002 die Möglichkeiten zur intensiven vertraglichen Bindung stark ein und bietet darüber hinaus konkrete Optionen zum Mehrmarkenhandel und -service. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund wird es zu einer Machtverschiebung in Richtung der Händlerseite kommen.“ (Reindl (2005b), zit. nach Brachat (2005a), S. 14)
Initialisiert durch die rechtliche Liberalisierung im Vertrieb im Rahmen der GVO 1400/2002 zeichnen sich Konsolidierungstendenzen im Automobilhandel ab, die eine Veränderung der Machtverhältnisse bedeuten könnten.809 Im Gegensatz zum Lebensmitteleinzelhandel, der von einer hohen Händlermacht gekennzeichnet ist, ist zwar die Konzentration in der Automobilindustrie noch weitestgehend gering,810 dennoch wird sich auch in der Automobilbranche, getrieben durch Skalen- und Synergieeffekte, die Konsolidierung fortsetzen. Handelsorganisationen wie die Weller-Gruppe erweitern ihren Aktionsradius sukzessive und internationale Händlergruppen wie Pendragon aus Großbritannien bauen zunehmend ein paneuropäisches und globales Vertriebsnetz auf.811 Gegenmaßnahmen der Hersteller beschränken sich bislang meist auf den Gegenaufbau von Macht. Über den Ausbau der eigenen Niederlassungen und Erlebniswelten versuchen Hersteller, ihre Absatzkanäle zu sichern. Ferner steigern die Hers809 810 811
Vgl. hierzu und im Folgenden insbesondere Reers (2006), S. 160f. In Großbritannien vereinen die fünf größten Automobilhandelsgruppen 14 Prozent des gesamten Marktvolumens, in Frankreich sechs Prozent und in Deutschland drei Prozent. Vgl. Reers (2006), S. 160. Neben 244 Händlern in Großbritannien hat Pendragon bis Ende 2004 bereits 12 amerikanische und 10 deutsche Händler akquiriert. Vgl. Reers (2006), S. 160.
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teller im Zuge der Freiräume der neuen GVO sukzessive die Anforderungen an ihre Vertragshändler und bringen diese zunehmend unter Druck.812 Das hierdurch die Konsolidierung auf Händlerseite weiter forciert wird, bleibt meist außer Acht. Zudem zeigen Provan & Gassenheimer (1994), dass eine reine Machtausübung in langfristigen Hersteller-HändlerBeziehungen nicht zwingend notwendig ist. Vielmehr sollte die Macht als stabilisierendes, passives Element gesehen werden, das es ermöglicht, dem Händler im Vertrauen darauf Freiräume zu lassen, dass diese zugunsten der Beziehung nicht opportunistisch genutzt werden. 813 Hierzu ist ein passives Machtverhalten aufseiten der Hersteller notwendig, indem eine Bindung durch die Steigerung der Herstellerattraktivität und nicht durch Druck herbeigeführt wird.814
(3)
Koordination durch soziale Plattformen
Wie bereits mehrfach angedeutet, unterliegt die Automobilindustrie bestimmten Branchentrends, die signifikante Auswirkungen auf die Koordination des automobilwirtschaftlichen Leistungsverbunds haben. Zunächst ist hier die Dekomposition der Wertschöpfungskette im Sinne einer aktorenbezogenen Spezialisierung zu nennen, die insbesondere auf die Leistungskomplexität, aber auch auf die Flexibilitätsanforderungen aufgrund der Branchendynamik bzw. Nachfrageunsicherheit zurückzuführen ist.815 Beschriebene Trends einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit im Bereich F&E und Vertrieb führen ferner zu einer engeren und intensiveren Zusammenarbeit, wobei Jones et al. (1997) festhalten: „Customized exchanges with high levels of human asset specificity require an organizational form that enhances cooperation, proximity, and repeated exchanges to transfer effectively tacit knowledge among parties.” (Jones et al. (1997), S. 920)
Zuletzt fordert der thematisierte Zeitdruck, insbesondere im Bereich Forschung und Entwicklung, wie Coriat (1995) nachweist, eine stärkere Netzwerkorientierung der Automobilherstel-
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Vgl. hierzu Reers (2006), S. 162f. Vgl. hierzu die Überlegungen von Provan/ Gassenheimer (1994), S. 64. Die konkrete Studie bezieht sich auf die Möbelindustrie. Die unterliegenden Prämissen von starken Herstellern und abhängigen Händlern kann aber durchaus auf die Automobilindustrie übertragen werden. Dies zeigen auch die Aussagen von Stefan Reindl in einem Interview mit Brachat (2005a) und die Ergebnisse der empirischen Analyse zur Macht in Vertriebssystemen der Automobilindustrie bei Reindl (2005a). Vgl. hierzu auch die Ausführungen zur passiven Machtverhaltensstrategie bei Reindl (2005a), S. 275ff. Für eine Vertiefung des Zusammenhangs zwischen Branchendynamik, Leistungskomplexität und Wertschöpfungsdekomposition bzw. Netzwerkbildung vgl. Jones et al. (1997), S. 918f. und 923, sowie die dort angegebene Literatur.
Teil III: Ansatzpunkte zur Organisation des automobilen Leistungsverbunds
201
ler, um eine parallele Aufgabenerfüllung zu ermöglichen.816 Die beschriebenen Entwicklungen erhöhen nicht nur den Koordinationsaufwand, sondern eröffnen neue Koordinationsmechanismen aufgrund einer zunehmenden Einbettung der einzelnen Akteure in einen strukturellen Kontext (soziale Plattformen) (Abb. III-13).817 Kooperationscharakterisitika Nachfrageunsicherheit
Vertrauen (zentrale Kultivierungsvariable)
soziale Koordinationsmechanismen Plattformkultur
Leistungskomplexität
spezifische Investitionen
soziale Plattform (strukturelle Einbettung)
Interaktionsintensität
Abb. III-13:
Netzwerklimitation
Reputation
Zusammenhang von Kooperationscharakteristika und sozialen Steuerungsmöglichkeiten Quelle: erweitert und abgeändert nach Jones et al. (1997), S. 918
Jones et al. (1997) sprechen in diesem Zusammenhang auch von sozialer Kontrolle und Gereffi et al. (2005) halten treffend fest:818 „The mutual dependence that then arises may be regulated through reputation, social and spatial proximity, family and ethnic ties, and the like.” (Gereffi et al. (2005), S. 86)
In der Praxis sind jedoch tief greifende Defizite mit diesem „„weichen“ Kulturthema [in] der auf Technologie und Effizienz getrimmten Automobilindustrie“ (Hab & Wagner (2006), S. 265, Anm. A. R.) erkennbar. In Anlehnung an die grundlegenden Erkenntnisse von Jones et al. (1997) sollen daher Ansatzpunkte gefunden werden, die auf Basis der sozialen Einbettung eine verbesserte Koordination zulassen. Hierzu gilt es zunächst zu klären, welche Mittel dem fokalen Hersteller zur Verfügung stehen, um die soziale Plattform im Sinne der strukturellen
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Ähnliches identifiziert auch Semlinger (2006), S. 39, für die deutsche Automobilindustrie. Vgl. hierzu auch die Überlegungen bei Granovetter (1992), S. 35, und die Überlegungen zur Joint Dependence bei Gulati/ Sytch (2007), S. 37f., sowie allgemein Jones et al. (1997). Granovetter (1992), S. 33, unterscheidet hierbei zwischen einer relationalen und strukturellen Einbettung. Relationale Einbettung bezieht sich auf eine dyadische Beziehung zwischen zwei Akteuren, wobei die strukturelle Einbettung die Vernetzung aller Akteure mit betrachtet. Eine ähnliche Sichtweise vertreten auch Hüttenrauch/ Baum (2008) bei ihrer Analyse zum Vertrauen in Hersteller-Zuliefer-Beziehungen in der Automobilindustrie. Sie halten dabei fest: „Das geforderte Vertrauen bezieht sich daher nicht nur auf die Beziehung zwischen zwei Unternehmen, sondern auf einen Unternehmensverbund. Dieser Verbund muss zu jeder Zeit Höchstleistungen erbringen, um am Markt Erfolg zu haben“ (Hüttenrauch/ Baum (2008), S. 247).
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Teil III: Ansatzpunkte zur Organisation des automobilen Leistungsverbunds
Einbettung zu kultivieren. Es wird sich zeigen, dass dem Vertrauen dabei eine zentrale Rolle zukommt (a). Im Anschluss daran erfolgt ein Diskurs möglicher sozialer Koordinationsinstrumente auf Basis der sozialen Plattform (b). (a) Vertrauen als zentraler Ansatzpunkt zur Kultivierung der sozialen Plattform: Jones et al. (1997) führen die zunehmende Vernetzung insbesondere auf die oben genannten Branchencharakteristika – komplexe Leistungserstellung, dynamische Umfelder und transaktionsspezifische Investitionen – zurück.819 Für die Nutzbarmachung dieser exogen vorgegebenen Vernetzung als stabilisierende, soziale Koordinationsplattform ist die Informationsdiffusion entscheidend. Erst sie ermöglicht den Austausch von Normen und Werten und damit die Herausbildung einer plattformspezifischen Kultur820 sowie den für die Kontrolle notwendigen Austausch von Informationen über die einzelnen Plattformmitglieder. 821 Hierbei kommt dem Vertrauen eine zentrale Rolle zu.822 Vertrauen motiviert Unternehmen, sich zu öffnen und damit verwundbar zu werden. Dieser Öffnungsprozess ist für die Etablierung einer gemeinsamen sozialen Plattform, zum effizienten Austausch von Wissen823 und zur langfristigen Stabilisierung der Geschäftsbeziehung elementar. Riemer & Klein (2006) halten hierzu treffend fest:824 „Effective collaboration within the network can only be assured by aligning the different interests among the partners in the network and by facilitating the social integration among the involved people. The establishment of social ties among people improves the flow of information, facilitates the emergence of trust and helps to avoid misunderstandings and conflicts.” (Riemer & Klein (2006), S. 24)
Zur Kultivierung der sozialen Plattform ist folglich Vertrauensarbeit notwendig. Ansatzpunkte hierfür liefern die empirischen Erkenntnisse zur Automobilindustrie von Mudambi & Helper (1998). Vor dem Hintergrund der langjährigen asymmetrischen Beziehung zwischen ame_______________________________________________________________________________________ 818 819 820 821 822 823
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Der Grundgedanke der sozialen Kontrolle lässt sich auch bei den Überlegungen von Williamson (1975), S. 99ff., wiederfinden. Vgl. hierzu Jones et al. (1997), S. 923. An dieser Stelle können die Erkenntnisse der Kulturarbeit in Punkt III.2.1 (3) auf die unternehmensübergreifende Perspektive erweitert werden. Vgl. hierzu Jones et al. (1997), S. 924. Vgl. hierzu auch Bullinger et al. (2003), S. 91, und Dore (1983), S. 475. Vgl. zu diesem Punkt auch Gulati/ Sytch (2007): „Furthermore, because automotive manufacturers require moderate to high levels of coordination in procurement ties to develop and implement technological innovation, a high level of joint action has been shown to help introduce new product features faster and often ahead of the competition” (Gulati/ Sytch (2007), S. 41, Literaturverweise weggelassen). Vgl. hierzu auch die Überlegungen bei Zand (1972) und auch die zusammenfassenden Ausführungen bei Jones et al. (1997), S. 922, u. R. a. Williamson (1975), Williamson (1985) und Williamson (1991) zur Bedeutung der Frequenz in der Transaktionskostenökonomie. Auch die empirischen Ergebnisse von Dyer (1997), S. 546f., zeigen, dass die offene Informations- und Unternehmenskultur japanischer Automobilhersteller und ihrer Lieferanten signifikant die Transaktionskosten verringern.
Teil III: Ansatzpunkte zur Organisation des automobilen Leistungsverbunds
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rikanischen Automobilherstellern und ihren Lieferanten identifizieren sie langfristige Planungshorizonte und einen verbesserten Informationsaustausch bzw. eine verbesserte Transparenz als zentrale Stellhebel zum Vertrauensaufbau.825 Interessant hierbei ist, dass die Informationsdiffusion zugleich Grundlage und Ergebnis des Vertrauens darstellt und somit einen positiven Regelkreis initiiert. Dies erleichtert die Kulturarbeit, da die Informationsdiffusion als Stellhebel konkrete Maßnahmen erlaubt, der Vertrauensaufbau hingegen nicht direkt vom Management beeinflussbar ist. Die Herstellermaßnahmen müssen also dahin gehend gestaltet werden, dass sie einen unternehmensübergreifenden Informationsfluss zulassen und fördern sowie die Planbarkeit und Transparenz steigern. Ein Blick auf das TANDEM-Programm von Mercedes Benz826 soll dies konkretisieren: „Als Basis für eine funktionsfähige Partnerschaft dienen gegenseitiges Vertrauen, offene Kommunikation und die frühe Einbindung. Die Zusammenarbeit im TANDEM ist keine Einbahnstraße, sondern lebt vom Dialog. […] Sie stellt die eindeutige Abkehr von einseitigen Herstellervorgaben hin zu echter Partnerschaft dar. Einer Partnerschaft, die für beide Seiten von Nutzen ist.“ (Rudnitzki (1999), S. 3f., Anm. A. R.)
Durch die frühe Einbindung in den Entwicklungsprozess, bspw. in Form kooperativer Lastenhefte, wird bereits früh in der Kooperationsphase ein gegenseitiger vertrauensfördernder Sozialisationsprozess angestoßen und eine gemeinsame Perspektive aufgezeigt. 827 Neben zusätzlichen Lerneffekten828 wird dem Zulieferer Erfolgsrelevanz, Verantwortung und Toleranz symbolisiert und damit Vertrauen geschaffen. Formal kann die frühe Einbindung durch sogenannte Life-Cycle Contracts abgesichert werden. 829 Die offene Informationskultur senkt zu-
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Vgl. hierzu Mudambi/ Helper (1998), S. 789, und auch die Überlegungen bei Takeishi (2001) und Wente/ Walther (2007), S. 64. Ähnlich argumentiert ein anonymer OEM: „Vertrauen kann durch Zuverlässigkeit und Berechenbarkeit aufgebaut werden. Vertrauen entsteht, wenn Probleme früh angezeigt werden, wenn Rücksprache geführt wird. Kurz: Ob ich von meinem Partner das bekomme, was ich erwarte, entscheidet über das Vertrauen zu ihm. Offenheit und Ehrlichkeit sind hier ganz wichtig“ (o. V. (2006), zit. nach Hab/ Wagner (2006), S. 266). TANDEM ist ein projektübergreifendes Programm von Mercedes-Benz (später DaimlerChrysler) und den Zulieferunternehmen mit der Zielsetzung der „zielgerichteten Bündelung der Kräfte von Hersteller und Zulieferpartner“ (Rudnitzki (1999), S. 2). Vgl. hierzu auch die zusammenfassenden Anmerkungen bei Wente/ Walther (2007), S. 68. Die Bedeutung der Sozialisation lässt sich an der Beschaffungsphilosophie von Honda verdeutlichen: „We are a philosophy-driven company. We do supplier development as a way to teach our philosophy, to put it into action. It's how we try to help suppliers get past their old way of thinking and understand our way of thinking. It's a mission, not a job” (MacDuffie/ Helper (1997), S. 123). Vgl. hierzu auch Hab/ Wagner (2006), S. 270. Vgl. Piller/ Waringer (1999), S. 101. Die Bedeutung der gemeinsamen Perspektive für die Vertrauensbildung mag eine beispielhafte Erfahrung eines Lieferanten mit General Motors verdeutlichen: „Three years ago we were honored by GM as a high performance supplier. […] But this year they came back and said we would have to drop our price 20% in order to keep the business. They said they had a lower bid. When we refused to drop our prices that much, they forced us to ship the tools to a new supplier and even had
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dem die Transaktionskosten, da Spielräume für opportunistisches Verhalten durch bessere Kontrollmöglichkeiten limitiert werden.830 Ähnliches ist auch für den Vertrieb festzuhalten.831 Insbesondere spezifische Herstellerinvestitionen in die einzelnen Vertriebskanäle helfen, das Vertrauen in eine gemeinsame Zukunft zu stärken. So erhöhen Investitionen in das Händlercoaching, wie bspw. flächendeckend von Toyota verfolgt, nicht nur die Qualität, sondern wirken sich auch auf die Bindungsintensität zwischen Händler und Hersteller aus.832 Ähnliche Wirkung haben die Finanzierungsprogramme der Hersteller zur Händlerunterstützung in den Verkaufsstätten.833 Neben Nachhaltigkeitsaktivitäten finden sich auch in der HerstellerHändler-Zusammenarbeit zunehmend Bestrebungen, die Transparenz zu erhöhen. Toyota erarbeitete bspw. in Zusammenarbeit mit den Vertriebspartnern einen Fair-Play-Katalog mit grundlegenden, die Zusammenarbeit betreffenden Regeln, Werten und Normen, wobei die Verhaltenskontrolle in einem gegenseitigen Evaluierungsprozess erfolgt.834 Diese und ähnliche Maßnahmen fördern den unternehmensübergreifenden Öffnungsprozess und damit den Informationsfluss. Durch die gegenseitigen Investitionen in eine partnerschaftliche Zusammenarbeit bildet sich eine gefestigte soziale Plattform, die auf gegenseitigem Vertrauen sowie gemeinschaftlichen Werten, Normen und Zielvorstellungen aufbaut und Möglichkeiten einer effizienten Koordination jenseits der traditionellen Instrumente zulässt. (b) Soziale Koordinationsmechanismen auf Basis sozialer Plattformen: Die soziale Plattform bildet die Grundlage für eine Vielzahl von unterschiedlichen Koordinations- und Kontrollinstrumenten, von denen auf die Relevantesten vertiefend eingegangen werden soll. Hierbei werden insbesondere die Überlegungen von Jones et al. (1997) für die weiteren Ausführungen
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the nerve to ask us to help the new supplier to get up and running” (o. V. (o. Jg.), zit. nach Dyer (1997), S. 548). Vgl. hierzu zusammenfassend die Überlegungen bei Dyer (1997), S. 546, sowie die dort angegebene Literatur. Die Auswirkungen einer offenen Informationskultur beschreibt ein japanischer Automobilzulieferer wie folgt: „It would be virtually impossible for us to get away with inaccurate cost estimates. Nissan has much data; they have very good information on our operations and they can analyze our cost position. They can visit our plants and gather information. […] They would surely discover it” (o. V. (o. Jg.), zit. nach Dyer (1997), S. 546). Auch Diez (1999b), S. 145f., identifiziert den Aufbau einer Vertrauenskultur als eines der zentralen Themen in der Hersteller-Händler-Zusammenarbeit. Ferner wurde in den einzelnen Expertengesprächen auf die Bedeutung einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit im Vertrieb hingewiesen. Zum Toyota Händlercoaching-Programm vgl. Reers (2006), S. 164f. Neben Investitionen in die Händler finden sich bei japanischen Automobilherstellern oftmals auch Kapitalverflechtungen zu ihren Zulieferunternehmen, die als Symbol für eine nachhaltige Partnerschaft gesehen werden. Vgl. hierzu auch Dyer (1997), S. 548. Vgl. hierzu Reers (2006), S. 165.
Teil III: Ansatzpunkte zur Organisation des automobilen Leistungsverbunds
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zugrunde gelegt, wobei folgende soziale Mechanismen der Steuerung auf Basis sozialer Plattformen näher betrachtet werden:
Plattformkulturen (ba)
Limitierter Netzwerkzugang (bb)
Reputation (bc)
(ba) Plattformkultur: Der angesprochene Öffnungsprozess im Zuge der Vertrauensarbeit fördert eine gemeinsame Plattformkultur, wobei die strukturelle Einbettung, d. h. die Interaktionsintensität und -frequenz, sowie die Kooperationshistorie maßgeblich die Kultivierung der gemeinsamen Kulturbasis fördern.835 Die Plattformkultur wird hierbei jedoch nicht nur über die Konvergenz einzelner Unternehmenskulturen geschaffen, sondern auch durch die Industriekultur im Sinne einer Meta-Kultur beeinflusst. Hierunter werden Werte, Normen und Verhaltensweisen verstanden, die industrieweite Akzeptanz erfahren, wie bspw. die zunehmende Umweltorientierung der Automobilindustrie. Ihre koordinative Wirkung entfalten gemeinsame Plattformkulturen, da durch Sozialisation eine Konvergenz in der Erwartungshaltung herbeigeführt wird, ein gemeinsames Sprachspiel den Informationsaustausch erleichtert und gewisse Grundregeln transaktionsunabhängig wirken.836 Zur Förderung der Plattformkultur ist eine Kontaktintensivierung notwendig, die oft zu einer geografischen Konzentration führt. So erkennt Nishiguchi (1994) eine Assimilation der Kulturen der japanischen Automobilindustrie rund um Tokyo. Übertragbar sind die Erkenntnisse auch auf die verschiedenen räumlichen Integrationsstufen der einzelnen Lieferanten auf dem Herstellergelände. Neben einer physischen Konzentration erlauben jedoch moderne Informations- und Kommunikationsmedien eine virtuelle Nähe, die insbesondere zur Kulturbildung im Vertriebsbereich durch die Distanzüberbrückungsfunktion von entscheidender Rolle ist. Eine Substitution der physischen Nähe erwarten Experten jedoch nicht. (bb) Netzwerklimitation:837 Da in partnerschaftlichen Leistungsverbünden die Gesamtleistung von der Güte der Einzelleistungen abhängt, sind in der Regel alle Beteiligten daran interessiert, dass die jeweiligen Partner mindestens den Durchschnittsanforderungen der gesamten Gruppe entsprechen. Die Zugangslimitation des Netzwerks bewirkt also eine gewisse Qualitätssicherung unter den beteiligten Akteuren, da nur diejenigen Akteure an der Leistung betei-
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Vgl. hierzu und im Folgenden Jones et al. (1997), S. 929f. Zur Konvergenz der Erwartungshaltung vgl. Williamson (1991), S. 278, zum gemeinsamen Sprachspiel Williamson (1985), S. 155, und zu den universellen Grundregeln Camerer/ Vepsalainen (1988), S. 115.
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ligt sind, die den Qualitätsstandards im Auge der Gruppe genügen. Eine permanente Kontrolle wird somit, auch vor dem Hintergrund der Sanktionsmöglichkeit durch Ausschluss, überflüssig.838 Die kollektiven Erfahrungen und Informationen erhöhen zudem die Kontrollgüte und wirken sich aufgrund der gestiegenen Verlustgefahr positiv auf das Opportunismusrisiko aus.839 So zeigt bspw. eine Studie von Dyer (1997) zur japanischen und amerikanischen Automobilindustrie, dass die Exklusivität und Langfristigkeit japanischer Lieferantenbeziehungen, zusätzlich zum Vertrauensaspekt, die Transaktionskosten nachhaltig senken. 840 Dyer (1997) halten hierzu unter Berufung auf Expertengespräche mit japanischen Zulieferunternehmen treffend fest: „The cost of losing the business is greater for suppliers with […] higher volume of exchange with the automaker and […] the expectation of a long-term relationship. As one Japanese supplier executive observed, ‘For us to try to take advantage of Toyota would be very short-sighted. We have too much business with them to risk such a foolish action’ […] Thus, the cost of opportunism is higher for the typical Japanese supplier than for the typical U.S. supplier.” (Dyer (1997), S. 544)
Die intensivere Verbindung führt zudem zu einem gewissen Wir-Gefühl, wodurch die Gefahr opportunistischer Verhaltensweisen weiter sinkt.841 Neben kontrollorientierten Aspekten wirkt die Interaktionsintensität und -dauer in limitierten Netzwerken so auch auf die Koordination, da andere Akteure besser eingeschätzt842, Informationssysteme unternehmensübergreifend
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Vgl. hierzu und im Folgenden insbesondere Jones et al. (1997), S. 927f. Ein Mitarbeiter aus der Beschaffungsabteilung von Ford äußert sich hierzu wie folgt: „This related to communication openness as in high trust derived from information sharing and concern. We do not check the delivery of goods, due to the consistency in the quality service provided by our suppliers” (o. V. (o. Jg.), zit. nach Ratnasingam (2002), S. 8). Vgl. hierzu auch exempl. die Überlegungen bei Gulati/ Sytch (2007). Neben einer höheren Wahrscheinlichkeit entdeckt zu werden, sind auch die Auswirkungen aufgrund der höheren Vernetzung weitreichender. Eine empirische Erhebung von Dyer (1997), S. 544, zeigt, dass japanische Automobilhersteller im Falle eines Modellwechsels zu 90 Prozent die bestehenden Lieferanten übernehmen. Chrysler und Ford bringen es nur auf 79 Prozent und General Motors auf 52 Prozent. Kontrastierend fanden aber jüngst Collinson/ Wilson (2007) heraus, dass die langfristige und enge Vernetzung mit den Lieferanten in dynamischen Umfeldern zu Flexibilitäts- und Innovationsnachteilen führen kann. Gulati/ Sytch (2007) halten hierzu fest: „The interests of actors in such a regularized structure of exchange relations are increasingly likely to affect—and be affected by—the interests of their business associates as they begin to develop a shared understanding of the utility of mutually beneficial behavior” (Gulati/ Sytch (2007), S. 38). So zeigen die Ergebnisse von Jehn (1995), dass mit zunehmender Interaktionsintensität die Konflikte aufgrund persönlicher Unterschiede und Inkommensurabilitäten abnehmen.
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besser abgestimmt und einzelne kooperationsspezifische Routinen optimiert werden können.843 (bc) Reputation: Reputation beruht auf einem Gesamteindruck des Anbieters, der durch die Diffusion von nonkommerziellen Erfahrungsberichten zustande kommt.844 Reputation ist folglich das bereits gewonnene Vertrauenskapital845 eines Akteurs im Netzwerk und spiegelt „[…] die Erwartung [wider], dass sich ein Anbieter an die expliziten und impliziten Vereinbarungen zwischen den Transaktionspartnern halten wird.“ (Büschken (1999), S. 1, Anm. A. R.)
Sie erhöht somit die Transparenz im Netzwerk, da sie die Möglichkeit bietet, zusätzliche Informationen über die anbieterunabhängige Kommunikation zu gewinnen, die auf einem expost Wissensstand (Erfahrungen) beruhen, wodurch die ex-ante Unsicherheit teilweise kompensiert werden kann.846 Zudem ermöglicht ihr Pfandcharakter eine Bestrafung, die das Nutzenniveau des Transaktionspartners so verringert, dass allein die Strafandrohung Anreize gegen opportunistisches Verhalten gibt.847 Für die Funktionsweise der Reputation ist die strukturelle Einbettung, also die Vernetzung, entscheidend, da nur so eine effiziente Reputationsanpassung sichergestellt werden kann. Zunächst steigt mit der Vernetzung die Pfandhöhe. Je größer die Plattform, umso weitreichender sind die Auswirkungen einer Reputationsverletzung auf andere potenzielle Transaktionen. Cole & Kehoe (1996) sprechen hierbei von „Spillover“-Effekten.848 Dies führt zu einer erhöhten Fragilität des Pfandes und steigert so den
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Vgl. hierzu zusammenfassend Gulati/ Sytch (2007), S. 40 und 42, sowie die dort angegebene Literatur. Auch Mizruchi (1983) und Gulati/ Wang (2003) identifizieren einen positiven Zusammenhang zwischen der Bindungs- bzw. Interaktionsintensität und einer Angleichung des Verhaltens der beteiligten Akteure. Vgl. u. a. Büschken (1999), S. 1, und ausführlich zur Reputation auch Spremann (1988), S. 618ff. Hierbei sichert die Non-Kommerzialität des Senders und die Konservativität der Botschaft die Validität der Information. So hat der Sender keine monetären Interessen und neigt eher dazu, negative als positive Erfahrungen zu verbreiten. Vgl. hierzu Wilson (1991), S. 36ff. Vgl. hierzu auch die Ausführungen zum Vertrauen als prozessuale Größe bei Reindl (2005a), S. 177f. Eine ähnliche Sichtweise vertreten die japanischen Zulieferunternehmen. In einer Studie von Dyer (1997), S. 544, denken 75 Prozent von ihnen, dass Ungerechtigkeit in früheren Interaktionen auf spätere Transaktionen Einfluss hat. Dyer (1997) spricht hierbei von dem „sozialen Gedächtnis“. Vgl. Granovetter (1992), S. 42. Granovetter (1985) hält hierzu fest: „Better than the statement that someone is known to be reliable is information from a trusted informant that he has dealt with that individual and found him so. Even better is information from one's own past dealings with that person” (Granovetter (1985), S. 490). Vgl. Spremann (1988), S. 618ff., und Büschken (1999), S. 3. Hierbei unterscheidet sich die Reputation von anderen Wohlstandsgütern dadurch, dass sie „unter denselben Bedingungen aufgebaut [wird], die sie erwarten lässt“ (Spremann (1988), S. 620). Opportunistisches Handeln wirkt also in zweierlei Hinsicht auf die Reputation: zum einen durch den negativen Reputationseffekt aufgrund übler Nachrede, zum anderen durch den Verlust des potenziellen Reputationszuwachses. Auch zu finden bei Büschken (1999), S. 3.
208
Teil III: Ansatzpunkte zur Organisation des automobilen Leistungsverbunds
Pfandwert.849 Neben der Pfandhöhe erhöht die soziale Plattform das Referenzpotenzial der Quelle, da die Reputation nicht auf isolierten Einzelerfahrungen, sondern auf einem kollektiven Erfahrungspool basiert.850 Die hohe Dichte in sozialen Plattformen ermöglicht dabei eine effiziente Informationsverbreitung.851 Zuletzt sichert die Vernetzung auch die Strafdurchsetzung; da das Kollektiv die Reputation des Betroffenen schädigen wird, sanktioniert dieser nicht das Verhalten des Verursachers. Jones et al. (1997) sprechen hierbei von kollektiver Sanktionierung.852 In den abschließenden Bemerkungen sind zwei Punkte anzusprechen. Zunächst wurde bislang der Dynamikaspekt vernachlässigt. Koordinationsinstrumente sind immer der aktuellen Situation anzupassen. Insbesondere in langfristigen Partnerschaften können sich die Beziehungskontexte und damit die Koordinationsanforderungen durchaus ändern. Hüttenrauch & Baum (2008) verdeutlichen diesen Aspekt sehr gut anhand des Produktentwicklungsprozesses. Im Bereich der Forschung und Entwicklung findet beispielsweise eine weitaus intensivere Interaktion statt und soziale Steuerungsmechanismen nehmen eine dominante Position ein. In der Serienproduktion hingegen reichen oft standardisierte Lieferverträge aus. Das Kooperationsdesign wandelt sich zu marktbasierten Arrangements. In der Phase der Neuverhandlung, bspw. im Rahmen eines Modellwechsels, nimmt wiederum die Macht eine dominante Stellung ein. Es existiert eine Reihe von Szenarien, die dem Geschilderten ähneln. Es zeigt sich jedoch einheitlich, dass die Steuerung von Beziehungen eine permanente, sich wandelnde Führungsaufgabe darstellt: Patentlösungen existieren dabei nicht. Die Führungsaufgabe wird zudem dadurch kompliziert, dass sich die vorgestellten Koordinationsansätze keineswegs wechselseitig ausschließen, sondern in der Realität meist als ein Maßnahmenbündel auftreten.853 So wäre, wie Semlinger (2006) feststellt, eine Kooperation, die rein auf Vertrauen basiert, zu verletzlich, da die Gefahr des Vertrauensbruchs stets gege-
849 850 851 852
853
Vgl. Kreps/ Wilson (1982), S. 276. Zur Erklärung des Referenzpotenzials vgl. auch die Ausführungen bei Cornelsen (2000), S. 199ff. Vgl. zu diesem Aspekt Büschken (1999), S. 8, sowie die dort angegebene Literatur. Vgl. Jones et al. (1997), S. 931f. Neben dem Kontrollcharakter wirkt Reputation aber auch koordinativ, da sie Kontextinkommensurabilitäten überbrückt, indem die „Betroffenen […] auf ihre jeweiligen Begründungsansprüche [verzichten], da sie der reputablen Person auf Ehrenwort glauben“ (Ringlstetter (1997), S. 158, Anm. A. R.). Bradach/ Eccles (1989) stellen treffend in ihrem Resümee fest: „The combinations of control mechanisms discussed in this review have been characterized as overlapping, embedded, intertwined, juxtaposed, and nested” (Bradach/ Eccles (1989), S. 116).
Teil III: Ansatzpunkte zur Organisation des automobilen Leistungsverbunds
209
ben ist.854 Vorgestellte soziale Mechanismen kompensieren diese Gefahr zwar zu einem gewissen Maß, dennoch sind flankierende, insbesondere vertragliche Maßnahmen zu ergreifen, die die Sicherheit erhöhen.855 Sitkin (1995) und Malhotra & Murnighan (2002) sprechen daher die Bedeutung von formalen Verträgen und Macht für die Absicherung und damit für den Aufbau von Vertrauen an.856 Das & Teng (1998) verweisen sogar auf die Bedeutung eines dualen Einsatzes von Macht und Vertrauen zur Steuerung: „[…] the two concepts [power and trust] should be considered in parallel so that they may supplement each other in special ways-not merely in the restricted sense of being complementary to each other. This opens up the important issue of a deliberate building of trust and more effective control mechanisms as two distinct avenues that can (and should) be pursued simultaneously for generating confidence in partner cooperation.” (Das & Teng (1998), S. 491, Anm. A. R.)
Poppo & Zenger (2002) stellen ferner fest, dass eine kombinierte Anwendung von Vertrauen und Macht die Interaktion positiv beeinflussen kann.857 Zu ähnlichen Schlussfolgerungen kommt auch Reindl (2005a) bei der Analyse der Macht in automobilwirtschaftlichen Vertriebssystemen und führt hierzu aus: „Die Untersuchungsergebnisse lassen allerdings auch den Schluss zu, dass weder die wirtschaftliche noch die psychisch-soziale Abhängigkeitsdimension […] die notwendige Stabilität gewährleisten kann. […] Neben den „harten Faktoren“ wie fabrikatsspezifische Wertschöpfungsmöglichkeiten und Herstellerressourcen vermögen system- und vertrauenskulturelle Beziehungselemente sowie zufriedenheitsstiftende Maßnahmen […] einen positiven Beitrag zur „Macht“ der Systemführer im Automobilvertrieb zu leisten.“ (Reindl (2005a), S. 283)
Bradach & Eccles (1989) thematisieren zudem den Zusammenhang von Vertrauen und marktbasierten Koordinationsinstrumenten.
858
Es kann ihnen daher resümierend zugestimmt
werden, wenn sie festhalten: „price-trust mechanisms, authority and trust […] are mixed in the empirical world“ (Bradach & Eccles (1989), S. 112).
854 855 856
857 858
Vgl. hierzu exempl. Semlinger (2006), S. 51, Bachmann (2001), S. 342, und Granovetter (1985), S. 491. So betitelt Luhmann (1979), S. 24, treffend das Vertrauen als „risky investment“. Vgl. hierzu auch die Überlegungen von Bachmann (2001), S. 343. Eine Koexistenz von Vertrauen und Macht sehen bspw. auch Bachmann/ Lane (2006), S. 87, Das/ Teng (1998) und Das/ Teng (2001). Vgl. zusammenfassend auch Khodyakov (2007), S. 2. Möllering (2005) sieht sie gar als Dualitäten an, die ohne einander nicht existieren können. Vgl. hierzu auch die Aussagen von Stefan Reindl in einem Interview zur Macht und Machtnutzung von Automobilherstellern. Vgl. hierzu Brachat (2005a). Vgl. hierzu Bradach/ Eccles (1989), S. 110f.
210
Teil III: Ansatzpunkte zur Organisation des automobilen Leistungsverbunds
III.3
Zwischenbetrachtung: Rekapitulation eines differenzierten Organisationsbildes
In Anlehnung an Coulson-Thomas (1991) wurde im ersten Kapitel (Kap. III.1) ein differenziertes Konfigurationsverständnis für die Automobilindustrie erarbeitet. Hierbei existieren Netzwerkverbindungen nicht nur zu externen Akteuren, sondern auch organisationsintern zwischen einzelnen Teileinheiten. Die Netzwerkakteure wurden hierbei auf verschiedenen Organisationsebenen verortet, wobei der organisationale Kern das Zentrum darstellte. Plattformorganisation
partnerschaftliches Netzwerk
„externes“ Netzwerk
Leitungskonfig.
flach/ polyzentrisch partnerschaftlich
direktiv
Leistungskonfig.
modular
modular
objektorientiert
Führungsaufwand
mittel
mittel
gering-sehr gering
dominante Koordinationsinstr.
Kontextsteuerung
Rahmenverträge Soziale Plattform
Vertrag/ Preis Macht
Koordinationsprozess
reziprok top-down/ bottom-up
reziprok
unidirektional
Abb. III-14:
Überblick über die verschiedenen Konfigurations- und Koordinationsformen
Aufbauend auf diesem Grundverständnis wurde in einem ersten Schritt die fokale Organisation als Plattform in Anlehnung an das eher technische Verständnis der Produktplattform konzeptioniert. Hierbei wurde bewusst mit dem oftmals in der Theorie unterstellten, dichotomen Verständnis von Hierarchie und Modularität gebrochen und diese als sich ergänzende Bestandteile von Plattformorganisationen gesehen. Modulare Teileinheiten bilden dabei die flexiblen Komponenten der Plattformorganisation und zeichnen sich durch eine hohe Differenz und Binnenhomogenität aus. Aufgrund ihres hohen Selbstkoordinationspotenzials wurde eine gewisse Distanz zur Leitung konstatiert, wodurch sich Plattformorganisationen eher durch flache Strukturen und ein polyzentrisches Führungsverhalten auszeichnen. Weitergedacht wurden die Überlegungen durch die Ausführung zur gewollten Differenzierung interner Einheiten. Unter den Gesichtspunkten der Innovativität, der Lokalisierung und der firmenübergreifenden Wertschöpfung wurden Szenarien und Ansatzpunkte diskutiert, unter denen eine Förderung der Differenz von Teileinheiten sinnvoll erscheint. Hierbei wurden bewusst Dualitäten, wie etwa Zentralität und Dezentralität, verwendet, um zu zeigen, dass differenzierte
Teil III: Ansatzpunkte zur Organisation des automobilen Leistungsverbunds
211
Teileinheiten ihre Daseinsberechtigung in einem selbst gesteuerten, flexiblen Verhalten und zugleich ihre Daseinsgrundlage in der Zugehörigkeit zu einem größeren Ganzen haben. Analoges Gedankenspiel fand bei den Überlegungen zur Koordination auf Plattformbasis statt, wobei die Kontextsteuerung von Naujoks (1994) den Ausgangspunkt bildete. Direktivtechnokratische Instrumente in Form der Rahmenprogrammierung und des Schnittstellenmanagements bildeten die Plattform zur Selbststeuerung der modularen Plattformen, wobei bewusst Freiräume zur fallbezogenen Kombination, Ergänzung und Anpassung des Regelwerks eingeräumt wurden (dezentral technokratische Steuerung). Zur gesteuerten Potenzialentfaltung innerhalb der Freiräume wurden ergänzend informelle Steuerungsmechanismen im Rahmen einer Kulturarbeit thematisiert, wobei erneut das Spannungsfeld von kultureller Einheit und kultureller Vielfalt Ausgangspunkt der Überlegungen darstellte. Ergänzt wurden die intraorganisationalen Überlegungen um die Organisation des automobilwirtschaftlichen Leistungsverbunds, indem Zuliefer- und Vertriebsnetzwerke näher thematisiert wurden. Auf Zulieferseite wurde insbesondere auf die organisatorischen Auswirkungen einer intensivierten Vernetzung im Rahmen partnerschaftlicher, reziproker Kooperationsdesigns eingegangen. Es wurde gezeigt, dass aufgrund strategischer Überlegungen und einer Machthomogenisierung ein Festhalten an einer traditionellen, herstellermachtbasierten Beziehung nicht immer möglich und vor allem vor dem Hintergrund des partnerschaftlichen Ansatzes nicht immer erstrebenswert ist. Alternativ zur direktiven, machtbasierten Koordination, die im Rahmen der externen Netzwerksteuerung, bspw. bei Standardteilelieferanten, angewendet wird, wurden daher Ansatzpunkte der Koordination auf Basis sozialer Plattformen diskutiert, wobei dem Vertrauen zur Plattformkultivierung ein zentraler Stellenwert eingeräumt wurde. Ein analoges Vorgehen wurde für die Vertriebsseite gewählt. Die rechtliche Liberalisierung und der zunehmende Margendruck führen, wie in der Zulieferindustrie, zu einer zunehmenden Branchenkonsolidierung im Automobilhandel, wobei im Zuge dessen neue Vertriebsformen, insbesondere der Mehrmarkenhandel, an Bedeutung gewinnen. Ferner bedarf die geforderte Kundenorientierung einer stärkeren Einbindung und Vernetzung der Händler mit dem fokalen Hersteller. Vor diesen sich wandelnden Rahmenfaktoren wurden Herstellermacht und tradierte Kooperationsdesigns kritisch diskutiert und aufgrund ihrer Defizite durch informale Koordinationsinstrumente auf Basis sozialer Plattformen angereichert. Dabei wurde festgehalten, dass erst der kombinierte Einsatz verschiedener Koordinationsinstrumente eine stabile, langfristige Partnerschaft ermöglicht.
Schlussbetrachtung
213
SCHLUSSBETRACHTUNG In der Einführung wurde die Automobilindustrie als einer der bedeutendsten Wirtschaftszweige vorgestellt. Insbesondere aufgrund der aktuellen und zukünftigen Branchen- und Umfeldbedingungen scheint die Automobilindustrie nach der Massenproduktion, der schlanken Fertigung und der globalen Konsolidierung vor einem erneuten revolutionären Einschnitt zu stehen: einem Übergang von einer funktional, proprietären zu einer kompetenzgetriebenen, offenen Wertschöpfungsstruktur. Umso erstaunlicher erscheint das momentan vorherrschende Rezeptionsdefizit der Strategie- und Organisationsforschung im Bereich der Automobilwirtschaft. Abgesehen von einer breiten Anzahl praxeologischer Veröffentlichungen beschäftigen sich kaum wissenschaftliche Arbeiten in der Breite mit diesem Thema, sondern wählen eine stark auf Einzelaspekte fokussierte Betrachtung, wodurch die komplexen Gesamtzusammenhänge kaum Berücksichtigung finden. Anknüpfend an diese Ausgangslage war Zielsetzung der vorliegenden Arbeit, das Defizit der fehlenden wissenschaftlichen Gesamtbetrachtung zu schmälern, indem in Rückbesinnung auf Chandler (1993) ein integrativer, umfassender Beitrag zum Thema Strategie und Organisation in der Automobilindustrie geleistet wurde. So wurde auf Basis theoretischer Konzepte des strategischen Managements und der Organisationslehre umfassende Hilfestellung für das Management von Automobilherstellern erbracht. Im Folgenden werden die zentralen Ergebnisse zunächst prägnant rekapituliert (1). Abschließend werden zudem in einem Ausblick Implikationen der Arbeit für das Management von Automobilherstellern diskutiert und interessante Ansatzpunkte für zukünftige Forschungsbemühungen aufgezeigt (2).
(1)
Reflexion zentraler Ergebnisse der Arbeit
Der erste Teil diente der Vermittlung des notwendigen Branchenwissens und bildete den thematischen Einstieg in die Arbeit. Hierzu wurde zunächst verständnisrelevantes, automobilwirtschaftliches Wissen vermittelt, indem definitorische Grundlagen gelegt, in Grundzügen die Branchenstruktur und die Leistungserstellung beschrieben sowie die Hauptakteure auf Hersteller- und Zulieferseite vorgestellt wurden. Zur Komplettierung des automobilen Grundlagenwissens und zur Vereinfachung des thematischen Einstiegs in die integrative Herangehensweise der Arbeit wurde der Grundlagenteil um eine historische Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Strategie und Struktur in der Automobilhistorie ergänzt. Als revolutionäre strategische und organisatorische Sprünge wurden hierbei die Massenfertigung, die schlanke
214
Schlussbetrachtung
Produktion und die globale Branchenkonsolidierung näher untersucht. Im zweiten Kapitel des ersten Teils erfolgte dann der Wechsel in die Gegenwart und Zukunft der Automobilindustrie. Aus der Perspektive der Automobilhersteller wurden aktuelle und künftige automobile Herausforderungen vorgestellt und anhand ihrer Auswirkungen analysiert. Hierzu wurden einzelne Veränderungstreiber anhand der Branchen- und Umfeldanalyse erhoben und aufgrund ihrer Wirkung zu den wesentlichen Herausforderungen – Management der Angebotskomplexität, Erschließung neuer Wachstumsmärkte und Ertragssicherung im Volumensegment – aggregiert. Im zweiten Teil der Arbeit wurden basierend auf den aktuellen und künftigen automobilen Herausforderungen generische Optionen anhand strategischer Programme erarbeitet und konkretisiert. Zur Kompensation der Absatzschwäche in den Triademärkten wurde zunächst im Rahmen der Internationalisierung das Spannungsfeld von Standardisierung und Lokalisierung diskutiert, wobei auf Basis einer modularen Produktsichtweise die hybride Strategie der standardisierten Lokalisierung den Trade-Off zwischen Differenzierung und Kostenorientierung zu mindern scheint. Auch im Bereich der Produktprogrammstrategien ermöglichte die Modularität eine Trennung der faktischen von der suggerierten Programmvarietät und erlaubte so die Optimierung der Produktprogrammkomplexität auf Basis von Plattformstrategien. Ergänzt wurden die Programmüberlegungen um Ansatzpunkte zur Optimierung der fahrzeuginhärenten Komplexität. Hierbei wurde insbesondere ein Umdenken von der Produkt- zur Bedarfsorientierung im Rahmen eines bedarfsorientierten Technologiemanagements gefordert. Abgeschlossen wurden die marktorientierten Ausführungen durch wettbewerbstheoretische Überlegungen, wobei insbesondere auf das Markenmanagement im Rahmen einer Markenintegrationsstrategie zur Differenzierung und auf die Volumenimitation zur Kostenführerschaft näher eingegangen wurde. Im Sinne des strategischen Managements wurde die marktorientierte durch eine ressourcenorientierte Betrachtung der strategischen Leistungserstellungsprogramme ergänzt. Die angesprochene kernkompetenzfokussierte Ausrichtung der automobilen Wertschöpfung im Rahmen der Wettbewerbspositionierung impliziert die Interaktion mit externen Akteuren auf verschiedenen Stufen der Wertschöpfungskette. Im Upstreambereich erfolgte daher eine tiefer gehende Auseinandersetzung mit verschiedenen Zuliefertypen. Zudem wurde auf die Option der herstellerübergreifenden Kooperationen näher eingegangen, die eine immer bedeutendere Rolle in der automobilen Leistungserstellung einnehmen. Im Downstreambereich wurden verschiedene Kooperationsformen im Vertrieb vor dem Hintergrund der GVO 1400/2002 thematisiert. Kosten- und wissensorientierte Motive der
Schlussbetrachtung
215
physischen Wertschöpfungsverlagerungen ergänzten vor dem Hintergrund der zunehmenden Globalisierung die Ausführungen zu automobilwirtschaftlichen Wertschöpfungsstrategien. Eine fundierte Auseinandersetzung mit verschiedenen Kompetenztypen von Automobilherstellern und mit deren Management bildete den logischen Abschluss dieses Hauptteils. Auch hier wurde das Spannungsfeld von Stabilität und Flexibilität in die Überlegungen mit aufgenommen, indem leistungsbezogene Kompetenztypen um prozessuale Kernkompetenzen als Vorsteuergrößen im Sinne einer dynamischen Betrachtung ergänzt wurden. Der dritte Teil behandelte die für die Strategieimplementierung relevante organisatorische Komponente, wodurch die integrative Sichtweise von Umfeld, Strategie und Organisation ihre Komplettierung erfuhr. Zur Erfassung der Vielschichtigkeit und Komplexität automobiler Leistungserstellungssysteme wurde hierfür ein differenziertes Organisationsverständnis konstruiert, das eine Betrachtung verschiedener Organisationsebenen über die klassischen Alternativen Markt und Hierarchie hinaus erlaubt. Unternehmensintern wurde die Logik modularer Produktplattformen auf die Organisation übertragen. Es wurde ein Organisationsbild entworfen, das sowohl stabilisierende als auch flexible Elemente beinhaltet. Modulare Teileinheiten sind dabei auf verschiedenen organisationalen Ebenen zu verorten und haben ihre Daseinsberechtigung in einem selbst gesteuerten, flexiblen Verhalten und gleichzeitig ihre Daseinsgrundlage in der Zugehörigkeit zu einer integrierten Plattform. Hierdurch distanzierte sich die Argumentation bewusst von der dichotomen Sichtweise vieler Organisationsansätze und nahm eine bejahende Einstellung gegenüber Dualität – wie „Fremd- vs. Selbstorganisation“, „Zentralität vs. Dezentralität“ usw. – ein. Ergänzt wurde die Konfiguration um die Koordination von Plattformorganisationen. Analog zur Dualität von Stabilität und Flexibilität wurde den Überlegungen die Kontextsteuerung von Naujoks (1994) zugrunde gelegt, die eine Synthese von autonomer Selbstorganisation und verbindlichen Kontextvorgaben herbeiführt. Neben limitierenden, formalisierten Koordinationsinstrumenten, wie die Rahmenprogrammierung und das Schnittstellenmanagement, wurde insbesondere auf die Bedeutung einer Kulturarbeit zur gesteuerten Potenzialentfaltung modularer Teileinheiten hingewiesen. Diese unternehmensinterne Sichtweise wurde um die unternehmensübergreifende Dimension ergänzt, wobei vor dem Hintergrund der Branchen- und Umfeldfaktoren insbesondere auf die Organisation der Zuliefer- und Händlernetzwerke eingegangen wurde. Im Bereich des Zuliefernetzwerks wurde unter Berücksichtigung der zunehmenden Dekomposition der Wertschöpfungskette auf die verschiedenen Rollenbilder und deren Konfiguration eingegangen, wobei fokussiert die zunehmende Konfluenz von Hersteller und Zulieferunternehmen behandelt wurde. Im
216
Schlussbetrachtung
Vertriebsnetzwerk wurden organisatorische Auswirkungen der neuen GVO 1400/2002 analysiert und diskutiert. Ergänzt wurden die konfiguratorischen Überlegungen wiederum um den Koordinationsaspekt. Hierbei wurden vor dem Hintergrund der zunehmenden Beziehungsintensität die Anwendbarkeit und die Grenzen einer marktbasierten Koordination diskutiert. Komplettiert wurden die Überlegungen durch einen kritischen Diskurs des dominierenden, herstellermachtbasierten Kooperationsdesigns, um darauf aufbauend alternative informale Koordinationsmechanismen auf Basis sozialer Plattformen zu diskutieren.
(2)
Ausblick und Ansatzpunkte für weitere Forschungsbemühungen
Die Ausführungen der vorliegenden Arbeit sollten Ansatzpunkte zur erfolgreichen Begegnung mit den aktuellen und zukünftigen Herausforderungen der Automobilindustrie aufzeigen. Hierbei versteht sich die Arbeit keineswegs als ganzheitliches Lösungskonzept, sondern es geht vielmehr darum, die Vielschichtigkeit der Herausforderungen darzustellen und darauf aufbauend mögliche Lösungsansätze auf Basis einer integrativen Umfeld-Strategie-StrukturPerspektive zu erarbeiten.859 Das Erkenntnisziel einer umfassenden Hilfestellung für das Management erfordert daher abschließend eine Aufarbeitung der Implikationen der zentralen Erkenntnisse für die Führung von Automobilherstellern (a). Neben Implikationen für die Praxis bieten die breite Herangehensweise und die Aufbereitung einer Vielzahl von Themengebieten aber auch Ansatzpunkte für weitere Forschungsbemühungen. Eine Auswahl soll abschließend vorgestellt werden (b). (a) Implikationen für die Praxis: Vor dem Hintergrund der identifizierten Forschungsdefizite wurde bewusst ein ganzheitlicher, theoretisch-konzeptioneller Zugang zu automobilwirtschaftlichen Herausforderungen gewählt. Dieser versteht sich aber auch als Basis für eine kritische Reflexion aktueller Vorgehensweisen durch das Management, indem die theoretischkonzeptionelle Anreicherungsdichte als Impulsgeber für neue Ideen, Ansichten und Denkweisen des Managements dient. Angesicht der bisherigen Ausführungen sollen nachfolgend drei besonders relevante Implikation für die Führung zusammengefasst werden:
Ganzheitliche Sichtweise der Dinge: In den einleitenden Bemerkungen zu dieser Arbeit wurde insbesondere die ganzheitliche Sichtweise vieler Publikationen in der Automobil-
859
Vgl. hierzu auch Kirsch (2005): „Heute ist in erster Linie Aufgabe eines Ansatzes, die Vielfalt in der Wissenschaft und Praxis anzuerkennen. Nicht die Bändigung der Vielfalt, sondern die Möglichkeit ihrer Bejahung steht im Vordergrund“ (Kirsch (2005), S. 275).
Schlussbetrachtung
217
wissenschaft vermisst. Auch in der Praxis führt ein Aktionismus prima facie zu Einzelmaßnahmen, die nicht der Vielschichtigkeit der Herausforderungen gerecht werden. Im Rahmen der Überlegungen zu den strategischen Programmen wurde daher der ausgeprägten Produktorientierung die Kundensicht als alternative Betrachtungsperspektive zur Seite gestellt. Die einseitige Wachstumsorientierung wurde auf ihre Auswirkungen hin untersucht und ergänzt. Im Bereich der Organisation scheint das durch Chandler (1993) identifizierte Problem der 20er-Jahre des letzten Jahrhunderts – „structure was forgotten for strategy“ (Chandler (1993), S. 122) – von General Motors in der modernen Automobilindustrie seine Renaissance zu erfahren. Bereits Pries (1999a) stellte den klassischen Konzern als Organisationsform der Automobilhersteller in Frage, 860 weiterführende Überlegungen fanden aber bislang kaum statt. Die theoretische Konzeptionierung der Idee der Plattformorganisation erfolgte daher bewusst theoriegeleitet, um dem Management Perspektiven und Ansatzpunkte jenseits des tradierten Vorgehens aufzuzeigen. Insbesondere die dualistische Sichtweise von Stabilität und Flexibilität bietet hierbei zusätzliche Impulse neben der bisherigen Konzentration auf die Netzwerkorganisation. Die Arbeit bietet eine Vielzahl von weiteren Ideen zur praktischen Konkretisierung, wobei allen eine ganzheitliche Sichtweise gemein ist.
Bedeutung weicher Steuerungsinstrumente: Im Rahmen der Koordinationsüberlegungen wurde testiert, dass weitreichende Defizite mit dem „„weichen“ Kulturthema [in] der auf Technologie und Effizienz getrimmten Automobilindustrie“ (Hab & Wagner (2006), S. 265, Anm. A. R.) existieren. Aufbauend auf diesem Defizit entwickelte die Arbeit Ansatzpunkte einer Kulturarbeit für Automobilunternehmen. Auf Unternehmensebene wurde dem Management empfohlen, die Kultur nicht nur im Sinne der Corporate Culture als einheitliches, koordinierendes Instrumentarium zu sehen, sondern vielmehr die Vielfalt organisationaler Sub- und Kontextkulturen zur kulturellen Anregung zu nutzen. Auch auf Netzwerkebene wurde die Bedeutung informeller Koordinationsmechanismen hervorgehoben. Hierbei sollte das Management insbesondere für zwei Aspekte sensibilisiert werden. Durch die Möglichkeit der Koordination auf Basis sozialer Plattformen wurde zunächst gezeigt, dass die negativ empfundene interorganisationale Abhängigkeit auch positiv zur Koordination genutzt werden kann. Zudem wurde das tradierte Machtbild der Automobilunterneh-
860
Vgl. Pries (1999a), S. 71.
218
Schlussbetrachtung
men kritisch hinterfragt, um ein realitätskonformes Überdenken bei der Führung von Automobilunternehmen zu initiieren.
Überdenken des tradierten Beziehungsverständnisses: Betrachtet man die HerstellerZulieferer- und Hersteller-Händler-Beziehungen, so basieren diese grundlegend auf der Annahme der Herstellerdominanz und damit einer asymmetrischen Machtverteilung. Die Analyse der einzelnen Beziehungen zeigte aber, dass aufgrund der zunehmenden Kompetenzverlagerung auf die Zulieferindustrie und der sich wandelnden Rahmenbedingungen im Vertrieb eine zunehmende Homogenisierung der Machtverhältnisse zu Lasten der Hersteller zu erkennen ist. Ein Festhalten an einer machtorientierten Zusammenarbeit ist daher nicht nur beschränkt Erfolg versprechend, sondern vermindert sogar das Beziehungspotenzial. Reindl (2005a) hält hierzu im Rahmen seiner empirischen Analyse der Macht in automobilwirtschaftlichen Vertriebssystemen fest: „Auf der Grundlage der Untersuchungsergebnisse bedeutet dies, dass Hersteller und Importeure in Zukunft von der bislang verfolgten Strategie des Einsatzes sanktionierender Machtmittel Abstand nehmen müssen.“ (Reindl (2005a), S. 283)
Für das Management der Hersteller bedeutet dies ein kritisches Überdenken der aktuellen Beziehungsauffassung. Die Ergebnisse der Arbeit deuten vielmehr darauf hin, dass ein langfristiges, partnerschaftliches Agieren zum gegenseitigen Vorteil gereichen kann. Eine offene, vertrauensbasierte Beziehungskultur ist dabei Ansatzpunkt weiterer Führungsüberlegungen. (b) Weitere Forschungsbemühungen: Diese Arbeit versteht sich als eine systematische Gesamtsicht automobiler Zusammenhänge. Hierdurch ergibt sich quasi ex natura eine gewisse Breitenorientierung, weshalb eine Tiefenbetrachtung nicht in allen Aspekten erfolgen konnte. Es ist folglich auch wenig überraschend, dass eine Vielzahl von Themengebieten angerissen wurde, die durchaus für eine tiefere Betrachtung in Frage kämen. Ferner wurden Prämissen in den einleitenden Bemerkungen getroffen, wobei insbesondere die Perspektivenwahl und die Selektion entscheidende Restriktionen darstellen. In Hinblick auf die Methodik stellt die primär theoretisch-konzeptionelle Herangehensweise eine zentrale Einschränkung dar. Aus diesen relativierenden Anmerkungen ergeben sich lohnenswert erscheinende Fragestellungen für weitere Forschungsbemühungen. Im Folgenden sollen, strukturiert anhand der getroffenen Prämissen, besonders interessante Ansatzpunkte kurz thematisiert werden.
Hersteller- und Europaperspektive in der Arbeit: Die grundlegende Annahme einer gewissen Perspektive lässt freilich Freiräume, diese entweder auszuweiten oder auf einen ande-
Schlussbetrachtung
219
ren Betrachtungsfokus zu wechseln. Betrachtet man die bisherige Literatur zum StrategieStruktur-Zusammenhang, so erfolgt eine Analyse meist innerhalb einzelner Betätigungsfelder. Chandler (1993) analysierte in seinem wegweisenden Werk bspw. die Auswirkungen isoliert für die Automobilhersteller am Beispiel von General Motors. Folgt man jedoch der Argumentation der Arbeit und unterstellt eine zunehmende Konfluenz von ehemals unabhängigen Leistungspartnern, so erscheint eine Ausweitung der Strategie-StrukturBetrachtung auf eine unternehmensübergreifende Ebene durchaus lohnenswert. In der Automobilindustrie wäre eine erweiterte Betrachtung des Zusammenhangs und der Wechselwirkungen zwischen Automobilhersteller und Zulieferunternehmen aufgrund der zunehmenden Vernetzung durchaus eine genauere Analyse wert. Erste allgemeine Ansätze zu möglichen Implikationen liefern bspw. im Bereich der Modulstrategie von Wolters (1995) sowie allgemein auch von Wolf (2006) und Mattes et al. (2004). Eine fundierte, ganzheitliche Betrachtung der interorganisationalen Strategie-Struktur-Zusammenhänge zwischen Hersteller und Zulieferunternehmen fehlt aber bislang. 861 Neben der Perspektivenausdehnung scheint auch ein Perspektivenwechsel bzgl. des Betrachtungsobjekts durchaus reizvoll. So wurde die Thematik bewusst mit Fokus auf die Triade und hier insbesondere auf Europa bearbeitet. Die zunehmende Relevanz und Dynamik der Automobilmärkte in den BRICK-Staaten legt ein analoges Vorgehen für diese Märkte nahe. Hierbei ist jedoch anzumerken, dass aufgrund der hohen regionalen Unterschiede durchaus eine landes- oder regionsspezifische Betrachtung angemessen erscheint.
Holistische Herangehensweise der Arbeit und Selektionsprämisse: Mit den Teilgebieten der Strategie und Organisation von Automobilherstellern wurde ein sehr breites Forschungsfeld aufgespannt. Es war daher nötig, Selektionsentscheidungen zu treffen, um einen Kompromiss zwischen Vollständigkeit – bzw. vollkommener Konsistenz – und Erklärbarkeit – bzw. Verständlichkeit – herbeizuführen. Hierdurch war eine Betrachtung sämtlicher Themengebiete in einer ausschöpfenden Tiefe oft nicht möglich. Vor dem Hintergrund einer primär managementtheoretischen Forschungsorientierung erscheint insbesondere eine ganzheitliche, theoretisch-konzeptionelle Auseinandersetzung mit dem Management der Produktentwicklung in der Automobilwirtschaft lohnenswert. Bisherige Veröffentlichungen fokussieren meist Einzelaspekte der Produktentwicklung und bringen diese
861
Analoge Überlegungen lassen sich auch für den Zusammenhang zwischen Hersteller und Händler anstellen.
220
Schlussbetrachtung
nicht in den nötigen thematischen Gesamtzusammenhang. 862 Ferner ist die Herangehensweise an die Thematik bislang sehr ingenieurgetrieben, eine Betrachtung allgemeiner Managementaspekte und -konzepte fand bislang kaum statt. Neben dem Forschungsgebiet der Produktentwicklung ist in naher Zukunft auch eine erneute Auseinandersetzung mit automobilwirtschaftlichen Vertriebssystemen ex lege lohnenswert. Die kommende „GVO2010“ bedarf einer frühzeitigen Überprüfung der Implikationen für Hersteller und Händler zur Erarbeitung nachhaltiger Strategien im Vertrieb.863 Unabhängig davon besteht ein allgemeines Forschungsdefizit bzgl. einer strategie- und organisationsorientierten Auseinandersetzung mit Vertriebsnetzwerken, wie Reindl (2005a) feststellt: „Das Fehlen von innovativen Konzepten zum Management von Vertriebsnetzwerken in der Automobilwirtschaft bildet […] für sich genommen eine wissenschaftliche Herausforderung für die Restrukturierung der Vertriebsbeziehungen.“ (Reindl (2005a), S. 288, Herv. im Original)
Insbesondere die schlechte Umsatz- und Margensituation im Automobilhandel fordern eine grundlegende Überarbeitung veralteter Denkmuster, Strategien und Organisationsstrukturen im Vertrieb. Vor dem Hintergrund der geforderten Kundenorientierung identifiziert Reindl (2005a) ferner Defizite in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit „lernenden Vertriebsnetzwerken“ in der Automobilindustrie.864 Die vorliegende Arbeit liefert verschiedene Ansatzpunkte für weitere Forschungsbemühungen in diesem Bereich.
Theoretisch-konzeptionelle Herangehensweise: Im Hinblick auf die Methodik kann die grundsätzlich fehlende empirische Validierung beanstandet werden. Im Bereich der strategischen Programme könnten bspw. empirische Analysen reizvoll sein, die den Zusammenhang zwischen Programmkomplexität und Auslagerungsumfang untersuchen. Auch der Zusammenhang zwischen beobachtbarer Wertschöpfungsdekomposition und tatsächlicher Kompetenzverlagerung erscheint einer genaueren Betrachtung wert. Einen umfassenden Ansatz zur Kompetenzmessung liefert dabei Fitzek (2002). Im Bereich der Organisation bedarf es zu einer weiteren Konkretisierung der Idee der Plattformorganisation auch einer empirischen Validierung. Bislang wurden Auswirkungen der Modularität auf die Organisation primär im interorganisationalen Kontext untersucht. So betrachten Fixson et al. (2005) den Zusammenhang von Modularität und Outsourcing und auch Schilling & Steensma
862 863
Vgl. hierzu beispielhaft die Veröffentlichungen von Lührig (2006) und Wangenheim (1998). Vgl. hierzu auch Weller (2006): „Eine große Herausforderung ist das Thema „Kfz-GVO 2010“. Wir sind gut beraten, wenn wir uns frühzeitig mit dieser wichtigen Frage der künftigen rechtlichen Rahmenbedingungen für den Kraftfahrzeugsektor befassen“ (Weller (2006), o. S.).
Schlussbetrachtung
221
(2001) verwenden den Begriff der modularen Organisation in einer interorganisationalen Perspektive bei ihrer Industrieanalyse. Erste Ansatzpunkte einer intraorganisationalen Analyse liefert Hoetker (2006), wobei auch hier eher ein netzwerk- anstelle eines plattformorientierten Zugangs zur Modularität gewählt wird. Neben interorganisationalen Aspekten der Modularität erscheint daher, insbesondere vor dem Hintergrund der in dieser Arbeit theoretisch-konzeptionell hergeleiteten Inhalte, eine vertiefende, empirische Auseinandersetzung mit den intraorganisationalen Auswirkungen lohnenswert. Die Annahme der hohen Differenz lässt bspw. die Messung der Spezialisierungs- und Koordinationsmaße, die hohe Bedeutung informeller Koordinationsinstrumente wie die Unternehmenskultur, aber auch die Erhebung von Formalisierungsmaßen interessant erscheinen. Zielsetzung der Arbeit war es, durch eine ganzheitliche Betrachtung das Defizit eines mangelnden integrativen Forschungsansatzes im Bereich der Automobilindustrie zu verringern und hierdurch eine umfassende Hilfestellung für das Management von Automobilherstellern zu generieren. Aufbauend auf diesem dualen Ansatz von Theorie und Praxis verstehen sich skizzierte Optionen einerseits als Anregung für weitere Forschungsbemühungen, andererseits als Impuls für die Praxis, sich tiefer gehend mit einzelnen Gebieten auseinanderzusetzen.
_______________________________________________________________________________________ 864
Vgl. Reindl (2005a), S. 290f.
Literaturverzeichnis
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