Szenische Metaphysik 3465043871, 9783465043874

Die Frage der Philosophie des 20. Jahrhunderts war: Wie sind wir Menschen in unserer Welt situiert? In Bewußtseinsformen

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German Pages 152 [153] Year 2019

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Impressum
Inhalt
Vorbemerkung
I. Im tonalen Zentrum
II. Anmutungen
III. Szenische Ikonologie
IV. Vom Bildakt zum Bildverlust
V. Orientierung
VI. Selbsttriangulation
VII. Europa
VIII. Lebensrätsel
IX. Von der Haltung zur Situation
X. Situationslogik
XI. Von der Situation zum szenischen Gesetz
XII. Von der Szene zur Kommunikation
XIII. Von der Kommunikation zur Gewalt
XIV. Gewalt und Glück
XV. Moralstolz
XVI. Dissimulatio sui
XVII. Die Achensee-Frage
XVIII. Phänomenologie der Transzendenz
XIX. Erblindete Moderne
XX. Fortsetzung der Aufklärung
XXI. Codatierung
Nachwort
Personenregister
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Szenische Metaphysik
 3465043871, 9783465043874

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Wolfram Hogrebe  Szenische Metaphysik

Wolfram Hogrebe Szenische Metaphysik

RoteReihe Klostermann

RoteReihe Klostermann

Wolfram Hogrebe ist Professor emeritus für Philosophie an der U­ niversität Bonn und Mitglied zahlreicher wissenschaft­ licher A­ kademien. Von 1999–2002 war er Präsident der Deutschen ­Gesellschaft für Philosophie. Buchpublikationen zuletzt u. a.: M ­ etaphysische Einflüsterungen (2017), Philosophischer Surrea­lismus (2013), Der implizite Mensch (2013).

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Die Frage der Philosophie des 20. Jahrhunderts war: Wie sind wir Menschen in unserer Welt situiert? In Bewußtseinsformen, wie Husserl eindringlich analysierte, in Sprachspielen, wie Wittgen­ stein dachte, oder in einem vorgängigen Seinsverstehen, wie ­Heidegger empfahl? Wolfram Hogrebe faßt diese Antworten in dem zusammen, was er szenisches Existieren nennt. Dieses gründet in Vorfindlichkeiten, in denen wir uns aus einer anonymen Klanglich­ keit empfindlich ›getönt‹ erfahren heraus. In diesem neuen Buch präzisiert Wolfram Hogrebe das Projekt seiner szenischen Metaphysik in historisch belehrten, facetten­ reichen Ausdifferenzierungen, um mit dem Plädoyer für eine neue Aufklärung zu enden, die als Programm für unsere Zeit verstanden werden darf.

Wolfram Hogrebe  ·  Szenische Metaphysik

Wolfram Hogrebe

Szenische Metaphysik

KlostermannRoteReihe

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Originalausgabe © Vittorio Klostermann GmbH · Frankfurt am Main 2019 Alle Rechte vorbehalten, insbesondere die des Nachdrucks und der Übersetzung. Ohne Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Werk oder Teile in einem photomechanischen oder s­ onstigen Reproduktionsverfahren oder unter Verwendung elektronischer ­Systeme zu verarbeiten, zu vervielfältigen und zu verbreiten. Gedruckt auf Eos Werkdruck von Salzer, alterungsbeständig  ISO 9706 und PEFC -zertifiziert. Satz:  post scriptum, Vogtsburg-Burkheim Druck und Bindung: docupoint GmbH, Barleben Printed in Germany ISSN  1865-7095 ISBN  978-3-465-04387-4

Inhalt Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

I. Im tonalen Zentrum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9



II. Anmutungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16



III. Szenische Ikonologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22



IV. Vom Bildakt zum Bildverlust . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30



V. Orientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35

VI. Selbsttriangulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 VII. Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 VIII. Lebensrätsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53

IX. Von der Haltung zur Situation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56



X. Situationslogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61



XI. Von der Situation zur szenischen Existenz . . . . . . . . . 66

XII. Von der Szene zur Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . 71 XIII. Von der Kommunikation zur Gewalt . . . . . . . . . . . . . 77 XIV. Gewalt und Glück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 XV. Moralstolz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 XVI. Dissimulatio sui . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 XVII. Die Achensee-Frage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 XVIII. Phänomenologie der Transzendenz . . . . . . . . . . . . . . . 112 XIX. Erblindete Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 XX. Fortsetzung der Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 XXI. Codatierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147

Vorbemerkung Der Text dieses Buches wurde 2017/2018 geschrieben. Wieder war ein Aufenthalt als Fellow des Exzellenzclusters Bild Wissen Gestal­ tung (Humboldt-Universität zu Berlin) eine stimulierende Etappe bei der Konzeption und Niederschrift. Horst Bredekamp, seinen Mitarbeitern Sabine Marienberg und Pablo Schneider, sei abermals für ihre akademische Gastfreundschaft gedankt. Meine Gesprächspartner Gerd Giesler und Jörg Baberowski möchte ich ebenso wieder dankbar nennen. Jaroslaw Bledowski hat mir erneut bei der Einrichtung des Manu­ skripts geholfen. Besonders dankbar bin ich Peter Trawny für seine minutiösen Korrekturvorschläge, denen ich gerne gefolgt bin. Daß der Text dennoch an vielen Stellen zu knapp – wie Musiker sagen: nicht auskomponiert – verblieben ist, war schon immer für alles, was ich geschrieben habe, typisch. Aber lieber nur angedeutet, als gar nicht gedeutet. Gerade da, wo man sich in Zonen des Unteren unserer epistemischen Verfassung (franz. dessous de l’intelligibilité) bewegt, ist diese Deutungsnot auch gar nicht verwunderlich. Düsseldorf, im Frühjahr 2019

Wolfram Hogrebe

Je ne peux plus parler qu’à travers ces fragments pareils à des pierres qu’il faut soulever avec leur part d’ombre Sprechen kann ich nur noch durch Fragmente, Steinen gleich, die man hochheben muß mit ihrer Schattenseite Philippe Jaccottet1 Jeder Text muß dafür Buße tun, daß es ihn gibt. Odo Marquard2

I.  Im tonalen Zentrum Der letzte Schlag eines ausklingenden Glockengeläuts hat nichts Bedrohliches, nichts Schmerzliches, sondern etwas unerwartet Sachtes: als ob er vor der nun einsetzenden Stille zärtlich das Knie beugt: »Etwas Sanftes deutet sich an (Il s’insinue une douceur)«.3 Hier hat man den wechselseitig kündenden Kontrast zwischen Kultur und Natur. Kultur ist das verklingende Geläut, Natur die angekündigte Stille. Wir brauchen beides, um zivilisiert zu bleiben. Wir sind daher in umgekehrter Verschränkung: Natürlich tonal, aber nur kulturell beides, tonal und atonal. Das szenische Format menschlichen Denkens ist, wie Musik­theo­ retiker sagen würden, normalerweise, will sagen: naturaliter, tonal. Pensées sous les nuages, Paris 1983; Gedanken unter den Wolken, trad. Elisabeth Edl / Wolfgang Matz, Göttingen 2018, p. 46/47. 2 Ders., Sprachmonismus und Sprachpluralismus in der Philosophie, in: ders., Skepsis in der Moderne. Philosophische Studien, Stuttgart 2007, p. 82 3 Philippe Jaccottet, Gedanken, op. cit., p. 64 sq. Ähnlich schon Jacob Böhme (Mysterium Magnum 5, 17 sq.). Cf. dazu Tünde Beatrix Karnitscher, Die Suche nach der ›Stille‹ im ›grob und thierischen‹ Schall. Klang bei Jacob Böhme, in: Claudia Brink / Lucinda Martin (eds.), Grund und Ungrund. Der Kosmos des mystischen Philosophen Jacob Böhme, Dresden 2017, pp. 130– 139, hier p. 131: Der verklingende Schall ist »ganz ›sanfte, lieblich und subtile‹, so daß die irdischen Geschöpfe dies ›gleichsam wie eine Stille‹ empfinden«. 1 Ders.,

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Warum? Zunächst gilt für solche Überlegungen mit Odo Marquard: »Philosophie ist – frei nach Clausewitz – die Fortsetzung der Musik unter Verwendung anderer Mittel.«4 Wenn das zutrifft, dann sind auch in der Philosophie rätselhafte Klänge der Gegenwart stets bezogen auf eine erinnerte, zumeist anonyme Tonika (was war, was ist, was sein wird) im Selbstklang unserer Existenz (der sound of being). Durch diesen Bezug bleibt unsere Gegenwart auf ein tonales Zen­ trum hin einigermaßen stabil, aber getönt. Was als ihre Basis, also als ihre Voraussetzung erscheint, ist in dieser Funktion, aber nur in dieser, also nicht absolut, zugleich statisch. Beides macht die Struktur des Szenischen aus, denn diese Struktur terminiert individuell aus quasi statischen Voraussetzungen (das musikalische Material) sofort in historischer Variabilität (das, was der Komponist, der Mensch aus diesem Material macht). Musikalische Verhältnisse helfen manchmal der Erkenntnistheorie. Musik erreicht darüberhinaus jeden schon aus einer Stille (σιωπή), die keine Töne als auslösende Reize enthält. Es gibt nicht nur Leerintentionen (Husserl), sondern auch Leerwahrnehmungen, die die Persistenz unserer Wahrnehmungsbereitschaft absichern. In diesem Sinne werden dann auch ›involutionary musical imageries‹ genauso möglich wie eine ›mémoire involontaire‹ (Proust). So rätselhaft dies alles ist, genau hier ist eine Wandelbarkeit unserer personalen Struktur beschlossen, die wir in Lernprozessen in Anspruch nehmen ­müssen. So gibt es Szenen, in denen einem Beteiligten eine tiefgreifende, ja seine ganze Person erfassende Wandlung widerfährt, und es bleibt doch die Variation desselben. Eine der berühmtesten Szenen dieser Art ist die bekannte und sprichwörtlich gewordene Konversion von Saulus zu Paulus (ca. 10–60) auf seinem Weg nach Damaskus.5 Von einer ähnlichen Szene berichtet Justinos (ca. 100–165). In seinem durchaus literarischen Dialog mit Tryphon (ca. 156) schildert er, wie er dazu kam, sich aus dem widerstreitenden Geflecht der griechischen Philosophie zu befreien und sich der christlichen Lehre zuzuwenden.6 Eines Tages fasste er nämlich den Entschluß, seine Verwirrung durch die Philosophie ins Reine zu bringen, und zwar Odo Marquard, Musik in der Philosophie, in: ders., Individuum und Ge­ waltenteilung. Philosophische Studien, Stuttgart 2004, pp. 138–144, hier p. 138. 5 Apg. 9, 3–19; 22, 6–16; 26, 6–16. 6 Des heiligen Philosophen und Märtyrers Justinus Dialog mit dem Juden

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abseits von Menschen, in völliger Ruhe. So suchte er, wie so häufig in der Geschichte der Philosophie, einen einsamen Platz am Ufer des Meeres auf. Hier begegnete er zufällig einem ihm unbekannten und namenlos bleibenden alten Mann, mit dem er sich in ein Gespräch über den Nutzen der Philosophie für unsere Suche nach Glück einließ. Dessen besonnene und nicht auf Überredung angelegte Art öffneten Justinos die Augen und gewährten ihm die Chance eines umfassenden, ihn vollständig wandelnden Verstehens jenes Heils, das er bei den griechischen Philosophen nicht finden konnte. Solche Szenen tiefgreifender Wandlungen werden bis heute in Literatur, Kunst und Musik gestaltet, auch in Filmen inszeniert.7 Natürlich handelt es sich in den meisten Fällen nicht um so spektakuläre Wandlungen wie bei Paulus und Justinos, die gewiß extrem selten sein dürften. Dennoch sind wir alle in unseren Biographien auf statischer Basis in Wandlungstableaus eingelassen, die mit Erziehung, Ausbildung und Lebenserfahrung zu tun haben. Solche durchaus üblichen Wandlungen bestehen in der Regel in internen Veränderungen der Denkart, Weltsicht und Gefühle, wie sie für szenische Wesen, die in kollektive und individuelle Lernprozesse verstrickt, spezifisch, ja sogar wünschenswert, weil in Grenzen pfleglich erreichbar sind. Ihr Selbstverständnis sollte sich erproben und bewähren, um orientierungsfest und konziliant leben zu können. So bleibt es dennoch eine merkwürdige Tatsache, daß sich Interpreten der menschlichen Verfassung, zumindest bis Dilthey und Heidegger, immer schwer getan haben, das alltägliche und selbstverständliche Sich-Vorfinden in ihrer Umgebung, in unserem tonalen Zentrum also, wie es erprobten Orientierungsbemühungen noch vorausliegt, explizit zu machen. Philosophen neigen dazu, und zwar von Anfang an, mit sinnlichen Fertigkeiten, besonders mit Wahrnehmungsmodi wie Sehen, Wahrnehmen und Fühlen zu beginnen, um dann im Begrifflichen und seinen Operationen zu enden. Philosophen ignorieren das verklingende Glockengeläut und die erwartete Stille. So wurde auf dieser Schiene häufig übersehen, daß es kein Sehen, Wahrnehmen und Fühlen gibt, das nicht vorab schon eingeTryphon, trad. et ed. Philipp Haeser, Kempten  /  München 1917 (Bibliothek der Kirchenväter), pp. 4–12. 7 Cf. Andrea Gschwendtner, Bilder der Wandlung. Visualisierung charak­ terlicher Wandlungsprozesse im Spielfilm, Wiesbaden 2011.

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bettet wäre in ein Feld der Vorfindlichkeit, das für alle Wahrnehmungsmodi ein Mitgegebenes, ein Mitregistriertes bleibt, quasi die Tonika des Jetztklangs. Ein bewußtes Existieren ist ohne diese mitregistrierte statische Einbettung gar nicht möglich. Wir existieren in diesem Sinne auf dem Boden einer anonymen Tonalität, die unser ­tonales Zentrum bleibt. Ein sensibler Denker wie Hegel schaltet daher seiner Architek­ tur der elementaren Weltstellung rationaler Wesen, wie sie in seiner Wissenschaft der Logik Gestalt gefunden hat, dem Eintritt in unsere Vorfindlichkeit den formalen Korridor ihrer Fundierung ­voraus. Die Wesenslogik, die diesen Eintritt begreiflich macht, folgt erst auf die Seinslogik. Was in dieser, aus unserer Gesamtverfassung gespeist, deklariert wird, ist das, worauf alles Spätere angewiesen bleibt. Erst in einem zweiten Schritt wird also der Gehalt der Seins­ logik etwas anderes, nämlich erinnerte Substanz einer aufschäumenden Reflexivität, die sich der Wahrheit des Seins als tonales Wesen bemächtigt. Was der reflexiven Verfassung des Menschen vorhergeht, ist ja nur ein in ihr Expliziertes als nicht Explizierbares, das Sein nämlich, auf das jede Reflexivität angewiesen ist und bleibt. Erst in der Wesens­ logik also erreicht Hegel unsere Vorfindlichkeit, wie wir sie alltäglich samt ihrer Einbettung registrieren. Für Hegel wird die Wesens­ logik so die Membrane zwischen Seinslogik und Begriffslogik. In dieser Zwischenstellung übernimmt sie mithin die Aufgabe, eine formale Charakteristik der Situiertheit des Menschen anzubieten, die sich natürlich am Prüfstein unserer alltäglichen Vorfindlichkeit bewähren muß. Wir werden zwar in unsere Reflexivität hineingeboren, bleiben aber auf die Mitgift unserer begrifflichen Ausstattung ebenso angewiesen wie auf das Fundament unserer Situiertheit im Sein. Unser Bezug auf die ontologische Urtonika des Seins (Sein, Nichts, Werden) bleibt für menschliche Wesen das tonale Zentrum, in dem sich der fundamentale Erwartungscharakter unserer intelligiblen Existenz vorbegrifflich dokumentiert. Das in etwa meinte Marquard, als er die Philosophie als Fortsetzung der Musik mit a­ nderen Mitteln kennzeichnete. Alles dies gehört für Hegel allerdings zu einer bei ihm ausschließlich begrifflich verfaßten Architektur des Menschen. Nicht was wir mit Klängen machen, sondern ausschließlich mit Begriffen, ist hier entscheidend, also das, was Begriffe mit uns machen. Wir leben im Begriff, wir sind a limine im Begriff und eben deshalb muß der

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Begriff auch selbst als etwas Lebendiges aufgefaßt werden.8 In uns ist das Wort Fleisch und das Fleisch Wort geworden. Diese Sicht einer Biologie des Logos liegt Hegels Logik zugrunde und zeichnet ihren methodischen Einsatz vor. »Die Methode«, so Hegel, »ist der reine Begriff, der sich nur zu sich selbst verhält.«9 Das, was sich zu sich selbst verhalten kann, ist etwas Lebendiges. Insofern ist Hegels Logik eine spekulative Sonderform der Biologie, so ungern Hegel-Experten das hören mögen. Vorbild war ihm in dieser aparten Hinsicht Kant. Auch für ihn geht es in der Kritik der reinen Vernunft um eine »Vermehrung der Begriffe aus sich selbst«, »um die Selbstgebährung unseres Verstandes (samt der Vernunft), ohne durch Erfahrung geschwängert zu sein«.10 Falls nicht durch Erfahrung geschwängert, bleibt nur eine Selbstschwängerung übrig, und genau das behauptet auch Kant, »da die Vernunft in ihrem Schoße allein diese Ideen selbst erzeugt hat«.11 Eine solche Parthenogenese der begrifflichen Architektur des homo sapiens versucht Hegel in seiner Logik nachzuzeichnen. Wenn man sich nichts vormacht, ist diese rein interne Selbstgeburt und Selbstkreation poetischer oder, sauberer, das heißt musikalisch gesehen: harmonischer Art. Wir haben sonst kein Modell einer unüberhörbar endogenen Parthenogenese unserer Rationalität. Die menschliche Vernunft entstammt also nicht externen Verhältnissen, sondern hat sich quasi selbst kreiert, damit wir auch heute noch in ›exemplarischer Kontingenztilgung‹ poetische ›Welten gründen‹ können.12 Damit entfallen sämtliche externalistische Fremdgründungsversuche der Rationalität des homo sapiens. Ihrer eigenen poetischen Dignität nach kann sie strukturell nichts außer sich haben, das sie nicht selbst erzeugt hätte. Natürlich funktioniert das nur im Milieu eines Kontaktes mit durchschnittlichen Weltverhältnissen, aber auch diese gründen sich nur im Format einer autono8 Cf. Annette Sell, Der lebendige Begriff. Leben und Logik bei G. W. F. He­ gel, Freiburg  /  München 2013, hier Kap. IV, pp. 182 sqq. 9 G. W. F. Hegel, Werke, eds. Eva Moldenhauer / Karl Markus Michel, Bd. 6: Wissenschaft der Logik II, Frankfurt  /  M. 1969, p. 572. 10 Kant, Werke, ed. Wilhelm Weischedel, Bd. IV, Frankfurt  /  M. 1968, p. 649; KrV B 793, A 765. 11 KrV B 791, A 763. 12 So Ingo Meyer in Georg Simmels Ästhetik. Autonomiepostulat und so­ ziologische Referenz, Weilerswist 2017, p. 246; cf. dazu Wolfram Hogrebe, Duplex. Strukturen der Intelligibilität, Frankfurt  /  M. 2018, p. 98.

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men Selbstgründung als Fremdgründung. Gewiß sind das nur formelhafte Umschreibungen unserer begrifflichen Selbstvermehrung, wie sie Kant und Hegel vor Augen stand. Dennoch scheint bei beiden Denkern etwas zu fehlen. Die Kontaktqualität des Fremden im Eigenen bleibt irgendwie unterbestimmt. Hier wirkt sich die strangulierende Erbschaft des Empirismus aus, bei Kant mehr, bei Hegel weniger. So gelingt es beiden nicht, den szenischen Charakter unseres primären Weltkontaktes herauszuarbeiten. Bei Kant verdampft er in apriorischen Anschauungsformen, bei Hegel in setzender, äußerlicher und bestimmender Reflexion. Kant etabliert eine Welt der Erscheinung, Hegel immerhin eine Welt des Scheins. Diese besteht darin, daß sie im Kuß der Reflexivität die ontologische Tonika, zunächst also das Sein ins Nichts transformiert. Was ­außer uns gesetzt war, wird daher im Schein zwar gerettet, quasi endogenisiert, aber um seine ontologische Potenz gebracht. Im Medium des Reflexiven bleibt nichts so, wie es ist, sondern geht in der »Bewegung von Nichts zu Nichts« unter,13 gewinnt jetzt aber immerhin im reflexiven Charakter den neuen Status eines Gesetztseins. In diesem Format werden Seinsverhältnisse, also die komplette onto­logische Tonika, zwar ›aufgehoben‹, aber uns gutgeschrieben. Soll und Haben treten auseinander. Solche Umbuchungen sollten sich später bei Nietzsche rächen. Er wollte unsere ontologische Tributpflichtigkeit an das tonale Zentrum wieder restituieren. Dieses Drama einer Phänomenalisierung der Ontologie wird von Hegel jedenfalls nicht eben zwingend vorgeführt, im Wesentlichen, wie so häufig bei ihm und hier auch, nur deklariert. Dennoch hat er das Verdienst, die Membrane zwischen Sein und Begriff eigens akzentuiert zu haben. Hier muß eine Analyse der szenischen Existenz des Menschen einsetzen und sie hat es, zumindest im Ansatz, mit Husserl auch getan. Schon in seinen Ideen nennt er unsere szenische Verfassung eine »natürliche«, ja »personalistische Einstellung«: »in der wir allzeit sind, wenn wir miteinander leben, zu­einan­der sprechen, einander im Gruße die Hände reichen, in Liebe und Abneigung, in Gesinnung und Tat, in Rede und Gegenrede aufeinander bezogen sind.«14 Auf dieser szenischen Basis, die

Logik II, op. cit., p. 25. Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und Phänome­

13 Hegel, 14

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für uns unhintergehbar ist, ruht die Gemeinschaft15 aller Menschen auf, in Eintracht und Einmütigkeit, aber auch in Zwist und Zank, in Zuwendung und Aggression. Diese ambivalente Gemeinschaftlichkeit, Geschwistern und Freunden alltäglich wohlbekannt, geht jeder Gesell­schaft, ihrem rechtlichen Reglement und ihren Abstimmungen vorher, nicht etwa ein stilisierter Krieg aller gegen alle. Auch alle Thematisierungen unserer Weltverhältnisse zehren von dieser Basis und können nur »durch Abstraktion oder vielmehr durch eine Art Selbstvergessenheit«16 ins Klare gebracht werden, bezahlen ihre Vorteile an Klarheit aber mit dem Verlust phänomenaler Gehalte: »Wer überall nur Natur sieht, Natur im Sinne und gleichsam mit den ­Augen der Naturwissenschaften, ist eben blind für die Geistessphäre, die eigentliche Domäne der Geisteswissenschaften.«17 In diesem Bezirk unseres szenischen Existierens sind uns sinnliche Erfahrungen in eigentümlicher Weise, wie Husserl sagt, originär, d. h. nicht hintergehbar, gegeben. Der Klang der Geige ebenso wie ihre Form und Gestalt, überhaupt alles Beeindruckende, Nützliche, Dienliche und Bildliche.

nologischen Philosophie, Zweites Buch, ed. Marly Biemel, Husserliana Bd. IV, Haag 1952, p. 183. 15 Cf. Edmund Husserl, Ideen II, op. cit., p. 182. Im Hintergrund meiner Sicht steht hier natürlich Ferdinand Tönnies. Zur kritischen Würdigung von Tönnies durch Plessner und dann durch Lethen cf. Ingo Meyer, Georg Simmels Ästhetik. Autonomiepostulat und soziologische Referenz, Weilerswist 2017, p. 288 sq. Wie von hier aus Brücken zu einer sozialwissenschaftlichen Hermeneutik geschlagen werden können, zeigt Hans-Georg Soeffner, Auslegung des Alltags – Der Alltag der Auslegung. Zur wissenschaftlichen Konzeption einer sozialwissenschaftlichen Hermeneutik, Frankfurt  /  M. 1989, 2. Aufl. Konstanz 2004. Verwandt mit diesem Konzept ist auch Hans Ulrich Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik. Über die Produktion von Präsenz, Frankfurt  /  M. 2004. Mit Gumbrecht betritt man allerdings Holzwege: Was soll denn »Produktion von Präsenz« heißen? Was er will, ist dies: vor lauter Diskursen wieder Anschluß an das zu gewinnen, was sich zeigt, an ein Vorfindliches, wie es in seiner vorkonzeptuellen Tiefe z. B. von Husserl thematisiert wird. Solche Präsenzerfahrungen werden aber nicht »produziert«, sondern stellen sich ein. 16 Edmund Husserl, Ideen II, op. cit., p. 183 sq. 17 Edmund Husserl, Ideen II, op. cit., p. 191.

II. Anmutungen Zur originären Gegebenheit von Klang und Bild gehört der oft übersehene Umstand, daß sie sich, wie alles szenisch Gegebene, von sich aus melden und vorstellen. Darin besteht ihre Anmutungsqualität. Hieraus hat der Kunsthistoriker Horst Bredekamp, auf den ich in den folgenden Kapiteln noch mehrfach zu sprechen komme, die Lizenz bezogen, gerade Bildern das Potential einer anmutenden Eigenaktivität zuzuschreiben. Er spricht hier geradezu von Bild­akten. Der Terminus ist von dem linguistischen Ausdruck Sprechakt (speech act) übernommen. Mit diesem wurde seit John Langshaw Austin und John Searle und schon vorher1 das Phänomen benannt, daß wir im Sprachgebrauch manchmal zugleich auch handeln, so wenn wir auf einen Namen taufen, Versprechen geben, auch wenn wir fluchen, jemanden beschwören etwas zu tun oder zu lassen etc. In diesem Sinne kann es natürlich keine Bildakte geben. Aber Bredekamp will etwas anderes akzentuieren: Daß nämlich Bilder nicht nur passive Gegenstände unserer Kontemplation sind, sondern von sich aus eine betörende und beeindruckende Wucht entbinden, die den Betrachter durchaus überraschen kann. Hier ist tatsächlich an dem Befund nicht vorbeizukommen, daß Bilder ein impressives Format haben, das uns gefangen nimmt oder kalt läßt, das uns anspricht oder uns nichts sagt, das uns erschreckt, empört oder auch nur langweilt. Für solche Effekte bietet Bredekamp in seinem Text ein überaus reiches, meist völlig überraschendes Anschauungsmaterial, eingebettet in sachaufschließende Interpretationen. An diesem impressiven Befund ist also nicht zu rütteln, und er wird ja auch nicht ernsthaft 1 Völlig übersehen wurden Hermann Cohens knappe, aber gehaltvolle Analyse. Sie beginnt mit dem monumentalen Satz »Das Sein des Sollens ist das Sein des Wollens« und dem Befund, daß es »ohne Sprache kein Wollen gibt«. Daher gilt für Cohen ebenso: »Wenn der Wille in der Handlung sich vollendet, so erkennen wir nunmehr, daß diese Vollendung in der Sprachhandlung sich vollführt.« (Hermann Cohen, Ethik des reinen Willens (1904), 3. Aufl. Berlin 1921, pp. 179 und 195 sq.).

II. Anmutungen

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bestritten. Die englische Ausgabe seines Buches endet mit den Sätzen: »Images are not passive. They are begetters of every sort of experience and action related to perception. This is the quintessence of the image act.«2 Kurz: Bilder sind als »begetter of every sort of experience« etwas durchaus Lebendiges, etwas Aktives. In ihrer Weise berühren sie unser tonales Zentrum unmittelbar. Daraus könnte man schließen, und etliche Interpreten schon der deutschen Ausgabe seines Buches3 haben es auch getan, daß Bilder in Bredekamps Konzeption erst »beseelt« werden müssen, um sie dann zu Akteuren werden zu lassen. Wenn man diese façon de parler nicht zu eng auffaßt, ist sie durchaus zulässig, zumal im Sinne eines Minimalanimismus. Immer wieder, ob bei Bildern, bei Texten der Dichtung oder Musikerfahrungen, aber auch bei Impressionen der natürlichen Kulisse, fragen wir uns ja nicht erst mit Heinrich Heine: Ich weiß nicht, was soll das bedeuten? Was will uns das sagen? So weit, so problemlos. Aber einige Kritiker Bredekamps haben ihm vorgeworfen, daß er mit seiner Theorie des Bildakts einen Rückfall in animistisches, »dingmagisches Denken« etabliert habe, einen Rückfall in »esoterisches« Denken, ja diese Bildversion sei Propaganda für einen »mystic turn in der Kunstwissenschaft«,4 wenn nicht gar für einen neuen »Okkultismus«.5 Hier ergibt sich indes auf Seiten solcher Kritiker ein erheblicher Belehrungsbedarf. In Ausdrucksräumen kommen wir nämlich gar nicht umhin, dem sinnlichen Datum als Eigenständigem Kredit zu geben, sonst gäbe es nicht einmal so etwas wie Zeichen. Der kritisierte Animismus ist also unschuldigerweise nur die Form, etwas für uns zum Gesprächspartner werden zu lassen, ist also Dokument unserer natürlichen Tonalität. Aber dieser Aspekt führt noch tiefer. Schon unsere sprachliche Verfassung empfiehlt eine Differenzierung zwischen diskursiven und evozierenden Verständigungsformen. Gerade eine evozierende façon de parler ist eine erfragende Methode der Geisteswissenschaften, um den beredten Kontakt zu ihren Gegenständen wie Texten, Bildern und Klängen im Rahmen unseres szenischen Weltlebens Horst Bredekamp, Image Act, Berlin  /  Boston 2018, p. 283. Horst Bredekamp, Der Bildakt, Berlin 2010; 2. Aufl. Berlin 2015. 4 So Hanno Rauterberg in seiner Besprechung von Bredekamps Buch in: Die Zeit vom 9. Dezember 2010. 5 Cf. Beat Wyss, Renaissance als Kulturtechnik, Hamburg 2013, p. 145 sq. 2

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II. Anmutungen

herzustellen, über dessen Ergebnisse erst im Nachhinein diskursiv verhandelt werden kann. Was auf Satzebene dann wahr oder falsch sein mag, mußte thematisch, das heißt schon vorher, triftig, stimmig oder abwegig gewesen sein. Vielen Theoretikern der Geisteswissenschaften von Dilthey bis Husserl hat dieser Befund der Sache nach vorgeschwebt, aber prägnant gefaßt hat die Eigenart einer evozierenden Sprachattitüde als erster Georg Misch (1878–1965), Diltheys Schwiegersohn.6 Ihre zentrale Rolle für die Geisteswissenschaften sieht er darin, daß sie es »den Forschern ermöglicht, sich in das Leben des zu erforschenden Gegenstandes […] zu versenken«, denn nur in dieser Versenkung wird es den Gegenständen zugestanden, eigensinnig, d. h. »selbsthaft« zu sein, damit wir dann »diesen ihnen eigenen Sinn aufzuhellen [vermögen], ihn objektiv, d. h. wahr und getreu auszulegen«.7 Nur auf dem Boden eines solchen evokativen Herangehensweise können wir eine Selbstmeldung von Texten, Bildern, Klängen, von auch dann erst denkwürdigen Natureindrücken, gewissermaßen ›herausrufen‹ (evocare). Wir warten dann auf Antworten, die sie bzw. das Milieu uns selber geben müssen. Wir sind nur die getreuen Repetitoren solcher Meldungen: »Das Evozieren will die Gegenstände selber sprechen lassen, d. h. es will die Gegenstände, die ihr eigenes Selbst haben, zur Aussprache ihrer Meinung von sich selber bringen.«8 Das hat Georg Misch korrekt gesehen. Hier bedarf es keiner animistischen oder magischen Beseelung, da jeder Verstehensprozeß ohne die genannte Versenkung in den Gegenstand, ohne den dieser sein Eigenes verlöre, gar nicht starten könnte. Die Kritiker eines vermeintlichen Bildanimismus in der Theorie des Bildakts sehen nicht, daß es ohne diese evozierende Attitüde überhaupt keine Gesprächspartner für 6 Cf. hierzu Käte Meyer-Drawe, Die Wahrheit des getreuen Ausdrucks (Georg Misch). Zur rätselhaften Macht der Sprache, in: Renate Breuninger (ed.), Theorie der Schule aus philosophischer und pädagogischer Sicht. Zum Verständnis der Bildung in einer veränderten Welt, Ulm 2018, p. 9–25; treffend ihr Satz (p. 19): »Das neuzeitliche Erbe, die Bestattung einer affizierenden Welt, lastet schwer.« 7 Georg Misch, Der Aufbau der Logik auf dem Boden der Philosophie des Lebens. Göttinger Vorlesungen über Logik und Einleitung in die Theorie des Wissens, eds. Gudrun Kühne-Bertram / Frithjof Rodi, Freiburg  /  München 1994, p. 537. 8 Georg Misch, Der Aufbau, op. cit., p. 561. Zum Gesamtkontext cf. hier Kap. VIII, II: Die Tragweite der Evokation in Metaphysik und Wissenschaft, op. cit., p. 524 sq.

II. Anmutungen

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uns gäbe. Das hat mit irgendeiner Art »mystic turn« nichts zu tun, sondern dokumentiert nur unsere sonst rätselhafte dialogische Fähigkeit, die schon in alle Außenwendungen unserer vernehmenden Sensibilität eingebaut ist; und zwar in Fragen wie »Was will mir das sagen?« Oder auch: »Was soll das bedeuten?« Deshalb setzt Husserl in seinen Analysen zur passiven Synthesis diese Form unseres Außen­bezugs auch von aktiven Stellungnahmen ab. Was uns aus einer Sphäre des Nichtwissens zunächst entgegentritt, nennt er treffend eine Seinsanmutung: »das besagt, daß vom Gegenstand her die Affektion ausgeht, daß er sich […] dem Ich als seiend anmutet.«9 Was der Gegenstand in dieser Erfahrung affektiv, also darüber hinaus, daß er bloß ist, bedeutet, bleibt für Husserl zunächst nur eine »anmutliche Möglichkeit«, die in einer Antwort auf die Heine-Frage entschieden werden müßte. Zunächst geht also die ganze Sphäre »des Anmutlichen« dieser Ebene der Entscheidungen vorher, denn solche Entscheidungen dokumentieren sich in urteilenden Stellungnahmen. Indes: »Nicht immer nimmt das Ich in diesem prägnanten Sinn urteilend Stellung. Wenn es schlicht wahrnimmt, gewahrend bloß erfassend, was da ist und was sich von selbst [sic] in der Erfahrung herausstellt, dann ist […] kein Motiv für eine Stellungnahme da.«10 Hier erkennt man, daß die impressive Aktivität von Bildern gar kein Sonderphänomen ist, das sich ein Kunsthistoriker ausgedacht hat, sondern aus Zonen einer anmutenden Welt einen universalen Tatbestand belegt, der für alle Wahrnehmungen gilt: Bildakt ist eben auch Dingakt. Entgegen der europäischen Tradition ist jede repraesen­tatio natürlich auch vordem schon praesentatio.11 Alles Wahrgenommene verlangt vor seiner Interpretation den Status eines esse in actu, selbst wenn die actualitas in beiden Fällen anschließend gesondert zu spezifizieren ist. Im gesamten abendländischen Denken behauptet sich zudem die Stellung des Bildes natürlich aus der biblischen Festlegung, daß der Mensch ein Bild Gottes (imago dei) sei. Hiernach ist ein Bildakt sogar ein Gottesakt. Solche Über9 Edmund Husserl, Analysen zur passiven Synthesis. Aus Vorlesungen und Forschungsmanuskripten 1918–1926, ed. Margot Fleischer, Husserli­ ana Bd. XI, Den Haag 1966, p. 42. 10 Edmund Husserl, Analysen, op. cit., p. 53. 11 So teilt Lao Zhu (Peking University) Horst Bredekamp mit Mail vom 6. Februar 2018 mit: »From the view of the art history of China, the image is not merely considered as ›representation‹.«

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höhungen sind für eine heutige Kunstwissenschaft natürlich nicht erforderlich, um die Eigenständigkeit der Bilder abzusichern. Aber sie erinnern an Ursprünge, die uns immer noch zu denken geben. Im Bild wird etwas offenbar, was anders nicht offenbar werden könnte. Insofern sind gerade Bilder Zeugen unserer szenischen Existenz. Der Boden unserer Vorfindlichkeit, der so schwer zu greifen ist, macht die tiefgehenden Wurzeln unserer szenischen Existenz besonders deutlich. Noch vor unseren Einstellungen und Identifikationen finden wir uns in einer Kulisse vor, die man in elementarer Weise dem Modus eines Für-uns (pour-soi) zurechnen muß. Zu diesem Für-uns gibt es kein An-sich (en-soi). Genauer: Natürlich gibt es ein An-sich, aber nur als Kontrastprogramm im Für-uns unserer szenischen Existenz. Denn nur im Für-uns ist Täuschung möglich. Es scheint so-und-so zu sein, aber faktisch, will sagen, an sich, verhält es sich wohl doch anders. Jean-Paul Sartre hat diesen Befund dahingehend ausgedrückt, daß das An-sich, das im »Auftauchen des Für-sich verschlungen und vernichtet wird, […] im Inneren des Fürsich als ursprüngliche Kontingenz [erhalten bleibt]«.12 Das klingt unverständlich, also sehr philosophisch, will aber nur besagen: In unserer szenischen Existenz (Für-sich) bleibt der Sache nach ein An-sich als ihre Kontingenz erhalten. Es gibt nichts, woher wir unsere szenische Existenz plausibel machen könnten. Sie ist einfach da und wir finden uns in ihr vor. Das thematische An-sich gibt es dann nur als Kontrastprogramm, wie schon ausgeführt, im Rahmen eines täuschungs­anfälligen Für-sich.13 Die Frage bleibt nur: Wieso können wir diese Verhältnisse überhaupt formulieren, woher wissen wir von ihnen? Hier bleibt auch Sartre nur ein Rückgriff auf ein präreflexives Bewußtsein, das für uns zwar keine Informationsquelle ist, aber doch eine Übersicht über alle Arten des Gegebenseins von Informationen möglich macht. Darauf können wir wohl kaum verzichten. Aber ungeklärt sind diese Stufungen dennoch bis heute.

Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologi­ schen Ontologie (1943), trans. Justus Streller / Karl August Ott / Alex Wagner, Hamburg 1970, p. 135. 13 Auch Sartre gibt zu, daß unsere façon de parler über ein An-sich schwierig ist, ja »daß der Ausdruck An-sich, den wir der Tradition entlehnt haben, um das transzendente Sein zu bezeichnen, sinnentstellend ist«. (Das Sein, op. cit., p. 128). 12

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Die schon von Husserl herausgestellte Vorgängigkeit unserer natürlichen Weltstellung in Formen uninterpretierter Synthesis erlaubt es uns eigentlich nicht mehr, auf dem Niveau von Verhaltensweisen wie Stellungnahmen oder Haltungen eine Interpretation unseres Weltverhältnisses zu starten. Indes: Was schon im Ansatz defizitär ist, braucht es nicht auf Dauer zu sein. Was am Anfang nicht korrekt gelagert ist, kann dennoch auf Dauer eine Rendite erbringen, mit der wir nicht gerechnet hatten. Das geschieht in der Philosophie sehr häufig. Die Tradition des Empirismus ist im Ansatz sicher defizitär, erreicht aber jeweils in der konkreten Durchführung dennoch wichtige Ergebnisse, die wir nicht missen möchten, sofern sie anschlußfähig an Befunde unserer szenischen Existenz sind wie schon Bilder.14

14 Cf. zur folgenden Passage meine frühere Version Szenische Ikonologie. Das Berliner Paradigma, in: 23 Manifeste zu Bildakt und Verkörperung, eds. Marion Lauschke / Pablo Schneider, Berlin  /  Boston 2018, pp. 159–164.

III.  Szenische Ikonologie Der Ausdruck Szene stammt aus dem Griechischen. Das Wort Skene (σκηνή), verwandt mit skia (σκιά, Schatten), bedeutet als »Schatten­ raum« ursprünglich Zelt, Hütte, Bühne. Prominent wurde der Ausdruck in der griechischen Theatersprache. In dieser Focussierung ging er auch ins Lateinische über und bedeutet hier zunächst als scaena Bühne, Schauplatz, Öffentlichkeit, Publikum, Spiel. Schon im Lateinischen kam es zu einer weiteren Einengung. Scena, wie man jetzt schrieb, fungierte nicht mehr nur als Bezeichnung der Bühne, sondern geradezu als dramaturgischer Begriff.1 Szene bedeutet jetzt eine Einheit der Gesamthandlung, die ihrerseits als kunstvoll aufgebaute Szenenfolge, gruppiert um eine Schlüsselszene, verstanden wurde. Von hier aus kam es im Laufe der Zeit zu weiteren Übertragungen. Der Begriff des »Szenischen«, engl. scenic, eignet sich ja besonders gut, um kontextsensitive Prozesse zu erfassen. So unterschied Otto Ludwig (1813–1865) ein bloß referierendes von einem szenischen Erzählen, das heißt ein solches, bei dem der Erzähler den Adressaten ebenso wie zugleich sich selbst als Autor mit einbezogen sein läßt. Dadurch gewinnt die Erzählung eine eigene Autonomie, »hier erzählt die Geschichte sozusagen sich selbst«.2 Der wirkungsmächtigste Durchbruch gelang jedoch erst dem Psychoanalytiker Alfred Lorenzer (1922–2002). Ähnlich wie Otto Ludwig erkannte er die eigentümliche Autonomie des Gesprächs zwischen Arzt und Patienten und führte den Ausdruck ›szenisches

1 Heinrich Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, München 1960, § 1191. In diesem Sinne benutzt dann prägend Julius Caesar Scaliger den Ausdruck scena als elementaren Teil einer Handlung (πράξις). 2 Otto Ludwig, Formen der Erzählung, in: ders., Epische Studien (Werke in sechs Bänden), Bd. 6, Leipzig [1908], p. 437. Hierzu cf. Oskar Walzel, Das Wortkunstwerk, Leipzig 1926, repr. Darmstadt 1968, p. 198  sqq. und p. 223 sq.

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Verstehen‹ ein.3 Damit wollte er die therapeutische Verstehensleistung von einem bloß hermeneutisch gefaßten literarischen Textverstehen abheben. Die therapeutische Analyse muß ja in vorsprachliche Zonen hinabreichen. Dann gewinnt sie den Status einer »Tiefenhermeneutik«. Denn der Analytiker »muß sich aufs Spiel mit dem Patienten einlassen, und das heißt, er muß selbst die Bühne betreten. Er nimmt real am Spiel teil«.4 Die eigentümliche Autonomie des analytischen Gesprächs, die Otto Ludwig als spezielle Erzählform erkannte, wird zum Kandidaten einer neuen Realität des Verstehens, die das alte Konzept des objektiven Geistes beerbt.5 Kein Wunder, daß sich an dieses Konzept weitere Übernahmen anschlossen. Nachdem sich erwiesen hatte, daß der seit Erwin Panofsky (1892– 1968) überkommene Begriff einer Ikonographie bzw. Ikonologie hermeneutisch gleichsam zu zahm war, schärfte Martin Warnke diese deutende Tradition durch die Etablierung einer »politischen Ikonologie«. So fruchtbar sich indes diese Zuspitzung erwies, sie hatte auch ihren Preis. Denn durch diese thematische Focussierung war der Schritt zu einer universal konzipierten Kunst- oder Bildwissenschaft verbaut. Diesen universalisierenden Schritt vollzog erst der Schüler Warnkes, Horst Bredekamp.6 Er erkannte, daß eine szenische Einbettung jeder Bildproduktion erstens horizontal offen gehalten werden muß. Nicht nur poli­ tische Provenienzen der Bildgestaltung gilt es zu klären, sondern auch naturwissenschaftliche, technische, evolutionäre. Ferner gilt es auch die vertikale Dimension der Bildproduktion auszuloten. Dem Alfred Lorenzer, Sprachzerstörung und Rekonstruktion. Vorarbeiten zu einer Metatheorie der Psychoanalyse, Frankfurt  /  M. 1973. 4 Alfred Lorenzer, Szenisches Verstehen. Zur Erkenntnis des Unbewußten, in: ders., Kulturanalysen, Bd. I, ed. Ulrike Prokop, Marburg, p. 34. Cf. auch den kurz vor Lorenzers Tod erschienen Band Die Sprache, der Sinn, das Unbewußte. Psychoanalytisches Grundverständnis und Neurowissenschaft, eds. Ulrike Prokop / Bernhard Görlich, Stuttgart 2002. 5 Cf. Wolfram Hogrebe, Riskante Lebensnähe. Die szenische Existenz des Menschen, Berlin 2009. Cf. zur Rehabilitierung des Szenischen im Anschluß an Lorenzer die gründliche Sammelbesprechung von Michael B. Buchholz in: Deutsche Gesellschaft für Psychoanalyse, Psycho-News-Letter Nr. 78, Januar 2010. 6 Ein Überblick über die universalisierenden Ausgriffe von Horst Bredekamp bis 2006 findet sich in: Wolfram Hogrebe, Echo des Nichtwissens, Berlin 2006, Nachwort: Qual der Bilder, p. 368 sqq. 3

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kam der Diskurs »Was ist ein Bild?«, den Gottfried Boehm7 und Hans Belting8 als iconic turn angestoßen hatten, entgegen. Insbesondere Boehm hatte hier die ontologische Tiefendimension aller Bild­ gestaltung in dem, was er »ikonische Differenz« nannte, gegründet: Intendens9 und Intentum sind eine prismatische Differenz, die im Bild zusammen auftritt. Hier ging Horst Bredekamp im Austausch mit John Michael Krois (1943–2010) noch weiter. Bislang hatte man die Wirkungsweise von Bildern und Artefakten meist in subjektiven Formaten nach Art eines piktorialen Impressionismus zu fassen versucht. Was wirkt, das beeindruckt, betört, verschlägt den Atem, fasziniert oder stößt ab. Was unterblieb, war die Kennzeichnung dieser Wirkeffekte als Eigenaktivität der Bilder, auf die ich oben schon zu sprechen kam. Dieser Eigenaktivität trug das Konzept des »Bildakts« Rechnung, das Bredekamp 2010 vorlegte und seither unter Einbeziehung seiner Berliner Forschergruppe weiter ausgebaut hat.10 Genau genommen geht es hier um eine universalisierte szenische Ikonologie, die den kontextsensitiven Status von Bildern in alle Dimensionen erschöpfend analysiert: »Bilder sind keine Abbilder, sondern erzeugen im Bildakt, was sie darstellen.«11 Eine vertiefte Analyse dieser Eigenaktivität eröffnet auch einen Zugang zur Resonanznatur des menschlichen Geistes und leistet so »einen Beitrag zum Verständnis des menschlichen Reflexionsvermögens, das sich in ikonischen wie sprachlichen Formen und Interaktionen verkörpert«.12 Damit wurde es auch möglich, in dieses szenische Konzept einer universa-

7 Gottfried Boehm (ed.), Was ist ein Bild?, München 1994; ders., Wie Bilder Sinn erzeugen – Die Macht des Zeigens, Berlin 2007. 8 Hans Belting, An Anthropology of Images. Picture, Medium, Body, Princeton 2014. 9 Cf. William John Thomas Mitchell, What Do Pictures Want? The Lives and Loves of Images, Chicago 2005. 10 Horst Bredekamp, Theorie des Bildakts. Frankfurter Adorno-Vorlesun­ gen, Berlin 2010. Zum weiteren Ausbau cf. die von Horst Bredekamp und Jürgen Trabant seit 2010 herausgegebene Schriftenreihe Actus et Imago. Ber­ liner Schriften für Bildaktforschung und Verkörperungsphilosophie, die inzwischen in über 20 Bänden das Forschungsprogramm umfassend realisiert. An das Programm knüpft auch an Irene Pelka, Szenische Kosmologie. La Festa del Paradiso von Leonardo da Vinci (pdf), Bonn 2018. 11 So lautet der erste Satz des Programms der Serie Actus et Imago. 12 Das ist der letzte Satz des Programms der Serie Actus et Imago.

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lisierten Kunstgeschichte Intentionen von Aby Warburg und seiner Schule zu integrieren und auf neue Weise fruchtbar zu machen.13 Daß diese universalistische Konzeption einer szenischen Ikonologie sogar einer enzyklopädischen Visualisierung zugänglich ist, bewies die Ausstellung des Exzellenzclusters Bild Wissen Gestal­ tung der Humboldt-Universität zu Berlin +ultra. gestaltung schafft wissen vom 30. September 2016 bis zum 8. Januar 2017 im Martin Gropius-Bau. Insbesondere verdeutlichte diese Ausstellung auch die theoretischen Potentiale des szenischen Konzepts, denen sich ganz neue, ineins visuelle und begriffliche, also noch nicht recht greifbare Formate wissenschaftlicher Fragestellungen tastend ab­ lesen lassen. Diese szenischen Muster verdanken sich nicht mehr bloß abbildenden und entschlüsselnden Optionen, sondern folgen einem generativen Wissensverständnis: »Gestaltung ist ein Weg, die Welt zu interpretieren, und ihre Interpretation ist geboten, um sie gestalten zu können.«14 Hier wird im Zusammenspiel von Kunstgeschichte, Philosophie, Physik, Nanotechnologie, Biologie, Material­ wissenschaften, Active-Matter-Forschung, Architektur, Design etc. ein Tableau präsentiert, in dem sich mehr eine Zukunft des Fragens als eine Vergangenheit von Antworten manifestiert. Dieses Ta­ bleau läßt das überkommene Modell des Museums hinter sich, dem selbst die heute modisch gewordene sog. Provenienzforschung verhaftet bleibt: Provenienz bestätigt sich immer nur in der Provinz. Die Geschichte musealer Objekte führt manchmal an vergangene Ausgangspunkte kolonialer oder sonstwie repressiver Art zurück, aber diese Rückführungen, so interessant sie im Detail auch sein mögen, bleiben als Interpreten der Werke stumm, ja verdunkeln ihren exemplarischen Gehalt, um dessen Willen sie museumswürdig geworden sind. Bénédicte Savoy setzt exklusiv auf die »Erforschung der großen Translokationen von Kulturgütern«,15 auf die Sabine Marienberg / Jürgen Trabant (eds.), Bildakt at the Warburg Insti­ tute, Serie Actus et Imago Bd. XII, Berlin 2014. In der Reihe Handapparat hat Pablo Schneider wichtige Arbeiten von Fritz Saxl wieder zugänglich gemacht, so z. B. in: Gebärde, Form, Ausdruck. Fritz Saxl. Zwei Untersu­ chungen, vorgestellt von Pablo Schneider, Zürich 2012. 14 Nikola Doll, Einleitung zum Ausstellungskatalog +ultra. gestaltung schafft wissen, Nikola Doll / Horst Bredekamp / Wolfgang Schäffner (eds.), Berlin 2016, p. 15. 15 Bénédicte Savoy, Die Provenienz der Kultur, Berlin 2018, p. 53. 13

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»Geschichte ihrer Herkunft«,16 diesem angeblich »großen Projekt des 21. Jahrhunderts«,17 um dem Weltkulturerbe gewachsen zu sein. Sie bemerkt nicht, daß diese Rückrufe, wenn sie denn wie von ihr tatsächlich exklusiv gestellt werden, zu einer eigenen Art hereditärem Fundamentalismus führen: Herkünfte definieren Status und Wert der Kulturobjekte allein. Das kann so nicht sein. Herkunft beeinflußt, aber determiniert nicht Zukunft. Schon gar nicht eine Herkunft, die nur einen Kulturdetektiv interessiert.18 Bredekamp dagegen wies schon immer, so auch 2016, explizit darauf hin, daß die Aufklärung der Herkünfte selbstverständlich zu einem Gesamtbild der kunstgeschichtlichen Aufarbeitung kultureller Bestände gehört, aber eben nicht nur.19 So macht er – und das ist etwas ganz anderes, als eine Provenienzforschung es allein in den Blick bringen könnte – in seinem Beitrag zu diesem Katalog20 erneut auf den bislang meist ignorierten Tatbestand aufmerksam, daß schon Charles Darwin sein Verständnis des evolutionären Prozesses keineswegs nur an dem Modell gewinnmaximierenden Bénédicte Savoy, Die Provenienz, op. cit., p. 54. Bénédicte Savoy, Die Provenienz, op. cit., p. 58. 18 Cf. zur fehlenden Basis der Rechtverhältnisse bei Savoy Erhard Schüttpelz, Everything Must Go: Looting the Museum as Compensation for Loo­ ting the World [2018] (https://blog.uni-koeln.de); ferner den Artikel von Hermann Parzinger, Zeitenwende oder Ablaßhandel. Die Aufarbeitung des kolonialen Erbes ist mit Rückgaben allein nicht erledigt. Der Dialog mit den Herkunftsgesellschaften sollte in eine gemeinsame Museumsarbeit münden, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29. Nov., 2018 Nr. 278, p. 9. Zum missionarischen Eifer von Savoy cf. zuletzt Patrick Bahners, Sie glauben an ihre Sendung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22. Jan., 2019 Nr.  18, p. 13. Zur Einbettung der Provenienz in einen missionsfreien context of dis­ covery cf. zuletzt Horst Bredekamp, Aby Warburg, der Indianer. Berliner Erkundungen einer liberalen Ethnologie, Berlin 2019. Gestützt wird Bredekamps Rückruf auf eine nicht koloniale, rein wissensorientierte Ethnologie schon durch Carsten Niebuhrs Reisebeschreibung nach Arabien und ande­ ren umliegenden Ländern (1774 etc.), repr. Berlin 2018. 19 Horst Bredekamp, Das Schloss und die Universität: Eine nicht endende Beziehung, in: Horst Bredekamp / Peter-Klaus Schuster, Das Humboldt Fo­ rum. Die Wiedergewinnung einer Idee, Berlin 2016, pp. 104–133. Cf. hier p. 125: »Die 34 Jahre des deutschen Kolonialismus (1884–1918) haben die Bestände [der Berliner Kunstkammer] mit ungeahnten Mengen an Exponaten aufgefüllt. Die Erwerbungen aus dieser Zeitspanne müssen genau analysiert und bewertet werden.« 20 Horst Bredekamp, Bildaktive Gestaltungsformen von Tier und Mensch, in: +ultra, op. cit., p. 17 sq. 16 17

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Wirtschaftens (survival of the fittest) abliest, wie Herbert Spencer dies exklusiv tat, sondern ebenso am Modell der Schönheit (beauty), die sich in selektiv vorteilhaften Formbildungen dokumentiert und diese Formbildungen zugleich dirigiert. Schönheit wird für Darwin in seinem zweiten Hauptwerk The Descent of Man (1871) in der Tat ein zweites Prinzip der Evolution. Diesem verdankt sich die kreative Schönheit der Natur ebenso wie ihr Schrecken.21 Das Paradigma einer szenischen Ikonologie erhält auf diese Weise auch einen biologischen Unterbau, der den Gedanken nicht abwegig erscheinen läßt, daß wir hier einem szenischen Zusammenhang auf der Spur sind, wie er sich in allen kreativen Zonen wiederfindet, vom Kosmos bis zum Gedicht, wie bei Edgar Allen Poe (Heureka, 1848).22 Vielleicht könnte man auf diesem Hintergrund sogar einen offenen (ἀόριστος) Monismus als ein ausgebliebenes Versprechen erwägen, in dem Bild und Sein zusammenfallen. Auf diese Perspektive berechnet, schlüge das Forschungsparadigma einer szenischen Ikonologie allerdings in eine szenische Meta­ physik um.23 Aber auch diese darf ihre Einbettungsvergangenheit im visuellen Raum nicht vergessen und kann es auch gar nicht, wie Aristoteles schon am Anfang seiner Metaphysik betont.24 Deshalb leben wir szenisch. Das genau ist zugleich die geheime Botschaft aller Bilder und Artefakte. Allerdings geht eine nähere Spezifikation des Szenischen über bildliche Verhältnisse noch hinaus. Immer geht es zwar um das Korrelat von Geist und Welt.25 Schon die materielle Spur kann ja ausschließlich im Rahmen einer solchen Korrelation zum Zeichen, zum Symbol, zum Bild werden. Zeichenhaftigkeit und Bildlichkeit genügen insofern vielleicht als Dokument dieser Korrelation, aber sie garantieren sie nicht. Bildlichkeit gibt ja der Hand im Spielraum einer sowohl phantasiegesteuerten als auch wissensgenerierenden 21 Cf. Richard Prum, The Evolution of Beauty: How Darwin’s Forgotten Theory of Mate Choice Shapes the Animal World, New York 2017. 22 Cf. hierzu Wolfram Hogrebe, Metaphysische Einflüsterungen, Frankfurt  /  M. 1917, Änigma 7, p. 111 sqq. 23 Wolfram Hogrebe, Metaphysische Einflüsterungen, op cit.; ders., Duplex. Strukturen der Intelligibilität, Frankfurt  /  M. 2018. 24 Met. 98 a; cf. zu dieser Thematik zuletzt Stephan Herzberg, Wahrneh­ mung und Wissen bei Aristoteles, Berlin  /  New York 2011. 25 Cf. Franz Engel / Sabine Marienberg (eds.), Das entgegenkommende Denken. Verstehen zwischen Form und Empfindung, Berlin  /  Boston 2016.

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Gestaltung26 das Monopol, diese anfängliche Korrelation zu bezeugen. Diese muß aber zwingend schon vorher bestehen, um gestaltend beglaubigt werden zu können. Und an dieser Stelle kann man immer noch von Aristoteles lernen, denn er greift tiefer. Die wahrheitsfähige Architektur intelligenter Wesen gibt es ihm zufolge nur deshalb, weil sie über ein Organ verfügt, für diese Korrelation sensibel zu sein. Noch härter: Anders als in dieser Sensibilität existiert diese Korrelation gar nicht.27 Aristoteles hat, was ich immer wieder gern zitiere, dieses denkwürdige Verhältnis daher ebenso präzise wie poetisch so ausgedrückt: »Mit dem Wahren singt alles mit, was aus dem Grunde hervorgeht (τῷ ἀληθεῖ πάντα συνᾴδει τὰ ὑπάρχοντα).28 Wie müssen wir hier das »aus dem Grunde Hervorgehende«, das »Zugrundeliegende« denken, wenn es »mitsingen« soll können, jedenfalls dann, wenn es um Wahres geht? Das Zugrundliegende ist etwas Substanzielles, bei Aristoteles sind es die substanziellen Formen. Bei Leibniz, der sie wieder aufnimmt, sind sie gerade das, was im Bezug der Dingformen zu unserer Seele existiert, im rapport aux âmes.29 Nur wenn dieser Bezug gesichert ist, gibt es Gegenstandsbezüge, gibt es Referenzen. Im Klartext: Nur wenn es die substanziellen Formen gibt, gibt es auch einen Gesang der Welt mit uns. Und dieser Gesang ist die Art des Gegebenseins der Korrelation von Geist und Welt, der adaequatio rei et intellectus. Der denkenden Hand treten ein denkendes Auge und ein denkendes Ohr zur Seite. Unsere synästhetische Gesamtwitterung sichert uns den musikalischen Vorsprung vor einer erst dadurch symbolischen Faktizität, auf deren Boden wir dann auch wahrheitsfähig werden. In gewisser Weise tasten wir schon, bevor wir ergreifen, sehen wir schon, bevor wir erblicken, hören wir schon bevor wir registrieren. Dieses synästhetische Vorab trägt das Apriori, das Kant in verengter Sichtweise nur einer speziellen Satzklasse vindizieren wollte.

26 Cf. Horst Bredekamp, Galileis denkende Hand. Form und Forschung um 1600, Berlin  /  München  /  Boston 2015. 27 Quentin Meillassoux hat den Korrelationismus einer robusten Kritik unter­zogen. Allein er hat das Sensibilitätsfenster, das diese Korrelation fundiert, nicht bemerkt. Cf. ders., Après la finitude, Paris 2006. 28 Eth. Nic. 1098 b. 29 Cf. hierzu Wolfram Hogrebe, Metaphysische Einflüsterungen, op. cit., p. 103 sq.

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So ist Wahrheit nach aristotelischer Auffassung an der Basis ein musikalisches Phänomen, der Gesang der Welt mit uns. Ursprung der Wahrheit ist daher immer ein apriorischer Einklang. Und solche synästhetischen Einklänge sind die Essenz des Szenischen. Aus dem Szenischen können wir jedenfalls nicht heraus, wenn anders wir ­unsere Wahrheitsfähigkeit nicht aufs Spiel setzen wollen. Man könnte durchaus sagen, in dieser Perspektive handelt es sich um die Geburt der Wahrheit aus der Musik. Das gab es nicht einmal bei Nietzsche. Er versuchte, um es grob zu fassen, den mundus in­ telligibilis zu destruieren; was jetzt ansteht, ist die Destruktion des mundus sensibilis.

IV.  Vom Bildakt zum Bildverlust Keine Frage, daß in einer Theorie des Bildakts Bilder eine sehr starke ontologische Position erhalten. Sie werden zu gleichberechtigten Partnern in einer visuellen Welt szenisch Einheimischer. Aber die Einheimischen wenden sich zunehmend von ihnen ab und ersetzen sie durch digitale Artefakte. Smartphone- und Online-Angebote werden zu diskreten Bildquellen, neben denen Bilder analoger Art zurücktreten. Daß hier ein bedrohliches Geschehen aufzieht, haben wie so häufig nicht die Philosophen, sondern zuerst die Dichter bemerkt. Botho Strauß spricht 2018 von einer »Entbilderung der Welt«, die sich einem »religiös asketische[n] Fanatismus« verdankt.1 Peter Handke hatte schon 2002 in einem Roman die veritable Theorie eines »Bildverlusts« inszeniert, die einer näheren Betrachtung wert ist.2 Um einen Zugang zu seinen Überlegungen zu gewinnen, muß man sich allerdings einiger Dinge vorab vergewissern. So zunächst das Faktum, daß es keine Bilder ohne Erinnerung gibt. Memoria und imago stehen in einem subtilen Verhältnis zueinander, das keineswegs leicht zu entschlüsseln ist. Allerdings ist eines klar: Irgendeine Form des Wiedererkennens müssen Bilder aufrufen. Aber schon hier wird es schwierig. Denn dieses Wiedererkennen braucht kein Identifizieren eines Bekannten zu sein. Es kann auch das Gewahren eines Niegesehenen sein, an dem nur die Form seiner Präsentation wiedererkannt wird. Daß sich da etwas als Bild gibt, ohne daß man weiß, ein Bild wovon, ist eine Form des Wiedererkennens, die nicht vom Inhalt des Bildes getragen wird, sondern von seiner Präsentation. Bilder abstrakter Kunst exerzieren diese Form der Präsentation eines Anonymen, die uns gleichwohl gebannt sein läßt. Bilder brauchen also keine Abbilder zu sein und bleiben doch Bilder. Botho Strauß, Der Fortführer, Reinbek 2018, p. 179. Peter Handke, Der Bildverlust oder durch die Sierra de Gredos, Frank­ furt  /  M. 2002.

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Tatsächlich liefert uns jeder Blick in die Welt solche Bilder, die ihren Anteil an anonymen Inhalten haben. Vieles erkennen wir wieder, aber nicht alles. Das macht uns neugierig und stimuliert unsere Interpretationsbereitschaft. Wann immer uns auf diese Weise Neues entgegentritt, fühlen wir uns als Interpreten ernst genommen. Die Welt stellt uns eine Frage, die nur unsereiner registrieren und beantworten kann. Bilder sind hiernach und mit Gottfried Boehm eingelassen in eine von ihm so genannte »ikonische Differenz«, will sagen in ein Spiel zwischen »Sichtbarem und Unsichtbarem, von thematisch identifizierbarem und unthematischem Horizont«.3 Die Digni­ tät der Bilder besteht hiernach gerade darin, daß sie sichtbare Orte einer Vermittlung zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem sind. In dieser ontologischen Dignität stehen sie der gegenwärtigen Bilderflut strikt entgegen, denn diese zielt, wie Boehm sagt, nur auf Surrogate von Bildern, auf »Bildersatz« (z. B. Smilies). Eben dadurch wird die ikonische Differenz, das Spiel zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem, zum Verschwinden gebracht. Es gibt daher gegenwärtig nicht nur eine horrende Umweltverschmutzung, sondern auch eine ebenso abstoßende Bildverschmutzung der Welt. Hier genau setzt Peter Handke an. Er diagnostiziert umstandslos einen Bildverlust als »Epochenproblem«.4 Worum geht es nun beim Bildverlust, wenn ihm ein solch spektakulärer Status zukommt? Zunächst geht es jedenfalls nicht darum, »daß durch die Welt keine Bilder mehr blitzen und flitzen«, auch nicht darum, »daß niemand mehr diese Blitz- und Flitzbilder […] registrierte«.5 Solche »Bilderfunken«, solche »Irrlichtsbilder« gibt es auch weiterhin, aber sie haben keine Wirkung mehr. Was stattdessen jetzt auf uns einwirkt, »das sind die gemachten und gelenkten […] Bilder«.6 Solche Bildsurrogate »haben die Quelle zerstört«, die Quelle echter Bilder. Gerade sie wurden in letzter Zeit vernichtet. Und zwar in einem mörderischen Raubbau an Bildergründen und -schichten: »Der Naturschatz ist aufgebraucht, und man zappelt als Anhängsel an den gemachten, serienmäßig fabrizierten, künstlichen Bildern, welche die mit dem Bildverlust verlorenen Wirklichkeiten ersetzen, Gottfried Boehm, Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens, Berlin 2007, p. 210. 4 Peter Handke, Der Bildverlust, op. cit., pp. 24, 751 et passim. 5 Peter Handke, Der Bildverlust, op. cit., p. 743. 6 Peter Handke, Der Bildverlust, op. cit., p. 744.

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sie vortäuschen und den falschen Eindruck sogar noch steigern wie Drogen.«7 Hier hat Handke ersichtlich unsere Welt der digitalisierten Bilder im Sinn. Solche Bilder werden heutzutage in der Tat zum Opium des Volkes und befeuern seine geradezu krankhafte Bildsucht. Dieser Digitalismus zerstört jedenfalls unsere ehedem lebendigen Bilderfahrungen und tötet unsere betörenden Bildbezüge ab. Vor dem universellen Bildverlust indes bedeutete ein Bild noch soviel wie »am-Leben-Sein«, Bilder waren eine »Weltbestandsschleppe«.8 Jetzt sind dagegen die Bilder »am Aussterben«.9 Die ursprünglichen Bilder, die Handke meint, sind nicht notwendigerweise hergestellte Bilder, sondern Weltbilder, die sich Blicken in die Welt verdanken. Ihnen kam eine Dignität zu, die ineins zur Dignität des Menschen zählte. Warum? »Die Bilder waren Erscheinungen. Sie waren Erscheinungen in dem Sinn, wie man früher einmal gesagt hat: Ich habe eine Erscheinung. […] Die Bilder waren die letzten Eingebungen.«10 Der Leser mag schon ahnen, daß diese Bild-Verklärung auf den letzten Seiten seines Romans auf einen geradezu hymnischen Abschluß zusteuert, der den Bildverlust in seinem Gefälle zum ehemaligen Bildbesitz erst prägnant werden läßt. Was verloren ging, wird erst da schneidend deutlich, wo das einstige »Bildwetterleuchten«, das Erscheinungen auftauchen und verschwinden ließ, erloschen ist. Der Roman summiert: »Sooft sich ein Bild mir zu sehen gab, war das die Erhörung e­ ines unbewußten Gebets. […] Im Bild wurde ich täglich erlöst, und geöffnet, aber nicht für eine Religion. Im täglichen Bild wurde ich auch ein anderer, aber nicht für eine Ideologie, nicht für eine Massenbewegung. In den Bildern erschien, was schön und recht war, nur anders als in der Philosophie, der Soziologie, der Theologie, der Wirtschaftswissenschaft – eben, indem es […] schlicht erschien. Und sie waren auch etwas anderes als die Erinnerungen, auch die sogenannten kollektiven. Das Bild ließ sich sehen jenseits von Sage und Mythos.«11 7 Ibid.

Peter Handke, Der Bildverlust, op. cit., p. 24. Peter Handke, Der Bildverlust, op. cit., p. 744. 10 Peter Handke, Der Bildverlust, op. cit., p. 745. 11 Peter Handke, Der Bildverlust, op. cit., p. 745 sq. 8

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Man erkennt unschwer: Handke räumt ab. Sein Bildverlust rückt in die Nähe von Heideggers Seinsvergessenheit. Die sensible Stellung des Menschen steht ab jetzt zur Disposition. Bildverlust indiziert Selbst- und Weltverlust. Bilder, wenn nicht schon verloren, werden seit ehedem »verstellt« und waren insofern schon ein Verborgenes, ein Verdecktes, Übermaltes. Alle Wissenschaften und kulturellen Deutungsmaschinen, die Handke hier benennt, bestehen in Verdeckungsoperationen. Dagegen ruft Handke die unverstellte Präsenz der Bilder wieder auf und riskiert sogar den Mut, auf das alte O der lyrischen Anrede zurückzugreifen: »O Bild, mein Lebensgeist: zeig mir den Zwischenraum, wo du verborgen bist.«12 Diese geradezu hymnische Höhenlage hält Handke durch, wenn er im sound von Rainer Maria Rilke textet: »Bilder, ihr reines Gegenüber«.13 Das Motiv von Handke ist die Erfahrung eines Verlustes der Erscheinungen: Der mundus sensibilis kommt in Bedrängnis. Verstellt von unseren Deutungen und wissenschaftlichen Erklärungen tritt uns nichts mehr rein entgegen, wird entweder digital ersetzt und verhunzt oder wissentlich überformt und entfremdet. Beide Strategien gehören zur Vernichtung der Erscheinungen, der Basis des Geistes. Um von seiner hymnischen Höhenlage zurückzufinden, läßt Handke die beiden Hauptpersonen seines Romans, die Bankfürstin und den camouflierten Autor (wie Platon im Dialog Politeia seinen sokratischen Gesprächspartner Glaukon nach Einführung der Idee des Guten) in einem Lachen enden: »Eine Zeitlang lachten sie dann gemeinsam.«14 Bilder sind für Handke keine Piktogramme, sondern die imaginäre Art des Gegebenseins dessen, was ist. Nur wenn sie das sind, können wir mit ihnen kommunizieren, sie befragen und ihre Antworten registrieren. Bildverlust ist für ihn daher durchaus Weltverlust: »Es bedeutet: es gibt keine Anschauung mehr. Es bedeutet: die Wahrnehmung gleitet ab von jeder Konstellation: Es gibt keine Konstellation mehr.«15 Handkes Vision ist der Kollaps des Intellekts. Wo das Imaginäre verschwindet, verlieren sich Sinn und Bedeutung. Die ikonische Differenz, das Spiel zwischen Sinnlichem und Nichtsinnlichem, das Gottfried Boehm benannt hatte, wird abgelöscht. Peter Handke, Der Bildverlust, op. cit., p. 747, auch schon p. 27. Peter Handke, Der Bildverlust, op. cit., p. 747. 14 Peter Handke, Der Bildverlust, op. cit., p. 747. 15 Peter Handke, Der Bildverlust, op. cit., p. 746. 12 13

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IV.  Vom Bildakt zum Bildverlust

Wo das Bild verschwindet, bleibt uns nur noch das Sein, allerdings nur in der schmalen Form einer Seinsanmutung, wie wir sie oben von Husserl kennengelernt haben. Kein Bildakt rettet in Handkes Vision das Bild. Bildakte kommen im Bildverlust einfach zu spät. In ihm zerschellt unsere Wirklichkeitsgewißheit, wie Paulus sie angedeutet hat.16 In dieser Gewißheit sind wir auf der Welt nicht wie Tiere instinktiv, sondern rechtfertigungsfähig (διὰ δικαιοσύνην oder propter iustificationem)17 zuhause. In diesem Schattenraum sind wir szenisch freigegeben. Indes: Er ist in greller Überblendung bedroht. Aber das ist ein anderes Thema, und die Schattenseite dieses aufgehobenen Steines empfiehlt uns, andere Orientierungsbemühungen, die weitgehend vergessen sind, zu erkunden.

Cf. hierzu Michael Wolter, Paulus. Ein Grundriß seiner Theologie, Neukirchen-Vluyn 2015², pp. 86–96. Ich benutze den Ausdruck »Wirklichkeitsgewißheit« allerdings anders als Michael Wolter. In meinem Verständnis handelt es sich um eine epistemische Konstante des homo sapiens, seine ihm gewisse Realitätsoffenheit. Cf. ferner: Georg Pfleiderer, Theologie als Wirk­ lichkeitswissenschaft. Studien zum Religionsbegriff bei Georg Wobbermin, Rudolf Otto, Heinrich Scholz und Max Scheler, Tübingen 1992. 17 Röm. 8, 11. 16

V. Orientierung Éric Weil (1904–1977), Schüler von Ernst Cassirer, bei dem er 1928 in Hamburg mit einer Arbeit über Pietro Pomponazzi (1462–1525) promoviert wurde,1 legte 1950 ein Buch vor, das unter dem Titel Logique de la Philosophie in Paris erschien. Dieses Buch ist zweifellos sein Hauptwerk und bietet, um es salopp zu formulieren, einen mit Aristoteles gebremsten Kant, wie ebenso einen mit Kant2 gebremsten Hegel,3 und beides in Form eines Besprechens mit sich selbst. In dieses Buch gingen seine Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus ein, ohne daß sie erwähnt werden. Es ist von Anfang an das Erlebnis von Angst, ja Angst vor der Angst und Gewalt, die dieser großen Erzählung zugleich den Boden einer schweigenden Konfession unterlegen, ohne die Vernunftnatur des Philosophen in den Abgrund zu ziehen. Pierre Aubenque nennt Weil den letzten Hegelianer und kontrastiert ihn mit der gesamten Palette der französischen Philosophie, mit dem Existentialismus eines Sartre und Camus, mit der Postmoderne von Jacques Derrida bis André Glucksmann, auch mit Levinas, um abschließend zu dem Befund zu kommen: »Es bleibt, daß Eric Weil das große Verdienst zukommt, der beredte, ja manchmal vehemente Anwalt der Vernunft in einer Zeit der Unvernunft [der Zeit des NS, W. H.] gewesen zu sein – wer könnte ihm das vorwerfen? –, aber das auch in einer philosophischen Welt, die vielleicht mit guten Gründen an der Fähigkeit der Vernunft zweifelte, die Probleme zu lösen, die ihr einseitiger Gebrauch herauf­beschworen hatte.«4 Éric Weil, Die Philosophie des Pietro Pomponazzi, in: Archiv für Ge­ schichte der Philosophie XLI, 1–2, Berlin 1932. 2 Éric Weil (III), Interprétations de Kant, Lille 1992. 3 Éric Weil, Hegel et l’État, Paris 1950. Cf. Paul Ricœur, Le conflit des in­ terprétations, Paris 1969, p. 402. 4 Pierre Aubenque, Eric Weil oder der letzte Hegelianer, in: Ulrich Johannes Schneider (ed.), Der französische Hegel, Berlin 2007, pp. 105–112, hier p. 112.

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Wer war nun Éric Weil?5 Er wurde 1904 in Parchim in Mecklenburg geboren und studierte von 1922 bis 1928 vor allem in Hamburg, aber auch in Berlin. In Hamburg hatte er intensiven Kontakt mit dem Kreis um Aby Warburg. 1933 mußte er als Jude Deutschland verlassen, floh nach Paris und konnte hier 1938 seine Einbürgerung erreichen. 1940 wurde er – aus Selbstschutzgründen unter dem Namen Henri Dubois – zur Armee eingezogen, aber im selben Jahr bereits von deutschen Truppen gefangen genommen und blieb es bis Kriegsende. Ein Teil seiner Familie konnte vor den Nationalsozialisten fliehen, der größte Teil kam in Theresienstadt und ­Auschwitz ums Leben. Von 1939 bis Ende 1946 schrieb er, vor allem also während seiner Gefangenschaft im Stammlager XI B in Fallingbostel (1940–1945), in dem er auch als Pianist auftrat,6 sein Hauptwerk Logique de la Philosophie.7 Während seiner Zeit an der Universität Hamburg studierte dort auch der fast gleichaltrige Joachim Ritter (1903–1977). Dieser war in frühen Jahren vorübergehend Marxist gewesen (wie Karl R. Popper und Karl Löwith), wurde aber bereits 1925 von Cassirer mit einer Arbeit zu Nicolaus Cusanus promoviert und habilitierte sich daselbst 1932 mit einer Arbeit über Augustinus. Da er in erster Ehe (seit 1927) mit Marie Johanna Einstein (gest. 1928), einer Verwandten von Ernst Cassirer, verheiratet war, und außerdem seine marxis5 Eine ausführliche Biographie, der ich viele Angaben zu Éric Weil entnommen habe, stammt von Gilbert Kirscher und findet sich auf der Homepage des Institut Eric Weil (Université Lille 3). 6 Nach Gilbert Kirscher mit Verweis auf einen Brief von H. Moysset an Anne Dubois vom 12. Februar 1941. 7 In der Biographie von Gilbert Kirscher wird der 27. Dezember 1946 als Ende der Niederschrift von Logique de la Philosophie angegeben. – Den Titel einer Logik der Philosophie verwendet bekanntlich zum ersten Mal Emil Lask. Cf. ders., Die Logik der Philosophie und die Kategorienlehre, in: ders., Gesammelte Schriften, ed. Eugen Herrigel, Bd. II, Tübingen 1923, pp. 1–282. Cf. hierzu Peter Gaitsch, Einstellung und Sinn. Eric Weils Logik der Philosophie. Vorbegriff, Vorgeschichte, Relektüre, Wien 2013, p. 123 sqq. Die systematische Verwandtschaft von Lask und Weil zeigt sich da, wo Lask den Subjektbegriff völlig entleert, um ihn gewissermaßen für die kognitive Gegenstandsempfängnis bereit zu machen (cf. hierzu Uwe B. Glatz, Emil Lask. Philosophie im Verhältnis zu Weltanschauung, Leben und Erkenntnis, Würzburg 2001, p. 213 sq.) Um diese Entleerung aber noch kognitiv ›abfangen‹ zu können, bemüht Weil seine ›Einstellungen‹ als szenisches μεταξύ. Die Entleerung formuliert Weil übrigens noch pointierter als Lask: »das Individuum selbst denkt gar nicht.« (Logik, op. cit., p. 417).

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tischen Anfänge unvergessen blieben, kam Ritter als Privatdozent der Philosophie bei der Partei unter Druck.8 1939 hieß es in einem Bericht der NSDAP, er sei nicht nur in erster Ehe mit einer Jüdin verheiratet gewesen, sondern pflege auch ansonsten Kontakte mit jüdischen Kreisen und habe sich früher verschiedentlich insbesondere durch den Juden Dr. Weil vertreten lassen.9 Das war das Motiv für einige seiner nachmaligen vorsichtigen Attitüden. Er wollte seine akademische Existenz nicht aufs Spiel setzen. Trotzdem, und wie ich finde: In einem heroischen Akt, publizierte er noch 1940 einen Aufsatz Über das Lachen, auf den ich im Nachwort zu sprechen komme. Ritter hatte in Hamburg also ersichtlich engeren Kontakt mit Weil. Seit 1948 Ordinarius in Münster, hat Ritter ihn nach 1945 mindestens zweimal (1957 und 1958) zu Vorträgen nach Münster eingeladen und ihn in einem Exkurs zu seiner bedeutenden und einflußreichen Arbeit über Hegel und die französische Revolution (1956) zustimmend und im Kontrast zu Karl Popper zitiert.10 Michael Landmann (1913–1984),11 Ordinarius für Philosophie an der Freien Universität zu Berlin, fragte bei Éric Weil am 19. Juni 1957 an, ob er sich vorstellen könne, in Berlin eine Professur für Philosophie zu übernehmen. Mit Brief vom 28. Juni sagte Weil Landmann ab: Inzwischen sei er zu sehr mit Frankreich verwachsen und Deutschland aus leidvoller Erfahrung zu fremd. Dennoch wolle er die Kontakte weiter pflegen, was er auch tat. Am 6. Februar 1969 erhielt Eric Weil auf Ritters Betreiben die Ehrenpromotion der philosophischen Fakultät der Universität Münster. Bei dem dazu üblichen Vortrag von Éric Weil am Nachmittag dieses Tages im Fürstenberghaus war ich als Student anwesend. Draußen war es schon dunkel. In seinem frei gehaltenen und präzi8 Cf. die biographische Skizze von Hans Jörg Sandkühler, Joachim Ritter: Über die Schwierigkeiten, 1933–1945 Philosoph zu sein, in: ders. (ed.), Phi­ losophie im Nationalsozialismus, Hamburg 2009, pp. 219–252. Sandkühlers Skizze ist leider nicht ganz uneigennützig. 9 Hans Jörg Sandkühler, Joachim Ritter, op. cit., p. 233. 10 Wiederabgedruckt in: Joachim Ritter, Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel, Frankfurt 1969, p. 183 sq., hier: Exkurs III, p. 240. 11 Von Landmann sagt Botho Strauß in einem rezenten Buch, daß es sich lohne in ihm »einen Außenseiter zu entdecken, einen intuitiven Denker zu Zeiten der machtvoll Grenzen setzenden marxistischen Hegemonie. Philosophielehrer an der Berliner FU, von Provokateuren bedrängt, beleidigt vom Linksopportunisten wie Jakob Taubes.« (Botho Strauß, Der Fortführer, Hamburg 2018, p. 168).

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sen Vortrag über schwierige Fragen der aristotelischen Philosophie machte er auf mich mit seinem kolossalen pommerschen Schädel einen aufblitzenden, imposanten Eindruck. Als ich später von Münster nach München und dann an die neugegründete Universität Düsseldorf wechselte, begegnete ich dort Gerard Dubrulle (1946–1996), der bei Weil in Lille studiert hatte und meinen überaus positiven Eindruck aus eigener Erfahrung bestätigte. Dubrulle hat dann 1977 in Düsseldorf über Gaston Bachelard promoviert, mit dessen Werk er durch Weil in Lille bekannt geworden war.12 Weil übernahm 1968, die philosophischen Mandarine von Paris verwehrten ihm eine akademische Position ebendort, eine Professur an der Universität in Nizza. Dort starb er auch am 1. Februar 1977. Éric Weil hat sein großes Buch Logik der Philosophie also im Wesentlichen während seiner Kriegsgefangenschaft geschrieben.13 Solche Randbedingungen prägen natürlich auch die literarische Form eines Werkes. So gibt es kaum Anmerkungen, schon gar nicht in der Form gelehrter Auseinandersetzungen mit der Literatur, wie sie ansonsten gerade bei philosophischen Texten üblich sind und die Nähe einer Bibliothek bezeugen. Der Text ist vielmehr in der Form einer erinnerten großen Erzählung angelegt, die sich in ihrer façon d’être deutlich an Hegels Phänomenologie des Geistes anlehnt, aber in ihrer Struktur ebenso deutlich von ihr abweicht. Es gibt hier keine dialektische Selbstentfaltung des Begriffs, sondern in achtzehn Kapiteln eine sukzessive Exposition von Kategorien gewisser »Einstellungen«, die das Vollbild des Selbstverständnisses der Philosophie zu präsentieren beanspruchen. In diesem Buch spricht die Philosophie also mit sich selbst, und das Medium dieses Gesprächs ist ein Autor, der abwesend bleibt. Dieser methodische Kunstgriff macht die Lektüre nicht eben leicht. Man kann sie wie bei Hegel nur meistern, wenn man sich dem Prozeß einer philosophischen Selbstvergewisserung lesend überläßt. Was dabei statthat, ist mit Kant ein begrifflicher Orientierungsver12 Gerard Dubrulle, Philosophie zwischen Tag und Nacht. Eine Studie zur Epistemologie Gaston Bachelards, Frankfurt  /  M. 1983. 13 Wenn die Angaben von Gilbert Kirscher korrekt sind, wurde die Niederschrift im August 1939 begonnen und Ende Dezember 1946 abgeschlossen. Andere Autoren behaupten, Weil habe dieses Buch trotz zurückreichender Vorarbeiten erst nach dem Krieg geschrieben (so etwa Patrick Schuchter, Eric Weil. Der Weg des Denkens in die Gegenwart und die Entscheidung für die Vernunft, Wien 2014, p. 14).

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such, ohne Karte, ohne Bilder, ohne Hilfestellung von außen. Die einzigen Anhaltspunkte dieser Selbstorientierung sind unsere Einstellungen, les attitudes. Damit betritt Weil den Boden einer szenischen Metaphysik.14 Wenn man sich nach Modellen für eine solche Selbstorientierung umschaut, ist man gut beraten, Kants Text Was heißt sich im Den­ ken orientieren? zu konsultieren. Kant mag eigentlich auch keine Bilder, außer dann, wenn es gilt, begriffliche Verhältnisse sinnfällig, d. h. sie, wie er selber sagt, »zum Erfahrungsgebrauche tauglich zu machen«.15 Dazu gehört ganz einfach, daß unser orientierendes Bemühen sich tatsächlich zunächst ein Beispiel wählt, um gewissermaßen dingfest zu machen, wie ein Sich-Orientieren überhaupt starten und funktionieren kann. Tatsächlich so: Wir brauchen zunächst ein Faktum, z. B. »die Sonne am Himmel«, und dazu die zumindest gefühlsgegebene Unter­scheidung zwischen »der rechten und der linken Hand«, um uns dann effektiv orientieren zu können.16 Dieses primitive und durchaus leibgebundene Verfahren der Orientierung kann man nun per »Erweiterung«, wie Kant sagt, auf andere Felder, auf geodätische, dann astronomische und sogar logische übertragen. Immer wird es darum gehen, beginnend mit Bekanntem, andere Dimensionen zu erschließen. Natürlich nimmt man dabei in Kauf, daß unsere Orientierungsbemühungen auch fehlschlagen können. Wir müssen dieses Risiko aber auf uns nehmen, denn eine andere Wahl haben wir nicht. Orientierung heißt immer ins Ungewisse peilen, aus Bekanntem heraus das Unbekannte orten. So ist es unsinnig, eine komplette Faktenlage abzuwarten. Orientierung ist ohne Risiko nicht zu haben. Vernunft beweist sich darin, Ausgangsfakten projektiv zu ordnen. So wandert das Unbekannte als Problem in unsere rationalen Bemühungen hinein. Kants Skizze zur Eigenart unserer Orientierungen erinnert an das im 20. Jahrhundert von Donald Davidson vorgeschlagene Verfahren der Triangulation. Dabei ist es dann auch nicht unnütz, daran zu erinnern, daß Davidson 1942–1945 im Dienste der US-Navy PiloCf. dazu Wolfram Hogrebe, Riskante Lebensnähe. Die szenische Existenz des Menschen, Berlin 2009. 15 Immanuel Kant, Was heißt sich im Denken orientieren? in: Kant, Werke in zwölf Bänden, ed. Wilhelm Weischedel, Bd. V, Frankfurt  /  M. 1968, p. 267. 16 Kant, Was heißt, op. cit., p. 269. 14

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ten in Ortungspraktiken trainierte. Auch für Davidson müssen im einfachsten trigonometrischen Fall zwei Punkte bekannt sein, um einen entfernten dritten per Winkelmessung zu ermitteln. Davidson übertrug die Grundidee einer solchen durchaus bekannten Triangulation, gewissermaßen mit Kants Erweiterungslizenz, auf das semantische Dreieck.17 Wir brauchen immer zwei Personen, Sprecher und Hörer, die sich dann auf einen Gegenstand ihres Gesprächs einigen und gesprächsweise auf eben diesen beziehen können. So erscheint selbst unsere Intentionalität als bloßer Kunstausdruck für unsere elementare Fähigkeit, über beliebige Themen zu kommunizieren. Intendieren ist in diesem Sinne immer Triangulieren und damit intrinsisch ein sozialer, szenischer Akt. Das gilt erst recht, wenn wir unsere Orientierungsbemühungen von der geodätischen und dann semantischen Ebene in den politischen Raum erweitern, um uns gewissermaßen auf dem Boden einer politischen Geodäsie in der Weltgeschichte zu orientieren. Natürlich brauchen wir auch hier Fakten als Ausgangspunkte und zumindest ein Gefühl für elementare Distinktionen, um welthistorische Triangula­tionen zu versuchen. In diesem Sinne hat jedenfalls Georg Wilhelm Friedrich Hegel in seinem Werk immer wieder geschichtsphilosophische Diagnosen vorstellig gemacht. Das Generalfaktum, von dem bei ihm diese Prozeduren ausgehen, ist ostinat die Französische Revolution. Mit ihr verdampfen die Prinzipien bisheriger Legitimationstransfers: Legitimation durch Tradition und Legitimation durch soziale Stellung zählt nicht mehr. Ererbtes rechtfertigt nichts und damit auch nicht die Position im Kontext überkommener Privilegien. Was zählt, sind Begründung und Allgemeinheitsfähigkeit allein. Damit haben wir schon die Winkelgrößen, die wir für die Ausmessung politischer Ereignisse nach der Französischen Revolution benötigen. Der erste Interpret, der diese geschichtsphilosophische Tri­angu­ lation, die sich bei Hegel in seinem Œuvre verstreut finden läßt, aufgegriffen und in ihrer Bedeutung erkannt hat, war der Philosoph Joachim Ritter. 17 Donald Davidson, Rational Animals, in: Dialectica 36 (1982), pp. 318– 322; wiederabgedr. in: ders., Subjective, Intersubjective, Objective, Oxford 2001. Weitergehende Überlegungen zu dieser Figur bietet Jasper Liptow, Se­ mantischer Externalismus und Triangulation, in: Zeitschrift für Philosophi­ sche Forschung 61 (2007), pp. 35–54.

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Aber es gab noch einen anderen Philosophen, der dieses Verfahren sogar auf sich selbst angewandt hat. Das Projekt einer Selbsttriangulation liegt einer Idee der Philosophie zugrunde, die Éric Weil in seiner Logik der Philosophie vorgestellt hat. Und schließlich steht die Bemühung von Rémi Brague, sich einer Vergewisserung des Sinns von Europa zu stellen, im konzeptuellen Erbschaftsschatten von Éric Weil.

VI. Selbsttriangulation Auf den ersten Blick scheint es widersinnig zu sein, von einer »Selbst­triangulation« zu sprechen, da der Witz einer Triangulation ja gerade ihre kommunikative Einbettung ist. Aber Weil könnte mit der Tradition darauf verweisen, daß wir uns auch mit uns selbst verständigen müssen, sonst wäre es unmöglich, uns mit anderen ins Benehmen zu setzen. Unsere ungegenständliche Gegenstandsfähigkeit, die unserer szenischen Intentionalität zugrunde liegt, ist strukturell in triangulierenden Prozessen verankert. Wir waren schon szenisch verfaßt, bevor wir uns sozial arrangierten. Die Logik der Philosophie von Éric Weil beginnt aristotelisch und plotinisch: Menschen halten sich in der Welt, indem sie für sich Halt gewinnen. Und Halt gewinnen sie in einer Einstellung, griech. ἕξις, lat. habitus, franz. attitude, die sich im Diskurs bewährt und verwirklicht. Weil beginnt also nicht mit der Fiktion einer sinnlichen Gewißheit wie der Eingangs-Empirismus Hegels, sondern mit dem Format einer a limine soziomorphen, szenischen Weltstellung, die er aus der Hexis-Lehre des Aristoteles und Plotins aufnimmt. Die grundlegenden Einstellungsformen nennt Weil, wieder ganz aristotelisch und kantianisch, Kategorien. Er orientiert sich bei Aristoteles an der Kategorie der Qualität, die auch die sachhaltigste ist, weil sie über ihre vieldeutige Offenheit für ein Mehr oder Minder bzw. Ähnliches oder Unähnliches für nicht quantifizierbare Weltverhältnisse besser geeignet ist.1 Seinen Begriff der Haltung (ἕξις) entnimmt Weil offenbar der aristotelischen Metaphysik2 als szenisches Dazwischen oder Between (μεταξύ). Cat., Kap. 8. Met. V, 20, 1022, 1022 a sq. Die Haltung wird hier als ein Vermittelndes (μεταξύ) eingeführt, z. B. zwischen Halten und Gehaltenem. Cf. auch Plotin, Enn. VI, 8; hierzu Giannis Stamatellos, Virtue and H ­ exis in Plotinus, in: International Journal of the Platonic Tradition 9 (2015), pp. 129– 145. Daß Weil die neuplatonische Tradition sehr gut kannte, bezeugt auch die 1 Aristoteles,

2 Aristoteles,

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Es möchte übrigens sein, daß hier auch Anregungen des französischen Philosophen (und Schülers von Victor Cousin) Félix Ravaisson-Mollien (1813–1900) mit eingeflossen sind. Dieser hatte schon 1838 in Paris ein Buch mit dem Titel De l’habitude vorgelegt.3 Ravaisson-­Mollien war 1839 nach München gegangen, um dort Vorlesungen bei Schelling zu hören. Auch dessen Echo sollte man bei Weil heraushören, wenn er die Bewährungsform unserer Haltungen, gerade auch der Haltung des Philosophen, in der Risikozone zwischen einer Vernunftoption und »der Angst vor dem Vernunftlosen in ihm«4 ansiedelt. In diesem Vernunftlosen gründet die Gewalt, gegen die unsere Vernunftnatur angeht, indem sie auf den absolut kohärenten Diskurs setzt. Aber auch für Weil ist klar, daß Gewalt insofern eine Möglichkeit unserer Vernunftnatur selbst ist, die sich in brutaler Egozentrik auf Kosten unserer Konzilianzbegabung (Allgemeinheitsfähigkeit im Sinne Kants) austobt. Das in der Tat ist reiner Schelling seit seiner Freiheitsschrift (1809). Weil präsentiert diesen originellen Neueinsatz seiner Logik der Philosophie aber nicht in der elaborierten Form eines Traktats, sondern in der offenen und szenischen Form einer metaphysischen Erzählung. Hier ist zweifellos der Stil der Phänomenologie des Geis­ tes von Hegel sein Vorbild gewesen. Eine andere Form stand ihm seinerzeit, wie schon angemerkt, gar nicht zur Verfügung. Dadurch bewahrte sein Text eine phänomenologische Offenheit, die zwar ebenso schwer zu lesen ist wie sie zugleich anregend zu wirken vermag. Von nicht zu unterschätzender Bedeutung für seine rezente Wirkungsgeschichte ist natürlich die 2010 erschienene deutsche Übersetzung der Logik durch Alexander Schnell gewesen. Merkwürdig dennoch, daß erst in den letzten fünf Jahren vor allem im deutschen Sprachraum die Logik Weils wieder größeres Interesse geaus dem Nachlaß edierte frühe Schrift: Éric Weil, Ficin et Plotin, ed. Alain Deligne, Paris 2007. 3 Dt. von Gerhard Funke, Abhandlung über die Gewohnheit, Bonn 1954. – Funke nennt die elementaren Formen der »Haltungen« oder »Einstellungen« nicht Kategorien, auch nicht Existenzialien wie Heidegger, sondern – etwas gespreizt – »Hexiale«. Cf. ders., Artik. Hexis (habitus), in: Joachim Ritter (ed.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, Basel  /  Stuttgart 1974, Sp. 1120–1123. 4 Éric Weil, Logik der Philosophie, trad. Alexander Schnell, Hildesheim 2010, p. 36.

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funden hat, zuerst bei Yves Bizeul,5 dann auch bei Peter Gaitsch,6 Patrick Schuchter,7 Philipp Wünschner und Frauke Kurbacher8 u. a. Sie alle griffen Weil mit Blick auf eine fernere Theorie der Haltung phänomenologisch in zwischenmenschlichen Tableaus auf, die in deontologischen und auch konsequenzialistischen Konzeptionen der letzten zwanzig Jahre insbesondere in den anthropologischen Grundlagen der Ethik verlorengegangen waren. Weils Logik der Philosophie beginnt nach einer methodischen Einleitung mit der »Haltung der Wahrheit« und endet in der »Haltung der Weisheit«. Jedes der achtzehn Kapitel zu Kategorien von Haltungen ist ein kleiner Roman des Phänotyps ›Mensch‹, wie Gottfried Benn formulieren würde. Weisheit ist dabei kein Ziel, sondern begleitende Einstellung aller Einstellungen: »Weisheit ist also kein Wissen eines bestimmten Inhalts«,9 sondern Dokument unserer Vernunftnatur in ihrer Wahrheitsfähigkeit, gewissermaßen unser tonales Zentrum. Damit schließt sich der Kreis. In der Weisheit werden wir unserer Wahrheitsfähigkeit inne und sind es, »der Rest ist Schweigen«.10 Eine gewisse Achsenstellung nimmt in Weils Logik das neunte Kapitel ein, das der Einstellung der Bedingung (condition) gewidmet ist. Natürlich ist schon der Titel schwer verständlich. Was soll »Einstellung der Bedingung« überhaupt heißen? Hierzu gewinnt man nur einen Zugang, wenn man die Abhebung vom Göttlichen im vorhergehenden Kapitel hinzunimmt, um den Kontrast zu verdeutlichen. Die Einstellung der Bedingung ist im Prinzip nur die Favorisierung des Bedingten, wie es götterfrei und dennoch szenisch in Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst zugänglich wird. Wenn die 5 Yves Bizeul (ed.), Gewalt, Moral und Politik bei Eric Weil, Hamburg 2006. 6 Peter Gaitsch, Eric Weils Logik der Philosophie, Wien 2013. 7 Patrick Schuchter, Eric Weil. Der Weg des Denkens in die Gegenwart und die Entscheidung für die Vernunft, Wien 2014. In einem Anhang seines Buches (pp. 141–145) bietet Schuchter einen sehr nützlichen tabellarischen Überblick über die Logik an. 8 Philipp Wünschner, Eine aristotelische Theorie der Haltung. Hexis und Euexia in der Antike, Hamburg 2016. Frauke Kurbacher / Philipp Wünschner (eds.), Was ist Haltung? Begriffsbestimmung, Positive Anschlüsse, Würzburg 2017. Frauke Kurbacher, Zwischen Personen. Eine Philosophie der ­Haltung, Würzburg 2017. 9 Éric Weil, Logik, op. cit., p. 567. 10 Éric Weil, Logik, op. cit., p. 571.

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religiöse Einstellung hinter sich gelassen wird, erscheint die gesamte condition humaine nur als Zone meßbarer Verhältnisse, die im Kapitalismus, Szientismus und Artistik unserer Zeit ausagiert werden. Der Kampf mit der Natur wird in der »Haltung der Bedingung« selbstreflexiv und zugleich selbstzerstörerisch: »Für den Menschen in der Einstellung der Bedingung gibt es […] nur den Konflikt der Natur mit sich selbst«,11 und Dokumente dieses Konflikts sind Areale einer Selbstfesselung im Immerselben, d. h. in der Wiederholung in Arbeitsverhältnissen, Wissenschaft und Kunst von der politischen Romantik bis zum Surrealismus.12 Den Kampf mit der Natur, d. h. letztlich mit sich selbst, entnimmt Weil Hegels Kapitel Herr und Knecht, nennt ihn darüber hinaus aber ein »transcendentale, das, weil es das letzte Faktum ist, sich nicht erklären läßt«.13 Das ist für ihn durchaus ungewöhnlich. In der Moderne verblaßt der Sinnbezug der Einstellungen komplett, selbst unser Selbstverhältnis bleibt völlig entleert zurück. Patrick Schuchter hat das in seiner Interpretation Weils pointiert zusammengefaßt: »Der Mensch in dieser Einstellung verhält sich zu sich selbst, indem er sich nicht zu sich selbst verhält.«14 Paradoxerweise ist erst in dieser Negativität der Weg zur Einstellungsentdeckung von Bewußtsein, Intelligenz, Persönlichkeit und Sinn etc. frei. Die Moderne wird geboren aus einer anfänglichen Verneinung ihrer selbst. Darin besteht ihre Krisenanfälligkeit, die am Geburtsdrama ihres Eintritts in die Einstellung der Bedingtheiten immer noch leidet und leiden muß. Aber diese Negativität der modernen Einstellung in einem exklusiven Feld von Bedingtheiten ruft zugleich eine Einstellung des Unbedingten oder des Absoluten hervor. Das ist natürlich keine gegenständliche Einstellung, sondern fundiert quasi jede Vergegenständlichung als ihre untilgbare Voraussetzung, und zwar so, daß dieses Fundierende nie Éric Weil, Logik, op. cit., p. 274. Éric Weil, Logik, op. cit., p. 302 Anm. 27. Ob hier Éric Weil an Carl Schmitt gedacht hat, läßt sich nicht schlüssig belegen, obwohl er an dieser Stelle auch de Maistre erwähnt. Cf. Graeme Garrard, Joseph de ­Maistre and Carl Schmitt, in: Richard A. Lebrun (ed.), Joseph de Maistre’s Life, Thought, and Influence, (McGill-Queen’s Univ. Press), Montreal  /  Kingston 2001, pp. 220–240. Man beachte allerdings, daß Weil in seinem Eingangskapitel Wahrheit auch auf die Romantiker im kritischen Stil von Carl Schmitt zu sprechen kommt: »Für sie [die Romantiker] existieren alle Möglichkeiten. Sie können die Möglichkeiten gegeneinander ausspielen.« (Logik, op. cit., p. 127). 13 Éric Weil, Logik, op. cit., p. 274 Anm. 18. 14 Patrick Schuchter, Eric Weil, op. cit., p. 70. 11

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VI. Selbsttriangulation

Vordergrund werden kann. Das ist wieder die anonyme Kohärenz, auf die unsere Vernunftnatur und jeder Diskurs einfach nur zugeht. Erst hier beginnt die Selbsttriangulation von Éric Weil, von der oben schon die Rede war. Der Blick von Nirgendwo macht ein Einstellungsuniversum erst möglich, bleibt aber an jeder Stelle erhalten. Deshalb ist das Nichtwissen, das wir über Indikatoren der Haltungen aufzuhellen versuchen, untilgbar, nicht als Defizit, sondern als Voraussetzung unserer heuristischen Verfassung. In sie ist eine Tiefenangst (aus dem Leeren) allen Haltungen schon eingebaut, bevor sie uns zu okkasionellen Ängsten Veranlassung bietet. Die Selbstfraglichkeit des Menschen bleibt ihm über alle Facetten seiner Einstellungen erhalten, deshalb hört seine antwortlose Selbstbefragung nie auf. Das Mögliche ist nicht limitiert. Weil: »Der Mensch, der sich in der Welt orientieren will […], sieht nun ein, daß er gar nicht auf Fragen, die er nicht nicht stellen kann, bevor er nicht das Problem der Möglichkeit […] gelöst hat, antworten kann.«15 Wir haben mithin keinen Grund, diese Tiefenangst zu beschönigen: Sie kehrt an jeder Stelle unserer pronominalen Haltungen wieder. Sie ist als Voraussetzung unserer elementaren Ungesättigtheit zugleich auf Dauer gestellt. Wir existieren gewissermaßen wie Variablen, auch da und besonders da, wo wir uns unter überkommenen Konstanten zivilisiert eingerichtet haben. Genau das birgt das Risiko eines Rückfalls hinter ein erreichtes Niveau zivilisatorischer Prozesse, denn auch diese können selbstdestruktiv werden. »Das Denken«, schreibt Weil in der Einleitung, »muß somit schon ziemlich weit vorangeschritten sein, damit jemand erklären kann, daß er den Revolver zieht, sobald er nur das Wort ›Zivilisation‹ hört«.16 Das genau ist Weils Situation im Deutschland der Nationalsozia­ listen gewesen, und nicht nur seine. Gewalt tritt uns entgegen als Störung der großen, aber anonymen Kohärenz, und macht daher den Diskurs unmöglich. Die szenische Metaphysik Éric Weils ist zugleich eine politische Metaphysik. Und diese ist bleibend auch ein Rahmen für ein europäisches Selbstverständnis. Éric Weil, Logik, op. cit., p. 69. Éric Weil, Logik, op. cit., p. 90. Cf. hierzu ergänzend: Gottfried Willems, ›Frei um zivilisiert zu sein und zu sein‹. Das Verhältnis von moderner Kunst und Zivilisationskritik im Licht von Gertrude Steins ›Paris Frank­ reich‹, Erlangen  /  Jena 1996 (Jenaer Philosophische Vorträge und Studien, Bd. 17, ed. Wolfram Hogrebe). 15

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VII. Europa Eine stimulierende Übernahme von Weils Vokabular der »Haltungen« begegnet uns bei Rémi Brague. Zugleich bietet er vor allem eine überaus sensible geschichtsphilosophische Untermauerung von Weils szenischer Metaphysik. So verwendet er in seinem Buch Europa – seine Kultur, seine Barbarei. Exzentrische Identität und römische Sekundarität1 seinen Achsenausdruck l’attitude romaine, um eine kulturelle Haltung zu charakterisieren, die darauf abgestellt ist, sich das Überkommene verwandelnd anzueignen, »das Alte zu erneuern«.2 Römisch ist mithin von Anfang an eine kulturelle Renaissancefähigkeit. Denn: »Römisch ist die Erfahrung des Beginns als Wiederbeginn.«3 Dafür steht nicht nur der römische Ahnenkult, sondern auch das Anknüpfen an kulturelle Profile, die, wie in Griechenland, den Römern als ein Unbekanntes, aber für sie Bereicherndes entgegentraten. Daß Brague hier von einer römischen Haltung spricht, hat Gründe, auf die ich gleich noch zu sprechen komme. Zunächst einmal geht es ihm nur darum, daß es sich bei diesem Konstrukt nicht um eine objektive Tatsache im historischen Sinn handelt, sondern um ein erschlossenes, aber belegbares, weil prägendes Sensibilitätsmuster, kurz: »um eine Gefühlseinstellung«.4 Brague greift also nicht explizit auf das Vokabular von Weil zurück, obwohl er es hätte tun können. Vielleicht war ihm sein ge1 2. überarbeitete und erweiterte Aufl., ed. Christoph Böhr, Wiesbaden 2012. 2 Rémi Brague, Europa, op. cit., p. 45. Der Ausdruck ›Haltung‹ kommt in dem Text von Brague sehr häufig vor. 3 Rémi Brague, Europa, op. cit., p. 44. Kritisches zur Orientierungsfunktion des Bildes einer Renaissance findet sich bei Andreas Kablitz (ders., Ist die Neuzeit legitim? Der Ursprung neuzeitlichen Naturverständnisses und die italienische Literatur des 14. Jahrhunderts (Dante – Bocaccio), Basel 2018, p. 77 sqq.) Für Kablitz tritt die Neuzeit ein, indem von einer doktrinalen zu einer narrativen Struktur übergegangen wird. 4 Rémi Brague, Europa, op. cit., p. 47.

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schichtsphilosophischer Versuch im Felde einer europäischen Selbst­orientierung, ja einer Triangulation der europäischen Idee, zu historisch, um an Weils metaphysisches Konzept anzuschließen. Dennoch bewegten ihn offenbar die strukturellen Vorzüge des Vokabu­lars der Haltung, um diese Wahl zu treffen. In dieser Hinsicht kommt er mit Weil sachlich überein. Der aristotelische Begriff der Haltung (ἕξις) hat ja den Vorzug, daß er eine menschliche Disposition bezeichnet, die ebenso einen Bezug zur Vergangenheit (Ursprung) hat wie zur Zukunft (das Neue), zugleich aber nur dann historisch existiert, wenn er sich in einem Gegenwärtigen stabilisiert hat. So bezeichnet auch der Terminus »Europa« nicht nur eine Herkunftssubstanz, ja eigentlich gar keine Substanz, sondern vielmehr eine Prozeßform der Aneignung eines bereichernden oder korrigierenden Neuen im Licht von Überkommenem. Mit Brague: »Europäisierung ist eine innere Bewegung Europas, das heißt, sie ist die Bewegung, die Europa als solches ausmacht. […] Europa ist das Resultat der Europäisierung und nicht deren Ursache.«5 An dieser Stelle möchte sich Brague auch von Joachim Ritter absetzen, dem er unterstellt, daß er unter »Europäisierung« nur einen Kopiervorgang von schon Vorhandenem verstehe. Davon kann nur bedingt die Rede sein, wenn überhaupt. Auch Ritter nennt die Europäisierung »die Bewegung, in welcher sich ihre innere Universalität zur äußeren Realität entfaltet«.6 Gewiß: Die »innere Universalität« ist schon vorhanden, aber nur programmatisch. Insofern kann sie gar nicht kopiert, sondern immer nur aufs Neue realisiert werden. Denn die Universalität, das Allgemeine, ist natürlich immer schon vorhanden, sofern wir von einer Kultur des homo sapiens sprechen. Das ist Hegels Einsicht gewesen, und es ist nicht zu sehen, wie man das Allgemeine (κάθολον) in kulturellen Prozessen entstehen lassen könnte, ohne es schon vorauszusetzen. Seiner ratio essendi nach ist der homo sapiens a limine katholisch, d. h. allgemeinheitsfähig, nicht jedoch seiner ratio cognoscendi nach. Das würde selbst Luther nicht bestreiten, weil es keine Frage von Konfession ist. Das hat in unserer Zeit politisch 2015 wohl nur die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel verstanden, die, obschon in der Rémi Brague, Europa, op. cit., p. 152. Joachim Ritter, Europäisierung als europäisches Problem (1956), in: ders., Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel, Frankfurt  /  M. 1969. 5

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abstanderzwingenden Identität einer protestantischen DDR aufgewachsen7, im genannten Sinne »katholisch« agiert: Das Gefängnis im Bahnhof Keleti pu / Budapest wurde 2015 für Flüchtlinge nach Deutschland geöffnet. Genau das rechneten ihr unbedarfte Geister später zum Nachteil an. Leider hatte sie es unterlassen, die Gefängnisöffnung als eine damals absehbar singuläre Tat verständlich zu machen. Dies in Rechnung gestellt, hat aber 2018 der Dichter Martin Walser in Aufnahme der antiken Tradition seit Horaz8 einen panegyrischen Artikel zu Angela Merkel verfaßt, und zwar in Form einer Bildbetrachtung unter dem Titel Ikonografie mit der Erläuterung: »Ich kann immer zu dem Bild der Kanzlerin fliehen, pilgern, wandern, es nimmt mich sofort in Beschlag.«9 Entgegen einem Bildverlust tritt mit Merkel für Walser völlig unerwartet ein geradezu redemptorischer, erlösender Bildgewinn in den historischen Raum: »Die Gegenwart ist immer eine Bilderflut. Und eben in dieser Flut steht, besteht, überlebt das Merkel-Bild. Die stille Wucht dieses Bildes ist auch ein Erlösungssignal.«10 Vor diesem Signal beugte Europa 2015 zunächst das Knie, später fiel es über die Kanzlerin her. Sie ahnte es schon am 31. 8. 2015 bei ihrer Ankündigung (Wir schaf­ fen das) und verabschiedete sich schon vorab von einem hartherzigen Land: »Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, daß wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mehr mein Land.«11 Das gütige Antlitz und eine humanitäre, ja benevolente Haltung gehören ab sofort zur europäischen Identität. »Frau Merkel«, so Walser panegyrisch, »ist ein Lichtblick.« Zugespitzt: »in der deutschen Geschichte ein Glücksfall«.12

7 Cf. hierzu Rémi Brague, Europa, op. cit., p. 28: »[D]ie protestantische Welt [hat] sich durch ihre Opposition zu der sogenannten ›römischen‹ Kirche definiert.« Das ist für die Perspektive einer »römischen Haltung« natürlich defizitär. Darunter leidet der Protestantismus bis heute. 8 Cf. Ernst Doblhofer, Die Augustuspanegyrik des Horaz in formalhisto­ rischer Sicht, Heidelberg 1966. 9 Martin Walser, Die stille Wucht der Frau Merkel, in: Der Spiegel, Nr. 46, 10. 11. 2018, pp. 126–129. 10 Martin Walser, Die stille Wucht, op. cit., p. 129. 11 Zit. nach Martin Walser, Die stille Wucht, op. cit., p. 128. 12 Martin Walser, Die stille Wucht, op. cit., p. 127.

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Der Hauptpunkt von Rémi Brague ist hiermit strukturverwandt. Er akzentuiert in Anlehnung an Helmut Plessner die exzentrische Identität Europas. Das besagt: Europas Identität existiert nur im Prozeß einer Selbstfindung im Außenverhältnis. Hier wird Brague geradezu zum politischen Herold einer Offenheit, die historisch und auch gegenwärtig bis zu Angela Merkel wörtlich eine Herausforderung war und ist: »Ich sage den Europäern daher: ›Ihr existiert nicht!‹ Es gibt keine Europäer. Europa ist eine Kultur.«13 Und diese Kultur hat sich im Dreieck von Athen, Jerusalem und Rom trianguliert, um dann die Triangulation im Rahmen dieser Außenwinkel in andere Areale, also in den arabischen Raum (Mekka), aber auch in den asiatischen bis zu Japan und China fortzusetzen. Dafür steht eine attitude romaine, die für eine politische Gegenwart Verpflichtung bleibt, die weiß, daß sie auch von einem Islam, wo immer er in eine produktive Berührung mit Europa eingetreten war, profitiert hat. Wo bleibt bei Rémi Brague aber die Gewalt, von der Éric Weil als Gegner der Vernunft des großen kohärenten Diskurses ausging? Sie kommt bei Brague in seinem geschichtsphilosophischen Dispositiv nur als Barbarei, d. h. nur in ihrer Übersetzung durch Schelling vor. Unter Barbarei versteht Brague auch eine »Haltung«, es ist für ihn die Form einer exkludierenden Selbstbehauptung, eine Attitüde der Selbstabschließung, mit Schelling also eine Form ausagierter Egozentrik. Zu Teilen sind wir in dieser »Haltung« natürlich alle befangen, wo immer wir unsere Stimme erheben und uns geltend machen. Aber sich selbst geltend machen, genügt natürlich nicht, man muß, so Schelling, auch am Fremden in uns Anteil nehmen. Und damit tritt man erst in die »römische Haltung« ein. »Römisch ist in diesem Sinn jeder, der sich zwischen so etwas wie ›Griechentum‹ und ›Barbarentum‹ gestellt fühlt.«14 Ein architektonisches Sinnbild für diese Vermittlungshaltung ist, wie Brague im Anschluß an einen Hinweis von Beniamino Placido hervorhebt, das römische Aquädukt.15 Das Barbarische wird ein Teil von uns selbst, ein erkannter Teil, der es de facto immer schon war. So konnten schließlich sogar die Perser Rémi Brague, Europa, op. cit., p. 154. Rémi Brague, Europa, op. cit., p. 49. Cf. zu dieser Figur einer Zweieinheit Wolfram Hogrebe, Duplex. Strukturen der Intelligibilität, Frankfurt  /  M. 2018. 15 Rémi Brague, Europa, op. cit., p. 50 und Anm. 62. 13

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nostrifiziert und als von Perseus abstammend erklärt werden. Was Barbar war, wurden wir selbst. Das ist römisch. Was Brague allerdings doch als Feind dieser römischen Haltung betrachtet, ist das, was er einen »kämpferischen Laizismus« nennt, einen militanten Atheismus also, der für das Rätsel der Geschichte und unserer Stellung im Kosmos unsensibel macht. Diese abgestumpfte Haltung, übrigens ein erklärtes Erziehungsziel der Philosophie in der DDR,16 steht einer attitude romaine strikt entgegen. Brague neigt hier allerdings der Hypothese zu, »daß dieser Laizismus einer Dialektik verpflichtet ist, die tendenziell zu seiner Selbstzerstörung führt«.17 Warum? Hier führt Brague einen Gedanken an, der ebenso schwierig wie nachdenkenswert ist. Er argumentiert so: Die säkulare Trennung des öffentlichen vom privaten Bereich hatte ja seinerzeit den Sinn, daß man so den privaten Bereich als schützendes Reservat des Religiösen deklarieren konnte. Damit, so Brague, ist indes die gleichzeitige Leugnung einer Präsenz des Göttlichen in einer einzigen Gestalt unverträglich.18 Das soll vermutlich besagen: Die Privatisierung des Göttlichen ist mit einem staatlichen Atheismus logisch unverträglich. Ist das zwingend? Vielleicht läßt sich das Argument auch so fassen: Man kann das κάθολον nicht privatisieren und zugleich seine Existenz leugnen. Denn dann wäre schon der Versuch seiner Privatisierung ein flagranter Widersinn. Dennoch befindet auch Brague am Ende und – gewissermaßen zum Trost – bündig: »Europa muß Ort der Trennung des Weltlichen und des Geistlichen bleiben – oder wieder werden; darüber hinaus Ort des Friedens zwischen den beiden Sphären.«19 Gleichwohl bleibt er skeptisch: »Ich weiß nicht, ob Europa eine Zukunft hat. Ich meine aber zu wissen, wie es sich eine solche verscherzen könnte.«20 Wie immer. Die exzentrische Identität Europas hängt jedenfalls von diesen Fragen nicht ab. Seine Vitalität (Sichselbst im Anderen, das Andere in Sichselbst) hat die europäische Haltung längst bewiesen und genau dies hat auch die restliche Welt zumindest klandestin 16

So immer wieder triumphierend Reinhard Mocek (vor 1989 Prof. für Philosophie an der Universität Halle) mündlich zum Verf. und auch öffentlich in Vorträgen. 17 Rémi Brague, Europa, op. cit., p. 187. 18 Cf. Rémi Brague, Europa, op. cit., p. 188. 19 Rémi Brague, Europa, op. cit., p. 209. 20 Rémi Brague, Europa, ibid.

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anerkannt, dafür steht auch die gegenwärtige Globalisierung urbi et orbi. Es mag sein, daß Europa dereinst geographisch in einer militärischen Götterdämmerung untergeht. Allein: Das κάθολον kann nicht untergehen, weil es in nichts restlos inkorporierbar ist. Dieses platonische Surplus, das uninterpretiert bleiben mag, obwohl wir es immer wieder zu interpretieren versuchen, werden wir jedenfalls nicht los, sofern wir überhaupt etwas loswerden können. Denn dieses Surplus wird schon in jeder »Haltung« (τὸ μεταξύ) bezeugt, seine Existenz ist Beleg für den homo sapiens, unabhängig davon, was er daraus macht und wie immer er auch interpretiert. Daß in diesem Zuvorgekommenen unserer »Haltungen« gerade auch eine Verpflichtung zur Anerkennung des Fremden beschlossen ist, davon lebt die attitude romaine. Und sie bleibt in einer szenischen Metaphysik philosophisch heimisch, aber da notwendig.

VIII. Lebensrätsel Am Ende seines Logischen Aufbaus der Welt (1928) gesteht Rudolf Carnap, daß es ein Irrtum wäre, wollte man annehmen, »die Forderung des Lebens könne allein mit Hilfe der Kraft des begrifflichen Denkens erfüllt werden«.1 Insbesondere verschwinde das nicht, was wir »Lebensrätsel« nennen. Bei diesen handele es sich allerdings nicht um theoretische Probleme oder Fragen, denen wir wissenschaftlich zu Leibe rücken könnten. Die Rätselhaftigkeit unseres Daseins entzieht sich der Wissenschaft. Denn diese Rätselhaftigkeit ist gar kein rational qualifizierbares Problem, sie entsteht, wie Carnap hervorhebt, stets nur in »Situationen des praktischen Lebens«: »Das Rätsel besteht […] in der Aufgabe, mit der Lebenssituation ›fertig zu werden‹.«2 Fertig werden kann man mit Lebenssituationen aber nur dann, wenn man sich nach einer prekären Erfahrung wieder fassen kann, das heißt, eine bestimmte »Haltung« gewinnt. Eine solche Haltung ist Sediment einer Erfahrung und ihrer Verarbeitung. Wenn wir uns so ›gefangen‹ haben, wissen wir, und der Philosoph Carnap sagt das auch, daß die epistemische Qualität dieser Attitüde, wie der Glaube, »nicht [in] etwas begrifflich Formulierbare[m]« terminiert, »sondern eine innere Haltung des Menschen [bleibt]«.3 »Haltungen« sind hiernach in allen Situationen unentbehrliche Stützen unserer Lebensbewältigung. Sie begegnen uns in allen von Carnap »intuitiv« genannten Unternehmen wie Kunst, Mythen und Metaphysik, auch in Lyrik und Erotik. Genau hier vollzieht sich ein bleibender Anschluß unserer Rationalität ans Leben. »Haltungen« sind, wie man Carnap ergänzen könnte, in elaborierter Form etwas Habitualisierbares, manchmal sogar Bildungseffekte. Denn immer ist in diesen haltungsbedürftigen Feldern »etwas Unaussprechbares

Rudolf Carnap, Der logische Aufbau der Welt, Hamburg 1966, p. 260. Rudolf Carnap, op. cit., p. 261. 3 Rudolf Carnap, op. cit., p. 256.

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gemeint«,4 und so etwas gehört natürlich nicht zum Einzugsbereich der Wissenschaft. »Haltungen« sind etwas, was für Lebenssituationen relevant ist, um sie zu meistern. Sie gehören daher zum praktischen Bereich der Lebensführung und nicht zur Wissenschaft. In diesem Sinne steht natürlich auch die Orientierung an Wissenschaften im Verpflichtungsbezirk einer »Haltung«. Wir nehmen sie da ein, wo wir etwas bewirken wollen, auch da, wo wir uns um eine rationale Lebensführung bemühen. Daß es hier Grenzen gibt, war Carnap als experimentellem Erotiker klar. Denn das, was der Philosoph in seiner Nachzeichnung eines logischen Aufbaus der Welt präzisiert, war natürlich schon vorher da. Diese Nachträglichkeit bejaht Carnap auch ausdrücklich und legt sie seiner vielzitierten methodischen Konfession, die seinem philosophischen Projekt den Boden bereitet, zugrunde: »Das Konstitutionssystem ist eine rationale Nachkonstruktion des gesamten, in der Erkenntnis vorwiegend intuitiv vollzogenen Aufbaus der Wirklichkeit.«5 Was schon war, wird in diesem System explizit. Genau das ist das Bestreben der Philosophie seit ihrer Erfindung. Bei Carnap ist die Explikationsrendite allerdings extrem begrenzt. Schon die unvermeidliche Nachträglichkeit seines Unternehmens und die Vorgängigkeit von »Haltungen« bleibt außerhalb seiner Zugriffsmöglichkeit. Er kann solche Dinge nur benennen. Aber schon das ­design einer grundsätzlich nachträglichen Reflexion muß man natürlich auch wollen und klären: Warum? Wieso denn bleibt auch einer ratio­ nalen Nachkonstruktion unvermeidlich eine »Haltung« im Rücken? Carnap thematisiert diesen Umstand nicht, und so bleibt seine Anthropologie bezüglich seines eigenen Anliegens defizitär. Er will rationale Entscheidbarkeit, aber warum er das will, bleibt für ihn opak. Seine eigene »Haltung« ersetzt, was noch auf Gründe hin befragt werden müßte. Die aristotelische Antwort auf diese Frage war seinerzeit der erste Satz der Metaphysik, daß nämlich alle Menschen von Natur aus nach Wissen streben, das beweise unsere Liebe zu den Sinneswahrnehmungen. Auch darüber darf nachgedacht werden und wurde es bis heute, aber soweit kommt Carnap erst gar nicht. Wozu Carnap nie einen Zugang hatte, ist die Situiertheit des Menschen. Er war situationsblind. Menschen kommen bei ihm nur vor wie Bauklötzchen mit Trieben, die es mit Messungen zu Ejakula­ 4

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Rudolf Carnap, op. cit., p. 257. Rudolf Carnap, op. cit., p. 139.

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tions- und Erektionsfrequenzen auch noch tabellarisch zu erfassen gilt.6 Solche Tabellen ersetzen bei Carnap die Anthropologie. Unsere szenische Existenz blieb ihm unzugänglich. Wenn man bedenkt, daß zum Zeitpunkt des Erscheinens seines Logischen Aufbaus, also 1928, ein situations- und einstellungssensibles Buch wie die Psychologie der Weltanschauungen (1919) von Karl Jaspers mit seiner Entdeckung von Grenzsituationen schon fast zehn Jahre auf dem Markt war, fällt Carnaps selektive Lektüre der Philosophie und Psychologie seiner Zeit doch unangenehm auf. Er blieb Neukantianer, war aber selbst zu produktiven philosophischen Entwicklungen wie der späte Natorp nie fähig.

6 Im Nachlaß von Rudolf Carnap, der in der Universität Pittsburgh liegt und von dem die Universität Konstanz eine Kopie hat, findet sich eine Art Tagebuch seiner sexuellen Aktivitäten, in dem er minutiös Meßergebnisse zu seinen Erektionen und Ejakulationen aufgezeichnet hat. Trotz dieser Kurio­ sität muß zugegeben werden, daß Carnap in seiner Selbstmetrisierung eine sehr konsequente »Haltung« bezeugt. Leider hat sie mit Philosophie nichts mehr zu tun.

IX.  Von der Haltung zur Situation Gleichwohl muß sofort hinzugefügt werden – so wenig Carnap der Rolle unserer Haltungen gerecht werden konnte, selbst wenn er es vermocht hätte: Haltungen genügen nicht. Die Architektur unserer epistemischen und moralischen Verfassung kann auf Haltungen zwar nicht verzichten, sie terminiert allerdings nicht in diesen. Das gilt auch für die anderen bislang vorgestellten Theoretiker von Haltungen, also für Weil und Brague. Sie haben zwar durchaus verdienstvoll auf unsere Attitüden und ihre Rolle in unserer weltständigen und historischen Existenz hingewiesen, aber gerade ihre Bedeutung für unsere Weltständigkeit keineswegs erschöpfend analysiert. Haltungen bezeugen unsere sedimentierte Subjektivität, die Erfahrungen gemacht und von diesen gelernt hat. Insofern gilt es, von Formen der Haltung zu ihren situativen Einbettungen überzugehen, »weniger beim erlebenden Subjekt als bei seinem Korrelat dem erlebten Objekt [zu verweilen]«.1 Diesen Übergang von der Subjektivität von Haltungen zur Objektivität ihrer situativen Verankerung hatte sich Walter Feilchenfeld schon 1932 als Programm vorgenommen. Er knüpft dabei an Überlegungen an, die der später seltsame Karlfried von Dürckheim bereits in seiner Dissertation »Erlebnisformen« (1924) vorgelegt hatte, die ihrerseits ohne das Buch »Lebensformen« von Eduard Spranger (2. Aufl. 1921) auch nicht denkbar sind. Allerdings vollzieht schon von Dürckheim gegenüber Spranger eine soziologische Wende, die Spranger im Vorwort zur 2. Auflage seiner »Lebensformen« selbst als Desiderat benennt. Auf dem Wege zu »einer wissenschaftlichen Bildungstheorie […], die mir vorschwebt«, müsse, so Spranger, jedenfalls ein überindividuelles Niveau erreicht werden, also »eine Theorie der überindividuellen Subjekte«, sprich: »eine Analyse der soziologischen Strukturen, die

1 Walter Feilchenfeld, Gedanken über eine Psychologie der Situation, in: Archiv für die gesamte Psychologie 87 (1933), pp. 161–182, hier p. 162.

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beide aus dem Zusammenhang der vorliegenden Arbeit noch ausgeschlossen bleiben mußten«.2 Bei von Dürckheim ist dieser Übergang vollzogen und sein Unter­titel verrät das auch: »Ansatz zu einer analytischen Situations­ pycho­logie«.3 Feilchenfeld setzt sich allerdings vom subjektiven Binnenhorizont der Analysen von Dürckheim, der bei Formen des Erlebens verbleibt, sofort ab, um den konkreten Situationen des Erlebens Rechnung tragen zu können. Wer war nun Walter Feilchenfeld? Geboren 1896 in Berlin, studierte er in derselben Stadt nach dem 1. Weltkrieg Germanistik und Klassische Philologie und wurde 1922 (bei Julius Petersen, Gustav Roethe und Eduard Spranger4) mit der Arbeit »Der Einfluß Jakob Böhmes auf Novalis« (ersch. Berlin 1922) promoviert. In dieser auch heute noch lesenswerten Arbeit konnte Feilchenfeld den indirekten und direkten Einfluß einer von Tieck und Lavater angeregten Lektüre Böhmes nachweisen. Insbesondere gelingt es ihm, bei Novalis eine subjektive und eine objektive Weltsicht in der Vision einer universellen Urszene als versöhnt nachzuweisen.5 Bemerkenswert ist, 2 Eduard Spranger, Lebensformen. Geisteswissenschaftliche Psychologie und Ethik der Persönlichkeit, 5. Aufl., Halle 1925, Vorwort zur 2. Aufl. (1921), p. X sq. 3 Karlfried Graf von Dürckheim, Erlebnisformen, in: Archiv für die ge­ samte Psychologie 46 (1924), pp. 262–350. 4 Mit Spranger hatte Feilchenfeld bis zu seinem Tod Briefverkehr. Cf. dazu Klaus-Peter Horn, Leben in und außer der Zeit. Die Korrespondenz zwi­ schen Walter Feilchenfeld / Fales und Eduard Spranger 1923 bis 1953, in: Volkserzieher in dürftiger Zeit. Studien über Leben und Wirken Eduard Sprangers, Frankfurt  /  M. 2004, pp. 83–104. 5 Walter Feilchenfeld, Der Einfluss Jacob Böhmes auf Novalis, Berlin 1922, p.88. Hier zitiert Feilchenfeld Novalis: »Das Weltall zerfällt in unendliche, immer von größeren Welten wieder befaßten Welten. Alle Sinne sind am Ende Ein Sinn. Ein Sinn führt wie Eine Welt allmählich zu allen Welten. […] Nur die Person des Weltalls vermag das Verhältniß unsrer Welt einzusehn.« – Der von Feilchenfeld herausgearbeitete pantheistische Grundzug der späten Zeit von Novalis hat die Frage nach einer bei ihm annoch verbleibenden Transzendenz noch außer sich. Cf. dazu erst Manfred Frank, Die Philosophie des sogenannten ›magischen Idealismus‹, in: Euphorion 63 (1969), pp. 88–116. Feilchenfeld hatte aber schon darauf hingewiesen, daß Novalis das Niveau seines magischen Idealismus zur Zeit seines Rückgriffs auf Böhme bereits überschritten habe. Die Resttranszendenz bleibt szenisch, um dem Faktum einer universellen »Selbstheterogenisierung« wie Feilchenfeld formuliert, gewachsen zu bleiben. Cf. ders., Der Einfluss, op. cit., p. 56.

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daß Novalis schon in seiner Auseinandersetzung mit Fichte dessen Ich szenisch begreift.6 Nach verschiedenen Tätigkeiten als Lehrer (u. a. am jüdischen Lehrerseminar in Berlin) verließ er 1938 notgedrungen Deutschland, floh nach einem Aufenthalt in der Schweiz 1940 in die USA und nahm hier auch den Namen seines Vorfahrens Wolf Fabian Fales (1745–1820) an.7 Bekannt geworden ist Feilchenfeld für seine Tätigkeit als leitender Redakteur von Pestalozzis »Sämtlichen Werken«. Von 1946 bis 1953 war er Professor für Philosophie an der Lincoln University  /  Pennsylvania. Hier starb er 1953. Außer seinen editorischen Verdiensten um die Pestalozzi-Ausgabe ist seine schon erwähnte Arbeit zu Böhme und Novalis zu nennen, die Richard Samuel, der Herausgeber der Werke von Novalis, auch in der revidierten Ausgabe von 1977 noch zitiert.8 Ferner zählen zu den immer noch (wenn auch leider viel zu selten) zitierten Schriften von Feilchenfeld sein Beitrag zur Aufklärung der Vor­ geschichte der Monadologie von Leibniz9 und eben der hier bei­ gezogene Aufsatz zur Situationspsychologie. In letzterem entwickelt er die situative Einbettung unserer emotionalen, mentalen und pragmatischen Verfassung unter den Titeln »Situation der Affekte«, »Situation der geistigen Akte« und »Situation des Handelns«. Feilchenfeld bietet sehr subtile Beobachtungen, die subkutan zur Diagnose seiner damaligen Zeit gehören. So wenn er im ersten Abschnitt »die Neigung zur Massenpsychose« aus dem Wunsch erklärt, »zurückgehaltene Affekte dort zügellos zu befriedigen, wo die Scham vor den anderen wegfällt«.10 Weniger offenkundig läßt sich die situative Basis unserer mentalen und kreativen Verfassung eruieren. Das liegt daran, daß »die Situation überhaupt 6 Cf. Novalis, Fichte-Studien, in: Novalis, Schriften, Bd. 2, eds. Richard Samuel / Hans-Joachim Mähl / Gerhard Schulz, Stuttgart  /  Berlin  /  Köln  /  Mainz 1981, p. 265: »Der Begriff a wird dem vorhandenen a entgegengesetzt. Ihre gemeinschaftliche Sfäre, ihre Szene ist das Ich – das Subjekt.« 7 Walter Feilchenfeld, The descendents of Wolf Fales (A chronicle of the Feilchenfeld family) (1947), online (Center for Jewish History). 8 Novalis, Schriften, eds. Paul Kluckhohn / Richard Samuel, Bd. 1, Stuttgart 1977, p. 124. 9 Walter Feilchenfeld, Leibniz und Henry More. Ein Beitrag zur Entwick­ lungsgeschichte der Monadologie, in: Kant-Studien XXVIII (Berlin 1923), pp. 323–334. 10 Walter Feilchenfeld, Gedanken, op. cit., p. 164.

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erst während des Schaffens und durch das Schaffen zur wohldefinierten Situation vervollständigt wird«.11 Obschon zutrifft, daß für uns die Situation gerade das ist, was uns Halt gibt – denn »die Welt, die uns begegnet, ist immer schon eine geordnete Welt« – so trifft doch ebenso zu, »daß die Situation nichts anderes ist als eine Objektivierung des Menschen«.12 Dennoch heißt das wieder nicht, daß ein Akteur sein eigenes situationsgemäßes Handeln vorhersehen könnte, noch können es die Koakteure, selbst wenn sich alle einigermaßen »aufeinander verlassen« können, aber sicher kann man sich nie sein. Auch Kollektive sind, trotz ihrer situativen Einbettung, ohne Risiko nicht zu haben. Das kann man auch gut an der Art studieren, wie wir in ein Gespräch eintreten. Wir erzeugen nolens-volens Gesprächssituationen, deren Verlauf wir, gerade als Beteiligte, Segment für Segment Rechnung tragen müssen. Gerade wenn wir auf einen Konsens aus sind, bemerken wir doch immer wieder, »daß man innerlich von der Auffassung des anderen weit entfernt ist«.13 Jedes Gespräch ist in diesem Sinne situationskreativ, ohne daß dies eine positive Validierung sein müßte. In manchen Gesprächen glückt etwas, in anderen ›verheddern‹ wir uns: »Kurz, jedes Gespräch bringt einen in bestimmte Situationen, denen man sich anzupassen hat«.14 Hier vollziehen wir, auch schon gesprächsweise, den Übergang in die Welt des Handelns, in der wir zweifellos im eigenen Interesse entscheiden, aber auch Verantwortung übernehmen. Ein Handelnder und die von ihm maßgeblich mitbestimmte Handlungssituation treten auffällig auseinander: »Der Gastgeber empfindet die gesellschaftliche Veranstaltung anders als die Gäste. Wer jemand ins Theater einlädt, nimmt die Vorstellung anders auf, als wenn er allein wäre.«15 Alle solche Situationen, auch solche wie die eines Seiltänzers, Autofahrers oder Prüflings, rufen in uns ganz unterschiedliche Bereitschaftsprofile auf, die uns instand setzen, der jeweiligen Situation gerecht zu werden: »Jede Situation fordert die Individualität zu einer Bereitschaft auf, die in der Enge des Bewußtseins zwar kulminiert, aber nicht ganz enthalten ist.«16 Situationen rufen uns immer 11 12 13 14 15 16

Walter Feilchenfeld, Gedanken, op. cit., p. 167. Walter Feilchenfeld, Gedanken, op. cit., p. 168. Walter Feilchenfeld, Gedanken, op. cit., p. 175. Walter Feilchenfeld, Gedanken, op. cit., ibid. Walter Feilchenfeld, Gedanken, op. cit., p. 180. Walter Feilchenfeld, Gedanken, op. cit., p. 182.

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ganz auf, nicht nur das, was unser aktuelles Bewußtsein präsent hält, auch das, was unser nicht satzförmig abgespeichertes know how als Reaktionsmöglichkeit bereitstellt, um uns situationsgerecht verhalten zu können. Insofern greift Feilchenfeld mit dieser Konzeption einer situativen Einbettung über bewußtseinszentrierte psychologische Ansätze ­hinaus. Gleichwohl bleibt auch er im Rahmen einer psychologischen Theorie, auch da, wo er am Ende einer Statistik unserer aktualisierten Bereitschaftsprofile das Wort zu geben scheint.

X. Situationslogik Feilchenfeld hatte seinen Text spätestens schon 1931 geschrieben, denn bereits am 6. Januar 1932 reichte er ihn der Redaktion des Ar­ chivs für die gesamte Psychologie ein (gedruckt 1933). Nur wenige Jahre später, 1938, faßte ein österreichischer Philosoph, nämlich Karl Raimund Popper, im Exil in Neuseeland unter dem erschreckenden Eindruck des Einmarsches der Deutschen in Österreich den Entschluß, seine Überlegungen zum Thema Die offene Gesellschaft und ihre Feinde niederzuschreiben (beendet 1943), das als Buch in zwei Bänden zuerst 1944 auf Englisch, 1957 in der Übersetzung von Paul Feyerabend auf Deutsch erschien. In diesem Buch baute Popper – ohne ihn zu kennen – Feilchenfelds Überlegungen zu Formen unseres situativen Existierens weiter aus, wobei er die Intuition Feilchenfelds, zu einer objektivierten Anthropologie vorzustoßen, allerdings vermied. Im zweiten Band thematisiert Popper die Autonomie der Soziologie und stellt den Begriff der Situation in den Mittelpunkt, um die Basis nicht mehr in einer Psychologie oder Anthropologie der Situation, sondern in einer Logik der Situation zu suchen und zu finden. In diesem Sinne war auch bei Feilchenfeld schon von einer Logik die Rede, jedenfalls da, wo er den Übergang vom mentalen zum pragmatischen Situationsverständnis in der dialogischen Situation anpeilt: »Jedem Gespräch wohnt eine bestimmte Logik inne.«1 Dennoch verläßt Feilchenfeld den Binnenraum seiner Fragestellung in der Psychologie auch hier nicht. Ganz anders Popper. Er ist gewiß bereit zuzugestehen, daß die Erklärung einer Handlung aus der Situation allein nie möglich ist, aber insbesondere die psychologischen Ingredienzien bieten doch häufig nicht mehr als pure Trivialitäten wie Verweise auf die menschliche Natur, Instinkte oder Wünsche nach Schmerzvermeidung etc. Zudem ist es ohnehin aussichtslos, alle psychologischen Faktoren in einer Situationsbeschreibung anzuführen. Ein Rückgriff auf solche irrtümlich unterstellten Kon­ 1

Walter Feilchenfeld, Gedanken, op. cit., p. 174.

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stan­ten verleitet zu Geschichtsprognosen, wie sie für historizistische Konzepte typisch sind und ihren Weltbeglückungsanspruch stützen. So bleibt am Ende tatsächlich nichts anderes als eben eine Logik der Situation, also eine Strukturtheorie des Handelns, die zwar vieles außer Acht lassen muß, aber das Wesentliche doch deutlich hervortreten läßt. Die zentrale Rolle gerade dieser Fokussierung für die methodische Grundlage auch der Gesellschaftswissenschaften unterstreicht Popper mit der Feststellung: »Die Analyse von Situationen, die Situationslogik, spielt im sozialen Leben wie auch in den Sozialwissenschaften eine sehr wichtige Rolle. Sie ist die Methode der ökonomischen Analyse.«2 Dieser methodisch sehr ambitionierte Anspruch ist in der Literatur natürlich auch kritisch diskutiert worden.3 Tatsache bleibt aber, daß eine reicher instrumentierte Methode ökonomischer Analysen wie in den mathematisierten Konzepten rationaler Wahl (Rational Choice-Theory) den strukturellen Kern von Poppers Intuition nicht berühren würde, da sie im Gegensatz zu Popper einer Einbettung ökonomischen Handelns gerne ausweichen und so manchmal die Bodenhaftung verlieren.4 Insofern hat sich seine Idee zumindest auf der Ebene der Theorie als sehr fruchtbar erwiesen, weil er dem Kind immerhin einen Namen gegeben hat. Von einer Situationslogik kann ohne schlechtes Gewissen auch ein experimenteller Ökonom sprechen. Popper ist in seinen späteren Werken auf diese Idee zurückgekommen. So in seinem Buch Das Elend des Historizismus, das 1965 auf Deutsch erschien.5 In ihm kritisiert Popper wieder den Histo2 Karl Raimund Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. II: Falsche Propheten, Bern  /  München 1970², p. 123. 3 Cf. zuletzt William A. Gorton, Karl Popper and the Social Sciences, New York 2006. Hier insbes. Kap. 4: Situational Analysis and Economic Theory, p. 59 sqq. 4 Das ist jedenfalls die Ansicht von Reinhard Selten (1930–2016) gewesen, der den Nobelpreis für Ökonomie 1994 ursprünglich für seine bahnbrechende Implementierung der mathematischen Spieltheorie in eine analytische Ökonomie erhielt (zusammen mit John Nash und John Harsanyi), um anschließend in Bonn den Weg zu einer experimentellen Ökonomie zu suchen, die den reinen Bayesianismus verabschiedet, d. h. die These, daß der homo oeconomicus ausschließlich Nutzenoptimierer sei. Psychologie, so Selten, spielt eben doch eine wichtige Rolle. Cf. Gerd Grigenzer / Reinhard Selten, Bounded Rationality: The adaptive toolbox, Cambridge Mass. 2001. 5 Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, 2. Aufl. Tübingen 1969,

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rizismus, also die These, daß der Geschichtsverlauf prognostizierbar ist. Als methodisches Fundament jeder Geschichts- und Sozial­ wissenschaft empfiehlt sich eine Situationslogik gepaart mit einem methodischen Individualismus, die beide auf psychologische Rückgriffe verzichten können, um eine Objektivität zu erreichen, die für wissenschaftliche Erkenntnisse nun einmal kennzeichnend sein muß. Auch in seinem Buch Objektive Erkenntnis, das 1973 auf Deutsch erschien, kommt Popper wieder auf seine Intuition einer Situationslogik, von ihm auch Situationsanalyse genannt, zu sprechen. Er versteht darunter »eine bestimmte vorläufige oder vermutete Erklärung einer menschlichen Handlung aufgrund der Situation des Handelnden«.6 Was in einem relevanten Sinn zur Situation von Handelnden gehört, ist natürlich keine fixe Größe, sondern muß aus Quellen und Dokumenten erschlossen werden. Ferner ist zu berücksichtigen, daß wir eine Situation, wie sie war, von der Situation, »wie sie dem Handelnden erschien oder wie sie von ihm verstanden oder gedeutet wurde«, zu unterscheiden haben.7 Beides kann jedoch objektiv rekonstruiert werden, wie insbesondere auch die Wissenschafts­ geschichte der Naturwissenschaften vielfältig belegt. Menschliches Handeln kann eben ganz allgemein als Problemlösungsversuch aufgefaßt werden, der in der methodischen Struktur von Vermutung und Widerlegung genauso faßbar ist wie jeder wissenschaftliche Erkenntnisversuch auch. Popper bezieht in diese universelle Struktur auch die Künste mit ein und schreibt mit Verweis auf eine Bemerkung seines Freundes Ernst H. Gombrich zu Lorenzo Ghiberti: »Der Künstler arbeitet wie ein Wissenschaftler. Seine Werke sind nicht nur um ihrer selbst willen da, sondern auch dazu, bestimmte Problemlösungen aufzuzeigen.«8 Man erkennt unschwer, daß Popper die enge Welt der Kausalitäten im Namen einer Sensibilität für Probleme, welcher Art auch immer, überschreiten möchte. Ihm ist klar, daß die Kreativität des Menschen in anderen Dimensionen wurzelt als nur in der physikalischen Welt. So entwickelt er eine MehrKap. 31: Situationslogik in der Geschichte. Historische Interpretation (p. 115 sq.). 6 Karl R. Popper, Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf, Hamburg 1973, p. 199. 7 Loc. cit., Anm. 27. 8 Ernst H. Gombrich, Norm and Form. Studies in the Art of Renaissance, vol. 1, London 1966, p. 7.

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weltentheorie, die nicht nur die physische (Welt 1) und psychische (Welt 2), sondern auch die propositionale, die Welt unserer Gedanken und Theorien (Welt 3) umfaßt. Was diesen Welten Konsistenz und Kontinuität bietet, kann er allerdings, außer in einem Verweis auf die Evolutionstheorie, nicht erklären. Aber es ist bemerkenswert, daß sich der späte Popper schließlich genötigt sieht, die Welt des objektiven Geistes, die das enthält, was von Menschen erdacht und geschaffen wurde, aber doch mehr ist, anzuerkennen. »Was ich als das Wichtigste betrachte, ist nicht die bloße Selbständigkeit und Anonymität der dritten Welt, [sondern] daß wir […] der dritten Welt insbesondere unsere Rationalität verdanken.«9 Um das aber einzusehen, bedarf es, so Popper, einer Selbsttranszendierung. »Diese Selbstüberschreitung (self-transcendence) ist die auffallendste und wichtigste Tatsache allen Lebens und aller Entwicklung (of all life and all evolution), besonders der menschlichen Entwicklung.«10 Kraft dieser Selbstüberschreitung, die in der Literatur kritisch diskutiert wurde,11 münden wir in Zonen einer phantasievollen Kritik, »indem wir versuchen, uns Verhältnisse außerhalb unserer Erfahrung vorzustellen: indem wir die Allgemeingültigkeit oder strukturelle Notwendigkeit dessen kritisieren, was uns als das ›Gegebene‹ oder als ›Gewohnheit‹ erscheint (oder von den Philosophen so beschrieben wird)«.12 Diesem Sprung ins Surreale, den Popper nie so bezeichnet hätte, kann er als kritischer Rationalist deswegen nicht ausweichen, weil er die Dimension einbeziehen muß, aus der sich unsere Kreativität zu Alternativen speist. Um kritisch sein zu können, müssen wir für unerwartete Alternativen offen sein – und diese können weit über das hinausgehen, was wir im Rückgang zur Realität wiederfinden können. Im Spiel von uninterpretierten Alternativen bekundet sich unser Transfinitismus. Dieser ist eine intrinsische Struktur unserer szenischen Existenz und damit schon ein Kennzeichen unserer situa­tiven Freiheit. Jean-Paul Sartre hat das einmal so gebündelt: Karl R. Popper, Objektive Erkenntnis, op. cit., p. 166. Karl R. Popper, Objektive Erkenntnis, op. cit., p. 167. 11 Sehr kritisch ist Herbert Keuth, The Philosophy of Karl Popper, Cambridge 2005, On Self-transcendence, pp. 326 sqq. Er ist in allen kritischen Ausstellungen korrekt, aber für einen Philosophen genügt es nicht, korrekt zu sein. Cf. dagegen Stefano Gattei, Karl Popper’s Philosophy of Science: Ratio­nality without Foundations, London  /  New York 2008, p. 65 sq. 12 Karl R. Popper, Objektive Erkenntnis, op. cit., p. 167. 9

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»Wir nennen Situation die Kontingenz der Freiheit inmitten des Seins-Plenums der Welt.«13 Poppers Entwurf terminiert in der Tat, wie Stefano Gattei formulierte, in einer grundlosen Rationalität (rationality without foun­ dations). Und das muß auch so sein, weil so etwas wie eine Letztbegründung (final foundation) logisch unmöglich ist, da Prämissen sich nicht selbst überholen können.14 Mathematik und Musik sind zwar nicht ersichtlich, doch erdenklich und, wenn man so sagen darf, erhörlich möglich. Wir wissen aber nicht, warum.

Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenolo­ gischen Ontologie, Hamburg 1970, p. 617. 14 Man hat hier tu-quoque-Strategien mit aristotelischer Lizenz als Gegenbeispiele herangezogen. Allein solche ad hominem Capricen verfangen in ultimativen Zonen nicht. 13

XI.  Von der Situation zur szenischen Existenz Popper scheute sich nicht, unsere surreale Selbstüberschreitung (self-transcendence), die für Entwürfe »neuer Situationen« zu Prüfungszwecken in kritischer Absicht erforderlich ist, drastisch zu illustrieren: »So ziehen wir uns an unseren Haaren aus dem Sumpf des Unwissens; so werfen wir ein Seil in die Luft und steigen daran hoch – wenn es an irgendeinem noch so schwachen Zweiglein Halt findet.«1 Als Beschreibung unserer heuristischen Bemühungen ist das sicher korrekt, warum das aber so und nicht anders möglich und daher notwendig ist, verrät uns Popper nicht. Schon gar nicht, daß selbst ein »Zweiglein« nicht erforderlich ist, um unsere Möglichkeit, in die Luft zu steigen, zu beglaubigen. Diese Möglichkeit mußte es schon geben, bevor diese von einem »Zweiglein« signalisiert wurde. Einen »Halt finden« und die Befähigung, überhaupt nach einem Halt zu suchen, treten hier auseinander. Poppers Verachtung von Anthropologie und Psychologie steht ihm hier im Wege, vor allem aber seine Aversion gegenüber jeder Form von Metaphysik. Unsere heuristische Begabung, die Popper für seinen kritischen Realismus dringend benötigt, bleibt für ihn einfach ein Faktum ohne jedes Fundament. Seine Idee einer Situationslogik vermeidet jeden Kontakt mit einer szenischen Existenz des Menschen, aus der er nicht herauskann, weil in ihr bereits jedes »Heraus« beschlossen ist. Die szenische Existenz macht Situationen erst möglich, indem sie faktische Sachlagen zugleich überschreitet. Darin gründet unsere Selbstüberschreitung schon an der Basis unseres Existierens, nicht erst, wie Popper annahm, im kritischen Gestus unserer Suche nach Alternativen. An der Basis bleibt Popper Empirist alten Stils, obwohl er diesen scharf kritisierte. Die entscheidende Einsicht in eine szenische Existenz ist die, daß eine exklusive Terminierung unserer erkennenden Kraft im Begrifflichen in Abrede gestellt werden muß. Denkwürdig ist, daß eine 1

Karl R. Popper, Objektive Erkenntnis, op. cit., p. 167 sq.

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Omni­potenz des Begrifflichen schon in der mittelalterlichen Philosophie bestritten wurde. Sie suchte das verlorene Objekt, erst die Neuzeit das verlorene Subjekt. Hegel wußte das bereits. Ihm zufolge ging es darum, im Objekt das Subjekt zu finden und im Subjekt das Objekt. Das klingt für heutige Ohren vielleicht rätselhaft, ist es aber nicht. Wann immer wir etwas hören wollen, d. h. lauschen, warten wir auf eine Botschaft von außen. Aber natürlich kann sich der Empfänger einer solchen Botschaft von dieser Registratur nicht subtrahieren. Dieses Duplex muß bedacht werden.2 Es geht hier um die Frage, wie unsere szenische Existenz in der Architektur unserer Intelligenz verankert ist. Der einzige Philosoph, der sich dieser Frage schon vom Visuellen her gewidmet hatte, war Leibniz. Horst Bredekamp hat diesen vergessenen Leibniz aus den Quellen herausgemeißelt.3 Die Eingangsfrage von Leibniz lautet: Wie treten wir visuell in eine szenisch verfaßte Situation ein? Er weiß natürlich, daß dies kein Eintritt wie ein Auftritt auf einer Bühne ist. Denn aus unserer szenischen Verfassung können wir gar nicht heraus. Trotzdem kann er zeigen, daß es schon auf visueller Ebene zwei Punkte gibt, die für unsere szenische Verfassung charakteristisch sind: Erstens fassen wir durchgängig die »Gesamtlage« einer Situation schlagartig auf, und zweitens bemerken wir Details in dieser Situation, bevor wir sie noch eingehend »gemustert« hatten. Den schlagartigen Blick auf ein Ganzes nennt Leibniz mit der Tradition coup d’œil, die subsemantischen Gewahrung von Details peti­ tes perceptions. Beide Registraturen etablieren visuell unsere szenische Existenz. Wir sehen die Welt nicht im Lichte der Abzählbarkeit ihrer Elemente, dazu müssen wir unsere szenische Verfassung erst gleichsam »ausschalten«, um uns visuell auf dann zählbare Quanta »eichen« zu können. Dem Wechsel unserer Wahrnehmungsweisen korrespondiert ein Wechsel unserer Haltungen, das Weltkind weicht dem Laborbewohner.

Cf. hierzu Wolfram Hogrebe, Duplex. Strukturen der Intelligibilität, op. cit. 3 Horst Bredekamp, Die Fenster der Monaden. Gottfried Wilhelm Leibniz’ Theater der Natur und Kunst, Berlin 2008², pp. 144, 149; zusammenfassend: Horst Bredekamp, Die Erkenntniskraft der Plötzlichkeit. Hogrebes Sze­ nenblick und die Tradition des Coup d’Œil, in: Joachim Bromand / Guido Kreis (eds.), Was sich nicht sagen läßt. Das Nicht Begriffliche in Wissenschaft, Kunst und Religion, Berlin 2010, pp. 455–468. 2

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Dennoch greifen Quanta in der Zone ihrer unüberschaubaren Vermehrung auch in die Architektur unserer szenischen Existenz ein und prägen sie, allerdings erst da, wo sie sich im Unendlichen verspielen. Denn was wir »ausschalten« können, unsere szenische Verfassung also, ruht einer überquantitativen, tiefenarithmetischen Verfassung bloß auf, sonst könnten wir sie gar nicht »ausschalten«. Die Zahl, natürlich nicht als gezählte oder berechnete, sondern als unsere Zahlfähigkeit oder Mengenbegabung, schlummert in ihrer Oszillation von Diskretem und Indiskretem (Ganze) so tief in unserem Innern, daß sie erst dann spürbar wird und werden kann, wenn unsere Weltbefangenheit zurücktritt. Zwar beginnen wir szenisch mit dem Zählen von Fingern und überschaubaren Gegenständen, verlassen die szenische Arena aber sofort, wenn wir uns im Reich der Zahlen um Mengenbildungen bemühen, dann um die Menge abzählbar unendlicher Mengen (‫ )אּ‬und so fort. Unser Interesse an der Mathematik erklärt sich letztlich nur aus dieser Tiefensituierung des Reichs der Zahl im Focus eines formalen Überschreitungsschemas, also dem état de transgression, der mit dem état d’imaginaire koinzidiert. Das hat erst die Mengenlehre Georg Cantors ans Licht gebracht. Dem stehen die berühmten Verse von Novalis Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren sind Schlüssel aller Kreaturen nicht entgegen. Was Novalis vorschwebte, ist eine in der Tat zu kritisierende Reduzierung aller Welterfahrung auf quantifizierbare Verhältnisse – nicht jedoch der unlimitierte Ausgriff ins Überquantitative. Diesen Gedanken eines Transfiniten im prägnanten Sinn hat Cantor so umschrieben: »Das Transfinite mit seiner Fülle von Gestaltungen und Gestalten weist mit Notwendigkeit auf ein Absolutes hin, auf das ›wahrhaft Unendliche‹, an dessen Größe keinerlei Hinzufügung oder Abnahme statthaben kann und welches daher quantitativ als absolutes Maximum anzusehen ist. Letzteres übersteigt gewissermaßen die menschliche Fassungskraft und entzieht sich namentlich mathematischer Determination.«4 Walter Purkert, dem wir (zusammen mit Joachim Ilgauds) eine auch systematisch ergiebige Biographie von Georg Cantor verdanGeorg Cantor, Mitteilungen zur Lehre vom Transfiniten, in: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik 91 (1887), pp. 81–125; wiederabgedruckt in: Georg Cantor, Gesammelte Abhandlungen mathematischen und philosophischen Inhalts, ed. Ernst Zermelo nebst einem Lebenslauf Cantors von Adolf Abraham Fraenkel. Berlin 1932; repr. Berlin 1980, hier p. 405. 4

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ken, hat in diesem Kontext auf einen Brief Cantors vom 2. Oktober 1887 an David Hilbert hingewiesen, in dem er das absolute Maximum, die Totalität aller Alephs, nicht als »fertige« Menge zuläßt.5 Damit entzieht er sich den Inkonsistenzen, die man sich mit einer nach oben offen prolongierten Mengenbildung im Sinne »fertiger« Mengen einkauft. Obwohl es sich auch im Unendlichen bei Mengen stets um so etwas wie »Zusammenfassungen« handeln muß, wenn anders der Sinn von ›Menge‹ nicht völlig korrumpiert werden soll und am Ende einfach verdampft, geschieht genau dies im ultimativen Finale (Supremum). Das besagt aber, daß auch eine transfinite Mengenbildung schon aus formalen Gründen bis dahin jedenfalls immer etwas sein muß, was auch ontologisch möglich ist. Cantor hat das klar gesehen: »Eine Zusammenfassung ist aber nur möglich, wenn ein ›Zusammensein‹ möglich ist.«6 Im Finale der Mengenbildung allerdings hebt sich dieses Zusammensein tatsächlich auf, so daß »die Totalität ihrer Elemente nicht als ›zusammenseiend‹, als ›ein Ding für sich‹ … gedacht werden kann«. Solche ultimativen Mengen, Mengen aller Alephs, sind daher für Cantor nicht mehr »Gegenstand weiterer mathematischer Betrachtung« und erst sie nennt er »absolut unendliche Mengen«: »zu ihnen gehört die ›Menge aller Alefs‹.«7 In einem weiteren Brief an Hilbert vom 8. August 1906 bekräftigt Cantor seine berechtigte Scheu davor, solche ultimativen Mengen überhaupt noch Mengen zu nennen: »Solche Vielheiten nenne ich nicht Mengen.«8 Damit ist die Gefahr der Inkonsistenzen der Mengenlehre eigentlich gebannt, so daß Purkert abschließend befindet: »Man kann sagen, daß das Auftreten der Antinomien die Mengenlehre nicht ernsthaft gefährdet hat.«9 Ob dieses Resultat Konstruktivisten beeindruckt, sei ihnen überlassen. Aber philosophisch bedeutsam bleibt es dennoch. Warum interessiert das hier, wo es um unsere szenische Existenz geht? Die Antwort: Wenn das Szenische nicht im härtesten Teil dessen, was wir können, effektiv nachweisbar ist, wäre es nur eine poetische Umschreibung. Wenn indes die Grenzen ultimativer 5 Walter Purkert / Hans Joachim Ilgauds, Georg Cantor. 1845–1918, Basel / Boston  /  Stuttgart 1985, p. 158. 6 Walter Purkert / Hans Joachim Ilgauds, Georg Cantor, op. cit., p. 159. 7 Ibid. 8 Ibid. 9 Ibid.

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Mengenbildungen am Ende selber »unfertig«, d. h. porös werden, hat jede szenische Grenze uneinholbar ein im Voraus, also a priori, gegebenes Korrelat in Form eines absolut Unendlichen. Damit ist unsere szenische Existenz, wo wir auch sind, paradoxerweise deshalb unüberschreitbar, weil sie immer schon überschritten ist. Das ist der Grund, warum ich hier auf Cantor, unbeholfen genug,10 eingehen mußte: Daß wir uns im Endlichen eingezirkelt vorfinden, hat seine Legitimation im Extrazirkulären. Aus dieser Bivalenz kommen wir nicht heraus und existieren in ihr szenisch. Wir sind daher a li­ mine kein Seiendes mehr, sondern, wie Heidegger mit vollem Recht titelte, Dasein.

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So ist es mir nicht möglich, die rezenten Resultate von Maryanthe Malliaris und Saharon Shelah zu würdigen, die bewiesen haben, daß es Mengen gibt, die zwischen der Menge der natürlichen und der reellen Zahlen liegen. Für dieses Ergebnis erhielten sie jedenfalls 2016 die 3. Hausdorff Medaille der European Set Theory Society. Cf. Maryanthe Malliaris / Saharon Shelah, Co­ finality spectrum theorems in model theory, set theory, and general topology, in: Journal of American Math. Society 29,1 (2016), pp. 237–297. Ich vermute, daß in diesem Ergebnis auch ein philosophisch relevantes Ergebnis greifbar wird, da hier etwas Neues und Bedeutsames über die Komplexitätsgrade der Mathematik (Keisler-Ordnung) ausgesagt wird. Walter Purkert indes hat mir bedeutet, daß mit einer philosophisch relevanten Einsicht hier nicht zu rechnen ist. So bleibe eine Würdigung dieser Resultate an dieser Stelle dahingestellt.

XII.  Von der Szene zur Kommunikation Obwohl, wie gezeigt, die Struktur unserer szenischen Existenz tiefer liegt als alle Formen unserer sozialen Verfassung, realisiert sie sich im lebenspraktischen Sinn doch erst in diesen. In ihnen fängt sich das szenische Reglement, wo immer die Musik des Lebens beginnt. Und sie beginnt früh. Die szenische Existenz übersetzt sich in eine Äußerung mit Echoerwartung. Das hat schon Johann Gottfried Herder (1744–1803) am Anfang seiner preisgekrönten Abhandlung Ueber den Ursprung der Sprache (1788) vermerkt. Er hat das Verdienst, die Sprache der Empfindung als ein Erklingen gefaßt zu haben, das auf tönende Korrespondenz aus ist. Schon der Ton der Empfindung ist auf eine Antwort in einem Empfindenden geeicht. Sympathetische Verhältnisse sind die ersten kommunikativen. Die erste Sonanz ist zugleich Erwartung einer Konsonanz. In solchen Erwartungen, wie immer sie sich einstellen, tritt der Mensch aus der Sphäre der Tiere heraus: »Mit dem Menschen ändert sich die Szene ganz.«1 Genauer: kommt ein szenisches Dasein zur Existenz. So ist, nach Herders Entwurf, die erste Sprache der Menschen Gesang.2 Denn nur in ihm äußert sich der Mensch ganz. Es bedarf daher einer einheitlichen Registratur, in der die Sinne des Menschen komplett angesprochen werden. Herder nennt dieses Organ sensorium commune.3 Damit unterläuft er alle empiristischen Ansätze, die mit vereinzelten Sparten der Sinnlichkeit operieren, deren Einheit erst später hergestellt werden muß. Herder ist schon an der sinnlichen Basis Holist. Sein sensorium commune, das sensitive Zentralorgan, nannte man früher »Seele«. Herder nimmt diesen Wortgebrauch auch auf und be1 Johannes Gottfried Herder, Über den Ursprung der Sprache (1772), in: Werke, ed. Ulrich Gaier, Bd. 1, p. 714. 2 Cf. zu diesem Thema ausgreifend zuletzt Bernhard Großfeld, Ord­ nungsgesänge, Paderborn  /  München  /  Wien  /  Zürich 2008; Wolfram Hogrebe, Riskante Lebensnähe. Die szenische Existenz des Menschen, Berlin 2009, p. 141 sqq. 3 Herder, op. cit., p. 743 sq.

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zeichnet das »Gehör« als »die eigentliche Thür zur Seele«.4 Damit wird unsere Erwartungsdisposition akzentuiert und zur Basis unserer witternden Intentionalität, die auf Botschaften von außen wartet. So wird erklärlich, daß »der Mensch bloß durch das Gehör die Sprache der lehrenden Natur empfängt«.5 Auf dem Boden dieser Registraturen, dieser »inneren Sprache«, baut sich uns alsdann die »äußere Sprache« auf. Das sensorium commune, unser zartes seelisches Zentrum, konsonanzbedürftig wie es ist, wird dadurch ein »Gewebe zur Sprache«.6 Dieses informierende Gewebe, das grammatikalischen Strukturen vorhergeht, indiziert am deutlichsten das szenische Erbe der Sprache, denn »die alten Erfinder wollten alles auf Einmal sagen«.7 Auch die neuen Erfinder wollen genau dies: Alles auf einmal sagen. Nur so evoziert sich das Szenische selbst. Ein Schauspieler, den Peter Handke in seinem neuen Buch (Die Obst­ diebin) zur Stimme kommen ließ, gibt zur Antwort: »Er spüre, nicht nur bei sich selber, wenn eine Szene, oder auch die ganze Geschichte, ›die rechte Tonalität habe‹.« Genau danach schätze er »die Wahrhaftigkeit einer Szene [ein]«, »nicht nach dem, was er sehe, sondern nach dem, was er höre«.8 Der sound transportiert den szenischen Gesamteindruck, das Szenische als solches. Man braucht übrigens Herders Theorie des Ursprungs der Sprache als Theorie heute nicht mehr zu diskutieren, wohl aber die vielen Anregungen, die seine Ausführungen gewissermaßen »unterwegs« mitgeben. Der dänische Sprachwissenschaftler Otto Jespersen (1860–1943) hat noch von diesen Beobachtungen profitiert.9 Auch ihm zufolge tragen die ersten Äußerungen das szenische Erbe, da ihre Semantik stets die komplette Situation umfaßt, wie wir sie noch heute in rudimentären Äußerungen von Kleinkindern wiedererkennen. Ihr Wimmern oder Juchzen bezieht sich stets auf ihre gesamte Situation. Daß solche ersten Äußerungen aus Gesängen erwachsen, auch das hat Jespersen von Herder übernommen. Aber auf diese 4

Herder, op. cit., p. 746.

5 Ibid.

6

Herder, op. cit., p. 750. Herder, op. cit. p. 764. 8 Peter Handke, Die Obstdiebin oder Einfache Fahrt ins Landesinnere, Berlin 2017, p. 17/18. 9 Cf. Otto Jespersen, Language: Its Nature, Development and Origin (1922); dt. Die Sprache. Ihre Natur, Entwicklung und Entstehung, Heidelberg 1925. 7

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Wirkungsgeschichte, die natürlich sehr viel reicher ist als angedeutet, soll es hier nicht ankommen. Zentral ist vielmehr der Übergang von einer szenischen Ontologie in kommunikative Strukturen. In seiner großartigen Theorie des kommunikativen Handelns (1981) hat Jürgen Habermas zugestanden, daß man durchaus von Ontologien sprechen könne, die in Weltbildstrukturen eingebaut sind, indes: Der Ausdruck Ontologie sei deshalb zu vermeiden, weil er, aus der Antike stammend, den kognitiven Bezug zur Welt des Seienden privilegiere. Eine Ontologie, die beides umfaßt, also den Bezug zur sozialen ebenso wie zur objektiven Welt, »ist in der Philosophie nicht ausgebildet worden. Diesen Mangel soll die Theorie des kommunikativen Handelns wettmachen.«10 Sie macht diese Fehlanzeige, die bewußt an Hegel und Heidegger vorbeisieht, die Habermas aus seiner Bonner Zeit natürlich sehr gut kannte,11 allerdings gar nicht wett, sondern überspringt lediglich das eigentliche ontologische Problem, nämlich das unserer szenischen Existenz.12 In dieser ist der doppelte Bezug, den Habermas angemahnt hat, bereits strukturell vorhanden. So bleibt es bei ihm bei einer sprechakttheoretisch untermauerten Soziologie, bei einer soziologischen Rhetorik ohne Ontologie. Aber ohne Ontologie gibt es keine Philosophie. Habermas fehlt vor allem eine Ontologie der Sprechhandlungen, vor allem ihrer Räumlichkeit und Zeitlichkeit und da wieder eine Ontologie der Zwischenräume, Zwischenzeiten auch Zwischenstrecken. Von denen sagt ja der sensible Dichter: »In den Zwischenzeiten […], da geschieht’s, da ereignet es sich, da wird’s, da ist’s.«13

Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, Frank­ furt  /  M. 1981, p. 75. 11 Cf. hierzu Roman Yos, Der junge Habermas. Eine ideengeschichtliche Untersuchung seines frühen Denkens 1952–1962, Berlin 2019. 12 Das verrät sich da, wo Habermas im Konzept seiner Universalpragmatik auf die dort nicht aufgenommene Analyse einer Verwendung deiktischer Ausdrücke hinweist. Denn diese müsse »im Rahmen einer Konstitutionstheorie der Erfahrung geklärt werden«. Das ist Kant als Unterbau. Aber auch Kant war die szenische Existenz des Menschen entgangen. Cf. Jürgen Habermas, Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunika­ tiven Kompetenz, in: ders. / Niklas Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie – Was leistet die Systemforschung, Frankfurt  /  M. 1971, pp. 101–141, hier Anm. 16, p. 110. 13 Peter Handke, Die Obstdiebin, op. cit., p. 153; zu ›Zwischenräumen‹ und ›Zwischenzeiten‹ cf. ferner pp. 260, 555; zu ›Zwischenstrecken‹ p. 389. 10

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Das zentrale Problem des Übergangs vom Szenischen zum Kommunikativen ist dann auch die Genesis des Normativen. Habermas hat versucht, dieses Problem zu lösen und zwar durch Rückgriff auf die Gelingensbedingungen von Sprechakten, die auch an der Oberfläche kommunikativen Handelns erhalten bleiben. Das ist ein Weg, über den man nachdenken kann. Er verzichtet jedoch darauf, das szenische Erbe mitzuthematisieren und zur Geltung zu bringen. Denn hier ereignet sich schon auf basaler kommunikativer Ebene ein Eintritt in die Sphäre von externen Wirksamkeiten. Ein solcher Eintritt kommt bei Habermas nicht vor. Seine sprechakttheoretische Basis (Kommunikativa, Konstativa, Repräsentativa, Regulativa) ist viel zu schmal, um die szenisch ausdifferenzierten Modi kommunikativen Handelns wie raten, verraten, übel nachreden, denunzieren, schmeicheln, zurechtweisen, anherrschen, anbrüllen, anschreien, aber auch loben, gut zureden, bereden, überreden, flüstern, wispern, raunen etc. angemessen szenisch diskutieren zu können bzw. sie in Geschichten einzubetten.14 Insbesondere auf den sich hier auch eröffnenden, allerdings nur sehr selektiven, Korridor von Kommunikation und Macht will ich kurz eingehen, da er bei ­Habermas ebenfalls fehlt. Wer Lizenzen zur Kommunikation erteilen kann, hat Macht. Also jene, die darüber befinden, wer mit wem sprechen oder nichts weitersagen darf, wer informationspflichtig oder zur Verschwiegenheit »verdonnert« ist. Ist diese Lizenzerteilung sanktionsbewehrt, paart sich Macht mit Gewalt. Aber vor dieser Paarung greifen Überlegungen von Carl Schmitt ein, wie sie in seinem Gesprächstext Über Macht und den Zugang zum Machthaber (1954) niedergelegt sind.15 Schmitt geht von der Beobachtung aus, daß auch der entscheidungsbefugte Machthaber auf Kanäle der Information angewiesen ist, die ihm für seine Entscheidungen erforderlichen Sachkenntnisse zukommen lassen. »Denn auch der absoluteste Fürst ist auf Berichte und Informationen angewiesen und von seinen Beratern abhängig.«16 Genau solche Szenen regulierter Informationszu14 Cf. hierzu Carl-Friedrich Gethmann, Kohärenz. Die lebensweltlichen Grundlagen von Sitte und Recht, Vortrag vom 28. 11. 2014 (Symposion ›Philosophie und Politik‹ zum 60. Geburtstag von Julian Nida-Rümelin, München). 15 Carl Schmitt, Gespräch über Macht und den Zugang zum Machthaber (mit einem Nachwort von Gerd Giesler), Stuttgart 2008. 16 Carl Schmitt, Gespräch, op. cit., p. 20.

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fuhr sind politisch ein umkämpfter Korridor zum Machtzentrum, an dem präsumtive Ratgeber gerne teilnehmen möchten. Der Vorraum zum Raum der Macht wird dadurch fast genauso wichtig wie dieser selbst: »keine noch so weise Institution, keine noch so ausgeklügelte Organisation kann den Vorraum selbst ganz ausrotten; […]. Hier versammeln sich die Indirekten.«17 Wer meint, dies sei nur eine szenische Eigenart von Machtzen­ tren, der irrt. Denn diese Korridorbildung gibt es nicht nur überall, »wo Menschen über andere Menschen Macht ausüben«,18 sondern auch in sogenannten privaten Bereichen, in denen wir dem einen Gehör schenken, dem anderen nicht. Auch das ist schon eine Form von Machtausübung, die jedoch von unserer »Selbstbehauptung« in Form einer »Selbstentfremdung« nicht ablösbar ist.19 Unser Individuelles muß sich über von uns zugelassene Korridore erhalten, obwohl wir wissen, daß wir damit vor Ort als Direkte von Indirektem, d. h. von Verhältnissen abhängig werden, die wir wohl kanalisieren, aber niemals ganz steuern können: »Alles, was ein Mensch  – mit oder ohne Macht – denkt oder tut, geht über den Korridor des menschlichen Bewußtseins und anderer menschlich-individueller Vermögen.«20 Marx würde hier vom Fetisch des Bewußtseins sprechen, der sich über Arbeit an alle Formen dessen vererbt, was wir herzustellen vermögen. Damit eröffnet sich ihm der Kanal entfremdeten Daseins, das sich in allem verfehlt, was nur durch unsere Hände geht. Die bizarre Universalität dieser Negativbilanz zeigt aber nur noch einmal sehr deutlich, daß ihm die Rationalität wertschöpfenden Daseins unter den Händen weggeglitten ist. Damit, da hatte Werner Becker seinerzeit Recht, gerät Marx in das verhängnisvolle Selbstdementi seiner eigenen Heilslehre. Die Aufhebung der bürgerlich-kapitalistischen Warenform führt zwangsläufig zur »Selbstaufhebung seiner eigenen Theorie von der Ware«.21 Auch Carl Schmitt, Gespräch, op. cit., p. 23 sq. Carl Schmitt, Gespräch, op. cit., p. 25. 19 Cf. Carl Schmitt, Gespräch, op. cit., p. 27. 20 Carl Schmitt, Gespräch, op. cit., p. 50. 21 Werner Becker, Kritik der Marxschen Wertlehre. Die methodische Ir­ rationalität der ökonomischen Basistheorien des ›Kapitals‹, Hamburg 1972, p. 101. Auch Rainer Schäfer kommt in einer rezenten Studie, die ich hier nicht diskutieren kann, zu dem Ergebnis, »daß der Kommunismus eigentlich ein Utilitarismus mit fragwürdigen Mitteln und Zielen ist«. (ders., Was Frei­ heit zu Recht macht. Manuale des Politischen, Berlin  /  Boston 2014, p.  107). 17 18

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eine marktfreie Form der Ware bleibt Ware, Formen einer Äquivalenzbildung lassen sich nicht annullieren, ohne das Institut des menschlichen Bewußtseins zu vernichten. Das hat Marx nicht gesehen. Individuen nähren sich von anderen Individuen, deren Kontakt sie zulassen. Aber nicht jeder Kontakt steht ihnen zur Disposition. Hier beginnt der gesellschaftliche Einfluß. Aber dieser hat schon begonnen, wenn der Selbsteroberungsprozeß der Individuen startet bevor sie effektiv zu Macht gelangen können. Denn natürlich ist auch »Macht […] eine Ausschwitzung menschlicher Koexistenz«.22 Diese durch und durch szenisch angelegte Konzeption von Carl Schmitt vermittelt die Botschaft: Macht ist so alt wie Individuen. Aber ohne Vorzimmer, ohne regulierten Zugang zu ihnen sind sie nicht einmal Individuen.

22 Carl Schmitt, Handschriftlicher Briefentwurf im Nachlaß Carl Schmitts, zitiert aus den Anmerkungen von Gerd Giesler, in: Carl Schmitt, Gespräch, op. cit., p. 92.

XIII.  Von der Kommunikation zur Gewalt Wenn schon Individuen a limine in einem minimalen Sinne Macht­ zentren sind, ist das Phänomen der Macht zunächst wertungsneutral. Was überhaupt ist, was existiert, ist schon Dokument einer Selbstmächtigkeit. Deshalb kann Carl Schmitt, worauf auch Jörg Baberowski mit Recht hingewiesen hat, schreiben: »Die Macht ist an sich selbst weder gut noch böse, sie ist an sich neutral; sie ist das, was der Mensch aus ihr macht.«1 Was der Mensch aber aus ihr macht, das beginnt schon da, wo er sich überhaupt zu einer Handlung entscheidet. »In allem, was Menschen tun, ist Macht.«2 Und: »Alle sozialen Beziehungen sind Machtbeziehungen.«3 Kurz: »[Macht] ist ein Modus der menschlichen Existenz.«4 Als dieser Modus ist sie zugleich nur das in Handeln übersetzte »Bedürfnis nach Sicherheit«. Das gilt ebenso für den Gehorchenden wie für den Befehlenden. Beide sorgen in ihrer Weise für Erwartungssicherheit, sei es vor Strafen oder Aufruhr und Widerstand. Deshalb gibt es so etwas wie eine soziale Ordnung, d. h. ein System normierter Machtausübung. Normen gehören zur Kalkulierbarkeit von Macht. Kein ordo ohne sub­ ordinatio, in dieser Grenzziehung etabliert sich ein intendierter cor­ don sanitaire social : »Ordnung ist eine Voraussetzung, um Gewalt einzudämmen.«5 Aber das gelingt nicht immer. Und so entsteht das zusätzliche Bedürfnis nach Gerechtigkeit. 1 Carl Schmitt, Gespräch, op. cit., p. 33; Jörg Baberowski, Räume der Gewalt, Frankfurt  /  M. 2015³, p. 197. Panajotis Kondilis spricht hier vom »polemischen« Grundzug des Geistes, der »Ausdruck und Bestätigung von Machtansprüchen [ist], die vom Wesen des ›Geistes‹ nicht wegzudenken sind«. (Panajotis Kondilis, Macht und Entscheidung in der Front des ›Geis­ tes‹, in: ders., Machtfragen. Ausgewählte Beiträge zu Politik und Gesell­ schaft, Darmstadt 2006, pp. 86–117, hier p. 117). 2 Jörg Baberowski, Räume, op. cit., ibid. 3 Jörg Baberowski, Räume, op. cit., ibid. 4 Jörg Baberowski, Räume, op. cit., ibid. 5 Jörg Baberowski, Räume, op. cit., p. 213.

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Zwar weiß auch der Unterdrückte, woran er ist, wenn er nicht gehorcht, aber er kann sich auch empören, so daß die Machtverhältnisse ins Wanken kommen. Um sie wieder zu stabilisieren, bedarf es der Gewalt, so oder so. Sie dient einer auf Dauer gestellten Machtausübung. In avancierten Machtverhältnissen verschwindet Gewalt in lizenzierten exekutiven Maßnahmen, in militärischen oder polizeilichen Aktionen, auch in Wahlakten (Gang an die Urne), verschwindet aber nie vollständig, leider schon gar nicht in ihrer willkürlichen Form als krimineller Akt. Baberowski hat in seinem schmerzhaften Buch Räume der Ge­ walt die These plausibel gemacht, daß »Menschen zu allem fähig sind, wenn sie sich in einem Raum bewegen, in dem Gewalt nicht verboten, sondern geboten ist«.6 Linearen Verrohungsperspektiven setzt Baberowski die These entgegen, daß die »unsichtbaren Räume, die durch die Vorstellung einer gemeinsam geteilten Welt entstehen«,7 jene Energien freisetzten, die sich in Gewalt ohnegleichen entladen können. »Nicht Ideen und Gründe, sondern Räume, ihre Situationen und Handlungszwänge entscheiden darüber, was mit uns geschieht, wenn die Gewalt ausgebrochen ist«.8 Baberowski hat das Verdienst, ein szenisches Verständnis politischen Handelns vorgelegt zu haben, indem er den bekannten »gewaltfreien Raum«9 in einen »gewalterzeugenden Raum« transformiert. Erst so wird plausibel, wie an Orten wie z. B. dem Warschauer Ghetto der grausamen Willkür Tür und Tor geöffnet wurden. »Jeder Deutsche, der eine Uniform trug und eine Waffe hatte«, zitiert hier Baberowski Marcel Reich-Ranicki, »konnte in Warschau mit einem Juden tun, was er wollte.«10 Was da geschah, ist selbst zu lesen unerträglich. Es ist jedenfalls das Ghetto, das Konzentrationslager, aber auch Jörg Baberowski, Räume, op. cit., p. 11. Jörg Baberowski, Räume, op. cit., p. 32. 8 Jörg Baberowski, Räume, op. cit., ibid. 9 Interessanterweise wird heutzutage kaum noch von gewaltfreien Räumen gesprochen, sondern im Anschluß an das Konzept einer herrschaftsfreien Kommunikation von Habermas notorisch nur von gewaltfreier Kommunikation. Gewaltfreie Räume sind durch ein Defizit an Gewaltpräsenz der drei Gewalten definiert, ein daher negativer Begriff. Dagegen sind Formen gewaltfreier Kommunikation natürlich positiv konnotiert. Zum Ausdruck »gewaltfreie Räume« cf. die merkwürdige Arbeit von Walter Leisner Der Führer. Persönliche Gewalt – Staatsrettung oder Staatsdämmerung? Berlin 1983, p. 53. 10 Jörg Baberowski, Räume, op. cit., p. 26. 6

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ein spezielles Gefängnis, immer ein geschlossener Ort wie auch die heruntergekommene Vorstadt, kurz: Es sind in jedem Fall Orte, die diese Lizenz erteilen. Dort darf ich, ja muß ich. Nicht was ich will, ist entscheidend, sondern was das anonyme Reglement des abgegrenzten Ortes (regio conclusus), des Reviers der Horden oder der Gangs, der concentration camps, des Wachpersonals und der bestellten Aufseher verlangen. Solche Orte werden zu Verfügungsräumen, und in dieser Funktion erteilen sie einem eingestellten und verfügungsberechtigten Personal Lizenzen barbarischer Übergriffe. »Wer jetzt noch von sozialen Ursachen, von Arbeitslosigkeit oder Armut redet, verkennt den Charakter von Gewalträumen und den Situationen, die in ihnen entstehen können.«11 So wie eine quasi unsichtbare Hand mit Adam Smith die Summe individuellen Glücksstrebens ins bonum commune dirigiert, rangiert ein quasi unsichtbarer Raum der Gewalt die individuellen Untaten ins malum commune. Das Reglement ist in beiden Fällen anonym, aber im ersten Fall möglicherweise positiv, im zweiten Fall am Ende sicher entsetzlich: »wo das Töten als Normalität empfunden wird, ist fast alles möglich.«12 Die Beispiele, die Baberowski hier aufbietet, seien mir hier erlassen. Aber es war absolut notwendig, daß er als Erster solche Grausamkeiten erinnernd zu Wort kommen ließ.13

Jörg Baberowski, Räume, op. cit., p. 141. Jörg Baberowski, Räume, op. cit., p. 167. 13 Cf. zu einer Summe seiner Erfahrungen, die er mit politischen Verhältnissen als Wissenschaftler gemacht hat, seinen Artikel in der Neuen Zür­ cher Zeitung: ›Der Mensch lässt sich nicht beliebig zurichten‹ (www.nzz.ch/ feuilleton 30. 9. 2018). Sein gültiger Schlußsatz lautet: »Wer das Unmögliche fordert, wird am Möglichen scheitern.« 11 12

XIV.  Gewalt und Glück Es gibt Stimmen, die erheben sich aus einer Intuition der Gewißheit, das Glück der Menschen zu kennen. Es gab sie in Erzählungen eines goldenen Zeitalters immer, aber im 20. Jahrhundert wurden sie totalitär virulent. »Ich sage Dir, was das Glück der Menschheit und damit auch Deines ist, und Du kannst an ihm teilhaben, wenn Du das tust, was ich Dir sage. Denn der Weg, der bislang beschritten wurde, ist der falsche.« Diese Botschaft hatte immer eine starke Suggestion. Der Terror des 20. Jahrhunderts wurde tatsächlich geboren aus solchen konditionierten Versprechungen. »Nur wenn Du tust, was ich Dir sage, kannst Du am Glück aller teilnehmen.« Und alle, jedenfalls viele, richteten sich in ihrem Tun nach diesen Klängen ­einer Schalmei der historischen Besserwisser. Manche sagen in einiger Überspitzung, daß genau zwei Kartelle solcher Versprechungen aufgetreten sind, die bis heute noch eine untergründige Wirksamkeit entfalten. Beide sind Varianten eines Sozia­ lismus, Melodien einer Gemeinschaftsseligkeit, die als überirdische Versprechen auftraten und in einem geradezu unterirdischen Terror endeten. Das waren die Melodien eines nationalen und internationalen Sozialismus. Beide konnten darauf setzen, daß sie alle erreichten, denn es ging um alle. Die Stimmführer beider Melodien mochten und mögen diese Nähe noch heute nicht, aber sie ist gegeben. Was bei den einen »klassenlose Gesellschaft« und »vereinigte Proletarier« hieß, konfigurierten die anderen als »Volksgemeinschaft«: »Praktisch war es dasselbe.«1 Der erste, der diese Konjunktion schon sehr früh gesehen hat, war Helmuth Plessner.2 Sebastian Haffner, Anmerkungen zu Hitler, 22. Aufl., München 2017, p. 45. Meine Engführung von internationalem und nationalem Sozialismus folgt Haffners Überlegungen. 2 Helmuth Plessner, Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus (1924), repr. Frankfurt  /  M. 2002. Cf. dazu Wolfgang Eßbach / Joachim Fischer / Helmut Lethen (eds.), Plessners ›Grenzen der Gemein­ schaft‹. Eine Debatte, Frankfurt  /  M. 2002. 1

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In beiden Melodien war die Stimmführung einer Anthropologie übertragen, die um das Wesen des Menschen weiß. Denn nur wer um dieses Wissen verfügt, kann Menschen abverlangen, was zu ihrem Glück unabdingbar ist, wenn er denn daran interessiert ist, in die Heimat des »wahren Menschen« einzukehren und sei es unter Zwang. Der »wahre Mensch« ist der in der Gemeinschaft verwurzelte. Diese Gemeinschaft kann sein das »Volk«, die »Rasse«, die »Klasse«, die »Menschheit überhaupt«. Eine Zugehörigkeit zu diesen Kollektiven ist aber nur dem zugänglich, der sich von sich selbst nicht entfremdet hat. Nur wenn ihm das gelungen ist, kann er in die Heimat des »wahren Menschen« einkehren. Marx, Lenin, Stalin, Mao dachten so, Hitler, Mussolini, Franco ebenso.3 Für sie alle war die Diagnose einer gequälten Kreatur, die sich in den Ketten eines entfremdeten Daseins dahinschleppt, der Ausgangspunkt. Sie unterschieden sich allerdings im Inhalt ihrer Anfangsdiagnosen, die Entfremdungsprofile differierten insofern natürlich gravierend: Das Individuum ist nichts denn Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse, das Individuum ist nichts denn Ensemble rassischer Verhältnisse. Naturwesen sind sie indes beide. Die Natur vollstreckt sich gesellschaftlich und rassisch im Individuum. Deshalb muß der Einzelne aus der Gesellschaft zu Gemeinschaft und Volk zurückgebracht werden.4 Aber wie 3

Man darf sich nichts vormachen: Für alle Genannten, abzüglich ihrer diktatorischen Ambitionen, war dennoch eine bürgerliche Existenz das persönliche Ziel. Das hat seinerzeit schon Charles Péguy treffend so formuliert: »Und die Arbeiter haben nur noch eine einzige Idee: bürgerlich zu werden. Das ist sogar das, was sie meinen, wenn sie sagen, sie werden ›sozialistisch‹.« (Carles Péguy, Das Geld, trad. Alexander Pschera, Vorwort Alexander Pschera / Nachwort Peter Trawny, Berlin 2017, p. 36 sq.) Eine bürgerliche Gesellschaft ist ja nichts anderes als eine rechtlich verbindlich arrangierte Gemeinschaft, dazu gibt es bislang keine Alternative. Dennoch trat eine Bourgeoisie im abstoßenden Sinn hervor, als man anfing, die menschliche Arbeitskraft wie einen Börsenwert zu behandeln und, auch hier wieder umgekehrt, »auch der Arbeiter damit [begann], seine eigene Arbeit wie einen Börsenwert zu behandeln«. (Péguy, p. 51) Wie die Spielräume in dieser Szenerie ansonsten ausagiert werden (Bohème, alternative Lebensformen etc.), bleibt Sache der individuellen Mitspieler. Eine Neufassung des Ausdrucks »das Bürgerliche« ist durchaus an der Zeit, aber steht noch aus. Ansätze finden sich bei Odo Marquard (Mut zur Bürgerlichkeit. Vernünftig ist, wer den Ausnahmezustand vermeidet, in: ders., Individuum und Gewaltenteilung. Philosophische Studien, Stuttgart 2004, pp. 91–96). 4 Cf. hierzu die klassische Unterscheidung von Ferdinand Tönnies (1855–

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konnte er sich von beidem überhaupt entfernen? Durch Entfremdung vom wahren Wesen des Menschen. Der leitende Begriff der Entfremdung war von Hegel übernommen. Für diesen allerdings ging es um eine irreversible Auswendigkeit des Subjekts, das erst durch »das Beziehen auf sich selbst« es selbst wird, d. h. durch »das Entzweien« in einem »inneren Unterschied«.5 Dann erst kann es durch Arbeit und gesellschaftliche Formationen nach außen treten, um sich im Reichtum seiner Möglichkeiten komplettieren zu können. Entfremdung, auch Verdinglichung und Entzweiung sind notwendige Formate einer Selbstgewinnung der Individuen als Menschen. Dazu gehört für Hegel auch positiv nicht nur die Entzweiung in sich, sondern auch die mit seinen normativen Tableaus. Menschen müssen aus Verbindlichkeiten hereditärer Art heraustreten, um sich als freie und autonome Wesen zu erobern. Darin lag für Hegel, wie Joachim Ritter gezeigt hat, die Bedeutung der französischen Revolution, die diesen Schritt weltgeschichtlich vollzog. Diese Entzweiung ist aber kein real erreichbares Finale unserer Existenz, sondern bleibt historisch in sie eingebaut und muß je nach Gegebenheit immer wieder neu vollzogen werden und wird es. Für Marx geschieht der Prozeß der Entfremdung, nun ausschließlich negativ konnotiert, schon vertikal durch Arbeit, insbesondere fremdbestimmte Industriearbeit. Das war die anthropologische Basis seiner Kritik des Kapitalismus.6 Nicht zwar seine Befunde zum Elend kolonisatorischer und kapitalistischer Ausbeutung der Arbeiter in England und anderen Ländern, aber seine negativ konnotierte Kritik der anthropologischen Basis von Arbeit als Modus einer selbstwidersprüchlichen Vergegenständlichung und Verding1936): Gemeinschaft und Gesellschaft. Abhandlung des Communismus und des Socialismus als empirischer Culturformen, Berlin 1887. 5 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, ed. Johannes Hoffmeister, 6. Aufl. Hamburg 1952, p. 125. 6 Es verdient hier Erwähnung, daß selbst Heidegger in seinem Brief über den Humanismus die eigenartige These vertritt, daß »Marx, indem er die Entfremdung erfährt, in eine wesentliche Dimension der Geschichte hineinreicht«, und genau deshalb sei »die marxistische Anschauung von der Geschichte aller übrigen Historie überlegen.« (Martin Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit. Mit einem Brief über den ›Humanismus‹ (1947), 2. Aufl. Bern 1954, p. 87). Dasselbe hätte Heidegger auch an die Nationalsozialisten adressieren können. Für den objektivierenden Gewinn der Entfremdung hatte Heidegger keinerlei Gespür. Die Positivierung der Entzweiungsmuster war erst genuiner Gedanke von Joachim Ritter.

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lichung des menschlichen Wesens war und ist defekt. Warum? Weil Marx gegenüber Hegel für die notwendige Auswendigkeit der Subjekte kein analytisches Gespür hatte.7 Vor allem ist ihm die Basis der Entfremdung bei Hegel in der sprachlichen Verfassung des Menschen vollkommen entgangen, damit zugleich die Basis seines Gattungswesens, denn durch Sprache allein, wie Josef Simon korrekt interpretierte, stellt der Mensch »über das Biologische hinaus seine ›Gattung‹ als Menschengattung selbst her«.8 Entfremdung und Verdinglichung sind notwendig, sonst wären Menschen nicht objektfähig geworden, es kömmt nur drauf an, diese Entäußerungen sozialverträglich einzuhegen. Die kapitalistische Produktionsweise vermittelt sich dem Arbeiter bei Marx exklusiv in »verselbständigte[r] und entfremdete[r] Gestalt«, bis er Sklave von Maschinen und final durch eben diese überflüssig wird.9 Deshalb bleibt als einzige Hoffnung die Enteignung des Kapitalisten. Aber das hat leider auch zu keiner Lösung geführt. Denn, wie zuletzt Sebastian Haffner treffend bemerkte: »Fabrikarbeit ist auch in einem sozialistischen Staat unvermeidlich entfremdete Arbeit.«10 Die Expropriation der Expropriateure, das heißt, simpler gesagt, die Sozialisierung der Arbeit durch Kollektivierung, d. h. Enteignung der Produktionsmittel, ist in allen kommunistischen Systemen vielfältig durchexerziert worden. Sie hatte aber stets denselben Preis: eine hoffnungslose Ineffizienz der Industriearbeit. Den Menschen ging es daher nicht besser, sondern schlechter. Wer möchte schon gerne in bevormundenden Kollektiven leben? Bleibt also noch der Entfremdungsprozeß auf horizontaler Ebene: Menschen werden sich untereinander fremd. Diese Entfremdung kann nur durch eine Sozialisierung des Menschen aufgehoben werden. Als Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse sind Individuen für Marx ja ohnehin schon von Hause aus singularisierte Kollektive, insofern müssen sie in diese, ihre wahre Heimat, zurückgeführt werden. Nur so gewinnen sie ihr wahres Wesen zurück. Ihr Glück 7 Cf. hierzu Josef Simon, Das Problem der Sprache bei Hegel, Stuttgart / Berlin  /  Köln  /  Mainz 1966, Kap. IV, 3: Entfremdung, p. 95 sqq. 8 Josef Simon, Das Problem, op. cit., p. 99. 9 Karl Marx, Das Kapital, MEW Bd. 23, p. 455. Die Kategorie der Entfremdung spielt im Kapital keine dominante Rolle mehr, wohl aber in seinen Ökonomisch-philosophischen Manuskripten (1844), die erst 1932 publiziert wurden. 10 Sebastian Haffner, Anmerkungen, op. cit., p. 47.

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ist ihre Gemeinschaft als »Gattungswesen«, was immer das über die Biologie hinaus heißen mag (Marx weiß es selber nicht)11 oder, wie es in der nationalen Spielart des Sozialismus hieß, als »Volksgemeinschaft«. Das blieb in beiden Varianten des Sozialismus das Glücksziel. Die nationale Variante des Sozialismus war hier sogar erfolgreicher. Da drückt sich Haffner nicht um die unangenehme Tatsache herum: »Hitler war darin unzweifelhaft Sozialist – ein sehr leistungsstarker Sozialist sogar – daß er die Menschen zu diesem Glück zwang.«12 Der Kollateralschaden war und ist allerdings hoch, denn eine Sozialisierung der Menschen, egal wie, kann nur auf Kosten ihrer individuellen Freiheit erreicht werden. Diesen Preis waren Formate eines nationalen und eines internationalen Sozialismus allerdings gern bereit zu zahlen. Blut entfernt nicht vom Glück, sondern ist sein roter Zeuge. Der Geburtsfehler dieser Visionen liegt also in der Anthropologie. Sie entfernte sich im 19. Jahrhundert von Kants realistischer Einschätzung, die von einer ungeselligen Geselligkeit des Menschen ausging. Beide Pole verlangen nach einer zwar sanktionsbewehrten, aber verträglichkeitsoffenen »Einhegung« durch Bildung und rechtliche Formate, müssen aber als domestizierter Antagonismus erhalten bleiben. Dieses Duplex13 wollten nationaler und internationaler Sozialismus zugunsten eines erzwingbaren Monopols als Gattungswesen oder Volksgemeinschaft ablöschen. Das versprochene Glück 11

Cf. hier oben Anm. 150. Hegel spricht in seiner Naturphilosophie von einem Gattungsprozeß, »dessen Resultat ist, daß die Gattung als das Allgemeine zu sich selbst kommt und die unmittelbare Einzelheit negiert wird. Dieses Untergehen ist der Tod des Individuums.« (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie, Zweiter Teil, Werke Bd. 9, eds. Eva Moldenhauer / Karl Markus Michel, Frankfurt  /  M. 1970, p. 499). Das ist der Hintergrund der Depravierung des Individuellen bei Marx. Michael Quante kommt Marx hier aber zur Hilfe und spricht völlig abwegig von einer »Marxschen Metaphysik der Gattung«, die im Kern in einer symmetrischen Anerkennungsleistung terminiert, die »in einer nicht-entfremdeten Koproduktion« als »ontologische[s] Einheitsband realisiert [wird]«. Cf. ders., Der unversöhnte Marx. Die Welt in Aufruhr, Münster 2018, p. 44 sq. – Diese ziemlich windige Volte klingt zwar gut, macht die Sache aber leider auch nicht klarer. Quante verkennt, daß die szenische Existenz des Menschen nicht aus Anerkennungsleistungen generiert werden kann, sondern diesen vorhergeht. 12 Sebastian Haffner, Anmerkungen, op. cit., p. 49. 13 Cf. dazu Wolfram Hogrebe, Duplex. Strukturen der Intelligibilität, Frank­furt  /  M. 2018.

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schlug daher in erzwingenden Terror um. Wer weiß, darf töten. Die Generierung von Autorität, so schrieb Hitler in Mein Kampf,14 ist einmal Popularität, aber dann vor allem auch Macht und Gewalt. So ging es ihm zunächst um die »Eroberung der Straße«, ihre Säuberung durch »fanatische Kämpfer für unsere Weltanschauung«.15 Das Mittel dazu waren ihm schon seit 1925 gefügige Einheiten der Sturm­ abteilung (SA) und der Schutzstaffel (SS). 1925 wurde die National­ sozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) neugegründet,16 sie nahm die SA und SS in Dienst. Nach dem sog. Röhm-Putsch 1934 wurde die SS von der SA unabhängig. Der brutale Job der Schlägertrupps beider Organisationen war es, für Ordnung im Sinne der Partei zu sorgen, sei es auf der Straße, sei es im Konzentrations­ lager. Hitler befand zynisch: »Völkerschicksale wendet man nicht mit Glacéhandschuhen.«17 Mit solchen Instrumenten unkontrollierter Gewaltausübung war es Hitler jedenfalls möglich geworden, sich vom Kriegsverbrecher zum Massenmörder zu entwickeln.18 Hierin war ihm offenbar Stalin – pace Ernst Nolte – doch ein Vorbild.19 Wenn man weiß, was das Glück der Menschen ist, nämlich die Realisierung des »Gattungswesens« (Marx) oder des »völkischen (letztlich rassischen) Kulturideals« (Hitler), sollte man sie einfach zu diesem Glück zwingen: Man darf es nicht nur, man muß es. Davon waren und sind Glücksverheißer als Glückserzwinger überzeugt. Nicht zu vergessen ist, daß beide Formen des Sozialismus, also KPD und NSDAP 1932 in Deutschland im Reichstag sogar ein Zweckbündnis eingingen, um einen rechtswidrigen Streik zu inszenieren, der indes bald abgebrochen werden mußte.20 Adolf Hitler, Mein Kampf (1925 und 1927), München 1942, p. 579 sq. Adolf Hitler, Mein Kampf, op. cit., p. 608. 16 Cf. Sven Felix Kellerhoff, Die NSDAP. Eine Partei und ihre Mitglieder, Stuttgart 2017, p. 111 sq. 17 Adolf Hitler, Mein Kampf, op. cit., p. 773. 18 Cf. Sebastian Haffner, Anmerkungen, op. cit., p. 151: »Massenmord, planmäßige Ausrottung ganzer Bevölkerungsgruppen, ›Ungeziefervertilgung‹ begangen an Menschen, ist etwas ganz anderes [als Kriegsverbrechen].« 19 Cf. Jörg Baberowski, Der rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus, München 2003; ders. / Anselm Doering-Manteuffel, Ordnung durch Terror. Gewaltexzesse und Vernichtung im nationalsozialistischen und im stalinis­ tischen Imperium, Bonn 2006 (cf. hierzu die Rezension von Leonid Luks in: Totalitarismus und Demokratie 5, 2008, pp. 419–422); ders., Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt, München 2012. 20 Cf. Sven Felix Kellerhoff, Die NSDAP, op. cit., p. 256 sq. 14 15

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Selbst Hitler meditierte 1932 in seiner Rede vor dem Industrieclub in Düsseldorf über eine Karriere bei den Sozialdemokraten: »Schließlich glaube ich, auch die Fähigkeit zu besitzen, irgendeinen Posten in der Sozialdemokratischen Partei einnehmen zu können, und eines ist sicher: hätte ich meine Fähigkeit in diesen Dienst gestellt, ich würde heute vermutlich sogar regierungsfähig sein.«21 Die zerstrittenen Brüder des Sozialismus blieben dennoch untereinander bis aufs Blut verfeindet, aber, ob sie nun wollen oder nicht, sie bleiben bis heute Brüder im Ungeist. Dafür stand auch im September 1952 ein Gesetz der DDR, das die »Einschränkungen der Rechte für ehemalige Mitglieder der NSDAP aufhob und ihnen die gleichen bürgerlichen und politischen Rechte wie unbelasteten DDR-Bürgern gewährte«. Die Folgen? »Noch 1989 saßen im Zentralkomitee der SED nicht weniger als 14 ehemalige NSDAP-­ Mitglieder.«22 Und alles dies unter der »Zauberformel ›Anti­faschis­ mus‹«,23 die bald auch im Westen populär wurde. Haltung ist im Einzugsbereich der beiden feindlichen Brüder nur als Standhalten, also als Aufopfern oder als Korrumpierung möglich. Merkwürdig bleibt indes, daß es solche Glücksverheißer immer noch gibt. Wenn schon der Marxismus politisch in allen Varianten mit hohem Blutzoll der Beglückten restlos gescheitert ist, dann bleibt doch noch Marx als Philosoph, als Philosoph der Entfremdung, Verdinglichung und Entzweiung, der, so die unglaubliche Verheißung, uns noch bevorstehe. »Versteht man […] die Globalisierung als einen Prozeß, durch den allererst die Bedingungen der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie hergestellt werden […], dann scheint die Zeit seiner Philosophie gerade erst anzubrechen.«24 Einer solchen Hoffnung ist im Interesse eines unbevormundeten Existierens der Menschen gewiß nicht zuzuraten. Zwar gibt selbst Quante zu: »Der Kapitalismus hat sich bis heute als äußerst überlebensfähig erwie21 Vortrag Adolf Hitlers vor westdeutschen Wirtschaftlern im IndustrieClub zu Düsseldorf 1932, wiederabgedruckt in: Henry Ashby Turner (Yale Univ.), Hitlers Rede vor dem Düsseldorfer Industrie-Club am 26. Januar 1932: Legende und Wirklichkeit, Berlin 2001, hier p. 65. 22 Sven Felix Kellerhoff, Die NSDAP, op. cit., p. 371. Das ist deshalb wichtig zu erwähnen, weil die westdeutsche Linke immer so tut, als sei ausschließlich die BRD durch ihre Übernahme von Nazi-Personal (Hans J. M. Globke u. a.) kontaminiert gewesen. 23 Sven Felix Kellerhoff, Die NSDAP, op. cit., p. 370 sq. 24 Michael Quante, Der unversöhnte Marx, op. cit., p. 60.

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sen.« Dennoch steht für ihn die Verlustrechnung außer Frage, denn wir sollen uns bitte »nicht darüber hinwegtäuschen, daß er – global gesehen – nichts von seinen entfremdenden und inhumanen Auswirkungen eingebüßt hat«.25 Selbst wenn man dieser Diagnose partiell durchaus zustimmen möchte, wird man doch dagegen halten, daß die Realisierungsversuche der Vision von Marx insgesamt zu ökonomisch verrotteten diktatorischen und terroristischen Systemen geführt haben. Insofern wird man seiner Repristinierung insgesamt gewiß nicht seine Stimme leihen wollen. Hat man nämlich eingesehen, daß nicht nur der ökonomische Marxismus defekt ist, sondern vor allem auch seine anthropologischen Grundlagen, dann sind die Verheißungen von Quante genauso abwegig wie die der neo-völkischen, populistischen Verheißungen und Bewegungen unserer Zeit in nahezu allen europäischen Ländern und darüber hinaus.26 Der Ungeist aus den Gräbern der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beginnt – auferstanden aus blutigen R ­ uinen – wieder sein Unwesen zu treiben. Von Albert Speer stammt ja auch eine veritable Ruinenwerttheorie (1966), die besagt: Michael Quante, Der unversöhnte Marx, op. cit., p. 76. Eine Stimme, die sich aus den Zeiten Mussolinis neofaschistisch und durchaus esoterisch durchgehalten hat, war die von Julius Evola (1898– 1974). Cf. ders. u. a.: Fascismo e Terzo Reich (1964), Gennaio 2009. Evola war faschistischer Kritiker der Moderne. Auf ihn berufen sich noch heute u. a. Alexander G. Dugin (Rußland), Anhänger einer antiliberalen eurasischen Vision, Verehrer des späten Martin Heidegger, ferner Berater von Wladimir Putin. Auch Steve Bannon (USA), 2017 Berater des Präsidenten der USA Donald Trump, beruft sich auf Evola und Dugin. Cf. Benjamin Teitelbaum, Julius Evola in the White House, in: Internet OUblog, Oxford University Press’s Academic Insights for the Thinking World vom 22. Mai 2017; Henry Meyer / Onur Ant, Alexander Dugin – The one Russian linking Donald Trump, Vladimir Putin and Recep Tayyip Erdogan in: Independent vom 3. Februar 2017 (Internet); Alexander Dugin, Martin Heidegger. The Philosophy of another Beginning, Washington Summit Publishers 2014. Der späte Heidegger hat in der Tat auf eine gegenwendige Verwandtschaft der deutschen und russischen Seele gesetzt, die es zur Einheit zu bringen gilt. Es geht ihm hier um den »wissende[n] Begriff und die Leidenschaft der Besinnung mit der Innigkeit und Weite des Unheimlichen – Deutschtum und Russentum – was mit ›Bolschewismus‹ nichts zu tun hat.« (Martin Heidegger, Gesamtausgabe Bd. 96, ed. Peter Trawny, Schwarze Hefte 1939–1941, Frankfurt  /  M. 2014, p. 56). Dennoch beruft sich die sog. Neue Rechte zu Unrecht auf Heidegger. Cf. hierzu Peter Trawny, Heidegger und die Neue Rechte, in: ders., Heidegger-Fragmente. Eine philosophische Biographie, Frankfurt  /  M. 2018, pp.231–234. 25

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XIV.  Gewalt und Glück

Baue so, daß selbst die später im Krieg erzeugte Ruine noch der Betrachtung würdig sein wird!27 Diese Theorie wird derzeit auf eine politische Ruinenwerttheorie umgelegt: Agiere politisch so, daß das politische Desaster Späteren immer noch Bewunderung abnötigt! Stalin scheint das gelungen zu sein. Bertolt Brecht hat diese Denkart – lieber rot als tot – zu seiner Zeit in der DDR zynisch so ausgedrückt: »Besser ein befohlener Sozialismus als gar keiner!« Das war seine Maßnahme einer kollektiven Entmündigung. Die politische Ruine war gewollt. Das haben ihre späten Bewunderer völlig vergessen. So kam es, daß heute, wie Kondylis bündig formulierte, der »provinzielle Tiefsinn der nationalistischen ›Rechten‹« zur bloßen »Kehrseite der kosmopolitischen Oberflächlichkeit der ›Linken‹« werden konnte.28

Cf. hierzu Magnus Brechtken, Albert Speer, München 2017, p. 542. In seinen Erinnerungen schrieb Speer, daß er diesen Gedanken angeblich schon Hitler vorgetragen habe. Hitler »fand die Überlegung einleuchtend und logisch; er ordnete an, daß in Zukunft die wichtigsten Bauten seines Reiches nach diesem ›Ruinengesetz‹ zu errichten seien.« (Magnus Brechtken, op. cit., p. 543). Die intendierte Implikatur eines antizipierten Untergangs in den Bauten Hitlers bezeichnet Brechtken pace Angela Schönberger wohl mit Recht als eine »der am längsten rezipierten Speer-Legenden.« (ibid.) Zur »Ruinenwerttheorie« cf. auch Christopher Clark, Von Zeit und Macht. Herr­ schaft und Geschichtsbild vom Großen Kurfürsten bis zu den National­sozia­ listen, München 2018, p. 223 sq. Clark bezweifelt i. G. zu Brechtken merkwürdigerweise die Authentizität von Speers Ausführungen nicht. Das Buch von Brechtken konnte er allerdings zur Zeit der Niederschrift seines Textes noch nicht kennen. 28 Panajotis Kondylis, Die Rechte, die Linke und Deutschland (zuerst in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27. 4. 1994) wiederabgedruckt in: ders., Das Politische im 20. Jahrhundert. Von den Utopien zur Globalisierung, Heidelberg 2001, pp. 95–101, hier: p. 99. 27

XV. Moralstolz Geschichte wiederholt sich nicht, wohl wahr, aber sie realisiert sich durchaus in Variationen ihrer selbst. Das genügt, um aus ihr lernen zu können. Versucht wurde das immer wieder, auch Philosophen und Historiker haben sich an solchen Versuchen beteiligt. Prominent wurde hier der sog. »Historikerstreit« in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Er entzündete sich an einer Replik, mit der Jürgen Habermas auf einem Artikel von Ernst Nolte antwortete, und die mit den Sätzen endete: »Vollbrachten die Nationalsozialisten, vollbrachte Hitler eine ›asiatische‹ Tat vielleicht nur deshalb, weil sie sich und ihresgleichen als potentielle oder wirkliche Opfer einer ›asiatischen‹ Tat betrachteten? War nicht der ›Archipel Gulag‹ ursprünglicher als Auschwitz? War nicht der ›Klassenmord‹ der Bolschewiki das logische und faktische Prius des ›Rassenmordes‹ der Nationalsozialisten?«1 Seine Replik überschrieb Habermas mit dem Titel Eine Art Schadensabwicklung.2 Daß Hitler in den Führern des Kommunistischen Systems, abgesehen davon, daß dieses für ihn vor allem eine jüdische Organisation war, dennoch eine vorbildliche Gegnerschaft anerkannte, beweist u. a. die Bemerkung in seiner schon zitierten Rede, die er am 26. Januar 1932 im Düsseldorfer Industrieclub hielt. In dieser vermied er vor den rheinischen Stahlbaronen seine sonst üblichen antisemitischen Tiraden und nannte sogar Lenin eine »gigantische Erscheinung«.3 Ernst Nolte, Vergangenheit, die nicht vergehen will, in: Frankfurter All­ gemeine Zeitung vom 6. Juni 1986. 2 In: Die ZEIT vom 11. Juli 1986. – Die Primärtexte des Historikerstreit finden sich in: Ernst Reinhard Piper (ed.), ›Historikerstreit‹. Die Dokumen­ tation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung, München  /  Zürich 1987. 3 Cf. Ernst Nolte, Rückblick und Rechenschaft nach vier Jahrzehnten (www. ernst-nolte.de/rueckblick.html). Zu Hitlers Rede im Industrieclub cf. Henry Ashby Turner (ed.), Legende und Wirklichkeit, op. cit., p. 51. 1

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Habermas fragte sich: Was hat es zu bedeuten, daß hier die Stimme eines Vergleichs laut wird, eines Vergleichs, der die Singularität der Nazigreuel gewissermaßen relativiert? Marxismus und Nationalsozialismus rücken dadurch in eine kausale Duplizität ein, die das Schuldprofil verändert. Kurz: Habermas moralisierte den von Nolte vorgelegten Vergleich. Dadurch erschien ihm dieser als eine Art Schadensabwicklung. Denn er habe in seiner Vergleichsstrategie Auschwitz »als Antwort auf (heute fortdauernde) bolschewistische Vernichtungs­ drohungen mindestens verständlich gemacht«. »Verständlich machen« durch »Vergleich« hieß für Habermas »historisch Entsorgen«. Genau das ist aus moralischen Gründen nicht statthaft, wenn anders denn ein aufrechter Antifaschismus als allein legitime Attitüde oder Haltung nicht Schaden nehmen soll. Daß 1991 der politisch unverdächtige englische Historiker Alan Bullock (1914–2004) seine große Vergleichsstudie zu Hitler und Stalin erscheinen ließ,4 hat Habermas m. W. nicht mehr kommentiert. Bullock geht gegen Ende seines Buches auch auf den Historikerstreit ein und hegt die Singularitätsansprüche salomonisch ein: »Der stalinistische Terror war in seiner Unmenschlichkeit und seinen Exzessen fraglos nicht weniger ›einzigartig‹ als der nationalsozialistische; aber eine Einzigartigkeit hebt nicht die andere auf, und die Unvergleichlichkeit des Holocausts bleibt bestehen.«5 In genau diesem Sinne haben auch andere Historiker wie Jörg Baberowski und Immanuel Geiss Nolte zugestimmt. In einem schriftlichen Interview vom 19. Februar 19996 bemerkte Geiss rückblickend: »Haber­ mas, Wehler u. a. verfälschten Zitate ihrer Kontrahenten. Im End­ effekt kam eine Apologie für Kommunismus und Sowjetunion heraus, bis 1991. Nachdem die Sowjetunion zusammengebrochen war, sprachen sie auf einmal – nach einer gewissen Schamfrist – auch von Sowjetimperium, als imperialistisch, totalitär usw. Genau für diese Dinge hatten sie Hillgruber und Nolte vorher gehängt. […] Nach der Wende von 1989/91 ist der Vergleich von Stalinismus und Na4 Alan Bullock, Hitler and Stalin. Parallel Lives (1991), dt.: Hitler und Stalin. Parallele Leben, Berlin 1991. 5 Alan Bullock, Hitler und Stalin, op. cit., p. 1254. Ernst Nolte nähert sich in seinem Buch Historische Existenz. Zwischen Anfang und Ende der Ge­ schichte?, Reinbek  /  München 2015, p. 561 bis auf die Unvergleichlichkeitsthese dieser Einschätzung an. 6 Zugänglich auf youtube.

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tionalsozialismus sozusagen historisch und weltweit rehabilitiert.« Geiss beschließt sein Interview mit der berechtigten Warnung »vor jeder moralisierenden Selbstgerechtigkeit einer jüngeren Historikergeneration«. Es ging bei dem Historikerstreit natürlich um sehr viel mehr als nur um die steilen Formulierungen von Ernst Nolte. Es ging um die historische Absicherung der deutschen Identität heute. Daher kommt es, daß dieser Streit immer wieder aufflackert,7 immer dann jedenfalls, wenn die deutsche Identität politisch zur Debatte steht. Und das war natürlich zu Zeiten der deutschen Wiedervereinigung der Fall, gegen die Habermas wie auch andere linke Intellektuelle (Günter Grass, Walter Jens et al.) seinerzeit Stellung bezogen.8 Für Habermas nämlich drohte sich in der Vereinigung dieser das zu vollstrecken, was er DM-Nationalismus9 nannte. Wenn schon Wiedervereinigung, so argumentierte er, dann auf keinen Fall per Beitritt gemäß Art. 23 GG, sondern, wenn überhaupt, nur per Volks­ entscheid über eine erst noch herzustellende neue Verfassung nach Art.  146 GG. Das allerdings hätte geraume Zeit benötigt, die es seinerzeit nicht gab, denn das historische Fenster für die Wiedervereinigung war sehr schmal. Die intellektuelle Linke hat sich in diesem Prozeß in der Tat irreversibel blamiert. Als sich sein ehemaliger Assistent Ulrich Oevermann 1990 in der Zeitschrift Merkur anders als sein Lehrer Habermas für die Wiedervereinigung einsetzte, war dieser so wütend, daß er hinfort im Merkur nicht mehr publizierte und dafür sorgte, daß der Verlag Suhrkamp in dieser Zeitschrift keine Anzeigen mehr schaltete.10 Aber das war das Ende des Moralstolzes der Restgeneration des Faschismus. 7 So noch nach 25 Jahren im Streit zwischen den Historikern Heinrich Winkler und Egon Flaig. Cf. Egon Flaig, Die Habermas-Methode. Eine Pole­ mik, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17. Juli 2011; Heinrich Winkler, Hellas statt Holocaust, in: DIE ZEIT vom 21. Juli 2011. 8 Cf. hierzu Wolfgang Jäger / Ingeborg Villinger (eds.), Die Intellektuel­ len und die deutsche Einheit, Freiburg 1997. Cf. zuletzt Karl Heinz Bohrer, Jetzt. Geschichte meines Abenteuers mit der Phantasie, Berlin 2017, p. 316: »Er [Habermas] lehnte die Vereinigung als solche klipp und klar ab.« 9 Jürgen Habermas, Der DM-Nationalismus, in: DIE ZEIT vom 30. März 1990. 10 Cf. Karl Heinz Bohrer, Ästhetik und Politik. Eine Erinnerung an drei Jahrzehnte Merkur, in: Merkur Nr. 751 (Dezember 2011), pp. 1091–1103, p. 1096. Unabhängig von seiner durchaus zu ästimierenden philosophischen Bedeutung ist Habermas manchmal politisch genauso naiv wie Martin Heid­

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Heute begegnen uns Blickfragmente dieser Generation im Stile eines Sozialismus des gesenkten Blickes.11 Ihn treffen wir überall da an, wo strikt egalitäre, geradezu »egalizistische« Kulturprofile für eine moderne Demokratie eingeklagt werden. Dadurch wird es möglich, die Kultur des Besonderen und Exzellenten unter Legitimationsdruck zu setzen. Warum sollte ein Staat den gesamten Kulturbereich, also Konzerte, Theater, Opernhäuser, Museen, ja auch Universitäten subventionieren, wenn die Nutznießer dieser Einrichtungen doch nur Wenige sind? Subventioniert ein Staat damit nicht bloß Eliten, die zu Profiteuren des Volksvermögens werden? Diese Argumentation stammt aus der Frühzeit des Bolschewismus in Rußland unter dem Stichwort Rembrandt für Traktoren.12 Der Titel der Nachfolgedebatte heute lautet indes Hochkultur.13 Das entscheidende Argument hiergegen hat Jens Jessen geliefert: »Subventionen [werden] keineswegs nur zum Bestandschutz eines privilegierten Publikums gezahlt, sondern für die Freiheit eines jeden, aus seiner selten selbst verschuldeten, sondern gesellschaftlich bedingten Unmündigkeit auszubrechen.«14 Die Subventionierung der Kultur dient im modernen Staat also der Aufgabe, die intellektuellen Spitzenleistungen in der expressiven Selbstauslegung des Menschen gegenwärtig zu halten, damit in aufklärerischer Absicht auch kommende Generationen jeweils in ihrer Zeit erfahren können, wer sie sind und wer sie waren.

egger es generell war. Seit Platon hat sich an der politischen Naivität der Philosophen nicht viel geändert. Ausnahmen für unsere Zeit sind gewiß Hermann Lübbe und Julian Nida-Rümelin, die sich allerdings in der politischen Arena auch praktisch bewährt hatten. 11 Das heißt hier: ohne den nach oben gerichteten utopischen Blick auf eine klassenlose Gesellschaft. Karl Heinz Bohrer nennt dies den Blick der »von Illusionen besessenen Marxisten«: »Vor allem ihrer Idee, es gebe einen repressionsfreien Kommunismus.« (ders., Jetzt, op. cit., p. 237). 12 Cf. u. a. Hannes Hartung, Kunstraub in Krieg und Verfolgung, Berlin 2005, p. 445; Bernhard Schulz, Ausverkauf der Kunst, in: Neue Zürcher Zei­ tung vom 17. Januar 2006. 13 Beliebtes politisches Kampfwort, besonders in SPD-regierten Ländern Deutschlands in den letzten zehn Jahren. 14 Jens Jessen, Hoch die Hochkultur!, in: DIE ZEIT vom 7. Juli 2011.

XVI.  Dissimulatio sui Am 30. Oktober 1955 hielt Carl Schmitt in Düsselorf auf Einladung der Volkshochschule einen Vortrag über Shakespeares Hamlet, aus dem seine Schrift Hamlet oder Hekuba, die 1956 erschien, hervorgegangen ist.1 Der Herausgeber der 6. Auflage dieses Textes, Gerd Giesler, weist in einem knappen Nachwort mit Recht darauf hin, daß es Schmitt in seinem Text keineswegs nur um ästhetische Fragen gehe, sondern vor allem auch um »die [Frage] nach seinem Selbstverständnis in der unmittelbaren Nachkriegszeit und seiner eigenen Vergangenheit in den Jahrzehnten davor«.2 Das gilt übrigens für alle Schriften, die Carl Schmitt nach 1945 publiziert hat. Sie sind in durchaus unterschiedlichen thematischen Arealen zwar keine Geständnisse, aber dann doch implizite Selbstfindungsbemühungen. So hat Schmitt seinem Text zu Hamlet nicht nur zwei Exkurse angehängt, sondern ganz am Ende eine Art Rechenschaftslegung unter dem Titel Was habe ich getan?3 Auf diese Frage erwartet der unbefangene Leser eine Antwort, die die aktiven Verstrickungen des Autors in der Zeit des Nationalsozialismus (1933–36) betreffen. Aber so direkt gibt sich ein Carl Schmitt natürlich nicht zu erkennen. Worum es ihm hier geht, kann man durch eine Ergänzung der Frage signalisieren: Was habe ich mit dieser Schrift getan? Auf diese Frage legt Schmitt in der Tat ein offenes Geständnis ab. Mit seiner Interpretation des Hamlet sei er unversehens »in die Rolle des Arbeitsstörers, Tabuverletzers und Monopolgefährders [geraten]« und habe damit das Risiko einer Fortsetzung der Kriminalisierung seiner Person in Kauf genommen, denn die reiche von 1936 bzw. 19434 bis 1 Carl Schmitt, Hamlet oder Hekuba. Der Einbruch der Zeit in das Spiel, 6. Aufl. 2017. 2 Carl Schmitt, Hamlet, op. cit., p. 84 sq. 3 Carl Schmitt, Hamlet, op. cit., pp. 75–80. 4 Carl Schmitt, Hamlet, op. cit., p. 131 (Aufzeichnung vom 1. 7. 48): »Ich habe seit 1936 [überschrieben ›1943‹] Schweres erlebt …«

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heute. Diese Klage über seine Kriminalisierung und Diskriminierung beginnt unmittelbar nach dem Krieg und findet sich an vielen Stellen seiner Aufzeichnungen von 1947–1958 (Glossarium).5 Interessanterweise rechnet er in seinen bohrenden Selbstzweifeln, die sein Opfergefühl allerdings völlig unberührt lassen, bei sich selbst sogar mit »einem geheimen Willen zur Selbsttäuschung«6 und führt dafür als Beleg seine erste Ehe mit der Hochstaplerin Pawla Dorotič und später die Zusammenarbeit mit dem NS-Juristen Hans Frank an.7 Das mag alles stimmen, indes greift sein »geheimer Wille zur Selbsttäuschung« vor allem auch in seine politische Selbstwertschätzung ein. Und gerade hier fielen für Schmitt die Würfel. Er ahnte es wohl, aber sparte diese Realität in seinen Texten immer aus. Diese Technik einer Aussparung als Form der Präsenz einer anders nicht erträglichen Realität ist nun genau die rhetorische Figur, die er in Shakespeares Hamlet wiederfindet. Genau sie definiert für Schmitt den Einbruch der Zeitgeschichte in das Spiel auf der Bühne: »An zwei entscheidenden Punkten bricht die damalige Gegenwart [um 1600] durch, in der Rücksicht auf Maria Stuart, die Mutter Jakobs von Schottland, die den Mörder ihres Mannes geheiratet hat, und in der Rücksicht auf Jakob selbst, aus dessen problematischem 5 Carl Schmitt, Glossarium. Aufzeichnungen aus den Jahren 1947 bis 1958, eds. Gerd Giesler / Martin Tielke, Berlin 2015. Schmitt hatte im Sommer 1945 ein Exposé über die Kriminalisierung des Angriffskrieges verfaßt und das als »ein diskriminierter deutscher Jurist«. (Aufzeichnung vom 6. 4. 48 aus einem Brief an Hans Barion; cf. hierzu auch die Aufzeichnungen aus einem Brief an Wilhelm Grewe p. 89 sqq.). Sich selbst bezeichnet Schmitt erst später als kriminalisiert und bevorzugt zunächst den Ausdruck diskriminiert. Cf. die Eintragung vom 13. 2. 48: »Ich bin diskriminiert.« (p. 73). – Zu Schmitts Kritik einer Kriminalisierung des Angriffskrieges cf. Carl Schmitt, Das interna­ tionale Verbrechen des Angriffskrieges und der Grundsatz ›Nullum crimen, nulla poena sine lege‹, ed. Helmut Quaritsch, Berlin 1994. 6 Carl Schmitt, Glossarium, op. cit., p. 131 (Eintragung vom 1. 7. 48). 7 Gemeint ist hier der Jurist Hans Frank (1900–1946), NS-Reichsminister und Generalgouverneur im besetzten Polen (»Schlächter von Polen«). Er protegierte in den Anfangsjahren des Dritten Reiches Carl Schmitt; wurde in Nürnberg zum Tode verurteilt und 1946 hingerichtet. Cf. hierzu den Kommentar zum Glossarium, p. 454. Mit der Unterstützung von Hans Frank wurde Carl Schmitt zum Reichsfachgruppenleiter der Hochschullehrer ernannt; darüber war Schmitt sehr glücklich und er dankte Frank mit der Bemerkung: »ich bin Ihr Gefolgsmann.« (Carl Schmitt, Tagebücher 1930 bis 1934, eds. Wolfgang Schuller / Gerd Giesler, Berlin 2010, Eintragung vom 15. 11. 33, p. 310; cf. dazu auch das Nachwort p. 460 sq.)

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Charakter sich die eigentliche Hamletisierung des Helden ergibt: »Das eine nenne ich das Tabu der Königin, das andere die Abbiegung der Figur des Rächers. […] Durch die Masken hindurch wird eine zeitgeschichtliche Gegenwart sichtbar. Das nenne ich den Einbruch der Zeit in das Spiel.«8 Keine Frage, daß es hier um eine Selbsttabuisierung Carl Schmitts geht und um seine Selbstabbiegung als Rächer. Auf der Folie einer bloß dramaturgischen Interpretation wären sonst seine spektakulären Selbstbezichtigungen als »Arbeitsstörer, Tabuverletzer und Monopolgefährder unter dem Risiko einer fortgesetzten Kriminalisierung seiner selbst« gar nicht verständlich. So etwas erreicht eine auch noch so bizarre Literaturexegese nicht. Dieser Umstand ist daher auch den Lesern dieses Textes von Carl Schmitt nicht entgangen. Als dieser am Abend der Weimarer Republik Verfassungsberater des Reichsministers Kurt von Schleicher im Kabinett Franz von Papen geworden war, nahm er an den Beratungen zur Ausarbeitung des Staatsnotstandsplans teil, auf dessen Grundlage, so wohlmeinende Interpreten, Hitlers »Durchmarsch« an die Spitze des Staates verhindert werden sollte.9 In dieser Rolle als – allerdings historisch gescheiterter – Verhinderer, der rasch, also schon 1933, die Fahnen wechselte, hat sich Schmitt und andere später in der p ­ aulinischen Figur des κατέχον,10 als Aufhalter eines final Bösen stilisiert. Ein gescheiterter Katechon war für Schmitt aber eben auch Jakob von Schottland in der Rolle des Hamlet. Einer der besten Leser von Schmitts Buch zu Hamlet, der Anglist Andreas Höfele, hat diesen hintergründigen Kurzschluß zu Recht so gedeutet, daß »Schmitt sich selbst und seine Rolle in der Endphase der Weimarer Republik in den Hamlet-Mythos ein[schreibt]: als Ratgeber des letzten Kanzlers der Republik, der Hitler nicht aufhalten konnte«.11 Carl Schmitt, Hamlet (Nachtrag: Was habe ich getan?), op. cit., p. 77 sq. Cf. Lutz Berthold, Carl Schmitt und der Staatsnotstandsplan am Ende der Weimarer Republik, Berlin 1999. Dagegen bleibt Reinhard Mehring deutlich skeptisch (ders., Carl Schmitt zur Einführung, 5. Aufl. Hamburg 2011, pp. 47–58. 10 2 Thess. 2, 6 sq. 11 Andreas Höfele, Der Einbruch der Zeit: Carl Schmitt liest Hamlet, Bayerische Akademie der Wissenschaften (Sitzungsberichte), München 2014, Heft  3, p. 31. Cf. zuletzt Michele Nicoletti, Religion and Empire. Carl Schmitt’s Katechon between International Relations and the Philosophy of History, Oxford 2017. 8

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Allerdings gehen Schmitts Intentionen über diese tabuisierte Selbstverortung noch hinaus. Seit 1956 benutzte er die Hamlet-Figur in seiner Interpretation auch in politisch-historischer Absicht. So verschickte Schmitt in dieser Zeit »häufig Kartengrüße mit der Zeichnung der sog. Hamlet-Kurve«.12 Diese rangiert historische Profile mit Hamlet, so in seinem Brief vom 1. August 1956 an Ernst Jünger: 1848 Deutschland ist Hamlet, 1918 Europa ist Hamlet, 1958 die ganze Westliche Welt ist Hamlet. Dieser Katalog einigermaßen willkürlich überformter historischer Korridore durch die literarische Figur Hamlet, dem nur die Eintragung 1933 Carl Schmitt ist Hamlet fehlt,13 dient – gegen Sigmund Freud – der Einsicht, und hier folge ich dem Herausgeber Gerd Giesler, daß die mythenbildenden Kräfte erloschen sind: »der alte Mythos ist zuende gegangen, Europa ist unfähig, die eigene Geschichte als Mythos im und gegen das ›Zeitalter der Neutralisierungen‹ zu begreifen.«14 Das »Zeitalter der Neutralisierungen«15 ist unsere Gegenwart, die sich konturbildender Profile aus der Vergangenheit oder der Seele der Menschheit nicht mehr versichert wissen kann: ein »Traumrahmen«16 steht nicht mehr zur Verfügung. Alle Neutralisierungsprozesse sind kulturell am Ende, wenn die Menschheit in technischer Verfassung erwacht ist. Was dann geschieht, kann bloß phantastisch oder satanisch sein. Dies ist zugleich Schmitts ultimative Diagnose. Die Geschichte der Menschheit ist definitiv aus dem Fundus ihrer träumerischen Voraussetzungen herausgetreten. Aber gerade die Substanz des Tragischen ist und bleibt der Einbruch einer externen Realität in ein Spiel gewordenes Dasein, das sich bloß seines träumerischen Ursprungs inzwischen nicht mehr sicher sein kann. »Die unumstößliche Wirklichkeit ist der stumme Felsen, an dem das Spiel sich bricht und die Brandung der echten Tragik aufschäumt.«17 Die bittere Quintessenz, von Schmitt hier nicht ausgesprochen, aber untergründig Cf. das Nachwort von Gerd Giesler zu Carl Schmitt, Hamlet, op. cit., p. 82/83. 13 Cf. hierzu auch Reinhard Mehring (mit Herfried Münkler), Carl Schmitt, op. cit., p.93: »Carl Schmitt ist Hamlet!« 14 Ibid. 15 Carl Schmitt, Das Zeitalter der Neutralisierung und Entpolitisierung (Vor­trag 1929 in Barcelona), in: ders., Der Begriff des Politischen, 9. Aufl. Berlin 2015, pp. 73–87. 16 Carl Schmitt, Hamlet, op. cit., p. 27 (im Rückgriff auf Egon Vietta, 1903– 1959). 17 Carl Schmitt, Hamlet, op. cit., p. 47. 12

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virulent, ist der transzendentale Befund, daß unsere Gegenwart und Zukunft nicht einmal mehr einer »echten Tragik« fähig ist. Im »Zeitalter der Neutralisierungen« werden die sinnspendenden Kontraste ja allesamt technisch eingedampft, und selbst das Unaussprechliche verliert seine haltende Kraft. So wird auch eine grundständige Haltung auf diesem entgleitenden und ungreifbaren Boden nicht länger möglich, kein Festland mehr in Sicht. Denn da ist kein »Talisman der Seele« mehr, der vergewissernd aufrecht hielte; alles »beginnt sich aufzulösen ins Allgemeine«.18 Der unerbittlichen Regie einer politischen Neutralisierung verfallen am Ende alle Differenzen, die kostbar auch dann sind, wenn sie in der Realität anfänglich nicht nur freundlich justiert sind. Von solchen, erst gegen Ende feingliedrigen und zarten, Differenzen lebt jede Kultur. Werden sie neutralisiert oder eingeebnet, beginnt die Agonie des Geistes. Er erkennt sich im Duplex der Differenzen nicht mehr an und verbucht das kulturelle Nichts jeder neutralisierten Bastion als Gewinn. So nimmt Carl Schmitt hier auch Auguste Comte auf, der den Abstieg von einer neutralisierten Religion und Metaphysik in einer Positivität der Wissenschaften enden ließ, die Schmitt noch in der Technik finalisierte. Heute würde man zudem ein digitalisiertes Endstadium anschließen wollen, für das dieselbe kulturelle Blindheit kennzeichnend ist wie schon für die Technik: Das Können steigert sich auf Kosten eines verstehenden Sehens, dessen frühere und damals bodensichernde Unentbehrlichkeit vollständig entwertet, das heißt: neutralisiert wird. Aber das Frühere kann immer auch ein Neues werden, wie wir seit der Renaissance wissen. Dem arbeiten zumindest einige Dichter wie Peter Handke und Botho Strauß zu: Jedenfalls da, wo sie es in ihren Plädoyers für ein neues, aus den versteinernden Imperativen unserer Zeit heraustretendes Sehen19 gerade diesem allein schon zutrauen, bislang unbeachtete oder übersehene Kostbarkeiten unserer szenischen Existenz zu entbinden. Der Witz einer von Carl Schmitt diagnostizierten Neutralisierung ist ja zunächst nur die Preisgabe eines Wertetableaus. Aber 18 So charakterisiert Stefan Zweig in seinem bitteren Schlußkapitel (Die Agonie des Friedens) das assimilierte jüdische Schicksal zur Zeit des Nationalsozialismus. Cf. ders., Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Euro­ päers, Köln 2013, p. 562 sq. 19 Zu Handkes poetischer Option für ein neues Sehen cf. die ältere, aber immer noch lesenswerte Studie von Peter Pütz (1935–2003), Peter Handke, Frankfurt  /  M. 1982, p. 79 sq. Cf. hierzu auch oben Kap. III.

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manchmal geschieht das nicht aus Gründen historischer Entlastung, sondern aus Gründen geschützter Präsenzerhaltung. Ein aufgeklärter Mensch kann sich als solcher nicht zu erkennen geben, wenn er noch in einer tiefgründigen Glaubensbeziehung steht. Ein Mensch, der der Positivität der Wissenschaften anhängt, wird unglaubwürdig, wenn er noch metaphysische Residuen für diskutabel hält. Und alle Haltungen werden zu Charaktermasken, wenn sie die Exklusivität von Technik und digitaler Kultur verneinen. Hier stehen wir heute, obwohl wir es nicht müssen: Die Drift der Entwertung ist trügerisch und beschneidet unsere Optionen. Diese speisen sich aus anderen Quellen als bloß anerkannten. Das war Hegel, Comte, Spencer u. a. entgangen. Die Architektur der menschlichen Intelligibilität ist einfach anders gebaut als die Deszendenztheoretiker wahrhaben wollten. Das Wahre ist off limits. Das ist auch die Chance eines noch völlig uninterpretierten Hintergrundes des Digitalen, von dem auch Carl Schmitt noch nichts auch nur ahnen konnte. Wir allerdings auch nicht.20 Aber Carl Schmitts Auftrittslizenz nach dem Krieg war gar nicht deszendenztheoretisch fundiert, sie war politischer Art: Er verbarg sich hinter Konfliktprofilen, die zwar historisch gesättigt, aber dennoch die seinen waren. Sonst hätte er sie nicht aufgerufen. Denn niemand außer ihm sonst hätte sie überhaupt wahrnehmen können. Das Tableau historischer Szenen stand in seinem Belieben und er wählte aus ihm wie er sich fand, in einer zwar verhohlenen, aber exkulpierenden und kritischen Absicht zugleich. Was ihn entlasten sollte, war ihm zugleich Anklage seiner Entlastungsbedürftigkeit. Diese mit einiger Raffinesse vorgeführten, selbstpristinierenden Konstellationen machten ihn ebenso stimulierend wie rätselhaft und orakulös. So wurde Plettenberg bekanntlich zum Mekka einer untersäuerten Nachkriegsintelligenz, u. a. von Rüdiger Altmann, Johannes Gross, Rudolf Augstein, Reinhart Koselleck, Christian Meier, Joachim Ritter, Hermann Lübbe, Jacob Taubes bis zu Alexandre Kojève. Daß auch die Frankfurter Schule von Schmitt intellektuell profitiert hat, wurde erst später klar.21 Seine Strategie einer Selbstverstellung, einer dissimulatio sui, wurde zum Spiegel einer Generation erstens 20

Cf. dazu meinen Versuch unten in Kap. XXI. Cf. Ellen Kennedy, Carl Schmitt und die ›Frankfurter Schule‹. Deutsche Liberalismuskritik im 20. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft 12/3, Göttingen 1986, pp. 380–416. 21

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von Skeptikern, die nicht mehr bereit waren, sich allzu weit aus dem Fenster der Weltgeschichte zu lehnen, aber zweitens auch von Schuldbesessenen, die unter der Peitsche der Erinnerung ihrem verbitterten Moralstolz Zucker zu geben wußten. Trotz aller historischen Zirkulationen von Carl Schmitt blieb ein Grundtenor seiner Selbstortung erhalten, dem er schon Mitte der zwanziger Jahre mit Hilfe von Paul Valéry seine Stimme geliehen hatte. In seiner Erinnerung an Mallarmé charakterisierte Valéry Mallarmés basale Intuition mit der singulären, von Schmitt 1924 zitierten Bemerkung: »Ihm erschien die Welt einzig und ausschließlich dazu bestimmt, Ausdruck zu finden (que d’être finalement ex­ primé). Man könnte sagen, daß er das ›Wort‹ nicht an den Anfang, sondern ans letzte Ende aller Dinge stellte.«22 In diese Figur eines eschatologischen Expressionismus könnte man in der Tat auch die ihm sogar selbst kaum zugängliche Grundintention Carl Schmitts hineinstellen. Am Anfang war nicht das Wort, sondern inmitten aller Praxis ein für uns Unbekanntes, das erst am unabsehbaren Ende vielleicht Wort werden könnte. An diesem Prozess einer ausgebliebenen Wortwerdung arbeitet sich ein gänzlich neues Format der Meta­physik ab, eine Metaphysik, die erstmalig aus dem johanneischen Schatten (im Futur II) herausgetreten sein wird. Der Vorzug dieses verzögerten Expressionismus ist unter anderem auch der, daß der Aufschub der Wortwerdung die Realität einer zwischenzeitlichen Gewalt zu erklären Anhalt bietet. Gewalt ist, wo das Wort gebricht. Die idealistischen Konzeptionen dachten insgesamt aus dem Verlust einer ursprünglichen Fülle, die es erst wieder einzuholen gilt. Dieses Modell wird jetzt transformiert in das Konzept einer ausgebliebenen Fülle, deren Advent sich gewalttätig ankündigt, um sich gerade dadurch im Eigenvektor zu verneinen. Gewalt dementiert, was sein wird. Daher die Vorliebe für ein Sollen, das sicherstellt, was dennoch faktisch chancenlos ist. Im Sollen ist jedes Wollen gedemütigt. Das weiß aber keiner und übergibt lieber der Utopie, was im Gegenwärtigen das Gegenwartsverweigernde sein könnte. Auch in Selbstbildern können wir uns belügen, vielleicht sogar gerade durch sie, weil sie uns szenisch zu entlasten scheinen. 22 Carl Schmitt, Der Schatten Gottes. Introspektionen, Tagebücher und Briefe 1921 bis 1924, eds. Gerd Giesler / Ernst Hüsmert / Wolfgang H. Spindler, Berlin 2014, p. 548; zu Valéry cf. den Nachweis der Herausgeber: Paul Valéry, Werke, ed. Jürgen Radefeldt, Bd. 3, pp. 241–244.

XVII.  Die Achensee-Frage Seit Augustinus ist das Ich Thema der Philosophie. Bei ihm gründet unsere Selbst- und Seinsgewißheit nicht wie später bei Descartes im Denken (cogito), sondern in dem Umstand, daß wir uns täuschen: si enim fallor, sum.1 Dennoch war es die cartesische Version, an der die große Philosophie des Ich von Kant über Fichte, Schelling, Hegel bis zu Husserl anknüpfte. Allerdings haben sich nicht nur Philosophen um das Ich gekümmert, sondern seit Freud verständlicherweise auch die Psychologen wie Alfred Adler, Sándor Ferenczi, Anna Freud, Heinz Hartmann, Erik Erikson, Heinz Lichtenstein u. a.2 Immer ging es um eine Austarierung des Antagonismus von Über-Ich und Es, um eine Balance also, die einen halbwegs kontrollierten Objektbezug erst möglich macht. Kann dieser Objektbezug nicht gesichert werden, kommt aus methodischen Gründen sogar eine wünschenswerte Objektivität der Psychoanalyse ins Schwimmen. Dieses prekäre Thema hat sich daher bis heute sogar in der klinischen Psychosomatik erhalten. In seinem Aufsatz Intentionalität und psychoanalytische Arbeit3 stellt sich Wolfgang Tress, 1990 bis 2016 Chef der Psychosomatischen Medizin und Psychotherapie an der Universität Düsseldorf, gleich zu Anfang dem gräßlichen Verdacht, dem sich die Psychoanalyse ja tatsächlich von Anfang an ausgesetzt sah, daß der Analytiker nämlich »bei den anderen nur seine eigenen Gedanken« wiederfinde, »daß der Gedankenleser nichts am anderen errät, sondern nur seine eigenen Gedanken projiziert«.4 Diesen Verdacht, hier in der Formulierung von Sigmund Freud wiedergegeben, hatte Wilhelm Fließ offenbar 1900 während eines De civ., XI, cap. 26. Cf. Jane Loevinger, The Idea of the Ego, Washington 1979. 3 In: Wolfgang Tress / Claudia Sies (eds.), Subjektivität in der Psychoana­ lyse, Göttingen  /  Zürich 1995, pp. 98–119. 4 Op. cit., p. 98.

1 Augustinus, 2

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gemeinsamen Urlaubs am Achensee Freud gegenüber geäußert und der war not amused, wie er mit Brief vom 7. August 1901 an Fließ bekundet. Das zunächst freundschaftliche Verhältnis zwischen beiden zerbrach nachhaltig. Tress kommt zu dem Ergebnis, daß dieser Verdacht, auch als Achensee-Frage bekannt, insofern gegenstandslos ist, weil er mit Gründen gar nicht erhoben werden könne. Sein Argument ist hier, daß folgende zwei Behauptungen nicht zugleich verteidigt werden können: 1. Wir leben notwendigerweise in Gemeinschaften bzw. in gesellschaftlichen Verbänden. 2. Wir bleiben gleichwohl unter- und miteinander »völlig Un­ bekannte«.5 Tress bestreitet, wie gesagt, daß diese Sätze zusammen und zugleich mit Gründen behauptet werden können. Schon der simple Befund unseres Miteinanderlebens impliziere ja, daß wir auch bei schwachem Wissen voneinander jedenfalls miteinander leben können und müssen. Schwaches Wissen heißt hier: Mehr als ein erschnuppertes Unseresgleichen brauchen wir nicht, das aber schon. Dem entspricht, daß wir, so Tress, in unserer Entwicklung anfänglich gar nichts voneinander wissen, »daß wir primär [also] weder etwas von unserer eige­nen Person noch primär etwas von der anderen Person verstehen, sondern daß wir uns ursprünglich in einem Feld der nonverbalen, paraverbalen und sprachlichen Kommunikation und Handlung bewegen, die wir in ihrer affektiven und instrumentellen Bedeutsamkeit zu erfassen versuchen«.6 Kurz: Miteinanderleben konsumiert schon vorsprachliches Verstehen, das wir hernach auf seine Weise in Lernprozessen nur semantisch explizit machen können, sei es alleine, sei es im Umgang mit Anderen, sei es später anamnetisch mit Hilfe eines Therapeuten. Freud und Fließ hätten sich insofern gar nicht zerstreiten müssen, jedenfalls nicht über die Achensee-Frage. Andere sind uns schon als solche zugänglich, insofern wir ihnen nur als Anderen begegnen können. Auf diesen way out von Wolfgang Tress komme ich später noch zurück. Vielleicht aber gibt es noch eine Schwierigkeit. Tress geht der Achensee-Frage ja insofern elegant aus dem Weg, als er die Kontro­ 5

Op. cit., p. 114. Op. cit., p. 115. Cf. hierzu auch Martin Dornes, Der kompetente Säugling. Die präverbale Entwicklung des Menschen, Frankfurt  /  M. 1993. 6

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verse genetisch oder evolutionär entschärft. Dann allerdings entschwindet sie tatsächlich. Dimmen wir unser Wissen umeinander nahe an Null, bleibt ein zwischenmenschlicher Kontakt erhalten. Gänzlich unbekannt können wir uns nicht sein. Begeben wir uns aber auf ein ausgereiftes Niveau wissenden Umgangs miteinander, stellt sich die Frage erneut: Was erlaubt es uns, Projektion und Realität voneinander zu unterscheiden? Freunde der Postmoderne halten auch diese Frage für überflüssig. Freunde irgendeiner Form von Realismus allerdings nicht, denn, so argumentieren sie, Facta und Ficta sollten wir schon trennen können. Nietzsche hatte diesen Unterschied eingeebnet und als Kriterium nur die Lebensdienlichkeit übriggelassen. Das ist erkenntnistheoretisch unbefriedigend, unsere üblichen Objektivitätsansprüche schmelzen auf dieser Schiene dahin. Freunde der Systemtheorie wiederum würden das verschmerzen, denn ihre Basis, die System-Umwelt Differenz, hat auch keine scharfen Grenzen. Was nicht im Sinnfeld eines Systems auftaucht, gibt es für uns nicht, darüber können wir jedenfalls nichts sagen. Warum ist die Frage nach der Objektivität aber überhaupt von Bedeutung? Angenommen wir sind hier maximal großzügig. Dann müßte wir eine Diagnose vom Typ »nasale Magenschmerzen« wie sie Wilhelm Fließ Emma Eckstein zuteilwerden ließ, einfach hinnehmen, samt der Therapie (Kokainisierung und Gewebeverätzung).7 Wer will das schon? Also müssen wir zumindest als Patienten darauf achten, daß es halbwegs verläßliche Kriterien für Objektivität gibt. Als Patienten wollen wir im therapeutischen Prozeß Realismus. Da es aber keine andere Möglichkeit gibt, als die Wirklichkeit erkennend zu konzeptualisieren, bleibt der Verdacht bestehen, daß wir fingieren schon und bloß dadurch, daß wir konzeptualisieren. Hier gibt es keine andere Wahl: Da es ohne Konzeptualisierung keine Erkenntnisse gibt, muß das Kriterium ihrer Gültigkeit im mo­ dus operandi der Konzeptualisierung gefunden werden. Das ist in nuce Kants Idee gewesen: Objektiv ist eine Erkenntnis genau dann, 7 Cf. Jeffrey M. Masson, Sigmund Freud. Briefe an Wilhelm Fließ. Un­ gekürzte Ausgabe, Frankfurt 1986; ders., Was hat man dir, du armes Kind, getan? Oder: Was Freud nicht wahrhaben wollte, Freiburg 1995. Der Fall Emma Eckstein ist zweifellos eines der dunkelsten Kapitel der frühen Psychoanalyse.

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wenn das Verfahren ihrer Gewinnung von jedermann exerziert zu werden vermag und jedesmal zum selben Ergebnis führt. Diese Bedingung ist natürlich auf Strategien mathematisierbaren Erkennens zugeschnitten und genau genommen nur im Milieu von Algorithmen strikt, d. h. garantiert erfüllbar. In Bereichen, in denen es nur lebende Daten gibt, die nicht vermessen werden können, sondern die verstanden werden müssen und mit denen kommuniziert sein will, wird es schwierig. Der Grad an erreichbarer Objektivität ist hier sicher geringer, aber auf der Basis zwar nicht garantierender, aber doch autorisierender Kriterien schwindet er niemals vollständig. Auch im zwischenmenschlichen Gespräch machen wir ja durchaus einen Unterschied zwischen Voreingenommenheit und Unparteilichkeit, zwischen sehr subjektiven Einschätzungen und Bemühungen um Ausgewogenheit. Auf diesem Hintergrund stellt sich die Achensee-Frage als Frage nach den Kriterien möglicher Objektivität einer Diagnose. Daß sich ein Therapeut »einen Reim« auf die Mitteilungen des Patienten machen muß, diskreditiert das Bemühen des Therapeuten gerade nicht, sondern ist Bedingung seiner Arbeit. Und daß er sich »einen Reim« auf die Mitteilungen des Patienten nur machen kann im Lichte eines Wissens um typische Befunde für pathologische Muster, gilt ebenso für quantifizierbare Erklärungsbemühungen im Lichte von physiologischen Krankheitsvollbildern. Der Kern der Achensee-Frage ist hier: Gibt es in der Psychoanalyse überhaupt ein gesichertes Wissen um Krankheitsvollbilder und nicht nur Projektionen? Fließ verfügte im Lichte seiner abstrusen Hypothesen sicher nur bedingt über ein solches Wissen, Freud eher, wenn auch um ein einseitig um die Achse der Wunscherfüllung verengtes. Daß es aber ein Bemühen um ein solches Wissen geben sollte, ja geben muß, ist man dem Leidensdruck der Patienten schuldig. Und man wird weder Freud noch Fließ den Vorwurf machen wollen, daß sie sich nicht um ein möglichst objektives Verständnis der Leidensursachen ihrer Patienten bemüht hätten, so daß wir zumindest von Freud heute noch lernen können. Lassen wir diese alte Bataille aber auf sich beruhen, die Verhältnisse haben sich seither sicher geändert, z. T. auch verbessert. Ich möchte einen sehr dünnen Faden dieser alten Schlacht aber erneut aufnehmen und die Frage stellen: Wie kommen wir überhaupt an ein Wissen um Andere? Ich gebe gleich zu, daß dies eine typische Frage von Philosophen ist, d. h. eine solche, die sich vernünftige

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Menschen eigentlich nicht stellen. Das ist das leider das Schicksal der Philosophie, daß sie nämlich Fragen stellt, die im Lebensvollzug normalerweise nicht auftauchen. Wie also können wir von Anderen überhaupt etwas wissen? Auch Kant hat sich dieser Frage in der Kritik der reinen Vernunft gestellt, was übrigens kaum einer weiß. So fragt er sich, wie es denn angehe, daß »die Bedingungen, unter denen ich überhaupt denke […], zugleich für alles, was denkt, gültig sein solle«.8 Wie das funktionieren könnte, erklärt Kant nun mit folgendem Argument: (1) Von denkenden Wesen kann ich kein Wissen haben, wenn ich nur äußeres Erfahrungswissen im Stile eines robusten Empirismus akzeptiere. (2) Nur wenn ich also die Erfahrung, selber bewußtes und denkendes Wesen zu sein, zulasse, habe ich überhaupt Wissen um ein denkendes Wesen. (3) Also sind andere denkende Wesen für mich nichts weiter, so Kant wörtlich, »als die Übertragung dieses meines Bewußtseins auf andere Dinge, welche nur dadurch als denkende Wesen vorgestellt werden«.9 Ohne diese »Übertragung«, ohne diese »Transferenz« (transference), wie Zeno Vendler, einer der wenigen, die auf diese Stelle aufmerksam wurden, Kant hier übersetzt,10 ohne diese »Metapher«, wie man hier auch griechisch sagen darf, gibt es, so Kant, erkennbar keine anderen denkenden Wesen. Ohne solche »Übertragungen« bin ich daher auch selbst für andere denkende Wesen kein erkennbar denkendes Wesen. Der homo sapiens tritt also hervor im Prozeß einer wechselseitigen Selbstübertragung. In diesem Sinne tritt er hervor als atmende Metapher. Diese Übertragung, wie schon Kant, nicht erst Freud sie nennt, ist gewissermaßen ein nostrifizierender Selbstbezug. Was immer uns entgegentritt, es tritt uns zunächst als Unseresgleichen entgegen. Für Infanten ist das sicher gültig. Was immer auch Infanten als denkende Wesen in ihrem primären Selbstgefühl für sich zunächst sein mögen, sie können sich Äußerem nur als Ihresgleichen zuwenden, weil sich ein splitting zwischen inter-extern ja erst ausbilden muß. Dieses KrV B 404, A 346. KrV B 405, A 347. 10 Zeno Vendler, The Matter of Mind, Oxford 1984, p. 11 et passim. 8

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erste Weltverhältnis bleibt als zu verlassende Voraussetzung übrigens immer erhalten und wird auch bei den adulten Routiniers einer gewitzten Weltpraxis wieder merklich, wenn sie ein Möbelstück, an dem sie sich gestoßen haben, ärgerlich mit einem »Klaps« abstrafen. Unser erstes Weltverhältnis ist also animistischer Art.11 Dazu gibt es endlose Debatten, die aber für uns hier ohne Belang sind. Eine andere Frage ist natürlich auch berechtigt: Wenn der Status als denkendes Wesen von einer wechselseitigen Übertragung abhängig ist, wird dann dieser Status nicht eine rettungslos soziologische Angelegenheit, so daß ein Eigensinn als denkendes Wesen völlig verloren geht? Hier ist die Frage unabweislich: Wie soll eine Übertragung funktionieren, wenn es nicht schon etwas zu übertragen gibt? Natürlich muß ein denkendes Wesen schon in einem spezifischen Eigensinn vorhanden sein, um in ein Übertragungsgeschehen überhaupt eintreten zu können. Lediglich die Anerkennung Anderer als denkende Wesen bleibt dann übertragungsabhängig. Wolfgang Prinz hat das kürzlich auch andersherum gelesen: »Erst im Spiegel der anderen verstehen wir, was Denken und Handeln ist. Erst wenn wir Subjektivität bei anderen entdeckt haben, schreiben wir sie uns selber zu.«12 Aber auch hier fragt es sich, wie man Subjektivität bei anderen entdecken kann, ohne schon selbst Subjekt zu sein? Ein Spiegel erzeugt keine Gegenstände, sondern gibt nur wieder, was auch spiegellos schon da ist. Was man dabei postulieren könnte, vielleicht sogar muß, ist, daß es auch so etwas wie einen internen Spiegel gibt, und das wäre das uninterpretierte Noema unserer intentionalen Verfassung, mit Husserl gesprochen: die Leerintention. Wir sind in diesem Sinne schon reflexiv, bevor wir unsere Reflexivität im externen Spiegel anderer stabilisieren lassen. Genau das hatte schon Fichte übersehen. Bevor wir uns allerdings in diesem Spiegelspiel verlieren, möchte ich die subtilen Debatten in der gegenwärtigen philosophy of mind einfach links liegen lassen, um den Leser nicht zu langweilen. Zumal nicht ausgemacht ist, ob eine Steigerung der Subtilitätsrate manchmal doch nur Index eines bloß verhohlenen Unverständnisses ist.

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Für wenige Hinweise cf. unten Anm. 13. Wolfgang Prinz, Selbst im Spiegel. Die soziale Konstruktion von Subjek­ tivität, Berlin 2016.

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Was ich im Ausgang von der Achensee-Frage nur aufgreifen möchte, ist der Wink, den Wolfgang Tress mit seinem Rückgang in nonverbale Anfänge einer jeden Biographie gegeben hat. Warum? Weil dieser Hinweis für Philosophen insofern von Bedeutung ist, als sie sich durch ihn veranlaßt sehen sollten, die Ebene semantischer Sekurität zu unterlaufen. Erkenntnistheoretische Fragen werden von Philosophen normalerweise auf der Ebene wissenschaftlichen Wissens, dann darunter auf der Ebene kommunikativer Alltagserkenntnisse diskutiert, d. h. in Form von Wissenschaftstheorie und Theorie kommunikativen Handelns. Hermeneutik und Semantik beherrschen dieses Feld. Informelle Formen des Verstehens fallen aus dieser Optik heraus. Also alles das, woraus Wolfgang Tress zu Recht unsere Biographien starten läßt. Auch in seiner Arbeit Das Rätsel der seelischen Gesundheit13 startet Tress professionsgetreu in frühkindlichen Zonen, um als Bedingung eines störungsfreien Eintritts in Biographien eine frühkindliche Triangulation namhaft zu machen: Die Mutter-Kind Dyade muß durch die Instanz einer Drittbeziehung gleichsam »geöffnet« werden. Hierbei braucht die Besetzung dieser dritten Rolle, früher typischerweise der Vater, so Wolfgang Tress, nicht notwendig festgelegt zu werden, weder durch die Natur noch durch die Gesellschaft, wenn sie nur die Funktion dyadensprengender Impressivität erfüllt.14 Schon in einer gelungenen frühen Triangulation entscheidet sich vieles, wenn nicht alles für die spätere seelische Gesundheit einer Biographie, und zwar in der Erzeugung eines »Ur­vertrau­ens« (basic trust) (Erik H. Erikson), ohne das wir psychisch für affektive Störungen anfällig blieben. Die triangulierten intimen Außenbezüge von Infanten stabilisieren den störungsfreien Aufbau ihres Innen­ bezuges, ohne den es eine gesunde adulte Psyche nicht geben könnte. Aber die Wirkung eines solchen störungsfreien Anfangs reicht noch tiefer. Wenn der homo sapiens wesentlich durch einen intentionalen Objektbezug definiert ist, dann muß sich die Genese seiner Intentionalität in der Erzeugung jenes Urvertrauens wiederfinden lassen, denn genau da sind die psychischen Wurzeln unseres affektiven Außenbezuges zu greifen. Der Verlust der vorgeburtlichen, intrauterinen Heimat wird in der Intimität der Mutter-Kind Beziehung kompensiert und in ihrer Öffnung per Triangulation erweitert. 13 14

Göttingen 1986. Op. cit., p. 141 sqq.

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Der Drittbezug darf nicht statisch verstanden werden, nicht als öffnende und verschließende Tür, sondern eher als Drehtür. Sie sorgt für einen variablen Außenbezug der Dyade, d. h. für eine variable Intentionalität. Man möchte sich in diesem Szenario den Ursprung einer Figur vorstellen, die man, wie von mir schon mehrfach bemerkt, seit Platons ungeschriebener Lehre und im Neuplatonismus als ἀόριστος δυάς bezeichnet.15 Der nicht festgelegte Vater und die Dyade, die Mutter-Kind Beziehung also, genügen jeweils für sich allein nicht, beide Partien müssen in eine öffnende, dynamische Verschränkung eingelassen sein. Erst dann gewinnt man Eins, das alles ist. Die Pointe dieser zugegebenermaßen riskanten Engführung ist dann die, daß sich die zentrale Abschlußfigur der spekulativen Metaphysik bereits im Aufbau der psychischen Ökonomie von Infanten wiederfinden läßt. Was bedeutet das? Darüber sollte man nachdenken dürfen. Es bedeutet zumindest, daß wir dann das Design einer Meta­ physik nicht als Überbau, sondern als Unterbau gewonnen hätten. Was uns von der Physis trennt, ist ja nicht viel, es ist gewissermaßen nur der Teppich zwischen Fuß und Boden. Aber das ist mit Stefan George der »Teppich des Lebens«. Wir existieren a limine szenisch. Die Verhältnisse einer sich aufbauenden Psychodynamik sind daher in die Philosophie und ihre systematischen Fragestellungen klandestin, d. h. gegen den Willen der Philosophen, immer schon »eingewandert«. Ein Beispiel dafür ist die schon genannte Frage, wie wir überhaupt in einen wissenden Bezug zu Fremdpsychischem eintreten können. Seit Descartes und Kant, extrem zugespitzt durch Fichte, starten Philosophen mit einem Monopol, mit der egologischen Monade. Weil sie das tun, haben sie sich ein unabweisliches Kollateralproblem eingehandelt: Wie kommen wir aus dieser anfänglichen Ich-Einhausung überhaupt zur Kenntnis eines Du? Wie gelangen wir zur Kenntnis des Fremdpsychischen? Ist das egologische Monopol wirksam, kann man dieser Frage, wie wir bei Kant schon gesehen haben, gar nicht ausweichen. Cf. hierzu Willy Theiler, Einheit und Unbegrenzte Zweiheit von Platon bis Plotin, in: Isonomia. Studien zur Gleichheitsvorstellung im griechischen Denken, eds. J. Mau / E. G. Schmidt, Berlin 1964, pp. 89–109; zuletzt Jens Halfwassen, Auf den Spuren des Einen, Tübingen 2015. Cf. hierzu auch mein Buch Duplex. Strukturen der Intelligibilität, Frankfurt  /  M. 2018. 15

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Diese mißliche Lage ist Resultat einer Psychologie nach der lateinischen Grammatik. Hier gibt es nur Aktiv und Passiv, Handlungen und Widerfahrnisse. Das reicht für den Aufbau unserer psychischen Ökonomie offenbar nicht aus. Was wir dringend benötigen, ist das griechische Medium. Schon das pure Sehen wird im Griechischen als αἰσθάνομαι benannt und damit medial verstanden: In jedem Sehen ist der Seher zugleich Mitgesehener. Die Sehdinge sind selbst auch sehend. Die Dinge blicken uns an, wenn wir sie erblicken.16 Damit entfällt Kants Dilemma. Es gibt keinen Ersttäter, der seine Selbsterfahrung dann auf anderes überträgt. Was immer uns entgegentritt, es tritt uns zunächst als Unseresgleichen entgegen. Alles, worauf wir Bezug nehmen, ist anfänglich ein dunkles Du.17 Erst wenn es lange genug schweigt, gewinnt es gegenständlichen Charakter, wird das Du zum Es. Damit sind wir von Kants Übertragungsnot entlastet. Es braucht nichts übertragen zu werden. Genauer: Das Übertragungsgeschehen ereignet sich schon in uns selbst. Worauf wir warten, sind Objekte. Worauf wir nicht warten müssen, sind Subjekte. Subjekte sind intern und extern immer schon da. Das ist auch das Ergebnis von Tress: »[W]ir [sind] ursprünglich miteinander in reziproke Wahrnehmungen, Gefühle und Handlungsimpulse verstrickt […] und verstehen uns selbst daher in genau der Weise, wie wir die anderen und in der die anderen sich gegen­ seitig verstehen.«18 So ist auch die am Ende nur noch penetrante »Frage, ob wir einander auch wirklich verstanden haben, kein Ausdruck eines vernünftigen Zweifels mehr, sondern [mit Putnam] reine Querulation«.19 Die Achensee-Frage gleicht offenbar jenen fortgesetzten Warum-Fragen von Kindern um die zwei Jahre, die im Begriff sind, eigensinnig zu werden.

Dieser Befund macht auch die Theorie eines Bildakts von Horst Bredekamp erst plausibel. Cf. ders., Theorie des Bildakts. Frankfurter Adorno Vorlesungen, Berlin 2010. 17 Cf. Sigmund Freud, Animismus, Magie und die Allmacht der Gedan­ ken, in: ders., Totem und Tabu, III (Sigmund Freud, Studienausgabe, Bd. IX, pp. 364 sqq. Zur kritischen Diskussion cf. Sabina Pauen, Überlebt der Ani­ mismus? Kritische Evaluation einer Hypothese zum präkausalen Denken, in: Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie 2 (1997), pp. 96–117. 18 Wolfgang Tress, Intentionalität op. cit., p. 114. 19 Wolfgang Tress, Intentionalität, op. cit., p. 115. 16

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Was damit nicht zugleich auch erledigt ist, habe ich schon berührt: Das Nisten der Metaphysik schon in unserer infantilen Psychodynamik. Diesen Punkt möchte ich hier noch einmal aufgreifen. Es bedarf einer Anregung, die ich von Gustav Landauer (1870–1919) bezogen habe. Er, Anarchist und Ende 1918 als Dramaturg am Düsseldorfer Schauspielhaus vorgesehen, aber abzüglich von redaktionellen Zuarbeiten szenisch nicht mehr tätig, hat in einer nicht ganz durchsichtig angelegten, aber sehr stimulierenden Schrift Skepsis und Mystik (1923)20 auf den Umstand hingewiesen, daß im Individuellen die Matrix des Allgemeinen schon angelegt sei: »Unser Allerindividuellstes ist unser Allerallgemeinstes. Je tiefer ich mich in mich selbst heimkehre [sic], um so mehr werde ich der Welt teilhaftig.«21 Die Figur, die Landauer hier vorstellig macht, ist die der Mystik. Alles positive Wissen wird anarchistisch, d. h. gemäß der Devise Plotins ἄφελε πάντα eliminiert, und was bleibt, ist ein uninterpretiertes Ganzes, eben das bleiche Noema von Husserls Leerintention, ein Bezug auf die Variable Irgendetwas qua Irgendeins. Landauer greift explizit auf Plotin und Meister Eckhart zurück, die er mit Max Stirner konjugiert und durch Fritz Mauthners Sprachkritik dividiert. Der Witz bei Landauer ist, daß sein theoretischer Anarchismus, d. h. seine radikale Skepsis, zu einer Freilegung der Wurzeln aller Metaphysik, d. h. bei ihm zur Mystik führt. Für akademische Philosophen ist das heikel, da in diesem Zangengriff ihr mittelständisches Milieu des Nehmens und Gebens von Gründen (Wilfried Sellars, Robert Brandom) metaphysisch geradezu verdampft. Aber ich möchte durchaus dafür werben, daß an diesem Entwurf etwas überzeugen könnte. Dafür spricht übrigens auch das durchaus anarchistische Erbe eines konsequenten Destruktionismus bei Wittgenstein und Heidegger. Beide enden literarisch in Aphorismen, die aufs Ganze gehen und deshalb eine geschlossene Traktatförmigkeit prismatisch sprengen. In Wittgensteins letzten Eintragungen von 1950 findet sich eine Notiz, die für Philosophen und Psychoanalytiker gleichermaßen interessant ist, weil sie unser Elend hienieden trefflich aufsummiert: »Sieh Dir die Menschheit an: Der eine ist Gift für den anderen. Die Mutter für den Sohn, und umgekehrt, etc. etc. Aber die Mutter ist blind und der Sohn ist es auch. Vielleicht haben Gustav Landauer, Skepsis und Mystik. Versuche im Anschluß an Mauth­ ners Sprachkritik, Münster  /  Wetzlar 1978. 21 Op. cit., p. 17. 20

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sie ein schlechtes Gewissen, aber was hilft ihnen das? Das Kind ist böse, aber niemand lehrt es anders zu sein, und die Eltern verderben es nur durch ihre dumme Zuneigung; und wie sollen sie es verstehen, und wie soll das Kind es verstehen? Sie sind sozusagen alle böse und alle unschuldig.«22 Das Spezielle an dieser Bemerkung ist der Umstand, daß vom Vater nicht die Rede ist und wo Wittgenstein von »Eltern« spricht meint er offenbar auch nur die Mutter. Sollte es sich hier nicht um die späte Konfession einer schiefgelaufenen Triangulation im Sinne von Tress handeln? Eine solche kann man in einem philosophischen Traktat natürlich nicht unterbringen. Da Wittgenstein aber eine seltene Ehrlichkeit hat, die er auch aus seinen späten Aphorismen nicht subtrahiert, ohne zugleich ins Private abzugleiten, kann man von ihm lernen. Er wird nicht zu einem Fall. Das ist Größe in einem anarchischen Sinn. Er weicht einer Einsicht nicht aus, die der frühvollendete Dichter Walter Calé (1881–1904) in die gemäßigte, aber unvermeidliche Fassung der Achensee-Frage gebracht hatte: »Psychologie ›schlägt ihren eigenen Herrn‹, sie verrät den, der beobachtet, ebenso tief wie den, der beobachtet wird.«23 So werden wir wechselseitig zu erratenden Verrätern unserer selbst. Das ist das bislang unverstandene Wesen der Kommunikation. Sich zu verstehen geben ist immer auch eine unvermeidliche Form von Selbstverrat. Es war ein von Schelling inspirierter Schritt Hegels, das, was er Geist nennt, aus der Natur hervorgehen zu lassen. Die Konstruktion ist waghalsig: »Das Ziel der Natur ist, sich selbst zu töten.«24 Das natürliche Individuum tritt immer ein in den Korridor eines Selbstverrats, indem es die »Rinde des Unmittelbaren, Sinnlichen zu durchbrechen [sucht]«, »um aus dieser Äußerlichkeit verjüngt als Geist hervorzutreten.«25 Das ist für Hegel, wie er ausdrücklich betont, kein empirischer Prozeß, sondern eine sich voraussetzende Befreiung. Genau darin dokumentiert sich zugleich der Sinn des von ihm benannten Todes der Natur. Dieser Tod ist nicht im physischen Sinn zu verstehen, 22 Ludwig Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen, in: Wittgenstein, Über Gewißheit, Werkausgabe Bd. 8, Frankfurt  /  M. 1984, p. 572 sq. 23 Walter Calé, Nachgelassene Schriften, ed. Fritz Mauthner, Berlin 1910. 24 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie II, Werke Bd. 9, § 376 (Zusatz), eds. Eva Moldenhauer / Karl Markus Michel, Frankfurt 1970, p. 538. 25 Ibid.

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sondern eben als Befreiung von sich. Er nennt diesen Tod auch »Tod des Individuums aus sich selbst«. Ebenso für dieses Geschehen haben wir bis heute keinen rekonstruktiven Zugriff zur Verfügung. Wir spüren vielleicht, aber wissen immer noch nicht, wie sich Hegel das gedacht hat und wie dieser Prozeß, seinem Wink folgend, zu fassen ist. Geist entsteht hiernach jedenfalls im Akt einer Selbstbefreiung. Wovon und als was? »als die Natur aus sich herausbildend«. Und wer besorgt dieses Geschäft? Hegel antwortet: »[D]ies Tun des Geistes ist die Philosophie.«26 Das geschieht ihm zufolge da, wo Menschen sich abzusetzen beginnen von dem, was sie faktisch waren. Und diese Arbeit einer Selbstdistinktion ist schon Philosophie. Nichts sonst. Die These ist hier: Daß es Menschen gibt, ist Philosophie. Der Mensch ist mithin keine chemische oder physiologische Konstruktion, sondern ein Zuvorgekommenes, das unsere Vorfahren als Selbstgegebenes hinnehmen mußten. Denn was bloße Konstruktion ist, kann ja »gerade nicht ebenbürtig die Stelle dessen einnehmen, was keine Konstruktion ist«.27 Insofern läuft ein heute modischer Reduktionismus und auch vordem ein Dekonstruktivismus der Postmoderne ins Leere. Der architektonische Rahmen, in dem Menschen sich philosophisch und historisch unter­einander aushandeln, ist zwischen dem Kontingenten im Sinne eines »modalen Realismus«28 und dem Absoluten als ein bloß Anvisiertes aufgespannt. Kontingenz beherrscht eine Basis, die Zugänge zum Absoluten bereitstellt. Was aber nur aus einem kontingenten Sitz angepeilt werden kann, bleibt a priori ein Unerreichbares, ein Entzogenes, das sich als evolutionäres Direktiv erschöpft. Daher stammt die unstillbare Sehnsucht des Menschen nach dem, was er mehr wäre als er ist und historisch jeweils nur sein kann.

26 Ibid.

27 Uwe Meixner, Modalität. Möglichkeit, Notwendigkeit, Essenzialismus, Frank­furt  /  M. 2008, p. 123. 28 Ibid.

XVIII.  Phänomenologie der Transzendenz Ernst Tugendhat empfiehlt, die Metaphysik durch Anthropologie zu ersetzen. Allerdings so, daß das Format der Anthropologie, das er ins Auge faßt, von einem modernen Typ Metaphysik nicht zu unterscheiden ist. Denn natürlich legt er keinen Rückgriff auf eine empirische Anthropologie nahe, sondern auf eine, wie er schreibt, »philosophische«. Besser wäre: »auf eine formale«, die Fragen einer »immanenten Transzendenz« gewachsen ist. Die also, wie Tugendhat geradezu im sound von Heidegger schreibt, »ein Übersichhinausgehen innerhalb des Seins des Menschen« plausibel machen kann.1 Obwohl sich Tugendhat eines Beistandes von Anthropologen wie Scheler, Plessner, Fromm u. a. versichert, geht es ihm immer darum, innerhalb des Menschen eine »Tiefendimension« zu erschließen, um die Ambitionen der überlieferten Metaphysik abzufedern. Hier nennt er auch Iris Murdoch (1919–1999), die in ihrem Buch The Sovereignty of Good (1970) unsere evaluierenden Haltungen in adverbiellen Beurteilungen nach »gut« und »besser« so tief legen möchte, daß sie gerade als »Haltungen« sogar in Zonen ohne Gründe wurzeln. Tugendhat: »Murdoch weist auf Tiefendimensionen hin – Dimensionen einer immanenten Transzendenz –, die nicht Dimensionen von Gründen sind.«2 Hier verläßt Tugendhat den space of reasons ganz bewußt, und zwar in seiner Orientierung an so etwas wie Sachgerechtigkeit. Denn auch der »Künstler überlegt nicht auf Gründe hin, aber er überlegt«.3 Die Tiefendimension unserer reflexiven Verfassung reicht ersichtlich weiter als es eine Monopolisierung von Gründen gestatten könnte.

1 Ernst Tugendhat, Nietzsche und die philosophische Anthropologie. Das Problem der immanenten Transzendenz, in: ders., Anthropologie statt Meta­ physik, München 2007, pp. 13–33, hier p. 15. 2 Loc. cit., p. 31. 3 Ibid.

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»Der Begriff der Überlegung erweist sich als weiter als der der Überlegung von Gründen.«4 Zu diesem Transzendieren der Immanenz des Raums der Gründe sieht sich Tugendhat also durch Iris Murdochs Neufassung der Idee des Guten bei Platon veranlaßt. Im Rahmen seiner philosophischen Anthropologie bricht er die Idee des Guten allerdings herunter auf dessen Frage »Wie ist es, gut zu leben«? Diese Frage nennt Tugendhat »die Grundfrage der Philosophie«, denn sie wird in allen Kulturen gestellt, so auch in China mit der Frage nach dem Tao oder im Zen-Buddhismus. Die von Murdoch ausgelotete Tiefendimension dieser Grundfrage der Philosophie verankert Tugendhat auch in der propositionalen Struktur der Sprache, wie er sie selbst analysiert hat.5 Hiernach gewinnt die Sprache in ihrer Einbeziehung singulärer Termini eine Situationsunabhängigkeit, in der stellungnehmende Haltungen der Sprecher erst möglich werden. Denn die Verwendung singulärer Termini wie »dies da« oder »der zweite von links« etc. implizieren »bereits ein Verständnis des Ausdrucks ›ist dasselbe wie‹ bzw. ›ist identisch mit‹ (›=‹)«.6 Damit ist in unserer Rede über Einzelnes per Spezifikation immer schon ein Bezug auf eine Gesamtheit eingeschlossen, aus der wir mit singulären Termini nur gleichsam auswählen. In dieser Leistung gründet die Situationsunabhängigkeit unserer Sprache und bestreitbarer Wahrheit zugleich. So erreicht unser wechselseitiges Verstehen ein strukturelles Niveau, das sogar »unabhängig von der Kommunikation« ist.7 Damit stellt sich Tugendhat auch gegen das Projekt von ­Jürgen Habermas, für den die Struktur unseres Verstehens generell in kommunikativen Handlungen8 terminiert. »Es gibt heute Autoren«, schreibt Tugendhat, »die das Kommunikative als das Wesentliche der menschlichen Sprache betonen.« Dagegen ergibt seine Analyse 4

Loc. cit., p. 32. Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie, Frankfurt  /  M. 1976. Tugendhat hat dieses Hauptwerk noch Martin Hei­deg­ ger gewidmet. Später macht er sich allerdings zumeist über ihn lustig, obwohl sich der Stil seiner Fragestellungen klandestin Heidegger verpflichtet weiß. 6 Vorlesungen zur Einführung, op. cit., p. 371. 7 Ernst Tugendhat, Anthropologie als ›erste Philosophie‹, in: ders., Anthro­ pologie statt Metaphysik, op. cit., p. 43. 8 Cf. Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. I und II, Frankfurt  /  M. 1981. 5 Ders.,

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der Tiefendimension des Verstehens solche Strukturen, die dem Umstand Rechnung tragen, daß das Besondere der menschlichen Sprache im Gegensatz zu Tieren darin besteht, »daß sie nicht mehr nur kommunikativ ist«.9 Ohne diese überkommunikative Dimension verlören wir den Kontakt zu Arealen, in denen wir uns über die Grundfrage der Philosophie verständigen können. Selbst wenn es hier an zwingenden Gründen für Antworten gebricht, triftig und plausibel sollten die von uns erwogenen Antworten schon sein, und das ist auch möglich. Den Vergewisserungsmodus nennt Tugendhat einfach »Denken«. Auf seiner Basis allein können wir auch in einen »imaginären Dialog« mit allen Kulturen eintreten, um uns anderer Antworten auf die Frage nach dem Guten im menschlichen Leben zu vergewissern. Solche Antworten brauchen wir gerade dann, wenn wir uns befähigen wollen, aus bloß traditionsverpflichteten normativen Profilen herauszutreten. Gerade darin zeigt sich die Bewährung einer Vernunft, die sich selbst im Aushandeln von Gründen in Orientierung am Besseren versteht, um sich selbst oder anderen »raten« zu können.10 Kein Wunder, daß Tugendhat mit seinem Anschluß an überkommunikative und begründungsfreie Zonen, dazu in interkulturellen imaginären Dialogen, auf einem Tableau gelandet ist, das er auch positiv im Sinne einer profanen Mystik aufnimmt. Im Prinzip geht es ihm nur um die Kennzeichnung einer Möglichkeit des Menschseins, sich aus erwogenen Kontexten in aller Demut selbst zu bestimmen: »Das Mystische […] besteht in einem Gesammeltsein11, in dem ein Mensch zugleich auf die übrige Welt in ihrem Eigensein bezogen ist und sich der eigenen Insignifikanz bewußt wird.«12 An dieser Stelle erreicht der Philosoph, wie er es nennt, eine »Haltung«, die wir einnehmen können, wenn wir von uns selbst absehen, um der Menschheit in uns Platz einzuräumen. Nur dann sind wir einer symmetrischen Option für unsere Existenz fähig, weil wir dann eine Vergleichsbasis zur Verfügung haben: »Das Gerechte ist das Gleiche.«13 9

Ibid., Anm. 2. Cf. Ernst Tugendhat, Anthropologie als ›erste Philosophie‹, op. cit., p. 51. 11 Cf. hierzu Ernst Tugendhat, Über Mystik, in: ders., Anthropologie statt Metaphysik, op. cit., pp. 176–190. 12 Ibid. – Cf. ders., Egozentrizität und Mystik. Eine anthropologische Stu­ die, München 2003. 13 Ernst Tugendhat, Der Ursprung der Gleichheit in Recht und Moral, in: ders., Anthropologie, op. cit., p. 153. 10

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Aus dieser Haltung ergibt sich auch erst die Möglichkeit des kategorischen Imperativs bei Kant, ja unserer Wahrheitsfähigkeit überhaupt. Nicht weil wir rühmenswert den Verpflichtungen der Tradition und den Gesetzen folgen, sind wir wahrheitsfähig, nicht weil wir erfolgreich und damit ebenso rühmenswert handeln, sondern weil wir um eine Wirklichkeit wissen, die uns graziös zuvorgekommen ist. »Wo bleibt nun das Rühmen?«, fragt sich Paulus. Und er antwortet: »Es bleibt ausgeschlossen.«14 Ohne Gnade eines Entgegenkommenden (gratia, χάρις) und ein Sensorium gerade dafür gibt es keine Grundlegung des homo sapiens. Das Wahre ist eben off limits. Es verdient Interesse, daß sowohl Ernst Tugendhat wie Jürgen Habermas und auch Wolfgang Wieland15 Philosophen der Nachkriegszeit in Deutschland sind, die ihre Projekte aus Voraussetzungen einer szenischen Metaphysik entwickelt haben, ohne sie allerdings am Phänomen einer szenischen Existenz des Menschen auszuweisen und ihre Projekte miteinander ins Benehmen zu setzen. Das hat sich bedauerlicherweise zum Nachteil ihrer Zugriffe ausgewirkt, die als solche ansonsten wichtige und durchaus neue Konturen zur Sprache bringen. Insbesondere Wieland hat in seinem Format nichtpropositionalen Wissens ein Thema angeschlagen, das dem Propositionalismus von Tugendhat und auch von Habermas sachlich überlegen ist.16 Die Architektur unserer Sprachen erschöpft sich nicht in Ja / Nein-Stellungnahmen oder beurteilbaren Gehalten, auch nicht in den Varietäten von Sprechakten, sondern in Wissensformen, die szenisch sensibel bleiben. Unsere Sprache muß so gedacht werden, daß sie geschichtsfähig bleibt. Wir müssen auch dann noch erzählen können, wenn wir Wahres gesagt haben. Obwohl also alle drei Denker mit einer durchaus antimetaphysischen Attitüde beginnen, ändert sich das in ihrer weiteren Entwicklung. Habermas legt zwar 1988 nochmals einen Band unter dem programmatischen Titel Nachmetaphysisches Denken vor, ist sich im Text seiner Sache aber nicht mehr so sicher. »Das Moment der Unbedingtheit, das in den Diskursbegriffen der fehlbaren Wahrheit und Moralität aufbewahrt ist, ist kein Absolutes, allenfalls ein zum Röm. 3, 27. Cf. ders., Platon und die Formen des Wissens, Göttingen 1982. 16 Cf. Wolfram Hogrebe, Riskante Lebensnähe. Die szenische Existenz des Menschen, Berlin 2009, p. 80 sqq. 14 15

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kritischen Verfahren verflüssigtes Absolutes.«17 Woher weiß der Denker das? Genau genommen halbiert Habermas das Diskursuniversum. Er reserviert einen Teil für das deliberative Aushandeln von Geltungsansprüchen, um sich des kritischen Gestus seines Frankfurter Erbes vergewissern zu dürfen, und überläßt das Restuniversum der Diskurse einem liquiden Absoluten, das ihm die Intuitionen schenkt, die er diskursiv in Anspruch nehmen muß. Sein Projekt lebt so von Voraussetzungen, die sein kritisches Geschäft nicht garantieren kann. Zwar verkennt er nicht, daß der »antimetaphysische Furor« der Moderne in ihrem szientistischen Bemühen, »das erfahrungswissenschaftliche Denken selbst zum Absoluten zu erheben«,18 über sich selbst nicht aufgeklärt ist. Die Moderne weiß nicht was sie tut, wenn sie die erfahrungswissenschaftlichen Fragmente nur in »surrealen Kränzen geschlossener Weltbilder« oszillieren läßt.19 Diese Einheitsangebote der inzwischen längst vergangenen New Age-Bewegung sind als gänzlich unhistorische Plastikmetaphysiken längst verrottet. Allerdings werden sie immer wieder, auch heute noch, neu hergestellt, und das macht selbst Habermas mißtrauisch. Er verweist in solchen Zusammenhängen nicht ungern und durchaus häufig, aber dennoch auch gequält auf die Forschungen von Dieter Henrich: »Die spekulativen Motive, die Henrich aus gutem Grunde [sic, W. H.] retten möchte, bestimmen in der Tat das Schicksal der Philosophie.«20 Eine Heimat guten Gewissens kann Habermas solchen spekulativen Motiven indes auch nicht bieten, obwohl er ihre Rettungswürdigkeit nicht verneint. Auf dieser Folie erscheint Tugendhats später Rückgriff auf das Format einer profanen Mystik beinahe ehrlicher, aber leider auch als eskapistisch. Wieland hingegen hat eine wirklich sachaufschließende Entwicklung durchgemacht. In seinem letzten Buch Urteil und Gefühl (2001) entfaltet er aus einer ingeniösen Interpretation von Kants dritter Kritik ein neues Problemniveau. Am Ende läßt er seine Ergebnisse nämlich mit einer Moderne kollidieren, die durchgängig mit einem reduzierten Wissensbegriff operiert. Eine solche elaborierte Jürgen Habermas, Nachmetaphysischen Denken. Philosophische Auf­ sätze, Frankfurt  /  M. 1988, p. 184. 18 Op. cit., p. 35. 19 Cf. ibid. 20 Op. cit., p. 277. 17

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Frontstellung findet sich weder bei Habermas noch bei Tugendhat. Wieland summiert: »Modernen philosophischen Erörterungen liegt nicht selten die Hoffnung zugrunde, alles Wissen in Informationen transformieren zu können.«21 Dem ist in der Tat so, und der gegenwärtige Hype um eine globale Digitalisierung zehrt wie selbstverständlich von dieser Transformation als einem fait social total. Diesem Irrtum unterliegt auch die anthropologisch unterkomplexe Idee einer »Datenreligion« von Yuval Noah Harari.22 Hier kann Wieland als guter Hermeneut im Ergebnis seiner Studie darauf verweisen, wie in einer unterstellten Transformation dieses Typs einfach vergessen wird, »daß auch Informationen immer Gebilde bleiben, die darauf warten, verstanden zu werden. […] Dazu gehören auch Dinge, die noch im Hintergrund des Wissens stehen.«23 So kündigt sich eine ganz andere Debatte an, jedenfalls eine, die geeignet ist, die spekulativen Motive ganz neu in Anspruch zu nehmen, deren Rettung Henrich mit Zustimmung von Habermas ja ebenfalls im Auge hatte.24 Eine elaborierte philosophische Theorie solcher spekulativen Motive konnte Wieland leider nicht mehr vorlegen. Sein nächstes Buch sollte Hegel gewidmet sein,25 und man darf annehmen, daß er sich durch Hegel im Ausschreiten spekulativer Denkfiguren nicht gehindert gefühlt hätte. Das Mißvergnügen, das einem gegenwärtig Dokumente e­ ines Ausweichens vor der Metaphysik bereiten, ist darin begründet, daß sie, um Prämien einer Modernität einzustreichen, an die Metaphysik, wenn sie es überhaupt für nötig halten, nur in einer unterstellten sklerotischen façon d’être erinnern. Daß Metaphysik auch eine 21 Wolfgang Wieland, Urteil und Gefühl. Kants Theorie der Urteilskraft, Göttingen 2001, p. 386. 22 Cf. Yuval Noah Harari, Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen, München 2017, p. 497 sqq. Das Buch endet (p. 536) mit drei Schlüsselfragen. Die erste lautet: »Sind Organismen wirklich nur Algorithmen, und ist Leben wirklich nur Datenverarbeitung?« Mit dieser Frage hätte das Buch starten sollen. 23 Op. cit., p. 386 sq. 24 Zum Facettenreichtum des philosophischen Programms von Dieter Henrich cf. die Studien, die zu seinem 90. Geburtstag erschienen sind: Friedrich Vollhardt (ed.), Philosophie und Leben. Erkundungen mit Dieter Henrich, Göttingen 2018. 25 Das teilte mir Wieland 2013 brieflich mit, wies aber schon darauf hin, daß es mit der Fertigstellung wegen der schweren Erkrankung seiner Frau wohl nichts mehr würde.

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erfahrungshaltige Gestalt haben kann, ist kein geläufiger Gedanke mehr. Und doch gibt es einen Titel wie Metaphysik und Erfah­ rung (1996) von Reiner Wiehl (1929–2010). Ebenso die großkalibrigen Bücher von Paul Weiss (1901–2002), die in Europa nahezu keiner kennt. Immerhin hat die Ausnahmefigur Jürgen von Kempski (1910–1998) wenigstens in Zitaten an einen Weiss erinnert, dessen durchaus witzige Erfahrungsnähe trotz seines spekulativen Grundformats nicht gut zu bezweifeln ist: »Wenn es um göttliche Geistestrunkenheit gehe, so könnte Weiss Spinoza unter den Tisch trinken.«26 Und: »Was also ist ein Philosoph, als was darf er sich sehen, wenn er zu sich selbst auf Distanz geht? Ein Philosoph, antwortet Paul Weiss, ist ein Fisch auf dem Trockenen, der überzeugt ist, das Wasser habe ihn nötig.«27 Darüberhinaus bleibt es ein Desiderat der gegenwärtigen philosophischen Diskussion, daß sie die historischen Erträge der Forschungen zur Metaphysik nicht in sich aufgenommen hat, gerade dann nicht, wenn sie sich gegen die Meta­ physik wendet. Warum ist dies ein Desiderat? Einfach deshalb, weil es ein und nur ein historisch überkommenes Fundamentalformat der Philosophie gibt, dessen Denkfigur von einem stabilen Vokabular Gebrauch macht. Genau das finden wir nämlich in der Tradition des Platonismus bis heute, wie wir aus den Forschungen von Werner Beierwaltes und Jens Halfwassen lernen können. Den Anschluß an unsere Erfahrungswelt etabliert Halfwassen in einer Unterscheidung, die er schon im Zentralbegriff der Metaphysik, nämlich der Transzendenz ansiedelt. Er unterscheidet dabei einen starken und einen schwachen Transzendenzbegriff.28 Eine starke Transzendenz wird benötigt, wo einer absoluten Jenseitigkeit des Einen Rechnung getragen werden soll, einer Jenseitigkeit (ἐπέκεινα), »die selbst nicht mehr zu einem Diesseits werden 26 Jürgen von Kempski, Das philosophische Tagebuch. Versuch über Paul Weiss (1984), in: ders., Prinzipien der Wirklichkeit (Schriften 3), ed. Achim Eschbach, Frankfurt 1992, p. 394 sq. Ein szenischer Existenzbegriff dokumentiert sich nach von Kempski in der Zärtlichkeit. Cf. ders., Versuch über die Zärtlichkeit (Schriften 3, op. cit.), p.  20: »Die Angst, so war zu lesen, offenbare das Nichts. Warum eigentlich die zärtliche Zuwendung nicht ein Etwas?« 27 Op. cit., p. 395. 28 Jens Halfwassen, Metaphysik und Transzendenz, in: ders., Auf den Spu­ ren des Einen. Studien zur Metaphysik und ihrer Geschichte, Tübingen 2015, p. 27 sqq., hier p. 29.

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kann«.29 Bezogen auf diese absolute Transzendenz verdampft in der Tat unsere Begrifflichkeit und Phantasie, so daß wir hier nur noch in Form einer negativen Theologie tastende Befunde via negationis ausmachen können. Davon zu unterscheiden ist eine schwache Transzendenz, die den Kontakt zum Fundus der Überschritte nicht verliert, sondern ihn vor Ort in der Arena des Geistes jeweils auf Eines hin transparent macht. Im Einzugsbereich dieser schwachen Transzendenz hat man es mit der szenischen Existenz von allem zu tun, da es »zum Geist gehört, daß er sich in einem von ihm verschiedenen Ande­ ren manifestiert«.30 Die Entzifferung dieser Manifestationsweisen könnte man einer Phänomenologie der Transzendenz zurechnen, die das Repertoire der Abschattungen des Einen zum Gegenstand hat. In dieser erfahrungsnahen Variante ist Metaphysik gelegentlich bis ins 20. Jahrhundert entwickelt worden und drohte erst in den dezidiert reduktionistischen Attitüden vor die Hunde zu gehen. Das Eine gibt es nur noch als Identitätsrelation (x =  x), sofern diese in Kalkülen Verwendung finden kann. Szenische Einheitsformen wie Begrüßen, Zulächeln und andere Formen von Zuwendungen, geraten so völlig außer Betracht. Aber Einheitsformen sind auch da schon vorhanden, wo Formen einer elementaren Bestimmtheit in den Blick kommen. Insofern entzieht sich auch Existenz nicht e­ inem szenischen Verständnis, da Sein für Platon, wie Halfwassen mit Verweis auf Uvo Hölscher hervorhebt, »Bestimmtheit bedeutet«.31 Der szenische Charakter von Sein bekundet sich in dem, was Halfwassen den ontologischen Komparativ nennt: Je einheitlicher etwas ist, desto seiender ist es.32 Nicht alles manifestiert die Einheit seiner Bestimmtheit in gleicher Weise, das eine mehr, das andere weniger. Nicht jedes Pferd ist ein edles Prachttier, es kann auch als ein Klepper dahertraben, ein Hund, wie Freges Beispiel verdeutlicht, als ein Köter herumstreunen. Metaphysik ignoriert die Seinsgrade nicht, sondern erklärt sie. So kommen schon bei Platon und Aristoteles auch flüchtige Eigenschaften unserer szenischen Existenz in ihre Optik

29 Ibid.

Jens Halfwassen, Freiheit als Transzendenz, in: op. cit., p. 355. Cf. Jens Halfwassen, Platons Metaphysik des Einen, in: ders., p. 91 sqq., hier p. 99. 32 Ibid. 30

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wie das Sanfte (πραότης).33 Metaphysik dementiert die Farbigkeit der Welt nicht, sondern stellt sie in ihrem Eigenwert gerade in Rechnung. Die Verschattung dieser Farbigkeit geschieht erst in der antiplatonischen Wende der Moderne seit dem Nominalismus. Darauf hat Arbogast Schmitt hingewiesen, und Jens Halfwassen zitiert ihn.34 Die Moderne liebt eine Welt, die nur schwarz-weiß ist; das vollstreckt sich heute in der vielgerühmten und geschmähten Digitalisierung und ihrer von Gisbert Hasenjaeger (1919–2006) so genannten diskreten Ontologie. Die Moderne hat – abgesehen von Nachkolorierungen – die Farbigkeit der Welt aufgegeben, und die Philosophen sind ihr darin weitgehend gefolgt. Deshalb ist eine Rückbesinnung auf die Metaphysik auch eine Rückbesinnung auf Farben, die ansonsten nur noch von Dichtung, Musik und Künsten verwaltet werden. Schon wegen der essentiellen Gemeinschaftlichkeit zwischen Farbe und Licht hatte das Mittelalter noch ein positives Verständnis der Farbigkeit,35 das über verschlungene Pfade bis zum antimetaphysischen Metaphysiker Goethe, seiner Farbenlehre und Faust II reicht: »Am farbigen Abglanz haben wir das Leben.« Wenn man berücksichtigt, daß Metaphysik in diesem wohlverstandenen Sinn die Farbigkeit der Welt rettet, indem sie alles, was ist, in eine Transluzenz des Einen hineinstellt,36 dann wird man kaum sagen können, daß dieser Typ des Denkens in einem prägnanten Sinne weltflüchtig sei. Das gilt insbesondere für die neuplatonischen Systeme, wo sie in einer Korrektur Platons dem Denken eine metaphysische Ästhetik zur Seite stellen, deren Aufgabe es ist, die schöne Heimat des Menschen, die nicht seine endliche ist, aber in dieser dennoch aufscheinen kann und muß, begreiflich zu machen. Das betont in aller Klarheit auch Jens Halfwassen: »Bild, Kunst und Schönheit sind darum für das neuplatonische Denken eminent welthaft.«37 Im Raum der Transzendenz ist der Mensch geradezu weltsüchtig. Transzendenz bezeugt sich daher als Überschönheit (ὑπέρκαλον) in einer Cf. Wolfram Hogrebe, Philosophischer Surrealismus, Berlin 2014, p. 51. Arbogast Schmitt, Die Moderne und Platon, Stuttgart 2003. Cf. Halfwassen, Platons Metaphysik des Einen, op. cit., p. 98 Anm. 18. 35 Cf. Hedwig Conrad-Martius, Farbe. Ein Kapitel aus der Realontologie, in: Festschrift für Edmund Husserl, Halle 1929, pp. 339–370. 36 Cf. hierzu Werner Beierwaltes, Eriugena. Grundzüge seines Denkens, Frankfurt  /  M. 1994, pp. 115–158. 37 Jens Halfwassen, Schönheit und Bild im Neuplatonismus, in: ders., Auf den Spuren, op. cit., p. 265 sqq., hier p. 266. 33 34

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universellen Konvenienz des Seienden, in harmonischen Verhältnissen im Kosmos ebenso wie im Sozialcorpus in Formen von Freundschaft und Gemeinschaft: »Durch das Schöne ist alles geeint«, heißt es bei Pseudo-Dionysios Areopagita.38 In später Erbschaft steht auch Kant noch in diesem Gedanken, wenn es bei ihm in einer späten Reflexion heißt: »Die schönen Dinge zeigen an, daß der Mensch in die Welt passe.«39 Hiernach faßt sich das Schöne ursprünglich in eine universelle Verträglichkeitsformel (Konkordanz mit sich und mit allem), mit deren Gültigkeit Sein und Denken steht und fällt. Eine für die Philosophie entscheidende Frage ist die nach dem Rationalitätsstatus spekulativen Denkens. Wo nicht mehr begriffen werden kann, zersetzt sich auch das Bivalenzprinzip. Platon hat an diesem Prinzip festgehalten, auch Aristoteles. Für letzteren wird es sogar als oberstes Prinzip von Logik und Ontologie geadelt, wie wir in seiner Metaphysik (IV, 3–4) nachlesen können. Halfwassen stellt diese prekäre Sachlage unter die Frage: Wie rational kann die Rede vom Absoluten sein? Wie zu erwarten beantwortet er diese Gretchenfrage, wie Odo Marquard sagen würde, durch Gewaltenteilung. Selbstverständlich hält auch Plotin, an den Halfwassen sich anlehnt, an der Gültigkeit des Bivalenzprinzips fest. Das gilt aber nur für den Bezirk, der unter die Herrschaft diskursiven Denkens fällt, nicht jedoch für die Sphäre, in der es um die Erfassung der Struktur der Intelligibilität als solcher geht. »Damit schränkt Plotin die Gültigkeit des Satzes vom Widerspruch ein: er gilt nicht universal, sondern nur regional, für die Sphäre des diskursiven Denkens […]. Er gilt aber nicht für das intuitiv-ganzheitliche Denken des νοῦς.«40 Hier benötigt man offenbar die Lizenz, Entgegengesetztes als gültig zuzulassen. Am Absoluten zerschellt die Gültigkeit des Bivalenzprinzips, aber die Folgen werden von Plotin bewußt in Kauf genommen. Wo das Absolute in der starken Version der Transzendenz eingeführt wird, läßt seine Übergegensätzlichkeit seine Charakterisierung mit positiven oder negativen Eigenschaften auf der Schiene des Bivalenzprinzips natürlich nicht mehr zu: »Es ist Cf. Jens Halfwassen, Schönheit und Bild, op. cit., p. 267. R 1820 a. An diese Wendung knüpfen die Kant-Interpretationen von Wolfgang Wieland und Josef Simon an. Cf. dazu Wolfram Hogrebe, Ris­ kante Lebensnähe, op. cit., p. 86. 40 Jens Halfwassen, Wie rational kann die Rede vom Absoluten sein? In: ders., Auf den Spuren, op. cit., pp. 307–314, hier p. 312. 38

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in Wahrheit unsagbar (ἄρρητον τῇ ἀληθείᾳ).«41 Bei Plotin und später natürlich auch von Cusanus wird dies nicht als ein Mangel empfunden, im Gegenteil: Gerade in dieser unvermeidlichen Unsagbarkeit bekundet sich der Adel des Absoluten. Halfwassen gesteht zwar zu, daß »spekulative Metaphysik […] paradoxiefreundlich [sei]«.42 Das ist aber keine literarische Marotte, sondern der Preis für den Versuch, über das Eine in seiner ultimativen Exklusivität noch sachadäquate Hinweise zu geben. Der nicht-propositionale Status solcher Hinweise, die nicht mehr wahr oder falsch sind, hindert nicht, daß sie ihren Sinn aus dem beziehen, was sie hinter sich gelassen haben. Intelligibilität speist sich aus einer übergegensätzlichen Dimension. Wie sollte man das wissen, wenn man die explikative Rede in endlichen Kontrasten terminieren müßte? Insofern gibt es auch im spekulativen Denken Formen einer monovalenten Angemessenheit oder Triftigkeit (cogent), die »den Gegenstandsbezug des rationalen Sprechens, in dem nur Einzelnes und Endliches gesagt werden kann, bewußt durchbricht und aufhebt«.43 Solche Grenzgänge sind jedenfalls sprachlich noch möglich, und es scheint, als ob die immer noch rätselhafte Architektur der Sprache uns zu solchen Grenzgängen geradezu animieren möchte. Die Dichter wissen jedenfalls darum. Wo Halfwassen eine philosophische Konzeption diskutiert, die der Moderne die Gewinn- und Verlustrechnung in einem aufmacht, die also die projektive, ja konstruktive Setzungsmaschine, genannt »Subjekt«, die die Moderne ebenso feiert wie als seinen unvermeidlichen Untergang zu erkennen gibt, genau da wird er zum Poeten einer tragischen Duplizität: »die gottgleiche Weltsetzung des Subjekts ist Luzifers Sturz in den Abgrund«.44 Der Text, den Halfwassen resümiert, stammt von Gunnar Hindrichs.45 Er zwingt Halfwassen zu dem Kommentar, es handele sich

41 Plotin, Enneade

V 3, 13, 1. Zitiert nach Halfwassen, Wie rational, op. cit., p. 312. 42 Jens Halfwassen, Aufwachen zu sich selbst: Plotins Begriff der Einsicht, in: ders., Auf den Spuren, op. cit., pp. 247–263, hier p. 261. 43 Halfwassen, Wie rational, op. cit., p. 313. 44 Jens Halfwassen, Die Unverwüstlichkeit der Metaphysik, in: ders., Auf den Spuren, op. cit., p.72. 45 Cf. Gunnar Hindrichs, Das Absolute und das Subjekt. Untersuchungen zum Verhältnis von Metaphysik und Nachmetaphysik, Frankfurt  /  M. 2008.

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bei dieser Figur um »schwarzes Brokat«.46 Diese Charakterisierung, durchaus häufiger bei ihm belegt, gelingt ihm hier besonders leicht im Kontrastprogram des Textes, der den Stolz und den Untergang des Subjekts zugleich in einer rettenden Heimat im Ungrund abfängt, in einem Geheimnis, das sich das Subjekt selber ist und bleiben muß. Das Absolute bleibt Subjekten ein Wink von Nirgendwo. Mit seiner Hilfe schrauben sie sich »reflexiv aus der Reflexion und damit aus sich« heraus.47 Genau genommen steht hier das Schicksal der Moderne zur Debatte, denn Metaphysik und Moderne gehören, gerade heute, dia­ gnostisch zusammen.

46 Ibid. 47

Jens Halfwassen, Die Unverwüstlichkeit, op. cit., p. 73.

XIX.  Erblindete Moderne Wenn der britisch-polnische Soziologe Zygmunt Bauman befindet, daß wir uns »die Moderne als eine Zeit denken [können], da Ordnung – der Welt, des menschlichen Ursprungs, des menschlichen Selbst und der Verbindung aller drei – reflektiert wird«,1 dann fragt man sich unwillkürlich, welche andere Instanz als die Metaphysik das sonst soll leisten können? Aber auch das von Bauman vorgestellte Kriterium für unsere Moderne, die herrschende Ambivalenz, läßt sich schwerlich konturieren, wenn wir keine stabilen Sinnverhältnisse im Rücken hätten, um die sich Metaphysik seit je bemüht hat und noch bemüht. Bauman, so hat man den Eindruck, gibt dem Affen der Postmoderne schon Zucker, bevor er noch die Moderne ins Trockendock hat einfahren lassen, um sie zu inspizieren. So kam es, daß Bauman die totalitären Brutalitäten von Kommunisten und Nationalsozialisten im 20. Jahrhundert als Expressionen der Moderne vorstellig machen konnte. Ziel sei gewesen, die Unordnung zu überwinden und Unordnung in Eindeutigkeit zu verwandeln. Jörg Baberowski hält das für eine zumindest einseitige Diagnose. Zwischen Moderne und den Barbareien des 20. Jahrhunderts bestehe gerade kein Kausalzusammenhang: »Die Moderne ist nicht Urheber des totalitären Vernichtungsterrors.«2 Zentral für die Entstehung dieses Terrors waren vielmehr, so Baberowski, Einübungsarenen in vormodernen, staatsfernen Räumen. Hier zunächst konnte sich das Streben nach Eindeutigkeit unkontrolliert erproben, ja ungehemmt ausagieren, um später im großen Maßstab seine barbarischen Triumphe feiern zu können. Davon hat die »Eindeutigkeitssoziologie Baumans, in der sich die Vormoderne als friedfertige Idylle präsen-

Zygmunt Bauman, Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutig­ keit, engl. 1991, trad. Martin Suhr, Hamburg 2016, p. 17. 2 Jörg Baberowski, Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt, 3. Aufl. München 2012, p. 26. 1

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tiert, keinen Begriff«.3 Warum nicht? Bauman verwechselt Areale der Eindeutigkeit politischer und ästhetischer Provenienz. Eindeutigkeit in der Selbstdarstellung realisiert sich in einer militärischen Show, die sogar ästhetisch faszinieren konnte (Triumph des Willens). Politische Eindeutigkeit allerdings verlangt nach dem Terror der Exklusion, der die Rechtsgleichheit aushebelt. Klassenfeind und Volksfeind stehen den staatlichen Zugriffen zur Disposition, zunächst auf der Straße, dann in Lagern des Grauens, in denen Eindeutigkeit mittels unfreiwilliger Tätowierungen sichergestellt wird. Insofern lag Bauman mit seiner These von der Eindeutigkeitsobsession der Moderne so falsch nicht, man muß sie nur differenzieren. Zunächst hatte es den Anschein, daß sich die längst verblassende Geschichtsphilosophie im 20. Jahrhundert in einer Theorie der Moderne ein neues Gesicht zu geben im Begriff sein könne. Indes: Der Schein trog. Die Moderne, was immer sich unter diesem Plastikwort verbarg, entband keine aufschließende Kraft mehr. Es blieb beim Kult des jeweils Aktuellen in den Medien. Was fehlt, ist, wie man seit geraumer Zeit gerne sagt, ein tragfähiges Narrativ. Der Prozeß der Moderne ereignet sich zwar über die Köpfe einer verstörten Menschheit hinweg, bietet ihr aber an keiner Stelle formierende Hilfestellungen. Selbst eine Sinngebung des Sinnlosen, wie Theodor Lessing formulierte, ist in unserer Zeit nicht mehr möglich. Was bleibt, ist in der Tat nur eine seltsame Art historischer Physiognomik, die Geschichtsphilosophie als Theorie des Geschichtsverlaufs ersetzt durch sprechende Charakterbilder derer, die unter gewandelten Verhältnissen leben. An ihrem Antlitz muß sich der Geschichtsverlauf ablesen lassen. Seit der kulturellen Wende der Geschichtsphilosophie, beginnend mit Oswald Spenglers Untergang des Abend­ landes (1918/1922) bis zu Samuel P. Huntingtons Clash of Civiliza­ tions (1996),4 kroch die physiognomische Detailuntersuchung in die Adern eines Geschichtsbegriffs, der kein pulsendes Herz mehr hatte. Deshalb konnte die Tradition der Negativbilanz fortgesetzt werJörg Baberowski, Verbrannte Erde, op. cit., p. 28. Gegen dieses Szenario eines Krieges der Kulturen wendet sich Amartya Sen in seinem Buch Identity and Violence. The Illusion of Destiny (New York 2006) mit dem Argument, daß Huntingtons Nutzung handlungsleitender Mentalitäten ein versteckte Form von Fundamentalismus sei, der umstandslos in die von Sen so genannte Identitätsfalle hineinstolpere. Cf. auch die deutsche Fassung, trans. Friedrich Griese, Die Identitätsfalle. Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt (München 2007). 3

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den, ohne das Register eines finalen Dramas zu bemühen. Das Negative ist bloß Form einer Oberflächenzersetzung, selbst wenn sie historisch einigermaßen aufschlußreich zu sein vermag. Was ehedem Charakter war, korrodiert. So lautet der Titel eines erfolgreichen Buches von Richard Sennet, das 1998 unter dem Titel The Corrosion of Character erschien.5 Dieses Buch mutet an wie ein Drehbuch für den gegenwärtigen Präsidenten der Vereinigten Staaten Donald Trump. Das ist weder dem Publikum noch dem Autor Sennett entgangen. 2018 formulierte Sennett in Edinburgh (International Book Festival 21. 8. 2018) prägnant: »Trump is a ›symptom‹ of the ›search for brutal simplicities‹.« Diese Suche nach anspruchslosen Trivialitäten bewegt sich impulsiv, d. h. frei von jeder Bindung im Spielraum eines korrodierten Charakters, oder, wie es in einem anonymen Artikel vom 5. 9. 2018 in der New York Times hieß: »The root of the problem is the president’s amorality.«6 Diese Wurzel einer individuellen und prinzipiellen Bindungslosigkeit kann keine einer öffentlichen Wohlfahrt (public welfare) mehr sein, und das genau entspricht schon dem Schlußergebnis von Sennetts Studie von 1998: »Ein Regime, das Menschen keinen tiefen Grund gibt, sich umeinander zu kümmern, kann seine Legitimität nicht lange aufrechterhalten.«7 Sicher kann kein »Regime« ein solches Sich-Kümmern garantieren, es sollte jedoch durch seine Bemühungen darum autorisiert sein. Die Moderne, die in einer Erprobung neuer Formen begann, vergreift sich im Weltinnenraum des Kapitals an Menschen, denen sie Formate einer unmündig gestellten Individualität zu Lasten ihrer Gemeinschaftlichkeit zumutet: Upsizing the Individual in the Downsized Corporation.8 Dieser leere Individualismus charakterisiert den flexiblen Menschen als Opfer neuer Formen einer Ausbeutung, deren Risiken er nicht mehr wahrnimmt.9 Die Moderne 5 Dt. Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, trans. Martin Richter, Berlin 1998. 6 Die New York Times nannte ihren Autor »a senior official in the Trumps administration«. Cf. dazu parallel Bob Woodward, Fear. Trump in the White House, New York 2018. – Barack Obama hat in einer großen Rede am 7. 9. 2018 in Illinois den Immoralismus von Trump zurückgewiesen und darauf gedrungen, daß Ehrlichkeit, Anstand und Rechtmäßigkeit auch für die Politik wieder verbindlich werden. 7 Richard Sennett, Der flexible Mensch, op. cit., p. 203. 8 Richard Sennett, Der flexible Mensch, op. cit., p. 105. 9 Cf. Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt  /  M. 1986.

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erblindet. Im Weltinnenraum des Kapitals ist es dunkel geworden. Ob hier ein Lob der Asymmetrie als erhellendes Heilmittel gegen die Globalisierungsdämmerung wirklich funktionieren kann, wird zwar seit Adorno oft beschworen, scheint aber trotz Sloterdijks erneuter Berufung mehr als fraglich. Im Prinzip bietet er eine repristinierte griechische Lösung an, die an das alte Polis-Ideal anknüpft: »Die res publica funktioniert nur als ein Parlament der Ortsgeister.«10 Aber auch hier lauern Gefahren, für die Sloterdijk nicht unempfindlich ist. So bleibt ihm am Ende zur Verblüffung des Publikums nur ein Plädoyer für eine altehrwürdige Balance, die von ihm bloß »semantisch« frisiert wird: »Die Lebensform ›demokratische Nation‹ überlebt nur, wenn sie die Semantik des Eigeninteresses […] mit der Semantik der Freiheit für anderes […] zum Ausgleich bringt.«11 Tatsächlich bewegt sich hier Sloterdijk auf Spuren, die Martha Nussbaum und Alasdair MacIntyre vorgedacht haben. Insbesondere Martha Nussbaum hat in ihrer Zusammenarbeit mit Amartya Sen (1986–1993) eine aristotelische Variante gelingenden Lebens ohne normative Defizite entwickelt,12 die als sog. Capability-Approach bekannt wurde und auch heute noch diskutiert wird. Prägend für die Entwicklung der politischen Kultur in den USA wurden solche Vorschläge leider nicht, wohl aber stellen sie Hintergrundargumente für eine Kritik derselben bereit, deren sich auch Barack Obama bedient. Was geschieht hier? Wenn keiner mehr erkennen kann oder weiß, was Gründe für politische Entscheidungen sind, wuchern Spekulationen bizarrer Art. So auch im Fall Trump. Von küchenpsychologischen Einlassungen abgesehen, fordert seine Sprunghaftigkeit auch Experten einer szenischen Metaphysik heraus. Aus welchen szenischen Voraussetzungen wird das Impulsive seiner Dezisionen zumindest am Rande verständlich? Hier gibt es in der Tat eine wenn auch unvermutete Antwort. Kenneth Joseph Arrow (1921–2017), der 1972 (zugleich mit John Richard Hicks) den Nobelpreis für Ökonomie erhalten hatte, analysierte Anfang der fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts Wahlverfahren (social choice), die sich als demokratisch ausweisen lassen 10 Peter Sloterdijk, Im Weltinnenraum des Kapitals. Für eine philosophische Theorie der Globalisierung, Frankfurt  /  M. 2005, p. 411. 11 Peter Sloterdijk, Im Weltinnenraum des Kapitals, op. cit., p. 412. 12 Cf. Martha Nussbaum u. a., Creating Capabilties. The Human Develop­ ment Approach, Cambridge 2011.

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und deren Ergebnis zugleich prognostizierbar sein soll. Zu den Kriterien, die Wahlverfahren in diesem Sinne erfüllen müssen, sollten trivialerweise mindestens folgende drei gehören: 1. Jeder Wähler ist frei, seine Stimmabgabe sollte von außen unbeeinflußt sein; 2. Die Addition der abgegebenen Stimmen repräsentiert die kollektive Präferenz; 3. Kollektive Entscheidungen dürfen nicht erzwungen werden (keine Diktatur). Hinzu tritt noch die formale Forderung, daß die Entscheidungen jedes Wählers bezüglich der Reihenfolge seiner Präferenzen konsistent sein sollte: Wenn jemand x vor y und y vor z präferiert, dann sollte er auch x vor z präferieren.13 Der hier vereinfacht dargestellte Katalog besteht, wie gesagt, größtenteils aus Trivialitäten, die wohl jeder für eine demokratische Wahl als essentiell akzeptieren würde. Dennoch ist das Ziel, die kollektive Präferenz per Wahl zu gewinnen, unerreichbar. Irgendeine der Bedingungen wird in jedem Fall verletzt. Damit ist ein gesellschaftlicher Konsens per Wahlverfahren ausgeschlossen. Natürlich ist dieses Ergebnis von Arrow nicht unwidersprochen geblieben. Insbesondere Amartya Sen (Nobelpreis für Ökonomie 1998) hat darauf aufmerksam gemacht, daß es schließlich Trends gibt, die präferenziell erheblich sind und dennoch nicht als undemokratisch eingestuft werden können. Insofern spielen auch, was Arrow seinerzeit nicht berücksichtigt hatte, Institutionen eine Rolle, die solche Trends unterstützen oder sogar verstärken. Dennoch: Im Ergebnis bleibt der schale Nachgeschmack, daß demokratische Verfahren nicht notwendigerweise das gewünschte Ergebnis einer Konsenserzeugung garantieren. Daraus kann man nun zwei Schlüsse ziehen: 1. Man findet sich mit den Verhältnissen ab, wie sie eben sind, oder 2. Man nutzt das negative Ergebnis von Arrow als Lizenz für eine Freistellung von Bindungen unterhalb der Gesetzesschwelle. Damit hat man genau den way out, der die Praxis des gegenwärtigen Präsidenten der USA definiert. Das Unmöglichkeitstheorem von Arrow wird mithin positiv als Freigabe für subjektive Präferen13

Diese Forderung nach der Transitivität unserer Präferenzen ist, obwohl sie in ihrer logischen Formulierung harmlos aussieht, sehr stark und verhindert in meinen Augen letztlich die Praktikabilität von Arrows Argumentation. Logische Konsistenz kollidiert auf Schritt und Tritt mit unseren deliberativen Üblichkeiten vor Ort. Aus Gründen einer wünschenswerten ­Flexibilität ist für uns Konsistenz häufig zweitrangig.

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zen politisch in Anspruch genommen. Da die Amerikaner insbesondere Carl Schmitt als politischen Theoretiker lieben, mag es wohl sein, daß sie auf diese Weise ein erneutes Bündnis zwischen ihm und ihrer politischen Kultur dokumentieren könnten. Allein der Schein trügt: Die Impulsivität von Trumps geradezu autoiden Entscheidungen ist kein Beweis eines Dezisionismus im Sinne von Schmitt, sondern allenfalls die einer legitimatorisch völlig unterhöhlten Karikatur desselben, die den fragwürdigen, gleichwohl überpositiven Sinn seiner Intuitionen (Nomos) verfehlt. Natürlich hat Trump weder Schmitt noch Arrow, Nussbaum schon gar nicht (wenn überhaupt etwas) gelesen. Darauf kommt es hier aber auch nicht an. Was solche Überlegungen berühren, ist vielmehr der Saum des Mantels eines objektiven Geistes, der sich zu unseren Zeiten zipfelweise weltweit greifen läßt. Formate einer durch und durch egoiden Politik beherrschen zunehmend die internationale Arena und dokumentieren den Abschied von einem Gemeinsinn (sensus communis), der bei aller Brüchigkeit bis dato die überpositive Substanz der Menschheit zu sein schien (navis huma­ nitatis). Ausgerechnet zu Zeiten einer erdumspannenden Globalisierung zerbricht die normative Basis des bonum commune zugunsten einer zynischen Willkür ökonomischer und nationaler Interessen.14 Eine gemeinsame szenische Basis der Menschheit geht in die Brüche. Das ist aber keineswegs nur Kennzeichen der politischen Diskurse, sondern läßt sich schon an der Basis eines digitalisierten Lebens erkennen. Handy und Smartphone beherrschen zunehmend den personalen Austausch von Mitteilungen. Auf Dauer kann das, wie oft bemerkt wird, nur zu einer Erosion der Kommunikationsfähigkeit führen. Empathiegesteuerte Zwiegespräche sind dann nicht mehr möglich. Ein digitaler Autismus wird zum Bazillus von Lebens­vollzügen, die sich außerhalb normativer Verpflichtungen für das Mitgeteilte entwickeln. In sozialen Medien breitet sich eine kommunikative Enthemmung aus, die jetzt schon Realität ist und selbst von Präsidenten der Vereinigten Staaten bedient und damit sanktioniert wird. Dieses Phänomen ist einigermaßen neu. Zwar gab es zumindest in literarischer Form immer schon Erzählungen spektakulärer Kommunikationsverzerrungen, aber nur selten solche, die an unsere Zeit anschlußfähig sind. Eine solche GeCf. hierzu auch Martha Nussbaum, Not for Profit. Why Democracy needs the Humanities, Princeton 2010.

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schichte verdanken wir indes Stefan Zweig, der mit seiner Schach­ novelle (1942) aus der Erfahrung politischer Barbarei ein äußerst hellsichtiges Beispiel dafür geliefert hat, was heute im Begriff ist, universell zu werden. Für Zweig gab es seinerzeit noch keine personalen Computer. Er konnte ihn, für seine Geschichte tragend, noch durch ein Schachbrett antizipieren. Eine Bataille, wie sie ihm vorschwebte, wäre sonst nicht möglich gewesen. Der fiktive Schachweltmeister Mirko Czentovics und der dem Hitlerschen Regime entkommene österreichische Dr. B. treffen sich zufällig, allerdings durch den Erzähler stimuliert, auf dem Dampfer, der von New York nach Buenos Aires fahren soll. Dr. B. erweist sich als Schachkenner und soll eine Partie gegen den Weltmeister spielen. Zur Verblüffung des Publikums gewinnt er, wird aber durch Czentowics zu einer weiteren Partie aufgefordert und stimmt zu. Hier beginnt das Desaster. Seine Vorgeschichte in Hitlers Verliesen wird wieder wirksam. Sein künstlich erzeugtes, latent schizoides Temperament kommt passager zum Ausbruch. In Hitlers Gefangenschaft war er einer Isolationsfolter ausgesetzt, in der ihm alle Außenreize entzogen wurden: »alle Sinne bekamen von morgens bis nachts und von nachts bis morgens nicht die geringste Nahrung«, es war »um einen das Nichts, die völlige raumlose und zeitlose Leere«.15 Seine mentale Stabilität konnte Dr. B. nur mit Hilfe eines Schachbuchs aufrechterhalten. Doch alsbald konnte er die abgedruckten Partien auswendig, und die Situation war wieder dieselbe: »Plötzlich stand ich neuerdings vor dem Nichts.« Hier gab es nur einen Weg: »Ich mußte versuchen, […] gegen mich selbst zu spielen.«16 Das führt nach einiger Zeit zu einer mentalen Zerrüttung, die ihn ins Krankhaus bringt und dann auch, nachdem die Gestapo das Interesse an ihm verloren hatte, in Freiheit, d. h. letztlich auf den Dampfer nach Buenos Aires. Während der zweiten Partie bricht die Krise wieder aus, ein völliger Realitätsverlust läßt Dr. B. die Schachpartie auf dem Brett verkennen: »Es hatte den Anschein, als ob er an der Partie gar keinen Anteil mehr nehme, sondern mit etwas ganz anderem beschäftigt sei.«17 Mit dem neunzehnten Zug bricht die Krise aus, er

Stefan Zweig, Schachnovelle, Berlin 2013, p. 40. Stefan Zweig, op. cit., p. 52. 17 Stefan Zweig, op. cit., p. 70. 15 16

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ist woanders, in einem anderen, imaginären Spiel. Das reale Spiel wird sofort abgebrochen. Stefan Zweig läßt eine naturaliter autoide Persönlichkeit gegen eine induziert schizoide antreten, die beide paradigmatische Bedeutung für das politische Risiko schon seiner Zeit hatten und auch heute in gewandelter Form noch haben. Das Schachbrett wird ersetzt durch das Smartphone, das der eine souverän, aber autoid beherrscht, während sich der andere seiner nur um den Preis eines zunehmenden Realitätsverlustes schizoid zu bedienen vermag. Beide Muster beginnen unsere Zeit zu prägen, und man weiß nicht, auf welcher Seite das Glück zuhause ist. Für Zweig war es offenbar keine der beiden Seiten. Das macht die Faszination seines Textes aus, dem sich kaum einer entziehen konnte, weil man ihm seit je eine exemplarische Gültigkeit zutraute, mehr aus Ahnung denn aus Wissen. Denn man wußte im Grunde und weiß bis heute nicht: exemplarisch, ja, das fühlen wir, aber wofür eigentlich? Jetzt wissen wir: für unsere Zeit. Um das zu zeigen, müssen wir allerdings Zweigs Protagonisten vom Schachbrett lösen und sie aus einem kollektiven Hintergrund hervortreten lassen. Die personalisierte Optik der Novelle wird dadurch verlassen und ihr exemplarischer Konflikt wird zu einem Massenphänomen mit dem Präsidenten der Vereinigten Staaten per Twitter an der Spitze. Eine szenische Existenz löst sich in Bits auf.18 Das gälte natürlich nur, wenn wir ausschließlich ein digitalisiertes Vokabular zur Verfügung hätten. Da dem nicht so ist, bleibt uns als Heilmittel für diese desaströse Diagnose ein Rücksturz auf ein vorindustrielles, idyllisches Niveau verlorener Heimatlichkeit, wie wir es von Heideggers Spätschriften her kennen, erspart. Jeder bringt, wo immer er sich aufhält, seine Heimat schon mit. Das ist seine Sprache. Sie besteht nicht aus konventionellen Zeichen, wie in einer diskreten Ontologie digitalisierungsfähiger Systeme, sondern muß so gedacht werden, daß sie uns als ein analoges Geschehen »Welt­ ansichten« überhaupt erst zugänglich werden läßt.19 Genau diese sind für jeden Heimat. Was wir daher benötigen, ist die Ausbildung 18 Cf. dazu ausgreifend Shoshana Zuboff, In the Age of Smart Machine: The Future of Work and Power, New York 1988. 19 Cf. dazu Jürgen Trabant, Über Humboldts Trias von Wort, Zeichen und Bild, in: In Memoriam Josef Simon (1. 8. 1930 – 28. 3. 2016), Bonn 2018, pp. 36–54, hier p. 50 sq.

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eines weiteren Pfads der Aufklärung, der sich nicht von überkommenen Einsichtsgewinnen trennt, sondern sie in die verkürzten Diskurse der Gegenwart wieder einbringt. Es gibt Korrekturen, deren Kraft aus Traditionen erwächst, die nicht abgearbeitet sind.

XX.  Fortsetzung der Aufklärung Um unsere Gegenwart wieder in das Programm der Aufklärung hineinzustellen, bedarf es vorab einer ungefähren Vergewisserung dessen, worum es in ihr ging und auch heute noch geht. Da hierzu ein reicher Forschungsstand vorliegt, benötigen wir eine Charakteristik, die sich von den verschlungenen Pfaden der überkommenen Aufklärung nicht historisch strangulieren läßt und dennoch den systematischen Kern ihres Anliegens nicht preisgibt. Dieser mag darin bestehen, daß sie in erster Linie an einer Entflechtung von Diskursen arbeitet, nicht um Privilegien an den einen oder anderen zu verteilen, sondern um ihre eigenständige und zugleich eingeschränkte Legitimität sichtbar zu machen. Insofern könnte man sagen, daß das Programm der Aufklärung in eine imaginäre Kartellbehörde zur Verhinderung diskursiver Monopole mündet. In diesem Sinne ist sie historisch wirksam geworden und kann in dieser Basisintention auch heute noch beerbt werden, ja muß es. Denn die selbstverschuldete Unmündigkeit, von der Kant sprach, aus der die Aufklärung heraus­führen soll, kann nur behoben werden in einer Gewaltenteilung der Diskurse, in der Zerschlagung prätendierter Diskurs­ monopole. Es kann im Geschäft der Aufklärung allerdings nicht nur darum gehen, Diskurse zu sortieren, sondern vor allem auch darum, neue zu entwerfen, um ein Licht darüber anzuzünden, wie wir uns zu verständigen gehalten sein werden. Das ist keine leichte Aufgabe, wie uns die Geschichte der Aufklärung belehrt. Auch die opulente Geschichte derselben, die wir Panajotis Kondylis verdanken, endet im Entsetzen. Sie bietet am Ende nämlich eine Diagnose für seine, unsere Gegenwart, in der ein tiefgreifender Zwiespalt aufgetreten ist, »nämlich als unheilbares Auseinanderfallen von Kausalem und Normativem«.1 Das ist nach seiner Auffassung Folge des Verlustes einer Gegnerschaft, von der die gesamte Geschichte der AufkläPanajotis Kondylis, Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Ratio­ nalismus, München 1986, p. 649.

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rung lebte, des Verlustes des theologischen Antagonisten. Diesem Zwiespalt stellt sich Kondylis zufolge unter den heutigen Philosophen keiner mehr, es sei denn solche, die »mit Sehnsucht an die vermeintlich vor­aufklärerische bzw. vorindustrielle Idylle [denken]« und die »nebenbei – […] im Sinne des aufklärerischen Primitivismus und Exotismus – die tiefe Weisheit nicht europäischer Sitten [entdecken]«.2 Wie der mithin weiterbestehende Zwiespalt und damit die moderne Krise des Denkens effektiv aufgelöst werden kann, bleibt auch Kondylis schleierhaft. Er schließt, wie Jens Halfwassen wieder sagen würde, in »schwarzem Brokat«, nämlich mit der Vermutung, daß »wie oft in der bisherigen Geschichte, so auch diesmal diejenigen der Krise auf ihre Weise ein Ende bereiten werden, die weder nostalgisch noch tolerant noch besonders feine Denker sind«.3 Seine eigene Geschichte der Aufklärung hätte ihn eigentlich nicht so defaitistisch enden lassen müssen. Denn ebenso wie ein sich anreichernder Rationalismus in der umwegig denkenden Aufklärung letztlich auf eine »Rehabilitation der Sinnlichkeit«4 hinauslief, ja sogar auf eine Rehabilitation des Irrationalen und Mystischen,5 steht einer Erweiterung der Diskurse des Kausalen und Normativen in ihrer unversöhnlichen Entgegensetzung in unserer Zeit nicht a priori etwas entgegen.6 Wie das Muster einer Versöhnung dieses Zwiespalts aussehen mag, bleibt Aufgabe der Aufklärung für unsere Zeit, der 2 Ibid.

3 Ibid.

Panajotis Kondylis, Die Aufklärung, op. cit., p. 19 et passim. Panajotis Kondylis, Die Aufklärung, op. cit., p. 37 et passim. 6 Im Prinzip war diese Problemlage schon für Leibniz dieselbe: »Unter der Hegemonie der bloß kausalen, partikelmechanischen Erklärungsperspektive war die Natur zu einem gespenstischen Uhrwerk ohne ›inneren Sinn‹ verstummt.« (Hubertus Busche, Leibniz’ Weg ins perspektivische Univer­ sum. Eine Harmonie im Zeitalter der Berechnung, Hamburg 1997, p. 503). Leibniz setzte mit seiner Monadologie einen »psychophysischen Expressionismus« ein, um die Kluft zu schließen. Allerdings konnte er in seiner Konzeption noch Gebrauch von einem Göttlichen machen, das als Garant einer »prästabilierten Harmonie«, so schön diese Idee ist, heute schwerlich in Anspruch genommen werden könnte. Cf. dazu die geistreichen, heute noch relevanten Ausführungen von Rainer Specht, Über den Zugang zu Theodizeen, in: Erhard Scheibe / Georg Süßmann (eds.), Einheit und Vielheit. Festschrift für Carl Friedrich von Weizsäcker zum 60. Geburtstag, Göttingen 1973, pp. 91–97. 4

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man nicht ausweichen darf. Das ist auch nicht der Fall. Schon die in den letzten Jahrzehnten erwirtschaftete reiche Ausdifferenzierung von Kausalität und Normativität kann dies bezeugen. Allein darum geht es Kondylis nicht. Der verbleibende Zwiespalt zwischen Normativem und Kausalem ist ja selber ein Resultat der Aufklärung, ein Ergebnis, das in der Tat mit dem Verlust ihres Gegners zusammenhängt. Wenn die Lenkungsinstanz des Göttlichen entfällt, um den Menschen eine vordem nicht gekannte Freiheit zu sichern, stürzt der Mensch zwangsläufig auf eine Natur zurück, deren Determinismus ihn aufs Neue stranguliert: »Eine tragische Ironie steckt in dem Versuch, die menschliche Freiheit gegen das Übernatürliche zu retten. Die Freiheit vom Übernatürlichen wurde zur Abhängigkeit vom Natürlichen. Beschaffenheit des Gehirns und der Nerven, Klima, Rasse, Wirtschaft und Sitte – kurzum alles, was gegen den Intellektualismus bzw. die Machenschaften Gottes aufgeboten wurde, zeigte sich nun als noch unerbittlicherer Herr denn der alte.«7 Genau in diesem Dilemma stecken wir noch immer. Und zur Bewältigung dieses Problems nützen uns die Bilanzen der Ausdifferenzierung von Natürlichem und Normativem in der Tat gar nichts, sie gehören zu den herkömmlichen philosophischen »Gedankenspielen«, auch da, wo sie »sich sogar neue, z. B. sprachanalytische einfallen lassen«.8 Der einzige Ausweg, der aus dem Zwiespalt von Normativem und Kausalem herausführen könnte, wäre in Fortsetzung der Aufklärung ein neuer Essentialismus, der sich vor dem alten aristotelischen verbeugt, ohne sich ihm zu beugen. Das hier empfohlene Format eines neuen Essentialismus wäre in vielen Feldern, nicht nur in der Geschichtsphilosophie, geradezu erwünscht. Unter der Hand wird er schon im ethischen Denken im Stile von Martha Nussbaum in Anspruch genommen, in der Ästhetik von Gottfried Boehm. Vielleicht ist es besser, hier von einem pragmatischen Essentialismus im Rahmen von Systemüberlagerungen zu sprechen. Damit eröffnet sich die Chance, die Architektur unserer Rationalität aus Voraussetzungen zu entwickeln, die in faktischen Verhältnissen situiert sind. Eine methodische Hilfestellung für dieses Projekt kann man durchaus von bereits vorliegenden pragmatischen Fundierungen beziehen, 7 Panajotis Kondylis, Die Aufklärung, op. cit., p. 358. Kondylis verweist hier rühmend auf Jean Ehrard, L’idée de nature en France dans la première moitié du XVIIIe siècle, Paris 1963. 8 Panajotis Kondylis, Aufklärung, op. cit., p. 649.

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wie sie im Gefolge von Paul Lorenzen entwickelt wurden. Das kann aber nur gelingen, wenn man diese Konzepte von ihrer Obsession eines zirkelfreien Aufbaus des philosophischen Vokabulars befreit. Denn diese Obsession konnte stets nur Paradigmen einer »Kon­ troll­vernunft« (Odo Marquard) bieten, die für spekulative Ausgriffe konstruktiv strangulierend sind und ja auch faktisch zur kreativen Impotenz des gesamten Unternehmens und zu seinem Ende bei­ getra­gen haben. Dennoch bleibt es ein Verdienst dieses Programms, den Geltungsbereich des Normativen aus lebensweltlich grundierten Vor­ aus­setzungen her in den Blick gebracht zu haben. Da solche lebens­ weltlichen Voraussetzungen von kausalen Zwängen durchsetzt sind ohne Diskurse unmöglich zu machen, hat man bereits ein prädiskursives Format, in dem der Zwiespalt zwischen Normativem und Kausalem aus Voraussetzungen rationalen Agierens schon geschlichtet war, bevor er überhaupt aufbrechen konnte.9 Das hat Kondylis übersehen. Das ändert aber nichts daran, daß seine Abschlußdiagnose als Zeitproblem dennoch korrekt bleibt. Der Zwiespalt, von dem er spricht, enthüllt sich in diesem Panorama allerdings als ein politischer. Damit wird das Geschäft der Aufklärung keineswegs leichter. Politische Diskurse lassen sich in der Regel nicht vom Schreibtisch aus regulieren. Sie führen auf der Agora der Lebenswelt und auch verdeckt ein multifunktionelles, von außen kaum beeinflußbares Gespräch, hinter dem Interessen unterschiedlicher Art wirksam sind. Bezogen auf die Abschlußdiagnose von Kondylis ist es der bekannte und bis heute kontroverse Antagonismus zwischen Determinismus und Freiheit, zwischen Geist und Natur etc. Aber auch hier braucht eine neue Aufklärung nicht das Handtuch zu werfen, sofern sie bereit ist, sich von der Vorstellung eines eindimensionalen, linearen Kausalismus zu lösen, um den Boden überdeterminierter Verhältnisse zu betreten. Überdeterminiert ist 9

Cf. die Bemerkung von Carl Friedrich Gethmann: »Der Umstand, daß die Begründung bzw. Rechtfertigung bestimmter ausdifferenzierter Wissensformen (know that) methodisch auf einem bereits selbstverständlichen Um­ gehen­können (know how) sprachlicher und technischer Art beruht, ist in der Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts (v. a. Dilthey, Husserl, Heidegger) mit Hilfe des Terminus ›Lebenswelt‹ ausgedrückt worden.« (ders., Proto­ logik. Untersuchungen zur formalen Pragmatik von Begründungsdiskursen, Frankfurt  /  M. 1979, p. 38  sq).

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etwas, wenn es mindestens eine Eigenschaft gibt, von der behauptet werden kann, daß es sie hat und gleichzeitig auch nicht hat.10 Das kann natürlich nur der Fall sein, wenn es emergente Überlagerungen von Systemen gibt, die ihren eigenen Determinationsmodus haben. Solche Systemüberlagerungen sind gerade Kennzeichen unserer szenischen Existenz. Letztlich war das bereits eine Idee von Nicolai Hartmann: »Freiheit […] kann es nicht in der Einheit einer einzigen, durchgehenden Determination geben, sondern nur in der Überlagerung mehrerer.«11 Insofern kann Hartmann die universelle Gültigkeit des Kausalgesetzes unangetastet lassen, wenn man sich ausschließlich auf der untersten Systemstufe bewegt: »Eine Welt, in der es Freiheit gibt, muß mindestens zweischichtig sein. […] In einer einschichtigen Welt mit einem einzigen Determinationstypus ist sie ein Ding der Unmöglichkeit.«12 Dieser Konzeption schließt sich aus anderem Blickwinkel auch Odo Marquard an: »Die Freiheit muß nicht als Minus an Determination gesehen werden; nicht weniger Determination gibt Freiheit, sondern ein Mehr an Determination.«13 Damit wäre in der Tat der Zwiespalt zwischen Kausalem und Normativem, mit dem Kondylis aporetisch endet, aufgelöst. Aufklärung unserer Zeit besteht hier in der Zerschlagung eines prätendierten Determinationsmonopols, dessen Sachwalter eigenartige Naturwissenschaftler sind, die, wie Benjamin Libet oder Wolf Singer, die Existenz der Freiheit des Menschen rundheraus negieren. Von solchen Zeitgenossen gibt es Gottseidank nur wenige. Denn hier bliebe anstelle deliberativer Diskurse letztendlich nur Gewalt übrig.

Cf. Uwe Meixner, Einführung in die Ontologie, Darmstadt 2004, p. 56. Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt. Grundriß der allgemei­ nen Kategorienlehre, Berlin 1940, p. 564. 12 Nicolai Hartmann, Der Aufbau, op. cit., p. 573. 13 Odo Marquard, Freiheit und Pluralität, in: ders., Skepsis, op. cit., p. 119. 10 11

XXI. Codatierung Im 2. Abschnitt des 1. Hauptstücks der Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft heißt es: »Aber das lehrt mich die Erfahrung: daß, wohin ich nur komme, ich immer einen Raum um mich sehe, dahin ich weiter fortgehen könnte; mithin erkenne ich Schranken meiner jedesmal wirklichen Erdkunde, aber nicht die Grenzen aller möglichen Erdbeschreibung.«1 Diese Grenzenlosigkeit unserer Orientierungen, die immer auch in den Beschränkungen vor Ort gegeben sind, ruft unsere antizipatorische Sensibilität auf, für die es ausgemachte Sache ist, daß wir in einem wenngleich undefinierten Ganzen leben. Das gilt sicher nicht nur für unsere Orientierung im Raum, sondern darüber hinaus für unsere gesamte sensorische Registratur. Zu allen Daten, die uns gegeben sind, gibt es Codaten, die vielleicht nicht so leicht zugänglich, ja manchmal nur implizit in einem Verborgenen im Geflecht gegebener Daten entdeckt sein wollen. Sie sind jedenfalls zu jedem Gegebenen ein Mitgegebenes, das dem Gegebenen erst sein Aroma verleiht wie die Obertöne (Aliquottöne) dem Ton, ohne die er farblos bliebe. Klangfarben gibt es ohne Aliqottöne nicht. Immerhin sind auch diese physikalisch realisiert, wie man mit Musikinstrumenten ad auris2 demonstrieren kann. Das Mitgegebene braucht aber nicht stets auch physikalisch realisiert zu sein, in der Geometrie genügen symbolische Gegebenheitsweisen, in Textsystemen semantische, nur Interpretationen zugänglich. Das Mitgegebene jedenfalls beglaubigt den anthropologischen Umstand, daß wir nicht nur vor Ort datiert sind, sondern in jeder Registratur auch codatiert. In dieser Tatsache liegt beschlossen, was ich früher das Transparenzprinzip des Anaxagoras genannt habe. Es besagt in kontrapositiver Fassung: Wenn nichts Unsichtbares gibt, dann auch nichts Sichtbares.3 KrV A 787, Akademie-Ausgabe Bd. III, p. 496. Cf. Vergil, Aeneis II, 119. 3 Fragm. 21 a: ὄψιϛ γὰρ ἀδήλων τὰ φαινόμενα. In: Hermann Diels, Die Frag­

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Es gehört zu den erstaunlichen Tatsachen, daß im Gegensatz zum Gegebenen das Mitgegebene in der Philosophie keine gesonderte Theoriebildung erfahren hat. Zwar stieß Husserl in seinen Analysen immer wieder auf dieses Phänomen, aber eine spezielle Theorie unserer Codatierung liegt bis heute nicht vor. Das ist schon deshalb verwunderlich, weil sich im Raum unserer Codatierung der wissenschaftliche Fortschritt realisiert, alle Entdeckungen und auch die kulturellen Innovationen. Das Neue ist in diesem Raum heimisch, sonst bliebe es uns schlechthin unzugänglich. Aber auch das Alte ist in diesem Raum heimisch, insofern es uns Rätsel geblieben ist. Wir sind codatiert mit dem, was uns beschäftigt, beschäftigt hat und beschäftigen wird: Der entdeckte Stern, der neue Beweis, das endlich gefundene Heilmittel, aber auch die alte Weise, der ferne Ton und Klang, der rätselhafte Spruch aus alter Zeit. Häufig ist es auch das, was uns durchaus geläufig, aber unverstanden geblieben ist. Warum erwarten wir nach einer Dissonanz eine auflösende Konsonanz? Unsere Codatierung gehört zur Architektur unserer Rationalität und ist das Faktum unserer szenischen Existenz. Wir sind szenisch auch im Geschlossenen im Offenen. Zu differenzieren sind hier selbstverständlich die uns möglichen Findungsmodi. Ein Beweis muß gelingen, ist er gefunden, fragt man sich: War er schon vorher da? Das fragt man sich bei einem neu entdeckten Stern nicht, er war natürlich schon vorher da. Dennoch mußte seine meßtechnisch abgesicherte Entdeckung gelingen. Ebenso wie bei dem gelungenen Nachweis von Gravitationswellen. Vorher konnte man ihre Existenz nur postulieren, nun aber hat man Gewißheit und vergibt Nobelpreise. Bei einer neuen, nun schlüssigen Interpretation eines Gedichtes fragt man sich nicht, war diese Interpretation schon vorher da, wohl aber, ob der Sinn, der in dem Gedicht beschlossen ist, nicht etwas ist, das allen Zugängen ein Zuvorgekommenes bleibt. Der Ingenieur hingegen findet oder entdeckt nicht, sondern erfindet im Lichte überkommenen Wissens. Die Zugangsarten im Codatierten sind jedenfalls ein philosophisches Thema ersten Ranges, das erst jetzt entdeckt wird.4 mente der Vorsokratiker, Berlin 1906², p. 322. Dem entspricht auch das Kontextprinzip des Anaxagoras (Fragment 6): Es gibt kein getrenntes Seiendes (χωρίϛ), alles hängt mit allem zusammen (μετέχει). 4 Cf. Gottfried Gabriel, Kreatives Denken und Heuristik des Erkennens, in: Denkströme. Journal der Sächsischen Akademie der Wissenschaften,

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Warum ist das Thema aber von Bedeutung? Einfach deshalb, weil wir nur so den Menschen komplettieren können, ohne ins Transzendente auszuweichen. Es geht um eine Weiterführung der Aufklärung, ohne einem Relativismus Kredit zu geben. Ein solcher droht da, wo, wie bei Odo Marquard, in systemüberlagernden Konzep­tio­ nen wie von Nicolai Hartmann die Steuerungsfunktion der jeweils höheren Ebene preisgegeben wird, um eine »Enthierarchisierung der schichtentheoretischen Lösung« zu empfehlen.5 Man braucht in der Tat Hartmanns Schichten-Hierarchien nicht, um dennoch an einer nach oben offenen Systemüberlagerung festzuhalten. Was man aber braucht, sind die sich daraus ergebenden unterschiedlichen Reglements der Systemebenen. Bezogen auf diese Unterschiedlichkeiten ist alles relativ, aber das bedeutet nicht schon Relativismus. Auch die von Marquard gepflegte Skepsis ist unangebracht. Im Codatierten finden wir uns komplettiert, finden wir Anklang in einer Anonymität, die das Glück unserer Findungen (plaisir) bereithält. Damit wissen wir zwar nicht mehr über uns als wir faktisch wissen, aber wir dürfen mit mehr rechnen, sonst würden wir keine Fragen mehr stellen, und das wäre ein Dementi unserer heuristischen Verfassung, unserer szenischen Existenz. So kann die Philosophie sicher kein Ergebnis bieten, das über das fortgesetzte Programm der Aufklärung hinausginge, also eine »Kundschaft«, »die kein Mensch jemals bekommen kann«.6 Aber sie kann sehr wohl die Eingangspforten unserer Offenheit benennen und muß es auch, um den Rätseln zu geben, was der Rätsel ist, den Adel einer Fraglichkeit (cons­ titutio coniecturalis), in die wir hineingeboren werden. Das merken wir aber erst dann, wenn wir aus dem Schlaf unbefragter Konsonanz erwacht sind. Erst dann können sich uns unvermutete Korrespondenzen melden und Symmetrien erkennbar werden, in denen wir uns bestätigt fühlen dürfen. Die universelle ciceronische Konvenienz7, die sich in solchen Korrespondenzen dokumentiert, ist schon mit Augustinus jene Harmonie, die nicht nur Wahrheit, sondern Heft 13 (2014), pp. 81–94. – Zur expliziten Theorie einer Zugangsforschung cf. Jaroslaw Bledowski, der diesem Thema am Beispiel von Heidegger erstmals in innovativer Weise nachgegangen ist: ders., Zugang und Fraktur. Heideggers Subjektivitätstheorie in ›Sein und Zeit‹, Diss. Bonn 2018, p. 76 (Manu­skript). 5 Odo Marquard, Freiheit, op. cit., p. 121. 6 Kant, KrV B 731, Akademie-Ausgabe Bd. III, p. 461. 7 Cicero, De divinatione II, 34. 124.

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auch Schönheit möglich macht, »sei es durch Ähnlichkeit des Gleichen, sei es durch Abstufungen des Ungleichen«.8 Wir sind so gebaut, daß wir der Welt und dem Reich der Noemata entgegen kommen müssen, aber beide auch uns. Um das plausibel zu machen, verlangt Leibniz eine reale Metaphysik (metaphysique reelle) und Prinzipien der Konvenienz (principes de convenance), die allein den dynamischen Zusammenhang zwischen Seele und Welt erklären könnten. Gerade die Prinzipien der Konvenienz sind es, die »die Seelen beeinflussen und nicht weniger Genauigkeit (exactitude) aufweisen als die der Geometer«.9 Dies ist eine genuine Idee von Leibniz, derzufolge wir mit einer nicht-metrischen Exaktheit zu rechnen haben. Das ist auch für unsere heutigen Verhältnisse noch eine relevante Einsicht, denn wir benötigen für unsere nicht-numerisch einlösbaren Prägnanzen nach wie vor Konvenienzen, die sich nicht erzwingbar einstellen. Bei Leibniz gehen diese Konvenienzen letztlich auf eine prästabilierte Harmonie zurück, die natürlich göttlichen Ursprungs ist. Selbst wenn wir diese Rückbindung nicht in Anspruch nehmen, ist an Leibniz’ phänomenalen Befund nicht zu rütteln. Sonst wäre es auch für uns heute noch völlig unerklärlich, wie uns bisweilen gerade im Dahindämmern oder auch im Traum Lösungen zu Problemen einfallen, an die wir trotz harter Arbeit bei Tage nicht oder nur mühsam gekommen wären. Auch das war Leibniz nicht entgangen. Er zählt solche Effekte zu den »Wundern der Träume«, »in denen wir ohne Mühe (sans peine) […] Dinge erfinden, über die man in wachem Zustand lange hätte nachdenken müssen, um darauf zu kommen«.10 Im Hintergrund steht vor allem auch eine Konzeption von Leibniz, die man als sub-diskursive Erkenntnistheorie bezeichnen 8 Augustinus, De vera religione 30, 55; zitiert nach Heinrich Schepers, Artikel ›Konvenienz‹, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, eds. Joachim Ritter / Karlfried Gründer, Bd. IV, Basel  /  Stuttgart 1976, Spalte 1068 sq. 9 Gottfried Wilhelm Leibniz, Entretien de Philarete et d’Ariste, in: Gott­ fried Wilhelm Leibniz. Philosophische Schriften, ed. et trad. Hans Heinz Holz, Bd. 1, Darmstadt 1965, p. 348 sq. Leibniz verbindet die Prinzipien der Konvenienz stets mit dem Prinzip eines Meliorismus, nach dem Gott nur die beste aller möglichen Welten hat erschaffen können. Das soll uns hier aber nicht beschäftigen. 10 Gottfried Wilhelm Leibniz, Principes de la nature et de la grace, fondé en raison / In der Vernunft begründete Prinzipien der Natur und Gnade, in: ders., Philosophische Schriften, op. cit., p. 414 sqq., hier p. 433.

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könnte. Es ist seine These, daß unser Geist und unsere Seele, noch bevor sie sich prädikativ oder propositional bewähren, von einem Fundus zehren, den er »verworrene Perzeptionen« nennt. Gerade in diesem Bereich sprechender Vagheit ereignen sich jene Konvenienzen, »die unsere Wünsche übersteigen (qui passe nos souhaits)« und uns großes Vergnügen (grand plaisir) bereiten.11 Dieses Vergnügen (plaisir de l’esprit) betont Leibniz immer wieder, und als Beleg fügt er unsere Erfahrung der Musik an, die auch ein Dokument der schon genannten nicht-metrischen Präzision ist. So heißt es bei Leibniz: »Die Musik gefällt uns, obwohl ihre Schönheit nur in Übereinstimmungen von Zahlen und im Abzählen von Takten oder Schwingungen der tönenden Körper besteht, die sich in gewissen Intervallen folgen.«12 Obwohl also (quoyque), und das ist hier von Leibniz sehr deutlich artikuliert, die Musik letztlich nur auf metrischen und numerischen Verhältnissen aufruht, gefällt sie uns gerade aus der Dimension übermetrischer, übernumerischer Konvenienzen über jedes Vergnügen der Sinne (plaisir de sens) hinaus letztlich als plaisir de l’esprit. Gerade die Musik ist ein prägnanter Beweis für jene nicht-metri­ sche Exaktheit, die aus unseren sub-diskursiven Erfahrungen erwächst. Daß jeder Musiker im Takt spielen muß, ist klar (in praxi bloß mir nicht), aber das allein macht seine Interpretation noch nicht überzeugend oder gar betörend. Nur da, wo das der Fall sein kann, sind wir an den Bereich nicht erzwingbarer Konvenienzen und Symmetrien angeschlossen und haben teil an einem Ganzen, das uns keineswegs unzugänglich, aber codatiert bleibt: »Jede Seele erkennt das Unendliche, erkennt alles, aber auf verworrene Weise (confusement); gerade so wie ich, wenn ich am Ufer des Meeres spazieren gehe und den großen Lärm höre, den es macht, die besonderen Geräusche jeder einzelnen Welle höre, aus denen das Gesamtgeräusch zusammengesetzt ist, aber ohne sie im einzelnen zu unterscheiden. Unsere verworrenen Perzeptionen sind das Ergebnis der Eindrücke, die das ganze Weltall auf uns macht.«13 Unsere Resonanz auf das Universum, aus der wir uns profund verstehen, gründet gerade in diesen Prinzipien der Natur und Gnade, op. cit., p. 434 sq. Prinzipien der Natur und Gnade, op. cit., p. 437. 13 Leibniz, Prinzipien der Natur und Gnade, op. cit., p. 433. Diese Passage von Leibniz habe ich und haben andere schon vielfach zitiert. Aber sie ist so schön, daß sie es auch verdient. 11 Leibniz, 12 Leibniz,

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sub-diskursiven, nicht-metrischen Konvenienzen, die Leibniz und Blaise Pascal als erste prägnant erfaßt haben. Einer konfusen Impression im Sinne von Leibniz entspricht bei Pascal bekanntlich ein esprit de finesse, der jene Nuancen registriert, die dem Mathematiker entgehen müssen, und die uns instand setzen, das Ganze auf einen Schlag zu übersehen.14 Leibniz nennt diese Totalimpression coup d’œil. Der Rang unserer expressiven Bemühungen entscheidet sich hier, nicht in ihrem handwerklichen Management, auch in der Musik nicht. Carl Dahlhaus hat das so formuliert: »Bei einem Werk, das nichts ist, interessiert nicht, wie es gemacht ist.«15 Das gilt auch für die Philosophie. Wenn sie anthropologisch nichts zu bieten hat, interessiert auch nicht, wie sie argumentiert. Unsere Codatierung und damit inins unsere szenische Existenz schöpft aus diesem Bereich des Konvenienten. Wir sind nicht Herr des Ganzen, die Bühne bleibt immer offen, und wir wissen vor einer Rückkehr der Götter auch nicht, wer sonst Herr ist, aber wir dürfen dieses Ganze in unserer Teilhabe an diesem Ganzen verkosten und tun das auch mit Vergnügen und einem Lächeln, das nicht skeptisch ist. Das κάθολον bleibt zwar einstweilen, wie adventistisch gestimmte Denker wie Heidegger glaubt anonym, aber ultimativer Zugang zu allem. Wir sehen ihn nicht, besessen wie wir sind, obwohl wir ihn ständig in Anspruch nehmen. Heidegger gibt uns noch den Wink, in dieser Sachlage mit einem »unzugänglichen Unumgänglichen« zu rechnen.16 Über diese geheimnisvolle, aber betörende Formel wird in der Tat auch in Zukunft noch nachzudenken sein. Genau besehen artikuliert sich in ihr eine nur schwer zu fassende Codatierung in unserem Bezug auf »das übersinnliche Substrat der Menschheit in uns«, wie Kant sie in Anschlag bringt,17 um die problematische Allgemeinheitsfähigkeit auch ästhetischer Urteile abzusichern. Aber auch dieser Bezug könnte heutzutage durch grelle Überblendungen bedroht sein. Cf. Blaise Pascal, Über die Religion (Pensées), trad. et ed. Ewald Wasmuth, Berlin 1937, fragm. 1, p. 16; cf. auch fragm. 274, p. 274: »Unsere ganze Fähigkeit zu urteilen, löst sich rückführend im Gefühl auf.« 15 Carl Dahlhaus, Neue Musik und Wissenschaft, in: Kurt Hübner / Jules Vuillemin (eds.), Wissenschaftliche und nichtwissenschaftliche Rationalität, Stuttgart  /  Bad Cannstatt 1983, pp. 107–118, hier p. 117. 16 Martin Heidegger, Wissenschaft und Besinnung, in: ders., Vorträge und Aufsätze, Teil I, Pfullingen 1967³, pp. 37–62, hier p. 60. 17 Cf. Kritik der Urteilskraft § 57. 14

Nachwort Zuwächse unserer erkennenden Bemühungen erzielen wir in oberflächlicher Betrachtung mit Registraturen von Ähnlichkeiten, aber auch von Differenzen. Diese wiederum können in Kontrasten bestehen, die sich in sinnfälligen Unterschieden zwischen Wahrnehmungserwartungen und Wahrnehmungsenttäuschungen niederschlagen, die durchaus überraschend sein können. Überrascht sind wir jedenfalls, wenn wir prätentiöse Attitüden wahrnehmen, die nicht eingelöst, sondern – eben überraschend – in kleiner Münze ausgezahlt werden. Das erzeugt auf unserer Seite in der Regel Gelächter. Das gilt natürlich auch für die Philosophie. Kommt sie großspurig daher und liefert dann dennoch nur begriffliches Kleinholz, können wir uns ein manchmal sogar mitleidiges Lächeln kaum verkneifen. Pascal hat das seinerzeit deutlich gesehen und auf Basis dieser Erfahrung seine viel zitierte Bemerkung platziert, daß genau erst der im eigentlichen Sinne philosophiert, der sich über die Philosophie lustig macht.1 Daß speziell die Philosophie mit diesem Spott leben muß, ist seit ihren Anfängen (Thales) ein gängiger Topos. Aber sie hat dennoch auch die Aufgabe – in einer subtilen Rache an diesem Spott – zu klären, worin denn das Lachhafte, das ihr anhaften kann, eigentlich besteht. Auch dazu gibt es inzwischen eine ausgiebige Literatur. Ihre subtilen Ausführungen laufen in der Regel und in der Sache auf eine Kennzeichnung zu, die wieder von Odo Marquard stammt, der zufolge wir – ob wir nun wollen oder nicht – genau dann lachen müssen, wenn wir im offiziell Geltenden das Nichtige und im offiziell Nichtigen das Geltende gewahren.2 Cf. Blaise Pascal, Über die Religion (Pensées), fragm. 4, op. cit. p. 18. Cf. Odo Marquard, Das Komische und die Philosophie (1966/67), in: Giessener Universitätsblätter 7 (1974) Heft 2; unter dem Titel Exile der Heiterkeit wiederabgedruckt in: Wolfgang Preisendanz / Rainer Warning (eds.), Das Komische, in: Poetik und Hermeneutik Bd. VII, München 1976, pp. 133–151. 1

2

Nachwort

145

Mit dieser glücklichen Formel knüpft Marquard an einen Aufsatz von Joachim Ritter an, den dieser 1940 unter dem Titel Über das La­ chen publiziert hatte.3 Man darf sich nichts vormachen: Über genau dieses Sujet 1940 zu publizieren, war riskant. Ritter schrieb: »Lachen hält fest, indem es entwertet.«4 Und er bemerkte zuvor, »daß in unserer Welt philosophisch […] dem Lachen eine Bedeutung zugefallen ist, durch die es gleichsam in den philosophischen Mittelpunkt der Welt selbst gerückt und zugleich über den ausgrenzenden Ernst erhoben worden ist«.5 Ritter nennt das auch eine »seltsame Tatsache« und signalisiert damit, daß es gerade seine Zeit ist, die dem Lachen diese Bedeutung zuwachsen ließ. Deutlicher konnte er damals nicht werden. Im selben Jahr, als Ritters Text erschien, also 1940, kam auch der einzigartig hellsichtige Film The Great Dictator von Charlie Chaplin in den USA heraus. Beide, sowohl Ritter wie Chaplin, sind später für ihre Strategien des Lächerlichmachens von manchen gerügt worden. Indes: Beide hatten eine herzblutende Moral auf ihrer Seite, die im Humor ein Widerstandspotential entfaltet, das mehr zu überzeugen vermag, als es ein blanker, didaktischer Ernst in einem Kreuzzug gegen diktatorische Prätentionen je könnte. In diesem Kontext erhält auch Hannah Arendts spätere façon de parler von der Banalität des Bösen6 ein völlig anderes moralisches Aroma, als es ihre Kritiker wahrhaben wollten. Dieses Aroma verdankt sich dem Gespür für ein Syndrom zwischen zynischem Terror und elender Mittelmäßigkeit, das zu allen Zeiten leider ebenso real ist, wie man es nur ungern akzeptiert. So endet auch eine szenische Metaphysik, wie Jens Halfwassen hier wieder sagen würde, in schwarzem Brokat. Das aber nur, um auch diese Facette unserer szenischen Existenz wenigstens angerissen zu haben, ohne sie zum Mittelpunkt zu machen. Dort bleibt allenfalls Pascals Lächeln stellvertretend zuhause. Insofern halten wir uns von einem ehedem angedrohten Verlust der Mitte,7 von einem Abhandenkommen unseres tonalen Zentrums noch entfernt. Aber 3 Joachim Ritter, Über das Lachen, in: Blätter für Deutsche Philosophie XIV (1940); wiederabgedruckt in: ders., Subjektivität, Frankfurt  /  M. 1974, pp. 62–92. 4 Joachim Ritter, Subjektivität, op. cit., p. 92. 5 Joachim Ritter, Subjektivität, op. cit., p. 84. 6 Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem: A Report on the Banality of Evil, New York 1963. 7 Cf. Hans Sedlmayer, Verlust der Mitte, Salzburg  /  Wien 1948. Diesen

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Nachwort

wer weiß, wie lange uns das noch gelingt. Für neue Übergänge hätten wir allerdings bereits neue Paradigmen einer Metaphysik, die wir als Klang und Gesang erfahren. Typischerweise werden solche bizarren Paradigmen bottom-up von einer Underground-Musik realisiert,8 die schräge riffs aus dem Nirgendwo ins Nirgendhin erklingen läßt, in hektischem Fluchttempo grooved, harmonisch zerrüttend neu und aufnehmend alt zugleich. In diesem Duplex will auch ein philosophischer Text beendet sein, obwohl er mit Frank Zappa weiß: Torture Never Stops. Indes: Die Versöhnung fand in geradezu transzendentalen Klängen immer schon vorher statt. Das ist beispielsweise die wortlose Botschaft des zweiten Satzes des Violinkonzerts e-Moll (op. 64) von Felix Mendelssohn-Bartholdy (1844) wie ebenso auch des wortbegleiteten Wiegenlieds (op. 49, Nr. 4) von Johannes Brahms (1868). Musik ist zur Hälfte Wiegenlied und Todesklang, zur anderen Hälfte Feier des Lebens. Die szenische Bedeutungshaltigkeit solcher Klänge geht in ihrer Unmittelbarkeit über die Möglichkeiten der Philosophie hinaus9 – in jeder Hinsicht.

Kunsthistoriker – wenngleich bekanntlich im sog. dritten Reich kontaminiert – sollte man nicht unterschätzen. 8 Cf. Ingo Mayer, Frank Zappa, Stuttgart 2018, p. 94: »Aus dem Amorphen, aus verschiedenen Linien und Tempi konturieren sich immer wieder Gestalten und verschwinden ins Unbestimmte.« Erstaunlich: »Dennoch bleibt Zappa im tonalen Paradigma.« (p. 95) Für eine ironische Berührung mit der Philosophie cf. Zappas Gitarrensolo Occam’s Razor (posth. 2008). Zu ­einem anderen musikalischen Metaphysiker (Bob Dylan) cf. Jürgen Goldstein, ­Unsere Tage sind gezählt: ›Not Dark Yet‹, in: Knut Wenzel (ed.), Code of the Road. Bob Dylan interpretiert, Stuttgart 2013, pp. 280–302. 9 So schon Heidegger, der 1944 im Hause von Georg Picht auf seinen Wunsch hin Schuberts Sonate B-Dur op. post. hörte und anschließend bemerkte: »Das können wir mit der Philosophie nicht.« Günther Neske, Emil Kettering (eds.), Antwort. Martin Heidegger im Gespräch, Tübingen 1988, p.  182.

Personenregister Kursive Seitenzahlen beziehen sich auf die Fußnoten der jeweiligen Seite Adler, Alfred  100 Adorno, Theodor W.  127 Altmann, Rüdiger  98 Anaxagoras 138, 139 Ant, Onur  87 Arendt, Hannah  145 Aristoteles  27 f., 27, 35, 42, 48, 119, 121 Arrow, Kenneth Joseph  127 ff. Aubenque, Pierre  35 Augstein, Rudolf  98 Augustinus  36, 100, 140, 141 Austin, John Langshaw  16 Baberowski, Jörg  7, 77 ff., 85, 90, 124, 125 Bachelard, Gaston  38 Bahners, Patrick  26 Bannon, Steve  87 Barion, Hans  94 Bauman, Zygmunt  124 f. Beck, Ulrich  126 Becker, Werner  75 Beierwaltes, Werner  118, 120 Belting, Hans  24 Benn, Gottfried  44 Berthold, Lutz  95 Bizeul, Yves  44

Bledowski, Jaroslaw  7, 140 Boehm, Gottfried  24, 31, 33, 135 Böhme, Jacob  9, 57 f. Bohrer, Karl Heinz  91 f. Brague, Rémi  41, 47 ff., 56 Brahms, Johannes  146 Brandom, Robert  109 Brecht, Bertolt  88 Brechtken, Magnus  88 Bredekamp, Horst  7, 16 f., 18, 23 ff., 28, 67, 108 Buchholz, Michael B.  23 Bullock, Alan  90 Busche, Hubertus  134 Calé, Walter  110 Camus, Albert  35 Cantor, Georg  68 ff. Carnap, Rudolf  53 ff. Cassirer, Ernst  35 f. Chaplin, Charlie  145 Clark, Christopher  88 Clausewitz, Carl von  10 Cohen, Hermann  16 Comte, Auguste  97 f. Conrad-Martius, Hedwig  120 Cousin, Victor  43 Cusanus, Nicolaus  36, 122

148

Dahlhaus, Carl  143 Darwin, Charles  26 f. Davidson, Donald  39 f. Derrida, Jacques  35 Descartes, René  100, 107 Dilthey, Wilhelm  11, 18, 136 Doering-Manteuffel, Anselm 85 Doll, Nikola  25 Dornes, Martin  101 Dorotič, Pawla  94 Dubois, Anne  36 Dubois, Henri [= Weil, Éric] 35 ff., 41 ff., 50, 56 Dubrulle, Gerard  38 Dugin, Alexander G.  87 Dürckheim, Karlfried Graf von  56 f. Dylan, Bob  146 Eckhart (Meister)  109 Eckstein, Emma  102 Ehrard, Jean  135 Einstein, Marie Johanna  36 Engel, Franz  27 Erikson, Erik H.  100, 106 Eßbach, Wolfgang  80 Evola, Julius  87 Fales, Wolf Fabian  58 Feilchenfeld, Walter  56 ff. Ferenczi, Sándor  100 Feyerabend, Paul  61 Fichte, Johann Gottlieb  58, 100, 105, 107 Fischer, Joachim  80 Flaig, Egon  91 Fließ, Wilhelm  100 ff. Franco, Francisco  81 Frank, Hans  94

Personenregister

Frank, Manfred  57 Freud, Anna  100 Freud, Sigmund  96, 100 ff., 108 Fromm, Erich  112 Gabriel, Gottfried  139 Gaitsch, Peter  36, 44 Garrard, Graeme  45 Gattei, Stefano  64, 65 Geiss, Immanuel  90 f. George, Stefan  107 Gethmann, Carl Friedrich  74, 136 Ghiberti, Lorenzo  63 Giesler, Gerd  7, 74, 76, 93, 94, 96, 99 Glatz, Uwe B.  36 Globke, Hans J. M.  86 Glucksmann, André  35 Goldstein, Jürgen  146 Gombrich, Ernst H.  63 Gorton, William A.  62 Grass, Günter  91 Grewe, Wilhelm  94 Grigenzer, Gerd  62 Gross, Johannes  98 Großfeld, Bernhard  71 Gschwendtner, Andrea  11 Gumbrecht, Hans Ulrich  15 Habermas, Jürgen  73 f., 78, 89 ff., 113, 115 ff. Haffner, Sebastian  80, 83 ff. Halfwassen, Jens  107, 118 ff., 134, 145 Handke, Peter  30 ff., 72, 73, 97 Harari, Yuval Noah  117 Harsanyi, John  62 Hartmann, Heinz  100

Personenregister

Hartmann, Nicolai  137, 140 Hartung, Hannes  92 Hasenjaeger, Gisbert  120 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich  12 ff., 35, 38, 40, 42 f., 45, 48, 67, 73, 82 f., 84, 98, 100, 110 f., 117 Heidegger, Martin  11, 33, 43, 70, 73, 82, 87, 109, 112, 113, 131, 136, 140, 143, 146 Henrich, Dieter  116 f. Herder, Johann Gottfried  71 f. Herzberg, Stephan  27 Hicks, John Richard  127 Hilbert, David  69 Hillgruber, Andreas  90 Hindrichs, Gunnar  122 Hitler, Adolf  81, 84 ff., 88, 89 f., 95, 130 Höfel, Andreas  95 Hogrebe, Wolfram  13, 23, 27, 28, 39, 46, 50, 67, 71, 84, 115, 120, 121 Hölscher, Uvo  119 Horn, Klaus-Peter  57 Huntington, Samuel P.  125 Husserl, Edmund  10, 14 f., 18 f., 21, 34, 100, 105, 109, 136, 139 Ilgauds, Hans Joachim  68, 69 Jaccottet, Philippe  9 Jäger, Wolfgang  91 Jaspers, Karl  55 Jens, Walter  91 Jespersen, Otto  72 Jessen, Jens  92 Jünger, Ernst  96 Justinos  10 f.

149

Kablitz, Andreas  47 Kant, Immanuel  13 f., 28, 35, 38 ff., 43, 73, 84, 100, 102, 104, 107, 108, 115 f., 117, 121, 133, 140, 143 Karnitscher, Tünde Beatrix  9 Kellerhoff, Sven Felix  85 f. Kempski, Jürgen von  118 Kennedy, Ellen  98 Kettering, Emil  146 Keuth, Herbert  64 Kirscher, Gilbert  36, 38 Kojève, Alexander  98 Kondylis, Panajotis  133 ff. Koselleck, Reinhart  98 Krois, John Michael  24 Kurbacher, Frauke  44 Landauer, Gustav  109 Landmann, Michael  37 Lao Zhu  19 Lask, Emil  36 Lausberg, Heinrich  22 Lavater, Johann Caspar  57 Leibniz, Gottfried Wilhelm  58, 67, 134, 141 ff. Leisner, Walter  78 Lenin, Wladimir Iljitsch  81, 89 Lessing, Theodor  125 Lethen, Helmut  15, 80 Levinas, Emmanuel  35 Libet, Benjamin  137 Lichtenstein, Heinz  100 Liptow, Jasper  40 Loevinger, Jane  100 Lorenzen, Paul  136 Lorenzer, Alfred  22, 23 Lübbe, Hermann  92, 95

150

Ludwig, Otto  22 f. Luhmann, Niklas  73 Luks, Leonid  85 MacIntyre, Alasdair  127 Maistre, Joseph de  45 Malliaris, Maryanthe  70 Mao Zedong  81 Marienberg, Sabine  7, 25, 27 Marquard, Odo  9 f., 12, 81, 121, 136 f., 140, 144 f. Marx, Karl  75 f., 81 ff. Masson, Jeffrey M.  102 Mauthner, Fritz  110 Mehring, Reinhard  95 f. Meier, Christian  98 Meillassoux, Quentin  28 Meixner, Uwe  111, 137 Mendelssohn-Bartholdy, ­Felix 146 Merkel, Angela  48 ff. Meyer-Drawe, Käte  18 Meyer, Henry  87 Meyer, Ingo  13, 15 Misch, Georg  18 Mitchell, William John Thomas 24 Mocek, Reinhard  51 Moysset, Henri  36 Münkler, Herfried  96 Murdoch, Iris  112 f. Mussolini, Benito  81 Nash, John  62 Natorp, Paul  55 Neske, Günther  146 Nida-Rümelin, Julian  74, 92 Niebuhr, Carsten  26 Nietzsche, Friedrich  14, 29, 102

Personenregister

Nolte, Ernst  85, 89 ff. Novalis  57 f., 68 Nussbaum, Martha  127, 129, 135 Obama, Barack  126, 127 Oevermann, Ulrich  91 Panofsky, Erwin  23 Papen, Franz von  95 Parzinger, Hermann  26 Pascal, Blaise  143 ff. Pauen, Sabina  108 Paulus  10 f., 34, 115 Péguy, Charles  81 Pelka, Irene  24 Pestalozzi, Johann Heinrich  58 Petersen, Julius  57 Pfleiderer, Georg  34 Picht, Georg  146 Piper, Ernst Reinhard  89 Placido, Beniamino  50 Platon 33, 82, 92, 107, 113, 119, 121 Plessner, Helmuth  15, 50, 80, 112 Plotin  42, 109, 121 f. Poe, Edgar Allen  27 Pomponazzi, Pietro  35 Popper, Karl R.  36 f., 61 ff. Prinz, Wolfgang  105 Prum, Richard  27 Pseudo-Dionysios Areopagita 121 Purkert, Walter  68 ff. Putin, Wladimir  87 Pütz, Peter  97 Quante, Michael  84, 86 f.

Personenregister

Rauterberg, Hanno  17 Ravaisson-Mollien, Félix  43 Reich-Ranicki, Marcel  78 Rilke, Rainer Maria  33 Ritter, Joachim  36 f., 40, 43, 48, 82, 98, 141, 145 Roethe, Gustav  57 Samuel, Richard  58 Sandkühler, Hans Jörg  37 Sartre, Jean-Paul  20, 35, 64, 65 Savoy, Bénédicte  25, 26 Saxl, Fritz  25 Scaliger, Julius Caesar  22 Schäfer, Rainer  75 Scheler, Max  112 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph  43, 50, 100, 110 Schepers, Heinrich  141 Schleicher, Kurt von  95 Schmitt, Arbogast  120 Schmitt, Carl  45, 74 ff., 93 ff., 129 Schneider, Pablo  7, 21, 25 Schnell, Alexander  43 Schönberger, Angela  88 Schuchter, Patrick  38, 44 f. Schüttpelz, Erhard  26 Schulz, Bernhard  58, 92 Searle, John  16 Sedlmayer, Hans  145 Sell, Annette  13 Sellars, Wilfried  109 Selten, Reinhard  62 Sen, Amartya  125, 127 f. Sennet, Richard  126 Shakespeare, William  93 f. Shelah, Saharon  70 Simon, Josef  83, 121, 131

151

Singer, Wolf  137 Sloterdijk, Peter  127 Smith, Adam  79 Soeffner, Hans-Georg  15 Specht, Rainer  134 Speer, Albert  87 f. Spencer, Herbert  98 Spengler, Oswald  125 Spinoza, Baruch de  118 Spranger, Eduard  56 f. Stalin, Josef  81, 85, 88, 90 Stamatellos, Giannis  42 Stirner, Max  109 Strauß, Botho  30, 37, 97 Taubes, Jacob  37, 98 Teitelbaum, Benjamin  87 Thales 144 Theiler, Willy  107 Tieck, Ludwig  57 Tönnies, Ferdinand  15, 81 Trabant, Jürgen  24 f., 131 Trawny, Peter  7, 81, 87 Tress, Wolfgang  100 f., 106, 108, 110 Tugendhat, Ernst  112 ff. Turner, Henry Ashby  86, 89 Valéry, Paul  99 Vendler, Zeno  104 Vergil  138 Vietta, Egon  96 Villinger, Ingeborg  91 Vollhardt, Friedrich  117 Walzel, Oskar  22 Warburg, Aby  25, 26, 36 Warnke, Martin  23 Wehler, Hans-Ulrich  90 Weil, Éric  35 ff., 41 ff., 50, 56

Personenregister

152

Weiss, Paul  118 Wenzel, Knut  146 Wiehl, Reiner  118 Wieland, Wolfgang  115 ff., 121 Willems, Gottfried  46 Winkler, Heinrich  91 Wittgenstein, Ludwig  109 f. Wolter, Michael  34

Woodward, Bob  126 Wünschner, Philipp  44 Wyss, Beat  17 Yos, Roman  73 Zappa, Frank  146 Zweig, Stefan  97, 130 f.