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German Pages 366 [368] Year 1965
G.Martin · Allgemeine Metaphysik
Gottfried Martin
Allgemeine Metaphysik Ihre Probleme und ihre Methode
1965 Walter de Gruyter & Co · Berlin 30 Vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung · J. Guttentag, Verlagsbudihandlung Georg Reimer · Karl J. Trübner · Veit & Comp.
Ardiiv-Nr. 36 40 651 © 1965 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung · J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung · Georg Reimer · Karl J. Trübner · Veit ft Comp., Berlin 30, Genthiner Str. 13. Printed in Germany.
Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie, Xerokopie) zu vervielfältigen. Satz und Druck: Thormann & Goetsdi, Berlin 44.
INHALTSVERZEICHNIS Seite
EINLEITUNG
5 l Bedenken gegen die Möglichkeit der Metaphysik $2 Die großen Philosophen und die Möglichkeit der Metaphysik 5 3 Das Sein als Thema der Metaphysik § 4 Sein hat mehrere Bedeutungen $ 5 Die Weisen des Seins
3 6 9 13 15
TEIL I: DAS EINZELWESEN UND SEINE BESTIMMUNGEN
Kapitel I: Die griechische Gigantomachie um das Sein § 6 Die Ideenlehre Platons im Phaidon § 7 Platons Ontologie im Sophistes § 8 Der Begriff der Ousia bei Platon 5 9 Der Seinsbegriff bei Aristoteles $ 10 Der Begriff der Ousia bei Aristoteles
21 26 32 34 39
Kapitel II: Die großen Seinsentwürfe 5 11 Platon 512 Aristoteles $ 13 Descartes $ 14 Leibniz S15 Kant $ 16 Hartmann § 17 Heidegger $ 18 Whitehead
41 42 44 46 49 51 53 56
Kapitel III: Das Einzelwesen und seine Bestimmungen 5 19 Die Substanz 5 20 Die Qualität $ 21 Die Relation 22 Die Transzendentalien
59 67 74 82
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Inhaltsverzeichnis Seite
TEIL II: DAS ALLGEMEINE
A b s c h n i t t I: Logische Probleme des Allgemeinen Kapitel IV: Die Einheit der Allgemeinen § 23 Der Ort des Allgemeinen 93 $ 24 Das Allgemeine als Begriff, Urteil, Theorie 97 5 25 Einheit hat mehrere Bedeutungen 102 § 26 Die Einheit des Allgemeinen 104 5 27 Die Antinomie von Russell 111 $ 28 Der Unentscheidbarkeitssatz von Gödel 121 5 29 Geometrien und Physiken 123 § 30 Arithmetiken und Logiken 129 31 Die Gesamtheit der Theorien 136 Kapitel V: Die Präzisierbarkeit des Allgemeinen 5 32 Definitionen und Definierbarkeit 5 33 Die Axiomatisierbarkeit von Theorien § 34 Klassisdve Theorien als ideale Theorien 5 35 Prinzipien und Axiome als Fundamente A b s c h n i t t II: Die ontologischen Probleme des Allgemeinen Kapitel VI: Das Allgemeine als Idee: Platon §36 Die Aufgabe der ontologischen Bestimmung des Allgemeinen § 37 Die Arithmetik $ 38 Die Geometrie $ 39 Die Physik $ 40 Die Logik
140 148 153 156
159 160 164 166 170
Kapitel VII: Das Allgemeine als Naturgesetz: Aristoteles 5 41 Die Physik 173 § 42 Die Geometrie 176 43 Die Arithmetik 179 5 44 Die Logik 183 Kapitel VIII: Das Allgemeine als Handlung des Denkens: Kant $ 45 Die Arithmetik 185 5 46 Die Geometrie 191 $ 47 Die Physik 195 } 48 Die Logik 198
Inhaltsverzeiams
VII Seite
Kapitel IX: Die Aporien des platonischen Standpunktes 5 49 Neue Aufgabenstellung 5 50 Das Sein der Ideen im Phaiäon und in der Politeia 5 51 Die Idee als alleiniges Sein § 52 Die Ideen und die Sinnendinge $ 53 Platon und die beiden anderen Standpunkte . . . .
202 205 210 213 223
Kapitel X: Die Aporien des aristotelischen Standpunktes $ 54 Aristoteles und Platon 227 § 55 Systematische Probleme der aristotelischen Kritik 232 § 56 Die Aporien des aristotelischen Standpunktes .... 243 5 57 Aristoteles und die beiden anderen Standpunkte 250 Kapitel XI: Die Aporien des kantisdien Standpunktes $ 58 Das Subjekt des Denkens 5 59 Erscheinung und Ding an sich: Das Erkenntnisproblem §60 Erscheinung und Ding an sich: Das Seinsproblem 5 61 Die systematischen Probleme des Dinges an sieb .. $ 62 Kant und die beiden anderen Standpunkte Kapitel XII: Methodenlehre £ 63 Die Vielheit der Philosophien § 64 Die Dialektik von Zenon $ 65 Die Dialektik von Platon } 66 Die Dialektik von Kant } 67 Die Dialektik von Hegel §68 Hegels Auseinandersetzung mit der platonischen Dialektik § 69 Die Möglichkeiten der Dialektik $ 70 Die Formen der Dialektik $71 Die Methode der Metaphysik als aporetische Dialektik
253 258 263 267 275
283 285 288 301 309 312 315 322 326
LITERATURVERZEICHNIS
333
QUELLENVERZEICHNIS
335
EINLEITUNG
§ 1: Bedenken gegen die Möglichkeit der Metaphysik Ist Metaphysik möglich? Diese Frage ist schon immer gestellt worden, und sie wird noch immer gestellt werden. Mit besonderem Nachdruck sind Bedenken gegen die Möglichkeit der Metaphysik in unserer Zeit geltend gemacht worden. Man kann diese Bedenken in drei Gruppen zusammenfassen, in diejenigen, die vom Empirismus, in diejenigen, die von der Sprachphilosophie, und in diejenigen, die von der Seinsgeschichte her geltend gemacht werden. Will man die Bedenken des Empirismus, und dann ist es immer der radikale Empirismus, gegen die Metaphysik prüfen, dann wird man in erster Linie an Comte1 und Mill* denken. Es gibt, so lautet hier die Grundthese, nur empirische Sätze, und damit ist nach dieser Auf fassung die Metaphysik von vornherein als unmöglich erwiesen. Selbst wenn man die Grundthese zugeben würde, so ist die daraus gezogene Widerlegung der Metaphysik so schlüssig nicht, wie es zunächst den Anschein hat. Man sieht bald, daß für diesen Standpunkt der Begriff des empirischen Satzes sehr viel weiter genommen werden muß, als man dies üblicherweise tut. Der radikale Empirismus muß offenbar den Begriff des empirischen Satzes so weit nehmen, daß auch die logischen und die mathematischen Sätze darin enthalten sind. In der Tat enthalten auch die logischen und die mathematischen Sätze ein empirisches Element, wenn man nur den Begriff des Empirischen vorsichtig genug faßt. Dann ergibt sich ein Problem, das sich allerdings der radikale Empirismus niemals gestellt hat. Man muß nämlich untersuchen, ob bei dieser notwendigen Erweiterung der Bedeutung von ,empirischc das Argument gegen die Möglichkeit der Metaphysik noch gültig geblieben ist. Dies erscheint wenig wahrscheinlich; wahrscheinlich erscheint vielmehr, daß die erweiterte Bedeutung des empirischen Satzes Raum genug läßt auch für die metaphysischen Sätze, es mag sonst mit diesen Sätzen stehen, wie es wolle. Der Einwand des radikalen Empirismus dürfte sich schwerlich als haltbar erweisen.
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Einleitung
Die zweite Gruppe der Einwände gegen die Möglichkeit der Metaphysik kommt von der Sprachphilosophie her. Für diese Auffassung betrachten wir Ludwig Wittgenstein als charakteristisch. Im Tractatus gliedert Wittgenstein die sinnvollen Sätze in zwei Gruppen, in die Elementarsätze und in die logischen Sätze. Die Elementarsätze sind Aussagen über die Welt,3 die logischen Sätze sind Tautologien.4 Nimmt man diese Einteilung als richtig und als erschöpfend an, dann müssen die mathematischen Sätze zu den logischen gehören, und sie müssen also Tautologien sein. Es ist Wittgenstein nicht gelungen, für diese Interpretation der mathematischen Sätze eine allgemeine Anerkennung zu finden. Wie steht es mit den metaphysischen Sätzen? Für sie ist im Tractatus überhaupt kein Platz. Man kann sie negativ charakterisieren: sie sind keine sinnvollen Sätze, denn sie sind weder Elementarsätze noch Tautologien. Man kann sie auch positiv charakterisieren, und dann sind sie falsche Anwendungen der Sprache. Metaphysische Sätze beruhen nach der Lehre des Tractatus darauf, daß in ihnen Zeichen (also im allgemeinen Worte) auftreten, denen eine Bedeutung nicht gegeben worden ist, und denen nach der Überzeugung von Wittgenstein eine Bedeutung auch nicht gegeben werden kann.5 Von hier aus kann Wittgenstein sagen: „Alle Philosophie ist Sprachkritik"' und nicht Metaphysik, wie man diesen Satz wohl weiterführen muß. Man könnte nun in eine Auseinandersetzung mit dem Tractatus selbst eintreten. Man könnte zeigen, daß der dort eingeführte Begriff des Elementarsatzes fragwürdig ist, vielleicht viel fragwürdiger als viele Behauptungen der Metaphysik. Aber Wittgenstein selbst hat sich im Gang seines Denkens so weit vom Tractatus entfernt, daß man dies Werk sehr viel eher gegen seinen eignen Autor wird in Schutz nehmen müssen. Aus den späteren Gedankengängen ergibt sich für eine positive Interpretation des Tractatus, daß Wittgensteins Erwägungen auf einem sehr weiten Begriff der Sprache beruhen. Das durch die Sprache gebundene Werken eines Handwerkers gehört zur Sprache, auch wenn er nicht ausdrücklich spricht.7 Dies ist nun eine sehr viel weitere Bedeutung der Sprache als die übliche, insbesondere als die rein philologische. Diese weite Bedeutung von Sprache steht offenbar der Bedeutung von Logos nahe, wenn der Mensch bei den Griechen als ein Wesen bestimmt wird, das sprechen kann. Bei einer solch weiten Bedeutung von Sprache gehen aber Sprachphilosophie und Sprach-
§ l: Bedenken gegen die Möglidikeit der Metaphysik
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kritik praktisch über in eine Analyse des Menschen, der sprechen kann. In einer so aufgefaßten Sprachphilosophie ist aber Raum genug für die Metaphysik, jedenfalls für die Metaphysik, wie Platon und Aristoteles sie gewollt haben. Die Ablehnung der Metaphysik von der Seinsgeschidite her, wie sie jetzt von Heidegger mit Entschiedenheit vorgetragen worden ist, ist von Nietzsche begründet worden. Sie läßt sich in die These zusammenfassen: Metaphysik ist nicht mehr möglich.8 Wenden wir uns zunächst Nietzsche zu, so dürfen wir seinen Gedankengang dahin verstehen, daß die Metaphysik für Platon und Aristoteles möglich war, daß sie vielleicht auch für das Mittelalter möglich war, daß sie aber heute nicht mehr möglich ist. Die These, so überzeugend sie klingen mag, und so viel Beifall sie auch gefunden hat, enthält zwei fundamentale und meiner Meinung nach nicht abstellbare Mängel. Es wird weder geklärt, was dabei unter Metaphysik verstanden werden soll, noch wird geklärt, was es bedeuten soll, daß die Metaphysik früher möglich war, daß sie heute aber nicht mehr möglich ist. Was wir hier unter Metaphysik verstehen sollen, wird wenigstens bei Nietzsche noch einigermaßen deutlich. Nietzsche versteht unter Metaphysik eine naive Zweiweltentheorie, eine Theorie, die hinter dieser Welt eine zweite Welt aufrichtet, und die dann diese zweite Welt für die eigentliche Welt erklärt. Nun kann man mit gutem Recht daran zweifeln, daß eine naive Zweiweltentheorie die endgültige Meinung Platons gewesen ist, und wir werden die hier auftauchenden Probleme noch eingehend zu diskutieren haben. Daß eine solche naive Zweiweltentheorie die Meinung des Aristoteles gewesen ist, wird gewiß niemand behaupten wollen, auch Nietzsche selbst nicht, wenn er sich diese Frage ausdrücklich gestellt hätte. Wie kann man aber die Metaphysik bekämpfen, wenn man darunter eine Lehre versteht, in der die Metaphysik des Aristoteles nicht enthalten sein kann? Man wird also dieBedeutung von Metaphysik, die Nietzsche seinem Kampf zugrunde gelegt hat, nicht als befriedigend betrachten können. Völlig unbefriedigend ist bei Nietzsche das zweite Moment. Was soll das eigentlich heißen, daß eine Metaphysik für Platon möglich war, daß sie heute aber nicht mehr möglich ist? Die Behauptung ist so weittragend, daß man von den hier verwandten Begriffen der Möglichkeit und Unmöglichkeit eine genaue Rechenschaft verlangen muß. Die These: die Metaphysik ist heute nicht
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Einleitung
mehr möglich, setzt voraus, daß sie früher möglich war, und das will Nietzsche in der Tat sagen. Er sagt ausdrücklich, daß man die „historische Berechtigung"9 der Metaphysik begreifen muß. Dies ist aber leichter gefordert als getan. Wieso war für Platon die Metaphysik möglich? Versucht man sich einen solchen historischen Nachweis konkret vorzustellen, dann sieht man sofort die Schwierigkeit. Man kann es zunächst dahingestellt sein lassen, ob man unter der Metaphysik bei Platon die Ideenlehre selbst, oder ob man darunter die Auffassung der Ideenlehre als einer Zweiweltentheorie verstehen will. Auf jeden Fall muß man dabei an den Phaidon denken. Nun weiß man nicht genau, wann der Phaidon geschrieben worden ist, das Jahr 380 mag wohl als Anhaltspunkt gelten. Was soll das nun heißen, daß im Jahre 380 eine Ideenlehre oder eine Zweiweltentheorie möglich war, und wie soll das gezeigt werden können? Niemand hat bis jetzt auch nur den Versuch unternommen, so etwas zu zeigen, auch Nietzsche selber nicht, und niemand wird je dazu in der Lage sein. Es handelt sich vielmehr um eine allgemeine These, die konkret gar nicht durchgeführt werden kann. Heidegger hat die Ablehnung der Metaphysik aufgenommen und weiterentwickelt. Er spricht ausdrücklich von dem „mit dem Beginn, mit der Entfaltung und mit dem Ende der Metaphysik zusammengeschlossenen Vorgang".10 Hier ist die Simplifikation der Metaphysik zu einer naiven Zweiweltentheorie vermieden. Die Aristotelische Metaphysik ist sorgfältig beachtet. Aber die Frage, warum die Metaphysik für Platon und für Aristoteles möglich gewesen sein soll, und warum sie für uns nicht mehr möglich sein soll, wird auch von Heidegger nicht beantwortet. Insbesondere bleibt dunkel, welchen Sinn der hier auftretende Begriff der Möglichkeit haben soll. Man muß im Sinne von Platon und Aristoteles gegen die seinsgeschichtliche These die Gegenthese stellen: Die Metaphysik war immer gleich möglich und gleich unmöglich. $ 2: Die großen Philosophen und die Möglichkeit der Metaphysik Es sind die großen Philosophen selbst gewesen, die immer wieder die Möglichkeit der Metaphysik in Frage gestellt haben. Platon stellt als erster die ausdrückliche Frage nach dem Sein, und er betont sofort ihre
§ 2: Die großen Philosophen und die Möglichkeit der Metaphysik
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Schwierigkeiten. Im Sophistes sagt er: „Da wir nun in Aporien geraten sind, so macht ihr uns doch dies hinlänglich deutlich, was ihr eigentlich sagen wollt, wenn ihr das Wort ,Sein' aussprecht. Es ist ja offenbar, daß ihr dies schon lange klar erkannt habt, wir aber wußten es zwar früher, jetzt aber stecken wir in Aporien."1 Platon spricht hier ebenso von seiner augenblicklichen Situation wie von der immerwährenden Situation der Metaphysik überhaupt. Die Metaphysik ist, wir werden dies noch ausführlich zu begründen haben, die Lehre vom Sein. Eine solche Lehre vom Sein beginnt unproblematisch. Zunächst scheint es keine Schwierigkeit zu machen, vom Sein zu sprechen, so wie man von den Tieren, von den Sternen, von den Zahlen spricht. Eine Anstrengung des Denkens ist notwendig, um diese Selbstverständlichkeit des ersten Ansatzes zu überwinden und den aporetischen Charakter der Lehre vom Sein zu entdecken. Wir werden zeigen müssen, daß Platon mit dieser Formulierung im Sophistes sich selbst meint, und daß er insbesondere mit dem Ausdruck „früher wußten wir es" sich selbst im Phaiäon meint. Daß die Ideenlehre im Phaidon eine Aussage über das Sein der Ideen enthält, hat Platon offenbar keine Schwierigkeiten gemacht, als er den Phaidon schrieb. In diesem Dialog stehen die Seinsaussagen immer wieder in lapidarer Kürze: die Idee ist die Ousia, die Idee ist das eigentliche Sein. Wie problematisch diese Aussagen sind, hat Platon damals noch nicht gesehen. Erst sehr viel später hat er erkannt, daß die Frage notwendig ist: Was behaupte ich eigentlich, wenn ich behaupte: Die Idee ist das eigentliche Sein? Diese Problematik wird im Sophistes und im Parmenides zum Thema, und in der Tat kann Platon dann sagen: Früher wußte ich es, jetzt weiß ich es nicht mehr. Dies ist nun nicht nur die Situation Platons, sondern es ist die Situation der Metaphysik überhaupt, und so wird es verständlich, wenn Aristoteles dasselbe sagt: „Es war stets eine Aporie, es ist jetzt eine Aporie, und es wird immer eine Aporie sein, und es ist doch die Grundfrage der Metaphysik, die Frage: Was ist das Sein? und dies ist die Frage: Was ist die Ousia?"* Die platonisch-aristotelische Frage: Was ist das Sein? ist herausgewachsen aus der sokratischen Frage: Was ist... ? So wird es verständlich, daß die Aporetik der sokratischen Frage sich auch in der allgemeinen Seinsfrage erhält. Aristoteles ist der Aporetik wenig geneigt, aber an der Aporetik der Seinsfrage hält er fest. Man wird daher
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Einleitung
das dritte Budi der Metaphysik nicht nur als eine pädagogisch wohldurchdachte Einführung betrachten dürfen. Es handelt sich vielmehr um eine echte, systematische Aporetik. „Die Metaphysik ist befremdend bitter", sagt Kant einmal in einer Reflexion.8 Die übliche Auffassung, Kant habe die Metaphysik völlig abgelehnt, kann also unmöglich richtig sein. Diese Auffassung geht schon auf Mendelssohn zurück, der meinte, daß die Schriften des „alles zermalmenden Kants"4 die Metaphysik zertrümmert haben. In diesem Sinne ist Kant dann auch insbesondere vom Neukantianismus verstanden worden. Allein es muß bereits bedenklich stimmen, daß Hegel ihn keineswegs in dieser Weise sieht. Wie hätte Kant Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaften oder eine Metaphysik der Sitten schreiben können, wenn er jede Metaphysik grundsätzlich hätte ablehnen wollen? So werden denn auch die Prolegomena üblicherweise nur in dieser Abkürzung genannt, ihr genauer Titel aber lautet: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können. Es ist gewiß richtig, daß Kant in der Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft die Metaphysik mit Hecuba vergleicht, die das tragische Ende ihres Glücks beweint.6 Es gibt gewiß eine Reihe von Stellen, die auf den ersten Blick so aussehen, als wolle Kant der Metaphysik als solcher ein Ende bereiten. Liest man aber genauer, so wird man bald sehen, daß Kant sich nur gegen bestimmte Standpunkte und Methoden der Metaphysik wendet. Er wendet sich beispielsweise dagegen, daß Gottesbeweise geführt werden, die sich an mathematischen Methoden orientieren, und daß er darin recht hat, wird kaum jemand bestreiten. Mit seinen Fragen nach dem Sein des Raumes, der Zeit, der Natur steht Kant voll in der metaphysischen Tradition. Die Grundfrage der transzendentalen Ästhetik heißt eben nicht: Wie kann ich Raum und Zeit erkennen? Sie heißt vielmehr ausdrücklich: „Was sind nun Raum und Zeit?"8 Allerdings wendet sich Kant dagegen, daß man Raum und Zeit zu Dingen macht, denn damit macht man sie seiner Überzeugung nach zu Undingen. Kant setzt gegen den transzendentalen Realismus einen transzendentalen Idealismus. Dies mag nun richtig oder falsch sein, aber es zeigt doch, daß Kant nicht die Metaphysik als solche aufheben will, sondern daß er nur einen bestimmten metaphysischen Standpunkt ablehnt. In einem solchen Sinne schließt er die transzendentale Analytik mit dem wich-
§ 3: Das Sein als das Thema der Metaphysik
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tigen dritten Hauptstück: „Von dem Grunde der Unterscheidung aller Gegenstände überhaupt in Phaenomena und Noumena."7 In diesem Hauptstück geht es ihm zwar nur um das Noumenon im negativen Verstande, aber er sieht in der Kritik der reinen Vernunft und besonders in der transzendentalen Dialektik die positive Bedeutung schon immer vor sich. Das Noumenon im positiven Verstande gewinnt dann eine immer stärkere Bedeutung, und in der Kritik der praktischen Vernunft schiebt Kant eine besondere Untersuchung über die dabei auftretenden Probleme ein.8 In der Frage nach der Realität des „Ich denke" kulminiert die Metaphysik Kants. Hier ist sich Kant der Notwendigkeit, aber auch der Problematik der Metaphysik völlig bewußt, und seine soeben von uns zitierte Klage: „Die Metaphysik ist befremdend bitter", muß von hier aus verstanden werden. Wenn Platon, Aristoteles und Kant in dieser Weise die Schwierigkeiten der Metaphysik hervorgehoben haben, so wird es verständlich, daß nicht wenige die Metaphysik im Ganzen abgelehnt haben. Aber die Metaphysik ist nicht deshalb unmöglich, weil sie eine schwierige Aufgabe, vielleicht die schwierigste Aufgabe der menschlichen Vernunft ist. 5 3: Das Sein als das Thema der Metaphysik Wir bestimmen die Metaphysik als die Lehre vom Sein und halten damit an der alten Bestimmung fest. Platon hat sie als erster gegeben, und Aristoteles hat sie in aller Form fixiert, als er die Metaphysik zu einer eignen Disziplin erhob. Im Sophistes fordert Platon den Aufstieg zur ersten und höchsten Frage. Auf diese Aufforderung antwortet Theaitetos: „Du willst offenbar, wir sollten das Seiende erforschen, nämlich was doch die, welche davon reden, eigentlich damit zu bezeichnen meinen."1 Platon denkt an die frühen Denker und ihre Lehre von den Elementen. Behauptet man etwa, das Warme sei das Element aller Dinge oder das Kalte oder beides zusammen,2 dann macht man eine Seinsaussage. Behauptet man, das Warme sei das Element aller Dinge, dann behauptet man, das Warme sei das eigentlich Seiende. Sagt man in diesem Sinne: das Warme ist das eigentlich Seiende, dann muß man sagen können, was der Ausdruck „das eigentlich Seiende" bedeuten soll. Platon kann also jetzt die Frage stellen: „Was sollen wir unter diesem eurem Sein ver-
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Einleitung
stehen?"* Er ist selbst in seiner eigenen Ideenlehre auf diese Frage gestoßen, wie wir noch sehen werden, und er kann also die Frage auch an die anderen stellen. So stellt Platon ausdrücklich die Frage: Was ist das Sein? Er bezeichnet sie sofort als die höchste Frage.4 Aristoteles hat dann diese Frage: Was ist das Sein? seiner Definition der Metaphysik zugrunde gelegt. Wir rinden freilich bei ihm verschiedene Aufgabenstellungen. Die Metaphysik ist für ihn sowohl Prinzipienlehre als auch Ontologie, und als Ontologie ist sie für ihn sowohl die Lehre vom höchsten Seienden als auch die Lehre vom Seienden als solchem. Für uns ist die Bestimmung der Metaphysik als die Lehre vom Seienden als solchem die eigentlich fruchtbare, und wir drängen daher die Lehre vom höchsten Seienden ebenso wie die Lehre von den Prinzipien bewußt zurück. Wir werden das Recht eines solchen Vorgehens zu erweisen haben. In dieser Einleitung begnügen wir uns mit der Feststellung, daß auch Aristoteles die Frage: Was ist das Sein? als die höchste und wichtigste Frage betrachtet5, und daß er an fundamentalen Stellen der Durchführung die Metaphysik in diesem Sinne behandelt.6 Diese Frage: Was ist das Sein? finden wir sowohl bei Platon als auch bei Aristoteles in verschiedener sprachlicher Form. An einigen Stellen finden wir den substantivierten Infinitiv, an anderen Stellen das Partizip.7 Diese sprachliche Differenzierung ist nicht in allen Sprachen ohne weiteres möglich. Das Deutsche kann an sich zwischen den beiden Formen ,das Sein' und ,das Seiende* unterscheiden, wenn auch das Partizip ,das Seiende' kein gutes Deutsch ist. Im Französischen ist faktisch nur der substantivierte Infinitiv möglich, im Englischen dagegen nur das Partizip. Heidegger hat auf den Unterschied von ,das Sein' und ,das Seiende' die Lehre von der ontologischen Differenz aufgebaut.8 Sachlich liegt hier ein fundamentales ontologisches Problem vor, man kann aber zweifeln, ob es ratsam ist, das systematische Problem unmittelbar mit dem sprachlichen Unterschied zwischen Partizip und substantiviertem Infinitiv zu verknüpfen. Die Griechen scheinen dies nicht getan zu haben, und an der eben zitierten Stelle des Sophistes braucht Platon die beiden Formen unterschiedslos nebeneinander. Ich selbst werde in diesen Untersuchungen ,das Sein' und ,das Seiende* nicht im Sinne der ontologischen Differenz unterscheiden, sondern werde sie im Sinne Platons als gleichbedeutend brauchen. Das systematische Problem wird durch den Sprachgebrauch nicht entschieden.
§ 3: Das Sein als das Thema der Metaphysik
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Es liegt nahe, hier vorläufig über das Verhältnis der Metaphysik zur Sprache zu reflektieren. Wir haben schon die These von Wittgenstein angezogen: „Alle Philosophie ist Sprachkritik."9 Wir haben die Schwierigkeiten im extremen Charakter dieser These gefunden, und in der Tat sind in der Philosophie die extremen Thesen von vornherein bedenklich. Es ist zwar richtig, daß Descartes, Leibniz und Kant ein geringes Verständnis für die Bedeutung der Sprache gehabt haben. Descartes und Leibniz haben sie fast ausschließlich als Instrument betrachtet, und Kant hat ihr fast noch weniger Interesse entgegengebracht. Von hier aus war es notwendig, von neuem auf den Zusammenhang zwischen Denken und Sprache nachdrücklich bedacht zu sein. Aber die Griechen haben dies immer getan. Sokrates, der das Allgemeine entdeckt, findet es wesentlich im Allgemeinheitscharakter der Sprache. Platon geht immer wieder auf die Sprache zurück, und die eben von uns herangezogenen Stellen aus dem Sophistes geben dafür ein instruktives Beispiel.10 Aristoteles macht die Sprache zum philosophischen Thema. Er beginnt in aller Regel eine philosophische Untersuchung mit einer Untersuchung des Sprachgebrauchs. Das fünfte Buch der Metaphysik beschäftigt sich thematisch mit solchen Fragen. Diejenigen, die die Bedeutung der Sprache für die Philosophie wieder besonders hervorgehoben haben, haben sich um diese Einstellung der Griechen wenig gekümmert, und diese Unbekümmertheit ist nicht leicht zu verstehen. Wir selbst werden uns die Haltung der Griechen wieder zu eigen machen. Aber von da bis zur extremen These: Alle Philosophie ist Sprachkritik, ist noch ein weiter Weg. Die extreme These ist unbewiesen und, wie wir glauben, unbeweisbar. Zwei weitere Erwägungen mögen hier noch ihren Platz finden. Ich werde die beiden Termini ,Metaphysik* und ,Ontologiec als Synonyma im strengen Sinne brauchen. Der Terminus ,Metaphysik* bezeichnet heute ein Werk im Opus Aristotelicum und zugleich eine philosophische Disziplin. Der griechische Terminus kommt bei Aristoteles selbst nicht vor. Wann er gebildet worden ist und ob er die Sache bezeichnen soll oder lediglich die Stellung des so benannten Buches im Opus Aristotelicum, ist noch strittig." Die übliche Auffassung der Terminus ,Metaphysik* hält sich an die Bedeutung des zugrunde liegenden griechischen Ausdrucks. Sie betrachtet in diesem Sinne die Metaphysik als die Lehre von dem, was hinter der Natur liegt. Ich selbst brauche den Terminus
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Einleitung
,Metaphysik' nicht in dieser traditionellen Bedeutung, sondern ich bestimme seine Bedeutung in einer noch näher darzulegenden Weise ausschließlich durch die Frage: Was ist das Sein? Der Terminus ,Ontologiec ist, soviel ich weiß, im 17. Jahrhundert gebildet worden. Christian Wolff12 und in unserer Zeit Nicolai Hartmann18 haben ihn vorzugsweise gebraucht. Es mag vielleicht sein, daß im deutschen Sprachgebrauch ein gewisser Unterschied zwischen Metaphysik und Ontologie empfunden wird. Im Wort ,Ontologie' klingt das, was hinter der Natur liegt, nicht in demselben Maße an wie im Wort ,Metaphysik*. Hartmann wird diesen Unterschied gemeint haben, wenn er den Terminus ,Ontologiec bevorzugt. Ich selbst werde diesen Unterschied nicht beachten und werde also die beiden Termini in durchaus gleicher Bedeutung brauchen. Mit der Bezeichnung ,Allgemeine Metaphysik* wende ich eine Unterscheidung an, die Christian Wolff zwischen ontologia generalis und ontologia specialis getroffen hat. Metaphysik findet man weiterhin in einer Bedeutung, in der von vorneherein ein bestimmter Standpunkt vorausgesetzt wird. Metaphysik wird dann als Begriffsrealismus oder als natürliche Theologie verstanden. Eine solche Bedeutung hat Nietzsche bei seinem Kampf gegen die Metaphysik vor Augen. In diesem Sinne ist die Metaphysik praktisch mit einem naiven Platonismus identisch. Ich selbst bestimme, ich darf dies wiederholen, die Metaphysik durch die Frage: Was ist das Sein? Wird die Metaphysik durch diese Frage bestimmt, dann folgt, daß jede Antwort auf diese Frage Metaphysik ist. Es geht nur darum, ob die gegebene Antwort gut oder schlecht ist. Ich werde zu zeigen versuchen, daß ein naiver Platonismus eine der schlechtesten Antworten ist, die man geben kann. Definiert man die Metaphysik von der Frage her, dann ist, um einen entgegengesetzten Standpunkt heranzuziehen, auch der extreme Nominalismus Metaphysik. Man wird darüber streiten können, ob ein extremer Nominalismus eine gute oder eine schlechte Metaphysik ist, vielleicht ist er nicht schlechter als ein extremer Realismus. — Unsere Untersuchung sieht ihr erstes Ziel nicht darin, für den einen oder für den anderen Standpunkt Partei zu nehmen. Unser erstes Ziel ist es vielmehr, metaphysische Standpunkte zu verstehen.
§4: Sein hat mehrere Bedeutungen
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$ 4: Sein hat mehrere Bedeutungen Wenn man die Möglichkeit der Metaphysik als einer Lehre vom Sein zunächst einmal einräumt, dann findet man, daß das Wort ,Sein' eine Eigenschaft hat, die es mit fast allen Wörtern der deutschen Sprache teilt. In der Regel hat ein Wort mehrere Bedeutungen. In den Sätzen: „Das Kind läuft", „der Wasserhahn läuft", „die Zeit läuft" wird das Wort ,laufenc in verschiedener Bedeutung gebraucht. Die Wörterbücher verzeichnen deshalb in der Regel zu jedem Wort mehrere Bedeutungen. Nach der traditionellen, von Aristoteles entwickelten Lehre unterscheidet man drei Möglichkeiten. Ein Wort kann eine einzige Bedeutung haben, dann bezeichnet man es als univok. Ein Wort kann mehrere Bedeutungen haben, die in einem noch näher zu bezeichnenden Zusammenhang stehen, dann bezeichnet man es als analog. Ein Wort kann schließlich mehrere Bedeutungen haben, zwischen denen ein Zusammenhang nicht besteht, dann bezeichnet man es als äquivok.1 Bei der Äquivokation dürfte es sich in der Regel darum handeln, daß ursprünglich ein Zusammenhang bestanden hat, daß dieser Zusammenhang aber nicht mehr bewußt ist. Vielleicht ist es auch möglich, daß ein Wort durch lautliche Anklänge fremde Bedeutungen übernimmt. Als ursprüngliches Phänomen ist eine echte Äquivokation schwer vorstellbar. Gibt es im strengen Sinne keine Äquivokation, so scheint es auch in der Umgangssprache im strengen Sinne keine Univokation zu geben. Der lebendige Fluß der Sprache verändert, erweitert, entfaltet alle Bedeutungen ständig. Deshalb finden wir strenge Univokationen nur bei künstlich vereinbarten Bedeutungen, etwa in der Mathematik, in den Naturwissenschaften, im Rechtswesen. So wird es verständlich, daß in der Umgangssprache ein Wort in der Regel mehrere Bedeutungen hat. Man wird also von vornherein vermuten können, daß dies auch beim Wort ,Sein' der Fall ist. Hat ein Wort mehrere Bedeutungen, dann ist in der Regel eine von ihnen die ausgezeichnete. Die Wörterbücher bezeichnen diese ausgezeichnete Bedeutung als die ursprüngliche und die anderen als die abgeleiteten. Dabei ist es nicht immer leicht zu entscheiden, welche Bedeutung die ursprüngliche ist. Als Beispiel mag das Wort ,inc gelten. Das Grimmsche Wörterbuch gibt auch für ,in* eine Reihe von Bedeutungen,
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Einleitung
als die ursprüngliche Bedeutung betrachtet es die rein räumliche, von da aus werden die anderen Bedeutungen als die abgeleiteten entwickelt.* Es ist aber fraglich, ob hier wirklich die rein räumliche Bedeutung die ursprüngliche ist. Heidegger jedenfalls betrachtet die existentielle Bedeutung als die ursprüngliche und die rein räumliche als die abgeleitete.* Die hier liegende Schwierigkeit ist oft bemerkt worden, und sie hat zu der ironischen Bemerkung geführt, man müsse die Wörterbücher von rückwärts lesen. Allein diese Schwierigkeit, in einem Einzelfall die ursprüngliche Bedeutung festzustellen, hebt meines Erachtens die Sachgegründetheit der Aristotelischen Unterscheidung zwischen der ursprünglichen Bedeutung und den abgeleiteten Bedeutungen nicht auf. Man wird vielmehr vermuten dürfen, daß man auch beim Sein zwischen einer ursprünglichen und einer oder mehreren abgeleiteten Bedeutungen zu unterscheiden hat. Das Aristotelische Beispiel ist das Wort jgesund'. ,Gesiund' hat eine ursprüngliche Bedeutung und bezeichnet dann einen Zustand des Menschen. Bezeichnet man aber ein Arzneimittel oder ein Bad als gesund, so wie es die Umgangssprache tut, dann gebraucht man das Wort in abgeleiteten Bedeutungen. Man meint, daß das Arzneimittel den Menschen gesund macht und daß das Bad den Menschen gesund erhält.4 Die Bedeutungen von ,Sein* analysiert Aristoteles im fünften Buch der Metaphysik.6 Hinweise auf die Bedeutungsvielheit von ,Sein* finden sich auch an anderen Stellen/ Überaus instruktiv sind die parallelen Analysen der Bedeutungsvielheit von »Einheit*.7 ,Sein* hat nach Aristoteles mehrere Bedeutungen. Von ihnen ist das Sein des Individuums die ursprüngliche Bedeutung, die anderen Bedeutungen, insbesondere das Sein des Allgemeinen, sind abgeleitet. Wir werden die hier auftretenden Probleme noch ausführlich zu erörtern haben. Thomas von Aquin hat diese Lehre des Aristoteles in aller Form übernommen. Er trägt sie verständlicherweise besonders ausführlich im Metaphysikkommentar vor, entwickelt sie aber auch in den theologischen Werken.8 Die aristotelisch-thomistische Lehre vom Analogiecharakter des Seinsbegriffes ist jedoch keineswegs, wie man häufig annimmt, Allgemeingut der Scholastik geworden. Im Gegensatz zu Thomas vertreten vielmehr Duns Scotus und Ockham einen univoken Seinsbegriflf.9 Dennoch bleibt die Lehre von den verschiedenen Bedeutungen des Seinsbegriffes der Sache nach fundamental, sowohl bei
§5: Die Weisen des Seins
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Descartes, wie bei Leibniz, wie bei Kant. Der Form nach, als ausgeführtes Lehrstück, tritt sie jedoch immer mehr zurück. Dennoch scheint es mir notwendig, auf den Standpunkt von Aristoteles zurückzukehren. Es erscheint von vornherein als wahrscheinlich, daß in den Ausdrücken „das Sein des Individuums", „das Sein der Völker", „das Sein der Zahlen", „das Sein der Naturgesetze", das Wort ,Sein' in verschiedenen Bedeutungen gebraucht wird. 5: Die Weisen des Seins Wenn diese Vielheit der Bedeutungen von Sein einen Sinn haben soll, dann muß der Vielheit der Bedeutungen von Sein eine Vielheit der Weisen des Seins entsprechen. Die Unterscheidung von Weisen des Seins ist in der Geschichte der Philosophie eines der fundamentalen Probleme. Platon beginnt mit seiner großen Unterscheidung zwischen den Ideen und den Sinnendingen. Bereits im Phaidon spricht er von den zwei Weisen des Seins.1 Aristoteles verallgemeinert die Platonische Unterscheidung zur Unterscheidung zwischen dem Individuellen und dem Allgemeinen und fügt weitere Unterscheidungen hinzu, insbesondere die Unterscheidung zwischen Substanz und Akzidens. Descartes gibt zwei fundamentale Seinsunterscheidungen. Er unterscheidet einmal zwischen der res cogitans und der res extensa, und er unterscheidet zum anderen zwischen dem esse reale der res cogitans und der res extensa auf der einen Seite und dem esse in mente tantum der veritates aeternae auf der anderen Seite. Leibniz unterscheidet zwischen dem realen Sein der Monaden und dem phänomenalen Sein der in ihnen fundierten Bestimmungen, insbesondere des Raumes, der Zeit und der Naturgesetze. Kant führt die Unterscheidungen von Platon und Leibniz weiter und unterscheidet zwischen dem Phaenomenon und dem Noumenon, zwischen der Erscheinung und dem Ding an sich. Diese Unterscheidung macht den Kern der Kantischen Philosophie, sie macht aber auch die eigentliche Schwierigkeit ihres Verständnisses aus. In der Gegenwart gewinnen Seinsunterscheidungen eine besondere Bedeutung bei Whitehead und bei Nicolai Hartmann. Whitehead unterscheidet zwischen der actual entity und dem eternal object. Die actual entity führt das Individuum von Aristoteles und die Monade von Leibniz weiter, das eternal object die Ideen von Platon. Hartmann unter-
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Einleitung
scheidet zwischen den verschiedenen Sphären des Seins, insbesondere zwischen dem realen und dem idealen Sein. Die Notwendigkeit und die Möglichkeit von Seinsunterscheidungen wird das zentrale Thema unserer Untersuchung sein. In dieser Einleitung stellen wir zunächst vorläufig die Frage, ob es überhaupt notwendig ist, verschiedene Weisen des Seins zu unterscheiden. Ist es nicht im Gegenteil möglich, nur eine Weise des Seins anzunehmen? Ist es nicht sogar notwendig, davon auszugehen, daß es das Sein nur in einer Weise geben kann? Man sieht nicht recht, wie man dieses Problem angehen kann. Man kann wohl nur versuchen, sich aus der Geschichte des Denkens eine erste Orientierung zu verschaffen. Es gibt, soweit ich sehen kann, nur eine philosophische Schule, Pythagoras und seine Schüler, die diese Vorstellung, daß es nur eine Weise des Seins gibt, ernsthaft verfolgt haben. Nun ist zwar die Philosophie der Pythagoreer nicht sehr gut bekannt, man kann aber die These: Alles ist Zahl* als Zusammenfassung betrachten. Aristoteles hat sie als eine Seinsunterscheidung verstanden. Er nahm an, daß die gewohnte Unterscheidung zwischen den Zahlen und den gezählten Dingen auch bei den Pythagoreern zugrunde liegt.* Aber wie selbstverständlich diese Unterscheidung auch sein mag, so ist es vielleicht doch nicht selbstverständlich, sie auch hier vorauszusetzen. Vielleicht muß man den Grundsatz der Pythagoreer doch wörtlich nehmen. Dann müßte man annehmen, daß nach der Überzeugung der Pythagoreer wirklich alles Zahl ist, und daß es nicht darüber hinaus noch Dinge gibt, die diesen Zahlen als das Zählbare gegenüberstehen. Überlegt man sich die These in dieser Auslegung, so scheint sie merkwürdigerweise nicht widerlegbar zu sein. Eine Widerlegung könnte doch wohl nur darauf ausgehen, in der so verstandenen These einen Widerspruch nachzuweisen. Bis jetzt ist ein Versuch eines solchen Nachweises nicht bekannt. Richtig ist, daß es große Schwierigkeiten macht, sich die These vorzustellen. Vielleicht ist eine wirkliche Vorstellung der pythagoreischen These in ihrer extremen Interpretation auch gar nicht möglich. Das würde bedeuten, daß die Ablehnung jeder Seinsunterscheidung in ihrer pythagoreischen Form zwar nicht widerlegt, daß sie aber auch im anschaulichen Sinne nicht vorgestellt werden kann. Für unser Problem liegt eine zweite Erwägung nahe. Man kann sich
§5: Die Weisen des Seins
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Seinsentwürfe überlegen, die sehr einfach sind. Als einer der einfachsten bietet sich der Seinsentwurf des mechanischen Materialismus an. Man kann ihn in seiner einfachsten Form nehmen, als Atomismus. In seiner griechischen Form kennt er als Sein nur die Atome und den leeren Raum.4 Er nimmt eine neue Form an, als Newton die Bewegungsgesetze entdeckt, und als dann der Materialismus die Newtonschen Gesetze als die alleinigen und absoluten Naturgesetze betrachtet. Damit wird der radikale Materialismus der Neuzeit zu einer Seinsunterscheidung genötigt, die er zwar nicht ausdrücklich formuliert, die aber eine unumgängliche Voraussetzung seines Standpunktes darstellt. Er muß unterscheiden zwischen den Atomen auf der einen Seite und den Naturgesetzen, nach denen sich die Atome bewegen, auf der anderen Seite. Die Naturgesetze, nach denen die Atome sich bewegen, sind gewiß nicht selbst Atome. Der Materialismus könnte der Notwendigkeit einer Seinsuntersdieidung entgehen, wenn er die Naturgesetze als bloße Vorstellungen betrachten würde, aber gerade das will er auf keinen Fall. Er besteht vielmehr ausdrücklich auf der absoluten Realität der Naturgesetze, und er reduziert dabei die Naturgesetze auf die Newtonschen Gesetze, die für ihn eine geradezu mythische Weihe haben. Mit dieser Auffasung der Naturgesetze ist aber eine Seinsunterscheidung unumgänglich geworden, eben die Seinsunterscheidung zwischen den Atomen und den Naturgesetzen. Man kommt also zu dem Ergebnis, daß der nach dem Pythagoreismus einfachste Seinsentwurf, der radikale Materialismus, eine Seinsunterscheidung notwendig impliziert. Im ganzen ergibt sich, daß der pythagoreische Seinsentwurf, wenn man ihn im wörtlichen Sinne verstehen darf, nicht widerlegbar, wenn auch vielleicht im eigentlichen Sinne nicht vorstellbar ist. Es ergibt sich weiter, daß der danach einfachste Seinsentwurf, der radikale Materialismus, bereits eine Seinsunterscheidung impliziert. Man muß also doch wohl den Schluß ziehen, daß Seinsunterscheidungen unumgänglich sind. Dann wird auch verständlich, daß es mehrere Bedeutungen von ,Sein' gibt. Ich ziehe die Folgerung, daß man sich hierin an Aristoteles anschließen muß. Dann müssen unsere Untersuchungen zweierlei nachweisen: Es gibt erstens mehrere Bedeutungen von ,Sein', unter ihnen eine ausgezeichnete, und es gibt zweitens mehrere Weisen des Seins, unter ihnen eine ausgezeichnete. 2 Martin, Metaphysik
TEIL I Das Einzelwesen und seine Bestimmungen
K a p i t e l 1: Die g r i e c h i s c h e G i g a n t o m a c h i e um das Sein JJ" 6: Die Ideenlehre Platons im Phaidon Im Sophistes bezeichnet Platon die Auseinandersetzung zwischen den Materialisten und den Ideenfreunden als eine Gigantomachie um das Sein. Dieser aus der Anschaulichkeit des griechischen Denkens erwachsene Ausdruck wird noch zutreffender, wenn man auch das Ringen des Aristoteles mit den ontologischen Problemen und wenn man die Auseinandersetzung des Aristoteles mit der Ideenlehre Platons in ihn einbezieht. Wir beginnen mit dem Phaidon und fragen nach der Ontologie, die diesem Dialog zugrunde liegt. Sie stellt sich vor allem als die Unterscheidung zwischen den Ideen und den Sinnendingen dar. Platon gibt manches Beispiel dafür: die Idee des Schönen auf der einen Seite, auf der anderen Seite die schönen Menschen, die schönen Pferde, die schönen Kleider;1 die Idee des Gleichen auf der einen Seite, auf der anderen Seite die gleichen Hölzer.2 Dabei macht uns im Deutschen eine sprachliche Schwierigkeit viele Mühe. Im Griechischen steht der Plural des Neutrums ungezwungen zur Verfügung, und Platon kann daher ohne weiteres sagen: .8 Im Deutschen kann der Plural des Neutrums zwar an sich gebildet werden, er ist aber der Form nach vom Plural des Maskulinums oder dem Plural des Femininums nicht unterschieden. Man stößt daher bei der Übersetzung auf Schwierigkeiten. Wenn man nicht paraphrasieren will, dann kann man kaum anders übersetzen als „die schönen Dinge". Aber die schwer zu umgehende Hinzufügung des Wortes ,Dinge* bringt in die deutsche Übersetzung eine Nebenbedeutung, die im griechischen Text nicht vorhanden ist. Die Ideen und die Sinnendinge werden in verschiedener Weise unter-
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Kap. l: Die griechische Gigantomachie und das Sein
schieden. Die Ideen sind zugänglich durch das reine Denken,4 die Sinnendinge werden durch die Sinne erfaßt, und zwar vorzugsweise durch das Sehen.5 Während die Ideen ewig und unveränderlich sind, bestehen die Sinnendinge nur kurze Zeit, sie sind einem dauernden Wechsel unterworfen.6 Es ergeben sich, dies hat man schon immer gesehen, zwei Grundfunktionen der Idee: eine epistemologische und eine ontologische. Die schönen Dinge sind schön durch die Idee der Schönheit, dies ist die ontologische Bedeutung der Idee. Die schönen Dinge werden als schön erkannt durch die Idee der Schönheit, das ist die epistemologische Bedeutung der Idee. In der Politeia tritt die Ideenlehre im wesentlichen in derselben Form auf, wenn sie auch in manchen Punkten schon weiterentwickelt worden ist. So ist in der Politeia die schwierige, aber unabweisbare Frage der höchsten Idee zu einem wichtigen Problem geworden, und es ist die Idee des Guten, die Platon in diesem Dialog als die höchste Idee erwägt.7 In diesen beiden Dialogen bietet die Ideenlehre ein verhältnismäßig einheitliches Bild, und so sind auch die Interpreten weithin einig. Dabei fehlt es keineswegs an Problemen der Interpretation, nicht einmal im Phaidon selbst. Da ist zunächst die Frage, warum Platon die Ideenlehre in dieser entschiedenen Form durch Sokrates vortragen läßt. Warum läßt er sie durch Sokrates gerade im Phaidon vortragen, wo doch dieser Dialog in weiten Stücken unzweifelhaft ein historischer Bericht ist? Hieraus haben gute Sachkenner — ich nenne etwa Burnet8 und Taylor* —, den Schluß gezogen, daß Sokrates es gewesen ist, der die Ideenlehre entwickelt hat. Es ist nicht zu verkennen, daß gute Gründe für diese Auffassung sprechen. Allein es gibt doch auch gewichtige Gegengründe. Großes Gewicht hat das Zeugnis des Aristoteles, der die Ideenlehre ausdrücklich nicht dem Sokrates, sondern dem Platon zuschreibt.10 Hinzu kommt die Tatsache, daß die frühen Dialoge Platons, die man mit Recht die sokratischen nennt, weil sie das lebendigste Bild des Sokrates geben, von der Ideenlehre nicht ausdrücklich sprechen. Obwohl für unsere systematischen Untersuchungen solche historischen Fragen erst den zweiten Rang einnehmen, will ich mich doch hier entscheiden und an der überlieferten und durch Aristoteles bezeugten Auffassung fest-
§ 6: Die Ideenlehre Platens im Phaidon
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halten, daß die Ideenlehre nicht von Sokrates stammt, sondern daß Platon ihr Urheber ist. An mindestens zwei Stellen im Phaidon zeigt sich, daß eine gewisse Diskussion über die Ideenlehre schon im Gange war, als Platon diesen Dialog schrieb. Aus den kurzen Andeutungen ist allerdings nicht zu ersehen, ob Platon diese Fragen mit sich selbst erwogen hat oder ob bereits unter den Schülern und Freunden Platons eine Diskussion über den Sinn der Ideenlehre in Gang gekommen war, möglicherweise unter der Teilnahme Platons. Es dreht sich zunächst um eine Stelle, an der die Frage aufgeworfen wird, wie die Sinnendinge sich zu den Ideen verhalten. Handelt es sich um eine Parousia?11 Oder um eine Methexis?" Oder wie ist das Verhältnis sonst zu denken? Sokrates, so wie Platon ihn in diesem Dialog sprechen läßt, will sich auf diese Frage nicht einlassen. Er will vielmehr in schlichter Weise darauf bestehen, daß die schönen Dinge schön sind durch die Idee der Schönheit, das Verhältnis mag gedacht werden, wie immer es notwendig sei.1* Man kann diese Stelle doch wohl nur dahin verstehen, daß die spätere Diskussion über das Methexisproblem bereits begonnen hat. Größere Schwierigkeiten noch bereitet die oft behandelte Stelle über die Hypothesis. Man muß sich, so sagt Platon, an die sichere Schutzwehr einer Hypothesis halten. Wird die Hypothesis selbst angegriffen, so läßt man sich nicht auf den Angriff ein, sondern untersucht die aus der Hypothesis sich ergebenden Folgerungen, ob sie miteinander übereinstimmen oder ob sie einander widersprechen. Führt eine Hypothesis auf Widersprüche, so ist sie damit widerlegt. Zeigt sie sich als widerspruchsfrei, so kann eine Begründung versucht werden, indem man zu einer höheren Hypothesis aufsteigt. Dabei muß man darauf bedacht sein, daß man von den höheren die beste erlangt — es gibt offenbar mehrere — und so zu einer zulänglichen Hypothesis kommt.14 Der Text erscheint zunächst ziemlich klar, und doch ist im einzelnen nicht leicht zu sagen, was Platon gemeint hat. Die Schwierigkeit besteht darin, daß man nicht genau sagen kann, was Platon hier unter Hypothesen verstehen will. Bezieht man die Stelle allgemein auf wissenschaftliche Hypothesen, so ist sie schon kühn genug. Sie sagt dann, daß wissenschaftliche Grundannahmen als Hypothesen zu verstehen sind, die sich zu bewähren haben. Es gibt verschiedene solcher Grundannahmen,
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Kap. l: Die griechische Gigantomachie und das Sein
und sie unterscheiden sich dadurch, daß die eine besser, die andere schlechter ist. Es muß sich also unter ihnen eine beste finden. Dies würde bestimmten modernen wissenschaftstheoretischen Auffassungen sehr nahe stehen, und es ließen sich von da aus gute Beispiele geben. Aber woran hätte Platon denken können, wenn er die Hypothesislehre in einer so allgemeinen Form gedacht hätte? Wo kann er die Ersetzung widerspruchsvoller oder unergiebiger Hypothesen durch bessere kennengelernt haben? Platon könnte vielleicht an gewisse Erwägungen der Astronomie seiner Zeit gedacht haben.15 Aber vielleicht ist es besser, die Geometrie in Betracht zu ziehen, wie Taylor dies tut.16 Die Schwierigkeit wird noch größer, wenn man annimmt, daß Platon die Ideenlehre selbst als eine solche Hypothesis verstehen will. Dies legt der Anfang des Abschnitts nahe, denn Platon spricht dort ausdrücklich von der Idee der Zwei." Aber wie soll man dann die Stelle verstehen? Hält Platon es überhaupt für möglich, hält er es hier im Phaidon für möglich, daß aus der Ideenlehre einander widersprechende Folgerungen gezogen werden können? Hält er es für möglich, daß die Ideenlehre durch eine höhere und bessere Hypothesis begründet werden kann oder daß sie durch eine andere Hypothesis ersetzt werden kann? Platon macht nicht einmal eine Andeutung, wie eine solche andere oder wie eine solche höhere Hypothesis aussehen könnte. An den anderen Stellen des Phaidon wird die Ideenlehre jedenfalls mit endgültiger Gewißheit behauptet. Natorp macht die Hypothesis zu einem Grundbegriff seiner Interpretation,18 aber seine Darstellung vermag in diesem Punkte nicht zu befriedigen. Die eigentliche Schwierigkeit des Phaidon liegt aber im Systematischen. Sie liegt in dem, was man den Eleatismus der Ideenlehre genannt hat. In unserer Zeit hat Bruno Liebrucks gerade diesen Zug der Ideenlehre mit Nachdruck hervorgehoben.19 Die Ideenlehre im Phaidon enthält eine ontologische These im Sinn eines strikten Eleatismus. Die Idee ist, die Sinnendinge sind nicht. Dieser Grundansatz ist auf der eleatischen These aufgebaut: Das Sein ist, das Nichtsein ist nicht, zwischen beiden gibt es kein Mittleres.20 Diese eleatische Disjunktion bestimmt im Phaidon das Verhältnis der Idee zu den Sinnendingen. Platon selbst hat im Sophistes diese dem Phaidon zugrunde liegende Auffassung formuliert. Er sagt dort von den Ideenfreunden: „(Sie) behaupten, gewisse nur durch das Denken erfaßbare
§ 6: Die Ideenlehre Platons im Phaidon
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und unkörperliche Ideen wären das wahre Sein. Die Körper aber ihrer Gegner und was diese für das wahre Sein ausgeben, zerstückeln sie mit ihren Wortkünsten und nennen sie nicht ein Sein, sondern nur ein in ständiger Bewegung befindliches Werden".21 Man muß den Gedankengang doch wohl so weiterführen, daß hier das Werden im Sinne des Parmenides als das Nicht-Sein bestimmt wird. Hegel hat in seiner Geschichte der Philosophie diesen Eleatismus des Phaidon trefflich charakterisiert, indem er von den Ideen im Sinne Platons zusammenfassend sagt: „Sie sind, und sie sind allein das Sein."82 Dies ist in der Tat das, was Platon im Phaidon sagen will: Die Ideen haben ein wahres Sein, und die Ideen allein haben ein wahres Sein. In diesem Grundansatz der Ideenlehre liegt der eigentliche Sinn, aber auch die eigentliche Schwierigkeit der Ideenlehre. Wir werden diese Schwierigkeiten im Lauf unserer Untersuchungen immer wieder erwägen müssen, können aber jetzt einen ersten Umriß versuchen. Nach diesem Grundansatz hat die Idee der Schönheit allein das wahre Sein, die schönen Dinge aber in ihrer Vergänglichkeit und in ihrer Unvollkommenheit haben kein wahres Sein, denn im Sinne der eleatischen Disjunktion gibt es entweder das wahre Sein oder das Nichtsein, aber kein Mittleres zwischen ihnen. Aber ist diese eleatische Disjunktion in sich selbst überhaupt möglich? Platon wird diese Frage im Sophistes ausdrücklich stellen. Wir fragen jetzt zunächst nur: Ist die eleatische Disjunktion in der Ideenlehre möglich? Hebt die eleatische Disjunktion, auf das Verhältnis von Ideen und Sinnendingen angewandt, nicht die Ideenlehre selbst auf? Wenn die schönen Dinge nichts sind, verliert dann nicht auch die Idee der Schönheit ihren Sinn? Was könnte die Idee der Schönheit denn auch für einen Sinn haben, wenn sie nicht in schönen Dingen erscheinen würde, wenn nicht in den schönen Dingen die Schönheit selbst aufglänzen würde? Gesteht man das Recht dieses Gedankenganges zu, dann kann man den Folgerungen nicht ausweichen. Wenn die Idee der Schönheit einen Sinn haben soll, dann müssen auch die schönen Dinge in irgendeiner Weise Wirklichkeit und Sein haben. Es ist dann nicht mehr möglich, daß die Idee allein das Sein ist. Wie verhält sich dann aber das Sein der Ideen zu dem Sein der Sinnendinge? Diese Frage muß notwendig über den Phaidon hinauswachsen, in dem sie freilich in einer gewissen
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Kap. 1: Die griechische Gigantomachie und das Sein
Weise schon enthalten ist. Es ist diese Frage, die Platon in den späteren Dialogen stellen wird, es ist diese Frage, die die Metaphysik hervorbringen wird, und es ist diese Frage, die die Metaphysik für alle Zeiten bestimmen wird. § 7: Platons Ontologie im Sophistes Die Prüfung der eleatischen Disjunktion wird zur Aufgabe. Die von Hegel so klar formulierte These: Die Ideen sind allein das Sein, kann in dieser Ausschließlichkeit nicht bestehen bleiben, sie muß in irgendeiner Weise modifiziert werden. In irgendeiner Weise muß auch den Sinnendingen ein Sein zuerkannt werden. Diese Aufgabe kann man als eine rein systematische betrachten, man kann sie aber auch als eine Aufgabe sehen, auf die Platon im Gang seines Denkens selbst gestoßen ist. Vom systematischen Gesichtspunkt aus würde die Frage lauten: Wie ist es möglich, nicht nur den Ideen, sondern in irgendeiner Weise auch den Sinnen dingen ein Sein zuzusprechen? Das historische, man könnte sagen, das persönliche Problem Platons kann man sich in der Weise vorstellen, das Platon sich zu einer Reflexion auf die im Phaidon und in der Politeia enthaltenen Voraussetzungen genötigt sah. Man kann verstehen, daß Platon, als er die Ideenlehre zum erstenmal vor sich sieht, alle Bedenken zurückstellt, daß er die Ideenlehre gewissermaßen wie aus einem Guß hinstellt. Aber die faszinierende Form, in der die Ideenlehre im Phaidon vorgetragen wird, kann die Schwierigkeiten nicht auf die Dauer überdecken. Eines Tages mußte Platon reflektieren: Was habe ich eigentlich behauptet, als ich die Ideenlehre behauptet habe? Eines Tages mußte er sich fragen: welche Voraussetzungen liegen dieser Ideenlehre zugrunde? Diese Reflexion und diese Fragen kommen im wesentlichen in zwei Dialogen zum Ausdruck, im Parmenides und im Sophistes. Für unsere systematischen Erwägungen können wir uns unmittelbar dem Sophistes zuwenden, auf den Parmenides werden wir später zurückgreifen. Der Sophistes stellt sich in dem uns jetzt interessierenden Teil als eine Auseinandersetzung mit Parmenides und Heraklit dar. Parmenides ist der Anführer derjenigen, die das Sein zum Stillstand bringen wollen. Für ihn ist es unveränderlich, für ihn ist es Immer-Sein.1 Im
§ 7: Platons Ontotogie im Sophistes
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entschiedenen Gegensatz zu Parmenides sieht Heraklit das Sein als ständige Bewegung. Für ihn ist alles Feste eine Erstarrung, ein Verlust des Seins.2 Platon erkennt, daß jeder dieser beiden Standpunkte in seiner extremen Form in sich selbst unmöglich ist, weil jeder sich selbst aufhebt. Heraklit sieht alles im Fluß. Damit fehlt ihm aber alles Beständige, das eine beständige Erkenntnis und also auch die Erkenntnis Heraklits überhaupt erst möglich macht.' Parmenides verneint jede Vielheit. Nun ist aber ein Satz an sich selbst schon eine Vielheit. Ohne Vielheit ist also jeder Satz und also jede Erkenntnis und also auch die Erkenntnis von Parmenides in sich selbst unmöglich.4 Platon sucht die Hilfe in einer Synthese der beiden großen Standpunkte.5 Die damit gestellte Aufgabe bezieht Platon unmittelbar auch auf die Ideenlehre selbst. Er trägt dafür eine Auseinandersetzung mit den Ideenfreunden vor.' Wer ist mit diesen Freunden der Ideen gemeint? Viele Interpreten, besonders des neunzehnten Jahrhunderts, haben sich nicht vorstellen können, daß Platon mit der hier vorgetragenen Kritik an der Ideenlehre sich selbst und seine eigne Lehre gemeint haben könnte. Aber zwei der besten Platonkenner der Gegenwart, Ross7 und Cornford8, sind zu dem Ergebnis gekommen, daß Platon in der Tat seine frühe und ursprüngliche Form der Ideenlehre meint, und sie können sich für diese Auffassung auch auf frühere Interpreten stützen." Von unserem systematischen Standpunkt aus erscheint diese Interpretation als die richtige. Wir gehen davon aus, daß Platon über den Sinn seiner Ideenlehre reflektieren mußte und daß er dies auch wirklich getan hat. Dies führt auf die Interpretation, daß Platon mit den Ideenfreunden sich selbst und seine Freunde und Schüler gemeint hat. Diese Auseinandersetzung mit den Ideenfreunden zielt darauf ab, die Ideen aus ihrer eleatischen Starrheit zu lösen. Das erste Argument sagt: Leben ist eine Grundbestimmung des Seins. Sein heißt notwendigerweise Lebendig-sein. Wenn also den Ideen Wirklichkeit und Sein zukommen soll, dann darf ihnen auch die Grundbestimmung des Seins, lebendig zu sein, nicht fehlen. Also haben auch die Ideen Leben und damit Veränderung und Bewegung.10 Dasselbe Ergebnis folgt aus dem zweiten Argument, das von der Erkenntnis ausgeht. Freilich macht Platon hier eine Voraussetzung, die auf den ersten Blick seltsam erscheint. Alle stimmen darin überein, so
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Kap. 1: Die griechische Gigantomachie und das Sein
sagt er, daß die Erkenntnis ein Tun ist und also eine Bewegung und eine Veränderung. Aber, und jetzt macht Platon seine Voraussetzung geltend, dann ist auch das Erkannt-Werden ein Tun, genauer gesagt ein Getan-Werden, und also ebenfalls eine Bewegung und eine Veränderung. Man wird zunächst zögern, diese Voraussetzung zuzugeben, sie kann aber einsichtig gemacht werden an den Beziehungen der Menschen untereinander. Erkannt zu werden, in seinem eigentlichen Sein erkannt zu werden, ist für jeden Menschen ein wichtiges Ereignis, vielleicht sogar eine unabdingbare Bedingung seiner Existenz. Wie weit eine solche Analyse völlig einsichtig gemacht werden kann, können wir jetzt dahingestellt sein lassen. Was Platon sagen will, ist klar. Die Ideen müssen erkannt werden können. Wären sie unerkennbar, dann würde auch aus diesem Grunde die Ideenlehre ihren Sinn verlieren. Wenn die Ideen aber erkannt werden können, dann werden sie in den lebendigen Strom der Erkenntnis und damit der Bewegung und der Veränderung hineingezogen. Auch mit diesem Argument will Platon die Ideen aus ihrer eleatischen Starrheit lösen." Alle diese Fragen laufen zusammen, wenn Platon im Sophistes zum erstenmal die Grundfrage der Metaphysik stellt, wenn er zum erstenmal fragt: Was ist das Sein?12 Diese Frage konstituiert die platonischaristotelische Ontologie, und sie konstituiert die Ontologie überhaupt. Bei der Bedeutung, die diese Frage für die Ontologie des Aristoteles hat, ist man geneigt, sie als eine spezifisch Aristotelische Frage zu nehmen, und auch ich selbst habe dies lange getan. In Wirklichkeit aber ist es Platon, der diese Frage im Sophistes stellt und der damit die Ontologie begründet. Für diese Frage des Sophistes muß man sich klarmachen, daß die Platonische Frage: Was ist das Sein? aus der Sokratischen Frage: Was ist.. .?ls herausgewachsen ist. Aber gegen diese allgemeine und abstrakte Frage Platons fragt Sokrates immer noch in einem gewissen Sinne konkret. Er fragt: Was ist die Tapferkeit?14 Was ist die Frömmigkeit?15 Was ist die Gerechtigkeit?16 Platon aber steigt zu Fragen von immer höherer Abstraktheit auf. Bei der Frage des Theaitetos: Was ist das Wissen?17 wird man bereits zweifeln, ob Sokrates selbst schon so abstrakt gefragt hat. Dagegen scheint es mir unzweifelhaft, daß die allgemeinsten und höchsten Fragen: Was ist das Sein? Was ist die Einheit?18 erst von Platon errungen worden sind. Wenn die Überzeugung
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weitverbreitet ist, daß dies eigentlich Aristotelische Fragen sind, so ist daran soviel richtig, daß erst Aristoteles die Behandlung dieser Fragen zu einer besonderen Disziplin gemacht hat. Was die Methode der Sokratischen Frage und die darauf möglichen Antworten anbetrifft, so bleibt immer noch die Formulierung des Aristoteles die beste: Sokrates antwortet nicht, er fragt nur.19 In der Tat begnügt sich Sokrates mit einer aporetischen und dialektischen Behandlung der Fragen und der möglichen Antworten. Ob diese Sokratische Behandlung der Fragen auch für die von Platon errungenen höchsten Fragen gültig bleiben wird, dies wird eines der wesentlichen Themen unserer Untersuchungen sein. Zunächst muß man erkennen, daß diese allgemeine Frage: Was ist das Sein? nur in einem späten Platonischen Dialog möglich ist, daß sie dort aber auch notwendig ist. Diese Frage erhält ihre Möglichkeit und ihre Notwendigkeit aus einer Reflexion über den Sinn der Ideenlehre. Sie erwächst aus der Einsicht Platons, daß der Ideenlehre eine ontologische Aussage über das Sein der Ideen zugrunde liegt. Wir haben gesehen, daß die Ideenlehre von einer eleatischen Disjunktion ausgeht: Die Ideen sind, sie allein sind, alles andere ist nicht. Aber auf die Dauer ist dieser extreme Eleatismus in der Ideenlehre nicht haltbar. Eines Tages sieht Platon deutlich, daß die Ideen zwar das eigentliche Sein sind und bleiben, daß aber auch die Sinnendinge in irgendeinem Sinne ein Sein haben. Erst in diesem Augenblick ist die allgemeine Frage: Was ist das Sein? möglich, und erst in diesem Augenblick ist die durch diese Frage bestimmte Ontologie möglich. Nun ist es schon bei der Sokratischen Frage erstaunlich, daß niemand vorher in dieser Weise gefragt hat. Uns ist diese Frage: Was ist das? so in Fleisch und Blut übergegangen, daß wir uns nur schwer vorstellen können, daß es einmal eine Zeit gegeben hat, in der es diese Frage noch nicht gab.*0 Dasselbe gilt für die allgemeine Frage nach dem Sein. Nur schwer können wir uns vorstellen, daß erst Platon so gefragt hat und sogar erst in den späten Dialogen. Aber es läßt sich einsehen, daß dies früher noch nicht möglich war. Thaies hat nicht gefragt: Was ist das Wasser? und er konnte auch noch nicht so fragen. Wir wissen freilich nicht genau, was er gesagt hat, oder vielmehr, wir wissen nicht genau, wie er es gesagt hat. Wir kennen die Vorsokratiker im Grunde genommen nur durch die Berichte von Platon und Aristoteles und durch das, was die Kommentatoren zur
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Erläuterung dieser Berichte gesagt haben. An dem Grundsatz von Thaies kann gleichwohl kein Zweifel sein: Alles ist Wasser.21 In diesem Grundsatz liegt der eigentliche Gehalt seines Denkens. Aber wie hätte er noch fragen können: Was ist Wasser? Alles ist Wasser, dies ist die einzige Antwort, die er gegeben hat, und dies ist die einzige Antwort, die er geben kann. Darüber hinaus gibt es für ihn nichts zu fragen und nichts zu antworten. Thaies konnte also noch nicht einmal die verhältnismäßig konkrete Frage stellen: Was ist das Wasser? Die allgemeine Frage: Was ist das Sein? war ihm ganz und gar nicht möglich. Nicht anders liegt es bed Pythagoras und seinen Schülern. Auch hier ist es so, daß die Form ihres Grundsatzes ebenso schwer zu fassen ist wie dessen Sinn. Man wird ihn in die These zusammenfassen dürfen: Alles ist Zahl.22 Diese These ist ebenso merkwürdig wie bedeutungsvoll. Hegel hat auf ihre große Bedeutung nachdrücklich hingewiesen.23 Uns geht es jetzt darum, daß nur die apodiktische These: Alles ist Zahl, gesagt worden ist, daß dagegen die Frage: Was ist die Zahl? nicht gefragt wurde und auch nicht gefragt werden konnte. Die Pythagoreer sagen: Alles ist Zahl, und es gibt nichts anderes als die Zahl. Dann konnten sie zwar fragen, welches die Zahl sei, die dem jeweils Betrachteten zukomme. Wenn aber beispielsweise gezeigt ist, daß die Oktave das Verhältnis l :2 ist, dann ist alles gesagt, was hier gesagt werden kann. Darüber hinaus gibt es für die Pythagoreer nichts zu fragen. Die Frage also: Was ist die Zahl? können sie weder stellen noch beantworten. Erst recht ist für sie die allgemeine ontologische Frage nach dem Sein noch nicht möglich. Dies gilt nun in gewissem Sinne auch noch für Parmenides. Er ist der erste, der ausdrücklich vom Sein spricht. Das Sein ist, dies ist seine fundamentale Aussage,24 die er durch eine ganze Reihe weiterer Bestimmungen über das Sein entfaltet. Von ihnen wird die Bestimmung: Das Sein ist Eines,25 die wichtigste werden. Sein und Denken sind dasselbe,26 für diesen großen Satz des Parmenides konnte bis jetzt eine befriedigende Interpretation noch nicht gefunden werden. Das Sein ist und das Nichtsein ist nicht, dies ist die eleatische Disjunktion, die für den Aufbau der Ideenlehre so bedeutsam geworden ist und mit der sich Platon im Sophistes grundsätzlich auseinandersetzt. So grundlegend und so weitreichend nun aber auch alles ist, was Parmenides über das Sein denkt und sagt, die Frage: Was ist das Sein?
§ 7: Platons Ontologie im Sophistes
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findet sich nicht darunter, und sie kann sich auch nicht darunter finden. Das Sein selbst ist das Letzte, hinter das nicht mehr weitergefragt werden kann. Wie sollte noch gefragt werden können, was hinter diesem Letzten steht? Was sollte darauf noch geantwortet werden können? Es gibt nichts anderes, auf das dies Letzte noch zurückgeführt werden könnte. In einem gewissen Sinne ist Platon im Phaidon und in der Pöliteia noch in der Situation der frühen Denker. Die Ideen allein sind das Sein, und es gibt nichts anderes, auf das das Sein der Ideen noch zurückgeführt werden könnte. Hier ist das Sein der Ideen eine Selbstverständlichkeit. Wer die Ideenlehre hört, versteht sie oder versteht sie nicht. Von hier aus wird es verständlich, daß Platon im Sophistes von sich selbst sagen kann: „Früher glaubten wir es zu wissen".27 Im Phaidon hat Platon in der Tat der Idee immer wieder das Sein zugesprochen. Sie ist das Seiende, sie ist das seiend Seiende. In diesen Seinsaussagen sah er kein Problem, er glaubte zu wissen, was die Seinsaussagen sagen wollen. Jetzt aber, im Sophistes, ist ihm ihre Problematik aufgegangen, und er muß sagen: „Früher glaubten wir es zu wissen, jetzt aber sind wir ratlos." Die allgemeine Frage: Was ist das Sein? ist erst möglich, wenn verschiedene Weisen des Seins unterschieden sind. Sie ist erst möglich, wenn Platon zwischen den Ideen und den Sinnendingen unterschieden hat. Sie ist also erst möglich, wenn er zwar den Ideen nach wie vor das eigentliche Sein zuspricht, aber auch den Sinnendingen ein Sein in irgendeinem Sinne zugesteht. Dann wird freilich die Frage notwendig, was das für ein merkwürdiges Sein ist, das im eigentlichen Sinne den Ideen zukommt, das aber dennoch, wenn auch in einem anderen, verschiedenen Sinne, auch den vergänglichen Sinnendingen zukommt. In welchem Sinne, diese Frage muß jetzt auftreten, kommt das Sein den Ideen zu, in welchem Sinne kommt es den Sinnendingen zu? Wenn Platon es früher zu wissen glaubte und es jetzt nicht mehr weiß, so ist dies nicht nur die Situation Platons in einem bestimmten Augenblick, sondern es ist die ständige systematische Situation der Metaphysik überhaupt. Heidegger hat von neuem gezeigt28, daß das Sein zunächst immer wieder als selbstverständlich gilt und daß es einer ständigen Anstrengung des Denkens bedarf, um wieder diese Selbst-
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Kap. 1: Die griechische Gigantomachie und das Sein
Verständlichkeit zu überwinden, um sich immer wieder in die Situation zu bringen: Früher wußte ich es, jetzt weiß ich es nicht mehr. Wir haben jetzt die Möglichkeit, noch einmal deutlich zu machen, was wir unter Metaphysik verstehen wollen. Nach der weithin üblichen Auffassung ist der Phaidon Metaphysik im eigentlichen Sinne. Nach dieser Auffassung ist die Metaphysik die Lehre von dem, was hinter der Natur, was hinter den Sinnendingen liegt, und der Phaidon lehrt in der Tat das Sein der Ideen hinter und über den Sinnendingen. — Nach der hier erstrebten Auffassung soll die Metaphysik durch die Frage nach dem Sein definiert werden. Also beginnt sie erst dann, wenn die Seinsfrage ausdrücklich und in aller Form gestellt wird. Für das Verhältnis des Phaidon zum Sopkistes bedeutet dies, daß nicht dort schon die Metaphysik existiert, wo das Sein der Ideen einfach behauptet wird. Metaphysik existiert vielmehr erst dann, wenn auf das Sein der Ideen reflektiert wird, wenn ausdrücklich gefragt wird, was dies Sein bedeutet. Erst dann, wenn Platon sich fragt, was er damit gemeint hat und was er damit meint, wenn er sagt: Die Ideen sind das Sein, erst dann, erst im Sophistes also beginnt die Metaphysik. Nicht also schon die These: Die Ideen sind, und sie sind allein das Sein, sondern erst die Besinnung darauf, was diese These sagen will, macht für meine Auffassung die Metaphysik aus. Also ist nicht schon der Phaidon, sondern erst der Sophistes zugleich ein Anfang und ein Höhepunkt der Metaphysik. $ 8: Der Begriff der Ousia bei Platon Dieser Gang des Platonischen Denkens muß sich in einer Bedeutungsentfaltung der fundamentalen philosophischen Termini zeigen, und in der Tat zeigt er sich in einer Bedeutungsentfaltung von ,Ousia*. Als Platon im Aufbau der Ideenlehre einen besonderen philosophischen Terminus braucht, der die wirkliche Wirklichkeit der Ideen bezeichnen soll, greift er auf den Ausdruck ,Ousia' zurück. Burnet hat die Vermutung ausgesprochen, daß schon die Pythagoreer dies Wort der griechischen Umgangssprache in einer neuen, philosophischen Bedeutung gebraucht haben.1 Aber wirklich faßbar wird die neue Bedeutung doch erst bei Platon. Das Wort ,Ousia' bedeutet in der griechischen Umgangssprache den Besitz, die Habe, und auch dann noch, als Platon
§ 8: Der Begriff der Ousia bei Platon
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dem Wort die neue philosophische Bedeutung gegeben hat, braucht er es daneben ungezwungen in der umgangssprachlichen Bedeutung von ,Besitzc und ,Habec weiter.2 Das Wort ,Ousia' war für die von Platon gewollte Bedeutung besonders geeignet, denn es meint in besonderer Weise den festen Besitz, vor allen Dingen den Grundbesitz.8 Platon wendet das alte Wort in der neuen Bedeutung zunächst zur ontologischen Bestimmung der Idee an. Die Idee ist Ousia, so sagt der Pbaidon* und hier ist allein die Idee Ousia. Insofern ist der Terminus in die eleatische Disjunktion der Ideenlehre im Phaidon eingetreten. Wir fanden nun, daß die eleatische Disjunktion den Sinn der Ideenlehre aufhebt. Wenn es nur die Idee des Schönen gibt, und wenn den schönen Dingen gar kein Sein zukommen soll, dann verliert auch die Idee des Schönen ihren Sinn. Ihren Sinn kann sie nur behalten, wenn auch die schönen Dinge in irgendeiner Weise ein Sein haben. Um diese Frage kreisen die späteren Dialoge. Dieser Gang des Platonischen Denkens muß nun in bezug auf die Ousia zu der Konsequenz führen, daß nicht nur die Idee eine Ousia ist, sondern daß in irgendeinem noch zu bestimmenden Sinne auch das Sinnending eine Ousia ist. Es muß also ein Bedeutungswandel, genauer gesagt eine Bedeutungsentfaltung in den späteren Dialogen auftreten. Dies ist in der Tat der Fall, wenn auch eine genauere Untersuchung dieser Bedeutungsentfaltung noch aussteht. In den späteren Dialogen nennt Platon nicht nur die Idee eine Ousia, sondern er läßt diese Bezeichnung auch den Sinnendingen zukommen, er spricht sogar von einer gewordenen Ousia.5 Der erste, der auf diese Bedeutungsentfaltung von Ousia aufmerksam gemacht hat, ist meines Wissens Peipers gewesen,6 später hat auch Natorp darauf hingewiesen.7 Diese Darstellung von Platons philosophischem Denken ist allerdings idealisiert. Eine auf die radikale eleatische Disjunktion aufgebaute Ideenlehre ist in sich unmöglich, schon weil die radikale eleatische Disjunktion bereits als solche unmöglich ist. Platon hat dies im Sophistes in aller Form gezeigt. So wird es verständlich, daß man diese beiden Stufen, die Ideenlehre in ihrer eleatischen Form im Phaidon und die Ideenlehre in ihrer ontologischen Reflexion auf ihre eignen Voraussetzungen im Sophistes in der Wirklichkeit der Platonischen Dialoge keineswegs so radikal scheiden kann, wie wir dies eben unter systematischen Gesichtspunkten getan haben. Für Platon greifen ver3 Martin, Metaphysik
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Kap. 1: Die griechische Gigantomachie und das Sein
ständlidierweise die Ideenlehre selbst und die Reflexion auf ihre ontologischen Voraussetzungen unmittelbar ineinander. Wir haben gesehen, daß sich schon im Phaidon die ersten Anzeichen einer Reflexion über die Ideenlehre finden. Gleichwohl scheint es mir, daß erst die radikale systematische Scheidung eine tiefere Einsicht in den Gang des Platonischen Denkens möglich macht. § 9: Der Seinshegriff bei Aristoteles Platon hat die Ontologie begründet, Aristoteles hat sie zu einer selbständigen Disziplin ausgebaut. Eine Ontologie braucht deshalb die ständige Auseinandersetzung mit Platon und Aristoteles. Die Metaphysik als Disziplin ist bei Aristoteles allerdings noch nicht terminologisch fixiert, jedenfalls nicht in dem Maße, wie die Logik, die Ethik und die Physik. Diese Metaphysik in ihrer heutigen äußeren Form als ein Werk mit vierzehn Büchern stellt keine wirkliche Einheit dar. Man kann mit großer Sicherheit sagen, daß mehrere Abhandlungen ursprünglich selbständig waren und daß nicht Aristoteles selbst diese vierzehn Bücher zu einem Werk vereinigt hat, sondern daß dies später geschehen ist.1 Schwieriger ist das Problem der inneren Einheit. Aristoteles folgt in seinen Untersuchungen verschiedenen Zielen. So ist die Aristotelische Metaphysik zugleich ontologia generalis, theologia naturalis und scientia universalis. Ontologia generalis ist sie, insofern sie die Lehre vom Seienden als Seienden ist.* Theologia naturalis ist sie, insofern sie die Lehre vom höchsten Seienden ist.8 Scientia universalis ist sie, insofern sie die Lehre von den Prinzipien ist.4 Zwischen diesen drei Aufgabenstellungen besteht ein innerer Zusammenhang, der in seinen wesentlichen Bestimmungen noch einsichtig gemacht werden kann. Ich glaube aber nicht, daß man die Metaphysik heute noch in der dreifachen Aufgabenstellung halten kann, wie es bei Aristoteles wirklich gewesen ist, sondern ich glaube, daß man sich heute für eine der drei Möglichkeiten entscheiden muß. Ich selbst entscheide mich für die Aufgabe der Metaphysik als ontologia generalis. Ob diese Entscheidung sachgegründet und fruchtbar ist, wird ihre Durchführung erweisen müssen. Die Aufgabenstellung der Metaphysik bei Aristoteles als ontologia generalis zeigt sich zunächst im dritten Buch der Metaphysik. In die-
S 9: Der Seinsbegriff bei Aristoteles
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sem Buch sind die Aufgaben der Metaphysik als Aporien entwickelt. Im ersten Kapitel zählt Aristoteles die Aporien zunächst auf, in den folgenden Kapiteln erörtert er sie im einzelnen. Schon in der ersten Zusammenstellung wird die Frage nach der ontologischen Bestimmung von Sein und Einheit als die schwierigste und als die am meisten aporetische der Aporien bezeichnet.8 In der Durchführung dieser Aporie im vierten Kapitel bezeichnet Aristoteles sie als diejenige, die von allen Aporien am schwierigsten zu behandeln ist, die aber zugleich für jede Wahrheitserkenntnis die notwendigste ist.8 Hier stellt Aristoteles ausdrücklich die Frage: Was ist das Sein? Mit ihr zusammen stellt er zugleich die Parallelfrage: Was ist die Einheit?7 Wenn Aristoteles sich anschickt, die Beantwortung einer Frage in Angriff zu nehmen, dann legt er zunächst dar, daß die Termini der Philosophie Worte sind, die in aller Regel mehrere Bedeutungen haben. Insbesondere hat das Wort ,Sein' mehrere Bedeutungen. Diese Einsicht ist fundamental für Aristoteles, und es ist gewiß kein Zufall, daß die große Auseinandersetzung mit Platon im ersten Buch der Metaphysik mit dem Hinweis schließt, daß jede philosophische Einsicht unmöglich ist, wenn man nicht die Bedeutungsvielheit des Seinsbegriffes erkannt hat.8 Die planmäßige Durchführung dieser seiner Auffassung hat Aristoteles im fünften Buch der Metaphysik gegeben. Dies Buch gibt in dreißig Kapiteln die Analysen der jeweiligen Bedeutungsvielheit von dreißig philosophischen Grundbegriffen. Diese Untersuchungen waren für Aristoteles so wichtig, daß er sie in einem besonderen Buch zusammenfaßte, obwohl parallele Untersuchungen von Bedeutungsvielheiten sich an zahlreichen anderen Stellen finden. So wird die Bedeutungsvielheit von Einheit im Kapitel 6 des fünften Buches untersucht, die parallele Analyse findet sich im Kapitel l des Buches X. Die Bedeutungsvielheit von Sein wird im siebten Kapitel analysiert, die parallele Analyse findet sich im Kapitel l des Buches VII. Da Aristoteles das Buch V an anderen Stellen als ein besonderes Werk zitiert9, so muß es wohl selbständig gewesen sein, ehe ein späterer die vierzehn Bücher zur heutigen Metaphysik vereinigte.10 Die Bedeutungsvielheit von Sein analysiert Aristoteles im siebten Kapitel. Er unterscheidet dort vier Hauptbedeutungen, die sich ihrer-
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Kap. l: Die griechische Gigantomachie und das Sein
seits wieder in mehrere Bedeutungen gliedern. Die vier Hauptbedeutungen von Sein sind: 1. Das durchaus zufällige und beiläufige Sein; 2. das Sein der Kategorien; 3. Wahrsein und Falschsein; 4. Möglichsein und Wirklichsein. Als Beispiele für das bloß zufällige und beiläufige Sein gibt Aristoteles das bloß zufällige Zusammentreffen von Eigenschaften an, etwa das Zusammentreffen von Gerechtsein und Gebildetsein." Die zweite Hauptbedeutung stellen die Kategorien dar. Aristoteles nennt an dieser Stelle acht Kategorien. Diese zweite Hauptbedeutung gliedert sich also in der Weise in mehrere Bedeutungen auf, daß es sich jeweils bei einer Kategorie nur um eine Bedeutung handelt, daß aber über die Reihe der Kategorien hinweg verschiedene Bedeutungen von Sein auftreten.12 So liegen also beispielsweise beim Sein der Substanzen und beim Sein der Zahlen verschiedene Bedeutungen von Sein vor. Spreche ich vom Sein des Sokrates und vom Sein der Sieben, so nehme ich ,Seine in verschiedener Bedeutung. Man wird sagen können, daß die Bedeutungsvielheit von Sein, die sich über die Reihe der Kategorien hin entfaltet, für Aristoteles die wichtigste gewesen ist.13 Schließlich ergibt sich als dritte Bedeutung idas Wahrsein und das Falschsein14 und als vierte Hauptbedeutung das Möglichsein und das Wirklichsein.15 Hier schließt die Analyse des Seinsbegriffs im fünften Buch. Im ersten Kapitel des siebten Buches führt Aristoteles diese Analyse einen Schritt weiter, indem er den Begriff einer ausgezeichneten Bedeutung einführt. Dabei erweist sich die zweite Bedeutung, das kategoriale Sein, als die ausgezeichnete Bedeutung, und von den Bedeutungen des kategorialen Seins erweist sich wiederum das Sein der Substanz als die ausgezeichnete Bedeutung.16 Dies ergibt einen wichtigen Unterschied gegen die Lehre vom Analogiecharakter des Seinsbegriffes, wie er in der Scholastik weiterentwickelt wurde. Soweit die Scholastik im Anschluß an Aristoteles an dieser Lehre festhält, ist für sie die wichtigste Bedeutungsverschiedenheit die zwischen dem Sein Gottes und dem Sein der geschaffenen Dinge, insbesondere die zwischen dem Sein Gottes und dem Sein des Menschen.17 Aristoteles dagegen betrachtet die BedeutungsVerschiedenheit in der Reihe der Kategorien als die wichtigste. Der griechische Gottesbegriff enthält nicht dieselbe Transzendenz wie der christliche. Die Götter des griechischen Polytheismus sind gewiß durch einen gro-
§9: Der Seinsbegriff bei Aristoteles
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ßen Abstand von den Menschen geschieden, und doch sind sie im Grunde genommen gleichen Seins mit ihnen. Sie wohnen auf den Höhen des Olymp, und sie wohnen also an einem Ort, den die Menschen aus frommer Scheu zwar meiden, der im Grunde genommen aber ein Ort ist wie die Orte der Menschen. So können die Götter ohne weiteres unter den Menschen erscheinen, in Tieresgestalt oder in Menschengestalt. Dies fast völlige Fehlen der Transzendenz bleibt auch dann noch bestehen, wenn die griechischen Philosophen zum Monotheismus aufsteigen. Der christliche Gottesbegriff dagegen ist durchgängig durch die Transzendenz bestimmt. Thomas von Aquin findet im Analogiebegriff des Aristoteles ein philosophisches Mittel, um diese Transzendenz auszudrücken. Er verschiebt aber damit das Zentrum dieser Lehre. Diese Lehre von der Bedeutungsvielheit des Semsbegriffes greift nun tief in die Aristotelische Bestimmung der Metaphysik ein, die wir als die wichtigste betrachten, die Bestimmung der Metaphysik als die Lehre vom Seienden als Seiendem. Im Sinne dieser Bestimmung fordert Aristoteles die Existenz einer Wissenschaft, die das Seiende als Seiendes betrachtet. „Es gibt aber eine Wissenschaft, deren Gegenstand ist das Seiende als Seiendes und diejenigen Bestimmungen, die dem Seienden als Seiendem zukommen."18 Für den Aufbau dieser Wissenschaft geht Aristoteles im Buch VII sofort vom Analogiecharakter des Seinsbegriffes und von der Existenz einer ausgezeichneten Bedeutung aus. Er entwickelt diese Lehre an dem Beispiel des Gesundseins. ,5 ', so sagt er, wird in vielfacher Bedeutung gebraucht, aber diese Bedeutungen hängen zusammen durch einen Bezug auf eine ausgezeichnete Bedeutung, es handelt sich keineswegs um bloße Äquivokationen. Das ständige Beispiel ist die Bedeutungsvielheit von ,gesundc. Alle Bedeutungen von Gesundheit beziehen sich auf eine ausgezeichnete Bedeutung von gesund. In diesem ausgezeichneten Sinne ist ein Mensch gesund. Davon leiten sich andere Bedeutungen ab. Gesund ist, was die Gesundheit bewahrt, gesund ist, was die Gesundheit bringt, gesund ist, was ein Zeichen der Gesundheit ist.19 Auch im Buch VII beginnt Aristoteles seine Untersuchungen mit einer Analyse der Bedeutungsvielheit. „Sein wird in vielfacher Bedeutung gesagt, wie wir dies bereits in den Untersuchungen über die Bedeutungsvielheiten dargelegt haben. Sein meint eigentliches Sein
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Kap. 1: Die griechische Gigantomachie und das Sein
und individuelles Sein, Sein meint aber auch die Qualität oder die Quantität oder jede andere der hier in Betracht kommenden Kategorien. Wenn es viele Bedeutungen von Sein gibt, dann ist es klar, daß die ausgezeichnete Bedeutung die des eigentlichen Seins ist, nämlich diejenige, die die Ousia meint. ... Alle anderen Bedeutungen aber meinen Bestimmungen, die Quantitäten dieses ausgezeichneten Seienden sind oder Qualitäten oder Eigenschaften oder sonstige Bestimmungen."8* Von dieser Analyse, die wir teils übersetzt, teils paraphrasiert haben, wie wir dies bei der Wiedergabe der entscheidenden Stellen öfters tun werden, steigt Aristoteles zu einer Bestimmung der Metaphysik auf, die für unsere Untersuchungen die schlechthin leitende ist: „Es war immer die eigentliche Aufgabe und die eigentliche Aporie der Metaphysik, es ist heute so, und es wird immer so sein, die Frage nämlich: Was ist das Sein? Dies aber ist die Frage: Was ist die Ousia?"*1 Hier sind alle Momente beisammen, die konstitutiv sind für die Metaphysik des Aristoteles, so wie sie in diesen Untersuchungen aufgefaßt wird: die Lehre von der Bedeutungsvielheit des Seinsbegriffes, die Lehre von einer darin enthaltenen ausgezeichneten Bedeutung, die Definition der Metaphysik durch eine Frage, nämlich durch die Frage: Was ist das Sein? und schließlich die Bestimmung der Methode der Metaphysik als einer Aporetik. Dabei hat die Aporetik für die methodischen Erwägungen unserer Untersuchungen eine besondere Wichtigkeit. Man kann nicht daran zweifeln, daß Aristoteles zur Dialektik und zur Aporetik ein recht kühles Verhältnis hat. Um so bedeutsamer ist es, daß auch Aristoteles in der Metaphysik der Aporetik eine große Wichtigkeit beimißt. Man muß sich darüber klar werden, daß die große Aporetik des Buches III keineswegs nur eine pädagogische Aufgabe hat. Dies Buch ist gewiß unter pädagogischen Gesichtspunkten geschrieben. Es will in die Metaphysik einführen und tut dies auch in ausgezeichneter Weise. Gleichwohl hat die Aporetik dieses Buchs letztlich nicht pädagogische, sondern systematische Gründe. Die Aporetik hängt unmittelbar mit der Definition der Metaphysik durch die Frage zusammen. In dieser Definition der Metaphysik durch die Frage und in der Anerkennung der hier entspringenden Aporetik ist Aristoteles der echte Erbe der Sokratischen und Platonischen Frage und der Sokratisdien und Platonischen Aporetik.
§ 10: Der Begriff der Ousia bei Aristoteles
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$ 10: Der Begriff der Ousia bei Aristoteles Auch der Begriff der Ousia gehört zu denjenigen, für die Aristoteles im fünften Buch der Metaphysik eine Analyse der Bedeutungsvielheit gibt. Nachdem er im Kapitel 6 die Einheit und im Kapitel 7 das Sein untersucht hat, analysiert er im Kapitel 8 die Ousia. Er entwickelt zunächst vier Bedeutungen und zieht sie dann in zwei zusammen. In der ersten Bedeutung wird Ousia ausgesagt von den Elementen, also von der Erde, vom Wasser, von der Luft, vom Feuer, vom Äther, dann überhaupt von den materiellen Körpern und von dem, was daraus zusammengesetzt ist, nämlich von den Lebewesen und den Dämonen, wobei man bereits die organischen Teile eines Lebewesens als Ousia bezeichnen kann. In der zweiten Bedeutung nennt man Ousia dasjenige, was dem in der ersten Bedeutung Ousia Genannten dieses Sein gibt. Wenn beispielsweise die Seele dem Lebewesen das Sein gibt, so wird sie aus diesem Grunde Ousia genannt. In einer dritten Bedeutung wird Ousia dasjenige genannt, was dem in der ersten Bedeutung Ousia Genannten Gestalt und Sein dadurch gibt, daß es sie begrenzt, so wie es die Oberfläche gegenüber dem Körper und wie es die Linie gegenüber der Fläche tut. In einer vierten Bedeutung schließlich wird das Wesen eines Seienden Ousia genannt. Aristoteles zieht dann diese vier Bedeutungen zu zweien zusammen, indem er die zweite, dritte und vierte Bedeutung vereinigt und sie allgemein als Eidos bezeichnet. Daraufhin kann Aristoteles sagen, daß Ousia in zwei Hauptbedeutungen gebraucht wird. In der ersten Hauptbedeutung meint Ousia das letzte Substrat, das niemals von einem anderen ausgesagt wird, während alles andere von ihm ausgesagt wird. In der zweiten Hauptbedeutung meint Ousia die Gestalt und das Eidos. Sie werden Ousia genannt, weil sie dem in der ersten Bedeutung Ousia Genannten das Sein geben.1 Eine Paralleluntersuchung des hier in der ersten Bedeutung Ousia Genannten findet sich im zweiten Buch der Physik. Das erste Kapitel dieses Buches ist, wie Aristoteles ausdrücklich sagt, eine Bedeutungsanalyse, und zwar eine Bedeutungsanalyse des Terminus ,Physis'. Daß aber Aristoteles wesentlich die Ousia im Auge hat, ergibt sich sowohl aus dem Umkreis des Analysierten, als auch aus dem Ergebnis der Analyse. Der Umkreis ist derselbe wie bei der Analyse in der Meta-
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Kap. 1: Die griechische Gigantomadiie und das Sein
physik; die Aufzählung erfolgt lediglich in umgekehrter Reihenfolge. Demgemäß nennt Aristoteles Physis die Lebewesen und ihre organischen Glieder, die Pflanzen und die Elemente. Die Elemente werden ausdrücklich in ihrer Vierzahl genannt: Erde, Feuer, Luft und Wasser. Es fehlen von der Analyse der Metaphysik die Dämonen und die zusammengesetzten Körper, hinzugefügt sind die Pflanzen.2 Aristoteles stellt dann den Zusammenhang mit den Untersuchungen in der Metaphysik her, indem er ausdrücklich sagt: „ ... und alles dies ist Ousia."* Die charakteristische Bestimmung dieses Bereiches bezeichnet Aristoteles, indem er sagt, daß alles dies in sich selbst das Prinzip der Bewegung und der Ruhe hat.4 Etwas wird also deshalb Physis genannt, weil es in sich .selbst das Vermögen hat, seine Bewegung, sein Wachstum, seine Veränderung zu beginnen und zu beenden. Das für uns Wichtigste ist die Zusammenfassung der Bedeutungsvielheit zu zwei Hauptbedeutungen: die Ousia als Einzelwesen und die Ousia als Eidos. An anderen Stellen spricht Aristoteles von dem Einzelwesen als der ersten Ousia und dem Eidos als der zweiten Ousia.5 Die Frage, wie sich diese beiden Bedeutungen zueinander verhalten und welche insbesondere von diesen zwei Bedeutungen die Hauptbedeutung ist, ist ein schwieriges und vielumstrittenes Problem der Aristotelesinterpretation. Man sieht zunächst, daß die Aristotelische Unterscheidung der zwei Hauptbedeutungen die Platonische Entwicklung fortsetzt und zuende bringt. Wir hatten gesehen, daß Ousia ursprünglich nur die Idee bezeichnet, wie es ganz klar im Phaidon der Fall ist. Dann entfaltet sich die Bedeutung von Ousia und umfaßt in einer noch nicht endgültig geklärten Weise auch die Einzelwesen. Von hier aus wird es auch verständlich, daß diese beiden Hauptbedeutungen bei Aristoteles auftreten. In der Frage der ausgezeichneten Bedeutung entscheiden wir uns dafür, aus historischen und systematischen Gründen bei Aristoteles Ousia im Sinne des Einzelwesens als die ausgezeichnete Bedeutung zu betrachten. Wir selbst schließen uns dem in dieser Weise interpretierten Aristoteles an. Die Anlage und die Durchführung unserer Untersuchung geht von dieser Auffassung aus.
Kapitel 2: Die großen Seinsentwürfe S H: Platon Unter einem Semsentwurf will ich im Anschluß an Heidegger1 eine Gesamtheit von ontologischen Grundbegriffen und Grundsätzen verstehen, wie sie insbesondere bei einem bestimmten Philosophen vorkommt. Liegt eine Unterscheidung verschiedener Seinsweisen vor, was nach unseren Erwägungen in der Regel der Fall sein wird, dann wird der Seinsentwurf diese Unterscheidung enthalten. In ihm muß eine Auskunft darüber zu finden sein, wie diese Seinsweisen unterschieden werden sollen und ob eine dieser Seinsweisen ausgezeichnet werden soll. Die Grundform eines Seinsentwurfes bringt Platon in der Ideenlehre, und dieser Seinsentwurf wird für den weiteren Gang der Philosophie im Abendland bestimmend. Platon erkennt selbst die Bedeutung seines Seinsentwurfes, er prägt bereits im Phaidon die klare Formulierung: die beiden Weisen des Seins.2 Wir sahen schon, wie Platon die beiden Weisen des Seins ontologisch und epistemologisch unterscheidet. Die Ideen sind ewig und unvergänglich, sie werden durch das reine Denken erfaßt; die Sinnendinge sind veränderlich und vergänglich, sie werden durch die Sinne erfaßt. Die Ideen sind das ausgezeichnete, das eigentliche Sein. Diesen Grundsatz gibt Platon niemals auf, und dieser Grundsatz ist für jedes Philosophieren im Sinne Platons und in der Nachfolge Platons bestimmend. Freilich geht es auch schon Platon selbst um den Sinn dieses Grundsatzes. Was Platon im Phaidon sagt, kann man auf eine streng eleatische Disjunktion zuspitzen. Die Ideen sind, und die Sinnendinge sind nicht. Wir sahen aber, daß Platon eine streng eleatische Disjunktion nicht durchhalten kann und auch nicht durchhalten will. Platon erkennt vielmehr die Notwendigkeit, auch den Sinnendingen in irgendeiner Weise ein Sein zuzuschreiben. Wenn die Antagonisten Platons, und unter ihnen insbesondere Nietzsche,3 den Seinsentwurf Platons als eine Zweiweltentheorie darstellen, so ist dies zwar eine Vereinfachung, jedoch eine solche, die manche Stellen des Platonischen Textes zur Begründung anführen kann. Aber Platon ist der erste gewesen, der die hier auftretende Problematik erkannt hat. Wie ist die These von den zwei Weisen des Seins zu ver-
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Kap. 2: Die großen Seinsentwürfe
stehen? Wie ist die These zu verstehen, daß das Sein der Ideen das eigentliche Sein ist? Wie sind die beiden Seinsweisen in ihrem Verhältnis zueinander zu charakterisieren? Wie ist jede für sich selber zu charakterisieren? An dieser Stelle mag es genügen, das Problem aufzuzeigen. Die Diskussion des Problems und seiner Konsequenzen wird den wesentlichen Teil unserer Untersuchungen ausmachen. $ 12: Aristoteles Aristoteles tritt unmittelbar in den Gang des Platonischen Denkens ein und setzt diesen Gang unmittelbar fort. Er übernimmt die Unterscheidung zwischen den Ideen und den Sinnendingen, die er sachlich weiterführt und terminologisch fixiert.1 Er bestimmt die beiden Seinsweisen von der durch ihn entwickelten Logik her als das Allgemeine und als das Einzelding, und er unterscheidet sie im Anschluß an die Platonischen Bestimmungen als die erste und die zweite Ousia.2 In der Fortsetzung des Platonischen Ringens um das Sein der Sinnendinge kommt Aristoteles zu einer These, die der Platons durchaus entgegengesetzt ist. Für Aristoteles ist das Einzelwesen das eigentlich Seiende. Das Sein des Einzelwesens ist für ihn das ausgezeichnete Sein, und das Eidos, das Allgemeine, hat für ihn ein abgeleitetes Sein.* In dieser Weise wird in der Ontologie des Aristoteles das Verhältnis der ersten zur zweiten Ousia bestimmt. Wir sahen bereits, daß die sachliche Unterscheidung sich im fünften Buch der Metaphysik findet, die terminologische Fixierung ist seltener.4 Ersichtlich ist die zweite Ousia die Fortführung der platonischen Idee. Es ist deshalb verständlicherweise der Versuch gemacht worden, das Verhältnis der beiden Substanzen so zu bestimmen, daß die zweite Ousia für Aristoteles das eigentliche Sein ist.5 Dann wäre Aristoteles auch in der Auffassung von Allgemeinem und Einzelnem Platoniker gewesen. Es läßt sich nun nicht leugnen, daß es in den Schriften des Aristoteles Stellen gibt, die in diesem Sinne verstanden werden können, wenn sie allein für sich gelesen werden. Allein gegen diese Interpretation steht die ausdrückliche Erklärung des Aristoteles, daß das Allgemeine niemals Ousia sein kann.8 Schon diese Erklärung muß im Zusammenhang gelesen werden, denn sie kann ja nur sagen wollen, daß das Allgemeine keine erste Ousia sein kann. Dagegen ist das Allgemeine sehr wohl eine zweite
§ 12: Aristoteles
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Ousia, denn in diesem Sinne ist die zweite Ousia ausdrücklich definiert.7 Betrachtet man die Schriften des Aristoteles im Zusammenhang, und zieht man die vielfältigen Stimmen der Kommentatoren und die einhellige Meinung der Anhänger des Aristoteles in Betracht, dann kann man nur zu dem Schluß kommen, daß für Aristoteles das Einzelwesen die eigentliche Ousia und damit das eigentliche Sein ist. Wir stellen uns auf diesen Standpunkt, und wir haben dann ebenso wie Aristoteles zwei Aufgaben vor uns. Wir müssen die Gründe und die Konsequenzen für die These darlegen, daß das Einzelwesen das eigentlich Seiende ist. Dies soll in diesem ersten Teil geschehen. Nimmt man diesen Grundsatz an, dann stellt sich die Frage: Was ist dann das Allgemeine? Die so gestellte Frage wird das Thema des zweiten Teils sein. Eine nicht geringe Hilfe für unsere Entscheidung gibt uns Thomas von Aquin, den wir grundsätzlich zur aristotelischen Philosophie rechnen. Dies ist freilich nicht in jeder Beziehung richtig. Thomas ist es gewesen, der für das mittelalterliche Denken den großen Umschwung von der platonischen zur aristotelischen Philosophie vollzogen hat. Es fehlen freilich noch wirklich befriedigende Untersuchungen über die Gründe, über den Sinn und über die Bedeutung dieses Umschwungs. Nur soviel ist unmittelbar zu sehen, daß Thomas diese Wendung nicht als eine einseitige Parteinahme gegen Platon und für Aristoteles verstanden haben will. Er sieht in erster Linie nicht den Gegensatz, sondern den Zusammenhang zwischen Platon und Aristoteles. Man sollte ihm hierin viel mehr folgen. Der geschichtliche und der systematische Zusammenhang zwischen den beiden Philosophen ist so eng, daß die Vorstellung, die sich Thomas von ihrem Verhältnis gebildet hat, als wohlbegründet betrachtet werden muß.8 Die Bedeutung der Stellungnahme des Aquinaten wird nun keineswegs dadurch vermindert, daß für ihn nicht nur philosophische, sondern auch theologische Gründe bestimmend sind. Dies gilt vielleicht auch für die Wendung zur Aristotelischen Grundthese, daß das Einzelwesen das eigentlich Seiende ist. Die Griechen und mit ihnen die Römer dachten nicht allzu hoch vom Einzelmenschen und also auch nicht vom Einzelwesen. Von hier aus wird der Hang Platons zum Allgemeinen verständlich, und von hier aus erscheint es auch bemerkenswert, daß Aristoteles zu dieser ontologisdien Vorrangstellung des Einzelwesens und also des Einzelmenschen gekommen ist. Wie immer auch für die
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Kap. 2: Die großen Seinsentwürfe
Griechen hier die Gewichte verteilt sein mögen, das Christentum betrachtet den Wert und das Recht des einzelnen Menschen als konstitutiv und als unaufhebbar. Es ist der Einzelne, auf den jetzt alles ankommt. § 13: Descartes In den Prindpia Philosophiae gibt Descartes eine zusammenfassende Darstellung seines Seinsentwurfes. In § 48 sagt er: „Quaecunque sub perceptionem nostram cadunt, vel tanquam res, rerumve affectiones quasdam, consideramus; vel tanquam aeternas veritates, nullam existentiam extra cogitationem nostram habentes."1 Wir können die affectiones rerum beiseite lassen und erhalten dann die erste grundlegende Seinsunterscheidung in die res und die aeternae veritates, in die Dinge also und in die ewigen Wahrheiten. Hier entsprechen die res der aristotelischen Substanz und zwar der Substanz im Sinne der ersten Ousia. Die veritates aeternae entsprechen der platonischen Idee und der aristotelischen zweiten Ousia. Die Dinge sind es, die alle Realität fundieren und ausmachen. Von den ewigen Wahrheiten sagt Descartes ausdrücklich, daß sie nur in unserem Denken existieren: nullam existentiam extra cogitationem nostram habentes. Dies klingt sehr viel nominalistischer als es gemeint ist. Es muß im Zusammenhang gelesen werden, denn auch für Descartes sind die ewigen Wahrheiten die Gedanken Gottes.2 Sie hängen also über die Deutung Augustins hinweg eng mit den Ideen Platons zusammen. Der Begriff der res deckt sich für Descartes mit dem Begriff der Substanz. Descartes kann daher terminologisch zwischen res und substantia wechseln, wenn er im allgemeinen auch den Terminus ,resf vorzieht. Für das Sein der res unterscheidet er drei Weisen: Gott, die res cogitans, die res extensa. Den Begriff der Substanz definiert Descartes in den Prindpia: „Per substantiam nihil aliud intelligere possumus, quam rem quae ita existit, ut nulla alia re indigeat ad existendum."3 In diesem strengen Sinne kann freilich allein Gott eine Substanz genannt werden. Eine geschaffene Substanz dagegen muß als eine solche betrachtet werden, die des Beistands Gottes zu ihrer Existenz bedarf. „Possunt autem substantia corporea et mens, sive substantia cogitans creata, sub hoc communi conceptu intelligi, quod sint res,
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quae solo Dei concursu egent ad existendum."4 Dies bedeutet also, daß die Existenz und dementsprechend auch das Sein nicht in demselben Sinne von Gott und von den geschaffenen Substanzen ausgesagt werden kann: „Atque ideo. .non convenit Deo et illis univoce, ut dici solet in Scholis, hoc est, nulla ejus nominis significatio potest distincte intelligi, quae Deo et creaturis sit communis."5 In diesen Thesen, daß die Einzelwesen das eigentliche Sein darstellen und daß das Sein kein univoker Begriff ist, schließt sich Descartes unmittelbar an die aristotelisch-thomistische Tradition an. Für uns kommt es vor allen Dingen auf die res creata an. Descartes nennt sie sowohl res als auch substantia, er spricht sowohl von der res cogitans als auch von der substantia cogitans und dementsprechend sowohl von der res corporea als auch von der substantia corporea.8 Jede dieser beiden Substanzen ist durch ihre Wesensbestimmung charakterisiert, die res cogitans durch die cogitatio, die res corporea durch die extensio.7 Das für uns Entscheidende ist, daß hier die res extensa, also das rein materielle Ding, als res und also als substantia verstanden wird. Es ist also ein im strikten Sinne Wirkliches und ein im strikten Sinne Seiendes. Es ist der materielle Körper, von dem gesagt wird, daß er für sich selbständig existieren kann und daß er keines Anderen zu seiner Existenz bedarf als des Beistandes Gottes. Nun liegt zwar schon in der Atomistik der Alten ein ähnlicher Ansatz vor. Für Demokrit und in seiner Nachfolge für Lukrez ist das Atom, das materielle Ding die eigentliche Wirklichkeit und das eigentliche Sein. Aber im Grunde genommen lag den Alten diese Einstellung fern. Für Aristoteles, wir sahen dies bereits, sind zwar die Elemente, die Erde, das Wasser, die Luft und das Feuer Substanzen, aber sie sind Substanzen, weil sie lebendig sind, und lebendig sind also auch die materiellen Körper, die aus ihnen zusammengesetzt sind, etwa das Holz oder .der Marmor. Descartes dagegen spricht das eigentliche Sein auch dem rein materiellen Körper in seiner reinen Materialität zu, und diesem Körper, der res extensa, kommt kein Denken, aber auch kein Leben zu. Man rechnet Descartes zu den großen Begründern der Neuzeit, und man tut dies mit Recht wegen der Bedeutung, die er dem Subjekt beigemessen hat. Aber es ist ebenso entscheidend für die Neuzeit, wenn
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Descartes auch dem rein materiellen Ding Substantialität und damit eigentliches Sein zuspricht. Erwägt man die Bedeutung von Descartes für die Neuzeit, dann muß man freilich bedenken, daß diese cartesisdie These keineswegs allgemein anerkannt worden ist. Zu Beginn der Neuzeit hat ihr Leibniz und in unserer Zeit haben ihr Heidegger und Whitehead entschieden widersprochen. Allerdings geht der Widerspruch auf verschiedene Momente des cartesischen Ansatzes. Dabei wenden sich Leibniz8 und Whitehead in erster Linie gegen die Interpretation der res extensa als Substanz und als eigentliches Sein. Insbesondere macht Whitehead geltend, daß der rein materielle Körper als solcher nur eine Abstraktion, nur eine Idealisierung darstellt.' Der rein materielle Körper ist zwar eine Abstraktion von höchster Bedeutung, aber er ist doch nur eine Abstraktion und keine Realität, geschweige denn, daß er die eigentliche Realität darstelle. Heidegger dagegen wendet sich in erster Linie gegen die res cogitans. Er geht dabei davon aus,10 daß der im Begriff der res cogitans enthaltene Begriff der res als solcher von der res extensa hergenommen ist. Wenn dem so ist, dann bedeutet allerdings die Interpretation des Menschen als einer res cogitans, daß der Mensch von der res extensa und daß also letzten Endes der Mensch von den materiellen Dingen her verstanden wird. Für diese Einwände gibt es gute Gründe, und es scheint also doch bedenklich zu sein, die Philosophie von Descartes ohne weiteres als den eigentlichen Ausdruck der Neuzeit zu betrachten. $ 14: Leibniz Der Seinsentwurf von Leibniz muß als eine Synthese von Platon und Aristoteles verstanden werden. Dies würde der durchgängig verbindenden und vermittelnden Grundhaltung von Leibniz gut entsprechen, steht aber in einem gewissen Gegensatz zu der Art und Weise, wie Leibniz sich selbst versteht. Leibniz selbst versteht sich grundsätzlich als Platoniker.1 Dabei ist bei ihm die Stärke des aristotelischen Momentes gar nicht zu übersehen. Es besteht darin, daß die Monaden, also die Einzelwesen, das eigentliche Sein darstellen.* Das platonische Moment, das Leibniz vorwiegend in der augustinischen Form zugekommen ist, liegt in der Auffassung aller Begriffe und der
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daraus resultierenden Wahrheiten als Ideen, die Ideen wiederum verstanden als die Gedanken Gottes. Das aristotelische Moment dürfte Leibniz schon sehr früh von seinem Lehrer übernommen haben, und es scheint uns auch in den frühen Schriften stärker hervorzutreten.3 So sagt Leibniz in der Dissertatio de stylo philosophico Nizolii: „Nam concreta vere res sunt, abstracta non sunt res sed rerum modi, modi autem nihil aliud sunt quam relationes rei ad intellectum, seu apparendi facultates."* In dieser These, daß nur die concreta wirkliche Realität haben, die abstracta aber nicht, ist der aristotelische Grundansatz vielleicht schärfer ausgesprochen als Aristoteles selbst ihn jemals ausgesprochen hat. Schritt für Schritt gewinnt Leibniz in der Ausbildung der Monadenlehre seinen eignen philosophischen Standpunkt. Der Prototyp einer Monade bin ich selbst als eine Person.5 Gott ist eine Monade, wenn auch eine Monade sui generis." In der unendlichen Reihe der Monaden stehen über dem Menschen höhere Wesen, vielleicht auch auf anderen Sternen.7 Unter dem Menschen stehen wiederum in einer unendlichen Reihe der Monaden die Tiere und die Pflanzen.8 Sie sind sehr viel einfachere Wesen, sehr viel einfachere Monaden als der Mensch. Sie haben nur die perceptio, und es fehlt ihnen also die apperceptio des Menschen und damit die Erkenntnis der ewigen Wahrheiten.9 Mögen sie auch viel einfachere Wesen sein als der Mensch, so sind sie doch insgesamt Lebewesen. Als Lebewesen sind sie grundsätzlich so etwas wie ich selbst, als Lebewesen sind sie durch die Grundbestimmungen aller Monaden, durch perceptio und appetitus10, mit dem Menschen und also auch mit mir verbunden. Die Monadenwelt enthält in einer Reihe ohne Ende immer einfachere Monaden. Wie weit dies wirklich geht und wie Leibniz sich dies anschaulich vorgestellt hat, ist nicht leicht zu sagen. Vermutlich gibt es keine einfachste, keine primitivste Monade, vermutlich gibt es unter jeder noch so einfachen Monade eine noch einfachere. Hegel scheint dies so aufzufassen, daß Leibniz die Kristalle, die Salze und ähnliche Naturdinge als Monaden betrachtet habe.11 Mir scheint aber, daß Leibniz den Begriff der Monade auf das Lebendige beschränkt. Dann müßten die Kristalle entweder als etwas Lebendiges betrachtet werden, oder sie wären keine Monaden, sondern sie gehörten zum phänomenalen Bereich der materiellen Natur.
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Auf dem Boden der Monadenlehre kann Leibniz seine grundlegende Seinsbestimmung schärfer formulieren. So schreibt er gegen Ende seines Lebens im Jahre 1716 an Dangicourt: „Les veritables substances ne sont que les substances simples ou ce que j'appelle Monades. Et je crois qu'il n'ya que de monades dans la nature, le rest n'^tant que les phenomenes qui en resultent."12 Dieser Seinsentwurf kennt also die Monaden und die Phänomene, und es kommt in ihm auf die Bestimmung der Phänomene an. Was umfaßt der Begriff des Phänomens und wie sind die Phänomene seinsmäßig zu bestimmen? Zu den Phänomenen gehören alle Relationen. Dabei subsumiert Leibniz auch die Kategorien der Qualität und der Quantität unter die Kategorie der Relation, hier zuerst die sekundären Qualitäten und nach einigem Zögern auch die primären Qualitäten.1* In den phänomenalen Bereich gehören auch der Raum und die Zeit.11 Ebenso gehören hierhin die Begriffe und die Gesetze der Arithmetik, der Geometrie und der Physik; es handelt sich hier überall .um Relationen und Relationssysteme. Die ontologische Bestimmung erfolgt zunächst auf Grund einer strikten Disjunktion. Die Monade ist das ens reale, das Phänomen ist das ens mentale. Die ausdrückliche Formulierung findet sich in einem Brief an Des Bosses: „... sed relationem communem utrique esse rem mere mentalem .. ,".15 Aber diesen strikten Bezug aller Relationen und damit aller Phänomene auf das Denken finden wir auch an vielen anderen Stellen, beispielsweise in den Nouveaux Essais.1* Dieser Seinsentwurf ist im strengen Sinne dichotomisch, und er ist also in einer gewissen Hinsicht eine Zweiweltentheorie. In einer solchen Zweiweltentheorie findet Leibniz seine besondere Übereinstimmung mit Platon.17 Diese Übereinstimmung geht freilich keineswegs so weit, wie Leibniz dies selbst geglaubt haben mag. Das Wirkliche, das dem phänomenalen Sein zugrunde liegende Reale sind für Platon die Ideen, für Leibniz jedoch die Monaden, also die Einzelwesen. Hier ist ein Unterschied, der mir größer zu sein scheint als er Leibniz selbst erschienen ist. Diesen dichotomischen Seinsentwurf, der einer Zweiweltentheorie so nahesteht, modifiziert Leibniz später, indem er Zwischenstufen einführt.18 Diese spätere Modifizierung ist nicht vollständig durchgeführt, und sie ist deshalb auch nicht leicht zu durchschauen. Der Grund für die Modifizierung dürfte darin liegen, daß die vis activa,
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die wir heute als Energie bezeichnen, für Leibniz immer wichtiger geworden ist." Die vis activa, die Energie also, findet im dichotomisdien Seinsentwurf keinen rechten Platz. Sie ist gewiß keine Monade. Aber Leibniz zögert mit Recht, sie der bloßen phänomenalen Welt der reinen Relationen zuzurechnen. Die Lösung sucht Leibniz in der Richtung, daß er den Begriff des phänomenon bene fundatum weiter ausbildet.10 In der konsequenten Durchführung dieser Modifizierung müßte es zu einer kontinuierlichen Reihe von unendlich vielen Seinsweisen kommen. Dafür finden sich auch Andeutungen. Leibniz war immer der Kontinuität zugeneigt. Die Realität der Monaden ist in einer kontinuierlichen Reihe unendlich gestuft. Es muß aber dahingestellt bleiben, ob eine solche extreme Vorstellung von unendlich vielen Seinsweisen an sich möglich ist und ob Leibniz selbst sie wirklich gewollt hat. 5 1%: Kant Die für uns wichtigste Bestimmung des Kantischen Seinsentwurfes ist die Unterscheidung zwischen Erscheinung und Ding an sich, zwischen dem Phaenomenon und dem Noumenon, zwischen dem mundus sensibilis und dem mundus intelligibilis. Diese Unterscheidung ist mit allen historischen und systematischen Schwierigkeiten der Interpretation verbunden. Man sollte erwarten, daß die geschichtlichen Voraussetzungen dieser Seinsunterscheidung bei Platon liegen. Indessen scheint eine unmittelbare Auseinandersetzung nicht mit den Texten Platons, sondern mit denen von Leibniz stattgefunden zu haben. Der Zusammenhang mit Leibniz wird besonders deutlich, wenn Kant von der Phänomenalität des Raumes und der Zeit handelt. Man müßte dann freilich im Auge behalten, daß Leibniz selbst ausdrücklich auf Platon zurückweist, und vielleicht hat Kant damit den Zusammenhang für ausreichend gekennzeichnet gehalten. In der Kritik der reinen Vernunft handelt Kant am Schluß der transzendentalen Analytik über das Problem der Seinsunterscheidung. Das dritte Hauptstück des zweiten Buches trägt die Überschrift: Von dem Grunde der Unterscheidung aller Gegenstände überhaupt in PhaenomenaundNoumena. In dieser Untersuchung unterscheidet Kant zwischen einem Noumenon im negativen und einem Noumenon im positiven Verstande: „Wenn wir unter Noumenon ein Ding verstehen. 4 Martin, Metaphysik
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Kap. 2: Die großen Seinsentwürfe
s o f e r n es n i c h t O b j e c t u n s e r e r s i n n l i c h e n A n s c h a u u n g ist, indem wir von unserer Anschauungsart desselben abstrahiren, so ist dieses ein Noumenon im n e g a t i v e n Verstande. Verstehen wir aber darunter ein Object einer n i c h t s i n n l i c h e n Anschauung, so nehmen wir eine besondere Anschauungsart an, nämlich die intellectuelle, die aber nicht die unsrige ist, von welcher wir auch die Möglichkeit nicht einsehen können, und das wäre das Noumenon in p o s i t i v e r Bedeutung."1 In dieser Definition liegt aller Nachdruck auf dem Noumenon in negativer Bedeutung. Eine der fundamentalen Fragen der Kantinterpretation geht nun dahin, ob auch im Ganzen der Kantischen Philosophie nur das Noumenon in negativer Bedeutung gewollt ist oder ob Kant selbst zum Noumenon in positiver Bedeutung fortgeschritten ist. Dazu findet sich in der Kritik der praktischen Vernunft eine ausdrückliche Untersuchung. Sie steht dort als der zweite Anhang zum ersten Hauptstück der Analytik der reinen praktischen Vernunft und trägt den Titel: Von der Befugnis der reinen Vernunft im praktischen Gebrauche zu einer Erweiterung, die ihr im speculativen für sich nicht möglich ist. — Kant legt hier dar, daß die grundlegenden Ergebnisse der Kritik der reinen Vernunft von der Unterscheidung zwischen Ding an sich und Erscheinung abhängen. Er stellt das Problem der Kausalität in den Vordergrund. Es ist das Ergebnis der transzendentalen Analytik, daß die Kausalität nur auf Erscheinungen angewandt werden kann und daß nur dafür ihre Gültigkeit a priori bewiesen werden kann. So kann Kant also die Frage stellen: „Aber wie wird es mit der Anwendung dieser Kategorie der Causalität... auf Dinge, die nicht Gegenstände möglicher Erfahrung sind, sondern über dieser ihre Grenze hinaus liegen?"2 Diese Frage führt auf das Noumenon' und insbesondere auf die causa noumenon.4 Darf man eine causa noumenon, die ein Noumenon in positiver Bedeutung ist, zulassen? Kant bejaht diese Frage und sagt abschließend vom Begriff einer empirisch unbedingten Kausalität: „... so habe ich zwar keine Anschauung, die ihm seine objektive theoretische Realität bestimmte, aber er hat nichts desto weniger wirkliche Anwendung, die sich in concreto in Gesinnungen oder Maximen darstellen läßt, d. i. praktische Realität, die angegeben werden kann; welches denn zu seiner Berechtigung selbst in Absicht auf Noumenen hinreichend ist".5 Kant schlägt zwei Brücken zur Behandlung des
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Themas in der Kritik der reinen Vernunft. Einmal sagt er, die Kritik der reinen Vernunft habe die Möglichkeit des Noumenon, also auch des Noumenon in positiver Bedeutung, nachgewiesen, indem sie gezeigt habe, daß dieser Begriff widerspruchsfrei, also möglich ist." Zum anderen geht auch die Behandlung des Noumenon in der Kritik der praktischen Vernunft nicht über einen solchen Begriff der Möglichkeit hinaus.7 In diesem Zusammenhang wäre zu fragen, ob nicht der Gebrauch des Begriffs des Noumenon in der Dialektik, insbesondere in der Auflösung der vierten Antinomie, bereits eine Erweiterung enthält, wie sie dann in der Kritik der praktischen Vernunft ausdrücklich gelehrt wird.8 Diese Unterscheidung zwischen Ding an sich und Erscheinung, zwischen Noumenon und Phaenomenon ist eine der Hauptschwierigkeiten derKantinterpretation. Schon bald nach dem Erscheinen der Kritik der reinen Vernunft hat Jacobi diese Schwierigkeit sichtbar gemacht, indem er sagte: „ ... daß ich o h n e jene Voraussetzung in das System nicht hineinkommen und mit jener Voraussetzung darin nicht bleiben konnte".' Wir werden die Schwierigkeiten der Unterscheidung zwischen Erscheinung und Ding an sich im elften Kapitel ausführlich zu diskutieren haben, wir hoffen zeigen zu können, daß es sich um eine genuine Kantische Lehre handelt, die einer einsichtigen Interpretation fähig ist.
§ 16: Nicolai Hartmann In der Rückwendung der deutschen Philosophie zur Ontologie hat Nicolai Hartmann eine große Bedeutung. Hartmann kommt aus der Marburger Schule des Neukantianismus, die durch einen extremen Idealismus bestimmt war. Seine eigne Formulierung des Realismus muß wesentlich aus der polemischen Gegenstellung gegen diesen extremen Idealismus verstanden werden. Die grundsätzliche Position wird zunächst in den Grundzügen einer Metaphysik der Erkenntnis gegeben.1 Etwa fünfzehn Jahre später läßt Hartmann in mehreren Bänden eine systematische Ontologie erscheinen. Der erste Band, 1935 erschienen, trägt den Titel: Zur Grundlegung der Ontologie.2 1938 folgt die Darstellung der Modalprobleme unter dem Titel: Möglichkeit und Wirklichkeit.3 Schließlich
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erscheint 1940 als der dritte Band der Grundriß der allgemeinen Kategorienlehre unter dem Titel: Der Aufbau der realen Welt."' Der Seinsentwurf wird durch die Unterscheidung zwischen realem und idealem Sein begründet. Die thematische Behandlung des realen Seins findet sich im dritten Teil der Grundlegung unter dem Titel: Die Gegebenheit des realen Seins.5 Die Behandlung des idealen Seins folgt im vierten Teil unter dem Titel: Problem und Stellung des idealen Seins.* Reales Sein ist immer individuelles Sein. Hartmann sagt ausdrücklich: „Nun ist es klar, daß das, was ,vorkommt* und im Vorkommen reales Dasein hat, noch in einem anderen und eigentlicheren Sinne ,ist', als das, was nicht vorkommt."7 Insofern übernimmt Hartmann die aristotelische Grundeinstellung. Das Individuelle ist das im eigentlichen Sinne Seiende. Man darf aber das Seiende als Seiendes nicht auf das individuell Seiende beschränken, und dies tut Aristoteles ja auch nicht. Eine solche Beschränkung führt auf den Fehlgriff des Nominalismus, der dem Allgemeinen als dem nicht individuell Seienden überhaupt jedes Sein abstreiten will.8 Im idealen Sein unterscheidet Hartmann vier verschiedene Gebiete, das Mathematische, die Wesenheiten, das Logische und die Werte.9 Die Unterscheidung des realen und des idealen Seins erfolgt durch die Kategorialanalyse. Das reale und das ideale Sein werden durch verschiedene Kategorien auf verschiedene Weise bestimmt, was man am deutlichsten bei den Modalbestimmungen sieht, was sich aber auch bei den eigentlichen Kategorien zeigen läßt.10 Hier nimmt Hartmann mit Recht in Anspruch, durch die ausdrückliche Herausstellung einer schon immer geübten Methode eine fundamentale philosophische Leistung errungen zu haben." Aus dieser Seinsunterscheidung ergeben sich zwei Fragen. Wie ist erstens das Verhältnis zwischen realem und idealem Sein zu bestimmen? Wie verhält es sich zweitens mit der Erkenntnis des realen und des idealen Seins? Das Verhältnis von realem und idealem Sein ist zunächst dadurch bestimmt, daß die beiden Seinswesen sich überschneiden. Es gibt ideales Sein, das über das reale Sein hinausragt. Hartmann verweist auf das mathematische Sein als Beispiel.12 Umgekehrt gibt es reales Sein, das nicht durch ideales Sein determiniert ist, das also über das ideale Sein hinausragt.18 Im Ganzen gewinnt man den Eindruck, daß
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bei Hartmann das reale Sein das eigentlichere Sein darstellt und daß das ideale Sein in einem freilich nicht genau bestimmten Sinne als das schwächere Sein angesehen wird.14 Erkenntnistheoretisch gilt für beide Seinswedsen, sowohl für das reale als auch für das ideale Sein, ein strenger Realismus. „Das Sein ist unabhängig vom Erkanntsein."15 Hartmann betont oft, daß dieser Grundsatz sowohl für das reale als auch für das ideale Sein gilt. Gleichwohl sollte man denken, daß diese strenge Formulierung des Realismus nicht das glücklichste Moment in der Ontologie Hartmanns sei. Die Formulierung erscheint verständlich als Gegensatz zum extremen Idealismus der Marburger Schule. Man vermißt aber in der dogmatischen Formulierung jedes aporetische Moment. Hartmann hat in vielen Problemen die Bedeutung der Aporetik klarerkannt. Möglicherweise wäre es ein großer Gewinn für die Ontologie Hanmanns gewesen, wenn er die strenge Dogmatik der Realismusthese durch aporetische Momente aufgelockert hätte.1' $ 17: Heidegger Für unsere Erwägung des Seinsentwurfs von Heidegger steht das 1926 erschienene Hauptwerk Sein und Zeit im Vordergrund. Zwar ist bis jetzt nur der erste Teil erschienen. Heidegger hat aber darin den Aufriß des gesamten Werkes bereits vorgelegt. Nach diesem Aufriß soll der zweite Teil die „Grundzüge einer phänomenologischen Destruktion der Geschichte der Ontologie am Leitfaden der Problematik der Temporalität" bringen. Dieser zweite Teil soll in drei Abschnitten die Auseinandersetzung mit Kant, Descartes und Aristoteles enthalten.1 Dabei darf das 1929 erschienene Werk Kant und das Problem der Metaphysik vermutlich in gewissem Sinne für den betreffenden Abschnitt des zweiten Teiles stehen, die versprochenen Auseinandersetzungen mit Descartes und Aristoteles fehlen uns noch. Doch gibt die im ersten Teil vorgelegte Auseinandersetzung mit Descartes2 wenigstens die Richtung an, in der die Durchführung im zweiten Teil geplant war. In der Rückwendung der deutschen Philosophie zur Ontologie stellt Sein und Zeit einen der wichtigsten Schritte dar. Heidegger selbst versteht dies Werk als eine Fundamentalontologie.8 Dabei ist es allerdings fast unmöglich, klar herauszustellen, welcher Seinsentwurf diesem
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Werk zugrunde liegt. Zwar stammt der Terminus »SeinsentwurP aus Sein und Zeit*; der diesem Werk selbst zugrunde liegende Seinsentwurf jedoch bleibt weitgehend im Dunkeln. Dies liegt nicht zum wenigsten daran, daß in diesem Werk die Reflexion auf die Methode weitgehend unzureichend ist. Die Methode ist die phänomenologische, und Heidegger sagt selbst: „Mit der leitenden Frage nach dem Sinn des Seins steht die Untersuchung bei der Fundamentalfrage der Philosophie überhaupt. Die Behandlungsart dieser Frage ist die p h ä n o m e n o l o g i s c h e . " 5 Hier wird also der Zusammenhang mit der phänomenologischen Methode Husserls festgestellt und festgehalten. Allein sowohl in der Durchführung der Untersuchung als auch in der besonderen Reflexion auf die Methode in § 7 zeigt sich deutlich, daß Heidegger die phänomenologische Methode Husserls keineswegs so übernehmen will, wie Husserl selbst sie gehandhabt hat.6 Wenn aber die phänomenologische Methode in einem anderen Sinne verstanden werden soll, wie soll sie dann verstanden werden? Heidegger selbst sagt: „Der Titel ,Phänomenologie' drückt eine Maxime aus, die also formuliert werden kann: ,Zu den Sachen selbst!'"7 Diese Formulierung ist durchaus unbefriedigend, und auch die nachfolgenden Untersuchungen über den Begriff des Phänomens, über den Begriff des Logos und über den Vorbegriff der Phänomenologie vermögen in der Frage nach der Methode nicht zu befriedigen.8 Heidegger scheint dies selbst gefühlt zu haben, denn er räumt im Anschluß an die Maxime „zu den Sachen selbst" ein, daß diese Maxime als eine Selbstverständlichkeit betrachtet werden könne." Aber auch diese Erklärung befriedigt nicht. Es bleibt das tiefe Unbehagen, daß die Wendung Heideggers etwa zum Dasein, zur Sorge, zur Zeitlichkeit als eine Wendung „zu den Sachen selbst" bezeichnet wird. Aber auch in der Durchführung der Untersuchung selbst ergibt sich keine Klarheit in bezug auf das methodische Problem. Heidegger wendet sich mit Nachdruck gegen den Begriff der ewigen Wahrheiten und sagt: „Daß es ,ewige Wahrheiten* gibt, wird erst dann zureichend bewiesen sein, wenn der Nachweis gelungen ist, daß in alle Ewigkeit Dasein war und sein wird. Solange dieser Beweis aussteht, bleibt der Satz eine phantastische Behauptung, die dadurch nicht an Rechtmäßigkeit gewinnt, daß sie von den Philosophen gemeinhin ,geglaubt*
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wird."10 Heidegger sagt kurz vorher ausdrücklich exemplifizierend: „Bevor die Gesetze Newtons entdeckt wurden, waren sie nicht ,wahrc; daraus folgt nicht, daß sie falsch waren, noch gar, daß sie, wenn ontisch keine Entdecktheit mehr möglich ist, falsch würden."" Diese These wird zwar mit großem Nachdruck vorgetragen, aber sie ist doch nur eine negative These. Man würde gern wissen, welche positive These sie impliziert. In welchem Sinne, so wird man fragen, sind die Newtonschen Gesetze an ihre Entdeckung durch Newton gebunden? Diese Frage liegt um so näher, als sie auch in bezug auf Heideggers eigne Aussagen gestellt werden kann. Heideggers Aussagen über das Sein des Daseins sind ihrem Sinn nach, ihrer methodischen Bedeutung nach und dem ausdrücklichen Anspruch Heideggers nach apriorische Aussagen und Wesensaussagen. Eine solche Aussage ist etwa die Bestimmung des Seins des Daseins als Sorge." Heidegger sagt ausdrücklich, daß das In-der-Welt-sein wesenhaft Sorge sei,13 und er betont ebenso ausdrücklich den apriorischen Charakter dieser Bestimmung." Wenn die Wahrheit der Newtonschen Gesetze von ihrer Entdeckung durch Newton abhängt, muß dann nicht auch die Wahrheit dieser exiistenzial-apriorischen Aussagen von ihrer Entdeckung durch Heidegger abhängen? In welchem Sinn aber eine solche Abhängigkeit verstanden werden könnte, und wie eine solche Abhängigkeit mit ihrer Apriorität sollte vereinbart werden können, darüber findet man in Sein und Zeit keine genaue Auskunft. So bleibt das Werk in bezug auf unsere Fragestellung primär eine philosophia negativa. Heidegger hat dies selbst zum Ausdruck gebracht, indem er die historische Aufgabe wesentlich als die Aufgabe einer Destruktion der Geschichte der Philosophie entwickelt," und indem er den bis jetzt noch nicht erschienenen zweiten Teil ganz unter diese Aufgabe einer Destruktion der Geschichte der Ontologie stellt. Wendet man diesen Gedankengang etwas positiver, dann kommt man zu einer Formulierung, wie Heidegger sie in der Auseinandersetzung mit Descartes gewählt hat, dann kommt man zu einer hermeneutischen Diskussion.1' Die Bedeutung dieser Hermeneutik ist groß, und mit Recht knüpft Heidegger hier an Platon und Aristoteles an. Zwar sind die wesentlichen Bestimmungen negativ, aber dies dürfte in den Problemen selbst begründet sein. Dies gilt zunächst von der Bestimmung des Menschen. Der Mensdi
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ist kein Ding, der Mensch ist keine Substanz.17 Hier knüpft Heidegger an Husserl18 und Sdieler" an und gibt dadurch dem Verständnis wichtige Hilfen. Allgemein sagt die zentrale These: ,Das Sein ist kein Seiendes'.20 Hier hätte Heidegger dem fragenden Leser eine gute Hilfe leisten können, wenn er auch in diesem Problem die Anknüpfung an die vorausgegangene Philosophie ausdrücklich vorgenommen hätte. In einer gewissen Weise hat er dies auch getan, wenn er auf Kants These verweist: „Sein ist kein reales Prädikat V1 Aber die weitere Anknüpfung an Aristoteles wäre eine große Hilfe gewesen. Man wird vermuten dürfen, daß die Grundthese: ,Das Sein ist kein Seiendes', in aristotelische Begrifflichkeit zurückübersetzt, lauten würde: Das Sein ist keine Ousia. Dann würde sie der Lehre des Aristoteles entsprechen, der sagt: „Wenn keiner der Allgemeinbegriffe eine Ousia sein kann, wie in den Untersuchungen über die Ousia und das Sein bereits gesagt ist, und auch das Sein keine Ousia sein kann als ein Einzelnes neben dem Vielen ...".** Wenn die Vermutung über diesen Zusammenhang richtig ist, dann würde die These: Das Sein ist kein Seiendes, durch den Rückgriff auf Aristoteles an Einsichtigkeit beträchtlich gewinnen. $ 18: Whitebeaä Die Metaphysik von Whitehead muß als eines der wichtigsten Ereignisse in der Philosophie unseres Jahrhunderts bezeichnet werden. Sie ist schwer verständlich, und das Ringen um ihre Interpretation beginnt erst jetzt. Eigenwillig ist schon der Gang des Lebens. Whitehead hat stets unter starken philosophischen Impulsen gelebt. Gleichwohl widmet er die frühen Jahre und die Höhe seines Lebens im wesentlichen der Physik, der Mathematik und der Logik. In Zusammenarbeit mit Bertrand Russell entwickelt Whitehead die Principia Matbematica und gibt damit das klassische Werk der Logik und Grundlagenforschung.1 In den späteren Jahren wendet sich Whitehead ganz der Philosophie zu. Metaphysik, von Platon her gesehen, wird jetzt zum Zentrum seines Denkens. Schon dieser Gang des Lebens bringt eine wichtige Entscheidung für das Verständnis der Metaphysik und für das Verständnis Platons. Man hört oft die These, die modernen Wissenschaften, insbesondere die mo-
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derne Physik, die moderne Mathematik und die moderne Logik habe endgültig gegen die Möglichkeit der Metaphysik und gegen die Möglichkeit der Philosophie Platons entschieden. Diese These mögen zwar viele behaupten und vielleicht sogar sehr temperamentvoll behaupten. Es kann aber keine Rede davon sein, daß die These erwiesen ist oder daß sie allgemein anerkannt ist. Der Hinweis auf Whitehead genügt, um die Dürftigkeit dieser These zu erkennen, und im deutschen Raum liegt es gewiß nahe, an Heinrich Scholz zu denken, der sich stets als einen entschiedenen Platoniker verstanden hat.2 Es ist mir mimer merkwürdig erschienen, mit welcher Leichtigkeit, um nicht zu sagen Leichtfertigkeit, auch in unseren Zeiten gerade Logiker und Wissenschaftstheoretiker immer wieder ihren eignen Standpunkt als den erwiesenen und als den allgemein anerkannten proklamieren. Man sollte doch denken, daß gerade dem Logiker und dem Wissenschaftstheoretiker Vorsicht und Behutsamkeit in diesen Fragen gut anstehe. Die für unsere Untersuchung fundamentale Unterscheidung von Whitehead ist die Unterscheidung zwischen actual entity und eternal objects.8 Das eternal object entspricht der Idee Platons, die actual entity dem Einzelwesen des Aristoteles. Wenden wir uns zunächst der actual entity zu, so betont Whitehead oft den Zusammenhang mit dem Aristotelischen Grundgedanken und seiner Weiterführung durch Leibniz. Das lebendige Einzelwesen im Sinne des Aristoteles ist offenbar der Prototyp der actual entity/ Dies gilt auch von der Weiterführung des Aristotelischen Grundgedankens in der Leibnizschen Monadenlehre.5 Im Anschluß an Aristoteles und an Leibniz bestimmt Whitehead die actual entity als ein Seiendes von unendlicher hoher Komplexion,8 als ein Seiendes, das in ständiger Bewegung ist,7 als ein Seiendes, das in der Bewegung mit jedem anderen zusammenhängt.8 Whitehead fixiert diesen Gedanken terminologisch als process, und er kann dann sagen, die actual entity ist kein Ding, sondern ein process.9 Von hier her kommt Whitehead in einen entschiedenen Gegensatz zu Descartes, und zwar sowohl zu dessen Begriff der res extensa als auch zum Begriff der res cogitans. Die res extensa ist überhaupt kein wirklich Seiendes, sondern nur ein, übrigens in vielen Richtungen brauchbarer, Idealbegriff.10 Die res cogitans, das denkende Einzelwesen, ist zwar ein Wirkliches, aber sie ist keine res, sie ist keine substantia, sie ist kein Ding.11 In
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dieser ontologisdien Auseinandersetzung mit Descartes zeigt sich ein bis jetzt wenig beachteter Zusammenhang zwischen Whitehead und Heidegger. Er zeigt sich nicht nur in der Polemik gegen Descartes, sondern auch in vielen positiven Momenten, insbesondere in der Würdigung der Zeit. Dieser sachliche Zusammenhang ist um so bemerkenswerter, als ein faktischer Zusammenhang, ein faktischer Einfluß eines der beiden Denker auf den anderen, soweit man weiß, nicht vorliegt. Der Zusammenhang mit Platon zeigt sich in der Lehre von den eternal objects, die Whitehead oft mit den Ideen schlechthin identifiziert. Zu den eternal objects gehört natürlich alles Mathematische, gehören aber auch die Qualitäten und unter ihnen auch die sekundären Qualitäten, wie etwa die Farben.12 In diesem Semsentwurf erhebt sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem eternal object und der actual entity, die alte Frage nach dem Verhältnis der Idee zu den Einzeldingen. An manchen Stellen spricht Whitehead von den two realms und spielt damit offenbar auf Platons Ausdruck von den zwei Weisen des Seins an. Er sagt beispielsweise: "It is the foundation of the metaphysical position which I am maintaining that the understanding of actuality requires a reference to ideality. The two realms are intrinsically inherent in the total metaphysical situation."1* In der Seinsbestimmung dieser beiden Bereiche entscheidet sich Whitehead für den Aristotelischen Grundsatz: "... the general Aristotelian principle ... that, apart from things that are actual, there is nothing—nothing either in fact or in efficacy".14 Wenn in diesem Sinne das Sein der aktualen Entitäten, und das hieße in der Terminologie dieser Untersuchung, das Sein der Einzelwesen das eigentliche Sein darstellt, was ist dann das Sein der eternal objects? An einigen Stellen findet man den Versuch Whiteheads, die beiden Seins weisen durch Actuality und Potentiality zu unterscheiden: "... The Type of Actuality, and The Type of Pure Potentiality. These types require each other, namely Actuality is the exemplification of Potentiality, and Potentiality is the characterization of Actuality, either in fact or in concept."15 Ivor Leclerc hat die hier auftretenden Probleme untersucht16; man gewinnt den Eindruck, daß bei Whitehead selbst eine endgültige Lösung nicht vorliegt. Dies hat wesentlich zu der dieser Untersuchung zugrunde liegenden Überzeugung beigetragen, daß
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in den fundamentalen ontologisdien Problemen apodiktische Lösungen nicht zu erreichen sind.
K a p i t e l 3: Das Einzelwesen und seine Bestimmungen
5 19: Die Substanz In der neueren Zeit ist der Begriff der Substanz oft angefochten worden. Ist dieser Begriff wirklich ganz unnütz? Dies hat bereits Locke gesagt.1 Leibniz hat ihm aber geantwortet, daß diese Skepsis zu weit gehe und daß man den Terminus der Substanz doch beibehalten solle.2 In der Tat kommt es auf die Bedeutung an, die man dem Terminus Substanz geben will, und bei einer vorsichtig abgewogenen Bedeutung scheint es ratsam, den terminologischen Zusammenhang mit der Geschichte der Philosophie nicht ohne Not abreißen zu lassen. Wir treffen zunächst eine sehr abstrakte Bedeutung von Substanz an, die besonders in der aristotelisch-scholastischen Philosophie entwickelt worden ist, und von der wir zunächst einmal dahingestellt sein lassen, ob sie wirklich der Intention des Aristoteles entspricht. Der Ausgangspunkt der aristotelisch-scholastischen Substanztheorie ist die Frage nach dem Verhältnis von Substanz und Akzidens. Dies Verhältnis wird von der Seite der Substanz als ein Subsistieren, von der Seite des Akzidens her als ein Inharieren bestimmt.3 Dabei liegen trotz der abstrakten Formulierung sehr anschauliche Vorstellungen zugrunde. Ein Stein wird als die Substanz gesehen, die die Wärme trägt, und die Wärme wird als ein Akzidens gesehen, das von dem Stein getragen wird. In ähnlicher Weise wird auch die Farbe verstanden. Ein farbiger Körper ist eine Substanz, die die Farbe trägt. Die Farbe ist ein Akzidens, das von diesem Körper getragen wird. Dann wird diese Vorstellung verallgemeinert zum Begriff des ultimum subsistens, des ultimum substratum. Die dabei auftretende Frage, wie der Unterschied zwischen Substanz und Akzidens zu verstehen sei, soll im nächsten Paragraphen diskutiert werden. Jetzt betrachten wir zunächst den Begriff der Substanz als solcher. Es ist die Frage, ob dieser Begriff des ultimum subsistens noch einen
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gewissen Inhalt hat, oder ob er ein völlig leerer Begriff ist, der erst durch die in irgendeiner Richtung vorzunehmende Konkretisierung Inhalt und Bedeutung erhält. Das zweite scheinen die meisten derjenigen gemeint zu haben, die sich mit dem Problem auseinandergesetzt haben, und dies scheint auch Aristoteles gemeint zu haben. Eine solche Konkretisierung liegt etwa bei Descartes vor. Die eigentliche Bestimmung der Substanz ist bei ihm nicht das ultimum subsistens, sondern das esse a se.4 Dies gilt freilich, wie wir sahen, im strengen Sinne nur von Gott. Die substantia creata ist ein ens a se in dem eingeschränkten Sinne, daß sie keines anderen als des göttlichen Beistandes bedarf. Dagegen ist das Akzidens — Descartes sagt oft ,modus* —, ein solches Sein, das grundsätzlich einer Substanz zu seinem Sein bedarf. Obwohl also diese Bestimmung der Substanz als des ens a se vom Substanz-Akzidens-Verhältnis her gesehen ist, so liegt doch eine Erweiterung des Begriffs des ultimum subsistens vor. Daß der abstrakte Begriff der Substanz als des ultimum subsistens leer ist und -daß dieser leere Begriff einer Konkretisierung bedarf, um überhaupt einer Anwendung fähig zu sein, dies hat in aller Form Kant gesagt. Seine Lehre vom Schematismus, die freilich anerkanntermaßen den schwierigsten und dunkelsten Teil der Kritik der reinen Vernunft ausmacht, ist die Ausführung dieses Gedankens. Die Kategorien als solche sind nach der Auffassung Kants leer, es ist eine hinzutretende zeitliche Bestimmung notwendig, damit sie anwendbar werden. Dies bedeutet für die Substanz, daß der Begriff des ultimum subsistens als solcher leer ist und daß die Begriffe des constans und des perdurabile hinzugefügt werden müssen. Erst durch diese Schematisierung erhält der Begriff der Substanz seine Anwendbarkeit. Kant sagt ausdrücklich: „So würde z. B. Substanz, wenn man die sinnliche Bestimmung der Beharrlichkeit wegließe, nichts weiter als ein Etwas bedeuten, das als ein Subject (ohne ein Prädicat von etwas anderem zu sein) gedacht werden kann. Aus dieser Vorstellung kann ich nun nichts machen, indem sie mir gar nicht anzeigt, welche Bestimmungen das Ding hat, welches als ein solches erstes Subject gelten soll".8 Verschärft die Schematisierung durch die Bestimmung der Beharrlichkeit der Kategorie der Substanz allererst eine anwendbare Bedeutung, so schränkt sie die schematisierte Kategorie aber zugleich auf die Erscheinungen ein und führt insofern auf den Begriff der substantia phaenomenon.*
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Diese Kantische Lehre von der schematisierten Substanz nimmt der Kategorie viel von ihrer alten Bedeutung. Zunächst hat die Substanz die Vorzugsstellung verloren, die Aristoteles ihr gegeben hatte. Sie ist nicht mehr die erste Kategorie, und sie gibt also auch nicht die primäre Bedeutung von Sein. Dies drückt sich dadurch aus, daß in der Kantischen Kategorientafel die Substanz unter die Kategoriengruppe der Relation subsumiert wird.7 Es gibt in der Kantischen Kategorientafel im eigentlichen Sinne überhaupt keine ausgezeichnete Kategorie. Man kann zwar in einem gewissen Sinne von einer Auszeichnung der Einheit sprechen, aber die Einheit, der 'diese Auszeichnung zukommt, ist nicht die Kategorie der Einheit, sondern ist die ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption,8 die Kant auch die transzendentale Einheit des Selbstbewußtseins nennt." Aus dem vorsichtigen Ansatz der Kantischen Lehre von der Substanz ergibt sich noch eine zweite Einschränkung. Kant bestimmt die schematisierte Substanz durch den Begriff der Beharrlichkeit. Nun ist zwar die materielle Substanz etwa im cartesischen Begriff der res extensa ein Beharrliches, aber nicht jedes Beharrliche muß deshalb eine materielle Substanz sein. Die Kantische Bestimmung fordert lediglich überhaupt ein Beharrliches, sie fordert lediglich, um auf einen bestimmten Bereich abzuheben, daß der physikalischen Erfassung der Welt mindestens eine konstante Größe zugrunde liegen muß. Über die besondere Art dieser konstanten Größe sagt Kant nichts. Kant selbst hat schon erwogen, daß beispielsweise der Begriff der Energie, die Energie als eine konstante Größe in der Welt genommen, der Forderung der Substanz genügen würde.10 Unter diesem Gesichtspunkt würde sich der Kantische Begriff der Substanz zwar weit von dem cartesischen entfernen, er würde aber den Zusammenhang mit den Bestimmungen von Aristoteles und Leibniz doch noch wahren. Aristoteles gibt, wie wir gesehen haben, in der Metaphysik eine Bedeutungsanalyse des Terminus Ousia.11 Er arbeitet zwei Hauptbedeutungen heraus, die er an anderer Stelle als die erste und die zweite Ousia unterscheidet.12 Die erste Ousia bezeichnet das Einzelwesen, die zweite das Allgemeine. Ich halte daran fest, daß das Einzelwesen die eigentliche Ousia ist. Zunächst läßt sich der Umkreis des unter die erste Ousia Fallenden deutlich erkennen.13 Wir können alles, was unter den aristote-
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Kap. 3: Das Einzelwesen und seine Bestimmungen
lisdien Begriff der ersten Substanz fällt, als Einzelwesen bezeichnen, und selbst die Bezeichnung als Lebewesen würde noch im Sinne des Aristoteles sein. Unter den näheren Bestimmungen der ersten Substanz findet sich zunächst die in der aristotelisch-thomistischen Tradition vorherrschend gewordene Bestimmung des ultimum subsistens bereits in der Bedeutungsanalyse der Metaphysik. Dort spricht Aristoteles von dem zugrunde liegenden Letzten, das nicht mehr von einem anderen ausgesagt werden kann.14 Es folgt dann die weitere Bestimmung des bleibenden Charakters der Substanz gegenüber dem wechselnden Charakter des Akzidens, also diejenige Bestimmung, die Kant als den Begriff des Beharrlichen in den Begriff der schematisierten Substanz aufgenommen hat. Aristoteles trifft diese Bestimmung an einer wichtigen Stelle der Metaphysik: Die Substanz bleibt, jede Veränderung betrifft nur ihre Eigenschaften.15 Die dritte Bestimmung, die mir die wichtigste zu sein scheint, behandelt Aristoteles in der Physik. Er grenzt zunächst das von Natur Seiende ab gegen alles, was einen anderen Ursprung hat, zum Beispiel gegen das von den Menschen Hergestellte. Der Umkreis ist der uns bekannte, die Tiere, ihre organischen Glieder, die Pflanzen und die Elemente. Aristoteles gibt dann die allgemeine Bestimmung: „Das in der Natur Seiende zeigt sich alles in der Weise, daß es in sich selbst den Ursprung des Beginns und des Endes einer Bewegung hat".16 Hier ist der Begriff der Bewegung sehr allgemein, er umfaßt nicht nur die Ortsveränderung, sondern auch Werden und Vergehen und auch die qualitativen Veränderungen. Aristoteles sagt dann noch einmal ausdrücklich, daß die hergestellten Dinge, er nennt als Beispiele das Bett und das Kleid, als solche keinen eigenen Ursprung der Bewegung haben. Aristoteles schließt diese Bestimmungen ab, indem er ausdrücklich sagt, daß alles dies Ousia ist." In dieser Bestimmung ist zunächst bemerkenswert, daß der Begriff des Ursprungs nicht nur auf den Anfang, sondern auch auf das Ende einer Bewegung bezogen wird. Dies ist allerdings echt griechisch. Alles Lebendige hat seine Größe, die zu seinen wesentlichen Eigenschaften gehört. Wenn es diese seine Größe erreicht hat, so wird es nicht mehr weiterwachsen. So kommt der griechischen Stadt eine bestimmte Größe
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zu, und wenn sie diese Größe erreicht hat, soll sie nicht mehr nach weiterer Vergrößerung streben. Ein prägnantes Beispiel für diese griechische Grundanschauung gibt die Elementenlehre des Aristoteles. Jedes Element hat seinen Ort. Die Erde gehört in die Mitte des Kosmos, ihr folgt das Wasser, dann die Luft, dann das Feuer. Jedes Element hat in sich selbst einen Antrieb nach seinem Ort. Hat es diesen seinen On erreicht, dann wird es dort in Ruhe verbleiben.18 Wir sehen freilich an der Aristotelischen Bestimmung in erster Linie den Beginn der Bewegung. Insofern knüpft die Aristotelische Bestimmung an die Bestimmung Platons im Sophistes19 an, und insofern führt sie hin zu der Grundbestimmung der Spontaneität. Von den hier sich ausbildenden dynamischen Vorstellungen her wird man auch den Begriff der Substanz bei Leibniz verstehen müssen. Es ist freilich verständlich, wenn Leibniz den Begriff der Substanz als Beispiel dafür nennt, daß die Metaphysik mit dunklen und schlechtdefinierten Begriffen arbeitet.20 Leibniz hält aber, wie wir dies bereits sahen, sowohl in der Auseinandersetzung mit Descartes21 als auch in der Auseinandersetzung mit Locke22 am Begriff der Substanz fest. Wir finden auch bei Leibniz die drei Aristotelischen Bestimmungen der Substanz. Leibniz nennt zunächst die Substanz des ultimum subjectum.28 Er betont weiterhin, daß die Substanz gegenüber den veränderlichen Akzidentien das Beharrliche darstellt.24 Schließlich betrachtet er in einer dritten Bestimmung die Substanz als dasjenige, was eine Kraft hat. Diese Bestimmung hat er in einem in den Acta Eruäitorum erschienenen Aufsatz allgemein zugänglich vorgetragen.24 In einem zweiten Aufsatz, der 1698 in derselben Zeitschrift erschien, versucht er, das schon 1694 Gesagte noch zu verschärfen: „quibus addi potest, quod alibi a me explicatum est, et si nondum fortasse satis perceptum omnibus, ipsam rerum substantiam in agendi patiendique vi consistere".26 Dies wird die eigentliche Bestimmung der Substanz, und so kann Leibniz in der Theodizee sagen: „Ce que n'agit point, ne m£rite point le nom de substance".27 Auf dem Boden der Monadenlehre heißt dies: nur die Monade ist eine Substanz. Leibniz trifft diese Bestimmung sofort im ersten Paragraphen der Monadologie,™ und diese Bestimmung bedeutet, daß nur das Individuum, daß nur das lebendige Einzelwesen eine Substanz ist.2*
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In diesen Bestimmungen steht Leibniz in Zusammenhang mit Platon und Aristoteles. Den Zusammenhang mit Platon hat Leibniz selbst betont.80 Er dürfte dabei an die Bestimmungen des Sophistes denken. Dort hatte Platon das Sein als Dynamis bestimmt,81 und dort hatte Platon ausdrücklich gefordert, daß alles wirklich Seiende ein Lebendiges sein muß." Daß die grundlegenden Bestimmungen der Monadenlehre mit Aristoteles eng zusammenhängen, ist offensichtlich. Von diesen Grundbestimmungen aus tritt Leibniz in einen entschiedenen Gegensatz zur Substanzlehre von Descartes, und man wird wohl annehmen können, daß die entscheidenden Einsichten der Monadenlehre aus der Auseinandersetzung mit Descartes herausgewachsen sind. Auf dem Boden dieser von Platon und Aristoteles her gedachten Grundbestimmungen der Substanz bei Leibniz kann die res extensa, die ausgedehnte bloße Materie schlechterdings keine Substanz sein. Wenn Descartes die res extensa als Substanz bestimmt, so hat er damit den Begriff der Substanz verkannt und viele Schwierigkeiten heraufbeschworen: „quorum causa fuit non intellecta substantiae natura in Universum ",83 Wenn Descartes die res extensa als Substanz versteht, dann sind offenbar zwei Wege möglich. Man kann darauf dringen, daß hier ein falscher Begriff der Substanz vorliegt, und man kann danach streben, daß dieser Begriff richtiggestellt wird. Diesen Weg sind Leibniz und Kant gegangen. Man kann aber auch diesen Begriff der cartesischen Verwendung überlassen, und man wird dann auf die Substanz überhaupt verzichten. Diesen Weg ist in gewisser Weise Heidegger gegangen, ganz entschieden jedoch Whitehead. In der Auseinandersetzung mit Descartes gibt Heidegger zunächst eine sorgsame Analyse des Textes. Heidegger fragt dabei primär nicht nach dem richtigen oder falschen Gebrauch des Begriffes der Substanz, sondern er wendet die Frage geschichtlich. Descartes hat die traditionellen Bestimmungen der Ontologie auf die mathematische Physik der Neuzeit und auf ihre transzendentalen Fundamente angewandt.84 Diese geschichtliche Auffassung klingt zunächst einleuchtend, ihre Richtigkeit muß aber dennoch zweifelhaft bleiben. Die Analyse des cartesischen Textes soll die Analyse der Frage als solcher und die Analyse der besonderen Frage nach dem Sein erhellen. Wohin muß ich blicken, wenn ich fragen will, was das Sein ist? Wir haben versucht,
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deutlich zu machen, daß Aristoteles auf das Lebendige blickt, wenn er nach dem Sein fragt. Descartes blickt auf den materiellen Körper, genauer gesagt, er blickt auch auf den materiellen Körper, und man sieht aus seinem Ergebnis, wie sehr der Bereich, der befragt wird, das Ergebnis bestimmt. Betrachte ich von vornherein den materiellen Körper im Sinne der Physik als das eigentlich Seiende, dann habe ich eine folgenreiche Vorentscheidung gefällt. In dem Ansatz von Descartes wird aber, wie Heidegger darlegt, eine Vorentscheidung deutlich über das Erkenntnisvermögen, durch das das eigentlich Seiende zugänglich wird: „ ... der einzige und echte Zugang zu diesem Seienden ist das Erkennen, die intellectio, und zwar im Sinne der mathematisch-physikalischen Erkenntnis" ,85 So erscheint in dieser Analyse der cartesische Gedankengang als der Grundgedanke der Neuzeit, freilich zugleich als der eigentliche Fehlgriff, insofern die Neuzeit die Möglichkeiten der mathematisch-physikalischen Erkenntnis zum obersten Erkenntniskriterium und zugleich zum obersten Seinskriterium gemacht hat. Man kann von hier aus verstehen, daß Heidegger den in dieser Weise bestimmten Begriff der Substanz weitgehend vermeidet. Fragt man positiv, was für Heidegger in Sein und Zeit das eigentlich Seiende ist, dann wird man gut tun, die Frage und die Antwort dieses Werkes in ihrem Zusammenhang mit Platon und Aristoteles zu erwägen. Als Leitsatz wird man einen Satz aus dem Beginn der positiven Interpretation ansehen dürfen: „ ... das Seiende, dessen Analyse zur Aufgabe steht, sind wir je selbst."" Dies ist gewiß kein Subjektivismus, im Gegenteil: das Mitsein mit den Anderen ist in diesem Werk konstitutiv. Aber das Sein der Anderen wird doch primär von mir aus verstanden. Ich selbst bin es, wohin ich blicken muß, wenn ich nach dem Sinn von Sein fragen will. Ich selbst bin das eigentlich Seiende, und alles, was so ist wie ich, das ist. Auch von hier aus wird verständlich, daß Heidegger den Terminus Substanz vermeidet. Ich selbst bin kein Ding, ich selbst bin keine Substanz, diese negativen Formulierungen erscheinen verständlich. Ebenso verständlich erscheint aber auch die positive Formulierung, die Heidegger gern wählt: Ich selbst bin Dasein.87 Bei aller Polemik gegen die vorangegangene Ontologie, und das heißt gegen Platon, gegen Aristoteles, gegen Leibniz, gegen Kant, und bei aller Destruktion der traditionellen Ontologie bedeutet dies doch eine Übereinstimmung in der Grundthese, daß das 5 Martin, Metaptyjik
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individuelle Lebewesen, in erster Linie das Ich selbst das eigentliche Seiende darstellt. Auch bei Whitehead finden wir einen entschiedenen Widerstand gegen den Begriff der Substanz, der auch hier von dem Widerstand gegen Descartes getragen wird. Die cartesische Metaphysik bedeutet für Whitehead eine bifurcation38 des Seins und damit eine Grundverfehlung. Whitehead sucht die Auseinandersetzung mit Descartes nicht so sehr in einer Analyse der ontologischen Fundamente wie Heidegger, sondern in einer Analyse des physikalischen Grundansatzes. Das Ergebnis ist dasselbe. Die Gegenstände der Physik und das dabei ins Spiel kommende Erkenntnisvermögen werden, so sagt Whitehead, absolut gesetzt, und dies will natürlich sagen, sie werden fälschlicherweise absolut gesetzt. In diesem Grundfehler des wissenschaftlichen Materialismus liegt nach der Überzeugung von Whitehead zugleich der Grundfehler von Descartes. Auch Whitehead geht also davon aus, daß der cartesische Begriff der Substanz in erster Linie von der substantia corporea her gesehen ist. Dann besteht stets die Gefahr, daß bei einem späteren Gebrauch des Terminus der cartesische Ansatz wieder auftaucht. Dies ist wohl der Grund, weshalb Whitehead auf den Terminus der Substanz so gut wie ganz verzichtet und weshalb er den Terminus ,actual entity' weitgehend an seine Stelle setzt. Zu dieser Auseinandersetzung erhebt sich die Frage, ob man überhaupt den alten Terminus der Substanz weiter brauchen soll. In diesem Begriff haben sich so viele Fehlgänge des Denkens niedergeschlagen, daß es verständlich wird, wenn Heidegger und Whitehead sich von diesem Terminus abwenden. Gleichwohl scheint mir die Stellungnahme von Leibniz den Vorzug zu verdienen. Auch Leibniz steht, wie wir sahen, gerade im Problem der Substanz in einem entschiedenen Gegensatz zu Descartes. Aber er will sowohl im systematischen Ansatz als auch in der Auseinandersetzung mit Locke an der Substanz als solcher festhalten. Löst man sich von der terminologischen Frage, dann zeigt sich das Gemeinsame. Für Aristoteles, für Leibniz, für Kant, für Heidegger und für Whitehead ist das individuelle Lebewesen das eigentlich Seiende. Im Gang dieses Denkens kommt immer schärfer heraus, was schon im Beginn angelegt war, daß Ich selbst der eigentliche Kern dieses
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Bereiches bin. In einem gewissen Sinne kann man sagen, daß Platon schon mit diesem Gedanken begonnen hat. Schon im Phaidon steht das denkende Wesen, das denkendeich in einem ursprünglichen Zusammenhang mit den Ideen. In einem vorsichtigen Sinne wird man also sagen können, daß für alle Philosophen das Lebendige das eigentlich Seiende ist und daß in einer sich immer klarer abzeichnenden Entwicklung das Ich selbst der Prototyp des Lebendigen und damit der Prototyp des eigentlich Seienden wird.
$ 20: Die Qualität Die ontologische Frage nach der Qualität ist die Frage nach der Realität der Qualität. Wenn die Geschichte dieser Frage auch fast nur aus Umwegen und Irrwegen besteht, so ist sie für das Verständnis der ontologischen Fragestellung als solcher doch höchst aufschlußreich. Wie ist die Realität einer Qualität zu verstehen? Es liegt nahe zu fragen, ob ein mythologisches Weltverständnis oder ein schlichtes Weltverständnis der Gegenwart hier bereits von bestimmten Vorstellungen geprägt ist. Blickt man etwa auf die Schönheit oder auf den Zorn, so wird man diese Frage bejahen müssen. Wenn im Märchen die gute Fee dem neugeborenen Mädchen die Schönheit als Geschenk in die Wiege legt, dann ist dies doch wohl keine Metapher. Die Schönheit wird vielmehr als etwas vorgestellt, das für sich als zusätzliche Gabe gegeben werden kann. Eine solche Vorstellung liegt wohl auch bei Homer zugrunde. In der Odyssee salbt Athene Penelopes Antlitz mit ambrosischer Schönheit „wie die, mit der Kythereia sich selbst salbt".1 Hier sind die Interpreten zwar verschiedener Meinung, und doch glaube ich, daß Passow recht hat, wenn er sagt: „Die Schönheit wird aber bei Homer als etwas für sich bestehendes Körperliches angesehen, das die Götter den Menschen wie ein Kleid an- und abthun können."1 In ähnlicher Weise wird meines Erachtens sowohl in der volkstümlichen Auffassung als auch im mythologischen Weltverständnis der Zorn vorgestellt. Viele sprachliche Ausdrücke sprechen dafür: der Zorn hat ihn gepackt, der Zorn ist in ihn gefahren, der Zorn hat ihn verlassen. Diese Ausdrücke sind keine blassen Metaphern. Es ist gemeint, was gesagt ist. Man wird annehmen müssen, daß hier der Zorn als
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ein Dämon oder als ein Kobold vorgestellt wird, der in den Menschen hineinfahren und wieder aus ihm herausfahren kann. Deshalb erscheint der Mensch, der vom Zorn besessen ist, im eigentlichen Sinne gar nicht mehr als er selbst. Was wird in der philosophischen Reflexion aus diesen Vorstellungen? Bei Platon meint die Ideenlehre ursprünglich und in ihrem primären Bereich Qualitäten in einem engeren oder weiteren Sinn. Von der großen Ideendreiheit: das Schöne, das Gute, das Gerechte, gilt dies ohne Zweifel. Dies gilt auch von den logisch-mathematischen Ideen, wie sich bei Platons Beispiel, dem Gleichen, ohne weiteres zeigt. Dagegen sind die Ideen der Gattungsbegriffe, etwa die Idee des Menschen, erst spät in den Blick Platons getreten. Damit überträgt sich also das Problem der Hypostasierung der Ideen und das Problem des Chorismos zwischen den Ideen und den Sinnendingen primär auf die Qualitäten. Daß im Phaidon die Schönheit selbst eine für sich bestehende Wirklichkeit sein soll, daran kann kein Zweifel sein. Aber wie soll hier das Schön-sein eines Menschen, eines Pferdes, eines Kleides verstanden werden? Dies läuft auf die Frage der Anteilhabe hinaus, hier auf die Anteilhabe der schönen Dinge an der Idee der Schönheit. Damit aber kommen wir, wie wir bereits gesehen haben und wie wir noch eingehend diskutieren müssen, in die Aporien der Ideenlehre. Wie immer aber auch für Platon die Realität der einzelnen Qualitäten, das Schönsein dieses schönen Pferdes, sich mag denken lassen, an der Realität der Idee der Schönheit selbst, also der Qualität selbst kann für Platon kein Zweifel sein. Noch schwieriger liegen die Dinge bei Aristoteles. Ist für Aristoteles eine Qualität eine selbständige Realität? Wenn sie es ist, was versteht Aristoteles in diesem Fall unter einer selbständigen Realität? Unter den aristotelischen Kategorien tritt auch die Kategorie des Habitus' auf, und als Beispiele für sie das Bekleidet-sein4, das Beschuhtsein6, das Bewaifnet-sein.8 Die Einreihung solcher Zustände unter die Kategorien und also unter die Akzidentien ist merkwürdig. Gewiß ist das Bewaifnet-sein nicht nur das Haben einer Waffe, sondern darüber hinaus noch ein Zustand der Sicherheit. Ebenso meint das Beschuht-sein und das Bekleidet-sein nicht nur das Haben von Schuhen und von Kleidern, sondern auch einen Zustand. Aber dieser Zustand beruht doch auf dem Haben von bestimmten Dingen, dem Haben von
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Waffen, Schuhen oder Kleidern. Wenn man von dieser Kategorie des Habitus auf die anderen akzidentellen Kategorien zurückschließen dürfte, dann wäre das Schön-sein ebenso ein Haben der Schönheit wie das Bewaffnet-sein das Haben von Waffen ist. Diese Fragen sind noch kaum untersucht. Es scheint, daß eine solche Realitätsthese im strikten Sinne von Aristoteles nicht ausdrücklich formuliert worden ist. Immerhin ist es nicht unmöglich, daß eine solche den volkstümlichen Anschauungen nahestehende Vorstellung bei Aristoteles noch mitspielen könnte. In der Scholastik des Mittelalters wird von den Realisten jede Kategorie als eine res bezeichnet.7 Daß dies für die Substanz gilt, darüber herrscht zwischen allen Richtungen des scholastischen Denkens Übereinstimmung; die substantia prima, das Einzelwesen, ist eine res. Die Differenzen beginnen bei der Frage, ob auch jede andere Kategorie als eine res zu verstehen sei. Dies hängt selbstverständlich von der Frage ab, welchen Sinn die These haben soll, daß jede Kategorie eine res darstellt. In welchem Sinne kann dann die Qualität, die Quantität, die Relation als eine res angesehen werden? Thomas von Aquin versteht unter der res einer akzidentellen Kategorie eine res addita.8 Occam baut dies zu der These aus, man müsse hier res als die res realiter distincta verstehen. Bei der Entscheidung über den Realitätscharakter der Akzidentien ist das Mittelalter durch das Transsubstantiationsproblem gebunden. Für eine Metaphysik, die im Mittelalter vorgetragen werden soll, ist es eine Notwendigkeit, daß die Transsubstantiation aus ihr ontologisch verständlich ist. Nun sind die Denker dieses Zeitalters zwar durch das Dogma der Transsubstantiation gebunden, aber das Dogma legt eine ontologische Interpretation nicht fest. Gegeben ist durch das Dogma die Verwandlung der Substanz des Brotes und des Weines in die Substanz des Leibes und des Blutes Christi, und gegeben ist phänomenal die unveränderte Erscheinung der Akzidentien des Brotes und des Weines. Die abstrakte ontologische Möglichkeit, die Akzidentien des Brotes und des Weines der Substanz des Leibes und des Blutes Christi inhärieren zu lassen, ist theologisch kaum akzeptabel. Die Annahme, die Akzidentien des Brotes und des Weines würden weiterhin den Substanzen des Brotes und des Weines inhärieren, ist mit dem Dogma schwer zu vereinen. Es bleibt also nur die Möglichkeit, daß die Akzi-
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dentien des Brotes und des Weines ohne subsistierende Substanzen existieren. Dies kann noch in verschiedener Weise gedacht werden. Man könnte annehmen, daß alle einzelnen Akzidentien schlechterdings für sich existieren. Man könnte annehmen, daß gewisse Fundierungsverhältnisse erhalten bleiben oder neu geschaffen werden. In dieser Richtung geht die Lehre des Aquinaten, der annimmt, daß nur ein Akzidens, nämlich die Quantität, der Substanz direkt inhäriert, während alle anderen Akzidentien ihrerseits wieder der Quantität inhärieren. Dies ist für Thomas die quantitas continua.9 Für die Transsubstantiation führt dies zu der Konsequenz, daß nur die quantitas continua ein accidens sine subjecto ist, während für alle anderen Akzidentien das normale Inhärieren in der quantitas continua unverändert erhalten bleibt. Das Existieren dieses accidens sine subjecto kann noch in verschiedener Weise vorgestellt werden. Man kann sich vorstellen, daß ein solches accidens sine subjecto in der Transsubstantiation durch göttlichen Eingriff den Charakter einer subsistierenden Substanz erhält. Man kann sich aber auch vorstellen, daß ein solches accidens sine subjecto schlechterdings als solches existiert. In diese und ähnliche Richtungen gehen die Erwägungen der Scholastik, ohne daß es für den einzelnen Denker immer zu einer abschließenden Lösung gekommen wäre. Auf jeden Fall muß die Scholastik mit Rücksicht auf das Problem der Transsubstantiation auf die Realität aller oder doch zum mindesten eines Akzidens großes Gewicht legen. Diese Realität muß so groß sein, daß Akzidentien entweder überhaupt oder zum mindesten durch göttlichen Eingriff ohne Substanz existieren können oder daß ihnen der Subsistenzcharakter der Substanz durch göttlichen Eingriff verliehen werden kann. Diese Problematik muß berücksichtigt werden, wenn Thomas jede Kategorie als res bestimmt" und wenn er den Sinn von res durch den Begriff der res addita weiter ausführt." Da Thomas aber unzweifelhaft gewisse Relationen als relationes rationis bestimmt, muß von da aus eine Einschränkung in Betracht gezogen werden. Bei Thomas liegt, soweit ich sehen kann, eine endgültige und abschließende Lösung nicht vor. Thematisch wird, wenn ich recht sehe, das Problem erst für Occam. Ihm geht es ausdrücklich darum, was das bedeuten soll, wenn ein accidens als eine res bestimmt wird. Allerdings ist, wie wir noch sehen werden, das Problem für Occam umfangsmäßig verändert. Occam be-
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streitet für fast alle Akzidentien den res-Charakter und erkennt ihn nur noch gewissen Qualitäten zu.12 Er kann damit noch die Transsubstantiation interpretieren, und diese Möglichkeit würde er verlieren, wenn er allen Akzidentien den res-Charakter absprechen würde. Occam kommt zu folgendem Ergebnis: Wenn man etwas als eine res bestimmt, dann betrachtet man sie als eine res realiter distincta. Occam wendet also hier den Begriff der res realiter distincta, beziehungsweise den Begriff der distinctio realis an. Dies ist ein Begriff, der für die scholastische Philosophie eine große Bedeutung hat, der aber seinerseits noch geklärt werden muß. Occam kommt zu dem Ergebnis, daß die distinctio realis ursprünglich von zwei Substanzen ausgesagt wird und daß also ihre Bedeutung von da her verstanden werden muß. Sagt man von einem Akzidens, es sei eine res, so sagt man nach Occam, daß dies Akzidens von seiner Substanz und von jedem anderen realen Akzidens durch eine distinctio realis verschieden ist, und dies heißt wiederum, daß es von ihnen grundsätzlich so verschieden ist wie eine Substanz von einer anderen Substanz. Eine Metaphysik, die in diesem Sinne jedes Akzidens als eine res bestimmt, könnte man als eine Bauklötzchentheorie betrachten. Die Substanz und alle ihre Akzidentien liegen gewissermaßen wie Bauklötzchen übereinander und nebeneinander. Es mögen wohl noch gewisse Fundierungsverhältnisse bestehen, wie wir sie beispielsweise bei Thomas angetroffen haben. Im Grunde genommen ist aber ein Akzidens etwas, das zu einer Substanz und den anderen Akzidentien als ein neues Wirkliches hinzukommt. Dies hat Thomas durch den Begriff der res addita mit großer Anschaulichkeit ausgedrückt. Diese scholastische Diskussion über den Sinn der Realität der Akzidentien ist methodisch von großer Bedeutung. Gleichwohl hat das Problem an Interesse verloren, weil der hier tragende Begriff der Qualität in der Entwicklung der Naturwissenschaften, insbesondere aber in der Entwicklung der Physik immer mehr an Bedeutung eingebüßt hat. Nun könnte man zwar die Zuständigkeit der Physik für diese Frage bestreiten wollen, man darf aber nicht vergessen, daß sowohl für Aristoteles als auch für die Scholastik die Qualitäten wesentlich in den Bereich der Physik gehören. Aristoteles bestimmt die Elemente durch die Begriffspaare warm-kalt und trocken-feucht." Auch die Farben sind von ihm immer zur Physik gerechnet worden.14 Da nun aber
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die Wärme und die Farbe von jeher die Musterbeispiele für die metaphysische Behandlung der Qualität und also der Akzidentien gewesen sind, kann die Metaphysik nicht daran vorbeigehen, wenn diese Begriffe durch die Entwicklung der Physik wichtige Veränderungen erfahren. Diese Veränderungen werden dadurch verursacht, daß die Physik der Neuzeit mit atomistischen Vorstellungen beginnt und daß atomistische Vorstellungen unentbehrliche Mittel des physikalischen Denkens geblieben sind. Atomistische Vorstellungen stehen aber gegen die selbständige Realität der Wärme und der Farbe, sie lassen überhaupt kaum Platz für eine selbständige Realität von Qualitäten. Dies zeigt sich schon in den Entwürfen der griechischen Atomistik. Hier gibt es in Wirklichkeit nur die Atome und den leeren Raum, die Atome aber sind gekennzeichnet durch ihre Größe, ihre Gestalt und ihre Bewegung." Hier kann also die Farbe keine reale Qualität mehr sein," und es ist allein noch die Frage, ob wenigstens Gestalt, Größe und Bewegung als reale Qualitäten und ob sie überhaupt als Qualitäten betrachtet werden können. Bei Descartes kann man allgemein sagen, daß das Problem der realen Qualität ganz zurückgetreten ist. Der alte atomistische Begriff der Größe der Atome erscheint hier als die extensio der res extensa. Descartes kennt aber keinen realen Unterschied zwischen der substantia als Substrat und der extensio als Qualität, ein solcher realer Unterschied möge im übrigen bestimmt werden wie man wolle. Die extensio ist vielmehr die unmittelbare Bestimmung der res extensa, sie ist das, was die res extensa wesentlich ausmacht.17 In dem atomistischen Aufbau der cartesischen Physik fehlt jede Möglichkeit, die Gestalt und die Bewegung der Atome als reale Qualitäten aufzufassen, und verständlicherweise gilt dies erst recht von der Wärme18 und von der Farbe.19 Nicht anders liegen die Dinge bei Newton. In seiner großen methodischen Vorsicht ist Newton sowohl auf eine atomistische als auch auf eine Kontinuumstheorie bedacht. Für unser Problem betrachten wir die newtonsche Mechanik in der Form der Mechanik der materiellen Massenpunkte.10 In dieser Mechanik gibt es Massenpunkte, die mit endlichen Abständen im leeren Raum verteilt sind und die jeweils mit einer bestimmten Masse begabt sind. Hier wird in einem Grenzprozeß der Begriff der Substanz zum Begriff des Massenpunktes idealisiert. Dabei geht von den alten Atombestimmungen der Begriff der
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Gestalt des Atoms überhaupt verloren, der Begriff der Größe geht über in den Begriff der Quantität der Materie, und es ist klar, daß hier die Masse nidit mehr eine von der Substanz real distinkte Qualität sein kann. Bemerkenswert ist, daß die Beharrlichkeit der Substanz in der Konstanz der Masse erhalten bleibt. Audi die dritte Bestimmung des Atoms, die Bewegung, gewinnt hier einen neuen Aspekt. In einem solchen System der Massenpunkte gibt es eine ganze Reihe von Bewegungsgrößen, von denen die anschaulichsten die Geschwindigkeit, die Beschleunigung und die kinetische Energie sind. Man kann sie, wenn man will, Qualitäten des Massenpunktes nennen, aber man kann sie nicht als real distinkte Qualitäten und schon gar nicht im Sinne des Bauklötzchenmodells interpretieren. Dagegen spricht zunächst ihr relativer Charakter. Dagegen spricht aber auch, daß aus den Bewegungsgleichungen sehr viele und sehr verschiedene solcher „Eigenschaften" herausgesondert werden können und auch herausgesondert worden sind.11 Es ist daher verständlich, daß Locke die schon oft erwogene Unterscheidung zwischen den primären und den sekundären Qualitäten in den Vordergrund gestellt hat." Die primären Qualitäten sind die alten atomistischen Bestimmungen: Größe, Gestalt und Bewegung. Alle anderen Qualitäten sind sekundäre Qualitäten. Nur die primären Qualitäten sind real, die sekundären Qualitäten sind auf die subjektive Wahrnehmung bezogen. Die alten Grundqualitäten, die Wärme und die Farbe, gehören zu den sekundären Qualitäten. Damit können sie nicht mehr als eine res verstanden werden. Die primären Qualitäten, die alten atomistischen Bestimmungen, haben sich nie in die res-Vorstellung gefügt; dies gilt schon von der Größe, dies gilt noch mehr von der Gestalt, und dies gilt schon ganz und gar von der Bewegung. Von hier aus wird es ebenfalls verständlich, daß man bei Leibniz und bei Kant von der alten ontologischen Bedeutung der Qualitäten kaum noch etwas finden kann. Für Leibniz reduzieren sich die Qualitäten auf die Bestimmungen der Monade, auf appetitus und perceptio." Diese Bestimmungen hat aber auch die alte Qualitätenlehre niemals als distinkte Qualitäten verstanden. Für Kant bleibt von der Kategorie der Qualität nur der Begriff der kontinuierlich veränderlichen Größe und damit nur ein geringer Rest der alten Qualitätsvorstellung.*Zi
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Whitehead hat zwar dem Problem der Qualitäten wieder eine etwas größere Bedeutung zugemessen, es geht ihm dabei aber offenbar nicht um die Realität im alten Sinne, sondern um die ideale Existenz. Das Rot ist für ihn ein eternal object.*5 Diese Entwicklung wird nicht zum wenigsten dadurch bestimmt, daß die Physik des neunzehnten Jahrhunderts die schon oft erwogene Bestimmung der Wärme als einer Bewegungsform dadurch zum Abschluß gebracht hat, daß sie die kinetische Gastheorie entwickelte. Damit ist ein alter Traum der Atomistik Wirklichkeit geworden. Für unser Jahrhundert kann man sagen, daß in bezug auf die Farbe dasselbe Ergebnis in greifbare Nähe gerückt ist. So wird es verständlich, daß für eine Ontologie, die dem Gang der Naturwissenschaften Rechnung tragen will, die Qualitäten ihre alte Bedeutung verloren haben. Dies bedeutet nicht, daß die Physik nicht immer wieder von Eigenschaften spricht und immer wieder sprechen wird. Aber dies sind nicht Qualitäten im Sinne der mittelalterlichen Metaphysik, es sind nicht Akzidentien, die von einer Substanz und die untereinander real verschieden sind. Es sind Relationen, und der Gegenstand der Physik gehört also kategorialanalytisch und ontologisch nicht unter die Qualität, sondern unter die Relationen. $21: Die Relation Das Relationsproblem ist eines der fundamentalen Probleme der Ontologie. Dies wird verständlich, wenn man erwägt, wie sehr hier logische, kategorialanalytische und ontologische Fragestellungen miteinander zusammenhängen. So stehen denn hier auch die Meinungen mit besonderer Schärfe einander gegenüber. Die eine Meinung geht dahin, daß alles wirkliche Sein in den Substanzen, in einem gewissen Sinne in ihren Qualitäten und Quantitäten beschlossen ist und daß die Relationen nur ein beiläufig Hinzukommendes darstellen. So wird man Descartes verstehen können. Ob er von der res cogitans oder von der res extensa spricht, immer spricht er von der Substanz und in einem gewissen Sinne von ihren Quantitäten und Qualitäten. Die Relationen sind für ihn offenbar ein nebensächlich Hinzukommendes. Auf der anderen Seite steht die kühne These, daß es nur die Rela-
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tionen gibt. Dies haben vielleicht, wie wir erwogen haben, die Pythagoreer sagen wollen. Betrachtet man die Zahlen als Relationen, dann geht die pythagoreische These in die allgemeine These über: Alles ist Relation. Wenigstens für gewisse Bereiche ist die These oft vertreten worden. Leibniz betrachtet die Natur als ein Relationsgefüge.1 Kant sagt ausdrücklich, daß die Natur aus nichts als aus lauter Verhältnissen bestehe.1 Es sind die Relationen selbst, die dem RelationsbegrifF diese große Spannweite geben und die damit die große Divergenz der Theorien nach sich ziehen. Man braucht dafür nur an die Verwandtschaftsbeziehungen zu denken. Sie reichen von den fundamentalen Beziehungen eines Menschen zu seinen Eltern, zu seinen Geschwistern oder zu seinen Kindern bis zu den lockersten Verwandtschaftsgraden. Die Einsicht in die Bedeutung des Relationsproblems wurde freilich nur mühsam erworben. Bei Platon hat die Relation nur eine geringe Bedeutung. Immerhin sind von den fünf obersten Gattungen des Sophistes zum mindesten zwei, die Identität und die Verschiedenheit, reine Relationen.3 Die Relation des Wissens zum Gewußten, die Relation der Idee zu den Sinnendingen führen auf fundamentale Probleme der Ideenlehre. Den allgemeinen Begriff der Relation hat Platon aber noch nicht gehabt, und so fehlt es auch noch an einem festen Terminus. Dies wird erst von Aristoteles erreicht. Zunächst formuliert er ausdrücklich einen Terminus.4 Der Terminus ist gegen die Umgangssprache gebildet und kann sich manchen späteren, ebenso mühsam gebildeten Termini der Philosophie in dieser Beziehung durchaus an die Seite stellen. Die Relation tritt als die vierte Kategorie auf, und sie wird sowohl im Organon als auch in der Metaphysik ausführlich behandelt. Gleichwohl hat man den Eindruck, daß die Relation für Aristoteles nicht dieselbe Bedeutung gehabt habe wie Substanz, Qualität und Quantität.5 An anderen Stellen glaubt man zu spüren, wie Aristoteles sich wohl bewußt gewesen sein mag, daß die Untersuchung der Relation weiter getrieben werden müsse als er selbst es getan hat. So mag Aristoteles die Möglichkeit einer Relationslogik gerade noch geahnt haben. Die Schwierigkeiten der Relationstheorie entstehen dadurch, daß so viele Momente ineinandergreifen. Was zunächst die Logik anbetrifft, so hat man schon früh gesehen, daß die Logik des Aristoteles sowohl in der Theorie des Satzes als auch in der Syllogistik fast ausschließlich das
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Verhältnis von Substanz und Qualität in Betracht zieht. Die logische These, daß jeder Satz durch Subjekt und Prädikat bestimmt ist, entspricht der ontologischen These, daß alles Sein durch Substanz und Qualität bestimmt ist. Dies erscheint besonders merkwürdig bei Leibniz. Mit großem Nachdruck behauptet er, daß jeder Satz die Form: Subjekt, Kopula, Prädikat haben muß.' Seine Lehre vom analytischen Urteil ist auf diese Voraussetzung gegründet.7 In seiner eignen logischen Arbeit ist aber Leibniz weit über diese Voraussetzung hinausgekommen. Er hat gesehen, daß eine auf das Verhältnis von Substanz und Qualität und also auf das Verhältnis von Subjekt und Prädikat gegründete Logik nicht ausreicht. Er hat vielmehr die Möglichkeit und die Notwendigkeit einer Logik der Relationen gesehen,8 und er hat selbst die ersten wichtigen Beiträge dafür geleistet. Neue Schwierigkeiten treten unter kategorialanalytischen Gesichtspunkten auf. Ich verstehe unter Kategorialanalyse die Untersuchung der Kategorien mit besonderer Berücksichtigung der Frage, welche Kategorien in einem bestimmten Bereich auftreten oder nicht auftreten." Betrachtet man die Mathematik kategorialanalytisch, so wäre, wenn man das aristotelische Schema der vier Kategorien zugrunde legt, die Mathematik durch die Quantität bestimmt, die Arithmetik durch die quantitas discreta und die Geometrie durch die quantitas continua. Freilich hat schon Aristoteles gesehen, daß dieser Ansatz zu einfach ist. Er erkannte die Bedeutung der allgemeinen Größenlehre.10 Die allgemeine Größenlehre überschreitet offenbar die Unterscheidung zwischen quantitas discreta und quantitas continua, und sie hat offenbar einen starken Relationscharakter. So wird es verständlich, daß das Bestreben auftritt, auf die Quantität als eine selbständige Kategorie zu verzichten und sie unter die Relation zu subsumieren. Occam hat dies zum mindesten in ontologischer Hinsicht durchgeführt," und bei Leibniz finden wir eine fast vollständige Durchführung sowohl in kategorialanalytischer als auch in ontologischer Hinsicht." Man wird sagen können, daß die Entwicklung diese Auffassung bestätigt hat und daß heute fast alle Sachkenner sich den Standpunkt von Leibniz zu eigen gemacht haben. Betrachtet man in der Arithmetik beispielsweise den Satz: 7 + 5 = 12, dann sieht man, daß er zunächst eine Gleichheit, also eine Relation darstellt. Auch die in der Gleichung auftretende Addition ist eine Relation. Es bleiben die in der
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Gleichung auftretenden natürlichen Zahlen. Platon hat sie als Ideen verstanden. Wie immer man sich zu dieser Bestimmung stellen mag, so bedeutet sie doch keine kategorialanalytisdie Entscheidung, denn unter den Ideen befinden sich auch ausgesprochene Relationen wie die Gleichheit im Phaidon13 und die Verschiedenheit im Sophistes.1* Die moderne Entwicklung der Logik und der Relationstheorie hat den Relationscharakter der Zahlen bestätigt.15 Auch in der Geometrie trifft man sofort auf Sätze, die offensichtlich Relationscharakter haben. So ist der Satz vom Schnittpunkt der drei Höhen eines Dreiecks offenbar ein Relationstheorem. Nicht anders liegt es beim Pythagoreischen Lehrsatz, der eine Gleichheit und also eine Relation aussagt. So kann man zusammenfassend sagen, daß die Mathematik eine Relationstheorie ist. Dies dürfte die Mathematik im wesentlichen charakterisieren, und dies dürfte die Meinung der meisten Sachkenner sein. Verfolgt man das Problem in die Physik, dann läßt schon die große Bedeutung der Mathematik für die Physik vermuten, daß sich der Relationscharakter der Mathematik auch auf die Physik überträgt. Betrachtet man die Physik unter kategorialanalytischen Gesichtspunkten, dann sieht man, daß die Physik ihre Ergebnisse in Gleichungen darstellt, die Relationen sind. Damit bestätigt sich der Standpunkt von Leibniz. Die Quantität verliert ihre kategoriale Selbständigkeit und geht auch hier in der Relation auf. Diese kategorialanalytische Spannweite der Relation macht ihre ontologische Problematik weit und schwierig. Zunächst muß man mindestens unterscheiden zwischen realen und bloß vorgestellten Relationen. Daß zum mindesten gewisse Relationen nur auf den Vorstellungen der Menschen beruhen, ist schon immer gesehen worden, und so ist die Unterscheidung zwischen relatio realis und relatio rationis schon alt. Ein altes Beispiel sind die Begriffe rechts und links. Sie hängen offenbar von demjenigen ab, der etwas als rechts und links bezeichnet. So wird es verständlich, daß wir sie als Beispiele für bloß vorgestellte Relationen schon bei Plotin finden18 und daß sie später immer wieder als Beispiele gebraucht worden sind. Aber es gibt auch Relationen, die offenbar nicht von dieser Art sind; das alte Beispiel sind die Verwandtschaftsbeziehungen, etwa Sokrates als Sohn des Sophroniskos. Es hat einen guten Sinn, wenn man solche
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Relationen real nennt, und das ontologische Problem besteht dann in der Frage, worin die Realität dieser realen Relationen besteht. Es liegt nahe, die Realität der realen Relationen von der Realität der Qualitäten her zu verstehen. Sie werden dann von dem Schema SubstanzQualität her verstanden. Dies wird schon durch die sprachliche Form nahegelegt. In dem Satz: ,Sokrates ist verschieden von Kebes', wird einem Subjekt ein Prädikat prädiziert, und dieser Satz hat sprachlich in gewisser Weise dieselbe Form wie der Satz: ,Sokrates ist tapfer*. In Wirklichkeit ist aber die Relation in das Prädikat hineingebaut. Die bessere sprachliche Form wäre unter diesem Gesichtspunkt: ,Sokrates und Kebes sind verschieden.' Bei dieser sprachlichen Form sieht man sofort, daß das Substanz-Qualitäts-Schema auf Schwierigkeiten stoßen muß. Läßt man sich von der ersten sprachlichen Form leiten und bestimmt man die Qualität als ein Akzidens im strengen Sinne, dann wird auch die Relation ein Akzidens im strengen Sinne, sie wird dann zu einer res. Man kann dafür die Verschiedenheit als Beispiel nehmen. Ist die Verschiedenheit eine reale Relation im Sinne der res-Auffassung, dann besteht diese Relation aus zwei realen Akzidentien: Sokrates hat das reale Akzidens: verschieden von Kebes, und Kebes hat das reale Akzidens: verschieden von Sokrates. Ob eine solche Seinsbestimmung der realen Relation als einer res bei Aristoteles vorliegt, erscheint zweifelhaft, ja sogar unwahrscheinlich. Aristoteles müßte dafür bereits die Qualität als reales Akzidens betrachtet haben, und schon dies ist nicht sicher auszumachen. Auch bei Thomas von Aquin ist die Seinsbestimmung der Relation nicht völlig durchsichtig. Die Meinungen der Interpreten stehen einander gegenüber. Manche Interpreten sagen, Thomas habe die reale Relation als ein Akzidens im strengen Sinne bestimmt." Andere Interpreten bestreiten dies, darunter ein so guter Thomaskenner wie Suarez.18 Eine ontologische Bestimmung der Relation als eines Akzidens im strengen Sinne stößt bald auf systematische Schwierigkeiten. Sie führt erstens zumindest bei gewissen Relationen auf einen regressus in infinitum, und sie schiebt zweitens das Problem lediglich zurück. Das Entstehen eines regressus in infinitum ist offensichtlich bei der Verschiedenheit. Betrachtet man in unserem Beispiel das Prädikat »verschieden von Kebes' als ein Akzidens im strengen Sinne und also als eine res, dann muß diese res ,verschieden von Kebes' ihrerseits wiederum
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verschieden sein sowohl von der Substanz des Sokrates als auch von allen anderen realen Akzidentien des Sokrates. Dies ist also eine neue Verschiedenheit, die ihrerseits wieder eine res sein muß, und so geht es ins Endlose fort. Aber selbst wenn man den regressus in infinitum durch irgendeine zusätzliche Bestimmung umgehen könnte, so käme es doch zu einer schwer verständlichen Seinsanhäufung. Sokrates müßte nicht nur das reale Akzidens verschieden von Kebes* haben, sondern auch das reale Akzidens verschieden von Simmias...', aber auch Verschieden von Kriton*. Er müßte gegen jedes andere Seiende und gegen jedes andere reale Akzidens jedes anderen Seienden das reale Akzidens verschieden von...' haben. Dies wäre schon unverständlich genug. Da nun aber die Substanzen und ihre Akzidentien in einem unaufhörlichen Fluß begriffen sind, so müßte diese unabsehbare Häufung der realen Verschiedenheiten in Sokrates in demselben unaufhörlichen Fluß befindlich sein. An alles dies ist natürlich gar nicht zu denken, und Occams razor" würde hier mehr als gute Dienste leisten. Es mögen solche Schwierigkeiten gewesen sein, die immer davon abgehalten haben, die Verschiedenheit als eine reale Relation zu bestimmen. Ebendieselben Schwierigkeiten mögen Thomas bewogen haben, die Identität" und die Verschiedenheit21 von der relatio rationis her zu bestimmen. Aber auch eine solche Bestimmung macht wieder Schwierigkeiten. Die Verschiedenheit ist doch offenbar eine Relation von anderer Realität als das Sich-mächtiger-Dünken eines Menschen gegenüber einem anderen Menschen. Duns Scotus hat das Problem dahin gelöst, daß er die durch das Transzendentalienproblem entstandene und im nächsten Paragraphen zu diskutierende Dreigliederung des Seins auch auf die Relationen überträgt. Er unterscheidet im ontologischen Sinne drei Arten der Relation: relatio realis, relatio transcendentalis und relatio rationis." Zu den transzendentalen Relationen rechnet Duns Scotus alle Relationen aus dem Bereich der Transzendentalien, er rechnet zu ihnen aber auch die Verschiedenheit. Die reale Relation betrachtet er als ein Akzidens im strengen Sinne.** Die transzendentale Relation ist eine reale Relation, hat aber nicht den res-Charakter eines strengen Akzidens.24 Dagegen hat Occam gefragt, ob es notwendig und ob es überhaupt möglich ist, zwei verschiedene Artender realen Relation zu unterscheiden.25 Wenn die transzendentale Relation eine reale Relation ist, dann liegt es doch nahe, alle realen
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Relationen als transzendental zu betrachten, und dies hat Occam dann auch getan." Eine Interpretation der Relation von der Qualität her muß von vornherein als bedenklich angesehen werden. Eine weitere Erwägung zeigt bald, daß eine solche Interpretation die Relation als solche überhaupt verfehlt, weil sie fundamentale Unterschiede zwischen der Qualität und der Relation verkennt. Faßt man eine Relation, etwa die Gleichheit zwischen A und B so auf, daß A das reale Akzidens ,gleich mit B' hat und daß B dementsprechend das reale Akzidens ,gleich mit A* hat, dann hat man nichts gewonnen, sondern das Problem nur hinausgeschoben. Die Gleichheit stellt einen Zusammenhang dar, und die Interpretation soll diesen Zusammenhang einsichtig machen. Statt dessen nimmt man zwei reale Akzidentien an, das eine in A und das andre in B, und dann steht man vor der Frage, wie sie zusammenhängen. Diese Erwägung führt zu der Einsicht, daß bereits die Relation als solche einen Zusammenhang, also eine Einheit einer Vielheit darstellt. Eine einzelne Relation ist also in einem gewissen Sinne bereits ein Allgemeines. Dies kommt schon in der Umgangssprache zum Ausdruck, wie wir bereits sahen. Man kann natürlich sagen: A ist gleich B und B ist gleich A. Man kann aber auch schon in der Umgangssprache sagen: A und B sind einander gleich, und diese Form des Ausdrucks trifft die spezifischen Probleme der Relation viel besser. Die hier vorliegenden Probleme hat bereits Leibniz mit einer Klarheit gesehen, die kaum übertreffen werden kann. Im fünften Schreiben an Clarke sagt er: „Das Verhältnis oder die Proportion zwischen zwei Linien L und M kann man sich auf drei Weisen vorstellen: als Verhältnis der größeren (L) zur kleineren (M), als Verhältnis der kleineren (M) zur größeren (L) oder endlich als etwas von beiden Losgelöstes, d. h. als das Verhältnis zwischen L und M, ohne dabei zu erwägen, welches Glied das Vorhergehende oder Folgende, das Subjekt oder Objekt ist... In der ersten Betrachtungsweise ist die größte Linie L, in der zweiten die kleinere M das Subjekt für dieses Accidens. Was aber wird in dem dritten Sinne sein Subjekt sein? Man kann nicht sagen, daß alle beide, L und M zusammengenommen, das Subjekt für ein solches Accidens bilden, denn dann hätten wir ein Accidens in zwei Subjekten, das also gleichsam mit einem Fuße im einen, mit dem anderen im anderen Subjekt stände, was mit dem Begriff des Accidens
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unvereinbar ist. Man muß demnach sagen, daß die Beziehung im dritten Sinne allerdings außerhalb der Subjekte ist, daß sie aber, da sie weder Substanz noch Accidens ist, etwas rein Ideales sein muß, dessen Betrachtung jedoch darum nicht minder fruchtbar ist."27 Leibniz macht seinen Gedankengang noch einmal deutlich, indem er auf die Tonverhältnisse in der Musik verweist, deren Beziehungscharakter auch gemeinhin deutlich gesehen wird. In der Tat kann man es nicht besser ausdrücken, daß die Interpretation der Relation vom Substanz-Akzidens-Verhältnis her, und das heißt also, vom Substanz-Qualität-Verhältnis her, den spezifischen Begriff der Relation verfehlt. Die Relation als solche ist bereits eine Einheit, die Mehreres verbindet. Dies sieht man noch deutlicher, wenn man sich nicht auf zweistellige Relationen beschränkt, sondern wenn man mehrstellige Relationen betrachtet, etwa die Relation: A liegt zwischen B und C. So liegt nun beim Relationsproblem eine nominalistische Auffassung besonders nahe. Sie würde bei unserem Beispiel bedeuten, daß sowohl Sokrates als auch Kebes, jeder für sich, bestimmte Eigenschaften besitzen und daß dann ein Dritter sie als größer und kleiner oder als gleich groß beobachtet. Dann besteht also eine Relation lediglich in der Vorstellung des Beobachters. Eine solche Auffassung wird dadurch nahegelegt, daß es unzweifelhaft Relationen gibt, die nur in der Vorstellung des Beobachters existieren. Eine solche nominalistische Auffassung der Relation finden wir schon in der griechischen Sophistik, später im Nominalismus des Mittelalters und der Neuzeit. Aber auch diese Auffassung enthält einen Fehlgriff. Sie setzt nämlich voraus, daß die Einzelwesen mit allen ihren Eigenschaften für sich selbst existieren. Die Relationen stellen nur flüchtige Äußerlichkeiten dar, die das eigentliche Sein der Einzelwesen nicht betreffen. So mag etwa Descartes sich das Problem gedacht haben. Die res cogitans, ebenso wie die res corporea, existiert jeweils für sich mit allen ihren Eigenschaften; alle Relationen, die noch hinzukommen mögen, bedeuten nichts für ihr eigentliches Sein. Eine solcheAuf f assung sieht aber nicht die konstitutive Bedeutung der Relationen. Ich darf auf Russell,28 auf Whitehead2' und auf Heidegger30 hinweisen, die von ganz verschiedenen Ausgangspunkten aus die konstitutive Bedeutung der Relationen eindringlich herausgestellt haben. 6 Martin, Metaphysik
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Bei der Bedeutung der Relationen wird es verständlich, daß Synthesen erstrebt werden, die freilich fast immer doch nur neue Probleme aufwerfen. Leibniz macht die Relation zu einem £tre de raison,81 zu einer chose ideale,32 zu einer res mentalis.33 Aber dies esse in mente tantum ist für ihn ein esse in mente divina.84 Betrachtet man dagegen das esse in mente der Relation als ein esse in mente eines einzelnen Menschen, dann wird es schwierig, die Allgemeinverbindlichkeit und die Allgemeingültigkeit der Relationen zu verstehen. Diese Schwierigkeit des extrem nominalistischen Ansatzes vermeidet Leibniz. Er muß dann aber die Konsequenz auf sich nehmen, daß alle Relationstheorien, die Logik, die Mathematik, die Physik, primär Gedanken Gottes sind.35 Dies will nun freilich Leibniz aus vielen Gründen, er kommt aber wegen des diskursiven Charakters dieser Theorien in nicht geringe Schwierigkeiten. Wenn Kant diese theologische Fundierung aufhebt, dann muß er alle Relationen auf den Menschen beziehen. Es ist aber für ihn nicht leicht zu sagen, welches der Mensch ist, der alle Relationen stiftet. Für Kant treten an dieser Stelle kaum lösbare Schwierigkeiten auf, die wir noch diskutieren müssen.
5 22: Die Transzendentalien Die Transzendentalienlehre hat in der Geschichte der Philosophie ein wechselndes Geschick gehabt. Sie gilt, wenn auch zu Unrecht, als ein Spezifikum des scholastischen Denkens. Selbst Kant, der doch seine eigne Philosophie als Transzendentalphilosophie bezeichnet, vermag sich mit der Transzendentalphilosophie der Alten, wie er sie nennt, nicht zu befreunden.1 Wir lösen die Lehre von den Transzendentalien von der Bindung an die aristotelisch-scholastische Philosophie und sehen ihren eigentlichen Sinn in der Grundvoraussetzung, daß die Begriffe des Seins und der Einheit einen besonderen Charakter, aber auch eine besondere Problematik haben. In dieser weiten Auffassung gehen wir mit einer Untersuchung von Ryle über Platon zusammen.2 In der Tat bilden die beiden Begriffe des Seins und der Einheit die Mitte der Transzendentalphilosophie, wenn auch ihr Verhältnis noch verschieden gesehen wird. Für Platon und für Kant steht die Einheit im Vordergrund, während Aristoteles dem Sein den Vorzug gibt. Platon hat
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offenbar die besonderen Schwierigkeiten der Einheit erkannt, und der Dialog Parmenides kann wohl nur unter dieser Voraussetzung verstanden werden. Aristoteles sagt ausdrücklich, daß die Fragen nach dem Sein und nach der Einheit zu den höchsten und schwierigsten Fragen der Metaphysik gehören.3 Thomas von Aquin erweitert den Umfang der Transzendentalienlehre, indem er zu ens und unum noch bonum, verum, res und aliquid hinzunimmt.4 Daneben erwägt er noch andere Erweiterungen. Duns Scotus setzt die Erweiterungen fort,5 und Occam tut noch einen Schritt darüber hinaus, zum mindesten in bezug auf die ontologische Interpretation.' Wir lassen diese Fragen der Erweiterung im allgemeinen beiseite und konzentrieren uns auf Sein und Einheit. Erwägt man zunächst die Einheit, dann sieht man bald, daß sowohl die Interpretation der Einheit als einer Idee als auch ihre Interpretation als eine res im Sinne eines realen Akzidens unbefriedigend bleibt. Dies ist schon früh gesehen worden und hat zu der Einsicht geführt, daß die Disjunktion: etwas ist entweder real oder es ist eine bloße Vorstellung, unzureichend ist. Es erweist sich vielmehr als notwendig, das transzendentale Sein als eine neue, mittlere Seinsmöglichkeit zu verstehen. Dabei geht es zunächst um die Einheit des Einzelwesens. Inwiefern bin ich selbst Einer? — so formuliert Platon die Frage im Parmenides.1 Um diese Einheit des Einzelwesens geht es uns jetzt; die Einheit des Allgemeinen werden wir erst im zweiten Teil diskutieren. Versteht man Sein und Einheit als Ideen und versteht man eine Idee als eine selbständige Realität, dann kommt man in die Aporien der Ideenlehre, die Platon im Parmenides entfaltet hat und die wir im zweiten Teil noch zu diskutieren haben. Diese Schwierigkeiten sind unter dem Namen bekannt, Platon zeigt sie an der Idee der Größe auf. Wir wollen sie aus systematischen Gesichtspunkten an der Idee der Einheit entfalten. Wäre die Idee der Einheit, die die Einheit des Sokrates stiftet, ihrerseit wieder eine selbständige Realität und als solche eine Einheit, dann wäre eine neue Idee der Einheit erforderlich, die die Einheit zwischen Sokrates und der Idee der Einheit stiftet, und man sieht sofort, daß hier ein regressus in infinitum anläuft. Es müßte dann nicht nur die Idee der Einheit geben, sondern eine unendliche Reihe von Ideen der Einheit. Nun ist zwar ein solcher regressus in infinitum nicht schon selbst ein Beweis der Unmöglich6»
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keit, aber eine solche unendliche Reihe von Ideen an jeder Stelle ist doch mehr als unwahrscheinlich. Wenn es auf Schwierigkeiten führt, Sein und Einheit als Ideen zu bestimmen, dann könnte man diesen Schwierigkeiten zu entgehen versuchen, indem man Sein und Einheit als Akzidentien im strikten Sinne und damit als res bestimmt. Es ist die erklärte Lehre der Scholastik, daß dies nicht möglich ist. Wir gehen dieser ontologischen Diskussion zunächst in der Scholastik nach und wenden uns dann zu Aristoteles zurück. Thomas diskutiert die Frage nach dem ontologischen Status der Einheit an einer ganzen Reihe von Stellen. Die instruktivste ist wohl die Quaestio XI des ersten Teiles der Summa theologica. Thomas stellt dort die Frage: Utrum unum addat aliquid supra ens?8 Im Anschluß an Aristoteles, Metaphysik X, gibt Thomas die Meinung von Pythagoras und Platon dahin wieder, daß die Zahl und daß also auch die Einheit die Substanz aller Dinge ist. Gemeint ist damit, daß Platon Zahl und Einheit als Idee und daß er weiter die Idee als eine Substanz bestimmt habe. Dabei haben Platon und Pythagoras sich fälschlicherweise von der Einheit leiten lassen, die das Prinzip der Zahl ist. Im Gegensatz hierzu, so berichtet Thomas weiter, hat Avicenna die Einheit als ein Akzidens und also als eine res verstanden. Nach dieser Auffassung wäre die Einheit eines Menschen ebenso zu verstehen wie seine Farbe. Nun ist aber seine Farbe, sein esse album, ein Akzidens im strengen Sinne und also eine res, und also ist auch sein esse unum ein Akzidens und also eine res im strengen Sinne. Nach diesem, übrigens zutreffenden, Bericht des Aquinaten lehrt Avicenna: „ ... credidit, quod unum quod convertitur cum ente, addat rem aliquam supra substantiam entis, sicut album supra hominem."8 Aber diese Bestimmung der transzendentalen Einheit, so wendet Thomas ein, muß falsch sein, denn sie führt auf einen regressus in infinitum. Versteht man das Einzelding als eine Vielheit von Realitäten und versteht man die Einheit dieser vielen Realitäten wiederum als eine neue Realität, dann entsteht in der Tat eine neue Vielheit, die einer neuen Einheit bedarf.10 Ist die Einheit vieler Dinge selbst vom ontologischen Charakter derjenigen Dinge, deren Einheit sie sein soll, dann ist der regressus in infinitum unvermeidbar. Daraus zieht Thomas den Schluß, daß das unum transcendens keine res sein kann.
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Damit erhebt sich allerdings das Problem der Semsbestimmung der transzendentalen Einheit. Würde man von der strikten Disjunktion ausgehen, würde man also sagen, etwas ist entweder real oder es ist eine bloße Vorstellung, dann müßte folgen, daß die transzendentale Einheit eine bloße Vorstellung sei. Dies will Thomas gewiß nicht sagen. Die transzendentale Einheit ist weder eine Realität im Sinne einer res, noch ist sie eine bloße Vorstellung. Sie hat zwar einen Bezug zur Ratio, ihr Sein geht aber in einem bloßen Vorgestellt-Sein nicht auf. Das hier auftretende Problem werden wir immer wieder zu diskutieren haben, wir halten zunächst nur fest, daß hier eine neue, eine dritte Weise des Seins auftaucht, die über die alte Disjunktion ens reale oder ens rationis hinausgeht. Duns Scotus ist es, der dies Problem weiter klärt, und er hätte allein von hier aus seinen Beinamen Doctor subtilis mit Recht verdient. Leibniz weist auf diese Lehre in einer seiner frühen Schriften hin: „Distinctio formalis ... Tribuitur communiter Scoto, ut media inter r e a l e m et r a t i o n i s , unde ejus sectatores dicti F o r m a l i s t a e . u n In der Tat unterscheidet Duns Scotus zwischen dem ens reale, dem ens formale und dem ens rationis. Zum ens reale gehören die Substanzen und die Akzidentien, zum ens rationis gehören die bloßen Vorstellungen, und zum ens formale gehören die Transzendentalien.12 Der Umfang der Transzendentalien ist stark erweitert. Beispielsweise rechnet Duns Scotus auch die Verschiedenheit zu den transzendentalen Bestimmungen." Durch diesen Begriff des ens formale hat Duns Scotus das Problem fixiert. Die Frage, wie das Sein des ens formale zu verstehen sei, findet allerdings auch bei dem Doctor subtilis keine entschiedene Antwort. Die philosophische Arbeit Occams stellt sich im Problem der Transzendentalien zunächst als eine Umfangserweiterung dar. Für Occam bleibt natürlich die Substanz die eigentliche Realität, sie gibt die Bedeutung von res. Von den Akzidentien behalten nur einige wenige Qualitäten diesen Charakter. Alle anderen Akzidentien dagegen betrachtet Occam wenigstens ontologisch als Transzendentalien. Dies gilt insbesondere von der Quantität und der Relation, aber auch von vielen Qualitäten.14 Auf die weitere Frage, wie Occam dies so stark erweiterte transzendentale Sein verstehen will, habe ich bei ihm eine entschiedene
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Antwort nicht finden können. Es gibt Stellen, die im Sinne einer rein nominalistischen Auffassung verstanden werden können." Es finden sich aber auch Stellen, die sich einer solchen Auffassung nicht fügen." Meine eignen Untersuchungen über Occam haben mich zu der Überzeugung geführt, daß man ihn nicht als einen reinen Nominalisten betrachten darf." Auch für Occam hat das transzendentale Sein einen wesentlichen Bezug auf die Ratio, aber man kann nicht sagen, daß er die transzendentalen Bestimmungen und unter ihnen besonders ens und unum endgültig und ausschließlich als entia rationis, als bloße Vorstellungen bestimmt hat. Stellt man von der scholastischen Transzendentalphilosophie her die Frage nach den Transzendentalien in der Philosophie des Aristoteles, so kann kein Zweifel sein, daß Aristoteles die besondere Problematik von Sein und Einheit erkannt hat. Es fehlt aber der eigentliche Gegenbegriff, die Auffassung der Kategorie als einer Realität im Sinn der res. Wir sahen bereits, daß man nicht klar erkennen kann, wie sich Aristoteles die Realität der Akzidentien gedacht hat. Die Darlegungen des Aristoteles über die Transzendentalien sind so kurz, daß man nicht erkennen kann, welche Gründe für ihn bestimmend waren und welche Konsequenzen er im einzelnen gezogen hat. Sicher ist, daß Aristoteles den besonderen Allgemeinheitscharakter von Sein und Einheit erkannt hat. Sie sind die allgemeinsten Begriffe, sie sind aber kein Genus.18 Daraus folgt ihr transzendentaler Charakter, für den bei Aristoteles ein fester Terminus noch fehlt. Das transcendere der Transzendentalien meint für Aristoteles und für die Scholastik nicht die Transzendenz in unserem Sinne, es meint vielmehr, daß diese Begriffe jede kategoriale Gliederung, daß sie jede Gliederung des Seins überhaupt übersteigen. Aristoteles sagt ausdrücklich, daß Sein und Einheit nicht in irgendeine Kategorie fallen können, sie übersteigen jede Kategorie, sie begleiten aber auch jede Kategorie.19 Weniger leicht ist zu sehen, welche ontologischen Konsequenzen Aristoteles ziehen wollte. Im zehnten Buch der Metaphysik sagt er ausdrücklich, daß die Einheit keine zusätzliche Prädizierung bedeutet.20 Dies ist freilich nur negativ gesagt, und Thomas formt es zu der These aus: unum non est res addita." Im vierten Buch der Metaphysik sagt Aristoteles, daß Sein und Einheit dieselbe Physis sind, daß sie aber nicht durch denselben Logos ans Licht gebracht werden.22 Über-
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setzt man hier ,Physis' mit ,res', dann kommt man in die Nähe der scholastischen Bestimmung. Um die scholastische Bestimmung voll zu erreichen, müßte man annehmen, daß Aristoteles auch ein Akzidens als eine besondere Physis betrachtet habe. Dies ist vielleicht nicht unmöglich. An dieser Stelle des vierten Buches scheint jedenfalls Physis eine sehr weite Bedeutung zu haben. Eine definitive Entscheidung geben die kurzen Aristotelischen Texte nicht her, auch nicht an dieser Stelle des vierten Buches, die die Aristotelische Hauptstelle über die Transzendentalien darstellt. Wir soll man an dieser Stelle ,Logos* verstehen? Ist Logos hier das Gedachte oder das Denken, ist es der Begriff oder das Begreifen? Sein und Einheit könnten darin verschieden sein, daß wir sie in verschiedener Weise denken, und dies könnte in extrem nominalistischer Weise dahin verstanden werden, daß Denken hier den subjektiven Vollzug eines einzelnen Denkaktes bedeutet. Sein und Einheit könnten aber auch darin verschieden sein, daß sie durch Begriffe von objektiver Verschiedenheit dargestellt werden. Man könnte sich dies so vorstellen, daß es von Sein und Einheit verschiedene Definitionen gibt. Dabei muß man allerdings im Auge behalten, daß es von Sein und Einheit Definitionen im strikten Sinne überhaupt nicht gibt. Eine endgültige Entscheidung über die Meinung des Aristoteles ist schon der Kürze der Stellen halber nicht zu gewinnen. Sie ist aber auch aus systematischen Gründen nicht zu erwarten. Nach der Auffassung, die in diesen Untersuchungen vorgetragen werden soll, haben Sein und Einheit einen Bezug zum Logos, aber über die Art und Weise dieses Bezugs ist aus systematischen Gründen eine apodiktische Antwort nicht möglich. Dies zeigt sich schon bei Platon. Unzweifelhaft ist für ihn der Bezug der Ideen auf den Nous von größter Bedeutung. Grundsätzlich wird die Idee als bezeichnet.23 Aber was will Platon damit sagen? Ist der Nous ein rein passives Vermögen, und schaut er die an sich existierenden Ideen lediglich an? Oder ist der Nous ein aktives Vermögen, ein spontanes Vermögen, und das Sein der Ideen hängt mit dieser Spontaneität des Nous zusammen? Aristoteles bezieht Sein und Einheit auf den Logos, aber wir sahen eben, daß die Art und Weise dieses Bezugs dunkel bleibt. Thomas interpretiert die Transzendentalien auf einen Zusammenhang mit der Ratio hin, aber er zeigt mit dieser Bestimmung die Schwierigkeiten nur an. Leibniz beschränkt alle Realität auf die
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Realität der Monaden; alle kategorialen und alle transzendentalen Bestimmungen, zwischen denen Leibniz nicht unterscheidet, gehören dem Denken an. Das Denken aber, das alle diese Bestimmungen primär denkt, ist das Denken Gottes. Dies Denken Gottes ist actus purus, und insofern bedeutet für Leibniz das esse in mente divina aller kategorialen und transzendentalen Bestimmungen in besonderer Weise die Abhängigkeit dieser Bestimmungen vom Denken, wenn auch vom Denken Gottes. Das Problem kompliziert sich in dem Augenblick, in dem Kant den Bezug dieser Bestimmungen auf das Denken Gottes aufhebt und sie allein auf das Denken des Menschen bezieht. Damit stellt sich für Kant die Frage, welcher Mensch es ist, der alle diese Bestimmungen denkt, und diese Frage wird sich für uns als eine der großen Schwierigkeiten der Kantinterpretation erweisen. Versuchen wir eine Zusammenfassung des ersten Teiles unserer Untersuchungen, so darf man zwei Antworten als gesichert betrachten. Sein hat mehrere Bedeutungen, und die eigentliche Bedeutung von Sein gibt das Einzelwesen. Das Einzelwesen ist primär das lebendige Einzelwesen, und man darf hier der Konkretisierung durch Leibniz folgen: Ich selbst bin ein lebendiges Einzelwesen, und ich selbst bin der Prototyp des lebendigen Einzelwesens. Dies bedeutet in bezug auf das Sein, daß ich selbst ein Seiendes bin und daß ich selbst der Prototyp alles Seienden bin. Ich selbst bin, und alles, was so ist wie ich selbst, das ist. Dagegen konnten wir keine endgültige Antwort geben auf die Frage nach dem Sem der Eigenschaften. Unter den Eigenschaften verstehen wir sowohl die kategorialen Akzidentien als auch die transzendentalen Bestimmungen. Bei beiden zeigt sich ein Bezug auf den Logos. Unter den Kategorien zeigt er sich besonders an der Relation, bei den Transzendentalien an dem Unterschied von Sein und Einheit. Dieser Bezug auf den Logos ist von allen Denkern gesehen worden, aber weder ist es den einzelnen Denkern gelungen, zu widerspruchsfreien Bestimmungen zu kommen, noch kann man die Bestimmungen der verschiedenen Denker nahtlos miteinander vereinigen. Die Relationen und die Transzendentalien, so darf man zusammenfassen, haben offenbar einen Bezug auf den Logos, aber dieser Bezug auf den Logos ist nicht eindeutig zu bestimmen. Damit leiten die Relationen und die Transzendentalien zur Frage nach dem Sein des Allgemeinen über, und in der
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Frage nach dem Sein des Allgemeinen wird sich der Bezug auf den Logos als das eigentliche Kernproblem erweisen.
TEIL II Das Allgemeine
Abschnitt I LOGISCHE PROBLEME
DES A L L G E M E I N E N
Kapitel 4: Die Einheit des Allgemeinen § 23: Der Ort des Allgemeinen Das Allgemeine ist der eigentliche Kampfplatz der Metaphysik, der Kampfplatz, auf dem gegen die Möglichkeit der Metaphysik gefochten wird, der Kampfplatz, auf dem die verschiedenen Standpunkte innerhalb der Metaphysik gegeneinander fechten. Die extremen Gegner der Metaphysik lehnen es ab, überhaupt ein Allgemeines anzunehmen. Diese Ablehnung ist freilich schon alt. Eine griechische Anekdote sagt, man habe Platon entgegengehalten, man könne nur ein Pferd sehen, aber keine Pferdheit. Wir selber setzen diesen Bedenken einen Gedankengang des Aristoteles entgegen. Als er im 13. Buch der Metaphysik über das Sein der Zahlen zu handeln beginnt, prägt er die schöne Formulierung: Nicht, ob es die Zahlen gibt, sondern wie es die Zahlen gibt, das ist allein die philosophische Frage.1 Wir wenden diesen Gedankengang auf das Allgemeine als solches an und sagen: Nicht, ob es das Allgemeine gibt, sondern wie es das Allgemeine gibt, das allein ist die philosophische Frage. Es ist die Sprache, in der das Allgemeine sich zuerst zeigt. Ein streng Individuelles kann die Sprache oft nur bezeichnen, indem sie räumliche und zeitliche Momente einer bestimmten Situation heranzieht. Die meisten sprachlichen Ausdrücke bezeichnen dagegen von vornherein etwas Allgemeines. Durst bezeichnet — unter der glühenden Augustsonne der Magna Graecia — etwas, was ich gestern gehabt habe, was ich heute habe und was ich morgen wieder haben
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werde. Wein bezeichnet etwas, was in vielerlei Arten vortrefflich geeignet ist, diesen Durst zu löschen. Daß es vielerlei Arten von Wein gibt, hängt dabei dem Wort und dem Begriff von vornherein an. Es ist daher durchaus verständlich, daß Sokrates, der Entdecker des Allgemeinen, immer wieder auf die Sprache zurückgeht. Wenn es um die Bestimmung der Tapferkeit geht, dann besteht er darauf, daß wir viele verschiedene Handlungen mit einem und demselben Wort, eben mit dem Wort ,tapferc benennen.2 Dies ist ein Phänomen, das nicht angezweifelt werden kann. Besonders deutlich zeigt sich dies bei den Zahlen, wo das Phänomen des Allgemeinen in verschiedenen Weisen erscheint. Ein Schock Eier bezeichnet 60 Eier. Hier ist also das Zahlwort an bestimmte Dinge gebunden, und es gibt, wenn auch heute schon weniger gebräuchlich, noch manche solcher sachgebundenen Zahlworte. Aber dann löst sich das Zahlwort von dieser Bindung an bestimmte Dinge und wird zur reinen Zahl. Whitehead hat einmal mit Recht gesagt, es sei eine der größten Leistungen des menschlichen Denkens gewesen, als die Einsicht errungen wurde, daß sieben Tage und sieben Fische etwas Gemeinsames haben, eben die Zahl Sieben, und als auf diese Weise der allgemeine Begriff der Zahl Sieben gefunden wurde.3 Die Untersuchungen unserer Zeit über die Grundlagen der Arithmetik zeigen, daß dieser Prozeß des Aufsteigens zu abstrakten Zahlbegriffen noch keineswegs abgeschlossen ist. Ist die Sprache der Ort, an dem das Allgemeine sich zuerst zeigt, so zeigt sich dabei sofort ein anderes Phänomen. Durst zu haben ist dasselbe, ob ich es auf Deutsch oder auf Italienisch sage. Auch in derselben Sprache kann ebendasselbe in verschiedener Weise gesagt werden. Bei den Zahlen zeigt sich dies in mannigfacher Weise. Es sind dieselben Zahlen, ob ich sie in griechischen, in römischen oder in arabischen Zeichen schreibe, ob ich sie in griechischen, in römischen oder in deutschen Worten ausspreche. Dabei haben von allen Zahlenzeichen die arabischen die größte Verbreitung erlangt. In der ganzen Welt wird die Zahl Sieben durch das arabische Zahlenzeichen 7 geschrieben oder doch zum mindesten verstanden. Diesselbe Zahlenzeichen wird dann in unzählig verschiedenen Sprachen immer wieder verschieden ausgesprochen. Dabei liegen verschiedene Stufen des Allgemeinen hintereinander. Das deutsche Wort ,Sieben' meint ein Allgemeines gegenüber den sieben Tagen, den sieben Fischen, den sieben
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Häusern. Das arabische Zahlenzeidien 7 meint ein Allgemeines gegenüber den vielen verschiedenen Worten in den vielen Sprachen. Der allgemeine Begriff der Sieben meint ein Allgemeines, unabhängig davon, ob ich ihn in griechischen, in römischen oder in arabischen Zahlenzeichen ausdrücke. Schließlich steht dann noch einmal der allgemeine Begriff der natürlichen Zahl über der Fünf, der Sechs, der Sieben. Dieser Allgemeinheitscharakter der Sprache ist ein schlichtes Phänomen, und wer vom Allgemeinen handeln will, wird immer wieder auf ihn zurückgreifen müssen. Oft schieben sich hier allerdings zwei Gedankengänge ineinander. Es ist eine wichtige Aufgabe, das Phänomen des Allgemeinen aufzuzeigen, und es ist eine ebenso wichtige, aber eine ganz andere Aufgabe, die ontologischen Konsequenzen daraus zu ziehen. Mit erfreulicher Klarheit hat dies Bolzano herausgestellt. Er entwickelt die Lehre vom Begriff an sich und vom Satz an sich, aber er wendet sich ausdrücklich dagegen, daß man dieser seiner Lehre vom Ansichsein ohne weiteres Seinsbehauptungen unterschiebt.4 Man muß in der Tat das Phänomen der Allgemeinheit von der ontologischen Interpretation der Allgemeinheit unterscheiden. Die systematischen Schwierigkeiten und die vielen Differenzen der philosophischen Standpunkte beginnen erst bei der Interpretation. Die ontologische Interpretation stellt die Frage: Was ist das Allgemeine? Wir haben gesehen, wie die Frage bei Sokrates verhältnismäßig konkret entsteht, wie sie nach der Tapferkeit, nach der Frömmigkeit fragt. Bei Platon und bei Aristoteles wird die Frage abstrakt und allgemein, sie ist aufgestiegen zu den Fragen: Was ist das Sein? Was ist die Einheit? Was ist das Allgemeine? Dagegen ist in unserer Zeit von der Grundlagenforschung und von der Sprachphilosophie die These aufgestellt worden: Alle metaphysischen Fragen sind sinnlose Fragen, und alle Antworten darauf sind sinnlose Behauptungen.5 Aber eine solche These ist leichter gesagt als bewiesen. Allgemein zugestanden ist zunächst, daß es Sätze gibt, die deshalb sinnlos sind, weil sie grammatisch nicht richtig sind." In diesem weiten Sinne ist der Satz: ,Die Sieben ist nicht oder' ein sinnloser Satz, wenn man ihn überhaupt als einen Satz gelten lassen will. Die These will natürlich mehr sagen. Sie will sagen, daß es Sätze gibt, die zwar grammatisch richtig sind, die aber dennoch sinnlos sind.7 Es handelt sich also um Sätze wie: ,Die Sieben ist betrunken* oder, wenn man ein
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etwas weniger drastisches Beispiel will: ,Die Sieben ist grün'. Daß solche Sätze nicht wahr sind und nicht wahr sein können, steht außer Zweifel. Aber was sind sie dann? Man könnte sie als falsche Sätze betrachten, aber dann käme man in manche Schwierigkeiten. Man wird es daher wohl gelten lassen können, daß man solche Sätze als sinnlose Sätze bezeichnet. Von hier aus könnte man an sich die Frage: ,Was ist das Allgemeine?' und jede Antwort darauf, etwa die Antwort: ,Das Allgemeine hat objektive Realität', als sinnlos bezeichnen. Damit wäre der Kampf gegen die Metaphysik siegreich zu Ende gebracht. Es fragt sich nur, unter welchen Voraussetzungen man einen Satz als sinnlos bezeichnen darf. Der allgemeine Kampf gegen die Metaphysik würde nur dann Erfolg haben können, wenn es ein allgemeines Kriterium gäbe, daß es gestattet, alle grammatisch richtigen Sätze — allein um diese geht es ja noch — in sinnvolle und sinnlose Sätze zu unterscheiden.8 Man würde dann dieses Kriterium auf die metaphysischen Sätze anwenden, und es würde sich zeigen, daß sie alle sinnlos sind, und damit wäre das lange angestrebte Ziel erreicht. Die Schwierigkeit liegt aber darin, daß es ein solches allgemeines Kriterium nicht gibt und nicht geben kann. Es bleibt nichts anderes übrig, als in die sachliche Untersuchung des jeweiligen Satzes einzutreten. Dies ist nun in der Tat bei unseren Beispielssätzen möglich. Man sieht bald, daß es sich um einen Kategorienfehler handelt.' Die Prädikatsbegriffe getrunken' und ,grün' können mit dem Subjektsbegriff ,Sieben' nicht zusammengebracht werden. Tut man es dennoch, so begeht man einen Kategorienfehler, und es hat einen guten Sinn, einen solchen Satz sinnlos zu nennen. Aber man sieht gerade bei dieser Auflösung, daß es auf eine sachliche Erörterung des jeweiligen Problems ankommt. Man kann nicht aus allgemeinen Kriterien zeigen, daß die Begriffe ,betrunken' und ,grün' dem Begriff ,Sieben' nicht prädiziert werden können, sondern man kann dies nur aus der sachlichen Diskussion dieser drei Begriffe heraus erkennen. Nicht anders liegt es bei der Frage nach dem Allgemeinen. Wir wählen eine verhältnismäßig konkrete Frage: ,Was ist die Sieben?' und zwei verhältnismäßig konkrete Antworten: ,Die Sieben existiert* und ,Die Sieben ist eine Idee'. Diese Antworten mögen gut oder schlecht sein, darauf kommt es jetzt nicht an. Die Frage geht jetzt allein dahin, ob es möglich ist, sie zugleich mit der Frage allgemein für sinnlos zu
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erklären. Wie sollte dies möglich sein? Man muß vielmehr in die konkrete sachliche Diskussion eintreten. Wenn die Antwort gegeben wird: ,Die Sieben existiert', so muß man fragen, was hier ,existieren' bedeuten soll. Soll ,existieren' hier das Existieren des Einzelwesens in Raum und Zeit bedeuten, dann ist die Antwort gewiß nicht richtig, und man mag sie dann schon sinnlos nennen. Gegen einen naiven Existenzbegriff hat sich bereits Bolzano gewehrt, der ein entschiedener Vertreter des Ansichseins des Allgemeinen und also auch des Ansichseins der Sieben ist. —Nicht anders liegt es mit der Platonischen These: Die Sieben ist eine Idee. Die Entscheidung über diese Antwort hängt offenbar davon ab, welche Bedeutung man dem Begriff der Idee geben will. Betrachtet man die Idee in naiver Weise als so etwas wie ein Ding, dann wird der Satz mehr als fragwürdig. Dies werden wir im einzelnen zu zeigen haben, und wir werden zu zeigen haben, daß gerade Platon es war, der die hier auftretenden Probleme gesehen hat. Es ist unwahrscheinlich, daß die Frage: Was ist das Allgemeine? zugleich mit jeder darauf möglichen Antwort allgemein als sinnlos erwiesen werden kann. Die allgemeine Frage und jede darauf mögliche Antwort muß vielmehr aus der konkreten Diskussion des Problems heraus beurteilt werden. In diesem Sinne dürfen wir wiederholen: Nicht, ob es das Allgemeine gibt, sondern wie es das Allgemeine gibt, das allein ist die philosophische Frage. § 24: Das Allgemeine als Begriff, als Urteil, als Theorie Wenn wir die Frage nach dem Sein des Allgemeinen stellen, dann müssen wir zunächst fragen, wohin wir blicken müssen, um sachgerecht über das Allgemeine sprechen zu können. Bei dieser Frage treffen wir auf verschiedene Möglichkeiten, und es ist wohl kein Zufall, daß es den Sprachwissenschaftlern ebenso ergangen ist. Auch sie müssen sich fragen: Welches ist das eigentliche Phänomen der Sprache? Es haben sich drei Antworten ergeben: Das Grundphänomen der Sprache ist das Wort1 oder der Satz* oder die Rede.8 Es liegt gewiß nahe, das Wort als das Grundphänomen der Sprache zu betrachten. Dann wird der Satz zu einer Zusammensetzung von Worten und die Rede zu einer Zusammensetzung von Sätzen. Dies liegt schon deshalb nahe, weil gegebenenfalls einzelne Worte als vollständiger Satz, ja sogar als vollständige Rede 7 Martin, Metaphysik
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gebraucht werden können. jGib!', jSprich!', ,Hilfe!' ,Feuer!' sind alte Beispiele dafür. Aber im allgemeinen hat ein einzelnes Wort keine volle Aussagefunktion. Es sagt nichts aus, so hatte schon Aristoteles gelehrt.4 Aus dieser Erwägung heraus läßt sich erst der Satz als das selbständige Grundgebilde der Sprache betrachten. Allein diese Erwägung läßt sich noch weiterführen, und dann zeigt sich, daß erst die Rede das wirklich selbständige Gebilde der Sprache darstellt. Ich schließe mich der dritten Auffassung an, und zwar besonders in der Form, die ihr Walter Porzig5 gegeben hat. Dabei gibt es gewiß Reden, die nur aus einem einzigen Satz bestehen, sogar Reden, wie wir bereits sahen, die nur aus einem einzigen Wort bestehen. Aber im allgemeinen besteht eine Rede doch aus mehreren Sätzen, und gerade die Redefunktion einzelner Sätze oder einzelner Worte macht diesen Grundcharakter der Rede deutlich. Das philosophische Interesse am Allgemeinen trifft auf ähnliche Unterschiede. Das Allgemeine kann verstanden werden als Begriff, es kann verstanden werden als Satz, es kann verstanden werden als Theorie. Man kann deshalb verschiedene Ausgangsbereiche wählen und kommt dann zu verschiedenen Ergebnissen. Am besten wird dies in einer geschichtlichen Betrachtung deutlich. Platon betrachtet in der Ideenlehre primär Begriffe: das Gute, das Wahre, das Schöne, das Gleiche, die Drei. Erst in den späteren Dialogen taucht das Problem ihres Zusammenhangs auf. Der Satz hat für Platon noch kein eigentliches Interesse. Man kann mit einer gewissen Zuspitzung sagen, daß nur die Ideen, also nur die Begriffe, ein ideales Sein haben, aber nicht die Sätze. Dies gilt in der Nachfolge Platons auch für Leibniz. Auch für ihn sind die Begriffe das eigentlich Seiende im idealen Sein, und hier insbesondere die Grundbegriffe.6 Sätze sind für ihn Explikationen, die den Zusammenhang von Begriffen auseinanderlegen. Dies ist der Sinn der analytischen Urteilstheorie von Leibniz. Einer radikalen Durchführung dieser analytischen Urteilstheorie bei Leibniz steht freilich entgegen, daß Grundsätze auftreten, die sich nicht in das analytische Schema fügen, wie das principium contradictionis7 oder das principium rationis sufficientis.8 Man kann daher sagen, daß bei Leibniz der Satz eine Bedeutung zu gewinnen beginnt. Dagegen mißt Leibniz dem Begriff der Theorie keine Wichtigkeit bei. Alle Sätze liegen für ihn gewissermaßen in einer Ebene, dies folgt schon aus der Ablehnung der axiomatischen Methode.9 Besonders deutlich wird dies bei den mathe-
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matisdien Sätzen, die nach Leibniz samt und sonders aus dem Satz vom Widerspruch entspringen.10 Alle mathematischen Sätze bilden also eine Einheit, und ihre Gliederung in Theorien ist für Leibniz ohne Bedeutung. Bei Aristoteles kann man sagen, daß hier im Gegensatz zu Platon ein gewisses Gleichgewicht zwischen Begriffen und Sätzen erreicht ist. Die Begriffe behalten zunächst ihre große Bedeutung. Es läßt sich nicht verkennen, daß in der Logik, aber auch in weiten Teilen der Physik und der Metaphysik, Begriffe das primäre Thema sind. Aber für Aristoteles taucht doch das Problem des Satzes in seiner vollen Bedeutung auf. Jetzt werden Sätze ihrem Inhalt nach wichtig, unter ihnen besonders der Satz vom Widerspruch.11 Jetzt wird der Satz aber auch seiner Form nach zum Thema der philosophischen Untersuchung, nicht nur speziell in der Hermeneutik, sondern ganz allgemein in der Logik. Theorien, unter ihnen besonders die Arithmetik12, die Geometrie13 und die Astronomie14, hat Platon oft erwogen. Aristoteles versucht darüber hinaus eine Einsicht zu gewinnen, aus welchen Gründen sich Theorien differenzieren, aus welchen Gründen sich zum Beispiel Arithmetik, Geometrie und Astronomie als verschiedene Theorien konstituieren.15 Bei Kant kann man in betonter Weise von einem Gleichgewicht zwischen Begriffen und Sätzen sprechen. Von den vier großen Tafeln der Kritik der reinen Vernunft kann man zwei auf Begriffe beziehen und zwei auf Sätze. Die ersten beiden sind die Tafeln der Kategorien16 und der Schemata17, die anderen beiden die Tafeln der Urteile18 und der Grundsätze.19 Demgemäß kann man das Thema der Kritik der reinen Vernunft sowohl von den Begriffen her als auch von den Sätzen her ausdrücken. Von den Begriffen her geht die Grundfrage nach der objektiven Realität der Kategorien20, von den Sätzen her ausgedrückt lautet die Grundfrage: Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?21 Für das Verständnis dieses Aufbaus der Kritik der reinen Vernunft hat Hermann Cohen einen wichtigen Beitrag geleistet. Er mißt der Aufgliederung in diese vier Tafeln keine endgültige systematische Bedeutung bei. Diese Vierheit der Tafeln entsteht im Grunde genommen deshalb, weil die Kritik, so wie überhaupt jedes Buch, Stück für Stück geschrieben werden muß. Das eigentliche Thema der Kritik sind nach Cohen nicht diese vier Tafeln, mögen sie nun von Begriffen
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oder von Sätzen handeln, das eigentliche Thema ist eine Theorie, und zwar die newtonsche Physik. Dies ist der Grund, warum Cohen seiner Interpretation den Titel: Kants Theorie der Erfahrung gegeben hat. Aus der Analyse der newtonschen Physik als der Erfahrung in ihrer reinen Form wachsen nach der Überzeugung von Cohen erst die Analysen der Urteile, der Kategorien, der Schemata und der Grundsätze heraus.22 Wenn dem so ist, dann ist eine Theorie der eigentliche Untersuchungsbereich der Kritik, und damit hat der Begriff der Theorie für Kant eine sehr viel größere Bedeutung, als er sie für Platon und für Aristoteles gehabt hat. Wir können jetzt die Erwägungen der Sprachwissenschaft mit denen der Geschichte der Philosophie zusammennehmen. Ich entscheide mich in der sprachwissenschaftlichen Problematik für den Standpunkt von Porzig und betrachte die Rede als das eigentliche Grundphänomen der Sprache. Analog betrachte ich in der ontologischen Interpretation des Allgemeinen die Theorie als das eigentliche Grundphänomen des Allgemeinen. Man wird dies um so eher tun können, als die Theorie ihrerseits die Urteile und die Begriffe enthält, so, wie die Rede die Sätze und die Worte enthält. Eine von vornherein auf die Theorien gerichtete Betrachtung muß sich also auch auf die Sätze und auf die Begriffe richten, während eine Betrachtung, die von den Begriffen ausgeht, versuchen muß, aus den Begriffen die Sätze zusammenzusetzen und dann noch einmal vor der Aufgabe steht, aus den Sätzen die Theorien zusammenzusetzen. Bei diesem Ansatz verzichte ich auf einen allgemeinen Begriff von Theorie überhaupt. Es gibt wichtige Untersuchungen darüber, und auch unsere Untersuchungen werden auf sehr allgemeine Erwägungen über Theorien überhaupt führen. Gleichwohl muß es fraglich bleiben, ob irgendein wie immer konstruierter Begriff von Theorie überhaupt eine wirklich umfassende Bedeutung erlangen könnte. Ich gehe vielmehr von einigen wenigen konkreten Theorien aus und bestimme im Anschluß an Wittgenstein Theorie als etwas, was so ist, wie diese konkreten Theorien. In diesem Sinne wähle ich vier Theorien aus, nämlich erstens die Logik, und zwar in dem Teil, der durch den zweiwertigen Aussagenkalkül dargestellt wird, der seinerseits wieder als eine formale Darstellung eines Teiles der aristotelischen Logik aufgefaßt werden kann.*8 Zweitens: die elementare Arithmetik in der Umgren-
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zung, wie sie von Gödel gegeben worden ist.24 Drittens die euklidische Geometrie und viertens die newtonsche Mechanik. Diese vier Theorien, die uns als Fragebereich für unsere Frage nach dem Allgemeinen dienen sollen, werden in den folgenden Untersuchungen noch näher bestimmt werden. Auch abgesehen von den grundsätzlichen Erwägungen hat dieser Ausgangsbereich beträchtliche Vorteile. Diese vier Theorien sind überschaubar, sie sind fundamental, sie sind wissenschaftstheoretisch gut erforscht, und sie können als repräsentativ für Theorien überhaupt angesehen werden. Es sind auch die Theorien, die Platon, Aristoteles, Descartes, Leibniz und Kant wesentlich vor Augen gehabt haben. Man wird daher hoffen können, daß man von diesen vier Theorien ausgehend die wesentlichen Probleme von Theorie überhaupt und damit die wesentlichen Probleme des Allgemeinen überhaupt in den Griff bekommt. Bei der methodischen Erwägung eines solchen Ausgangsbereiches treten freilich zwei Bedenken auf. Wird nicht die Betrachtung auf einen zu engen Umkreis beschränkt? Muß man nicht auch die biologischen Theorien, muß man nicht auch die geisteswissenschaftlichen Theorien mit heranziehen? Dies haben Aristoteles und Leibniz auch getan. Dagegen spricht, daß die von uns zugrunde gelegten vier Theorien bereits eine sehr reine Form im formalen Sinne erreicht haben, und dies kann man von den biologischen oder von den geisteswissenschaftlichen Theorien nicht sagen. Zudem aber ist eine wissenschaftstheoretische und eine ontologische Diskussion einer Theorie nur dann sinnvoll, wenn man mit dieser Theorie schon sehr lange vertraut ist. Die quantitative Entwicklung der Wissenschaften hat es aber unmöglich gemacht, daß man wie Aristoteles oder wie Leibniz den vollen Umkreis aller Theorien wirklich übersieht. Man kann daher nur hoffen, daß diejenigen Theorien, mit denen der Untersuchende hinreichend vertraut ist, für den gesamten Umkreis aller Theorien stehen können. Eine zweite Erwägung bringt weitere Schwierigkeiten. Wird durch einen solchen Ansatz die Untersuchung nicht von vornherein auf das theoretisch Allgemeine eingeschränkt, und wird nicht dadurch die Existenz eines ethisch Allgemeinen oder eines ästhetisch Allgemeinen von vornherein in Frage gestellt? Dies ist ganz und gar nicht unsere Absicht. Unsere Frage: Was ist das Allgemeine? läßt sich von Platon her formulieren als die Frage: Was ist die Idee? Wie könnte eine solche
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Frage die Idee des Schönen, die Idee des Guten, die Idee des Gerechten verneinen wollen? Durch unseren Ansatz wird unsere Untersuchung auf einen Teil der Platonischen Ideen, auf die logisch-mathematischen Ideen eingeschränkt. Dies sind gewiß wichtige Ideen, und es ist wohl kein Zufall, daß Platon im Phaidon bei der Einführung der Ideenlehre so stark von der Idee der Gleichheit ausgeht. Aber die logisch-mathematischen Ideen sind doch nur ein Teil der Ideen. Wenn wir uns auf diesen Teil beschränken, so gibt es dafür zwei Gründe. Den ersten Grund haben wir eben schon genannt. Dieser Bereich ist am besten bekannt und erforscht. Der zweite Grund ist der, daß dieser Bereich weitgehend von den standpunktlichen Differenzen frei ist, die bei den ethischen und ästhetischen Ideen unvermeidlich auftreten. Man muß sehr wohl fragen: Was ist das Gute? Was ist das Schöne? Aber hier treten sofort die Differenzen in den inhaltlichen Fragen auf. Wir beschränken unsere Untersuchung auf das theoretisch Allgemeine. Wir tun dies aber nicht, weil wir die Allgemeinheit des Guten und des Schönen verneinen wollen, sondern wir tun dies, weil wir durch eine ruhige Erwägung des Wahren auch den Weg zur Einsicht in das Gute und in das Schöne zu bahnen hoffen. $ 25: Einheit hat mehrere Bedeutungen Daß in der Umgangssprache in der Regel ein Wort in seiner Bedeutung entfaltet ist, wird auch für die Einheit wichtig. Die Bedeutungsfelder gerade dieses Wortes erstrecken sich in den verschiedenen Sprachen verschieden weit. Im Deutschen treten besondere Verwicklungen auf, weil hier die sprachlichen Formen und die Bedeutungen des unbestimmten Artikels sich unmittelbar an die sprachlichen Formen und die Bedeutung von Einheit im eigentlichen Sinne anschließen. Dies liegt in vielen Sprachen, darunter auch im Griechischen, einfacher. Deshalb können im Griechischen die Untersuchungen unmittelbar auf die Bedeutungsentfaltung von Einheit im eigentlichen Sinne gehen. In einem gewissen Sinne scheint schon Platon auf das Problem gestoßen zu sein. Es ist bemerkenswert, daß Cornford die Interpretation des zweiten Teiles des Parmenides ganz auf die These aufgebaut hat, daß hier verschiedene Bedeutungen von Einheit entwickelt werden sollen.1 Man kann daran zweifeln, ob Cornford nicht doch Gewalt
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anwenden muß, um seinen Interpretationsgrundsatz an allen Stellen als den richtigen durchzusetzen. An einer ganzen Reihe von Stellen ist der Interpretationsgrundsatz von Cornford gleichwohl überzeugend. Dann ist also schon Platon auf die Bedeutungsentfaltung von Einheit gestoßen. Aristoteles gibt eine thematische Behandlung der Bedeutungsvielheit von Einheit. Wir finden zwei ausdrückliche Untersuchungen, die eine im fünften und die andere im zehnten Buch der Metaphysik. Die beiden Untersuchungen stimmen sachlich und weitgehend sogar im Wortlaut überein. Aristoteles scheidet zunächst solche Einheiten als im eigentlichen Sinne zufällig aus, bei denen lediglich verschiedene Eigenschaften in demselben Subjekte zusammentreffen.2 In den eigentlichen Weisen von Einheit gibt es zunächst das bloße Zusammensein8, es mag sich nun, um ein später oft wiederholtes Beispiel zu geben, um einen bloßen Haufen handeln,4 oder um Einheiten, die durch Zusammenbinden,5 Zusammenleimen* oder durch Zusammennageln7 entstanden sind, wie etwa ein Bündel.8 Aristoteles läßt diejenige Einheit folgen, die im bloßen Zusammenhang des Stofflichen* besteht, wie etwa die Einheit eines Brettes.10 Dann folgt die Einheit, die auf einer Form beruht11, etwa die Einheit einer Marmorkugel.1* Als letzte Einheit dieser Reihe stellt sich die Einheit eines Lebewesens dar." Die höchste Form der Einheit dieser Art ist die Einheit des Kosmos,14 die zugleich die Einheit eines Lebewesens und infolge der Kugelgestalt des Kosmos die Einheit einer Form ist. Alle diese Weisen der Einheit sind die Einheit je eines Einzelnen. Zu ihnen tritt als eine ganz neue Weise die Einheit des Allgemeinen, die Einheit des Logos,15 wie Aristoteles sich etwas vorsichtig ausdrückt. Es handelt sich in erster Linie um die Einheit, die sich in einem Begriff ausdrückt, zum Beispiel die Einheit des Menschengeschlechtes als die Einheit des Begriffes Mensch. Diese Aristotelische Lehre von der Bedeutungsvielheit von Einheit hat in der Scholastik eine große Rolle gespielt. Eine sachliche Weiterentwicklung vermag ich in diesem Zeitalter nicht zu erkennen. Die Lehre von der Bedeutungsvielheit von Einheit tritt als explizite Lehre noch einmal bei Leibniz auf. Sie ist dort allerdings dahin verkürzt, daß es nur zwei Weisen von Einheit gibt,1' die Einheit des Lebendigen,17 für Leibniz also die Einheit der Monade, und die
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Einheit des bloßen Aggregates.18 In diesem Sinne unterscheidet Leibniz das unum per se und das unum per accidens." An nicht wenigen Stellen gewinnt diese Unterscheidung für Leibniz eine wichtige systematische Bedeutung. So ist zum Beispiel für Leibniz die Welt als Ganzes nur ein Aggregat,10 ein Aggregat von Monaden. Auch die Gesamtheit der natürlichen Zahlen ist für Leibniz nur ein Aggregat.11 Kant unterscheidet faktisch verschiedene Weisen der Einheit, reflektiert aber nicht mehr auf diese Unterscheidung. Hier muß die höchste Einheit,*2 die Einheit der Apperzeption, unterschieden werden von der Einheit der Kategorie." Auch die Kantische Antinomienlehre stellt faktisch eine Untersuchung zur Einheit dar, insofern es sich hier um die Einheit der Welt handelt.24 $ 26: Die Einheit des Allgemeinen Gibt es mehrere Bedeutungen von Einheit, dann erhebt sich die Frage: Welche Einheit hat das Allgemeine? Aristoteles spricht von der Einheit des Logos, aber ist es vielleicht so, daß sich auch die Einheit des Logos, die Einheit des Allgemeinen noch differenziert? Dies ist die Richtung, in der unserer Meinung nach gefragt werden muß. Eine erste Differenzierung tritt schon ein, wenn das Allgemeine als Begriff, als Urteil oder als Theorie auftritt. In welchem Sinne ist ein Begriff eine Einheit? Wie verhält sich der Allgemeinbegriff Mensch zu den einzelnen Menschen, die unter diesen Allgemeinbegriff fallen? In welchem Sinne ist ein Urteil eine Einheit? Wie verhält sich der allgemeine Satz: 7 + 5 = 12 zu den vielen Einzelfällen, die unter ihn fallen? In welchem Sinne ist eine Theorie eine Einheit? Wie verhält sich die newtonsdie Mechanik zu den vielen Einzelfällen, die unter sie fallen? Darüber hinaus gibt es Fragen gewissermaßen in einer zweiten Stufe, und um diese Fragen der zweiten Stufe geht es uns eigentlich. Wie steht es mit der Gesamtheit aller Begriffe? Dies ist gewissermaßen der Begriff des Begriffs. Wie steht es mit der Gesamtheit aller Sätze, wobei wir uns auf die Gesamtheit aller wahren Sätze beschränken können. Dabei würden wir zu Sätzen kommen, die über alle Sätze etwas aussagen. Welche Einheit tritt hier auf? Wie steht es mit der Gesamtheit aller Theorien? Hier würden wir eine Theorie der Theorien erhalten. Aber was für eine Einheit hat diese Gesamtheit aller Theorien, und in
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welchem Sinne kann man hier überhaupt von einer Gesamtheit sprechen? Wenn wir zuerst auch hier wieder eine geschichtliche Orientierung versuchen, so sahen wir bereits, daß für Platon die Begriffe im Vordergrund stehen. Die für uns zur Diskussion stehende Gesamtheit aller Begriffe stellt sich für Platon als die Gesamtheit aller Ideen dar. Ein expliziter Terminus für die Gesamtheit aller Ideen läßt sich bei Platon nicht finden. Der Sache nach ist das Problem in den mittleren und späteren Dialogen durchaus da. Es mag wohl sein, daß Platon im Beginn der Ideenlehre die Ideen wesentlich als Individuen gesehen hat. Die Idee des Schönen stand gewissermaßen für sich allein, die Idee des Gleichen stand ebenso für sich allein. Im weiteren Durchdenken mußte Platon aber auf die Frage stoßen, wie die Ideen sich zueinander verhalten. Wie hängen sie zusammen, wie unterscheiden sie sich voneinander? Hier treten Schwierigkeiten auf, die Platon genötigt haben, verschiedene Möglichkeiten zu erwägen. Eine Möglichkeit besteht in der Annahme einer höchsten Idee. Diese Möglichkeit verfolgt Platon in der Politeia, dort betrachtet er die Idee des Guten als die höchste Idee.1 In der konsequenten Durchführung würde dies bedeuten, daß die sogenannte Platonische Begriffspyramide die Einheit der Ideen darstellt.* Die Begriffspyramide wäre das fundamentale Ergebnis der Platonischen Philosophie, und so etwa hat Leisegang ihre Bedeutung gesehen.* Vom systematischen Standpunkt aus wäre dies wenig befriedigend. Man hat darüber hinaus nicht einmal den Eindruck, daß Platon selbst in der Frage einer höchsten Idee zu einer endgültigen Entscheidung gekommen ist. Für eine solche höchste Idee, wenn es sie gäbe, kämen offenbar auch noch die Ideen des Seins und der Einheit in Frage. Für die Idee der Einheit würde sprechen, daß der Neuplatonismus und die von ihm ausgehende Platoninterpretation diese Idee als die höchste betrachtet haben. Die Bedeutung, die die Idee der Einheit im Dialog Parmenides hat, gibt gute Gründe für eine solche Entscheidung. Eine andere Möglichkeit zeigt sich im Sophistes. Dort gibt Platon zwar im Beginn Beispiele für die Begriffspyramide. Im Verfolg des Dialoges aber sucht er den Zusammenhang der Ideen nicht im dihairetischen Aufbau der Begriffspyramide, sondern in dem Zusammenhang eines Netzes. Er spricht dabei ausdrücklich von einer Gemeinschaft der Ideen.4
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Die dafür von ihm gewählten Ideen, insbesondere die Ideen der Identität5 und der Verschiedenheit* lassen keinen Zweifel, daß zum mindesten diese Ideen mit der Dihairesis der Begriffspyramide nicht befriedigend interpretiert werden können. Man wird daher den Schluß ziehen müssen, daß Platon in der Frage der Einheit aller Ideen zu einer endgültigen Entscheidung nicht gekommen ist. Dabei wird man den Parmenides und den Sopbistes dahin zusammenfassen können, daß nach der Überzeugung Platons in der Gesamtheit der Ideen Widersprüche enthalten sind. Leibniz hat sowohl der Frage der Gesamtheit der möglichen Begriffe als auch der Frage des möglichen Auftretens von Widersprüchen in dieser Gesamtheit immer wieder sein Interesse zugewandt. In den Meditationes weist er darauf hin, daß auch Begriffe, die zunächst völlig unverdächtig erscheinen, sich bei genauerer Untersuchung als widerspruchsvoll zeigen. Als Beispiel gibt er den Begriff einer höchsten Geschwindigkeit,7 der in der Tat unter den Voraussetzungen der klassischen Physik widerspruchsvoll ist. Zu diskutieren ist auch der Begriff des ens perfectissimum, der seiner Form nach widerspruchsvoll sein könnte, es aber nach der Überzeugung von Leibniz faktisch nicht ist. Dies ist freilich noch nicht bewiesen, und insofern hat der Gottesbeweis von Descartes eine Lücke.8 Aus solchen Erwägungen ergibt sich für Leibniz ein einfaches Existenzkriterium. Alle Begriffe, die widerspruchsfrei sind, existieren, Begriffe, die widerspruchsvoll sind, existieren nicht. Dies wiederum führt ihn auf eine verhältnismäßig einfache Vorstellung von der Gesamtheit aller Begriffe. Die uns vorkommenden Begriffe sind in der Regel zusammengesetzt. Den zusammengesetzten Begriffen liegen einfache, nicht zusammengesetzte Elementarbegriffe zugrunde.9 Durch die Kombination aller Elementarbegriffe ensteht die Gesamtheit aller zusammengesetzten Begriffe. So stellt sich die Gesamtheit aller Begriffe dar als die Gesamtheit aller Grundbegriffe und die daraus auf kombinatorischem Wege erzeugte Gesamtheit aller zusammengesetzten Begriffe. Diese Gesamtheit ist umfassender als die Gesamtheit der Platonischen Ideen, denn Leibniz kennt auch Begriffe von Individuen, zum Beispiel von Alexander dem Großen.10 Freilich ist auch schon für Leibniz das Problem bei weitem nicht so einfach, wie es in diesem Grundplan erscheint. Zunächst ist Leibniz mit der Gesamtheit der Elementarbegriffe, die sich als eine Tafel der Elementarbegriffe dar-
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stellen müßte, überaus vorsichtig. Es scheint nicht, als habe Leibniz auch nur von einem einzigen Begriff definitiv behauptet, dies sei ein Elementarbegriff. Eine Tafel aller Elementarbegriffe hat er wenigstens in seinen Publikationen niemals gegeben oder auch nur versprochen. Schwierig ist für ihn die Frage der Widerspruchsfreiheit. Leibniz muß unter seinen Voraussetzungen die Existenz eines zusammengesetzten Begriffs dadurch beweisen, daß er seine Widerspruchsfreiheit beweist." Aber dieser Beweis ist nicht leicht zu führen, und er kann praktisch nur durch einen Rückgriff auf die tatsächliche Existenz erfolgen." Die Gesamtheit aller wahren Begriffe und der daraus resultierenden wahren Sätze nennt Leibniz das Reich der ewigen Wahrheiten. Der Terminus ist schon alt, merkwürdigerweise fehlt er selbst oder ein ähnlicher Terminus bei Platon, er findet sich aber bei Augustin." Bei Leibniz findet er sich meistens in der Form 'la region des verit£s eternelles'14, in dieser Form tritt er auch in der Tbeodicee auf." Von hier aus hat er eine große Verbreitung erhalten. Kant übernimmt von Leibniz die Idee der Unterscheidung von einfachen und zusammengesetzten Begriffen. Die einfachen Begriffe stellen sich als die Kategorien dar, von denen Kant behauptet, er habe sie in seiner Tafel der zwölf Kategorien vollständig1* wiedergegeben. Aus den Kategorien als den einfachen Begriffen sollen so ziemlich in derselben Weise wie bei Leibniz die zusammengesetzten Begriffe entstehen.17 Der Aufbau von Leibniz wird aber dadurch geändert, daß Kant die räumlichen und zeitlichen Vorstellungen, soweit sie a priori sind, als reine Anschauungen absondert. Zwischen den reinen Begriffen und den reinen Anschauungen treten Zusammenhänge auf, die unter anderem zu dem schwierigen Kapitel vom Schematismus führen.18 Schließlich faßt Kant in der Dialektik eine Reihe von Vorstellungen zusammen, die Widersprüche enthalten oder auf Widersprüche führen, unter ihnen erweist sich als der für uns wichtigste der Begriff der Welt.19 Nach der Überzeugung Kants handelt es sich nur um wenige, vollständig aufzählbare Vorstellungen.40 Die widerspruchsvollen Vorstellungen der Dialektik haben trotz ihrer Widersprüchlichkeit wichtige Funktionen.21 Ihre unabweisbare Bedeutung kann verständlich gemacht werden." Erwägen wir den Zusammenhang mit unserer Fragestellung, so ist Kant der Überzeugung, daß im Umkreis des Allgemeinen Wider-
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sprüdie auftreten. Diese Widersprüche können aber vollständig dargestellt und begreiflich gemacht werden, sie können also im philosophischen Sinne aufgelöst28 werden. Von diesen Widersprüchen abgesehen ist der Bereich des Allgemeinen widerspruchsfrei. Alle Widersprüche können ausgegrenzt werden, insbesondere bleiben die Logik, die Mathematik und die Physik im engeren Sinne widerspruchsfrei. Hegel nimmt von unserer Frage nach dem Reich der ewigen Wahrheiten her gesehen eine merkwürdige Doppelstellung ein. Einerseits lehrt er, daß jeder Begriff widerspruchsvoll sei," andererseits lehrt er, daß die Gesamtheit der Begriffe einen notwendigen" und einsichtigen,*' wenn auch dialektischen Zusammenhang bildet. Zunächst sagt Hegel in der Logik ausdrücklich, daß jeder Begriff in sich widerspruchsvoll sei. Man wird allerdings sagen müssen, daß Hegel den Beweis für eine so weittragende Behauptung schuldig geblieben ist. Der Hinweis auf die antike Skepsis" kann doch nicht allein als Beweis gelten. Daß die elementaren Begriffe der Mathematik Widersprüche enthalten, daß etwa der Begriff der Zwei oder der Begriff des Kreises Widersprüche enthält, dies hat Hegel nicht gezeigt, und dies hat bis jetzt auch noch niemand gezeigt. Bis zu einem solchen Nachweis muß die Behauptung Hegels, jeder Begriff sei in sich selbst widerspruchsvoll, in ihrer Richtigkeit offenbleiben. Freilich ist gerade diese Behauptung Hegels für seinen Systemgedanken konstitutiv. Der in jedem Begriff enthaltene Widerspruch löst die dialektische Bewegung aus, die von diesem Begriff zu einem neuen Begriff hinüberführt. So entsteht ein Zusammenhang aller Begriffe. Dieser Zusammenhang existiert in seiner reinen Form in Gottes Denken und ist also in Gottes Denken einsichtig." Aber dieser Zusammenhang aller Begriffe ist auch unserer Einsicht zugänglich." Es ist nicht leicht, diesen Zusammenhang vollkommen darzustellen, und auch Hegel nimmt für seine eigene Darstellung keine Vollkommenheit in Anspruch.8' Aber dieser Zusammenhang existiert doch als solcher, und damit existiert die Gesamtheit aller Begriffe als eine notwendige und einsichtige Gesamtheit. Daß dieser Zusammenhang ein dialektischer ist, hebt seine Existenz, seine Notwendigkeit und seine Einsichtigkeit nicht auf. Gerade hier erhebt Hegel den Anspruch, daß seine Dialektik eine wahrhafte Dialektik sei.81 Diesen Anspruch werden wir im dritten Teil noch zu prüfen haben.
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Dieselbe Behauptung von der Existenz der Gesamtheit aller wahren Begriffe, aller wahren Urteile und aller wahren Theorien, wenn auch von einem extrem entgegengesetzten Standpunkt aus, finden wir dann in der philosophischen Entwicklungslinie, die von Bolzano zu Husserl führt. Bolzano lehrt in diesem Sinne die Existenz der Vorstellungen an sich*8 und die Existenz der Sätze an sich." Freilich muß man von dieser Existenz der Vorstellungen an sich und der Sätze an sich den Begriff eines raum-zeitlichen Daseins im Sinne der faktischen Existenz sorgfältig fernhalten." Alle Vorstellungen an sich und alle Sätze an sich werden beständig von Gott gedacht, aber dies ist für ihr Sein nicht konstitutiv.35 Der Bereich erstreckt sich sehr viel weiter als bei Leibniz, da Bolzano auch die falschen Sätze" und die „falschen" Vorstellungen" als Sätze an sich und als Vorstellungen an sich betrachtet. Für Bolzano kann also nicht, wie bei Leibniz, der Satz vom Widerspruch ein Existenzkriterium für die Gesamtheit der Begriffe sein. Husserl nimmt, wenigstens in den Logischen Untersuchungen, grundsätzlich denselben Standpunkt ein wie Bolzano. Im elften Kapitel des ersten Bandes wendet sich Husserl den Fragen der Einheit der Wissenschaft ausdrücklich zu. Dafür bestimmt er zunächst den Begriff der Theorie als solcher: „Die systematische Einheit der ideal geschlossenen Gesamtheit von Gesetzen, die in e i n e r Grundgesetzlichkeit als auf ihrem letzten Grunde ruhen und aus ihm durch systematische Deduktion entspringen, ist die E i n h e i t der s y s t e m a t i s c h v o l l e n d e t e n T h e o r i e . Die Grundgesetzlichkeit besteht hierbei entweder aus einem Grundgesetz oder aus einem Verband h o m o g e n e r Grundgesetze."38 In den Ideen wird dies noch einmal expliziert. Eine Theorie ist eine Gesamtheit von Sätzen, wobei für jeden von ihnen aus endlich vielen Axiomen in endlich vielen Schritten entweder die Richtigkeit des Satzes selbst oder die Falschheit seines Gegenteils bewiesen werden kann. Dies gilt insbesondere von den mathematischen Theorien."1 Zwischen den Theorien existieren Zusammenhänge, es gibt Theorien, die Gattungen darstellen40, und es gibt Theorien, die gewissermaßen individuelle Einzelheiten darstellen.41 Als Beispiel für eine solche unterste Theorie nennt Husserl die dreidimensionale euklidische Geometrie,4* als Beispiel einer darüberstehenden höheren Gattung die n-dimensionale Geometrie.43 Die Theorien fügen sich also zu einer Gesamtheit zusammen, und zu dieser Gesamtheit existiert wiederum
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eine Theorie, die sich als die Theorie der möglichen Theorienformen" darstellt. Wenn Husserl auch, soweit ich habe sehen können, nicht ausdrücklich von der Gesamtheit aller Theorien spricht, so wird man doch seine Darlegungen in diesem Sinne zusammenfassen dürfen. Hier bestehen enge Zusammenhänge zu der von Leibniz geforderten scientia universalis, und Husserl ist sich dieses Zusammenhanges wohl bewußt.45 Husserl selbst hat diese Eigenschaft von Theorien ausdrücklich bemerkt, er nennt eine solche Theorie eine definite Mannigfaltigkeit.4' Ich will einen etwas allgemeineren Terminus verwenden und will eine solche Theorie eine klassische Theorie nennen oder will sagen, diese Theorie habe eine klassische Struktur. Diese von Husserl herausgearbeitete Struktur der mathematischen Theorien überträgt sich auf die Gesamtheit aller Theorien. Soweit ich sehen kann, ist dies von Husserl nicht ausdrücklich gesagt, man kann aber das am Ende des ersten Bandes der Logischen Untersuchungen Gesagte kaum anders verstehen. Die Theorien schließen sich dort zu einer obersten Einheit zusammen, die in der Idee von Theorie überhaupt gründet,47 und es wird eine große Aufgabe der Logik, in diesem Sinne die Theorie überhaupt zum Gegenstand zu machen.48 Mit dem eben gebildeten Terminus darf man Husserls Lehre zusammenfassen: die Gesamtheit aller Theorien existiert und hat eine klassische Struktur. Dies bedeutet also, daß die Gesamtheit aller Theorien widerspruchsfrei, entscheidungsdefinit und axiomatisierbar ist. Axiomatisierbarkeit würde dabei die Rückführung einer Theorie auf endlich viele Axiome bedeuten. Wie es in dieser Frage mit der Gesamtheit aller Theorien steht, darüber habe ich bei Husserl eine bestimmte Angabe nicht finden können. Wenn es unendlich viele Theorien gäbe — auch darüber habe ich bei Husserl keine endgültige Angabe finden können —, dann wäre es möglich, daß es für unendlich viele Theorien unendlich viele Axiome gäbe, obwohl es in jeder einzelnen Theorie nur endlich viele Axiome gibt. Dieser klassische Charakter der Gesamtheit aller Theorien überträgt sich auf die Gesamtheit der darin enthaltenen wahren Sätze und weiterhin auf die Gesamtheit aller Begriffe. Aus der Gesamtheit aller Theorien muß die Gesamtheit aller Begriffe also wenigstens den Charakter der Widerspruchsfreiheit übernehmen. Dabei wird man behaupten können, daß Leibniz dies bereits weitgehend
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gesagt hat, wenn audi die Formulierungen bei Leibniz noch nicht die Genauigkeit haben, die sie bei Husserl besitzen. So kommen wir zu einem fundamentalen Gegensatz zwischen Husserl und Platon, und wir werden in diesem Gegensatz eine Entscheidung anstreben. Welchen Charakter hat die Gesamtheit aller Theorien und die darin enthaltene Gesamtheit aller Begriffe? Hat sie eine klassische Struktur und ist sie insbesondere widerspruchsfrei, oder hat sie eine andere Struktur und ist sie insbesondere widerspruchsvoll? Husserl behauptet in den Logischen Untersuchungen, daß die Gesamtheit aller Theorien widerspruchsfrei ist. Platon behauptet im Parmenides, daß die Gesamtheit aller Ideen Widersprüche enthält. Wir glauben, daß die Untersuchungen der letzten hundert Jahre zur Grundlagenproblematik die Entscheidung für Platon und gegen Husserl gebracht haben. Wir wenden uns deshalb einer Diskussion des Antinomienproblems in der Grundlagenforschung zu, die wir auf das für unsere Untersuchungen Wichtige beschränken.
$ 27: Die Antinomie von Russell Am Anfang des Russellschen Antinomienproblems steht ein Ereignis, das zeigt, daß auch in den reinen Diskussionen der Mathematik und der Logik tragische Verwicklungen auftreten können. Der Ausgangspunkt von Russell waren die Untersuchungen von Frege. Frege war von der tiefen Überzeugung durchdrungen, daß die Arithmetik in dem eben von uns entwickelten Sinne eine klassische Struktur hat. Jeder Satz der Arithmetik ist also entweder selbst ein Axiom, oder er muß bewiesen werden. Dies gilt insbesondere von den elementaren Sätzen der Arithmetik, beispielsweise von dem Satz: 1 + 1 = 2 . Auch von diesem Satz muß entweder gezeigt werden, daß er ein Axiom ist, oder auch dieser Satz muß bewiesen werden.1 Frege hat diese Aufgabe klar erkannt und die Energie seines Lebens an ihre Verwirklichung gesetzt. Heute haben wir die Bedeutung von Frege erkannt, aber zu seinen Lebzeiten hat er, wie man verstehen wird, wenig Ruhm damit geerntet. Es kommt hinzu, daß Frege seine Ergebnisse in einer wenig zweckmäßigen Zeichensprache veröffentlicht hat, und so kann man wohl annehmen, daß Freges Werke zu seiner Zeit nur wenige Leser gefunden haben. Einer dieser wenigen Leser war der junge
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Bertrand Russell. Er erkannte bald die gro en M glichkeiten, die die Untersuchung der Grundlagen der Arithmetik, insbesondere ihrer elementaren Begriffe und S tze er ffnet. Russell hat sich diesen Mitteln sofort intensiv zugewandt, und er hat bald erkannt, da sich aus den von Frege entwickelten Grundlagen der Arithmetik Widerspr che aufbauen lassen. Russell schreibt an Frege und teilt ihm die Auffindung des Widerspruchs mit. Sicherlich hat Frege auf sein Lebenswerk fast nichts als Schweigen geerntet, und ich empfinde es immer wieder als Tragik, da eine der wenigen Antworten, eben der Brief Russells, das Lebenswerk Freges im Ganzen in Frage stellt. Frege beginnt seine Antwort mit dem bek mmerten Ausruf: „O Weh, die Arithmetik wackelt!" Frege selbst hat dar ber im zweiten Band seines Werkes berichtet,* einen zweiten Bericht hat uns Whitehead gegeben. Whitehead f hrt in diesem Bericht fort: „Die Arithmetik wackelte und sie wackelt noch",3 und in der Tat hat die Entdeckung der Russellschen Antinomie die Zweifel an dem klassischen Charakter der Logik und Mathematik gebracht. Bertrand Russell ver ffentlichte die von ihm gefundene Antinomie im Jahre 19034 und gab dann eine ausgewogene Darstellung in den Principia Mathematica: „Let w be the class of all those classes which are not members of themselves. Then, whatever class χ may be, ,x is a w' is equivalent to ,x is not an x*. Hence, giving to χ the value w, ,w is a w' is equivalent to ,w is not a w'."5 Kurz darauf folgt die Darstellung der Antinomie in Formeln: „ ... there would be a class of all classes satisfying the function ,α ~ εα*. If we call this class κ, we shall have αεκ.Ξ.α~εα Since, by our hypothesis, ,κεκ' is supposed significant, the above equivalence, which holds with all possible values of a, holds with the value κ, i. e. κ ε κ . = . κ ~ εκ But this is a contradiction."' F r das Verst ndnis dieser Antinomie hat man den Zusammenhang mit den bereits bekannten Antinomien untersucht. Den Zusammenhang mit der aus der griechischen Sophistik her bekannten Antinomie des Kreters hat Russell selbst schon erkannt.7 Den Zusammenhang mit den Platonischen Antinomien, wie sie insbesondere im Par-
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menides vorgetragen sind, haben Ryle8 und Gregory Vlastos9 untersucht. Den Zusammenhang mit den Kantischen Antinomien hat unter mengentheoretischen Gesichtspunkten Hessenberg10 hergestellt. Die Russellsche Antinomie ist nicht die einzige geblieben, wir können sie aber als charakteristisch betrachten. Wir wenden uns sofort den Konsequenzen für die Wissenschaftstheorie und die Ontologie zu. Das Auftreten der Antinomien zwingt zu einer neuen Besinnung auf die Grundbegriffe der Logik und der Mathematik. Von den Antinomien aus erscheint die Mengenlehre in ihrem ersten Aufbau als naiv." Georg Cantor glaubte an eine Existenz der Mengen im Sinne eines naiven Platonismus, er sah weder im Begriff der Menge selbst noch in dem Begriff der Menge aller Mengen Schwierigkeiten. Freilich muß man einräumen, daß er ohne einen solchen naiven Glauben seine große Entdeckungsfahrt niemals hätte unternehmen können. Der Vergleich mit der Entdeckung der Infinitesimalrechnung liegt nahe. Von den Grundlagen der Infinitesimalrechnung, wie man sie im neunzehnten Jahrhundert aufgebaut hat, erscheinen die Gedankengänge der großen Entdecker, von Newton wie von Leibniz, durchaus als naiv. Aber gerade dann, wenn man die Notwendigkeit eines naiven Anfangs einräumt, wird die spätere Besinnung auf die Grundlagen des Neuentdeckten notwendig. Daß der Anstoß zu einer solchen Besinnung durch die Entdeckung der Antinomien erfolgte, war in gewisser Weise ein Zufall, war aber auch wieder ein Glück, weil die Antinomien die Besinnung unmittelbar dringend gemacht haben. Wir diskutieren jetzt die logischen und wissenschaftstheoretischen Konsequenzen, den ontologischen Konsequenzen werden wir uns in der Folge zuwenden. Dabei wird deutlich werden, daß unsere Untersuchungen in starkem Maße durch die heutige Lage der Logik, der Mathematik und der Physik bestimmt sind. Dies gilt, zum wenigsten in Deutschland, heute als unzeitgemäß. Es sieht manchmal so aus, als sei heute in Deutschland die Geschichte, man nehme sie als Geschichte im eigentlichen Sinne oder als Seinsgeschichte, das einzige Thema der Philosophie. Wir selbst scheuen nicht den Vorwurf des Unzeitgemäßen. Wir halten uns daran, daß immer in der Philosophie, daß für Platon, Aristoteles, Descartes, Leibniz, Kant und Whitehead die Probleme der Logik, der Mathematik und der Physik zu den großen Aufgaben der Philosophie gehört haben. Auf der anderen Seite 8
Martin, Metaphysik
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muß man aber auch die im angelsächsischen Raum weit verbreitete Überzeugung in Zweifel ziehen, daß aus der heutigen Situation dieser Wissenschaften entweder ein bestimmter ontologischer Standpunkt notwendig folgt, oder daß aus dieser Situation überhaupt die Unmöglichkeit der Metaphysik folgt. Kehren wir zu dem allgemein Anerkannten zurück: Das Auftreten der Antinomien macht eine neue Besinnung auf die Grundlagen notwendig. Was kann überhaupt erstrebt werden, was kann überhaupt erreicht werden? Man kann sich hier offenbar ein großes, ein prinzipielles Ziel setzen. Man kann einen solchen Aufbau der Logik und Mathematik erstreben, daß in diesem Aufbau Widersprüche nicht auftreten, und in dem bewiesen werden kann, daß Widersprüche nicht auftreten können. Daß die Gesamtheit aller wahren Sätze widerspruchsfrei ist, war, wie wir gesehen haben, die Überzeugung von Leibniz12 und von Husserl.13 In dieser Gesamtheit der wahren Sätze sind Logik und Mathematik selbstverständlich enthalten. Wir dürfen weiterhin David Hubert14 und Heinrich Scholz" nennen. Für diesen Standpunkt können Widersprüche nur dann auftreten, wenn Fehler bei den Definitionen oder bei den Schlüssen gemacht worden sind. Diese Fehler müssen beseitigt werden, dann sind auch die Widersprüche beseitigt. Das Problem hängt an der Frage, ob die Widerspruchsfreiheit bewiesen werden kann und bewiesen werden muß. Husserl und Scholz scheinen einen Beweis der Widerspruchsfreiheit nicht für notwendig gehalten zu haben. Leibniz hat, wie wir gesehen haben, für jeden Begriff den Beweis der Widerspruchsfreiheit gefordert, soweit die Widerspruchsfreiheit für die Grundbegriffe nicht intuitiv gegeben ist." Über die Möglichkeit eines solchen Beweises hat er bereits reflektiert, er ist aber auf erhebliche Schwierigkeiten gestoßen.17 David Hilbert hat den Beweis der Widerspruchsfreiheit der Mathematik18 zu einem der großen Ziele seines Lebens gemacht, er hat wiederholt geglaubt, dies Ziel praktisch schon erreicht zu haben. Daß Hilbert in diesem Ziel gescheitert ist, ist eines der entscheidenden Ereignisse in der Grundlagenforschung in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts gewesen. Wir wissen heute und werden dies im nächsten Paragraphen diskutieren, daß der Beweis der Widerspruchsfreiheit nur für verhältnismäßig einfache Theorien geführt werden kann und daß also ein Be-
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weis für die Widerspruchsfreiheit der Mathematik im Ganzen nicht erwartet werden kann. Man muß also auf dies große Ziel verzichten, und man wird auf die zweite Möglichkeit verwiesen. Man muß abwarten, bis ein bestimmter Widerspruch gefunden wird. Dann muß man die Definitionen und die Axiome der Logik und der Mathematik so einrichten, daß dieser bestimmte Widerspruch vermieden wird. Diese Aufgabe läßt sich bei der Russellschen Antinomie besonders deutlich machen. Die Russellsche Antinomie würde ausgeschaltet werden können, wenn man den Begriff der Menge aller Mengen aufgeben könnte. Gewiß wird man diesen Begriff nicht einfach ad hoc ausschalten wollen. Man muß vielmehr Begriffsbildungen, die zunächst als möglich erscheinen, so einschränken, daß der gefahrvolle Begriff der Menge aller Mengen nicht mehr auftreten kann. Grundlagen der Logik und der Mathematik, die dieser Forderung entsprechen, sind oft gegeben worden, ihre logische Bedeutung und ihr Erfolg werden verschieden beurteilt. Naturgemäß würden solche Anstrengungen nicht immer wieder unternommen werden, wenn man das Ziel, bestimmte aufgefundene Antinomien auszuschalten, nicht für möglich hielte. Dabei taucht noch einmal die grundsätzliche Frage auf: Wird man jede Antinomie vermeiden können, wird man von jeder Antinomie zeigen können, daß sie auf falschen Definitionen, falschen Axiomen oder falschen Schlüssen beruht? Es ist wenig wahrscheinlich, daß ein so weit gestecktes Ziel erreicht werden kann, dies würde ja einen Beweis der Widerspruchsfreiheit der Mathematik im Ganzen bedeuten. Man kann sich die geringere Aufgabe stellen, die bisher bekannten Antinomien aufzulösen. Dann kann man sich zunächst auf die Aufgabe beschränken, die Russellsche Antinomie aufzulösen. Dafür muß man also zeigen, daß die Russellsche Antinomie auf falschen Definitionen oder auf falschen Axiomen oder auf falschen Schlüssen beruht. Ob dies geleistet werden kann und ob dies etwa schon geleistet worden ist, darüber gibt es sehr verschiedene Meinungen. Logiker, die eine Lösung angegeben haben, werden dies behaupten. Eine allgemeine Anerkennung hat noch keiner der bisherigen Vorschläge gefunden. Wir können uns auf die Betrachtung zweier Lösungen beschränken, die typen theoretische und die intuitionistische. Russell selbst hat als Abhilfe gegen die von ihm entdeckte Anti-
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nomie die Typentheorie entwickelt. Die erste Darstellung gab er 190319, die klassische Darstellung findet sich in den Principia Mathematica. Die Typentheorie gliedert die Mengen und die Funktionen gleichsam in Schichten, eben in die von Russell so genannten Typen. Dies wird besonders deutlich bei den Mengen. Hier enthält der Typus To die Elementardinge, der Typus Ti die Mengen von Elementardingen, der Typus Ts die Mengen von Mengen von Elementardingen und so fort in eine unendliche Reihe von Typen. Die Typentheorie bindet dann alle Mengen und alle Funktionen jeweils an einen bestimmten Typus. Das bedeutet für die Mengen, daß alle Elemente einer Menge demselben Typus Tn angehören müssen und daß die Menge selbst vom nächsthöheren Typus, also vom Typus Tn + i sein muß. Darüber hinaus setzt die Typentheorie fest, daß jede Aussage nur auf einen bestimmten Typus bezogen gültig ist.20 Daraus folgt beispielsweise, daß der Satz vom Widerspruch nicht allgemein gilt, sondern daß er für jeden Typus neu gefordert oder bewiesen werden muß,21 und es folgt ebenso, daß es keinen allgemeinen Begriff der Zwei geben kann, sondern daß für jeden Typus der Begriff der Zwei neu gegeben werden muß.22 Man sieht leicht, daß in einer durch die Typentheorie eingeschränkten Logik und Mathematik die Russellsche Antinomie nicht mehr möglich ist. Auf Grund der Typentheorie ist der Begriff der Menge aller Mengen nicht mehr möglich. Dieser Begriff und alle etwa über ihn zu machenden Aussagen würden über alle Typen hinweggehen, und sie würden damit die Typentheorie so weit verletzen, wie dies überhaupt nur möglich ist. Aber auch der Begriff einer Menge, die sich selbst enthält, ist nicht mehr möglich. Eine solche Menge würde sowohl ihre Elemente als auch sich selbst enthalten. Ihre Elemente sind aber vom Typus Tn, während sie selbst vom Typus Tn +1 ist, und also verletzt auch eine solche Menge die Typentheorie. Die Begriffe, auf denen die Russellsche Antinomie aufgebaut ist, dürfen also gar nicht gebildet werden, und also kann auch die Russellsche Antinomie nicht auftreten. Hier wird das Prinzip aller Lösungen deutlich, durch eine Revision der Grundlagen diejenigen Begriffe auszuschalten, aus denen die Antinomie entspringt. Bei der Typentheorie hat sich gezeigt, daß sie in ihrer ersten Gestalt nicht genügt, daß sie vielmehr wesentlicher Verfeinerungen
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bedarf. Russell selbst hat schon solche angegeben, weitere hat dann Quine vorgeschlagen.23 Damit stellt sich die Frage, ob die Typentheorie als die Lösung der Antinomien überhaupt oder ob sie auch nur als die Lösung der Russellschen Antinomie angesehen werden kann. Die Frage ist nicht leicht zu beantworten. Russell selbst*4 und ebenso Quine25 sind skeptisch. Besonders bedeutsam erscheint die Stellungnahme von Whitehead. Whitehead hat zusammen mit Russell, der damals sein Schüler war, die Entdeckung der Antinomien und die Entwicklung der Typentheorie miterlebt. Er darf gewiß als sachverständiger Beurteiler angesehen werden. Gegen Ende seines Lebens hat Whitehead zusammenfassend zu dieser Frage Stellung genommen. Er sagt: „Russell hatte vollkommen recht. Durch die Beschränkung der Rechenschlußweise auf einen und denselben Typus werden alle Schwierigkeiten vermieden. Er hatte eine Sicherheitsvorschrift entdeckt. Leider kann diese Vorschrift nur unter der Voraussetzung zum Ausdruck gebracht werden, daß der Begriff der Zahl über die Beschränkung der Vorschrift hinaus anwendbar ist. Denn die Zahl ,dreic in jedem Typus gehört selbst zu verschiedenen Typen. Auch jeder Typus ist selbst ein von allen anderen Typen unterschiedener Typus. Es ist also gemäß der Vorschrift die Konzeption von zwei verschiedenen Typen ebenso wie die Konzeption von zwei verschiedenen Bedeutungen der Zahl drei sinnlos. Weiter folgt, daß unsere einzige Art, die Vorschrift zu verstehen, Unsinn ist."2' Man darf meines Erachtens das Urteil der Sachkenner dahin zusammenfassen, daß ein befriedigender Aufbau der Typentheorie bis heute nicht gelungen ist. Als zweite Lösung betrachten wir die intuitionistische Grundlegung der Mathematik. Während die Typentheorie unmittelbar als eine Auflösung der Antinomien gewollt ist, zielt die intuitionistische Grundlegung von vornherein auf die Grundbegriffe der Mathematik. Die Auflösung der Antinomien ist nur ein Teilergebnis, wenn auch ein ausdrücklich erstrebtes. Brouwer betrachtet die Arithmetik als den eigentlichen Kern der Mathematik und der Logik. Das unmittelbar Gegebene in der Arithmetik wiederum ist die Reihe der natürlichen Zahlen.27 Hier greift Brouwer auf die Vorstellungen der Griechen zurück, wie sie im vorigen Jahrhundert insbesondere von Kronecker28 vertreten worden sind. Das eigentlich Gegebene sind die natürlichen
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Zahlen, alle anderen Zahlen sind nur Hilfskonstruktionen. Dies führt Brouwer in einen entschiedenen Gegensatz zu Cantor, dessen ausdrückliches Ziel es war, über die Unendlichkeit der natürlichen Zahlen hinauszugehen. Man kann den Standpunkt von Brouwer von hier aus dahin formulieren, daß nur die Unendlichkeit der natürlichen Zahlen, das, abzählbar Unendliche* zugelassen wird. Die darauf reduzierbaren unendlichen Bereiche werden ebenfalls anerkannt, dagegen werden alle höheren Unendlichkeiten verworfen. Weiter fordert Brouwer, daß nur realisierbare Prozesse zugelassen werden. Darin liegt die Ablehnung des indirekten Beweises beschlossen. Der Satz vom ausgeschlossenen Dritten, der die Grundlage des indirekten Beweises bildet, wird weiterhin ungültig. Die operative Logik von Paul Lorenzen" macht einen alten Gedanken zum Mittelpunkt der Logik. Man hat schon immer gesehen, daß gewisse Begriffe der Logik sich als ein Handeln, als ein operari darstellen lassen. Die große Bedeutung der operativen Logik von Lorenzen besteht darin, daß diese alte Erwägung wirklich durchgeführt wird, daß uns eine Logik vorgelegt wird, in der nun wirklich alles Logische als ein Handeln, als ein operari verstanden wird. Wir wollen in diesem Augenblick die Bedeutung des intuitionistischen Standpunktes von Brouwer oder die Bedeutung der operativen Logik von Lorenzen nicht ausschöpfen, sondern wir wollen nur fragen, ob sie eine befriedigende Lösung der Antinomien darstellen. Zunächst muß man festhalten, daß an einen Beweis der Widerspruchsfreiheit in der intuitionistischen Mathematik oder in der operativen Logik nicht gedacht wird, ein solcher Beweis kann nach den hier vorliegenden Grundauffassungen auch gar nicht verlangt werden. Tatsächlich ist nach der Auffassung von Brouwer und Lorenzen die so begrenzte Logik und Mathematik widerspruchsfrei, und es ist auch bis jetzt nicht gelungen, in den so begrenzten Theorien Widersprüche aufzuzeigen. Ein gewichtiger Einwand gegen den intuitionistischen Ansatz wird von vielen Mathematikern erhoben. Dieser Einwand wird als solcher auch von den Intuitionisten anerkannt. Zwischen der Unendlichkeit der natürlichen Zahlen und der Unendlichkeit der Punkte einer Geraden besteht ein Unterschied, viele sind geneigt zu sagen: klafft ein Abgrund. Die klassische Auffassung der Mathematik überbrückt diese
§27: Die Antinomie von Russell
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Differenz, indem sie die Existenz einer neuen Zahlklasse, die Existenz der reellen Zahlen, annimmt. Cantor ist auf diesem Weg weiter gegangen und hat die begrifflichen Mittel geschaffen, um die hier vorliegenden Verhältnisse, mögen sie nun wirklich vorliegen oder bloß angenommen sein, präzis auszudrücken. Cantor lehrt, daß es über die Unendlichkeit der natürlichen Zahlen hinaus ein unübersehbar großes Reich von Unendlichkeiten gibt. Dabei kommt es besonders auf die Unendlichkeit der reellen Zahlen an, die, wenn sie existiert, jedenfalls auf die Unendlichkeit der natürlichen Zahlen nicht eineindeutig abgebildet werden kann. Die Unendlichkeit der reellen Zahlen hat eine höhere Mächtigkeit als die Unendlichkeit der natürlichen Zahlen, sie ist aber äquivalent mit der Unendlichkeit der Punkte einer Geraden. Diese Lösung Cantors wird nun unmöglich, wenn der Intuitionismus die Existenz einer anderen Unendlichkeit als die der natürlichen Zahlen bestreitet. Da aber die Möglichkeit, geometrische Probleme mit arithmetischen Mitteln zu erfassen, unumgänglich ist, sieht sich der Intuitionismus zu Hilfskonstruktionen genötigt, die einen recht künstlichen Eindruck machen. Die Künstlichkeit dieser Hilfskonstruktionen ist in den Augen der meisten Mathematiker nicht ganz zu Unrecht ein schwerwiegendes Argument gegen die intuitionistische Auffassung. Diese Bedenken gewinnen an Gewicht, wenn man auf die philosophischen Probleme zurückgeht. Es handelt sich um die Existenzfragen im Bereich des Unendlichen. Man hat schon früh erkannt, und Hessenberg hat es in aller Form dargestellt, daß hier ein Zusammenhang mit den alten Antinomien, insbesondere mit den Kantischen Antinomien, vorliegt.30 Wenn wir uns auf das Problem des mathematisch Unendlichen beschränken, so bedeutet der Übergang zur Unendlichkeit der reellen Zahlen, daß eine bestimmte Unendlichkeit, nämlich die der natürlichen Zahlen, zu einer Einheit zusammengefaßt wird und daß von dieser als Element betrachteten Unendlichkeit der natürlichen Zahlen eine höhere Unendlichkeit aufgebaut wird. Die Intuitionisten haben gesehen, daß hier der entscheidende Schritt getan wird. Es ist dieser Schritt, den sie als unzulässig erklären. Die Unendlichkeit der natürlichen Zahlen darf nicht ihrerseits wieder als ein Element betrachtet werden. Man sieht, daß die Intuitionisten ein Verbot, das an irgendeinem Punkt einmal notwendig wird, bereits an einem sehr frühen Punkt setzen. Daß die Menge aller Mengen ihrerseits nicht
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Kap. 4: Die Einheit des Allgemeinen
wieder als eine Menge, also als ein Element aufgefaßt werden darf, darüber herrscht heute allgemeines Einverständnis. Die Intuitionisten verbieten aber schon, die Menge der natürlichen Zahlen als eine Menge im strikten Sinne und also als ein neues Element aufzufassen. Die Frage ist, ob man dies Verbot so früh ansetzen muß. Daß hier ein Problem liegt und daß man mit einer strikten Entscheidung viele Schwierigkeiten abwehren kann, hat bereits Leibniz gesehen. Wir wiesen schon darauf hin, daß für Leibniz die Unendlichkeit der natürlichen Zahlen kein totum, sondern nur ein aggregatum ist.*1 Kant ist einen wichtigen Schritt weitergekommen. Es ist das Wechselspiel zwischen unendlichem Fortgang und immer wieder notwendig werdendem Abschluß, neuem unendlichen Fortgang und wiederum notwendig werdendem Abschluß, das das eigentlich Erregende des Unendlichkeitsproblems ausmacht und das die Quelle der Widersprüche ist. Die intuitionistische Lösung bedeutet, daß man dies Wechselspiel schon bei seinem ersten Auftreten nicht zuläßt; bereits die erste Unendlichkeit, die Unendlichkeit der natürlichen Zahlen, darf nicht als eine Einheit im vollen Sinne aufgefaßt werden. Es erscheint daher verständlich, daß die Intuitionisten die Antinomien ausschließen, wenn sie dies eigentlich erregende Moment des Unendlichen ausschließen. Aber dies Opfer könnte doch zu groß sein. Kant selbst hat einen anderen Weg gesucht. Er läßt dies Wechselspiel von Fortgang und Abschluß bestehen. Er sucht ein Verständnis dieses Prozesses, und er ist überzeugt, daß ein Verstehen dieses Prozesses die Widersprüche zwar nicht beseitigt, aber doch auflöst, indem man sie jetzt versteht.*2 Erwägt man diese philosophischen Hintergründe des Problems, dann liegt der Schluß nahe, daß die intuitionistische Lösung nicht als vollkommen befriedigend betrachtet werden kann. Dies bedeutet also, daß weder die Lösung der Typentheorie noch die Lösung des Intuitionismus als endgültige Lösung gelten können. Ein ähnliches Urteil dürfte sich ergeben, wenn man die anderen bisher angegebenen Lösungen unter diesem Gesichtspunkt prüfen würde. Man wird daher das vorsichtig zurückhaltende Gesamturteil von Fränkel und Bar Hillel als wichtig betrachten dürfen.33 Es ist bis jetzt keine wirklich befriedigende Lösung angegeben worden, um die Antinomien auf logischem Wege auszuschalten, und es ist schwerlich zu erwarten, daß dies eines Tages geschehen wird. Vielmehr dürfte sich
§28: Der Unentscheidbarkeitssatz von Gödel
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der Kantische Gedanke als wichtig erweisen: Man kann die Antinomien nicht ausschalten, man kann sie nur verstehen, und man kann sie auflösen, indem man sie versteht. 5 28: Der Unentscheidharkeitssatz von Gödel In den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts waren die Sachkenner der Logik und der Grundlagenforschung sehr beunruhigt darüber, daß Huberts großangelegte Versuche, die Widerspruchsfreiheit der Mathematik zu beweisen, nicht zum Ziele kamen. Der Unentscheidbarkeitssatz Gödels hat die schwerwiegende Erkenntnis gebracht, daß das Ziel unerreichbar ist, weil es zu weitgesteckt ist. Gödel veröffentlichte seine Entdeckung im Jahre 1928.1 Die Bedeutung dieser Entdeckung wurde bald erkannt, es entstand eine umfangreiche Literatur darüber. Gödel selbst hat seine Entdeckung weitgehend formalisiert, es wurden bald aber auch nichtformale Darstellungen gegeben. Es kann ja jede in einer streng formalisierten Sprache gegebene Untersuchung auch in einer nichtformalisierten Sprache gegeben werden, wenn man auf die Prägnanz der Formalisierung verzichtet. Ich verweise insbesondere auf die Darstellung von Rosser,* die ausdrücklich als „informal" bezeichnet ist, sowie auf die zusammenfassenden Darstellungen von Mostowski," Stegmüller4 und Bar Hillel.5 Gödel grenzt zunächst den zu untersuchenden Bereich ab. Der Bereich soll enthalten die natürlichen Zahlen mit den darin auszuführenden Operationen des Addierens, des Multiplizierens und des Potenzierens, die darauf bezüglichen Sätze der elementaren Zahlentheorie sowie die zur Gewinnung dieser Begriffe und Sätze notwendigen logischen Mittel, insbesondere den Aussagenkalkül und den Prädikatenkalkül der ersten Stufe.' In diesem von Gödel definierten Sinne spreche ich in diesen Untersuchungen von der elementaren Arithmetik, wobei ich meistens einfach von der Arithmetik spreche. Es handelt sich also um die natürlichen Zahlen und ihre Gesetze. Die unbegrenzte Ausführbarkeit der Subtraktion und der Division wird nicht gefordert, es wird also auch nicht die Existenz der negativen und der rationalen Zahlen verlangt. Dies ist der Bereich, den auch Platon, Aristoteles und Euklid als Arithmetik verstehen. In diesem Bereich kann Gödel den Begriff des Beweises und der Be-
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Kap. 4: Die Einheit des Allgemeinen
weisbarkeit definieren. Ein arithmetischer Beweis bedeutet eine gewisse Kette von arithmetischen Sätzen. Ein bestimmter Satz ist dann bewiesen, wenn eine solche Kette aufgefunden worden ist, und er ist dann beweisbar, wenn in dem betrachteten Bereich eine solche Kette existiert.7 In dem von Gödel in dieser Weise betrachteten Bereich sind also jetzt nicht nur die arithmetischen Sätze enthalten, sondern auch die Sätze über ihre Beweisbarkeit. In ihm ist also nicht nur der Satz enthalten: „7 + 5 = 12", sondern auch der Satz: „der Satz ,7 + 5 = 12' ist beweisbar". Nachdem Gödel dies gezeigt hat, geht er in einem weiteren Schritt daran, sämtliche Sätze zu numerieren. Jetzt erhält der Satz „7+5 = 12" eine bestimmte Nummer, ebenso aber auch der Satz „Der Satz ,7 + 5 = 12* ist beweisbar". Nach diesen Vorbereitungen kann Gödel zeigen, daß sich ein Satz mit der Nummer n konstruieren läßt, und daß dieser n.te Satz lautet: Der n.te Satz ist unbeweisbar.8 Dieser Satz behauptet also seine eigene Unbeweisbarkeit, und es ist klar, daß dieser Satz weder als wahr noch als falsch bewiesen werden kann." Es ist zunächst eine rein mathematische Frage, ob mit den von Gödel umgrenzten Mitteln ein solcher Satz gebildet werden kann. Bis jetzt hat diese Behauptung von Gödel allen Nachprüfungen standgehalten. Erkennt man diese rein mathematische Behauptung an, dann kann man sich die Bedeutung des Gödelschen Satzes überlegen. Schon Gödel hat gesehen, daß hier das alte Paradoxon des Kreters in der elementaren Arithmetik nachgebildet werden kann.10 Die Griechen hatten die Frage aufgeworfen, was von einem Kreter zu halten sei, der sich auf einen Marktplatz von Kreta stellt und behauptet: Alle Kreter sind Lügner. Dieser Satz soll so verstanden werden, daß alles, was ein Kreter sagt, eine Lüge ist. Man sieht sofort, daß der so verstandene Ausspruch des Kreters: Alle Kreter sind Lügner, unmöglich wahr sein kann. Wenn er wahr wäre, dann müßte er eine Lüge, also falsch sein.11 Ebenso kann der von Gödel konstruierte Satz unmöglich beweisbar sein, denn wenn er beweisbar wäre, so müßte er unbeweisbar sein. Damit ist also gezeigt, daß es in der elementaren Arithmetik zum mindesten einen unbeweisbaren Satz gibt.12 Ein solches Ergebnis hat in der zweitausendjährigen Geschichte der Arithmetik, der Logik und der Philosophie niemand für möglich gehalten. Die Arithmetik der natürlichen Zahlen ist vielmehr immer das Standardbeispiel dafür gewesen, daß
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jeder Satz entweder wahr oder falsch sein muß und daß jeder wahre Satz in seiner Wahrheit und jeder falsche Satz in seiner Falschheit bewiesen werden kann. In diesem Sinne ist für Husserl die Arithmetik das Standardbeispiel für eine definite Mannigfaltigkeit." Es steht für ihn außer Zweifel, daß jeder Satz der Arithmetik entweder selbst ein Axiom ist oder aus endlich vielen Axiomen bewiesen oder widerlegt werden kann. Wir können in der von uns gewählten Terminologie formulieren: die elementare Arithmetik als Theorie hat eine klassische Struktur im Husserlschen Sinne. Das Erstaunliche an der Gödelschen Entdeckung ist, daß schon eine so elementare Theorie wie die Arithmetik der natürlichen Zahlen nicht mehr die klassische Struktur im Husserlschen Sinne hat. Die Untersuchung von Gödel enthält noch ein weiteres, philosophisch relevantes Ergebnis. Die Unentscheidbarkeit eines Satzes kann hinausgeschoben werden. Durch geeignete Festsetzungen kann ein unentscheidbarer Satz entscheidbar gemacht werden, dafür tritt aber, anschaulich gesagt, gewissermaßen weiter hinten ein anderer unentscheidbarer Satz auf." Diese Unentscheidbarkeit ist also kein absoluter Tatbestand, sondern sie hat gewissermaßen einen dynamischen Charakter. Weiter zeigt Gödel, daß die Widerspruchsfreiheit einer Theorie nicht mit den Mitteln der Theorie selbst, sondern daß sie nur mit den Mitteln einer übergeordneten Theorie bewiesen werden kann." Die Widerspruchsfreiheit einer Theorie kann also nur in einer Reflexion über diese Theorie gewonnen werden, und auch dies Ergebnis von Gödel erscheint vom philosophischen Standpunkt aus völlig verständlich. § 29: Geometrien und Physiken Wir könnten unsere Erwägungen fortführen, indem wir darstellen, wie die Gödelschen Ergebnisse von den Logikern und Mathematikern ausgebaut worden sind. Wir schlagen aber einen anderen Weg ein. Wir werden dabei Probleme diskutieren, die zwar formal noch nicht sehr weit untersucht sind, die aber einer nicht formalen Untersuchung wie der unseren besser zugänglich sind. Wir fragen zunächst nach der Gesamtheit der möglichen Geometrien. Auf dieser Frage lasten, von der Philosophie her gesehen, viele
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Schwierigkeiten. Für die Griechen gab es nur eine Geometrie. Sie zweifelten nicht daran, und sie hatten auch keinen Grund, daran zu zweifeln, daß die Geometrie, die wir die euklidische nennen, die einzige Geometrie ist, und daß sie die richtige Lehre vom wirklichen Raum ist. Leibniz ist derselben Auffassung gewesen, denn für ihn gründet sich die Geometrie, so wie die Mathematik im Ganzen, allein auf den Satz vom Widerspruch.1 Also muß jede andere Geometrie, die man sich immer auch denken mag, in sich widerspruchsvoll sein. Es scheint übrigens so, als ob Leibniz gelegentlich auch die Möglichkeit anderer Geometrien erwogen habe; sie wären aber dann bloße Rechenschematismen, die zwar als solche widerspruchsfrei wären, aber in der wirklichen Welt nicht würden gelten können.2 Im Zusammenhang mit Untersuchungen über den möglichen Beweis des Parallelenaxioms tauchten im 18. Jahrhundert die ersten Zweifel auf. Saccheri wollte das Parallelenaxiom durch einen indirekten Beweis beweisen. Das euklidische Parallelenaxiom fordert, daß es durch einen Punkt eine und nur eine Parallele gibt. Wenn dies auf indirektem Weg bewiesen werden soll, dann muß die alternative Voraussetzung, daß es durch einen Punkt zu einer Geraden mehr als eine Parallele gibt, entweder in sich selbst oder in ihren Folgesätzen einen Widerspruch enthalten. Saccheri mußte zu seinem Erstaunen eine große Zahl von Folgesätzen beweisen, bis er zu seiner Freude auf die gesuchte Widerlegung stieß.* Bei der späteren Nachprüfung zeigte sich aber, daß die dafür benutzten Schlüsse logisch nicht einwandfrei waren.4 So wurde die Vermutung nahegelegt, daß das alternative Axiom: Es gibt durch einen Punkt zu einer Geraden mehr als eine Parallele, mit seinen Folgesätzen eine nichteuklidische Geometrie darstellt. Aber diese Konsequenz hat man nur sehr langsam gewagt. Lambert hat erkannt, daß eine solche Geometrie eine Geometrie auf einer Kugel mit imaginärem Radius darstellt.5 Kant hat in seiner Jugendschrift ausdrücklich Geometrien mit mehr als drei Dimensionen gefordert, und er hat solche Geometrien als die eigentliche Geometrie bezeichnet.' In seinen späteren Erwägungen ist er meiner Überzeugung nach davon ausgegangen, daß das euklidische Parallelenaxiom nicht aus dem Satz des Widerspruchs bewiesen werden kann und daß also auch andere Geometrien widerspruchsfrei denkbar sind. Im Anfang des neunzehnten Jahrhunderts veröffentlichten dann praktisch gleich-
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zeitig Bolyai7 und Lobatschewski8 die später nach ihnen genannte Geometrie. Es hat sich gezeigt, daß auch Gauss diese Geometrie bereits entwickelt hatte, daß er sie aber bewußt in seiner Schublade liegen ließ.9 Riemann fügte die Geometrie hinzu, die von dem Axiom ausgeht, daß keine Parallele existiert, und die dann seinen Namen erhalten hat.10 Diese nichteuklidischen Geometrien blieben aber zunächst reine Formalismen, insbesondere wurde von den Mathematikern der Beweis ihrer Widerspruchsfreiheit vermißt. Dieser Beweis gelang erst durch die Entdeckung der sogenannten euklidischen Modelle der nichteuklidischen Geometrien. Poincare11 insbesondere konnte zeigen, daß es in der euklidischen Geometrie Gebilde gibt, die den Gesetzen nichteuklidischer Geometrien gehorchen. Gäbe es also in einer solchen Geometrie einen Widerspruch, dann müßte er sich auch auf die euklidische Geometrie übertragen. Den letzten Schritt in dieser Entwicklung bildete dann die Einführung der riemannschen Geometrie in die Physik durch Einstein.12 Der Widerstand der Mathematiker, der Logiker und der Philosophen gegen die nichteuklidischen Geometrien war stark. Aber die ständigen Erfolge der Arbeit an diesen Geometrien brachten den Widerstand Stück für Stück zum Erliegen. Den letzten Ausweg hat man dahin gesucht, daß man zwar nichteuklidische Geometrien zulassen will, daß aber nur die euklidische Geometrie eine Geometrie genannt werden soll, während für die anderen Geometrien ein anderer Name zu wählen sei. Aber dies ist doch nur eine terminologische Angelegenheit, die an der Sache selbst nichts ändert. Wenn an der Existenz der nichteuklidischen Geometrien nicht mehr gezweifelt werden kann, dann ist zu fragen, wie sich dies auf den Begriff der Geometrie als solchen auswirkt. Insbesondere stellt sich die Frage nach der Zahl der möglichen Geometrien. Man sieht bald, daß die Zahl der möglichen Geometrien nicht endlich sein kann. Dies ergibt sich allein schon daraus, daß die Zahl der n-dimensionalen Geometrien nicht endlich sein kann. Aber auch die Zahl der riemannschen Geometrien (— und dies gilt entsprechend auch von den lobatschewskischen Geometrien —) kann nicht endlich sein. Dies hat schon Riemann gesehen,13 und Poincaro hat es wieder betont.14 Die Abwandlung weiterer Axiome, über das Parallelenaxiom hinaus, und die Verwen-
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Kap. 4: Die Einheit des Allgemeinen
düng anderer Logiken eröffnen Bereiche von neuen Geometrien, deren Zahl ebenfalls nicht endlich sein kann. Damit stellt sich die Frage, welchen Charakter diese Gesamtheit der möglichen Geometrien hat. Gibt es insbesondere Gesetze, die immer zutreffen müssen, damit eine Theorie noch eine Geometrie genannt werden kann? Gibt es solche Gesetze, dann kann man sie zu einem Axiomensystem zusammenfassen, das man unter philosophischen Gesichtspunkten auch ein Prinzipiensystem nennen kann. Dies ist die Meinung von Husserl. Seine Erwägungen im ersten Band der Logigischen Untersuchungen sind dadurch bestimmt, daß die nichteuklidischen Geometrien als zulässig betrachtet werden. Husserl lehrt die Existenz einer obersten Gattung Geometrie, unter der die einzelnen Geometrien in verschiedenen Abstufungen stehen. So wie jede Theorie durch ein Prinzipiensystem bestimmt ist, so ist auch diese oberste Gattung Geometrie überhaupt durch ein Prinzipiensystem, beziehungsweise durch ein Axiomensystem bestimmt, wobei es natürlich vorkommen kann, daß ein solches System nur aus einem einzigen Prinzip, beziehungsweise nur einem einzigen Axiom besteht.18 Uns erscheint dieser Ansatz Husserls unerweisbar. Zunächst muß man bedenken, daß die axiomatischen Abwandlungen der euklidischen Geometrie bereits ziemlich bald zu recht befremdlichen Theorien führen können. An die nichteuklidischen Geometrien im engeren Sinne haben wir uns alle gewöhnt. Hebt man aber beispielsweise das archimedische Stetigkeitsaxiom auf,16 so kommt man doch schon zu einer merkwürdigen Geometrie, und man kann verstehen, daß stärker reduzierte Geometrien als pathologische Geometrien bezeichnet worden sind. Die Existenz eines obersten Axiomensystems würde bedeuten, daß der Prozeß der Abwandlung der Geometrien an eine feste Grenze stößt, die nicht mehr unterschritten werden kann. Eine solche Grenze ist bis jetzt nicht angegeben worden. Solange dies nicht geschehen ist, muß man die andere Möglichkeit ins Auge fassen, daß der Prozeß der Entwicklung neuer Geometrien ohne Grenze fortsetzbar ist. Hier zeigt sich ein wichtiger Unterschied gegenüber der Zahlenreihe. Auch die Reihe der natürlichen Zahlen kann man ohne Grenze fortsetzen, aber man weiß immer, zu welchen Zahlen man kommen wird, weil der Prozeß der Fortsetzung gesetzmäßig bestimmt ist. Bei der Bildung neuer Geometrien ist eine solche gesetz-
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mäßige Bestimmung nicht bekannt, und man kann daher nicht wissen, zu welchen Geometrien man noch kommen wird. Ich will eine solche Gesamtheit eine offene Gesamtheit nennen und damit einen Terminus übernehmen, der in den letzten Jahrzehnten oft gebraucht worden ist, ich verweise etwa auf Gonseth," Bernays,18 Hasenjäger19 und Fränkel-Hillel.20 Damit erhalte ich den Gegenbegriff zu dem für Husserl gebildeten Begriff der klassischen Gesamtheit. Unter einer klassischen Gesamtheit will ich also im Sinne Husserls eine Gesamtheit verstehen, die durch ein oberstes Prinzipiensystem bestimmt ist, unter einer offenen Gesamtheit will ich eine Gesamtheit verstehen, der diese Bestimmtheit durch ein oberstes Prinzipiensystem fehlt. Dabei betrachte ich hier nur Gesamtheiten von Sätzen, also Satzmengen oder Theorien. Man kann dann also sagen, daß die Gesamtheit der Geometrien keine klassische Gesamtheit, sondern eine offene Gesamtheit ist. In der Frage der möglichen Physiken besteht wenig Klarheit. Die Entdeckung der Atomphysik hat unser Jahrhundert tief erregt, nicht nur in den Fragen der Anwendbarkeit im Krieg und im Frieden, sondern auch in den rein theoretischen Problemen der neuen Disziplin. Man muß sich hier aber von der Betroffenheit lösen und zur kühlen wissenschaftstheoretischen Fragestellung übergehen. Was ist die Atomphysik für eine Theorie? Wie hängt sie mit der klassischen Physik zusammen? Sind weitere Physiken möglich? Wir wissen heute noch wenig über den Zusammenhang der Atomphysik mit der klassischen Physik. Es bleibt immer noch die spöttische Bemerkung charakteristisch, daß die Atomphysik am Montag, Mittwoch und Freitag gilt, die klassische Physik aber am Dienstag, Donnerstag und Sonnabend. Läßt man den endlichen Betrag des Energiequants gegen Null gehen, und läßt man die mit dem Energiequant zusammenhängenden Größen sich dementsprechend verändern, dann kommt man zur klassischen Physik. Diese Grenzbetrachtung, durch die der Zusammenhang der Atomphysik mit der klassischen Physik erreicht werden soll, hat nur den Nachteil, daß eine solche stetige Veränderung nach dem Grundsatz der Atomphysik durchaus nicht möglich ist. Eine andere Möglichkeit, sich den Zusammenhang der beiden Physiken vorzustellen, wäre die, daß man annimmt, daß gewisse Sätze in der klassischen Physik gelten und daß diese Sätze in der Atomphysik entweder nicht gelten oder daß eine Abwandlung von ihnen, gege-
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benenfalls ihr kontradiktorisdies Gegenteil, gilt. Dies würde dann dem axiomatischen Wege entsprechen. Dabei käme es auch auf das Kausalgesetz an und auf die Ersetzung des Kausalgesetzes durch statistische Gesetze. Allerdings ist diese Frage noch wenig geklärt. Auch die Physiker sind sich in ihrer Stellung zum Kausalgesetz keineswegs einig. Viele Physiker, heute vielleicht die Mehrzahl, wollen das Kausalgesetz in der Atomphysik ganz aufgeben. Hier wären etwa Niels Bohr21 und Werner Heisenberg22 zu nennen. Dagegen stehen gewichtige Stimmen, ich verweise besonders auf Planck" und Schrödinger,24 die daran festhalten, daß es keineswegs unmöglich ist, daß dem statistisch erfaßbaren Ablauf der atomaren Prozesse dennoch eine kausale Gesetzlichkeit zugrunde liegt. Zum mindesten ist diese Unmöglichkeit bis jetzt nicht bewiesen, und sie ist schwerlich beweisbar. Die Diskussion ist dadurch behindert, daß niemand genau weiß, was das Kausalgesetz sagt oder sagen soll. Künftige Erwägungen müßten zunächst hier eine weitere Klärung suchen. Am zukunftsträchtigsten scheinen mir die Gedankengänge von De Broglie zu sein.25 De Broglie hält die Disjunktion, daß das Kausalgesetz in der Atomphysik entweder gilt oder nicht gilt, für zu einfach. Er erkennt an, daß das Kausalgesetz in seiner klassischen Form in der Quantenphysik nicht gelten kann, aber er hält es für möglich, daß in der Quantenphysik eine abgeschwächte Form des Kausalgesetzes gilt. Ein Analogen dazu wären etwa die Gesetze der Multiplikation, die in strenger Form für die natürlichen Zahlen gelten, die aber für andere Zahlklassen nur in einer analogen Form gelten. Wenn diese Gedanken von De Broglie weiter entwickelt werden, dann wird man vermutlich zu dem Ergebnis kommen, daß eine Reihe von Gesetzen der klassischen Physik auch in der Quantenphysik gültig bleibt, während andere Gesetze nicht völlig aufgehoben werden, vielmehr in einer analogen Form gültig bleiben. Wenn die Frage nach dem Zusammenhang dieser beiden Physiken noch offen ist, so ist auch die Frage nach der Möglichkeit weiterer Physiken noch nicht geklärt. Füllen die klassische Physik und die Atomphysik den möglichen Raum der Physik völlig aus, oder gibt es hinter oder unter diesen beiden Physiken noch eine dritte Physik, gibt es dahinter vielleicht noch mehrere Physiken, gibt es dahinter vielleicht sogar eine unendliche Reihe möglicher Physiken? Die Meinung, daß eine bestimmte Wissenschaft zu einer bestimmten Zeit in ihren Grundzügen
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völlig erfaßt sei, ist immer wieder aufgetreten. Für die Mathematik hat dies meines Wissens zum erstenmal D'Alembert gesagt, der im Vorwort zur Enzyklopädie mit Sorge davon spricht, daß die Mathematik bald ausgeschöpft sein werde.*' Im neunzehnten Jahrhundert finden wir eine verwandte Auffassung der Mathematik etwa bei Hankel.27 Daß man in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts die Physik als in ihren Grundzügen abgeschlossen betrachtet hat, ist bei dem Zustand der klassischen Physik in dieser Zeit völlig begreiflich. Aber jetzt wäre es doch möglich, daß mit der Entdeckung der Quantenphysik die prinzipiellen Möglichkeiten der Physik ausgeschöpft sind, wieviel auch immer in dem abgesteckten Rahmen noch zu entdecken sein wird. Eine solche Frage kann schwerlich von vornherein entschieden werden. Man kann nur auf die uns bekannten Ereignisse reflektieren. Planck entdeckte den Grundbegriff der Quantenphysik, als er erkannte, daß für gewisse Vorgänge die Energie sich nicht kontinuierlich ändern dürfe. Nun ist diese kontinuierliche Veränderung der Energie eine völlig plausible Voraussetzung der klassischen Physik. Niemand konnte annehmen, und niemand hat angenommen, daß hier eine Änderung möglich sei. Erst neue experimentelle Erfahrungen, die sich in das alte begriffliche Schema nicht einfügen ließen, haben die Einführung des Quantenbegriffs notwendig gemacht. Nach dieser Erfahrung wird niemand ausschließen wollen, daß sich dies wiederholen kann. Audi in der Quantenphysik und überhaupt in jeder irgendwann einmal entwickelten Physik können Grundbegriffe stekken, die als selbstverständlich erscheinen, die aber durch ihre Änderung zu einer neuen Physik führen. Freilich kann man nicht wissen, wie eine solche Physik aussehen wird, man kann nicht wissen, ob und welche von den heutigen Grundbegriffen geändert werden können. Hält man diese Möglichkeit frei, dann ist auch die Gesamtheit der möglichen Physiken keine klassische Gesamtheit, sondern eine offene Gesamtheit. 5 30: Arithmetiken und Logiken Von diesen Problemen wissen wir in der Arithmetik und in der Logik etwas mehr als in der Geometrie und in der Physik. In der Arithmetik dreht es sich zunächst um das Problem der Zahlenklassen. 9 Martin, Metaphysik
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Es sind diejenigen Erweiterungen der Arithmetik der natürlichen Zahlen, die auf die negativen, auf die rationalen, auf die irrationalen und auf die komplexen Zahlen führen. Hier ist es durchaus gebräuchlich, von einer Arithmetik der natürlichen Zahlen oder von einer Arithmetik der komplexen Zahlen zu sprechen. Zwei Auffassungen stehen seit jeher einander gegenüber. Die eine Auffassung geht davon aus, daß es einen allgemeinen Begriff der Zahl gibt, unter dem in einer noch näher zu bestimmenden Weise die Begriffe der natürlichen, der ganzen, der rationalen, der komplexen Zahl stehen. Die andere Auffassung betrachtet allein die natürlichen Zahlen als Zahlen im eigentlichen Sinne, alle anderen Zahlen sind Erweiterungen, die auf die natürlichen Zahlen zurückgeführt werden müssen. Die erste Auffassung vertritt insbesondere Husserl. Er lehrt ausdrücklich die Existenz eines Gattungsbegriffs ,Zahl', unter dem dann die Begriffe der einzelnen Zahlenklassen als Arten stehen.1 In einer etwas anderen Form findet sich diese Auffassung schon bei Hankel. Hankel sieht die Erweiterung der natürlichen Zahlen als einen Prozeß, in dem jeweils die unbeschränkte Ausführung der in einem bestimmten Zahlbereich nur beschränkt ausführbaren Operationen gefordert wird. Hankel betrachtet dies als ein Grundgesetz.2 Dieser Versuch, zwischen den Zahlenklassen einen systematischen Zusammenhang herzustellen, ist zunächst sehr eindrucksvoll, er hält aber einer genaueren Nachprüfung nicht stand. Zunächst hat schon Gauss beweisen können, daß nach den zweidimensionalen komplexen Zahlen neue Phänomene nicht auftreten, die für diese geltenden Gesetze bleiben auch bei der Erhöhung der Dimensionszahl erhalten.5 Das Abbrechen der Entwicklung an diesem Punkt bleibt für die Systematik Hankels unerklärbar. Der wichtigste Einwand geht aber dahin, daß auf dem Wege Hankels die reellen Zahlen nicht erreicht werden können. Wenn die reellen Zahlen auf einem operativen Wege erreicht werden sollen, dann muß man dafür ganz neue Operationen wählen, beispielsweise die Mengenbildung von Mengen natürlicher Zahlen.* Die andere Auffassung ist von den Griechen vertreten worden. Die Griechen betrachten nur die natürlichen Zahlen als Zahlen. Zu ihnen gehört noch nicht die Null, die die Griechen bis auf Diophant noch nicht verwandt haben, in einem gewissen Sinne auch noch nicht die Eins.5 Die alte griechische Auffassung ist im vorigen Jahrhundert wie-
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der von Kronecker6 und in unserem Jahrhundert wieder von Brouwer und den ihm Folgenden vertreten worden. Für den zweiten Standpunkt kann ein systematischer Zusammenhang der Zahlklassen im Sinne einer strikten mathematischen und logischen Existenz gar nicht existieren. Der erste Standpunkt behauptet zwar die Existenz eines solchen Zusammenhanges, etwa in der Form eines obersten Begriffes ,Zahlf, eine befriedigende Entwicklung dieses Standpunktes hat bis jetzt aber noch nicht gegeben werden können. Man darf auch die Bedenken nicht übersehen, die gegen die Auffassung Husserls und Hankels von der Axiomatik her geltend gemacht werden können. Wenn schon die Durchsetzung des axiomatischen Standpunktes in der Geometrie auf Schwierigkeiten gestoßen ist, so ist die Entwicklung in der Arithmetik noch langsamer gegangen. Kant ist vielleicht einer der ersten gewesen, der einen axiomatischen Aufbau der Arithmetik in Erwägung gezogen hat.7 In der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts wurde dann die Axiomatisierung der Arithmetik in Angriff genommen, als einer der ersten hat Peano ein Axiomensystem der Arithmetik vorgelegt.8 Wenn eine Theorie axiomatisiert werden kann, dann können auch abgewandelte Theorien entwickelt werden. Ich will sie in Analogie zur nichteuklidischen Geometrie nichtklassische Theorien nennen. Solche Abwandlungen ergeben sich, wenn bei bestimmten Operationen etwa das kommutative oder das assoziative Gesetz aufgehoben wird, und es ist ja leicht, Beispiele für Operationen zu geben, die nicht kommutativ sind. Tiefer in die Arithmetik greift die Aufhebung des Unendlichkeitsaxioms ein,'obwohl endliche Zahlklassen, wenn auch in einer etwas anderen Begrifflichkeit, schon immer eine wichtige Rolle gespielt haben. Noch tiefer greifen die Aufhebungen etwa des Stetigkeitsaxioms von Archimedes10 oder des Auswahlaxioms von Zermelo." Die Frage, ob für diese möglichen Abwandlungen ein systematischer Zusammenhang gefunden werden kann, hängt offenbar von der Frage ab, ob die Axiome selbst einen systematischen Zusammenhang bilden. Man würde sich dies so vorstellen, daß die möglichen Arithmetiken die möglichen axiomatischen Abwandlungen einer bestimmten Arithmetik, vermutlich der Arithmetik der natürlichen Zahlen darstellen. Dies wiederum würde voraussetzen, daß das Axiomensystem der natürlichen Zahlen vollständig bekannt oder zum mindesten systematisch erkenn-
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Kap. 4: Die Einheit des Allgemeinen
bar ist; dies ist aber nicht der Fall. Wir kommen also in bezug auf die Gesamtheit der möglichen Arithmetiken zu dem Ergebnis, daß es sich hier nicht um eine klassische Gesamtheit, um eine definite Mannigfaltigkeit im Sinne Husserls, sondern daß es sich um eine offene Gesamtheit handelt. Nicht anders liegen die Dinge bei der Logik. Zwar stoßen hier die Meinungen besonders hart aufeinander. Viele Philosophen, aber auch viele Logiker, bestehen nachdrücklich darauf, daß es nur eine Logik, daß es nur die Logik gibt. Dies war gewiß die Meinung von Aristoteles, von Leibniz, von Kant. Kant war sogar der Meinung, daß die Logik zu Ende zu bringen sei, ja daß sie in einem gewissen Sinne bereits von Aristoteles selbst vollendet worden sei.12 Hier hat Leibniz richtiger gesehen; er betrachtet die Logik als eine Wissenschaft, die derselben Entwicklung fähig ist wie die Mathematik.13 Diesem Standpunkt von Leibniz hat sich die moderne Logik angeschlossen." Dabei halten viele Logiker daran fest, daß es nur eine Logik gibt. Die Entwicklung ist anders gegangen, und wir kennen heute eine ganze Reihe verschiedener Logiken, die auch terminologisch fixiert sind. So haben heute die Begriffe und Termini jklassische* beziehungsweise jaristotelische' und auf der anderen Seite ^ichtklassische* beziehungsweise .nichtaristotelische' Logik eine bestimmte und anerkannte Bedeutung bekommen. Die Entwicklung, die man bis heute übersehen kann, ist in drei Richtungen gegangen: die Entwicklung von mehrwertigen Logiken, die Entwicklung von Modalkalkülen und die Entwicklung von intuitionistischen Logiken, ohne daß mit diesen drei Entwicklungslinien auch nur das, was heute bereits vorliegt, vollkommen erfaßt wäre. Die Entwicklung der mehrwertigen Logiken ist Luckasiewicz zu verdanken. In der modernen Logik ist ein wichtiger Teil der aristotelischen Logik zum zweiwertigen Aussagenkalkül formalisiert worden. Er wird vorgetragen und angewandt von Frege in den Grundgesetzen der Arithmetik, von Russell und Whitehead in den Principia Mathematical Im allgemeinen benutzt man dafür einen axiomatisdien Aufbau. Wittgenstein hat erkannt, daß man an die Stelle eines axiomatischen Aufbaus einen Aufbau durch Matrizen setzen kann.1' Diese Matrizen sind zweiwertig, und sie bieten also die Möglichkeit einer Weiterentwicklung durch mehrwertige Matrizen. Luckasiewicz hat
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diese Möglichkeit gesehen und hat insbesondere dreiwertige Logiken studiert.17 In einer mehrwertigen Logik können höchstens die in der zweiwertigen Logik geltenden Sätze gültig bleiben, im allgemeinen aber nur ein Teil von ihnen.18 Die Entwicklung der mehrwertigen Logiken ist noch im Fluß. Luckasiewicz hat den Zusammenhang der mehrwertigen Logiken mit der aristotelischen Logik erwogen. Er hält es nicht für richtig, sie nichtaristotelische Logik zu nennen und schlägt vielmehr die Bezeichnung ,nicht-chrysippisch' vor. Luckasiewicz verweist ausdrücklich auf den methodischen Zusammenhang mit den nicht-euklidischen Geometrien.19 Wenn auch in bezug auf die von Luckasiewicz untersuchten mehrwertigen Logiken die Bezeichnung jnicht-chrysippisch1 genauer ist, so dürfte es sich doch empfehlen, das allgemeine Problem als das Problem der nicht-aristotelischen Logiken zu bezeichnen. Das Problem der. nicht-aristotelischen Logiken, hier also der mehrwertigen Logiken, befindet sich in dem Stadium, in dem das Problem der nichteuklidischen Geometrien sich in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts befand. Man kannte damals die formalen Rechenschematismen der nicht-euklidischen Geometrien, und man kennt heute die formalen Rechenschematismen der mehrwertigen Logiken. Es war aber in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts keine Anwendung der nichteuklidischen Geometrien bekannt, und es ist heute keine allgemein anerkannte Anwendung mehrwertiger Logiken bekannt. Es sind bereits Anwendungen vorgeschlagen worden. So hat beispielsweise Reichenbach vorgeschlagen, die Atomphysik als eine Anwendung der dreiwertigen Logik aufzufassen,20 und Guenther hat vorgeschlagen, die philosophischen Aussagen des Deutschen Idealismus als Anwendungen einer dreiwertigen Logik aufzufassen.21 Nun kann die Tatsache, daß bis jetzt allgemein anerkannte Anwendungen mehrwertiger Logiken nicht gefunden werden konnten, kein Argument gegen die Möglichkeit solcher Logiken sein. Das Fehlen der Anwendungen ist gewiß ein Mangel, aber es ist ein Mangel, der sich morgen ändern kann. Darüber hinaus ist die grundsätzliche Forderung nach Anwendungen bedenklich. Mathematische oder logische Begriffe nur dann zuzulassen, wenn für sie eine Anwendung angegeben werden kann, würde einen kaum vertretbaren Rigorismus bedeuten. Anwendbarkeit kann schwer-
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lieh eine Existenzbedingung für mathematische und logische Begriffe ausmachen. In dieser Frage der mehrwertigen Logiken hat Linke den in der Frage der nichtklassischen Theorien immer wieder erwogenen Ausweg beschatten. Er will mehrwertige Logiken nicht Logik, sondern nur Kalküle nennen.22 Man wird zweifeln müssen, ob durch eine solche terminologische Bestimmung in der Sache selbst etwas geändert wird. Da diese Logiken durch Matrizen definiert werden und da es unendlich viele Matrizen gibt, so gibt es auch unendlich viele Logiken. Läßt man Matrizen mit unendlich vielen Werten zu, dann würde das Problem der Unendlichkeit der nichtaristotelischen Logiken eine verstärkte Bedeutung gewinnen. Als bedeutungsvoll haben sich die Modalkalküle erwiesen, die von Lewis und Langford entwickelt wurden.28 Sie beruhen zunächst auf der Annahme von drei Modalitäten, die den klassischen Modalitäten Möglichkeit, Wirklichkeit, Notwendigkeit entsprechen. Die Modalkalküle werden ebenfalls durch Matrizen definiert, und es wird also der klassische Modalkalkül durch eine dreiwertige Matrize definiert. Es ist auch eine Definition auf axiomatischem Wege möglich. Man sieht, daß man auf diesem Wege zu Modalkalkülen kommen kann, die mehr als drei Modalitäten haben. Von besonderer Bedeutung scheinen mir die Untersuchungen von Oskar Becker24 über die höheren Modalkalküle zu sein. Der Widerstand gegen die höheren Modalkalküle und die darin enthaltenen Möglichkeiten einer größeren Zahl von Modalitäten als die klassische Dreizahl ist ebenfalls stark. Man darf aber nicht vergessen, daß schon Nicolai Hartmann mit einer größeren Zahl von Modalitäten rechnet.25 Hartmann lehnt zwar die auf dem formalen Wege erreichbaren höheren Modalkalküle entschieden ab. Er ist vielmehr überzeugt, daß es eine und nur eine Modaltheorie gibt und daß seine eigene Modaltheorie die an sich existierenden Modalverhältnisse besser darstellt als jede andere. Gleichwohl wird man vermuten dürfen, daß die Entwicklung der Modaltheorie der Entwicklung in der Geometrie zu den nichteuklidischen Geometrien folgen wird. Auf einem anderen Wege haben sich intuitionistische und konstruktive Logiken entwickelt. Den entscheidenden Anfang hat Brouwer gemacht. Zwar ist für ihn die Arithmetik der eigentliche Kern der theoretischen Wissenschaften. Die Logik ist für ihn in einem gewissen Sinne nur eine Hilfswissenschaft.26 So ist es denn verständlich, daß es zum
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ausdrücklichen Aufbau einer intuitionistischen Logik erst durch Heyting gekommen ist.*7 Das Prinzip und der eigentliche Unterschied der intuitionistischen Logik zur klassischen Logik ist der Verzicht auf den Satz vom ausgeschlossenen Dritten. Daraus folgt der Verzicht auf den indirekten Beweis. Gegen diesen Verzicht auf den Satz vom ausgeschlossenen Dritten und den indirekten Beweis sind auch in erster Linie die Bedenken geltend gemacht worden. Allein gegen solche Bedenken muß man doch darauf hinweisen, daß man zu allen Zeiten den indirekten Beweis geringer geschätzt hat als einen direkten Beweis. Die griechischen Mathematiker bevorzugen den direkten, konstruktiven Beweis, zum Beispiel bei den Primzahlen. Es wäre ein indirekter Beweis denkbar, der dahin gehen würde, daß eine endliche Zahl von Primzahlen einen Widerspruch in sich enthält. Dagegen gibt aber der konstruktive Beweis von Euklid28 zugleich ein Verfahren an, eine unendliche Reihe von Primzahlen zu berechnen, auch wenn dies Verfahren nicht alle Primzahlen liefert. Selbst wenn man den Vorzug des direkten Beweises vor dem indirekten Beweis gering schätzen würde, so bliebe es doch eine wichtige Frage, welche Sätze der Logik und der Mathematik vom Satz vom ausgeschlossenen Dritten abhängig sind und welche Sätze ohne diesen Satz bewiesen werden können. Inder Ausgrenzung dieser Sätze liegt unzweifelhaft ein Verdienst der intuitionistischen Mathematik und Logik. Etwas anderes ist es freilich, wenn die intuitionistische Arithmetik und Logik den Anspruch erhebt, sie sei die Arithmetik und die Logik schlechthin. Ein solcher Anspruch bedürfte einer sehr viel stärkeren Begründung als sie bis jetzt gegeben worden ist, und bis dahin ziehen wir die intuitionistische Logik, gegen die Absicht der Intuitionisten selbst, als einen Beweis für die Möglichkeit verschiedener Logiken heran. Ähnlich liegen die Verhältnisse bei der operativen Logik von Lorenzen, die in nicht wenigen Stücken als eine Weiterführung der intuitionistischen Logik gelten kann.2" Lorenzen faßt die Logik als Handlungen des Denkens, als Operation des Denkens auf, und die Gesetze der elementaren Operationen des Denkens sind die Gesetze der Logik. Eine mit diesem Aufbau keineswegs entschiedene Frage ist auch hier wieder der Absolutheitsanspruch. Wenn ich Lorenzen richtig verstehe, dann erhebt er den Anspruch, daß die operative Logik die Logik als solche ist. Ich betrachte jetzt die operative Logik als einen Beleg
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für die Möglichkeit verschiedener Logiken, nach der Überzeugung von Lorenzen muß sie aber gerade in der entgegengesetzten Richtung interpretiert werden. Allein ich vermag nicht zu sehen, daß Lorenzen einen solchen Absolutheitsanspruch wirklich begründet hat. Ich selbst lasse mich von der Entwicklung in der Geometrie leiten. Von Euklid bis Leibniz waren die Mathematiker, die Logiker, die Philosophen davon überzeugt, daß es nur eine Geometrie gibt, eben die dreidimensionale euklidische Geometrie. Heute ist die Möglichkeit vieler Geometrien allgemein anerkannt. Ich glaube, daß man das faktische Auftreten vieler Logiken in unserer Zeit in derselben Richtung verstehen muß. Es handelt sich meines Erachtens nicht darum, daß nach so vielen Versuchen endlich die richtige Logik gefunden worden ist, sondern es gibt tatsächlich viele Logiken. Man kann nicht leugnen, daß das Problem bei der Logik viel fundamentaler liegt als bei der Geometrie. Man kann sich gut vorstellen, daß jemand bereit ist, die Möglichkeit vieler Geometrien zuzugeben, daß er die Möglichkeit vieler Logiken aber ablehnt. Man muß auch einräumen, daß die Frage im Augenblick keineswegs entschieden ist. Sie wird erst dann entschieden sein, wenn es gelingt, für verschiedene Logiken verschiedene Anwendungen zu finden. Die heutige Lage der Logik nötigt aber dazu, die Möglichkeit vieler Logiken ernsthaft ins Auge zu fassen. $ 31: Die Gesamtheit der Theorien Die in den beiden letzten Paragraphen diskutierten Fragen betreffen logische und wissenschaftstheoretische, aber nicht ontologische Probleme. Wir haben sie dennoch ausführlich diskutiert, und wir werden analoge Diskussionen auch im nächsten Kapitel fortsetzen, weil der logische Status des Allgemeinen sich auf den ontologischen Status auswirken muß. Es ist für den ontologischen Status des Allgemeinen gewiß nicht gleichgültig, ob das Gebiet des Allgemeinen ausnahmslos von strengen Prinzipien determiniert wird oder ob eine solche kristallene Klarheit für das Allgemeine im Ganzen fraglich ist. Dabei muß man im Auge behalten, daß der von uns diskutierte Bereich der logischen, arithmetischen, geometrischen und physikalischen Theorien nur einen Teilbereich des Allgemeinen darstellt. Das Allgemeine enthält nicht nur die Theorien, sondern auch die Sätze und die Begriffe.
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Von den Theorien haben wir nur einen kleinen Teil untersucht. Selbst von den Naturwissenschaften haben wir nur die Physik einbezogen. Die Chemie, die Geologie, die Biologie, um nur einige zu nennen, haben wir nicht berücksichtigt. Die Geisteswissenschaften haben wir ganz außer Betracht gelassen, obwohl für die Theorie der Theorie im Ganzen etwa historische oder grammatische Theorien, um auch hier wieder nur Beispiele zu nennen, sorgfältig erwogen werden müßten. Unser Ziel geht nur dahin, zu zeigen, daß das Gebiet des Allgemeinen im Ganzen eine klassische Struktur nicht haben kann, und dafür genügt es, dies von einem Teilgebiet zu zeigen. Wir hoffen, daß unsere Behauptung in dem von uns gewählten Bereich in besonderer Weise einsichtig gemacht werden kann. Vielleicht sind Platon und Kant von ähnlichen Erwägungen ausgegangen. Platon hat im ersten Teil des Parmenides den ontologischen Status der Ideen diskutiert und im zweiten Teil die bei den Ideen der Einheit und des Seins auftretenden Antinomien entwickelt. Er hat dabei offenbar vorausgesetzt, daß es genüge, Widersprüche bei zwei Ideen aufzuzeigen. Der zweite Teil wird ausdrücklich als eine Übung in der Dialektik,1 aber nicht als eine Gesamtdarstellung bezeichnet. Platon muß doch wohl angenommen haben, daß auch bei anderen Ideen Widersprüche auftreten könnten. Der Zusammenhang zwischen dem ersten und dem zweiten Teil des Dialogs kann doch wohl nur in der Richtung verstanden werden, daß das Auftreten der Antinomien in den Ideen sich auch auf den ontologischen Status der Ideen auswirken muß. Kant ist in dieser Richtung noch einen Schritt weiter gegangen. Er wollte die Antinomien und die Dialektik überhaupt auf einen bestimmten Bereich eingrenzen. Die Gegenstände dieses Bereiches haben einen besonderen ontologischen Status. Sie haben zwar objektive Realität, aber nicht mehr im Sinne der objektiven Realität der Kategorien,* sondern sie sind insgesamt transzendentale Ideale,3 und sie haben also diejenige objektive Realität,4 die den transzendentalen Idealen zukommen kann. Fragt man nach der Gesamtheit aller Theorien, dann ist die einfachste und klarste Lösung gewiß die von Leibniz: es gibt nur eine Logik, nur eine Arithmetik, nur eine Geometrie, nur eine Physik. Dabei ist grundsätzlich nicht einmal ein axiomatischer Aufbau notwendig.
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Logik und Mathematik beruhen allein auf dem Satz des Widerspruchs, die Physik und die anderen Theorien dazu noch auf weiteren Prinzipien und aposteriorisdien Tatsachen.5 In diesem Sinne existiert für Leibniz die Gesamtheit der widerspruchsfreien Begriffe, die Gesamtheit der wahren Sätze und die Gesamtheit der Theorien.' Dieser Ansatz wird durch die nichteuklidischen Geometrien in Frage gestellt. Grundsätzlich genügt schon die Entdeckung der nichteuklidischen Geometrien im engeren Sinn, um den Standpunkt von Leibniz in Frage zu stellen, und so genügt für die von uns erstrebte weitere Diskussion grundsätzlich bereits der Sachverhalt im Bereich der Geometrie. Wir hätten auf die Untersuchung im Bereich der Logik, der Arithmetik und der Physik verzichten können. Die Erweiterung des Bereiches dürfte aber die Bedeutung des Problems klarer herausstellen. Räumt man die Existenz nichteuklidischer Geometrien im engeren und weiteren Sinne ein, und will man dennoch den klassischen Standpunkt so weit wie möglich festhalten, dann kommt man auf den Standpunkt von Husserl. Dann gibt es zwar verschiedene Geometrien,7 aber diese Geometrien schließen sich in gesetzmäßiger Weise zu einer Geometrie überhaupt zusammen.8 Dabei wird die Einheit jeder einzelnen Geometrie,' sowie die Einheit der Geometrie überhaupt,10 jeweils durch ein Prinzipiensystem konstituiert. In diesem Sinne liegt also der Geometrie überhaupt ein Prinzipiensystem zugrunde, das für jede einzelne Geometrie gelten muß und das für jede einzelne Geometrie durch jeweils einzelne Prinzipien ergänzt wird. In diesem Sinne schließen sich dann alle Theorien zu einer Theorie überhaupt zusammen. Wir werden auf diese Fragen im nächsten Kapitel noch einmal eingehen. Das hier für Husserl Gesagte findet sich in dieser allgemeinen Form nicht bei Husserl, es ist vielmehr eine Konsequenz des von Husserl Gesagten. Jedenfalls habe ich bei Husserl eine ausdrückliche Feststellung, daß auch die Gesamtheit aller Theorien eine definite Mannigfaltigkeit darstellt, nicht gefunden. Allerdings hat Husserl das von ihm theoretisch Geforderte nicht einmal im Bereich der Geometrie wirklich durchgeführt. Es wäre für das Verständnis und für die Beurteilung von Husserls These wertvoll, wenn wenigstens einmal für die Geometrie das für alle möglichen Geometrien gültige Prinzipiensystem vorgelegt würde. Dies ist nicht geschehen und kann auch schwerlich geschehen, solange für die Abwandlung bekannter Geometrien und damit
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für die Neubildung möglidier Geometrien eine untere Grenze nicht angegeben worden ist. Das braucht nun keineswegs zu bedeuten, daß die Gesamtheiten, die wir hier diskutieren, jeder Struktur und jeder Allgemeinbestimmung entbehren. Wenn allerdings Leibniz verlangt hat, daß es nur eine Geometrie, eine Logik, eine Arthmetik und eine Physik geben darf, so ist dies zuviel, und wenn Husserl verlangt, daß jedes solche Gebiet durch ein oberstes Prinzipiensystem bestimmt ist, so ist dies auch noch zuviel. Man wird vielmehr vermuten dürfen, daß jedes solche Gebiet durch eine zentrale Theorie bestimmt ist und daß alle anderen Theorien des Gebietes durch Abwandlung entstehen. Dies würde etwa für die Geometrie bedeuten, daß die euklidische Geometrie die zentrale Theorie ist, und daß alle anderen Geometrien aus der euklidischen durch Abwandlung entstehen. In der Arithmetik würde vermutlich die Arithmetik der natürlichen Zahlen die zentrale Theorie bilden. Nun kann das Verhältnis der Zahlklassen in gewissem Sinne als ein Verhältnis von Allgemeinem zu Besonderem angesehen werden. In diesem Sinne stellt Husserl11 ebenso wie Natorp12 einen allgemeinen Zahlbegriff über die Begriffe einzelner Zahlklassen. In der eben diskutierten Auffassung würde dies Verhältnis umgekehrt, und es würden die natürlichen Zahlen als der konstitutive Zahlbereich verstanden. Damit käme man auf die alte Auffassung zurück, daß die natürlichen Zahlen die eigentlichen Zahlen sind. So haben die Griechen gedacht, in unserer Zeit etwa Kronecker und Brouwer. Das bedeutet, daß beispielsweise die Brüche nicht selbst als Zahlen, sondern daß sie als Verhältnisse natürlicher Zahlen aufgefaßt werden, so wie dies die Griechen getan haben. Die logische Begründung der Brüche, wie wir sie heute kennen, kommt zu demselben Ergebnis. Man muß die natürlichen Zahlen voraussetzen und dann die Brüche als Relationen natürlicher Zahlen bestimmen. Da aber die Brüche im Verhältnis zu den natürlichen Zahlen als das Allgemeinere bestimmt werden können und bestimmt worden sind, so wird durch einen solchen Aufbau das Allgemeine durch das Besondere bestimmt, ganz gegen die alte logische Regel: definitio fit per genus proximum et differentiam specificam. Auch der logische Aufbau der Theorie der komplexen Zahlen muß auf diese Weise gewonnen werden. Man wird also die Vorstellung, daß der Gesamtheit aller Geometrien ebenso wie der Gesamtheit aller
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Arithmetiken jeweils eine zentrale Theorie zugrunde liegt, als gerechtfertigt ansehen können. Man wird vermuten dürfen, daß bei den Logiken und den Physiken analoge Verhältnisse vorliegen, für unsere prinzipiellen Erwägungen aber kann dies dahingestellt bleiben. Es genügt, daß diese Auffassung sich für die Gesamtheit der Geometrien und für die Gesamtheit der Arithmetiken zeigen läßt. Die offene Struktur dieser Gesamtheiten muß die offene Struktur der Gesamtheit aller Theorien notwendig nach sich ziehen. Wenn dem so ist, dann wird verständlich, daß der naheliegende Gedanke eines Systems der Mathematik sich niemals auf die Dauer als fruchtbar erwiesen hat. Es gelingt immer wieder, für gewisse Gebiete der Mathematik eine systematische Darstellung zu schaffen. Es liegt also nahe, eine systematische Darstellung der Mathematik im Ganzen zum mindesten in den Prinzipien zu erstreben. Solche Anstrengungen sind immer wieder unternommen worden, haben aber niemals zu einem endgültigen Erfolg geführt. Ich meine, daß dies einsichtig ist und daß es ganz und gar kein Grund zum Pessimismus ist. Daß man die Mathematik und daß man das Theoretische überhaupt nicht abschließen kann, daß man es nicht einmal in den Prinzipien abschließen kann, sondern daß die Mathematik und das Theoretische überhaupt ungeahnte und unabsehbare Möglichkeiten enthalten, dies macht für uns den eigentlichen Glanz des Mathematischen und des Theoretischen überhaupt aus. Wir sind überzeugt, daß die Mathematik und daß das Theoretische überhaupt heute noch unabsehbare Möglichkeiten vor sich haben und daß sie zu jeder Zeit immer wieder noch unabsehbare Möglichkeiten vor sich haben werden.
Kapitel5:DiePräzisierbarkeitdesAllgemeinen $ 32: Definitionen und Definierbarkeit Jeder Begriff muß definiert werden. Für jeden Begriff muß die Definition anzeigen, was der Begriff bedeuten soll. Nichts scheint klarer und selbstverständlicher zu sein als diese Forderung, und doch stehen ihrer Durchführung nicht geringe Schwierigkeiten entgegen. Man bedarf dazu einer Definition der Definitionen. Es ist freilich offensicht-
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lieh, daß es viele gute, genaue und präzise Definitionen gibt. Aber solche Definitionen sind erst möglich, wenn man in einer bestimmten Theorie schon einige Schritte getan hat. Die Schwierigkeiten liegen bei den elementaren Begriffen. Man kann sehr wohl die gerade und die ungerade Zahl genau definieren, um an eine Definition zu erinnern, die bei Pythagoras und seinen Schülern, bei Platon, bei Aristoteles, bei Euklid eine große Bedeutung gehabt hat. Der Definition der Zahl selbst aber stellen sich große Schwierigkeiten entgegen. Die Frage, was man definieren kann, hängt offenbar davon ab, was man unter einer Definition verstehen will. Eine Definition bedeutet stets die Rückführung eines Begriffes auf andere Begriffe, und sie bedeutet sehr oft die Rückführung eines zusammengesetzten Begriffes in seine Teilbegriffe. Hier darf man auf die Übereinstimmung von Platon, Aristoteles und Leibniz zurückgehen. Platon geht von der Dihairesis aus. Ihr Ergebnis bezeichnet man gern als platonische Begriffspyramide1 oder als arbor porphyriana.2 Das Verfahren dürfte in der Akademie eine große Rolle gespielt haben, wir haben aber nur wenige Beispiele davon, etwa im Sophistes? In diesem Verfahren wird ein Begriff in seine Unterbegriffe geteilt. Erstrebt werden zwei Unterbegriffe, die den zu teilenden Begriff genau ausschöpfen. Im Idealfall geschieht diese Teilung durch eine Eigenschaft und ihre Negation. Aristoteles hat die Definition systematisch behandelt,4 sein Ergebnis ist in die Formel gebracht worden: definitio fit per genus proximum et differentiam specificam.5 Dies Verfahren des Aristoteles ist durch Leibniz weiter formalisiert worden. Leibniz betrachtet eine Definition in aller Form als die Zerlegung eines zusammengesetzten Begriffes in seine Teilbegriffe.* Welches Verfahren man auch immer wählen mag, so stellt sich jedesmal die Frage, ob das definitorische Verfahren ins Unendliche läuft oder ob es nach endlich vielen Schritten zum Abschluß kommt. Alle drei Denker bestehen auf der letzteren Möglichkeit. Dies führt dann, wenn auch in jeweils verschiedener Weise, zu demselben Ergebnis, daß nicht alle Begriffe definiert werden können. Das platonische dihairetische Verfahren ist offenbar von dem höchsten Punkt dieser Pyramide abhängig. Es kann nicht willkürlich sein, sonst würde das ganze Verfahren willkürlich werden. Die ideale Lösung wäre die, daß alle Begriffspyramiden in einem und demselben
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obersten Punkt zusammenlaufen. Dieser oberste Punkt des dihairetischen Verfahrens würde sidi dann vermutlich mit der obersten Idee decken. Hier ist Platon auf Schwierigkeiten gestoßen, und er hat mit Recht sowohl in der Ideenlehre als auch in der Logik eine abschließende Lehre vermieden. Für Aristoteles ergibt sich, daß diejenigen Begriffe, über denen kein übergeordnetes Genus mehr steht, auch nicht mehr definiert werden können.7 Hierher gehören beispielsweise die Begriffe der Einheit und des Punktes, aber auch die Begriffe der Kategorien, wie die der Substanz, der Qualität, der Quantität, der Relation. Unter die Begriffe, die nach Aristoteles nicht mehr definiert werden können, dürfte auch der Begriff des Allgemeinen gehören. Leibniz läßt Begriffe von unendlich hoher Zusammensetzung zu. Hierher gehören die Begriffe von Individuen, zum Beispiel der Begriff von Alexander dem Großen.8 Die unendlich hohen Begriffe sind für einen endlichen Verstand nicht völlig auflösbar. Im allgemeinen aber sind zusammengesetzte Begriffe von einer endlich hohen Zusammensetzung. Sie können in ihre Teilbegriffe aufgelöst werden, und diese Auflösung stößt nach endlich vielen Schritten an ihr Ende, nämlich auf unauflösbare Grundbegriffe. Nach dem Leibnizschen Begriff der Definition können die nicht zusammengesetzten Grundbegriffe nicht mehr definiert werden. Für Leibniz können also niemals alle Begriffe definierbar sein. Für diese Grundvorstellung von Leibniz treten nun dadurch Schwierigkeiten auf, daß die nichtzusammengesetzten Grundbegriffe nicht erreicht werden können und daß sie also auch nicht angegeben werden können. Leibniz beklagt es ausdrücklich, daß wir bis dahin wenigstens nicht eine einzige Begriffsanalyse bis zu den Grundbegriffen und damit bis zum Ende führen können. Er ist aber überzeugt, daß wenigstens die Zahlbegriffe sehr nahe bei den Grundbegriffen liegen. Daß Leibniz nicht einen einzigen Grundbegriff wirklich angeben kann, bleibt ein empfindlicher Mangel dieser Theorie. Selbst wenn dieser Mangel beseitigt werden könnte, würden auf dem Boden der Leibnizschen Urteilstheorie viele Begriffe undefinierbar bleiben, auf der einen Seite die Begriffe der Individuen, auf der anderen Seite die Grundbegriffe." Welche Methode man auch immer wählen mag, das Ergebnis bleibt
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immer dasselbe, und Aristoteles hat es schon ausgesprochen: Man kann nicht alles beweisen, man kann nicht alles definieren.10 Besonders auffällig sind diese Schwierigkeiten bei den Grundbegriffen der Mathematik. Euklid beginnt seine Elemente mit einer langen Reihe von Definitionen, und unter ihnen findet man die Definition des Punktes," der Geraden12 und der Ebene.1* Aber es ist schon früh aufgefallen, daß Euklid von seinen Definitionen in dem folgenden Aufbau keinen Gebrauch macht. Würde man also etwa die Definitionen der Geraden und des Punktes vertauschen, dann würde sich im Aufbau der Geometrie nichts ändern, da die Definitionen nicht benutzt werden. Diese wenig befriedigende Situation ist oft bemerkt worden, auch Leibniz hat auf sie hingewiesen.14 Hubert versucht aus dieser mißlichen Lage einen Ausweg zu finden. Er verzichtet ganz auf eine explizite Definition und betrachtet ein Axiomensystem als eine implizite Definition der darin auftretenden Begriffe.15 Hier wird also beispielsweise die Gerade definiert durch die Axiome, in denen der Begriff vorkommt. Aber man kann schwerlich sagen, daß die implizite Definition Huberts zu einem wirklich befriedigenden Erfolg geführt hat. Dies liegt zunächst daran, daß auch ein geometrisches Axiomensystem nicht eindeutig auf die geometrischen Grundgebilde bezogen werden kann. Aber hier liegt nicht die eigentliche Schwierigkeit. Die eigentliche Schwierigkeit liegt darin, daß für ein solches Axiomensystem der Existenzbeweis geführt werden muß. Man kommt damit auf die alten aristotelischen Probleme der richtigen Definition. Nun könnte man dieser Schwierigkeit durch einen rein pragmatischen Standpunkt zu entgehen versuchen. Man könnte ganz beliebige Axiomensysteme aufbauen und dann dasjenige heraussuchen, das für die euklidische Geometrie paßt. Allein der völlig beliebigen Herstellung von Axiomensystemen sind Schranken gesetzt. Zum mindesten wird man doch verlangen, daß ein Axiomensystem widerspruchsfrei ist und dies als unabdingbare Existenzbedingung eines Axiomensystems betrachten. Nun kann man zwar die 'Widerspruchsfreiheit geometrischer Axiomensysteme auf die Widerspruchsfreiheit der arithmetischen Axiomensysteme reduzieren, aber damit ist das Problem nur zurückgeschoben. Einer völligen Lösung stellen sich die Schwierigkeiten entgegen, die beim Gödelschen Satz sichtbar geworden sind.
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Audi mit der Definition der elementaren arithmetischen Begriffe sieht es keineswegs so gut aus, wie man vermuten oder wie man hoffen sollte. Hier liegen drei Probleme übereinander: die Definition der Zahl überhaupt, die Definition der natürlichen Zahl und die Definition der einzelnen natürlichen Zahlen, der Eins, der Zwei, der Drei usw. Was zunächst die Definition der Zahl überhaupt anbetrifft, so haben wir im vorigen Kapitel gesehen, daß Husserl die Existenz einer solchen Definition voraussetzt. Er hat die Definition selbst aber nicht gegeben, und es muß fraglich bleiben, ob eine solche Definition überhaupt existiert. Die Definition der natürlichen Zahl deckt sich für die Griechen mit der Definition der Zahl überhaupt. Euklid definiert die Zahl als eine Menge von Einheiten.1' Diese Definition findet sich schon bei Aristoteles,17 dem Sinne nach bereits bei Platon.18 Diese Definition bringt gewiß nicht viel, da sie lediglich an die Stelle des vielleicht schwierigen Begriffes der Zahl den gewiß sehr viel schwierigeren Begriff der Menge setzt. In der Neuzeit, von Leibniz bis zu uns, hat man verschiedene Wege eingeschlagen. Man kann sich zunächst an die alte Definitionsmethode per genus proximum et differentiam specificam anschließen. Man kann eine konstruktive Definition wählen. Schließlich bietet sich die Möglichkeit einer impliziten axiomatischen Definition. Für den traditionellen Definitionsweg bietet sich der Begriff der Menge als übergeordnetes Genus an, den schon Euklid benutzt hatte. In dieser Richtung ist Cantor gegangen. Man muß dafür die Gesamtheit aller Mengen als existent annehmen und aus ihr durch Einschränkungen eine Menge gewinnen, die dem Begriff der natürlichen Zahl überhaupt korrespondiert. Aber die Gesamtheit aller Mengen hat sich als antinomisch erwiesen, und damit ist dieser Weg bedenklich geworden. Die implizite Definition durch ein Axiomensystem stößt auf die Schwierigkeiten der Existenzbeweise, denen wir uns im Folgenden zuwenden werden. Es bleibt der Weg einer konstruktiven Definition. Dafür müssen die einzelnen natürlichen Zahlen definiert werden, so daß man dann zu dem Begriff ,natürliche Zahl überhaupt* aufsteigen kann. Die Griechen haben nach einer Definition der Eins gesucht, Definitionen der Zwei, der Drei und der dann folgenden Zahlen haben sie entweder nicht für
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notwendig oder nicht f r m glich gehalten, jedenfalls sind solche Definitionen nicht bekannt. Da solche Definitionen der Eins, der Zwei, der Drei und der dann folgenden Zahlen besondere Probleme aufwerfen, hat, soviel ich wei , als erster Duns Scotus erkannt. W rde man auf dem traditionellen Weg per genus proximum et differentiam specificam definieren, dann w rde das genus proximum »nat rliche Zahl* in unendlich viele Spezies, die Eins, die Zwei, die Drei usw. zerfallen, und dies w re an sich schon ungew hnlich. Man w rde aber eine unendliche Reihe von spezifischen Differenzen brauchen, und es ist nicht zu erwarten, da diese unendliche Reihe der spezifischen Differenzen sehr viel anders aussehen w rde als die unendliche Reihe der nat rlichen Zahlen selbst.19 Den ersten gro en Schritt hat Leibniz getan. Er hat erkannt, da man die Zahlenreihe konstruktiv durch die Addition aufbauen kann, da man die Definitionskette aufbauen kann: 2 = 1 + 1, 3 = 2+1, 4 = 3 + 1 usw.zo Von dieser Definitionskette mu man zun chst einmal den Anfang abspalten, weil er mit der Eins und der Zwei besondere Probleme enth lt, wie wir noch sehen werden. Spaltet man diese Anfangsprobleme einmal ab, so d rfte dies der richtige Weg sein, und die elementaren Definitionen der Arithmetik benutzen heute in der Regel diesen Weg. Dies bedeutet, da man die Begriffe der nat rlichen Zahlen zur ckf hrt auf die Begriffe der Addition, der Gleichheit und der unbegrenzten Fortsetzbarkeit. Die unendliche Fortsetzbarkeit dr ckt sich in dem Ausdruck ,usw/ aus, und dieser Ausdruck ist offenbar ein unabdingbares Moment der Definition. Man sieht, da die Begriffe der Addition und der Gleichheit nicht leicht zu bew ltigen sein werden, da aber die in der Unendlichkeit der Zahlenreihe liegenden Schwierigkeiten nur geringf gig in den Begriff der unendlichen Fortsetzbarkeit verschoben worden sind. Dieser wie immer auszugestaltenden Definitionskette liegen die Anfangsdefinitionen der Eins und der Zwei, gegebenenfalls auch noch der Null zugrunde. Hier ist zun chst die Definition der Eins ein altes Problem. Aristoteles sagt: πανταχού δε το εν ή τφ ποσφ ή τφ εΐδει άδιαίρετον.21 Man wird zweifeln k nnen, ob Aristoteles diese Bestimmung als eine Definition im eigentlichen Sinne verstehen will. Thomas ist allerdings dieser Meinung.22 In der Grundlagenforschung der letzten hundert Jahre spielt die 10 Martin, Metaphysik
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Definition oder die mögliche Definition der Eins eine große Rolle. Man kann drei Wege unterscheiden: eine mengentheoretische Definition, einen Rückgriff auf die Realität und eine rein logische Definition. Die mengentheoretische Definition stammt von Cantor. Aus der Menge aller Mengen kann man zunächst diejenigen Mengen aussondern, die nur endlich viele Elemente enthalten. Diese Mengen kann man der Größe nach ordnen und alle Mengen zusammenfassen, die gleich viele Elemente enthalten. Auf diese Weise erhält man die Reihe der endlichen Kardinalzahlen und am Anfang dieser Reihe die Eins28 und die Zwei." Diese Definition beruht also nicht auf einer Konstruktion, sie gerät aber in Schwierigkeiten, weil sie die Menge aller Mengen als Ausgangspunkt benutzt. Frege will eine rein logische Definition der natürlichen Zahlen. Der Ausgangspunkt ist die Definition der Null. Eine Nullmenge ist eine Menge, die kein Element enthält. Eine solche Menge kann durch einen Widerspruch definiert werden. Man definiert eine Menge, die beispielsweise alle diejenigen Elemente enthält, die nicht mit sich selbst identisch sind.25 Von hier aus kann Frege leicht eine Menge definieren, die nur ein Element enthält, und damit die Definition der Eins gewinnen.26 Die Sonderstellung der Null, der Eins und der Zwei kommen in den Principia Mathematica dadurch zum Ausdruck, daß sie schon im ersten Band abgehandelt werden, während die allgemeine Erörterung der Kardinalzahl erst im Band zwei erfolgt. Man wird freilich annehmen können, daß diese Sonderstellung nicht ausdrücklich beabsichtigt war, daß sie vielmehr durch die sachlichen Zusammenhänge hervorgerufen worden ist. Die Principia Mathematica lösen den von Frege vorgeschlagenen Zusammenhang zwischen der Eins und der Null, sie definieren sie unabhängig voneinander. Die Nullklasse wird in 24.03 definiert als das Gegenteil der Universalklasse. Die Universalklasse wird ihrerseits definiert als die Klasse aller derjenigen Elemente, die mit sich selbst identisch sind. Dies ist also im Kern die Definition von Frege.27 Dagegen schlagen die Principia Mathematica für die Definition der Eins einen anderen Weg ein. Zunächst wird die Kardinalzahl Eins definiert als die Klasse aller Einheitsklassen.28 Die Einheitsklasse ihrerseits wird definiert als die Klasse aller derjenigen Elemente, die mit einem gegebenen Element identisch
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sind.2' Diese Definition setzt die Definition der Identität voraus. Diese Definition der Identität ist formal in 13.01 gegeben. Die Principia Matbematica geben diese formale Definition umgangssprachlich wieder: „This definition states that x and y are to be called identical "when every predicative function satisfied by is also satisfied by y .. .e30 Dies bedeutet, und dies ist auch in den Principia Matbematica klar gesehen, daß das principium identitatis indiscernibilium von Leibniz angewendet wird. Die Ordinalzahl31 und die Kardinalzahl32 Zwei werden im ersten Band definiert. Die Definitionen beruhen nicht auf der Addition, sondern auf dem Begriff der zweistelligen Relation. Die Definition der Kardinalzahl Null wird in 54.01 gegeben. Es zeigt sich, daß zwei Grundbegriffe auftauchen. Zunächst trifft man auf den Begriff der Einheit als solcher, dann auf die Verbindung zweier Einheiten zu einer neuen Einheit. Daß dies die Grundelemente sind, hat schon Platon gesehen, denn seine Lehre von der Einheit und der unbestimmten Zweiheit kann schwerlich anders aufgefaßt werden." Faßt man dies Ergebnis einer langen und intensiven Arbeit zusammen, so wird man es von einem entschieden logischen Standpunkt aus wenig befriedigend finden. Allgemein anerkannte Definitionen sind nicht gefunden worden. So wird es verständlich, daß von einem intuitionistischen oder operativen Standpunkt aus die Reihe der natürlichen Zahlen als ursprünglich Gegebenes angesehen wird. Man braucht nicht zu zweifeln, daß hier gewisse Analysen möglich sind, die sich auch in Definitionen niederschlagen. Aber man stößt doch nach wenigen Schritten auf Begriffe, die ihrerseits undefinierbar sind, auf den Begriff der Menge, auf ein Unendlichkeitsaxiom, auf den Begriff der Zusammenfassung zweier Elemente zu einer neuen Einheit. Man wird die Einsicht von Leibniz bestätigt finden, daß die natürlichen Zahlen den undefinierbaren Begriffen nahestehen, wenn man nicht von vornherein die natürlichen Zahlen als undefinierbar betrachtet. Die Betrachtung der elementaren Begriffe der Mathematik endet also bei der alten Einsicht des Aristoteles, daß man nicht alles definieren kann.
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$ 33: Die Axiomatisierbarkeit von Theorien Den Grundzug der Axiomatik hat bereits Aristoteles erkannt. Beweisen heißt, einen Satz aus einem anderen Satz als aus seiner Voraussetzung beweisen. Ein solcher Rückgang von einem Satz auf seine Voraussetzungen geht entweder endlos weiter, oder er stößt auf eine letzte Voraussetzung.1 Im zweiten Fall muß er diese Voraussetzung nach endlich vielen Schritten erreichen. Im Sinne dieser Auffassung hat Euklid seinen Elementen einen automatischen Aufbau gegeben. Leibniz wendet sich zwar gegen den axiomatisdaen Aufbau der Mathematik und insbesondere der Geometrie,2 aber besser würde man seine Auffassung dahin charakterisieren, daß die Mathematik nur auf einem einzigen Axiom, nämlich auf dem Satz des Widerspruchs beruht.* Diese Auffassung hat sich nicht bestätigt. Die Mathematik kann nicht allein mit dem Satz des Widerspruchs auskommen. Es scheint, als sei Leibniz in einigen Problemen bereits über seine eigene Bestimmung hinausgekommen. Bedarf eine Theorie mehrerer Axiome, so ist die nächst einfache Möglichkeit, daß eine Theorie jeweils endlich viele Axiome hat. Dies ist die Meinung von Husserl4, und er dürfte sie so verstanden haben, daß die endlich vielen Axiome auch vollständig angegeben werden können. Nach allem, was wir heute wissen, muß diese These verneint werden. Nur wenige Theorien sind in endlich vielen angebbaren Axiomen axiomatisierbar. Schon bei verhältnismäßig einfachen Theorien ist dies nicht mehr der Fall, -und Tarski hat gezeigt, daß nur ein kleiner Teil der Theorien überhaupt axiomatisierbar ist.5 Zunächst muß man festhalten, daß im Gegensatz zur Meinung des Aristoteles die Eigenschaft eines Satzes, ein Axiom zu sein, keine absolute Eigenschaft ist. Dies ist bei der Geometrie früh geklärt worden. Beim euklidischen Aufbau tritt das Parallelenaxiom als Axiom auf, und dann ist beispielsweise der Satz von der Winkelsumme im Dreieck ein beweisbarer Satz. Man kann aber auch den Satz von der Winkelsumme im Dreieck als Axiom ansetzen, und dann wird das Parallelenaxiom ein beweisbarer Satz.' Sehr übersichtlich sind die Verhältnisse im zweiwertigen Aussagenkalkül, der in vieler Hinsicht als das Standardbeispiel für eine Theorie überhaupt gelten kann. Der zweiwertige Aussagenkalkül läßt sich axiomatisieren, und dementspre-
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diend geben die Principia Mathematica einen auf fünf Axiomen beruhenden Aufbau.7 Tarski hat als erster gezeigt, daß das Axiomensystem des zweiwertigen Aussagenkalküls auch aus einem einzigen Axiom bestehen kann.8 Dies ist natürlich nicht der Standpunkt von Leibniz, denn ein solches einziges Axiom geht über den Satz des Widerspruchs weit hinaus. Um entscheiden zu können, ob jede Theorie der Husserlschen Bedingung gehorchen muß, betrachten wir zunächst in einer historischen Erwägung die Entdeckung einiger fundamentaler Axiome. Es gibt fundamentale Axiome, die schon immer implizit gebraucht wurden und die erst verhältnismäßig spät explizit als Axiome erkannt worden sind. Ein gutes Beispiel ist das Axiom des Archimedes. Das Axiom findet sich an zwei Stellen. In der Quadratur der Parabel heißt es: „Wenn zwei Flächenräume ungleich sind, so ist es möglich, den Unterschied, um welchen der kleinere von dem größeren übertroffen wird, so oft zu sich selbst zu setzen, daß dadurch jeder gegebene endliche Flächenraum übertroffen wird."' In der Schrift Von der Kugel und vom Zylinder gibt Archimedes fünf Axiome. Das fünfte lautet: »Auch ist bei ungleichen Linien, Flächen und Körpern der Überschuß des größeren über das kleinere so groß, daß er durch mehrmalige Zusammenfügung zu sich selbst größer werden kann, als jede gegebene Größe von der Art der verglichenen."10 Das Axiom beschreibt einen so elementaren Sachverhalt, daß es schon immer gebraucht worden ist, und Archimedes weist selbst darauf hin. Bei Euklid steht das Axiom als Definition,11 bei Aristoteles steht es als Satz.11 Das Archimedische Axiom wird oft als Stetigkeitsaxiom bezeichnet. Es gilt keineswegs von allen Größen als solchen. Das bekannteste Beispiel ist der Berührungswinkel zwischen dem Kreis und seiner Tangente. Legt man an eine Gerade in einem Punkt berührende Kreise von verschiedenem Radius, dann entstehen verschiedene Berührungswinkel. Die Schwierigkeiten ihrer Behandlung sind schon immer aufgefallen, sie rühren daher, daß die Berührungswinkel nichtarchimedische Größen sind. Wenn die Bedeutung des Archimedischen Axioms erkannt ist, lassen sich ohne logische Schwierigkeiten nichtarchimedische Geometrien und nichtarchimedische Arithmetiken bilden. Hilbert gibt mehrere Beispiele.1* Die eigentümliche Problematik liegt nun darin, daß das Axiom schon immer gebraucht wurde und schon immer gebraucht werden
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mußte, und daß es erst verhältnismäßig spät von Archimedes in seiner Funktion als Axiom entdeckt worden ist. Von hier aus muß man mit der Möglichkeit rechnen, daß auch in unseren Theorien noch implizite Axiome stecken, für die eine explizite Darstellung möglich und notwendig ist. Eine solche Auffassung wird dadurch nahegelegt, daß sich die Explikation impliziter Voraussetzungen schon mehrere Male vollzogen hat. Das vielleicht anschaulichste Beispiel ist das Axiom von Pasch. Es sagt, daß eine Gerade, die in ein Dreieck hineintritt, auch wieder aus diesem Dreieck heraustreten muß.14 Auch dies Axiom ist natürlich schon immer angewandt worden, und die Leistung von Pasch besteht in der Explizierung des Axioms. Als weiteres Beispiel nenne ich das Unendlichkeitsaxiom. Daß es unendlich viele Zahlen gibt, hat man schon immer gewußt, solange es Mathematik gibt, und viele Beweise sind auf diese Voraussetzung angewiesen. Es ist aber nicht leicht, diesen Sachverhalt axiomatisch zu fassen. Peano zerlegt den Sachverhalt in zwei Axiome.15 Das erste Axiom sichert die unbeschränkte Fortsetzbarkeit einer Folgerelation, das zweite Axiom verbietet, daß eine solche unbeschränkte Folgerelation wieder in sich selbst zurückführt. Sie darf beispielsweise nicht im Kreis verlaufen. Die Schwierigkeiten des Unendlichkeitsaxioms zeigen sich deutlich in den Principia Mathematica. Die Principia Mathematica beginnen mit der Behandlung im Abschnitt 120 und sagen dort einleitend: „ ... mathematical induction was treated as a kind of selfevident axiom".1* Die Principia Mathematica definieren zunächst den Begriff der induktiven Kardinalzahl.17 Dann wird das Unendlichkeitsaxiom definiert.18 Im Abschnitt 123 geben die Principia Mathematica eine Reihe von Bestimmungen, die mit dem Unendlichkeitsaxiom äquivalent sind, die z. B. zeigen, daß das Unendlichkeitsaxiom der Principia Mathematica äquivalent ist mit der Existenz des abzählbar Unendlichen." Dann wird ausdrücklich gesagt: „ ,Infin ax*, like ,Mult ax', is an arithmetical hypothesis which some will consider self-evident, but which we prefer to keep as a hypothesis, and to adduce in that form whenever it is relevantV° Demgemäß fassen die Principia Mathematica, wenn das Unendlichkeitsaxiom gebraucht wird, den Sachverhalt immer hypothetisch auf.21 Dies ist nun freilich eine Möglichkeit, die man im neunzehnten Jahrhundert oft erwogen hat, näm-
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lieh alle axiomatischen Theorien hypothetisdi aufzufassen. Dann würde beispielsweise in der euklidischen Geometrie das Parallelenaxiom nur hypothetisch auftreten: Wenn es zu einem Punkt eine und nur eine Parallele gibt, dann beträgt die Winkelsumme im Dreieck zwei Rechte. Eine solche hypothetische Auffassung ist aber nicht mehr möglich, wenn die Logik selbst axiomatisiert wird. So haben wir in den Principia Matbematica die merkwürdige Unentschiedenheit, daß die Logik selbst axiomatisiert wird, daß aber die Axiomatisierung der Arithmetik insofern zurückgenommen wird, als das Unendlichkeitsaxiom und das Auswahlaxiom nur hypothetisch angesetzt werden. Ich glaube nicht, daß eine solche unterschiedliche Behandlung der logischen und der arithmetischen Axiome sachlich begründet ist. Man wird vielmehr annehmen können, daß die verschiedene Behandlung aus dem Wunsch entsprungen ist, die Arithmetik so wie die Mathematik im Ganzen auf die Logik zu reduzieren.28 Wie immer man diese beiden Axiome auch behandeln mag, sie sind lange gebraucht worden, ehe sie explizit erkannt und dargestellt wurden. Dies gilt insbesondere auch von dem Auswahlaxiom von Zermelo. Zermelo hat es entdeckt, als er nach einer axiomatischen Begründung der Mengenlehre suchte.28 Das Auswahlaxiom ist nach der heute üblichen Auffassung nur für unendliche Bereiche notwendig. Wenn eine unendliche Menge von Mengen gegeben ist, die ihrerseits jeweils mehr als ein Element enthalten, dann sichert das Auswahlaxiom die Existenz einer Menge, die von diesen unendlich vielen Mengen je ein und nur ein Element enthält. Das beste Beispiel ist meines Wissens das von Russell angegebene. Man denke sich eine Menge von unendlich vielen Paaren von Schuhen. Dann gibt es eine Menge, die von jedem Paar nur den rechten Schuh enthält.24 Die Auswahleigenschaft »rechter Schuh' ist einleuchtend. Ob in jedem Fall eine solche Auswahleigenschaft existiert, ist fraglich, und es ist die Funktion des Auswahlaxioms, eine solche Auswahleigenschaft zu sichern. Das Auswahlaxiom hat eine sehr weittragende Bedeutung; ohne seine Gültigkeit können schon sehr einfache Operationen, wie etwa die Multiplikation zweier Mengen, nicht mehr allgemein ausgeführt werden.*5 Deshalb greift das Auswahlaxiom auch tief in die Struktur einer Theorie ein; Bereiche, in denen das Auswahlaxiom nicht gilt, sind in der Regel schon recht befremdlich.
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Die Überlegungen an diesen vier Axiomen führen zu demselben Ergebnis. Jedesmal werden fundamentale Sadiverhalte formuliert. Diese Sadiverhalte sind schon immer implizit benötigt worden, auf sie kann auch für den Aufbau der betreffenden Theorien gar nicht verzichtet werden. Es muß daher mit der Möglichkeit gerechnet werden, daß weitere solche Fundamentalaxiome entdeckt werden, und jede dieser Entdeckungen wird zu den großen Taten des Geistes gehören. Es besteht wenigstens keine Möglichkeit, zu beweisen, daß eine solche Entdeckung nicht immer wieder möglich sein wird. Theorien bleiben also in bezug auf solche Fundamentalaxiome immer offen. Wenn diese grundsätzliche Frage ihrem Sinn nach weder positiv noch negativ entschieden werden kann, so ist bei gewissen Teilfragen eine Entscheidung möglich. Skolem hat gezeigt, daß schon die elementare Arithmetik nicht mehr, vollständig axiomatisiert werden kann, in dem Sinne, daß alle Axiome vollständig angegeben werden können." Man kann aber die weitergehende Frage stellen, ob jede Theorie als solche axiomatisierbar ist. Dies hängt freilich davon ab, was man unter einer Theorie verstehen will. Gewisse Erwägungen kann man beim Aussagenkalkül anstellen, der sich auch hier für wissenschaftstheoretische Erörterungen als recht geeignet erweist. Man kann die Sätze des zweiwertigen Aussagenkalküls einfach als eine Satzmenge betrachten. Dann sind etwa die dreiwertigen Logiken, die Luckasiewicz untersucht hat, Teilmengen, die übrigens sowohl axiomatisch als auch durch Matrizen definiert werden können. Man kann nun beliebige Teilmengen der Satzmenge des zweiwenigen Aussagenkalküls betrachten und jede solche Teilmenge eine Theorie nennen. Man kann beispielsweise aus dem zweiwertigen Aussagenkalkül nur einen einzigen Satz entfernen und die dann übrig bleibende Teilmenge eine Theorie nennen. Dann ist nicht zu erwarten, daß jede solche Teilmenge noch axiomatisierbar ist. Man muß weiterhin beachten, daß der zweiwertige Aussagenkalkül auch von den Schlußregeln abhängt und daß er also auch durch die Veränderungen der Schlußregeln verändert werden kann. Man wird erwarten dürfen, daß die auf diese verschiedenen Weisen entstehenden Logiken im allgemeinen nicht axiomatisierbar sind. Die axiomatisierbaren Logiken stellen einen ausgezeichneten, aber vielleicht doch nur sehr kleinen Teil der möglichen Logiken dar.27 Axiomatisierbarkeit wäre dann eine Auszeichnung, die in der
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unübersehbaren Vielheit der möglichen Theorien nur einem kleinen Teil zukommt. $ 34: Klassische Theorien als ideale Theorien Wir haben den Begriff der klassischen Theorie verfolgt, wie er von Platon und Aristoteles als selbstverständlich vorausgesetzt wird und wie er von Leibniz, von Bolzano, von Husserl immer schärfer ausgebildet wird. Von einer solchen klassischen Theorie werden drei Eigenschaften verlangt: Widerspruchsfreiheit, Entscheidbarkeit, Axiomatisierbarkeit. Wir stellen die entscheidende Bestimmung von Husserl im Wortlaut hierher: „ ... die Mannigfaltigkeit der Raumgestaltung überhaupt hat eine merkwürdige logische Fundamentaleigenschaft, für die wir den Namen ^ d e f i n i t e * M a n n i g f a l t i g k e i t oder »mathematische Mannigfaltigkeit im prägnant e n S i n n e * einführen. Sie ist dadurch charakterisiert, daß eine endliche Anzahl, gegebenenfalls aus dem Wesen des jeweiligen Gebietes zu schöpfender B e g r i f f e u n d S ä t z e d i e G e s a m t h e i t aller m ö g l i c h e n G e s t a l t u n g e n des G e b i e t e s i n d e r Weise r e i n anal y t i s c h e r N o t w e n d i g k e i t v o l l s t ä n d i g u n d eindeutig bestimmt, so daß also in ihm p r i n z i p i e l l nichts m e h r o f f e n bleibt. ... Jeder aus den ausgezeichneten axiomatischen Begriffen, nach welchen logischen Formen immer zu bildende Satz ist entweder eine pure formallogische Folge der Axiome, oder eine ebensolche Widerfolge, d. h. den Axiomen formal widersprechend; so daß dann das kontradiktorische Gegenteil eine formallogische Folge der Axiome wäre."1 Nun haben wir zwar in den vorangegangenen Untersuchungen gegen den klassischen Begriff der Theorie eine Reihe von Bedenken geltend gemacht. Dies bedeutet jedoch keineswegs, daß wir den klassischen Begriff der Theorie als solchen ablehnen. Wir wollen die Bedenken noch einmal zusammenfassen und dann den Versuch einer positiven Interpretation des klassischen Begriffs einer Theorie machen. Es handelt sich zunächst um die klassische Forderung der Widerspruchsfreiheit. Dabei wird nicht nur verlangt, daß jede Theorie widerspruchsfrei ist, sondern es wird darüber hinaus verlangt, daß die
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Widerspruchsfreiheit bewiesen werden kann. Leibniz ist, soweit ich weiß, der erste gewesen, der ausdrücklich den Beweis der Widerspruchsfreiheit verlangt hat. Aber wir haben gesehen, daß die Widerspruchsfreiheit allgemein nicht bewiesen werden kann, jedenfalls nicht in dem allgemeinen Sinn, wie ihn Leibniz und Hilbert erstrebt haben. Aber ist auch nur die tatsächliche Forderung der Widerspruchsfreiheit allgemein berechtigt? Die Mathematiker und Logiker besorgen, daß aus einem Widerspruch alle Widersprüche folgen könnten. Ein entsprechender Satz läßt sich im zweiwertigen Aussagenkalkül leicht beweisen. Allein dieser Satz gilt doch nur unter den im zweiwertigen Aussagenkalkül zur Verfügung stehenden logischen Mitteln. Man kann diese Mittel in geeigneter Weise beschränken. Dann sind Theorien denkbar, in denen nur ein einziger Widerspruch vorkommt, beziehungsweise eine ausgrenzbare Gruppe von Widersprüchen, ein Weitergreifen auf den gesamten Bereich der Theorie ist nicht mehr möglich. Für solche Theorien würde also die verständliche Zurückhaltung der Mathematiker und Logiker gegen das Auftreten aller Widersprüche nicht mehr begründet sein. Ein Beispiel für die erste Auffassung geben Platon und Hegel. Sie waren der Meinung, daß das Auftreten eines Widerspruchs alle Widersprüche nach sich ziehe. Ein Beispiel für die entgegengesetzte Auffassung gibt Kant. Für ihn bleiben die Widersprüche auf die transzendentale Dialektik beschränkt; Logik, Mathematik und Physik bleiben widerspruchsfrei. Wollte man den Satz vom Widerspruch als ein schlechthin gültiges Prinzip vorschreiben, so würde man die Möglichkeit jeder Dialektik verneinen. Man müßte dann die Dialektik von Hegel, aber auch die Dialektik von Kant und ebenso die Dialektik von Platon verneinen. Es ist aber schwer zu glauben, daß alle diese Untersuchungen zur Dialektik gar nichts in der Sache Gegründetes enthalten sollten. Gegen eine solche allgemeine Gültigkeit des Satzes vom Widerspruch sprechen auch die Untersuchungen zur intuitionistischen und zur operativen Logik. Zwar bleibt der Satz vom Widerspruch in diesen Logiken und in den nach ihnen gebauten Mathematiken erhalten, aber der Fortfall des mit dem Satz vom Widerspruch eng zusammenhängenden Satzes vom ausgeschlossenen Dritten greift doch die alte Selbstverständlichkeit der beiden Sätze erheblich an. Die These, daß jede Theorie widerspruchsfrei sein muß, kann also
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weder bewiesen werden, noch meiner Überzeugung nach aus einem reinen Wesen »Theorie überhaupt' intuitiv erfaßt werden. Dasselbe gilt, wie wir gesehen haben, für die Forderung der vollständigen Entscheidbarkeit und für die Forderung der vollständigen Axiomatisierbarkeit. Daraus folgt aber nicht, daß der klassische Begriff einer Theorie als eines Systems von Sätzen, das widerspruchsfrei, vollständig entscheidbar und vollständig axiomatisierbar ist, sinnlos oder auch nur überflüssig ist. Wir glauben, daß eine solche Folgerung vorschnell wäre. Man wird vielmehr den klassischen Begriff einer Theorie als das Ideal einer Theorie betrachten dürfen. Dies Ideal wird sogar von einigen Theorien erreicht, zum Beispiel vom zweiwertigen Aussagenkalkül. Dies gilt zum mindesten dann, wenn man von den Schwierigkeiten absieht, die in den metatheoretischen Bestimmungen jeder Theorie und also auch des zweiwertigen Aussagenkalküls stecken. In den metatheoretischen Bestimmungen des zweiwertigen Aussagenkalküls sind zum Beispiel Bestimmungen über den richtigen Gebrauch der Zeichen enthalten. Man wird nicht erwarten können, daß solche Bestimmungen auf eine ideale logische Form gebracht werden können. Andere Theorien, beispielsweise die elementare Arithmetik, kommen dem klassischen Ideal der Theorie überhaupt doch noch sehr nahe. Vielleicht kommt die oft beklagte Unscharfe etwa der biologischen oder der geisteswissenschaftlichen Theorien daher, daß in aller Regel eine faktische Theorie von dem klassischen Ideal einer Theorie einen beträchtlichen Abstand hat, und daß dieser Abstand bei den biologischen und geisteswissenschaftlichen Theorien aus bisher nicht erwogenen Gründen besonders in die Augen fällt. In der hier vorgetragenen Auffassung, daß die meisten Theorien keine definite Mannigfaltigkeit sind, und daß insbesondere die Gesamtheit aller Theorien keine definite Mannigfaltigkeit darstellt, ist der Autor besonders dadurch bestärkt worden, daß Husserl selbst gegen Ende seines Lebens über den klassischen Standpunkt reflektiert hat. Seine berühmte Formulierung: „Der Traum ist ausgeträumt"2 bezeichnet seine letzte Auffassung. Die herbe Formulierung erinnert unmittelbar an die bewegte Klage Freges. Gleichwohl glaube ich, daß sowohl Frege, als auch besonders Husserl die Dinge zu pessimistisch betrachtet haben. Auf der einen Seite scheint es mir ein großes Ver-
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dienst Husserls, daß er die Überzeugung, die die Mathematiker, die Logiker, die Philosophen durch mehr als zweitausend Jahre gehabt haben, mit besonderer Präzision ausgedrückt hat. In der Tat haben alle geglaubt, daß jede Theorie als solche und daß die Gesamtheit der Theorien definite Mannigfaltigkeiten darstellen. Die genaue Formulierung bleibt ein unzweifelhaftes Verdienst. Auf der anderen Seite behält diese reine Idee einer Theorie ihren Sinn, und es muß immer wieder geprüft werden, wie weit eine Theorie diese idealen Forderungen erfüllt oder wie weit sie von ihnen absteht. Dies ist nur möglich, wenn die ideale Forderung präzis formuliert wird, und insofern ist der Begriff der definiten Mannigfaltigkeit keineswegs ein Traum, sondern ein Begriff von großer und bleibender Bedeutung. $ 35: Prinzipien und Axiome als Fundamente Wir sind gewohnt, Prinzipien und Axiome als Fundamente zu bezeichnen. Allein dieser Ausdruck, für den es übrigens ein griechisches Äquivalent nicht gibt, legt bedenkliche Irrtümer nahe. Das Fundament eines Hauses muß zuerst gelegt werden, und dann kann man das Haus darauf bauen. Bezeichnet man aber die Prinzipien und die Axiome als die Fundamente, so legt dies die Auffassung nahe, daß man zuerst die Prinzipien und die Axiome haben muß, um darauf eine Theorie bauen zu können. Die Griechen sind in ihren Ausdrücken vorsichtiger gewesen. Der griechische Tempel hat in der Tat einen mächtigen Unterbau. Das griechische Haus aber hat in der Regel solche starken Fundamente nicht gehabt. In ihrem systematischen Aufbau von Theorien aber ebenso wie in der logischen und ontologischen Interpretation der Theorien vermeiden die Griechen einen Terminus, der dem Terminus ,Fundament* äquivalent wäre. Euklid verwendet den Terminus .2 Der Terminus findet sich 3 schon bei Aristoteles. In der logischen und ontologischen Diskussion wird vorwiegend der Ausdruck gebraucht. Er bezeichnet in erster Linie das ,an der Spitze Stehen* und kann deshalb von Platon für die obersten Ideen gebraucht werden.4 Allmählich wird die Bedeutung des ,am Anfang Stehens* stärker, und in dieser Bedeutung dürfte Aristoteles den Terminus in der Regel brauchen.4 Reflektiert man über das Verhältnis einer Theorie zu ihren Prin-
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zipien, so ist es jedenfalls die Auffassung von Platon, daß die Mathematik nicht mit ihren Prinzipien beginnt. Ein langer und mühsamer Aufstieg zu den Prinzipien ist notwendig. In der Regel werden die Mathematiker diesen Aufstieg gar nicht mehr vollziehen, sondern sich mit pragmatisch gesetzten vorläufigen Annahmen begnügen.0 Daß damit Platon die Funktion der Prinzipien richtig aufgefaßt hat, dürfte die weitere Entwicklung gezeigt haben. Bei vier Fundamentalaxiomen haben wir eben gesehen, daß solche Fundamentalaxiome schon immer gebraucht werden, daß sie erst in einem verhältnismäßig späten Stadium der Theorie gefunden und an die Spitze gestellt werden. Die Platonische Auffassung wird durch die Geschichte der Mathematik im ganzen bestätigt. Die Geometrie hat gewiß nicht mit Axiomen begonnen, sondern mit anschaulichen Eigenschaften, insbesondere mit anschaulichen Symmetrieeigenschaften. Der Satz von der Winkelsumme im Dreieck ist, wie Geminus berichtet, zunächst von einzelnen Fällen bewiesen worden, erst zuletzt ist der allgemeine Beweis erbracht worden. Dies ist von den Historikern der Mathematik überzeugenderweise dahin aufgeklärt worden, daß die Winkelsumme im Dreieck zunächst für das gleichseitige Dreieck gefunden wurde und daß diese Eigenschaft des gleichseitigen Dreiecks zunächst aus Symmetrieeigenschaften abgelesen wurde.6 In der Tat läßt sich das gleichseitige Dreieck sechsmal in einen Kreis einzeichnen. Dies ergibt eine Figur von großer Symmetrie, aus der die Winkelsumme unmittelbar abgelesen werden kann. In analoger Weise wird der pythagoreische Lehrsatz zunächst bei dem Dreieck mit den Seitenlängen 3, 4 und 5 gefunden. Nicht anders liegt es bei der Arithmetik. Hier ist die Axiomatisierung erst im neunzehnten Jahrhundert durch Peano in Angriff genommen worden, während die Theorie selbst schon weitgehend bei Euklid steht. Man wird vermuten dürfen, daß es sich bei diesen Verhältnissen nicht nur um historische Fakten handelt, sondern daß auch der systematische Aufbau der mathematischen Theorien seinen Anfang bei konkreten und anschaulich leicht erfaßbaren Fakten hat. Bei dieser Sachlage scheint mir die Auffassung der Axiome als Fundamente durchaus irrezuführen, wenigstens dann, wenn darin die ursprüngliche Bedeutung von Fundament enthalten sein soll, daß das Fundament zuerst da sein muß.
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Wünscht man überhaupt für das Verhältnis der Theorien zu ihren Prinzipien eine anschauliche Vorstellung, dann wäre die Vorstellung eines Baumes viel besser. Je mehr der Baum in die Höhe wächst, desto mehr gehen seine Wurzeln in die Tiefe. So ist auch der Ausbau einer Theorie stets ein Prozeß in zwei Richtungen. Auf der einen Seite wird die Theorie immer weiter ausgebaut, auf der anderen Seite werden ihre Prinzipien entdeckt und erforscht. Ein gewisser Rest dieses Sachverhalts ist auch in die Terminologie des Fundaments gedrungen, wenn man davon spricht, daß man die Fundamente einer Theorie tiefer legen muß. Allerdings steht ein solcher Ausdruck im Widerstreit mit dem Begriff des Fundamentes als solchem. Die Fundamente eines Tempels kann man gewiß nicht tiefer legen, ohne den Tempel selbst niederzureißen. Aber nichts will die Grundlagenforschung weniger, als die Theorien niederzureißen. Wir glauben also, daß der Ausbau einer Theorie stets gewissermaßen nach zwei Seiten geht. Nach der einen Seite zu wird eine Theorie zu immer abstrakteren und allgemeineren Sätzen ausgebaut, und dieser Prozeß hat in der Regel kein Ende. Auf der anderen Seite sucht man nach den Prinzipien und nach den Axiomen, und auch diese Arbeit wird nicht an ein Ende kommen. In dieser Auffassung der Prinzipien und Axiome glauben wir die Überzeugung der großen Forscher, etwa Zermelo oder Gödel, richtig formuliert zu haben. In einem solchen Sinne betrachten wir die Entdeckung eines neuen Prinzips und eines neuen Fundamentalaxioms als eine der großen Leistungen des menschlichen Geistes. Wir meinen aber, daß man diese Arbeit nicht richtig versteht, wenn man glaubt, sie könne heute oder morgen abgeschlossen werden. Die Arbeit an den Grundlagen und gerade die Arbeit an den Grundlagen muß immer als eine offene Möglichkeit betrachtet werden, nur dann wird man sie in ihrer eigentlichen Bedeutung sehen.
Abschnitt II:
DIE ONTOLOGISCHE BESTIMMUNG DES ALLGEMEINEN K a p i t e l 6: Das A l l g e m e i n e als Idee: P l a t o n $ 36: Die Aufgabe der ontologischen Bestimmung des Allgemeinen Wir haben in dieser Metaphysik den logischen Problemen des Allgemeinen einen so breiten Raum gewährt, weil der logische Status des Allgemeinen eng mit dem ontologischen Status zusammenhängt. Die ontologische Bestimmung des Allgemeinen, der wir uns jetzt zuwenden, trifft in besonderer Weise auf die Vielheit der Philosophien. Gerade in der Ontologie wird in besonderer Weise die Frage drängend: Warum gibt es so viele Philosophien? Für diese Frage lassen wir uns von der Überzeugung Hegels leiten, daß die Vielheit der Philosophien kein Mangel der Philosophie ist, sondern daß die Philosophie sich notwendig in vielen Philosophien darstellen muß.1 Wir werden diese Überzeugung Hegels im dritten, im methodischen Teil ausführlich zu diskutieren haben. Wir werden dann zeigen müssen, daß man zwar Hegel in seiner Überzeugung von der Notwendigkeit der vielen Philosophien Recht geben muß, daß man aber in der Art und Weise, wie der Zusammenhang zwischen den Philosophien gedacht werden kann, Hegel nicht folgen darf. Damit hängt bereits zusammen, daß wir Hegel schon darin nicht folgen, daß er die Vielheit der Philosophien in ihrer vollen geschichtlichen Fülle aufnimmt. Wir ziehen im bewußten Gegensatz dazu die geschichtliche Fülle unter systematischen Gesichtspunkten auf drei große Möglichkeiten zusammen: Platon, Aristoteles, Kant. Aber auch in dieser Beschränkung haben wir eine Vielheit, die als solche bejaht werden muß. Dann ist es nicht die Aufgabe der Ontologie, für eine dieser Philosophien Partei zu nehmen. Es kann nicht die erste Aufgabe der Ontologie sein, einen Platonismus zu vertei-
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digen, oder einen Aristotelismus oder einen Kantianismus. Ein solcher Platonismus läuft in aller Regel auf einen naiven Platonismus hinaus, und ein naiver Platonismus ist gewiß nicht im Sinne Platons. Nicht anders liegt es bei Aristoteles, nicht anders bei Kant. Erkennt man die Vielheit der Philosophien an, dann wird es die erste Aufgabe, jede dieser Philosophien in ihrem ontologischen Entwurf zu verstehen. Die Untersuchung muß zeigen, was die einzelne Philosophie sagen will und in welcher Weise diese ihre Aussage sachgegründet ist. In einer zweiten Untersuchung muß dann geprüft werden, ob der jeweilige Ansatz sich restlos durchführen läßt oder ob er auf Schwierigkeiten stößt, ob er vielleicht sogar in Aporien mündet. Schließlich muß die Frage erörtert werden, ob und wie die von uns betrachteten drei Philosophien miteinander zusammenhängen. Unser erstes Ziel ist in einem gewissen Sinne die These Hegels: Die Philosophie ist die Gesamtheit der Philosophien, diese Gesamtheit für unsere Betrachtung eingeengt auf die drei großen Philosophien. Dies Ergebnis soll dann im dritten Teil in bezug auf die Methode als solche untersucht werden. § 37: Die Arithmetik Platons Lehre von der Zahl und also von der Arithmetik ist so verwickelt, daß sie vielleicht niemals völlig aufgeklärt wird. Heute fangen wir an zu verstehen, daß diese Verwicklungen systematische Ursachen haben. Die Lehre Platons enthält aber einen Kern, der außer Zweifel steht und der für unsere Betrachtung hinreichend ist. Dieser Kern besteht in der Lehre, daß die Zahlen Ideen sind, wobei natürlich die Zahl im griechischen Sinne verstanden werden muß. Dieser Teil der Ideenlehre ist durch Beispiele unangreifbar gesichert, es gibt die Idee der Zwei,1 der Drei,* der Acht,8 der Zehn.4 Es gibt eine Idee des ,6 und insofern das als eine Zahl, also die Eins betrachtet wird, was für die Griechen freilich nicht in jeder Beziehung gilt, gehört auch sie hierher. Dies ist sicher, alles andere ist schwierig und fraglich. Gibt es auch Ideen von den größeren Zahlen? Der Bericht des Aristoteles geht dahin, daß man nur von den ersten zehn Zahlen Ideen angenommen habe,* und dies ist sehr wahrscheinlich. Man kann verstehen, daß in dieser Frage vieles offen geblieben ist. Nimmt man Ideen nur von den ersten zehn Zahlen an, dann
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ist es schwierig, einen Grund dafür anzugeben, warum es für die Zahlen von der Elf an keine Ideen geben soll. Läßt man für alle Zahlen Ideen existieren, dann gibt es unendlidi viele Ideen, und dies ist nicht leicht mit den Grundvorstellungen der Ideenlehre zu vereinen. Weiter hat Platon offenbar versucht, die Vielheit der Zahlen systematisch aus Prinzipien abzuleiten. Aristoteles berichtet darüber,7 und im Dialog Parmenides ist eine nah damit zusammenhängende Ableitung erhalten.8 Stenzel hat sie behandelt9, und Becker hat unsere Einsicht in .das Problem wesentlich gefördert.10 Eine endgültige Aufklärung kann aus dem geringen Material schwerlich erwartet werden, und die systematischen Schwierigkeiten eines solchen Problems, von dem wir im vorangegangenen Abschnitt einige Fragen diskutiert haben, übersehen wir erst heute wirklich. Schließlich muß Platon in der Spätzeit nach einem besonderen Zusammenhang zwischen den Zahlen und den Ideen gesucht haben. Auch hierüber berichtet Aristoteles,11 und die Alters Vorlesung: „Über das Gute"1* muß sich intensiv mit dieser Frage beschäftigt haben." Eine endgültige Aufklärung ist auch hier nicht zu erwarten. Es muß überhaupt fraglich bleiben, ob Platon in solchen Fragen eine dezidierte und endgültige Lehre gelehrt hat. Für unsere Betrachtung genügt es, daß es von den Zahlen Ideen gibt. Was ist der Sinn dieser These? Was will Platon sagen, wenn er erklärt, daß die Drei eine Idee sei? Dies ist die ontologische Aufgabe, wie wir sie als die primäre sehen: nicht sofort Stellung zu nehmen, nicht für Platon zu streiten oder gegen ihn. Für beides lassen sich gute Gründe geben. Die philosophische Aufgabe ist es aber, den ontologischen Sinn der Ideenlehre zu verstehen, und dies zunächst bei der These: Die Drei ist eine Idee. Es stellt sich also jetzt die Frage, warum Platon die Zahlen als Ideen verstanden hat. Zwei Momente sind es, die meiner Meinung nach Platon bestimmen und die überhaupt jede ontologische Interpretation der Zahl bestimmen: die Allgemeinverbindlichkeit der Zahl für jedes Denken und die Präzision. Hier dürfte Platon auf das stärkste von Pythagoras und seinen Schülern bestimmt sein. Eine solche Allgemeinverbindlichkeit der Zahlen und ihrer Gesetze ist nun in der Tat eine schlichte Gegebenheit, man mag sie nun ein Faktum oder ein Phänomen nennen. Man braucht nicht daran zu zwei11 Martin, Metaphysik
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fein, daß es in einer frühesten Zeit Menschen gegeben hat, die die Zahlen noch nicht gekannt haben, und daß es solche Menschen heute noch gibt. Es ist übrigens nicht leicht, dies nachzuweisen. Es scheinen keine Sprachen bekannt zu sein, die die Zwei nicht kennen, es mag sich nun um das ausdrückliche Zahlwort Zwei handeln, oder die Zwei mag in einer besonderen sprachlichen Form, etwa im Dual, ausgedrückt sein. Auch die Bindung der Zahl an bestimmte Gegenstände gehört wohl zu den frühen Sprachtatbeständen. Wie dem immer auch sein mag, wenn die Menschen die Zahl in den Blick bekommen, und ich verstehe hier unter Zahl, wie in der Regel in diesen Untersuchungen, die natürliche Zahl, dann sehen sie die Zahl immer auf dieselbe Weise. Die natürlichen Zahlen und ihre Gesetze sind für alle Menschen zu allen Zeiten und an allen Orten dieselben. Die Arithmetik ist dieselbe für die Griechen, für die Römer und für die Deutschen, um eine Formulierung von Leibniz fortzuführen, die wir bei der Geometrie noch kennenlernen werden. Das zweite Moment, das Platon bestimmt haben dürfte, die Zahlen als Ideen zu betrachten, wird wohl die Präzision sein. In der Gleichung 3X4 = 2X6 ist die eine Seite wirklich der anderen gleich, nicht fast gleich, nicht mit der größten Annäherung einander gleich, sondern wirklich einander gleich. Dies Argument, das im Phaidon eine so große Rolle spielt,1* ist dort auf die Gleichheit selbst bezogen. Es kann aber für die Ideen im ganzen in immer neuer Weise variiert werden. Diese beiden Argumente, insbesondere aber das der Allgemeinverbindlichkeit, sind für einen extremen Empirismus eine Schwierigkeit, von der man schwer sieht, wie sie sollte überwunden werden können. Gewiß stecken im Bereich des Allgemeinen und schon in der Arithmetik, der Geometrie und der Logik, empirische Momente, und wir werden sie noch eingehend diskutieren müssen. Aber diese empirischen Momente geben kein Recht, die Allgemeinverbindlichkeit der Arithmetik der natürlichen Zahlen hinwegzudisputieren, und wenigstens in bezug auf die Logik ist dies kaum jemals versucht worden. Prüft man die Bedeutung der beiden Argumente für die Ideenlehre, dann sieht man, daß es sich wenigstens bei der Allgemeinverbindlichkeit in erster Linie um das epistemologische Problem handelt. Dies liegt daran, daß wir einen ganz bestimmten Bereich betrachten. In der Tat, man kann mit gutem Recht sagen: Es ist die Idee der Schönheit, die die
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schönen Dinge schön macht. Aber man wird nicht mit demselben Nachdruck sagen wollen: Es ist die Idee der Drei, die macht, daß drei Dinge jeweils drei sind. Unter methodischen Gesichtspunkten kann man allgemein fragen: Welche Gründe gibt es für die Annahme der Existenz der Ideen? Diese Frage ist noch unabhängig vom Standpunkt, man kann sie stellen, wenn man die Ideenlehre bejahen will, man kann sie aber auch stellen, wenn man die Ideenlehre verneinen will. Man kann fragen: Mit welchen Argumenten kann man die Ideenlehre beweisen? Auf welchen Voraussetzungen beruhen diese Beweise? Wieviel beweisen sie? Beweisen sie vielleicht weniger, als die Freunde der Ideenlehre wollen? Oder beweisen sie vielleicht sogar mehr? Würden die Beweise zuviel beweisen, so wäre das vermutlich nicht weniger unangenehm, als wenn sie zu wenig beweisen würden. Diese methodische Form hat das Problem schon unter den Augen Platons erhalten, vielleicht durch seine Freunde und Schüler, vielleicht sogar durch ihn selbst. Aristoteles jedenfalls sieht das Problem deutlich vor sich, er sieht die Existenzbeweise der Ideenlehre in ihrer Struktur gegliedert vor sich," und er sagt von einem bestimmten Beweis ausdrücklich, daß dieser Beweis zuviel beweise.1* Es ist bedauerlich, daß das methodische Problem der Beweise für die Existenz der Ideen nicht diese Höhe bewahrt hat. Die Freunde der Ideen sind oft so unmittelbar den inhaltlichen Fragen zugewandt, daß sie sich mit methodischen Fragen nicht allzulange aufhalten mögen. Dies gilt selbst für methodisch so geschulte Denker wie Bolzano und Husserl. Uns scheint es notwendig, die Untersuchung der Existenzbeweise vom ontologischen Standpunkt des Untersuchenden zu lösen und diese Beweise unter rein methodischen Gesichtspunkten zu prüfen. Wir sind uns freilich darüber klar, daß wir in diesen Untersuchungen zur allgemeinen Metaphysik für diese Aufgabe eigentlich nur ein Programm und nicht eine Durchführung geben. Dies ist um so mehr der Fall, als die methodische Forderung nicht nur für die Philosophie von Platon gilt; sie gilt ebensosehr für die Philosophie von Aristoteles und für die Philosophie von Kant. Grundsätzlich muß man bei der Ideenlehre zweierlei auseinanderhalten. Die These, daß beispielsweise die Zahlen ein ideales Sein haben, ist durchaus zu trennen von der Frage, wie dieses ideale Sein zu verstehen ist. Insofern gilt auch hier die Abwandlung der Aristotelischen n»
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Formulierung: Nicht ob die Ideen sind, sondern wie die Ideen sind, das allein ist die philosophische Frage.17 Solange man in diesem Sinne die Frage noch offenhält, was unter dem idealen Sein der Zahlen zu verstehen ist, und solange man unter der These: Die Zahl ist eine Idee, nur dies verstehen will, daß die Zahlen und ihre Gesetze für alle denkenden Menschen allgemeinverbindlich sind, so lange ist die Ideenlehre einfach die Beschreibung eines Tatbestandes. Wir wollen nicht sagen, daß das Problem für Platon in der Allgemeinverbindlichkeit aufgeht. Die kultische Verehrung der Zahl bei den Pythagoreern, von der wir beiPhilolaos ein so eindrucksvolles Beispiel haben18, hat gewiß auch auf Platon eine tiefe Wirkung ausgeübt. Mehr jedoch als die Bedeutung der Zahl für die Sphärenharmonie des Kosmos dürfte Platon die Bedeutung der Zahl in der Arithmetik als einer reinen Wissenschaft bewegt haben. Auf jeden Fall ist von allen Gründen, die Platon zur Auffassung der Zahl als einer Idee bestimmt haben mögen, die Allgemeinverbindlichkeit der Zahlen und ihrer Gesetze für alle denkenden Wesen der geschichtlich wirksamste und der geschichtlich folgenreichste gewesen. § 38: Die Geometrie Die Gegenstände der Geometrie sind Ideen, die Sätze der Geometrie sind ideale Sätze, die Geometrie ist eine ideale Wissenschaft, all dies gilt unzweifelhaft für Platon. Gleichwohl tun sich für Platon wie in der Sache selbst große Schwierigkeiten auf. Dies beginnt damit, daß es merkwürdig selten ist, daß Platon geometrische Begriffe ausdrücklich als Ideen nennt. Im Phaidon liegt das Interesse gewiß auf den ethisch-ästhetischen Ideen, dem Schönen, dem Guten, dem Gerechten. Immerhin treten doch auch hier schon eine ganze Reihe logischer und mathematischer Ideen auf. Die Idee des Gleichen wird bei der Einführung der Ideenlehre als das eigentliche Beispiel benutzt, die Idee der Drei wird ausdrücklich genannt, in der Diskussion tauchen auch Ideen von anderen Zahlen auf. Geometrische Ideen fehlen jedoch im Phaidon. Im Gegensatz dazu wird im siebten Brief die Ideenlehre an Hand der Idee des Kreises eingeführt.1 Dazu finden wir im Staat die Idee des Quadrates und die Idee der Diagonalen.8 Dagegen treten, soviel ich weiß, die Idee eines Punktes, die
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Idee einer Geraden, die Idee einer Ebene in den Platonischen Dialogen nicht auf. Aristoteles allerdings diskutiert solche Ideen, wenn er die Auffassung der Mathematik durch die Ideenlehre systematisch nachprüft.3 Man sieht freilich bald die Schwierigkeiten, die sich bei einer Idee des Punktes ergeben müssen. Auch in der Geometrie dürfte die Allgemeinverbindlichkeit die eigentliche Begründung geben. Die Geometrie, so sagt Leibniz,4 ist dieselbe für die Griechen, wie für die Römer, wie für die Germanen, und daran kann ja irgendein Zweifel nicht sein. Nun ist zwar bei der Geometrie das empirische Moment leichter zu sehen als bei der Arithmetik. Schon der Name der ,Landmeßkunst' bringt dies zum Ausdruck, und so wird es denn verständlich, daß man immer wieder eine empirische Begründung der Geometrie versucht hat. Eine rein empirische Begründung der Geometrie scheitert aber an dem Tatbestand der Allgemeinverbindlichkeit, und sie muß immer daran scheitern. Dies Faktum der Allgemeinverbindlichkeit der Geometrie wird auch nicht durch die Entdeckung der nichteuklidischen Geometrien aufgehoben. Wir betrachten die Entdeckung der nichteuklidischen Geometrien als ein fundamentales Phänomen für die Wissenschaftstheorie wie für die Ontologie. Aber die Allgemeinverbindlichkeit der Geometrie muß gerade in diesem Zusammenhang verstanden werden. Für Platon lagen die Dinge noch einfacher. Für ihn gab es nur die eine Geometrie, und für ihn ist die Geometrie eine der großen Stufen, über die der Zugang zur Ideenlehre gewonnen werden kann.5 Bei der Geometrie wird das zweite Grundphänomen, die Präzision des idealen Seins, augenfälliger als bei der Arithmetik. Der Kreis der Geometrie ist allein ein wirklicher Kreis, er allein ist eine Linie, deren Punkte alle von dem Mittelpunkt wirklich denselben Abstand haben. Kein Kreis in der realen Wirklichkeit ist in diesem genauen Sinne ein Kreis. Die Ebene der Geometrie allein ist eine genaue Ebene. Die Kunst des Mechanikers, des Optikers reicht weit, sie vermag spiegelglatte Flächen herzustellen, eine Ebene im genauen Sinne wird sie niemals herstellen können. Der Abstand zwischen den vollkommensten Gebilden der realen Wirklichkeit und den absolut vollkommenen Gebilden der Geometrie ist ein seit jeher gebrauchtes Beispiel für den Abstand zwischen der Idee und dem realen Sein. So wird es verständlich, in wel-
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chem Maße Allgemeinverbindlidikeit und Präzision Platon bewegen haben, die Gegenstände der Geometrie als Ideen aufzufassen. $ 39: Die Physik Physik ist für Platon wesentlich Astronomie, und in einem gewissen Sinne gilt dies auch noch für Aristoteles, obwohl beide in ihren Lehren von den Elementen über diese Beschränkung hinausgreifen. Diese Hinwendung auf die Astronomie ist verständlich, weil die Entdeckung der Gesetzlichkeit in der Natur ausgegangen ist von der Entdeckung der Gesetzlichkeit am Himmel. In einem gewissen Sinne bleibt auch noch für Newton die Himmelsmechanik der Kern der Mechanik und also der Kern der Physik. In seiner Interpretation der Astronomie kommt Platon zu einer auf den ersten Blick seltsamen Unterscheidung. Er sagt im Staat: „Man wird zwar die Gestirne, diese Zierden des Himmels, für das Schönste und Regelrechteste halten unter allem Sichtbaren, aber da sie nun einmal im Sichtbaren gebildet sind, so wird man zugeben, daß sie weit hinter dem Wahrhaften zurückbleiben, nämlich hinter den Bewegungen, in welchen sich die wahre Schnelligkeit und die wahre Langsamkeit nach der wahren Zahl und nach den durchgängig wahren Figuren bewegen und, was zu ihnen gehört, mit sich führen. Dies ist nur durch den Verstand und das Denken zu erfassen, nicht durch das Gesicht."1 Platon vergleicht diese ideale Astronomie mit der Geometrie, die sich gewiß nicht nach Modellen richten darf, und seien sie auch von Dädalus selbst gemacht. Er hebt dann noch einmal darauf ab, daß die Zahlenverhältnisse des Tages zum Monat, des Monats zum Jahr unbefriedigend sind.8 In der Tat stehen die Umläufe der Himmelskörper, auf die es hier ankommt, keineswegs in ganzen Zahlen zueinander. Gerade dies aber fordert Platon. Er denkt sich dies offenbar so, daß die Verhältnisse der Umläufe nur durch ganze Zahlen bestimmt sein sollten. Diese ganzen Zahlen sollten seiner Meinung nach darüber hinaus noch ausgezeichnete Zahlen sein, etwa vollkommene Zahlen im arithmetischen Sinne. So wird für Platon das große Jahr, in dem alle Gestirne wieder in dieselbe Konstellation zurückkehren, von einer durch rein arithmetische Eigenschaften ausgezeichneten Zahl bestimmt.8 Dies klingt uns heute zwar absurd, aber es ist noch keineswegs erwiesen, ob
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nicht gewisse Grundbestimmungen der physikalischen Wirklichkeit aus einfachen mathematischen Gesetzmäßigkeiten fließen. In dieser Weise müßte Platon zwischen einer idealen Astronomie und einer faktischen Astronomie unterscheiden, wobei für ihn nur die ideale Astronomie eine Wissenschaft im eigentlichen Sinne sein kann.4 Zu dieser Forderung dürfte auch Platon nicht nur durch die Ideenlehre, sondern auch durch die Pythagoreer bestimmt sein. Die Bestimmung des Weltalls durch die Zahl kann für die Pythagoreer nur heißen, daß der Kosmos durch ganze Zahlen bestimmt wird und zwar durch ausgezeichnete Zahlen. In diesem Sinne berichtet Aristoteles, und sein Bericht dürfte richtig sein, daß die Pythagoreer zu den neun ihnen bekannten beweglichen Himmelskörpern einen zehnten substituiert hätten, damit der Kosmos durch die Zehnzahl regiert werde.6 So befremdlich die Unterscheidung Platons zwischen einer idealen und einer empirischen Astronomie auch sein mag, so ist sie doch in der Sache gegründet. Die theoretische Astronomie ist in der Tat eine ideale Theorie, weil sie von idealen Gegenständen handelt, und jede Theorie ist eine ideale Theorie. Dies läßt sich deutlich bei Newton zeigen. Zunächst ist hier die Physik wesentlich Astronomie. Newton hat seine Bewegungsgesetze als Gesetze der Bewegungen der Himmelskörper entdeckt, und erst in einem zweiten kühnen Schritt hat er die Gültigkeit dieser Gesetze auf alle Körper, also auch auf die irdischen Körper ausgedehnt. Fragt man nach dem grundsätzlichen Charakter der Newtonschen Physik, dann zeigen sich die Philosophiae Naturalis Principia Mathematica als ein sehr gemischtes Werk. Sie beschränken sich keineswegs auf die mathematischen Prinzipien, sondern behandeln auch Probleme, die weitgehend von empirischen Daten abhängen, beispielsweise die Lehre von Ebbe und Flut.' Freilich gilt dieser gemischte Charakter physikalicher Lehrbücher auch der theoretischen Physik bis auf unsere Tage. Darstellungen der theoretischen Physik als eines völlig reinen theoretischen Systems oder auch nur Untersuchungen dazu sind selten, ich darf hier auf die Darstellung von Hertz oder auf die Untersuchungen von Hermes zur Axiomatisierung der newtonschen Mechanik verweisen.7 Löst man die theoretische Physik aus ihrem Zusammenhang mit der Empirie, dann stellt sie sich als ein reines theoretisches System dar, und man kann sie dann etwa in der Form der Newtonschen
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Kap. 6: Das Allgemeine als Idee: Platon
Punktmechanik betrachten. In diesem Bereich kann man weitgehend mit den Prinzipien der Mechanik operieren, man kann einige von ihnen als Voraussetzungen wählen und bekommt dann die anderen als ableitbare Lehrsätze.8 Man kann auch in diesem Bereich mit anderen Gesetzen als dem Newtonschen Attraktionsgesetz operieren.9 So zeigt sich klar der ideale Charakter dieses Systems. In der realen Welt gibt es keine diskreten Massenpunkte. Es kann also schlechterdings keine Rede davon sein, daß die realen Bewegungen Ellipsen im genauen Sinne sind. Dies ist schon wegen der ständigen Störungen durch die anderen Himmelskörper nicht möglich. Der ideale Charakter der newtonschen Punktmechanik zeigt sich vielleicht noch deutlicher beim ersten Newtonschen Axiom. Das Axiom sagt, daß ein Körper seine Bewegung in derselben Richtung und mit derselben Geschwindigkeit fortsetzt, solange keine anderen Kräfte auf ihn einwirken. Dies kann in der realen Wirklichkeit niemals geschehen, weil die Bedingung ein Irrealis ist. In der realen Wirklichkeit wirken auf jeden Körper stets andere Körper ein. Die newtonsche Punktmechanik handelt also von idealen Gegenständen, und in diesem Idealisierungsmoment steht sie der Geometrie nahe. Von hier aus wird es verständlich, wenn früher die theoretische Physik von den Mathematikern und Physikern als eine gemeinsame Aufgabe betrachtet wurde, wenn nicht von vornherein der Forscher Mathematik und Physik in ihren Zusammenhang, ja in ihrer Einheit behandeln konnte, wie Archimedes, wie Newton, wie Gauss, um nur an die größten Namen zu erinnern. Daß es sich bei der newtonschen Punktmechanik um eine Idealisierung handelt, daß im Grunde genommen jede Theorie eine Idealisierung darstellt und daß dies zum mindesten für eine in mathematischer Form darstellbare Theorie gilt, dies ist schon oft gesehen worden, ich verweise etwa auf Mach,10 auf Niels11 und auf Whitehead.12 Versucht man, sich darüber klar zu werden, wie Newton selbst die Bewegungsgesetze aufgefaßt hat, so ist die übliche Meinung die, daß Newton einen dezidiert platonischen Standpunkt vertreten habe. Allein so sicher ist dies nicht. Mir scheint das theologische Moment bei Newton eine große Bedeutung zu haben, und dies wäre zum mindesten eine Ideenlehre in der Form, wie Augustin sie weiterentwickelt hat. In diesem Sinne wird man sagen können, daß Newton die Bewegungsgesetze primär als Gedanken Gottes bestimmt. Diese Gesetze hat Gott
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aus freier Entscheidung gesetzt. Er hätte sie anders setzen können, und er kann sie also auch jeden Augenblick anders setzen.13 Durch diesen Gedankengang löst Newton ein Problem, das ihm offenbar viel Sorge gemacht hat. Man kann fragen, ob das Planetensystem wegen der dauernden Energieverluste nicht zum Stillstand und also zum Einsturz kommen muß. Aber Gott hat dem Planetensystem die Bewegungsenergien nach freier Entscheidung gegeben, und er kann also verloren gegangene Bewegungsenergien nach freier Entscheidung in jedem Augenblick erneuern.14 Freilich wird dies alles von Newton nur mit großer Vorsicht und nur am Rande ausgesprochen. Besser lassen sich die Dinge bei Leibniz fassen. Hier liegt der Zusammenhang mit Platon und Augustin offen zutage, und Leibniz selbst hat ihn mehrmals erwähnt. Naturgesetze sind für Leibniz räumlich-zeitliche Relationssysteme, und sie existieren wie alle Relationen, besonders aber wie die räumlichen und zeitlichen Relationen, primär in mente divina.15 Die Unterscheidung zwischen notwendigen und nichtnotwendigen Wahrheiten bleibt in gewisser Weise erhalten. Die Notwendigkeit des principium rationis sufficientis gilt allgemein. Sie gilt für alles endlich Existierende ebenso wie für die Entscheidungen Gottes. Aber es gibt darüber noch die Notwendigkeit des principium contradictionis. Die Gesetze der Logik, der Arithmetik, der Geometrie sind notwendig aus dem Satz des Widerspruchs. Dagegen sind die Gesetze der Physik zwar auch notwendig, aber nur aus dem Satz des zureichenden Grundes.1' So sind zwar auch andere Bewegungsgesetze etwa mit anderen Exponenten widerspruchsfrei möglich," aber in dieser wirklichen Welt kann es aus dem Satz vom zureichenden Grunde heraus allein ein Attraktionsgesetz mit der zweiten Potenz geben. So existieren zwar diese verschiedenen Gesetze als Möglichkeiten im Denken Gottes, aber es gibt einen zureichenden Grund dafür, daß in der besten der möglichen Welten ein Attraktionsgesetz mit der zweiten Potenz gelten muß, und es ist eben dieser Grund, aus dem heraus Gott diese Welt mit diesem Attraktionsgesetz geschaffen hat. Mit diesen Erwägungen wendet sich Leibniz gegen einen willkürlichen Eingriff Gottes in die Natur, er sichert dagegen die durchgängige Gültigkeit der Naturgesetze. Nimmt man alle diese Erwägungen zusammen, dann werden die Naturgesetze als Ideen bestimmt, es sei bei Platon in einer noch etwas
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unbestimmten Form, es sei bei den großen Forschern der beginnenden Neuzeit, für die die Ideen und also auch die Naturgesetze sich primär als Gedanken Gottes darstellen. Dafür zeigen sich ebenso wie bei der Arithmetik und bei der Geometrie zwei Gründe: die Allgemeinverbindlichkeit der Mechanik und die Präzision der Mechanik. Beschränken wir uns wieder auf die klassische Mechanik, so kann kein Zweifel daran sein: wir haben alle dieselbe Mechanik, so wie wir alle dieselbe Arithmetik und dieselbe Geometrie haben. Diese Allgemeinverbindlichkeit wird auch dadurch nicht aufgehoben, daß die Atomphysik die klassische Mechanik in gewisse, wenn auch heute noch nicht klar durchschaubare Grenzen einschränkt. Eines läßt sich jedoch heute schon übersehen: die Atomphysik hebt die klassische Physik nicht auf, sondern sie begrenzt sie und setzt sie damit erst in ihr eigentliches Recht ein. Ebenso deutlich ist in der klassischen Mechanik der Präzisionscharakter das Idealisierungsmoment. Daß zwei Körper sich in Ellipsen bewegen, deren einer Brennpunkt der Massenmittelpunkt ist, das ist von der realen Wirklichkeit ebenso weit entfernt wie der geometrische Satz, daß die Tangente mit dem Kreis, den sie berührt, einen und nur einen Punkt gemeinsam hat. § 40: Die Logik Will man die Logik vom Standpunkt der Ideenlehre aus betrachten, so ist dies wenigstens bei Platon selbst noch nicht möglich, denn die Ausbildung der Logik als einer selbständigen Disziplin verdanken wir erst Aristoteles. Andererseits stehen ausgezeichnete Vertreter der Logik, Leibniz, Bolzano, Frege, Husserl, Scholz, Whitehead, Church, Gödel, Fitch und viele andere auf einem entschieden platonischen Standpunkt. Die Diskussion wird zunächst dadurch erschwert, daß schon in der Bestimmung des Gegenstandes der Logik die Meinungen auseinandergehen. Ist die Logik eine Lehre von der Kunst des Denkens, oder ist sie eine Lehre von dem Gedachten? Ist sie eine Lehre von der Kunst des Denkens, dann wird sie oft ausgebildet bis zu einer Kunst, die lehrt, wie das durch das Denken Erreichte am besten vorgetragen werden kann. Ist sie eine Lehre vom Gedachten, so entwickelt sie sich von
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selbst zu einer Lehre vom Denkbaren, das Denkbare betrachtet im Hinblick auf gewisse formale Strukturen. Man findet diese Schwierigkeiten schon bei Aristoteles selbst. Der Inhalt des Organons ist außerordentlich vielfältig. Es enthält sprachphilosophische Untersuchungen, die aristotelische Kategorienlehre, die aristotelische Syllogistik, eine Wissenschaftstheorie, Anweisungen, den Gegner zu überzeugen, aber auch Anweisungen, den Gegner bloß zu überreden. Wir können die Diskussion über den Gegenstand der Logik dahingestellt sein lassen, wenn wir nur einen Teil der Logik betrachten, bei dem die Verhältnisse einfacher liegen. Wir wählen dafür den zweiwertigen Aussagenkalkül. Der zweiwertige Aussagenkalkül kann heute sehr genau dargestellt werden, wir haben vor allen Dingen seine Darstellung in den Principia Mathematical bei Quine2 und bei Scholz3 vor Augen. Er gehört zu den Theorien, die wissenschaftstheoretisch am besten erforscht sind; wir sahen bereits, daß er widerspruchsfrei,4 entscheidungsdefinit5 und endlich-axiomatisierbar" ist. Er ist eine der wenigen Theorien, die den Anforderungen entsprechen, die Husserl an jede Theorie überhaupt stellt. Wegen der logischen Einfachheit des zweiwertigen Aussagenkalküls ist auch die Frage nach seinem ontologischen Status verhältnismäßig durchsichtig. Der zweiwertige Aussagenkalkül hat ein ideales Sein, dies ist die These, welche die den platonischen Standpunkt vertretenden Logiker behaupten. Zwar halten viele Logiker, insbesondere der empirischen und der analytischen Schule, diese These für unrichtig, aber wenigstens für den von uns allein betrachteten zweiwertigen Aussagenkalkül bleiben die von hier aus gemachten Einwände wenig überzeugend. Der zweiwertige Aussagenkalkül setzt eine solche Bestimmtheit seiner Gegenstände voraus, daß nicht zu sehen ist, von welchem empirischen Gegenstandsbereich der zweiwertige Aussagenkalkül sollte adäquat gelten können. Nicht anders liegen die Dinge, wenn man ihn auf die Sprache bezieht, wozu viele Logiker unserer Zeit neigen. Wenigstens in bezug auf den zweiwertigen Aussagenkalkül scheint es schwer, diese vielfach vertretene Meinung auch nur klar auszusprechen. Will diese Meinung sagen, der zweiwertige Aussagenkalkül sei ein Teil der Sprache, insofern er ausgesprochen werden muß, so ist das trivial, weil jede Theorie ausgesprochen werden muß. Insofern auch der zwei-
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wertige Aussagenkalkül ausgesprochen werden muß, weicht er jedenfalls von allen Umgangssprachen so entschieden ab, daß er zum mindesten als eine Sprache sui generis betrachtet werden müßte. Will diese Meinung sagen, der zweiwertige Aussagenkalkül handele von der Sprache, so müßten ihre Vertreter zunächst einmal sagen, welches die Sprache ist, von der dieser Kalkül handeln soll. Die bekannten Umgangssprachen sind es jedenfalls nicht. Daß die bekannten Umgangssprachen nicht zweiwertig sind, daran kann kein Zweifel sein. Es erscheint daher verständlich, wenn Scholz in der Auseinandersetzung mit Kaila in der These seines Gegners einen Sinn überhaupt nicht zu finden vermag.7 Die von uns für die Annahme eines idealen Seins bereits herausgearbeiteten Gründe, Allgemeinverbindlichkeit und Präzision, zeigen sich beim zweiwertigen Aussagenkalkül ebenso deutlich. Der zweiwertige Aussagenkalkül ist nur ein Teil der Logik und ist auch nur die formale Darstellung eines Teiles der Aristotelischen Syllogistik. Insofern er als eine Arithmetik der Zahlen Eins und Zwei aufgefaßt werden kann,8 ist er ein Teil der Arithmetik. In beiden Betrachtungsweisen ist der zweiwertige Aussagenkalkül auf jeden Fall eine allgemeinverbindliche Theorie, eine Theorie, die für jeden Menschen verbindlich und einleuchtend ist. Wenn einzelne Sätze angefochten werden, wie etwa der Satz vom ausgeschlossenen Dritten in der intuitionistischen und in der operativen Logik, so wird gerade nicht diese Allgemeinverbindlichkeit der Theorie als solcher angefochten, sondern es wird angefochten, daß ein bestimmter Satz zu dieser allgemeinverbindlichen Theorie gehört. Man kann vielleicht darüber streiten, ob aus der Allgemeinverbindlichkeit des zweiwertigen Aussagenkalküls das ideale Sein dieser Theorie folgt, und in unseren systematischen Erwägungen wird es wesentlich um diese Frage gehen, aber man kann nicht die Allgemeinverbindlichkeit der Logik bestreiten. Ebenso groß ist die Präzision des zweiwertigen Aussagenkalküls. Er setzt schlechterdings voraus, daß alle Aussagen, die in seine Aussagenvariablen eingesetzt werden dürfen, wahr oder falsch sind. Aber in der realen Welt gibt es nur wenige zweiwertige Tatsachen. Es ist zwar wahr, daß es in diesem Februar des Jahres 1963 an diesem Ort und zu dieser Stunde entschieden kalt ist, aber die Frage, ob es warm oder
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kalt ist, kann nidit an jedem Ort und zu jeder Stunde so eindeutig beantwortet werden. Bolzano hat als Beispiel die Blüten eines Baumes gewählt, er schrieb diesen Abschnitt offenbar in einer schönen Frühlingsstunde.' Aber gerade das Beispiel von Bolzano scheint mir die Unrichtigkeit der zugrunde liegenden Meinung zu beweisen. Es gibt an diesem Baum stets Gebilde, von denen man noch nicht sagen kann, ob sie noch Knospe oder ob sie schon Blüte sind, und es gibt stets Gebilde, von denen man nicht mehr sagen kann, ob sie noch Blüte sind oder ob sie schon abgeblüht haben. Die Diskrepanz zwischen der Kontinuität des Prozesses und der Diskretheit unserer Bestimmungen, die Zenon zum ersten Mal gesehen hat, macht es unmöglich, die in stetigen Prozessen veränderliche Welt als eine Mannigfaltigkeit von zweiwertigen Sachverhalten aufzufassen. Auch hier wird man sagen müssen, daß der zweiwertige Aussagenkalkül ebensoweit von der wirklichen Welt und übrigens auch ebensoweit von den wirklichen Sprachen entfernt ist, wie das Verhältnis einer Tangente zum Kreis entfernt ist vom Verhältnis einer Schiene zum Rad der Lokomotive. Es handelt sich beim zweiwertigen Aussagenkalkül ohne Zweifel um eine ideale Theorie.
K a p i t e l 7: Das A l l g e m e i n e als N a t u r g e s e t z : Aristoteles $41: Die Physik Will man die Meinung des Aristoteles in eine kurze Formel zusammenfassen, dann ist es nicht leicht, dafür einen genau passenden Terminus zu finden. Man kann zwischen zwei Formen wählen: das Allgemeine ist Seinsgesetz, oder das Allgemeine ist Naturgesetz. In der deutschen Bedeutung ist der erste Ausdruck zu weit, der zweite zu eng. Der Ausdruck ,Naturgesetz* ist im Deutschen weitgehend an physikalische Gesetze, manchmal sogar an mechanische Gesetze gebunden, und dies ist für Aristoteles zu eng. Unter den Allgemeinbegriffen, deren ontologische Interpretation durch Aristoteles wir untersuchen wollen, befinden sich etwa auch der Begriff der Einheit oder der Begriff des Menschen. Auf der anderen Seite ist der Terminus ,Seinsgesetzc zu weit, da der Terminus ,Seinc etwa in der Terminologie von Nicolai Hart-
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mann auch das ideale Sein umfaßt. Immerhin ist doch diese Bedeutung als ideales Sein schon eine gewisse Bedeutungserweiterung, und das deutsche Wort ,Sein' bleibt fühlbar auf das reale Sein bezogen. Behält man diesen primären Bezug im Sinn, dann trifft der Terminus ,Seinsgesetz* ziemlich genau das, was Aristoteles sagen will. Daß in der Physik das Allgemeine sich als Naturgesetz darstellt und daß die Physik von der Natur, also von dem realen Sein, handelt, dies scheint freilich eine Trivialität zu sein. Auch Aristoteles betrachtet dies an vielen Stellen als selbstverständlich. Allein so einfach liegen die Dinge nicht. Was soll das heißen: von der realen Welt handeln? Wir haben eben gesehen, daß die Newtonschen Bewegungsgesetze den Gesetzen der Geometrie sehr viel näher stehen als einer empirischen Beschreibung des faktischen Geschehens. Um Aristoteles in diesem Punkt zu verstehen, wollen wir seine Lehre von der Natur kurz zusammenfassen. Die für unseren Gesichtspunkt relevanten Teile der Aristotelischen Naturlehre kann man in drei Gruppen gliedern: die Lehre vom Kosmos im Ganzen, die Lehre von den Bewegungen der Gestirne und die Lehre von den Elementen. Die Lehre vom Kosmos im Ganzen stellt eine rationale Kosmologie im Sinne von Christian Wolff dar.1 Aristoteles lehrt, daß der Kosmos eine Kugel ist,2 die eine endliche Ausdehnung hat8 und in deren Mittelpunkt die Erde ruht.4 Um die Erde legen sich in konzentrischen Kugelschalen das Wasser, die Luft und das Feuer und dann als fünftes Element der Äther.5 Der Äther bildet den Fixsternhimmel.' Der Fixsternhimmel dreht sich täglich einmal um die Erde.7 Diese Bewegung ist unveränderlich, ohne Anfang und ohne Ende.8 Der Kosmos des Aristoteles ist also räumlich endlich und zeitlich unendlich. Die Lehre von den Bewegungen der Himmelskörper macht die Astronomie aus. Hier lehnt sich Aristoteles wesentlich an Eudoxus an." Es gibt sieben bewegliche Himmelskörper: die Sonne, den Mond und fünf Planeten. Ihre sichtbaren Bewegungen werden aus Kreisen zusammengesetzt.10 Das Ganze gibt ein ziemlich kompliziertes System von Kreisen,11 an dem auch zur Zeit des Aristoteles wohl noch oft geändert wurde, Aristoteles selbst nimmt 47 Kreise an." Die Aristotelische Elementenlehre stützt sich in einem ersten Ansatz auf die Bewegung und die davon abgeleiteten Qualitäten leicht und
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schwer." In diesem Ansatz würde sie heute als Physik zu bezeichnen sein. In einem zweiten Ansatz macht sie die Qualitäten warm, kalt, feucht und trocken zum Ausgangspunkt." In dieser Hinsicht müßte sie heute als Chemie betrachtet werden. Von diesen drei Bereichen sind die Kosmologie und die Elementenlehre spezifisch aristotelisch, während in der Astronomie Aristoteles sich auf eine bereits ausgebildete Wissenschaft stützen kann und auch stützt. So wird es verständlich, daß für wissenschaftstheoretische und ontologische Betrachtungen Aristoteles sich in erster Linie auf die Astronomie bezieht. Beachtung hat Aristoteles auch der Optik15 und der Akustik" geschenkt. Freilich waren diese beiden Wissenschaften noch in ihren ersten Anfängen, wenn auch die Pythagoreer in der Akustik bereits bemerkenswerte Einsichten gewonnen hatten.17 Gleichwohl gehörte die Intuition des Aristoteles dazu, um zu erkennen, welche Möglichkeiten in diesen beiden neuen Wissenschaften sich eröffneten. Die drei Wissenschaften, und unter ihnen insbesondere die Astronomie, handeln von der realen Welt. Dies wird für Aristoteles wichtig in seiner Auseinandersetzung mit der Ideenlehre. Zugrunde liegt das Argument für die Existenz der Ideen, das Aristoteles das Argument aus den Wissenschaften nennt.18 Eine Wissenschaft, so sagt dies Platonische Argument, kann nur von Ideen handeln, und da die Astronomie eine Wissenschaft ist, so muß sie von Ideen handeln. Wir haben gesehen, mit welcher Entschlossenheit Platon diese Konsequenz zieht. Würde man Platon hier Recht geben, dann müßte es in der Tat eine ideale Sonne geben und einen idealen Mond, und über diese hätte die Astronomie zu handeln.1' Aristoteles findet es völlig ungereimt, daß die Astronomie nicht von diesem Himmel, dem sichtbaren Himmel, handeln soll.*0 Aus dem Argument der Ideenlehre heraus müßte die Astronomie sich auf einen idealen Himmel beziehen, den es neben dem sichtbaren Himmel geben müßte.21 Für Aristoteles ist dies alles absurd, und man darf wohl annehmen, daß ihm gerade die Äußerungen Platons in der Politeia als absurd erschienen sind. Man hat die Auffassungen des Aristoteles stets als Empirismus betrachtet. In diesem Sinne sagt etwa Kant, daß man Aristoteles als das Haupt der Empiristen ansehen kann.22 Dies ist in gewisser Weise natürlich richtig. Man darf dabei aber die apriorischen Momente nicht über-
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sehen, -die die Aristotelische Naturlehre weitgehend bestimmen. Ein wesentlicher Teil der Naturlehre wird a priori deduziert, und er kann auch gar nicht anders gewonnen werden, weil die betreffenden Behauptungen, etwa die Kugelgestalt des Kosmos, einer empirischen Erfahrung gar nicht zugänglich sind. Diese apriorischen Elemente tragen, wie wir noch sehen werden, doch wieder eine gewisse Idealität in die Aristotelische Physik hinein, sie stehen dagegen, daß man sie als einen reinen Empirismus auffassen kann. $ 42: Die Geometrie Astronomie, Geometrie und Arithmetik haben eine gleich große Bedeutung für Platon wie für Aristoteles. Sie sind für Platon bedeutsam, wenn er die Ideenlehre begründet, und sie sind für Aristoteles bedeutsam, wenn er sich mit der Ideenlehre auseinandersetzt. Mit gutem Recht messen Platon und Aristoteles diesen drei Disziplinen eine solche Bedeutung bei, und niemals wird eine Untersuchung über das Sein des Allgemeinen an diesen drei Disziplinen vorbeigehen können. So wird es verständlich, daß Aristoteles im Buch 13 der Metaphysik ausführlich von ihnen handelt. Dort gelingt ihm eine überaus durchsichtige Darstellung seiner Position sowohl in negativer als auch in positiver Hinsicht. Mit der negativen Hinsicht meine ich, daß hier die Polemik des Aristoteles gegen Platon in besonderer Weise verstehbar wird, mit der positiven Hinsicht meine ich, daß hier die Lehre des Aristoteles vom Sein des Allgemeinen eine ihrer verständlichsten Darstellungen gefunden habe. Das Buch 13 der Metaphysik ist eine groß angelegte Untersuchung über das Sein des Allgemeinen. Werner Jaeger hat darauf hingewiesen, daß hier, von wenigen Stücken abgesehen, metaphysische Untersuchungen von besonderer Planmäßigkeit und Geschlossenheit vorliegen.1 Ich kann dem Lob, das Werner Jaeger dem Buch 13 zollt, nur zustimmen. Das Buch beginnt mit einer kurzen Darstellung des Gegenstandes und des Planes der Untersuchung.* Demgemäß ist die Untersuchung in drei Teile gegliedert. Im ersten Teil fragt Aristoteles nach dem Sem des Mathematischen,8 im zweiten Teil fragt er nach dem Sein der Ideen als solchem,* und im dritten Teil schließlich untersucht er den Zusammenhang zwischen dem Mathematischen und den Ideen.5 Uns kommt es
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hier auf den ersten Teil an, in dem das Sein des Mathematischen als solches Thema ist. Als grundsätzliche Richtlinie für die Untersuchung bringt Aristoteles die schöne Formulierung, die wir bereits zitiert haben: Nicht ob es die Zahlen gibt, sondern wie es die Zahlen gibt, das ist allein die philosophische Frage." Im Kapitel 3 trägt Aristoteles seine Lehre über den ontologischen Status der Astronomie, der Geometrie und der Arithmetik vor. Dabei legt er zugleich seine Meinung über ihr gegenseitiges Verhältnis dar. Aristoteles betrachtet es als selbstverständlich, wir sahen dies bereits, daß die Astronomie über den Himmel handelt, so wie wir ihn sehen. Allerdings betrachtet die Astronomie diesen Himmel nicht in seinem vollen Wahrnehmungsgehalt, sondern sie betrachtet ihn nur in seinen Bewegungserscheinungen. Hier setzt das für Aristoteles fundamentale Moment der Abstraktion ein, auf Grund dessen man die Aristotelische Theorie mit Recht als Abstraktionstheorie bezeichnet. Die Astronomie nimmt beispielsweise die Sonne nicht in ihrer vollen Wahrnehmungsfülle. Die Sonne wärmt und leuchtet, sie bringt den Frühling, sie bestimmt den Lauf des Jahres. Von allem diesem abstrahiert die Astronomie,7 sie betrachtet die Sonne vielmehr nur als einen bewegten Körper. Eine solche Auffassung der Sonne nur als bewegter Körper kann aber als Abstraktion verstanden werden. Dafür ist es nicht notwendig, die Existenz einer Bewegung als eines ideal Seienden im Sinne der Ideenlehre anzunehmen.8 Es ist auch nicht notwendig, daß man annimmt — Aristoteles denkt hier vielleicht an gewisse abgewandelte Formen der Ideenlehre —, es gäbe in den sichtbaren Dingen eine besondere für sich existierende Idee der Bewegung.9 Das Faktum der Astronomie als einer Wissenschaft führt also nicht notwendig auf die Annahme von für sich existierenden Ideen,10 es kann vielmehr nach der Überzeugung des Aristoteles besser durch seine Abstraktionstheorie erklärt werden. In derselben Weise ist nun nach der Überzeugung des Aristoteles auch die Geometrie zu verstehen. Dafür muß man sich vorstellen, daß die Abstraktion, auf der schon die Astronomie beruht, jetzt noch einen Schritt weiter geht. Die Bewegungsbahnen werden jetzt nicht mehr als Bewegungsbahnen betrachtet, sondern nur noch ihrer geometrischen Form nach als Kurven, deren Grundlage der Kreis ist. Ebenso wird auch die Sonne jetzt nicht mehr als leuchtender und wärmender Him12 Martin, Metaphysik
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melskörper, auch nicht mehr als bewegter Himmelskörper betrachtet. Sie wird vielmehr lediglich auf ihre Form hin betrachtet, also als Kreis. Auch hier ist die Ais-Funktion der Abstraktion das Entscheidende. Die Geometrie betrachtet zwar die reale, sinnlich wahrnehmbare Welt; aber sie nimmt sie nur in einer bestimmten Abstraktion, sie nimmt sie nur in ihrer räumlichen Gestaltung.11 Schließlich ist nach der Überzeugung des Aristoteles in derselben Weise auch die Arithmetik zu verstehen. Wiederum geht die Abstraktion noch einmal einen Schritt weiter. Auch die Arithmetik handelt von der realen, der sinnlich wahrnehmbaren Welt. Aber sie betrachtet sie lediglich in bezug auf ihre Zählbarkeit, sie nimmt alle Dinge lediglich als zählbar.12 Jetzt werden die Himmelskörper also nicht mehr in ihrem vollen Glanz erfaßt, so wie sie sich zeigen, auch nicht mehr in ihren Bewegungen, wie in der Astronomie, auch nicht mehr in ihren Gestalten, wie in der Geometrie, sondern nur noch als Zählbares. Jetzt ist die Sonne nicht mehr das Wärmende und Leuchtende, nicht mehr das sich Bewegende, nicht mehr der Kreis, sondern nur noch einer unter den sieben bewegten Himmelskörpern. Es liegen also nach der Überzeugung des Aristoteles in der realen Welt verschiedene Strukturen übereinander, und diese Strukturen können durch die Abstraktion abgehoben und jeweils besonders dargestellt werden. In diesem Sinne handelt die Geometrie von der realen Welt, diese reale Welt freilich in einer bestimmten Hinsicht genommen. Dies sagt Aristoteles an vielen Stellen. Die Geometrie, so sagt er einmal zuspitzend, handelt von der Geraden, die in der Natur vorkommt.18 Die Geometrie ist also die Lehre von dem Raum der realen Welt und von den darin vorkommenden Gestalten. Diese Lehre des Aristoteles von der Geometrie als einer Wissenschaft von der realen Welt ist immer wieder vertreten worden, wobei man es dahingestellt sein lassen kann, ob jeweils ein direkter Zusammenhang mit Aristoteles besteht oder nicht. Für Newton ist die Geometrie, wie übrigens auch die Arithmetik, nur eine Hilfswissenschaft der Physik." So wird es verständlich, daß die Infinitesimalrechnung bei Newton nicht als eine rein mathematische Theorie auftritt, sondern daß sie eine Bewegungslehre, also einen Teil der Physik darstellt. Wenn Newton in dieser Weise die Geometrie in die Physik, in seiner Terminologie
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gesprochen, in die philosophia naturalis einordnet, dann folgt daraus, daß sie von der realen Natur handelt, von der die philosophia naturalis handelt. Bei den Mathematikern ist eine empirische Auffassung der Geometrie immer wieder vertreten worden, ich darf insbesondere auf Pasch15 und Helmholtz" verweisen. Allerdings wird die empirische Begründung der Geometrie erschwert durch die Axiomatisierung, die notwendig auf nichteuklidische Geometrien im engeren Sinne und im weiteren Sinne führen mußte. Solange nur eine Geometrie bekannt war, konnte man sich gut vorstellen, daß diese eine Geometrie die Lehre von dem einen Raum der realen Welt darstellt. Schwierigkeiten treten auf, wenn man die Existenz mehrerer Geometrien anerkennt. Es liegt dann nahe, zu fragen, welche der vielen Geometrien in der wirklichen Welt gilt. Poincare hat eine solche Frage abgelehnt, er war der Meinung, daß jede Geometrie sich in jede andere transformieren läßt und daß es also eine Frage der Zweckmäßigkeit ist, mit welcher Geometrie man die Welt beschreiben will.17 Einstein dagegen hält an der These fest, daß die Welt eine bestimmte räumliche Struktur hat. Er läßt die Frage zu, welches die richtige Geometrie ist, und er entscheidet sich dafür, daß die Welt einen Riemannschen Raum darstellt. So ist für Einstein nur die Riemannsche Geometrie auf die Welt bezogen.18 §43: Die Arithmetik Nach der Überzeugung des Aristoteles handelt auch die Arithmetik von der realen Welt. Sie handelt aber nicht von den realen Dingen in der Fülle ihrer sinnlich wahrnehmbaren Qualitäten, sondern sie handelt nur von ihnen, indem sie auf ihre Zählbarkeit abstrahiert.1 Wir haben eben gesehen, wie Aristoteles an dem instruktiven Beispiel der Himmelskörper zeigt, daß die Abstraktion von den sinnlich wahrnehmbaren Himmelskörpern über die Astronomie und über die Geometrie zur Arithmetik vordringt. Insofern versteht Aristoteles die Arithmetik als eine Lehre von den realen Dingen, die realen Dinge genommen in ihrer Zählbarkeit. Wir haben diesen Charakter der Arithmetik und diesen Charakter des Allgemeinen überhaupt als Allgemeingültigkeit bezeichnet. Dieser Charakter der Allgemeingültigkeit zeigt sich bei der Arithmetik besonders 12*
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deutlidi. Die Gesetze der natürlichen Zahlen sind für die realen Dinge gültig, und sie sind für die realen Dinge allgemeingültig. Fünf Groschen und sieben Groschen sind zwölf Groschen. Sie sind genau zwölf Groschen, nicht mehr und nicht minder, dieser Satz scheint völlig klar zu sein, und hier setzt die Interpretation des Aristoteles an. Aber die Dinge liegen nicht so einfach, wie es auf den ersten Blick scheint. Wenn die Arithmetik eine Theorie ist, dann muß sie einen Abstand von der realen Welt haben. Dieser Abstand ist bei der Geometrie unübersehbar. Bei den Zahlen und ihren Gesetzen scheint ein solcher Abstand zunächst nicht denkbar. Aber man kann dem Aristotelischen Gedanken der Abstraktionstheorie auch für die Arithmetik weitgehend folgen. Diese Abstraktionstheorie setzt voraus, daß die Dinge, auf deren Zählbarkeit abstrahiert wird, an sich selbst genommen bereits diskret und beständig sind. Aber an dieser Grundvoraussetzung fehlt es in der realen Welt fast immer. Das Beispiel der Groschen greift einen Bereich heraus, in dem die Forderung der Diskretheit und der Beständigkeit in den Größenordnungen der menschlichen Existenz erfüllt ist. Im allgemeinen aber klafft zwischen der Diskretheit und der Beständigkeit der Dinge, wie sie in der Arithmetik vorausgesetzt wird, und der wirklichen Welt der kontinuierlich sich verändernden und kontinuierlich ineinander übergehenden Dinge ein unüberbrückbarer Abgrund. Zum ersten Male sind die Pythagoreer an diesen Abgrund geraten, als sie entdeckten, daß die Diagonale des Quadrates sich nicht durch die Quadratseite messen läßt, daß es also keine natürliche Zahl und kein Verhältnis natürlicher Zahlen gibt, das die Diagonale ausmißt.3 Man kann verstehen, daß diese Erkenntnis die Pythagoreer wie eine Katastrophe getroffen hat.3 Wenn nun auch die Neuzeit die Zahlen so weit ausgebildet und so weit verfeinert hat, daß der Zusammenhang zwischen der Arithmetik und der Geometrie wieder hergestellt werden konnte, so ist doch das grundsätzliche Problem bestehen geblieben. Die Dinge der realen Welt sind nicht im strengen Sinne zählbar. Freilich behauptet Bolzano das Gegenteil. In seinem von uns schon erwähnten Beispiel ist die Zahl der Blüten des Birnbaums, die gewiß niemand gezählt hat, dennoch eine bestimmte und an sich angebbare Zahl. Aber gerade dies Beispiel scheint mir die Unrichtigkeit der Auffassung Bolzanos zu zeigen. Die Zahl der Blüten dieses Birnbaums
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in diesem Augenblick ist meiner Meinung nadi keine feste Zahl. Dies liegt nicht daran, daß niemand diese Blüten gezählt hat, sondern es liegt daran, daß die Prozesse des Erblühens und des Verblühens kontinuierliche Prozesse sind. An vielen Stellen dieses so schön blühenden Baumes steht also objektiv nicht fest, ob dort schon eine Blüte ist oder ob dort noch eine Blüte ist.4 Whitehead hat durch ein Gedankenexperiment das Problem weithin geklärt.5 Er nimmt an, daß ein Mensch in die Größenordnung eines Atoms verwandelt würde. Gleichzeitig würde sein Zeitmaß so verwandelt, daß tausend Jahre für ihn nur eine Sekunde sein würden. Nach dieser Verwandlung würden die Groschenstücke (Whitehead spricht von Stühlen, wir wollen aber bei unserem Beispiel bleiben) sowohl ihre Diskretheit als auch ihre Beständigkeit verlieren. Räumlich gesehen würde der Groschen eine sehr große Menge von Atomen, gewissermaßen eine Wolke von Atomen darstellen, und diese Menge würde sich beständig ändern. Viele Atome verlassen die Menge, andere kommen neu hinzu, und dieser Wechsel würde sich unablässig vor unseren Augen vollziehen. Auf solche Weise würde diese an sich schon veränderliche Wolke in kurzem völlig verwandelt sein, sei es, in unserer Zeitdimension gesehen, durch Abnutzung, sei es durch Zerbrechen, sei es durch Einschmelzen. Aller relativen Beständigkeit der Groschenstücke ungeachtet, so werden doch von den heute existierenden deutschen Groschenstücken in hunderttausend Jahren nur noch sehr wenige existieren. Es ist denn auch sehr leicht, Beispiele für Bereiche zu geben, die nicht zählbar sind. Die Wolken am Frühlingshimmel, die Wellen im bewegten Meer sind nicht zählbar, nicht weil niemand Zeit und Lust hätte, sie zu zählen, sondern weil sie wegen ihrer kontinuierlichen Änderungen an sich selbst nicht zählbar sind. Die Dinge dieser realen Welt sind in ihrer Mehrzahl nicht zählbar, weil ihnen die Bestimmtheit und die Exaktheit abgeht, die von den Gegenständen der Arithmetik notwendigerweise verlangt werden muß. Dennoch hat dieser Bezug auf die reale Welt seit Aristoteles eine große Bedeutung für die ontologische Interpretation der Zahl gehabt. Die mittelalterliche Formel: numerus est res numeratae,' muß nicht unbedingt im Sinne eines extremen Nominalismus verstanden werden.
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Kap. 7: Das Allgemeine als Naturgesetz: Aristoteles
So dürfte sie zwar bei Petrus Aureolus gemeint sein,7 bei Occam dagegen wird man annehmen können, daß sie im Sinne eines Konzeptualismus gemeint ist.8 Eine weitgehend aristotelische Begründung der Zahl auf die gezählten Dinge findet sich bei Leibniz. Zahlen sind für ihn stets Zahlen von Monaden oder von Vorstellungen und Strebungen der Monaden. Insofern finden wir die Zahlen in uns selbst.9 Die spezifische Existenz der Zahlen besteht dann für Leibniz in ihrem Vorgestelltsein, in ihrem Vorgestelltsein durch uns,10 letzten Endes in ihrem Vorgestelltsein im Denken Gottes.11 Insofern würden die Zahlen, ebenso wie die gesamte Mathematik, vor der Erschaffung der Welt nur im Denken Gottes als Möglichkeiten existieren.12 Freilich ist dies für Leibniz eine irreale Hypothese, da die Welt nicht zu einer endlichen Zeit geschaffen ist, sondern schon immer existiert. In diesem Sinne sind die imaginären Zahlen für Leibniz nichts Wirkliches, weil sie nichts Wirkliches bezeichnen.13 Hier hat erst Gauss, in dieser Frage ontologisch auf dem Boden von Aristoteles und Leibniz stehend, eine Begründung gefunden, als er imaginäre Zahlen und überhaupt komplexe Zahlen als Darstellungen realer Verhältnisse interpretierte.1* Die Schwierigkeiten, die Aristoteles mit der Unendlichkeit der Zahlenreihe hat und die uns noch beschäftigen werden, braucht Leibniz nicht zu fürchten. Für ihn gibt es unendlich viele Monaden15 und also ein actu infinitum,1* und damit ist die Unendlichkeit der Zahlenreihe auch von den Gegenständen her gesichert. Darüber hinaus spielt für Leibniz die Aristotelische Auffassung eine wichtige Rolle für den Existenzbeweis. Wir hatten gesehen, daß Leibniz für alle Begriffe den Existenzbeweis fordert, und daß der Existenzbeweis an sich für ihn im Beweis der Widerspruchsfreiheit besteht. Nun ist aber der Beweis der Widerspruchsfreiheit in der Regel nicht zu erbringen.17 Hier läßt sich für Leibniz die Existenz der Zahlen auf dem Wege der Aristotelischen Auffassung beweisen. Die Zwei gibt es, weil es zwei Dinge gibt. Die Drei gibt es, weil es drei Dinge gibt. So erhält die ontologische Interpretation der Zahl auch ihre logische Bedeutung. Dies Problem taucht in den Principia Mathematica auf. Auch dort geht es darum, die Existenz von Klassen zu sichern. Wir sahen bereits, daß die Principia Mathematica den rein logischen Aufbau von Frege verlassen, und daß sie die Existenz zum mindesten einer Klasse durch die Existenz zum mindesten eines Dinges voraussetzen. Es muß min-
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destens ein Ding geben, daher gibt es auch die Menge, die dies eine Ding enthält.18 Die Existenz weiterer Mengen, und in ihnen eingeschlossen die Existenz der Zahlen, kann dann nach der Überzeugung der Principia Mathematica auf rein logischem "Wege bewiesen werden.19 Man wird also sagen können, daß der Gedanke des Aristoteles, die Zahlen auf die reale Wirklichkeit zu beziehen, Zahlen also immer als Zahlen von Dingen aufzufassen, eine große Wirkung gehabt hat. Dabei scheint eine extrem empirische Auffassung der Arithmetik dennoch nicht fruchtbar zu sein. Jedenfalls habe ich weder bei Comte noch bei Mill eine überzeugende Interpretation der Arithmetik von ihrem extrem empiristischen Standpunkt aus finden können. $44: Die Logik Aristoteles ist der Urheber der Logik als einer selbständigen Disziplin. Sie kann ihm deshalb noch nicht in derselben Weise vorliegen wie die Astronomie, wie die Geometrie, wie die Arithmetik. Hieraus wird es verständlich, daß ontologische Erwägungen über den Charakter der Logik bei Aristoteles noch kaum anzutreffen sind. Wir sahen schon, daß das Aristotelische Organen in der uns vorliegenden Gestalt eine große Vielfalt darstellt. In der Tat ist der Bogen von der Hermeneutik bis zu den Trugschlüssen der Sophisten weit gespannt. In diesem weitgespannten Organon sind jedoch Teile enthalten, die eine Logik im strikten Sinne ausmachen. Das sind insbesondere die formale Logik im engeren Sinne in der ersten Analytik und die wissenschaftstheoretischen Untersuchungen in der zweiten Analytik. Wenn auch Aristoteles eine ontologische Bestimmung der Logik im Ganzen nicht vorgelegt hat, so finden sich doch zu Teilproblemen ausdrückliche ontologische Erwägungen. Dies gilt insbesondere vom Satz des Widerspruchs, und es ist deshalb verständlich, daß sich die Untersuchung über diesen Satz in der Metaphysik findet. Über den Satz vom Widerspruch handelt Aristoteles thematisch im Buch IV der Metaphysik. Das Buch beginnt mit der bereits von uns herangezogenen Erklärung, daß es eine Wissenschaft gibt, die vom Sein als solchem und von den dem Sein als solchem zukommenden Bestimmungen handelt.1 In diesem Zusammenhang müssen die Erörterungen über den Satz vom Widerspruch gesehen werden. Das Kapitel 2 bringt
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Kap. 7: Das Allgemeine als Naturgesetz: Aristoteles
wissenschaftstheoretische Erörterungen über eine so bestimmte Philosophie, es wiederholt zunächst thematisch die Lehre von den mannigfachen Bedeutungen des Seins.* In Kapitel 3 bis zum Ende des Buches handelt dann Aristoteles ausdrücklich vom Satz des Widerspruchs und den damit zusammenhängenden Problemen.3 Hier zeigt sich deutlich, daß der Satz vom Widerspruch eine doppelte Funktion hat. Der Satz sagt, daß ein Seiendes nicht zugleich eine Eigenschaft und deren Gegenteil haben kann,4 er sagt aber auch, daß wir nicht zugleich einen Satz und sein Gegenteil als wahr denken und behaupten können.8 Der Satz vom Widerspruch ist also zugleich ein Seinsgesetz und ein Denkgesetz. Diese doppelte Funktion ist schon oft herausgestellt worden.' Insofern der Satz vom Widerspruch ein Seinsgesetz ist, macht er den Bezug der aristotelischen Logik auf die reale Wirklichkeit deutlich. Bei Leibniz wird der Zusammenhang dadurch hergestellt, daß der Satz vom Widerspruch auch für das Denken Gottes gilt. Zwar hat schon Augustin darauf bestanden, daß das Denken Gottes rationabiliter sein müsse.7 Aber in den Diskussionen des Mittelalters war dies doch oft angezweifelt worden. Leibniz kehrt mit Entschiedenheit auf den Standpunkt von Augustin zurück.8 Damit werden alle Wahrheiten, sofern sie primär Gedanken Gottes sind, durch den Satz vom Widerspruch bestimmt. Die Unendlichkeit der möglichen Welten, insofern ihr Sein darin besteht, daß sie von Gott gedacht werden, wird durch den Satz vom Widerspruch bestimmt. Also steht auch die reale Welt, insofern sie zunächst von Gott gedacht und dann von Gott geschaffen wurde, unter der Gültigkeit der Prinzipien. Man kann also sagen, daß Leibniz den Aristotelischen Ansatz fortsetzt, auch für Leibniz ist der Satz vom Widerspruch sowohl Seinsgesetz als auch Denkgesetz. In einer überaus interessanten Weise finden wir diese doppelte Funktion bei Wittgenstein im Tractatus. Für unsere ontologische Betrachtung müssen wir den Tractatus in zwei Schichten gliedern, in die Lehre von den Elementarsätzen und in die Lehre von den logischen Sätzen. Diese beiden Schichten werfen verschiedene ontologische Probleme auf. Die Elementarsätze sagen aus, was der Fall ist,9 und die Gesamtheit der Elementarsätze faßt alles zusammen, was der Fall ist.10 Wir brauchen jetzt auf die Diskussion um die Existenz der Elementarsätze nicht einzugehen, wir halten uns an die Aussagen von Wittgenstein selbst. Zunächst beziehen sich die Elementarsätze unmittelbar auf das,
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was der Fall ist. Dann aber gilt von den Elementarsätzen in einem metatheoretischen Sinn, daß es nicht zwei Elementarsätze geben kann, die einander widersprechen. In diesem metatheoretischen Sinn ist der Satz vom Widerspruch im Tractatus zunächst eine Aussage über die Gesamtheit der Elementarsätze, dann aber, über den Aussagecharakter der Elementarsätze hinaus, zugleich eine Aussage über die Wirklichkeit selbst.
Kapitel 8: Das Allgemeine als H a n d l u n g des Denkens: Kant $ 45: Die Arithmetik Das Allgemeine wird von Kant als eine Handlung des Denkens bestimmt. In der Kritik der reinen Vernunft sagt er: „Allein die V e r b i n d u n g (conjunctio) eines Mannigfaltigen überhaupt kann niemals durch Sinne in uns kommen und kann also auch nicht in der reinen Form der sinnlichen Anschauung zugleich mit enthalten sein; denn sie ist ein Actus der Spontaneität der Vorstellungskraft, und da man diese, zum Unterschiede von der Sinnlichkeit, Verstand nennen muß, so ist alle Verbindung... eine Verstandeshandlung, die wir mit der allgemeinen Benennung Synthesis belegen würden, um dadurch zugleich bemerklich zu machen, daß wir uns nichts als im Object verbunden vorstellen können, ohne es vorher selbst verbunden zu haben, und unter allen Vorstellungen die V e r b i n d u n g die einzige ist, die nicht durch Objecte gegeben, sondern nur vom Subject selbst verrichtet werden kann, weil sie ein Actus seiner Selbstthätigkeit ist".1 Unsere formelhafte Zusammenfassung des Kantischen Standpunktes — das Allgemeine als Handlung des Denkens — haben wir aus dieser Stelle gezogen, denn hier spricht Kant ausdrücklich von der Verbindung als einer Verstandeshandlung. Es kann kein Zweifel sein, daß es sich hier um die fundamentale These des Kantischen Denkens handelt. Cohen hat sie in die These zusammengefaßt: Alle Einheit ist Vereinigung,* und Heidegger hat diese Zusammenfassung weiter zusammengedrängt in die These: „Alle Einheit ist Einigung".' Wir wollen versuchen, den
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Kap. 8: Das Allgemeine als Handlung des Denkens: Kant
Kantischen Grundansatz* an den von uns als exempla metaphysicae gewählten vier Theorien deutlich zu machen. Was zunächst die Arithmetik anbetrifft, so ist sich Kant nicht von vorneherein darüber im klaren gewesen, wo diese Theorie im Aufbau der kritischen Philosophie zu behandeln wäre. Klar ist die Einordnung bei der Geometrie. Kant behandelt die Geometrie in der transzendentalen Ästhetik bei der Lehre vom Raum, und er sagt dort ausdrücklich, daß jede Lehre vom Raum die Möglichkeit der Geometrie erklären muß und daß übrigens nur die Auffassung vom Raum als reine Anschauung im Sinne der Transzendentalphilosophie dies wirklich tun kann.5 Es würde nun naheliegen, die Arithmetik als eine Lehre von der Zeit aufzufassen, und Kant hat diese Möglichkeit zeitweise wohl auch erwogen. Später aber hat Kant die Zahl wesentlich zum Schematismus gestellt, dort erscheint die Zahl als das Schema der Quantität.6 In diesem Zusammenhang sagt Kant ausdrücklich: „Numerus est quantitas phaenomenon".7 Zwei Momente sind es, die Kant vor allen Dingen an der Zahl sieht: Erstens die Zusammenfassung eines Mannigfaltigen zu einer Einheit, insbesondere die Zusammenfassung von Zweien zu Einem, und zweitens die unbeschränkte Fortsetzbarkeit dieser Operation. Bei Kant liegt aller Nachdruck auf dem ersten Moment; die unbeschränkte Fortsetzbarkeit, also die Unendlichkeit der Zahlenreihe tritt dagegen in den Hintergrund. Die Bedeutung dieser Akzentsetzung sieht man, wenn man sich vor Augen hält, wie oft in der Kantinterpretation die Akzente gerade umgekehrt gesetzt werden. Dort ist, man sieht dies etwa bei Natorp ganz deutlich, die Unendlichkeit der Zahlenreihe das wichtigste, ja in einem gewissen Sinne das allein wichtige Moment.8 Dennoch glaube ich, daß Kant im Recht ist, wenn er in erster Linie die Zusammenfassung von endlich Vielem zu einer Einheit betrachtet. In diesem Sinne sagt er: „Das reine S ehern a der Größe aber... als eines Begriffs des Verstandes ist die Z a h l , die die successive Addition von Einem zu Einem (gleichartigen) zusammenbefaßt. Also ist die Zahl nichts anders als die Einheit der Synthesis des Mannigfaltigen einer gleichartigen Anschauung überhaupt, dadurch, daß ich die Zeit selbst in der Apprehension der Anschauung erzeuge".9 Hier ist also zunächst von der unbeschränkten Fortsetzbarkeit einer solchen Synthesis, also von der Unendlichkeit der Zahlenreihe, gar keine Rede. Wenigstens ist
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nicht gesagt, daß das Mannigfaltige auch unendlich viele Elemente umfassen darf. Es ist auch unwahrscheinlich, daß dies implizit gemeint sein könnte, denn dies würde auf eine aktual unendliche Zeit hinauslaufen. Diese Zusammenfassung, die die Zahl ausmacht, ist eine Handlung des Denkens. Kant bezeichnet sie als eine Synthesis und greift damit auf die Bedeutung von Synthesis zurück,10 die er in dem eben zitierten Anfang der transzendentalen Deduktion erklärt hatte. Schließlich sagt er ausdrücklich, daß ich nicht nur die Zahl, sondern daß ich auch die Zeit selbst in dieser Handlung des Denkens erzeuge. Wir brauchen diese These von der Erzeugung der Zeit jetzt nicht zu diskutieren, es kommt uns hier allein auf die Zahl an. Die Meinung von Kant an dieser Stelle wie an parallelen Stellen ist eindeutig. Ich erzeuge die Zahl in einer Handlung des Denkens. Ein solcher Bezug der Zahl auf das Zählen ist in der Geschichte der Ontologie immer wieder aufgetreten. Dies beginnt mit einer Stelle in der Physik des Aristoteles. Dort sagt er: „Wenn es die Seele nicht gibt, ob es dann die Zahl gibt oder nicht gibt, diese Schwierigkeit möchte wohl jemand erörtern. Denn wenn es unmöglich ist, daß das Zählende ist, so ist es auch unmöglich, daß das Zählbare ist, so daß es klar ist, daß es auch keine Zahl geben kann. Denn die Zahl ist entweder das Gezählte oder das Zählbare. Wenn aber nichts anderes zählen kann als die Seele oder die Vernunft..."" Die Stelle ist oft diskutiert worden, ohne daß eine wirklich befriedigende Interpretation erreicht worden wäre. Es ist schwierig, sie mit der Aristotelischen Abstraktionstheorie in eine wirkliche Verbindung zu bringen. Der Bezug der Zahl auf das zählende Denken hat im mittelalterlichen Nominalismus eine große Rolle gespielt, und es ist verständlich, daß man immer wieder auf diese Stelle der Aristotelischen Physik zurückgegriffen hat. Die instruktivste Darstellung finde ich bei Petrus Aureolus. Er stellt zunächst die beiden Meinungen einander gegenüber. Die Realisten, dabei denkt er wohl besonders an Thomas, behaupten: Es gibt die Zahl in den Dingen, auch wenn man jede Tätigkeit des Verstandes ausschaltet (circumscripto omni actu intellectus). Dies bedeutet, daß die Zahl der sie tragenden kategorialen Bestimmung, der Ausdehnung also, eine reale Entität hinzubringt. Dagegen steht die entgegengesetzte These, Petrus Aureolus mag wohl an Duns
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Kap. 8: Das Allgemeine als Handlung des Denkens: Kant
Scotus oder an Heinrich von Gent gedadit haben. Sie behaupten: Es gibt die Zahl der Form nach nicht außerhalb des Verstandes. Sie ist vielmehr in der Seele in einer gegenstandsbezogenen Weise: sed est tarnen in anima objective.18 Petrus Aureolus selbst entscheidet sich für die zweite These. Die Zehn von zehn Steinen besteht nur darin, daß eine Seele diese Steine zählt. Insofern ist jede Zahl ein Zusammenzählen, ein Summieren, und von jedem Zusammenzählen, von jedem Summieren muß gelten, daß es nicht in den Dingen, sondern nur in der Seele sein kann. „Constant enim, quod summatio non est in re extra, sed tantum in mente summante".18 Das höchste Niveau erreicht diese mittelalterliche Diskussion der Zahl, wenn ich recht sehe, bei Occam. Occam wendet sich zunächst gegen die extreme Interpretation der Zahl als eines Accidens im strengen Sinne, und er kann dafür auf zahlreiche Erwägungen seiner Vorgänger, insbesondere bei Duns Scotus und in gewissem Sinne auch bei Thomas zurückgreifen.14 Positiv interpretiert er die Zahl vom transzendentalen Sein her, und er setzt damit eine Entwicklung fort, die Thomas schon begonnen hat.15 In der Logik prägt dann Occam die bündige Formulierung: „numerus nihil aliud est quam res numeratae".16 Die Erörterungen Occams zum Problem der Zahl sind von einer großen Subtilität, immerhin ist auch bei ihm die kategorialanalytische Bestimmung der Zahl viel entschiedener als die ontologisdie. Occam macht deutlich, daß die Zahl von der Relation her gesehen werden muß und daß sie mit der Relation in das Problem der Transzendentalien gehört. Wie man die ontologische Bestimmung dieses Bereiches bei Occam, der also nun die Transzendentalien, die Relationen und die Zahlen enthält, auffassen soll, ist nicht leicht zu sagen. Wir haben diese Frage schon im ersten Teil aufgeworfen. Fast alle Interpreten stimmen darin überein, daß es sich nicht um einen extremen Nominalismus handelt. Die Gegenstände dieses Bereiches sind für Occam nicht flatus vocis. Viele Interpreten zögern, die ontologische Position Occams einen Nominalismus zu nennen, sie bezeichnen sie lieber als Konzeptualismus." Aber vielleicht bedeutet diese Unterscheidung nur, daß hier überhaupt ein Unterschied vorliegt, während es nicht leicht ist, diesen Unterschied genau zu bestimmen. Meine eigenen Untersuchungen lassen es mir als wahrscheinlich erscheinen, daß Occam selbst zwischen den
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verschiedenen ontologischen Möglichkeiten eine klare und endgültige Entscheidung nicht getroffen hat.18 Leibniz hat nach kurzem Schwanken in den allerersten Jahren schon bald seine ontologische Grundposition gefunden. In diesem Sinne schreibt er schon 1770: „nam concreta vere res sunt, abstracta non sunt res sed rerum modi, modi autemplerique nihil aliud quam relationes rei ad intellectum seu apparendi facultatesV Dies gilt, wie der Fortgang des Textes zeigt, ausdrücklich auch von den Zahlen. In der Monadologie sagt Leibniz, daß die ewigen Wahrheiten im Denken Gottes existieren2**, und das muß also auch von den Zahlen gelten. Dabei stehen ihm wohl biblische Stellen vor Augen, daß Gott alle Dinge nach Maß und Zahl geordnet hat21 und daß Gott die Haare auf unserem Haupte gezählt hat.22 Aus dieser primären Existenz der Zahlen im Denken Gottes leitet sich ihre sekundäre Existenz in unserem Denken ab. Versucht man sich dies konkret vorzustellen, so bedeutet es, daß die Zahlen darin bestehen, daß ein denkender Verstand die Monaden und ihre realen Bestimmungen zählt. Wenn Leibniz in den Nouveaux Essais sagt, daß ich die Zahlen in mir finde,23 dann stellt er sich dies doch wohl so vor, daß ich selbst als Monade durch perceptio und appetitus bestimmt bin, und daß ich selbst diese meine Akte wiederum vorstellen und insbesondere zählen kann. In diese Richtung, die wir jetzt diskutieren, gehen in betonter Weise auch die Anschauungen von Dedekind, wenn auch seine geschichtlichen Voraussetzungen bis jetzt noch nicht geklärt sind. Dedekind sagt ausdrücklich: „Ich sehe die ganze Arithmetik als eine notwendige oder wenigstens natürliche Folge des einfachsten arithmetischen Aktes, der Zählung, an".24 Von den Zahlen im Ganzen sagt er ausdrücklich: „Die Zahlen sind freie Schöpfungen des menschlichen Geistes."25 In der neueren Grundlagenforschung ist wesentlich der Intuitionismus hierher zu rechnen. Man hat schon früh gesehen, daß die drei großen Richtungen, in die die Grundlagenforschung in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts gegliedert war, mit den alten philosophischen Richtungen verwandt sind. In diesem Sinne steht der Formalismus der platonischen Grundanschauung nahe, der Logizismus der aristotelischen und der Intuitionismus der kantischen. Der Intuitionismus erkennt zunächst ebenso wie Kant die reine Anschauung als ein konstitutives Element an. Auch in der Anerkennung des konstruktiven
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Kap. 8: Das Allgemeine als Handlung des Denkens: Kant
Momentes gehen Kant und der Intuitionismus zusammen. Die konstruktive Auffassung verlangt, daß in der Mathematik nur solche Gegenstände zugelassen werden, von denen gezeigt worden ist, wie sie konstruiert werden können. Die griechische Mathematik ist stark durch konstruktive Auffassungen bestimmt. Für die Geometrie werden wir dies im nächsten Paragraphen noch sehen. Auch für die Arithmetik kann man ein instruktives griechisches Beispiel geben. So beweist Euklid den Satz, daß es unendlich viele Primzahlen gibt, dadurch, daß er beweist, daß es zu jeder Primzahl eine größere gibt, und dieser Beweis besteht wiederum darin, daß Euklid zeigt, wie eine solche größere Primzahl konstruiert werden kann.28 Es ist Kant gewesen, der, übrigens hier im betonten Gegensatz zu Leibniz stehend, den konstruktiven Charakter der Arithmetik wieder hervorgehoben hat, und der dabei den wichtigen Begriff der symbolischen Konstruktion geprägt hat." Der Intuitionismus hat die Forderung der Konstruierbarkeit von neuem erhoben. Er wurde dadurch veranlaßt, eine ganze Reihe von mathematischen Begriffen einer kritischen Nachprüfung zu unterziehen. Als besonders problematisch erwiesen sich unter diesem Gesichtspunkt die höheren Mächtigkeiten der Mengenlehre. Auch die Hoffnungen des neunzehnten Jahrhunderts, die Diskrepanz zwischen der Diskretheit der Zahlen und dem Kontinuum der Geometrie überbrücken zu können, erwiesen sich in dieser kritischen Nachprüfung nicht als sicher begründet. Die Probleme der Konstruierbarkeit sind keineswegs endgültig geklärt, und wir stimmen Bar Hillel darin zu, daß es auf jeden Fall ein Verdienst solcher Untersuchungen ist, wenn sie zeigen, was mit bestimmten Voraussetzungen und bestimmten Mitteln jeweils erreicht werden kann. In der ontologischen Interpretation der Arithmetik ist der Intuitionismus verhältnismäßig zurückhaltend, aber es ist verständlich, daß die starke Betonung des konstruktiven Elementes auf eine operative Auffassung der Arithmetik hinführt. Kehren wir zu den Kantischen Analysen zurück, so kommt es uns jetzt auf das zweite Moment an. Die Operation des Zählens kann immer wieder fortgesetzt werden, sie geht ins Endlose, und sie erzeugt so die Unendlichkeit der Zahlenreihe. In der Unendlichkeit der Zahlenreihe zeigt sich ein Grundbegriff der Mathematik, es muß aber offenbleiben, ob der Unendlichkeitsbegriff die Mathematik als solche und
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im Ganzen ausmacht. Von hier her wird man es verständlich finden, daß der Unendlichkeitsbegriff in der Arithmetik bei Kant so weit zurücktritt. Die Zusammenfassung von Zweien zu Einem, das ist für Kant das Grundphänomen der Arithmetik. Die Synthesis eines Mannigfaltigen ist für ihn stets die Synthesis eines endlich Mannigfaltigen. Dies kommt schon daher, daß in der transzendentalen Analytik der Begriff des Unendlichen eine geringe Bedeutung hat. Wenn Kant in dieser Weise die Zusammenfassung von Zweien zu Einem als das Grundphänomen der Arithmetik betrachtet, so wird man dies sachlich als berechtigt ansehen können. Auch in den Principia Mathematica zeigt sich, daß ein wesentlicher Teil der Logik und der Mathematik noch vor der Einführung des Unendlichkeitsbegriffes behandelt werden kann. Dies dürfte auch die Meinung von Leibniz gewesen sein, der etwa die allgemeine Mannigfaltigkeitslehre oder die allgemeine Relationstheorie noch vor der Einführung des Unendlichkeitsbegriifes behandeln wollte. Schließlich dürften auch die Erwägungen Platons in dieser Richtung zu verstehen sein. Aristoteles berichtet, Platon habe als die Prinzipien der Zahlen die Einheit und die unbestimmte Zweiheit gesehen.*8 Hier steht die Einheit offenbar für die Zusammenfassung eines Mannigfaltigen zu einer Einheit, und die unbestimmte Zweiheit für die unbegrenzte Fortführbarkeit dieses oder eines anderen Prozesses, etwa der Verdoppelung oder der Halbierung. Versucht man die Bedeutung dieser beiden Prinzipien abzuwägen, so dürfte auch für Platon die Einheit, also die Zusammenfassung von endlich Vielen zu einer Einheit die größere Bedeutung haben. Man wird also aus historischen wie aus systematischen Erwägungen heraus die Kantische Auffassung wohlgegründet finden. Man kann sie dahin charakterisieren, daß die Zusammenfassung einer endlichen Mannigfaltigkeit zu einer Einheit das Grundphänomen der Zahl ist, und daß sie als eine Handlung betrachtet werden muß. Aus einem bestimmten Moment dieser Verstandeshandlung, aus ihrer unbegrenzten Fortsetzbarkeit, resultiert dann die Unendlichkeit der Zahlenreihe. § 46: Die Geometrie Kant interpretiert auch die Geometrie als eine Handlung des Denkens. Eine Gerade sich vorstellen, das heißt, eine Gerade ziehen, einen
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Kap. 8: Das Allgemeine als Handlung des Denkens: Kant
Kreis sich vorstellen, das heißt einen Kreis schlagen. Kant sagt ausdrücklich: „Um aber irgend etwas im Räume zu erkennen, z. B. eine Linie, muß ich sie ziehen und also eine bestimmte Verbindung des gegebenen Mannifaltigen synthetisch zustande bringen, so daß die Einheit dieser Handlung zugleich die Einheit des Bewußtseins (im Begriff einer Linie) ist.. .el Diese operative Auffassung der Geometrie läßt sich vom konstruktiven, vom axiomatischen und vom synthetischen Charakter der Geometrie her als sachlich begründet verstehen. Die konstruktive Auffassung der Geometrie läßt sich am besten an den Elementen Euklids aufzeigen. Man weiß zwar noch nicht, welche Gründe Euklid zu diesem streng konstruktiven Aufbau veranlaßt haben mögen, aber der streng konstruktiv durchgeführte Aufbau der Elemente steht außer Zweifel; Zeuthen hat ihn zum erstenmal deutlich gemacht.2 Der konstruktive Aufbau der Geometrie bedeutet, daß ein geometrisches Gebilde nur dann als existent angesehen wird, wenn es konstruiert werden kann, und wenn dies entweder durch ein Axiom oder durch einen Beweis sichergestellt ist. Von der Hälfte einer Strecke darf Euklid erst dann sprechen, wenn er gezeigt hat, wie der Halbierungspunkt konstruiert werden kann.8 Erst dann benutzt Euklid den Begriff der Hälfte einer Strecke. Dies wiederholt sich bei dem Begriff eines beliebigen Teiles einer Strecke. Zunächst gibt Euklid das Verfahren an, wie eine Strecke in beliebig viele Teile geteilt werden kann,* und erst dann wendet er diesen Begriff an. Noch deutlicher wird das Problem beim Winkel, wo die Verhältnisse sich differenzieren. Ein beliebiger Winkel kann halbiert werden,5 und also darf auch Euklid den Begriff der Hälfte eines Winkels benutzen. Ein beliebiger Winkel kann mit den Mitteln Euklids nicht in beliebig viele gleiche Teile geteilt werden, er kann also beispielsweise nicht gedrittelt werden, und also darf Euklid den Begriff eines Drittels eines beliebigen Winkels nicht benutzen. Eine konstruktive Auffassung muß die für die Konstruktion zur Verfügung stehenden Mittel angeben. Wissenschaftstheoretische Untersuchungen haben diese Frage in den Elementen geklärt. Dort werden nur Konstruktionen mit Zirkel und Lineal zugelassen. Rein geometrisch gesprochen, werden nur die Gerade und der Kreis benutzt,' und in der Tat hatte sich Euklid die unbeschränkte Ausführbarkeit dieser beiden Grundgebilde in den Axiomen gesichert.7 Diese Frage der zulässigen Mittel ist für eine allgemeine konstruktive
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Auffassung der Mathematik nicht leicht zu beantworten. Vertritt man für die Arithmetik ebenfalls einen konstruktiven Standpunkt, so wird es schwierig zu sagen, wie hier der Kreis der konstruktiven Mittel umgrenzt werden soll. Kant selbst geht in dieser Frage der zulässigen Mittel über Euklid hinaus. Er spricht allgemein von einer Konstruktion in der reinen Anschauung.8 Er faßt, wie wir sahen, auch das Verfahren der Arithmetik als eine symbolische Konstruktion auf.* Dies ist viel mehr, als Euklid zuläßt. So sind beispielsweise die Ellipse und die Parabel für Kant konstruierbar, für Euklid dagegen nicht, denn sie können ja nicht mit Lineal und Zirkel konstruiert werden.10 Eine solche konstruktive Auffassung ist zunächst ein wissenschaftstheoretisches Problem. Sie läuft auf die Frage hinaus, von welchen Voraussetzungen ein gegebenes Gebilde und ein gegebener Satz abhängen. In dieser Beschränkung handelt es sich um eine rein mathematische Aufgabe, die noch von jedem ontologischen Standpunkt unabhängig ist. Gleichwohl läßt sich nicht leugnen, daß eine konstruktive Auffassung im wissenschaftstheoretischen Sinne eine operative Auffassung im ontologischen Sinne nahelegt. Dies tut nun auch die axiomatische Auffassung der Geometrie. Man wird annehmen können, daß Kant den axiomatisdien Charakter der Geometrie voll erkannt hat. Er hat erkannt, daß die Axiome der euklidischen Geometrie nicht allein aus dem Satz des Widerspruchs bewiesen werden können,11 wie dies noch Leibniz glaubte.12 Kant dürfte daher, allein vom Satz des Widerspruchs aus gesehen, auch andere Geometrien für möglich gehalten haben. Seine Meinung dürfte gewesen sein, daß auch andere Geometrien widerspruchsfrei möglich sind, daß aber die euklidische Geometrie die einzige ist, die in der reinen Anschauung konstruiert werden kann. Kant ist vermutlich in diesem Problem deshalb zurückhaltend gewesen, weil die Verhältnisse damals mathematisch noch nicht genügend geklärt waren. Seine Zurückhaltung dürfte richtig gewesen sein, wie die späteren Auseinandersetzungen um diese Frage gezeigt haben. In der Sache selbst haben die Elemente Euklids einen bewußt axiomatisdien Aufbau,1* und diese Axiomatik Euklids ist natürlich immer wirksam gewesen. Wir haben im ersten Teil gesehen, wie groß die 13 Martin, Metaphysik
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Kap. 8: Das Allgemeine als Handlung des Denkens: Kant
Möglichkeiten der axiomatischen Methode sind. Für die Abwandlung einer gegebenen Theorie, insbesondere einer gegebenen Geometrie auf axiomatisdiem Wege, existieren offenbar keine Schränken, wenigstens soweit wir bis jetzt wissen. Diese unübersehbare Fülle der möglichen Geometrien ist vielleicht vom platonischen Standpunkt aus nicht völlig uninterpretierbar. Husserl hat, wie wir bereits gesagt haben, mit der Möglichkeit nichteuklidischer Geometrien durchaus gerechnet, er faßt sie als Gattungen und Arten auf.14 Auch Moritz Geiger setzt sich mit der aromatischen Methode von einem platonischen Standpunkt aus auseinander.15 An dem Grundgedanken von Geiger scheint mir soviel richtig zu sein, daß von einem platonischen Standpunkt aus die alternativen Geometrien sich systematisch darstellen lassen müssen. Wir halten dagegen die möglichen Geometrien für unübersehbar. Die großen Möglichkeiten des axiomatischen Auf baus legen es nahe, diesen aromatischen Aufbau als Handlungen unserer Spontaneität aufzufassen. Neue Axiomensysteme werden daher in der Regel auch so beschrieben, daß man sagt, man bilde ein neues Axiomensystem, man konstruiere ein neues Axiomensystem. Eine solche Auffassung findet sich schon bei Hilbert," und es ist wohl kein Zufall, daß Hubert den Grundlagen der Geometrie ein Zitat aus der Kritik der reinen Vernunft als Motto voraussetzt." Durch die Freizügigkeit der Axiomatik wird eine weit über Kant hinausgehende, oft bis zu einem extremen Nominalismus gehende Auffassung der Geometrie begünstigt. Kant selbst bindet die Axiome an die reine Anschauung und kommt dadurch doch wiederum zu nur einer Geometrie, zu nur einer Arithmetik. Zu diesen beiden Gründen für die Kantische Interpretation der Geometrie tritt als der dritte der eigentümliche Handlungscharakter dieser Wissenschaft. Er kommt deutlich bereits in der Terminologie zum Ausdruck. Eine Gerade ziehen, einen Kreis schlagen, ein Lot fällen, einen Winkel halbieren, zwei Dreiecke zur Deckung bringen, überall ist die geometrische Terminologie durchsetzt von diesen aktiven Verben, die alle eine Handlung ausdrücken. Wenn Platon als Beispiel für eine Idee gerade den Kreis gibt, so dürfte er diesHandlungsmoment völlig beiseite geschoben haben. Für ihn ist der Kreis ein in sich ruhendes Sein. Aber es ist doch die Frage, ob diese gewissermaßen statische Auffassung des Kreises durch Platon alle Momente zum Ausdruck bringt, ob nicht doch im Gegenteil die dynamische Auffassung, die sich
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schon in der Terminologie ausdrückt und die Kant in den Vordergrundgestellt hat, dem Wesen der geometrischen Gebilde näherkommt. $47: Die Physik In der Interpretation der Physik kommt die Kantische Überzeugung vom operativen Charakter der Wissenschaft besonders deutlich zum Ausdruck. Der Verstand schreibt der Natur die Gesetze vor, das ist die berühmte, bewußt provokatorische Formulierung Kants.1 In der Physik zeigen sich zunächst deutlich die verschiedenen Formen des Allgemeinen, die wir im Eingang diskutiert haben. Wenden wir uns sofort der Kausalität zu, dann stehen hier nebeneinander der Begriff, das Urteil und die Theorie, als Begriff der Kausalbegriff, als Urteil das Kausalgesetz und als Theorie die durch das Kausalgesetz bestimmte Newtonsdie Physik. Auch in der Kritik der reinen Vernunft treten nacheinander die Kategorie der Kausalität, das Schema der Kausalität und der Grundsatz der Kausalität auf. Es ist oft darüber gestritten worden, wie diese Dreiheit, die in Wirklichkeit eine Vierheit ist, weil das entsprechende Urteil als erstes noch vor die drei anderen Bestimmungen tritt, zu verstehen sei. Meiner Überzeugung nach hat Hermann Cohen das Richtige gesehen.2 Es handelt sich um ein einheitliches Phänomen, um die Newtonsdie Physik, also um die Theorie. Dieses einheitliche Phänomen wird lediglich aus methodischen Gründen in die vier Tafeln zerlegt. Im Kantischen Aufbau selbst dürfte der Grundsatz im Vordergrund stehen, wie Cohen richtig interpretiert. Von hier aus kann man sagen, daß sich für Kant das Allgemeine primär als Naturgesetz darstellt. Die Frage: Was ist das Allgemeine? konkretisiert sich für ihn die Frage: Was ist das Naturgesetz? Die Naturgesetze findet Kant als die Newtonschen Gesetze vor.3 Er bestimmt die Natur als eine Gesetzmäßigkeit.4 Im Sinne Kants lautet dann die Grundfrage: Was ist die Natur? und als solche bedeutet sie die Frage: Was ist die Naturgesetzlichkeit? All dies hat Cohen einsichtig herausgearbeitet, und wenn er sein Werk, in dem er die Kritik der reinen Vernunft interpretiert, „Kants Theorie der Erfahrung" nennt, dann hat er das Ziel und das Ergebnis seiner Interpretation treffend gekennzeichnet. Bedeutet diese Interpretation von Cohen nicht eine Einengung? — Kant selbst hat die philosophischen Interessen in 13»
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die Fragen zusammengefaßt: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch?5 Von hier aus kann man die Kantinterpretation Heideggers unter die Frage stellen: Was ist der Mensch?, und Heidegger selbst knüpft an die Formulierung Kants an.* Die Interpretation von Cohen geht wesentlich auf die Frage: Was kann ich wissen? Wenn man sie zuspitzt, so kann man sie auf die Frage einengen: Was ist die Natur? Stehen diese beiden Grundfragen der Interpretation: Was ist der Mensch? Was ist die Natur? nicht diametral einander gegenüber? Gleichwohl wird man den Zusammenhang der beiden Grundfragen nicht übersehen dürfen. Es ist die Überzeugung von Kant, und er teilt sie mit Platon und mit Aristoteles, daß die Wissenschaft eine der großen Möglichkeiten des Menschen darstellt. Vielleicht würde Kant nicht so weit gehen, wie Aristoteles im Anfang des ersten Buches der Metaphysik gegangen ist.7 Kant würde wohl das Handeln des einfachsten Menschen, wenn er dem Ruf seines Gewissens folgt, über die Wissenschaft des besten Physikers stellen.8 Aber durch diese Einschränkung wird nicht aufgehoben, daß für Kant die Wissenschaft eine der großen Möglichkeiten des Menschen bleibt. Dann aber sind die beiden Fragen: Was ist die Natur? Was ist der Mensch? im Grunde genommen nur zwei Seiten ein und derselben Frage. Eine Besinnung auf die Möglichkeiten der Wissenschaft, wenn sie nur tief genug hinabsteigt, muß auf die ursprünglichen Möglichkeiten des Menschen treffen. Auch wir lassen uns von dieser Überzeugung Kants leiten. Wir haben die Wissenschaft, in der Form von vier sehr konkreten Disziplinen, als den Bereich gewählt, aus dem die Metaphysik ihre Antworten gewinnt. Nun hat zwar Heidegger versucht, die Wissenschaft als einen defizienten Modus zu charakterisieren und also den Verfallscharakter der Wissenschaft in den Vordergrund zu rücken." Dabei kann gewiß nicht bestritten werden, daß die Wissenschaften gerade in unserer Zeit besonders gefährdet sind, in einen hektischen Betrieb aufzugehen. Aber diese gefährdende Möglichkeit des Verfalls teilen sie mit allen Möglichkeiten des Menschen, mit der Kunst wie mit der Sprache, und gerade bei der Sprache hat Heidegger selbst die Möglichkeit des Verfalls herausgearbeitet. Ich glaube also,
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daß die Bedenken von Heidegger nicht durchschlagen, daß man vielmehr mit Sokrates, mit Platon, mit Aristoteles, aber ebensosehr mit Descartes, mit Leibniz und mit Kant daran festhalten darf und daran festhalten muß, daß die Wissenschaft eine der großen Möglichkeiten des Menschen ist. Dies kann man dahin formulieren, daß der Mensch von Natur aus nach der Wissenschaft strebt, und das heißt im wesentlichen, daß der Mensch von Natur aus ein Physiker ist. Freilich muß man dann auch umgekehrt sagen, daß der Physiker von Natur aus ein Mensch ist. Dann aber muß die Spontaneität als die ursprüngliche Bestimmung des Menschen auch in der Physik erscheinen. Einen überaus instruktiven Ausdruck für diese Zusammenhänge hat Johann Schultz in seinem Kommentar zur Kritik der reinen Vernunft gefunden,10 und man wird wohl annehmen können, daß dieser Kommentar, der von einem Freunde Kants unter den Augen Kants geschrieben wurde, in weitem Umfang von Kant direkt beeinflußt ist." Es ist derselbe Mensch, der Mathematik und Physik treibt. Die Physik ist notwendig auf die Mathematik angewiesen, die Mathematik ist die Sprache, in der die Physik spricht. Dann aber müssen dieselben Grundbestimmungen in der Mathematik und in der Physik auftreten. Die Physik ist keine bloße Beschreibung, daran kann kein Zweifef sein. Dies gilt sowohl von der Experimentalphysik als auch von der theoretischen Physik. Für die Experimentalphysik hat Kant den schönen Ausdruck gefunden, daß der Wissenschaftler als ein Richter angesehen werden kann, der die Natur nötigt, auf die von ihm gestellten Fragen zu antworten.12 Es ist die Isolierung des Sachverhalts sowohl in der Frage als auch in der Durchführung des Experiments, die nur auf einer spontanen Aktivität des Physikers beruhen kann. So wird es verständlich, daß gerade vom experimentellen Teil .der Physik her Bridgeman die operative Auffassung der Physik mit Nachdruck entwickelt hat.13 Der Wiener Kreis hat versucht, dieser Auffassung mit dem Prinzip der Protokollsätze entgegenzutreten. Aber man darf nicht übersehen, daß der Protokollsatz den apparativen Aufbau des Experimentes voraussetzt, und daß dieser apparative Aufbau eine von dem Physiker geschaffene Welt ist und kein Protokollsatz. Darüber hinaus ist das Prinzip des Protokollsatzes
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selbst ein Prinzip. Man kann darüber streiten, ob es ein gutes oder ein schlechtes Prinzip ist, aber es ist ein Prinzip und kein Protokollsatz. Ebenso deutlich tritt die Aktivität des Physikers in der theoretischen Physik hervor. Wir wiesen schon darauf hin, daß das erste Newtonsche Axiom alles andere als die Beschreibung eines empirischen Sachverhaltes darstellt. Dies gilt von der Newtonschen Mechanik im Ganzen. Man wird Heinrich Hertz zustimmen müssen, wenn er sagt, daß die hier auftretenden fundamentalen Sätze synthetische Sätze a priori im Sinne Kants sind.14 Auch Einstein, der doch gewiß für die empirischen Momente der Physik wie der Mathematik einen klaren Blick hat, betont hier, daß die Kantische Interpretation in der Sache gegründet ist." Es ist ein philosophisch überaus erfreuliches Ergebnis der Atomphysik, daß sie den Handlungscharakter der Physik, der für einen geschärften Blick bereits in der Newtonschen Physik zu sehen war, nunmehr für alle sichtbar gemacht hat. $ 48: Die Logik Wir haben bei der Erörterung der Logik bei Platon und Aristoteles Schwierigkeiten angetroffen, die darin ihren Grund hatten, daß die Logik bei Platon als Theorie noch gar nicht existierte und bei Aristoteles erst in der Entwicklung begriffen war. Wenn wir jetzt die ontologische Interpretation der Logik vom Kantischen Standpunkt aus untersuchen wollen, so treffen wir wiederum auf Schwierigkeiten, Schwierigkeiten anderer Art, aber doch erhebliche Schwierigkeiten. Kant unterscheidet zwischen der transzendentalen und der formalen Logik.1 Die transzendentale Logik macht mit ihren beiden Abteilungen, der transzendentalen Analytik und der transzendentalen Dialektik, den eigentlichen Kern der Kantischen Ontotogie aus. Von dieser transzendentalen Logik unterscheidet Kant die allgemeine Logik. Es ist diese allgemeine Logik, die Kant in seinen Logikvorlesungen im Anschluß an die damals üblichen Lehrbücher der Logik vorgetragen hat.2 Sie deckt sich weitgehend mit der von Aristoteles im Organon vorgetragenen Logik und sie enthält als einen ihrer wichtigsten Teile die Syllogistik.* Wir haben unsere Erörterungen auf den zweiwertigen Aussagenkalkül konzentriert und haben also auch jetzt wesentlich den dieser Theorie entsprechenden Teil der formalen Logik Kants vor Augen.
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Kant betraditet die allgemeine Logik als eine feste und abgeschlossene Theorie. Dies galt in einem gewissen Sinne schon immer von der Syllogistik, und dies gilt heute vom zweiwertigen Aussagenkalkül. Im Umfang der formalen Logik geht Kant über die Syllogistik hinaus. Die allgemeine Logik muß insbesondere eine Urteilstafel entwickeln, die systematisch aufgebaut und also vollständig ist.4 Im Zusammenhang mit dieser systematischen Urteilstafel muß sich nach Kants Überzeugung eine systematische Kategorientafel entdecken lassen.6 Nach Kants Überzeugung ist die systematische Vollständigkeit dieser beiden Tafeln ein prinzipielles Erfordernis.8 Klaus Reich ist dem Problem nachgegangen und hat die Kantischen Erwägungen interpretiert.7 Ob freilich die Kantischen Erwägungen in der Sache gegründet sind, und ob sie Kant zum Ruhm angerechnet werden können, dies mag wohl eine andere Frage sein. Es ist nicht ganz klar, wie Kant die allgemeine Logik mit seinen wissenschaftstheoretischen Grundbegriffen interpretieren wollte. Ich glaube aber, daß man von der Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Sätzen her sagen muß, daß für Kant die formale Logik eine analytische Wissenschaft ist. Sie würde also in derselben Weise zu interpretieren sein, wie die allgemeine Größenlehre. Die allgemeine Größenlehre ist der formalen Logik nachgeordnet, und von ihr sagt Kant ausdrücklich, daß ihre Satze analytisch sind.8 Meiner Meinung nach ist hier Kant nicht konsequent gewesen. Nachdem er den synthetischen Charakter der Mathematik, also der Geometrie und der Arithmetik gelehrt hat, hätte er, wenn er konsequent gewesen wäre, auch die allgemeine Größenlehre und die allgemeine Logik als synthetische Wissenschaften charakterisieren müssen. Die Entwicklung der formalen Logik in den letzten hundert Jahren hat die innere Homogenität zwischen Logik und Mathematik an den Tag gebracht, und sie hat gezeigt, daß auch die formale Logik im Sinne Kants als eine synthetische Wissenschaft betrachtet werden muß. Logik und Mathematik sind beide analytisch oder sie sind beide synthetisch. Dies gilt auch schon von dem von uns allein betrachteten Teil, dem zweiwertigen Aussagenkalkül. Der zweiwertige Aussagenkalkül kann nicht allein aus dem Satz des Widerspruchs abgeleitet werden, dies ist ein Ergebnis der modernen Logik, das außer allem Zweifel steht. Es ist aber eine Grundbedingung aller analytischen Sätze und es ist schon in
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ihrer Definition enthalten, daß sie allein aus dem Satz des Widerspruchs abgeleitet werden können." Der zweiwertige Aussagenkalkül bedarf aber auch der Formeln, in demselben Sinne, in dem die Arithmetik der Formeln bedarf. Er wird also im Sinne Kants in der reinen Anschauung konstruiert. Die formale Logik ist also im Sinne Kants eine synthetische Wissenschaft, und es wäre auch für Kant keineswegs unmöglich gewesen, dies schon zu seiner Zeit zu erkennen. Man kann das Problem auch geschichtlich sehen, und zwar kommt es dann auf das Verhältnis zu Leibniz an. Für Leibniz sind Logik, Arithmetik und Geometrie Wissenschaften, die im Sinne Kants analytisch sind, weil sie allein aus dem Satz des Widerspruchs bewiesen werden können.10 Hier hat Kant gesehen, daß dies für die Arithmetik und die Geometrie nicht zutrifft, und im Verfolg des hier aufgetauchten Zweifels hat er den synthetischen Charakter dieser Wissenschaften erkannt. In der Interpretation der Logik dagegen ist er weiterhin Leibniz gefolgt. Wenn Kant also im Gegensatz zu Leibniz den analytischen Charakter der Arithmetik und der Geometrie bestreitet und dagegen ihren synthetischen Charakter behauptet, und wenn er in Übereinstimmung mit Leibniz am analytischen Charakter der Logik festhält, so ist dies doch nicht im eigentlichen Sinne Kants. Wenn ich Kants Absicht richtig verstehe, dann hätte er noch einen Schritt weiter gehen müssen, dann hätte er auch noch die Logik zu den synthetischen Wissenschaften rechnen müssen. Von diesen Erwägungen aus erscheint es mir verständlich, daß gerade in neuerer Zeit die Logik zu den Wissenschaften gerechnet worden ist, die von der Tätigkeit unseres Denkens her begriffen werden müssen. Wir wiesen schon darauf hin, daß in der Interpretation der Logik stets sehr verschiedene Standpunkte vertreten worden sind. So wird es verständlich, daß auch in unserer Zeit der Nominalismus neue Begründungen gerade aus dem formalen Aufbau der mathematischen Logik zieht. Es darf hier besonders auf Goodman11 verwiesen werden, aber auch Quine12 neigt stark zu einem nominalistischen Standpunkt. Man hat allerdings bis jetzt einen rein nominalistischen Standpunkt in der formalen Logik noch nicht restlos durchführen können,13 und es erscheint auch zweifelhaft, ob dies jemals möglich sein wird. Dagegen sprechen bereits formale Gründe. Für einen extremen Nominalismus
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mag dies betrüblich sein, für unseren dialektischen Standpunkt ist es keineswegs überraschend. Es ist im Gegenteil zu erwarten und zu verstehen, sobald man die Frage aufwirft, was Standpunkte überhaupt leisten können. Überaus aufschlußreich ist der Ansatz, den Wittgenstein durchführt. Er geht von der Überzeugung aus, daß der inhaltliche Teil der Wissenschaften von dem logisch-formalen Teil genau getrennt werden kann. Der inhaltliche Teil zeigt sich in den Sachverhalten14 und den ihnen korrespondierenden Elementarsätzen.15 Der logische Teil zeigt sich in den Kombinationen der Elementarsätze1' und in den darauf bezüglichen logischen Gesetzen." Dies ist die Logik, und dies ist ein Bereich, der im Gegensatz zu den Elementarsätzen allein der Sprache und dem Denken zufällt. Die wesentliche Begründung gewinnt Wittgenstein durch die Untersuchung der Negation. Eine Aussage kann negiert werden. Wie soll man dies verstehen? Doch wohl nur so, daß wir es sind, die negieren. Das gewichtige Argument erwächst aus der Iterierbarkeit der Negation. Eine einfache, eine dreifache, eine fünffache Negation ist eine Verneinung, eine zweifache, eine vierfache, eine sechsfache Negation ist eine Bejahung. Diese endlose Kette der Negationen, die freilich erst in der formalen Logik wirklich deutlich wird, kann man doch wohl nicht als eine ebenso endlose Kette von objektiven Realitäten im Sinne einer platonischen Auffassung denken. Man käme dann zu einer wenig sinnvollen Seinsanhäufung. Denkt man etwa an die 238. oder an die 239. Negation, so ist die Auffassung als eine objektive Realität doch offenbar absurd. So wird es verständlich, daß Wittgenstein die Negation als ein Negieren auffaßt.18 Diese Auffassung gewinnt dadurch an Überzeugungskraft, daß die Negation eine Quelle alter philosophischer Schwierigkeiten ist. Dies beginnt bereits bei Platon. Die Gerechtigkeit ist eine Idee, das Gute ist eine Idee. Aber wie ist es mit der Ungerechtigkeit, wie ist es mit dem Bösen? Gibt es Ideen von Negationen? Offenbar ist Platon selbst durch die hier auftauchenden Schwierigkeiten beunruhigt worden,19 und Aristoteles hat auf diese Schwierigkeiten ausdrücklich aufmerksam gemacht.20 Von den prinzipiellen Begründungen der Ideenlehre her gibt es nur eine Lösung, aber zu ihr hat sich, soviel ich weiß, nur Bolzano durchgerungen: man muß auch den Negationen den vollen Status des idealen Seins zuerkennen. Deshalb betrachtet Bolzano nicht
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Kap. 9: Die Aporien des Platonischen Standpunktes
nur alle wahren, sondern audi alle falschen Sätze als Sätze an sich.*1 Wegen der Iterierbarkeit der Negation und wegen der Variierbarkeit der Sachverhalte kommt man hier zu einer Satzanhäufung, die schwer erträglich ist. Aber diese wenig erfreuliche Konsequenz mag Bolzano nicht in vollem Umfang bedacht haben. Es liegt daher nahe, die Negation operativ zu verstehen. Man kann dann aber weitergehen und der Logik im ganzen einen operativen Charakter zusprechen. Dies ist schon in der intuitionistischen Logik geschehen, wie sie insbesondere von Heyting entwickelt worden ist.21 In vollem Umfang und in bewußter Konsequenz hat dann Lorenzen eine operative Logik aufgebaut.23 Hier werden die Grundbegriffe als die Grundhandlungen des Denkens verstanden. Zwar deckt sich der Teil der operativen Logik, der dem zweiwertigen Aussagenkalkül entspricht, nicht im vollen Umfang mit dieser von uns als exemplum metaphysicae betrachteten Theorie. Dies hängt insbesondere damit zusammen, daß in der operativen Logik der Satz vom ausgeschlossenen Dritten ausfällt. Die operative Logik mag in ihrer von Lorenzen vorgelegten Form vielleicht noch nicht ihre letzte Verfeinerung haben, sie zeigt aber eindrucksvoll, wie weit die operative Grundauffassung in der Logik reicht.
K a p i t e l 9: Die A p o r i e n des P l a t o n i s c h e n Standpunktes $ 49: Neue Aufgabenstellung Es war das Ziel der drei letzten Kapitel, zu zeigen, daß jeder der drei großen Standpunkte in der Sache gegründet ist. Jetzt stoßen wir auf die Frage, wie die drei großen Standpunkte sich zueinander verhalten. Wir nehmen damit eine Frage ausdrücklich auf, die wir schon mehrmals berührt haben. Die einfachste Lösung wäre gewiß die, einer dieser Standpunkte wäre der richtige, und die beiden anderen Standpunkte, und damit auch alle anderen möglichen philosophischen Standpunkte, wären falsch. Diese Auffassung ist weitverbreitet, und sie ist das Charakteristikum der philosophischen Schulen, des Platonismus, des Aristotelismus, des Kantianismus. Allem mit philosophischen
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Sdiulen, die sich nur allzu leicht zu philosophischen Sekten verengen, ist es ein eigen Ding. Je hartnäckiger ein bestimmter Standpunkt verfochten wird, desto enger wird der Blick des Fechters. Dies gilt auch, wenn die Schule nicht vom Historischen, sondern vom Systematischen her bezeichnet wird. Auch Schulen wie der Realismus, der Nominalismus, der Idealismus, die analytische Schule trüben fast immer den Blick, den sie schärfen wollen. Schulen sind notwendig, aber sie neigen leicht zu einem naiven Extremismus, und in der Philosophie ist das Naive ebenso wie das Extreme von vorneherein das Schlechte. Was man gewöhnlich Platonismus nennt, müßte eigentlich naiver Platonismus heißen. So trifft denn der alte Spott ins Schwarze, wenn man sagt: Platon war kein Platoniker, und man hat diesen alten Spott mit demselben Recht auf die Aristoteliker und auf die Kantianer angewandt. Wir wollen in diesen Untersuchungen nicht einen bestimmten Standpunkt verfechten, sondern wir wollen die Vielheit der Standpunkte verstehen. Damit gehen wir von einer Überzeugung aus, die Hegel vertreten hat, die aber schon von Aristoteles und vor ihm schon von Platon vertreten worden ist. Platon betrachtet im Sophistes den Gegensatz von Pannenides und Heraklit. Parmenides läßt nur ein streng identisches Sein gelten und verneint jede Vielheit und damit jedes Werden. Heraklit läßt nur das Werden gelten und verneint jede Identität und jedes Beharren. Platon erkennt, daß die philosophische Aufgabe hier nicht die Parteinahme ist, nicht für Parmenides und gegen Heraklit und nicht für Heraklit und gegen Parmenides. Man muß vielmehr zu der Einsicht vordringen, daß jeder der beiden Standpunkte, für sich genommen, unmöglich ist, weil jeder der beiden Standpunkte, für sich genommen, sich selbst aufhebt. Man muß einsehen, daß die philosophische Aufgabe allein eine Verbindung sein kann.1 Eine solche Auseinandersetzung mit den vorausgegangenen Philosophien betrachtet Aristoteles als eine der wesentlichen Aufgaben der Philosophie. Mit Recht hat man daher die Auseinandersetzung des Aristoteles mit den ihm Vorausgehenden als das erste Buch an den Anfang der Metaphysik gestellt. Dies Buch ist in gleichem Maße systematisch wie historisch. Die Absicht ist, zu zeigen, daß der Gang der griechischen Philosophie auf die Philosophie des Aristoteles hinführt. Den Leitfaden der Darstellung bildet die Prinzipienlehre. Die frühen
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Kap. 9: Die Aporien des Platonischen Standpunktes
Denker sind zunächst auf das Prinzip der Hyle gestoßen,2 dann entdecken die Pythagoreer und ihnen folgend Platon das Prinzip des Eidos." In einigen Anfängen findet sich auch schon das Prinzip des Ursprungs der Kinesis.4 Aber erst Aristoteles bringt den Abschluß und die Vollendung, indem er das Prinzip des Telos als letztes hinzufügt.5 Im ganzen läuft die Meinung des Aristoteles darauf hinaus, daß jeder Philosoph viel Richtiges und viel Falsches gesagt hat. Es ist deshalb die Aufgabe, das Richtige von dem Falschen zu scheiden, und nach dieser Scheidung erweist sich die Aristotelische Philosophie nach der Überzeugung ihres Urhebers als die Gesamtheit des Richtigen. Durch diese Aristotelische Grundüberzeugung ist in starkem Maße auch Leibniz bestimmt. Was oft als Konzilianz erscheint und es an manchen Stellen wohl auch ist, das ist im Grunde doch die systematische Überzeugung von Leibniz, daß überall etwas Richtiges gesagt ist.* Es gilt also, dies Richtige überall zu verstehen und aufzunehmen. Hat man diese Aufgabe gelöst, dann verschwinden nach der Überzeugung von Aristoteles wie von Leibniz die Gegensätze der Philosophen. Diese Gegensätze sind nur eine Unvollkommenheit, ja sie sind in gewissem Sinne nur ein Schein. Es ist nun gerade der Gegensatz der Philosophen, der für Hegel positiv wird. Die Vielheit, die Mannigfaltigkeit der Philosophien, das ist keine Unvollkommenheit, kein Mangel, kein Übel. Es ist der Philosophie wesentlich und notwendig, in vielen Philosophien zu erscheinen, es ist die Philosophie selbst, die in vielen Philosophien erscheint. Damit wird es zur Aufgabe der Philosophie, diese ihre Vielheit zu verstehen.7 Diese Forderung von Hegel nehmen wir voll auf; es ist die fundamentale Aufgabe der Philosophie, ihre eigene Vielheit zu verstehen. Das Verständnis dieser Vielheit darf nun, hier treten wir mit Hegel in einen Gegensatz zu Aristoteles und Leibniz, nicht in der Weise gesucht werden, daß man bei jedem Denker das Wahre von dem Falschen sondert, und daß man die so gewonnenen Stücke zu einem Ganzen, zu dem Reich der Wahrheit, zusammenfügt. Der Zusammenhang der vielen Philosophien muß die Gegensätze und die Widersprüche gelten lassen, er muß, dies hat Hegel gezeigt, ein dialektischer sein. Für diese fundamentale Aufgabe versuchen wir einen ersten Schritt, indem wir nach der Struktur der einzelnen Philosophien fragen. Wir
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haben gezeigt, daß jeder der drei großen Standpunkte in der Sache gegründet ist. Aber wie steht es, das wird nun unsere nächste Frage, mit der Durchführung? Gelingt auch nur einem der drei großen Standpunkte eine konsequente Durchführung oder treten vielleicht sogar bei jedem der drei Standpunkte Schwierigkeiten, treten vielleicht bei jedem Aporien auf? Dies ist die Frage, der wir uns zunächst zuwenden wollen. 5 50: Das Sein der Ideen im Phaidon und in der Politeia Wir haben die Aporien der Ideenlehre schon vielfach berührt, wir wollen sie jetzt systematisch diskutieren. Dabei betrachten wir den Phaidon als den eigentlichen Dialog der Ideenlehre, genauer gesagt, der frühen Ideenlehre, die Politeia ziehen wir zusätzlich heran. Der Phaidon gibt eine grundsätzliche Seinsunterscheidung. Platon sagt ausdrücklich: .1 Es ist nicht leicht, einen genauen deutschen Ausdruck zu finden. Schleiermacher hat übersetzt: zwei Arten der Dinge.2 Dadurch wird möglicherweise nahegelegt, Platon denke an eine Gliederung des Seins nach Gattungen und Arten, und dies ist an dieser Stelle schwerlich der Fall. Uns scheint, die Übersetzung: zwei Weisen des Seins, sei vorsichtiger. Während Gattung aus dem aristotelisch-scholastischen ,genusc übersetzt ist, ist Weisen des Seins aus ,modus( übersetzt. Der Terminus, jmodus* ist in der Neuzeit in vielfältigen Gebrauch genommen worden, insbesondere von Descartes8 und von Wolff,4 und zwar gerade aus dem Grunde, weil er so allgemein ist, daß er nicht die besonderen Probleme von Gattung und Art impliziert. Die beiden Weisen des Seins sind im Phaidon die Ideen und die Sinnendinge. Als Ideen treten im Phaidon, wir sahen dies schon, fast ausschließlich die ethisch-ästhetischen und die logischmathematischen Ideen auf. Bei den ethisch-ästhetischen Ideen steht im Vordergrund die große Ideentrias des Schönen,6 des Guten,6 des Gerechten.7 Bei den logisch-mathematischen Ideen finden wir Ideen der Zahlen, der Zwei,8 der Drei,9, der Acht,10 der Zehn," aber auch die Ideen des Geraden12 und des Ungeraden18 als die der geraden und der ungeraden Zahl. Eine besondere, noch nicht aufgeklärte Bedeutung hat die Idee des Gleichen.14 Man wird nicht annehmen können, daß Sokrates schon gefragt hatte: Was ist das Gleiche? Dann sollte es doch wohl einen systematischen Grund haben, daß Platon die Ideenlehre
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Kap. 9: Die Aporien des Platonischen Standpunktes
durch Sokrates an Hand der Idee der Gleichheit einführen läßt, einen wirklich überzeugenden Grund dafür aber haben die Interpreten bis jetzt nicht angeben können. Was die andere Weise des Seins angeht, so sind wir gewohnt, von den Sinnendingen zu sprechen. Der entsprechende griechische Ausdruck: ist bei Platon noch selten,15 er ist erst durch Aristoteles zum gebräuchlichen Terminus geworden. Platon selbst bevorzugt den Ausdruck .16 Für ihn ist das Sehen noch der Prototyp der sinnlichen Wahrnehmung überhaupt. Wir selbst bevorzugen aus der Tradition von Aristoteles, Thomas und Leibniz heraus die Termini ,das Einzelwesen', ,das Individuum*. Wenn eine solche Unterscheidung getroffen werden soll, so muß Platon diese beiden Weisen des Seins zunächst in ihrer Verschiedenheit charakterisieren. Die Ideen sind ewig und unvergänglich," die Sinnendinge sind ständig wechselnd und vergänglich.18 Für die Sinnendinge finden wir in einer Beispielreihe schöne Menschen, schöne Pferde, schöne Kleider,19 als Beispiel für das Gleiche gibt Platon gleiche Bretter." Die Unterscheidung mündet dann in die Aufgabe, die beiden Weisen des Seins in ihrem Sein zu unterscheiden. Platon spricht dann von der Ousia,21 vom Seienden,22 an manchen Stellen auch vom seiend Seienden.28 Dies Sein wird im Phaidon ausschließlich der Idee zugesprochen. Die Idee ist die Ousia, sie ist das Seiende, sie ist das seiend Seiende. Hegel hat in der Geschidite der Philosophie, auch dies haben wir schon herangezogen, dafür die glückliche Formulierung gefunden: „Die Ideen sind, und sie sind allein das Sein."24 Dieser Seinsentwurf ist im Phaidon und in der Politeia mit einer großen Überzeugungskraft vorgetragen, und die geschichtliche Wirkung des Platonismus geht wesentlich von hier aus. Dennoch enthält dieser Seinsentwurf Probleme über Probleme. Es stellen sich zwei Hauptfragen. Die erste Frage geht nach dem Sinn der These, die zweite nach den Gründen. Die Idee ist die Ousia, die Idee ist das Seiende schlechthin, welchen Sinn hat die These, was meint sie? Man versteht sie oft im Sinn dessen, was man üblicherweise Platonismus nennt. Dann meint man in erster Linie den Phaidon, und dann faßte man den Seinsentwurf des Phaidon als eine Zweiweltentheorie auf. So hat ihn insbesondere Nietzsche verstanden,26 dessen Polemik gegen Platon auch von ihm
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selbst wohl primär als eine Polemik gegen den Platonismus verstanden wird. Der Terminus ,Zweiweltentheoriec ist, soviel ich weiß, von Lask ausdrücklich in die Philosophie eingeführt worden." Eine Zweiweltentheorie kann noch zwei verschiedene Behauptungen enthalten. Sie kann zunächst lediglich sagen, daß es außer dieser Welt noch eine andere Welt gibt. Sie kann aber darüber hinaus noch behaupten, daß die andere Welt die eigentliche Welt ist, und daß diese unsere, die sichtbare Welt, nur ein Schein oder was auch immer ist, daß sie jedenfalls nicht das eigentliche Sein darstellt. In diesem Sinne wird dann insbesondere der Phaidon verstanden. Im Sinne einer solchen Zweiweltentheorie soll dann der Phaidon lehren, daß es hinter und über der Welt der Sinnendinge die Welt der Ideen gibt, daß die Welt der Ideen das eigentliche Sein darstellt, und daß die Welt der Sinnendinge nur ein Schein ist. Nun gibt es gewisse Anhaltspunkte für eine solche Interpretation auch im Phaidon selbst. Hier sind es insbesondere die Stellen, an denen Sokrates den Leib als einen Kerker bezeichnet,17 der jede echte Erkenntnis und also auch jedes echte philosophische Leben hindert. Man darf zwar diesem Kerker nicht durch einen Selbstmord entfliehen.18 Wird er aber aus diesem Kerker befreit, und sei es auch durch einen ungerechten Urteilsspruch, so wird der Philosoph sich freuen, in eine bessere Welt gehen zu können.2* Auch im Sonnenmythos des Phaidros kommt eine Zweiweltentheorie unverkennbar zum Ausdruck. Der Philosoph schließt sich der Umfahrt der Götter an. Wenn diese Fahrt über den Rand der Welt hinauskommt, dann erblickt er die Ideen an ihrem überhimmlischen Ort.10 Es ist schon oft bemerkt worden, daß fast alle Stellen, die auf eine Zweiweltentheorie hinauslaufen, dem Mythos nahestehen. Dabei sind in dem Sonnenmythos des Phaidros Ernst und Ironie in einer nicht leicht durchsichtigen Weise ineinander verwoben. Wenn die Fahrt beendet ist, dann werden die Rosse ausgespannt und mit Nektar getränkt.31 Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß dies gegen die Erhabenheit der Fahrt ein übermütiges Endspiel darstellt. Nicht nur aus dieser Einzelheit, sondern ganz allgemein wird es immer zweifelhaft bleiben, wie weit man die dem Mythos nahestehenden Stellen ontologisch auswerten darf, und wie weit die hier zum Ausdruck kom-
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mende Weltflucht als eine Zweiweltentheorie im vollen ontologischen Sinne verstanden werden muß. Eine Zweiweltentheorie läuft auf eine Verdoppelung der Welt hinaus, und diesen Vorwurf der Weltverdoppelung hat bereits Aristoteles gegen Platon erhoben. Er sagt ausdrücklich, Platon habe soviel Ideen angenommen, und vielleicht wollte er damit sagen, Platon müsse soviel Ideen annehmen, daß es diese Welt hier unten dort oben noch einmal gibt.82 Nun ist die Kritik, die Aristoteles an Platon übt, oft angegriffen worden. Insbesondere sagt Natorp ganz einfach, Aristoteles habe Platon niemals verstanden, Aristoteles habe die Ideen als Dinge angesehen, und dies sei ein Mißverständnis sondergleichen.83 Aber so einfach ist das Problem nicht. Natorp setzt gegen die Aristotelische Kritik die These: Die Ideen sind nicht Dinge, sondern Gesetze.84 Damit diese These einsichtig würde, müßte man wissen, was Gesetze sind. Natorp versteht unter Gesetzen in erster Linie die Gesetze der Logik, der Mathematik und der Physik. Diese Gesetze sind für ihn eine solche selbstverständliche Gegebenheit gewesen, daß die kühle ontologische Frage: Was sind nun Gesetze? ihm als wenig sinnvoll erschienen wäre. Solange aber diese Frage nicht gefragt und nicht beantwortet ist, bringt die These: Die Ideen sind nicht Dinge, sondern Gesetze, nicht sehr viel weiter. Man muß vielmehr erkennen, daß hier ein fundamentales Problem vorliegt. Sagt man etwa, Aristoteles habe die Ideen verdinglicht, so scheint schon die Formulierung schlagend zu sein. Wer wird sich schon dem Vorwurf aussetzen wollen, das Allgemeine verdinglicht zu haben. Sagt man aber, daß die beständige Neigung besteht, das Allgemeine als ein in gewissem Maße anschauliches Einzelwesen aufzufassen, dann gibt man die Möglichkeit frei, das Problem zu sehen. Dann tauchen sofort zahlreiche Zusammenhänge auf. In der Tat werden AllgemeinbegrifFe als sinnlich anschaubare Einzelwesen gedacht, wenn sie personifiziert werden. So wird der Tod vielfältig in der Sage, im Mythos, in der Kunst als ein Einzelwesen vorgestellt, etwa als ein Gerippe, das mit einer Sense bewaffnet ist. Solche anschaulichen Vorstellungen haben für Platon überaus lebendige Stärke. So ist zum Beispiel die Hygieia für Platon eine Idee, aber zugleich ist sie in der gemeingriechischen Vorstellung eine Halbgöttin, die ihre Tempel hat und im Kultus verehrt wird, im allgemeinen
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zugleich mit Asklepios. Die Kunst hat sie in unzähligen Gestalten den Augen der Griechen bildhaft vorgestellt.85 Man wird annehmen müssen, daß Platons Vorstellung von der Hygieia als einer Idee von der gemeingriechischen Vorstellung der Hygieia als einer Halbgöttin beeinflußt und geprägt wurde. Es gibt in der Tat eine Reihe von Stellen, die nur so verstanden werden können. Die Fahrt mit den Göttern im Phaidros, wir erinnerten soeben daran, führt zu den Ideen, die an ihrem überhimmlischen Ort von dem Philosophen erschaut werden können. Aber wie können sie an diesem überhimmlischen Ort existieren, wenn sie nicht Einzelwesen sind? Wie kann der Philosoph die Ideen dort schauen, wenn sie nicht Einzelwesen sind? Nicht anders steht es mit dem Platonischen Gedankengang im Symposion. Das Schöne wird zuerst erblickt als die schönen Körper, und der Blick steigt dann stufenweise auf, bis er zuletzt das Schöne selbst erblickt. In diesem Aufstieg zeigt sich, daß die Idee des Schönen selbst etwas Schönes ist, ja daß sie das eigentlich Schöne ist." Gewiß soll in diesem Aufstieg die Bindung an die sinnlich wahrnehmbaren Körper verlassen werden. Aber in einem gewissen Sinne bleibt doch die Bindung an das anschaubar Einzelne erhalten, in einem gewissen Sinne wird am Ende dieses Aufstieges die Idee des Schönen doch nicht wie ein abstrakter Begriff, sondern mit griechischen Augen wie ein anschauliches Götterbild gesehen. Zieht man alle diese Stellen zusammen, dann wird man erkennen müssen, daß man auch die Stellen im Phaidon nicht ohne weiteres beiseite schieben darf. Insbesondere muß eine solche Vorstellung doch wohl der Anamnesislehre im ganzen zugrunde liegen. Der Mensch hat die Ideen in einem früheren Leben geschaut, das sagt die Anamnesislehre." Aber um in einem früheren Leben erschaut werden zu können, müssen die Ideen doch an sich selbst erschaubar sein, und dies können sie doch wohl nur, wenn sie für sich selbst dastehen. Sie können doch wohl nur als einzelne erschaut werden, wenn sie als Einzelwesen dastehen. Diese Hypostasierung der Ideen ist keineswegs ein bloßer Fehler Platons. Es handelt sich vielmehr unter den Voraussetzungen Platons und in einem gewissen Sinne sogar ganz allgemein um eine innere, um eine systematische Notwendigkeit. Aristoteles hat als erster die 14 Martin, Metaphysik
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Kap. 9: Die Aporien des Platonischen Standpunktes
hier liegenden systematischen Probleme gesehen, und wir werden bei der Interpretation der Aristotelischen Kritik an der Platonischen Ideenlehre dieser Problematik nachgehen müssen. Aber auch unabhängig von dieser systematischen Problematik wird man nicht glauben können, daß eine naive Zweiweltentheorie die ständige und endgültige Meinung Platons gewesen sei. : Die Idee als alleiniges Sein Die Idee ist die Ousia, die Idee ist das Seiende, die Idee ist allein das Sein, dies ist in den beiden ersten Ausdrücken die Formulierung Platons an zahlreichen Stellen,1 und dies ist im dritten Ausdruck die treffliche Zusammenfassung Hegels.2 Es stellen sich wiederum zwei Fragen: Welchen Sinn hat diese Aussage? Welche Begründung hat diese Aussage? Im Pbaidon hat Platon diese Aussage offenbar für selbstverständlich gehalten. Im Sophistes, wir haben dies bereits gesehen, sagt er im Hinblick auf den Phaidon: „Früher wußten wir, was das Sein bedeutet, heute wissen wir es nicht mehr."3 Dies „früher wußten wir, was das Sein bedeutet" ist nun genau die Situation des Phaidon. Platon blickt dort gewissermaßen in der Richtung der Aussage: Die Idee ist die Ousia, die Idee ist das Seiende. Eine Begündung dieser Aussage scheint ihm nicht notwendig. Im Pbaidon scheint ihm nicht einmal eine Reflexion über den Sinn dieser Aussage notwendig, so einsichtig, so selbstverständlich ist sie ihm damals erschienen. Platon geht im Phaidon davon aus, daß es eine ursprüngliche Intuition der Idee gibt. Die Idee des Schönen, die Idee des Guten, die Idee des Gerechten, sie alle werden in einer unmittelbaren Intuition gesehen. Die Anamnesislehre mag für uns heute große Schwierigkeiten enthalten, Platon hat sie im Phaidon offenbar als die befriedigende Lösung betrachtet. Selbst wenn man eine solche ursprüngliche Intuition der Ideen einräumen wollte, so würde damit doch gewiß noch nicht der ontologische Status der Idee in derselben oder in einer analogen Intuition gegeben sein. Die ontologische These: Die Idee ist eine Ousia, wird doch gewiß nicht in einer Intuition geschaut. Man könnte sich nun denken, daß es eine Idee des Seins gibt, und daß diese Idee des Seins in einer Intuition erschaut wird. Nun gibt
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es bei Platon eine Idee des Seins,4 aber erst in den späteren Dialogen. Es ist audi zu verstehen, daß die Idee des Seins erst später auftritt. Sobald die Idee des Seins auftritt, muß auch die Frage des Zusammenhanges der Ideen auftreten, denn dann erfordert der Seinscharakter der Idee die Anteilhabe jeder anderen Idee an dieser Idee des Seins. Von dieser Frage nach dem Zusammenhang der Ideen und den damit auftretenden Schwierigkeiten ist aber Platon im Phaidon noch weit entfernt. Im Phaidon ist es selbstverständlich, daß das Schöne an sich, ebenso wie jede andere Idee, das eigentliche Sein ist. Im Phaidon kommt man über diese Selbstverständlichkeit nicht hinaus. So wird man veranlaßt zu fragen, mit welchen vorausgegangenen philosophischen Aussagen diese Platonische Grundthese zusammenhängt. Hier hat schon Aristoteles gesehen, daß ein enger Zusammenhang mit den Pythogoreern vorliegt5 und daß die pythagoreische Grundthese in einem engen Zusammenhang mit den frühen Aussagen der Naturphilosophen steht. Wir haben die möglichen Interpretationen der pythagoreischen These: Alles ist Zahl, bereits erörtert. Wir sahen, daß es zwei mögliche Interpretationen gibt. Man kann sich vorstellen, daß es neben den pythagoreischen Zahlen noch Dinge gibt, und dann würde die These sagen wollen: Alle Ordnung in den Dingen, alle Gesetzlichkeit in den Dingen ist Zahl. Wir haben bereits gesehen, daß Aristoteles die pythagoreische These in diesem Sinne auffaßt. Wir sahen aber auch, daß noch eine andere Interpretation möglich ist. Man kann die These: Alles ist Zahl, beispielsweise von der These: Alles ist Wasser, her interpretieren. Dann gibt es neben den Zahlen nicht noch Dinge, die durch die Zahlen gezählt und geordnet werden, sondern die Zahlen sind wirklich alles, und es gibt nichts anderes als die Zahlen. Bringt man dies auf die Form, die Hegel der Platonischen Grundthese gegeben hat, dann könnte man sagen: Die Zahlen sind und sie sind allein das Sein. Aristoteles und auch Hegel selbst haben freilich die pythagoreische These anders interpretiert. Gleichwohl scheint mir, daß es der extreme Sinn ist, den die Pythagoreer eigentlich gemeint haben. Wir haben die Möglichkeit einer solchen Aussage schon berührt und dürfen sie hier in bezug auf die Ideen noch einmal diskutieren. Man kann dafür zu einem Begriff fortschreiten, der den pythagoreischen Zahlen und den platonischen Ideen gleich nahe steht, nämlich den Naturgesetzen. Dann nimmt unsere These die Form an: Es gibt nur die 14»
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Naturgesetze, die Naturgesetze sind, und sie sind allein das Sein. Wir legen wieder einen sehr einfachen Seinsentwurf zugrunde, den des mechanischen Materialismus. Für ihn gibt es die Atome, die sich im leeren Raum nach den newtonschen Gesetzen bewegen. Hier sind es also die newtonschen Gesetze, die die Naturgesetze ausmachen. Kann man auf dem Boden des mechanischen Materialismus sagen: Die newtonschen Gesetze sind und sie sind allein das Sein? Wir haben im Anfang unserer Untersuchung diese Frage schon einmal erwogen. Der mechanische Materialismus ist gewiß ein sehr einfacher, man könnte sogar sagen, ein primitiver Seinsentwurf. Aber er enthält doch bereits deutlich eine Seinsunterscheidung. Auf der einen Seite die Atome, auf der anderen Seite die Naturgesetze, nach denen die Atome sich bewegen. Dabei ist es gleichgültig, wie man das Sein der Naturgesetze bestimmt. Für den mechanischen Materialismus jedenfalls sind sie real. Dieser Seinsentwurf ist einfach, anschaulich und plausibel. Ist aber diese Unterscheidung zwischen den Atomen und den Naturgesetzen notwendig? Oder wäre es möglich, daß es nur die Naturgesetze gibt? In unseren anfänglichen Erwägungen kamen wir zu dem Ergebnis, daß die These: Es gibt nur die Naturgesetze, nicht als widerspruchsvoll erwiesen werden kann. Die aristotelisch-scholastische Philosophie erklärt zwar, daß den Naturgesetzen, die einen Relationszusammenhang darstellen, ein materielles Substrat zugrunde liegen muß. Aber bis jetzt wenigstens ist diese These noch nicht aus der Unmöglichkeit des Gegenteils bewiesen worden. Daraus muß man doch wohl schließen, daß die These: Es gibt nur die Naturgesetze, in sich selbst kernen Widerspruch enthält. Gewisse Schwierigkeiten liegen vielleicht nur darin, daß wir uns die These nicht anschaulich vorstellen können. In dieser Richtung etwa dürften die Kantischen Erwägungen gehen. Dies gilt nun nicht nur von der Pythagoreischen These: Es gibt nur die Zahlen, sondern auch von der Platonischen These: Es gibt nur die Ideen, wenn die Platonische These so verstanden werden soll. Insofern die Ideenlehre beispielsweise die Existenz einer Idee der Drei behauptet, die Drei aber ebensowohl in den pythagoreischen Zahlen als auch in den Naturgesetzen enthalten ist, hängen die Thesen eng zusammen. Würde man also die Platonische Grundthese im Sinne Hegels auffassen: Es gibt die Ideen und sie sind allein das Sein, so wäre es vermutlich nicht möglich, die so verstandene These in sich selbst als
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logisch widerspruchsvoll zu erweisen. Gleichwohl wiegen die Bedenken schwer, die daraus resultieren, daß man die so verstandene These nicht anschaulich vorstellen, ja daß man sie vielleicht im eigentlichen Sinne überhaupt nicht vorstellen kann. Erwägt man die ethisch-ästhetischen Ideen, dann verstärken sich die Schwierigkeiten. Platon lehrt die Existenz der Idee der Schönheit, und man müßte also diese Lehre dahin verstehen: Die Idee der Schönheit ist, und sie ist allein das Sein. Das heißt also jetzt: Die Idee der Schönheit ist, und die schönen Dinge sind nicht. Dies ist die eleatische Disjunktion, die wir im Beginn unserer Untersuchungen herausgearbeitet haben. Will man sie der Ideenlehre zugrunde legen, dann erheben sich alle Einwände, die gegen die eleatische Disjunktion als solche zu erheben sind, und die Platon schon erhoben hat. Die eleatische Disjunktion, konsequent durchgedacht, hebt eben alles Denken auf, und sie hebt damit sich selbst auf, sobald man den Versuch macht, sie zu denken. Dieser allgemeine Einwand gegen die eleatische Disjunktion erhält ein besonderes Gewicht bei der Ideenlehre, und gerade etwa bei der Idee der Schönheit. In der Tat, die Idee der Schönheit würde ihren Sinn verlieren, wenn nur die Idee der Schönheit wäre, und wenn die schönen Dinge nichts wären. Die Idee der Schönheit würde ihren Sinn verlieren, wenn sie nicht in schönen Dingen erscheinen würde, wenn sie nicht in schönen Dingen aufglänzen würde. Geschähe dies nicht in den schönen Dingen, was wäre dann noch die Idee der Schönheit? Alle Erwägungen führen zu dem Ergebnis, daß die Ideenlehre, interpretiert man sie in dem Sinne, daß die Ideen sind und allein das Sein sind, vielleicht nicht in sich selbst wegen eines inneren Widerspruchs unmöglich ist, aber daß eine so interpretierte Ideenlehre in sich selbst sinnlos ist. 5 52: Die Ideen und die Sinnendinge Wir haben zwei Möglichkeiten der Interpretation der Ideenlehre erwogen, und wir haben gesehen, daß Platon bei beiden in Schwierigkeiten gekommen wäre. Beide Möglichkeiten beruhen auf einem univoken Seinsbegriff. Die erste Möglichkeit kennt nur ein Sein, und sie erkennt deshalb ein und dasselbe Sein sowohl den Ideen als auch den
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Sinnendingen zu. Dies führt auf eine Zweiweltentheorie in dem Sinne, daß audi die Ideen verdinglicht werden. Idi kann nicht glauben, daß dies die eigentliche Meinung Platons gewesen sein könnte. Die zweite Möglichkeit war die eleatische Disjunktion. Dann muß die einzige mögliche Bedeutung des Sems den Ideen zugesprochen werden, und die Sinnendinge können nicht sein, so wie Parmenides schon gesagt hatte: Das Sein ist, und das Nichtsein ist nicht. Aber dieser Gedankengang führt in Aporien, die ihn bald als unhaltbar erweisen. Die dritte Möglichkeit ist nun die, die erst Aristoteles explizit gemacht hat, die aber in gewisser Weise auch schon implizit bei Platon vorliegt. Den Ideen kommt das Sein zu, aber auch den Sinnendingen kommt in gewisser Weise ein Sein zu, und dies bedeutet, daß das Sein der Ideen und das Sein der Sinnendinge ein Sein in verschiedener Bedeutung ist. Wenn auch die ontologischen Bestimmungen des Phaidon, soweit sie explizit zum Ausdruck kommen, wesentlich in der Richtung der eleatischen Disjunktion gehen, so finden sich doch bereits Gedankengänge, die auf ein eigenes Sein der Sinnendinge zielen. Es handelt sich nicht nur um das Verhältnis zwischen den Ideen und den Sinnendingen, dem wir uns sogleich zuwenden werden, sondern auch im Phaidon selbst wird das Sein der Sinnendinge in einem gewissen Ausmaß bereits anerkannt. Wenn wir den Phaidon auf die eleatische Disjunktion reduzieren, so geben wir damit die Fülle dieses Werkes zugunsten einer extremen Darstellung auf. Aber schon die von Platon für die schönen Dinge gegebenen Beispiele: schöne Menschen, schöne Pferde, schöne Kleider,1 zeigen, daß Platon nicht gewillt ist, das Sem der schönen Dinge im Sinne des Parmenides als völlig nichtig anzusehen. Nicht anders liegt es mit den gleichen Dingen. Es gibt gleiche Dinge, Platons Beispiel sind die gleichen Bretter.8 Gewiß sind sie nicht genau gleich, gewiß stehen sie weit von der Idee der Gleichheit ab. Aber um so weit von der Idee der Gleichheit abstehen zu können, müssen sie doch in irgendeiner Weise sein. Wenn also Platon im Phaidon von den zwei Weisen des Seins spricht* und damit die Ideen und die Sinnendinge meint, so spricht er auch hier schon den Sinnendingen ein gewisses Sein zu. Vollends deutlich wird dies im Timaios. Dieser Dialog gibt die Platonische Kosmologie. Der Demiurg blickt auf die Ideen hin und er-
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schafft nach dem Vorbild der Ideen die Sinnendinge.4 Diese Kosmologie setzt voraus, daß diese geschaffenen Dinge nicht nichts sind. Gewiß haben sie nicht das Sein der Ideen, aber in irgendeinem Sinne müssen sie doch ein Sein haben, wie könnten sie sonst nach ihren Vorbildern, nach den Ideen geschaffen sein? Daß damit die Aufgabe gegeben ist, das Sein der Sinnendinge gegen das Sein der Ideen abzugrenzen, das sieht Platon freilich noch nicht ausdrücklich, das sieht explizit erst Aristoteles. Aber Platon sieht doch schon, daß die Frage nach dem Verhältnis der Sinnendinge zu den Ideen unausweichlich geworden ist. Im Anschluß an Aristoteles, der hier die Terminologie Platons fixiert, bezeichnet man das Problem als das Methexisproblem. Die Auseinandersetzung Platons mit diesem Problem beginnt mit einer merkwürdigen Stelle des Phaidon, auf die schon oft hingewiesen worden ist. Sokrates erzählt die Geschichte eines jungen Menschen, der sich fragt, woher die Ordnung und die Schönheit des Kosmos kommt. Die materialistischen Erklärungen befriedigen ihn nicht. Er greift zu dem Buch des Anaxagoras, weil er weiß, daß dieser Philosoph dem Nous eine große Bedeutung beimißt. Aber auch Anaxagoras enttäuscht ihn, weil er in der Durchführung der Ontologie vom Nous keinen Gebrauch macht.5 Unter den Interpreten ist es noch strittig, ob diese Darstellung einer Jugendentwicklung sich auf Sokrates oder auf Platon bezieht. Wer auch gemeint sein mag, nach dieser Enttäuschung wird ihm die Ideenlehre zur richtigen Lösung: Wenn etwas schön ist, so ist es schön durch die Idee der Schönheit. Hier wird zunächst die materialistische Lösung abgelehnt. Zu sagen, etwas ist schön, weil es eine schöne Farbe hat, oder weil es eine schöne Gestalt hat, ist unzureichend. Nur die Ideenlehre kann hier die Lösung bringen. Alles Schöne ist schön, weil es an der Idee der Schönheit Anteil hat. Dies führt nun freilich auf die Frage, wie man sich eine solche Anteilhabe vorstellen könne. Diese Teilhabe alles Schönen an der Idee der Schönheit stellt sich, von der Idee her gesehen, entweder als eine Anwesenheit der Idee in den schönen Dingen oder als eine Gemeinschaft der Idee der Schönheit mit den schönen Dingen dar, vielleicht auch auf irgendeine andere Weise. Sokrates wehrt diese Schwierigkeiten der Anteilhabe, man könnte fast sagen, etwas ärgerlich ab. Er sagt in einem dreifach wiederholten Ausdruck, daß er einfach und ungekünstelt, man könnte
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sogar übersetzen in einfältiger Weise, darauf bestehen will," daß alles Schöne schön ist durch die Idee der Schönheit. Man kann diese Stelle doch wohl nur dahin verstehen, daß zu der Zeit, als Platon den Phaidon schrieb, bereits eine Diskussion über dies Problem der Anteilhabe im Gang war. In welcher Form sie stattgefunden hat, läßt sich aus der kurzen Stelle nicht erschließen. Es könnte wohl sein, daß Platon diese Schwierigkeit mit sich selbst erwogen hat, es könnte aber auch sein, daß seine Freunde oder seine Schüler auf diese Schwierigkeit gestoßen sind und daß sie diese Schwierigkeit Platon in offener Diskussion vorgetragen haben. Die thematische Diskussion des Problems findet sich im ersten Teil des Parmenides. Parmenides und Zenon diskutieren mit dem jungen Sokrates über die Ideenlehre. Von Parmenides wird ausdrücklich gesagt, er sei 65 Jahre alt. Zenon ist ein Vierziger, Sokrates ist ein junger Mann.7 Die Ideenlehre erscheint als die Lehre dieses jungen Sokrates; Parmenides und Zenon stellen sich auf den Boden der Ideenlehre. In der Interpretation des Dialogs ist fast alles strittig. Da das Geburtsjahr von Sokrates bekannt ist, müßte das Gespräch etwa um 450 stattgefunden haben. Es ist zunächst fraglich, ob überhaupt Parmenides, Zenon und Sokrates zu einem Gespräch zusammentreffen konnten; dies hängt von der nicht genau bekannten Lebenszeit des Parmenides ab. Konnte das Gespräch, historisch gesehen, stattfinden, so ist wiederum die Frage, ob es den Inhalt gehabt haben konnte, den Platon uns vorträgt. Taylor sagt freilich ausdrücklich, daß er nichts in dem Gespräch finde, was nicht zu der in Frage kommenden Zeit des Gesprächs hätte gesagt werden können.8 Mir selbst und vielen anderen erscheint es unmöglich, daß um das Jahr 450 über die Ideenlehre in dieser Weise diskutiert werden konnte. Der Parmenides ist eine Reflexion über die Ideenlehre, so wie sie im Phaidon vorgetragen wird. Es erscheint unglaubhaft, daß die Ideenlehre, wie sie im Phaidon vorgetragen wird, schon zu Lebzeiten des Sokrates entwickelt worden ist, wir haben dies schon berührt. Vollends erscheint es aber als unglaubhaft, daß Sokrates schon als junger Mann um das Jahr 450 die Ideenlehre entdeckt haben könnte. Als völlig unmöglich erscheint es aber, daß schon in dieser Zeit die volle Problematik der Ideenlehre erkannt worden sei. Von alledem ist weder in den frühen Platonischen Dialogen, die weithin als Wiedergaben von Sokratischen Gesprächen aufgefaßt werden
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können, noch in den anderen Quellen die Rede. Es erscheint daher ratsam, die Entdeckung der Ideenlehre und die Entdeckung ihrer Problematik jeweils in die Zeit zu setzen, in der die betreffenden Dialoge geschrieben wurden. Dies braucht nicht zu hindern, daß nach Platons Überzeugung die Ideenlehre das war, was Sokrates eigentlich hatte sagen wollen, und aus dieser Überzeugung heraus durfte Platon sehr wohl die Ideenlehre so durch Sokrates vortragen lassen, wie er dies getan hat. Die Diskussion im ersten Teil des Parmenides greift zuerst die Frage auf, wovon es Ideen gibt. Wir werden auf diese Frage noch kurz zurückkommen. Die Diskussion geht dann dazu über, das Sein der Ideen und ihr Verhältnis zu den Sinnendingen zu diskutieren. Man könnte sich zunächst denken, daß die Idee eine bloße Vorstellung in unserer Seele wäre.' Platon lehnt diese Auffassung mit etwas gekünstelten Argumenten ab.10 Es erscheint aber möglich, hier bessere Argumente zu bringen. Gibt man diesen Gedanken, daß die Ideen nur unsere Vorstellungen sein sollen, auf, und erkennt man ihnen eine eigene Realität zu, dann erheben sich neue Schwierigkeiten, für die Platon eine Lösung nicht gefunden hat und für die eine Lösung auch wohl überhaupt nicht zu finden ist. Betrachtet man zunächst das Verhältnis der Sinnendinge zu den Ideen als eine Anteilhabe, dann kann man versuchen, die möglichen Weisen der Anteilhabe festzustellen, um sich dann zu fragen, ob eine dieser Weisen auf das Verhältnis der Dinge zu den Ideen zutreffen kann. Kinder können an dem Erbe der Eltern Anteil haben, indem das Erbe ungeteilt bleibt und jedes Kind seinen Anteil an dem ungeteilten Erbe hat, das Erbe kann aber auch geteilt werden, und jedes Kind bekommt seinen besonderen Anteil. Gibt es Anteilhabe nur in diesen beiden Weisen" und wendet man dies auf das Verhältnis der Sinnendinge zu den Ideen an, dann kann die Idee der Schönheit, um sie wieder als Beispiel zu nehmen, entweder als die eine und ungeteilte in jedem der vielen schönen Dinge sein, oder die Idee der Schönheit teilt sich in Stücke und in jedem schönen Dinge ist ein Stück der Idee der Schönheit. Keine dieser beiden Weisen ist möglich. Wäre das erste der Fall, dann wäre ein und dasselbe an vielen Orten zugleich, was doch offenbar nicht möglich ist." Träfe das zweite zu, dann wäre die
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Idee der Sdiönheit, die ihrem Wesen nach eine ist, in viele Teile zerstückelt.13 Sokrates wendet ein, es gäbe vielleicht eine andere Art und Weise, daß ein und dasselbe an vielen Stellen zugleich sein könne. Er gibt dafür das schöne Beispiel des Tageslichtes. Es ist überall Tag, ohne daß das Licht geteilt wäre.14 Man möchte glauben, daß Platon jetzt diesen Gedanken weiterführen würde. Auch in der Politeia werden die Ideen mit der Sonne15 und mit dem Licht" verglichen. Aber Platon bringt im Gegenteil einen grob materialistischen Gedanken. Das Verhältnis der Ideen zu den vielen Sinnendingen wird im Parmenides verglichen mit einem Segeltuch, das über viele Menschen ausgespannt ist.17 Beim Segeltuch ist es natürlich so, daß über jedem der vielen Menschen ein Stück des Segeltuchs sich spannt, und der Vergleich mit dem Segeltuch führt also wieder in die Stücke-Auffassung zurück. Das Problem der Zerstückelung erlaubt ein geistreiches Spiel, wenn man die Ideen des Großen und des Kleinen betrachtet, und Platon läßt sich diese Gelegenheit nicht entgehen." Die Schwierigkeit der Teilhabe erweist sich als unlösbar, wenigstens auf dem eingeschlagenen Weg. Als zweite Möglichkeit, das Verhältnis der Idee zu den Sinnendingen zu verstehen, diskutiert Platon den Begriff der Ähnlichkeit. Die Einzeldinge sind der Idee ähnlich, oder die Idee ist das Urbild und die Sinnendinge sind die Abbilder." Aber Platon kann leicht zeigen, daß auch diese Auffassung nicht weiterführt. Die größte Schwierigkeit für diese Erwägungen, so sagt Platon ausdrücklich, steht noch bevor.80 Diese größte Schwierigkeit rührt, wie alle Schwierigkeiten, daher, daß man der Idee eine eigene Realität zugesteht. Die Formulierung, die Platon hier gefunden hat, wird man als ausgezeichnet betrachten dürfen, aber sie ist nicht leicht zu übersetzen. Apelt übersetzt: „So wisse denn, daß du ... noch gar keine Ahnung hast von den eigentlichen großen Schwierigkeiten, die mit der Annahme von besonderen, von den Dingen getrennten einheitlichen Wesenheiten verbunden sind."21 Schleiermacher hatte übersetzt: „Wenn du für jegliches jedesmal abgesondert einen Begriff aufstellen willst."23 Wollte man paraphrasierend übersetzen, so könnte man sagen: „... wie groß die Aporie ist, wenn du eine Idee so bestimmst, daß du sie als eine Einheit, aber gleichwohl als ein Einzelnes absonderst, das unter allem Seienden beständig für sich existiert." Hier wird also die Realität der Idee dahin verstanden, daß jede Idee von allem anderen
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Seienden abgesondert ist, und daß sie als ein Einzelnes existiert, so wie ein Sinnending jeweils als ein Einzelnes existiert. Wenn man die Realität der Idee so bestimmt, daß sie als ein Einzelding so wie alle anderen Einzeldinge existiert, dann ist es in der Tat unmöglich, zu verstehen, wie eine Idee ein Allgemeines von vielen Einzelnen sein kann. Die größte Aporie, die Platon angekündigt hat, besteht nun darin, daß eine solche Existenz der Idee als ein Einzelding jeden Zusammenhang der Ideen und insbesondere jede Erkennbarkeit der Ideen aufheben würde.28 Damit würde auch die Ideenlehre als solche aufgehoben. Der junge Sokrates weiß diese Schwierigkeiten nicht aufzulösen, ihrer aller ungeachtet hält er aber an der Notwendigkeit der Ideenlehre fest.24 Wie soll man diese Diskussion verstehen? Man kann zunächst die ganze Diskussion als in sich unverständlich betrachten. Dann wird man geneigt sein, sich zu helfen, indem man den Dialog für unecht erklärt. So haben sich einige Forscher des neunzehnten Jahrhunderts entschieden.*5 Damit ist das Problem freilich nur verschoben. Auch wenn der Parmenides von einem anderen geschrieben worden wäre, müßte eine systematische Interpretation die Frage nach dem Sinn des Gesagten stellen. Eine zweite Interpretation ist die Rätseltheorie, wie sie insbesondere von Natorp vorgeschlagen worden ist.2' Für Natorp sind die Schwierigkeiten des Dialogs lösbar, und der Leser soll die Lösung in eigener Gedankenarbeit finden. Wenn diese Interpretation annehmbar sein sollte, dann müßten Natorp und die ihm folgenden Interpreten die Lösung angeben. Solange dies nicht geschieht, wird man die Rätseltheorie nicht als annehmbar betrachten können. Unsere Untersuchungen gehen von der Auffassung aus, die wir endgültig bei der Interpretation des zweiten Teiles des Parmenides zu bewähren haben werden, daß es sich um echte, also um nicht restlos auflösbare Antinomien handelt. Diese Antinomien liegen der Metaphysik als solcher zugrunde, und sie sind daher zu erwarten, sobald ein Philosoph bis in die Grundproblematik der Metaphysik hinabgestiegen ist. Von hier aus wird man dazu geführt, die Aporien des Parmenides so zu lesen, wie sie von Platon geschrieben sind, und sie als treffenden Ausdruck systematischer Schwierigkeiten zu betrachten. Diese Auffassung wirkt sich auch auf die Interpretation des Verhältnisses von Aristoteles zu Platon aus. In den Werken des Aristoteles
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spielt die Auseinandersetzung mit Platon und die Kritik an Platon eine große Rolle, und wir werden im nächsten Kapitel diese Auseinandersetzung thematisch behandeln. Die Anhänger Platons sind oft geneigt, die Kritik des Aristoteles als wertlos, ja als völlig falsch zu betrachten. Als typisch darf Natorp gelten. Er ist der Meinung, Aristoteles habe Platon überhaupt nicht verstanden." Allein so einfach liegen die Dinge nicht. Ich bin mit vielen Interpreten, ich nenne von den neueren beispielsweise Cherniss,28 zu einer positiven Auffassung dieser Auseinandersetzung gekommen. Man braucht nicht zu leugnen, daß Aristoteles an vielen Stellen der griechischen Freude am Agon einen vielleicht nicht immer philosophischen Tribut zahlt und daß ihn dies nicht selten zu einer Freude am bloßen Streit und am Rechthaben verführt. Aber vielleicht ist eine solche Freude am Rechthaben nicht nur bei den Griechen und nicht nur bei den Philosophen zu finden. Zieht man dies Menschliche ab, dann legt die Kritik des Aristoteles an der Platonischen Ideenlehre innere Schwierigkeiten der Platonischen Philosophie, ja innere Schwierigkeiten der Philosophie überhaupt offen. Wir werden hier zunächst einige Einwände des Aristoteles heranziehen und im nächsten Kapitel die Kritik noch einmal im ganzen behandeln. Man kann die Kritik des Aristoteles auf vier Hauptmomente zusammenziehen: Das Methexisproblem, das Problem des Chorismos, das Problem des und das Problem der Tragweite der Beweise. Was zunächst das Methexisproblem anbetrifft, so sagt Aristoteles in der zusammenfassenden Darstellung der Ideenlehre im ersten Buch der Metaphysik ausdrücklich, daß die Einzeldinge, sofern sie denselben Namen mit den Ideen tragen, auf Grund einer Methexis existieren." Es kann kein Zweifel sein, daß Aristoteles hier ausdrücklich Erklärungen Platons richtig wiedergibt. Gegen die Methexislehre der Ideenlehre erhebt nun Aristoteles den Vorwurf, daß Platon nicht geklärt habe, wie diese Methexis zu verstehen sei. Wir haben eben gesehen, daß Platon genau diese Frage im Parmenides vorgetragen hat,80 und so decken sich also die Bedenken des Aristoteles völlig mit denen, die Platon selbst vorgetragen hat.'1 Der zweite Vorwurf, den Aristoteles erhebt, ist der Vorwurf des Chorismos. Aristoteles sagt ausdrücklich, daß Sokrates das Allgemeine als in den Dingen existierend angenommen habe, daß aber im Gegen-
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satz dazu Platon die Ideen als ein besonderes Seinsgeschlecht betrachtet habe.32 Der Chorismos hat nach der Auffassung des Aristoteles eine doppelte Bedeutung. Einmal trennt er die Ideen von den Sinnendingen, und er f hrt also in dieser Hinsicht zu einer Zweiweltentheorie. Die Welt der Ideen wird nach dieser Kritik als eine zweite Welt aufgefa t. Der Vorwurf des Chorismos hat aber noch eine zweite Bedeutung. Er kritisiert an der Ideenlehre, da sie der Idee ein isoliertes Sein gibt, und da also die Idee ein Sein hat, wie es die jeweils f r sich selbst stehenden Einzeldinge haben.8* In diesem Sinne will Aristoteles in der Tat sagen, da Platon die Ideen verdinglicht habe. Hier liegt das Verh ltnis der Aristotelischen Kritik zu den Platonischen Texten etwas schwieriger. W hrend die Methexisvorstellung sich in mehreren Dialogen an pr gnanten Stellen findet, gibt es f r die Chorismosvorstellung im strengen terminologischen Sinne eigentlich nur einen Dialog, den Parmenides. Hier wird allerdings der Terminus χωρίς sogar sechsmal gebraucht.*4 Dar ber hinaus findet man der Sache nach einen Chorismos an denjenigen Stellen der Hauptdialoge der Ideenlehre, die man gern als Mythos bezeichnet. Ich darf hier noch einmal auf die bekannte Stelle im Pbaidros verweisen. Platon sagt ausdr cklich, die Ideen existieren dort εν ύπερουρανίω τόπφ.35 Man wird also auch hier zu dem Ergebnis kommen, da Aristoteles seine Kritik an der Ideenlehre sowohl der Sache nach als auch der ausdr cklichen Terminologie nach auf die Platonischen Dialoge selbst st tzen kann. Als drittes Moment erhebt die Kritik des Aristoteles den Vorwurf des τρίτος άνθρωπος.86 Auch dieser Vorwurf ist heftig umstritten. Leider haben wir nicht mehr die ausf hrliche Darstellung des Aristoteles, sie befand sich in der verlorengegangenen fr hen Schrift des Aristoteles ber die Ideen. Wir haben aber Ausz ge aus dieser Schrift. Im ersten Buch der Metaphysik weist Aristoteles auf den τρίτος άνθρωπος lediglich hin, er setzt voraus, da seine H rer und Leser das Problem genau kennen.87 Die Paradoxie des τρίτος άνθρωπος nimmt als Grundvoraussetzung der Ideenlehre, da die Einheit der vielen Menschen nur dadurch gew hrleistet ist, da es die Idee des Menschen, da es also den Menschen an sich als eine besondere Realit t gibt. Wenn man diese Voraussetzung zugibt, dann bilden die vielen Menschen und der Mensch an sich wiederum eine Vielheit jeweils verschiedener Realit ten, und es bedarf
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nach der Grundvoraussetzung der Ideenlehre wiederum einer neuen Idee, die als der die Einheit dieser neuen Vielheit stiftet, und die also wiederum eine neue von allen anderen verschiedene Realität sein muß. Man sieht sofort, daß hier ein regressus in infinitum anläuft, daß hinter jeder neuen zusätzlich geforderten Idee wiederum eine weitere Idee gefordert werden muß. Man hat die Probleme des lange Zeit nicht sehr ernst genommen. Eine vertiefte Platoninterpretation und das Auftreten der Antinomien in den Grundlagen der Logik und der Mathematik haben jedoch die Aufmerksamkeit erneut auf das alte Problem gelenkt. Zunächst hat man gesehen, daß die Paradoxien der Logik und der Mathematik eng mit dem zusammenhängen. Meines Wissens ist Ryle der erste gewesen, der auf diesen Zusammenhang aufmerksam gemacht hat.88 Gleichzeitig hat eine vertiefte Platoninterpretation gesehen, daß das Problem bei Platon selbst vorkommt. Es wird ausdrücklich im Parmenides entwickelt,39 findet sich aber auch an einer Reihe von anderen Stellen, die vielleicht noch nicht einmal alle erkannt worden sind.40 Soweit wir bis jetzt sehen können, ist das Problem allerdings bei Platon selbst niemals auf die Idee des Menschen bezogen. Beschränken wir uns auf die grundsätzliche Erörterung im Pannenides, so untersucht Platon dort das Problem an der Idee der Größe.41 Es gibt, so lautet dort der Gedankengang, unzweifelhaft viele große Dinge. Nach der Grundvoraussetzung der Ideenlehre kann ihre Einheit nur darauf beruhen, daß es eine Idee der Größe gibt, daß es also ein Großes an sich gibt. Dann bilden aber dies Große an sich und die vielen großen Dinge eine neue Vielheit, die ihrerseits einer neuen Einheit bedarf. Es ist also eine neue Idee der Größe als eine eigene Realität notwendig, und es beginnt sofort ein regressus in infinitum. Das Problem enthält bei Aristoteles zwei Merkwürdigkeiten, für die bis jetzt die Interpreten eine befriedigende Erklärung nicht haben finden können. Die erste Merkwürdigkeit besteht darin, daß Aristoteles die Auflösung kennt, und daß er diese Auflösung, wenn auch an einer etwas versteckten Stelle, in aller Form vorgetragen hat.48 Dabei versteht man nicht, weshalb Aristoteles von dieser Auflösung in seiner Kritik der Ideenlehre kernen Gebrauch macht. Zweitens ist es ebenso merkwürdig, daß Aristoteles, soweit wir wissen und jedenfalls in den
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uns bekannten Schriften, nicht zum Ausdruck bringt, daß das Problem schon bei Platon steht. Aristoteles bezieht sich an so vielen Stellen ausdrücklich auf Platon, an vielen Stellen sogar auf bestimmte namentlich genannte Dialoge, daß sein Schweigen im Problem des nicht leicht verständlich ist. Fassen wir das Problem dieser Aporien bei Platon zusammen, so hat Platon die Aporien der Methexis, des Chorismos und des deutlich erkannt. Er hat sie insbesondere im ersten Teil des Parmenides vorgetragen. Ob die Aporien systematisch auflösbar sind, darüber herrscht bei den Philosophen und den Logikern keine einhellige Meinung. Die vorliegenden Untersuchungen gehen von der Überzeugung aus, daß sie nicht auflösbar sind. Was Platon selbst gemeint hat, ob er gemeint hat, die Aporien sind auflösbar, oder ob er gemeint hat, sie sind nicht auflösbar, dies läßt sich aus den wenigen Stellen nicht mit Sicherheit klären. Wir selbst verschieben die systematische Diskussion der drei Aristotelischen Einwände und die Gesamtdiskussion des vierten Einwandes auf das nächste Kapitel. § $3: Platon und die beiden anderen Standpunkte In diesen drei Kapiteln verfolgen wir für Platon, für Aristoteles und für Kant gleicherweise zwei Aufgaben: Wir wollen zeigen, daß jede dieser Philosophien in ihren eigenen Konsequenzen auf Aporien stößt, die sie aus ihrem Standpunkt nicht zu bewältigen vermag. Wir wollen aber auch zeigen, daß in keiner dieser drei Philosophien der eigene Standpunkt in extremer Form und in absoluter Strenge vertreten wird. In jeder der drei Philosophien finden sich Momente der beiden anderen Standpunkte. Diese beiden Probleme sind so wichtig, daß wir sie für jede der drei von uns gewählten Philosophien im einzelnen diskutieren wollen. Wir haben soeben die Aporien des Platonischen Standpunktes dargelegt, und wollen jetzt das Verhältnis der Platonischen Philosophie zu den beiden anderen erwägen. Niemand wird daran zweifeln, daß die Ideenlehre der Mittelpunkt der platonischen Philosophie ist. Allein wir haben gesehen, daß die unreflektierte Form der Ideenlehre, wie wir sie im Phaidon finden, auch Platon selbst nicht genügt hat. Platon selbst hat die Schwierig-
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keiten gesehen, die sidi ergeben, wenn man zu fragen beginnt, was das ideale Sein der Ideen sagen will. Wir haben bereits gesehen, daß die Ideen einen notwendigen Bezug auf die reale Welt haben, und dies bedeutet, daß sie notwendig in einem gewissen Sinne die Funktion der Seinsgesetze im aristotelisdien Sinne haben müssen. Gewiß versudhit Platon immer wieder, die Ideen gegen die Sinnendinge abzuschirmen. Wenn er damit verständlicherweise in Schwierigkeiten gerät, so greift er zu Unterscheidungen. Es sind verschiedene Zahlen, die Zahlen, mit denen es der Mathematiker zu tun hat, und die Zahlen, mit denen es der handelnde Mensch, der Heerführer, der Kaufmann, der Handwerker zu tun hat.1 Im ganzen ist die Unterscheidung nicht völlig durchsichtig. Aristoteles sagt, Platon habe drei Arten von Zahlen unterschieden, die Zahlen als Idee, die mathematischen Zahlen und die Sinnenzahlen.* Die Berichte darüber sind allerdings nicht ganz eindeutig. Die Unterscheidung aber, wie wir sagen würden, zwischen reinen und angewandten Zahlen geht aus der Stelle der Politeia klar hervor. Aber in welcher Weise Platon hier auch unterscheiden will, so wird er einen Zusammenhang gewiß nicht leugnen. Den Gesetzen bei den reinen Zahlen, mit denen es der Mathematiker zu tun hat, zum Beispiel 7+5 = 12, entsprechen Gesetze bei den Zahlen der Sinnendinge, mit denen es der handelnde Mensch zu tun hat. Wir haben gesehen, daß Platon in der Astronomie eine ähnliche Unterscheidung getroffen hat. Es gibt für ihn eine reine Astronomie, in der die Umläufe der Gestirne durch reine Zahlen bestimmt werden. Auch die Perioden, in denen diese Umläufe wieder zum selben Stand des Kosmos zurückführen, werden durch ganze Zahlen bestimmt. Diese Zahl des großen Jahres ist eine sehr große Zahl, aber sie ist eine ganze Zahl, und sie wird durch einfache arithmetische Gesetze bestimmt.3 Im Gegensatz dazu stehen die realen Abläufe, und es war schon zu Platons Zeiten bekannt, daß der Lauf des Mondes durch den Monat und der Lauf der Sonne durch das Jahr von ganzen Zahlen entschieden abweichen, daß sie durch Brüche bestimmt werden, in denen eine mathematische Gesetzlichkeit nicht zu erkennen ist. Dagegen müßten sich die Umlaufzeiten der idealen Astronomie aus rein mathematischen Gesetzen bestimmen lassen. Die empirische Astronomie, soweit Platon überhaupt noch bereit wäre, sie als eine Wissenschaft gelten zu lassen, ist auf empirische Daten angewiesen.4
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Wie immer Platon auch diese beiden Astronomien unterscheiden will — und diese Unterscheidung gehört schwerlich zu seinen glücklichsten Gedanken —, den Zusammenhang zwischen der reinen Astronomie und der empirischen Astronomie kann er nicht leugnen. Die reine Astronomie bestimmt als Naturgesetzlichkeit die reale Wirklichkeit, und es liegt an der Materie, so hat Platon sich dies gedacht, daß die Ideen in dieser materiellen Welt nicht ihre reine Gültigkeit entfalten können. Im Timaios kommt die Funktion der Ideen als Seinsgesetze vollends zum Durchbruch. Hier blickt der Demiurgos bei der Erschaffung der Welt auf die Ideen hin,8 er erschafft nach dem Vorbild der Ideen die reale Welt," dies gilt insbesondere beispielsweise von den Ideen der Elemente.7 Zwar bleibt auch hier bestehen, daß die Ideen in der realen Welt nicht rein gelten. Das Feuer hier unten stellt nicht die reine Idee des Feuers dar, es ist vielmehr nur feuerartig. Auch die verschiedenen Erden stellen nicht die Idee der Erde als Element in ihrer Reinheit dar, sie sind vielmehr nur erdartig.8 Bei alledem ist nicht daran zu zweifeln, daß die reinen Elemente im Timaios Ideen sind, und daß sie als solche und in ihren Zusammenhängen als Seinsgesetze, und das heißt in diesem besonderen Bereich als Naturgesetze fungieren. Natorp hat in seiner Platoninterpretation dieser Funktion der Ideen als Naturgesetze seine besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Er sagt schlechthin, daß die newtonschen Gesetze das eigentliche Beispiel für eine platonische Idee darstellen." Man wird die Übertreibung nicht verkennen, die hierin liegt, aber man wird auch nicht verkennen, daß gleichwohl in dieser Interpretation ein echtes Moment der Ideenlehre ausgesprochen worden ist. Daß die Ideen weithin als Naturgesetze fungieren und daß sie also ein aristotelisches Moment haben, erscheint bei dem fundamentalen Zusammenhang zwischen Platon und Aristoteles durchaus verständlich. Der Zusammenhang mit Kant ist subtiler und schwerer zu sehen. Daß die Ideen als Handlungen des Denkens betrachtet werden könnten, könnte in einer ersten Erwägung als völlig absurd erscheinen. Das Problem hängt daran, welche Bedeutung der Terminus hat. Unzweifelhaft ist der darin liegende Bezug auf den Nous eine fundamentale Charakteristik der Ideen. Man kann den Nous als ein rein passives Vermögen betrachten, das die an sich existierenden Ideen 15 Martin, Metaphysik
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in einer reinen Hinnahme erschaut; man kann den Nous in seinem Verhältnis zu den Ideen aber auch in einem gewissen Sinne als ein aktives Vermögen, als ein Tätigsein, als ein Handeln verstehen. Wir können diese Frage nicht ausschöpfen, wir können sie nur verständlich machen. Vielleicht gibt die folgende Erwägung einen Ansatzpunkt. Die Auffassung des Nous als einer reinen Hinnahme beruht auf einem Vergleich mit dem Sehen. So wie wir die sichtbaren Dinge sehen, so schaut der Nous die Ideen. Man kann dann die Frage aufwerfen, ob auch nur das Sehen ein rein passives Vermögen ist, und diese Frage muß meiner Meinung nach verneint werden. Sehen ist kein rein passives Einnehmen, sondern es ist in gewissem Ausmaß ein aktives Tätigwerden. Dies war eine der großen Einsichten Goethes, und er spricht ausdrücklich von einer „Wirkung und Gegenwirkung" des Auges.1' Ist aber das Sehen kein rein passives Vermögen, dann kann die Auffassung des Nous als ein solches rein passives Vermögen jedenfalls nicht auf diesen Vergleich gestützt werden, und der Weg zur Erwägung anderer Möglichkeiten wird frei. Man kann dabei nicht einwenden, daß dies eine Erwägung sei, die den Griechen völlig fremd gewesen sei. Aristoteles hat, wie wir noch sehen werden, erkannt, daß der Nous schon für uns ein Moment der Energeia enthält, und daß der göttliche Nous reine Energeia, also reine Tätigkeit darstellt. Man kann sich vorstellen, daß Aristoteles auch hier einen platonischen Ansatz weiterführt, und so wird es verständlich, daß auch in der Platoninterpretation auf dies Spontaneitätsmoment des Nous aufmerksam gemacht worden ist. In der Gegenwart hat Bruno Liebrucks das Moment der Spontaneität wieder betont. Er sagt: „Es handelt sich um die Wirklichkeit aller derer .., denen wir das Siegel des aufdrücken. 11 Hier haben wir wieder das aktive Moment!" Liebrucks stützt sich darauf, daß Platon die Erkenntnis der Ideen durch den Ausdruck umschreibt: denen wir das Siegel aufdrücken.12 Diese Beachtung des aktiven Momentes durch Liebrucks trifft mit großen und alten Platoninterpretationen zusammen. Augustin hat die Ideen als Gedanken Gottes verstanden.13 Man wird zugeben können, daß diese Auffassung in dieser Form zwar nicht ausdrücklich bei Platon steht, daß sie aber in Platon angelegt ist. Nun kann sich aber im Denken Gottes überhaupt keine Passivität finden, das Denken Gottes ist, wie sein
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ganzes Sein, ein actus purus. In diesen reinen Aktcharakter des göttlichen Denkens müssen aber auch die Ideen hineingedacht werden. In aller Form hat dies in der Nachfolge zugleich von Platon und von Augustin Leibniz ausgesprochen. Auch für Leibniz sind die Ideen Gedanken Gottes und auch für Leibniz wird das Sein der Ideen durch die reine Aktivität des göttlichen Denkens bestimmt.14 Wir kommen also zu dem Ergebnis, daß die Ideen auf der einen Seite einen Bezug auf die Natur haben und daß sie auf der anderen Seite auf den Nous als auf ein aktives Vermögen der Spontaneität bezogen sind. Dies aber sind die beiden Grundmomente des aristotelischen und des kantischen Ansatzes.
Kapitel 10: Die Aporien des Aristotelischen Standpunkts § 54: Aristoteles und Platon Aristoteles ist in einer ständigen Auseinandersetzung mit Platon begriffen, und diese Auseinandersetzung ist grundlegend für seine eigene Philosophie. Wir werden zwei Fragen zu prüfen haben. Die erste Frage geht dahin, ob die Kritik des Aristoteles an der Platonischen Ideenlehre sachlich begründet ist. Die zweite Frage geht dahin, ob es Aristoteles gelungen ist, seinerseits eine ontologische Interpretation des Allgemeinen zu entwickeln, die jeder Kritik standhält. Oder führt die ontologische Interpretation des Allgemeinen durch Aristoteles auf neue Kritik, in neue Aporien? Für diese unsere Fragen müssen wir zunächst noch einmal das historische Verhältnis von Aristoteles zu Platon zusammenfassend diskutieren. Betrachtet man die Schriften des Aristoteles im Hinblick auf sein Verhältnis zu Platon, dann tritt die fundamentale Bedeutung dieses Verhältnisses bald hervor. Aristoteles sagt von sich selbst, er sei zwanzig Jahre Schüler Platons gewesen.1 Dann muß er etwa 367 in die Akademie eingetreten sein. Dies stimmt gut mit den Lebensdaten von Aristoteles überein, er wäre damals etwa 17 Jahre alt gewesen. Aristoteles kennt die Platonischen Dialoge genau. Bonitz verzeichnet in seinem Index etwa 200 Zitate aus Platonischen Dialogen und Bezüge 15*
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auf solche,2 und dies Verzeichnis ist keineswegs vollständig. Aristoteles kennt darüber hinaus aus den Vorträgen Platons und aus den Diskussionen der Akademie vieles, was wir nur aus Berichten und teilweise nur aus Berichten des Aristoteles erschließen können. Aristoteles ist auch einer der wenigen Zuhörer der Altersvorlesung Platons über das Gute gewesen.3 In den Schriften des Aristoteles nimmt die Darstellung der Philosophie Platons und die Auseinandersetzung mit ihr einen breiten Raum ein. Gleichwohl herrscht über diese Auseinandersetzung keineswegs Klarheit. Dies ist auch verständlich, denn es handelt sich hier um die subtilste Auseinandersetzung, die wir in der Geschichte der Philosophie überhaupt kennen. Nur die Auseinandersetzung von Kant mit Leibniz kann einigermaßen mit ihr verglichen werden. Werner Jaeger hat den Versuch gemacht, Aristoteles unter entwicklungsgeschichtlichen Grundsätzen darzustellen und zu interpretieren.4 Hierfür ist das Verhältnis des Aristoteles zu Platon der rote Faden, und darin hat Werner Jaeger gewiß Recht. Aber im ganzen kann diese Interpretation mit entwicklungsgeschichtlichen Methoden nicht als völlig gelungen betrachtet werden. Man kann schon in Zweifel ziehen, ob bei der Interpretation eines Philosophen die entwicklungsgeschichtliche Methode den Vorrang wirklich in dem Ausmaß verdienen würde, den Jaeger ihr eingeräumt hat. Selbst wenn man dies zunächst einmal zugestehen würde, so leidet die Interpretation Jaegers daran, daß er ein allzu einfaches Schema zugrunde legt. Er geht davon aus, daß Aristoteles zunächst auf dem Boden der platonischen Ideenlehre gestanden habe, und er sieht die Entwicklung darin, daß Aristoteles sich allmählich immer weiter von der Ideenlehre entfernt.5 Ein so einfaches Schema braucht jedoch nicht von vornherein zuzutreffen, es könnte allzu einfach sein. Die Auseinandersetzung von Kant mit Leibniz ist beispielsweise einen anderen Weg gegangen. Kant steht zunächst entschieden auf dem Boden der Leibnizschen Philosophie, und dies kommt in den Frühschriften klar zum Ausdruck.' Dann setzt in einer zweiten Phase eine Auseinandersetzung mit Leibniz ein, in der Kant sich weit von Leibniz entfernt, sich zum mindesten weit von ihm entfernt glaubt. In der Kritik der reinen Vernunft betont Kant entschieden die Differenzen gegenüber Leibniz.7 In einer dritten Phase aber, wie sie etwa durch die Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaften gekennzeichnet ist, ge-
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winnt Kant von dem endgültig erreichten Boden seiner eigenen Philosophie ein neues Verständnis für Leibniz. Jetzt ist Leibniz derjenige, der beispielsweise in der Unterscheidung der beiden großen Prinzipien, des Satzes vom Widerspruch und des Satzes vom zureichenden Grunde, die fundamentale Kantische Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Urteilen bereits geahnt hat.8 Hier nimmt die Auseinandersetzung einen anderen Weg, und es muß also zweifelhaft bleiben, ob der von Werner Jaeger vorausgesetzte geradlinige Weg einer ständig wachsenden Abkehr von Platon wirklich in dieser Geradlinigkeit vorliegt. Zwei Schwierigkeiten machen sich besonders bemerkbar. Es ist schwierig, die Aristotelischen Schriften zeitlich zu ordnen, es ist aber noch schwieriger, die Platonische Philosophie eindeutig zu charakterisieren. Was zunächst die zeitliche Ordnung der Aristotelischen Schriften anbetrifft, so liegt die Gefahr eines Zirkelschlusses nahe. Aus der zeitlichen Ordnung der Aristotelischen Schriften soll der zeitliche Ablauf des Verhältnisses von Aristoteles zu Platon gewonnen werden. Umgekehrt soll aber aus dieser Auseinandersetzung, genauer gesagt, aus einer hypothetischen Form dieser Auseinandersetzung, die zeitliche Ordnung der Aristotelischen Schriften erschlossen werden. In Anbetracht der besonderen Natur der Aristotelischen Schriften wird man vielmehr sagen müssen, daß bis heute noch keine Methode bekannt ist, die es gestattet, die zeitliche Reihenfolge der Aristotelischen Schriften mit hinreichender Genauigkeit zu bestimmen. Das Verfahren von Werner Jaeger kann nicht als befriedigend angesehen werden, und vielleicht macht die besondere Natur der Aristotelischen Schriften es überhaupt unmöglich, sie zeitlich zu ordnen. — Hier ist ein besonderer Umstand erschwerend. Es gibt eine Reihe von Schriften des Aristoteles, von denen man mit Sicherheit sagen kann, daß er sie früh geschrieben hat. Leider sind diese frühen Schriften nur in Bruchstücken erhalten. Aus diesen Bruchstücken mit dieser Sicherheit auf den philosophischen Standpunkt des Aristoteles zu dieser Zeit zu schließen, so wie Werner Jaeger dies tut, ist schwerlich möglich. Wenn der Phaidon oder wenn die Kritik der reinen Vernunft nur in Bruchstücken erhalten wären, so wäre eine befriedigende Interpretation nicht möglich. Schon die Interpretation der uns im Ganzen vorliegenden Werke macht Schwierigkeiten über Schwierigkeiten; aus Bruchstücken kann wohl niemand das Ganze dieser Werke erschließen. Die hier vorliegenden metho-
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disdien Schwierigkeiten sind auch dadurch nicht gelöst worden, daß Paul Wilpert erfreulicherweise die Zahl und den Umfang der Bruchstücke erheblich hat vermehren können" und daß eine weitere Vermehrung erwartet werden darf. Bei alledem muß festgehalten werden, daß weitreichende philosophische Interpretationen nur dann angesetzt werden können, wenn das zu interpretierende Werk im Ganzen vorliegt. Die Schwierigkeiten, aus den Aristotelischen Schriften geschlossene Stücke zu gewinnen, treffen nun mit der unerhörten Fülle der Platonischen Dialoge zusammen. Werner Jaeger sagt, der junge Aristoteles sei ein Platoniker gewesen.10 Aber was heißt das eigentlich? Es ist richtig, daß die Ideenlehre im Phaidon in einer festen, dafür aber in einer gewissen Weise auch naiven Form vorliegt. Aber dann hat Platon selbst diese allzu feste Form wieder aufgelöst. Es hat freilich, wie wir gesehen haben, der Platoninterpretation nicht geringe Mühe gemacht, dies einzusehen, daß die späten Dialoge über die frühen Dialoge reflektieren und daß insbesondere der Sophistes und der Parmenides über den Phaidon reflektieren. Was aber heißt bei dieser lebendigen Bewegung des Platonischen Denkens, Aristoteles sei Platoniker gewesen? Man könnte freilich hypothetisch annehmen, die Akademie habe in den ersten Jahren, als Aristoteles zu ihr gekommen war, also vielleicht von 367 bis 360, auf dem Boden des Phaidon gestanden. Aber diese Hypothese wäre nicht erweislich und sie wäre auch wenig wahrscheinlich. Darüber hinaus müssen in den zwanzig Jahren, die Aristoteles der Akademie angehört hat, lebhafte Diskussionen über den Sinn der Ideenlehre im Gang gewesen sein. Irgendwann einmal, vor oder nach dem Eintritt des Aristoteles in die Akademie, müssen der Sophistes und der Parmenides geschrieben sein, in denen diese Diskussionen zum Teil zum Ausdruck gekommen sind. Was heißt dann aber Platoniker sein? Das Problem wird dadurch noch schwieriger, daß sich nicht sagen läßt, wie sich die Kritik des Aristoteles an der Ideenlehre zu der eigenen Kritik Platons, insbesondere zu der in diesen beiden Dialogen vorgetragenen Kritik verhält. Die Aristotelische Kritik deckt sich in vielen Stücken mit der von Platon selbst vorgetragenen. Auf die so naheliegende Frage, warum Aristoteles davon nichts sagt, haben wir bis heute keine befriedigende Antwort. Wie hat Aristoteles in den zwanzig
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Jahren seiner Akademiezeit zur Ideenlehre gestanden? Wie hat er zu der Kritik gestanden, die Platon selbst an der Ideenlehre, genauer gesagt, an einer naiven Auffassung der Ideenlehre, geübt hat? Auf diese Fragen können wir bis heute eine befriedigende Antwort nicht geben, ich kann mich nicht davon überzeugen, daß die Antwort von Werner Jaeger den systematisch-philosophischen Schwierigkeiten gerecht wird. Versucht man, sich die verschiedenen Möglichkeiten vorzustellen, wie es überhaupt gewesen sein könnte, dann muß man doch wohl davon ausgehen, daß Aristoteles in diesen zwanzig Jahren an den Diskussionen über die Ideenlehre den intensivsten Anteil genommen hat. Man wird weiter annehmen können, daß ein Teil der Einwände von Aristoteles stammt. Man könnte die Möglichkeit ins Auge fassen, daß der junge Aristoteles die gegen die naive Ideenlehre gemachten Einwände mit dem Feuer der Jugend aufgenommen hat, und daß er damit zunächst in einen entschiedenen Gegensatz gegen die Ideenlehre getreten ist. Erst allmählich wären ihm die Notwendigkeit und die Möglichkeit aufgegangen, die Ideenlehre in einem tieferen Sinne zu verstehen. In der Analytik findet sich ein heftiger Ausfall gegen die Ideenlehre. Man könnte derb ins Deutsche übersetzen: Zum Teufel mit den Ideen!11 Natürlich ist es unmöglich, eine solche einzelne Wendung, wie diesen heftigen Ausfall, genau zu datieren. Eine solche einzelne Wendung kann in einem frühen Manuskript gestanden haben, sie kann aber ebensogut später eingefügt worden sein. Ich will nur sagen, daß die Möglichkeit, von der Werner Jaeger sich hat leiten lassen, durchaus nicht die einzige ist, daß man sich vielmehr auch ganz andere Möglichkeiten vorstellen kann. Man sollte daher nach einer Auffassung suchen, die das Gesamtverhältnis des Aristoteles zur Platonischen Ideenlehre darstellt. In einem solchen Sinne wird man sagen können, daß das Verhältnis des Aristoteles zur Ideenlehre immer ein kritisches ist. Aber dies ist bei Aristoteles nicht anders als beim späten Platon. Auch darin folgt Aristoteles dem späten Platon, daß er bei aller Kritik den Boden der Ideenlehre grundsätzlich nicht verläßt. Es mag wohl Schwankungen im Verhältnis von Aristoteles zu Platon gegeben haben, Schwankungen, die wir bis heute jedenfalls nicht mit Sicherheit datieren können. Aber aller Schwankungen und aller Kritik ungeachtet ist Aristoteles immer Platoniker gewesen und immer Platoniker geblieben. Diese Grund-
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ann hme sdieint mir fruchtbarer zu sein als die Jaegersdie Entwicklungsthese. Wir stellen gegen sie die These: In dem kritischen Sinne, in dem Aristoteles Platoniker war, ist er immer Platoniker gewesen und immer Platoniker geblieben. Aber freilich, auch Platon selbst und gerade Platon selbst war nur in diesem kritischen Sinne ein Platoniker. $ 55: Systematische Probleme der Aristotelischen Kritik Wir haben im vorigen Kapitel begonnen, die Kritik des Aristoteles an der Ideenlehre zu er rtern, wir f hren jetzt die Er rterung unter systematischen Gesichtspunkten weiter. Jetzt interessiert uns nicht nur die historische Frage, welche Kritik Aristoteles ge bt hat, sondern uns interessiert dar ber hinaus die systematische Frage, ob diese Kritik sachlich begr ndet war. Wir gliedern in drei Gruppen: Die Frage der Seinsverschiedenheit zwischen Ideen und Sinnendingen, die Frage der Beweisbarkeit der Ideenlehre und die Frage der Bedeutungsverschiedenheit zwischen dem Sein der Ideen und dem Sein der Sinnendinge. Die erste Frage geht also dahin, ob und wie das Sein der Sinnendinge von dem Sein der Ideen unterschieden werden kann. An dieser Frage h ngt das Problem der Methexis,1 des Chorismos,2 des τρίτος άνθρωπος.3 Alle drei Probleme macht Aristoteles nachdr cklich gegen Platon geltend, aber Platon hat sie selbst alle drei vorgetragen, insbesondere im ersten Teil des Parmenides. Die Einw nde laufen insgesamt darauf hinaus, da ein von dem Sein der Sinnendinge verschiedenes Sein der Ideen nicht gefunden worden ist, da also den Ideen dasselbe Sein zugesprochen werden mu wie den Sinnendingen.4 Die Ideen werden wie Sinnendinge angesehen, sie werden, wie Natorp mit Recht sagt, verdinglicht. Dieser Vorwurf liegt zun chst dem Chorismosproblem zugrunde. Wenn Aristoteles sagt, Platon habe einen Chorismos zwischen den Ideen und den Sinnendingen behauptet,8 so will er damit sagen, Platon habe die Ideen voneinander und von den Sinnendingen in derselben Weise unterschieden, wie zwei Sinnendinge voneinander unterschieden sind, n mlich durch die r umliche Verschiedenheit. Der analoge Vorwurf liegt dem τρίτος άνθρωπος zugrunde. Wir haben gesehen, wie bei der blichen Form des Argumentes hinter der Idee des Menschen eine weitere Idee, also ein »dritter Mensch* stehen mu , und wie bei der Platonischen Form des Argumentes hinter
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der Idee der Größe noch eine weitere Idee der Größe stehen muß.* Die Verwicklung beruht darauf, und dies hat Aristoteles bereits selber gesehen,7 daß die Idee des Menschen selbst als ein Mensch betrachtet wird, daß die Idee der Größe selbst als ein Großes betrachtet wird. Ist nun die Idee des Menschen selbst ein Mensch, dann erhält sie auch das Sein des Menschen, ist die Idee der Größe selbst ein Großes, dann erhält sie auch das Sein des Großen. Wir haben gesehen, daß diese Schwierigkeit in der eleatischen Form der Ideenlehre nicht auftritt. Unterwirft man die Ideenlehre der eleatischen Disjunktion — wir können davon absehen, wie weit Platon dies selbst getan hat —, dann haben die Sinnendinge überhaupt kein Sein. Das Problem entsteht also erst dann, wenn sowohl den Sinnendingen als auch den Ideen ein Sein zugesprochen wird. Man braucht nicht daran zu zweifeln, daß Platon die Ideen von den Sinnendingen unterscheiden wollte, es ist aber die Frage, wie weit eine solche Unterscheidung möglich ist. Insbesondere stellt sich vom Chorismosproblem her die Frage, wie weit eine solche Unterscheidung möglich ist, ohne daß räumliche Vorstellungen hineinspielen. Nun sind die großen Platonischen Ideen, das Schöne, das Gute, das Gerechte, mit soviel Schwierigkeiten belastet, daß die ontologische Diskussion unnötig beschwert wird. Wir wählen deshalb ein sehr einfaches Weltbild, das wir bereits betrachtet haben, das Weltbild des mechanischen Materialismus. Für den mechanischen Materialismus gibt es die Atome im leeren Raum und die Naturgesetze, die die Bewegungen der Atome beherrschen. Obwohl der Raum in dieser Konzeption eine wichtige Rolle spielt, lassen wir ihn jetzt beiseite, wir fragen nur nach dem Unterschied zwischen den Atomen und den Naturgesetzen. Nahe läge zunächst eine rein nominalistische Lösung, indem man die Naturgesetze als bloße Vorstellungen auffaßt. Aber gerade dies wird im allgemeinen von den Vertretern des mechanischen Materialismus strikt abgelehnt. Sie bestehen vielmehr in aller Regel auf der objektiven Realität der Naturgesetze. Hält man daran fest, dann muß man den Unterschied zwischen den Atomen und den Naturgesetzen zu bestimmen versuchen, und diese Aufgabe führt auf analoge Schwierigkeiten, wie die Unterscheidungen zwischen den Ideen und den Sinnendingen. Geht man dem Problem nach, dann findet man überall personifizierende und verdinglichende Formulierungen, die alle dem Choris-
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moseinwand des Aristoteles unterliegen. Man sagt: die Naturgesetze beherrschen die Bewegungen der Atome. Dies ist aber doch eine Personifikation, denn der Herrscher hat als ein Mensch die Beherrschten als die anderen Menschen unter sich. Sagt man: die Naturgesetze stellen die Bewegungen der Atome dar, so handelt es sich auch hier wieder um ein verfängliches Bild. Ein Schauspieler stellt Heinrich den Vierten dar. Wo sind aber in der Welt des mechanischen Materialismus der Darsteller und die Dargestellten? Sagt man: die Naturgesetze beschreiben die Bewegungen der Atome, so ist es auch nicht viel besser. Ich spreche auf der Straße einen anderen an, und der Angesprochene beschreibt mir den Weg zum Bahnhof. Was aber sind die Naturgesetze, daß sie etwas in diesem Sinne beschreiben können? Es sind übrigens gerade die Vertreter des mechanischen Materialismus, die gern in personifizierenden Wendungen sprechen. Sie sprechen gern von der Majestät der Naturgesetze. Was ist hier Majestät? Ist es die Majestät Gottes? Eine solche Auffassung würden die Vertreter des mechanischen Materialismus entrüstet zurückweisen. Ist es also die Majestät eines großen Herrschers? Dann aber sind die Naturgesetze im strikten Sinne personifiziert. Die Vertreter des mechanischen Materialismus sind hier offenbar in derselben Lage wie Platon. Beide wollen einen Unterschied machen, einen Unterschied zwischen den Ideen und den Sinnendingen, einen Unterschied zwischen den Atomen und den Naturgesetzen. Unser Denken und unsere Sprache aber geben eine solche Unterscheidung ohne anschauliche Vorstellungen, und das heißt im allgemeinen ohne räumliche Vorstellungen, nicht her. Man könnte zwar auf den bloßen Begriff der Verschiedenheit zurückgehen, aber auch hier muß offenbleiben, ob nicht auch im Begriff der Verschiedenheit ein anschauliches, vielleicht sogar ein räumliches Moment steckt, und es muß offenbleiben, ob dies anschauliche Moment gänzlich aufgehoben werden kann. Blickt man von hier aus auf den Chorismoseinwand des Aristoteles zurück, dann enthält dieser Einwand zugleich ein positives und ein negatives Moment. Das positive Moment deckt die Schwierigkeiten einer Unterscheidung zwischen den Ideen und den Sinnendingen auf, indem aufgedeckt wird, daß in diesen Unterscheidungen räumliche Vorstellungen enthalten sind. Die Bedeutung dieses Einwandes wird auch dadurch nicht verringert, daß Platon selbst das Problem schon
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gesehen hat. Der ausdrückliche Hinweis des Parmenides auf das Choris zwischen den Ideen und den Sinnendingen kann nur in diesem Sinne verstanden werden. Es bleibt aber das Verdienst des Aristoteles, die Frage in aller Form aufgegriffen zu haben. Das negative Moment der Aristotelischen Kritik liegt darin, daß Aristoteles vermutlich der Meinung war, hier liege ein restlos lösbares Problem vor. Aristoteles ist, wie es scheint, davon ausgegangen, daß man dies räumliche Moment der Unterscheidung zwischen den Ideen und den Sinnendingen in einer kritischen Analyse herausarbeiten müsse, um es dann gänzlich auszuschalten. Dann waren seiner Meinung nach die Aporien des Chorismos beseitigt. Dies würde insbesondere bedeuten, daß die aus dieser kritischen Analyse herausgewachsene eigene Aristotelische Lösung aporienfrei und endgültig ist. Wir werden in der Folge die Frage auf werfen, ob die Aristotelische Lösung aporienfrei ist. Daß sie die endgültige Lösung ist, darauf deutet nichts in der Geschichte der Philosophie hin. Auch im zweiten Grundansatz der Aristotelischen Ideenkritik treten sachliche Schwierigkeiten auf. Aristoteles hat die Frage nach der Reichweite der für die Ideenlehre geltend gemachten Begründungen aufgeworfen. Was beweisen die für die Existenz der Ideen vorgebrachten Beweise? Beweisen sie etwa zuviel? Diese Beweise beruhen auf der Existenz der Wissenschaften und auf der Existenz des Allgemeinen. Wo es Wissenschaften gibt, da muß es auch Ideen geben, und wo es Allgemeines gibt, da muß es auch Ideen geben, so sagen diese Beweise. Dann aber, so sagt Aristoteles, muß es Ideen von allem geben, wovon es Wissenschaften gibt, muß es Ideen von allem geben, wovon es ein Allgemeines gibt. Nun gibt es sowohl von den relativen Begriffen als auch von den Negationen wissenschaftliche Erkenntnisse und Allgemeinbegriffe. Also muß es auch Ideen des Relativen und des Negativen geben, dies aber wollen die Vertreter der Ideenlehre nicht gelten lassen. Also kann an den Beweisen für die Existenz der Ideen irgend etwas nicht stimmen.8 In diesem Gedankengang ist bis jetzt unverständlich geblieben, was Aristoteles meint, wenn er sagt, daß die Vertreter der Ideenlehre von den Relationen keine Ideen gelten lassen wollen. Ganz im Gegenteil spielen Relationsbegriffe in der Ideenlehre eine große Rolle. Im Phaidon wird die Ideenlehre an Hand der Idee der Gleichheit eingeführt.9
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Bei den fünf obersten Begriffen des Sophistes wird die Verschiedenheit ausdrücklich genannt.10 Auch in der Aufzählung der Ideen im Parmenides wird die Gleichheit ausdrücklich genannt.11 Ich vermag keine befriedigende Interpretation dieser Aristotelischen Behauptung vorzuschlagen und finde auch bei den Interpreten keine befriedigende Antwort. Eine große Bedeutung hat dagegen das Problem der Negationen. Wir sind bei der Diskussion der Kantischen Logik auf dies Problem schon eingegangen. Wie wir damals schon sahen, hängt das Problem an der beliebigen Iterierbarkeit der Negationen. Läßt man überhaupt für eine Negation eine Idee zu, so wird offenbar für jede folgende Negation, also für eine unendliche Kette von Negationen an jeder Stelle eine Idee notwendig. Dies Problem bedrückt jede Ideenlehre, und, soviel ich weiß, hat bis jetzt nur Bolzano die schon erwähnte Konsequenz gewagt, allen negativen Begriffen und allen falschen Aussagen ein Ansichsein zuzuschreiben. Platon hat das Problem sehr wohl gesehen. In der Durchführung der Ideenlehre selbst gibt es in aller Regel Ideen nur von positiven Begriffen, man braucht nur an die große Ideentrias des Schönen, des Guten und des Gerechten zu denken. Im ersten Teil des Parmenides hat Platon dann das Problem zur Diskussion gestellt. Dort wird die Frage gestellt, wovon es Ideen gibt. Als erste Gruppe werden logisch-mathematische Ideen genannt, das Gleiche, das Eine, das Viele. Als zweite Gruppe werden die ethisch-ästhetischen Ideen genannt, das Gerechte, das Schöne und das Gute. Als dritte Gruppe werden biologische Ideen genannt, die im Phaidon und in der Politeia noch keine Rolle spielen, die Idee des Menschen, die Idee des Feuers, die Idee des Wassers. Schließlich wird die Frage aufgeworfen, ob es auch von schlechten und geringen Dingen eine Idee geben soll, wie vom Haar, vom Schmutz und vom Kot. Sokrates sagt, daß er hier noch zu keiner Entscheidung gekommen sei. Manchmal bejahe er solche Ideen, dann aber lehne er sie ab, weil er fürchte, in einen Abgrund des Geschwätzes zu stürzen. Aber Sokrates hatte dabei schon die Furcht ausgedrückt, ob es sich nicht doch mit allem auf dieselbe Weise verhalte, und Parmenides, der hier auf dem Standpunkt der Ideenlehre steht, sagt voraus, daß Sokrates eines Tages völlig mit der Philosophie vertraut sein wird und daß er nichts von allem diesem verachten wird.12 Nun ist hier zwar nicht ausdrücklich von Negationen die Rede, der Zu-
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sammenhang mit dem Einwand des Aristoteles liegt aber auf der Hand. Man wundert sich freilich, weshalb Aristoteles auf diesen Zusammenhang nicht hingewiesen hat, und dies ist wiederum ein Punkt der merkwürdigen Tatsache, daß der Dialog Parmenides für Aristoteles nicht zu existieren scheint. Daß hier eine systematische Schwierigkeit vorliegt, zeigt sich darin, daß es bei Kant ähnlich liegt. Den Platonischen Existenzbeweisen für die Ideenlehre entsprechen bei Kant die Existenzbeweise für das Kantische Apriori. Auch hier ist die Sachlage dieselbe. Die Kantischen Existenzbeweise für das Apriori, beispielsweise das erste Raumargument, beweisen nicht nur die Apriorität der Kantischen apriorischen Begriffe, sondern sie beweisen, wenn sie genau analysiert werden, die Apriorität jedes Begriffes. Insofern ist der schrankenlose Apriorismus der Deutschen Idealisten eine legitime Konsequenz des Kantischen Beweisganges. Man wird vermuten dürfen, daß ein ähnlicher Sachverhalt von allen Existenzbeweisen gilt, in denen die Existenz von Ideen oder die Existenz eines idealen Seins bewiesen werden soll. In allen Fällen, bis auf sehr wenige wirklich konsequente Denker, dürften die Existenzbeweise mehr beweisen, als sie beweisen sollen. Aristoteles hat also mit seinem Einwand eine tiefgehende Schwäche dieser Beweise aufgezeigt. Der dritte Ansatz der Aristotelischen Kritik an der Ideenlehre handelt vom Problem der Bedeutungsvielheit. Aristoteles sagt am Schluß seiner Auseinandersetzung mit Platon im ersten Buch der Metaphysik ausdrücklich, daß es unmöglich sei, nach den Prinzipien des Seins zu fragen, wenn man nicht die Bedeutungsvielheit der fundamentalen ontologischen Termini erkannt hat.13 Dies gilt insbesondere von der Ousia. Man muß bei dem Terminus Ousia sorgfältig seine mögliche Bedeutungsvielheit prüfen, man muß sich insbesondere fragen, ob Ousia „hier und dort" dasselbe bedeutet.14 Wir haben schon darauf hingewiesen, daß Aristoteles bei der Analyse der Bedeutungsvielheit von Ousia im Buch V auch solche Bedeutungen aufzählt, die er selbst ablehnt, die aber Bedeutungen der Ideenlehre sind, Flächen, Linien und Zahlen. Es besteht also ein innerer Zusammenhang zwischen der Kritik des Aristoteles an der Ideenlehre und seiner Lehre von den Be