Symbolische Deutungskonflikte: Der Streit um Kruzifix und Kopftuch in kulturtheoretischer Perspektive 9783495824122, 9783495490563


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Inhalt
Danksagung
1. Zwei brisante Gerichtsentscheide
1.1 Eine erste Verhältnisbestimmung von Symbol, Kultur und Politik
1.2 Problemstellung und Gang der Untersuchung
1.3 Methodische Grundüberlegungen
1.4 Zum gegenwärtigen Stand der Forschung
Erster Teil: Der zeitgenössische Streit um kulturelle Symbole und seine Hintergründe
2. Die Rahmenbedingungen einer säkularen Kultur
2.1 Kernelemente der neuzeitlichen Moderne
2.2 Glaube und Religion in säkularer Zeit
2.3 Das Recht als moderne Quelle normativer Orientierung
2.4 Zwischen Gesellschaft und Gemeinschaft – der Bereich des Politischen in der Gegenwart
3. »Kruzifix-Beschluss« und »Kopftuch-Urteil« in Deutschland
3.1 Die grundrechtliche Ausgangslage – zum Verhältnis von Kirche und Staat
3.2 Der Rechtsstreit um das »Kruzifix«
3.3 Der Streit um das Kopftuch der Lehramtskandidatin
3.4 Der juristische Streit um zwei religiöse Symbole – ein Zwischenergebnis
Zweiter Teil: Symboltheoretische Zugänge zur Kultur
4. Über das Wechselspiel von Symbol und Kultur
4.1 Zum Symbol und seinen kulturtheoretischen Zuspitzungen
4.2 Der Kulturbegriff und seine symboltheoretischen Explikationen
4.3 Der Mensch als symbolbildendes und kulturschaffendes Wesen
4.4 Kultur als ein System von Zeichen und Symbolen
4.5 Zur kulturellen Bedeutung von Sprache
5. Kultur als Prozess symbolischer Formung
5.1 Die Symboltheorie Ernst Cassirers als eine »Kritik der Kultur«
5.2 Die semiotischen Grundlagen der Philosophie der symbolischen Formen
5.3 Die Philosophie der symbolischen Formen als Philosophie des objektiven Geistes
6. Kultur als sozialer Raum
6.1 Pierre Bourdieus Theorie des Sozialen – oder: von Klassen und Lebensstilen
6.2 Der Kampf ums Kapital
6.3 Symbolische Gewalt und Herrschaft
7. Zur Macht des Symbolischen – Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Denken Ernst Cassirers und Pierre Bourdieus
Gemeinsames Denken in Funktionen und Relationen
Zum Verhältnis von Macht und Freiheit
Dritter Teil: Symbole im Spannungsfeld von Identität und politischer Instrumentalisierung
8. Das Wechselverhältnis von Identität, Kultur und Symbol
8.1 Identitätskonzeptionen in sozialwissenschaftlicher Perspektive
8.2 Individuelle und soziale Identität im Spannungsfeld
8.3 Die identitätsstiftende Kraft der Symbole
9. Symbole und die Gefahr ihrer politischen Instrumentalisierung
9.1 Individualisierungstendenzen im Zeitalter fortschreitender Pluralisierung
9.2 Die Macht der Symbole und die Risiken symbolischer Politik
9.3 Fundamentalismen als konkrete Gefahr und Herausforderung
Vierter Teil: Politisch-philosophische Perspektiven für die Herausforderungen moderner Kulturen
10. Kulturtheoretische Überlegungen zu einer politischen Philosophie im Kontext pluraler Gesellschaften
10.1 Die Begegnung mit dem Anderen in multikulturellen Gesellschaften
10.2 Fremdheit und Differenz in einer globalisierten Welt
10.3 Kultur und Öffentlichkeit
11. Politische Konsequenzen für ein auskömmliches Miteinander in Differenz
11.1 Bürgerliche Eigenverantwortung als politische Tugend
11.2 Der Gedanke der Toleranz
11.3 Gleichheit und Anerkennung als Zielperspektive
12. Abschließende Überlegungen
Literatur
Aufsätze und Monographien
Sammelbände
Beschlüsse, Urteilsprüche und Verordnungen:
Internet:
Personenregister
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Symbolische Deutungskonflikte: Der Streit um Kruzifix und Kopftuch in kulturtheoretischer Perspektive
 9783495824122, 9783495490563

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Kulturphilosophische Studien

Matthias Reichelt

Symbolische Deutungskonflikte Der Streit um Kruzifix und Kopftuch in kulturtheoretischer Perspektive

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495824122

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B

Matthias Reichelt Symbolische Deutungskonflikte

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495824122 .

Kulturphilosophische Studien Band 5

Herausgegeben von Hans-Ulrich Lessing, Kevin Liggieri

Beirat Gerald Hartung, Ernst Wolfgang Orth, Frithjof Rodi, Jörn Rüsen, Gunter Scholtz

https://doi.org/10.5771/9783495824122 .

Matthias Reichelt

Symbolische Deutungskonflikte Der Streit um Kruzifix und Kopftuch in kulturtheoretischer Perspektive

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495824122 .

Matthias Reichelt Contested Interpretations of Symbols The Crucifix and Headscarf Controversy from a Cultural Theory Perspective The present book is about recent legal disputes regarding the Christian symbol of the crucifix and the Islamic headscarf in Germany and investigates the prevalent and fundamental interpretive dimension of these discourses. The contemporary relationship between religion and secular society are the core focus, while Reichelt also attempts to embed this debate in a more general culture-theoretical and socialphilosophical reflection. As is well known the debates about crucifix and headscarf as well as the surrounding discourses on the relationship between culture and religion are not only of particular societal and political import. Both also require a semiotic classification and foundation. The respective cultural-theoretical approaches of Ernst Cassirer and Pierre Bourdieu appear to be specifically suitable tools in this regard. Reichelt specifically carves out the tension-filled interrelationality of symbols and cultural processes, which originates from out of the fundamental interminability of our intellectual formation processes of social reality. This allows Reichelt to point out not only the identity-establishing function of symbols and the danger of their political instrumentalization, but also to credibly argue in favour of the necessity of political virtues (for example, tolerance, equality, acceptance) by means of which semiotic conflicts can be endured and be dealt with politically.

The Author: Matthias Reichelt, born 1980, research fellow at the Chair of Catholic Theology with special focus on Applied Ethics at the Bundeswehr University Munich. Reichelt studied philosophy and political science in Munich; in 2017 he received a PhD at the Munich School of Philosophy; his research focusses on social philosophy, philosophy of culture and religion and applied ethics.

https://doi.org/10.5771/9783495824122 .

Matthias Reichelt Symbolische Deutungskonflikte Der Streit um Kruzifix und Kopftuch in kulturtheoretischer Perspektive Ausgehend von den juristischen Auseinandersetzungen um Kruzifix und Kopftuch im bundesdeutschen Kontext greift das vorliegende Buch grundlegende Deutungsmuster und Konfliktlinien des zeitgenössischen Verhältnisses von Religion und säkularer Gesellschaft auf und versucht diese in übergreifende kulturtheoretische und sozialphilosophische Reflexionen einzubetten. Die Debatten um Kruzifix und Kopftuch und die sie umrahmenden Diskurse zum Verhältnis von Kultur und Religion sind nicht nur von besonderer gesellschaftspolitischer Brisanz, sondern bedürfen auch einer symboltheoretischen Einordnung und Fundierung. Dazu liefern die kulturtheoretischen Ansätze von Ernst Cassirer und Pierre Bourdieu geeignete Instrumente. Mit ihnen lässt sich das spannungsreiche Beziehungsgefüge von Symbolen und kulturellen Prozessen, das sich aus der prinzipiellen Unabschließbarkeit von geistigen Formungsprozessen unserer Wirklichkeit und den in ihr jeweils ausgeprägten kulturellen Ausdrucksformen und inneren Strukturierungslogiken ergibt, deutlich herausarbeiten. Dabei werden nicht nur die identitätsstiftende Funktion von Symbolen und die drohende Gefahr ihrer politischen Instrumentalisierbarkeit sichtbar, sondern auch die praktische Notwendigkeit politischer Tugenden (wie beispielsweise Toleranz, Gleichheit und Anerkennung), mit deren Hilfe Symbolkonflikte letztlich ausgehalten und politisch ausgetragen werden können. Der Autor: Matthias Reichelt, geb. 1980, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Katholische Theologie mit dem Schwerpunkt Angewandte Ethik an der Universität der Bundeswehr München; Studium der Philosophie und der Politikwissenschaft in München; 2017 Promotion an der Hochschule für Philosophie München; Forschungsschwerpunkte: Sozialphilosophie, Religions- und Kulturphilosophie, Angewandte Ethik.

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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2019 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49056-3 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82412-2

https://doi.org/10.5771/9783495824122 .

Inhalt

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

1. Zwei brisante Gerichtsentscheide . . . . . . . 1.1 Eine erste Verhältnisbestimmung von Symbol, Kultur und Politik . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Problemstellung und Gang der Untersuchung . 1.3 Methodische Grundüberlegungen . . . . . . . 1.4 Zum gegenwärtigen Stand der Forschung . . .

. . . . .

13

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Die Rahmenbedingungen einer säkularen Kultur . . . . . Kernelemente der neuzeitlichen Moderne . . . . . . . Glaube und Religion in säkularer Zeit . . . . . . . . . Das Recht als moderne Quelle normativer Orientierung Zwischen Gesellschaft und Gemeinschaft – der Bereich des Politischen in der Gegenwart . . . . .

. . . .

43 47 52 59

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64

3. »Kruzifix-Beschluss« und »Kopftuch-Urteil« in Deutschland 3.1 Die grundrechtliche Ausgangslage – zum Verhältnis von Kirche und Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Der Rechtsstreit um das »Kruzifix« . . . . . . . . . . . 3.3 Der Streit um das Kopftuch der Lehramtskandidatin . . . 3.4 Der juristische Streit um zwei religiöse Symbole – ein Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . .

72

Erster Teil: Der zeitgenössische Streit um religiöse Symbole und seine Hintergründe 2. 2.1 2.2 2.3 2.4

74 78 85 92

7 https://doi.org/10.5771/9783495824122 .

Inhalt

Zweiter Teil: Symboltheoretische Zugänge zur Kultur 4. Über das Wechselspiel von Symbol und Kultur . . . . . 4.1 Zum Symbol und seinen kulturtheoretischen Zuspitzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Der Kulturbegriff und seine symboltheoretischen Explikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Der Mensch als symbolbildendes und kulturschaffendes Wesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Kultur als ein System von Zeichen und Symbolen . . . 4.5 Zur kulturellen Bedeutung von Sprache . . . . . . . .

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. 100 . 109 . 119 . 122 . 127

5. Kultur als Prozess symbolischer Formung . . . . . . . . . 5.1 Die Symboltheorie Ernst Cassirers als eine »Kritik der Kultur« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Die semiotischen Grundlagen der Philosophie der symbolischen Formen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Die Philosophie der symbolischen Formen als Philosophie des objektiven Geistes . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Kultur als sozialer Raum . . . . . . . . 6.1 Pierre Bourdieus Theorie des Sozialen – oder: von Klassen und Lebensstilen . . 6.2 Der Kampf ums Kapital . . . . . . . . 6.3 Symbolische Gewalt und Herrschaft . . 7.

99

131 132 134 137

. . . . . . . . . 141 . . . . . . . . . 142 . . . . . . . . . 148 . . . . . . . . . 153

Zur Macht des Symbolischen – Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Denken Ernst Cassirers und Pierre Bourdieus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

156

Dritter Teil: Symbole im Spannungsfeld von Identität und politischer Instrumentalisierung 8. Das Wechselverhältnis von Identität, Kultur und Symbol . . 8.1 Identitätskonzeptionen in sozialwissenschaftlicher Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 https://doi.org/10.5771/9783495824122 .

163 165

Inhalt

8.2 Individuelle und soziale Identität im Spannungsfeld . . . 8.3 Die identitätsstiftende Kraft der Symbole . . . . . . . . Symbole und die Gefahr ihrer politischen Instrumentalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1 Individualisierungstendenzen im Zeitalter fortschreitender Pluralisierung . . . . . . . . . . . 9.2 Die Macht der Symbole und die Risiken symbolischer Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3 Fundamentalismen als konkrete Gefahr und Herausforderung . . . . . . . . . . . . . . . . . .

170 174

9.

. . 179 . . 181 . . 185 . . 190

Vierter Teil: Politisch-philosophische Perspektiven für die Herausforderungen moderner Kulturen 10.

Kulturtheoretische Überlegungen zu einer politischen Philosophie im Kontext pluraler Gesellschaften . . . . 10.1 Die Begegnung mit dem Anderen in multikulturellen Gesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2 Fremdheit und Differenz in einer globalisierten Welt 10.3 Kultur und Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . .

. . 199 . . 202 . . 206 . . 212

11.

Politische Konsequenzen für ein auskömmliches Miteinander in Differenz . . . . . . . . . . . . . . . . 11.1 Bürgerliche Eigenverantwortung als politische Tugend 11.2 Der Gedanke der Toleranz . . . . . . . . . . . . . . . 11.3 Gleichheit und Anerkennung als Zielperspektive . . . 12.

Abschließende Überlegungen

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. . . . . . . . . . . . . . 238

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenregister

218 222 225 230

246

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267

9 https://doi.org/10.5771/9783495824122 .

Für meine Familie

https://doi.org/10.5771/9783495824122 .

Danksagung

Der vorliegende Text ist die leicht überarbeitete Version meiner im Wintersemester 2017 an der Hochschule für Philosophie München eingereichten Dissertation. Er bündelt den vorläufigen Ertrag einer längst nicht abgeschlossenen Auseinandersetzung mit symboltheoretischen Konzepten, deren Bezugsverhältnis zu Kultur, Politik und Religion sowie der Frage nach den daraus ableitbaren politisch-philosophischen Konsequenzen. Damit dieser Text entstehen konnte, bedurfte es neben dem eigenen Forschungsinteresse vor allem auch des vielfältigen Zuspruchs durch Menschen, die dieses Unterfangen stets als lohnenswert erachtet und mich darin auch in widrigen Phasen unterstützt haben. Einigen dieser Personen möchte ich dafür an dieser Stelle ausdrücklich danken: Aus akademischer Sicht sind dies zuvorderst die ehemaligen Mitarbeiter des Instituts für Gesellschaftspolitik (mittlerweile: Zentrum für Globale Fragen) der Hochschule für Philosophie München. In herausgehobener Weise danke ich hier natürlich Prof. Dr. Johannes Müller SJ, der die Arbeit als vertrauensvoller und über die Jahre immer wieder impulsgebender Doktorvater ermutigend betreut und begleitet hat. Großen Dank schulde ich auch Prof. Dr. Michael Reder, der mir im persönlichen Gespräch stets Zutrauen in die eigenen Gedanken und Überlegungen vermittelt und somit das Projekt als eine Art Mentor mitbegleitet hat. Den beruflichen Rahmen für die hier vorliegenden Ausarbeitungen bot mir meine Beschäftigung als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Katholische Theologie mit dem Schwerpunkt Angewandte Ethik am Institut für Theologie und Ethik der Universität der Bundeswehr München. Hier bin ich vor allem meinem Chef, Prof. Dr. Thomas Bohrmann, außerordentlich dankbar, da er mir für meine Forschungen immer wieder Freiräume gewährt und überdies in allen menschlichen Belangen viel Verständnis aufgebracht hat. Inspirierende Gespräche durfte ich auch mit Prof. Dr. Friedrich Loh11 https://doi.org/10.5771/9783495824122 .

Danksagung

mann und Prof. Dr. Gottfried Küenzlen führen, die die Schwesterprofessur in Evangelischer Theologie desselben Instituts innehaben bzw. innehatten. Meinem Kollegen, PD Dr. Jochen Bohn, der mir nicht nur ein unverzichtbarer Dialogpartner, sondern vor allem Freund ist, schulde ich Dank, der über das hier Sagbare weit hinausgeht. Nur schwer in Worte zu fassen ist der Dank, den ich gegenüber meiner Familie empfinde. Er richtet sich zum einen an meine Eltern, die nicht nur meine Suche nach Erkenntnis von früh an unterstützt, sondern stets auch den dafür notwendigen sicheren Rückhalt geboten haben. Zum anderen danke ich meiner Frau und unseren beiden Söhnen. Ihre Liebe und Zuneigung war über die Jahre hinweg ein Garant dafür, die wesentlichen Dinge des Lebens nie aus den Augen zu verlieren. Von 2009 bis 2011 hatte die Hanns-Seidel-Stiftung mein Dissertationsprojekt in ihre ideelle Förderung aufgenommen. Für die damit signalisierte Bereitschaft zur Unterstützung bin ich sehr dankbar. Mit Blick auf die vorliegende Publikation danke ich den Reihenherausgebern Prof. Dr. Volker Steenblock (†) und Prof. Dr. HansUlrich Lessing für die sehr freundliche und wohlwollende Aufnahme in die Reihe »Kulturphilosophische Studien«. Zudem schulde ich der Universität der Bundeswehr München Dank für die Bereitschaft, diese Publikation mitzufinanzieren. Dem Verlagsleiter, Lukas Trabert, möchte ich herzlich für seine Unterstützung bei der konkreten Umsetzung des Publikationsvorhabens danken.

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1. Zwei brisante Gerichtsentscheide

1986 wird Elina Seler in der Grundschule Fischbach, Oberpfalz, eingeschult. Ihre Eltern sind Anhänger der anthroposophischen Lehre nach Rudolf Steiner und erziehen Elina und ihre Geschwister in diesem Sinne. 1 Als das Mädchen eines Tages weinend nach Hause kommt, weil sie »auf einen 80 Zentimeter großen, nackten, blutüberströmten, toten Mann schauen [musste], der direkt vor ihrer Nase hing« 2, verlangen die Eheleute Seler von der Schulleitung die Abnahme des Kruzifixes. Diesem Wunsch wird seitens der Grundschulleitung zunächst auch entsprochen. Doch mit jedem neuen Klassenwechsel und der Einschulung der jüngeren Geschwister von Elina keimt der Zwist um die Kruzifixe erneut auf, so dass sich die Familie Seler im Februar 1991 dazu veranlasst sieht, Klage beim Verwaltungsgericht in Regensburg einzureichen. Nach einem mehrjährigen Streit durch sämtliche Instanzen der Verwaltungsgerichtsbarkeit wird der Klage von Familie Seler von Seiten des Bundesverfassungsgerichts am 16. Mai 1995 schließlich stattgegeben. Das Gericht kommt dabei mehrheitlich zu dem Schluss, dass die angefochtenen Beschlüsse die Beschwerdeführer in ihren Grundrechten auf Glaubensfreiheit (Art. 4 Abs. 1) und auf Schutz von Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 2 Satz 1) verletzen. 3

Die Informationen zu den Lebensumständen der Familie Seler sind den Prozessakten entnommen und dürfen daher als zutreffend angesehen werden. Vgl. Bundesverfassungsgericht (1996): Beschluss des Ersten Senats vom 16. Mai 1995 (Az.: 1 BvR 1087/91), in: Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts (Hrsg.): Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, 93. Bd., Tübingen, 1–37; hier: 2. Nachfolgend zitiert als BVerfGE 93. 2 Aussage von Ernst Seler, zitiert nach: o. V. (1995): »Das Kreuz ist der Nerv«, in: Der SPIEGEL (Nr. 33), 22–32; hier: 28. Online verfügbar unter: https://bit.ly/2ACNnnG (Stand: 11. 01. 2019). 3 Vgl. BVerfGE 93, 1. 1

13 https://doi.org/10.5771/9783495824122 .

Zwei brisante Gerichtsentscheide

Drei Jahre später, im Juli 1998, soll die baden-württembergische Lehramtskandidatin Fereshta Ludin in den staatlichen Schuldienst an Grund- und Hauptschulen übernommen werden. Sie ist gebürtige Afghanin und besitzt seit 1995 die deutsche Staatsangehörigkeit. Der Zugang zum Staatsdienst nach dem Referendariat bleibt ihr jedoch verwehrt. Der Grund: Frau Ludin möchte ihr Kopftuch, das sie als Zeichen ihrer Persönlichkeit und religiösen Überzeugung versteht, auch im Schulunterricht tragen. Damit aber verstößt sie nach Ansicht des Oberschulamts Stuttgart, das im Kopftuch nicht nur ein religiöses sondern auch ein politisches Symbol sieht, gegen das staatliche Neutralitätsgebot und wird »wegen mangelnder persönlicher Eignung« abgelehnt 4. Fereshta Ludin fühlt sich durch diese Entscheidung in ihrer Religionsfreiheit beschnitten und klagt. Erfolg hat sie damit allerdings erst vor dem Bundesverfassungsgericht, das ihrer Beschwerde nach mehreren vorinstanzlichen Negativbescheiden stattgibt. 5 Nach Auffassung der Mehrheit der Karlsruher Richter verstoßen die vorangegangenen Entscheidungen gegen das Leistungsprinzip (Art. 33 Abs. 2 GG) und das Recht auf freie Religionsausübung (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) sowie den besonderen Gleichheitssatz (Art. 33 Abs. 3 GG). 6 Das Echo auf die beiden Verfahren ist beachtlich: Der so genannte Streit um das Kruzifix veranlasst im September 1995 rund 30.000 Menschen, sich auf dem Münchener Odeonsplatz zu versammeln. Sie halten Kruzifixe und Plakate in die Höhe und skandieren Sätze wie: »Das Kreuz bleibt in unseren Schulen«. Gemeinsam mit dem bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber wollen sie ihren Protest gegenüber dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 16. Mai zum Ausdruck bringen. Denn was dieser Beschluss für Bayern bedeutet, scheint allen intuitiv klar: Die Karlsruher Richter wollen das Kreuz aus bayerischen Klassenzimmern verbannen und somit an den Kernbestand der christlichen Tradition im Freistaat rühren. Dagegen gilt es, Stellung zu beziehen und im Schulterschluss mit Bundesverfassungsgericht (2004): Urteil des Zweiten Senats vom 24. September 2003 (Az.: 2 BvR 1436/02), in: Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts (Hrsg.): Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, 108. Bd., Tübingen, 282–340; hier: 284. Nachfolgend zitiert als BVerfGE 108. 5 Einen ebenso informativen wie anschaulichen Überblick über die juristische Auseinandersetzung bietet Oestreich, Heide (2004): Der Kopftuch-Streit. Das Abendland und ein Quadratmeter Islam, Frankfurt a. M., 35–63. 6 Vgl. BVerfGE 108, 283. 4

14 https://doi.org/10.5771/9783495824122 .

Eine erste Verhältnisbestimmung von Symbol, Kultur und Politik

den Vertretern der Landesregierung die eigene Version von der Heimat zu verteidigen, zu der, wie Edmund Stoiber auf dem Odeonsplatz ausruft, »die Kreuze gehören wie die Berge«. 7 Etwas weniger öffentlichkeitswirksam, doch in der Sache nicht minder kritisch, fallen auch die Reaktionen auf das Kopftuch-Urteil des Jahres 2003 aus. Alice Schwarzer etwa, als meinungsstarke Frontfrau der Emanzipationsbewegung und Emma-Herausgeberin öffentlich bekannt und medial präsent, warnt schon im Vorfeld des Urteilsspruches aus Karlsruhe in einem SPIEGEL-Artikel vor zu viel »gönnerhafte[r] Pseudotoleranz« im Hinblick auf das Kopftuch. 8 Ihrer Ansicht nach sind die religiösen Motive für das Tragen eines Schleiers vorgeschoben, denn das vermeintliche »Kopftuchgebot« gebe es erst »seit 1979, seit der Gründung des ›Gottesstaates‹ im Iran«. 9 Entsprechend engagiert ermahnt sie den Zweiten Senat in Karlsruhe, namentlich dessen Vorsitzenden, Winfried Hassemer, nicht »naiv« zu sein und das Kopftuch endlich als das zu begreifen, was es ihrer Ansicht nach ist, ein »Symbol für Separierung« und eine »Flagge der islamistischen Kreuzzügler«. 10

1.1 Eine erste Verhältnisbestimmung von Symbol, Kultur und Politik Der Kruzifix-Beschluss und das Kopftuch-Urteil 11 haben viel öffentliche Aufmerksamkeit erfahren. Das deutet daraufhin, dass es in beiden Verfahren nicht nur um die richtige Interpretation zweier Symbole ging, sondern vielmehr um grundlegende Herausforderungen des gegenwärtigen gesellschaftlichen Zusammenlebens. Dazu zählt beispielsweise die Frage, ob eine freiheitlich-demokratische Grundordnung angesichts der wachsenden weltanschaulichen Pluralität Zitiert nach Prantl, Heribert (2015): 20 Jahre Kruzifix-Urteil – Aufstand der Aufgeregten, in: Süddeutsche Zeitung vom 19. August 2015. Online verfügbar unter: https://bit.ly/2Fuq7eG (Stand: 11. 01. 2019). 8 Schwarzer, Alice (2003): Die Machtprobe, in: Der SPIEGEL (Nr. 26), 88–90; hier: 90. Online verfügbar unter: https://bit.ly/2RD5HqD (Stand: 11. 01. 2019). 9 Schwarzer 2003, 88. 10 Schwarzer 2003, 90. 11 Wann immer nachfolgend von Verfahren, Rechtsstreitigkeiten, Auseinandersetzungen, Beschlüssen und Urteilen im Zusammenhang mit Kruzifix und Kopftuch die Rede ist, wird auf die beiden einführend genannten Rechtsstreitigkeiten der Familie Seler und von Frau Fereshta Ludin Bezug genommen. 7

15 https://doi.org/10.5771/9783495824122 .

Zwei brisante Gerichtsentscheide

noch jenes identitätsstiftende Band zur Verfügung stellen kann, das für moderne Gesellschaften den gemeinschaftlichen Zusammenhalt verbürgt, oder nicht. Dem großen Vertrauen des Gerichts in die entsprechenden Kapazitäten der Verfassung, stehen dabei Zweifel der Bevölkerung gegenüber, welche die dauerhafte Bindungsfähigkeit dieser Prinzipien offenbar kritisch hinterfragt. In diesem Sinne haben beide Verfahren also nicht nur einzelne Symbole zum Gegenstand, sondern gewinnen mit Blick auf die genannten Herausforderungen selbst eine symbolische Dimension. Sie symbolisieren mithin einen Grundkonflikt moderner demokratischer Staatlichkeit, der in dem von ErnstWolfgang Böckenförde formulierten Diktum: »Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann« 12 seinen bisher pointiertesten Ausdruck gefunden hat. Damit geben die Auseinandersetzungen um Kruzifix und Kopftuch einen interessanten Einblick in die kulturtheoretischen und sozialphilosophischen Herausforderungen, die sich im Wechselspiel von Kultur, Religion und moderner Staatlichkeit heute immer wieder stellen. Denn während die freiheitsverbürgenden Normen rechtstaatlicher Demokratien vielfältiges kulturelles und religiöses Leben ermöglichen und damit in gewisser Weise auch ihre eigene Legitimation begründen, entfalten sich gerade in den einzelnen Kulturen und Religionen zeitgleich immer wieder auch Selbstbehauptungskräfte, die dieser freiheitlichen Ermöglichung von Pluralität entgegentreten wollen. Diese Selbstbehauptungskräfte sind das Ergebnis einer starken orientierungsstiftenden Kraft von Kultur und Religion, die gerade in Zeiten eines scheinbar unaufhaltsamen Wandels Halt und Sicherheit versprechen. Ob solche Beharrungsversuche allerdings der zeitgenössischen Erkenntnis Stand zu halten vermögen, dass auch kulturelle oder religiöse Gewissheiten immer kontingent sind, bleibt eine offene und diskussionswürdige Frage. Die unmittelbare Bezugnahme auf die Streitigkeiten um Kruzifix und Kopftuch und die ersten Hinweise zu deren kultur- und sozialphilosophischer Interpretation legen zunächst eine grundlegende Auseinandersetzung mit dem Symbol und dem Symbolbildungsprozess an sich nahe. Dabei wird mit Blick auf Kreuz 13 und Kopftuch Böckenförde, (1967/2006): Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders.: Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt a. M., 92–114; hier: 112. 13 Wenn hier oder später vom Kreuz die Rede ist, ist das Kruzifix als eine spezifische 12

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Eine erste Verhältnisbestimmung von Symbol, Kultur und Politik

rasch deutlich, dass es sich hierbei nicht nur um zwei alltägliche und somit relativ beliebige Gegenstände handelt, sondern um zwei symbolische Bedeutungsträger besonderer Art. Denn anders als gewöhnliche Zeichen (wie etwa ein Verkehrsschild) transportieren sie einen Sinngehalt, der über ihre bloße Gegenständlichkeit weit hinausweist. Menschen, die ein Kruzifix betrachten, werden an die christliche Religion und den Opfertod Jesu Christi erinnert, und andere, die einer jungen Frau mit einem orientalischen Schleier 14 begegnen, denken an den Islam und seine religiösen Gebote. Diese Phänomene sind aufgrund der bloßen Materialität der beiden Gegenstände nicht zu erklären. Dennoch ist mit Verweis auf die religiöse Dimension der zwei Symbole das Symbolische an sich noch längst nicht erschöpft. Denn bei Symbolen handelt es sich nicht nur um »kulturkontextuelle Wahrzeichen und Sinnbilder« 15, sondern – sehr allgemein gesprochen – auch um Ausdrucksmittel unseres menschlichen Geistes. Ein derart weiter Symbolbegriff umfasst nicht nur Zeichen, sondern sämtliche »Gegenstände, Handlungen, Ereignisse, Eigenschaften oder Beziehungen, die Ausdrucksmittel einer Vorstellung sind, wobei diese Vorstellung die ›Bedeutung‹ des Symbols ist.« 16 Zum Symbol taugt also nahezu alles: von der Kreiszahl Pi, über das Familienfoto vom letzten Sommerurlaub, bis hin zur winkenden Abschiedsgeste auf dem Weg zur Arbeit. Entscheidend ist allein, dass bei einem Symbol ein geistiger Bedeutungsgehalt auf ein wahrnehmbares Medium übertragen

Kreuzesdarstellung mit Korpus immer mitgemeint. Es gilt aber darauf hinzuweisen, dass die Begriffe Kreuz und Kruzifix nicht einfach gleichbedeutend sind und sich der Fall der Familie Seler ausdrücklich an einer Kruzifix-Darstellung entzündet hat, weshalb in der Folge immer von Kruzifix-Streit oder Kruzifix-Beschluss die Rede war. Zur christlichen Kreuzessymbolik allgemein vgl. Forstner, Dorothea (51986): Die Welt der christlichen Symbole, Innsbruck/Wien. 14 Im Verlauf der Arbeit werden die Begriffe Schleier und Kopftuch synonym verwendet. Dies entspricht einer gängigen Praxis in den Publikationen zum Thema. Allerdings dürfte aus muslimischer Perspektive die Bezeichnung Schleier den Diskussionsgegenstand besser treffen, da hier der religiös konnotierte Akt der Verschleierung, der durch das Tragen des Tuches oftmals intendiert wird, auch begrifflich besser fassbar ist. Vgl. zur Bedeutung des Schleiers Knieps, Claudia (21999): Geschichte der Verschleierung der Frau im Islam, Würzburg (Kap. III u. IX). 15 Plümacher; Martina (2010): Symbol/symbolische Form, in: Sandkühler, Hans J. (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie. Bd. 3, Q – Z, Hamburg, 2657–2661; hier: 2658. 16 Geertz, Clifford (1987): Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt a. M., 49.

17 https://doi.org/10.5771/9783495824122 .

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wird, das für den Interpreten durch seine Anzeigefunktion einen spezifischen Sinngehalt offenbart. 17 Eine derart offene Definition stiftet nicht selten Konfusion und wirft die Frage auf, wie unter diesen Umständen der Sinngehalt einzelner Symbole überhaupt festgelegt werden kann bzw. wodurch Symbole ihre jeweilige Bedeutung erhalten. Dies zu bestimmen fällt insbesondere deshalb schwer, da sich im Prozess der Symbolbildung zwei menschliche Erfahrungswelten und Wirkbereiche kreuzen, die, obwohl sie faktisch miteinander verwoben sind, häufig doch als voneinander getrennte Sphären wahrgenommen werden: die private Welt des Geistes und die öffentliche Welt des Sozialen. 18 So erscheint auf der subjektiven Ebene jeder geistige Formgebungsprozess der Wirklichkeit zunächst als ein individueller mentaler Akt, der offenbar nur aus der Perspektive der Ersten Person eindeutig entschlüsselt werden kann. Tatsächlich jedoch findet dieser Prozess gar nicht in einem von der Außenwelt abgeschotteten subjektiven Reich der Ideen statt, sondern im intersubjektiven Kontext einer Kultur, in der sich mannigfache Symbolsysteme zu einem komplexen »Bedeutungsgewebe« 19 verknüpfen und auf jedes einzelne Individuum wirken. Im Umgang mit Symbolen bleibt also kein Mensch nur auf sich allein bezogen, sondern greift auf eine Vielzahl bereits vorhandener Ausdrucksformen und Codes zurück, die er sich im Rahmen seiner Sozialisation bewusst oder unbewusst aneignet und mit deren Hilfe er dann zu einer je eigenständigen Wirklichkeitsinterpretation findet. Diese Fähigkeit zur Symbolbildung ist für den Menschen nicht nur dahingehend konstitutiv, dass sie ihm auf geistiger Ebene die Etablierung eines Selbstbewusstseins ermöglicht. Sie ist auch der Garant dafür, dass der Mensch mit anderen Individuen Kontakt aufnehmen, gemeinsame Absichten verfolgen oder Gefühle austauschen und somit eine eigene Identität ausbilden kann. 20 Die Welt der Symbole ist also hinreichend komplex, um auch mit Blick auf die geschilderten Auseinandersetzungen Verwirrung zu stiften und Fragen aufzuwerfen. Dies gilt umso mehr, als Kruzifix Plümacher 2010, 2657/2658. Grundlegendes zu dieser Problematik findet sich bspw. bei Searle, John R. (2011): Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Zur Ontologie sozialer Tatsachen, Berlin. 19 Geertz 1987, 9. 20 Vgl. Tomasello, Michael (2011): Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation, Frankfurt a. M., 120. 17 18

18 https://doi.org/10.5771/9783495824122 .

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und Kopftuch auf Religionen verweisen und damit sowohl die Ebene individueller Glaubensüberzeugungen berühren, als auch die gesellschaftliche Dimension öffentlicher Religiosität. In beiden Bereichen ist Religion eng an die Identitätskonzeptionen der Menschen geknüpft. Auf individueller Ebene kommt der Religion – soziologisch gesprochen – eine Entlastungsfunktion für die jeweilige Kontingenzerfahrung zu, während auf kollektiver Ebene die eingelebten religiösen Norm- und Wertkodizes eine starke sozialintegrative Kraft entfalten. 21 In den beiden Kontroversen wird diese identitätsstiftende Funktion von Religion in unterschiedlichen Formen und Qualitäten greifbar und Gegenstand lebhafter Diskussionen. Während beispielsweise der Schleier für die muslimische Lehramtskandidatin ein Symbol ihrer Religiosität ist und dadurch eine identitätsstabilisierende Kraft entfaltet, die durch ein Verbot in ihrem Beruf eingeschränkt würde, wirkt das Tragen des Kopftuchs im Unterreicht an einer deutschen Schule aus Sicht der Mehrheitsgesellschaft eher identitätsirritierend und steht deshalb in Frage. Ähnlich verhält es sich im Fall des Kreuzes an bayerischen Schulen, wobei hier die Vorzeichen gleichsam vertauscht sind: Das aus Mehrheitssicht für den christlich geprägten Kulturraum Bayern identitätsstabilisierende Kruzifix soll aufgrund seiner möglicherweise identitätsstörenden Eigenschaft für Nicht-Christen nicht länger als obligatorischer Wandschmuck in bayerischen Klassenzimmern angebracht werden. In diesem Zusammenhang zeigt sich sehr deutlich, dass die Frage nach dem Bedeutungsgehalt von Symbolen keine rein akademische ist, sondern auch eine soziopolitische, in der es sowohl um Macht und Herrschaftsstrukturen als auch um gesellschaftliche Transformationsprozesse geht. Entsprechend brisant und relevant sind deshalb auch Fragen wie zum Beispiel: Wer legt eigentlich die Bedeutung von Kruzifix und Schleier fest? Liegt hier die Definitionshoheit immer bei der Mehrheitsgesellschaft oder muss diese gegebenenfalls auch Interpretationen einer Minderheit berücksichtigen oder sogar schützen? Welchen Einfluss nimmt der soziale Wandel auf traditionelle Deutungsmuster von Symbolen und was hat dies zur Folge? Lässt sich beispielsweise eine rein religiöse Deutung des Kreuzes auch dann noch verteidigen, wenn es in einer säkularen Lebenswelt vor

Vgl. Wippermann, Carsten (1998): Religion, Identität und Lebensführung. Typische Konfigurationen in der fortgeschrittenen Moderne, Opladen, 14.

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allem als »Dekoration oder schmückendes Beiwerk« 22 verstanden wird? Und trifft es wirklich zu, dass das Kopftuch junger Muslimas in Deutschland lediglich Ausdruck traditional-patriarchaler Gesellschaftsstrukturen ist und nicht doch auch Zeichen einer sich schrittweise emanzipierenden zweiten und dritten weiblichen Einwanderergeneration 23? Solche Fragen verlangen nach Klärung, und das wiederum heißt: nach Aufklärung über die Bedeutung von Symbolen für Mensch und Kultur. Zudem stellen sie die vorliegende Untersuchung in den Kontext kulturphilosophischer Reflexionen über den Menschen als kulturschaffendem und -gestaltendem Wesen. Dies beinhaltet immer auch ein Nachdenken über die moralischen Implikationen menschlichen Wirkens und die Verantwortung, die dem Einzelnen daraus im Hinblick auf die Gestaltung des gesellschaftlichen Zusammenlebens erwächst. Dennoch ist eine solche kulturphilosophische Betrachtungsweise nicht selbstverständlich. Sie setzt vielmehr voraus, dass man weder das Kruzifix noch das Kopftuch nur als »konkrete« Symbole fasst, sondern auch die mit den gesellschaftspolitischen Prozessen einhergehenden »symbolischen Dimensionen sozialer Wirklichkeit im Allgemeinen« wahrnimmt und als fortwährende Herausforderung begreift. 24 Damit steht diese Perspektive quer zu Erwartungen einer von technisch-rationalistischen Prämissen geprägten und durchdrungenen Gegenwartskultur, die das Symbolische vor allem in seiner Zeichenfunktion wahrzunehmen gewohnt ist. Dies gilt insbesondere für die Natur- und technischen Wissenschaften, die Symbole zwar auch als über sich selbst hinausweisende Bedeutungsträger versteNothelle-Wildfeuer, Ursula (2013): Ärgerlich konkret. Das Kreuz in der Öffentlichkeit, in: Knop, Julia/dies. (Hrsg.): Kreuz-Zeichen. Zwischen Hoffnung, Unverständnis und Empörung, Ostfildern, 13–29; hier: 24. Ursula Nothelle-Wildfeuer nimmt zu einer solchen Wahrnehmung des Kreuzes freilich kritisch Stellung. 23 Diesen Schluss legen zumindest die nachfolgend genannten empirischen Studien nahe; vgl. Klinkhammer, Gritt (2000): Moderne Formen islamischer Lebensführung. Eine qualitativ-empirische Untersuchung zur Religiosität sunnitisch geprägter Frauen der zweiten Generation in Deutschland, Marburg; Nökel, Sigrid (2002): Die Töchter der Gastarbeiter und der Islam. Zur Soziologie alltagsweltlicher Anerkennungspolitiken. Eine Fallstudie, Bielefeld; Şahin, Reyhan (2014): Die Bedeutung des muslimischen Kopftuchs. Eine kleidungssemiotische Untersuchung Kopftuch tragender Musliminnen in der Bundesrepublik Deutschland, Münster. 24 Beetz, Michael (2014): Kraft der Symbole. Wie wir uns von der Gesellschaft leiten lassen und dabei die Wirklichkeit selbst mitgestalten, Konstanz/München, 7. 22

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hen, 25 damit jedoch vor allem mathematische Formeln und Algorithmen meinen. Ähnliches trifft darüber hinaus auch auf das gegenwärtige Medien- und Informationszeitalter zu, das seine Aufmerksamkeit vor allem der Welt der Bilder widmet, die uns prägen. 26 Hier wird das Symbolische auf eine reine Abbildfunktion mit einem Höchstmaß an Unmittelbarkeit verkürzt, so dass die tieferliegende Symbolfunktion der täglich wachsenden Flut von Bildern und Informationen mehr und mehr in den Hintergrund tritt. Die hier angebotene kulturtheoretische und sozialphilosophische Deutung der beiden Verfahren verlangt indes einen sehr offenen und möglichst unvoreingenommenen Blick auf das Wesen von Symbolen oder Symbolsystemen. Kopftuch und Kruzifix rücken deshalb auch nicht als bloße Kulturtatsachen in den Blick, die es nur richtig zu interpretieren gilt, sondern vielmehr als Sinnbilder für die häufig undurchsichtigen Verstrickungen, die sich durch die unterschiedlichen Symbolsysteme (etwa der Kunst, der Religion, der Sprache oder des Rechts) und ihre wechselseitigen Beziehungsstrukturen ergeben. Dabei ist zum einen – in Anlehnung an Ernst Cassirer – der Gedanke leitend, dass der Mensch ein »animal symbolicum« 27 ist, das die ihn umgebende Wirklichkeit selbst gestaltend (also kulturschaffend) hervorbringt. Darüber hinaus ziehen die vorliegenden Darstellungen aber auch ins Kalkül, dass der symbolbildende Mensch von Kultur geprägt und beeinflusst wird. Dies hat vor allem damit zu tun, dass die verschiedenen Symbolsysteme, mit deren Hilfe er die ihn umgebende Wirklichkeit zu strukturieren und damit für sich begreiflich zu machen versucht, systematische Ordnungen ausbilden, die einer praktisch kaum beeinflussbaren Eigengesetzlichkeit und Logik unterliegen, die es schlicht zu erlernen und der es sich – wenigstens bis zu einem gewissen Grad – einfach anzupassen gilt. Damit wird Kultur zu einer ordnenden Kraft, die den Menschen Sinn und Orientierung zu vermitteln vermag, die darüber hinaus aber auch imstande ist, Ge-

Vgl. Plümacher, Martina (2010): Symbol/symbolische Form, in: Sandkühler, Hans J. (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie. Bd. 3, Q – Z, Hamburg, 2657–2661; hier: 2657/2658. 26 Vgl. diesbezüglich auch die kulturwissenschaftliche These vom so genannten iconic turn; vorgestellt u. a. bei Bachmann-Medick, Doris (52014): Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek b. H., 330–381. 27 Cassirer, Ernst (1944/22007): Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, Hamburg, 51. 25

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walt 28 bzw. Zwang 29 auszuüben. Eine Theorie, die dies vor allem im gesellschaftlichen Kontext zu veranschaulichen vermag, ist die Sozialtheorie Pierre Bourdieus, die damit neben Ernst Cassirers Symbolphilosophie die zweite symboltheoretische Säule dieser Arbeit darstellt.

1.2 Problemstellung und Gang der Untersuchung Die eben beschriebenen Aspekte machen Kultur zu einem ambivalenten Phänomen. Aufgrund der prinzipiellen Offenheit der uns als geistigen Wesen zur Verfügung stehenden symbolischen Formungsprozesse ist jede Ausprägungsform von Kultur einerseits wandelbar, andererseits erfahren wir die in unserem Kulturraum etablierten Ordnungs- und Symbolstrukturen aber auch als starr und zählebig. 30 So lassen sich neben einem permanenten kulturellen und sozialen Wandel (wie er sich beispielsweise in veränderten alltäglichen Handlungspraktiken, neuen Sprachgewohnheiten oder ästhetischen Geschmacksurteilen etc. äußert) auch konservative Tendenzen beobachten, die sich darum bemühen, eingelebte Gewohnheiten zu bewahren und gegenüber allzu schnellen Veränderungen abzusichern. Ein zeitgenössisches Kulturverständnis lässt sich deshalb sowohl mit Fortschrittlichkeit und Veränderung verbinden als auch mit Identitätsstreben und Traditionalismus. Für den gesellschaftlichen Umgang mit Kultur resultieren daraus widersprüchliche Positionen. Während Kultur zum einen aufgrund ihrer Vielfalt und Variabilität geschätzt und deshalb in ihrer prinzipiellen Offenheit und Aufgeschlossenheit befördert wird, dominieren anderenorts bewusste kulturelle Grenzziehungen und Abschließungsprozesse. Die je eigene Kultur erscheint dort als ein substanzielles Gut, das aufgrund der darin ausgebildeten Normen und Werte Sinn und Identität stiftet, die es gegen äußere Einflüsse abzuschirmen gilt. Ein solches Bedürfnis nach Sinnstiftung und Orientierung durch Kultur ist nachvollziehbar und nicht schon per se proVgl. u. a. Bourdieu, Pierre (2001): Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, Frankfurt a. M., 210–246. 29 Vgl. Freud, Sigmund (1930/82003): Das Unbehagen in der Kultur. Und andere kulturtheoretische Schriften, Frankfurt a. M., 31–108. 30 Vgl. Willke, Helmut (2005): Symbolische Systeme. Grundriss einer soziologischen Theorie, Weilerswist, 8–10. 28

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Problemstellung und Gang der Untersuchung

blematisch. Schief wird der Bezug auf die Kultur allerdings dann, wenn er allzu schematisch auf einzelne Kulturaspekte – also etwa bestimmte Sitten und Gebräuche, Welt- und Geschichtsbilder, Normund Wertvorstellungen etc. – abstellt. Denn in diesem Fall droht ein Kulturessentialismus, der gerade deshalb für die Beschreibung von Kultur unzureichend ist, weil er jeder Kultur signifikante Eigenschaften zuzuschreiben und sie darüber zu bestimmen versucht. 31 Dabei verkennt der Essentialismus die Kontingenz von Kultur und behauptet für mehr oder weniger zufällige Entwicklungen eine Unausweichlichkeit, die es so de facto gar nicht gibt. So sind denn auch die in den Debatten um Kreuz und Kopftuch sichtbar werdenden kulturellen Eigenheiten in unserer Gesellschaft, etwa im Verhältnis von Religion und Politik oder im Umgang mit kultureller Differenz, keine unwandelbaren Fakten. Es handelt sich hierbei vielmehr um offene kulturelle Prozesse, denen zwar eine gewisse geschichtliche Entwicklung, nicht aber eine bestimmte Wahrheit zu Grunde liegt. Was kulturellen Phänomenen und Deutungen Autorität verleiht, ist nicht ihre Richtigkeit, sondern ihre Konsensfähigkeit, die wiederum das Ergebnis fortlaufender gesellschaftlicher Diskurse ist. Diese kulturelle Dimension der Verfahren um Kruzifix und Schleier offenzulegen, ist das Kernanliegen dieser Arbeit. 32 Um diesem Bestreben gerecht werden zu können, müssen zunächst einige Vorfragen geklärt und spezifische Abgrenzungen vorgenommen werden: (1) Ein erstes Motiv dieser Arbeit ist es, den Symbolcharakter der Konflikte selbst herauszustellen. Denn tatsächlich liegen den beiden Rechtsstreitigkeiten nicht nur zwei spezifisch religiöse bzw. kulEin bekanntes Negativbeispiel in diesem Sinne ist der in Samuel Huntingtons Kampf der Kulturen zum Ausdruck kommende Kulturessentialismus. Vgl. Huntington, Samuel P. (32002): Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München. 32 Diese besondere kulturtheoretische Zuspitzung ist auch der Grund dafür, weshalb sich die folgenden Ausführungen lediglich auf die Verfahren von 1995 und 2003 konzentrieren und der Autor bewusst darauf verzichtet hat, jüngere Entscheidungen zum Kruzifix (z. B. EGMR von 2011) oder zum Kopftuch (z. B. BVerfGE von 2015) in die Untersuchungen miteinzubeziehen. Vgl. Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (2011): Große Kammer, Urteil vom 18. März 2011 (App.: 30814/06; Lautsi u. a./Italien), in: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (30/12), 737-743; oder Bundesverfassungsgericht (2016): Beschluss des Ersten Senats vom 27. Januar 2015 (Az.: 1 BvR 471/10), in: Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts (Hrsg.): Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, 138. Bd., Tübingen, 296–376. 31

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turelle Symbole zu Grunde, sondern die Verfahren selbst haben symbolischen Charakter und erfüllen symbolische Funktionen. Dies zeigt sich beispielsweise darin, dass sie auf verschiedene gesellschaftspolitische Problemdiskurse und Symbolsysteme (wie etwa die Religion oder das Recht) verweisen. In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass es sich nicht nur bei Kruzifix und Kopftuch um kulturelle Phänomene handelt, sondern auch bei Religionen, Rechtstheorien oder Staatskonzeptionen. Denn auch sie sind menschliche Schöpfungen und verdanken sich besonderen historischen Konstellationen. (2) Dies wiederum weist auf einen zweiten Aspekt hin: Kulturkonflikte lassen sich nicht dadurch lösen, dass man sie in vermeintlich kulturneutrale Bereiche verlagert. Denn solche Bereiche gibt es gar nicht. Auch wenn Gerichte die Frage nach der Bedeutung von Kruzifix und Kopftuch auf eine im Sinne systeminterner Logiken neutrale Art und Weise zu klären versuchen, ist ihre Neutralität doch kulturabhängig. Sie beruht auf einem ganz spezifischen Verständnis von Recht, Gerechtigkeit und staatlicher Neutralität, das sich besonderen kulturgeschichtlichen Entwicklungen (Aufklärung, Säkularisierung etc.) verdankt und deshalb eben keine kulturelle Neutralität beanspruchen kann. (3) Aufgrund der vielfältigen Deutungs- und Interpretationsmöglichkeiten der beiden Debatten erscheint es zudem wichtig, nicht nur die vordergründigen rechtlichen Auseinandersetzungen im Blick zu haben, sondern auch deren grundsätzlichere kulturtheoretische bzw. politische Bedeutung auszuloten. Dabei wird deutlich, dass beide Konfliktfälle nicht nur das Wechselverhältnis von christlicher und islamischer Kultur in Deutschland berühren, sondern auch das für moderne liberale Gesellschaften so spezifische Problem der möglichen Kollision individueller Freiheitsrechte mit eingelebten moralischen Gewohnheiten eines gesellschaftlichen Kollektivs. In solchen Szenarien ist der freiheitsverbürgende Rechtsstaat jedoch an einer sensiblen Stelle getroffen, denn kaum etwas ist gemäß seiner inneren Logik erklärungsbedürftiger, als die Beschneidung von individuellen Grundrechten. Der gesellschaftspolitische Zündstoff beider Verfahren liegt folglich nicht nur in der Veranschaulichung der Herausforderungen, die eine plurale Gesellschaft zu meistern hat. Er zeigt sich vielmehr auch in der Sichtbarmachung der Abhängigkeit jeder liberalen Gesellschaft von gemeinsam geteilten Verbindlichkeiten, die selbst wiederum nicht rechtlich eingefordert werden können. 24 https://doi.org/10.5771/9783495824122 .

Problemstellung und Gang der Untersuchung

(4) Damit wird letztlich auch verständlich, weshalb jede Bewertung von Kulturen und ihren Wirklichkeitsverständnissen am eigentlichen Kern der Sache vorbeizielt. Denn es sind nicht primär die kulturellen Phänomene (seien es Religionen, Gesetze oder politische Systeme), die es ethisch zu qualifizieren gilt, sondern die Handlungen der kulturschaffenden Subjekte. Insoweit der Mensch im Zentrum des fortwährenden kulturellen Formungs- und Gestaltungsprozesses der Welt steht, trägt er Verantwortung und muss entsprechend für sein Handeln einstehen. (Wobei hier der Fairness halber zu berücksichtigen wäre, dass die Handlungsdispositionen des Einzelnen häufig selbst kulturellen Prägungen entspringen.) Vor allem aus diesem letztgenannten Grund sollen die aus den Streitfällen ableitbaren symbol- und kulturtheoretischen Erkenntnisse nicht unmittelbar in praktische Empfehlungen übersetzt werden. Ziel der Arbeit ist es vielmehr, ein grundlegendes Problembewusstsein für die genannten Herausforderungen zu schaffen und Kultur als etwas – im anthropologischen Sinne – mit Wert Behaftetes einzuführen. Dabei muss Kultur jedoch nicht als abgeschlossen oder abgegrenzt begriffen werden, sondern kann vielmehr als offen gelten, so dass kulturbedingte Identitätszuschreibungen zwar möglich, aber nicht im kulturessentialistischen Sinne nötig sind. 33 Erst wenn ein solches unbelastetes Kulturverständnis etabliert ist, kann einsichtig gemacht werden, dass die oftmals angebotenen, praktischen Lösungsansätze für gesellschaftspolitische Konflikte zu kurz greifen. Denn häufig reden sie die kulturelle Dimension der Streitigkeiten entweder klein oder lassen sie als derart fundamental erscheinen, dass eine Lösung eigentlich nur dadurch zu erreichen ist, dass man den Faktor Kultur vollständig aus der Gleichung herauskürzt. Gerade auf die zuletzt genannte Weise lassen sich manche Konflikte zunächst zwar erfolgreich entschärfen. Selten jedoch bietet diese Methode auch eine sichere Handhabe für zukünftige Auseinandersetzungen. Um diese zu vermeiden, bedarf es vielmehr einer grundsätzlichen Sensibilisierung aller Bürgerinnen und Bürger 34 für die Kontingenz des Kultu-

Vgl. dazu auch Assmann, Aleida (32011): Einführung in die Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Themen, Fragestellungen, Berlin. Assmann hat in diesem Buch den sehr treffenden Begriff der »Identitätsofferte« geprägt (Assmann 32011, 221). 34 Die Arbeit bemüht sich bei der Nennung von Personengruppen stets um eine gleichberechtigte Form. Sollte dennoch einmal ein Geschlecht vernachlässigt werden, so ist es selbstverständlich gleichwertig mitgedacht. 33

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rellen und die damit einhergehende Vorläufigkeit sämtlicher kultureller Identitätskonstruktionen. In Anlehnung an den in sozialethischen Untersuchungen geläufigen analytischen Dreischritt Sehen – Urteilen – Handeln gliedern sich die nachfolgenden Ausarbeitungen in verschiedene Sinnabschnitte, wobei der erste Teil vor allem deskriptiven Charakter, der zweite und dritte Teil analytischen und der vierte Teil praktischen Charakter besitzen. Damit gehen freilich auch jeweils unterschiedliche Schwerpunktsetzungen einher: Im deskriptiv gehaltenen ersten Teil der Arbeit werden im Wesentlichen die beiden Gerichtsentscheidungen und die sie begleitenden Debatten dargestellt. Ergänzt werden diese Kapitel um einige Gedanken zu den sie umrahmenden gesellschaftspolitischen Entwicklungen der jüngeren Vergangenheit. Diese konzentrieren sich insbesondere auf den Wandel der öffentlichen Bedeutung von Religion, das sich verändernde Wechselverhältnis von Recht und Moral sowie die politisch-philosophischen Debatten um die moralischen Grundlagen pluralistischer Gesellschaften. Im zweiten Teil richtet sich die Aufmerksamkeit auf die symboltheoretischen Überzeugungen, die der angestrebten kulturtheoretischen Deutung der Ereignisse um den Kruzifix-Beschluss und das Kopftuch-Urteil sowie deren gesellschaftspolitischen Folgewirkungen zu Grunde liegen. Dazu bedarf es zunächst einiger Vorüberlegungen, die sich vor allem auf das Wechselverhältnis von Symbol und Kultur konzentrieren. Dabei tritt ein spezielles Spannungsgefüge zu Tage, das sich aus der prinzipiellen Unabschließbarkeit der geistigen Formungsprozesse unserer Wirklichkeit einerseits sowie der in einzelnen Kulturen jeweils ausgeprägten konkreten symbolischen Formen und ihrer Strukturierungslogiken andererseits ergibt. Theoretisch nachvollziehbar wird diese Ambivalenz mit Hilfe von Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, 35 die noch immer eine der aufschlussreichsten Theorien zur Bestimmung der geistigen Wurzeln von Kultur im Allgemeinen darstellt. 36 Während Cassirers SymbolDer Ausdruck »Philosophie der symbolischen Formen« bezeichnet hier wie nachfolgend das philosophische System Cassirers und nicht sein dreibändiges Hauptwerk. Wenn von letzterem die Rede ist, wird dies durch Kursivsetzung kenntlich gemacht. 36 Vgl. hierzu vor allem Cassirer, Ernst (1923/2001): Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil: Die Sprache (ECW, Bd. 11), Hamburg; Cassirer, Ernst (1925/ 2002): Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische Denken (ECW, Bd. 12), Hamburg sowie Cassirer, Ernst (1929/2002): Philosophie der symboli35

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Problemstellung und Gang der Untersuchung

philosophie die in Kulturprozessen sichtbar werdende Freiheitsdimension des menschlichen Geistes betont, konzentriert sich die soziologisch inspirierte Kulturtheorie Pierre Bourdieus in ihren Analysen von Habitus, Feld, Kapital und symbolischer Gewalt verstärkt auf die gesellschaftlichen Einschränkungen und Bindungen durch Kultur. 37 Damit hält Bourdieus Theorie nicht nur einige wichtige praktische Ergänzungen zu den Überlegungen Cassirers bereit, sondern ermöglicht auch eine kritische Auseinandersetzung mit den Eigendynamiken der in unserer Kultur wirksamen symbolischen Formungsprozesse. Der sich anschließende dritte Teil der Arbeit befasst sich dann mit der Bedeutung des Symbolischen für die Bildung von Identität. Dabei geht es neben der Rekonstruktion grundlegender Konzepte zur Entstehung von Identität und dem Wechselverhältnis von Identität und Kultur, vor allem auch um die identitätsstiftende Funktion von Symbolen und deren politische Instrumentalisierbarkeit. Neben einigen kursorischen Hinweisen zu wichtigen sozial- und entwicklungspsychologischen Aspekten der Identitätsbildung 38 steht hierbei die gesellschaftspolitische Ebene des Symbolischen im Vordergrund. Anders als im zweiten Teil der Arbeit geht es dabei allerdings weniger um die epistemologische Dimension symbolischer Formungsprozesse, sondern vielmehr um die praktischen Konsequenzen, die sich aus den Eigendynamiken der verschiedenen Symbolsysteme ergeben. Damit ist auch die Brücke zum vierten Teil der Arbeit geschlagen, der sich um eine sozialphilosophische Fruchtbarmachung der zuvor gewonnenen kultur- und symboltheoretischen Einsichten bemüht. Im Zentrum der Überlegungen steht dabei nicht so sehr der historische Einfluss von Kultur auf die normativen Grundlagen einer modernen Gesellschaft, sondern die Relevanz von kulturellen Zugehörigkeiten für den wechselseitigen Umgang und das Zusammenleben der schen Formen. Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (ECW, Bd. 13), Hamburg. 37 Vgl. dazu insbesondere Bourdieu 2001; Bourdieu, Pierre (302003): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a. M. sowie Bourdieu, Pierre (82014): Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt a. M. 38 Berücksichtigung finden hier insbesondere die Überlegungen von George Herbert Mead, Erik H. Erikson und Tilmann Habermas; vgl. Mead, George H. (1973): Geist, Identität und Gesellschaft. Aus der Sicht des Sozialbehaviorismus, Frankfurt a. M.; Erikson, Erik H. (262013): Identität und Lebenszyklus, Frankfurt a. M. sowie Habermas, Tilmann (22012): Geliebte Objekte. Symbole und Instrumente der Identitätsbildung, Frankfurt a. M.

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Menschen. Dazu bedarf es einerseits einer Verhältnisbestimmung von Eigenheit und Fremdheit im Kontext pluralistischer Gesellschaften und andererseits einer Bestimmung der damit verbundenen sozialethischen Implikationen. Wichtige theoretische Orientierungen dabei liefern Überlegungen von Jürgen Habermas (Öffentlichkeit), Rainer Forst (Toleranz) und Seyla Benhabib (Gleichheit und Differenz). 39 Damit ist das Koordinatensystem grob umrissen, mit dessen Hilfe die hier thematisierten Fragen und Problemstellungen neu vermessen werden sollen. Definiert wird es von den bereits genannten symbol- und kulturtheoretischen Überlegungen, die dazu beitragen sollen, die in den bisherigen Auseinandersetzungen um Kreuz und muslimisches Kopftuch noch blind gebliebenen Flecken aufzuhellen. Damit werden allerdings auch die Grenzen dieses Vorhabens deutlich, das längst nicht alle bisherigen Erkenntnisse zu den geschilderten Konstellationen bündeln und verarbeiten kann. Die Wahl eines interdisziplinären Forschungsansatzes versucht diesbezügliche Lücken zwar gering zu halten, kann sie aber naturgemäß nicht verhindern. Folglich liegt auch der Anspruch dieser Arbeit nicht in der Klärung der angegebenen Kontroversen, sondern vielmehr in der Darstellung ihrer wechselseitigen Abhängigkeiten und der Bereitstellung einiger sinnvoller Anhaltspunkte für deren zukünftige Bewältigung.

1.3 Methodische Grundüberlegungen In den bisherigen Erläuterungen war bereits mehrfach von einer kulturtheoretischen oder kulturwissenschaftlichen oder kulturphilosophischen Auseinandersetzung mit den Debatten um Kruzifix und Kopftuch die Rede. Unklar blieb bislang allerdings, was darunter im Einzelnen überhaupt zu verstehen ist. Zunächst einmal gilt es festzuhalten, dass die genannten drei Begriffe nicht gleichbedeutend sind, denn der Bereich der Kulturtheorie ist deutlich weiter gefasst, als etwa der Bereich der Kulturwissenschaften oder der KulturphiBeispielhaft seien hier v. a. genannt: Habermas, Jürgen (1990): Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt a. M.; Forst, Rainer (2003): Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs, Frankfurt a. M. sowie Benhabib, Seyla (2013): Gleichheit und Differenz. Die Würde des Menschen und die Souveränitätsansprüche der Völker im Spiegel der politischen Moderne, Tübingen.

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Methodische Grundüberlegungen

losophie. Die beiden letztgenannten bezeichnen spezifische Formen einer theoretischen Auseinandersetzung mit Kultur. Der Schwerpunkt der Kulturwissenschaften liegt dabei eher auf empirisch-praktischen Untersuchungen, während sich die Kulturphilosophie dem Wesen der Kultur auf abstrakter Ebene annähert. Dabei können sich beide Herangehensweisen durchaus befruchten; denn während die unterschiedlichen kulturwissenschaftlichen Disziplinen häufig besser geeignet sind, einzelne kulturelle Phänomene zu erklären, macht in der Regel erst der kulturphilosophische Blick auf das Wesen von Kultur die kulturellen Gesamtzusammenhänge verständlich. Dies alles führt letztlich nicht unbedingt zu scharfen Trennlinien zwischen den verschiedenen Fachgebieten, sondern vielmehr zu unterschiedlichen Perspektiven auf das Phänomen der Kultur, die sich in der Regel sinnvoll miteinander in Beziehung setzen lassen. Die Vorzüge einer solchen multiperspektivischen Auseinandersetzung sollen auch in der vorliegenden Arbeit genutzt werden. Sie möchte ausgehend von der Analyse der zeitgenössischen Kulturkonflikte um Kruzifix und Kopftuch eine sozialphilosophische Reflexion über das Wesen und die Bedeutung von Kultur als einem zentralen Strukturmerkmal unserer eigenen Weltdeutung und personalen Identität anbieten. Dabei ist die Überzeugung leitend, dass Kultur als ein immer vorläufiges Produkt mannigfacher menschlicher Aktivitäten und Erzeugnisse verstanden werden muss, »als der provisorische und in unablässiger Bewegung begriffene Mentalitäts- und Handlungszusammenhang, als der offene Kommunikationsraum […], der sie ist«. 40 Darum ist der Reiz einer philosophischen Auseinandersetzung mit kulturellen Phänomenen auch nicht in deren möglichst exakter Beschreibung und Deutung zu suchen. Es ist sogar anzunehmen, dass andere Disziplinen (z. B. die Soziologie oder die Kulturanthropologie) dies deutlich besser können. Die eigentliche Herausforderung einer kulturphilosophischen Sicht auf die so genannten faits culturels (dt. Kulturtatsachen) 41 liegt vielmehr im vorurteilslosen Wahrnehmen der Kontingenz unserer selbst geschaffenen Welt. Zu den zentralen Aufgaben einer kulturphilosophisch inspirierten Analyse gehört es deshalb, »die in die Semantik des Kulturellen eingesenkten Zwänge und Blickführungen freizulegen, ihre Einsätze zu bestimmen und das Regime des Ressentiments zu durchkreu40 41

Konersmann, Ralf (2003): Kulturphilosophie zur Einführung, Hamburg, 9. Vgl. Konersmann 2003, 9.

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zen«. 42 Denn nur so wird ein Blick auf Kultur möglich, der sich zunächst einmal den kulturellen Tatsachen zuwendet und nicht sofort auf Spurensuche nach einem wie auch immer gearteten tieferen Sinn geht, der über die bloßen Erscheinungsformen von Kultur hinausweist. Ein solcher, aus der Philosophiegeschichte des 19. Jahrhunderts bereits hinlänglich bekannter, idealistischer Zug kulturphilosophischer Reflexion läuft nämlich Gefahr, im Bestreben, einen endgültigen Sinn von Kultur anbieten zu können, den grundlegend ambivalenten, nicht abschließbaren Charakter des Kulturellen zu verfehlen. 43 Um also einen nüchternen Blick auf Kultur werfen zu können, bedarf es der Fokussierung auf die Bedeutung, welche die Menschen den in ihrer Umgebung jeweils prägenden Kulturtatsachen beimessen. 44 Gerade in dieser Konzentration liegt die Stärke der Kulturphilosophie und darin ist auch ihre besondere Anschlussfähigkeit gegenüber den anderen philosophischen Disziplinen (z. B. der Anthropologie, der Ethik oder der Erkenntnistheorie) begründet. 45 Kulturphilosophische Reflexionen sollten sich deshalb nicht in spekulativen Theoriegebäuden verlieren, sondern sich dem konkreten Lebensvollzug der Menschen zuwenden. Dabei geht es immer um den Menschen als Kulturwesen, denn »Kultur ist die Form, die wir als Menschen unserem Leben geben« 46. Ein Kulturwesen zu sein, bezeichnet in diesem eher deskriptiven Zusammenhang keine Leistung, sondern beschreibt vielmehr eine natürliche Anlage. Der Mensch zeichnet sich gegenüber anderen Lebewesen dadurch aus, dass er zur Symbolbildung fähig ist und sich auf diese Weise mit seiner Umwelt auseinandersetzt, sie deutet und beherrschbar macht. Er ist das animal symbolicum, das, wie Ernst Cassirer schreibt, »nicht mehr in einem bloßen physikalischen, sondern in einem symbolischen Universum [lebt]«. 47 Konersmann 2003, 16. Vgl. Konersmann 2003, 18. 44 Vgl. Konersmann 2003, 20. 45 Dabei darf freilich nicht übersehen werden, dass auch die Philosophie selbst ein Kulturprodukt ist; auch wenn sie die dadurch begründeten Abhängigkeiten auf vielfältige Weise zu überbieten weiß. Vgl. Schwemmer, Oswald (2004): Philosophie als Theorie der Kultur und der Kulturwissenschaften, in: Jaeger, Friedrich/Straub, Jürgen (Hrsg.): Handbuch der Kulturwissenschaften. Bd. 2, Paradigmen und Disziplinen, Stuttgart, 671–686; hier: 671. 46 Steenblock, Volker (2018): Kulturphilosophie. Der Mensch im Spiegel seiner Deutungsweisen, Freiburg i. B./München, 26. 47 Cassirer (22007), 50. 42 43

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Methodische Grundüberlegungen

Auf der Grundlage eines solchen kulturphilosophischen Verständnisses lassen sich auch Kriterien für eine Neuinterpretation der eingangs genannten Debatten finden. Dies verpflichtet einerseits zu einer schlüssigen Rekonstruktion der beiden Diskurse, erlaubt es andererseits aber auch, die bekannten Deutungshorizonte zu verlassen bzw. neu auszuloten. Es ist bereits darauf hingewiesen worden, dass die Streitigkeiten um Kruzifix und Kopftuch selbst eine symbolische Bedeutung erlangt haben: Zum einen, in dem sie auf die enorme Wichtigkeit von Identitätskonstruktionen, sowohl für einzelne Personen als auch für soziale Gruppen, in einer weltanschaulich pluralen und funktional differenzierten Alltagswelt aufmerksam machen. Zum anderen, indem sie auf die durch verschiedene materielle und immaterielle Kulturtatsachen geformten Eigen- und Fremdwahrnehmungen der Menschen und deren Instrumentalisierbarkeit hinweisen. Diese symbolische Dimension lässt sich nun kulturphilosophisch weiter vertiefen; und zwar nicht nur in der Weise, dass man die für die Konstruktion von Identitäten oder die Etablierung persönlicher wie sozialer Selbst- und Fremdbilder bedeutsamen kulturellen Einflussfaktoren aufweist, sondern auch dahingehend, dass man deren Kontingenz wahrnimmt und problematisiert. Auf diese Weise gewinnt man nicht nur neue Maßstäbe für die Interpretation der in diesem Kontext stehenden Debatten um Integration oder die normativen Grundlagen pluraler Gesellschaften, sondern kann auch die juristischen, religionssoziologischen und gesellschaftspolitischen Analysen unter einem neuen Blickwinkel betrachten und deuten. Dabei geht es vor allem darum, die den unterschiedlichen Ausdrucksformen von Kultur zu Grunde liegenden Herausforderungen in einem hermeneutischen Sinne zu erfassen bzw. die daraus ableitbaren Erkenntnisse unter sozialphilosophischen Gesichtspunkten neu zu synthetisieren. Folglich liegt auch der Schwerpunkt der Arbeit weniger in der Rekonstruktion historischer Denkansätze und Theoriekonzeptionen als vielmehr in einer inhaltlich möglichst breiten Analyse der grundlegenden Problemstellungen. Natürlich wird zu diesem Zweck auch auf etablierte Theorien und Positionen zurückgegriffen (neben den bereits erwähnten Ansätzen von Ernst Cassirer und Pierre Bourdieu kommt beispielsweise den diskurstheoretischen Überlegungen von Jürgen Habermas ein besonderer Stellenwert zu). Ziel dieser Bezüge ist jedoch nicht die umfassende Darstellung dieser Theorien, sondern deren Fruchtbarmachung für eine kultur- und gesellschaftstheoretische Interpretation der hier zu untersuchenden Diskurse. 31 https://doi.org/10.5771/9783495824122 .

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Der Komplexität der Fragestellung ist es geschuldet, dass dafür nicht nur die Perspektive einer Wissenschaftsdisziplin Berücksichtigung findet, sondern auch andere Forschungszugänge in die Untersuchungen miteinbezogen werden. Neben sozialphilosophischen Theorien sind dies vor allem soziologische und kulturwissenschaftliche Ansätze. 48 Diese Form der Interdisziplinarität eröffnet neue analytische Spielräume, verlangt aber gleichzeitig auch nach wissenschaftlich angemessenen Abgrenzungen, um nicht ins Willkürliche abzugleiten. Gerade die für die vorliegende Untersuchung zentralen Begriffe, wie Kultur oder Symbol, haben je nach Wissenschaftsdisziplin einen ganz eigentümlichen Klang und legen verschiedene Assoziationen nahe, so dass eine wichtige Aufgabe dieser Arbeit bereits darin besteht, interdisziplinär anschlussfähige Deutungen beider Begriffe anzubieten. Im Idealfall können sie neue Perspektiven auf den Untersuchungsgegenstand eröffnen und somit den wissenschaftlichen Diskurs befruchten. Aus philosophischer Sicht ist der angebotene Beitrag im Wesentlichen als eine Querschnittsaufgabe zu betrachten, die insbesondere sozialphilosophische Überlegungen und kulturphilosophische Theorien miteinander ins Gespräch zu bringen beabsichtigt. Gerade auch die philosophische Analyse des Kulturbegriffes, die hier vor allem anthropologische, aber auch soziale und politische Aspekte betonen soll, ist ohne einen solchen mehrdimensionalen Ansatz kaum sinnvoll möglich. Dahinter steht die Überzeugung, dass die Bedeutung von Kultur für die Ausbildung des Selbst und die damit verknüpften Identitätskonzeptionen nur dann wirklich einsichtig gemacht werden kann, wenn Kulturphänomene nicht nur als äußere Tatsachen aufgefasst werden, zu denen Menschen eine bestimmte Haltung einnehmen können, sondern wenn sie vielmehr als eine Art Imprägnat des Bewusstseins wahrgenommen werden, das den Zugriff des Menschen auf die Welt immer schon durchdringt. Denn nur so lässt sich begreifen, weshalb Kultur weder etwas Beliebiges ist, über das man frei verfügen kann, noch ein überindividueller Determinismus, der jede Person auf ein bestimmtes Repertoire an geistigen Ausdrucksformen oder sozialen Verhaltensweisen festlegt. Aufgrund begrenzter Fachkenntnisse in den beiden genannten Disziplinen kann dieser Perspektivwechsel natürlich nur in einem heuristischen Sinne erfolgen. Dies schließt jedoch einen neuen, vielleicht sogar unerwartet aufschlussreichen Blick auf die Gesamtzusammenhänge keineswegs aus.

48

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Zum gegenwärtigen Stand der Forschung

1.4 Zum gegenwärtigen Stand der Forschung Aufgrund des interdisziplinären Zugriffs und der Mehrdimensionalität der vorzunehmenden Untersuchungen lässt sich der Stand der Forschung zum hier behandelten Thema nicht einfach zusammenfassen; zumindest nicht in der Weise, dass man auf einen klar umrissenen Kanon an wegweisenden Forschungsarbeiten zurückgreifen könnte. Dennoch stellt die nachfolgende Arbeit auch keine Pionierarbeit in dem Sinne dar, dass sie die erste Untersuchung zu den genannten Verfahren und ihren gesellschaftlichen Implikationen aus sozialphilosophischer Perspektive darstellt. Ihr innovativer Anspruch besteht vielmehr darin, einen neuen Blick auf die eingangs bereits bezeichneten Problemfelder zu wagen und dafür eine eigenständige, kulturtheoretisch und sozialphilosophisch inspirierte Synthese der dazu in den verschiedenen sozialwissenschaftlichen Disziplinen bereits erarbeiteten Erkenntnisse anzubieten. Vor diesem Hintergrund erscheint es sinnvoll, zunächst einmal diejenigen Diskurse zu identifizieren, in denen diese Arbeit als ein neuer Diskussionsbeitrag zur Geltung kommen möchte. Dazu zählen erstens die noch immer andauernden bzw. sich immer wieder neu entzündenden Debatten um einen angemessenen Umgang mit religiösen Symbolen im öffentlichen Raum. Hinzu kommen zweitens die fortdauernden Auseinandersetzungen um einen möglichst belastbaren gesellschaftlichen Identitätsbegriff; besonders unter den Zumutungen einer modernen und weltanschaulich pluralen Lebenswelt. Sowie drittens die Bemühungen um eine Fruchtbarmachung kulturphilosophischer Theorieansätze zur Deutung bzw. Entschlüsselung gesellschaftspolitischer Gegenwartsprobleme. Und zuletzt kann man auch noch viertens die politisch-philosophische Debatte, die sich der Frage nach Möglichkeiten und Grenzen gemeinschaftsstabilisierender Werte und Normen in modernen Gesellschaften zuwendet, diesen Diskursen hinzufügen. Diese Aufzählung macht bereits deutlich, dass es in der vorliegenden Arbeit vorranging darum geht, die unterschiedlichen sozialund geisteswissenschaftlichen Zugänge zur Thematik miteinander ins Gespräch zu bringen. Eine erschöpfende Darstellung einzelner Ansätze ist dabei nicht möglich. Insofern können auch die nachfolgend aufgeführten Forschungsergebnisse zu den verschiedenen Themen und Fragestellungen keine Vollständigkeit beanspruchen. Es sollte aber ersichtlich werden, weshalb einzelne Ansätze für die hier 33 https://doi.org/10.5771/9783495824122 .

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angebotenen Ausführungen von besonderer Bedeutung sind und inwiefern sie eine systematische Grundlage für die später folgenden Einlassungen liefern: Die wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum Kruzifix und zum Kopftuch aus den Jahren 1995 und 2003 sind zahlreich und inhaltlich äußerst vielfältig. Sie umfassen sowohl juristische als auch sozialwissenschaftliche Arbeiten, wobei letztere sich vor allem in kulturwissenschaftliche, soziologische und sozialethische Untersuchungen unterteilen lassen. Daneben gibt es aber auch eine Reihe von Publikationen, die eher dem Charakter von Sachbüchern entsprechen, teilweise aber äußerst nützliche Textsammlungen und Dokumentationen enthalten. 49 Ausgangspunkt beinahe aller Publikationen ist neben der Darstellung der Verfahren selbst die Beschreibung der in beiden Fällen zu Tage tretenden Normenkollisionen. 50 Vor allem die juristischen Untersuchungen haben hier zumeist ihren inhaltlichen Schwerpunkt. Dabei geht es entweder um verfassungsrechtliche oder staatskirchenrechtliche Grundsatzfragen (z. B. die Bedeutung der Religionsfreiheit, Dazu zählen u. a. Oestreich 2004; Pappert, Peter (Hrsg.) (1995): Den Nerv getroffen. Engagierte Stimmen zum Kruzifix-Urteil von Karlsruhe, Aachen, und Streithofen, Basilius (1995): Das Kruzifixurteil. Deutschland vor einem neuen Kulturkampf?, Frankfurt a. M./Berlin. 50 Im Falle des Verfahrens um das Kruzifix trifft dies vor allem für die kulturwissenschaftlich inspirierte Monographie von Sonja M. Esser sowie den interdisziplinär angelegten Sammelband von Hans Maier zu; vgl. Esser, Sonja M. (2000): Das Kreuz – Ein Symbol kultureller Identität? Der Diskurs über das »Kruzifix-Urteil« (1995) aus kulturwissenschaftlicher Perspektive, Münster u. a., und Maier, Hans (Hrsg.) (1996): Das Kreuz im Widerspruch. Der Kruzifix-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts in der Kontroverse, Freiburg i. B./Basel/Wien. Im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen um das Kopftuch kann diesbezüglich auf die Studie von Schirin Amir-Moazami verwiesen werden, in der der Kopftuch-Streit in Deutschland mit den entsprechenden Konflikten in Frankreich verglichen wird, sowie auf den Sammelband von Sabine Berghahn und Petra Rostock. Dort wird die deutsche Kopftuch-Kontroverse ähnlichen Vorgängen in Österreich und der Schweiz gegenübergestellt; vgl. AmirMoazami, Schirin (2007): Politisierte Religion. Der Kopftuchstreit in Deutschland und Frankreich, Bielefeld, und Berghahn, Sabine/Rostock, Petra (Hrsg.) (2009): Der Stoff, aus dem Konflikte sind. Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz, Bielefeld. Einen interdisziplinären Zugriff mit einer rechtstheoretischen bzw. rechtssoziologischen Schwerpunktsetzung wiederum bieten Winfried Brugger und Stefan Huster; vgl. Brugger, Winfried/Huster, Stefan (Hrsg.) (1998): Der Streit um das Kreuz in der Schule. Zur religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates, Baden-Baden. 49

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die Frage nach der staatlichen Neutralitätspflicht usw.) oder spezifischere verwaltungsrechtliche Probleme (z. B. im Hinblick auf das Beamtenrecht). 51 Vor allem im Hinblick auf den Streit um das muslimische Kopftuch finden sich zudem wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit dem islamischen Recht, die neben beschreibenden Passagen auch Hinweise auf mögliche Normkonflikte mit dem deutschen Grundrechtsverständnis geben. 52 Je nach Bewertung der Elastizität des Staat-Kirche-Verhältnisses in Deutschland entsteht dabei der Eindruck eines reformbedürftigen Staatskirchenrechts, dessen überkommene Strukturen den gegenwärtigen Anforderungen eines zunehmenden weltanschaulichen Pluralismus nicht länger gewachsen sind. Als problematisch gilt in diesem Zusammenhang vor allem die Privilegierung der christlichen Kirchen Aus der Fülle der dazu publizierten Schriften sollen an dieser Stelle nur diejenigen Arbeiten herausgegriffen werden, auf deren Schilderungen in den nachfolgenden Ausführungen noch eingegangen wird. Dazu gehören einerseits einige Standardwerke zum Staatskirchenrecht bzw. Religionsrecht, welche die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Verhältnisses von Staat und Kirche im Allgemeinen beschreiben und historisch zu rekonstruieren versuchen, wie etwa Campenhausen, Axel von/ Wall, Heinrich de (42006): Staatskirchenrecht. Eine systematische Darstellung des Religionsverfassungsrechts in Deutschland und Europa. Ein Studienbuch, München; Classen, Claus D. (2006): Religionsrecht, Tübingen; Czermak, Gerhard (2008): Religions- und Weltanschauungsrecht. Eine Einführung. In Kooperation mit Prof. Dr. Dr. Eric Hilgendorf, Berlin/Heidelberg; Wall, Heinrich de/Muckel, Stefan (2009): Kirchenrecht. Ein Studienbuch, München. Des Weiteren zählen dazu aber auch Einzeldarstellungen, die sich schwerpunktmäßig den mit den Urteilen ebenfalls verbundenen gesellschaftlichen Problemen und Herausforderungen zuwenden, wie bspw. Ladeur, Karl-Heinz/Augsberg, Ino (2007): Toleranz – Religion – Recht. Die Herausforderung des »neutralen« Staates durch neue Formen von Religiosität in der postmodernen Gesellschaft, Tübingen; Muckel, Stefan (1997): Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung. Die verfassungsrechtlichen Garantien religiöser Freiheit unter veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen, Berlin; Vosgerau, Ulrich (2007): Freiheit des Glaubens und Systematik des Grundgesetzes. Zum Gewährleistungsgehalt schrankenvorbehaltloser Grundrechte am Beispiel der Glaubens- und Gewissensfreiheit, Berlin; Waldhoff, Christian (2010): Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität. Erfordern weltanschauliche und religiöse Entwicklungen Antworten des Staates? Gutachten D zum 68. Deutschen Juristentag, München. 52 Neben dem Standardwerk von Mathias Rohe kann hier auf die Darstellung von Christine Kinzinger-Büchel und insbesondere auch auf den Sammelband von Stefan Muckel verwiesen werden; vgl. Rohe, Mathias (22009): Das islamische Recht. Geschichte und Gegenwart, München; Kinzinger-Büchel, Christine (2009): Der Kopftuchstreit in der deutschen Rechtsprechung und Gesetzgebung, Bonn; Muckel, Stefan (Hrsg.) (2008): Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, Berlin. 51

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und ihres institutionellen Status gegenüber anderen Glaubensgemeinschaften. 53 Andererseits werden aber auch Vorzüge des in Deutschland gepflegten Modells einer privilegierten Partnerschaft betont, wobei besonders auf die Bedeutung von Religion als Quelle einer identitätsstiftenden Moral hingewiesen wird. 54 Eine eigenständige kulturphilosophische Reflexion dieser Problematik, die mehr als die bloße historische Kontingenz des Rechts in den Blick nimmt, fehlt jedoch. Mit den genannten Positionen ist der juristische Forschungsstand zur Thematik freilich noch nicht erschöpfend erfasst; dies kann aber aufgrund des interdisziplinären Ansatzes hier ohnehin nicht geschehen. Offensichtliche Gründe dafür sind die Fülle an Publikationen (neben diversen Monographien und Sammelbänden gibt es zahlreiche Kommentare und Aufsätze) sowie die fachspezifischen Nuancierungen (etwa im Rahmen von internationalen Rechtsvergleichen 55), die der juristische Laie nicht angemessen zu bewerten vermag. Dies trifft in ähnlicher Weise auch für die sozial- und kulturwissenschaftlich inspirierten Forschungen zu, die gleichfalls breit gestreut sind. Bemerkenswert ist hierbei jedoch ein relativ starkes Ungleichgewicht zwischen Einlassungen zum Verfahren um das Kruzifix und den Streit um das Kopftuch; mit einem deutlichen Überhang zu letzterem. Über die Gründe dafür lässt sich nur spekulieren. Fest steht allerdings, dass die Auseinandersetzungen um das Kopftuch gleich mehrere brisante Konfliktfelder berühren – man denke etwa an die Integrationsfrage und die Debatte um die Geschlechtergerechtigkeit – und darum stärker im öffentlichen und wissenschaftlichen Fokus stehen. Ähnlich wie die juristischen Arbeiten zur Thematik konzentrieren sich auch die sozialwissenschaftlichen Forschungen auf das Verhältnis von Religion und Staat, wobei je nach fachlichem Schwerpunkt unterschiedliche Facetten dieses Problemkreises bearbeitet werden. Während es aus soziologischer Perspektive besonders um die öffentliche Rolle der Religion in der Gesellschaft geht, konzentrieren sich ethische Arbeiten eher auf die moralische DimenVgl. dazu etwa Lübbe, Hermann (2011): Freiheit und Pluralisierung der Religion. Kulturelle und rechtspolitische Konsequenzen, in: zur debatte (42/2), 23–26. 54 Vgl. dazu u. a. Kirchhof, Paul (2011): Die freiheitsbewusste Erneuerung des Verhältnisses von Staat und Kirche, in: zur debatte (42/2), 19–22. 55 Vgl. beispielhaft Ganz, Sarah (2009): Das Tragen religiöser Symbole und Kleidung in der öffentlichen Schule in Deutschland, Frankreich und England. Eine rechtsvergleichende Untersuchung unter Berücksichtigung der EMRK, Berlin. 53

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sion von Religion – sowohl für den Einzelnen, als auch für die politische Gemeinschaft. Hinzu kommen politisch-philosophische Grundsatzfragen zu Gleichheit und Gerechtigkeit, die wahlweise aus politikwissenschaftlicher, philosophischer oder staatsrechtlicher Perspektive beleuchtet werden. Betrachtet man die Publikationen zum Kruzifix-Beschluss, so fällt neben zahlreichen Aufsätzen und den bereits erwähnten Sachbüchern von Peter Pappert und Basilius Streithofen besonders die Monographie von Sonja M. Esser auf, die sich aus kulturwissenschaftlicher Perspektive der Thematik zuwendet. 56 Im Zentrum ihrer Arbeit steht die Frage nach der symbolischen Dimension des Kreuzes als einem »Marker« für kulturelle Identität. Der Schwerpunkt der Untersuchung liegt dann aber weniger in der Rekonstruktion und Verknüpfung einschlägiger identitäts- oder symboltheoretischer Ansätze, als vielmehr in einer detaillierten Analyse der damals öffentlich geführten Diskussionen und Debatten. Ähnlich interessant sind auch die Sammelbände des Politikwissenschaftlers Hans Maier und der Juristen Winfried Brugger und Stefan Huster. 57 Indem sie auf einen multidisziplinaren Autorenpool zurückgreifen, versuchen sie, unterschiedliche rechts- und sozialwissenschaftliche Perspektiven auf die Debatten um das Schulkreuz miteinander ins Gespräch zu bringen. Dabei werden nicht nur verschiedene Blickwinkel auf das Verhältnis von Religion und Politik sichtbar, sondern auch unterschiedliche Einschätzungen dazu, wie die damit verbundenen gesamtgesellschaftlichen Problemlagen möglicherweise einer fruchtbaren Lösung zuzuführen sind. 58 Eine dezidiert kulturphilosophische Aufarbeitung Vgl. Esser 2000; Pappert (Hrsg.) 1995; Streithofen 1995. Vgl. Maier (Hrsg.) 1996 und Brugger/Huster (Hrsg.) 1998. 58 Vgl. dazu im Sammelband von Maier: Maier, Hans (1996): Geschichtsblind und schulfremd. Zur kulturpolitischen Bedeutung der Kreuz-Entscheidung, in: ders. (Hrsg.): Das Kreuz im Widerspruch, 51–59, und Gabriel, Karl (1996): Religion und Gesellschaft auf dem Prüfstand. Religionssoziologische Anmerkungen zu den Vorgängen um das Kruzifixurteil des Bundesverfassungsgerichts, in: Maier (Hrsg.): Das Kreuz im Widerspruch, 60–76. Im Sammelband von Brugger/Huster: Lipp, Wolfgang (1998): Tradition, Gemeinschaften, soziale Moral. Was bedeuten sie soziologisch, und was haben sie mit dem »Kreuz« zu tun?, in: Brugger/Huster (Hrsg.): Der Streit um das Kreuz in der Schule, 255–275; Lübbe, Hermann (1998): Zivilreligion und der »Kruzifix-Beschluß« des deutschen Bundesverfassungsgerichts, in: Brugger/Huster (Hrsg.): Der Streit um das Kreuz in der Schule, 237–254, und Schieder, Rolf (1998): Das prekäre Verhältnis von Politik und Religion. Eine historische Skizze, in: Brugger/ Huster (Hrsg.): Der Streit um das Kreuz in der Schule, 221–236. 56 57

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des Themas findet sich in diesen beiden Bänden allerdings nicht. Nicht unerwähnt bleiben sollen darüber hinaus auch die theologischen und religionswissenschaftlichen Erörterungen zum Thema, die sich verstärkt dem im Verfahren erörterten Symbolverständnis des Kreuzes widmen und es aus christlicher Perspektive analysieren und bewerten. 59 Während sich die sozial- und kulturwissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit dem Kruzifix-Beschluss der Deutung des Kreuzsymbols vor allem aus kulturhistorischer Perspektive nähern, reflektieren entsprechende Studien zum Kopftuch-Urteil vornehmlich die integrationspolitische Dimension der Debatte. Die Mehrzahl der jüngeren Publikationen ist so entweder der Frage der Geschlechtergerechtigkeit oder der Rolle der Frau im Islam gewidmet. 60 Daneben finden sich aber auch diskursvergleichende Analysen zur Kopftuchdebatte in Deutschland, Frankreich, Österreich und der Schweiz, deren Schwerpunkt auf der Darstellung der jeweils unterschiedlichen juristischen wie gesellschaftlichen Bestimmungen des Verhältnisses von Religion und Staat beruht. 61 Einen allgemeineren, Vgl. u. a. Eckermann, Willigis u. a. (Hrsg.) (1996): Das Kreuz – Stein des Anstoßes, Kevelaer. 60 Dazu zählen die bereits früher erwähnten Monographien von Heide Oestreich (Oestreich 2004) und Schirin Amir-Moazami (Amir-Moazami 2007) sowie der Sammelband von Sabine Berghahn und Petra Rostock (Berghahn/Rostock 2009). Andere Arbeiten nehmen bezüglich der Gerechtigkeitsüberlegungen eine besondere feministische Schwerpunktsetzung vor, vgl. Haug, Frigga/Reimer, Katrin (Hrsg.) (2005): Politik ums Kopftuch, Hamburg; rücken das Kopftuch als Symbol ins Zentrum der Überlegungen, vgl. Braun, Christina v./Mathes, Bettina (2007): Verschleierte Wirklichkeit. Die Frau, der Islam und der Westen, Lizenzausgabe, Bonn; oder reflektieren vor allem das Verhalten junger Muslime, vgl. Gerlach, Julia (2006): Zwischen Pop und Dschihad. Muslimische Jugendliche in Deutschland, Lizenzausgabe, Bonn sowie Jessen, Frank/Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich v. (2006): Das Kopftuch – die Entschleierung eines Symbols?, Sankt Augustin. Darüber hinaus wurden in den vergangenen Jahren zahlreiche Artikel zum Thema publiziert, die hier der Übersichtlichkeit halber aber keine Berücksichtigung finden. Auf speziellen Themenseiten im Internet (z. B. der Bundeszentrale für politische Bildung oder dem Internetportal »qantara.de« der Deutschen Welle) sind jedoch einige Beiträge gesammelt und unter: https://bit.ly/ 2snNqPO (Stand: 11. 01. 2019) bzw. https://bit.ly/1N6pBNX (Stand: 11. 01. 2019) zugänglich gemacht. 61 Neben der Monographie von Amir-Moazami (2007) und dem Sammelband von Berghahn/Rostock (2009) sind hier aus sozialwissenschaftlicher Perspektive noch die Arbeiten von John Richard Bowen, Clémence Delmas, Elise Pape und Janine Ziegler zu nennen; vgl. Bowen, John R. (2007): Why the French don’t like headscarves. Islam, the State, and public space, Princeton; Delmas, Clémence (2006): Das Kopftuchverbot 59

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soziologischen Blick auf die Debatte wirft unter anderem eine Einzeldarstellung von Elisabeth Beck-Gernsheim, die sich vor dem Hintergrund sozialer Konflikte (wobei der Streit um das Kopftuch eine herausragende Stellung einnimmt) hauptsächlich den Selbst- und Fremdbildern des Islam in der deutschen Gesellschaft zuwendet. 62

in Frankreich. Ein Streit um die Definition von Laizität, Republik und Frauenemanzipation, Frankfurt a. M./New York; Pape, Elise (2005): Das Kopftuch von Frauen der zweiten Einwanderergeneration. Ein Vergleich zwischen Frankreich und Deutschland, Aachen; Ziegler, Janine (2011): Das Kopftuchverbot in Deutschland und Frankreich. Ein Beitrag zur Interpretation der deutschen und französischen Islam-Politik, Paderborn u. a. 62 Vgl. Beck-Gernsheim, Elisabeth (2007): Wir und die Anderen. Kopftuch, Zwangsheirat und andere Mißverständnisse, Frankfurt a. M.

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Erster Teil: Der zeitgenössische Streit um religiöse Symbole und seine Hintergründe

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2. Die Rahmenbedingungen einer säkularen Kultur

Die Kontroversen um das Kruzifix in der bayerischen Volksschulordnung und das Kopftuch der baden-württembergischen Lehramtskandidatin zeigen Deutschland als einen säkularen Staat, in dem die Religion gleichwohl öffentlich noch immer gut sichtbar ist. Bayerische Klassenzimmer sind für gewöhnlich mit einem Kreuz an der Wand ausgestattet, und die Schleier muslimischer Frauen gehören heutzutage zur Alltagsszenerie jeder größeren deutschen Stadt. Dass eine Gesellschaft säkular ist, bedeutet also offenkundig nicht, dass sie areligiös ist. Im Gegenteil: Der in beiden Verfahren zentrale Artikel 4 des deutschen Grundgesetzes erklärt nicht nur die Freiheit des Glaubens für unverletzlich, sondern gewährleistet in Satz 2 sogar die ungestörte Ausübung der Religion. Damit wird der säkulare Staat zu einem Ort, an dem der Religion bzw. dem religiösen Leben ausdrücklich Raum zur Verwirklichung zuerkannt wird. 1 Blickt man auf die aktuellen Zahlen der Kirchenaustritte in Deutschland 2 oder auf Umfrageergebnisse zur individuellen Kirchlichkeit und Religiosität 3, erscheint Religion für viele dennoch eher

Vgl. hierzu beispielsweise Lübbe, Hermann (32003): Säkularisierung. Geschichte eines ideenpolitischen Begriffs, Freiburg i. B./München, 144/145. 2 Für die aktuellen Daten (2015) der katholischen Kirche vgl. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (2016): Katholische Kirche in Deutschland. Zahlen und Fakten 2015/16, Arbeitshilfen 287, Bonn, 46. Online verfügbar unter: https://bit.ly/ 2xHr2UG (Stand: 11. 01. 2019). Die Zahl der Kirchenaustritte beläuft sich auf 181.925. Die aktuellen Daten (2015) der evangelischen Kirche in Deutschland sind ebenfalls online verfügbar unter: https://bit.ly/2SQ7VA4 (Stand: 11. 01. 2019). Die Zahl der Kirchenaustritte hier liegt bei 211 264. 3 Vgl. dazu die Ergebnisse der European Values Study 1981–2008, die ebenfalls online unter: https://bit.ly/2SN4RET (Stand: 11. 01. 2019) verfügbar sind. Eine umfassende inhaltliche Auseinandersetzung mit den Ergebnissen findet sich u. a. bei Pollack, Detlef/Rosta, Gergely (2015): Religion in der Moderne. Ein internationaler Vergleich, Frankfurt a. M./New York. 1

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eine nachrangige Option 4 zu sein. Dies ist bei Menschen, die aus anderen kulturell-religiösen Kontexten stammen, häufig anders, wenngleich daraus nicht notwendigerweise der Schluss gezogen werden kann, dass diese Menschen im Unterschied zu deutschen Bürgerinnen und Bürgern »gläubiger« oder gar »religiöser« sind. Denn gerade für Minderheiten hat die Teilhabe am religiösen Leben der Herkunftskultur oftmals eine besondere identitätsstiftende Funktion, die über das grundlegende Bedürfnis nach religiöser Orientierung weit hinausweist. 5 Obschon also der christliche Glaube auch in der zeitgenössischen deutschen Gesellschaft prinzipiell viel Entfaltungsspielraum besitzt, bleibt die öffentliche Wahrnehmung von Religion gegenwärtig fast ausschließlich auf den Islam und die Angst vor einer weiter zunehmenden Politisierung bzw. Radikalisierung von Religion begrenzt. Darüber hinaus spielt die Religion im Leben der meisten Menschen eher eine untergeordnete oder – freundlicher formuliert – private Rolle. 6 Wie viele andere westliche Gesellschaften auch scheint Deutschland also zumindest in der Weise säkular, als für die Mehrheit seiner Bürger die Religion – gerade auch in ihrer institutionalisierten Form – offenbar weniger (oder jedenfalls nicht mehr) Bedeutung besitzt, als andere gesellschaftliche Teilbereiche. Die heutigen Möglichkeiten, die notwendigen Belange des Lebens regeln und weitgehend kontrollieren zu können, haben allerdings nicht dazu geführt, dass sich die Menschen keine Fragen mehr nach Sinn und Orientierung im Leben stellen – im Gegenteil. Lebenshilfe- und Beratungsangebote unterschiedlichster Gestalt und Herkunft prägen auch im 21. Jahrhundert den Alltag der meisten MenDer Aspekt der Optionalität von Religion ist in jüngerer Zeit besonders eindrucksvoll von Charles Taylor herausgearbeitet worden; vgl. dazu: Taylor, Charles (2009a): Ein säkulares Zeitalter, Frankfurt a. M. 5 Vgl. dazu mit besonderem Blick auf die muslimischen Minderheiten u. a. Leggewie, Claus (1993): Der Islam im Westen. Zwischen Neo-Fundamentalismus und EuroIslam, in: Bergmann, Jörg/Hahn, Alois/Luckmann, Thomas (Hrsg.): Religion und Kultur, Wiesbaden, 271–291; Malik, Jamal (1999): Muslimische Identitäten zwischen Tradition und Moderne, in: Gephart, Werner/Waldenfels, Hans (Hrsg.): Religion und Identität. Im Horizont des Pluralismus, Frankfurt a. M., 206–229, sowie Kepel, Gilles (2006): Der Islam Europas zwischen Integration und Kommunitarismus, in: Altermatt, Urs/Delgado, Mariano/Vergauwen, Guido (Hrsg.): Der Islam in Europa. Zwischen Weltpolitik und Alltag, Stuttgart, 23–39. 6 Zur Privatisierungsthese vgl. Luckmann, Thomas (1991): Die unsichtbare Religion, Frankfurt a. M. 4

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schen. Aus diesem Grund lassen sich in vielen modernen Gesellschaften immer häufiger scheinbar widersprüchliche Entwicklungen beobachten. Für Jürgen Habermas beispielsweise ist die gegenwärtige Lage durch zwei gegenläufige Tendenzen bestimmt: die Ausbreitung naturalistischer Weltbilder einerseits und die wachsende politische Einflussnahme religiöser Orthodoxien andererseits. 7 Während sich im Erstgenannten besonders das moderne Primat des Subjekts, die Fortschrittsgläubigkeit und der Vorrang eines vernunftbegründeten Wissens ausdrücken, zeichnen sich im Zweitgenannten insbesondere der Wunsch nach allgemein verbindlichen Wertvorstellungen sowie einer Letztbegründung – und damit Sinngebung – menschlicher Kontingenzerfahrung ab. Solche gegenläufige Tendenzen und Spannungsfelder ergeben sich nicht zufällig, sondern sind die Konsequenz weitreichender und historisch lange andauernder Transformationsprozesse. Im vorliegenden Fall reichen sie zurück bis in die Epoche der Aufklärung, die jene Phase der Kulturgeschichte markiert, in welcher der neuzeitliche Subjektivismus die notwendige gesellschaftspolitische Sprengkraft entfaltet, um die bis dahin gültigen sozialen Strukturen und Hierarchien endgültig aus den Angeln zu heben. Die Vorstellung der modernen Menschen, ihre persönlichen Belange besser selbst gestalten und fortan eigenständig regeln zu können, bedeuten jedoch nicht nur den Beginn eines anhaltenden Emanzipationsprozesses, sondern auch einen Bruch mit den vormals herrschenden Institutionen. Dies gilt insbesondere für die christlichen Kirchen. Denn mit den großen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts setzen vor allem in den europäischen Gesellschaften Säkularisationsprozesse ein, in Folge derer sich die vormals ausgeprägten religiösen Bindungen der Menschen kontinuierlich abschwächen. 8 Derartige Veränderungsprozesse haben aber nicht nur individuelle, sondern auch politische und soziale Konsequenzen: Die einstmals vorherrschenden göttlichen Ordnungsvorstellungen verflüchtigen sich oder werden in rationale politische Herrschaftslogiken überführt, und die vormals religiös geprägten Weltbilder und Wirklichkeitsverständnisse durchlaufen einen tiefgreifenden »Prozeß der

Vgl. Habermas, Jürgen (2005): Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a. M., 7. 8 Vgl. dazu u. a. Lübbe 32003, 23–55 sowie Taylor 2009a, 51–159. 7

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Entzauberung«. 9 Zu den zentralen Elementen dieses Entzauberungsprozesses zählen der für die Epoche der Moderne charakteristische technische und wissenschaftliche Fortschritt, die Rationalisierung (und die damit einhergehende Ökonomisierung) der Lebenswelt sowie die Desintegration vormals identitätsstiftender Sinn-, Wert- und Orientierungssysteme. 10 Bis zum heutigen Tag tragen viele dieser Aspekte dazu bei, all jenen Gesellschaften, die diesen historischen Entwicklungsweg beschritten oder ihn im Nachhinein imitiert haben, ein hohes Maß an Freiheit, Glück und Wohlstand zu bescheren. Doch diesen Errungenschaften sind auch fundamentale Verluste an die Seite zu stellen. Viele der vormals sinn- und orientierungsstiftenden gesellschaftlichen Strukturen sind in den Modernisierungsprozessen der letzten Jahrhunderte verloren gegangen und haben die moderne Lebenswelt in ein »stahlhartes Gehäuse« 11 verwandelt, aus dessen immanenten Zwängen sich die meisten Menschen heute kaum mehr zu befreien vermögen. Die Folge dieser Entwicklung ist ein »Unbehagen« an der Moderne 12, das sich seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer stärker manifestiert. Es resultiert aus einem sich stets hemmungsloser gebärdenden Individualismus, einer (zu) starken Fokussierung auf die instrumentelle Dimension der Vernunft und einer damit einhergehenden Beschneidung der eigentlichen Tiefendimension der Freiheit. 13 Für einzelne Gesellschaftsbereiche gehen damit ganz spezifische Herausforderungen einher. So hat beispielsweise das Vordringen naturalistischer Weltbilder in der Moderne zwar nicht zur Auflösung religiöser Deutungshorizonte geführt, wohl aber zu einem Wandel religiöser Praxis. 14 Dazu zählt auch die innerhalb der meisten moderWeber, Max (1920/91988): Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, Tübingen, 94. 10 Vgl. Taylor, Charles (2002): Die Formen des Religiösen in der Gegenwart, Frankfurt a. M., 58–71. 11 Weber 1920/91988, 203. 12 Vgl. Taylor, Charles (1995): Das Unbehagen an der Moderne, Frankfurt a. M. 13 Vgl. Taylor 1995, 7–19. 14 Thomas Meyer etwa weist darauf hin, dass Religion nach wie vor ein mächtiges psychologisches Bedürfnis befriedigt, das Aufklärung und säkularisierte Vernunft verfehlen. Vgl. Meyer, Thomas (1989b): Fundamentalismus. Aufstand gegen die Moderne, Reinbek b. H. Und auch Peter L. Berger hält die gegenwärtig zu beobachtende Wirklichkeit einer säkularen Lebenswelt zwar für dominant, nicht aber schlichtweg für bestimmend. Vgl. Berger, Peter L. (1991): Auf den Spuren der Engel. Die moderne Gesellschaft und die Wiederentdeckung der Transzendenz, Freiburg i. B. 9

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nen Rechtsordnungen etablierte verfassungsrechtliche Trennung von Kirche und Staat. 15 Sie wiederum ist ein zentraler Grund dafür, dass das Recht im modernen Verfassungsstaat zu einer Art Grundmoral aufgestiegen ist, die heute mit dem Anspruch auftritt, »von jedermann eingehalten zu werden«. 16

2.1 Kernelemente der neuzeitlichen Moderne In den Geistes- und Sozialwissenschaften begegnet einem die Rede von der Kultur der Moderne zumeist in zwei unterschiedlichen Zusammenhängen: Da ist zum einen von der Kultur der Moderne als dem zeitgenössischen Lebenskontext die Rede. Dieser beruht auf bestimmten historischen Ereignissen und Errungenschaften, ist in seiner prinzipiellen Offenheit und Gestaltbarkeit zugleich aber immer auch schon auf Zukünftiges hinausverwiesen und befindet sich dadurch in einem permanenten Prozess des Wandels. Zum anderen bezeichnet man mit der Kultur der Moderne eine spezifische Traditionslinie im Denken, die auf einem bestimmten Set von sozio-kulturellen Entwicklungen der Vergangenheit beruht (etwa auf der Aufklärung, der Nationalstaatengründung oder der Industrialisierung). 17 Dem dynamischen Element des Wandels auf der einen steht also ein eher statisches Element des Denkens in bestimmten historischen Traditionen auf der anderen Seite gegenüber. Dass sich beide Aspekte dennoch sinnvoll ergänzen, wird erst dann verständlich, wenn man die aus den historischen Ereignissen hervorgegangenen Denktraditionen als die entscheidenden Bedingungen für jene geistigen Dynamiken begreift, die die Kultur der Moderne auch heute noch antreiben. Zu zentralen Kennzeichen der Kultur der Moderne zählen deshalb nicht nur das Prinzip des dauerhaften Wandels, sondern auch das der fortwährenden Erzeugung und Umsetzung von kreativen Ideen zur

Vgl. Bohrmann, Thomas/Küenzlen, Gottfried (Hrsg.) (2012): Religion im säkularen Verfassungsstaat, Münster. 16 Losch, Bernhard (2006): Kulturfaktor Recht. Grundwerte – Leitbilder – Normen. Eine Einführung, Köln/Weimar/Wien, 170. 17 Vgl. dazu u. a. Wagner, Peter (2008): Moderne/Postmoderne, in: Gosepath, Stefan/ Hinsch, Wilfried/Rössler, Beate (Hrsg.): Handbuch der Politischen Philosophie und Sozialphilosophie. Bd. I, A–M, Berlin, 830–836. 15

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Bewältigung der Herausforderungen unserer zeitgenössischen Erfahrungswelt. 18 Es gibt in den Sozialwissenschaften einen intensiven Diskurs darüber, ob und gegebenenfalls wie sich der Moderne-Begriff sinnvoll definieren lässt, welche kulturgeschichtlichen Veränderungen sich damit verbinden lassen und inwieweit die Moderne überhaupt als eine Epoche gefasst werden kann. 19 Die vorliegenden Ausführungen nehmen dazu in der Weise Stellung, dass sie vor allem einige kulturphilosophische Aspekte der Moderne nachzuzeichnen versuchen. Dabei dominieren – im Gegensatz zum allgemeinen Sprachgebrauch – weniger die Aspekte der Fortschrittlichkeit oder Innovation, als vielmehr die der Diskontinuität der Moderne gegenüber der Tradition, die sich zudem mit dem Anspruch verbinden, die eigene Legitimation nicht mehr nur aus der Vergangenheit abzuleiten, sondern aus den Standards, welche die Vernunft vorgibt. 20 Insoweit drückt der Begriff der Moderne immer auch eine Art Haltung gegenüber der Welt aus, die sich vor allem in der adjektivischen Verwendung des Begriffes modern andeutet. Denn mit modern wird nicht nur ein spezifischer historischer Zeitabschnitt markiert, sondern immer auch eine relationale Struktur: Modern ist eine Epoche vor allem im Verhältnis zu einer anderen Periode. Diese relationale Ebene eröffnet nun aber ganz neue Begriffsdimensionen. Das, was als modern bezeichnet wird, lässt sich jetzt nicht mehr nur zeitlich vom Alten als das Neuere abgrenzen, sondern auch inhaltlich qualifizieren. Dies geschieht bis ins 19. Jahrhundert hinein zunächst eher negativ, in Abgrenzung zum Klassischen, das als das Vollkommenere galt. Später jedoch zunehmend positiv, insoweit sich das Moderne nun mit dem Zukunftsweisenden und damit auch dem Fortschrittlichen verbindet. 21 Vieles, was man aus ideengeschichtlicher Perspektive mit der Vgl. Münch, Richard (1986): Die Kultur der Moderne. Bd. 1. Ihre Grundlagen und ihre Entwicklungen in England und Amerika, Frankfurt a. M., 11–14. 19 Vgl. dazu u. a. Pollack, Detlef u. a. (2013): Einleitung, in: Willems, Ulrich u. a. (Hrsg.): Moderne und Religion. Kontroversen um Modernität und Säkularisierung, Bielefeld, 9–23. 20 Vgl. Habermas, Jürgen (2009): Konzeptionen der Moderne. Ein Rückblick auf zwei Traditionen, in: ders.: Sprachtheoretische Grundlegung der Soziologie. Philosophische Texte, Bd. 1, Frankfurt a. M., 366–398; hier: 367–369. 21 Vgl. Piepmeier, Rainer (1984): Modern, die Moderne, in: HWPh, Bd. 6, Basel/ Stuttgart, 54–62. 18

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Moderne assoziiert, wurzelt im 18. Jahrhundert und verbindet sich mit dem Werk von Immanuel Kant. 22 Neben der Emanzipation des Individuums, die sich in Kants berühmter Definition von Aufklärung als dem »Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit« 23 ausdrückt, ist hier vor allem die grundstürzende Auflösung der mittelalterlichen Verflechtung von Metaphysik und Religion zu nennen. Ihre Transformation in die drei voneinander unabhängigen Wertsphären der Wissenschaft (1), der Ethik (2) und der Ästhetik (3) kommt sinnbildlich in den drei Kritiken Kants zum Ausdruck. 24 (1) Die Sphäre der Wissenschaft zeichnet sich spätestens ab dem 19. Jahrhundert vor allem dadurch aus, dass sich die in ihr vormals vorherrschende Einheit von Wesen und Erscheinung immer stärker auflöst. Fortan geht es in der Wissenschaft also nicht mehr um Repräsentation vorgegebener Ordnungen oder gar die Ergründung des Wesens der Dinge, sondern um Funktionslogiken, die am Untersuchungsgegenstand erprobt werden. 25 Die Wissenschaft ist nicht mehr nur anschaulich (im Sinne von sinnlich fassbar), sondern wird symbolisch repräsentiert, etwa durch Zeichen oder Formeln. 26 Zu den sichtbarsten Neuerungen dieses veränderten Wissenschaftsverständnisses zählen technische Innovationen, die vor allem das Wirtschaften revolutionieren. Neue Arbeitsweisen und technische Hilfsmittel ermöglichen eine bis dahin nicht gekannte Effizienz- und Produktivitätssteigerung und verändern die ökonomischen Strukturen in den aufkommenden Industriegesellschaften. (2) Die Fortschritte in den Wissenschaften erstrecken sich allerdings nicht nur auf einzelne gesellschaftliche Teilbereiche. Mit der Zeit verändert sich auch der Blick auf das soziale Leben. Ein Beispiel dafür ist das sich wandelnde Geschichtsbild, das sich im Verlauf der Vgl. Duque, Félix (1999): Moderne/Postmoderne, in: Sandkühler, Hans J. (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie. Bd. 1, A-N, Hamburg, 859–864; hier: 859. 23 Kant, Immanuel (1784/1977): Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: ders.: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1 (I. Kant Werkausgabe, Bd. XI), Frankfurt a. M., 53–61; hier: 53. 24 Vgl. Duque 1999, 859. 25 Vgl. Winter, Stefan (2010): Moderne/Postmoderne, in: Sandkühler, Hans J. (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie. Bd. 2, I–P, Hamburg, 1632–1639; hier: 1633/1634. 26 Eine ähnliche Horizontverschiebung ereignet sich beispielsweise auch auf dem Gebiet der Sprache, die sich in der Moderne von einem bloßen Ausdrucksmittel zu einem bedeutungstragenden Medium wandelt. Vgl. dazu Saussure, Ferdinand de (1916/ 3 2011): Grundlagen der allgemeinen Sprachwissenschaft, Berlin. 22

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Moderne von seinen teleologischen Zuspitzungen und seinem Eurozentrismus löst und allmählich in einen nüchterneren Historismus übergeht. Dieser bewertet die verschiedenen Zeitalter und Weltbilder nicht einfach, sondern versucht sie vielmehr sachlich zu systematisieren. 27 Dabei bleiben die damit einhergehenden Veränderungen der Selbst- und Fremdwahrnehmung nicht auf den akademischen Bereich begrenzt, sondern greifen auch auf das alltägliche Leben aus und führen dort zu sich verändernden moralischen Einstellungen und Haltungen. Das mittelalterliche Bild eines eindeutig strukturierten und normierten »Universums«, weicht allmählich dem skeptischeren aber auch toleranteren Bild eines modernen »Multiversums« und öffnet dadurch schrittweise den Weg hin zu einem »tendenziellen Kosmopolitismus«, der auf den zunächst noch nationalstaatlich zu verwirklichenden Idealen der Menschenrechte und der Demokratie basiert. 28 (3) Auch im Bereich der Ästhetik vollziehen sich im Verlauf der Moderne signifikante Veränderungen. Diese betreffen zunächst den theoretisch-philosophischen Bereich der sinnlichen Wahrnehmung im Allgemeinen. Sie gelten darüber hinaus aber auch für die lebensweltlichen Sphären des Medialen und der Kunst. Parallel zu den Entwicklungen in der Wissenschaft und der Sprache geht es beispielsweise in der modernen bildenden Kunst nicht mehr nur um Repräsentation von Wirklichkeit, sondern vor allem auch um die Erscheinung selbst. Deutlich wird dies unter anderem in der Entwicklung der Malerei seit Beginn des 20. Jahrhunderts, die sich immer mehr vom Gegenständlichen löst und sich so, ausgehend vom Impressionismus (etwa bei Monet), über den Kubismus (z. B. bei Picasso) hin zur abstrakten Kunst (bspw. bei Malewitsch) fortentwickelt. 29 Im Zentrum all dieser Veränderungsprozesse steht der Mensch bzw. das Subjekt, das sich in der Moderne, abermals in Anlehnung an Kant, vor allem in dreifacher Weise auszeichnet: 30 Es ist selbstidentisch (1), d. h. eigenmächtiger Urheber der Objektivierung der Wirklichkeit, der es Sinn und Identität verleiht; es ist selbstbewusst (2), d. h. dazu fähig, sich über sich selbst – mittels der eigenen Vernunft – Auskunft zu geben und sich dadurch selbst verständlich zu werden; 27 28 29 30

Vgl. Duque 1999, 859. Duque 1999, 859. Vgl. Winter 2010, 1634. Für die nachfolgende Systematik vgl. Duque 1999, 860.

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Kernelemente der neuzeitlichen Moderne

und es ist zu ästhetischen Urteilen fähig (3), d. h. es kann seine individuellen Geschmacksurteile zu einem kulturell verobjektivierten Common Sense in Beziehung setzen, ohne dabei die Autonomie der eigenen Urteilsfindung zu untergraben oder die Tatsache eingelebter Gültigkeiten einfach zu ignorieren. In der Kritik der Urteilskraft gibt Kant diese von ihm so bezeichneten »Maximen des gemeinen Menschenverstandes« mit »1. Selbstdenken; 2. An der Stelle jedes andern denken; 3. Jederzeit mit sich selbst einstimmig denken« 31 an und ordnet sie dem Verstand, der Urteilskraft und der Vernunft zu. 32 Die Konsequenzen dieses veränderten Menschenbildes sind enorm. Einerseits wird das Subjekt nun selbst zur Quelle der Erkenntnis erhoben und damit in den Mittelpunkt der Welt gerückt. Andererseits bezahlt es diese neue Zentralstellung mit einer bis dato unvergleichlichen metaphysischen Heimat- und Orientierungslosigkeit. 33 Da, wo noch im Mittelalter und der beginnenden Neuzeit, die göttliche Natur des Menschen die Erkenntnisfähigkeit des Wirklichen garantieren konnte, tut sich in der Moderne eine Leerstelle auf, die es immer wieder neu zu besetzen gilt. Ein solches bis dahin weitgehend beispielloses Subjektverständnis 34 wirkt sich aber nicht nur auf das Individuum aus, sondern führt auch im sozialen Gefüge zu großen Verunsicherungen. So kommt es beispielsweise seit dem 19. Jahrhundert zu verschiedenen restaurativen Gegenbewegungen, mit dem Ziel, vormalige Sicherheiten zurückzugewinnen und die geschichtliche Entwicklung mit einem Wahrheitswert zu versehen. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts mischen sich solche Bestrebungen mit politischideologischen Gedanken und kulminieren in der fatalen Vorstellung, eine soziale Ordnung herstellen zu können, in der »das Heterogene homogenisiert [wird] und sich darin zeitlich nicht mehr bewegt«. 35 Die Moderne ist also nicht nur ein Zeitalter des Fortschritts und der Innovation, sondern auch eine Epoche neuer Herausforderungen. Georg Wilhelm Friedrich Hegel hat diese Sonderstellung der Moderne früh adaptiert und bereits 1807 in seiner Vorrede zur PhänomenoKant, Immanuel (1790/1974): Kritik der Urteilskraft (I. Kant Werkausgabe, Bd. X), Frankfurt a. M., 226. 32 Vgl. Kant 1790/1974, 227. 33 Vgl. u. a. Berger, Peter L. (21995): Sehnsucht nach Sinn. Glauben in einer Zeit der Leichtgläubigkeit, Frankfurt a. M./New York, 73–75. 34 Vgl. Zima, Peter V. (32010): Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne, Tübingen, 94–106. 35 Winter 2010, 1635. 31

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logie des Geistes zum Ausdruck gebracht. Gleich zu Beginn des Textes spricht er von der Gegenwart als einer »Zeit der Geburt und des Übergangs zu einer neuen Periode« und von einem sich darin vollziehenden Bruch des Geistes »mit der bisherigen Welt seines Daseins und Vorstellens«. 36 Dieser Bruch bezieht sich insbesondere auch auf das Verhältnis zur Tradition, die der sich stetig erneuernden Moderne keine Stütze mehr bieten kann. Vielmehr muss die Moderne ihre »Legitimität« 37 fortan aus sich selbst generieren. »[D]ie Moderne kann und will ihre orientierenden Maßstäbe nicht mehr Vorbildern einer anderen Epoche entlehnen, sie muß ihre Normativität aus sich selber schöpfen. Die Moderne sieht sich, ohne Möglichkeit der Ausflucht, an sich selbst verwiesen«. 38 Sinnbildlich dafür steht das Prinzip der Subjektivität bzw. der Freiheit, das, wie bereits angedeutet, sowohl zur Triebfeder des Fortschritts als auch zur Quelle der Verunsicherung gereichen kann. 39 Subjektivität und Selbstbewusstsein müssen in der Moderne den Beweis erbringen, dass sich aus ihnen »Maßstäbe gewinnen lassen, die der modernen Welt entnommen sind und gleichzeitig zur Orientierung in ihr, das heißt aber auch: zur Kritik einer mit sich selbst zerfallenen Moderne taugen«. 40

2.2 Glaube und Religion in säkularer Zeit Wenn heutige westliche Gesellschaften als überwiegend säkular beschrieben werden, stehen dabei vor allem zwei Aspekte im Vordergrund: die Trennung von Staat und Kirche (1) sowie das Schwinden von Religiosität aus dem alltäglichen Erfahrungsumfeld der Menschen (2). Beide Entwicklungen gingen lange Zeit Hand in Hand und bilden die sprichwörtlichen zwei Seiten der Medaille des Säkularismus. Dennoch fallen beide nicht einfach in eins, sondern offenbaren vielmehr eine rechtliche und eine gesellschaftliche Dimension von Säkularisierung, die es voneinander zu unterschieden gilt: Hegel, Georg W. F. (1807/1986): Phänomenologie des Geistes (G. W. F. Hegel Werke, Bd. 3), Frankfurt a. M., 18. 37 Vgl. Blumenberg, Hans (62012): Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt a. M. 38 Habermas, Jürgen (1985b): Das Zeitbewuβtsein der Moderne und ihr Bedürfnis nach Selbstvergewisserung, in: ders.: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt a. M., 9–33; hier: 16. 39 Vgl. Habermas 1985b, 27. 40 Habermas 1985b, 31. 36

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Glaube und Religion in säkularer Zeit

(1) Die rechtliche Ebene umfasst Entwicklungen, die eng mit der Geschichte des modernen Staates in Europa verknüpft sind. 41 Denn erst durch die Trennung von der Kirche im Zuge der verheerenden Religionskriege des 16. Jahrhunderts konnte sich der Staat von den religiösen Autoritäten emanzipieren und die Funktion der Befriedung und des Schutzes der Gesellschaft übernehmen. Ein zentraler Aspekt dieser Bemühungen lag darin, auch den religiösen Minderheiten Rechte einzuräumen. Dazu zählten zuvorderst das Recht auf Glaubensfreiheit, Bekenntnisfreiheit und freie Religionsausübung. 42 Doch auch dieser Prozess stand erst am Beginn einer Entwicklung, in deren Folge sich die Religionsfreiheit zu einem allgemein anerkannten Freiheitsrecht entwickeln konnte. Denn die bloße Duldung religiöser Minderheiten lässt sich noch nicht mit jenem Menschenrecht auf Religionsfreiheit vergleichen, das der moderne liberale Staat gewährt, der sich einer grundsätzlichen Herrschaft des Rechts verpflichtet weiß. Erst die demokratischen Verfahren des freiheitlichen Rechtsstaates garantieren jene Toleranz, die nicht auf bloßem Wohlwollen, sondern auf Gründen beruht, die der wechselseitigen Anerkennung der Bürger untereinander geschuldet sind. 43 (2) Die gesellschaftliche Säkularisierung hingegen vollzog sich gewissermaßen im Schatten der Säkularisierung des Staates. Denn die rechtliche Trennung von Kirche und Staat begünstigte zwar den Verlust der ganzheitlichen Ordnungsfunktion, welche die Kirchen beispielsweise im europäischen Mittelalter noch besaßen, führte aber nicht zu einem abrupten Ende traditioneller religiöser Strukturen. Erst allmählich vollzog sich jener gesellschaftliche Wandel, der zu einem Rückzug der Religion aus dem Sichtfeld moderner Lebenswelten geführt hat und der die Funktion von Religion heutzutage im Wesentlichen auf die seelsorgerische Praxis beschränkt. 44 Dieser Rückzug in den Bereich des Privaten korrespondiert mit der allgemeinen funktionalen Differenzierung moderner Gesellschaften und den Individualisierungsprozessen, die damit vielfach einherschreiten. 45 Vgl. dazu u. a. Böckenförde 1967/2006, 92–109. Vgl. Habermas, Jürgen (2007): Die öffentliche Stimme der Religion. Säkularer Staat und Glaubenspluralismus, in: Blätter für deutsche und internationale Politik (52/12), 1441–1446; hier: 1441. 43 Vgl. Habermas 2007, 1442. 44 Vgl. Habermas 2007, 1444. 45 Gerade mit Blick auf das gegenwärtig in den meisten säkularen Gesellschaften vorherrschende politisch liberale Demokratieverständnis kann man den Prozess der 41 42

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Die Rahmenbedingungen einer säkularen Kultur

In der Soziologie wurde der gesellschaftliche Säkularisierungsprozess (vor allem der europäischen Wohlstandsgesellschaften) lange Zeit so ausbuchstabiert, dass verschiedene Modernisierungsprozesse gleichsam automatisch eine allmähliche Säkularisierung der Bevölkerung zur Folge haben. Dazu zählten im Wesentlichen der wissenschaftlich-technische Fortschritt, die funktionale Ausdifferenzierung der Gesellschaft und die wachsende existenzielle Sicherheit der Bevölkerung. Der wissenschaftlich-technische Fortschritt, so die Annahme, begünstigt die Entwicklung eines aufgeklärten naturwissenschaftlichen Bewusstseins und trägt somit zu einem allmählichen Wandel des theozentrischen in ein anthropozentrisches Weltbild bei. Moderne Gesellschaften sind darüber hinaus durch eine funktionale Ausdifferenzierung ihrer Subsysteme gekennzeichnet, so dass die allgemeine Einflusssphäre der Religion schwindet und sich die anderen Teilsysteme fortan autonom entwickeln können. Der wissenschaftlich-technische Fortschritt und die funktionale Differenzierung der Gesellschaft begünstigen schließlich eine allgemeine ökonomische Prosperität und erhöhen damit die existenzielle Sicherheit der Menschen, so dass das Bedürfnis nach Religion als einer Kontingenzbewältigungspraxis schwindet. 46 Dass dieses Modell lückenhaft war, zeigte sich schon früh am Beispiel der US-amerikanischen Gesellschaft, die trotz – oder in diesem besonderen Fall: gerade wegen – der verfassungsmäßigen Trennung von Kirche und Staat sowie stetiger Entwicklungsprozesse auf ökonomischem und technisch-wissenschaftlichem Gebiet eine ausgeprägte Zivilreligion hervorgebracht hatte. 47 Die These, wonach es sich dabei um einen Sonderfall handelte, wurde mittlerweile immer mehr relativiert. Heute gehen Religionssoziologen davon aus, dass die Säkularisierungsprozesse in Europa den eigentlichen historischen Sonderweg darstellen. 48 Überführung des Bereiches der Religion in die Sphäre privater Verfügbarkeit auch als ein eigenständiges, drittes Charakteristikum des Säkularisierungsprozesses begreifen; vgl. u. a. Reder, Michael (2013): Religion in säkularer Gesellschaft. Über die neue Aufmerksamkeit für Religion in der politischen Philosophie, Freiburg i. B./München, 16. 46 Vgl. Habermas, Jürgen (2008): Die Dialektik der Säkularisierung, in: Blätter für deutsche und internationale Politik (53/4), 33–46; hier: 34. 47 Vgl. Bellah, Robert N. (1991): Beyond Belief. Essays on Religion in a Post-Traditional World, Berkeley/Los Angeles, 168–186. 48 Vgl. u. a. Berger, Peter L. (1999a): The Desecularization of the World. A Global

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Glaube und Religion in säkularer Zeit

Scheinbar im vollkommenen Gegensatz zu den früheren Annahmen, sprechen viele Experten inzwischen nicht mehr von einer wachsenden Säkularisierung, sondern vielmehr von einer Wiederkehr der Religion, wobei sie im Wesentlichen drei Phänomene im Blick haben: die neuerliche Ausbreitung der Religionen, insbesondere des Christentums und des Islams (1), die dabei zu beobachtende verstärkte Konzentration auf orthodoxe Glaubensinhalte (2) und die Indienstnahme dieser Glaubensinhalte für machtpolitische Zwecke (3). 49 Die Ausbreitung der großen Weltreligionen betrifft vor allem die Entwicklungsgesellschaften Ost- und Südostasiens sowie Afrikas und geht dort vielfach mit spezifischen Anpassungen an die Bedürfnisse der Menschen einher. So haben vor allem ekstatische und charismatische Formen der Religiosität dort großen Zuwachs, die eine besonders starke individuelle Verbindung mit dem Göttlichen propagieren. 50 Diese Betonung der Exklusivität geht häufig mit einer sehr strengen Orientierung an geoffenbarten Glaubensinhalten oder spezielle Riten und Praktiken einher. Solche Formen der Religiosität sind zudem stark integrierend angelegt und gewinnen auch für die anderen Lebensbereiche der Gläubigen rasch an Bedeutung. Entsprechend einfach ist es auch, einzelne Glaubensinhalte für politische Zwecke zu instrumentalisieren und somit die Gewaltpotenziale dieser Lehren zu entfesseln. 51 In der zeitgenössischen religionssoziologischen Forschung ist umstritten, ob dem klassischen Säkularisierungsparadigma heute noch immer Plausibilität zukommt oder nicht. 52 Orientiert man sich am empirischen Datenmaterial, so spricht manches dafür, die klassische These von der Rückläufigkeit der Religiosität in modernen Gesellschaften nicht allzu leichtfertig zu verabschieden. Vor allem Pippa Norris und Ronald Inglehart 53 in den USA, Steve Bruce 54 in GroßOverview, in: ders. (Ed.): The Desecularization of the World. Resurgent Religion and World Politics, Grand Rapids, 1–18; hier: 9–11. 49 Vgl. Habermas 2008, 35. 50 Vgl. Martin, David (2005): On Secularization. Towards a Revised General Theory, Aldershot, 26–43. 51 Vgl. Habermas 2008, 36. 52 Einen guten Überblick über die Entwicklung der Säkularisierungsdebatte findet man u. a. bei Pollack, Detlef (2009): Rückkehr des Religiösen? Studien zum religiösen Wandel in Deutschland und Europa II, Tübingen, 1–16. 53 Vgl. u. a. Norris, Pippa/Inglehart, Ronald (2004): Sacred and Secular: Religion and Politics Worldwide, New York, 83–110. 54 Vgl. u. a. Bruce, Steve (2011): Secularization. In Defence of an Unfashionable Theory, Oxford.

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Die Rahmenbedingungen einer säkularen Kultur

britannien und Detlef Pollack 55 in Deutschland konnten in ihren Studien zeigen, dass wichtige Aspekte der Säkularisierungsthese nach wie vor Gültigkeit besitzen und die Annahme eines Rückgangs von öffentlicher Religiosität unter den Bedingungen der Moderne durchaus berechtigt ist. Als überwunden kann allerdings die Rede vom Ende der Religion unter den Bedingungen der Moderne gelten. Denn der mit der funktionalen Differenzierung einhergehende Verlust der vielfältigen Einflusssphären der Kirchen und der damit begründete vermehrte Rückzug von Religiosität in den privaten Bereich hat nichts mit einem grundsätzlichen Bedeutungsverlust der Religion zu tun. Auch in säkularen Gesellschaften kann Religion nach wie vor eine wichtige politische und kulturelle Bedeutung haben; 56 und dies gilt erst recht in Bezug auf die individuelle Lebensführung. Entsprechend sinnvoll erscheint es deshalb auch gegenwärtig, nicht gleich von einer Wiederkehr der Religion, sondern von veränderten »gesellschaftlich-kulturellen Ausdrucksformen« 57 der Religion zu sprechen. Denn solche veränderten Ausdrucksformen werden unter anderem in einer neuen politischen Wahrnehmbarkeit von Religion (1), einer wachsenden Ausdifferenzierung (2), einer Vervielfachung religiöser Erscheinungsformen (3) und einer partiellen Radikalisierung von Religion (4) sichtbar. 58 (1) Religionsgemeinschaften treten in modernen Gesellschaften vor allem als zivilgesellschaftliche Akteure in Erscheinung, d. h. sie bringen dort ihre spezifischen Positionen in den freien politischen Meinungs- und Willensbildungsprozess mit ein. Dies eröffnet ihnen nicht nur die Möglichkeit, eigene Überzeugungen und Positionen zu artikulieren, sondern auch die Chance, diejenigen Themen in der Öffentlichkeit zu lancieren, denen sie große Bedeutung beimessen. Besonders deutlich wird dies bei Fragen, die das Ethos der jeweiligen Religionsgemeinschaft berühren. So beziehen etwa die christlichen Vgl. Pollack, Detlef (2003): Säkularisierung – ein moderner Mythos? Studien zum religiösen Wandel in Deutschland, Tübingen, 132–148. Aktuelleres empirisches Material verarbeitet Pollack in seiner 2015 gemeinsam mit Gergely Rosta veröffentlichten Studie: Pollack/Rosta 2015, 98–174. 56 Vor allem José Casanova betont diesen Aspekt, wenn er von einer »deprivatization« (dt: De-Privatisierung) der Religion spricht. Vgl. Casanova, José (1994): Public Religions in the Modern World, Chicago/London, 3–6. 57 Reder 2013, 17. 58 Die nachfolgenden Ausführungen orientieren sich an den Hinweisen zur Transformation der Religion bei Michael Reder. Vgl. Reder 2013, 17–26. 55

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Glaube und Religion in säkularer Zeit

Kirchen in Deutschland insbesondere im Rahmen aktueller gesellschaftspolitischer Debatten immer wieder vernehmbar öffentlich Stellung. 59 (2) Die Vielfalt der Meinungen und Weltanschauungen in modernen Gesellschaften fördert nicht nur Individualität und Freiheit, sondern führt mitunter auch zu Desorientierung und Sinnverlust. Dies wiederum verleiht vielen neuen Religionsgemeinschaften gesellschaftliches Gewicht, die mit ihren religiösen Botschaften den Menschen Halt und Orientierung zu vermitteln versuchen. Zulauf erfahren dabei vor allem eher informell agierende Gruppen, die sich den Bedürfnissen der Gläubigen anpassen können und – ganz dem modernen, kapitalistischen Duktus folgend – ihren potenziellen Kunden das beste Angebot unterbreiten können. In der religionssoziologischen Forschung ist diesbezüglich auch von einer Ökonomisierung der Religion die Rede. 60 (3) Sämtliche Religionen unterliegen einem kulturellen Wandel – selbst dann, wenn ihre Glaubensinhalte überzeitliche Gültigkeit beanspruchen. Dies führt nicht nur zu einer beständigen Transformation des Religiösen, sondern auch zu einer Übertragung religiöser Sinngehalte auf profane Bereiche moderner Kultur. Deutlich wird dies unter anderem im Bereich der Kunst, des Sports oder bei der Gestaltung von Großereignissen. 61 Zwar fehlt solchen Events in der Regel der religiöse Transzendenzbezug, doch zeigt sich in ihnen ein nach wie vor lebendiges Bedürfnis nach Sinnvermittlung, Gemeinschaftlichkeit und Identität, das vormals religiös codiert war und heute in säkularer Form artikuliert wird. 62 (4) Die Schattenseite der neuen Wahrnehmbarkeit von Religion stellen die verschiedenen Formen ihrer Radikalisierung dar. Vor allem Vgl. Liedhegener, Antonius/Werkner, Ines-Jacqueline (2011): Religion, Zivilgesellschaft und politisches System – ein offenes Forschungsfeld, in: diess. (Hrsg.): Religion zwischen Zivilgesellschaft und politischem System. Befunde – Positionen – Perspektiven, Wiesbaden, 9–36. 60 Vgl. dazu insbesondere Graf, Friedrich W. (2004): Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur, München, 15–30. Einschlägige Veröffentlichungen aus dem Bereich der Religionsökonomie stammen u. a. von Laurence R. Iannaccone, Roger Finke und Rodney Stark; vgl. u. a. Stark, Rodney/Finke, Roger (2000): Acts of Faith. Explaining the Human Side of Religion, Los Angeles. 61 Vgl. Knoblauch, Hubert (2009): Populäre Religion. Auf dem Weg in eine spirituelle Gesellschaft, Frankfurt a. M./New York. 62 Vgl. Höhn, Hans-Joachim (2007): Postsäkular. Gesellschaft im Umbruch – Religion im Wandel, Paderborn u. a. 59

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Die Rahmenbedingungen einer säkularen Kultur

fundamentalistische Strömungen neigen in Abgrenzung zu einer als gottlos empfundenen Moderne verstärkt dazu, ihre als unumstößlich gültig behaupteten Glaubenswahrheiten zunehmend auch gewaltsam durchzusetzen. 63 Dabei lassen sich verschiedene Motive für fundamentalistische Agitation unterscheiden: Für eine Reihe von Interpretationsansätzen erscheint religiöser Fundamentalismus vor allem als eine Art ideologischer Gegenbewegung zur Moderne. In einer durch vielfältige Veränderungsprozesse zutiefst verunsicherten Gegenwartskultur versprechen fundamentalistische Strömungen durch ihre spezifische Rückbesinnung auf traditionelle Glaubensinhalte und Überzeugungen Sicherheit und Halt. Dabei bleibt jedoch häufig unklar, worin sich fundamentalistische Gruppen von bloß traditionellen Glaubensformen unterscheiden. Andere Deutungen wiederum interpretieren den Fundamentalismus ebenfalls als Ablehnung der Moderne, richten ihr Augenmerk aber insbesondere darauf, dass Fundamentalisten einen vermeintlich reinen Glauben propagieren, der aller kulturellen Verwurzelungen entbunden zu sein scheint. Durch die Leugnung der kulturellen Dimension wird Religion jedoch verkürzt und büßt ihre diskursiven Wissensbestände ein, so dass letztlich nur ein diffuses religiöses Erleben bleibt, für das Fundamentalismen die Menschen zu gewinnen suchen. 64 Einem dritten Theoriestrang folgend, sind die vor allem den monotheistischen Religionen inhärenten Absolutheitsansprüche die zentrale Quelle für fundamentalistische Überzeugungen. Sie sind auch der Grund für eine implizite Tendenz zur Gewalt innerhalb fundamentalistischer Zirkel, da sie sich fortwährend durch die entsprechenden Ansprüche anderer religiöser Gruppen herausgefordert fühlen müssen. 65 Zusammengefasst ergibt sich aus diesen veränderten kulturellFrühe Publikationen dazu stammen u. a. von Meyer, Thomas (Hrsg.) (1989): Fundamentalismus in der modernen Welt. Die Internationale der Unvernunft, Frankfurt a. M.; Riesebrodt, Martin (1990): Fundamentalismus als patriarchalische Protestbewegung, Tübingen, sowie Marty, Martin E./Appleby, R. Scott (1996): Herausforderung Fundamentalismus. Radikale Christen, Moslems und Juden im Kampf gegen die Moderne, Frankfurt a. M./New York. 64 Vgl. dazu u. a. Müller, Johannes (2007): Religionen – Quelle von Gewalt oder Anwalt der Menschen? Überlegungen zu den Ursachen der Ambivalenz von Religionen, in: ders./Reder, Michael/Karcher, Tobias (Hrsg.): Religionen und Globalisierung, Stuttgart, 119–137 sowie Roy, Olivier (2011): Heilige Einfalt. Über die politischen Gefahren entwurzelter Religionen, Bonn. 65 Vgl. Assmann, Jan (2005): Das Gewaltpotential des Monotheismus und der dreieine Gott, Freiburg i. B. 63

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Das Recht als moderne Quelle normativer Orientierung

religiösen Ausdrucksformen der Religion in vielen europäischen Gesellschaften ein neues Verhältnis von Religion und Moderne, das Jürgen Habermas mit dem Begriff »postsäkular« zu beschreiben versucht hat. 66 In einer postsäkularen Gesellschaft zu leben, bedeutet zunächst einmal zu erkennen, dass die eigene säkulare Lebenssituation im globalen Maßstab eher die Ausnahme als die Regel darstellt und somit letztlich relativ ist. Zudem bedeutet es, religiöse Überzeugungen auch innerhalb der eigenen Gesellschaft als Positionen im öffentlichen Wertediskurs wahrzunehmen und sie in ihren moralischen Intuitionen ernst zu nehmen und nicht etwa von vornherein als dogmatisch zu diskreditieren. Und schließlich zeichnen sich postsäkulare Gesellschaften dadurch aus, dass sie weltanschaulich plural und folglich dazu aufgefordert sind, politische Lösungen für die unvermeidbaren Interessensdivergenzen zu finden, die das Zusammenleben von Menschen mit verschiedenen kulturell-religiösen Prägungen mit sich bringt. 67 Ein wichtiger Schritt auf diesem Weg ist die Erkenntnis, dass sich Glaube und Wissen nicht notwendigerweise ausschließen müssen, sondern vielmehr wechselseitig ergänzen können. An einen Gott zu glauben bedeutet demnach nicht, an einem Mangel an Rationalität zu leiden, sondern beschreibt vielmehr ein fundamentales Bedürfnis nach religiöser Orientierung. Diese bezieht sich allerdings nicht allein auf die Einhaltung spezifischer religiöser Werte und Normen. Orientierung vermittelt der Glaube auch insoweit, dass er den existenziellen Fragen des Menschen eine Richtung weist bzw. ihnen ein Ziel vorgibt. Sicherheit gewährt der Glaube deshalb auch nicht allein dadurch, dass er den Gläubigen ein der irdischen Rationalität überlegenes, metaphysisches Wissen zugänglich macht, sondern dadurch, dass er ihnen unter den unsteten Bedingungen unserer Existenz Geborgenheit und Zuversicht vermittelt.

2.3 Das Recht als moderne Quelle normativer Orientierung Das Verhältnis von Recht und Religion ist nicht erst ein Topos der neuzeitlichen Ideengeschichte, sondern reicht zurück zu den Ursprungs- und Gründungsmythen 68 der monotheistischen Offen66 67 68

Habermas, Jürgen (2001): Glauben und Wissen, Sonderdruck, Frankfurt a. M., 13. Vgl. Habermas 2008, 36/37. Der Mythos-Begriff ist hier und im Fortgang natürlich in einem wissenschaft-

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Die Rahmenbedingungen einer säkularen Kultur

barungsreligionen. Im Wort Gottes, so die alttestamentarische Vorstellung, offenbart sich eine geheiligte, religiöse Ordnung, die sowohl Erlösung verheißt als auch unbedingten Gehorsam verlangt. Dies erhebt die Religion zur höchsten Ordnungsinstanz im Leben der Menschen. Und weil die Menschen schwach sind und nicht imstande, ihr Zusammenleben gütlich zu ordnen, bedürfen sie göttlicher Regeln und Gesetze. Im Mythos von der Offenbarung der Gesetzestafeln (Exodus 31, 18) tritt deshalb das geheiligte Recht an die Seite der Religion. Denn erst mit seiner Hilfe lässt sich das Zusammenleben der Menschen verbindlich regeln. 69 Im Laufe der Geschichte entwickelt sich aus der engen Verzahnung von Recht und Religion allmählich der Grundsatz, dass politische Herrschaft nicht willkürlich sein darf, sondern an Gesetze rückgebunden sein muss, die diese Herrschaft sowohl begründen als auch in bestimmte Schranken weisen. Später erwächst aus dieser Idee auch die neuzeitliche Legitimation der Rechtsstaatlichkeit. In den integrierten Gesellschaften des europäischen Mittelalters hingegen ist eine solche Vorstellung nur dann sinnvoll, wenn die Gesetze die gleiche göttliche Legitimation beanspruchen können, wie auch die Herrschaft. 70 Die biblische Erzählung von Mose, der auf dem Berg Sinai von Gott die Gesetzestafeln erhält, stellt diese Analogie sicher, denn hier wird bestätigt, dass die Gesetze selbst göttlichen Ursprungs sind. 71 In der christlich-abendländischen Tradition hat sich das Verhältnis von Herrschaft/Macht und Gesetz in der grundsätzlichen Vorstellung einer »über den Menschen stehende[n] Rechtfertigung der Herrschaft« einerseits und dem Ideal einer »gerechten, an ihre Verantwortung erinnerbaren Herrschaft« 72 andererseits fest etabliert. 73 lichen Sinne zu verstehen und meint religiöse oder ideengeschichtliche Erzählungen, die über das Beschreibende hinaus vor allem eine symbolische Dimension haben. Mit der alltagssprachlichen Rede vom Mythos als einer Schein-Wahrheit hat dieses Begriffsverständnis nichts zu tun. 69 Vgl. Losch 2006, 159. 70 Vgl. Losch 2006, 159/160. 71 In Exodus 34, 1 heißt es entsprechend: »Weiter sprach der Herr zu Mose: Hau dir zwei steinerne Tafeln zurecht wie die ersten! Ich werde darauf die Worte schreiben, die auf den ersten Tafeln standen, die du zerschmettert hast.« 72 Losch 2006, 160. 73 Das wird insbesondere deutlich, wenn man sich bewusst macht, dass sich viele neuzeitliche Revolutionen letztlich darauf zurückführen lassen, dass die Menschen dieses Verhältnis außer Kraft gesetzt oder es als zu einseitig in Richtung einer gottgewollten Herrschaftslegitimation gewichtet empfunden haben.

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Das Recht als moderne Quelle normativer Orientierung

Ausgehend von dem mythisch geprägten Einheitsdenken von weltlicher und religiöser Herrschaft, das sich noch im europäischen Mittelalter durch den Universalitätsanspruch der Kirche oder die Einführung des Gottesgnadentums ausdrückte, durchlief dieses Verhältnis allerdings zahlreiche Transformationsprozesse. So dauerte es bis zum Beginn der Neuzeit, ehe der Machtmissbrauch der Herrschenden allmählich ein vertragstheoretisches Denken reifen ließ, das die Legitimation der Herrschaft allein durch die Beherrschten vorsah und an klar definierte Regeln band. Heute, im demokratisch legitimierten Verfassungsstaat, bedarf die öffentliche Organisation des Staates keiner mythischen Rechtfertigung mehr, sondern ist Aufgabe der kollektiven Selbstbestimmung. 74 Dennoch wäre es vorschnell, die säkulare Gegenwartskultur als endgültige Überwindung der mythischen Verklammerung von Recht und Religion zu begreifen. Denn auch im modernen Verfassungsstaat sind die alttestamentarischen Topoi von Herrschaft, Recht und Gesetz nach wie vor lebendig. Der zentrale Unterschied besteht allerdings in der Position von Herrschern und Beherrschten. Denn während in biblischer Zeit die Herrschaft religiös fundiert war und die Herrschenden mit gleichsam göttlicher Autorität ausstattete, beruht die Herrschaft im modernen Verfassungsstaat auf einer Rechtsordnung und auf politischer Beteiligung und stattet heute die vormals Beherrschten mit Autorität aus. Im modernen Staat wird also das Recht zur basalen Grundlage der Ordnung, während es in alttestamentarischer Zeit lediglich die Funktion eines Nothelfers für den Fall des Machtmissbrauchs durch den Herrscher hatte. 75 Der sich seit der Aufklärung allmählich herausbildende moderne Verfassungsstaat kann dann als eine kulturelle Weiterentwicklung des ursprünglich mythisch-religiösen Rechtsverständnisses begriffen werden. In ihm vollzieht sich letztlich die Wende hin zu einem institutionell gesicherten, vernunftgeleiteten Recht. Ob darin allerdings tatsächlich schon »das Reich der verwirklichten Freiheit« 76 sichtbar wird, muss angesichts einer möglichen Instrumentalisierung des Rechts durch den Staat durchaus kritisch hinterfragt werden. Denn

Vgl. Losch 2006, 160/161. Vgl. Losch 2006, 161/162. 76 Hegel, Georg W. F. (1821/1986): Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse (G. W. F. Hegel Werke, Bd. 7), Frankfurt a. M., 46. 74 75

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wie die historischen Entwicklungen vor allem des 20. Jahrhunderts gezeigt haben, stellt ein vernunftbasiertes Recht nicht schon per se Freiheit sicher. Diese Gewähr übernimmt erst – um in der Hegel’schen Terminologie zu bleiben – ein im Recht sich ausdrückender objektiver Geist, der letztlich als Realisierung des freien Willens der einzelnen Bürgerinnen und Bürger verstanden werden kann. Infolgedessen geht es heutzutage auch nicht allein darum, die reine Erkenntnis zum Maßstab einer modernen Lebens- oder gar Rechtsauffassung zu erklären. Das sehr viel bescheidenere, aber zugleich realistischere Interesse richtet sich auf die Entdeckung der erkenntnisleitenden Belange und Ziele der Menschen. 77 Von großer Wichtigkeit ist dabei die Tatsache, dass die Zugrundelegung einer Dominanz der Vernunft gegenwärtig alle Gesellschaftsmitglieder dazu nötigt, ihre »Motive und Interessen der Erkenntnis vernünftig zu artikulieren und der Erörterung zugänglich zu machen«. 78 Das schafft Raum für einen demokratischen Diskurs, in dem jede Stimme grundsätzlich gleich viel zählt und deshalb auch für sich in Anspruch nehmen kann, Gehör zu finden. Die neuzeitliche Orientierung am Vernunftideal gelangt aber auch im Recht immer wieder an Grenzen. Ein Beleg dafür ist die zeitgenössische Debatte über die Verfassungswirklichkeit. Dabei wird zwischen der Verfassung als einem normierenden Gesetzestext und der tatsächlichen Rechtspraxis unterschieden. Insbesondere letztere geht natürlich weit über den Verfassungstext hinaus und schafft gegenwärtig Recht, das eher praktischen Interessen gehorcht und weniger an den Idealen der Verfassung ausgerichtet ist. 79 Auf diese Weise wird die Verfassung – wie andere Ordnungsmodelle auch – immer mehr zu einem Idealbild bzw. zu einem Symbol, dem ein ganz ähnliches Schicksal beschieden zu sein scheint, wie dem vormals gültigen religiösen Ordnungsmodell. Denn in der Regel ist es nur eine Frage der Zeit, bis ein Symbol selbst die »Züge eines Mythos« annimmt und dann vor allem dazu dient, nicht mehr für sich selbst zu stehen, sondern die »bestehenden Herrschaftsverhältnisse« bloß noch zu legitimieren. 80

Vgl. Losch 2006, 163. Vgl. Losch 2006, 163. 79 Vgl. dazu auch die noch etwas allgemeiner gehaltene Kritik an einer Entgrenzung des Rechts bei Brieskorn, Norbert (2008): Entgrenzung des Rechts, in: Stimmen der Zeit (226/1), 1–2. 80 Losch 2006, 164. 77 78

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Das Recht als moderne Quelle normativer Orientierung

Die vormodernen, mythischen Wurzeln des Rechts zeigen sich jedoch nicht nur am Beispiel der Verfassung, sondern werden auch mit Blick auf die Menschenrechte deutlich, deren Entwicklung sich ja paradoxerweise genau im Schatten jener Säkularisierungstendenzen vollzog, die erst den Bruch zwischen weltlicher und kirchlicher Herrschaft heraufbeschwörten. Das mythische Element besteht hier in der Geschöpflichkeit des Menschen und der natürlichen Rechte, die sich daraus ableiten lassen. Nicht die Freiheit oder die persönliche Autonomie stehen deshalb am Beginn der Menschenrechte, sondern vor allem die Empathie mit dem Mitmenschen, der als Gleicher verstanden und als solcher ins Recht gesetzt werden soll. 81 Die Freiheit ist also nicht der Beginn, sondern das Ergebnis der Menschenrechtsidee. Nur so ist es auch zu erklären, weshalb den Freiheitsrechten immer auch solidarische Pflichten beigeordnet sind, die letztlich die Grundlage für jene demokratische Gemeinschaftlichkeit bilden, in der die individuelle Selbstbestimmung letztlich ihren kollektiven Ausdruck erfährt. 82 Systematisch freilich hat sich das Recht in der Moderne längst von der Religion gelöst. Der Anspruch einer säkularen und funktional differenzierten Gesellschaft, mit Hilfe des Rechts eine stabile Sozialordnung zu gewährleisten und sie bestmöglich zu regeln, verträgt sich nicht länger mit der Idee, die Verantwortung für die Entscheidung praktischer Belange grundsätzlich auf Gott zu übertragen. Der Rechtsdiskurs ist im Gegensatz zur Glaubenslehre auf Neutralität, eine vorurteilslose Prüfung der Argumente und deren transparente Abwägung und Beurteilung angewiesen. Seine Legitimation gewinnt er aus den Verfahren, die offen und fair gestaltet sein müssen. All das macht das Recht nicht zu einem wertfreien Raum, aber es verpflichtet den Rechtsstaat zur Zurückhaltung: »Versucht wird, die Regelungssphäre des Rechts auf elementare Grundsätze des Zusammenlebens zu beschränken, die für alle gleichwertig gelten. Auf dieser Grundlage wird die Freiheit für weitergehende Ordnungsvorstellungen, wie Religion und Moral, offen gehalten«. 83 Damit rückt die Trennung des Rechts von der Religion eine neue Frage ins Zentrum des Interesses: die Frage nach dem Verhältnis von Recht und Moral. Dieses Verhältnis kann zunächst einmal als ambiVgl. hierzu weiterführend auch Joas, Hans (2011): Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Berlin. 82 Vgl. Losch 2006, 165. 83 Losch 2006, 169. 81

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Die Rahmenbedingungen einer säkularen Kultur

valent bezeichnet werden, denn es vereint Elemente der Nähe und der Distanz. So dient das Recht einerseits der (zwangsbewehrten) Durchsetzung moralischer Normen und wird somit selbst moralische Instanz, andererseits schützt es die Menschen vor den moralischen Zumutungen der anderen, wodurch erst Raum für Freiheit in moralischen Belangen entsteht. 84 Diese Doppelfunktion des Rechts wirft allerdings sofort neue Fragen auf. Unklar ist beispielsweise, ob das Recht vor diesem Hintergrund selbst moralisch sein muss. Vertreter einer naturrechtlichen Position bejahen diesen Punkt und sind überdies der Ansicht, dass ein zu sehr von basalen Moralvorstellungen abweichendes Recht in Extremfällen sogar seine Gültigkeit verliert. Rechtspositivisten hingegen plädieren für eine eindeutige Unterscheidung (nicht Trennung!) von Recht und Moral. Dahinter steht die Überzeugung, dass sich die Richtigkeit des Rechts allein an Kriterien der inneren Logik und Kohärenz bemisst und eben nicht daran, ob das Recht auch eine gute Moral zum Ausdruck bringt. 85 Umstritten ist darüber hinaus aber auch die Frage, inwieweit ein vor den Zumutungen miteinander konkurrierender Moralvorstellungen schützendes Recht selbst moralische Partei sein darf. Hier oszillieren die Positionen zwischen Forderungen nach weitgehender Neutralität, die lediglich die Einhaltung moralischer Mindeststandards (wozu etwa die Sicherung des sozialen Friedens zählt) garantieren soll, bis hin zur Bekräftigung der so genannten »Streitentscheidungsfunktion« des Rechts, die klare moralische Standpunkte verlangt (etwa bei der richterlichen Bewertung von moralischen Dilemmata). 86

2.4 Zwischen Gesellschaft und Gemeinschaft – der Bereich des Politischen in der Gegenwart Durch die Auseinandersetzungen um Kruzifix und Kopftuch wird sinnfällig, dass die vielfältigen kulturellen Herkünfte und weltanschaulichen Rationalitäten der Gesellschaftsmitglieder in einer modernen Demokratie die Aussicht auf ein verbindliches und gemeinschaftsstiftendes staatsbürgerliches Ethos eintrüben. 87 Dieser 84 85 86 87

Vgl. Seelmann, Kurt/Demko, Daniela (62014): Rechtsphilosophie, München, 83. Vgl. Seelmann/Demko 62014, 34–37. Vgl. Seelmann/Demko 62014, 85/86. Einzelne Textabschnitte der nachfolgenden Ausführungen hat der Autor bereits in

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Zwischen Gesellschaft und Gemeinschaft

Eindruck jedenfalls drängt sich auf, wenn man davon ausgeht, dass ein gelingendes Staatswesen auf einem weitgehend identischen kulturellen Erbe seiner Bürger basiert. Worin aber besteht ein solches kulturelles Erbe? In gemeinsamen religiösen Überzeugungen, in der Idee einer völkischen Gemeinschaft oder im Vertrauen auf die freiheitssichernde Gewähr demokratischer Prozesse? Blickt man auf die europäische Kulturgeschichte, so muss man sicherlich der Vorstellung von geteilten religiösen Weltbildern einen bedeutenden Platz bei der Entstehung einer übergreifenden kulturellen Identität zuweisen. Doch im Verlauf der letzten zwei Jahrhunderte ist auch das kulturelle Erbe der Religion vielfältiger geworden. Überall in Europa ist es vom Geist der Aufklärung und den damit einhergehenden Säkularisierungs- und Rationalisierungsschüben beeinflusst worden, so dass sich die Bedeutung der christlichen Konfessionen als gesellschaftlich integrative Kräfte nach und nach verschoben und – mit Blick auf die gegenwärtige Lage – teilweise sogar verflüchtigt hat. Diese funktionale Transformation der Religion ist ein Ergebnis des politischen Trennungsprozesses von Kirche und Staat und seiner besonderen Dynamiken zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Zusätzlich verstärkt wird sie durch die vielfältigen Umbrüche innerhalb der damaligen Gesellschaften, die mitunter bereits im 17. und 18. Jahrhundert einsetzen. Die nationalen Einigungsbewegungen im Nachgang zur Aufklärung schließlich sind der Versuch, die schwindende integrative Kraft der Religion durch eine neue identitätsstiftende Idee zu überwinden: die Idee der Nation. Deren sozialintegrative Chance beruht im Wesentlichen auf zwei Entwicklungen: 88 Zum einen hatte die Reformation im frühneuzeitlichen Europa zu einer bis dato ungekannten weltanschaulichen Pluralisierung geführt, so dass sich der im Entstehen begriffene säkulare Staat fortan aus anderen Quellen legitimieren musste. Zum anderen veränderten vor allem die sozialpolitischen und ökonomischen Modernisierungsprozesse der frühen Neuzeit die lebensweltlichen Strukturen. Diese waren bald nicht einer früheren Veröffentlichung publiziert; vgl. Reichelt, Matthias (2012): Voraussetzungen säkularer Staatlichkeit. Sozialphilosophische Überlegungen zur bürgerlichen Solidarität, in: Bohrmann/Küenzlen (Hrsg.): Religion im säkularen Verfassungsstaat, 119–135; hier: 126–133. 88 Vgl. Habermas, Jürgen (1999a): Der europäische Nationalstaat – Zu Vergangenheit und Zukunft von Souveränität und Staatsbürgerschaft, in: ders.: Die Einbeziehung des Anderen, Frankfurt a. M., 128–153; hier: 135.

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mehr von Gruppenzugehörigkeiten geprägt, sondern von einem langsam aufkommenden Individualismus, der die gesellschaftlichen Bindungen nachhaltig verschob. Auf diese grundlegenden Veränderungen reagiert der sich neu etablierende Nationalstaat »mit einer politischen Mobilisierung seiner Bürger«, denn das »entstehende Nationalbewusstsein machte es […] möglich, eine abstraktere Form der gesellschaftlichen Integration mit veränderten politischen Entscheidungsstrukturen zu verknüpfen« 89. Zu dieser abstrakteren Form der Integration zählt vor allem der allmähliche Übergang zum demokratischen Rechtsstaat und der damit implizierte Wandel von der vormals durch physische Grenzen definierten Staatszugehörigkeit hin zur staatsbürgerlichen Beteiligung der Bürger an der politischen Herrschaft. Letzteres erfordert jedoch mehr als die Einrichtung neuer politischer und rechtlicher Institutionen. Es bedarf vielmehr »einer Idee von gesinnungsbildender Kraft, die stärker als Volkssouveränität und Menschenrechte an Herz und Gemüt appelliert«. 90 Diese Funktion erfüllt der Gedanke der Nation, wobei zu betonen ist, dass es sich dabei tatsächlich im Wesentlichen um einen Gedanken handelt. Denn eine Nation ist vor allem »eine vorgestellte politische Gemeinschaft« 91. An dieser Begriffsdefinition von Benedict Anderson ist bedeutsam, dass die Nation hier als etwas Erdachtes in den Vordergrund rückt und keineswegs für etwas Naturwüchsiges gehalten wird. Nationen existieren lediglich als Vorstellungen in den Köpfen der Menschen. Allerdings sind diese Vorstellungen sehr wirksam; vor allem, wenn sie sich mit dem Aspekt der Gemeinschaftlichkeit verknüpfen und die Nation fortan »als ›kameradschaftlicher‹ Verbund von Gleichen verstanden wird« 92, obwohl die Mitglieder dieser Gemeinschaft de facto kein tatsächliches Wissen voneinander haben und insbesondere im sozio-ökonomischen Sinne nicht gleich sind. Die für das neuzeitliche Staatswesen charakteristische Verschränkung von gemeinschaftlichem Republikanismus und identitätsstiftendem nationalstaatlichen Denken ist dabei nicht unproblematisch. Offensichtlich wird dies im Hinblick auf die staatliche

Habermas 1999a, 135. Habermas 1999a, 136. 91 Anderson, Benedict (21996): Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt a. M./New York, 15. 92 Anderson 21996, 17. 89 90

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Souveränität, die sich im Epochenübergang vom 18. ins 19. Jahrhundert von einer strategischen Form der Selbstbehauptung gegenüber äußeren Mächten hin zu einer existenziellen Form nationaler Selbstbehauptung wandelt. 93 Im Zuge dieser Veränderungen entsteht ein neuer, kollektiver Freiheitsbegriff, der sich einerseits »kosmopolitisch« äußern kann, d. h. in Form einer »Verpflichtung zu kooperativer Verständigung […] mit anderen Nationen«, oder andererseits – und das ist die bedrohlichere Variante – »naturalistisch«, im Sinne einer gewachsenen Fähigkeit zur militärischen Selbstbehauptung. 94 Diese Doppelgesichtigkeit des Begriffes der Nation offenbart sich jedoch nicht nur im Konfliktfall. Sie ist ganz allgemein für das Verhältnis von Nation und Republik kennzeichnend. Denn während auf der einen Seite die republikanischen Freiheiten der Bürger stehen, findet sich auf der anderen Seite die Unabhängigkeit der Nation, die es im Kriegsfalle bis aufs Äußerste zu verteidigen gilt. Dieses Spannungsverhältnis von »egalitärer Rechtsgemeinschaft« und »historischer Schicksalsgemeinschaft« bleibt, so Jürgen Habermas, solange ungefährlich, »solange ein kosmopolitisches Verständnis der Staatsbürgernation Vorrang behält vor der ethnozentrischen Deutung einer Nation«. 95 Gewinnt jedoch letzteres die Oberhand, drohen Rassismus, Gewalt und Krieg. Das ist die leidvolle Erfahrung des 20. Jahrhunderts. Blickt man auf die gegenwärtige Situation, so ist das Modell des Nationalstaates – trotz der genannten Probleme – auch im Zeitalter beständig wachsender Verflechtungen sowohl in politischer als auch in identitätsstiftender Hinsicht nach wie vor bedeutsam. Zwar schrumpfen angesichts globaler Herausforderungen und Krisen die Handlungsfähigkeiten einzelner Staaten, doch geht dies in vielen Teilen der Welt nur bedingt zu Lasten der Idee nationaler Souveränität und Identität. Dies liegt an den zwiespältigen politischen Interessen der Staaten in einer globalisierten Welt. Auf zwischenstaatlicher Ebene werden sie von der Bildung supranationaler Organisationsstrukturen bestimmt, die ein möglichst effizientes Handeln in Fällen weltumspannender Krisen ermöglichen sollen. Auf binnenstaatlicher Ebene bestehen sie in der Betonung der eigenen Identität und der

93 94 95

Vgl. Habermas 1999a, 137. Habermas 1999a, 138. Habermas 1999a, 139.

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nationalen Interessen in einer scheinbar alles nivellierenden globalisierten Welt. 96 Der Stabilität der nationalstaatlichen Idee auf der politischen Weltbühne steht heute jedoch eine wachsende Vielfalt kulturellen Lebens, nationaler Herkünfte und religiöser Überzeugungen insbesondere in den modernen Industriegesellschaften gegenüber, die im Wesentlichen aus den ökonomischen, sozialen und politischen Ungleichheiten in der Welt und den damit verbundenen globalen Migrationsbewegungen resultiert. Eine unter der Prämisse kultureller Homogenität vormals möglicherweise haltbare gesellschaftliche Verwurzelung eines nationalen Staatsbürgerschaftsgedankens scheint daher gegenwärtig nur noch bedingt möglich. 97 In dieser Situation macht jene Form des Liberalismus Hoffnung, die man als »vernunftrechtlichen Republikanismus« 98 beschreiben kann. Identitätsstiftend wirkt dabei weniger die Idee eines Volkes oder einer Nation, als vielmehr die Idee einer Bürgerschaft, »die mit ihrem demokratischen Gemeinwesen gleichursprünglich ist«. 99 Sie ist das Ergebnis eines Gesellschaftsvertrages zwischen freien und gleichen »Rechtsgenossen« (Jürgen Habermas) unter der Prämisse politischer Freiheit. Die Pointe dieser liberalen Staatskonzeption besteht darin, dass in ihr »Volkssouveränität und Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaat« miteinander verschränkt sind. 100 Daraus folgt, dass sich die Grundrechte keiner vorpolitischen Quelle verdanken, sondern vielmehr »der Idee der rechtlichen Institutionalisierung eines […] Verfahrens demokratischer Selbstgesetzgebung« 101 entspringen. Theoretisch besitzen diese legitimitätsverbürgenden Verfahren ein derart hohes Maß an Integrationskraft, dass ein so verstandener liberaler Staat selbst unter den Bedingungen eines »vernünftigen Pluralismus« (John Rawls) 102 soziale Integration ermöglicht. Der im vernunftrechtlichen Republikanismus sich ausdrückende Vgl. dazu auch die Eingangsüberlegungen bei Habermas 1999a, 128–130, sowie bei Habermas, Jürgen (1999b): Inklusion – Einbeziehen oder Einschließen? Zum Verhältnis von Nation, Rechtsstaat und Demokratie, in: ders.: Die Einbeziehung des Anderen, Frankfurt a. M., 154–184; hier: 154–157. 97 Vgl. Habermas 1999a, 142. 98 Vgl. Habermas 1999b, 163. 99 Habermas 1999b, 163. 100 Habermas 1999b, 163. 101 Habermas 1999b, 164. 102 Rawls, John (2003): Politischer Liberalismus, Frankfurt a. M., 13. 96

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Vorrang gleicher individueller Rechte und Freiheiten vor einer einheitsstiftenden Idee des Nationalen ist natürlich nicht unumstritten. Ausgehend von John Rawls’ liberaler Vertragstheorie, 103 die nach einer überzeugenden Vereinbarkeit von individueller Freiheit und sozialer Gerechtigkeit sucht, hat sich eine breite Debatte über die normative Gestaltung des politischen Lebens jenseits nationaler Gemeinschaftsvorstellungen oder rein formaler Rechtssicherheit entwickelt. 104 Einer der zentralen Kritikpunkte richtet sich dabei gegen das im Liberalismus zu Grunde gelegte atomistische Menschenbild, das dem gleichzeitigen Vertrauen darauf, dass in demokratischen Willensbildungsprozessen gemeinsame Interessen zum Ausdruck kommen, offenbar zuwider läuft. 105 Der Atomismus-Vorwurf, der vor allem von Charles Taylor 106 und (in übertragener Form auch von) Michael Sandel 107 erhoben wurde, richtet sich gegen die von Rawls idealtypisch konstruierte Vertragskonstellation, in der niemand seine künftige Stellung und natürliche Ausstattung kennt, so dass die dort getroffenen Vereinbarungen (gleichsam naturgemäß) auf bestimmten Gerechtigkeitsvorstellungen basieren müssen. 108 Dies aber setzt voraus, dass die Menschen in Rawls Urzustand »die Gerechtigkeit für die höchste Tugend halten« 109 und darum mit einem PersonenVgl. Rawls, John (1979): Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. Zu dieser Debatte zwischen liberalen und kommunitaristischen Denkern vgl. Honneth, Axel (Hrsg.) (1993): Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften, Frankfurt a. M./New York, sowie Forst, Rainer (1996): Kontexte der Gerechtigkeit. Politische Philosophie jenseits von Liberalismus und Kommunitarismus, Frankfurt a. M. 105 Vgl. Habermas 1999b, 165. Viele Vertreter beider Lager haben mittlerweile deutlich gemacht, dass ihre jeweiligen Einwände eher kritische Zuspitzungen als fundamentale Gegenpositionen sind, weshalb auch die hier genannten Kritikpunkte inzwischen teilweise eingeschränkt oder relativiert wurden. Vgl. dazu etwa Taylor, Charles (1993): Aneinander vorbei: Die Debatte zwischen Liberalismus und Kommunitarismus, in: Honneth (Hrsg.): Kommunitarismus, 103–130, oder auch Forst, Rainer (1993): Kommunitarismus und Liberalismus – Stationen einer Debatte, in: Honneth (Hrsg.): Kommunitarismus, 181–212. 106 Vgl. Taylor, Charles (1985): ›Atomism‹, in: ders.: Philosophy and the Human Sciences. Philosophical Papers 2, New York, 187–210. Der Aufsatz liegt mittlerweile auch in deutscher Übersetzung vor: Vgl. Taylor, Charles (1995): Atomismus, in: Brink, Bert v. d./Reijen, Willem v. (Hrsg.): Bürgergesellschaft, Recht und Demokratie, Frankfurt a. M., 73–106. 107 Vgl. Sandel, Michael (1982): Liberalism and the Limits of Justice, New York. 108 Vgl. Rawls 1979, 28/29. 109 Sandel, Michael (1993): Die verfahrensrechtliche Republik und das ungebundene Selbst, in: Honneth (Hrsg.): Kommunitarismus, 18–35; hier: 24. 103 104

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begriff operieren, der individuellen Zwecken vorausliegt. Dieser soziale Charakterzug des liberalen Selbst bleibt jedoch im Rahmen der Rawls’schen Theorie unverständlich, denn der ihr zu Grunde liegende Liberalismus betont lediglich das »Primat der Rechte« 110 und kennt darüber hinaus eben keinerlei Verpflichtungen zur sozialen Integration. 111 Viel naheliegender erscheint es demgegenüber, den Vertragspartnern im Rawls’schen Urzustand einen gewissen Egoismus zu unterstellen (wenn auch nicht in der schlichten Weise, dass jeder für sich ein besseres Ergebnis erzielen möchte). 112 Ein solcher Egoismus ist jedoch kaum dazu geeignet, die Menschen, über eine bloße Einigung auf vernünftige Kriterien des Zusammenlebens hinaus, solidarisch miteinander zu verbinden. 113 Die Tatsache, dass sich die Vertragspartner in Rawls Konzeption nicht mit den Interessen der übrigen Vertragspartner auseinandersetzen müssen, 114 ist nicht nur Ausdruck einer unter pluralistischen Bedingungen vielleicht sogar hilfreichen weltanschaulichen Indifferenz, sondern vielmehr einer gewissen Geschichtslosigkeit, welche die prominente Rolle der Gerechtigkeit für die Etablierung der von Rawls idealtypisch angestrebten freiheitlichen Ordnung selbst nicht mehr begründen kann. Unter den Bedingungen eines kulturellen und mithin weltanschaulichen Pluralismus kann der zeitgenössische liberal-demokratische Verfassungsstaat nicht mehr bedenkenlos auf eine gewissermaßen naturgegebene nationale Identität abstellen, sondern muss gänzlich auf den ihm inhärenten demokratischen Willensbildungsprozess vertrauen. Darum gilt es, diesen Prozess möglichst fair zu gestalten. Dies gelingt allerdings nicht nur durch formale Regelungen. Vielmehr bedarf es dazu von Seiten der Mehrheitskultur der Bereitschaft, die mehr oder weniger latent vorhandenen Verschmelzungen von traditionellen Kulturbeständen und aktueller Politik auch für fremde politische oder religiöse Einflüsse zu öffnen. Natürlich darf dies nicht um den Preis gemeinschaftsgefährdender politischer Gesinnungen oder religiöser Fanatismen geschehen. Sehr wohl aber kann die Bereitschaft zu einer umfassenden Demokratisierung zu

Vgl. Taylor 1995, 74. Vgl. Reese-Schäfer, Walter (32001): Kommunitarismus, Frankfurt a. M./New York, 134/135. 112 Vgl. Rawls 1979, 30. 113 Vgl. Habermas 1999b, 165. 114 Vgl. Rawls 1979, 30. 110 111

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Zwischen Gesellschaft und Gemeinschaft

Lasten überkommener Traditionen gehen, sofern diese heutzutage nicht länger mehrheitsfähig sind. 115 Zu einer einigenden Idee kann der freiheitliche Staat aber auch nur dann werden, wenn die durch ihn gewährten politischen Freiheits- und Partizipationsrechte um soziale und kulturelle Teilhaberechte ergänzt werden. »Die Bürger«, so Jürgen Habermas, »müssen den Gebrauchswert ihrer Rechte auch in der Form sozialer Sicherheit und der reziproken Anerkennung verschiedener kultureller Lebensformen erfahren können. Die demokratische Staatsbürgerschaft wird eine integrative Kraft nur entfalten, d. h. Solidarität zwischen Fremden stiften, wenn sie sich als ein Mechanismus bewährt, über den die Bestandsvoraussetzungen für erwünschte Lebensformen tatsächlich realisiert werden«. 116

115 116

Vgl. Habermas 1999a, 142/143. Habermas 1999a, 143.

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3. »Kruzifix-Beschluss« und »Kopftuch-Urteil« in Deutschland

Das Bundesverfassungsgericht ist nicht nur das höchste deutsche Gericht, sondern auch der Ort, an dem die Problemstellungen, die sich aus dem permanenten Wechselspiel von Kontinuität und Wandel einer Gesellschaft ergeben, zumeist in ihrer konfliktträchtigsten Form sichtbar werden. 1 Dies gilt auch für die beiden Verfahren um Kruzifix und Kopftuch aus den Jahren 1995 und 2003, die das Gericht nicht nur inhaltlich, sondern vor allem aufgrund des großen öffentlichen Interesses herausgefordert haben. Zudem gibt es vermutlich nur wenige Entscheidungen seit der Wiedervereinigung, die ähnlich umstritten waren und öffentlich so breit diskutiert wurden, wie der Kruzifix-Beschluss und das Kopftuch-Urteil. 2 Viele der Kommentatorinnen und Kommentatoren hielten sich dabei mit ihrer Kritik am Gericht kaum zurück: Im Hinblick auf den Kruzifix-Beschluss war von einem »unverständlichen« Urteil die Rede (Helmut Kohl), das einen »Bruch mit der Verfassungstradition« (Edmund Stoiber) markiere und Deutschland gar einen »schwarzen Tag« in seiner Geschichte (Joachim Kardinal Meisner) beschert habe. 3 Ähnliches Unverständnis wurde einige Jahre später auch im Zusammenhang mit dem Kopftuch-Urteil laut. So stellte etwa Angela

Vgl. Forst, Rainer (2015): Ein Gericht und viele Kulturen. Rechtsprechung im Konflikt, in: ders.: Normativität und Macht. Zur Analyse sozialer Rechtfertigungsordnungen, Berlin, 151–168; hier: 151. 2 Eine pointierte Kommentierung zu Akzeptanz und Kritik an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts findet sich u. a. bei Prantl, Heribert (2011): Politik? Natürlich ist das Politik! Ohne Pomp und Pathos: Wie das Bundesverfassungsgericht Macht gewonnen und aus den Grundrechten eine Lebensordnung gemacht hat, in: Stolleis, Michael (Hrsg.): Herzkammern der Republik. Die Deutschen und das Bundesverfassungsgericht, München, 168–185. 3 Vgl. Forst 2015, 157. 1

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»Kruzifix-Beschluss« und »Kopftuch-Urteil« in Deutschland

Merkel klar, dass sie nicht wolle, »daß ein Lehrer mit einem Kreuz an einer Kette genauso behandelt wird wie eine Frau mit einem Kopftuch«. 4 Und auch der damalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche, Wolfgang Huber, meldete mit Blick auf das Urteil Zweifel an der Verfassungskonformität des Kopftuchs an. 5 Angesichts fortschreitender Säkularisierungstendenzen im gesellschaftlichen Leben müssen solche Reaktionen zunächst einmal überraschen. Seit dem so genannten Schulgebetsstreit 6 aus dem Jahr 1965 hatte keine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu religionssensiblen Beschwerden ähnlich hohe Wellen geschlagen wie die beiden Verfahren zu Kruzifix und Kopftuch. Doch während der Konflikt damals vor allem zwischen gläubigen und nicht-gläubigen Eltern und Schülern ausgefochten wurde, standen diesmal viel stärker auch Fragen nach den allgemeinen Rahmenbedingungen eines auskömmlichen Zusammenlebens in multikulturellen Gesellschaften zur Debatte. 7 Diese Rahmenbedingungen werden durch zwei soziale Transformationsprozesse bestimmt, die die deutsche Nachkriegsgesellschaft bereits seit mehreren Jahrzehnten prägen: die wachsende kulturelle und religiöse Pluralisierung einerseits und der Rückgang traditioneller Religiosität 8 andererseits. Beide Phänomene sind nicht neu und historisch betrachtet auch nicht wirkursächlich miteinander verknüpft. Der Rückgang der sozialen Prägekraft des christlichen Glaubens schreibt ein Phänomen fort, das seit Mitte der 1970er Jahren statistisch messbar ist und seither kontinuierlich zugenommen hat. 9 Der Zuwachs des Ausländeranteils hingegen, den man als eine zentrale Quelle für die kulturelle und religiöse Pluralität ansehen kann, ist mit Ausnahme partieller Schübe durch die Arbeitsmigration seit den späten 1950er Jahren vor allem durch die Öffnung der Gren-

Zeitungsinterview mit dem Rheinischen Merkur vom 2. 10. 2003; zitiert nach Oestreich 2004, 92. 5 Vgl. Oestreich 2004, 96. 6 Vgl. Bundesverfassungsgericht (1980): Beschluss des Ersten Senats vom 16. Oktober 1979 (Az.: 1 BvR 647/70 und 7/74), in: Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts (Hrsg.): Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, 52. Bd., Tübingen, 223–255. 7 Vgl. Ladeur/Augsberg 2007, 108–112. 8 Gemessen etwa an den Mitgliederzahlen der beiden christlichen Kirchen in Deutschland oder der Häufigkeit der Kirchenbesuche. 9 Vgl. Statista-Dossier (o. D.): Religion in Deutschland, Hamburg. Online verfügbar unter: https://bit.ly/2snNwqC (Stand: 11. 01. 2019). 4

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»Kruzifix-Beschluss« und »Kopftuch-Urteil« in Deutschland

zen nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes entscheidend forciert worden. 10 Auch wenn es empirisch keine Anhaltspunkte dafür gibt, werden beide Entwicklungen heutzutage gerade im öffentlichen Diskurs häufig miteinander verknüpft. Gerade in konservativen Milieus wird immer wieder die Befürchtung geäußert, die eigene, christlich geprägte Kultur werde Zug um Zug von fremden Kulturen oder Religionen (insbesondere dem Islam) verdrängt. Mehr noch: Die Rechtsprechung selbst trage durch eine besondere Betonung des Minderheitenschutzes dazu bei, dieses Gefühl der latenten Benachteiligung der Mehrheitsgesellschaft noch zu verstärken. Auch wenn solche Diagnosen skeptisch zu betrachten sind 11, ändert dies doch nichts an der Tatsache, dass offenbar viele Menschen davon überzeugt sind, dass gesellschaftliche Pluralität eine Rückbindung an traditionelle kulturelle Normen und Werte quasi schon per se erschwert. Hierauf sensibel zu reagieren, ist eine der zentralen Herausforderung des Bundesverfassungsgerichts. Denn ihm obliegt es, die aus den Grundrechten ableitbaren Ansprüche der Menschen so gegeneinander abzuwägen, dass sich sowohl auf Seiten der kulturellen Mehrheit als auch der kulturellen Minderheit der Eindruck verfestigen kann, nach den demokratischen Grundsätzen von Gleichheit, Gerechtigkeit und Fairness behandelt worden zu sein.

3.1 Die grundrechtliche Ausgangslage – zum Verhältnis von Kirche und Staat Deutschland ist verfassungsgemäß ein säkularer Staat. Dennoch sind Staat und Kirche nicht so strikt voneinander getrennt, wie dies beispielsweise in laizistischen Staaten der Fall ist. Das deutsche StaatKirche-Verhältnis ist demgegenüber eher partnerschaftlich. Es gibt eindeutige Trennlinien (beispielweise im Hinblick auf die Gültigkeit der kirchlichen und der staatlichen Rechtsprechung) aber auch enge Verflechtungen (so etwa im Rahmen des Schul- und ErziehungsVgl. Statista (2017): Anzahl der Ausländer in Deutschland (gemäß Bevölkerungsfortschreibung) von 1970 bis 2016, o. O. Online verfügbar unter: https://bit.ly/ 2CdYW4O (Stand: 11. 01. 2019). 11 Mitunter werden durch solche Klagen über die vermeintliche eigene Benachteiligung nur diskriminatorische Absichten gegenüber Minderheiten verdeckt, die man eben doch nicht als – im wahrsten Sinne des Wortes – gleich-berechtigt akzeptiert. 10

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Die grundrechtliche Ausgangslage – zum Verhältnis von Kirche und Staat

wesens). Diese Verflechtungen sind das Resultat historischer Prozesse und beruhen auf vormaligen gesellschaftlichen Strukturen. Inzwischen jedoch hat sich die religiöse Lage deutlich gewandelt. Die Gesellschaft ist von einem immer stärker sichtbar werdenden Rückgang traditioneller kirchlicher Religiosität gekennzeichnet. Immer drängender stellt sich deshalb die Frage, ob das traditionelle Verhältnis von Staat und Kirche in unserem Land noch zeitgemäß ist oder ob es vielmehr dringend einer Reform bedarf. 12 Zudem wächst die Vielfalt religiöser Sinnangebote stetig an. Gründe dafür sind die Zuwanderung religiös Andersgläubiger oder auch die Zunahme pseudo-religiöser Sekten und Weltanschauungen. So lassen sich gegenwärtig nur noch rund 54 Prozent der deutschen Bevölkerung den beiden christlichen Großkirchen zurechnen. 13 Trotz dieses öffentlichen Bedeutungsrückgangs, genießen beide Institutionen als Körperschaften des öffentlichen Rechts noch immer einen besonderen rechtlichen Status in Deutschland. Sie beziehen Kirchensteuer, engagieren sich aber über ihre seelsorgerische Tätigkeit hinaus auch im Bereich der Erziehung, der Alten- und Kranken- sowie der Wohlfahrtspflege. Die zahlreichen Verflechtungen von Staat und (christlicher) Kirche zeigen sich insbesondere auch im Schulwesen. So obliegt die inhaltliche Ausrichtung des Religionsunterrichtes, trotz prinzipieller Bildungshoheit des Staates, in nahezu sämtlichen Bundesländern den Kirchen. Darüber hinaus sehen manche Landesverfassungen (z. B. in Baden-Württemberg und Bayern) sogar einen prinzipiell an christlichen Wertvorstellungen orientierten Bildungsauftrag vor. Im Bereich der Wohlfahrtspflege unterhalten die christlichen Kirchen mit ihren Spitzenverbänden Diakonisches Werk (evangelische Kirche) und Caritas (katholischen Kirche) zudem die beiden größten Arbeitgeber im sozialen Bereich in Deutschland. 14 Wenn im zeitgenössischen Diskurs von Kirche die Rede ist, geht es in der Regel um Kirche als gesellschaftlicher Institution. Dieser Vgl. Czermak 2008, 19–31 sowie Wall/Muckel 2009, 79–91. Errechnet aus den Daten zu Mitgliederzahlen der Religionen in Deutschland des Religionswissenschaftlichen Medien- und Informationsdienstes (REMID) und den Daten zum Bevölkerungsstand des Statistischen Bundesamtes im Internet unter: https://bit.ly/2M3nO3K (Stand: 11. 01. 2019) sowie unter: https://bit.ly/1vTYM7c (Stand: 11. 01. 2019). 14 Vgl. Gabriel, Karl (2005): Religionen und ihre Stellung zum Staat – eine soziologische Bestandsaufnahme, in: Kämper, Burkhard/Thönnes, Hans-Werner (Hrsg.): Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche. Bd. 39, Münster, 11–50; hier: 13–15. 12 13

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Zugang ist sinnvoll, wenn Kirche von außen betrachtet wird und der Fokus auf ihrer institutionellen Gestalt liegt. Denn wie in anderen sozialen Einrichtungen auch, gibt es in der Kirche eine eigenständige Organisationsstruktur mit verschiedenen Ämtern und Hierarchien, Leitungsgremien und speziell geregelten Mitgliedschaftsverhältnissen. 15 Aus der Binnenperspektive hingegen zeigt sich ein anderes Bild. Hier ist Kirche vor allem die durch Christus gestiftete Gemeinschaft der Gläubigen, durch die das Heilshandeln Gottes in der Welt erfahrbar gemacht werden soll. Theologisch gesprochen geht Kirche »aus dem Wirken des Heiligen Geistes hervor, der den Glauben im Hören auf Gottes Wort schafft und die Glaubenden als Gemeinde versammelt« 16. In einer säkularen Gesellschaft tritt diese Binnenperspektive der Gläubigen und das damit verbundene Ansinnen, der eigenen religiösen Botschaft im alltäglichen Leben auch sichtbaren Ausdruck zu verleihen, merklich in den Hintergrund. Der säkulare Staat sichert zwar die individuelle Religionsfreiheit und schafft damit Raum, die eigene Religiosität zu praktizieren, er interessiert sich aber nicht für theologische Inhalte. Das ist eine Lehre, die er aus den historischen Religionskonflikten gezogen hat. Ganz im Sinne Johann G. Herders ist dabei der Gedanke leitend, dass »Lehrmeinungen trennen und erbittern«, die Religion aber »vereinet: denn in aller Menschen Herzen ist sie nur Eine« 17. Der Staat ist also in religiösen Belangen neutral und gibt keiner Religionsgemeinschaft rechtlich einen Vorzug. Wie weit diese Neutralität allerdings tatsächlich reicht, ist angesichts des kulturell bedingten Ungleichgewichts zwischen christlich Gläubigen und Anhängern anderer Religionsgemeinschaften in Deutschland umstritten. So entstehen manche Kontroversen beispielsweise dadurch, dass kleinere Glaubensgemeinschaften im Sinne des geltenden Staatskirchenrechts ebenfalls gewisse kirchliche Privilegien einfordern (zu denken wäre hier etwa an den Religionsunterricht oder den Körperschaftsstatus). 18 Wird diesem Ansinnen stattgegeben, ist auf Seiten der Vgl. Gräb, Wilhelm (2008): Kirche, in: Gosepath/Hinsch/Rössler (Hrsg.): Handbuch der Politischen Philosophie und Sozialphilosophie. Bd. I, A–M, Berlin, 613–619; hier: 614. 16 Gräb 2008, 614. 17 Herder, Johann G. (1798/1880): Christliche Schriften. Von Religion, Lehrmeinungen und Gebräuchen (Sämtliche Werke, Bd. 20), Berlin, 135. 18 Vgl. Gräb 2008, 618. 15

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christlichen Mehrheitsgesellschaft schnell von einer unverhältnismäßigen Bevorzugung der Minderheiten die Rede. 19 Tatsächlich jedoch ist das im Grundgesetz geregelte Selbstbestimmungsrecht der Kirchen historisch bedingt auf die christlichen Konfessionen zugeschnitten und gar nicht problemlos auf andere Glaubensgemeinschaften zu übertragen. Dies zeigt sich beispielhaft in der Schwierigkeit, nicht-christliche Religionsgemeinschaften faktisch als Gesellschaften öffentlichen Rechts anerkennen zu lassen. Hier sehen sich diese Glaubensgemeinschaften – anders als die christlichen Kirchen – oftmals mit einem gewissen Vorbehalt konfrontiert (zu nennen wären hier etwa die Frage nach der Rechtstreue, der Staatsloyalität oder die Debatten um einen abendländischen Kulturvorbehalt), den sie aufgrund ihrer Binnenstruktur oder kulturbedingter Eigenheiten (beispielsweise einer fehlenden säkularen Trennung von Religion und Politik) nicht ohne weiteres entkräften können. 20 Zudem sind andere Religionsgemeinschaften (z. B. der Islam) nur selten einheitlich verfasst und haben häufig keine Leitungsstrukturen, die stellvertretend für die jeweiligen Gläubigen agieren können; und falls doch, stellt sich noch immer die Frage, inwieweit solche Gremien von anderen Mitgliedern der entsprechenden Glaubensgemeinschaft überhaupt verbindlich anerkannt werden. 21 Für das Verhältnis von Kirche und Staat resultiert daraus eine in vielerlei Hinsicht ambivalente Situation: Der freiheitliche, säkulare Staat ist zum einen auf die Dienstleistungen der Kirchen im sozialen Sektor angewiesen und auf ihre wert- und sinnvermittelnden Funktionen im Rahmen schulischer Erziehung. Andererseits schöpft er einen Gutteil seiner politischen Legitimation gerade aus der eindeutigen Trennung von Religion und Politik und dem damit verbundenen Verzicht auf einen Totalitätsanspruch. 22 Die Kirchen hingegen registrieren einerseits ein wachsendes Bedürfnis nach Orientierung und Sinnvermittlung in der Bevölkerung, verlieren jedoch andererseits durch die gesellschaftlichen Fragmentierungsprozesse immer mehr an öffentlicher Bedeutung. Dadurch gehen in den modernen Gesellschaften religiöse Bindungskräfte verloren und der individuelle Vgl. Classen 2006, 57. Vgl. Classen 2006, 128–130. 21 Vgl. Rohe, Mathias (2001): Der Islam – Alltagskonflikte und Lösungen. Rechtliche Perspektiven, Freiburg i. B./Basel/Wien, 203–205. 22 Vgl. Böckenförde, Ernst-Wolfgang (1976): Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt a. M., 60. 19 20

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»Kruzifix-Beschluss« und »Kopftuch-Urteil« in Deutschland

Religionsvollzug nimmt immer öfter die Gestalt einer aus unterschiedlichen religiösen und quasireligiösen Elementen zusammengesetzten Patchwork-Religiosität an. 23

3.2 Der Rechtsstreit um das »Kruzifix« Bayern ist kulturgeschichtlich eng mit dem Katholizismus verbunden und gilt als traditionsbewusst. Entsprechend unaufgeregt lebte man hier über viele Jahrzehnte mit dem Passus aus der Schulordnung für die Volksschulen in Bayern, wonach »in jedem Klassenzimmer ein Kreuz anzubringen [ist]«. 24 Dies änderte sich spätestens im August 1995 als dieser Satz zum Gegenstand eines höchstrichterlichen Beschlusses am Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe wurde – dem so genannten »Kruzifix-Urteil« 25. Denn nach Ansicht der Mehrheit 26 der Verfassungsrichter verstieß der dritte Satz des Paragraphen 13 der Volksschulordnung gegen Artikel 4 des Grundgesetzes und galt fortan als verfassungswidrig und nichtig. 27 Der Entscheidung aus Karlsruhe vorausgegangen war ein mehrjähriger Streit der Familie Seler aus Nittenau in der Oberpfalz mit dem Freistaat Bayern, in dem die Kläger die Abnahme von Kruzifixen in sämtlichen Unterrichtsräumen der Schulen forderten, an denen die Kinder der Familie zum damaligen Zeitpunkt unterrichtet wurden. 28 Hintergrund für die Forderungen der Familie war der sich aus ihrer Weltanschauung – sie sind Anhänger der anthroposophischen Lehre Vgl. Gabriel 2005, 16. Freistaat Bayern (1983): Schulordnung für die Volksschulen in Bayern (i. d. F. vom 21. Juni 1983), in: Bayerisches Gesetz- und Verordnungsblatt, 597–616. 25 Tatsächlich ist der Begriff Urteil in diesem Zusammenhang irreführend, da es sich um einen Beschluss handelte, der formaljuristisch von einem Urteil zu unterscheiden ist. Dementsprechend ist in dieser Arbeit auch stets – mit Ausnahme von zitierten Passagen – vom Kruzifix-Beschluss die Rede. Vgl. dazu auch den Hinweis bei Forst 2003, 709. 26 Der Beschluss erging mit 5 : 3 Stimmen. Die Verfassungsrichter Seidl, Söllner u. Haas formulierten gemeinsam eine abweichende Meinung (Vgl. BVerfGE 93, 25–34). Richterin Haas sogar eigenständig eine zweite abweichende Meinung (Vgl. BVerfGE 93, 34–37). 27 BVerfGE 93, 2. 28 Dies waren nach Aktenlage die Grundschule Fischbach und die Hauptschule Nittenau. Vgl. Verwaltungsgericht Regensburg (1991): Beschluss vom 1. März 1991 (Az.: RO 1 E 91.0167), in: Bayerische Verwaltungsblätter (122/11), 345–347. Nachfolgend zitiert als VG Regensburg 1991. 23 24

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Der Rechtsstreit um das »Kruzifix«

nach Rudolf Steiner – ergebende lebensweltliche Kontrast zur christlichen Glaubenslehre und die damit verbundenen Zumutungen eines nahezu zwanghaften Ausgeliefertseins der schulpflichtigen Kinder gegenüber dem Anblick des christlichen Kreuzsymbols. Die Familie machte geltend, dass sie in ihrem Recht auf Glaubens- und Gewissensfreiheit (Art. 4 GG) sowie hinsichtlich des Schutzes von Ehe und Familie (Art. 6 GG) beschnitten würde und zog, nachdem das Bemühen um eine für die Kläger befriedigende außergerichtliche Einigungen fehlschlug 29, schließlich 1991 vor den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof in München. In einem dem Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes vorausgegangenen ersten Verfahren beantragte die Familie vor dem Verwaltungsgericht Regensburg eine einstweilige Anordnung, wonach sämtliche Kruzifixe aus den Klassenzimmern der drei Kinder zu entfernen seien. Die Kläger fürchteten, dass die aus dem Anblick der Kruzifixe erwachsenden »Belastungen« zu irreparablen »Entwicklungsstörungen« der Kinder führen könnten. 30 Dies wurde allerdings seitens des Gerichts mit dem Verweis auf mangelnde wissenschaftliche Belege für »[d]erartige Wirkungen« zurückgewiesen. 31 Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wurde deshalb am 1. März 1991 durch das Verwaltungsgericht Regensburg abgewiesen. In dem Verfahren vor dem Regensburger Gericht treten bereits wesentliche Grundsatzfragen in den Vordergrund, die das Verfahren fortan begleiten werden: Welchen Stellenwert genießt der Grundsatz der weltanschaulichen Neutralität des Staates gegenüber dem staatlichen Erziehungsauftrag? Worin besteht der eigentliche Symbolgehalt des Kreuzes? Welche Wirkung entfaltet das Kreuz in den Augen des Betrachters? Im Hinblick auf die staatliche Neutralitätspflicht vertritt die Die Schulleiter der Grund- und Hauptschule, die die Kinder der Familie Seler besuchten, erklärten sich zunächst bereit, die Kruzifixe in den Klassenzimmern mit einfachen Kreuzen auszutauschen. Die Forderung der Familie, dieses Vorgehen auf alle Unterrichtsräume der jeweiligen Schulen auszuweiten, lehnten die jeweiligen Direktorien jedoch ab. Vgl. Esser 2000, 22/23. 30 Beschluss des VG Regensburg, hier zitiert nach Streithofen 1995, 110. Bei Streithofen 1995 ist der Beschluss des Verwaltungsgerichts Regensburg vollständig abgedruckt. Die nachfolgend verwendete Standardliteratur zur Rechtsprechung (Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht) ist demgegenüber weniger umfänglich. 31 Beschluss des VG Regensburg, hier zitiert nach Streithofen 1995, 111. 29

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»Kruzifix-Beschluss« und »Kopftuch-Urteil« in Deutschland

Kammer in Regensburg die Ansicht, dass der Passus aus der Volksschulordnung grundsätzlich »nicht in Widerspruch zu höherrangigem Recht steht«. 32 Im Gegensatz zur Position der Kläger sehen die Verwaltungsrichter in dieser Vorschrift lediglich eine »die religiöse Erziehung durch die Eltern unterstützende Tätigkeit der Schule« 33, die im rechtlichen Sinne völlig unbedenklich sei. Von einer Verletzung des Toleranzgebotes bzw. der Neutralitätspflicht des Staates könne nur dann die Rede sein, wenn die Schulordnung die »Verbindlichkeit christlicher Glaubensinhalte« zwanghaft festsetzen würde. Davon allerdings könne im vorliegenden Falle nicht die Rede sein, denn »[d]as bloße Vorhandensein eines Kreuzes in einem Unterrichtsraum verlangt von den Antragstellern weder eine eigene Identifizierung mit den darin symbolhaft verkörperten Ideen oder Institutionen noch ein irgendwie geartetes aktives Verhalten«. 34 Ebenso wenig halten die Regensburger Richter im vorliegenden Fall die Anwendung des »Prinzips der ›Nicht-Identifikation‹ des Staates« angezeigt, wie es bei früheren gerichtlichen Auseinandersetzungen im Zusammenhang mit der Anbringung von Kreuzen in Gerichtssälen in Anschlag gebracht wurde. Denn anders als im »›rein weltlichen Lebensbereich‹ des Gerichtssaals« gehe es »bei der Erziehung Jugendlicher um einen Bereich, für den seiner Natur nach religiöse und weltanschauliche Vorstellungen von jeher relevant waren, in dem ein Spannungsverhältnis zwischen positiver und negativer Religionsfreiheit besteht, das nach dem Prinzip der Konkordanz zwischen den verschiedenen verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgütern und unter Berücksichtigung des Gebots der Toleranz gelöst werden muß«. 35 Somit könnten die Kläger von allen am Schulleben Beteiligten zwar Respekt und Toleranz gegenüber ihrer eigenen Weltanschauung verlangen, aber eben nicht beanspruchen, »daß ihrer negativen Bekenntnisfreiheit zum Nachteil der Schüler, die in einem religiösen Bekenntnis erzogen werden und sich dazu bekennen wollen, der absolute Vorrang eingeräumt […] wird«. 36 Zur Frage nach dem Symbolgehalt des Kreuzes nehmen die Regensburger Richter nur implizit Stellung. Es steht aber außer Zweifel,

32 33 34 35 36

VG Regensburg 1991, 345. VG Regensburg 1991, 345. VG Regensburg 1991, 346. VG Regensburg 1991, 346. VG Regensburg 1991, 346.

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Der Rechtsstreit um das »Kruzifix«

dass sie das Kreuz als ein christlich religiöses Symbol deuten, zumal sie es mit der Vermittlung religiöser und weltanschaulicher Vorstellungen in enge Beziehung setzen. 37 Dem widerspricht in gewisser Weise die ebenfalls bekundete Auffassung, dass das Kreuz keine Identifikation mit seinen symbolhaft verkörperten Ideen und Institutionen verlange bzw. keine »missionarische Einwirkung« 38 auf die Betrachter habe. Hierin offenbart sich ein zumindest schwammiger Gebrauch des Symbolbegriffes, der vor dem Hintergrund der Entscheidung durchaus zu problematisieren ist. Denn entgegen der Argumentation der Regensburger Kammer, spräche das hier zugrunde gelegte christlich religiöse Verständnis des Kreuzsymbols auch für eine Kollision mit dem verfassungsrechtlichen Neutralitätsgebot des Staates. Dies spiegelt sich in der Entscheidungsbegründung der Regensburger Verwaltungsrichter allerdings nicht wider. 39 Am Bayerischen Verwaltungsgerichtshof in München, der die Klage der Familie Seler in zweiter Instanz zu beurteilen hat, wird die Entscheidung der Regensburger Verwaltungsrichter bestätigt. Nach Ansicht der Münchner Kammer könne das Recht der Beschwerdeführer auf negative Religionsfreiheit im vorliegenden Fall nicht stärker gewichtet werden, als die positive Bekenntnisfreiheit der übrigen Schüler, da von Seiten der Kläger »lediglich eine bloße Duldung verlangt« 40 werde. Das Gericht weist daraufhin, dass der Beschwerdegrund – »der Anblick von Kruzifixen führe zu seelischen Beeinträchtigungen« 41 – nicht glaubhaft sei und dass das Anbringen von Kreuzen in Schulräumen im Sinne des Erziehungsauftrages des Staates sogar gesetzlich zu rechtfertigen sei. Anders als in Regensburg nimmt man am Verwaltungsgerichthof auch konkret zur Kreuzessymbolik Stellung – wenngleich aus zum Teil divergierenden Blickwinkeln: »Mit der Darstellung des Kreuzes als Sinnbild des Leidens und der Herrschaft Jesu Christ […] werden die Ast., die eine solche Darstellung ablehnen, zwar mit einem religiösen Weltbild konfrontiert, in dem die prägende Kraft christlicher Glaubensvorstellungen bejaht wird. Dadurch Vgl. VG Regensburg 1991, 345/346. VG Regensburg 1991, 346. 39 Vgl. Esser 2000, 26. 40 Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs München, hier zitiert nach Streithofen 1995, 122. 41 Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs München, hier zitiert nach Streithofen 1995, 122. 37 38

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»Kruzifix-Beschluss« und »Kopftuch-Urteil« in Deutschland

werden sie aber nicht in einen verfassungsrechtlich unzumutbaren religiösweltanschaulichen Konflikt gebracht. Kreuzesdarstellungen der hier in Betracht kommenden Art sind – ebenso wie das überkonfessionelle Schulgebet – nicht Ausdruck des Bekenntnisses zu einem konfessionell gebundenen Glauben […]. Sie sind ein wesentlicher Gegenstand der allgemein christlich-abendländischen Tradition und Gemeingut des christlich-abendländischen Kulturkreises. Einem Nichtchristen oder sonst weltanschaulich anders Gesinnten ist es unter dem Gebot der auch für ihn geltenden Toleranz zumutbar, sie unter dem Gesichtspunkt der gebotenen Achtung vor der Weltanschauung anderer hinzunehmen, auch wenn sie solche Darstellungen ablehnen. Das bloße Vorhandensein einer Kreuzesdarstellung verlangt weder eine Identifikation mit den dadurch verkörperten Ideen oder Glaubensvorstellungen, noch ein irgendwie sonst darauf gerichtetes aktives Verhalten. Die Schüler werden durch die Anbringung eines Kreuzes nicht etwa verpflichtet, ein bestimmtes religiöses Bekenntnis als verbindlich anzuerkennen, einem bestimmten Kultus beizuwohnen oder eine religiöse Handlung vorzunehmen.« 42

Zu einer ganz anderen Einschätzung kommen hingegen die Richter am Bundesverfassungsgericht. Ihrer mehrheitlichen Ansicht nach verletzt die unfreiwillige Konfrontation der Kinder mit dem Kruzifix deren Recht auf Glaubensfreiheit (Art. 4 GG). Denn dieses Recht schließt auch die Freiheit mit ein, »kultischen Handlungen eines nicht geteilten Glaubens fernzubleiben«. 43 Gleiches gelte auch für das Recht der Eltern, ihre Kinder von »Glaubensüberzeugungen fernzuhalten, die [ihnen] falsch oder schädlich erscheinen« 44 (Art. 7 GG). Auch dieser Argumentation liegt ein eigenes Symbolverständnis des Kruzifixes zu Grunde, das in diesem Fall stark an der christlichen Lehrmeinung orientiert ist. Unter ausdrücklicher Bezugnahme auf das katholische Lexikon für Theologie und Kirche sowie das Evangelische Kirchenlexikon halten die Karlsruher Richter fest: »Das Kreuz gehört nach wie vor zu den spezifischen Glaubenssymbolen des Christentums. Es ist geradezu sein Glaubenssymbol schlechthin. Es versinnbildlicht die im Opfertod Christi vollzogene Erlösung des Menschen von der Erbschuld, zugleich aber auch den Sieg Christi über Satan und Tod und seine Herrschaft über die Welt, Leiden und

Verwaltungsgerichtshof München (1991): Beschluss vom 3. Juni 1991 (Az.: 7 CE 91.1014), in: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (10/11), 1099–1101; hier: 1101. Nachfolgend zitiert als VGH München 1991. 43 BVerfGE 93, 15. 44 BVerfGE 93, 17. 42

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Der Rechtsstreit um das »Kruzifix«

Triumph in einem.« 45 Das Kruzifix im Klassenzimmer, so die Deutung der Verfassungsrichter weiter, verweise demnach dezidiert auf den christlichen Glauben und nicht bloß auf die christlich-abendländische Tradition. Vor diesem Hintergrund deutet das Gericht das Kreuz an der Wand des Klassenzimmers als Bestandteil einer kultischen Handlung. Einer solchen Handlung beizuwohnen ist zwar jedem Gläubigen prinzipiell erlaubt (positive Religionsfreiheit), aber ebenso ist es auch jedem Nicht-Gläubigen erlaubt, davon fernzubleiben (negative Religionsfreiheit). Verfassungsrechtliche Bedenken ergeben sich im vorliegenden Fall also erst dadurch, dass die freie Entscheidbarkeit durch den Kontext der Schule begrenzt ist. 46 Die Frage nach der Gewichtung von negativer und positiver Glaubensfreiheit ist hier also eng an das staatliche Neutralitätsgebot geknüpft, und das legen die Verfassungsrichter streng aus. Für die rechtliche Begründung ergibt sich daraus eine stärkere Fokussierung auf die negative Glaubensfreiheit. Zwar legen auch die Richter in Karlsruhe diese nicht so aus, dass sich daraus ein grundsätzlicher Anspruch ableiten ließe, im öffentlichen Raum grundsätzlich von religiösen Handlungen oder Symbolen verschont zu bleiben. Doch das Gericht stellt gleichwohl klar, dass durch den Passus der Bayerischen Volksschulordnung und die allgemeine Schulpflicht die Schüler gezwungenermaßen mit dem Kruzifix konfrontiert seien. Hier schafft also der Staat eine Lage, »in der der Einzelne ohne Ausweichmöglichkeiten dem Einfluß eines bestimmten Glaubens, den Handlungen, in denen dieser sich manifestiert, und den Symbolen, in denen er sich darstellt, ausgesetzt ist«. 47 Dies jedoch läuft nach Ansicht der Karlsruher Richter der Grundintention von Artikel 4 Abs. 1 GG zuwider, der ja gerade in den Lebensbereichen eine freiheitssichernde Wirkung entfalten sollte, die der staatlichen Fürsorge unterliegen. 48 Auch aus dem Recht auf positive Religionsfreiheit erwächst dieser Argumentation kein Widerspruch, da sich die Glaubensfreiheit ja nicht nur für Eltern und Kinder christlichen Glaubens in Anschlag bringen lässt, sondern auch für alle anderen. Eine Lösung des Kon45 46 47 48

BVerfGE 93, 19. Vgl. Esser 2000, 28. BVerfGE 93, 16. Vgl. BVerfGE 93, 16.

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»Kruzifix-Beschluss« und »Kopftuch-Urteil« in Deutschland

fliktes »nach dem Mehrheitsprinzip« bietet hier also keine Alternative, da »das Grundrecht der Glaubensfreiheit in besonderem Maße den Schutz von Minderheiten [bezweckt]« und – im Umkehrschluss dazu – keinen Anspruch beinhaltet, bei der Religionsausübung durch den Staat unterstützt zu werden. 49 So kommt der Erste Senat mit 5:3 Stimmen zu dem Ergebnis, der Verfassungsbeschwerde der Familie Seler stattzugeben. Die Richter Seidl und Söllner sowie die Richterin Haas formulieren zu dem Beschluss jedoch eine abweichende Meinung. Im Gegensatz zu ihren Kollegen, fassen sie insbesondere den Symbolbegriff weiter. Ihrem Verständnis nach bezieht sich die im Kruzifix ausgedrückte »Bejahung des Christentums […] nicht auf die Glaubensinhalte, sondern auf die Anerkennung des prägenden Kultur- und Bildungsfaktors und ist somit auch gegenüber Nichtchristen durch die Geschichte des abendländischen Kulturkreises gerechtfertigt«. 50 Die daraus abgeleiteten Konsequenzen decken sich dann in weiten Teilen mit den Überzeugungen des Verwaltungsgerichtshofs in München, so dass auch die drei Karlsruher Richter abschließend zu der Einschätzung kommen: »Angesichts dieses Sinngehalts, den das Kreuz im Klassenzimmer für nichtchristliche Schüler hat, haben sie und ihre Eltern das Vorhandensein der Kreuze hinzunehmen. Dazu verpflichtet sie das Toleranzgebot. Unzumutbare Belastungen entstehen ihnen dadurch nicht.« 51 Angesichts solcher Kontroversen schon innerhalb des Kreises der Bundesverfassungsrichter wundert es nicht, dass auch die öffentlichen Reaktionen auf den Karlsruher Beschluss kontrovers ausfallen. 52 Schon wenige Tage nach der Bekanntgabe des Beschlusses kommt es zu Protesten in der Bevölkerung, und Politiker aller Parteien nehmen dazu Stellung. Besonders deutliche Kritik äußert die bayerische Staatsregierung, die sich durch den Karlsruher Beschluss mit dem Vorwurf einer verfassungswidrigen Schulordnung konfronBVerfGE 93, 24. BVerfGE 93, 27. 51 BVerfGE 93, 33. 52 Der ehemalige Bonner Staatsrechtsprofessor Josef Isensee formuliert dazu: »Seit es die Bundesrepublik gibt, hat keine andere Entscheidung eines deutschen Gerichts so ungeheures Aufsehen erregt, vergleichbare Breiten- und Tiefenwirkung in der Bevölkerung gezeitigt, so nachhaltig polarisiert wie der Beschluß des 1. Senats des BVerfG« [Isensee, Josef (1996): Bildersturm durch Grundrechtsinterpretation. Der KruzifixBeschluß des BVerfG, in: Zeitschrift für Rechtspolitik (29/1), 10–15; hier: 10]. 49 50

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Der Streit um das Kopftuch der Lehramtskandidatin

tiert sieht. So ist etwa der bayerische Kultusminister, Hans Zehetmair, überzeugt, dass der Bundesverfassungsgerichtsbeschluss »ganz eklatant am Volke vorbei« gehe, und auch der bayerische Ministerpräsident, Edmund Stoiber, äußert seine »tiefe Betroffenheit über die Entscheidung«, die seiner Ansicht nach »von einer großen Mehrheit der Bevölkerung« unverstanden bliebe. 53 Kritik äußern auch Vertreter der beiden christlichen Kirchen; wobei die Stellungnahmen von Seiten der katholischen Kirche schärfer ausfallen. Der damalige Vorsitzende der deutschen Bischofskonferenz, Karl Kardinal Lehmann 54, formuliert in einer schriftlichen Stellungnahme Kritik am Symbolverständnis der Verfassungsrichter. Und auch der als eher konziliant bekannte, frühere Münchener Erzbischof, Friedrich Kardinal Wetter, spricht von einem »Ärgernis«, von dem er hoffe, dass es »auf die Wirklichkeit unseres Volkes keine prägende Kraft ausüben wird«. 55

3.3 Der Streit um das Kopftuch der Lehramtskandidatin Seit zu Beginn der 1960er Jahre die ersten Arbeitsmigranten aus islamischen Ländern (hauptsächlich aus der Türkei) nach Deutschland kamen, stieg die Zahl der Muslime in der Bundesrepublik stetig an. Während sich das Arbeitsangebot zunächst vor allem an männliche Arbeitnehmer richtete und zeitlich begrenzt war, wandelte sich die Situation in den siebziger Jahren durch die Familienzusammenführungen grundlegend. Das kulturelle und religiöse Leben erhielt fortan eine viel größere Bedeutung, und die Erfordernisse einer Integration der muslimischen Bevölkerungsteile, vor allem im Schul- und Ausbildungsbereich, nahmen zu. 56 Heute leben rund vier Millionen Muslime in Deutschland. Viele von ihnen (laut einer Studie des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge ca. 45 Prozent) sind deutsche Staatsbürger und gut in die deutsche Mehrheitsgesellschaft integriert. 57 Andere hingegen nutzen die bestehenden Moscheevereine und muslimischen Verbände noch immer als kulturelle RückzugsZitiert nach Esser 2000, 37. Der mittlerweile verstorbene Karl Kardinal Lehmann war zum Zeitpunkt der Kontroverse um das Kruzifix noch nicht zum Kardinal ernannt. 55 Zitiert nach Esser 2000, 40. 56 Vgl. Sen, Faruk/Aydin, Hayrettin (2002): Islam in Deutschland, München, 12/13. 57 Vgl. Haug, Sonja/Müssig, Stephanie/Stichs, Anja (2009): Muslimisches Leben in 53 54

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räume und tendieren eher dazu, sich von der übrigen Gesellschaft abzuschotten. Diese Situation bildet die Ausgangslage für die Kontroverse um das Kopftuch der baden-württembergischen Lehramtskandidatin Fereshta Ludin 58. Frau Ludin ist Muslima, in Afghanistan geboren und seit 1995 deutsche Staatsangehörige. Sie hat Lehramt für die Grundund Hauptschule studiert und soll im Sommer 1998 nach Abschluss ihres Referendariats in den Staatsdienst übernommen werden. Da Frau Ludin ihr Kopftuch, das sie als Zeichen ihrer Persönlichkeit und religiösen Überzeugung versteht, auch im Schulunterricht tragen möchte, wird ihr dieser Schritt von behördlicher Seite jedoch verwehrt. Nach Ansicht des Oberschulamts Stuttgart, das im Kopftuch nicht nur ein religiöses sondern auch ein politisches Symbol sieht, verstößt sie damit gegen das staatliche Neutralitätsgebot. 59 Fereshta Ludin fühlt sich durch diese Entscheidung in ihrem positiven Recht auf Religionsfreiheit beschnitten und klagt. Konnte der Beschluss des Oberschulamts, Frau Ludin nicht in den Staatsdienst zu übernehmen, zunächst noch als behördlicher Schnellschuss betrachtet werden, so nehmen die juristischen Auseinandersetzungen um die Grundrechte der Lehramtskandidatin vor dem Stuttgarter Verwaltungsgericht weitreichendere Dimensionen an. Im Zentrum der Kontroverse stehen vier grundsätzliche Fragen, die den Rechtsstreit letztlich bis vor das Bundesverfassungsgericht begleiten werden: (1) Welchen symbolischen Charakter hat das Kopftuch? (2) Gilt das positive Recht auf Religionsfreiheit von Fereshta Ludin mehr als das negative Recht ihrer Schüler und deren Eltern, oder verhält es sich umgekehrt? (3) Wie ist es um die Neutralitätspflicht des Staates in deutschen Schulen generell bestellt? (4) Inwieweit beeinträchtigt Frau Ludins Entscheidung für das Kopftuch ihre Eignung als Beamtin? 60 Das Verwaltungsgericht Stuttgart bestätigt im März 2000 die Entscheidung des Oberschulamts, bemüht sich aber in seiner Begründung um einige Präzisierungen. 61 Anders als etwa die baden-württembergische Kultusministerin Annette Schavan, die in einer PresseDeutschland. Forschungsbericht im Auftrag der Deutschen Islam Konferenz, Bd. 6, Nürnberg, 11. 58 Vgl. zu den nachfolgenden Ausführungen auch Oestreich 2004, 45–63. 59 Vgl. BVerfGE 108, 284. 60 Vgl. Oestreich 2004, 45–51. 61 Vgl. Verwaltungsgericht Stuttgart (2000): Urteil vom 24. März 2000 (Az.: 15 K

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mitteilung die Entscheidung ihrer Behörde unter anderem damit begründet hatte, dass das Kopftuch ein Zeichen bewusster kultureller Abgrenzung sei und deshalb eine desintegrierende Wirkung entfalte, sieht das Stuttgarter Gericht im Kopftuch kein ausschließlich politisches Symbol, sondern vielmehr ein religiöses. Damit obliegt es auch grundsätzlich Frau Ludins persönlicher Entscheidung, es zu tragen oder nicht; doch bildet der Schuldienst hierbei eine Ausnahme. Das Gericht erachtet nämlich das Tragen des Kopftuchs als ein demonstratives religiöses Bekenntnis und als solches hat es – ähnlich wie das Kruzifix – in einer Schule nichts verloren. 62 Die Frage nach der Religionsfreiheit stellt das Gericht in einen ähnlichen Zusammenhang. Da davon auszugehen sei, dass sich die Schüler dem Anblick des Kopftuchs nicht entziehen könnten, werde ihr Recht auf negative Religionsfreiheit in jedem Fall verletzt, so die Stuttgarter Richter. Daraus lasse sich im Umkehrschluss nun wiederum die Berechtigung für eine Einschränkung der Religionsfreiheit der Lehrerin ableiten. 63 Befremdlich wirkt die Argumentation des Verwaltungsgerichts allerdings hinsichtlich der »offenen« Neutralität des Staates. Mit Verweis auf die vielfachen christlichen Bezüge in der Landesverfassung Baden-Württembergs, mahnt das Gericht für Lehrer nicht-christlicher Religionen bei Religionsausübung im Dienst besondere Zurückhaltung an, da dies ansonsten Konflikte heraufbeschwören könnte. Und allein dieses etwaige Konfliktpotenzial lasse die Eignung Fereshta Ludins als pflicht-schuldige Beamtin, die einen reibungslosen Schulablauf zu gewährleisten habe, fragwürdig erscheinen. 64 Angesichts derart zweifelhafter Interpretationen von religiösen Symbolen, einer von Fall zu Fall unterschiedlichen Gewichtung von Neutralität und sonderbarer Konfliktprophezeiungen, wundert es nicht, dass Fereshta Ludin Berufung einlegt und die nächste gerichtliche Instanz anruft: den Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg. Doch auch die Richter in Mannheim bestätigen die vorausgegangenen Entscheidungen. 65 Sie teilen die an den Kruzifix532/99), in: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (19/8), 959–961. Nachfolgend zitiert als VG Stuttgart 2000. 62 Vgl. VG Stuttgart 2000, 960. 63 Vgl. VG Stuttgart 2000, 960. 64 Vgl. VG Stuttgart 2000, 961. 65 Verwaltungsgerichtshof Mannheim (2001): Urteil vom 26. Juni 2001 (Az.: 4 S 1439/00), in: Neue Juristische Wochenschrift (54/39), 2899–2905. Nachfolgend zitiert als VGH Mannheim 2001.

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Beschluss angelehnte Auffassung, wonach das Kopftuch ein deutlich sichtbares Zeichen darstelle, dem sich die Schüler nicht entziehen könnten. Überdies werde das Tuch von den Schülern gezwungenermaßen religiös bewertet, da es aus dem »Rahmen des sozial Üblichen« herausfalle. 66 Heide Oestreich bemerkt dazu: »Das ist doppelt interessant: Zum einen wird zugegeben, dass das Tuch schlicht fremd ist und dadurch schon problematisch. Zum anderen führt das Gericht den ›objektiven Empfängerhorizont‹ ein. Das ergibt sich aus der Parallele zum Kruzifix-Urteil. Der Unterschied aber ist, dass die ›Empfänger‹ sich im Kruzifix-Fall beklagt hatten. […] Im Fall des Kopftuchs aber nehmen die Gerichte dies bisher nur an«. 67 Und auch bei den Themen Religionsfreiheit, staatliche Neutralität sowie Dienstpflicht des Beamten urteilt das Gericht getreu dem Motto: Im Zweifel gegen das Kopftuch. Hatten die bisherigen Instanzen in ihren Begründungen dem Christentum aus kulturellen Gründen zumindest implizit eine Vorrangstellung gegenüber dem Islam zugebilligt, wird man am Bundesverwaltungsgericht diesbezüglich vorsichtiger. Die Richter in Mannheim 68 fordern vor dem Hintergrund zunehmender gesellschaftlicher und weltanschaulicher Vielfalt eine generelle Verschärfung des Neutralitätsgebots an öffentlichen Schulen: »Er [der Staat, Anm. M. R.] muss auf die in einer pluralen Gesellschaft sehr unterschiedlichen Elternauffassungen Rücksicht nehmen und jede religiöse Einflussnahme durch Lehrer unterbinden. Deshalb gewinnt das Neutralitätsgebot mit wachsender kultureller und religiöser Vielfalt – bei einem wachsenden Anteil bekenntnisloser Schüler – zunehmend an Bedeutung und ist nicht etwa im Hinblick darauf auszulockern, dass die kulturelle, ethnische und religiöse Vielfalt in Deutschland inzwischen auch das Leben in der Schule prägt, wie die Kl. meint.« 69

Mit anderen Worten und etwas überspitzt: Bevor Kopftuch, Turban und tibetische Mönchskutte in deutschen Klassenzimmern Einzug halten, sollte nach Auffassung der Richter lieber auf jegliche Form religiöser Bekleidung verzichtet werden – also gegebenenfalls auch auf Habit und Nonnentracht. Für das Anliegen Fereshta Ludins birgt VGH Mannheim 2001, 2904. Oestreich 2004, 53. 68 Das Bundesverwaltungsgericht befand sich 2002 noch in Mannheim; inzwischen ist der Sitz Leipzig. 69 Bundesverwaltungsgericht (2002): Urteil vom 4. Juli 2002 (Az.: 2 C 21/01), in: Neue Juristische Wochenschrift (55/45), 3344–3346; hier: 3345. 66 67

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diese Sichtweise natürlich kein positives Signal – im Gegenteil: ihre Klage wird erneut abgewiesen. Mit dem Urteilsspruch am Bundesverwaltungsgericht endet der Instanzenweg für die Klägerin. Doch mit dem Ergebnis kann und will sich die muslimische Lehrerin, die sich noch immer in ihren Grundrechten verletzt fühlt, nicht zufrieden geben. Ihre letzte Hoffnung ist das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Da der Fall mittlerweile eine breite öffentliche Resonanz erfahren hat, bemühen sich die Verfassungsrichter zunächst um eine sorgfältige Bestandsaufnahme. Neben den beiden Streitparteien werden diverse Sachverständige und Experten gehört, die vor allem helfen sollen, die strittige Symbolfrage zu klären. 70 Die bisherigen Instanzen hatten die Bestimmung des Symbolgehalts des Kopftuchs einseitig den Schülern und Eltern zugebilligt, nicht aber der Trägerin selbst. Diese Sichtweise erscheint den Karlsruher Richtern jedoch als ungerechtfertigt. Allein die Tatsache, dass eine muslimische Frau ein Kopftuch trage, könne kein Beleg dafür sein, dass sie einem nach modernem Verständnis überkommenen patriarchialen Frauenbild Vorschub leiste. Zwar sei laut Gericht unbestreitbar, dass das Kopftuch auf der Empfängerseite eine symbolische Wirkung entfalte, die es selbstverständlich auch zu berücksichtigen gelte, doch könne diese durch die Trägerin differenziert dargestellt und gegebenenfalls abgeschwächt werden. 71 Im Hinblick auf die Frage der Religionsfreiheit beschreitet das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe ebenfalls neue Wege. Bislang hatten die Gerichte betont, dass es mehr oder weniger im Ermessen der Schulbehörden und ihrer Prognosen liege, ob religiöse Kleidung im Unterricht tolerierbar sei oder nicht. Zwar sollte die Neutralitätspflicht grundsätzlich gewahrt bleiben, doch billigte man der Behörde einen gewissen Spielraum zu, der letztlich auf eine Duldung christlicher Ordenstracht und eine Ablehnung des muslimischen Kopftuchs hinauslief. Darin aber sehen nun die Verfassungsrichter einen Verstoß gegen das Gleichheitsgebot. Wer die individuelle Ausübung eines Grundrechts derart massiv beeinflusse, so der Tenor des Gerichts, könne dies nicht nach eigenem Ermessen tun, sondern müsse sich mindestens auf ein Gesetz berufen können, welches die Beklei-

70 71

Vgl. BVerfGE 108, 293/294. Vgl. BVerfGE 108, 304–306.

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dungsfrage allgemein und umfassend regele. Ein entsprechendes Gesetz zu erlassen, sei allerdings nicht Aufgabe der Exekutive, sondern des jeweiligen Landesgesetzgebers. 72 Ähnlicher Auffassung sind die Verfassungsrichter im Hinblick auf die Neutralitätsfrage. Auch hier sehen sie den Gesetzgeber in der Pflicht, eindeutige Regelungen festzuschreiben. Abgesehen davon aber bleiben sie eher zurückhaltend und orientieren sich an den Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts, das eine grundsätzliche Verschärfung des Neutralitätsgebots an öffentlichen Schulen in Betracht gezogen hatte. Etwas vage formulieren die Karlsruher Richter: »Die Schule ist der Ort, an dem unterschiedliche religiöse Auffassungen unausweichlich aufeinander treffen und wo sich dieses Nebeneinander in besonders empfindlicher Weise auswirkt. Ein tolerantes Miteinander mit Andersgesinnten könnte hier am nachhaltigsten durch Erziehung geübt werden. […] Es ließen sich deshalb Gründe dafür anführen, die zunehmende religiöse Vielfalt in der Schule aufzunehmen und als Mittel für die Einübung von gegenseitiger Toleranz zu nutzen, um so einen Beitrag in dem Bemühen um Integration zu leisten. Andererseits ist die beschriebene Entwicklung auch mit einem größeren Potenzial möglicher Konflikte in der Schule verbunden. Es mag deshalb auch gute Gründe dafür geben, der staatlichen Neutralitätspflicht im schulischen Bereich eine striktere und mehr als bisher distanzierende Bedeutung beizumessen […].« 73

In der »Beamtenfrage« wird das Gericht hingegen wieder präziser. Allein die Tatsache, dass Frau Ludin als Lehrkraft den Status einer Beamtin innehat, bedeutet nach Meinung der Richter nicht, dass sie weltanschaulich indifferent zu denken und zu leben hat. Gleiches gilt im Umkehrschluss natürlich auch für den Staat, der seine grundsätzliche Neutralität nicht durch eine Kopftuch tragende Lehrkraft einbüßt. Die Grundrechte eines Beamten können deshalb nur dann eingeschränkt werden, wenn es durch deren Auslebung zu einer tatsächlichen Verletzung der Dienstpflicht kommt. Diese müsse jedoch faktisch nachweisbar sein und dürfe nicht aufgrund bloßer Vermutungen vorweggenommen werden. Allein die theoretische Möglichkeit einer negativen Beeinflussung der Schüler durch das Kopftuch von Frau Ludin reicht also nicht aus, ihr schon im Vorfeld den Übertritt in den Beamtenstatus zu verwehren. 74 So kommt die

72 73 74

Vgl. BVerfGE 108, 310/311. BVerfGE 108, 310. Vgl. BVerfGE 108, 303–309.

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Der Streit um das Kopftuch der Lehramtskandidatin

Mehrheit der Verfassungsrichter schließlich zu dem Schluss, der Klage von Frau Ludin stattzugeben. In der Begründung dazu heißt es: »Das Tragen eines Kopftuches macht im hier zu beurteilenden Zusammenhang die Zugehörigkeit der Beschwerdeführerin zur islamischen Religionsgemeinschaft und ihre persönliche Identifikation als Muslima deutlich. Die Qualifizierung eines solchen Verhaltens als Eignungsmangel für das Amt einer Lehrerin an Grund- und Hauptschulen greift in das Recht der Beschwerdeführerin auf gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amt aus Art. 33 Abs. 2 GG in Verbindung mit dem ihr durch Art. 4 Abs. 1 und 2 GG gewährleisteten Grundrecht der Glaubensfreiheit ein, ohne dass dafür gegenwärtig die erforderliche, hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage besteht. Damit ist der Beschwerdeführerin der Zugang zu einem öffentlichen Amt in verfassungsrechtlich nicht tragfähiger Weise verwehrt worden.« 75

Als das Bundesverfassungsgericht sein Urteil am 24. September 2003 bekannt gibt, sind die Reaktionen in der Öffentlichkeit gespalten. Kritik kommt zunächst einmal aus dem juristischen Lager selbst. Die Verfassungsrichter Di Fabio, Jentsch und Mellinghoff teilen die Ansichten ihrer Kollegen nicht und formulieren eine abweichende Meinung, die sich im Wesentlichen der Argumentationslinie der Verwaltungsgerichte anschließt. Anders als die Senatsmehrheit sind sie der Überzeugung, dass nicht nur die Trägerin, sondern auch eine staatliche Behörde entscheiden dürfe, welche symbolische Bedeutung das Kopftuch habe. Dabei sei es aus behördlicher Sicht durchaus legitim, sich am gegenwärtigen gesellschaftlichen Commonsense zu orientieren, meinen die drei Richter, doch der sehe im Kopftuch nun einmal eine bewusste kulturpolitische Provokation, die es vor allem an öffentlicher Stelle zu unterbinden gelte. 76 Ganz anders, und im Sinne der Mehrheitsmeinung der Karlsruher Richter, urteilt der Jurist und ehemalige Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde. 77 Seiner Ansicht nach ist das Kopftuch in erster Linie ein religiöses Symbol und somit Ausdruck eines religiösen Bekenntnisses, das es laut Grundgesetz unbedingt zu schützen gelte – unabhängig davon, welcher Glaube dadurch repräsentiert werBVerfGE 108, 294. Vgl. BVerfGE 108, 314–340. 77 Vgl. Böckenförde, Ernst-Wolfgang (2004): Bekenntnisfreiheit als Menschenrecht. Bemerkungen zum Kopftuchstreit in Deutschland, in: Deile, Volkmar u. a. (Hrsg.): Jahrbuch Menschenrechte 2005. Schwerpunkt: Frauenrechte durchsetzen!, Frankfurt a. M., 314–317. 75 76

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de. Damit weist er die von vielen Seiten geforderte kulturell bedingte Privilegierung christlicher Symbole ausdrücklich zurück. Ähnlich differenziert äußerst sich Böckenförde zur politischen Dimension des Kopftuchs. Er schreibt: »Wenn das Tragen eines Kopftuchs durch eine muslimische Lehrerin für sie die Wahrnehmung ihrer Bekenntnisfreiheit darstellt – dies war im konkreten Fall unbestritten –, muss sich diese Grundrechtsausübung nicht anderen Deutungen des Kopftuchs unterwerfen oder sie sich zurechnen lassen«. 78 Derart widerstreitende Positionen zum Kopftuchentscheid finden sich natürlich nicht nur unter Juristen, sondern auch in den verschiedenen politischen Lagern. Während das Bundesverfassungsgerichtsurteil vom damaligen Bundespräsidenten Johannes Rau ausdrücklich begrüßt wird, stößt es auf Seiten der konservativen Parteien – namentlich bei den beiden Parteivorsitzenden Angela Merkel und Edmund Stoiber – mehrheitlich auf Ablehnung. Doch auch die vermeintlich progressiveren Fraktionen von SPD und Bündnis 90/ Die Grünen melden Bedenken an. Nicht wenige sehen im Kopftuch ein politisches Statement gegen Gleichberechtigung und damit einen verfassungsrechtlichen Affront. 79 Eher zurückhaltend äußern sich die christlichen Kirchen in Deutschland. Zwar begrüßt man sowohl auf katholischer als auch auf protestantischer Seite das starke Votum für die Glaubensfreiheit, doch gesteht man auch Bedenken gegenüber einer damit verbundenen Gleichstellung von Islam und Christentum ein, die man aus verständlichen Gründen so nicht teilen möchte. Problematischer sehen die Kirchenvertreter beider Seiten jedoch den Vorstoß des Gerichts, das Gebot staatlicher Neutralität in den Schulen neu zu überdenken und gegebenenfalls zu verschärfen. 80

3.4 Der juristische Streit um zwei religiöse Symbole – ein Zwischenergebnis Blickt man vor dem Hintergrund der in dieser Arbeit zu thematisierenden Rolle der Symbole auf die juristischen Auseinandersetzungen zurück, so bleiben im Wesentlichen drei Fragen im Gedächtnis, die in 78 79 80

Böckenförde 2004, 316. Vgl. Oestreich 2004, 89–95. Vgl. Oestreich 2004, 95–111.

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Der juristische Streit um zwei religiöse Symbole – ein Zwischenergebnis

den beiden Verfahren immer wieder diskutiert wurden: Welcher symbolische Bedeutungsgehalt kommt Kruzifix und Kopftuch zu? Was bedeutet das für das positive wie negative Recht auf Religionsfreiheit? Können beide Symbole dem staatlichen Neutralitätsgebot gerecht werden? Diese drei Fragen stehen nicht unverbunden nebeneinander, sondern weisen innere Bezüge auf. Die Beantwortung der ersten Frage beispielsweise hat Konsequenzen dafür, wie in der zweiten Frage Stellung bezogen wird, und das wiederum hat Folgewirkungen für die Reaktion auf die dritte Frage. Diese Kette von Bezügen und Verweisen ergibt sich jedoch nicht zufällig. Sie ist vielmehr eine unmittelbare Folge daraus, dass die beiden Symboldiskurse hier im Kontext des Rechts geführt werden. Um diesen Zusammenhang verständlich zu machen, muss hier kurz allgemein auf das Symbol eingegangen werden. Wie vor allem im zweiten Teil dieser Arbeit noch zu zeigen sein wird, lässt sich der Sinngehalt von Symbolen durch diejenigen, die ein Symbol gebrauchen, nicht einfach festlegen. Symbole sind vielmehr durch die Kontexte vorgeprägt, in denen sie Verwendung finden. Der Buchstabe A beispielsweise hat im Bereich der Sprache eine klar definierte Zeichenfunktion. Ihn als ein B zu verwenden, würde ein heilloses Durcheinander verursachen – phonetisch wie grammatikalisch. Gleichwohl ist es nicht so, dass der Buchstabe A nur diese sprachliche Zeichenfunktion besitzt. In mathematischen Formeln beispielsweise symbolisiert A eine allgemeine Variable. Diese mathematische Verwendung von A entspricht nun nicht einfach der sprachlichen, sondern tritt neben sie. Es ist demnach keine Frage von richtigem oder falschem Symbolgebrauch, wenn der Buchstabe A sprachlich oder mathematisch verwendet wird, sondern eine Frage des Kontextes. Insoweit bietet es sich also an, Symboldeutungen nicht anhand der Kategorien richtig und falsch zu bewerten, sondern anhand ihrer Kontextualität. Ein Diskurs über Symbolgehalte kann demnach auch nur dort sinnvoll geführt werden, wo es gelingt, einen Assoziationsrahmen zu bestimmen, in welchem die verschiedenen Interpretationen in eben diesem Sinne bewertet werden können. In den Auseinandersetzungen um Kruzifix und Kopftuch stellt das Recht mit seinen Normen einen solchen Assoziationsrahmen zur Verfügung. Denn es legt nicht einfach bestimmte Interpretationen fest, sondern verlangt zunächst einmal nur eine Übersetzung der unterschiedlichen Wahrnehmungen in die Sprache des Rechts. Der An93 https://doi.org/10.5771/9783495824122 .

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spruch besteht nicht darin, die Frage nach dem Wesen von Kruzifix und Kopftuch eindeutig zu beantworten. Vielmehr geht es darum zu prüfen, inwieweit die jeweiligen Interpretationen mit der Norm der positiven bzw. negativen Religionsfreiheit in Verbindung gebracht werden können und was dies dann im konkreten Fall juristisch bedeutet. Die Frage des Symbolgehalts wird somit auf eine einheitliche (nämlich rechtliche) Diskursebene geführt und nicht länger in ganz unterschiedlichen Assoziationsfeldern (wie etwa der Religion, der Politik oder der Kultur) ausgefochten, die letztlich zwar gleichberechtigt, aber eben auch unübersetzbar nebeneinander fortbestehen. Wenn nun auf der rechtlichen Ebene Gerichte darüber zu befinden haben, ob das Kreuz im Klassenzimmer vor allem als Ausdruck der christlich-abendländischen Tradition zu verstehen ist, 81 oder auch dort nur als das christliche »Glaubenssymbol schlechthin« 82 angesehen werden muss; oder ob der Schleier »ein deutlich sichtbares religiöses Symbol« 83 darstellt, oder nur »im Zusammenhang mit der Person, die es trägt« 84, eine religiöse Wirkung entfalten kann, dann geht es nicht (mehr) um die Frage, inwieweit sie mit ihrer jeweiligen Position den (ohnehin nicht vorhandenen) eigentlichen Bedeutungsgehalt von Kruzifix oder Kopftuch treffen. Entscheidend ist dann vielmehr, ob die angebotenen Assoziationen, eher für eine Verteidigung der Rechtsnorm der positiven oder negativen Religionsfreiheit sprechen und in diesem Sinne mehr oder weniger Plausibilität beanspruchen können. Die in den Gerichtsverfahren vorgenommenen Symboldefinitionen dienen also keiner eindeutigen Begriffsklärung, sondern haben lediglich die Funktion, die Symbolfrage für das Symbolsystem des Rechts und die in diesem System zur Anwendung kommenden Symbolfunktionen anschlussfähig zu machen. Das bedeutet nun nicht, dass sich die Richter der verschiedenen Verwaltungsgerichte und des Bundesverfassungsgerichts nicht um eine weithin anschlussfähige Deutung der religiösen Dimension von Kruzifix und Kopftuch bemühen sollten. Entscheidend ist vielmehr, dass diese Definitionsversuche nicht darauf abzielen müssen, auch in den unterschiedlichen Systemlogiken der symbolischen Felder der Religion oder der Politik durch81 82 83 84

Vgl. VGH München 1991, 1101. BVerfGE 93, 19. VGH Mannheim 2001, 2903. BVerfGE 108, 304.

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Der juristische Streit um zwei religiöse Symbole – ein Zwischenergebnis

weg zu überzeugen, sondern dass es ausreicht, aus ihnen plausible Rechtsansprüche ableiten zu können. Dementsprechend sind auch die Fragen nach dem Symbolgehalt von Kruzifix und Kopftuch vor Gericht nur in der Weise von Belang, als sie zur Beschluss- bzw. Urteilsfindung beitragen. Denn davon hängt ab, ob beispielsweise der Abschnitt in der Bayerischen Volksschulordnung, der das Anbringen von Kruzifixen in Klassenzimmern vorschreibt, verfassungskonform ist bzw. ob die Beurteilung des Tragens eines Kopftuches als Eignungsmangel für das Amt einer Lehrerin an Grund- und Hauptschulen den Gleichheitsgrundsatz (Art. 33 GG) bzw. die Glaubensfreiheit (Art. 4 GG) verletzt. 85 Keineswegs geht es darum, die theologische Dimension der beiden Symbole gerichtlich umfassend zu bestimmen. Die kurzen Einlassungen dazu in den Verfahren dienen lediglich einer sinnvollen Urteilsfindung. Vor dem Hintergrund dieser kurzen Rekonstruktion des Symbolgeschehens im Kontext der beiden Gerichtsentscheidungen lassen sich drei Aspekte verdeutlichen, die für die weiteren Untersuchungen zu Symbol und Kultur noch von Bedeutung sind: (1) Symbole dürfen nicht substantiell begriffen werden, sondern müssen funktional interpretiert werden; (2) Symbole manifestieren sich in und verknüpfen sich zu unterschiedlichen Bedeutungssystemen, die eigenen Gesetzmäßigkeiten gehorchen; (3) als Bedeutungssysteme gewinnen Symbole Macht über den Menschen, derer sich der Mensch nicht ohne weiteres entziehen kann. Dies näher zu erläutern ist das Hauptanliegen des folgenden zweiten Teils der Untersuchung.

85

Vgl. BVerfGE 93, 1 sowie BVerfGE 108, 294.

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Zweiter Teil: Symboltheoretische Zugänge zur Kultur

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4. Über das Wechselspiel von Symbol und Kultur

Die Deutung von Symbolen ist bisweilen kontrovers und strittig. Das gilt insbesondere dann, wenn kulturell signifikante Symbole auf einen bestimmten Sinngehalt festgelegt werden sollen. Allerdings haben die Schilderungen der beiden Rechtsstreitigkeiten bereits gezeigt, dass es in solchen Fällen Möglichkeiten gibt, Verständigungsbarrieren zu überwinden. Als symbolbildendes Wesen erzeugt der Mensch nämlich vielfältige kulturelle Räume, in denen sich ganz unterschiedliche geistige Ausdrucksformen (z. B. religiöse, künstlerische oder rechtliche) manifestieren. Dies schafft verschiedene kulturelle Sphären, in denen sich die Sinngehalte von Symbolen verändern und Kommunikation – nun gleichsam unter anderen Vorzeichen – immer wieder neu ansetzen kann. Man kann dies am Beispiel von Kruzifix- und Kopftuch-Streit sehr gut illustrieren, denn die gerichtlichen Auseinandersetzungen fußen ja bereits auf gescheiterten Verständigungsprozessen über Wesen und Bedeutung der Symbole. Die ursprünglichen Missverständnisse betreffen in beiden Fällen vor allem die religiöse Dimension. Während etwa die anthroposophische Familie die aus der christlichen Lehre ableitbare positive Bedeutung des Kruzifixes ablehnt und damit der behördlichen Sichtweise widerspricht, weist das Stuttgarter Schulamt das Kopftuch als Ausdruck religiöser Frömmigkeit zurück und unterstellt der Trägerin ein grundsätzlich missionarisches Motiv. Der Gang vor Gericht verändert diese Situation grundlegend. Zwar bleiben die aus dem religiösen Kulturbereich resultierenden Missverständnisse erhalten, doch treten nun neue Sinnaspekte aus dem symbolischen Feld des Rechts zu den Interpretationen hinzu. Die anfänglichen Widersprüche, die sich aus der gescheiterten Kommunikation im religiösen Sinnfeld ergeben haben, verlieren vor Gericht ihre zentrale Bedeutung. Als Anlass für den Rechtsstreit sind sie zwar weiterhin präsent, doch interessiert sich das Recht nur noch insoweit für sie, als sie sich in unterschiedliche Rechtsnormen, An99 https://doi.org/10.5771/9783495824122 .

Über das Wechselspiel von Symbol und Kultur

sprüche oder Gesetze übersetzen lassen, deren jeweilige Gültigkeit die Gerichte zu prüfen haben. Solchen Überlegungen liegt die Annahme zu Grunde, dass der Mensch ein symbolerzeugendes und symbolverstehendes Wesen ist, das sich die Welt nicht nur mittels Vernunft erschließen kann, sondern sie vermöge seines Geistes überhaupt erst kreiert, indem es sie mit Sinn erfüllt. Erst unter dieser Perspektive wird verständlich, welch zentrale Bedeutung Symbolen im Leben des Menschen zukommt und inwieweit sie seine kulturelle Existenz prägen bzw. sogar erst ermöglichen. Deshalb ist es zunächst einmal nötig, die Begriffe Symbol und Kultur systematisch einzuführen und sie in Beziehung zueinander zu setzen. Dies geschieht nachfolgend unter besonderer Berücksichtigung der Deutungen von Ernst Cassirer und Pierre Bourdieu, die beide in ihren jeweiligen Wissenschaftsbereichen (also der Philosophie und Soziologie) dazu eingehend geforscht und mit der Philosophie der symbolischen Formen bzw. der Theorie symbolischer Gewalt jeweils Konzepte vorgelegt haben, die den hier angestrengten Überlegungen inhaltlich den Weg weisen. Darüber hinaus soll erkennbar werden, inwieweit der Mensch mittels Symbolen Kultur schafft. Ein zentraler Bezugspunkt dabei ist die menschliche Sprache. Sie ist selbst ein Symbolsystem, zugleich aber auch die zentrale Vermittlungsinstanz zwischen den unterschiedlichen Ausdrucksformen unseres Geistes. Diese Sonderstellung gilt es zu rekonstruieren und kurz in ihrer Bedeutung aufzuschlüsseln.

4.1 Zum Symbol und seinen kulturtheoretischen Zuspitzungen Obschon der Symbolbegriff seit der Antike geläufig ist, existiert doch bis heute keine eindeutige Bestimmung seines Inhalts. Was ein Symbol ist, wodurch es seine Bedeutung erhält und womit diese begründet werden kann, bleibt trotz der vielfältigen Verwendung des Begriffes weithin unklar. Entsprechend schwierig ist es auch, eine Begriffsdefinition vorzulegen, die alle Aspekte in angemessener Weise zur Geltung bringt. Viel eher muss deshalb von einer multiperspektivischen Annäherung die Rede sein. 1

1

Vgl. Hülst, Dirk (1999): Symbol und soziologische Symboltheorie. Untersuchungen

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Zum Symbol und seinen kulturtheoretischen Zuspitzungen

Das Symbol ist in unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen ein wichtiger Untersuchungsgegenstand. Dies gilt insbesondere für die Semiotik, die Philosophie sowie die Sprach- und Literaturwissenschaften. Während man jedoch in der Semiotik den Symbolbegriff in der Regel mit dem Zeichenbegriff gleichsetzt und zwischen Symbolen als konventionellen, ikonischen oder konnotativen Zeichen unterscheidet, 2 ist in der philosophischen sowie literatur- und sprachwissenschaftlichen Tradition eine zeichenähnliche Verwendung des Symbolbegriffes verbreiteter. 3 Dementsprechend geht man in diesen Disziplinen auch seltener von einem direkten Bezug zwischen Bedeutungsgehalt und dargebotenem Gegenstand aus (wie etwa bei einem Verkehrszeichen), sondern verknüpft mit dem Symbolbegriff Assoziationen, die sich erst auf einer abstrakteren geistigen Ebene einstellen. So verstanden sind Symbole »den Ideen näher verwandt als den Zeichen«, denn sie »stellen etwas dar, was ohne ihre Hilfe nicht (oder nur schwer) bedacht werden kann« 4. Dennoch bleiben Symbole nicht nur auf diese innerlich-geistige Dimension beschränkt, sondern gewinnen auch in konventioneller Form (z. B. als sprachliche, mathematische oder religiöse Symbole) lebenspraktische Präsenz und Relevanz. Insoweit muss grundsätzlich »zwischen historisch vermittelten und spontanen Symbolen unterschieden werden« 5, denn Symbole sind nicht nur das Resultat spontaner geistiger Prozesse, sondern auch das Ergebnis vormaliger geistiger Objektivierungen, die den sozialen und kulturellen Raum prägen, in dem Menschen leben. Damit kristallisieren sich zwei Aspekte heraus, die für eine allgemeine Charakterisierung von Symbolen wichtig sind: Symbole bilden zum einen immer eine Einheit aus Sinngehalt und Ausdrucksform und werden zum anderen in dieser Verbundenheit entweder vorgefunden und übernommen oder neu zusammengefügt. 6

zum Symbolbegriff in Geschichte, Sprachphilosophie, Psychologie und Soziologie, Opladen, 21. 2 Vgl. Nöth, Winfried (22000): Handbuch der Semiotik, Stuttgart/Weimar, 178–184. 3 Vgl. Burkhardt, Achim (1996): Geballte Zeichen: Das Symbol und seine Deutungen, in: Zeitschrift für Semiotik (18/4), 461–482; hier: 463–465. 4 Hülst 1999, 22. 5 Burkhardt 1996, 479. 6 Vgl. Burkhardt 1996, 480.

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Das Merkmal des Zusammengesetzt-Seins von Symbolen lässt sich auch etymologisch eindeutig belegen. So besteht in einschlägigen Studien zum Symbolbegriff 7 ein weitgehender Konsens darüber, dass sich das Wort Symbol vom griechischen Verb symballein (συμβαλλειν) ableitet, was soviel wie zusammenwerfen oder zusammenbringen bedeutet. Daraus bildete sich das Substantiv symbolon (συμβολον), das schon im Altertum so unterschiedliche Bedeutungen wie Zeichen, Erkennungsmerkmal oder auch Tauschmittel aufwies. 8 Bei den Stoikern (d. h. etwa im dritten Jahrhundert vor Christus) erfährt der Begriff dann erstmals eine allegorische Ausdeutung. Symbole sind nun nicht mehr nur aufgrund konkret ersichtlicher Konnotationen deutbar, sondern bedürfen der Auslegung eingeweihter Experten. Diese Tendenz wird in den altertümlichen MysterienKulten weiter verstärkt. Symbole gelten darin als Erscheinungsformen des Heiligen, und die Symboldeutung erhält den mystischen Charakter einer göttlichen Schau. Diese Art der Abstraktion wird in der späten hellenistischen Epoche noch erweitert und auf bestimmte Prozesse, Gegenstände oder Personen übertragen; so wird etwa der Bart zum Symbol des Mannes. 9 Ein weiterer wichtiger begriffsgeschichtlicher Aspekt ist die im ersten nachchristlichen Jahrhundert aufkommende Verwendung von Symbolen durch die frühen Christen. Sie umschrieben damit nicht nur ihr Glaubensbekenntnis 10, sondern verwendeten Symbole auch

Vgl. beispielhaft etwa Lurker, Manfred (Hrsg.) (1982): Beiträge zu Symbol, Symbolbegriff und Symbolforschung, Baden-Baden; Bucher, Anton (1990): Symbol – Symbolbildung – Symbolerziehung. Philosophische und entwicklungspsychologische Grundlagen, St. Ottilien; Burkhardt 1996; Hülst 1999; Rolf, Eckard (2006): Symboltheorien. Der Symbolbegriff im Theoriekontext, Berlin. 8 Vgl. Hülst 1999, 30–32. Ein häufig zitierter Erklärungsansatz zur wortgeschichtlichen Bestimmung des Symbolbegriffes verweist auf einen antiken Brauch, wonach vor einer bevorstehenden Trennung zwei sich in besonderer Weise verpflichtete Personen einen Schmuckgegenstand auseinander brachen und je einen Teil als Erinnerungsstück und zukünftiges Erkennungszeichen zurückbehielten. Trafen sich die Personen wieder, konnten die beiden Teile »zusammengeführt« werden. Hier deutet sich, wie auch Dirk Hülst anmerkt (Vgl. Hülst 1999, 31), bereits eine deutliche begriffliche Erweiterung des Verbes symballein an, die über das »zusammenfügen/-werfen« hinausweist und dem Symbol (d. h. der Tonscherbe o. ä.) nicht nur als Wiedererkennungsmerkmal eine Bedeutung beimisst, sondern auch als Gegenstand der Repräsentanz bzw. als Ausdruck zwischenmenschlicher Beziehung. 9 Vgl. Hülst 1999, 33–41. 10 Vgl. Bucher 1990, 37. 7

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als Identifikationsmerkmal und Erkennungszeichen. 11 In der Theologie werden Symbol und Glaubenslehre fortan zu Synonymen, und die Verbreitung des Symbolbegriffes erfolgt immer stärker über das Christentum. 12 Im frühen Mittelalter dann nimmt sich die darstellende Kunst verstärkt der Symbolik an und geht dazu über, nicht nur religiöse Themen sondern auch Elemente aus der profanen Welt sinnbildlich zu präsentieren. Dazu gehört vor allem die Darstellung menschlicher Charaktereigenschaften mit Hilfe von Tiersymbolen (wie zum Beispiel Löwe oder Adler). Diese Tendenz erfährt zu Beginn der Neuzeit durch die Verwendung von Allegorien eine weitere Abstraktion. Denn fortan werden auch Eigenschaften der Menschen (zum Beispiel Tugenden und Laster) symbolisch zum Ausdruck gebracht. 13 Ab dem 18. Jahrhundert tritt das Symbol sowohl in der darstellenden Kunst als auch in der Dichtung beinahe inflationär häufig auf und vollzieht inhaltlich gegenüber seinem ursprünglichen Bedeutungsgehalt einen beinahe vollständigen Wandel. Während Symbole in der Antike konkrete Gegenstände bezeichneten, fungieren sie jetzt fast ausschließlich als Sinnbilder, und damit häufig nur als Abstraktionen ihres eigentlichen Bedeutungsgehalts. 14 Seine größte Bedeutungsvarianz erhält der Symbolbegriff am Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert. Von da an tritt er in den unterschiedlichsten Wissenschaftsbereichen in Erscheinung – von der Tiefenpsychologie bis hin zur Semiotik. Vor allem der so genannte linguistic turn 15 in den Kultur- und Sozialwissenschaften lenkt dabei neue Aufmerksamkeit auf das Symbol und seine Zeichen- bzw. Bedeutungsfunktion. Charles Sanders Peirce etwa entwickelt mit seiner Unterscheidung von Ikon, Index und Symbol die maßgebende semiotische Theorie zur Klassifikation der Zeichen, und Ferdinand de Saussure begründet mit der strukturalistischen Sprachtheorie

Ein bekanntes Beispiel dafür ist das griechische Wort ichthys (ιχθυς), das übersetzt »Fisch« bedeutet. Es wurde von den frühen Christen als Akrostichon für die Kurzversion ihres Glaubensbekenntnisses verwendet: Iesous Christos Theou Hyios Soter (dt. Jesus Christus, Gottes Sohn, Erlöser) und diente in geschriebener oder gezeichneter Form als Zeichen der christlichen Glaubensgemeinschaft. Vgl. Hülst 1999, 37. 12 Vgl. Bucher 1990, 37. 13 Vgl. Hülst 1999, 39/40. 14 Vgl. Hülst 1999, 40. 15 Vgl. dazu grundlegend Bachmann-Medick 52014, 7–13. 11

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einen Ansatz für die Erforschung der kulturellen Dimension von Sprache. 16 Besondere Bedeutung wird dem Symbolbegriff dann ab Mitte des 20. Jahrhunderts in verschiedenen kulturtheoretischen Ansätzen zugemessen, wobei hier vordergründig strukturalistische und interpretative Theorien zu nennen wären, wie sie etwa von Claude LéviStrauss oder Clifford Geertz vorgelegt wurden. 17 So versteht beispielsweise Geertz in Anlehnung an Max Weber und Ernst Cassirer Symbole als »komplexe Systeme von Zeichen, die eine Bedeutung haben« 18 und mit deren Hilfe Menschen in wechselseitige Kommunikationsprozesse treten können. Ernst Cassirers Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Symbolischen stellt im Bereich der Philosophie des 20. Jahrhunderts zweifellos den systematisch anspruchsvollsten Beitrag zu einer Symboltheorie dar. Dabei geht es Cassirer weniger um eine exakte Begriffsdefinition (die er im Übrigen auch nicht anbietet), als vielmehr um das Bemühen, die menschliche Begegnung mit der uns umgebenden Wirklichkeit zu verstehen und sie mit Hilfe der Theorie der symbolischen Formen aufzuschlüsseln. In seinem Hauptwerk Die Philosophie der symbolischen Formen bezeichnet Cassirer das Symbol als »das Ganze jener Phänomene […] in denen überhaupt eine wie immer geartete »Sinnerfüllung« des Sinnlichen sich darstellt«. 19 Damit ist gemeint, dass sich im Symbol ein geistiger Bedeutungsgehalt mit einem Trägermedium (also etwa einem Buchstaben, einem Bild oder einer Glaubensformel) verbindet und dadurch Zeichenfunktion erhält. Im Symbol wird, so beschreibt es Ernst Cassirer, »ein geistiger Gehalt, der an und für sich über alles Sinnliche hinausweist, in die Form des Sinnlichen […] umgesetzt«. 20 Der menschliche Geist kann sich demnach also nur dadurch verwirk-

Vgl. Scholz, Oliver R. (1998): Symbol. II, in: HWPh, Bd. 10, Basel, 723–738; hier: 732/733. 17 Vgl. Reckwitz, Andreas (32012): Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms, Weilerswist, 207–209 sowie 363–366. 18 Müller, Johannes (1997): Entwicklungspolitik als globale Herausforderung. Methodische und ethische Grundlegung, Stuttgart/Berlin/Köln, 129. 19 Cassirer 1929/2002, 105. 20 Cassirer 1923/2001, 40. 16

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lichen, dass er sich in sinnlich-konkreter Form zum Ausdruck bringt. 21 Diese Ausdrucksformen bezeichnet Cassirer als symbolische Formen. Er definiert sie als »Energie[n] des Geistes […] durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird«. 22 Dabei hat Cassirer nicht einzelne bedeutungstragende Zeichen im Sinn, sondern eher spezifische »Weisen des Verstehens und Erzeugens von Bedeutung, die sich in den kulturellen Werken manifestieren«. 23 Zum Kanon dieser symbolischen Formen zählen Mythos, Religion, Sprache, Kunst und Wissenschaft; wobei Cassirer mitunter auch die Bereiche der Technik, des Rechts, der Geschichte oder der Moral mit hinzuzählt. 24 Alle symbolischen Formen zeichnen sich dadurch aus, »daß sie auf jeden beliebigen Gegenstand angewendet werden können« 25. Damit soll zum einen verdeutlicht werden, dass die Bedeutung eines Symbols nicht nur aus der Perspektive einer symbolischen Form erschlossen werden kann; also ein Kreuz beispielsweise lediglich aus religiöser Perspektive, sondern eben auch aus künstlerischer, sprachlicher, wissenschaftlicher etc. Und zum anderen, dass der Kreis der symbolischen Formen prinzipiell erweiterbar bleibt und folglich auch der Raum kultureller Selbstschöpfungen des Menschen nicht abschließend festgelegt ist. Was aber lässt sich aus diesen theoretischen Überlegungen für das konkrete Wechselspiel von Symbol und Kultur ableiten? Zunächst einmal ist von Bedeutung, dass Symbole als Dinge in Erscheinung treten, so dass einerseits eine materiale und andererseits eine mediale Dimension von Symbolen sichtbar wird. Symbole sind zum einen also öffentliche Gegenstände, die von allen Menschen verwendet werden können – wobei sie an eine bestimmte Art und Weise des Gebrauchs gebunden bleiben. Zum anderen sind sie aber auch eigenständige Gebilde, die vor allem hinsichtlich unseres Ausdrucksbemühens häufig ein besonderes Spannungsgefüge zwischen Ausdrucksform und Ausdrucksabsicht offenbaren. 26

21 22 23 24 25 26

Vgl. Schwemmer 1997a, 48. Cassirer 1923a/2003a, 79. Recki, Birgit (2013): Cassirer, Stuttgart, 31. Vgl. Recki 2013, 33/34. Cassirer, Ernst (1949/2002): Vom Mythus des Staates, Hamburg, 49. Vgl. Schwemmer 2004, 682/683.

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Die Materialität von Symbolen ist ein wesentlicher Grund dafür, dass Symbole »konkrete Dinge werden, deren Gebrauch man regeln und auf seine Richtigkeit hin kontrollieren kann« 27. Sie dient also der Fixierung unseres Ausdruckshandelns und vermittelt auf diese Weise unserem Bewusstsein Halt und Orientierung. 28 Diese »Festigungsfunktion« (Oswald Schwemmer) ist unter anderem ein wichtiger Grund dafür, dass viele Menschen Symbolen, an denen sich die eigene kulturelle oder religiöse Identität manifestiert, eine besondere Bedeutung beimessen. Im Gegensatz dazu legt die Medialität sowohl die Unterscheidbarkeit als auch die Verknüpfbarkeit der verschiedenartigen symbolischen Artikulationsweisen fest. Dabei erschöpft sie sich aber nicht in der Verwendung von Bildern, Schriftzeichen, Gebärden oder ähnlichem. Die Medialität symbolischer Artikulationsweisen verlangt vielmehr eine Anpassung an bestimmte, historisch bedingte Muster der Artikulation, deren Strukturvorgaben wir uns beugen müssen. Diese Strukturvorgaben sind allerdings mehr als nur die äußeren Bedingungen für unser Ausdrucksbemühen. Sie prägen auch das Bewusstsein und bestimmen die menschlichen Artikulationsleistungen auch dann, wenn wir der Ansicht sind, völlig eigenständig zu agieren. Diese »Tiefenprägung« (Oswald Schwemmer) sollte allerdings nicht als bloße Einschränkung aufgefasst werden. Denn tatsächlich ermöglicht sie es den Menschen erst, sich in der für sie typischen Art und Weise auszudrücken: »Was wir überhaupt artikulieren, ist eingebettet in das, was schon artikuliert worden ist« 29. Die verschiedenen Arten der Materialität und Medialität von Symbolen vervielfältigen somit die dem Menschen zur Verfügung stehenden Formen symbolischer Artikulation und schaffen darüber hinaus eigenständige symbolische Welten, die unsere Artikulationsweisen prägen und uns eine innere Auseinandersetzung mit ihnen aufnötigen. Zudem bedingen die verschiedenen Artikulationsmedien unterschiedliche »Formen der Differenzierung und Verknüpfung in den verschiedenen Welten« 30. Ernst Cassirer hat dieses Phänomen mit dem Ausdruck »symbolische Prägnanz« 31 zu fassen versucht. Da-

27 28 29 30 31

Schwemmer 2004, 683. Vgl. Cassirer 1929/2002, 120. Schwemmer 2004, 683. Schwemmer 2004, 684. Vgl. Cassirer 1929/2002, 218–233.

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mit möchte er deutlich machen, dass sämtliche symbolische Formen nicht nur der Vermittlung zwischen einem individuellen Bewusstseinsempfinden – einem Ich – und der äußeren Wirklichkeit dienen, sondern dass sie zunächst einmal überhaupt eine Grenzziehung zwischen diesen beiden Bereichen ermöglichen. Denn die Abgrenzung von Ich und Wirklichkeit ist für Cassirer nichts einfachhin Natürliches, sondern vielmehr eine Leistung der symbolischen Formen. Sie erst ermöglichen eine Unterscheidung und machen darüber hinaus deutlich, dass diese Grenzziehung, je nachdem auf welcher symbolischen Form sie basiert, verschieden sein kann. 32 Als zentrale kulturelle Ausdrucksgestalt des Symbolischen gilt gemeinhin die Sprache, und deshalb ist sie vermutlich auch diejenige symbolische Form, mit der sich Pierre Bourdieu am meisten befasst. Denn die Sprache spielt in seinen Studien früh eine wichtige Rolle. Schon bei seinen Aufenthalten in Algerien wird er darauf aufmerksam, wie sehr sich »sprachlich demonstrierte und alltägliche Wirklichkeit« 33 unterscheiden können. Die dabei für ihn deutlich werdende Differenz von Begriff und Sache selbst bringt Bourdieu dann in Kontakt mit der Symbolphilosophie Ernst Cassirers und dessen Verständnis vom Symbol als einer geistigen Ausdrucksform. Zwar ist die Nähe von Bourdieus Symbolverständnis zur Cassirer’schen Symboltheorie unbestritten, doch ergeben sich aus der soziologischen Fragestellung Bourdieus durchaus auch markante Unterschiede zur Philosophie der symbolischen Formen. So steht bei Bourdieu nicht die Funktion der Ausdrucksgestalt unseres Geistes im Vordergrund seiner Symbolreflexion, sondern eher die semiotische Wahrnehmung des Symbols als einem bedeutungstragenden Zeichen. Hinweise darauf finden sich unter anderem in seinen Auseinandersetzungen mit der Kunstwahrnehmung in Zur Soziologie der symbolischen Formen, in denen er vom Kunstwerk als »symbolische[m] Gut« spricht, das »nur für denjenigen [existiert], der die Mittel besitzt, es sich anzueignen, d. h. es zu entschlüsseln« 34. Darüber hinaus erfolgt Bourdieus Auseinandersetzung mit dem Symbolischen vor allem aus soziologischer Perspektive. Bourdieu inVgl. Cassirer 1925/2002, 186. Rehbein, Boike (32016): Die Soziologie Pierre Bourdieus, München/Konstanz, 183. 34 Bourdieu, Pierre (1974): Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt a. M., 169. 32 33

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teressiert sich besonders für soziale Strukturen und deren vielfältige symbolische Äußerungsdimensionen, so dass Symbole für ihn im Wesentlichen als »Unterscheidungs-Zeichen« bzw. »als Repräsentation ›faktischer‹ sozialer Unterschiede« 35 Relevanz besitzen. Demzufolge spricht er auch selten explizit von Symbolen als vielmehr von symbolischen Systemen, deren Kernfunktion in der Konstruktion von Differenzstrukturen liegt. 36 Dabei geht es Bourdieu auch um die Lösung einer epistemologischen Frage, denn seine Theorie des Sozialen baut auf der Annahme auf, dass sich die sozialen Kämpfe (etwa um Kapital) nicht nur symbolisch ausdrücken, sondern dass der »symbolische Raum [selbst] zu einem eigenen Bereich sozialer, nämlich symbolischer Kämpfe« 37 wird. Wann immer also bei Bourdieu von Symbolen die Rede ist, geht es entweder um Zeichen oder um soziale Verhältnisse. Insbesondere für letztere ist kennzeichnend, dass sie eine Unterscheidungsfunktion haben und Machtstrukturen ausprägen, durch die Herrschaftsbeziehungen sichtbar werden. Wie sich diese Zusammenhänge konkret zeigen, beschreibt er in Zur Soziologie der symbolischen Formen am Beispiel sozialer Klassen: »Eine soziale Klasse läßt sich niemals allein aus ihrer Lage und Stellung innerhalb einer gesellschaftlichen Struktur, d. h. aus den Beziehungen bestimmen, die sie objektiv zu anderen Klassen der Gesellschaft unterhält; eine Reihe ihrer Eigenschaften verdankt sie nämlich dem Umstand, daß die Individuen, die diese Klasse bilden, absichtlich oder ohne es zu merken in symbolische Beziehungen zueinander treten, die die Differenzen von Stellung und Lage in logischer Systematik ausdrücken und diese Unterschiede somit in signifikante Unterscheidungsmerkmale zu verwandeln trachten.« 38 Die soziale Welt ist also eine Welt der Klassen und Hierarchien, in der mittels Symbolen um symbolisches Kapital gerungen wird. Dabei spielen Unterscheidungen eine zentrale Rolle, denn durch sie Fröhlich, Gerhard (1994): Kapital, Habitus, Feld, Symbol. Grundbegriffe der Kulturtheorie bei Pierre Bourdieu, in: Mörth, Ingo/ders. (Hrsg.): Das symbolische Kapital der Lebensstile. Zur Kultursoziologie der Moderne nach Pierre Bourdieu, Frankfurt a. M./New York, 31–54; hier: 48. 36 Vgl. Fröhlich, Gerhard/Rehbein, Boike (2014a): Symbol (symbole), in: diess. (Hrsg.): Bourdieu-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar, 228–231; hier: 228. 37 Fröhlich/Rehbein 2014a, 228. 38 Bourdieu 1974, 57. 35

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werden Machtverhältnisse markiert. Dies wiederum macht den sozialen Raum zu einem gewaltförmigen Raum. Mit Hilfe symbolischer Strukturen lässt sich diese Gewalthaltigkeit des Sozialen jedoch verschleiern. Der entscheidende Mechanismus dabei ist die so genannte symbolische Gewalt, die sich eben nicht als konkrete sondern vielmehr strukturelle Gewaltform offenbart, mit deren Hilfe die bestehenden sozialen Ordnungen fortgeschrieben werden können. 39

4.2 Der Kulturbegriff und seine symboltheoretischen Explikationen In den kulturwissenschaftlichen und sozialphilosophischen Reflexionen von Kultur geht man gegenwärtig vor allem der Frage nach, wie sich die in den verschiedenen Kulturen ausgeprägten Bedeutungssysteme eigentlich erklären lassen. Dies hat, in einem zweiten Schritt, auch Auswirkungen auf die gängigen Beschreibungs- und Deutungsmuster der Moderne, die in den zeitgenössischen Kulturtheorien neu bedacht und bestimmt werden. Und schließlich gilt es – drittens – sich verstärkt den Problemen zuzuwenden, die sich auf politischer Ebene für offene liberale Gesellschaften ergeben, die ihre Neutralitätsposition immer häufiger durch partikulare Interessen herausgefordert sehen. 40 Den Ausgangspunkt für die Entschlüsselungsversuche des Wesens von Kultur bilden unterschiedliche Deutungen der Herkunft von Sinnstrukturen, die in kulturellen Phänomenen manifest werden. Je nach Perspektive rücken hierbei das subjektive Bewusstsein, symbolisch vermittelte Strukturen oder gewohnheitsmäßige Handlungspraktiken in den Mittelpunkt. In der Phänomenologie beispielsweise geht man davon aus, dass kulturelle Sinn- und Deutungsmuster geistigen Strukturierungsbemühungen erwachsen, mit deren Hilfe sich der Mensch seine jeweilige Lebenswelt zu erschließen versucht. Von solchen mentalistischen Ansätzen grenzen sich strukturalistische Theorien ab, die den Sinn nicht als Resultat subjektiver Prozesse ansehen, sondern als Ergebnis systemischer Differenzierungslogiken, Vgl. Fröhlich/Rehbein 2014a, 230. Vgl. Reckwitz, Andreas (2008): Kultur, in: Gosepath/Hinsch/Rössler (Hrsg.): Handbuch der Politischen Philosophie und Sozialphilosophie. Bd. I, A–M, Berlin, 686–691; hier: 689/690.

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die aus den jeweiligen kulturellen Phänomenen eigenständig hervorgehen. Ein Beispiel dafür ist die Sprachtheorie Ferdinand de Saussures. Praxisorientierte Theorien wiederum gehen davon aus, dass der handelnde Mensch die zur Verfügung stehenden kulturellen Sinnstrukturen dazu gebraucht, situativ auftretende Herausforderungen zu meistern. Beispielhaft kommt dies im symbolischen Interaktionismus zum Ausdruck, der insbesondere den Bereich der zwischenmenschlichen Kommunikation und die dabei notwendigen Interpretationsprozesse reflektiert. 41 Ein zweiter Schwerpunkt zeitgenössischer kulturtheoretischer Forschung liegt auf dem Phänomen der Moderne. Von besonderem Interesse ist hierbei vor allem das gängige Muster der Identifikation bestimmter Gesellschaften mit spezifischen Kulturen, wie es beispielsweise in der Rede von der westlichen Moderne zum Ausdruck kommt. Dieses Muster mündet nicht selten in eine simple Qualifizierung und Etikettierung von Vergesellschaftung nach dem Schema: modern ist gut, vormodern ist schlecht. Tatsächlich jedoch sind auch moderne Gesellschaften »ein Konglomerat kontingenter Traditionen« und selbst »abhängig von historisch und geographisch spezifischen kulturellen Codes« 42, die einer gehaltvollen ethischen Bewertung entzogen bleiben. Aktuelle kulturtheoretische Ansätze bemühen sich dementsprechend auch um neue Deutungen moderner Kultur bzw. versuchen, die Fokussierung auf die westliche Moderne und ihre vermeintlichen Signaturen (wie z. B. Rationalisierung, soziale Differenzierung, Säkularisierung etc.) zu überwinden. Beispielhaft dafür ist der multiple modernities-Ansatz von Shmuel N. Eisenstadt, der auf die vielfältigen Versionen, steten Wandlungsprozesse und diversen Neuarrangements der vormals westeuropäischen Moderne in den anderen zeitgenössischen Modernen (etwa in den USA und Japan) aufmerksam macht. 43 Dieser veränderte Blick auf Kultur hat darüber hinaus auch Konsequenzen für die Gestaltung des politischen Zusammenlebens. In der jüngeren Vergangenheit wurden diese im Kontext der LiberalismusKommunitarismus-Debatte intensiv diskutiert. Strittig ist hierbei unter anderem die Frage, ob die in kulturellen Traditionen eingewobenen Vorstellungen vom guten Leben die politische Selbstidenti41 42 43

Vgl. Reckwitz 32012, 87–89. Vgl. Reckwitz 2008, 690. Vgl. Eisenstadt, Shmuel N. (2000): Die Vielfalt der Moderne, Weilerswist.

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fikation der Bürgerinnen im Sinne einer Wertegemeinschaft notwendigerweise zu unterstützen haben oder inwieweit darauf zu Gunsten einer staatlichen Neutralität, welche die Chancen- und Rechtsgleichheit aller Bürgerinnen wahrt, verzichtet werden kann. Während Vertreter eines republikanischen Kommunitarismus für die erste Variante votieren und kulturelle Partikularismen in modernen Gesellschaften bewusst sichtbar machen wollen, gehen Vertreter eines politischen Liberalismus davon aus, den Bedürfnissen der Bürgerinnen und Bürger durch staatliche Neutralität besser entsprechen zu können. 44 Die eben kurz skizzierten kulturtheoretischen Überlegungen basieren auf Deutungen von Kultur, die erst auf Grundlage einer Auseinandersetzung mit dem Kultur-Begriff wirklich Kontur gewinnen können. Dabei ist es zweckmäßig, sich zunächst der etymologischen Wurzeln zu vergewissern, denn schon hier zeigt der Begriff eine gewisse Vielschichtigkeit, die auch für das zeitgenössische Kulturverständnis charakteristisch ist. Der Ursprung des Wortes Kultur liegt im lateinischen Verb colere, das sich mit »wohnen«, »pflegen«, »anbauen« aber auch »verehren« übersetzen lässt. Karl-Siegbert Rehberg macht darauf aufmerksam, dass bereits in dieser Bedeutungsspanne des antiken Begriffs eine eigentümliche Assoziation erkennbar wird: Kulturelles Handeln zielt nämlich offenbar darauf ab, das Überleben zu sichern. Dieses Überlebensmotiv wird dabei sowohl in einem agrarisch-praktischen Sinne durch die Pflege des Ackerbaus herausgestellt als auch in einem magisch-metaphysischen Sinne durch die Verehrung der Götter. 45 Im Begriff der Kultur artikuliert sich also schon sehr früh ein Schutz- und Sicherheitsbedürfnis des Menschen gegenüber einer Umwelt, die in ihren vielfältigen Erscheinungen nicht durchschaut wird und deshalb technisch (Ackerbau) wie mythisch-religiös (Götterverehrung) gebannt werden muss. Diesen Aspekt betont ideengeschichtlich sehr viel später erneut Sigmund Freud, der in Das Unbehagen in der Kultur auf die Schutz- und Sicherheitsfunktion von Kultur für den Einzelnen gegenüber seiner Umwelt hinweist. 46 KulVgl. Reckwitz 2008, 690/691. Vgl. Rehberg, Karl-Siegbert (32007): Kultur, in: Joas, Hans (Hrsg.): Lehrbuch der Soziologie, Frankfurt a. M./New York, 74–105. 46 Vgl. Freud 1930/82003. 44 45

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turelles Handeln beinhaltet folglich immer einen Aspekt des FremdSeins in der Welt sowie der Überwindung dieses Fremd-Seins durch unterschiedliche Techniken des Sich-vertraut-machens mit der Welt – und zwar sowohl mit Blick auf die natürliche Umwelt als auch auf die soziale Mitwelt. Begriffliche Ergänzungen und Erweiterungen begleiten den Kulturbegriff natürlich nicht erst seit Freud, sondern bereits seit der Antike. Bei Cicero etwa wird die substantivische Verwendung (cultura, lat. Ackerbau) des Wortes im Sinne von Kultivierung nicht mehr bloß auf den Ackerbau beschränkt, sondern bezieht sich auch auf die Pflege der eigenen Person und des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Cicero drückt dies mit Hilfe der Wendung cultura animi aus. 47 Im 17. Jahrhundert wird der Kulturbegriff dann von Samuel von Pufendorf zur Bezeichnung eines geordneten gesellschaftlichen Zustandes (status cultura) verwendet und dient damit der Abgrenzung von einem als vorgesellschaftlich empfundenen Naturzustand (status naturalis). 48 Johann G. Herder schließlich fügt dem Kulturbegriff noch eine historische Dimension hinzu, indem er ihn zur Unterscheidung des Entwicklungsgrades verschiedener Völker und Nationen gebraucht. Als im 19. Jahrhundert die Kultur als weltimmanenter Rahmen der Erkenntnis den Bereich der Metaphysik vorerst in den Hintergrund treten lässt, ist der Begriff dann auch philosophiegeschichtlich endgültig etabliert. 49 Dieser kurze etymologische Exkurs macht deutlich, dass das Begriffsfeld Kultur je nach Perspektive ganz unterschiedliche Assoziationen weckt. In den Kulturwissenschaften und der Kulturanthropologie sind dies unter anderem Vorstellungen von einer anthropologischen Tiefendimension von Kultur. Dabei rückt der Mensch vor allem als ein Kulturwesen in den Blick. Er ist demzufolge in all seinen Denk- und Handlungsweisen in ein symbolisches Bedeutungsgewebe verstrickt, das sich aus unterschiedlichen symbolischen Ordnungen, Codes und Sinnhorizonten zusammensetzt. Ziel kulturwissenschaftlichen Forschens ist es, dieses Wechselverhältnis von Mensch und Kultur besser zu verstehen. 50 Vgl. Rehberg 32007, 76. Vgl. Perpeet, Wilhelm (1976): Kultur, Kulturphilosophie, in: HWPh, Bd. 4, Basel/ Stuttgart, 1309–1324; hier: 1309. 49 Vgl. Steenblock 2018, 17. 50 Vgl. Reckwitz, Andreas: Die Kontingenzperspektive der ›Kultur‹. Kulturbegriffe. Kulturtheorien und das kulturwissenschaftliche Forschungsprogramm, in: Jaeger, 47 48

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Der Kulturbegriff und seine symboltheoretischen Explikationen

Dabei stellt der kulturwissenschaftliche Forschungsansatz weniger einen disziplinär völlig eigenständigen Zugang zur Kultur dar, als vielmehr eine Art Forschungsprogramm, das sich dem Phänomen Kultur in einer möglichst breitgefächerten und umfassenden Form zuwendet. Schwerpunkt kulturwissenschaftlicher Untersuchungen ist demnach auch nicht die Entschlüsselung einer spezifischen Kultur, sondern vielmehr die Dechiffrierung sämtlicher Handlungsfelder des Menschen als kulturelle Handlungsfelder. 51 Darin besteht ein zentraler Unterschied zu den klassischen Sozialwissenschaften, die häufig eine besondere programmatische Pointierung ihrer Untersuchungen vornehmen. Kulturwissenschaftliche Forschungen hingegen brechen etwa mit dem für die Soziologie klassischen Dualismus von moderner und traditionaler Kultur, in dem sie sich um eine Entschlüsselung der Kontingenzen, historischen Abhängigkeiten und kulturellen Codierungen bemühen, die unserem gängigen Verständnis von Moderne und Vormoderne zu Grunde liegen. 52 Gerade diese Konzentration auf die je spezifischen Kontexte ist eine besondere Stärke des kulturwissenschaftlichen Forschungsprogrammes. Andererseits ist sie aber auch eine große Herausforderung, denn es zählt zur inneren Logik moderner Kulturen, gerade die Kontingenzen eher zu verschleiern und kulturelle Praktiken in ihrem jeweiligen Kontext vielmehr als rationale Notwendigkeiten erscheinen zu lassen. 53 Ein zentraler Ausgangspunkt des philosophischen Nachdenkens über Kultur ist die Überzeugung, dass der Mensch im Erzeugen von Kultur selbst Schöpfender wird und zwar nicht nur in der Weise, dass er kulturelle Tatsachen 54 schafft, sondern auch dadurch, dass er die Welt mit Sinn und Bedeutung auflädt. Für Kant beispielsweise besteht der Zweck von Kultur im Wesentlichen darin, die naturgemäße Selbstzwecklichkeit des Menschen – also seine Würde – zum Ausdruck zu bringen. 55 Dabei ist jedoch die Friedrich/Rüsen, Jörn (Hrsg.): Handbuch der Kulturwissenschaften. Bd. 3, Themen und Tendenzen, Stuttgart 2004, 1–20; hier: 2. 51 Vgl. Reckwitz: Die Kontingenzperspektive der ›Kultur‹, 1/2. 52 Vgl. Reckwitz: Die Kontingenzperspektive der ›Kultur‹, 2/3. 53 Vgl. Reckwitz: Die Kontingenzperspektive der ›Kultur‹, 2. 54 Was mit kulturellen Tatsachen gemeint ist und – vor allem – was nicht, lässt sich bei Konersmann, Ralf (2006): Kulturelle Tatsachen, Frankfurt a. M., 13–69, sehr gewinnbringend nachlesen. 55 Vgl. Kant 1790/1974, 387–393.

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Über das Wechselspiel von Symbol und Kultur

Entdeckung der Würde des Menschen keine Kulturleistung im engeren Sinne. Die Würde kommt dem Menschen vielmehr schon von Natur aus zu, da der Mensch (aus der Perspektive Kants) den Endzweck der Natur darstellt. Da aber die Natur keine Zweckgebundenheiten im normativen Sinne kennt, ist es letztlich die Aufgabe des Menschen, seine Endzwecklichkeit selbst zur Geltung zu bringen. Dies wiederum gelingt ihm vor allem durch die Stiftung von Kultur. 56 Kultur und Natur stehen also mit Blick auf die Selbstkonstitution des Menschen in einem wechselseitigen Bezugs- und Spannungsverhältnis, wobei »der Weg von der reinen Form der Moral zum Geschehen der Kultur« 57 führt. Dieser Gedanke bewegt auch Ernst Cassirer, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts den transzendentalphilosophischen Ansatz von Kant aufgreift. Allerdings bleibt Cassirer nicht bei dessen bloßer Rekonstruktion stehen, sondern entwickelt ihn in seiner Philosophie der symbolischen Formen allmählich zu einer Kritik der Kultur fort. Ein wichtiger Unterschied zu Kant besteht dabei darin, dass sich der eben beschriebene Weg von der reinen Form zum Geschehen bei Cassirer umkehrt und nun vom Geschehen zur Form führt. 58 Kultur ist für Cassirer ein dynamischer Prozess. Der Mensch erschließt sich die Welt mittels symbolischer Formung, so dass es ihm gelingt, »Selbsterfahrungen und umweltliche Erfahrungen in Bedeutungszusammenhänge zu transformieren« 59. Diese Bedeutungszusammenhänge ergeben sich aus keinem zuvor festgelegten Erkenntnisideal. Cassirer geht es deshalb auch nicht darum, irgendwelche Gesetzmäßigkeiten aufzudecken oder gar zu substantiellen Bestimmungen des »metaphysische[n] Wesen[s]« 60 des Menschen zu gelangen. Vielmehr strebt er danach, jene symbolbildende Funktionsweise unseres Geistes zu entschlüsseln, die uns unseren formbildenden Zugriff auf die Welt erlaubt. Dabei denkt sich Cassirer den Menschen zunächst als eine Art Ausnahmeerscheinung unter den Lebewesen, da er im Unterschied

Vgl. Rudolph, Enno (2004): Vom Geschehen zur Form, in: Jaeger, Friedrich/ Liebsch, Burkhard (Hrsg.): Handbuch der Kulturwissenschaften. Bd. 1, Grundlagen und Schlüsselbegriffe, Stuttgart, 38–45; hier: 40. 57 Rudolph 2004, 41. 58 Vgl. Rudolph 2004, 41/42. 59 Rudolph 2004, 43. 60 Vgl. Cassirer 1944/22007, 110. 56

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Der Kulturbegriff und seine symboltheoretischen Explikationen

zu den Tieren nicht nur auf Umwelteinflüsse reagiert, sondern darauf auch reflexiv antwortet. 61 Er bleibt äußeren Impulsen also nicht willenlos ausgesetzt, sondern kann sie kreativ verarbeiten (d. h. formen). Sämtliche geistigen Äußerungsformen des Menschen sind das Ergebnis dieser Fähigkeit. Beeinflusst werden sie von äußeren Umweltreizen (etwa dem Wetter), den inneren Reizen unseres Bewusstseins (den Gedanken, Gefühlen, Stimmungen) sowie den bereits ausgebildeten Formfaktoren unserer Kultur (Sprachsystem, Rechtsverständnis, Religionsdeutung). 62 In gedanklicher Nähe zu Ernst Cassirer betont Oswald Schwemmer, dass sich Kultur jedoch nicht allein auf den Bereich ausdrucksbasierter Äußerungsformen beschränkt, sondern auch handlungsbasierte Äußerungsformen kennt, die auf eine praktische Veränderung der Welt abzielen. Beide Äußerungsvarianten eint die Tatsache, dass wir mit ihrer Hilfe auf unsere Umwelt einwirken wollen. In Ausdruckshandlungen bedienen wir uns zu diesem Zweck bestimmter Artikulationsformen, wobei die jeweilige Artikulation »ihr Ende [findet], [sobald] sie in eine Form gebracht ist, die der sich Äußernde als Form seines Ausdrucks akzeptiert«. 63 Diese Selbstzweckhaftigkeit von Artikulation schließt natürlich nicht aus, dass wir mit unseren Ausdruckshandlungen über den bloßen Artikulationsmoment hinaus nicht auch etwas erreichen wollen (jmd. überreden, überzeugen, beeindrucken etc.). Doch das Gelingen dieses Vorhabens hängt letztlich nur vom Empfänger unserer Botschaft ab und nicht von der dazu verwendeten Artikulationsform. Bei handlungsbasierten Äußerungsformen, mit denen wir direkt auf die Welt einwirken wollen, hingegen ist das anders. Sie erschöpfen sich nicht in ihrer eigenen Artikulation, sondern zielen auf eine tatsächliche Beeinflussung des Weltverlaufs (sowohl im begünstigenden als auch einschränkenden Sinne). 64 Kultur zeichnet sich also durch Form-Wirkverhältnisse aus, die von reinen physischen Wirkverhältnissen unterschieden werden können. Folglich gilt es zu klären, wie die den Form-Wirkverhältnissen zu Grunde liegenden Formen überhaupt in Erscheinung treten. Hierzu bedarf es nun der Einführung von Medien, zu denen so disparate Dinge wie Sprache, Bilder, Gestik und Mimik oder auch Werk61 62 63 64

Vgl. Cassirer 1944/22007, 49. Vgl. Schwemmer 2004, 676/677. Schwemmer 2004, 677. Vgl. Schwemmer 2004, 678.

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Über das Wechselspiel von Symbol und Kultur

zeuge und wissenschaftliche Apparaturen zählen. 65 Viele dieser Medien sind bereits geformte Medien. Es handelt sich bei ihnen also nicht um qualitätslose Stoffe, sondern um Erscheinungen, in die bereits besondere Formleistungen eingegangen sind. Ein Beispiel dafür ist unsere Sprache, die aus Begriffen besteht, die selbst wiederum aus einer ganzen Reihe von Laut- und Ausdrucksmöglichkeiten hervorgegangen sind. Ganz ähnlich verhält es sich mit Werkzeugen. Auch sie sind nicht einfach nur speziell geformtes Metall, sondern Ausdruck unserer Vorstellungen von Mechanik, verbunden mit dem Zweck, bestimmte, von uns zuvor erdachte, Aufgaben zu erfüllen. Für das Ausdrucksleben unseres Geistes folgen daraus zwei Möglichkeiten: Wir können entweder eine unmittelbare Materialisierung unseres Ausdruckswillens anstreben und sie dann zugleich als dessen Verwirklichung ansehen. Oder wir können auf diese Unmittelbarkeit verzichten und uns zu diesem Zweck verschiedener Medien bedienen, wobei wir uns allerdings deren intrinsischen Logiken fügen müssen. So bedeutet etwa die Verwendung des Mediums Sprache noch nicht, dass ich mit Hilfe der artikulierten Worte in meinen Wünschen und Bedürfnissen auch wirklich verstanden werde, selbst wenn die Begrifflichkeiten klar und deutlich sind. 66 Medium und Form sind vor diesem Hintergrund also als wechselseitige Begriffe zu verstehen: Die innere Struktur des Mediums bedingt einerseits die Form, während andererseits die Form – als Ausdruck unseres Willens – eine materielle wie immaterielle Gegebenheit erst zu einem Medium werden lässt. 67 Diese enge Korrelation ist auch ein Grund dafür, weshalb das Medium für Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen eine Schlüsselfunktion besitzt. Denn das Konzept der symbolischen Formen verlangt nach einem einheitsstiftenden Prinzip, das die Besonderheit jeder dieser Formen stabil hält und zugleich eine logische Abgrenzung zu den anderen symbolischen Ausdrucksformen des Geistes möglich macht. Im Medium, das Cassirer im Wesentlichen mit dem Begriff des Symbols bezeichnet, ist dieses Prinzip in idealer Weise verwirklicht. 68

65 66 67 68

Vgl. Schwemmer 2004, 681/682. Vgl. Schwemmer 2004, 682. Vgl. Schwemmer 2004, 682. Vgl. Cassirer 1923/2001, 14–16.

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Der Kulturbegriff und seine symboltheoretischen Explikationen

Aus allgemeiner soziologischer Perspektive bezieht sich Kultur nicht nur auf »Relikte« menschlichen Tätigseins (also auf Kulturdenkmäler, Kunstwerke, etc.), sondern auch auf die Sinnstrukturen menschlichen Handelns. 69 Für die Soziologie, der es im Wesentlichen um die Erklärung der Entwicklung, des Bestandes und des Wandels sozialer Prozesse und Erscheinungen geht, liegt hierin der eigentliche Kern ihres Interesses an der Kultur. Denn um verstehen zu können, weshalb Menschen handeln wie sie handeln und deshalb diejenigen sozialen Prozesse und Gebilde schaffen, die sie schaffen, muss neben den subjektiven Intentionen und Interessen vor allem der soziale Sinn ihres Tuns verständlich sein. Dieser soziale Sinn ergibt sich allerdings erst aus den kulturellen Orientierungen, Einstellungen und Symbolen, die in jeder beliebigen Situation den Handlungsrahmen eines Individuums mitdefinieren. 70 Vor diesem Hintergrund kann Kultur als ein »Vorrat« an sozialen Bezugsrahmen und Symbolen verstanden werden, »aus dem die Akteure schöpfen können (und müssen), wenn sie ihr Handeln mit Sinn versehen und ›verstanden‹ werden wollen« 71. Diese Rede von Kultur als einem Sinnvorrat oder Sinnhorizont 72 hat zudem den Vorzug, auch auf die Ordnungsfunktion von Kultur hinzuweisen, die vor allem darin besteht, »das Geordnete und Sinnhafte vom bloß Zufälligen und Sinnlosen« 73 abzugrenzen. Darüber hinaus wird durch die Ordnungsfunktion von Kultur deutlich, dass es bei Kultur immer auch um »Unterschiede und um Vergleiche« geht. 74 Denn eine wesentliche Funktion des Kulturbegriffs besteht darin, identifizierbare Einheiten zu erzeugen. Dies gilt sowohl mit Blick auf die eigene kulturelle Gemeinschaft (Distinktion) als auch vor dem Hintergrund fremder Kulturen (Emanzipation). 75 Zusammenfassend lassen sich somit drei Dimensionen des Kulturbegriffes voneinander unterscheiden: (1) In einem ersten Schritt kann Kultur »als Muster für HandVgl. Esser, Hartmut (2001): Soziologie. Spezielle Grundlagen, Bd. 6: Sinn und Kultur, Frankfurt a. M./New York, IX. 70 Vgl. Esser 2001, IX-X. 71 Esser 2001, 2. 72 Vgl. Soeffner, Hans-Georg (2000): Gesellschaft ohne Baldachin. Über die Labilität von Ordnungskonstruktionen, Weilerswist, 167. 73 Soeffner 2000, 167. 74 Nassehi, Armin (2008): Soziologie. Zehn einführende Vorlesungen, Wiesbaden, 145. 75 Vgl. Nassehi 2008, 155. 69

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Über das Wechselspiel von Symbol und Kultur

lungen, Verhalten und Verstehen, als Sinn- und Wissensvorrat« 76 verstanden werden, der vor allem Zugehörigkeit generiert. (2) Ergänzend dazu gibt es einen vergleichenden bzw. identitätsstiftenden Begriff von Kultur, der vor allem die Unterscheidung von anderen Gruppen und Gemeinschaften betont. (3) Darüber hinaus lässt sich Kultur aber auch als »Distinktions-, Kampf- und Emanzipationsbegriff« verstehen, der sich leicht instrumentalisieren lässt und politischen Interessen dienstbar gemacht werden kann. 77 Letzteres wird besonders von Pierre Bourdieu betont, für den Kultur nichts Natürliches ist, sondern immer auf willkürlichen Festlegungen beruht und deshalb vor allem Machtverhältnisse widerspiegelt. 78 Soziale Ungleichheit beispielsweise drückt sich nicht nur in unterschiedlichen Einkommensverhältnissen aus, sondern wird darüber hinaus auch in unserer alltäglichen Lebenspraxis (etwa auf der Ebene von Geschmacksurteilen oder kulturellen Vorlieben) sichtbar. Was unter dem Kultur-Begriff zu verstehen ist, wird von der herrschenden Klasse definiert und dient für gewöhnlich der Abgrenzung gegenüber den unteren Schichten. Kultur markiert also einen Unterschied und ist nicht jedem ohne weiteres zugänglich. 79 Distinguiert sein bedeutet vor diesem Hintergrund vor allem: nicht populär sein. Sobald etwas populär wird, ist es nicht mehr als Teil der herrschenden Kultur anzusehen. Der Begriff der populären Kultur ist deshalb in den Augen Bourdieus eigentlich ein Widerspruch in sich. Denn dasjenige, was die unteren Klassen schätzen und bevorzugen, wird üblicherweise nicht einfach Teil der vorherrschenden Kultur. Ihre Präferenzen werden vielmehr sofort durch die etablierte Kultur objektiv entwertet. Ein einfaches Beispiel dafür ist die Unterscheidung von Hochsprache und Milieusprache oder Dialekt. Das Phänomen der Populärkultur gibt es folglich zwar in einem ethnologischen Sinne, aber im Kontext der Bildung ist es wertlos. 80

Nassehi 2008, 158. Nassehi 2008, 159. 78 Vgl. Bauer, Ullrich (2014): Kultur (culture), in: Fröhlich, Gerhard/Rehbein, Boike (Hrsg.): Bourdieu-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar, 158–162; hier: 159. 79 Vgl. Bauer 2014, 160. 80 Vgl. Rehbein, Boike (2014): Distinktion (distinction), in: Fröhlich, Gerhard/ders. (Hrsg.): Bourdieu-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar, 76–78; hier: 76/77. 76 77

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Der Mensch als symbolbildendes und kulturschaffendes Wesen

In Die feinen Unterschiede untermauert Bourdieu diese These anhand diverser Beispiele. 81 Dazu zählen unter anderem Unterschiede in den Essgewohnheiten und Tischsitten. Während die untere Klasse noch immer nahrhaftes Essen bevorzugt, achtet man in der herrschenden Klasse bei der Wahl der Speisen vor allem auf die Gesundheit. Schlank sein gilt hier als schick, wohingegen dick sein in den unteren Klassen zumindest nicht vollends verpönt ist. Ähnliches gilt für Fragen des Bekleidungsstils. Während man in den unteren Klassen vor allem auf zweckmäßige Kleidung zurückgreift, dient die Kleidung bei der herrschenden Klasse vor allem der Repräsentation. In seiner Soziologie versucht Bourdieu die Erscheinungsformen des Sozialen neu zu deuten und zu strukturieren. Dabei geht es ihm nicht darum, Ressentiments zu erzeugen, sondern um das Verstehen gesellschaftlicher Mechanismen. Seine Soziologie trägt deshalb auch keine kulturpessimistischen Züge. Veränderungen des Stils oder des Geschmacks lassen sich vielmehr auf Veränderungen im sozialen Raum zurückbeziehen, etwa im Bereich des Bildungssystems. Wenn also – so die These Bourdieus – zwischen dem Raum der sozialen Positionen und dem der Lebensstile und Geschmacksrichtungen eine Korrespondenz besteht, dann muss sich jede Veränderung im Bereich der sozialen Positionen auf die eine oder andere Weise auch innerhalb des Bereichs vom Geschmack und Lebensstil niederschlagen. 82

4.3 Der Mensch als symbolbildendes und kulturschaffendes Wesen Viele klassische Ansätze der Anthropologie beginnen mit der Gegenüberstellung von Mensch und Tier, arbeiten in einem zweiten Schritt die charakteristischen Unterschiede beider Gattungen heraus und setzen vor diesem Hintergrund dann nach und nach das Bild vom Wesen des Menschen zusammen. Gegen ein solches Vorgehen sind immer wieder Einwände erhoben worden 83, und auch Ernst Cassirer, der häufig vor allem als (Kultur-)Anthropologe Beachtung findet, macht sich

Vgl. Bourdieu 302003, 442–462. Vgl. Bauer 2014, 161/162. 83 Vgl. beispielhaft Heidegger, Martin (1946/1976): Brief über den »Humanismus«, in: ders.: Wegmarken (Gesamtausgabe, Bd. 9), Frankfurt a. M., 313–364; hier: 322– 324. 81 82

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Über das Wechselspiel von Symbol und Kultur

mit seiner Rede vom animal symbolicum verdächtig, seine eigenen anthropologischen Überlegungen in diesem Sinne anzustrengen. Tatsächlich jedoch bleibt Cassirers anthropologische Konzeption bei gelegentlichen Vergleichen mit Tieren nicht stehen. Im Kern zielt sein Ansatz vielmehr darauf, das Wesen des Menschen funktional, also über sein Tätigsein und Wirken, zu definieren. Substanzielle Bestimmungen, die den Menschen allein über seine Körperlichkeit oder seinen Geist zu markieren versuchen, stehen ihm fern. 84 Für Ernst Cassirer zeichnet sich der Mensch durch die Fähigkeit aus, aus der Vielfalt der Umwelten, in die er eingebunden ist, eine durchgängige Umwelt zu formen. Dafür stehen ihm zunächst einmal gewisse biologische Grundlagen zur Verfügung. In Anlehnung an die Studien des Biologen Johannes von Uexküll spricht Cassirer hier von einem artspezifischen Merk- und Wirknetz, mit dem jedes menschliche Individuum ausgestattet ist. Damit sind bestimmte anatomische Merkmale gemeint, mit deren Hilfe menschliche Organismen äußere Umweltreize aufnehmen (Merknetz) und auf sie reagieren (Wirknetz). 85 In Abgrenzung zu tierischen Organismen sind die Möglichkeiten des Menschen damit allerdings noch längst nicht erschöpft. Tatsächlich reicht der Funktionskreis (Johannes von Uexküll) des Lebewesens Mensch aufgrund seiner Symbolbildungs- und Symbolverwendungsfähigkeit deutlich weiter: »Der ›Funktionskreis‹ ist beim Menschen nicht nur quantitativ erweitert; er hat sich auch qualitativ gewandelt. […] Zwischen dem Merknetz und dem Wirknetz, die uns bei allen Tierarten begegnen, finden wir beim Menschen ein drittes Verbindungsglied, das wir als ›Symbolnetz‹ oder Symbolsystem bezeichnen können. […] Verglichen mit den anderen Wesen, lebt der Mensch nicht nur in einer reicheren, umfassenderen Wirklichkeit; er lebt sozusagen in einer neuen Dimension der Wirklichkeit« 86. Diese neue Dimension ist die Welt der Symbole und damit auch die Welt der Kultur. Denn der Symbolgebrauch macht den Menschen zum Kulturwesen. Diesen evolutionären Sonderstatus kann der Mensch allerdings nicht umsonst beanspruchen. Er erkauft ihn sich Vgl. Cassirer 1944/22007, 110; einen guten ersten Überblick über Cassirers Anthropologie bietet zudem der Artikel von Birgit Recki im Handbuch Anthropologie, vgl. Recki, Birgit (2009): Ernst Cassirer, in: Bohlken, Eike/Thies, Christian (Hrsg.): Handbuch Anthropologie. Der Mensch zwischen Natur, Kultur und Technik, Stuttgart/Weimar, 45–50. 85 Vgl. Cassirer 1944/22007, 47/48. 86 Cassirer 1944/22007, 49. 84

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Der Mensch als symbolbildendes und kulturschaffendes Wesen

vielmehr zum Preis des Verlustes jener Unmittelbarkeit, die gerade für unsere körperlichen Ausdrucksformen kennzeichnend ist. Doch aus einem anderen Blickwinkel betrachtet, ist dieser Verlust auch ein Gewinn: Denn durch die Überschreitung der eigenen Grenzen entsteht erst jene soziale Welt, die dem Menschen nach Aristoteles wesensgemäß ist und ihn vor allen anderen Lebewesen auszeichnet. Diese Welt umfasst nicht nur einen äußeren Bereich, der sich mittels unterschiedlicher Symbole zwischen den Individuen etabliert und deren Handeln beeinflusst, sondern auch einen inneren Bereich, der, wie das Beispiel der Sprache zeigt, ebenfalls durch Symbole strukturiert ist und uns dadurch erst eigentlich bewusst wird. 87 In diesem Sinne lässt sich auch behaupten, dass der Mensch ein symbolisches Wesen ist, das nicht nur sekundär auf Symbole zugreift, um mit ihrer Hilfe beispielsweise sein Innerstes zum Ausdruck zu bringen, sondern dass er sich vielmehr selbst symbolisch konstituiert und nur aus dieser Quelle auch existiert. Kulturelle Symbolismen sind demnach nicht nur als Material zu verstehen, mit dessen Hilfe sich der menschliche Geist auszudrücken vermag, sondern sie sind »Sinnfelder und -welten, die für unser Bewußtsein, unseren Geist eine unausschöpfbare Umgebung erzeugen« 88 – eine Umgebung, ohne die der Geist nicht in der Welt wirksam werden könnte. Diese Tatsache hat sowohl theoretische als auch praktische Folgen: Auf theoretischer Ebene bedeutet es zunächst, dass »[d]er Geist, der […] seine Existenz im Aufbau und in der Gestaltung von kulturellen Symbolismen gewinnt, zu einem historischen Geschehen [wird]«. 89 Er unterliegt also Wandlungen und Veränderungen und entfaltet sich nicht immer in den selben Symbolismen, sondern gewinnt möglicherweise neue hinzu, während er zugleich alte hinter sich lässt. So entwickeln sich beispielsweise in einer schriftlosen Kultur, die vor allem auf die Sprache angewiesen ist, andere Symbolismen, als in einer Schriftkultur, die sprachliche Erzählungen schriftlich fixieren kann usw. 90 Auf praktischer Ebene hingegen bedeutet die symbolische Selbstkonstitution des Menschen und seine damit verbundene »historisch materielle Gestalt«, dass er zum einen »dem Ver-

Vgl. Schwemmer, Oswald (1997b): Die kulturelle Existenz des Menschen, Berlin, 30/31. 88 Schwemmer 1997b, 33. 89 Schwemmer 1997b, 33. 90 Vgl. Schwemmer 1997b, 33–35. 87

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Über das Wechselspiel von Symbol und Kultur

fall und der Manipulation ausgesetzt [ist]« sowie zum anderen »dem Gestaltungs- und Aufbauwillen«. 91 Diese Spannung kommt auch in der Symbolphilosophie Ernst Cassirers zum Ausdruck. Dabei wird einerseits die gestaltende Kraft der Vernunft betont, die es dem Menschen ermöglicht, eine geistige Ordnung zu etablieren, in der er sich orientieren kann. Dieser Prozess der Kultivierung hebt den Menschen gleichsam aus dem »Strom der Ereignisse« 92 hinaus und eröffnet ihm seinen Raum der Freiheit. Dementsprechend kann Cassirer auch die Kultur »als den Prozeß der fortschreitenden Selbstbefreiung des Menschen« 93 begreifen. Andererseits bedeutet diese Tatsache aber auch, dass der Geist auf Irrwege geraten bzw. einer Art Verformung des sinnlichen Materials, an das er sich mittels der symbolischen Formen heftet, zum Opfer fallen kann. In seinem Spätwerk Vom Mythus des Staates schildert Cassirer das Wiedererstarken der politischen Mythen im 20. Jahrhundert und betont die damit einhergehenden Gefahren der Manipulation und Ent-Individualisierung. 94 Als ein Beispiel dient ihm dabei die gezielte Überformung der Sprache durch mythische Bilder im Nationalsozialismus. Cassirer deutet diesen bewusst herbeigeführten Versuch einer »symbolischen Regression« 95 als Rückfall in eine vorzeitliche Sprachlosigkeit und damit auch als einen provozierten Verlust an Humanität.

4.4 Kultur als ein System von Zeichen und Symbolen Wenn in den Kultur- und Sozialwissenschaften von Kultur als einem Zeichensystem die Rede ist, so wird der Zeichenbegriff in der Regel sehr weit gefasst. Er bezieht sich dann auf jeden Sinnträger. Damit geht der Begriff über das alltägliche Verständnis von Zeichen deutlich hinaus, das für gewöhnlich vor allem »künstlich geschaffene Zeichensysteme« 96, wie etwa die Sprache, meint. Zudem gehen moderne Zei-

Schwemmer 1997b, 36. Schwemmer 1997a, 163. 93 Cassirer 1944/22007, 345. 94 Vgl. Cassirer 1949/2002, 360–388. 95 Schwemmer 1997b, 36. 96 Krois, John M. (2004): Kultur als Zeichensystem, in: Jaeger/Liebsch (Hrsg.): Handbuch der Kulturwissenschaften. Bd. 1, 106–118; hier: 106. 91 92

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Kultur als ein System von Zeichen und Symbolen

chentheoretiker unter Rückgriff auf die Überlegungen von Charles Sanders Peirce davon aus, dass Zeichen so genannte Primärphänomene sind und folglich nicht als eine Art Hilfskonstruktion angesehen werden können »um schon gegebene Erkenntnisse oder Gedanken mitteilbar zu machen« 97. Zeichen werden vielmehr als »Element und Voraussetzung von allem Denken, Wahrnehmen und Erleben« verstanden, so dass der Begriff nicht nur auf gewisse Sinnträger (wie etwa Bilder, Zahlen oder Schriften) beschränkt bleibt, sondern in erster Linie den Erkenntnis- oder Wahrnehmungsprozess der »Zeichenhaftigkeit der Welt« beschreibt. 98 Die Semiotik kennt unterschiedliche Ausformulierungen dieser Zeichenhaftigkeit der Welt, wobei zwei Theorien für die nachfolgenden Untersuchungen von besonderem Interesse sind, da sie sich mit den Ansätzen von Ernst Cassirer und Pierre Bourdieu verbinden lassen bzw. sich in manchen Aspekten sogar mit ihnen überschneiden: die logische Zeichentheorie des amerikanischen Pragmatisten Charles Sanders Peirce und die strukturalistische Zeichentheorie des französischen Ethnologen Claude Lévi-Strauss. Nach Peirce denkt der Mensch ausschließlich in Zeichen. Dies gilt nicht nur für die Wahrnehmung der äußeren Welt, sondern sogar für Vorgänge der Introspektion, denn auch hier stehen dem Menschen nur die Interpretationsprozesse zur Verfügung, die er auch sonst für seine Wirklichkeitswahrnehmungen einsetzt. Zur Grammatik der Peirceschen Semiotik gehört die Unterscheidung dreier verschiedener Arten von Zeichen, nämlich von Ikon, Index und Symbol. 99 Unter Ikon versteht Peirce ein Zeichen, das unabhängig von einer Beziehung zu seinem Objekt besteht; also etwa die geistige Vorstellung einer geometrischen Form. Die Relation von Zeichen und Objekt basiert hierbei auf Ähnlichkeit. Ein Index hingegen ist ein Zeichen, das auf ein real existierendes Objekt bezogen ist und in Abhängigkeit zu diesem existiert. Seine Funktion besteht darin, auf ein Objekt hinzuweisen. Ein klassisches Beispiel dafür ist ein deutender Finger. Unter einem Symbol schließlich versteht Peirce ein Zeichen, das eine stimmige Interpretation des Objekts, auf das es bezogen ist, zu vermitteln vermag. Dies ist beispielsweise bei Worten einer SpraKrois 2004, 106. Krois 2004, 107. 99 Vgl. Peirce, Charles S. (1983): Phänomen und Logik der Zeichen, Frankfurt a. M., 64–67. 97 98

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Über das Wechselspiel von Symbol und Kultur

che der Fall. Die Beziehung von Zeichen und Objekt ist dabei konventionell und beruht auf bestimmten Regeln. 100 Ikon, Index und Symbol sind zwar formal voneinander zu unterscheiden, in unserer Alltagserfahrung treten sie jedoch auch parallel zueinander auf und überlagern sich unter Umständen wechselseitig. Peirce gibt dafür ein Beispiel: »So ist ein Foto ein Index, weil die physikalische Wirkung des Lichts beim Belichten existenzielle einszu-eins-Korrespondenz zwischen den Teilen des Fotos und den Teilen des Objekts herstellt […]. Doch darüberhinaus liefert ein Foto [auch] ein Ikon des Objekts, indem genau die Relation der Teile es zu einem Bild des Objekts macht«. 101 Noch deutlicher wird eine solche Gleichzeitigkeit der diversen Zeichentypen in einem anderen Beispiel: »Nehmen wir z. B. das Wort ›Eule‹. Es läßt sich vermuten, daß es, als es zuerst in seiner ursprünglichen Form verwendet wurde, für fähig befunden wurde, die Vorstellung des Vogels hervorzurufen, weil es ähnlich klang wie der Schrei des Vogels oder wie das Wort Heulen. Wenn dem so ist, dann war es in seiner anfänglichen Verwendung ein Ikon. Der Dichter wird sich dieser Ähnlichkeit weiterhin bewußt sein, so daß dieses Wort in der Poesie bis auf den heutigen Tag ein Rudiment seines ikonischen Ursprungs bewahrt hat. Was aber den täglichen Gebrauch betrifft, ist der einzige Grund dafür, daß das Wort die Idee zu vermitteln in der Lage ist, der, daß sich der Sprecher gewiß ist, daß es so interpretiert werden wird«. 102 Peirces Auffassung, wonach Zeichen nicht nachträglich konstruierte, sondern primäre Wahrnehmungs- und Erkenntniselemente sind, verbindet ihn mit Ernst Cassirer. Außerdem besitzt die auf unterschiedlichen symbolischen Formen aufbauende Zeichentheorie Cassirers auch strukturelle Ähnlichkeiten mit dem Ansatz von Peirce. Unterschiede hingegen ergeben sich beispielsweise daraus, dass Cassirers Zeichentheorie stärker anthropologische Züge trägt. 103 Anders als bei Peirce oder den linguistischen Zeichentheoretikern beginnt bei Cassirer die Zeichenproduktion nicht erst mit dem Sprechen, sondern bereits mit dessen leiblichen Vorformen, wie beispielsweise dem Bilden von Lauten oder dem Erzeugen von Gebärden. Repräsentiert werden solche basalen Ausdrucksformen im mythischen Denken, das für 100 101 102 103

Vgl. Peirce 1983, 64/65. Peirce 1983, 65. Peirce 1983, 65/66. Vgl. Krois 2004, 109.

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Kultur als ein System von Zeichen und Symbolen

Cassirer die grundlegende symbolische Form darstellt. Er schreibt dazu: »Das Verhältnis von Seele und Leib stellt das erste Vorbild und Musterbild für eine rein symbolische Relation dar, die sich weder in eine Dingbeziehung noch in eine Kausalbeziehung umdenken läßt«. 104 Cassirer ist der Überzeugung, dass selbst scheinbar unmittelbare Gefühlsempfindungen letztlich doch symbolisch vermittelt sind und wir ihren Inhalt erst durch einen »semiotischen Prozess« 105 gewinnen. Während die Zeichentheorie von Peirce eher kommunikationstheoretische und erkenntnistheoretische Herausforderungen zu bewältigen versucht, bemüht sich die strukturalistische Theorie von Claude Lévi-Strauss um eine Fruchtbarmachung linguistischer Konzepte für die ethnologische Forschung. 106 Den Ausgangspunkt für Lévi-Strauss’ Überlegungen bilden dabei Studien über die Verwandtschaftsbeziehungen bei indigenen Völkern in Südamerika. Durch sie gewinnt er den Eindruck, dass jegliche Organisations- und Ordnungsform der Wirklichkeit auf dem Zeichensystem der Sprache und dessen binärer Bedeutungsstruktur beruht. 107 Dieser linguistische Zug rückt den Strukturalismus in eine theoretische Nähe zur Zeichenkonzeption Ferdinand de Saussures’ und dessen Vorstellung von Sprache als einem konventionellen und binären System. 108 Was unter dieser binären Struktur der Sprache zu verstehen ist, lässt sich beispielhaft mit den Begriffen Gut und Böse illustrieren, die ihre je eigene Bedeutung erst vor dem Hintergrund der Differenz zum jeweils anderen Begriff gewinnen. Was gut ist, wird nur vor dem Hintergrund dessen verständlich, was als böse gilt – und umgekehrt. Die binäre Struktur lässt sich nach Lévi-Strauss nun auch auf die kulturelle Ebene übertragen: Die Bedeutung einer sozialen Rolle (etwa die der Mutter) bestimmt sich vor allem aufgrund ihrer funktionalen Differenz zu einer anderen sozialen Rolle (beispielsweise der des Vaters). 109 Von Interesse ist also weniger die soziale Rolle an sich, als vielmehr das, was sie über die gesellschaftliche Struktur und deren vielfältige Beziehungsgefüge verrät. Auch wenn Lévi-Strauss’ Erkenntnisse zur binären Struktur von Verwandtschaftssystemen mitt104 105 106 107 108 109

Cassirer 1929/2002, 113. Krois 2004, 109. Vgl. Krois 2004, 110. Vgl. Krois 2004, 110/111. Vgl. Saussure 1916/32011. Vgl. Lévi-Strauss, Claude (1971): Strukturale Anthropologie, Frankfurt a. M.

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Über das Wechselspiel von Symbol und Kultur

lerweile zum klassischen Kanon der Ethnologie zählen, ist die strukturalistische Zeichentheorie aufgrund ihrer starken Orientierung an der binären Grundfunktion der Sprache in jüngerer Zeit auch verstärkt der Kritik ausgesetzt. Ein zentraler Grund dafür ist ihre mangelnde Sensibilität für die in den verschiedenen symbolischen Formen – etwa in Riten oder Mythen – auf unterschiedliche Weise ausgedrückten affektiven Inhalte, wie beispielsweise Ängste oder Hoffnungen. 110 Auch Pierre Bourdieu hat zu diesem kritischen Blick auf den Strukturalismus beigetragen, wenngleich er sich vor allem in seinen frühen ethnologischen Studien noch deutlich von der strukturalistischen Methode Claude Lévi-Strauss’ inspiriert zeigt. 111 Insbesondere die Auffassung, dass Erkenntnisschemata immer in Gegensatzpaaren vorliegen und dass sämtliche Klassengesellschaften von Gegensatzbeziehungen geprägt sind, kennzeichnet auch das Denken Bourdieus. Weniger überzeugt ihn allerdings der im Strukturalismus angelegte Objektivismus, den er mit zunehmender Fokussierung auf seine eigenen soziologischen Arbeiten, in denen das soziale Handeln vor allem als Zeichenprozess in den Vordergrund rückt, mehr und mehr verabschiedet. 112 Anders als der Ethnologe Lévi-Strauss versteht der Soziologe Bourdieu seinen Untersuchungsgegenstand letztlich als eine Theorie symbolischer Formen, in der soziale Praktiken nicht ohne Bezug auf ihren Sinngehalt verstanden werden können. 113 Ordnung und Struktur einer Gesellschaft sind symbolisch vermittelt und prägen bei den Gesellschaftsmitgliedern habituelle Verhaltensdispositionen aus. Diese Verhaltensdispositionen garantieren einerseits gesellschaftliche Stabilität, etablieren anderseits aber auch subtile Machtstrukturen, die nur schwer durchschaut und überwunden werden können. Dies liegt vor allem daran, dass sie nicht allein an die Macht des Kapitals gebunden sind, sondern an symbolische Ordnungen, die innerhalb eines gesellschaftlichen Standes ein besonderes Sozialprestige hervorbringen. Wie sich Bourdieu diese Zusammenhänge denkt, kommt in einer an Max Weber geschulten Passage zu Stand und Klasse in Zur Soziologie der symbolischen Formen an-

Vgl. Krois 2004, 111. Vgl. Fuchs-Heinritz, Werner/König, Alexandra (32014): Pierre Bourdieu. Eine Einführung, Konstanz/München, 224. 112 Vgl. Fuchs-Heinritz/König 32014, 225/226. 113 Vgl. Bourdieu 1974. 110 111

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Zur kulturellen Bedeutung von Sprache

schaulich zum Ausdruck: »Neben die spezifischen ökonomischen Unterschiede treten also symbolische Unterscheidungen […] nach Art des Konsums, insbesondere des symbolischen oder ostentativen Konsums, der diese Güter verdoppelt […] [und] in symbolische Unterscheidungen oder, wie die Linguisten sagen, in ›Werte‹ verwandelt […]« 114.

4.5 Zur kulturellen Bedeutung von Sprache Die in den vorangegangenen Kapiteln dargestellte Mehrdimensionalität von Symbol und Kultur hat seit Beginn des 20. Jahrhunderts die Auffassung etabliert, Kultur sei, in den Worten Max Webers, ein »mit Sinn und Bedeutung bedachter endlicher Ausschnitt aus der sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens« 115. Diese Sinnhaftigkeit von Kultur ist vor allem symbolisch vermittelt und das zentrale Ausdrucksmedium dafür ist das Zeichensystem der Sprache. 116 Entsprechend groß ist auch die Aufmerksamkeit, die der Analyse der Sprache seither gewidmet wird. So richtet sich das Erkenntnisinteresse vor allem in den Kultur- und Sozialwissenschaften seit dem linguistic turn nicht länger nur auf den je spezifischen Untersuchungsgegenstand, sondern mindestens genauso sehr auf die Art und Weise, wie darüber gesprochen wird. Sprache wird also nicht länger als ein neutrales Medium verstanden, sondern als eine Ausdrucksgestalt unseres Geistes, die selbst interpretationsbedürftig ist. In seiner Symbolphilosophie beschreibt Ernst Cassirer die Sprache dementsprechend auch als »im gewissen Sinne das Mittel, das wichtigste und vorzüglichste Instrument für die Gewinnung und den Aufbau einer reinen »Gegenstandswelt«« 117. Die Sprache ist das Ursprungsmedium unserer Gedanken und die Vermittlerin zwischen subjektiver und objektiver Welt. Erst durch die Sprache kommt das Ich zu Bewusstsein und erst durch die Sprache wird die den Menschen umgebende Wirklichkeit zur erfahrbaren Welt. 118 »Das Zeichen bildet Bourdieu 1974, 60. Weber, Max: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 61985, 180. 116 In diesem Sinne spricht etwa auch Clifford Geertz von einem in Anlehnung an Max Weber konzipierten semiotischen Kulturbegriff; vgl. Geertz 1987, 9. 117 Cassirer 1932/1985, 126. 118 Vgl. Paetzold, Heinz (1994): Die Realität der symbolischen Formen. Die Kulturphilosophie Ernst Cassirers im Kontext, Darmstadt, 25. 114 115

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Über das Wechselspiel von Symbol und Kultur

gleichsam für das Bewußtsein das erste Stadium und den ersten Beleg der Objektivität, weil durch dasselbe zuerst dem stetigen Wandel der Bewußtseinsinhalte Halt geboten, weil in ihm ein Bleibendes bestimmt und herausgehoben wird« 119. Damit greift Cassirer einen Gedanken Wilhelm von Humboldts auf, der in seinen eigenen sprachtheoretischen Überlegungen die Ansicht äußert, dass Gedanken und Worte in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis zueinander stehen. 120 Und noch einen Aspekt teilt Cassirer mit Humboldt: Beide verstehen Sprache als Wortsprache. 121 Diese Tatsache ist nicht nur deshalb von Bedeutung, weil auch andere Sprachformen, wie beispielsweise die Gebärdensprache, als Alternativen denkbar wären, sondern weil damit eine Sprachgenese nachgezeichnet werden kann, die später von Cassirer in Analogie zur Entwicklung der symbolischen Formen gebracht wird. Dabei ist Cassirer der Ansicht, dass die Sprache erst im Durchgang durch die verschiedenen Stufen zu ihrer eigentlichen »Selbstbefreiung« (Ernst Cassirer) gelangt. Folglich unterscheidet er also die Stufen »des mimischen, des analogischen und des eigentlich symbolischen Ausdrucks« 122. Entscheidend ist, dass sich hierbei ein Entwicklungsprozess abzeichnet, der von einer qualitativen (vor allem klanglichen) Entsprechung in der mimischen Sprachfunktion ausgeht und sich über eine formale Entsprechung in der analogischen Sprachfunktion, hin zu einer gänzlich andersartigen Entsprechung in der symbolischen Sprachfunktion fortentwickelt. Die Abbildfunktion der mimischen und analogischen Sprachform wird also überwunden. Gleichwohl – und das ist eine weitere wichtiger Aspekt – wird das sinnliche Element (also etwa der Sprachlaut) dabei nicht einfach verdrängt, sondern schlicht um den Sinnaspekt (die Wortbedeutung) erweitert. 123 Die von Cassirer nachgezeichnete Genese macht somit deutlich, dass die Sprache ein System ist, das noch vor jedem sprachlichen Ausdruck bereits eine innere Ordnung aufweist. 124 Damit unterscheidet Cassirer 1923/2001, 20. Vgl. Humboldt, Wilhelm v. (1820/1968): Über das vergleichende Sprachstudium in Beziehung auf die verschiedenen Epochen der Sprachentwicklung (Gesammelte Schriften, Bd. IV), Berlin, 1–34; hier: 27. 121 Vgl. Paetzold 1994, 25. 122 Cassirer 1923/2001, 137. 123 Vgl. Paetzold 1994, 26/27. 124 Vgl. Schwemmer 1997b, 28. 119 120

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Zur kulturellen Bedeutung von Sprache

sich die menschliche Sprache fundamental von Lauten aus dem Tierreich, die zwar Ausdrucksfunktion besitzen, aber eben keine eigenständige Systematik aufweisen, die besonderen Gesetzmäßigkeiten gehorcht und eine Rekapitulation des Erlebten ermöglicht. Die Folge davon ist, dass Schreie, Laute und Gesten zwar die körperliche Dimension einer Situation unmittelbar zum Ausdruck bringen können, darüber hinaus aber keinerlei innere Zusammenhänge zwischen unserem Erleben und seiner geistigen Verarbeitung vermitteln. Auf diese Weise bringt die Sprache eine charakteristische Differenz zwischen unserem Innersten und unseren Möglichkeiten zum Ausdruck, dieses Innerste zu artikulieren. Denn wenn wir uns mit Hilfe der Sprache ausdrücken wollen, »müssen wird dies durch die Arbeit an einer Gestalt tun, die sich in einem Medium mit eigenen Gesetzen zu bilden hat« 125. Wie andere Symbolsysteme auch, besitzt die Sprache demnach ein Eigenleben »in dessen Gesetze und Rhythmen wir uns einfügen müssen, wenn wir überhaupt etwas sagen wollen« 126. Dieses Eigenleben der Sprache macht zuletzt noch auf einen eigentümlichen Aspekt jeder semiotischen Kulturtheorie aufmerksam: Sowohl die Sprache als auch das menschliche Bewusstsein bilden beide eine jeweils eigenständige innere Form und Logik aus. In den linguistischen Theorien ist dies die Logik der Sprache (wie sie z. B. bei Ferdinand de Saussure mit dem Begriff langue bezeichnet wird) und in der Symbolphilosophie Ernst Cassirers ist es die innere Form des symbolvermittelten Bewusstseins (bzw. Denkens). Obwohl die Logiken beider Systeme formal klar voneinander getrennt sind, spielen sich zwischen ihnen doch »Kopplungen ein, die das Kunststück fertigbringen, die Autonomie der Symbolsysteme zu wahren und sie dennoch untereinander in Resonanz zu bringen« 127. In solchen Kopplungsprozessen verknüpft sich dann das Denken mit dem konventionellen Sprachsystem und ermöglicht Kommunikation. Dabei allerdings – und das ist weit mehr als ein belangloser Nebeneffekt – »muss [das Denken, Anm. M. R.] es dann erdulden, dass sich soziale und symbolische Systeme seiner Ideen bemächtigen, sie verfremden und in Konsequenzen zurückspielen, die nicht den Intentionen des Bewusstseins entsprechen« 128. Diese Tatsache bedeutet natürlich 125 126 127 128

Schwemmer 1997b, 29. Schwemmer 1997b, 29. Willke: Symbolische Systeme, 8. Willke: Symbolische Systeme, 8.

129 https://doi.org/10.5771/9783495824122 .

Über das Wechselspiel von Symbol und Kultur

nicht das Ende jeder sinnvollen Kommunikation, macht aber darauf aufmerksam, dass das individuelle Denken nur begrenzt Einfluss auf die Sprache und die öffentliche Kommunikation nehmen kann und wir es schlussendlich mit einem Symbolsystem zu tun haben, das eine gewisse Eigenmächtigkeit behauptet. 129

129

Vgl. Willke: Symbolische Systeme, 7–11.

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5. Kultur als Prozess symbolischer Formung

Nach Ernst Cassirer erschafft und erschließt sich der Mensch die Welt durch Symbole. 1 Diese Fähigkeit ist die Grundlage jeglicher Kulturentwicklung. Mit Hilfe der symbolischen Formen ist der Mensch dazu fähig, sich und seinen Erfahrungen Ausdruck und eine Ordnung zu verleihen. 2 Dabei sind die symbolischen Formen keine statischen Gebilde, sondern wandelbare Phänomene, die den Prozesscharakter von Kultur unterstreichen. »Das Eigentümliche des Menschen«, so betont Ernst Cassirer diesen Aspekt, ist nicht »seine metaphysische oder physische Natur, sondern sein Wirken« 3. Aus diesem Grund ist der Umgang des Menschen mit Symbolen immer mehrdimensional: Einerseits übernimmt er kulturell bzw. sozial vermittelte Symbolgehalte, andererseits deutet er sie aufgrund seiner individuellen Erfahrung aus oder um. Das Erlernen und die Anwendung von Sprache sind dafür ein gutes Beispiel. Die verschiedenen symbolischen Formen sind allerdings nicht nur Ausdruck des spezifisch menschlichen Potentials der geistigen Formung unserer Wahrnehmungswelt, sondern geben darüber hinaus auch Aufschluss über unsere Erkenntnisweise. Diese besteht für Cassirer in einer charakteristischen Gleichzeitigkeit von Sinnlichkeit und Sinnhaftigkeit, die er in seiner Philosophie der symbolischen Formen mit dem Ausdruck der symbolischen Prägnanz beschreibt. Symbolische Prägnanz hat ein Wahrnehmungserlebnis nach Cassirer dann, wenn es »als ›sinnliches‹ Erlebnis zugleich einen bestimmten nicht-anschaulichen ›Sinn‹ in sich fasst« 4. Diese Vergegenwärtigung von Sinn im Sinnlichen findet aber nicht nur auf der Ebene der Wahrnehmung statt. Auch unsere verschiedenen Artikulationsformen 1 2 3 4

Vgl. Cassirer 1944/22007, 47–51. Vgl. Cassirer 1944/22007, 104. Cassirer 1944/22007, 110. Cassirer 1929/2002, 235.

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Kultur als Prozess symbolischer Formung

weisen diese charakteristische Gleichzeitigkeit auf. Eindrücklich zeigt sich dies etwa bei der künstlerischen Gestaltung, die immer auch ein rezeptives Moment enthält. 5 Cassirers Analyse unseres gestalterischen Umgangs mit Symbolen ist jedoch nicht nur für eine Philosophie des Geistes oder für die Erkenntnistheorie von Interesse. Sie hat auch Folgen für den Umgang mit unserer Umwelt und vor allem für unser Verhalten gegenüber unseren Mitmenschen. Tatsächlich lässt sie sich als ein Plädoyer für die Akzeptanz von kultureller Vielfalt verstehen – und zwar nicht nur in dem schwachen Sinne einer Kapitulation vor einer heterogenen Lebenswirklichkeit, sondern in dem starken Sinne einer Akzeptanz der Unabschließbarkeit der »fortschreitenden Selbstbefreiung des Menschen« und der daraus resultierenden immer neuen »Aspekte der Humanität« 6. Hierin liegt die ethische Dimension von Cassirers Symboltheorie. 7

5.1 Die Symboltheorie Ernst Cassirers als eine »Kritik der Kultur« Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen hat die Ausbildung neuer kulturphilosophischer und kulturwissenschaftlicher Theorien seit dem 20. Jahrhundert maßgeblich beeinflusst. 8 Diese Wirkung entfaltet Cassirer vor allem deshalb, weil er sich in seiner Symboltheorie nicht allein den kulturellen Leistungen der Menschen zuwendet, sondern seine Aufmerksamkeit auf das kulturschaffende Subjekt und dessen welterschließende Gestaltungsfähigkeiten richtet. 9 Anders als unter seinen Zeitgenossen üblich zielt Cassirers AnVgl. Schwemmer 2004, 672/673. Vgl. Cassirer 1944/22007, 345/346. 7 Zur ethischen Dimension der Philosophie von Ernst Cassirer vgl. u. a. SchönherrMann, Hans-Martin (2008): Miteinander leben lernen. Die Philosophie und der Kampf der Kulturen, München, 80–93. 8 Hier ist beispielsweise auf den Einfluss Cassirers auf Susanne K. Langer und Clifford Geertz zu verweisen bzw. seine Wirkung für zeitgenössische kulturtheoretische Ansätze, wie sie etwa von Pierre Bourdieu oder Jürgen Habermas entwickelt wurden; vgl. dazu auch: Paetzold, Heinz (1997): Die symbolische Ordnung der Kultur. Ernst Cassirers Beitrag zu einer Theorie der Kulturentwicklung, in: Frede, Dorothea/ Schmücker, Reinold (Hrsg.): Ernst Cassirers Werk und Wirkung. Kultur und Philosophie, Darmstadt, 163–184. 9 Die nachfolgenden Ausführungen greifen auf einzelne Textabschnitte zurück, die 5 6

132 https://doi.org/10.5771/9783495824122 .

Die Symboltheorie Ernst Cassirers als eine »Kritik der Kultur«

satz jedoch weniger auf eine Kulturkritik, als vielmehr auf eine Erweiterung der Kantischen Erkenntnis- bzw. Wissenschaftstheorie. Wenn man die Philosophie der symbolischen Formen dennoch als ein kritisches Konzept zu bezeichnen vermag, dann gilt dies vor allem in einem transzendentalphilosophischen Sinne. Denn die in ihr zum Ausdruck kommende Reflexion von Kultur ist vor allem eine Reflexion über die Ausdrucksformen des menschlichen Geistes und die darin begründete Autonomie handelnder Subjekte. 10 Damit rückt sogleich der Mensch in den Fokus dieser Philosophie. Er ist das animal symbolicum, das sich seine Welt mit Hilfe von Symbolen erschließt und dabei letztlich vor allem zu sich selbst, als einem autonomen Subjekt findet. »Jede symbolische Funktion«, so Oswald Schwemmer, »schließt einen Befreiungsschritt des Menschen ein, der ihn in eine verfügende Distanz – und sei es durch die Anerkennung unabänderlicher Notwendigkeiten – zu den Verhältnissen bringt, auf die er sich nun symbolisch vermittelt […] beziehen kann« 11. Daraus resultiert nicht nur eine emanzipatorische Kraft, sondern auch eine Verantwortung für die kulturelle Gestaltung der Lebenswelt und das eigene Handeln. Eben darin zeigen sich das moralisch-praktische Element der Philosophie der symbolischen Formen und ihr immanent zivilisatorisches Anliegen. 12 Trotz dieser ethischen Imprägnierung seiner Symbolphilosophie gilt Ernst Cassirer heute kaum als praktischer Philosoph. Zwar lassen sich in seinem Werk gelegentliche Hinweise zu Fragen der Moral ausmachen 13, doch eine eigenständige, systematisch ausgearbeitete der Autor bereits in einer früheren Veröffentlichung publiziert hat; vgl. Reichelt, Matthias (2015): Im Recht über das Recht hinausgehen. Zur symbolischen Form des Rechts im Werk Ernst Cassirers, in: Lüddecke, Dirk/Englmann, Felicia (Hrsg.): Das Staatsverständnis Ernst Cassirers, Baden-Baden, 75–98; hier: 75–77. 10 Vgl. Kreis, Guido (2010): Cassirer und die Formen des Geistes, Berlin, 31–37. 11 Schwemmer, Oswald (1997a): Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne, Berlin, 129. 12 Vgl. Habermas, Jürgen (1997): Die befreiende Kraft der symbolischen Formgebung. Ernst Cassirers humanistisches Erbe und die Bibliothek Warburg, in: Frede/ Schmücker (Hrsg.): Ernst Cassirers Werk und Wirkung, 79–104; hier: 94–104. 13 Dies gilt unter anderem für die Studien zu Kant (»Kants Leben und Lehre«, 1918) und Rousseau (»Das Problem Jean-Jacques Rousseau«, 1932) sowie für die ideengeschichtlichen Darstellungen in »Freiheit und Form« (1916) und »Die Philosophie der Aufklärung« (1932). Von besonderer Relevanz sind zudem die beiden verschriftlichten Vorträge: »Die Idee der Republikanischen Verfassung: Rede zur Verfassungsfeier am 11. August 1928« (1929) und »Vom Wesen und Werden des Naturrechts« (1932) sowie Cassirers letzte Monographie »The Myth of the State« (1946).

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Kultur als Prozess symbolischer Formung

Ethik findet sich bei Cassirer nicht. 14 Dennoch bleibt der Bereich der Moralphilosophie in seinem Denken kein blinder Fleck. Im Gegenteil: Im System der Philosophie der symbolischen Formen nimmt der Aspekt der praktischen Freiheit einen überaus gewichtigen Stellenwert ein. 15 Da Cassirer selbst jedoch keine Schrift zur Ethik publiziert hat, lässt sich dieser Eindruck nur mit Hilfe der Rekonstruktion zentraler Elemente seiner Philosophie verständlich machen. Dabei zeigt sich, dass Cassirer in seinen systematischen Grundüberlegungen nicht nur aus der Quelle der Kantischen Vernunftkritik schöpft, sondern mit seiner Adaption der Philosophie des objektiven Geistes und dem darin verwurzelten Anerkennungsmotiv auch auf andere Impulse des deutschen Idealismus zurückgreift. 16

5.2 Die semiotischen Grundlagen der Philosophie der symbolischen Formen Cassirers Philosophie der symbolischen Formen ruht auf einem reichen philosophischen Grundlagenfundament und entwickelt sich von dort aus zu einem kulturphilosophischen Gesamtkonzept fort. Entsprechend wichtig ist es, sich dieser philosophischen Grundlagen zu vergewissern. Eine erste Orientierung dafür bieten die akademischen Wurzeln Cassirers im Neukantianismus und dessen konstitutives Credo, in der Rückbesinnung auf Kant über Kant hinausgehen zu wollen. Auch Ernst Cassirers Symbolphilosophie zielt in diese Richtung. Dabei sind vor allem zwei erkenntnistheoretische Überzeugungen leitend, die Cassirer in Abgrenzung zu Immanuel Kant ent-

Vgl. Recki, Birgit (1997): Kultur ohne Moral? Warum Ernst Cassirer trotz der Einsicht in den Primat der praktischen Vernunft keine Ethik schreiben konnte, in: Frede/ Schmücker (Hrsg.): Ernst Cassirers Werk und Wirkung, 58–78; hier: 66. 15 Jürgen Habermas hat dies beispielsweise so formuliert, dass »[e]ine Theorie, die mit dem Prozeß der Symbolisierung zugleich den humanen Sinn von Zivilisierung überhaupt aufklärt, schon von Haus aus [das leistet], was eine philosophische Ethik leisten soll.« (Habermas 1997, 102). 16 Dieser Gedanke findet sich auch in den bereits zitierten Werken von Oswald Schwemmer (Schwemmer 1997a) und Guido Kreis (Kreis 2010), die gemeinsam mit dem Aufsatz von Jürgen Habermas (Habermas 1997) die nachfolgenden Ausführungen inhaltlich anleiten. 14

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Die semiotischen Grundlagen der Philosophie der symbolischen Formen

wickelt: 17 Zum einen interessiert sich Cassirer, anders als Kant, nicht nur für die Bedingungen der Möglichkeit naturwissenschaftlicher Erkenntnis, sondern auch für die Frage der Objektivität im Bereich der Geisteswissenschaften. Dabei hält er es für nötig, erkenntnistheoretische Fragestellungen grundsätzlich auch in ihre jeweiligen kulturgeschichtlichen Rahmenbedingungen einzubetten. 18 Zum anderen ist Cassirer der Ansicht, dass sich der menschliche Erkenntnisprozess symbolvermittelt vollzieht. Erkenntnis gewinnt der Mensch dadurch, dass er die über die Sinnesreize vermittelten Eindrücke symbolisch zu etwas Sinnvollem verarbeitet und damit eine Objektivationsleistung vollbringt, die Raum für ethische Motivationen und damit ein humanitäres Dasein schafft. Es ist vor allem dieser letztgenannten Punkt, mit dem Cassirers Symbolphilosophie über Kant hinausgreift und eine, wie Jürgen Habermas meint, »semiotische Wende der Kantischen Transzendentalphilosophie« 19 vollzieht. Denn während in der Kantischen Erkenntnistheorie das sinnliche und das auf Verstandesleistung beruhende Erkenntnisvermögen voneinander getrennt bleiben, bindet der Prozess der Symbolbildung eben diese beiden Erkenntnissphären zusammen. Besonders anschaulich lässt sich dies am Beispiel der Einlassungen Cassirers zur kulturhistorischen Genese von Sprache und Mythos zeigen. 20 Sowohl der Mythos als auch die Sprache sind für Cassirer zunächst nichts anderes als geistige Bearbeitungsweisen sinnlicher Anschauungen und Eindrücke. 21 Ihre welterschließende Funktion besteht im Wesentlichen darin, äußeren Einflüssen eine Bedeutung zu verleihen und sie somit kognitiv bewältigen zu können. Durch ihre spezifische symbolische Transformation – in mythische Bilder oder sprachliche Ausdrücke – verlieren die Ereignisse zudem ihre raum-zeitliche Unmittelbarkeit und werden im Sinne eines verVgl. diesbezüglich auch Habermas 1997, 82–85. Hinweise darauf finden sich etwa in Cassirer, Ernst (1906/1999): Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Erster Band (ECW, Bd. 2), Hamburg, IX-XII. 19 Habermas 1997, 89. 20 Zu nennen wären hier insbesondere die Aufsätze »Die Kantischen Elemente in Wilhelm von Humboldts Sprachphilosophie« (1923) und »Sprache und Mythos. Ein Beitrag zum Problem der Götternamen« (1925) sowie der zweite Band der Philosophie der symbolischen Formen, »Das mythische Denken« (1925). Vgl. darüber hinaus Habermas 1997, 86–94. 21 Vgl. Cassirer, Ernst (1925/2003): Sprache und Mythos. Ein Beitrag zum Problem der Götternamen (ECW, Bd. 16), Hamburg, 227–311; hier: 303. 17 18

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Kultur als Prozess symbolischer Formung

objektivierbaren Wissens beherrschbar. Unterschiede ergeben sich allerdings im Hinblick auf die weltgestaltende Funktion von Mythos und Sprache. Denn während der Mythos die Sinneseindrücke eher in Bildern zu bannen versucht, geht die Sprache über eine bloße Fixierung der Eindrücke hinaus. In ihr entfaltet sich vielmehr eine eigenständige logische Struktur, die nicht einfach der Sinnenwelt entlehnt ist, sondern selbst gestaltend auf diese einwirkt. 22 An dieser Stelle nun offenbart sich die eigentliche semiotische Wende der Kantischen Vernunftkritik bei Cassirer. Sie gründet in der Entdeckung der Sprache als einem Bindeglied zwischen den aus der Erkenntnistheorie Kants ableitbaren und doch voneinander geschiedenen Polen der theoretischen Naturerkenntnis und der praktischen Ethik. Denn tatsächlich hatte Kant im Versuch einer umfassenden Deutung der Vernunft hier eine Lücke gelassen, die bereits in frühen Reaktionen auf die Kritik der reinen Vernunft kritisiert wurde und auch von Ernst Cassirer als »ein Mangel« eingestuft wird. 23 Diesen Mangel versucht Cassirer in seiner Philosophie der symbolischen Formen zu überwinden. Anders als Kant versteht er die Sprache als ein konstitutives Element unserer Erfahrung. In Abkehr von traditionellen Bezeichnungstheorien, welche die Sprache als »ein System von Merkzeichen« interpretieren, »das unsere Denkoperationen entlastet und eine Kommunikation über Vorstellungen und Gedanken möglich macht« 24, sieht Cassirer in ihr »nicht eigentlich [ein] Mittel, die schon erkannte Wahrheit darzustellen, sondern weit mehr, die vorher unerkannte zu entdecken«. 25 Hierbei folgt er den bewusstseinsphilosophischen Einsichten Johann G. Herders und insbesondere Wilhelm von Humboldts, die das Verhältnis von Sprache und Denken zum Gegenstand ihrer Überlegungen machen. Beide nehmen von der bis dahin vorherrschenden These der Nachrangigkeit der Sprache gegenüber dem Denken Abstand und begreifen das Denken vielmehr als grundsätzlich sprachlich vermittelt bzw. gebunden. Auch für Cassirer, der diese Ansicht teilt, ist die Sprache nicht bloß Mittel zum Zweck, sondern Ausdrucksform einer geistigen Leistung, die ansonsten stumm und unartikuliert bliebe. 26 Vgl. Habermas 1997, 89. Cassirer, Ernst (1923b/2003b): Die Kantischen Elemente in Wilhelm von Humboldts Sprachphilosophie (ECW, Bd. 16), Hamburg, 105–133; hier: 108. 24 Habermas 1997, 90. 25 Cassirer 1923b/2003b, 124. 26 Vgl. Kreis 2010, 115/116. 22 23

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Die Philosophie der symbolischen Formen

Diese zunächst sprachtheoretisch fundierte These gibt für Cassirer schließlich auch den Anstoß zur Erweiterung seines ursprünglichen Ansatzes hin zur Idee einer generellen Ausdrucksgebundenheit aller geistigen Vorkommnisse. Denn das Beispiel der Sprache zeigt ihm, dass man bei der Beschreibung des Wechselspiels von »Ichwelt« und »dingliche[r] Welt« nicht bei einer bloßen Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt stehen bleiben kann. Nach Cassirers Auffassung geht es vielmehr darum, beide Bereiche nicht länger als »zwei Hälften eines absoluten Seins« zu verstehen, sondern vielmehr als Elemente ein und desselben »Kreis[es] geistiger Funktionen, durch welchen wir den Inhalt beider, ihre Trennung und ihre wechselseitige Verknüpfung gewinnen«. 27 In Bezug auf die Sprache lässt sich diese Überlegung so darstellen, dass im subjektiven Vorgang der sprachlichen Formung eines Gedankens der Gedanke dem Menschen selber wieder zu etwas Objektivem wird und sich somit der Widerspruch von Subjekt und Objekt im menschlichen Geist nivelliert.

5.3 Die Philosophie der symbolischen Formen als Philosophie des objektiven Geistes Die eben kurz skizzierten sprachtheoretischen Überlegungen Cassirers geben Anlass dazu, die Philosophie der symbolischen Formen nicht nur als ein kulturphilosophisches Konzept zu deuten, sondern auch als einen eigenständigen Beitrag zu einer Philosophie des (objektiven) Geistes. Darunter ist im vorliegenden Fall ein bewusstseinsphilosophischer Ansatz zu verstehen, der eine Integration der physischen Natur (also des Bereichs des Objektiven) in den Bereich geistigen Tuns (also des Subjektiven) erlaubt, ohne dass beide Bereiche dabei wechselseitig aufeinander reduziert werden können. 28 Die Pointe dieser Theorie besteht in der Irreduzibilität des Subjektiven auf das Objektive und umgekehrt. Eben diesen Aspekt greift Cassirer auf und integriert ihn in seine sprachtheoretischen Überlegungen; wobei er auf einige zentrale bewusstseinsphilosophische Einsichten Wilhelm von Humboldts Bezug nimmt. 29 In Anlehnung daran hält er fest: »Die wahre geistige Ob27 28 29

Cassirer 1923b/2003b, 132. Vgl. Kreis 2010, 11. Eine zentrale Passage, die diese Bezugnahme illustriert, findet sich in Humboldts

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Kultur als Prozess symbolischer Formung

jektivität eignet nicht einem von uns unabhängigen Seienden, oder auch nur dem von uns Erzeugten, sondern sie wurzelt in der Art und in der allgemeingültigen Gesetzlichkeit des Erzeugens selbst. […] Der Geist schafft, stellt sich aber das Geschaffene durch denselben Akt gegenüber und läßt es als Objekt auf sich zurückwirken. Jetzt ist die Sprache als Schöpfung anerkannt – aber sie ist zugleich von jeder subjektiven Willkür gelöst […]. Sie ist nicht mehr ein Erzeugnis der Reflexion und Übereinkunft, wenngleich sie ein Werk der Freiheit ist – sondern sie ist Erzeugnis einer Freiheit, die sich selbst ihr Gesetz gibt und die dadurch zugleich die Sphäre des Notwendigen als ihr Gegenbild und Korrelat erschafft« 30. Für Cassirers Philosophie der symbolischen Formen resultiert daraus zweierlei: 31 Die in der Philosophie des objektiven Geistes implizierte Nichtrückführbarkeit des Subjektiven auf das Objektive verlangt die Akzeptanz einer grundsätzlichen Mannigfaltigkeit an geistigen Formen bzw. Ausdrucksgestalten (1). Denn unsere geistigen Leistungen erschöpfen sich nicht nur in einer strengen, wissenschaftlichen Kriterien gehorchenden Strukturierung der Wirklichkeit, sondern auch in deren sozialer, ästhetischer oder moralischer Bearbeitung. Und zudem folgt daraus eine prinzipielle normative Strukturierung sämtlicher geistiger Ausdrucksformen (2). Denn die in der Philosophie des objektiven Geistes angelegte Zurückweisung naturalistischer Vorstellungen gelingt nur deshalb schlüssig, weil normative Eigenschaften nicht einfach auf physische Kausalzusammenhänge zurückgeführt werden können. Dies zeigt sich etwa daran, dass normative Eigenschaften zwar auf Gründen, aber eben nicht auf physikalischen Ursachen beruhen. Ernst Cassirers Symbolphilosophie beinhaltet also nicht nur eine spezifische Philosophie des Geistes, sondern auch eine normative 1836 publiziertem Werk Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts; dort heißt es unter anderem: »Was aus dem stammt, was eigentlich mit mir Eins ist, darin gehen die Begriffe des Subjects und Objects, der Abhängigkeit und Unabhängigkeit in einander über. Die Sprache gehört mir an, weil ich sie hervorbringe. Sie gehört mir nicht an, weil ich sie nicht anders hervorbringen kann, als ich thue, und da der Grund hiervon in dem Sprechen und Gesprochenhaben aller Menschengeschlechter liegt […] so ist es die Sprache selbst, von der ich diese Einschränkung erfahre.« [Humboldt, Wilhelm v. (1827–29/1968): Über die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues (Gesammelte Schriften, Bd. VI.), Berlin, 111–303; hier: 181]. 30 Cassirer 1923b/2003b, 125/126. 31 Vgl. mit Blick auf die nachfolgende Passage vor allem Kreis 2010, 11–21.

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Die Philosophie der symbolischen Formen

Theorie, die ihre praktische Dimension nicht allein dem jeweiligen weltgestaltenden Subjekt verdankt, sondern auch den in den einzelnen symbolischen Formen zum Ausdruck kommenden normativen Ordnungsstrukturen. Diese »doppelte Normativität« 32 lässt sich so verstehen, dass jede Ausdrucksgestaltung zunächst den ihr zu Grunde liegenden objektiven Regeln gehorchen muss. Ein anschauliches Beispiel dafür bietet wiederum die Sprache, die auf grammatikalischen Regeln beruht, die in funktionaler Weise Aufschluss über die Richtigkeit oder Fehlerhaftigkeit unserer sprachlichen Welterschließung geben können. Andererseits ist die subjektive Weise der Ausdrucksgestaltung aber »immer auch eine Beschreibung von freien Handlungen, weil sich an ihren geistigen Eigenschaften immer ›die Freiheit des geistigen Tuns‹ zeigt. Jede freie Handlung«, so fasst Guido Kreis Cassirers Überzeugung zusammen, »ist eine Ausdrucksgestalt (ein sinnvolles raumzeitliches Geschehen), und jede Ausdrucksgestalt ist umgekehrt ein freies Handeln (ein spontanes Sinnschaffen im Umgang mit der physischen Natur)« 33. Nun gilt Cassirers These, dass der menschliche Geist an Ausdrucksformen gebunden ist, natürlich auch für (immaterielle) Handlungsgründe, die nicht physischer Natur sind, deren Existenz aber ebenfalls auf spezifische Ausdrucksformen angewiesen ist. Als Gründe für das Handeln kommen daher immer nur Inhalte in Frage, die bereits in Ausdrucksgestalten repräsentiert und damit auch weltimmanent verwirklicht sind. Der »in der Welt« realisierte Geist wird somit zum »Reservoir der Gründe für mein Handeln« 34. Neben jener negativen Freiheit, die im Wesentlichen in der Unabhängigkeit von der physischen Natur besteht, eröffnet die Philosophie der symbolischen Formen somit also auch Räume für die positiv-praktische Freiheit. 35 Guido Kreis bringt dies wie folgt auf den Punkt: »Die Ausdrucksgestalten unserer Welt enthalten alle Möglichkeiten, die ich in jeder aktuellen Entscheidungssituation überhaupt haben kann, um mein Handeln positiv auf etwas Bestimmtes festzulegen. Freiheit des Handelns ist die positive Festlegung auf einen geistigen Gehalt, der in den Gestalten der sozialen Welt zur Verfügung steht« 36.

32 33 34 35 36

Kreis 2010, 20. Kreis 2010, 351. Kreis 2010, 353. Vgl. Kreis 2010, 351/352. Kreis 2010, 353.

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Kultur als Prozess symbolischer Formung

Diese bemerkenswerte Verbindung von transzendentaler Freiheit und Philosophie des objektiven Geistes ist ethisch überaus folgenreich: Sie verbindet die Anerkennung von Autonomie und reflexiver Selbstbestimmung des Subjekts mit der gleichzeitigen Überzeugung einer grundsätzlichen Abhängigkeit von den sozialen Strukturen des eigenen Lebensumfeldes. Letzteres geht dabei nicht unbedingt zu Lasten der individuellen Freiheit, sondern macht lediglich deutlich, »daß niemand von uns die Inhalte und die Gründe seines Denkens, seines Handelns und seiner schöpferischen Produktion in vollständiger Isolation einfach nur aus sich selbst heraus gewinnen kann« 37. Auf diese Weise wird betont, dass der Mensch auf intersubjektiven Austausch angewiesen ist und sich wechselseitig Anerkennung schuldet. Der Prozess der Welterschließung bleibt in der Philosophie der symbolischen Formen kein rein individualistischer Vorgang, sondern erweist sich stets als in das gesellschaftliche Leben integriert. 38

37 38

Kreis 2010, 353/354. Vgl. Kreis 2010, 353–356.

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6. Kultur als sozialer Raum

In den bisherigen Ausführungen ging es vor allem darum, Anhaltspunkte dafür zu gewinnen, worin die Bedeutung von Symbolen für das Wesen der Kultur eigentlich besteht. Den Ausgangspunkt dafür bildeten die kulturphilosophischen Überlegungen Ernst Cassirers, mit deren Hilfe sich ein Einblick in die grundlegenden Strukturen unserer Welterfassung gewinnen lässt, ehe man von dort aus zu den anthropologischen Möglichkeiten der Welterschließung weiterdenken kann. Nachfolgend soll nun die Frage geklärt werden, welche Rückschlüsse dies auf das Handeln der Menschen zulässt. Denn die Tatsache, dass der Mensch ein symbolbildendes Kulturwesen ist, sagt noch wenig darüber aus, auf welche Weise er durch die ihn umgebende Kultur in seinem Handeln beeinflusst wird. Wie also lässt sich das Verhältnis vom animal symbolicum zum animal sociale bestimmen? An dieser Stelle lohnt ein Blick auf das Werk des Soziologen Pierre Bourdieu, der, wie Jacob Taubes einmal formulierte »wohl der erste [war], der Ernst Cassirers ›Philosophie der symbolischen Formen‹ vom theoretischen Himmel auf die sozialwissenschaftliche Erde herunter geholt hat« 1. Entgegen einer durch einen Buchtitel Bourdieus 2 naheliegenden Assoziation ist es aber nicht die Idee der symbolischen Formen selbst, die den Philosophen Cassirer und den Soziologen Bourdieu zusammenführen, sondern ein ähnliches Problembewusstsein dafür, dass soziale Wirklichkeit nicht substanziell, sondern lediglich relational gedeutet werden kann. 3 Pierre Bourdieu Magerski, Christine (2005): Die Wirkungsmacht des Symbolischen. Von Cassirers Philosophie der symbolischen Formen zu Bourdieus Soziologie der symbolischen Formen, in: Zeitschrift für Soziologie (34/2), 112–127; hier: 112. 2 Gemeint ist das Werk »Zur Soziologie der symbolischen Formen«, das im französischen Original 1970 erschien. 3 Vgl. Bickel, Cornelius (2003): Die Cassirer-Rezeption bei Bourdieu, in: Fischer, Joa1

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Kultur als sozialer Raum

schreibt dazu: »In diesem Sinne also möchte ich nun das Modell vorstellen, das ich in Die feinen Unterschiede konstruiert habe, und gleich als erstes versuchen, Sie vor der ›substantialistischen‹ Ausdeutung von struktural oder, besser gesagt, relational zu verstehenden Analysen zu warnen. (Ich beziehe mich hier, ohne im Einzelnen darauf eingehen zu können, auf Ernst Cassirers Gegensatz von ›substantiellen Begriffen‹ und ›funktionalen oder relationalen Begriffen‹.)« 4. Anders als Cassirer konzentriert sich Bourdieu aber nicht so sehr darauf, die Grundlagen der menschlichen Formen der Welterschließung zu ergründen. Sein Augenmerk richtet sich vielmehr auf die daraus resultierenden sozio-politischen Implikationen. 5 Mit Cassirer könnte man davon sprechen, dass sich der Mensch vermittels seiner Kulturfähigkeit die Welt erschließen kann, mit Bourdieu hingegen bekommt man auch eine Vorstellung davon, dass er sie sich mittels Kultur ebenso gut wieder verschließen kann. Damit bestreitet Bourdieu nicht die einheitsstiftende Kraft der Kulturbildung für die Menschen; er betont allerdings, dass Kultur stets auch etwas Trennendes beinhaltet, etwa indem sie Menschen voneinander unterscheidbar macht. In Die feinen Unterschiede greift er diesen Gedanken auf und verbindet ihn mit zentralen Elementen seiner Theorie des Sozialen.

6.1 Pierre Bourdieus Theorie des Sozialen – oder: von Klassen und Lebensstilen Pierre Bourdieus soziologische Untersuchungen konzentrieren sich vornehmlich auf das Verhältnis von »Kultur, Herrschaft und sozialer Ungleichheit« 6. Seine Gesellschaftstheorie ist deshalb vor allem als eine Art Klassentheorie zu begreifen, in der Kultur hauptsächlich als

chim/Joas, Hans (Hrsg.): Kunst, Macht und Institution. Studien zur Philosophischen Anthropologie, soziologischen Theorie und Kultursoziologie der Moderne, Frankfurt a. M., 111–118; hier: 112. 4 Bourdieu, Pierre (1998): Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt a. M., 15. 5 Vgl. Magerski 2005, 117/118. 6 Müller, Hans-Peter (1986): Kultur, Geschmack und Distinktion. Grundzüge der Kultursoziologie Pierre Bourdieus, in: Neidhardt, Friedhelm/Lepsius, M. Rainer/ Weiss, Johannes (Hrsg.): Kultur und Gesellschaft, Opladen, 162–190; hier: 162.

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Pierre Bourdieus Theorie des Sozialen

ein Reproduktionsmechanismus für bestehende soziale Strukturen in Erscheinung tritt. Die feinen Unterschiede, mit denen sich Bourdieu zunächst beschäftigt, sind vor allem sozialer Natur. Es sind im Wesentlichen die Unterschiede zwischen den verschiedenen sozialen Schichten. Die Bedeutung dieser Unterschiede ist kaum zu überschätzen, denn sämtliche Lebensäußerungen – angefangen bei der Kleidung bis hin zu Präferenzen beim Sport oder beim Essen – sind abhängig von der sozialen Zugehörigkeit. Diese Zusammenhänge weist Bourdieu in seinem Werk auf vielfältige Weise nach, wobei es ihm nicht nur darum geht, die unterschiedlichen Formen der Lebensführung mit der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Klasse oder Schicht zu verknüpfen, sondern die relationale Struktur gesellschaftlicher Zusammenhänge aufzudecken. 7 Dies führt nicht zu einer Negierung von Begriffen wie Klasse oder Schicht, sondern dazu, so genannte substanzielle Vorstellungen von dem, was eine bestimmte Klasse vermeintlich auszeichnet, als vordergründig oder sogar falsch zu entlarven. Die dabei von Bourdieu entdeckten Zusammenhänge zwischen der Position, die jemand im gesellschaftlichen Gefüge einnimmt, und ihrem Lebensstil sind nachweisbar, aber nicht festgefahren. Folglich lässt sich auch nicht ohne weiteres von der sozialen Position einer Person auf deren Geschmack schließen oder umgekehrt. 8 Was hingegen sichtbar wird, ist ein besonderer Habitus. Bourdieu versteht darunter eine spezifische Grundhaltung gegenüber der Welt, die zu besonderen Standpunkten führt. Demnach gibt es beispielsweise einen Zusammenhang zwischen der Musik, die jemand gerne hört, und den Menschen, mit denen er oder sie sich gerne umgibt. Dieser Zusammenhang ist jedoch weder strikt festgelegt noch völlig willkürlich. Der Habitus legt das Individuum nicht deterministisch auf ein bestimmtes Verhalten fest, sondern er markiert Grenzen innerhalb derer sich das Verhalten einer Person voraussichtlich abspielt. Diese sozialen Grenzen sind nicht unbedingt eng, lassen sich aber kaum überschreiten. Sie werden maßgeblich durch unsere Herkunft bestimmt. 9 Aus der Sicht Bourdieus ist die moderne Gesellschaft noch immer eine Klassengesellschaft; allerdings nicht in einem rein öko7 8 9

Vgl. dazu v. a. Bourdieu 302003, 405–499. Vgl. Bourdieu 302003, 171–195. Vgl. Bourdieu 302003, 174–176.

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Kultur als sozialer Raum

nomisch-objektiven Sinne, sondern vielmehr mit Blick auf die verschiedenen charakteristischen Formen der Lebensführung in ihr. Die verschiedenen Klassen konstituieren sich dabei nicht allein durch ökonomische Faktoren, wie beispielsweise das Einkommen, sondern auch durch habituelle Eigenheiten und Besonderheiten. Bourdieu schreibt dazu: »Eine soziale Klasse ist definiert weder durch ein Merkmal (nicht einmal das am stärksten determinierende wie Umfang und Struktur des Kapitals), noch durch eine Summe von Merkmalen (Geschlecht, Alter, soziale und ethnische Herkunft – z. B. Anteil von Weißen und Schwarzen, von Einheimischen und Immigranten, etc. – Einkommen, Ausbildungsniveau, etc.), noch auch durch eine Kette von Merkmalen, welche von einem Hauptmerkmal (der Stellung innerhalb der Produktionsverhältnisse) kausal abgeleitet sind. Eine soziale Klasse ist vielmehr definiert durch die Struktur der Beziehungen zwischen allen relevanten Merkmalen, die jeder derselben wie den Wirkungen, welche sie auf die Praxisformen ausübt, ihren spezifischen Wert verleiht« 10. Zu diesem Bündel relevanter Merkmale zählen auch ethische oder ästhetische Präferenzen. Sie sind – anders als zumeist angenommen – weniger Resultat unserer individuellen Überzeugungen oder Vorlieben, als vielmehr das Ergebnis übernommener Handlungs- und Wahrnehmungsformen aus unserem jeweiligen Herkunftsmilieu. Unsere Leidenschaft für die Gemälde der Impressionisten oder unserer Sympathie für eine bestimmte Rockband sind in den Augen Bourdieus also nichts Natürliches oder Zwangloses. Solche Präferenzen sind vielmehr Ausdruck eines bestimmten Habitus, der für das soziale Feld, in dem wir heranwachsen, charakteristisch ist. Ähnlich den klassischen soziologischen Modellen, arbeitet auch Bourdieus Theorieansatz zunächst mit einer hierarchischen Ordnung der Klassen. Unten steht auch bei ihm die unterste Klasse der Gesellschaft, die Volksklasse bzw. das Proletariat. Anders als etwa bei Karl Marx ist diese Klasse aber nicht nur durch ihre ökonomische, sondern auch durch ihre soziale Unterprivilegierung gegenüber den übrigen Klassen bestimmt. Nicht die Armut ist das zentrale Charakteristikum dieser Schicht, sondern ihr spezifischer Habitus. 11 Das gilt auch für die übrigen Klassen, denn der Habitus gibt im Verständnis Bourdieus gleichsam die Sozialisationsspielräume der Menschen vor. Dadurch 10 11

Bourdieu 302003, 182. Vgl. Bourdieu 302003, 174/175.

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Pierre Bourdieus Theorie des Sozialen

Kapitalvolumen hoch

Kulturelles Kapital hoch Ökonomisches Kapital niedrig

Ge

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Ökonomisches Kapital hoch Kulturelles Kapital niedrig

Kapitalvolumen niedrig Abb. 1: Die Kapitalstruktur im öffentlichen Raum nach Bourdieu 12 Quelle: Eigene Darstellung

wird der Habitus zum gewichtigsten Unterscheidungsmerkmal zwischen den einzelnen gesellschaftlichen Gruppen. Die nächsthöhere Klasse ist die Mittelschicht, oder wie es bei Bourdieu heißt: das Kleinbürgertum. Auch diese Schicht unterscheidet sich in den Augen des französischen Soziologen von der Volksklasse nicht nur durch die größere Menge an Kapital, sondern vor allem auch durch einen anderen Lebensstil. An der Spitze der Gesellschaft schließlich steht die herrschende Klasse, das Bürgertum. Zu ihr gehört, wer entweder über große Mengen ökonomischen Kapitals verfügt oder aber sehr gebildet ist – also viel kulturelles Kapital besitzt. 13 Bourdieus Gesellschaftsmodell unterschiedet sich also von den hierarchisch gegliederten Modellen darin, dass er der horizontalen Struktur dieser Ansätze eine vertikale Achse beifügt. Dies ist die Achse des Kapitals, auf der zwischen ökonomischem und kulturellem Die Abbildung orientiert sich an Bourdieus Diagramm Nr. 5; vgl. Bourdieu 302003, 212/213. 13 Vgl. dazu auch Müller, Hans-Peter (2014): Pierre Bourdieu. Eine systematische Einführung, Berlin, 58–71. 12

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Kultur als sozialer Raum

Kapitalvolumen hoch

Ge sel lsch

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G P Kulturelles Kapital hoch Ökonomisches Kapital niedrig

H

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Ökonomisches Kapital hoch Kulturelles Kapital niedrig

A Kapitalvolumen niedrig Abb. 2: Die Positionen verschiedener Berufsgruppen in der Gesellschaft nach Bourdieu 14 Quelle: Eigene Darstellung

Kapital unterschieden wird. Auf diese Weise entsteht ein Achsenkreuz oder – in der soziologischen Sprache Bourdieus – ein Raum, in dem sich die verschiedenen sozialen Positionen und Lebensstile wie in einem Koordinatensystem zu- und einordnen lassen (Vgl. Abb. 1). 15 In Bourdieus Theorie sind die Kategorien Bürgertum, Kleinbürgertum und Proletariat also nicht nur Bezeichnungen für Gesellschaftsschichten, die über eine unterschiedlich große Menge ökonomischen Kapitals verfügen, sondern vielmehr auch Metaphern für einen spezifischen Habitus, der sich eben nicht nur anhand des ökonomischen, sondern auch anhand des kulturellen Kapitals bemisst. Orientiert man sich an Bourdieus Diagrammen, so kann man mit Hilfe dieses Achsenkreuzes die sozialen Positionen diverser Berufsgruppen in der Gesellschaft angeben (Vgl. Abb. 2). Ein Hilfsarbeiter (A) lässt sich demnach im unteren Teil der Graphik mittig anordnen, da er den unteren gesellschaftlichen Klassen zuzuordnen 14 15

Vgl. Bourdieu 302003, 212/213. Vgl. Bourdieu 302003, 195–209.

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Pierre Bourdieus Theorie des Sozialen

ist und sich sein kulturelles und ökonomisches Kapital etwa die Waage halten. Ein Volksschullehrer (V) hingegen ist in der linken unteren Hälfte des Diagramms zu verorten. Vom Habitus der Mittelschicht zugehörig, besitzt er ein relativ hohes Maß an kulturellem Kapital, ohne jedoch im ökonomischen Sinne reich zu sein. Demgegenüber ist ein Handwerker (H) mit vergleichbarem Ausbildungsgrad eher im rechten unteren Sektor einzutragen. Er verfügt wahrscheinlich über mehr ökonomisches Kapital, gehört aber immer noch derselben sozialen Klasse an. Ein Universitätsprofessor (P) ist demgegenüber in der linken oberen Hälfte zu lokalisieren. Als habituelles Mitglied der Oberklasse verfügt er über ein hohes Maß an kulturellem Kapital, ist aber nicht unbedingt wohlhabend. Ganz anders der Großindustrielle (G), dessen großes ökonomisches Vermögen ihn der rechten oberen Hälfte zuordnet. Dass auch er nicht ungebildet ist, belegt seine Zugehörigkeit zur Oberklasse der Gesellschaft. 16 Anders als in vormodernen Gesellschaften sind die Klassenunterschiede in heutigen Demokratien nicht mehr streng deterministisch, d. h. es gibt soziale Mobilität zwischen den Klassen. Diese Mobilität ist jedoch nicht grenzenlos. Nach Bourdieu gibt es im sozialen Raum deutliche habituelle Unterschiede, die von den Mitgliedern einer bestimmten Gesellschaftsschicht (sei es das Großbürgertum oder das Proletariat) nicht nur bewusst gelebt und gepflegt, sondern auch verteidigt werden. Ein probates Mittel dabei ist der Einsatz von symbolischer Gewalt. Er ermöglicht es, bestehende Distinktionsverhältnisse, beispielsweise mittels politischer Einflussnahme oder ökonomischer Macht, zu stabilisieren. Wer also den sozialen Raum, in den er habituell eingebunden ist, verlassen möchte, befindet sich in einem fortwährenden Kampf. Einerseits ist es ein Kampf gegen die habituellen Bindungen der eigenen sozialen Herkunft, andererseits aber auch ein Kampf um Anerkennung durch die Mitglieder einer anderen Klasse. Nicht immer geht es in diesem Kampf um sozialen Aufstieg. Die Kämpfe finden auch innerhalb der verschiedenen Klassen statt; beispielsweise zwischen denjenigen Gruppen mit hohem kulturellen und denjenigen mit hohem ökonomischen Kapital. 17

16 17

Vgl. dazu Bourdieu 302003, 211–219. Vgl. Bourdieu 302003, 210 u. 219–221.

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Kultur als sozialer Raum

6.2 Der Kampf ums Kapital Trotz gesicherter moderner Freiheitsrechte, ausgefeilter politischer Teilhabeprozesse und einer weitreichenden funktionalen Ausdifferenzierung ist auch die moderne Gesellschaft nicht frei von Konflikten. Zumeist handelt es sich dabei um Macht- oder Kapitalkonflikte mit dem Ziel, die eigene Einflusssphäre zu vergrößern bzw. die ökonomischen und/oder kulturellen Mittel zu mehren. Dies führt zu einer fortwährenden Dynamik im sozialen Raum, wobei die zentralen Kampfschauplätze die jeweiligen sozialen Felder sind, in denen beständig um Auf- oder Abstieg gerungen wird. In der Regel geben die jeweiligen sozialen Felder die Spielregeln dieser Positionskämpfe vor. Allerdings können je nach Konflikt auch deren Regeln und Funktionsweisen in Frage gestellt werden. 18 Der dabei von Bourdieu zu Grunde gelegte Kapitalbegriff ist sehr komplex und weist deutlich über das ökonomische Alltagsverständnis von Kapital hinaus. Nach Bourdieu handelt es sich beim Kapital um »akkumulierte Arbeit« und zwar »entweder in Form von Materie oder in verinnerlichter, ›inkorporierter‹ Form« 19. Damit soll ausgedrückt werden, dass es eines gewissen, vor allem zeitlichen, Aufwandes bedarf, sich Kapital anzueignen und dass es dabei nicht nur um Kapital in einem ökonomischen Sinne geht. Bourdieu dehnt den Kapitalbegriff vielmehr auch auf soziale Tätigkeiten aus. Somit können auch Museumsbesuche oder Grillparties mit Arbeitskollegen der Kapitalakkumulation dienen. Kapital ist somit die Grundlage jeglichen sozialen Handelns und seine Verteilung bestimmt die Struktur des sozialen Raumes. 20 Der Bourdieu’sche Kapitalbegriff bezieht also die Gesamtheit aller gesellschaftlichen Austauschbeziehungen mit ein. Deshalb ist Kapital nicht nur quantitativ zu bestimmen, sondern muss vielmehr als ein Machtmittel auf dem Feld sozialer Handlungen verstanden werden. Bourdieu unterscheidet deshalb im Wesentlichen drei verschiedene Arten von Kapital: (1) ökonomisches, (2) kulturelles und Vgl. Staab, Philipp/Vogel, Berthold (2014): Kampf (lutte), Konflikt (conflit), in: Fröhlich/Rehbein (Hrsg.): Bourdieu-Handbuch, 131–133; hier: 131/132. 19 Bourdieu, Pierre (1983): Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: Kreckel, Reinhard (Hrsg.): Soziale Ungleichheiten, Göttingen, 183–198; hier: 183. 20 Vgl. Rehbein, Boike/Saalmann, Gernot (2014): Kapital (capital), in: Fröhlich/Rehbein (Hrsg.): Bourdieu-Handbuch, 134–140; hier: 135. 18

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Der Kampf ums Kapital

(3) soziales Kapital. 21 Allerdings sind die unterschiedlichen Kapitalsorten nicht eindeutig festgelegt, so dass in der Sekundärliteratur zu Bourdieu häufig auch das (4) symbolische Kapital zu den Grundarten hinzugezählt wird. 22 Überdies darf man sich die unterschiedlichen Kapitalarten nicht allzu streng voneinander getrennt vorstellen. In der Praxis stehen sie vielmehr häufig in einem gewissen Wechselverhältnis zueinander. Allerdings sind sie nicht gleichrangig, da das ökonomische Kapital die Basis für die anderen Kapitalarten bildet. Das (1) ökonomische Kapital steht für jede materielle, in Geld übertragbare Form des Kapitals. Es ist die wichtigste Form, da es allen anderen Arten von Kapital zugrunde liegt. Dennoch lassen sich die anderen Kapitalsorten auch nicht einfach auf das ökonomische Kapital reduzieren. 23 Das (2) kulturelle Kapital hingegen lässt sich selbst noch einmal in drei Unterkategorien unterteilen: Dazu zählt das (a) objektivierte kulturelle Kapital, das sich in materieller Form manifestiert und daher prinzipiell übertragbar ist. Beispiele dafür sind kulturelle Güter, wie etwa Bücher oder Gemälde. Die Nutzung dieses Kapitaltyps verlangt nicht nur ökonomisches Kapital, sondern auch (b) inkorporiertes kulturelles Kapital. Zu diesem verinnerlichten kulturellen Kapital zählt Bourdieu vor allem die Bildung, die eine Person erworben hat. Daher ist diese Form des Kapitals auch nicht übertragbar. Zudem ist der Erwerb inkorporierten Kapitals zeitintensiv und deshalb auch vom ökonomischen Kapital abhängig. Darüber hinaus unterscheidet Bourdieu noch das (c) institutionalisierte kulturelle Kapital. Zu ihm zählen akademische Grade und Titel. Es stellt eine Form der Objektivierung des inkorporierten Kulturkapitals dar und dient damit der Umwandlung von kulturellem Kapital in ökonomisches Kapital. 24 Das (3) soziale Kapital hingegen bezeichnet die Möglichkeit, auf gesellschaftliche Ressourcen zuzugreifen. Diese beruhen insbesondere auf der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe. Dabei hängt der Umfang des sozialen Kapitals davon ab, wieweit das persönliche Netz sozialer Beziehungen reicht und inwieweit man es tatsächlich mobi-

21 22 23 24

Vgl. etwa Bourdieu 302003, 196. Vgl. Rehbein/Saalmann 2014, 137. Vgl. Fuchs-Heinritz/König 32014, 129. Vgl. Fuchs-Heinritz/König 32014, 129–132.

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Kultur als sozialer Raum

lisieren kann. Seine Relevanz besteht im Wesentlichen darin, Chancen des Erhalts oder gar der Vermehrung in den Bereichen des ökonomischen und kulturellen Kapitals zu sichern. 25 Mit dem (4) symbolischen Kapitalbegriff sind schließlich Möglichkeiten angesprochen, soziale Anerkennung zu erfahren und Prestige zu gewinnen. Bourdieu zählt dazu beispielsweise das Sponsoring, mit dessen Hilfe ökonomisches Kapital in soziale Anerkennung transformiert werden kann. Dieser funktionale Zug unterscheidet das symbolische Kapital auch von den drei anderen Kapitalarten, denn es stellt eigentlich die Form dar, in der ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital auftreten. 26 Die unterschiedliche Verteilung des Kapitals und das daraus resultierende Machtgefälle zwischen den Klassen ist ein wesentlicher Grund dafür, dass es im sozialen Raum zu permanentem Wandel und Veränderungen kommt. Sie werden vor allem durch die Aufund Abstiegsbewegungen der unterschiedlichen Klassenmitglieder hervorgerufen. Typischerweise bemühen sich vor allem die Akteure der mittleren Klasse darum, in die herrschende Klasse aufzusteigen. Sichtbar wird dies unter anderem daran, dass Personen aus der Mittelschicht den Lebensstil der herrschenden Klasse nachzuahmen versuchen. Dies geschieht unter anderem dadurch, dass sie sich modebewusst kleiden, Opernfestspiele besuchen oder exotische Urlaubsziele bereisen. 27 Da der Lebensstil einer Klasse aber nicht nur, wie Bourdieu in seiner Theorie zu verdeutlichen versucht, eine Frage der Finanzmittel ist, genügt es für den Aufstieg in eine nächsthöhere Klasse nicht, einfach nur ökonomisches Kapital anzuhäufen. Das entscheidende Unterscheidungsmerkmal der herrschenden Klassen liegt vielmehr in ihrer Macht, den vorherrschenden Geschmack in einer Gesellschaft definieren zu können. Diese Macht zur Distinktion eröffnet die Setzung nahezu unbegrenzter Unterscheidungsmerkmale. Wann immer es beispielsweise den Mitgliedern der unteren Klassen gelingt, in einen Bereich vorzustoßen, der früher der Elite vorbehalten war, begründet die herrschende Klasse einen neuen Trend und schafft dadurch ein neues gesellschaftliches Ideal, dem es fortan nachzueifern gilt. 28 25 26 27 28

Vgl. Fuchs-Heinritz/König 32014, 133–135. Vgl. Fuchs-Heinritz/König 32014, 135–137; hier: 135. Vgl. Bourdieu 302003, 298–311. Vgl. Bourdieu 302003, 210–227.

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Der Kampf ums Kapital

Um sich die Wechselwirkungen und die Dynamik, aber auch das Konfliktpotenzial dieser Vorgänge besser vor Augen führen zu können, schlägt Bourdieu vor, sich die genannten Prozesse im sozialen Raum als ein Spiel vorzustellen, das auf je unterschiedlichen sozialen Feldern ausgetragen wird. 29 Ziel des Spiels ist es, die eigene Situation zu verbessern – also mehr Einfluss oder Kapital zu akkumulieren. Zu Beginn des Spiels hält jeder Mitspieler unterschiedliche Mengen an Kapital. Sie sind der Ertrag vorausgegangener Spielrunden. Es gibt also Spieler, die viel ökonomisches, aber wenig kulturelles oder soziales Kapital besitzen. Und andererseits gibt es Spieler, mit viel kulturellem, aber eher wenig sozialem oder ökonomischem Kapital. Diese Unterschiede sowie der Wunsch, seine eigene Position zu verbessern, führen nun zu fortwährenden Verschiebungen und Veränderungen im sozialen Raum. Während einige ihr Kapital riskieren, versuchen andere ihren Bestand zu bewahren. Spieler mit viel Kapital können bluffen, andere wiederum müssen ihren gesamten Besitz in die Waagschale werfen. 30 Die unterschiedlichen Ausgangsbedingungen, aber auch die verschiedenen Spieltaktiken führen nun dazu, dass manche Spieler ihre Position verbessern können, während andere Spieler an sozialer Einflussfähigkeit verlieren. Aus konflikttheoretischer Perspektive stellt sich daher die Frage, wie diejenigen, die zu den Verlierern des Spiels zählen, mit ihrer Niederlage umgehen. Akzeptieren sie weiterhin die Regeln, oder versuchen sie – möglicherweise sogar gewaltsam – das Ende des Spiels zu erzwingen? 31 Letztgenanntes ist nach Ansicht Bourdieus eher unwahrscheinlich. Soziale Umstürze ergeben sich vielmehr dadurch, dass Spieler, die am Ende einer Spielrunde nur wenig ökonomisches oder soziales Kapital akkumulieren konnten, sich um eine Veränderung der Spielmodalitäten bemühen. Ihr oberstes Interesse gilt einer Neubewertung ihres Kapitals, so dass sich ihre Ausgangsbedingungen für die nächste Runde verbessern. Den meisten Revolutionen liegen demnach Auseinandersetzungen zwischen Menschen zu Grunde, die Kapital besitzen, und nicht etwa zwischen

29 Vgl. Rehbein, Boike (32016): Die Soziologie Pierre Bourdieus, Konstanz/München, 102. 30 Vgl. Bourdieu, Pierre/Wacquant, Loïc J. (32013): Reflexive Anthropologie, Frankfurt a. M., 127-130. 31 Vgl. Bourdieu/Wacquant 32013, 133.

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Kultur als sozialer Raum

denjenigen, die überhaupt kein Kapital haben und denen, die darüber im Übermaß verfügen. 32 Dieser Ansatz Bourdieus basiert auf einem besonderen Machtbzw. Herrschaftsverständnis. In Anlehnung an Karl Marx ist er der Überzeugung, dass Macht wesentlich durch ökonomischen oder kulturellen Kapitalbesitz begründet ist. Bourdieu zweifelt aber daran, dass Besitz das einzige Fundament für Macht darstellt. Mit Max Weber ist er vielmehr der Ansicht, dass Macht bzw. Herrschaft darüber hinaus auch auf einer Art »geglaubter Legitimität« 33 beruht. Diese, von Bourdieu auch als symbolische Herrschaft bezeichnete Form der Machtausübung, besteht im Wesentlichen darin, die Beherrschten durch kulturelle Symbole und Setzungen von der Richtigkeit der Herrschaftsverhältnisse zu überzeugen. 34 Schon die Stufung der Gesellschaft in unterschiedliche Klassen folgt beispielsweise dieser Logik und erweckt bei den Mitgliedern des Proletariats den Eindruck, dass sie eben genau das sind: Proletarier. Ganz offensichtlich ist die Bezeichnung Proletarier aber eine künstliche Setzung bzw. ein kulturelles Symbol, das nur unter kulturellen Bedingungen überhaupt existiert. Vor diesem Hintergrund wird auch verständlich, dass es in den oben beschriebenen Konflikten um weit mehr geht, als die bloße Akkumulation von Kapital. Es geht vielmehr um die Erlangung einer kulturellen Definitionsmacht, die im Wesentlichen darin besteht, bestimmen zu können, was den Unterschied (fr.: distinction) ausmacht. Dieser Unterschied besteht vor allem im Lebensstil und im Geschmack. Er zeigt sich in der Sprache und der Bildung, aber auch in besonderen Statussymbolen, die nicht unbedingt materieller Natur sind. Das Mittel der Distinktion erfüllt dabei einen doppelten Zweck; einerseits dient es dem Statuserhalt der herrschenden Klasse, und andererseits trägt es zur Reproduktion der klassenspezifischen Unterschiede bei. Doch nicht nur die Oberschicht wird von dem Bedürfnis motiviert, sich von den übrigen Klassen unterscheiden zu können. Distinktion ist auch das Motiv der Emporkömmlinge, die für eine Veränderung der Verhältnisse kämpfen, so dass sich der Be-

Vgl. dazu auch Staab/Vogel 2014, 132. Bittlingmayer, Uwe H./Bauer, Ullrich (2014): Herrschaft (domination) und Macht (pouvoir), in: Fröhlich/Rehbein (Hrsg.): Bourdieu-Handbuch, 118–124; hier: 118. 34 Vgl. Bittlingmayer/Bauer 2014, 119. 32 33

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Symbolische Gewalt und Herrschaft

griff der Distinktion als der zentrale gesellschaftliche Kampfbegriff perpetuiert. 35

6.3 Symbolische Gewalt und Herrschaft Der von Bourdieu verwendete Ausdruck symbolische Gewalt beschreibt die als natürlich und selbstverständlich wahrgenommene Herrschaftsordnung, die aufgrund der ihr zu Grunde liegenden Symbolik von niemandem als tatsächliche Gewalterfahrung wahrgenommen wird. 36 Dabei wird im Zuge symbolischer Gewaltanwendung durchaus (strukturelle) Gewalt ausgeübt; allerdings geschieht dies in derart alltäglichen Formen, dass die Opfer dies kaum realisieren. Symbolische Gewalt ist also in gewisser Weise gewaltfreie Gewalt. Sie dient der Sicherung bestehender Herrschaftsstrukturen, indem sie diese als natürliche Ordnungen präsentiert, die deshalb auch nicht in Frage gestellt werden. 37 Dies führt zu dem verbreiteten Phänomen, dass beispielsweise Menschen, die eigentlich unter ihren Existenzbedingungen leiden, diese oftmals dennoch als ganz selbstverständlich und natürlich ansehen und mehr oder weniger kritiklos hinnehmen. Dazu bedarf es von Seiten der Herrschenden nicht einmal der Anwendung von Repressionen oder Zwang; vielmehr genügt es, mittels geschickter Symbolpolitik den Eindruck zu erwecken, die Beherrschten hätten ihr Schicksal selbst im Griff und seien dementsprechend auch für ihre Situation mitverantwortlich. 38 Das Konzept der symbolischen Gewalt ist im Denken Bourdieus eng mit anderen symbolischen Vorstellungen verknüpft. Dazu zählen insbesondere die Überlegungen zur symbolischen Macht und zur symbolischen Herrschaft. Doch während beispielsweise symbolische Macht nur die Möglichkeit der Anwendung symbolischer Gewalt beinhaltet, geht es bei symbolischer Gewalt immer um den konkreten (gewaltlosen) Gewaltvollzug. Symbolische Herrschaft hingegen steht für diejenigen Herrschaftsverhältnisse, die sowohl die Grundlage als Vgl. Staab/Vogel 2014, 132/133. Vgl. Rehbein, Boike 32016, 185. 37 Vgl. Schmidt, Robert/Woltersdorff, Volker (2008): Einleitung, in: diess. (Hrsg.): Symbolische Gewalt. Herrschaftsanalyse nach Pierre Bourdieu, Konstanz, 7–21; hier: 8. 38 Vgl. Bourdieu 2001, 227/228. 35 36

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Kultur als sozialer Raum

auch das Ergebnis symbolischer Gewalt darstellen. Zentraler Bezugspunkt aller drei Konzepte ist letztlich »das Problem der Aufrechterhaltung und Reproduktion der herrschaftlichen Ordnung« 39. Darüber hinaus erlaubt das Konzept der symbolischen Gewalt Vergleiche und Abgrenzungen zu anderen sozialkritischen Ansätzen. 40 So teilt Bourdieus Gewalt-These wiederum mit Karl Marx’ Gesellschaftsanalyse die Überzeugung, dass die Beherrschten am Erhalt der bestehenden Herrschaftsverhältnisse mitwirken. Doch während bei Marx diese Mitwirkung auf Unkenntnis der tatsächlich vorherrschenden Gewaltstrukturen beruht und den Beherrschten durchaus bewusst gemacht werden kann, betont Bourdieu eine starke symbolische Verankerung des Glaubens an die bestehenden Machtverhältnisse. Hinzu kommt, dass Bourdieu – anders als Marx – die symbolische Herrschaft nicht auf ökonomische Machtverhältnisse zurückführt, sondern ihr eine gewisse Eigengesetzlichkeit attestiert. 41 Gerade mit Blick auf den Aspekt der symbolischen Herrschaft bestehen dabei auch Bezüge zur Herrschaftssoziologie Max Webers. Doch anders als Weber geht Bourdieu nicht von einer bewussten Anerkennung der Herrschaftslegitimität aus, sondern versteht sein Konzept der symbolischen Gewalt eher als einen Prozess »der spontanen, unwillkürlichen, praktischen Anerkennung und Verkennung« 42. Damit Gewalt als symbolische Gewalt wirksam werden kann, sind vor allem zwei Aspekte von entscheidender Bedeutung: Symbolische Gewalt muss die ihr zu Grunde liegende Willkür verschleiern (1) und sie muss darüber hinaus als legitim anerkannt werden (2). 43 Dazu bedarf es des Rückgriffs auf symbolische Ressourcen, die in modernen Gesellschaften in der Regel beim Staat liegen, der nicht nur über die physische, sondern auch über die symbolische Gewalt verfügt. Letzteres zeigt sich insbesondere bei staatlichen Maßnahmen, in denen sich die symbolische Legitimierungsmacht des Staates bündelt. Beispiele dafür sind Verwaltungsakte, wie etwa die standesamtliche Trauung oder die Ausstellung eines neuen Passes. Hier zeigt sich der Staat nicht nur als Dienstleister, sondern vielmehr als Machtmonopolist, der allein über die Setzung von anerkannten Formen verfügt

39 40 41 42 43

Schmidt/Woltersdorff 2008, 8. Vgl. dazu Schmidt/Woltersdorff 2008, 8/9. Vgl. Bourdieu 1974, 42–57. Schmidt/Woltersdorff 2008, 9. Vgl. Bourdieu, Pierre (2004): Der Staatsadel, Konstanz, 322.

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Symbolische Gewalt und Herrschaft

und so zum Beispiel die Frau zur Ehefrau oder den Mann zum deutschen Staatsbürger erklären kann. 44 Die symbolische Machtbeziehung, die hier durch die Gegenüberstellung von Herrschenden und Beherrschten akzentuiert wird, folgt keinem klassischen Täter-Opfer-Schema, sondern bringt vielmehr eine strukturelle Gewalt-Problematik zum Ausdruck. Sie bezieht sich nicht nur einseitig auf die Beherrschten, sondern betrifft auch die Herrschenden. Denn auch sie werden von den symbolisch anerkannten (und damit zugleich verkannten) Machtbeziehungen beherrscht. Dabei bietet sich beiden Parteien keine Alternative zur gültigen Herrschaftsstruktur, in der die verschiedenen Rollen von Herrschenden und Beherrschten bereits festgelegt sind. 45 Konkret führt dies dann dazu, dass »ein Beherrschter jedes Mal, wenn er, um sich zu beurteilen, eine der für die herrschende Einteilung konstitutiven Kategorien (wie brillant/ernsthaft, distinguiert/vulgär, einmalig/gewöhnlich) verwendet, in bezug auf sich selbst, ohne es zu wissen, den herrschenden Standpunkt ein[nimmt] und damit in gewissem Sinne für die Selbstbewertung die Logik des negativen Vorurteils [übernimmt]« 46. Die symbolische Gewalt, die darin zum Ausdruck kommt, ist also unhintergehbar und erfasst sämtliche Mitglieder einer Gesellschaft – ob sie nun herrschen oder beherrscht werden. Das zentrale Medium symbolischer Gewalt ist die Sprache. Denn gerade performative Sprechakte sind besonders dazu geeignet, Macht zu entfalten. Mit ihrer Hilfe lassen sich Klassifikationen vornehmen oder angesprochene Personen auf- bzw. abwerten. Dabei ist es von Bedeutung, in welchem Kontext die performative Kraft der Sprache zur Entfaltung kommt. So hat beispielsweise das Urteil eines Richters ein höheres symbolisches Gewaltpotential, als eine Beleidigung im Straßenverkehr. Symbolische Gewalt wird darüber hinaus aber auch in Gesten und Verhaltensweisen sichtbar und kann sogar durch Artefakte oder die Gestaltung von Räumen und Gebäuden zum Ausdruck gebracht werden. 47

Vgl. Schmidt/Woltersdorff 2008, 11 sowie Bourdieu 1998, 99. Vgl. Schmidt/Woltersdorff 2008, 12. 46 Bourdieu, Pierre (1997): Die männliche Herrschaft, in: Dölling, Irene/Krais, Beate (Hrsg.): Ein alltägliches Spiel. Geschlechterkonstruktion in der sozialen Praxis, Frankfurt a. M., 153–217; hier: 165. 47 Vgl. Schmidt/Woltersdorff 2008, 13. 44 45

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7. Zur Macht des Symbolischen – Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Denken Ernst Cassirers und Pierre Bourdieus

In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Pierre Bourdieu sind Hinweise auf Ernst Cassirer und Theorievergleiche der beiden Denker keine Seltenheit. 1 Blickt man indes in die Schriften Bourdieus, so findet der Name Cassirer dort eher selten Erwähnung. Selbst in der 1970 veröffentlichten Arbeit Zur Soziologie der symbolischen Formen, die ja schon durch den Titel einen engeren Bezug zu Cassirers dreibändiger Philosophie der symbolischen Formen aus den 1920er Jahren nahelegt, sind die Hinweise auf den deutschen Philosophen viel sparsamer, als man es angesichts der darin artikulierten Absichten erwarten könnte. Eines der wenigen Zitate zu Cassirer entdeckt man hingegen in Bourdieus Schrift Praktische Vernunft, in der es heißt: »(Ich beziehe mich hier, ohne im einzelnen darauf eingehen zu können, auf Ernst Cassirers Gegensatz von »substantiellen Begriffen« und »funktionalen oder relationalen Begriffen«.)« 2 Obwohl dieser Bezug eher beiläufig erscheint (er steht in Klammern), deutet er doch einen bedeutsamen gemeinsamen Nenner zwischen Bourdieu und Cassirer an. Dieser besteht darin, dass beide in Relationen denken und – trotz einiger deutlicher Unterschiede – die Überzeugung teilen, dass die symbolischen Strukturen die sozialen Strukturen entscheidend prägen und nicht umgekehrt. 3

Explizit vergleichende Auseinandersetzungen finden sich u. a. bei Krois, John M. (1999): Zur Darstellung von symbolischen und sozialen Strukturen, in: Institut für Wissenschaft und Kunst (Hrsg.): Symbol – Struktur – Kultur. Zur erkenntnistheoretischen Grundlegung der Sozial- und Kulturwissenschaften nach Ernst Cassirer, Claude Lévi-Strauss und Pierre Bourdieu, Wien, 8–13; Bickel 2003 sowie Magerski 2005. 2 Bourdieu 1998, 15. 3 Vgl. Krois 1999, 8. 1

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Gemeinsames Denken in Funktionen und Relationen Diese Einsicht gewinnen Cassirer und Bourdieu aus der prinzipiellen Bereitschaft, sich mit den Fundamenten ihrer eigenen Erkenntnis zu befassen. Sie folgen hierin Kant, der schon in seiner Kritik der reinen Vernunft zu bedenken gibt, dass der empirische Verstand, der »über die Quellen seiner eigenen Erkenntnis nicht nachsinnt, zwar sehr gut fortkommen, eines aber gar nicht leisten könne, nämlich, sich selbst die Grenzen seines Gebrauchs zu bestimmen, und zu wissen, was innerhalb oder außerhalb seiner ganzen Sphäre liegen mag«. 4 Nach Kants Verständnis sind Erfahrungswissenschaftler permanent der Gefahr ausgesetzt, ihre eigenen Verstandesbegriffe zu substanzialisieren und in eigenständige Wirklichkeiten zu verwandeln. Auf diese Weise drohen Funktionen unseres Denkens zu konkreten Erfahrungen der Empirie zu werden und den Blick darauf zu verstellen, dass sich sämtliche Tatsachen immer erst den Formfunktionen unseres Geistes verdanken. 5 Exakt aus diesem Grund befasst sich auch der Neukantianer Cassirer in seinen frühen erkenntnistheoretischen Schriften mit der kritischen Frage nach der objektiven Erkenntnis unter den Bedingungen des neuzeitlichen Subjektivismus. 6 Dabei ist es für Cassirer weniger bedeutsam, »wie eine schon bestehende Wirklichkeit vom erkennenden Subjekt aufgenommen wird«; viel entscheidender ist, »wie sich die Wirklichkeit vermöge der denkerischen Voraussetzungen zuallererst formt«. 7 Um in dieser Frage zu einer eigenständigen Position zu kommen, arbeitet Cassirer zunächst rekonstruktiv und wendet sich nacheinander dem Werk von René Descartes (in seiner Promotion Descartes’ Kritik der mathematischen und naturwissenschaftlichen Erkenntnis, 1899) und Gottfried Wilhelm Leibniz zu. Dabei spürt er – ganz im Kant, Immanuel (1781/87a/1974a): Kritik der reinen Vernunft 1 (I. Kant Werkausgabe, Bd. III), Frankfurt a. M., 269. 5 Vgl. Katzmair, Harald (1999): Soziologie und Sozio-Logik symbolischer Formen. Die erkenntnistheoretischen Modelle von Ernst Cassirer, Claude Lévi-Strauss und Pierre Bourdieu, in: Institut für Wissenschaft und Kunst (Hrsg.): Symbol – Struktur – Kultur. Zur erkenntnistheoretischen Grundlegung der Sozial- und Kulturwissenschaften nach Ernst Cassirer, Claude Lévi-Strauss und Pierre Bourdieu, Wien, 2–7; hier: 3. 6 Vgl. insbesondere Cassirer, Ernst (1910/2000): Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik (ECW, Bd. 6), Hamburg. 7 Paetzold, Heinz (22002): Ernst Cassirer zur Einführung, Hamburg, 23. 4

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Zur Macht des Symbolischen

Sinne Kants – den Grundlagen des Rationalismus nach, die insbesondere bei Leibniz in ein umfassendes philosophisches Gesamtsystem eingewoben sind. In Leibniz’ System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen von 1902 geht er diesem System schließlich auf den Grund, wobei er sich vor allem auf eine Rekonstruktion der Leibniz’schen Erkenntnistheorie konzentriert, die sich für ihn im Wesentlichen als eine Art Wissenschaftsphilosophie darstellt. 8 Den abschließenden Schritt hin zu einer ersten eigenen Positionierung in der Erkenntnistheorie vollzieht Cassirer dann 1910 in Substanzbegriff und Funktionsbegriff – also dem Werk, auf das Pierre Bourdieu in Praktische Vernunft verweist. Bei Bourdieu ist das relationale Denken die Basis für die Konzeption der Distinktionsthese. Wie weiter oben bereits gezeigt wurde, ist der soziale Raum, den Menschen besetzen, von wechselseitigen Abgrenzungsbestrebungen bestimmt. Diese Distinktionen sind jedoch nicht substanzieller Natur und manifestieren sich nicht einfach in den unterschiedlichen sozialen Klassen einer Gesellschaft, sondern sie sind vielmehr symbolischer Art und beruhen im Wesentlichen auf der Verfügbarkeit von symbolischer Macht. Für Bourdieu sind soziale Klassen deshalb keine gesellschaftlichen Handlungsinstanzen, sondern lediglich symbolische Ausdrucksformen, die in einem besonderen Sprach- und Kleidungsstil oder spezifischen kulturellen Vorlieben existieren. Darum ist gesellschaftliche Macht für Bourdieu auch weniger eine Frage der Standeszugehörigkeit, als vielmehr eine Frage symbolischer Ordnungen. »Die entscheidenden Machtfragen«, so formuliert John Michael Krois über Bourdieus Ansatz, »betreffen Symbole: wie das Urteil lautet, wer das Sagen hat, was im Buche steht, wer befehlen oder reden darf«. 9

Zum Verhältnis von Macht und Freiheit Deutlichere Differenzen im Denken von Ernst Cassirer und Pierre Bourdieu ergeben sich hingegen mit Blick auf das Verständnis von Macht. Das hat zunächst einmal vor allem mit unterschiedlichen historischen Erfahrungen und Sozialisationen zu tun. Cassirers Philosophie entwickelte sich weitgehend im Kontext der Weimarer Republik, 8 9

Vgl. Paetzold 22002, 27/28. Krois 1999, 8.

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Zur Macht des Symbolischen

also in einer Zeit, in der man der Kultur noch ein gewisses Maß an Vertrauen entgegenbringen konnte. 10 Pierre Bourdieus Werk hingegen entstand im Nachkriegseuropa und damit in einer Epoche, in der dieses Vertrauen erschüttert war und das Nachdenken über Machtstrukturen längst keine bloß akademische Dimension mehr hatte. 11 Weitere Unterschiede betreffen dann aber vor allem auch die inhaltliche Füllung des Symbolbegriffes selbst. Denn anders als bei Cassirer, steht bei Bourdieu weniger das Symbol als vielmehr die Macht im Zentrum der Kulturbetrachtung. Das Symbolische ist für ihn nur insoweit von Interesse, als es »die entscheidende Form der Macht darstellt«. 12 Denn wann immer in der Gesellschaft Macht ausgeübt wird, geschieht dies vermittels symbolischer Formen. Bei Cassirer hingegen steht das Symbolische im Mittelpunkt. Der Mensch ist das symbolische Wesen, das die Kultur durch die symbolischen Ausdrucksgestalten des Geistes erst hervorbringt. Ganz anders als bei Bourdieu sind die verschiedenen kulturellen Manifestationen kein Ausdruck von Macht, sondern vielmehr Formen der geistigen Artikulation und somit Akte der Selbstbefreiung des Menschen. 13 Trotz dieser unterschiedlichen Akzentuierungen geht es sowohl bei Cassirer als auch bei Bourdieu vor allem um die »Macht des Symbolischen« 14 – also darum, welchen Einfluss die Symbole auf den Menschen haben und wie sehr sie sein Leben bestimmen. Verschiedener Ansicht sind beide aber im Hinblick auf die Frage, wie mit dieser Macht umzugehen ist. In seinem Aufsatz Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt beispielsweise thematisiert Cassirer die Bedeutung der Sprache für die soziale Welt. Er schildert darin unter anderem die gemeinschaftsstiftende Funktion der Sprache und betont deren Bedeutung bei der Ausbildung gesellschaftlicher Zugehörigkeit bzw. Abgrenzung. 15 Obwohl Cassirer dabei dezidiert soziale Prozesse beSo zumindest kann man die Haltung Cassirers deuten, wenn er sich in öffentlichen Stellungnahmen zur gesellschaftlichen Lage äußerte; vgl. Cassirer, Ernst (1929/2004): Die Idee der Republikanischen Verfassung: Rede zur Verfassungsfeier am 11. August 1928 (ECW, Bd. 17), Hamburg, 291–307. 11 Vgl. Krois 1999, 9. 12 Krois 1999, 9. 13 Vgl. Krois 1999, 9. 14 Krois 1999, 10. 15 Vgl. Cassirer, Ernst (1985): Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt, in: 10

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schreibt, finden Machtstrukturen – etwa in Fragen der Inklusion oder Exklusion – keine Erwähnung. Bourdieu hingegen begreift symbolisches Kapital als einen Machtfaktor. Dabei versteht er den Kapitalbegriff durchaus wörtlich, denn er ist davon überzeugt, dass sich das symbolische Kapital durch Bildung mehren lässt. Wer in einer Gesellschaft über symbolisches Kapital verfügt, erkauft sich Handlungsspielräume und Optionen, die den anderen Gesellschaftsmitgliedern fehlen. Auf den Punkt gebracht lässt sich also festhalten: »[W]enn Cassirer soziologische Prozesse beschreibt, spricht er als Symboltheoretiker. […] wenn Bourdieu symbolische Prozesse beschreibt, spricht er als Soziologe.« 16 Was beide Denker voneinander unterscheidet, ist ihre je verschiedene Einschätzung der Kräfte der Kultur. Cassirer versteht Kultur als menschlichen Selbstbefreiungsprozess. Bourdieu hingegen sieht in der Kultur wirksame Machtstrukturen am Werk, aus denen eine Befreiung nur sehr schwer möglich ist.

ders.: Symbol, Technik, Sprache. Aufsätze aus den Jahren 1927–1933, Hamburg, 121– 160; hier: 140–143. 16 Krois 1999, 10.

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Dritter Teil: Symbole im Spannungsfeld von Identität und politischer Instrumentalisierung

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8. Das Wechselverhältnis von Identität, Kultur und Symbol

Die vorangegangenen Überlegungen zu Cassirer und Bourdieu haben deutlich gemacht, auf welche Weise sich der Mensch seine Lebenswirklichkeit mittels Symbolen erschließt und wie die kulturellen Manifestationen, die sich daraus ergeben, selbst wieder Einfluss auf den Menschen nehmen und über ihn Macht gewinnen. Im nun folgenden dritten Teil der Untersuchung liegt der Fokus auf der Frage, ob Identitätsbildungsprozesse selbst als symbolisch vermittelt angesehen werden können und welche Konsequenzen dies insbesondere für die Eigen- und Fremdzuschreibung sozialer oder kultureller Identität hat. Auf dieser Grundlage kann dann überprüft werden, inwieweit Identitätszuschreibungen politisch virulent werden, wobei ein besonderes Augenmerk auf die Gefahren gerichtet wird, die sich aus einer gezielten Instrumentalisierung von identitätsstiftenden Symbolen ergeben können. Dabei kommt den Religionen eine besondere Bedeutung zu, die es in diesem Teil der Arbeit immer wieder beispielhaft herauszuarbeiten gilt. Den Ausgangspunkt der Überlegungen bildet ein Identitätsbegriff, der eine Antwort auf die Frage Wer bin ich? oder Wer sind wir? zu geben versucht. Hartmut Rosa spricht diesbezüglich von einem qualitativen Identitätsverständnis, da hier vor allem das sinnund orientierungsstiftende Selbstverständnis mit seinen praktischen Handlungsimplikationen im Vordergrund steht. 1 In Abgrenzung zu klassischen Identitätstheorien (wie etwa bei John Locke) geht es weniger um die Durchdringung der individuellen Bewusstseinsprozesse, die ein konsistentes Selbstbild überhaupt erst ermöglichen, sondern um die Wahrnehmung, dass »das Selbstbild eines Menschen zum einen untrennbar mit dem korrespondierenden Verständnis der natürlichen und sozialen Umwelt verknüpft ist und es zum anderen Vgl. Rosa, Hartmut (1998): Identität und kulturelle Praxis. Politische Philosophie nach Charles Taylor, Frankfurt a. M./New York, 69.

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Das Wechselverhältnis von Identität, Kultur und Symbol

seine kategorialen ›Bausteine‹ aus der ihn umgebenden Kultur bezieht« 2. So verstanden ist Identitätsbildung ein Prozess, der sich vor allem in sozialen Beziehungen vollzieht, die auf wechselseitige Anerkennung und Verständigung ausgerichtet sind. Die symbolischen Formen (insbesondere die Sprache) und die aus ihnen hervorgehenden spezifischen kulturellen Muster und Bedeutungsstrukturen geben den Rahmen vor, in dem sich Identitäten ausprägen können. Dabei darf man sich den Identitätsbildungsprozess freilich nicht als einmaligen Vorgang vorstellen, sondern vielmehr als beharrlichen Versuch, die eigenen Selbstbilder und -projektionen, die ja selbst einem permanenten Wandel unterliegen, immer wieder neu zu realisieren. Obschon die Prozesse der Identitätsbildung intersubjektiven Charakter haben und erst vor dem Hintergrund des Austausches mit einem konkreten oder auch nur imaginierten Anderen zur eigenen Selbstfindung anleiten, bleibt der Identitätsbegriff (vor allem kulturtheoretisch und soziologisch) eng mit dem Begriff der Differenz verbunden. Denn das beständige Wechselspiel aus individueller Selbsterkenntnis und Selbstgestaltung ist immer auch auf Mechanismen der willentlichen Abgrenzung und Unterscheidung angewiesen. Auf individueller Ebene zeigt sich dies unter anderem darin, dass Individuen zu bestimmten Rollenerwartungen oder Werten ihrer kulturellen Sozialisationsgemeinschaft auf Distanz gehen, um eine ganz eigene, unverwechselbare Identität auszuprägen. Auf kollektiver Ebene hingegen führt dies häufig zur Abgrenzung gegenüber anderen kulturellen Identitäten und zu einer Hinwendung zur eigenen Werte- und Kulturgemeinschaft. 3 Insoweit Identitätsbildungsprozesse von gesellschaftlichen bzw. kulturellen Strukturen abhängen, sind sie auch auf Symbole angewiesen. Denn Symbole konstituieren einerseits das soziokulturelle Bedeutungsgewebe, durch das sich gesellschaftliche Beziehungen überhaupt erst ausbilden können, und gehen andererseits selbst wieder als Kulturprodukte aus diesem hervor. Auf diese Weise dienen sie »als Modelle von Wirklichkeit und als Modelle für Wirklichkeit« 4. Rosa 1998, 69. Vgl. grundlegend dazu Hillmann, Karl-Heinz (52007): Identität, in: ders.: Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart, 355/356. 4 Hülst 1999, 342. In Hülsts Unterscheidung der Modelle von und für Wirklichkeit 2 3

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Identitätskonzeptionen in sozialwissenschaftlicher Perspektive

Gut sichtbar wird dieses Phänomen am Beispiel der Religionen. Denn Religionen bieten nicht nur ein symbolisches System zur Deutung von Wirklichkeit an, sondern bringen aus ihren jeweiligen inneren (Theo-)Logiken heraus weitere Symbole hervor, die ebenfalls Einfluss auf den praktischen Lebensvollzug ihrer Gläubigen gewinnen. Schleier und Kruzifix bringen dies deutlich zum Ausdruck. Mittels spezifischer Gebote, Praktiken oder Rituale schaffen Religionen dabei objektive kulturelle Strukturen, die ihrerseits wiederum einen Referenzrahmen vorgeben, in dem sich dann andere subjektive Ausdrucksformen des menschlichen Geistes ausbilden können. 5 In diesem komplexen Verweisungszusammenhang wird eine moralische Dimension sämtlicher Symbolbildungsprozesse deutlich, die auch für die Ausbildung persönlicher Identitäten bedeutsam ist. Denn wann immer Menschen ihrem sozialen Umfeld mittels symbolischer Ausdrucksformen Gestalt verleihen, sind sie sowohl auf die schöpferischen als auch rezeptiven Fähigkeiten ihrer Mitmenschen im Umgang mit Symbolen angewiesen. Die Symbolbildungsfähigkeit offenbart in sozialen Gefügen eine einheitsstiftende Kraft, die auch in den Identitätsbildungsprozessen unmittelbar greifbar wird. Denn nur aufgrund seiner Symbolbildungsfähigkeit kann sich das Individuum in der Begegnung mit Anderen selbst zum Objekt seiner Anschauung machen und in der Reflexion dieses Prozesses eine eigene, um die Perspektive der Mitwelt erweiterte Identität ausbilden. 6

8.1 Identitätskonzeptionen in sozialwissenschaftlicher Perspektive Der Wechselbezug von Identitätsbildungsprozessen und der Fähigkeit zum Symbolgebrauch ist mit dem Aufkommen der (Sozial-)Psychologie und der Sozialphilosophie am Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert stärker reflektiert worden. Die grundsätzliche Beschäftigung mit Identität aber ist freilich älter. Etymologisch geht der Identitätsbegriff auf das spätlateinische Wort identitas (= Wesenheit) zurück wird ein Gedanke aufgegriffen, der sich in ähnlicher Weise auch bei Clifford Geertz findet (vgl. Geertz 1987, 52–54). 5 Vgl. Hülst 1999, 342/343. 6 Vgl. dazu auch Hülst 1999, 343/344.

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Das Wechselverhältnis von Identität, Kultur und Symbol

und drückt – vor allem in der anfangs vorherrschenden logischen und mathematischen Verwendung – eine Nichtunterscheidbarkeit zweier Gegenstände aus. Dieses enge Identitätsverständnis, das einer exakten Gleichheit entspricht, wird insbesondere in den geisteswissenschaftlichen Disziplinen (vor allem in der Philosophie) um den Aspekt der Wesensgleichheit erweitert. Ein Gegenstand ist in diesem Verständnis auch dann noch mit sich selbst identisch, wenn die ihm zufällig (akzidentiell) zukommenden Eigenschaften variieren. Entscheidend ist allein, dass sich seine wesentlichen (essentiellen) Eigenschaften nicht verändern. 7 In den bis heute aktuellen geistes- und sozialwissenschaftlichen Untersuchungen zum Identitätsverständnis wird schwerpunktmäßig zwischen einer numerischen und einer qualitativen Identität differenziert. Während es bei Fragen zur numerischen Identität hauptsächlich um den ontologischen Status personaler Identität und die Zurechenbarkeit von Verantwortung geht, richten sich Überlegungen zur qualitativen Identität im Wesentlichen auf »das je spezifische Selbst- und Weltverhältnis sozialer Subjekte« 8. Vor allem der Pragmatismus und die Psychoanalyse haben diese Perspektive auf das Individuum ins Zentrum ihrer Untersuchungen gerückt und damit der Identitätsforschung eine gesellschaftliche und normativ-politische Richtung verliehen. 9 Großen Einfluss auf diese Entwicklung hatte George Herbert Mead, der einen der beachtenswertesten Ansätze zum zeitgenössischen Verständnis menschlicher Identitätsbildung vorgelegt hat. Aufbauend auf Studien von William James führt Mead die Unterscheidung eines subjektiven, selbsttätigen (kreativen) Ichs und eines sozialen, durch die Umwelt mitbestimmten Selbst’ in die Identitätsforschung ein. Nach Mead basiert Identität letztlich auf einem Wechselspiel von Me (Selbst) und I (Ich). Im Austausch mit so genannten signifikanten Anderen, so seine These weiter, erlernt jede Person soziale Verhaltenserwartungen, generalisiert diese und kann aus den

Vgl. Rosa, Hartmut (2008): Identität, in: Gosepath/Hinsch/Rössler (Hrsg.): Handbuch der Politischen Philosophie und Sozialphilosophie. Bd. I, A–M, Berlin, 527–531; hier: 527. 8 Rosa 2008, 527. 9 Vgl. Straub, Jürgen (1998): Personale und kollektive Identität. Zur Analyse eines theoretischen Begriffs, in: Assmann, Aleida/Friese, Heidrun (Hrsg.): Identitäten. Erinnerung, Geschichte, Identität 3, Frankfurt a. M., 73–104; hier: 73/74. 7

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daraus gewonnen Rollenerwartungen, die letztlich das Selbst (Me) definieren, ein eigenständiges Ich (I) konstituieren. 10 Für George Herbert Mead gründet Identität demnach in einem dialogischen Prozess. Damit grenzt sich seine Theorie von der bis heute weitverbreiteten Annahme einer autonomen Setzung von Identität durch das jeweilige Individuum selbst ab. 11 Nach Mead kann der Mensch seine eigene Identität nur dann ausbilden, wenn er sich selbst zum Objekt macht. Der Ausgangspunkt dafür sind unsere zwischenmenschlichen Kommunikationsprozesse. Um mit anderen Individuen in Kontakt treten zu können, versetzen wir uns gleichsam automatisch immer in die Rolle des Gegenübers und übernehmen dessen Perspektive auf uns. In dieser Perspektive des Anderen werden wir dann auf uns selbst aufmerksam und uns unserer eigenen Identität bewusst. 12 Diesen Vorstellungen liegt ein spezifisches Menschenbild zu Grunde, das einige Nähen zu Ernst Cassirers animal symbolicum aufweist. So ist auch Mead der Auffassung, dass der Mensch ein symbolbildendes Wesen ist und dass die menschlichen Kommunikationsprozesse symbolisch vermittelt sind. Um sich mit seinen Mitmenschen auszutauschen, greift das Individuum auf verschiedenste Zeichen, Gesten oder Symbole zurück, wobei das zentrale Medium menschlicher Kommunikation auch bei Mead die Sprache ist. Mit ihrer Hilfe lassen sich Erfahrungen symbolisieren und damit Erklärungen für spezifische Verhaltensweisen gewinnen. 13 In der Identitätstheorie Meads wird der Mensch sich also in gewisser Weise selbst zum Symbol. Anders als bei Cassirer geschieht dies jedoch nicht mit Hilfe geistiger Ausdrucksformen, sondern mittels eines introspektiven Kommunikationsprozesses, in welchem sich das Individuum aus der Perspektive des Gegenübers über sich selbst vergewissert. Dies setzt natürlich voraus, dass alter und ego dieselbe Sprache sprechen. Damit ist jedoch nicht nur die Verwendung desselben Symbolsystems (Sprache) gemeint, sondern auch die Bereit-

Vgl. Mead 1973, 216–221. Vgl. Rosa 2008, 528. 12 Vgl. Abels, Heinz (22010): Identität. Über die Entstehung des Gedankens, dass der Mensch ein Individuum ist, den nicht leicht zu verwirklichenden Anspruch auf Individualität und die Tatsache, dass Identität in Zeiten der Individualisierung von der Hand in den Mund lebt, Wiesbaden, 259. 13 Vgl. Abels 22010, 261/262. 10 11

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schaft, sich in den anderen hineinzuversetzen. 14 Gerade in der Begegnung mit fremden Kulturen gerät dieser Aspekt der Rollenübernahme (George Herbert Mead) deshalb auch zu einer besonderen Herausforderung, die nur zu bewältigen ist, wenn beide Seiten den gemeinsamen Wunsch zur Verständigung haben. Wie die Überlegungen George Herbert Meads, so sind auch die Untersuchungen Erik H. Eriksons für den Identitätsdiskurs zentral geworden. Erikson untersucht allerdings, anders als Mead, das Identitätsphänomen aus einer stärker psychoanalytisch bis klinisch-psychatrischen Perspektive. 15 Im Unterschied zur pragmatischen Auffassung, die Identität als Resultat sozialer Interaktion begreift, entwirft Erikson ein substanzielleres Konzept von Identität. Dies wird schon in der Begrifflichkeit deutlich, wenn Erikson etwa von der konkreten Ausbildung einer Ich-Identität spricht. Er möchte damit der Erfahrung Ausdruck verleihen, dass Identität sowohl einer unmittelbaren subjektiven Wahrnehmung als auch einem dynamischen Entwicklungsprozess erwächst: »Das bewußte Gefühl, eine persönliche Identität zu besitzen, beruht auf zwei gleichzeitigen Beobachtungen: der unmittelbaren Wahrnehmung der eigenen Gleichheit und Kontinuität in der Zeit, und der damit verbundenen Wahrnehmung, daß auch andere diese Gleichheit und Kontinuität erkennen« 16. Auf dem Weg hin zu einer stabilen Identitäts- und Persönlichkeitsentwicklung durchläuft das Individuum verschiedene Entwicklungsstufen. Am Ende dieser Stufen stehen jeweils psychosoziale Krisen, durch deren Bewältigung der einzelne allmählich eine stabile Persönlichkeit auszubilden vermag. Dazu bedarf es insbesondere der Fähigkeit, die sozialen Erwartungen und eigenen Ansprüche versöhnlich miteinander zu verbinden. 17 Erving Goffman schließlich hat mit seiner Identitätstheorie eine Art Synthese des Mead’schen Ansatzes und der Überlegungen von Erikson vorgelegt. Er erweitert in seinen Untersuchungen den Identitätsbegriff von Mead um den Aspekt der Ich-Identität, den er allerdings von einer sozialen und einer persönlichen Identität abgrenzt. Das Konzept der Ich-Identität erinnert dabei an das substanzialisti-

Vgl. Abels, Heinz (52010): Interaktion, Identität, Präsentation. Kleine Einführung in interpretative Theorien der Soziologie, Wiesbaden, 22. 15 Vgl. Straub 1998, 75. 16 Erikson 262013, 18. 17 Vgl. Erikson 262013; hier: 136–152. 14

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Identitätskonzeptionen in sozialwissenschaftlicher Perspektive

sche Identitätsverständnis von Erikson, denn auch Goffman geht von einem subjektiven Empfinden der individuellen Eigenart und Kontinuität aus. Die persönliche Identität ist nach dem Goffman’schen Modell allerdings ein soziales Phänomen und bezieht sich »auf die Einmaligkeit und Einzigartigkeit einer Person als einer Kombination körperlicher und biographischer Daten, sofern diese Ergebnisse moralischer oder rechtlicher Zuordnungen sind« 18. Demgegenüber ist die soziale Identität weiter gefasst und beinhaltet sämtliche Arten von Persönlichkeitszuschreibungen durch die soziale Mitwelt. Damit greift Goffman die Intuition von George Herbert Mead auf, wonach Identität vor allem das Resultat eines intersubjektiven Austauschprozesses ist. Im Verständnis von Mead und Goffman erweist sich Identität somit als ein überaus dynamisches Phänomen. Sie ist nicht nur das Ergebnis eines wechselseitigen Austausches von Erwartungen an das jeweilige Gegenüber, sondern auch des permanenten inneren Abgleichs mit den Deutungen und Interpretationen durch andere. In Abgrenzung zu den substanzialistischen Identitätstheorien muss hier also von konstruktivistischen Identitätskonzeptionen gesprochen werden. 19 Solche Identitätstheorien haben insbesondere seit der Mitte des 20. Jahrhunderts diverse Zuspitzungen erfahren. Einige Ansätze betrachten Identität mittlerweile ausschließlich als Ergebnis kommunikativer Prozesse. Dies gilt dann nicht nur für die Ausbildung der Identität einzelner Personen, sondern auch für das Person-Verständnis an sich, das selbst als bloßes Produkt historischer Diskurse verstanden wird. Einer solchen Entsubstantialisierung (Hubert Knoblauch) haben zeitgenössische Theoretiker ein Konzept von Ich-Identität entgegengestellt, das die zu enge Konzentration moderner Identitätskonzepte auf Kommunikation aufbricht bzw. sinnvoll ergänzt. 20 Aus politischer Perspektive ist heute neben der Frage der individuellen Identität vor allem die Frage nach der kollektiven Identität brisant. Insbesondere der Prozess, in dem beide Identitätsaspekte aufeinander einwirken und sich wechselseitig beeinflussen, ist Gegenstand intensiver Forschung. 21 Dabei wird deutlich, dass sich die Knoblauch, Hubert (2004): Religion, Identität und Transzendenz, in: Jaeger/ Liebsch (Hrsg.): Handbuch der Kulturwissenschaften. Bd. 1, 349–363; hier: 350. 19 Vgl. Knoblauch 2004, 350. 20 Vgl. Knoblauch 2004, 350. 21 Vgl. dazu aus sozialphilosophischer Perspektive Honneth, Axel (1994): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt a. M. 18

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Konstruktion individueller Identität in der Regel aus kollektiven Kategorien zusammensetzt, die verallgemeinernd zum Beispiel als Frauen, Männer, Muslime, Christen, Migranten, Einheimische bezeichnet werden. Da sich diese Kategorien selbst aber nur aus vorgeblich gemeinsamen Erfahrungen einzelner Individuen konstituieren, ist ihre innere Homogenität zweifelhaft. Gerade den Vereinheitlichungstendenzen innerhalb kollektiver Identitäten ist deshalb mit Zurückhaltung zu begegnen, da sie häufig auf Kosten von Binnendifferenzen konstruiert werden und die daraus resultierenden Nivellierungen oftmals politisch-ideologisch motiviert sind. 22 Gleichwohl eröffnet das Konzept der kollektiven Identitäten die Möglichkeit, die individuellen Identitätsbildungsprozesse besser zu verstehen. Denn es hilft dabei, die eigene Selbstidentifikation auch als Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Identitätszuschreibungen zu begreifen, gegenüber denen sie sich bisweilen auch in kritischer Abgrenzung zu behaupten hat. 23

8.2 Individuelle und soziale Identität im Spannungsfeld Die Frage nach dem Selbstverhältnis der Person ist ideengeschichtlich nicht neu, hat aber in der Moderne eine besondere Zuspitzung erfahren. Das hat unter anderem mit der Pluralisierung und den stetigen Kontextwechseln einer modernen Lebensführung zu tun, die eine Einheit der Person scheinbar unmöglich macht. Hinzu kommt, dass das eigene Selbstbild in diesem Umfeld nicht autark ist, sondern durch die soziale Mitwelt geprägt und von dieser auch beeinflusst wird. Das Paradox des modernen Identitätsproblems besteht im Wesentlichen also darin, dass es um eine Einheit kreist, »die unabschließbar, entzweit, ungreifbar und vor allem zugleich dauerhaft angestrebt und fortwährend unerreicht bleibt« 24. In diesem Sinne ist Identität nicht nur ein Konzept, sondern auch ein normativer An-

Vgl. Rosa 2008, 530. Vgl. dazu auch insbesondere Sen, Amartya (2007): Die Identitätsfalle. Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt, Bonn; hier: 33–53. 24 Renn, Joachim/Straub, Jürgen (2002): Transitorische Identität. Der Prozesscharakter moderner personaler Selbstverhältnisse, in: diess. (Hrsg.): Transitorische Identität. Der Prozesscharakter des modernen Selbst, Frankfurt a. M./New York, 10–31; hier: 10. 22 23

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Individuelle und soziale Identität im Spannungsfeld

spruch, den moderne Menschen sowohl an sich selbst als auch an ihr Gegenüber stellen. 25 Diese Normativität wiederum ist Anlass für vielfältige Kritik. Bezeichnend ist etwa der Vorwurf des Identitätszwanges (Theodor W. Adorno) in der Moderne, der aus Sicht der Kritiker auf einem Selbstbeherrschungszwang des Individuums beruht. An dieser Feststellung ist richtig, dass im Kontext der Moderne die Forderung nach Identität bisweilen das Bewusstsein für die »Uneinholbarkeit der Person« bzw. die »Heterogenität und Kontingenz des Daseins und seiner Kontexte« 26 verdrängt hat. Doch die Tatsache, dass der Identitätsbegriff heutzutage oftmals reduktionistisch verwendet wird, bedeutet nicht, dass mit Identität nicht doch ein für den Menschen charakteristisches Bemühen bezeichnet werden kann, dessen Beobachtung und Kommentierung für das Verständnis gesellschaftlicher Prozesse von erheblicher Bedeutung ist. Dies wird beispielhaft in den gesellschafts- und kulturwissenschaftlichen Auseinandersetzungen um das Konzept der personalen Identität deutlich, die zumeist von der Einsicht getragen sind, dass Identität unter den gegenwärtigen sozialen Bedingungen vor allem als eine Art Bestrebung (Aspiration) verstanden werden sollte. 27 Personale Identität ist demnach weniger ein individuelles Konzept, als vielmehr eine soziale Praxis, die »prinzipiell unvollständig und unvollendet« bleibt und somit ein »notorisches Projekt« 28 darstellt. Unter den Bedingungen der Moderne, die aufgrund so verschiedener und sich gleichzeitig doch begünstigender Prozesse wie der funktionalen Differenzierung, der Pluralisierung und der Individualisierung der Gesellschaft keine verbindlichen Antworten mehr bereitzustellen vermag, müssen die Menschen »selbst zusehen, und zwar stets aufs Neue, wer sie (geworden) sind und sein möchten« 29. Dieser Rückbezug auf das Individuum bedeutet aber nicht, dass die Antworten auf die Identitätsfrage beliebig ausfallen und dem sozialen Kontext entzogen bleiben. Im Gegenteil: Die eigene Beantwortung der Identitätsfrage zeitigt im gesellschaftlichen Gefüge immer unmittelbare Konsequenzen und erweist sich in dieser Wechselwirkung soVgl. Renn/Straub 2002, 11. Renn/Straub 2002, 12. 27 Vgl. Straub, Jürgen (2004): Identität, in: Jaeger/Liebsch (Hrsg.): Handbuch der Kulturwissenschaften. Bd. 1, 277–303; hier: 279. 28 Straub 2004, 280. 29 Straub 2004, 280. 25 26

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Das Wechselverhältnis von Identität, Kultur und Symbol

mit als kontingent und folglich auch revisionsbedürftig. Die Frage nach der personalen Identität ist nicht in dem schlichten Sinne aufzuklären, ob es nun zutrifft, dass ein Individuum ein konsistentes Bild seiner selbst entwirft oder nicht. Sie bezieht sich vielmehr auf eine »aspirierte, angestrebte, imaginierte Identität« und stellt somit im Wesentlichen auf die »Konstitution des Handlungspotentials einer Person« 30 ab. Darum betonen einige jüngere Identitätstheorien vor allem den narrativen Charakter personaler Identitätsbildung. 31 Selbstidentifikation beruht demnach auf Erzählungen, in denen Menschen ihre Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu einem konsistenten Selbstbild in der Zeit verknüpfen. Inwieweit dabei jedoch die Kohärenz zum geeigneten Gradmesser für die eigene Identitätskonstruktion bestimmt werden kann, ist umstritten. Denn tatsächlich kann von Identität nicht nur dann gesprochen werden, wenn das eigene Selbstbild über verschiedene Lebensphasen hinweg möglichst stabil bleibt. Ebenso gut lässt sich Identität auch als Fähigkeit zur Balance zwischen Phasen der Kontinuität und des Wandels bzw. der Kohärenz und der Flexibilität beschreiben. 32 Darüber hinaus ist Identitätsbildung nicht nur ein affirmatives Bestreben, sondern beinhaltet auch Momente des Selbstentzuges und des Infragestellens der eigenen Person. Diese Differenzialität von Identität ist nicht zwangsläufig problematisch, sondern wird im kulturwissenschaftlichen Kontext häufig auch als Grundlage für Erfahrungen der Selbsttranszendenz oder als Impuls für Kreativität verstanden. 33 Mit ihr verknüpft sich die Fähigkeit zur Selbstdistanzierung und zur Reflexion des eigenen Ich. Die Tatsache, dass Identität immer auch von Faktoren bestimmt wird, die der Selbstkontrolle entzogen sind, bedeutet aber nicht, dass die Identität einer Person nicht aus der Binnenperspektive qualitativ bestimmt werden kann. Vielmehr ist es ein Hinweis darauf, dass solche Qualifizierungen zumeist unvollkommen, kontingent und relational strukturiert sind. Paul Ricœur hat auf diese Herausforderung mit seiner Unterscheidung einer Identität des idem (des Selben) und des ipse (des Selbst) auf-

Straub 2004, 280/281. Vgl. etwa Taylor, Charles (1996): Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt a. M.; hier: 52–104. 32 Vgl. Rosa 2008, 528/529. 33 Vgl. Straub 2004, 281. 30 31

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Individuelle und soziale Identität im Spannungsfeld

merksam zu machen versucht. 34 Unter idem-Identität versteht er dabei die Selbigkeit einer Person, die immer dann gemeint ist, wenn auf die substanziellen (zumeist körperlichen) Merkmale eines Menschen oder auch dessen überzeitlichen Charakter angespielt wird. Mit der ipse-Identität wird nach Ricœur hingegen das Selbstsein eines Menschen in seiner historischen Kontingenz und Veränderlichkeit beschrieben, dem immer wieder die Beantwortung der Frage Wer bin ich? aufgegeben ist. 35 Identität bleibt somit stets im Status eines Entwurfes, den das Individuum gegenüber sich selbst und seinem sozialen Umfeld entwickelt und den es aufgrund innerer oder äußerer Einflüsse immer wieder kritisch hinterfragt, prüft und überarbeitet. Auf diese Weise ist personale Identität letztlich immer etwas Unvollständiges bzw. Unverfügbares, das sich selbst retrospektiv nie vollständig, sondern nur in Auszügen rekonstruieren lässt. »Jede in der Retrospektive vorgenommene Deskription eines gelebten Lebens ist eine mögliche Beschreibung, eine Symbolisierung unter vielen denkbaren, und selbst […] als Erinnerung, in der das autobiographische und das kommunikative Gedächtnis ineinander greifen […], ist diese Beschreibung polyvalent – in ihrer Bedeutung und ihrem Sinn offen, auslegungsfähig und auslegungsbedürftig« 36. Wer jemand ist bzw. wer er sein möchte, ist natürlich nicht nur eine theoretische, sondern auch eine praktische Frage, bei der die Handlungen des Individuums im Vordergrund stehen. Hier ist zuerst an sprachliche Handlungen zu denken – also an Sprechakte oder an das Schreiben von Texten. Allerdings interessiert in diesem Zusammenhang weniger die deskriptive Dimension solcher Akte der Selbstdarstellung als vielmehr deren praktische Funktion. Denn die Identität einer Person kommt in den verschiedenen Inhalten der Selbstpräsentation letztlich nur sehr bruchstückhaft zum Ausdruck. Wesentlich entscheidender ist die performative Dimension solcher Selbstdarstellungsformen. Identitätsbildung ist demnach nicht allein eine Frage reflexiver Selbstbestimmung, sondern auch sozialer Begegnung und Befragung. »Der Anspruch auf Authentizität und damit unweigerlich die Möglichkeit und Notwendigkeit, sich selbst zu verVgl. Ricœur, Paul (2006): Wege der Anerkennung. Erkennen, Wiedererkennen, Anerkanntsein, Frankfurt a. M.; hier: 134–138. 35 Vgl. Ricœur 2006, 135/136. 36 Renn/Straub 2002, 14. 34

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fehlen, in seinem Sprechen mithin auch zu ›präsentieren‹, dass sich das Selbst stets auch entzieht, rangiert hier weit über dem Anspruch zu sagen, was der Fall ist. Selbstthematisierungen in performativer Einstellung, Selbsterzählungen zumal, sind keine Aussagen mit deskriptiver Funktion, kommunikative Selbstbeziehungen keine Beziehungen eines sich selbst vergegenständlichenden Subjekts zu sich, sondern Bestandteil eines auf Anerkennung zielenden Gesprächs einer Person mit sich selbst und Anderen« 37. Ein solcher Identitätsbegriff steht quer zu Vorstellungen von Identität als einem objektiven Selbstverhältnis und -verständnis. Denn aus der eben geschilderten Sicht, ist das eigene Selbst kein Objekt, von dem man sich in ähnlicher Weise ein Bild machen kann, wie von einem Wahrnehmungsgegenstand. 38 Identität in diesem Sinne ist kein Besitz, sondern das immer wieder vorläufige Ergebnis eines lebenslang fortdauernden Gestaltungsprozesses, der sich stets im Austausch mit sich selbst und der die Person umgebenden sozialen Umwelt vollzieht.

8.3 Die identitätsstiftende Kraft der Symbole Persönliche Objekte – also Objekte, die für die Menschen eine besondere Bedeutung haben – zeichnen sich durch eine spezifische Doppelfunktion aus: Sie haben eine subjektive und eine objektive Dimension. 39 Während die subjektive Dimension immer symbolisch vermittelt ist, weist die objektive zumeist zwei unterschiedliche Ebenen auf: eine praktische und eine symbolische. Dies gilt vor allem für Artefakte, die das Gros der persönlichen Objekte bilden. Tilmann Habermas zeigt dies am Beispiel eines Füllers, der in seiner praktischen Funktion als Schreibutensil dient, auf symbolischer Ebene aber auch eine »altmodische und distinguierte Art des Schreibens« zum Ausdruck bringen kann und somit Rückschlüsse auf die Person zulässt, die den Füller verwendet. 40 Persönliche Objekte erfüllen also nicht nur einen praktischen Zweck, sondern dienen auch der Selbstdarstellung. Dabei ist zu beachten, dass jede Form der Selbstpräsentation zugleich auch soziale 37 38 39 40

Renn/Straub 2002, 16. Vgl. Renn/Straub 2002, 16. Vgl. Habermas 22012, 13. Habermas 22012, 19.

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Die identitätsstiftende Kraft der Symbole

Identität verleiht und somit den individuellen Absichten und Anliegen wenigstens teilweise entzogen bleibt. 41 Dies gilt beispielsweise auch für (religiöse) Kleidung, mit deren Hilfe einerseits unterschiedliche Aspekte des eigenen Selbst zum Ausdruck gebracht (z. B. Geschlecht, Herkunft, soziale Rolle oder sozialer Status), andererseits aber auch gesellschaftlich etablierte Moden und Dresscodes gespiegelt werden. Das so genannte vestimentäre Handeln bzw. Verhalten kann in diesem Sinne sowohl als »Teil von Identitätsprozessen, in denen Kleidung die Nahtstelle zwischen Körper und Aussenwelt, zwischen Individuum und Kollektiv, zwischen Abgrenzung und Zugehörigkeit markiert« 42, verstanden werden, als auch als Form der Kommunikation mit der Außenwelt, die durch die Kleidung über die Trägerin oder den Träger informiert werden soll. 43 Nicht immer jedoch werden persönliche Objekte gezielt zur Selbstdarstellung eingesetzt. Oftmals bleibt ihr Besitz eher unbewusst und wird nur im Falle einer »Störung der Beziehung« 44 zum Objekt relevant. Eine solche Störung kann durch die Person selbst (etwa, wenn man sich am Übergang in einen neuen Lebensabschnitt bewusst von einem Objekt trennt) oder durch äußere Einflüsse hervorgerufen werden (zum Beispiel, wenn das Objekt entwendet oder durch die Umwelt kritisch kommentiert wird). 45 Obwohl es sich bei den persönlichen Objekten zumeist nur um dingliche Gegenstände handelt, kann die Trennung von ihnen drastische Konsequenzen haben. Ein wesentlicher Grund dafür ist, dass sie für die jeweilige Person mehr sind als bloße Dinge und sich nicht jederzeit austauschen oder ersetzen lassen. Persönliche Objekte werden vielmehr »als Teil der eigenen Person erlebt« 46, so dass ein Angriff auf sie oder ihr Verlust als Moment der persönlichen Selbstberaubung oder Entwertung aufgefasst wird. Dies gilt insbesondere dann, wenn die entsprechenden Objekte mit bedeutsamen Quellen Vgl. Habermas 22012, 14. Pezzoli-Olgiati, Daria/Höpflinger, Anna-Katharina (2013): Second Skin. Ein religionstheoretischer Zugang zu Körper und Kleidung, in: Glavac, Monika/Höpflinger, Anna-Katharina/ Pezzoli-Olgiati, Daria (Hrsg.): Second Skin. Körper, Kleidung, Religion, Göttingen, 7–26; hier: 13. 43 Vgl. Eckert, Roland/Würtz, Stefanie (2013): Kleidung als Kommunikation, in: Lüddeckens, Dorothea/Uehlinger, Christoph/Walthert, Rafael (Hrsg.): Die Sichtbarkeit religiöser Identität. Repräsentation – Differenz – Konflikt, Zürich, 77–84; hier: 77. 44 Habermas 22012, 17. 45 Vgl. Habermas, T. 22012, 17/18. 46 Habermas 22012, 18. 41 42

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Das Wechselverhältnis von Identität, Kultur und Symbol

der eigenen Identität, wie etwa religiösen Überzeugungen oder kulturellen Herkünften, verknüpft sind. Entsprechend problematisch sind deshalb beispielsweise auch die Wirkungen einer Stigmatisierung des muslimischen Schleiers durch Teile der Mehrheitsbevölkerung in nicht-muslimischen Gesellschaften. 47 – Und zwar nicht nur dann, wenn sie die religiösen Gefühle der Trägerinnen verletzen, sondern auch, wenn sie deren emanzipatorische Bemühungen um die Etablierung einer neuen weiblichen muslimischen Identität unterminieren. In der Psychologie wird die wesentliche Funktion persönlicher Objekte zumeist in der Unterstützung und Begleitung des Individuationsprozesses gesehen. 48 Dieser Individuationsprozess kann als ein prinzipiell offener Prozess angesehen werden, der immer nur vorläufige Ergebnisse zeitigt. Die Deutung dieser Zwischenergebnisse ist allerdings verschieden. Je nach Perspektive legen sie beispielsweise eine Unterteilung des Lebens in verschiedene Phasen nahe und damit auch verschiedene Zielpunkte. Dabei ist der Prozess der Individuation natürlich eng mit dem Phänomen der Identität verknüpft (allerdings damit nicht deckungsgleich). Um also die Bedeutung persönlicher Objekte für Prozesse der Abgrenzung von oder der Identifikation mit der sozialen Umwelt verstehen zu können, bedarf es eines grundlegenden Blickes auf Theorien, die sich mit der Bildung von Identität befassen. Von großem Einfluss sind hier die bereits kurz beschriebenen Arbeiten Erik H. Eriksons, der einschlägig zum Identitätsphänomen gearbeitet und geforscht hat. 49 Erikson geht davon aus, dass auch die Identitätsbildung ein Prozess ist, der prinzipiell unabschließbar bleibt. Der Hauptgrund dafür ist, dass der Begriff der Identität eigentlich keinen Zustand, sondern vielmehr eine nie vollständig erreichbare Idealnorm beschreibt. 50 Wie sich Identität ausbildet, lässt sich demnach nur durch verschiedene, bisweilen gegenpolige Begriffe beschreiben, deren Variationsbreite den Rahmen vorgibt, in dem sich ein Gefühl der Identität üblicherweise einstellt: 51

Zur Stigmatisierung des Kopftuches vgl. Kreutzer, Florian (2015): Stigma »Kopftuch«. Zur rassistischen Produktion von Andersheit, Bielefeld. 48 Vgl. Habermas 22012, 19. 49 Besonders einflussreich in diesem Zusammenhang ist Eriksons Werk Identität und Lebenszyklus. Vgl. Erikson 262013. 50 Vgl. Erikson 262013, 123–212. 51 Vgl. dazu nachfolgend Habermas 22012, 23–25. Habermas bezieht sich hier aus47

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Die identitätsstiftende Kraft der Symbole

Dazu zählt, erstens, das Bedürfnis nach Distinktion, also der Unterscheidbarkeit von anderen, und der damit verknüpfte Wunsch, als einzigartig wahrgenommen zu werden. Dem gegenüber stehen aber auch das Verlangen nach Zugehörigkeit und die Hoffnung, als gleich angesehen und anerkannt zu werden. Identität lässt sich, zweitens, über Kontinuität definieren, wobei die Extrempositionen hier von permanenter Wandlungsfähigkeit bis zur weitgehenden Unveränderbarkeit reichen. Im Idealfall meint Gleichheit mit sich selbst vor allem »den Erhalt des Gleichen im Wandel« 52. Drittens gehört zum Phänomen der Identität die Autonomie, die sich psychologisch gesehen im Wechselspiel von Selbst- und Fremdbestimmung ausbildet und im Wesentlichen die Fähigkeit meint, Handlungen zu beginnen und damit auf die Umgebungswelt Einfluss zu nehmen. Identität ist, viertens, ein körperliches Phänomen, denn der Körper ist gleichsam die »materielle Basis der psychosozialen Identität« 53. Zudem geht es bei Identität, fünftens, immer auch um Selbstbewertung. Ein zentraler Aspekt dabei ist das Selbstwertgefühl, das idealerweise weder zu gering noch zu ausgeprägt sein sollte. Im ersten Fall hemmt es die Initiative und verhindert eine angemessene Selbstentfaltung, im zweiten Fall vermindert es die Lernbereitschaft und führt im Extremfall zu Realitätsverlust. Schließlich hat Identität, sechstens, immer eine subjektive und eine objektive Dimension, wobei dies nicht wertend zu verstehen ist. Von objektiver Identität kann deshalb auch dann die Rede sein, wenn die Identität einem bewussten Selbstreflexionsprozess entspringt. Subjektive Identität hingegen meint eher eine unmittelbare emotionale Beziehung zum Selbst (ein Selbstgefühl). 54 Das Selbstgefühl bildet auch den geeigneten Ausgangspunkt für eine Analyse unserer Beziehung zu den Dingen. Diese Beziehung ist äußerst komplex und weist verschiedene kulturelle, soziale und tiefenpsychologische Facetten auf. 55 So erscheinen Gegenstände zunächst als kulturelle Produkte, die sich spezifischen historischen Entwicklungen verdanken und auf eine bestimmte Weise Verwendung finden. Diese Verwendungsweise ist allerdings nicht starr festgelegt, sondern kann variieren. Ein Kopftuch beispielsweise kann der Verdrücklich auf Erikson und die von ihm in verschiedenen Werken erarbeiteten unterschiedlichen Identitätsaspekte. 52 Habermas 22012, 23. 53 Habermas 22012, 24. 54 Vgl. Habermas. 22012, 25. 55 Vgl. Habermas. 22012, 28.

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Das Wechselverhältnis von Identität, Kultur und Symbol

hüllung der Haare dienen, es kann aber auch als Schutz vor Hitze oder Staub verwendet werden. In welcher Weise es ge- oder benutzt wird, hängt also nicht nur vom kulturellen Kontext ab, sondern auch vom jeweiligen Nutzer. Zumeist verwenden Menschen Dinge im Sinne eigener Wünsche und Bedürfnisse. Dennoch existieren häufig genaue Regeln dafür, wie Gegenstände richtig eingesetzt werden. Dies gilt nicht nur für technische Geräte, die andernfalls möglicherweise gar nicht funktionieren würden, sondern auch für Dinge, die grundsätzlich nicht auf eine besondere Verwendungsweise festgelegt sind. Es gibt also gesellschaftliche Standards, wie mit Objekten umzugehen ist. Von diesen Standards kann sich das Individuum im je spezifischen Umgang freilich lösen; es ist gleichzeitig aber immer herausgefordert, sich zu diesen Standards zu verhalten – sei es befürwortend oder verweigernd. Denn, wie Tilmann Habermas treffend zusammenfasst: »Selbsterleben ist nicht stringent ohne Verweis auf eine Umwelt zu thematisieren, die Beziehung zur Umwelt nicht auf eine asymbolisch-räumliche zu beschränken, die symbolische Bedeutung von Dingen nicht ohne Verweis auf signifikante Andere möglich« 56.

56

Habermas 22012, 28.

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9. Symbole und die Gefahr ihrer politischen Instrumentalisierung

Es ist deutlich geworden, dass nicht nur der Identitätsbildungsprozess des Menschen symbolisch vermittelt ist – etwa durch zwischenmenschliche Kommunikation –, sondern dass sich auch das Identitätsbewusstsein selbst an Symbole knüpft. Damit können materielle Gegenstände (z. B. ein Kruzifix oder ein Kopftuch) ebenso gemeint sein, wie alltägliche Routinen, gesellschaftliche Normen oder religiöse Rituale. In all diesen Prozessen hat der einzelne Mensch keine vollständige Verfügungsgewalt über die Symbole, da sie immer auch Teil eines soziokulturellen Bedeutungsgefüges sind, das eigenen inneren Gesetzmäßigkeiten gehorcht und erst die Kontrastfolie bildet, auf deren Hintergrund die jeweiligen symbolischen Ausdrucksformen realisiert werden können. Soziale Strukturen spiegeln dieses charakteristische Wechselverhältnis wider, indem sie einerseits eine Rahmenordnung vorgeben, in der sich symbolische Formen realisieren lassen, und andererseits selbst wieder zur Quelle symbolischer Repräsentationen werden. Pierre Bourdieu hat dieses Phänomen mit seinem Habitus-Konzept, das die sozialen Verhältnisse sowohl abbildet als auch wieder neu erzeugt, anschaulich dargelegt. 1 Dieser charakteristische Aneignungs- und Modulierungsvorgang des Symbolischen zeigt, dass soziale Praktiken und Strukturen nicht nur symbolisch repräsentierbar, sondern auch manipulierbar sind. Besonders deutlich wird dies in der Sprache. Sie ist im alltäglichen Leben das relevanteste Austauschmedium symbolischer Bedeutungsgehalte und in dieser Funktion auf Verständigung ausgelegt. Gelungene Kommunikation findet immer dann statt, wenn das Gegenüber den Sinngehalt der gesprochenen oder geschriebenen Worte in der intendierten Form decodieren kann. Soziale Kommunikationsformen dienen aber nicht nur dazu, einfache Informationen auszutauschen, sondern zielen auch darauf ab, das Handeln der Mit1

Vgl. Hülst 1999, 345.

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Symbole und die Gefahr ihrer politischen Instrumentalisierung

menschen zu beeinflussen. In solchen Mechanismen werden dann Macht- und Kontrollstrukturen sichtbar, die vor allem auch politische Akteure für sich zu nutzen wissen. 2 Ein Ausdruck dieser interessengeleiteten Kommunikation ist die sogenannte Symbolpolitik 3, deren grundlegendes Ziel darin besteht, mit Hilfe von Symbolen (hier im Sinne von Zeichen, Gesten, Handlungen etc.) politischen Einfluss zu gewinnen. Dabei konzentriert sie sich in der Regel auf eine bildhafte Verdichtung politischer Inhalte. Symbolpolitik ist folglich eine Sonderform politischer Kommunikation, in der es weniger um bloße Verständigung geht, als um die Durchsetzung bestimmter Interessen. Dieser Umstand allein diskreditiert Symbolpolitik noch nicht, sondern macht sie vielmehr zu einem integralen Bestandteil politischer Öffentlichkeit. 4 Unbestritten ist allerdings auch, dass Symbolpolitik von politischen Akteuren gezielt eingesetzt wird, um Unterstützung für die eigenen Belange zu gewinnen. Die Symbole dienen dabei sowohl der Vereinfachung der Inhalte als auch der Emotionalisierung der potenziellen Wählerschaft. Dies kann im positiven Sinne Interesse wecken und dazu beitragen, die Menschen politisch zu mobilisieren. 5 Als Machtinstrument politischer Eliten kann Symbolpolitik allerdings auch dazu genutzt werden, Tatsachen zu verschleiern und politische Kommunikation systematisch zu verzerren. 6 Eine manipulative Symbolpolitik arbeitet häufig mit eindeutigen binären Codes: gut – böse oder wahr – falsch. Auf gesellschaftlicher Ebene treibt sie damit desintegrative Prozesse voran, die kulturelle, religiöse oder auch sozio-ökonomische Differenzen unter der Bevölkerung betonen. Dabei werden oftmals Medien (im Sinne von Symbolträgern) verwendet, die besonders tiefverwurzelte kulturelle Wertvorstellungen repräsentieren und damit die Gefühlsebene der Menschen in besonderer Weise berühren. Eine derart instrumentelle Symbolpolitik trägt nicht selten Züge politischer Propaganda und Vgl. Hülst 1999, 349–351. Vgl. dazu grundlegend Edelman, Murray (32005): Politik als Ritual. Die symbolische Funktion staatlicher Institutionen und politischen Handelns, Frankfurt a. M./ New York. 4 Vgl. Sarcinelli, Ulrich (32011): Politische Kommunikation in Deutschland. Medien und Politikvermittlung im demokratischen System, Wiesbaden, 137/138. 5 Vgl. Sarcinelli 32011, 144–148. 6 Vgl. Meyer, Thomas (1992): Die Inszenierung des Scheins. Voraussetzungen und Folgen symbolischer Politik, Frankfurt a. M., 177. 2 3

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Individualisierungstendenzen im Zeitalter fortschreitender Pluralisierung

dient zumeist der Aufrechterhaltung etablierter gesellschaftlicher Machtstrukturen. In diesem Sinne weist sie eine gewisse Nähe zu Bourdieus Konzept der symbolischen Gewalt auf. Doch während sich symbolische Gewalt zumeist subtil in sozialen Strukturen offenbart und dadurch nicht wirklich als offene Gewalt in Erscheinung tritt, hebt eine propagandistische Symbolpolitik soziale Differenzen bewusst hervor, um dadurch offene Konflikte heraufzubeschwören. Die Einlassungen zum Phänomen des Fundamentalismus am Ende dieses Kapitels sollen das zumindest auszugsweise verdeutlichen.

9.1 Individualisierungstendenzen im Zeitalter fortschreitender Pluralisierung Zum Schicksal des modernen Menschen gehört es, in einer zweifachen Weise frei zu sein. Als Träger gleicher Rechte ist er frei, er selbst zu sein und seine Individualität (hier vor allem verstanden als individuelle Freiheit) auszuleben; er besitzt also die »Freiheit zur Individualität« 7. Damit geht aber auch unmittelbar der zweite Aspekt von Freiheit einher, nämlich fortan auch frei von einem einheitlichen und sinnvermittelnden Orientierungsrahmen zu sein. Dieser Zustand wiederum ermöglicht zwar eine eigenständige Lebensführung, nötigt aber auch dazu, Entscheidungen zu treffen – und zwar in einem multioptionalen Rahmen, in dem sämtliche Alternativen zunächst einmal gleichrangig sind. 8 Diese doppelte Freiheit des Individuums hat nicht nur Konsequenzen für die individuelle Lebensführung, sie nimmt auch Einfluss auf die sozialen Strukturen. Während frühere Lebenswelten stärker geordnet waren und jedem Individuum einen mehr oder weniger festen Platz zuwiesen, sind moderne Lebenswelten weitaus segmentierter. Die eine Welt, mit ihren klar strukturierten Anforderungen an den Einzelnen, ist heute den vielen Welten gewichen. Diese vielen Welten stellen noch immer spezifische Anforderungen an das Individuum, die nun allerdings alle gleichzeitig erfüllt werden müssen. Peter L. Berger hat diesen Trend, der zudem noch mit einer Vervielfältigung der Handlungsoptionen für den Einzelnen einhergeht,

7 8

Abels 22010, 245. Vgl. Abels 22010, 245/246.

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Symbole und die Gefahr ihrer politischen Instrumentalisierung

mit dem Ausdruck: »Modernität pluralisiert« 9 zu fassen versucht und damit den Pluralisierungsbegriff als Beschreibung für moderne Lebenswelten etabliert. Positiv gewendet erweitert die Pluralisierung der Lebenswelt die Handlungsmöglichkeiten der Menschen und ermöglicht somit einen Zugewinn an Freiheit. Kritisch betrachtet lösen sich in ihr allerdings auch die Verbindlichkeiten einer einheitlichen Vernunft oder die vormals gemeinsam geteilten moralischen Einstellungen auf. Der größeren Freiheit auf der einen Seite steht also auch ein größerer Entscheidungsdruck auf der anderen Seite gegenüber. Wobei die Pluralisierung dem Einzelnen zusätzlich die Last der richtigen Wahl (aus den zur Verfügung stehenden Optionen) und der angemessenen Folgenabschätzung aufbürdet. 10 Ulrich Beck hat vor diesem Hintergrund drei zentrale Aspekte der Individualisierung für die gegenwärtige Epoche herausgearbeitet: (1) die Freisetzungsdimension, (2) die Entzauberungsdimension und (3) die Kontroll- bzw. Reintegrationsdimension. 11 Unter Freisetzung versteht Beck die »Herauslösung« des Individuums aus traditionellen Sozialformen und Bindungen. Mit Entzauberung beschreibt er den »Verlust von traditionalen Sicherheiten«, die er beispielsweise mit dem Glauben oder verbindlichen Werten assoziiert. Und unter Reintegration fasst er eine »neue Art der sozialen Einbindung« 12, die durch die moderne Lebensführung (z. B. durch Arbeit und Konsum) hervorgerufen wird. Mit Ulrich Beck lässt sich Individualisierung deshalb auch nicht als subjektive Emanzipationsleistung begreifen, sondern muss vielmehr als eine objektive Lebenslage verstanden werden, in der sich die Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft vor dem Hintergrund der genannten Aspekte wandelt. 13 Individualisierung ist demnach ein Prozess, in dem die Selbstbestimmung des Individuums zu- und seine Fremdbestimmung abnimmt. 14 Dies zeigt sich insbesondere in den strukturellen und kulturellen Wandlungsprozessen des 20. Jahrhunderts. Auf struktureller Berger, Peter L. (1992): Der Zwang zur Häresie. Religion in der pluralistischen Gesellschaft, Freiburg i. B., 28. 10 Vgl. Abels 22010, 424. 11 Vgl. Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a. M., 206. 12 Beck 1986, 206. 13 Vgl. Beck 1986, 207. 14 Vgl. Pollack, Detlef (2008): Individualisierung, in: Gosepath/Hinsch/Rössler 9

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Individualisierungstendenzen im Zeitalter fortschreitender Pluralisierung

Ebene etwa haben Individualisierungsprozesse zu einem Rückgang herkömmlicher familialer, politischer oder religiöser Bindungen geführt, während auf kultureller Ebene vor allem eine Abnahme traditionaler Wertorientierungen festzustellen ist. Dadurch sind die vormals rahmengebenden Strukturen von Familie, bürgerlicher Gemeinschaft und kirchlicher Religion nicht verschwunden, sondern haben lediglich ihren übergreifend-normierenden Status verloren. Die Individualisierung hat hier also, wie Detlef Pollack schreibt, zu einer »Entstandardisierung von sozialen Strukturen und Kulturformen« 15 geführt. Die Tatsache, dass in der Moderne soziokulturelle Standards stärker in den Hintergrund treten und der Individualisierungsprozess große individuelle Freiräume zu kreieren vermag, führt nicht zwingend dazu, dass die neugewonnenen Handlungsmöglichkeiten von den Individuen auch genutzt werden. Das hat einerseits mit der Zählebigkeit sozio-struktureller und kultureller Muster zu tun, die auch dann noch subjektive Bindungskräfte entfalten, wenn deren objektive Wirksamkeit schon zurückgeht. 16 Andererseits gehen soziale Freisetzungsprozesse oftmals auch mit individuellen Verunsicherungen einher, und es fehlt am nötigen Selbstbewusstsein, um die gewonnenen Spielräume auch nutzen zu können. Individualisierung kann in solchen Fällen auch zu einer Überforderung werden, an der Individuen zu scheitern drohen. Eine Strategie, um solchen Überforderungserfahrungen zu begegnen, bietet der Rückzug in den Bereich des Privaten. Dort lässt sich eine Heimat konstruieren, in der der Einzelne Abstand zu den vielfältigen Anforderungen eines individualisierten Alltagslebens gewinnen und sich einen eigenen Sinnhorizont schaffen kann. Inwieweit diese Flucht tatsächlich gelingen kann, bleibt angesichts einer fortschreitenden »Urbanisierung des Bewusstseins« 17 und der Allgegenwart der Massenmedien jedoch zweifelhaft, zumal sich diese beiden Effekte noch wechselseitig verstärken. So hält der urbane Le(Hrsg.): Handbuch der Politischen Philosophie und Sozialphilosophie. Bd. I, A–M, Berlin, 538–542; hier: 538. 15 Pollack 2008, 540. 16 Vgl. Pollack 2008, 541. 17 Unter der »Urbanisierung des Bewusstseins« verstehen die Autoren die Durchsetzung eines urbanen Lebensstils, der sich unter anderem durch eine gewisse Offenheit und Flexibilität des Denkens und eine souveräne Distanz zu den Widersprüchlichkeiten der Erfahrungen auszeichnet. Vgl. Berger, Peter L./Berger, Brigitte/Kellner, Hansfried (1987): Das Unbehagen in der Modernität, Frankfurt a. M./New York, 62.

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Symbole und die Gefahr ihrer politischen Instrumentalisierung

bensstil mit Hilfe der Massenmedien auch Einzug in die Privatsphäre der Menschen und schwächt die Unversehrtheit dieser heilen Welt. 18 Wo der Rückzug ins Private keine Option darstellt, müssen die (spät)modernen Menschen auf das Fehlen vorgegebener Strukturen und Orientierungsmuster reagieren. Nach Peter L. Berger und seinen Co-Autoren verlangt das die Ausbildung eines hohen Reflexionsniveaus. Denn anders als in den traditional-integrierten Gesellschaften, in denen viele Entscheidungen strukturell eingebunden und somit vorgegeben sind, nötigt ein modernes, desintegriertes Lebensumfeld den Individuen fortlaufend selbstverantwortete Entscheidungen ab. Der moderne Mensch wird mit ständig wechselnden Erfahrungen konfrontiert, die ihn immer wieder dazu auffordern, neue Pläne und Strategien für ein gelingendes Leben zu entwickeln. 19 Den darin sichtbar werdenden Mangel an Selbstverständlichkeiten muss er dann dahingehend ausgleichen, dass er sich stets reflexiv in der Welt verortet. Auf diese Weise wird das Individuum sich einerseits seiner Distanz zur Welt bewusst und andererseits der vielfältigen Erwartungen, die an die verschiedenen Rollen seiner Existenz gerichtet werden. Fasst man diese Überlegungen zusammen, fügen sich die verschiedenen Aspekte von Individualisierung zu einem ambivalenten Bild zusammen. Den Chancen zur Selbstverwirklichung auf der einen stehen die Risiken des Orientierungsverlustes auf der anderen Seite gegenüber. Zudem wächst dem einzelnen durch die Vergrößerung seiner individuellen und gesellschaftlichen Gestaltungsspielräume mehr Verantwortung zu. In systematischer Perspektive hat Verantwortung immer auch etwas mit Verpflichtung zu tun. Wer verantwortungslos handelt, hat seine Pflichten vernachlässigt. Pflichten wiederum sind Ausdruck »der gemeinschaftlichen Pflege von etwas […] was das Ethos einer Gemeinschaft ausmacht« 20. Gerade dieses gemeinschaftliche Ethos wird jedoch unter dem modernen Paradigma der Individualisierung brüchig, und es ist deshalb ungeklärt, aus welchem Wertereservoir sich eine gemeinschaftlich empfundene Verpflichtung zur Verantwortung gegenwärtig noch speisen sollte. Eben diese Sorge motiviert auch die kommunitaristische Kritik

Vgl. Berger/Berger/Kellner 1987, 62. Vgl. Berger/Berger/Kellner 1987, 71/72. 20 Bartuschat, Wolfgang (2008): Pflicht, in: Gosepath/Hinsch/Rössler (Hrsg.): Handbuch der Politischen Philosophie und Sozialphilosophie. Bd. II, N–Z, Berlin, 981–985; hier: 981. 18 19

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Die Macht der Symbole und die Risiken symbolischer Politik

am liberalen Individualismus, der – so etwa die These Charles Taylors 21 – vor allem eine negative Form der Freiheit gewährt. Diese negative Freiheit besteht auf politischer Ebene in einer weitreichenden Freiheit von Zwängen und auf ökonomischer Ebene in einer breiten (Aus-)Wahlfreiheit. Beide Aspekte sind wichtig, werden allerdings der Freiheit an sich nur bedingt gerecht. Denn auch für moderne Individuen erschöpft sich Freiheit nicht allein darin, zum Beispiel aus mehr als einhundert Fernsehsendern auswählen zu können. Von Freiheit kann aus kommunitaristischer Sicht nur dann die Rede sein, wenn den Menschen bedeutungsvolle Entscheidungen ermöglicht werden und sie selbst gestaltend (politisch) tätig werden können. Erst dann ist der negativen auch eine positive Freiheit an die Seite gestellt. Findet diese Erweiterung des Freiheitsverständnisses allerdings nicht statt, erschöpft sich Freiheit nur allzu leicht in einer Pflicht zur Wahl; und diese befreit nicht, sondern forciert vielmehr die Verunsicherungen der Menschen. Sichtbar wird dies, wie Michael Walzer anschaulich gezeigt hat, unter anderem in den gewachsenen Mobilitätsanforderungen an die Menschen, die sich heutzutage nicht nur bei der Wahl ihres Arbeitsplatzes, sondern auch mit Blick auf ihren sozialen Stand, die partnerschaftliche Bindung oder die politische Repräsentation ständig neu entscheiden müssen. 22

9.2 Die Macht der Symbole und die Risiken symbolischer Politik In modernen Gesellschaften fehlt es den Menschen also an einer einheitlichen Erfahrungswelt, die über gemeinsam geteilte Wert- und Normvorstellungen Sinn und Orientierung stiftet. Diese Entwicklung ist einerseits das Ergebnis einer Freisetzung des Individuums aus überkommenen Strukturen, andererseits aber auch die Konsequenz jenes Entzauberungsprozesses, in dessen Folge traditionelle Norm- und Wertvorstellungen ihre gemeinschaftsstiftende Kraft weitgehend eingebüßt haben. Dies führt dazu, dass in modernen Gesellschaften unterschiedliche Weltanschauungen und WertorientieVgl. Taylor, Charles (1992): Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus, Frankfurt a. M., 118–144. 22 Vgl. Walzer, Michael (1990): The Communitarian Critique of Liberalism, in: Political Theory (18/1), 6–23; hier: 11/12. 21

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Symbole und die Gefahr ihrer politischen Instrumentalisierung

rungen nebeneinander existieren, die es dem Individuum prinzipiell 23 ermöglichen, eine Wahl zu treffen und nicht auf einen bestimmten Lebensentwurf hin festgelegt zu sein. Für den modernen Menschen bringt dies aber auch die Herausforderung mit sich, seine »Biographie selbst herstellen, inszenieren, zusammenflickschustern« 24 zu müssen. Dieser Umstand lässt sich zum einen natürlich als Chance zur individuellen Lebensgestaltung jenseits traditionaler Konformitätszwänge begreifen, konfrontiert den Einzelnen aber auch mit dem Risiko, falsche Entscheidungen treffen zu können und missglückte Lebensentwürfe selbst verantworten zu müssen. 25 Wo überkommene Eindeutigkeiten fehlen und es gleichzeitig schwer fällt, sich aus einer Vielzahl an Angeboten für einen bestimmten sinnvermittelnden Orientierungsrahmen zu entscheiden, nehmen Identitätskonstruktionen häufig die Gestalt einer »Loseblattsammlung« 26 an. In dieser werden viele Überzeugungen, Werte und Wissensbestände zusammengetragen, die der Einzelne für wichtig hält, und doch besitzt jeder ein hintergründiges Gefühl dafür, dass seine Sammlung Lücken hat und er nicht alle notwendigen Parameter überblicken kann. Ein solches übergeordnetes systematisches Wissen ist im Kontext einer sich selbst reflexiv gewordenen Moderne allerdings auch gar nicht mehr möglich. 27 Denn unter den fluiden Bedingungen der Gegenwart lassen sich gewonnene Erkenntnisse immer nur als Zwischenergebnis betrachten. Wahrheit kann unter diesen Umständen ebenfalls keine Erkenntniskategorie mehr sein, und das moderne Individuum bleibt auf eine bloße Kontingenzperspektive zurückverwiesen. Vor diesem Hintergrund unterliegt auch das Feld des Politischen in der Moderne einem anhaltenden Transformationsprozess. Der zeitgenössischen Fokussierung auf das Individuum entsprechend,

Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Wahlfreiheit aufgrund nach wie vor wirksamer gesellschaftlicher und kultureller Bindungskräfte tatsächlich deutlich eingeschränkter sein dürfte, als dies hier in systematischer Absicht einmal unterstellt wird. 24 Beck, Ulrich (1993): Die Erfindung des Politischen. Zu einer Theorie reflexiver Modernisierung, Frankfurt a. M., 150. 25 Vgl. Schimank, Uwe (2002): Das zwiespältige Individuum. Zum Person-Gesellschaft-Arrangement der Moderne, Wiesbaden, 7/8. 26 Abels 22010, 240. 27 Vgl. Beck, Ulrich/Giddens, Anthony/Lash, Scott (1996): Reflexive Modernisierung – Eine Kontroverse, Frankfurt a. M., 19–34. 23

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Die Macht der Symbole und die Risiken symbolischer Politik

rücken dabei seit einigen Jahrzehnten vor allem die Motive politischer Akteure in den Vordergrund politikwissenschaftlicher Untersuchungen. Dabei geht es im Wesentlichen um eine subjektive Dimension von Politik, die sich beispielsweise auf Fragen der Wertorientierung politischer Akteure konzentriert und insbesondere die politische Sprache und Kommunikation reflektiert. Daran anschließend stellt sich dann auch die Frage nach dem politischen Umgang mit Symbolen und deren Instrumentalisierung für politische Interessen. Hierbei geht es nicht nur um die politischen Akteure selbst, sondern auch um die Wählerinnen und Wähler, deren Gunst sie nicht zuletzt durch eine geschickte Symbolpolitik zu gewinnen suchen. 28 Trotz des zuletzt wiedererwachten Interesses an der Thematik ist Symbolpolitik kein neues Phänomen. Symbolische Inszenierungen hat es zu allen Zeiten gegeben, und immer wurden sie auch als solche wahrgenommen bzw. gezielt zum Zwecke der Inszenierung eingesetzt. Beispiele dafür reichen von einer vergegenständlichten Symbolpolitik, wie sie etwa in der Architektur oder der Mode früherer Epochen zu beobachten ist (man denke nur an die großen Residenzen, die sich die Herrschenden erbauen ließen, und die besonderen Roben, die sie trugen), bis hin zu einer praktischen Symbolpolitik, die sich in besonderen Handlungen offenbart. Im Unterschied zur Gegenwart war die vormoderne Symbolpolitik allerdings zumeist weniger heimliche Verstellung als vielmehr demonstrative Zur-Schau-Stellung. Wenn sie dennoch einmal der Verstellung diente, ging es in der Regel darum, die Handlungsmotive zu verbergen, nicht aber um eine Verdunkelung der Realitäten. 29 Dies ist im gegenwärtigen Medienzeitalter mit seinen veränderten technischen Möglichkeiten der Kommunikation und des Informationsaustausches anders. Moderne Kommunikationsformen und -mittel erlauben es, politische Schein-Realitäten zu entwerfen und reale Sachverhalte in den Hintergrund treten zu lassen. 30 Im Unterschied zur faktischen Politik, die sich in konkreten Handlungen manifestiert, bleibt Symbolpolitik dabei zunächst auf Worte, Bilder und

Vgl. Voigt, Rüdiger (1989): Mythen, Rituale und Symbole in der Politik, in: ders. (Hrsg.): Symbole der Politik, Politik der Symbole, Opladen, 9–37; hier: 17. 29 Vgl. Meyer 1992, 22–27. 30 Mit Jean Baudrillard lässt sich sogar behaupten, dass die zeitgenössische Medienkultur an sich im Wesentlichen auf Simulation bzw. Täuschung beruht; vgl. Baudrillard, Jean (1978): Kool Killer oder Der Aufstand der Zeichen, Berlin, 97–100. 28

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Symbole und die Gefahr ihrer politischen Instrumentalisierung

Gesten beschränkt. 31 Dennoch kann auch Symbolpolitik reale Gestalt annehmen. Dies hängt im Wesentlichen davon ab, inwieweit es den politischen Akteuren gelingt, ihren symbolischen Gesten eine »Aura von Faktizität« 32 zu verleihen oder nicht. Je eher also beispielsweise einer politischen Provokation auch Taten folgen können, desto eher wird Symbolpolitik zu Realpolitik. Versucht man Symbolpolitik systematisch zu fassen, fallen besonders drei Charakteristika auf: 33 (1) Symbolpolitik dient der Emotionalisierung; d. h. eine Politik, die besonders häufig auf symbolische Gesten, eingängige Metaphern oder bildhafte Zeichen zurückgreift, möchte die Menschen vor allem auf einer emotionalen Ebene ansprechen. Rationale Argumente, die im demokratischen Politikbetrieb für gewöhnlich hoch geschätzt werden, treten hier in den Hintergrund. Etwas zugespitzt könnte man das auf die Formel bringen: Nicht das bessere Argument, sondern die besseren Bilder sollen überzeugen. (2) Symbolpolitik ist ein Mittel der Geltungssüchtigen bzw. Machthungrigen. Damit soll ausgedrückt sein, dass sich vor allem diejenigen der Symbolpolitik bedienen, denen die damit erzeugten Emotionalisierungen und Verunsicherungen der Bevölkerung nutzen. Neben Autokraten, die damit ihre Macht festigen wollen, sind dies in demokratischen Strukturen häufig oppositionelle Kräfte, die mittels Symbolpolitik ihre Einflusssphäre erweitern möchten. Mitunter zählen aber auch etablierte Politiker, die um ihre Macht fürchten, zu dieser Gruppe. (3) Symbolpolitik ist in hohem Maße effizient. Wer Symbolpolitik einsetzt, zielt also darauf, mit möglichst geringem Aufwand einen größtmöglichen Effekt zu erzielen. Eine sachliche Entsprechung dazu findet sich in der geläufigen Floskel: Ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Zudem ist die Effizienz ein Beleg dafür, dass es in der Symbolpolitik im Wesentlichen um Komplexitätsreduktion und mithin um die Verschleierung von Tatsachen geht.

Vgl. Jessen, Jens (2006): Symbolische Politik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (56/20), 3–6; hier: 3. 32 Geertz 1987, 48. Bei der Lektüre von Geertz’ Text über Religion als kulturelles System offenbart sich eine bemerkenswerte Nähe zwischen religiöser und politischer Symbolik. 33 Diese Aufzählung ist idealtypisch zu verstehen; sie ist also weder vollständig noch beansprucht sie das Auftreten der genannten Aspekte in Reinform. Gedanklich inspiriert ist sie vom bereits zitierten Essay von Jens Jessen. Vgl. Jessen 2006. 31

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Die Macht der Symbole und die Risiken symbolischer Politik

Um insbesondere den Aspekt der Komplexitätsreduktion und der Verschleierung in der Symbolpolitik zu veranschaulichen, soll hier noch einmal kurz rekapituliert werden, dass es zum Wesen von Symbolen gehört, einerseits selbst in Erscheinung zu treten, andererseits aber auch auf etwas Nicht-Präsentes zu verweisen. Im alltäglichen Leben sind die Beispiele dafür geläufig: Eine spezielle Abfolge von Ziffern verweist auf unseren Herkunftsort, eine bestimmte Buchstabenfolge steht für eine uns bekannte Person, ein Plakat weckt in uns die Vorfreude auf den nächsten Kinobesuch. Wenn hingegen von Symbolen in der Politik die Rede ist, sind die Dinge oftmals komplizierter. Hier reicht das Spektrum symbolischer Handlungen vom Kuss für den Parteigenossen, bis hin zum politisch motivierten Mord, mit dem oppositionelle Kräfte eingeschüchtert werden sollen. 34 Die Symbolik liegt dabei nicht unbedingt in der Tat als solcher, sondern resultiert aus dem Gesamtzusammenhang. Es handelt sich dabei also um eine »soziale Relation« 35. Dementsprechend genügt es auch nicht, Symbole als bloße Vehikel von Vorstellungen zu begreifen. 36 Gerade im Bereich des Politischen transportieren sie nicht nur Vorstellungen, sondern auch Gefühle oder Wertungen. Dies ändert freilich nichts an der grundsätzlichen Stellvertreterfunktion von Symbolen; aber es ändert etwas daran, was die Repräsentationen im Einzelnen letztlich hervorrufen (also welche Gedanken, Emotionen oder Reflexe). Entsprechend wichtig ist es auch, über den politischen Ge- oder Missbrauch von Symbolen nachzudenken. Denn gerade symbolisches Handeln deutet die intendierten Verweisungszusammenhänge oftmals nur an, verdeckt sie oder versucht sogar, sie bewusst zu verstellen. Deshalb stellt sich auch mit Blick auf symbolische Politik die Frage, inwieweit sie überhaupt mit den klassischen Symboldefinitionen beschrieben werden kann. Denn wenn ein Symbol prinzipiell auf Zusammenhänge verweist, symbolische Politik aber in der Regel solVgl. Meyer 1992, 50/51. Meyer 1992, 52. 36 Eine entsprechende Definition stammt von Susanne K. Langer, bei der es heißt: »Symbole sind nicht Stellvertretung ihrer Gegenstände, sondern Vehikel für die Vorstellung von Gegenständen. Ein Ding oder eine Situation sich vorstellen, ist nicht das gleiche wie sichtbar ›darauf reagieren‹ oder ihrer Gegenwart gewahr sein. Wenn wir über Dinge sprechen, so besitzen wir Vorstellungen von ihnen, nicht aber die Dinge selber, und die Vorstellungen, nicht die Dinge, sind das, was Symbole direkt ›meinen‹.« (Langer, Susanne K. (1984): Philosophie auf neuem Wege. Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst, Frankfurt a. M., 69). 34 35

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Symbole und die Gefahr ihrer politischen Instrumentalisierung

che Zusammenhänge nur suggeriert, denn bleibt Symbolpolitik letztlich bloße Inszenierung, die nur für sich selber spricht und auf nichts anderes hindeutet. 37 Sind politische Symbole also nur fingierte Symbole? Die eindeutige Antwort darauf lautet: nein. Allerdings ist das, was sie symbolisieren nicht wirklich, sondern fiktiv. Das Trugbild, das sie heraufbeschwören, haftet ihnen nicht selbst an, sondern ergibt sich erst aus ihrer Verwendung. 38 Ein anschauliches Beispiel dafür, wie symbolische Politik funktioniert, bieten fundamentalistische Bewegungen, die sich – selbst wenn sie religiös argumentieren – beinahe ausschließlich einer verzerrten Kommunikation bedienen. In ihnen werden geradezu paradigmatisch asymmetrische Kommunikationsmöglichkeiten dafür missbraucht, bestimmte Zwecke durchzusetzen. Gläubige oder politische Anhänger werden nicht informiert, sondern gezielt politisiert und aufgewiegelt. Die Sprache dient dabei weniger der Verständigung als vielmehr der Indoktrination. Gleiches gilt auch für Zeichen und gegenständliche Symbole, die in solchen Bewegungen häufig reetikettiert und für propagandistische Zwecke dienstbar gemacht werden.

9.3 Fundamentalismen als konkrete Gefahr und Herausforderung Seitdem der Fundamentalismus-Begriff Einzug in den modernen gesellschaftspolitischen Diskurs gehalten hat, hat sich sein kulturdiagnostischer Wert mehr und mehr verflüchtigt. 39 Wurde der Begriff noch gegen Ende der 1970er Jahre vor allem zur sachlichen Beschreibung kultureller Strömungen verwendet, die das seit dem beginnenden 20. Jahrhundert so populäre Säkularisierungstheorem in Frage stellten und sich darüber hinaus auch als Protestbewegung gegenüber Vgl. Meyer 1992, 54. Thomas Meyer bringt dies anschaulich auf den Punkt, wenn er schreibt: »Den symbolischen Formen ist nicht auf die Stirn geschrieben, ob sie nur Hausnummern in potemkinschen Dörfern sind oder Chiffren der Verständigung.« (Meyer 1992, 55). 39 Einzelne Passagen in diesem Kapitel sind einer früheren Publikation des Autors entnommen; vgl. Reichelt, Matthias (2010): Religiöser Fundamentalismus und die Dialektik der Moderne. Ein Beitrag aus sozialwissenschaftlicher Perspektive, in: Bohn, Jochen/Bohrmann, Thomas (Hrsg.): Religion als Lebensmacht. Eine Festgabe für Gottfried Küenzlen, Leipzig, 251–262. 37 38

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Fundamentalismen als konkrete Gefahr und Herausforderung

einer geistigen, politischen und ökonomischen Dominanz des westlichen Rationalismus verstanden, dient er heute in der Regel nur noch der Stigmatisierung. Wenn also gegenwärtig von fundamentalistischen Strömungen oder Gruppierungen die Rede ist, geschieht das gemeinhin in herabsetzender Weise und weckt Assoziationen, die von religiösen Eiferern aus dem amerikanischen Bible Belt bis hin zu islamistischen Kämpfern im Nahen Osten reichen. 40 Weniger strittig und darum nützlicher Ausgangspunkt für eine erste Annäherung ist hingegen der Ursprung des FundamentalismusBegriffes im amerikanischen Protestantismus der 1920er Jahre. Dort tritt er erstmals als Titel für die protestantische Schriftenreihe The Fundamentals – A Testimony to the Truth in Erscheinung, bevor er später zum Namensgeber für eine Strömung wird, die sich 1919 als World’s Christian Fundamentals Association etabliert und unter anderem die Unfehlbarkeit der Heiligen Schrift, die jungfräuliche Geburt Jesu und Christi Wiederkunft zu unverrückbaren Glaubensinhalten erklärt. 41 Seither hat sich der Begriff jedoch stark gewandelt. Auch politisch-weltanschauliche Ideologien werden heute mit dem Etikett fundamentalistisch versehen – vor allem, wenn damit zum Ausdruck gebracht werden soll, dass sie gegenüber den ihnen widersprechenden Positionen ablehnend und voreingenommen eingestellt sind. Sowohl in ihren religiösen als auch in ihren säkularen Spielarten treten fundamentalistische Strömungen für eine Rückbesinnung auf vormals verbindliche Gültigkeiten und Werte ein. Eine solche Position ist nicht einfach antimodern, sondern steht vielmehr für den Anspruch, trotz der Dominanz eines modernen Kritikbewusstseins, an autoritativ festgelegten Wahrheitsansprüchen festzuhalten. 42 Darum sind fundamentalistische Grundhaltungen nicht nur Relikte einer überkommenen Zeit, sondern vielmehr auch ein Teilaspekt unserer modernen Welt. Gottfried Küenzlen stellt dies treffend heraus, Vgl. dazu u. a. Bielefeldt, Heiner/Heitmeyer, Wilhelm (1998a): Einleitung: Politisierte Religion in der Moderne, in: diess. (Hrsg.): Politisierte Religion. Ursachen und Erscheinungsformen des modernen Fundamentalismus, Frankfurt a. M., 11–33; hier: 11. 41 Vgl. dazu u. a. Meyer, Thomas (1989a): Fundamentalismus. Die andere Dialektik der Aufklärung, in: ders. (Hrsg.): Fundamentalismus in der modernen Welt, 13–22; hier: 13/14; oder Küenzlen, Gottfried (2001): Der Fundamentalismus und die Krise der säkularen Kultur der Moderne, in: WeltTrends (30/1), 93–100; hier: 93. 42 Vgl. Küenzlen 2001, 97. 40

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Symbole und die Gefahr ihrer politischen Instrumentalisierung

wenn er schreibt: Der Fundamentalismus »ist ein Ausdruck der säkularen Kultur der Moderne, ist in ihr verhaftet und von ihr hervorgebracht, gerade auch wo er sich als Protest- und Gegenentwurf zu ihr versteht« 43. Es stellt sich also die Frage, welche (Fehl-)Entwicklungen in der Moderne fundamentalistischen Protest provozieren, weshalb der Einzelne die Herausforderungen einer modernen Lebenswelt mitunter als unzumutbar erfährt und worin die scheinbare Alternative des Fundamentalismus liegt. Für Menschen, die dem sozialen Druck der Kultur der Moderne nicht Stand zu halten wissen und ihr Bedürfnis nach Identität weder durch Akzeptanz in ihrem unmittelbaren gesellschaftlichen Umfeld noch durch die sinnstiftende Zugehörigkeit zu einer weltlichen oder religiösen Gruppe zu befriedigen vermögen, scheint die »Flucht ins Radikale« 44 häufig die einzige Alternative. Fundamentalistischer Protest ist für sie der »Versuch rückwärts gerichteter Rebellion gegen soziale Entfremdung, ethnisch-kulturelle Entwurzelung, weltanschauliche Heimatlosigkeit und gesellschaftlichen Wertezerfall der Moderne und der Postmoderne« 45. Dabei spielt es zunächst kaum eine Rolle, ob sich diese Rebellion religiös artikuliert oder nicht. Entscheidend ist vielmehr, inwieweit sie eine ideologische Färbung erhält und mit dem Anspruch auftritt, absolute und verbindliche Wahrheiten zu verkünden. Denn dadurch können Fundamentalismen genau die Nische besetzen, die in einer säkularen Kultur der Unverbindlichkeit und Pluralität leer bleibt. Fundamentalistischer Protest richtet sich also nicht prinzipiell gegen die Moderne, sondern gegen die damit einhergehenden sozio-kulturellen und (vor allem) religiösen Wandlungsprozesse, die zu einem Verlust eines gemeinsam geteilten Sinnhorizontes führen. 46 Der technische Fortschritt und die allgemein verbesserten materiellen Lebensbedingungen werden hingegen keineswegs abgelehnt, sondern vielfach sogar systematisch für die eigene Sache genutzt. Die moderne Lebenskultur stößt erst dort auf einen scharfen fundamentalistischen Widerstand, wo sie die traditionelle kulturelle und religiöse Basis gefährdet. 47 Küenzlen 2001, 97. Pfürtner, Stephan H. (1991): Fundamentalismus. Die Flucht ins Radikale, Freiburg i. B., 105. 45 Jäggi, Christian J./Krieger, David J. (1991): Fundamentalismus. Ein Phänomen der Gegenwart, Zürich u. a., 15. 46 Vgl. Roy 2011, 156–205; hier: 163. 47 Vgl. Jäggi/Krieger 1991, 15–17. 43 44

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Fundamentalismen als konkrete Gefahr und Herausforderung

Fundamentalisten gleich welcher Provenienz teilen also die Auffassung, dass eine nach modernen Prinzipien verfasste und auf ihnen basierende Alltagswelt die wahren Bedürfnisse der meisten Menschen verfehlt. Dabei fällt ihre Diagnose hinsichtlich notwendiger Gegenmaßnahmen weitgehend identisch aus. Durch eine Rückbesinnung auf überkommene Wahrheiten soll den Menschen ein Ausweg aus der Krise gewiesen werden. Zu diesem Zweck zielen fundamentalistische Strömungen darauf ab, die Gesellschaften, in denen die Auswirkungen der Moderne für die Individuen eine allzu große Belastung geworden sind, insgesamt zu reformieren. Christlich fundamentalistische Bewegungen konzentrieren sich dabei in der Regel darauf, orientierungslos gewordenen Menschen wieder das Gefühl metaphysischer Geborgenheit zu vermitteln. Ihr sozialreformistisches Anliegen ist eher gering. Bei fundamentalistischen Strömungen im Islam ist dies hingegen weniger eindeutig. Hier gilt es, zwischen islamistischen Strömungen, die ihren Akzent auf politisch-revolutionäre Neuausrichtungen 48 ihrer jeweiligen Herkunftsgesellschaften richten, und neofundamentalistischen Tendenzen zu unterscheiden. Neofundamentalistische Gruppen – wie etwa der Salafismus – streben eine Rückkehr zu den geistig-religiösen Wurzeln des Islam an und wollen ihre Religion deshalb von schädlichen westlichen Einflüssen gereinigt wissen. 49 Ausgangspunkt für beide Richtungen ist dabei das traditionelle islamische Verständnis einer Einheit von Religion und Staat und der damit verbundene Anspruch, sämtliche Gesellschaftsbereiche religiös zu durchdringen. Verstärkt wird dieses Ansinnen noch durch den in der Offenbarung verkündeten Auftrag, das islamische Einflussgebiet fortwährend auszudehnen, weshalb Anhänger fundamentalistischer Strömungen eher zu offener Militanz gegenüber einem als feindlich eingestuften gesellschaftlichen Gesamtsystem neigen. Daneben kennt der muslimische ebenso wie der christliche Fundamentalismus aber auch moderate Formen des Protests, die bis hin zu quietistischer Einkehr und einem darin begründeten Rückzug aus der Alltagswelt reichen. 50

48 Vgl. Kienzler, Klaus (42002): Der religiöse Fundamentalismus. Christentum, Judentum, Islam, München, 88/89. 49 Vgl. Roy, Olivier (2006): Der islamische Weg nach Westen. Globalisierung, Entwurzelung und Radikalisierung, München, 229–284; hier: 229–231. 50 Vgl. dazu u. a. Khoury, Adel T. (2001): Der Islam und die westliche Welt. Religiöse und politische Grundfragen, Darmstadt, 111–119, sowie Kienzler 42002, 72–94.

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Symbole und die Gefahr ihrer politischen Instrumentalisierung

Neben den genannten politisch-religiösen Aspekten bieten auch die strukturellen und ökonomischen Probleme moderner Gesellschaften einen idealen Nährboden für fundamentalistischen Protest. Für Martin Riesebrodt stellen sich fundamentalistische Bewegungen deshalb in erster Linie als »spezifische Reaktionen v. a. auf die sozialen und kulturellen Risiken und Bedrohungen der Moderne dar, wie Proletarisierung, soziale Marginalisierung, enttäuschte Aufstiegserwartungen oder Zerfall bzw. Transformation der Familienstruktur und -moral« 51. Im Gegensatz zur modernen Alltagswelt bieten religiöse Fundamentalismen den Menschen geordnete Strukturen an und sind deshalb imstande, ihnen einen festen Platz in ihrer jeweiligen Gesellschaft zuzuweisen. Sie bemühen sich um eine Wiederbelebung traditionell-religiöser Ordnungen und geben vor, auf diese Weise die bestehenden sozialen Krisen bewältigen zu können. In der für alle fundamentalistischen Strömungen gleich-gültigen Attitüde einer Abwehr der Moderne mit den Mitteln der Moderne werden ganz ähnliche Mechanismen sichtbar, wie sie mit Blick auf die Symbolpolitik festgestellt werden konnten. Auch hier dient der Umgang mit Symbolen weniger der Vermittlung von damit unmittelbar verknüpften religiösen Sinngehalten, als vielmehr der Inszenierung der eigenen politischen Botschaft. Beispielhaft dafür ist etwa die Instrumentalisierung von Symbolen in den Sendungen evangelikaler Fernsehprediger in den USA, die dort seit den 1970er Jahren die sogenannte Elektronische Kirche im Fernsehen etabliert haben. 52 Mit dem Versprechen für die Vermehrung des Geldes ihrer Spender zu beten, sammeln dort Tele-Evangelisten regelmäßig große Geldsummen ein, die sie dann nicht selten zur Finanzierung ihres eigenen Lebensstiles veruntreuen. Die göttliche Heilsbotschaft, als der vermeintlich zentrale Bezugspunkt der Predigten, ist dabei letztlich nur ein Mittel zum Zweck, wie auch die von den Televangelists verbreiteten moraltheologischen Botschaften von einer gerechteren Gesellschaft. Parallelen dazu gibt es auch bei den fundamentalistischen Strömungen im Islam. Denn hier werden ebenfalls die vordergründig religiösen Ambitionen letztlich dem eigentlichen politischen Anspruch geopfert, der im Wesentlichen darin besteht, »in der Moderne gegen Riesebrodt, Martin (1998): Fundamentalismus, Säkularisierung und die Risiken der Moderne, in: Bielefeldt/Heitmeyer (Hrsg.): Politisierte Religion, 67–90; hier: 87. 52 Vgl. Kienzler 42002, 31/32. 51

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Fundamentalismen als konkrete Gefahr und Herausforderung

die Moderne mit modernen Mitteln zur Herrschaft zu gelangen« 53. Die zu diesem Zweck aufwendig inszenierte religiöse Symbolik hat dabei allein die Funktion, die tatsächlichen machtpolitischen Interessen zu kaschieren, die nicht zuletzt darin bestehen, sich gegenüber der westlichen Welt kulturell und religiös gleichberechtigt zu positionieren. Die eigentliche Triebfeder hinter vordergründig religiösen Konzepten, wie etwa dem Dschihad, 54 besteht deshalb nicht nur in der Erfüllung einer religiösen Pflicht. Vielmehr drückt sich darin das Bedürfnis aus, der eigenen orientalisch-islamischen Kultur wieder eine weltpolitisch dominante Stellung zu verschaffen und somit die eigene machtpolitische Einflusssphäre auszudehnen. 55 Fundamentalistischer Protest erhebt den Anspruch, unter Rückbezug auf traditionelle Wert- und Moralvorstellungen einen Ausweg aus der Orientierungslosigkeit der säkularen Moderne zu weisen. Ihn als bloßen Traditionalismus oder Anti-Modernismus einzustufen, greift dabei jedoch zu kurz. Denn in einer als krisenhaft interpretierten Lebenswelt verspricht die Rückbesinnung auf jahrhundertealte religiöse Traditionen und Autoritäten Orientierung und Schutz. Sie bietet Gewissheiten, die in der modernen Gegenwartskultur scheinbar beständig erodieren, und schafft dadurch die Möglichkeit, der allgemeinen Verunsicherung selbstbewusst zu begegnen. Hinzu kommt eine in fundamentalistischen Bewegungen stark ausgeprägte Identifikation mit der inhaltlichen Position der Gruppe und ihren Mitgliedern. Dies schafft ein Gegengewicht zur scheinbar weit verbreiteten Sinnleere und sozialen Isolation innerhalb moderner Sozietäten. Welche Relevanz fundamentalistische Strömungen innerhalb einer Gesellschaft gewinnen können, hängt schließlich auch davon ab, ob das Bedürfnis nach Identität aus einer Marginalisierung einer spezifischen kulturellen Tradition durch eine andere resultiert, oder ob sich diese Marginalisierung auf einen bestimmten Teil der Bevölkerung innerhalb einer Gesellschaft beschränkt, der sich sozial und wirtschaftlich benachteiligt oder politisch unterrepräsentiert fühlt und dagegen aufbegehrt. 56 Meyer, Thomas (2002): Identitätspolitik. Vom Missbrauch kultureller Unterschiede, Frankfurt a. M., 47. 54 Eine anschauliche Beschreibung des Dschihad-Konzeptes findet sich u. a. bei Elger, Ralf (2002): Islam, Frankfurt a. M., 79–84. 55 Vgl. dazu die ebenso problemanzeigenden wie lösungsorientierten Überlegungen bei Khoury 2001, 182–194. 56 Vgl. Meyer 2002, 47/48. 53

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Vierter Teil: Politisch-philosophische Perspektiven für die Herausforderungen moderner Kulturen

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10. Kulturtheoretische Überlegungen zu einer politischen Philosophie im Kontext pluraler Gesellschaften

Die im vorangegangenen Teil skizzierten Herausforderungen der zeitgenössischen Identitätsbildung und die Gefahren ihrer Instrumentalisierung zeigen deutlich, dass zwar das moderne Individuum weiterhin auf verbindliche Werte- und Sinnstrukturen im Leben angewiesen ist, dass jedoch in pluralen Gesellschaften keine Gewissheiten mehr im Hinblick auf deren Inhalte gegeben sind. Eine Folge dieser gesellschaftspolitischen Entwicklungen sind starke Entfremdungserfahrungen. Ein Gefühl der Entfremdung stellt sich immer dann ein, wenn dasjenige, was einem persönlich bedeutsam erscheint, in der eigenen gesellschaftlichen Umgebung keine Resonanz (Hartmut Rosa) mehr erfährt. 1 In sozialphilosophischer Perspektive wird Entfremdung deshalb sowohl als Erfahrung der Sinn- und Bedeutungslosigkeit der eigenen Existenz, als auch als Indifferenz und Machtlosigkeit gegenüber einer als fremd empfundenen sozialen Umgebung thematisiert. Denn so verstanden ist die entfremdete Welt vor allem ein Ort, an dem fremd wird, was eigentlich vertraut sein sollte, und an dem man deshalb nicht mehr heimisch werden kann. 2 In den Streitigkeiten um Kruzifix und Kopftuch taucht diese charakteristische Heimatlosigkeit gleich in zwei Dimensionen auf: Zum einen als strukturell/objektive Entfremdung von einer vormals als sinn- und identitätsstiftend empfundenen kulturell-religiösen Tradition. Dies gilt beispielhaft für die Debatten um die bayerischen Schulkreuze, in denen nachdrücklich der Sorge vor einer Auflösung vormaliger Sinn- und Wertstrukturen Ausdruck verliehen wird, wenn die Schulordnung nicht mehr verpflichtend vorsieht, Schülerinnen und Schüler unter dem Kreuz zu unterrichten und zu erzie-

Vgl. Henning, Christoph (2015): Theorien der Entfremdung zur Einführung, Hamburg, 25–30. 2 Vgl. Jaeggi, Rahel (2008): Entfremdung, in: Gosepath/Hinsch/Rössler (Hrsg.): Handbuch der Politischen Philosophie und Sozialphilosophie. Bd. I, A–M, Berlin, 270–275; hier: 270. 1

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Kulturtheoretische Überlegungen zu einer politischen Philosophie

hen. Zum anderen aber auch als subjektive Heimatlosigkeit im Sinne eines Ausgeschlossen-Seins in einer als fremd wahrgenommenen Umwelt. Dem entspricht vor allem die Situation der muslimischen Lehramtskandidatin, die durch ein mögliches Verbot des Kopftuches nicht nur zum Verzicht auf ein zentrales Ausdrucksmittel ihrer eigenen religiösen Identität aufgefordert ist, sondern sich der paradoxen Situation gegenübersieht, um der Anerkennung durch die Mehrheitsgesellschaft willen zu ihren eigenen Überzeugungen auf Distanz gehen zu müssen. Wird die Erfahrung der Entfremdung für Einzelne oder gar ganze Gruppen in dieser Weise spürbar, ist sie unmittelbar auch ein Thema für die politische Philosophie. Denn wo das Bedürfnis des Individuums nach einem guten Leben nicht mehr mit grundsätzlichen gemeinschaftlichen Wertvorstellungen in Einklang zu bringen ist, gerät das Zielmotiv jeder politischen Vergemeinschaftung – das friedliche und gute Zusammenleben – in Bedrängnis. Im gegenwärtigen politisch-philosophischen Diskurs werden solche Herausforderungen im Zusammenhang mit Reflexionen über das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft aufgegriffen. Dabei richtet sich der Blick für gewöhnlich auf die Qualität der politisch-bürokratischen Verfahren, die dieses Verhältnis heutzutage steuern (Liberalismus-Kommunitarismus-Debatte) oder darauf, dass keine Bürgerin und kein Bürger systematisch von solchen Verfahren ausgeschlossen werden soll (Multikulturalismus-Debatte). 3 Diese Konzentration auf das Prozessuale ist der liberalen Einsicht geschuldet, dass das politische Glück des Einzelnen darauf beruht, in seinen Entscheidungen frei zu sein. Die Gewährleistung dafür übernimmt allerdings nicht das einheitsstiftende Band einer politischen Wertegemeinschaft, sondern die Institution des Rechtsstaats. Denn als zentrale normsetzende Instanz sorgt er dafür, dass die unterschiedlichen Bedürfnisse der Bürgerinnen und Bürger möglichst konfliktfrei koordiniert werden. Scheitert dieses Bemühen, verfügt er über die nötigen Mittel, Fehlverhalten zu sanktionieren. In einem freiheitlichen Rechtsstaat wird die bürgerliche Gemeinschaft also »hinlänglich durch das Vertrauen in Verfahren und die Loyalität gegenüber dem Recht« 4 getragen. Dieses Vertrauen setzt natürlich voraus, dass das Recht selbst Ausfluss gemeinsam geteilter Werte und Normen und mithin einer 3 4

Vgl. Özmen, Elif (2013): Politische Philosophie zur Einführung, Hamburg, 101/102. Özmen 2013, 103.

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verbindenden kulturellen (womöglich sogar religiösen) Tradition ist. Gerechte Verfahren beispielsweise sind nicht einfach an und für sich gerecht, sondern erst dann, wenn sie auf einem übereinstimmenden Verständnis von Gerechtigkeit beruhen. Woraus aber speist sich dieses Einvernehmen? Dem liberalen Menschenbild vom freien, interessengeleiteten und demnach rational handelnden Individuum zufolge genügen nüchterne Nutzenkalküle, um sich auf einen gemeinsamen Gerechtigkeitskonsens zu einigen. Nach kommunitärem Verständnis hingegen ruht jedes bürgerliche Engagement und Interesse an einem gelingenden (in unserem Fall gerechten) Zusammenleben auf einer geteilten Geschichte und den daraus erwachsenden Bräuchen und Traditionen, die einen gemeinsamen Wertehorizont formen. Die Stärke der einen Positionen scheint also die Schwäche der anderen zu markieren – und umgekehrt: Der Liberalismus bleibt die Antwort auf die Frage schuldig, weshalb sich das ungebundene Selbst (Michael Sandel) über sein Eigeninteresse hinaus am bürgerschaftlichen Miteinander beteiligen soll. Der Kommunitarismus dagegen muss erklären, inwiefern die Partikularismen, die er bewusst fördert, einem auskömmlichen Miteinander in pluralen Gesellschaften dienlich sein können. 5 Damit stellt sich also die Frage, welchen Weg moderne politische Gemeinwesen einschlagen sollen, um Individuum und Gemeinschaft miteinander zu versöhnen. Bietet der Liberalismus dafür noch immer die besten Lösungen an, oder bedarf er einer Korrektur durch den Kommunitarismus? Als vermittelnde Strategien bieten sich hier vor allem Theorien der Zivil- oder Bürgergesellschaft an. 6 In ihnen werden die etwas blutleeren staatlichen Steuerungsprozesse um Elemente der kooperativen Selbstorganisation ergänzt, welche die aktive Teilnahme am öffentlichen Meinungsaustausch und politischen Leben befördern. Aus Sicht Ralf Dahrendorfs sind drei Merkmale für Zivilbzw. Bürgergesellschaften kennzeichnend: (1) Eine Vielfalt an Organisationen, Interessenverbänden, Vereinen etc., in denen sich die Bedürfnisse der Gesellschaftsmitglieder möglichst in ihrer ganzen Breite realisieren lassen; (2) eine weitgehende Unabhängigkeit (Autonomie) dieser Organisationen von staatlicher Einflussnahme; (3) die Ausbildung bürgerlicher Tugenden, die ein gemeinschaftliches VerantworVgl. Özmen 2013, 105–109. Einen lesenswerten Überblick bietet Adloff, Frank (2005): Zivilgesellschaft. Theorie und politische Praxis, Frankfurt a. M./New York.

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tungsgefühl begünstigen und für den Staat damit jene Bindungskräfte entfalten, die er von sich aus nicht bereitstellen kann. 7 Auf diese Weise stärkt der sich im zivilgesellschaftlichen Engagement ausdrückende Gestaltungswille nicht nur das identitätsstiftende soziale Band, sondern fördert zudem die in pluralen Gesellschaften notwendige Bereitschaft zur Verständigung und wechselseitigen Anerkennung über weltanschauliche Grenzen hinweg. Um vor diesem Hintergrund einige politisch-philosophische Perspektiven für ein gelingendes Zusammenleben in pluralistischen Gesellschaften herausstellen zu können, sollen zunächst die Herausforderungen in der Begegnung mit dem Anderen bzw. Fremden nochmals kulturphilosophisch markiert werden. Anders-Sein und FremdSein treten dabei nicht einfach als festgefügte Kategorien in Erscheinung, sondern vielmehr als kulturelle bzw. gesellschaftliche Funktionen, die einem Wandel unterliegen. Diese Wandlungsfähigkeit eröffnet, vor allem auch semantisch, Chancen, das Trennende dieser beiden Kategorisierungen aufzugeben und dementsprechend neu über ein gelingendes Zusammenleben nachzudenken. Den Raum dafür kann nur eine Kultur bieten, die wesentlich durch Kommunikation geprägt ist bzw. deren Kommunikationsformen selber eine Öffentlichkeit formen, in der jeder gleichberechtigt an der Gestaltung dieser Kultur mitwirken kann.

10.1 Die Begegnung mit dem Anderen in multikulturellen Gesellschaften Kultur ist ein Referenzrahmen dafür, wie wir die Ereignisse in der uns umgebenden Welt zu deuten und zu verstehen haben. Sie ist eine Art Taktgeber (Armin Nassehi) für unsere Wahrnehmungen und unser Handeln. Die taktgebende Funktion von Kultur verleiht uns Sicherheit und ist ein Grund dafür, dass die Kultur als solche in der Regel weitgehend unsichtbar bleiben kann. Für die Mitglieder einer spezifischen Kultur bietet das den unschätzbaren Vorteil, dass sie sich nicht ständig über die gemeinsamen Konventionen abstimmen müssen. 8 Vgl. Dahrendorf, Ralf (1992): Der moderne soziale Konflikt. Essay zur Politik der Freiheit, Stuttgart, 69/70. 8 Vgl. Nassehi, Armin (2008): Soziologie. Zehn einführende Vorlesungen, Wiesbaden, 147/148. 7

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Prallen jedoch unterschiedliche Kulturen aufeinander, gehen diese Selbstverständlichkeiten und die damit verbundenen Sicherheiten verloren. Insofern haben die Mitglieder einer neu zu integrierenden, multikulturellen Gesellschaft die sicherheitsverbürgenden Abstimmungsprozesse über die dann gültigen Konventionen erst noch vor sich. In solchen Prozessen wird der zentrale Widerspruch jeder Kultur zwischen Kontingenzerfahrung einerseits und Handlungssicherheit andererseits deutlich. Denn sosehr wir auch um die Zufälligkeit und Schicksalshaftigkeit jeder Kulturkonstruktion wissen, sind wir dennoch auf ihre spezifischen Handlungsmuster und -orientierungen zur Bewältigung unserer alltäglichen Anforderungen angewiesen. 9 Eine zentrale Funktion von Kultur besteht deshalb darin, identifizierbare Einheiten zu erzeugen. Dies geschieht mittels Beschreibung, aber auch durch wechselseitige Abgrenzung. Auf diese Weise kann Kultur entweder zu einer identitätsstiftenden Chiffre werden (z. B. in Abgrenzung zu anderen Kulturen) oder zu einem intrakulturellen »Distinktionsbegriff« 10. Der Kulturbegriff beinhaltet folglich immer auch Aspekte der Emanzipation und der bewussten Differenzierung, was ihn, etwa im Kontext gezielter politischer Instrumentalisierung, auch zu einem Kampfbegriff werden lässt. 11 Kulturelles Leben kann also immer auch als eine Auseinandersetzung mit dem Anderen angesehen werden; wobei dieses Andere zunächst einmal nur etwas beschreibt, was nicht zum Kulturellen gehört oder ihm sogar entgegensteht. 12 Das Andere ist dabei – dies gilt es zu betonen – nicht immer nur der oder die Andere bzw. der oder die Fremde. Im Verlauf der menschlichen Kulturgeschichte ist das Andere auch in ganz anderen Gestalten aufgetreten. Für lange Zeit galt beispielsweise die Natur als der Inbegriff dieses Anderen, und auch heute noch wird Natur als ein Wirklichkeitsbereich begriffen, den es erst noch zu zähmen bzw. zu kultivieren gilt. 13 Die in diesem Begriffsverständnis mit eingeschlossene Wahrnehmung von Kultur als Vgl. Nassehi 2008, 151. Nassehi 2008, 155. 11 Vgl. Nassehi 2008, 159. 12 Vgl. Liebsch, Burkhard (2005): Gastlichkeit und Freiheit. Polemische Konturen europäischer Kultur, Weilerswist, 21. 13 Vgl. Liebsch, Burkhard (2004): Kultur im Zeichen des Anderen oder Die Gastlichkeit menschlicher Lebensformen, in: Jaeger/Liebsch (Hrsg.): Handbuch der Kulturwissenschaften. Bd. 1, 1–23; hier: 4. 9

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menschlicher Leistung bekam erst im 18. Jahrhundert Brüche, als insbesondere Jean-Jacques Rousseau Zweifel an dieser Erfolgsgeschichte der Kultur nährte und in ihr auch eine Quelle menschlicher Selbstentfremdung erkannte. 14 Damit wurde eine Kultur-Kritik begründet, die seither fortdauert und je nach zeitgeschichtlicher Mode entweder mehr oder weniger explizit eine Rückbesinnung auf die Natur als das Andere fordert. Auf politischer Ebene hingegen stellt sich die Konfrontation mit dem Anderen eher als eine Herausforderungen in bzw. zwischen Kulturen dar. Denn in diesem Kontext verknüpft sich der Kulturbegriff mit spezifischen Lebensweisen und Wertvorstellungen, die mit jeweils gleicher Selbstverständlichkeit zur Geltung drängen und deshalb Fragen nach einer legitimen Reihung unterschiedlicher Normkonzeptionen aufwerfen oder gar die Formulierung universal gültiger Super-Normen zu bedenken geben. Im aktuellen politisch-philosophischen Diskurs, der sich vor allem mit der Problematik der Pluralität von Weltanschauungen befasst, werden im Wesentlichen zwei unterschiedliche Positionen vertreten: der Multikulturalismus auf der einen und der Liberalismus auf der anderen Seite. Während der Liberalismus auch hier hinsichtlich der Gleichheitlichkeit (Elif Özmen) aller Bürgerschaftsmitglieder an seiner systematischen Differenzblindheit festhält und die faktische Vielstimmigkeit der kulturell geprägten Lebensentwürfe und Standpunkte zwar wahrnimmt, aber bei der Formulierung allgemein gültiger Rechte und Pflichten bewusst ausklammert, bemüht sich der Multikulturalismus um eine explizite Anerkennung der unterschiedlichen kulturellen Identitäten und möchte diese auch rechtlich-politisch zur Geltung bringen. Dabei ist es nicht so, dass Multikulturalisten die für den Liberalismus zentrale Annahme der Gleichberechtigung aller Menschen in Zweifel ziehen. Den Vertretern des Multikulturalismus geht es vielmehr darum, die natur- bzw. vernunftrechtlich begründete Gleichstellung aller Menschen um die Achtung ihrer spezifischen kulturellen Eigenheiten zu ergänzen. 15 So fordert etwa Charles Taylor, der zu den profiliertesten Befürwortern 16 des Multikulturalismus zählt, von den Bürgerinnen und Vgl. Rousseau, Jean-Jacques (1755/2010): Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, Stuttgart. 15 Vgl. Özmen 2013, 115/116. 16 Neben Taylor hat vor allem Will Kymlicka dem Multikulturalismus-Diskurs in 14

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Die Begegnung mit dem Anderen in multikulturellen Gesellschaften

Bürgern einer freiheitlichen Gesellschaft die Bereitschaft ein, Andere als solche anzuerkennen und sie in die Bürgergemeinschaft zu integrieren. Die dadurch ermöglichte Horizontverschmelzung 17 kommt dabei nach Taylor nicht nur der jeweiligen Minderheit zu Gute, sondern erweitert auch die Perspektiven der Mehrheitsgesellschaft: »Wir lernen [durch die Horizontverschmelzung; Anm. M. R.], uns in einem erweiterten Horizont zu bewegen, in dem wir das, was uns vorher als die selbstverständlichen Koordinaten unserer Urteile erschien, nun als mögliche Koordinaten neben denen der uns bislang nicht vertrauten Kultur wahrzunehmen vermögen.« 18 Solchen eher weichen Kriterien sind darüber hinaus aber auch handfeste identitätspolitische Maßnahmen zur Seite zu stellen, wie beispielsweise die Gewährung besonderer politischer Teilhabe- und Mitwirkungsrechte. Zudem verlangt ein gelingender Multikulturalismus ein hohes Maß an Toleranz. Damit ist allerdings nicht gefordert, den Anderen einfachhin »zum ›guten‹ Anderen« 19 zu erklären, sondern ihn in seiner Fremdheit zunächst einmal bloß wahrzunehmen. Toleranz bedeutet hier also weder Zustimmung noch Gleichgültigkeit, sondern vielmehr Hinnahme oder Duldung; und diese Duldung wiederum basiert auf Gründen. Manche dieser Gründe sprechen dabei für eine ablehnende, andere wiederum für eine zustimmende Haltung. Letztere ist schließlich ausschlaggebend dafür, dass der Andere akzeptiert werden kann und – wie Rainer Forst pointiert formuliert – »dass ein Miteinander im Dissens möglich ist«. 20 Kulturphilosophisch gesprochen erfährt das Kulturelle durch solche gesellschaftlichen Verfahren und Prozesse eine ganz eigene Qualität, die über die Summe der kulturellen Leistungen weit hinausweist. Kultur bezeichnet in solchen Kontexten nämlich immer auch »ein Gelingen oder etwas zu Bejahendes« 21. Dabei handelt es

verschiedenen Publikationen wichtige Impulse verliehen; vgl. dazu beispielhaft Kymlicka, Will (1999): Multikulturalismus und Demokratie. Über Minderheiten in Staaten und Nationen, Hamburg. 17 Den Begriff Horizontverschmelzung leiht sich Charles Taylor bei Hans-Georg Gadamer, der ihn in seiner Schrift »Wahrheit und Methode« verwendet. Vgl. Taylor, Charles (2009b): Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, Frankfurt a. M., 54. 18 Taylor 2009b, 54. 19 Liebsch 2004, 3. 20 Forst 2003, 12. 21 Liebsch 2004, 5.

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sich im Wesentlichen um die in Kultur sichtbar werdende Humanität. Denn unabhängig davon, ob diese Humanität tatsächlich auch verwirklicht ist oder nicht, deutet sich hier doch bereits an, was Kultur jenseits ihrer stetig sich erneuernden produktiven Kräfte sein kann. Burkhard Liebsch bringt dies in einer Art moralischer Minimaldefinition anschaulich auf den Punkt, indem er Kultur als die »bestmögliche Wahrung der Integrität dessen, was nicht verletzt, verwundet oder ›angetastet‹ werden soll« 22, ausweist. Zwar gibt es keine über sämtliche Kulturgrenzen hinweg gültige Definition dieses Nicht-zuVerletzenden, doch auch diese Erkenntnis kann im Umkehrschluss als eine einheitsstiftende Erfahrung aller Menschen angesehen werden, die deshalb nicht trennt, sondern vielmehr verbindet.

10.2 Fremdheit und Differenz in einer globalisierten Welt Unter den Bedingungen der Globalisierung müssen Identität und Differenz bzw. das Eigene und das Fremde neu bestimmt werden. Wachsende ökonomische Verflechtungen, zunehmende Migrationsbewegungen und eine allmähliche Enträumlichung gesellschaftlicher Identitätsverständnisse haben nicht nur die nationalen Grenzen durchlässiger werden lassen, sondern auch die lebensweltlichen Kontexte (vor allem mit Blick auf das Konsumverhalten) homogenisiert. 23 Dies hat globale Anpassungseffekte zur Folge, die allerdings nicht zwingend auf eine globale Einheitskultur zulaufen, sondern im Gegensatz dazu auch eine »Globalisierung der Differenz« 24 zeitigen können. Denn viele Migranten exportieren neben ihrer Arbeitskraft auch ihre Herkunftskultur in die jeweiligen Zuwanderungsgesellschaften und sorgen dort für ein wachsendes Maß an kultureller Vielfalt. Diese Vielfalt wiederum erschöpft sich nicht allein in der Zunahme fremdländischer Restaurants, sondern führt insbesondere in den Zuwandererkommunitäten selbst zur Etablierung neuer, hybrider Liebsch 2004, 7. Vgl. Ackermann, Andreas (2004): Das Eigene und das Fremde: Hybridität, Vielfalt und Kulturtransfers, in: Jaeger/Rüsen (Hrsg.): Handbuch der Kulturwissenschaften. Bd. 3, 139–154; hier: 139. 24 Ackermann, Andreas (2002a): Wechselwirkung – Komplexität. Einleitende Bemerkungen zum Kulturbegriff von Pluralismus und Multikulturalismus, in: ders./Müller, Klaus E. (Hrsg.): Patchwork: Dimensionen multikultureller Gesellschaften. Geschichte, Problematik und Chancen, Bielefeld, 9–29; hier: 10. 22 23

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Fremdheit und Differenz in einer globalisierten Welt

Identitäten. 25 Europäische und nordamerikanische Metropolen sind auf diese Weise längst zu Großstädten der Dritten Welt geworden und bieten vielen Menschen aus Afrika, Lateinamerika oder der Karibik mittlerweile eine ganz eigenständige Heimat, in der sie sich nicht länger als Jamaikaner, Nigerianer oder Türken in der Fremde fühlen, sondern vielmehr als New Yorker Kariben oder Kreuzberger Deutsch-Türken. 26 Verständlicherweise verändern derartige Entwicklungen auch den politischen Umgang mit Identität und Differenz und verstärken den Eindruck einer zunehmenden kulturellen Heterogenität nicht nur im globalen, sondern auch im nationalen Maßstab. Das führt zu der politischen Herausforderung, die Koexistenz von Menschen unterschiedlicher kultureller, religiöser oder ethnischer Herkunft organisieren zu müssen. Doch tatsächlich sind solche Herausforderungen kulturgeschichtlich betrachtet kein neues Phänomen. Die meisten westlichen Gesellschaften, die heutzutage als gewachsene, kulturell homogene Einheiten wahrgenommen werden, verdanken ihre Kulturmerkmale der Begegnung und dem Austausch mit anderen Kulturen (vor allem mit dem Orient, der heute so vielen als kulturell rückständig gilt). Die Vorstellung, es hätte jemals strikt voneinander getrennter Völker und Kulturen gegeben, ist so gesehen schlicht falsch. 27 Dennoch darf die Geschichte der wechselseitigen kulturellen Durchdringung der Völker und Nationen nicht dahingehend missverstanden werden, als hätte es immer auch eine weitreichende Durchmischung der verschiedenen Ethnien, Kulturen und Religionen in diesen Gesellschaften gegeben. Vielmehr war es meistens ein zentrales Strukturmerkmal der jeweiligen Koexistenzmodelle, die verschiedenen Gruppen sowohl räumlich als auch gesellschaftlich voneinander zu trennen. Separierte Wohnviertel, eigene religiöse Einrichtungen oder interkulturelle Heiratsverbote gehörten dabei

Der Hybriditätsbegriff ist jüngst zu einem Schlüsselbegriff in der Auseinandersetzung mit essentialistischen Kulturtheorien geworden, die an einem ganzheitlichen und darum statischen Verständnis von Kultur, Nation oder Ethnie festhalten. Als Gegenbegriff dazu beinhaltet Hybridität Aspekte der Transformation bzw. der Vieldeutigkeit und erweist sich deshalb häufig als geeigneter, um die zeitgenössischen Phänomene kultureller Identitätssuche oder Abgrenzung zu beschreiben. Vgl. Ackermann 2004, 140/141. 26 Vgl. Ackermann 2002a, 10. 27 Vgl. Ackermann 2004, 142. 25

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Kulturtheoretische Überlegungen zu einer politischen Philosophie

zum Standardprogramm multikultureller Koexistenz. 28 Solche historischen Tatsachen haben lange Zeit auch Einfluss auf die Forschung genommen. So konnte sich in der Wissenschaft beispielsweise ein essentialistischer Kulturbegriff etablieren, der Kulturen als unverwechselbare und historisch beständige Ganzheiten auffasst. 29 Mittlerweile wurden solche Kulturkonzepte aus den Kulturwissenschaften jedoch weitgehend verabschiedet. Zum einen, weil die Annahme von Kontinuität und Homogenität den Blick auf die tatsächlichen Variationen und Transformationen innerhalb von Kulturen verstellt; zum anderen, weil sie der Rolle des Menschen als kreativem Gestalter kultureller Prozesse keinen angemessenen Platz zuweisen kann. Gemäß dem klassischen Kulturverständnis des 19. Jahrhunderts veränderten sich Kulturen nicht aus sich selbst heraus, sondern lediglich durch den Kontakt mit anderen Kulturen. Heute hingegen wird Kultur als work in progress beschrieben, und der wissenschaftliche Blick richtet sich verstärkt auf die Herausforderungen, die sich daraus sowohl für die Binnensicht einzelner Kulturen, als auch für die verschiedenen Neuarrangements des Verhältnisses zwischen Kulturen ergeben. 30 Beachtung fanden dabei in der jüngeren Vergangenheit vor allem Theorien, die sich dem Phänomen der Globalisierung aus einer kulturtheoretischen Perspektive angenähert und die Konsequenzen thematisiert haben, die dieser Prozess für den gesellschaftspolitischen Umgang mit Fremdheit und Differenz zeitigt. Dazu zählen insbesondere: (1) Huntingtons These vom Kampf der Kulturen, (2) Ritzers Annahme einer allmählichen Homogenisierung der Kultur, die er zugespitzt auf den Begriff der McDonaldisierung gebracht hat, und (3) die Wahrnehmung einer Hybridisierung von Kultur, wie sie prominent etwa von Bhabha entwickelt wurde. 31 In allen drei Fällen geIn Europa hat sich dafür der Begriff der pluralen Gesellschaft eingebürgert. In den USA hingegen favorisierte man lange Zeit die Idee eines kulturellen Schmelztiegels, der alle Gesellschaftsmitglieder unabhängig von ihrer kulturellen Herkunft unter dem Banner von stars and stripes einen und verbrüdern sollte. Doch auch in den Vereinigten Staaten musste man erkennen, dass sich die soziale Realität besser in der Metapher von der bunten Salatschüssel einfangen ließ, in der die verschiedenen Ethnien und Kulturen zwar zusammengewürfelt, aber in ihrer Identität durchaus noch erkennbar geblieben waren. Vgl. Ackermann 2004, 142/143. 29 Vgl. Ackermann 2002a, 20. 30 Vgl. Ackermann 2004, 144. 31 Eine beispielhafte Darstellung dieser Entwicklungen, auf die in diesem Kapitel immer wieder Bezug genommen wird, findet sich bei Rehbein, Boike/Schwengel, Hermann (2008): Theorien der Globalisierung, Konstanz, 106–118. 28

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Fremdheit und Differenz in einer globalisierten Welt

raten Kulturen vor allem als Lebensformen in den Blick, die sowohl Einfluss auf die individuelle Identitätsbildung als auch auf das kollektive Identitätsverständnis in den jeweiligen Gesellschaften nehmen. (1) Der These vom Kampf der Kulturen 32 wird hier, trotz ihrer großen Popularität, die geringste Aufmerksamkeit geschenkt, da sie noch am deutlichsten in alten kulturessentialistischen Mustern verhaftet bleibt. Zwar zeigt sich Samuel P. Huntington darin nicht gänzlich unsensibel für die Entfremdungsproblematik, die sich aus Sicht nicht-westlicher Kulturen durch eine an westlichen Werten und Gesellschaftsmodellen orientierte Globalisierung ergeben kann. Seine Prophezeiung einer weltweiten Rückbesinnung auf das Kulturelle als wirkmächtigster einheitsstiftender politischer Kategorie gerät dabei allerdings derart unscharf, dass sie empirisch letztlich nicht belastbar ist. 33 (2) Auch George Ritzers zu Beginn der 1980er Jahre entwickelte These von der so genannten McDonaldisierung 34 geht von einer prinzipiellen, vor allem ökonomisch geprägten, Vereinheitlichung der Welt aus. Doch anders als der Politikwissenschaftler Huntington, deutet der Soziologe Ritzer diese nicht sogleich in Konfliktkategorien, sondern beschränkt sich auf deren sozioökonomische Analyse. Das Unternehmen McDonald’s, das Ritzers Theorie den Namen gab, verkörpert seiner Ansicht nach vier Prinzipien der Rationalisierung, die auch für den globalen Kapitalismus und die davon beeinflussten gesellschaftlichen Ordnungssysteme weltweit charakteristisch sind: Effizienz, Berechenbarkeit, Vorhersagbarkeit und Kontrolle. 35 Ritzer weist nun zum einen die Relevanz dieser vier Aspekte für das Unternehmen nach und macht zum anderen deutlich, inwieweit sie auch im Globalisierungsprozess – der allmählichen McDonaldisierung der Welt – sichtbar werden. Im Ergebnis zeigt sich dabei eine starke kulturübergreifende Homogenisierungstendenz, die aus Ritzers Sicht ambivalent zu bewerten ist. Auf der einen Seite erweist sich McDonald’s offenbar als Erfolgsmodell, das die Bedürfnisse der Konsumenten seit Jahrzehnten erfolgreich befriedigt und dementspreVgl. Huntington 32002. Zur Kritik vgl. beispielhaft Müller, Johannes (52001): Der Mythos vom Kampf der Kulturen – Globalisierung als Chance für eine Begegnung der Kulturen, in: Opitz, Peter J. (Hrsg.): Weltprobleme im 21. Jahrhundert, München, 321–334; hier: 323. 34 Vgl. Ritzer, George (21995): Die McDonaldisierung der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 35 Vgl. Ritzer 21995, 27–30. 32 33

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Kulturtheoretische Überlegungen zu einer politischen Philosophie

chend auch in seinem übertragenen Sinn als kulturelles Exportgut sehr gut funktioniert. Auf der anderen Seite wird in den Rationalisierungsprozessen aber auch eine deutliche Entfremdung spürbar, die sich sowohl auf die Arbeitsbedingungen innerhalb des Unternehmens als auch die Beziehungen zwischen Mitarbeitern und Kunden oder die Produktion der Nahrungsmittel auswirkt und das Modell McDonald’s wirtschaftlich wie kulturell als bedenklich erscheinen lassen. Während bei Ritzer die Annahme einer Homogenisierung der verschiedenen Kulturen zu einer Weltkultur vor allem auf der vereinheitlichenden Kraft des kapitalistischen ökonomischen Systems beruht, messen andere Sozialwissenschaftler den autochthonen kulturellen Traditionen mehr Widerstandsfähigkeit zu. Sie gehen davon aus, dass sich auch eine globale Kultur letztlich aus einer Vielzahl lokaler Besonderheiten zusammensetzt und diese nicht einfach verdrängt oder überformt. Interessant sind hier die Untersuchungen von James L. Watson, der auf Grundlage der McDonaldisierungs-These Ritzers die Restaurants der Fastfood-Kette speziell in Asien genauer untersucht hat. 36 Watson kommt dabei zu dem Schluss, dass zwar auch dort die von Ritzer benannten rationalistischen Prinzipien (Effizienz, Berechenbarkeit, Vorhersagbarkeit und Kontrolle) wirksam sind, dass es darüber hinaus aber auch zu spürbaren Abweichungen kommt. Gerade unter dem Aspekt der Vorhersagbarkeit werden viele Standardisierungen bei McDonald’s an die örtlichen kulturellen Gepflogenheiten angepasst. 37 Watson erkennt darin eine Tendenz zur Localization (dt. Lokalisierung), die letztlich eher gegen die Homogenisierungsthese einer McDonaldisierung der Welt spricht bzw. ihr ein anderes Gesicht hinzufügt. 38 (3) Der von Watson betonte Einfluss des Lokalen auf das Globale ist auch für die These von der kulturellen Hybridisierung bedeutsam. Allerdings erfährt dort das Wechselverhältnis von lokal und global insoweit eine neue Ausdeutung, als hier das Ursache-Wirkungs-Verhältnis der beiden vermeintlichen Gegenpole uminterpretiert wird. So wird die Bedeutung des Lokalen bei Hybridisierungstheoretikern nicht als (Abwehr-)Reaktion auf die Globalisierung in Stellung geVgl. Watson, James L. (Ed.) (1997): Golden Arches East. McDonald’s in East Asia, Stanford. 37 Vgl. Rehbein/Schwengel 2008, 109–111. 38 Vgl. Watson, James L. (1997): Transnationalism, Localization, and Fast Foods in East Asia, in: ders. (Ed.): Golden Arches East. McDonald’s in East Asia, Stanford, 1– 38; hier: 10–14. 36

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Fremdheit und Differenz in einer globalisierten Welt

bracht, sondern vielmehr als originärer Bestandteil jeder Globalisierungsentwicklung begriffen. 39 Unter Hybridität versteht man grundsätzlich Mischformen vormals voneinander getrennter Strukturen und Entitäten. In den Kulturwissenschaften bezieht sich der Begriff auf kulturelle Vermischungen, wie sie für plurale Gesellschaften in einer globalisierten Welt typisch sind. Dementsprechend behaupten Vertreter der Hybridisierungstheorie, wie etwa Homi K. Bhabha, dass unter den gegenwärtigen Standards kultureller, ökonomischer und sozialer Globalität von einer generellen Hybridität zeitgenössischer Kulturen ausgegangen werden kann. Kulturen sind aus dieser Perspektive heute weniger Orte der Identität, als vielmehr Orte eines fortwährenden Widerstreits von Identität und Differenz. 40 In ihnen formieren sich keine klar umrissenen Weltbilder und Wirklichkeitsvorstellungen, sondern eher diffuse Konzepte der Weltbewältigung, die fortwährend debattiert und ausgehandelt werden müssen. Kulturbegegnungen erfolgen deshalb auch nicht im Sinne eines Zusammenstoßes (engl. clash), der notwendigerweise die Verdrängung der einen oder anderen Kultur zur Folge hat. Typisch sind vielmehr Überschneidungen unterschiedlicher kultureller Muster, welche die Individuen zu ständigen Anpassungen, Umdeutungen und Neuinterpretationen dessen veranlassen, was sie als ihre eigene kulturelle Identität verstehen. Bei Homi K. Bhabha erhält das Konzept der Hybridisierung darüber hinaus noch einen stärker normativ-politischen Zuschnitt. Denn für Bhabha, der sich zunächst mit Postkolonialismusstudien befasste, geht es mit Blick auf die Globalisierungsphänomene insbesondere auch darum, die zuvor fest etablierten Strategien des Othering 41 zu überwinden, die beispielsweise in der dichotomischen Sprache von weiß und schwarz oder Herr und Sklave zum Ausdruck kommen. 42 Dabei begnügt er sich nicht damit, die sprachlichen Manifestationen und Fest-Stellungen kultureller Fremdheit und Differenz bloß aufzuzeigen. Sein Ansatz zielt vielmehr darauf, ein sehr Vgl. Rehbein/Schwengel 2008, 113/114. Vgl. Ackermann 2004, 148. 41 Unter Othering versteht man die kommunikative Konstruktion von Andersartigkeit. Vgl. Fabian, Johannes (1993): Präsenz und Repräsentation. Die Anderen und das anthropologische Schreiben, in: Berg, Eberhard/Fuchs, Martin (Hrsg.): Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation, Frankfurt a. M., 335– 364; hier: 358. 42 Vgl. Ackermann 2004, 148. 39 40

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Kulturtheoretische Überlegungen zu einer politischen Philosophie

viel allgemeineres Bewusstsein für die Schwierigkeiten von Minderheiten zu schaffen, die stets vor der Herausforderung stehen, sich in einer fremden Kultur erst einmal zurechtfinden zu müssen. 43 Ein zentrales Problem besteht etwa darin, sich sprachlich oder sozial im Kontext symbolischer Ordnungen äußern zu müssen, die durch Diskurse einer dominanten Kultur geprägt wurden, auf die man selbst keinen Einfluss hatte. 44 Nach Bhabha führt dies in der Regel zur Nachahmung der dominanten Kultur und somit zur nochmaligen Verfestigung der überkommenen Strukturen. Doch indem man durch die Nachahmungsprozesse selbst Teil der symbolischen Gestaltung der Kultur wird, lässt sich diese nun auch von innen her transformieren. Bhabha versteht Hybridität also weniger als eine Verschmelzungsstrategie, sondern setzt vielmehr auf die produktiven Kräfte, die sich aus den Differenzen ergeben. Denn diese Differenzen verbleiben im Kontext intentionaler Hybridität nicht im bloßen Versuch der Exklusion, sondern tragen dazu bei, die vormals externen Differenzen in den Innenbereich der eigenen hybriden Kultur zu verlagern. 45

10.3 Kultur und Öffentlichkeit Die vorangegangenen Beschreibungen möglicher Folgeerscheinungen einer kulturellen Globalisierung machen darauf aufmerksam, dass an den öffentlichen Raum in modernen Gesellschaften mehr oder weniger große normative Bedingungen geknüpft sind. Kommunikation in diesem Bereich soll frei und prinzipiell allen zugänglich sein. Daraus resultieren bestimmte Erwartungen an diejenigen, die in der Öffentlichkeit das Wort ergreifen sowie an die Formen und die Ergebnisse dieser Kommunikation. Darüber hinaus wird der Blick auf die Öffentlichkeit selbst gelenkt und die mit ihr einhergehenden Vorstellungen von öffentlichem Vernunftgebrauch, Meinungsfreiheit und demokratischem Diskurs. 46

Vgl. Bhabha, Homi K. (2000): Die Verortung der Kultur, Tübingen; hier: 59–96. Vgl. Bhabha 2000, 97–124. 45 Vgl. Ackermann 2004, 149. 46 Vgl. Schultz, Tanjev (2008): Öffentlichkeit, in: Gosepath/Hinsch/Rössler (Hrsg.): Handbuch der Politischen Philosophie und Sozialphilosophie. Bd. II, N–Z, Berlin, 925–929; hier: 925. 43 44

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Kultur und Öffentlichkeit

Die enge Verzahnung von Öffentlichkeit und Kommunikation ist auch zentraler Gegenstand kulturtheoretischer Reflexionen, die sich dem Verstehen von Kommunikation zuwenden. Denn Kommunikation rückt hier insbesondere als prozessuales Ereignis in den Blick, das um der Verständigung willen angestrengt wird. Im Gegensatz zu den klassischen Informationsweitergabe- und Informationsverarbeitungs-Modellen der Kommunikationstheorie, verlangen diese Verstehens-Ansätze von den beteiligten Akteuren gemeinsam geteilte Perspektiven. Sie sind demnach auf ein Verstehen-Wollen angewiesen, das sie jedoch selbst nicht voraussetzen können. 47 Was Verständigung im Kontext öffentlicher Kommunikation meint, lässt sich bezeichnenderweise am besten anhand misslungener Verständigung bzw. der grundlegenden Erfahrung von Kontingenz und Differenz in Verständigungsprozessen bewusst machen. Denn tatsächlich schafft erst die Ablehnung einer abweichenden Überzeugung Raum für das Beharren auf einer eigenen Position und somit für eine prozessuale Öffentlichkeit, die als ein Ringen um Deutungshoheiten verstanden werden kann. Diese dialektische Spannung ist auch kennzeichnend für das kulturelle Streben nach Anerkennung, das einerseits auf Universalisierung der eigenen Wert- und Normbestände drängt, andererseits aber auch vor deren Verallgemeinerung zurückschreckt, da mit einer solchen Universalisierung sogleich eine Entwertung des Eigentümlichen einhergeht. 48 Öffentlichkeit im oben beschriebenen Sinne ist das Ergebnis verschiedener struktureller Wandlungsprozesse, die sich heute vor allem im kulturgeschichtlichen Konzept der europäischen Moderne widerspiegeln. Sie ist aber nicht nur ein Produkt dieser Kulturgeschichte, sondern begründet auch das dort gängige Verständnis von Gesellschaft; »einer Gesellschaft, die dadurch erst ›Gesellschaft‹ im eigentlichen Sinne wird, weil sie zum einen nunmehr einen konkreten historischen und politischen Raum bezeichnet, zum zweiten legitimierende Interessen und politische Herrschaftsansprüche formiert und zum dritten ein zusammenhängendes und spezifisches Sprachund Zeichensystem entwickelt« 49.

Vgl. Kaschuba, Wolfgang (2004): Öffentliche Kultur – Kommunikation, Deutung und Bedeutung, in: Jaeger/Liebsch (Hrsg.): Handbuch der Kulturwissenschaften. Bd. 1, 128–138; hier: 129. 48 Vgl. Kaschuba 2004, 129. 49 Kaschuba 2004, 130. 47

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Kulturtheoretische Überlegungen zu einer politischen Philosophie

In Anlehnung an Jürgen Habermas lässt sich die Entwicklung dieser Öffentlichkeit im Kontext des europäischen Aufklärungsprozesses und einer daraus allmählich hervortretenden Bürgerschicht verorten, die im öffentlichen Konzert, Theater oder Literaturkreis neue Räume des Zusammenkommens und des kommunikativen Austausches etabliert. 50 Rasch werden diese neuen Räume zu einem Ort des Gesprächs über moralische oder ästhetische Vorstellungen, so dass sich die neu entstandene Öffentlichkeit mehr und mehr als ein Diskursraum mit gesellschaftlicher Gestaltungskraft versteht. Auf diese Weise entwickelt sich mit der Zeit ein eigenes bürgerliches Identitätsverständnis, das nicht nur mit öffentlichen Räumen, sondern auch mit der Teilhabe an gesellschaftspolitischen Prozessen und deren Institutionalisierung sowie mit eigenständigen Normkonzepten verknüpft ist. Kulturgeschichtlich gehen mit dieser Entwicklung vielfältige Wandlungsprozesse einher: Zum einen wird den überkommenen Herrschaftsstrukturen des Absolutismus das Konzept einer freien, auf ergebnisoffenen politischen Prozessen basierenden bürgerlichen Gesellschaft entgegengestellt. Zum anderen werden eigenständige Themen- und Zuständigkeitsbereiche politischer Kommunikation bestimmt und institutionalisiert, wobei Orte und kulturelle Formen etabliert werden, in denen die politische Selbstorganisation einen Platz finden und zum Ausdruck kommen kann. Die mit der Selbstorganisation zusammenhängenden Prozesse begründen schließlich eigene symbolische Formen und Ausprägungen, wozu beispielsweise auch das Wechselspiel von Integration und Abgrenzung bei der Durchsetzung bestimmter politischer Interessen gehört. 51 Zweifellos ist die so beschriebene bürgerliche Öffentlichkeit weniger ein historisches Faktum als vielmehr ein idealistisches Konstrukt, das, wenn überhaupt, in den vergangenen zwei Jahrhunderten immer nur teilweise verwirklicht war. Dies liegt daran, dass Öffentlichkeit auf gesellschaftlichen Voraussetzungen beruht (zu denken wäre hier etwa an stabile soziale und politische Strukturen), die weder in den nachabsolutistischen noch den frührepublikanischen Gesellschaften Europas tatsächlich verwirklicht waren. Dennoch gilt das skizzierte Öffentlichkeitsverständnis vor allem im bürgerlichen Milieu bis weit in das 20. Jahrhundert hinein als ein soziopolitisches Vgl. Habermas, Jürgen (1990): Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt a. M., 86–90. 51 Vgl. Kaschuba 2004, 131. 50

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Kultur und Öffentlichkeit

Ideal und ist – als Teil seiner symbolischen Praxis – bis heute kulturell wirksam. Dabei stört es auch nicht, dass bürgerliche Kultur weder damals noch heute wirklich offen, sondern vielmehr an bestimmte Voraussetzungen gebunden war, wie beispielsweise Bildung, soziale Kontakte und Vermögensverhältnisse. 52 Dieses Verständnis von Öffentlichkeit ist nicht unumstritten. Aus kulturkritischer Sicht etwa wurde die bürgerliche Öffentlichkeit vor allem als Produkt einer kapitalistischen Kulturentwicklung verstanden und aufgrund ihrer Fokussierung auf das Bürgerliche als inhaltlich zu eng kritisiert. Daneben legen neuere gesellschaftliche Tendenzen hin zu einer verstärkten Rückbesinnung auf das Private die Erkenntnis nahe, dass das Konzept der bürgerlichen Öffentlichkeit ein Relikt vergangener Tage sei. Hinzu kommt der Vorwurf einer zu starken Fixierung auf den europäischen Kontext und dessen Zivilisationsgeschichte. 53 Dennoch ist das Habermas’sche Öffentlichkeitsmodell ein wichtiger Ausgangspunkt für die kulturwissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit der Thematik geblieben. Das liegt vor allem daran, dass dieses Konzept noch immer mit vielen Ansprüchen übereinstimmt, die wir auch (oder vielleicht sogar: vor allem) heute an eine demokratisch organisierte politische Öffentlichkeit herantragen. Dazu zählt insbesondere der Bezug zur Vernunft als einem zentralen Motiv für demokratische Verständigungsprozesse, die nach wie vor auf Prinzipien wie Transparenz, argumentativen Austausch oder wechselseitige Anerkennung angewiesen sind. 54 In Ergänzung zu einem liberalen Verständnis von demokratischer Öffentlichkeit setzt Habermas dabei auf eine möglichst umfassende Partizipation aller Bürger am öffentlichen Meinungsaustausch. Dieser ist jedoch weniger vom Wettbewerb um Zustimmung als vielmehr vom diskursiven Ringen um das bessere Argument geprägt. Folglich zielt ein deliberatives Öffentlichkeitsverständnis auch weniger auf mehrheitsfähige Positionen, die dann aus einer Position der Stärke heraus auch gegen Mindermeinungen durchsetzbar sind, sondern vielmehr auf konsen-

Vgl. Kaschuba 2004, 132. Vgl. Kaschuba 2004, 133. 54 Vgl. dazu auch die grundlegenden Überlegungen in Habermas, Jürgen (1995a): Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 1. Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, Frankfurt a. M. sowie in Habermas, Jürgen (1995b): Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 2. Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt a. M. 52 53

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Kulturtheoretische Überlegungen zu einer politischen Philosophie

suelle Lösungen, die im gleichberechtigten Austausch miteinander errungen werden. 55 Zu Beginn des 21. Jahrhunderts haben sich viele der zuvor geschilderten Konfigurationen von Öffentlichkeit und Kultur gewandelt. Dies gilt sowohl mit Blick auf die Unterscheidung von lokal und global als auch hinsichtlich der Trennung von öffentlich und privat. Eine gewichtige Rolle kommt dabei der veränderten Medienlandschaft zu. Während im 18. Jahrhundert der sich rasch entwickelnde Zeitschriften- und Zeitungsmarkt die Konstituierung einer bürgerlichen Öffentlichkeit mitbegünstigte, scheinen die so genannten neuen Medien gegenwärtig eher eine öffentliche Kultur des Privaten zu etablieren. Verbunden sind diese Entwicklungen zudem mit einer massiven Zunahme und Beschleunigung des Informationsaustausches, was jedoch schon aufgrund der bloßen Menge an Nachrichten weniger zur Belebung des politischen Diskurses beiträgt, als vielmehr zu dessen Verflachung. 56 Darüber hinaus hat sich auch das Verständnis vom Bürger als dem zentralen Akteur im zuvor beschriebenen Öffentlichkeitsgefüge gewandelt. Im Konzept bürgerlicher Öffentlichkeit waren Bürgerinnen und Bürger vor allem durch ihre lokale Identität und Zugehörigkeit definiert. Solche Identitätsentwürfe sind mittlerweile brüchig geworden, da sich die Lebensentwürfe der Menschen pluralisiert haben. 57 Daraus resultieren Verunsicherungen, die bis heute immer wieder auch Bestrebungen zu einer Rückkehr in vormalige Identitätsgefüge beflügeln. Inwieweit solche Tendenzen allerdings einen Weg zurück in eine historische Wirklichkeit weisen, deren Sinnhorizonte vermeintlich eindeutiger und identitätsstiftender waren, ist fraglich. 58 Ein dritter Aspekt des Wandels betrifft die Vorstellungen von Kultur als Identitätskonzept. Dieser Ansatz trägt der zeitgenössischen Entwicklung Rechnung, dass Kulturen gegenwärtig einen hohen Stellenwert genießen und in ihren unterschiedlichen gesellschaftlichen Konzepten und Praxisformen ein höheres Maß an Anerkennung erfahren, als dies beispielsweise im Zeitalter des Kolonialismus der Fall war. Negative Konsequenzen dieser Entwicklung sind aller-

55 56 57 58

Vgl. Schultz 2008, 927. Vgl. Kaschuba 2004, 134/135. Vgl. Beck/Giddens/Lash 1996, 87–97. Vgl. Kaschuba 2004, 135.

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Kultur und Öffentlichkeit

dings die mit mancherlei Emanzipationsbedürfnissen einherschreitenden Fundamentalisierungen des Kulturellen. 59 Eine zeitgenössische Kultur der Öffentlichkeit, die unter den vorgenannten Bedingungen ein eigenes Profil gewinnen möchte, steht heute vor zwei zentralen Herausforderungen: Zum einen muss sie das kritische Potenzial zur Reflexion und Selbstreflexion einer Kultur stimulieren, die von Kommerz und sinnloser medialer Einwegkommunikation (Wolfgang Kaschuba) geprägt wird; zum anderen muss sie sich eines »negativen Kosmopolitismus« 60 erwehren, der durch die fortschreitende Universalisierung bestimmter Kommunikationsstile und -gehalte hervorgerufen wird und zu einem allmählichen Schwund kommunikativer Vielfalt führt. Wenn jedoch beides gelingt, kann eine Kultur der Öffentlichkeit aus den gegenwärtigen Trends zur Globalisierung und Kommerzialisierung zweifellos auch Profit schlagen. Denn der Vorrat und die Verfügbarkeit von Wissen und die damit verbundene Vielfalt an Sinnpotentialen war zu keinem Zeitpunkt der Menschheitsgeschichte größer als heute. 61

59 60 61

Vgl. Taylor 2009b, 58–60. Kaschuba 2004, 136. Vgl. Kaschuba 2004, 136.

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11. Politische Konsequenzen für ein auskömmliches Miteinander in Differenz

Die Auseinandersetzungen um Schleier und Kruzifix deuten aus einer politisch-philosophischen Perspektive sowohl Herausforderungen im Umgang mit kultureller Differenz als auch Schwierigkeiten in der Organisation eines konfliktfreien Zusammenlebens in pluralistischen Gesellschaften an. Dabei stehen jedoch nicht nur konkrete politische Fragen beispielsweise nach der Umsetzbarkeit einer institutionalisierten Förderung kultureller Identität oder einer nachhaltigen Integrationsarbeit für Migranten im Zentrum des Interesses. Von ausgesprochener Dringlichkeit sind in diesem Zusammenhang auch grundlegende Vergewisserungen darüber, inwieweit die auf kulturelle Neutralität ausgerichteten Prinzipien eines modernen liberalen Verfassungsstaates auf bestimmte wertvermittelnde Sinnhorizonte angewiesen sind bzw. ob unter diesen Bedingungen Identitätskonstruktionen auch gegen allgemein vorherrschende kulturelle Symboliken und Codes durchsetzbar sind oder nicht. 1 Hier kommt den Religionen als wichtigen sinnvermittelnden Teilbereichen der Kultur noch immer eine bemerkenswerte Rolle zu, denn Glaubensfragen scheinen nach wie vor in besonderer Weise geeignet, Identität zu stiften und stabile Abgrenzungskriterien festzulegen. 2 Bedauerlicherweise werden aber gerade im öffentlichen Diskurs um diese Funktion von Religion nur selten sachliche Argumente ausgetauscht. Oftmals dienen die Debatten schlicht der Befestigung altbekannter Klischees und Stereotype. Dies zeigt sich beispielhaft in der Auseinandersetzung um die richtige Balance im Verhältnis von Religion und Staat, die heute vor allem vor dem Hintergrund der Herausforderung einer gelingenden Integration muslimischer MinVgl. Reckwitz 2008, 691. Vgl. dazu u. a. Gephart, Werner (1999): Zur Bedeutung der Religionen für die Identitätsbildung, in: ders./Waldenfels, Hans (Hrsg.): Religion und Identität. Im Horizont des Pluralismus, Frankfurt a. M., 233–266.

1 2

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Politische Konsequenzen für ein auskömmliches Miteinander in Differenz

derheiten geführt wird. Während der Mehrheitsgesellschaft dabei ein völlig unproblematischer Umgang mit dem säkularen Erbe der Aufklärung attestiert wird, gilt die fehlende strukturelle Entkoppelung von Religion und Politik in weiten Teilen der arabischen Welt als sicheres Indiz für die prinzipielle Unfähigkeit der Muslime, eine auf säkularen und demokratisch legitimierten Werten und Normen gegründete Staat zu akzeptieren. Dieses Bild vom durch und durch religiösen Muslim und der säkularen Bundesbürgerin ist allerdings nicht mehr als eine Karikatur. 3 So wie es gläubige Bundesbürger gibt, die den öffentlichen Bedeutungsrückgang des Christentums bedauern und viele gesellschaftliche Dissonanzen mit der fehlenden Orientierung an vormals verbindlichen religiösen Normen und Werten erklären, gibt es auch säkulare Muslime, die die freiheitlichen Verfassungswerte um jeden Preis geschützt sehen wollen und jeder neuen Form der Politisierung von Religion und Glaubensfragen eine eindeutige Absage erteilen. Hier zeigt sich, dass gerade demokratische Gemeinschaften, trotz einer gewachsenen Sensibilität für die Bedeutung von Zugehörigkeit und Identifikation Einzelner mit bestimmten Gruppen und Gemeinschaften, die Orientierung an den freiheitlichen Bedürfnissen der Individuen nicht aus dem Blick verlieren dürfen. Wann immer es nämlich um die Frage geht, wieviel kulturelle Authentizität einzelnen Gesellschaftsgruppen zugemessen werden kann, ohne dass dadurch die Ansprüche anderer Gruppen, Ethnien oder Religionsgemeinschaften eingeschränkt oder gar verletzt werden, stehen nicht einzelne Kulturen oder Weltanschauungen im Vordergrund, sondern die Menschen, die sich mit diesen Kulturen und Weltanschauungen identifizieren. Es zählt zu den großen Stärken moderner liberaler Demokratien, dass sie prinzipiell um dieses Primat ihrer Bürger wissen und deren individuelle Belange entsprechend gut schützen. AllerVergleicht man beispielsweise die Daten zur Religiosität der Menschen aus der Studie »Muslimisches Leben in Deutschland« (2009), in der ausschließlich Muslime in Deutschland befragt wurden, mit den Ergebnissen aus den Umfragen des Religionsmonitors der Bertelsmann Stiftung (2008), der sich an Gläubige wie Nicht-Gläubige aller Konfessionen richtete (wobei unter 1000 Befragten nur 21 Muslime waren), zeigt sich mit Blick auf die gelebte Religiosität ein durchaus vergleichbares Bild: Gemäß der Daten aus »Muslimisches Leben in Deutschland« bezeichnen sich 50,4 Prozent der Muslime als »eher gläubig« (vgl. Haug/Müssig/Stichs 2009, 141) und 52 Prozent der Befragten des Religionsmonitors geben an, »durchschnittlich religiös« zu sein (vgl. Bertelsmann Stiftung (Hrsg.) (2007): Religionsmonitor 2008, 27).

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Politische Konsequenzen für ein auskömmliches Miteinander in Differenz

dings sollte dies nicht zu einer bloßen Betonung negativer Freiheitsrechte führen, die den Staat dazu veranlassen könnte, seine Aufgabe allein darin zu sehen, mögliche Hemmnisse für die Entfaltung individueller Freiheit abzubauen. Freiheit sollte hier vielmehr im Sinne einer positiven Ermöglichung gefördert werden, mit deren Hilfe die Individuen in die Lage versetzt werden, sich über ihre tatsächlichen Präferenzen aufzuklären. Diese bestehen interessanterweise selten in einer nur unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung, sondern richten sich vielmehr auf Ziele, in denen sich der Einzelne über sich selbst hinaushebt und als Teil eines größeren Sinnzusammenhangs versteht. 4 Im politischen Alltag demokratischer Gesellschaften werden solche über das Eigeninteresse hinausreichenden Ziele beispielsweise in der Ausbildung von Bürgertugenden sichtbar, die sich über die Einhaltung rechtlicher Rahmenbedingungen hinaus auch auf die Etablierung eines allgemeinen Gerechtigkeits- und Gemeinsinnes erstrecken. 5 Sie sind eng verknüpft mit der Bereitschaft, für den Mitmenschen einzustehen und sich dessen Belange zumindest insoweit zu eigen zu machen, als dies für die Ausbildung eines tragfähigen Gemeinschaftsgefühls notwendig erscheint. Dazu bedarf es zunächst einmal der Anerkennung der Anderen als gleichberechtigte Mit-Bürger, die mit gleichem Recht Ansprüche auf politische Teilhabe oder soziale Gerechtigkeit geltend machen können. Unter den pluralistischen Bedingungen einer globalisierten Welt ist dafür zudem ein gewisses Maß an Toleranz unentbehrlich. Dieses endet allerdings nicht auf der Ebene einer bloßen »Erlaubnis-Konzeption« 6, in der eine Majorität einer Minderheit die Bedingungen diktiert, unter denen das Zusammenleben zu erfolgen hat. Toleranz wird hier vielmehr im Sinne einer »Respekt-Konzeption« 7 oder gar »Wertschätzungs-Konzeption« 8 angestrebt, die auf einer gegenseitigen Achtung als Gleiche fußt. Bindet man die genannten Aspekte zusammen, werden hier wesentliche Grundlagen für einen politischen Humanismus 9 deutlich, der auch schon in der Symbolphilosophie Ernst Cassirers angelegt Vgl. Taylor 1992, 118–144. Vgl. Höffe, Otfried (2004): Wirtschaftsbürger – Staatsbürger – Weltbürger. Politische Ethik im Zeitalter der Globalisierung, München, 82–88. 6 Forst 2003, 42. 7 Forst 2003, 45. 8 Forst 2003, 47. 9 Mit dem Begriff politischer Humanismus soll hier insbesondere die praktische Di4 5

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Politische Konsequenzen für ein auskömmliches Miteinander in Differenz

ist und in dem die Freiheit des Menschen nach innen wie nach außen zum Dreh- und Angelpunkt wird. Denn die theoretische wie auch die praktische Freiheit beruhen nach Cassirer auf jener menschlichen »Kompetenz des Symbolisierens« 10, mit deren Hilfe der Mensch seinem Geist in unterschiedlichsten kulturellen Formen Ausdruck verleiht. Der darin implizierte Prozess freier Selbstverwirklichung ist jedoch nicht grenzenlos, denn er bringt in seinen kulturellen Manifestationen (etwa dem Staat) immer auch potenzielle Schranken dieser Freiheit hervor. Gegen diese möglichen Schwächungen oder gar Gefährdungen der Freiheit ruft Cassirer das im politischen Denken seit Leibniz etablierte »Prinzip der unveräußerlichen Grundrechte des Individuums« 11 auf und ergänzt es mit Kants Forderung aus der Friedensschrift nach einer republikanischen Verfassung. 12 Republikanismus und Menschenrechte bilden also die äußeren Klammern, zwischen denen sich eine humanistische Politik formieren kann, in der die politische Selbstbestimmung der Bürgerschaft genau so weit reicht, dass die universalen Rechte der Freiheit und Gleichheit des Einzelnen stets gewahrt werden. 13 Mit Blick auf die eingangs beschriebenen Konflikte um religiöse Symbole und die anschließend entwickelten kulturtheoretischen Interpretationen ihrer unterschiedlichen Wirk- und Funktionsweisen deutet sich hier mit Verweis auf einen politischen Humanismus zunächst nur ein vager politischer Lösungsweg an. Dieser kann aber insoweit an Kontur gewinnen, als er zur nochmaligen Reflexion der Bedeutung des Verhältnisses von Rechtstaatlichkeit und gutem Leben auch aus einer kulturphilosophisch-politischen Perspektive anregt. Denn gerade unter Bezugnahme auf die Cassirer’sche Symbolphilosophie mit ihrem stetigen Oszillieren zwischen geistiger und kultureller Formgebung lässt sich ein freiheitliches Gemeinschaftsideal entwerfen, das weder dem Rechten (Liberalismus) noch dem Guten mension des Menschenwürdeschutzes betont werden, die sich bei Cassirer aus dessen an Kant orientiertem Freiheitsverständnis ergibt (vgl. dazu auch Recki 2013, 73/74). 10 Rudolph, Enno (2015): Ernst Cassirers Staatsverständnis, in: Lüddecke/Englmann (Hrsg.): Das Staatsverständnis Ernst Cassirers, Baden-Baden, 12–21; hier: 13. 11 Cassirer 1929/2004, 296. 12 Vgl. Cassirer 1929/2004, 302. 13 Ganz ähnlich akzentuiert gegenwärtig auch Julian Nida-Rümelin seine Überlegungen zu einem politischen Humanismus, wenn er etwa in seinem Buch »Humanistische Reflexionen« schreibt: »Für Humanisten hat die kollektive Selbstbestimmung Grenzen und diese werden im Menschenrechtsdiskurs zu klären versucht.« (NidaRümelin, Julian (22018): Humanistische Reflexionen, Berlin, 412.)

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Politische Konsequenzen für ein auskömmliches Miteinander in Differenz

(Kommunitarismus) einen endgültigen systematischen Vorrang zuweisen muss. Es erkennt vielmehr in beiden Positionen Manifestationen einer geistigen kulturschöpferischen Kraft aus Freiheit, deren Qualität letztlich vor allem an ihrer politischen Funktionalität zu messen ist. Wo hingegen das Recht oder das gute Leben substanziellen Charakter erhalten und um ihrer selbst willen anvisiert werden, droht jener Freiheit Gefahr, die Cassirer sowohl als Motor menschlicher Bewusstseinstätigkeit als auch menschlicher Handlungsautonomie begreift. Humanität wird immer dort sichtbar, wo sich menschliche Freiheit in diesen beiden Dimensionen entfalten kann. Dies gilt es im Folgenden am Beispiel bürgerlicher Eigenverantwortung, gesellschaftlicher Toleranz und der wechselseitigen Anerkennung als Gleiche zu akzentuieren.

11.1 Bürgerliche Eigenverantwortung als politische Tugend In politischen Gemeinschaften werden moralische Anforderungen sowohl an Bürgerinnen und Bürger als auch an Institutionen adressiert. Während sich der politische Liberalismus dabei eher auf Institutionen und Gesetze konzentriert, neigen kommunitaristische oder tugendethische Positionen stärker dazu, den Menschen als Bürger in die Pflicht zu nehmen. Selten gehen die unterschiedlichen Positionen dabei so weit auseinander, dass sie nicht wenigstens einzelnen Aspekten der Gegenseite zustimmen können. Doch letztlich vertraut der Liberalismus gerechten Institutionen mehr als der Selbstlosigkeit der Bürger, während vor allem der Kommunitarismus auf die Moral der Menschen setzt und nicht glaubt, dass mit Regelungen allein ein guter Staat zu machen ist. 14 Für das Problemverständnis ist es nun weniger entscheidend, welcher der genannten Positionen man den Vorzug gibt. Viel wichtiger ist die Erkenntnis, dass auch die vom Liberalismus bevorzugten Institutionen nicht einfach vom Himmel fallen, sondern von Menschen »geschaffen, sodann mit Leben erfüllt und schließlich in diesem Leben ständig erneuert« 15 werden müssen. Dafür braucht es Tugenden bzw. eine bürgerliche Moral, wobei es ausreicht, diese im WeVgl. Höffe, Otfried (1999): Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, München, 190–192. 15 Höffe 1999, 192. 14

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Bürgerliche Eigenverantwortung als politische Tugend

sentlichen an den Gewalten im Staat zu orientieren. Otfried Höffe beispielsweise benennt drei Tugenden die jeweils exemplarisch für eine dieser Sphären stehen: (1) den Rechtssinn, (2) den Gerechtigkeitssinn und (3) den Gemeinsinn. Sind sie verwirklicht, kann sich jene bürgerliche Eigenverantwortung etablieren, die auch für das Gelingen freiheitlicher demokratischer Gemeinwesen unabdingbar ist. 16 (1) Die Tugend des Rechtssinnes besteht darin, sich rechtskonform zu verhalten. Rechtskonformität beschränkt sich allerdings nicht auf bloße Gesetzestreue im Sinne eines Legalismus. Wer rechtskonform lebt, achtet vielmehr elementare Rechtspflichten und verhält sich dementsprechend pflichtgemäß, schadet niemandem und erkennt Abmachungen an. Gesetze werden nach diesem Verständnis nicht um ihrer Gesetzlichkeit willen eingehalten, sondern weil sie als Ausfluss einer moralischen Gesinnung begriffen werden. Entsprechend sensibel reagiert eine mit Rechtssinn ausgestattete Bürgerin deshalb auch auf ungerechte Gesetze, denen sie eben nicht blind Folge leistet. 17 (2) Eine Gesellschaft gilt immer dann als gut, wenn sie gerecht organisiert ist. Dazu bedarf es vor allem gerechter Gesetze. Da in demokratischen Gesellschaften die gesetzgebende Gewalt von den Bürgerinnen und Bürgern ausgeht, kommt hier dem Gerechtigkeitssinn als bürgerlicher Tugend eine große Bedeutung zu. Dies gilt umso mehr, als der faktische politische Betrieb oft von Machtkalkülen geprägt ist und die diversen Interessenverbände und Lobbygruppen das Gerechtigkeitsprinzip häufig aus den Augen verlieren. Dagegen gilt es, Stellung zu beziehen und dem bürgerlichen Gerechtigkeitssinn insbesondere auf drei Ebenen zur Geltung zu verhelfen: der Verfassung, der Gesetzgebung und der Rechtsanwendung. Auf der Verfassungsebene verpflichtet dies dazu, alle Bürger als prinzipiell frei und gleichberechtigt anzuerkennen. Auf der Ebene der Gesetzgebung geht es um eine gerechte Verteilung der öffentlichen Aufgaben und Güter, und mit Blick auf die Rechtsanwendung gilt es, Praktiken ungerechter Vorteilsnahme zu vermeiden. 18 (3) Es gehört zu den geläufigen Krisendiagnosen moderner Gesellschaften, dass in ihnen ein Übermaß an politischer Einflussnahme auf die öffentliche Sphäre sichtbar wird. Häufig ist dann von einer 16 17 18

Vgl. Höffe 2004, 82. Vgl. Höffe 1999, 195–197. Vgl. Höffe 1999, 199–202.

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Politische Konsequenzen für ein auskömmliches Miteinander in Differenz

wachsenden Bürokratisierung oder Verstaatlichung die Rede. Gegen dieses Zuviel an Staat tritt ein bürgerlicher Gemeinsinn auf, indem er diejenigen gesellschaftlichen Aufgaben übernimmt, die von der Bürgerschaft selbst geleistet werden können. Dazu gehören gemeinnützige und ehrenamtliche Tätigkeiten aller Art, die in Summe das formen, was speziell im amerikanischen Raum als zivilgesellschaftliches Engagement bekannt ist. Damit verhilft der bürgerliche Gemeinsinn nicht nur dem staatstheoretischen Ideal der Subsidiarität zur Umsetzung. Er wirkt darüber hinaus auch jenem oft thematisierten Individualismus entgegen, der allein am Eigennutzen orientiert ist, und er macht deutlich, dass auch unter liberalen Bedingungen Hilfsbereitschaft und Solidarität möglich sind. 19 Der Gemeinsinn ist darüber hinaus auch diejenige Tugend, die am ehesten dafür geeignet scheint, eine Brücke zu dem am Beginn dieses Kapitels skizzierten politischen Humanismus zu schlagen. Denn er verbleibt nicht nur auf einer abstrakten gesellschaftspolitischen Ebene, sondern lässt sich auch insoweit für das je eigene bürgerliche Selbstverständnis akzentuieren, als er eine besondere Verwandtschaft zur Tugend der Freundschaft besitzt. Die Freundschaft wiederum wurde bereits in der Antike bei Aristoteles als für das politische Gemeinwesen besonders bedeutsam herausgestellt, denn der Freundschaftsbegriff erstreckt sich dort nicht nur auf den Bereich enger zwischenmenschlicher Bindungen, sondern auch auf schwächere Formen interpersonaler Beziehungen. Diese setzen nicht unbedingt Liebe und Zuneigung voraus, sondern lediglich die wechselseitige Anerkennung der so verbundenen Mitglieder einer Gemeinschaft als Gleiche. 20 Durch diese Anerkennungsperspektive scheint auch der Bürgersinn als zeitgenössische Transformation der bürgerlichen Freundschaft gut dazu geeignet, jenes einigende Band zwischen Bürgerinnen und Bürgern zu festigen, das in liberalen Gesellschaften häufig vermisst wird, denn ihm gelingt »wozu Institutionen allein nicht fähig sind: eine Vernetzung der Menschen untereinander, die für Zusammenhalt und Eintracht sorgt und auf diese Weise zum Gemeinwohl beiträgt.« 21

Vgl. Höffe 1999, 212–214. Vgl. dazu auch Vogt, Katja (2008): Freundschaft, in: Gosepath/Hinsch/Rössler (Hrsg.): Handbuch der Politischen Philosophie und Sozialphilosophie. Bd. I, A–M, Berlin, 342–345. 21 Höffe 2004, 88. 19 20

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Der Gedanke der Toleranz

Die Umsetzung der genannten bürgerlichen Tugenden dient jedoch nicht nur dazu, den Staat in seinen öffentlichen Ordnungs- und Koordinierungsfunktionen zu unterstützen. Ein angewandter Rechtssinn, Gerechtigkeitssinn oder Gemeinsinn hält die Bürgerinnen und Bürger auch dazu an – im gebotenen Fall – das Gut der bürgerlichen Freiheit vor staatlichen Eingriffen zu schützen. 22 Damit setzt eine funktionierende und von freiheitlichen Prämissen geprägte Bürgergesellschaft nicht nur das Prinzip der Eigenverantwortung um, sondern weist dem Staat auch seinen angemessenen Platz zu. Denn dieser ist erst dort für das Gemeinwohl zuständig, wo die bürgerschaftliche Hilfe zur Selbsthilfe allein nicht ausreicht. Diese Einsicht erwächst dabei nicht nur der Sorge vor möglichen Engpässen in einem chronisch unterfinanzierten Sozialstaat, sondern resultiert aus der grundlegenden bürgerlichen Überzeugung, für »das Gemeinwohl […] mitverantwortlich« 23 zu sein. Eine Bürgergesellschaft, die in diesem Sinne selbstverantwortlich wirkt, befördert nicht zuletzt die Idee der Freiheit selbst. Denn zum einen schützt sie die Gemeinschaft vor übermäßigen Einflussnahmen und Gängelungen durch den Staat und seinem bürokratischen Apparat, zum anderen weist sie dem Staat seine eigentlichen Aufgaben und Funktionen neu zu. Die so aktiv am politischen Prozess teilnehmenden Bürger können sich auf diesem Wege gleich in zweifacher Weise ihres liberalen bürgerlichen Selbstverständnisses neu vergewissern: indem sie sich erstens endgültig von ihrem Status als Untertanen befreien und sie sich zweitens hinsichtlich der Beantwortung der Frage aufklären, was durch die Idee der Menschenwürde eigentlich geschützt werden soll – materieller Wohlstand oder doch die Idee der Freiheit selbst? 24

11.2 Der Gedanke der Toleranz Neben dem zuvor beschriebenen Bürgersinn verlangt die Pluralität der Weltbilder und Überzeugungen in einer liberalen Gesellschaft auch ein hohes Maß an Toleranz unter ihren Mitgliedern. Was dabei Vgl. dazu auch Höffe, Otfried (2015): Kritik der Freiheit. Das Grundproblem der Moderne, München, 192–194. 23 Höffe 2015, 193. 24 Vgl. Höffe 2015, 193/194. 22

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Politische Konsequenzen für ein auskömmliches Miteinander in Differenz

mit Toleranz genau gemeint ist, bleibt allerdings oftmals unklar, denn nur selten herrscht in den öffentlichen Diskursen Einigkeit darüber, wer oder was eigentlich zu tolerieren ist. Das liegt weniger am Mangel geeigneter Definitionen des Toleranzbegriffs als vielmehr daran, dass Toleranz eine sehr anspruchsvolle bürgerliche Tugend ist, die in sich große Zumutungen enthält. In einem definitorisch schlanken Sinne kann man Toleranz zunächst einmal als eine Einstellung begreifen, die »zugleich Ablehnung und Geltenlassen von Haltungen und Handlungen von Personen [beinhaltet] mit dem Ergebnis einer Duldung oder einer friedlich bleibenden Koexistenz, eventuell sogar gesteigert bis hin zum gegenseitigen Respekt.« 25 Toleranz zeichnet sich also durch eine charakteristische Gleichzeitigkeit von Duldung und Ablehnung aus und ist in diesem Sinne klar von anderen Haltungen wie etwa der Anerkennung oder der Gleichgültigkeit abzugrenzen. Damit allein ist die Komplexität des Toleranzbegriffes allerdings noch nicht hinreichend erfasst, so dass es unter Rückgriff auf die Überlegungen von Rainer Forst sinnvoll erscheint, weitere Aspekte dieser Tugend auszubuchstabieren und voneinander abzugrenzen. 26 Da ist zunächst der gesellschaftlich-politische Kontext, in dem Toleranz geübt werden soll, und die Frage nach den Subjekten und den Objekten von Toleranz (also danach, wer Toleranz üben und worauf sich die Toleranz beziehen soll). Ein zweiter Aspekt bezieht sich auf die AblehnungsKomponente von Toleranz, denn von wirklicher Toleranz kann immer nur dann die Rede sein, wenn eine Position oder ein Verhalten toleriert wird, das prinzipiell als problematisch, falsch oder schlecht angesehen wird. Positiv ergänzt wird dieser Negativaspekt, drittens, durch die Akzeptanz-Komponente der Toleranz. Der Grund dafür liegt schlicht darin, dass tolerantes Verhalten selbst immer auf positiven Gründen fußen muss, die das zu tolerierende Verhalten überflügeln. Dazu zählt etwa der grundsätzliche Respekt bzw. die Wertschätzung gegenüber dem, was toleriert werden soll. Der vierte Aspekt von Toleranz wird durch die Grenze der Toleranz markiert, also durch den Bereich, an dem die Toleranz endet und das Recht zur Regulierung von Sachverhalten oder zur Maßregelung von Personen hinzugezogen werden muss. Darüber hinaus muss Toleranz aus freiHastedt, Heiner (2012): Toleranz, Stuttgart, 13. Die nachfolgenden Erläuterungen in diesem Abschnitt orientieren sich durchweg an Forst 2003, 31–41.

25 26

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Der Gedanke der Toleranz

en Stücken geübt und darf nicht erzwungen werden. Und zuletzt gilt es zu beachten, dass mit Toleranz sowohl eine kulturelle Praxis als auch eine innere Haltung gemeint sein kann. Praxis und Haltung können sich zwar prinzipiell ergänzen, sind jedoch nicht zwingend aufeinander angewiesen. Nimmt man diese systematische Begriffsanalyse zum Ausgangspunkt der weiteren Überlegungen, kann von Toleranz also immer nur dann die Rede sein, wenn am Anfang ein negatives Urteil steht. Nur derjenige, den beispielsweise das Kopftuch der muslimischen Lehramtskandidatin stört, kann sich, indem er es akzeptiert, tolerant verhalten. Eine andere Person, die sich am Kopftuch nicht stört oder es gar aus Begeisterung für kulturelle Vielfalt in ihrer Umgebung schätzt, lässt sich hingegen nicht als tolerant beschreiben, sondern vielmehr als unvoreingenommen oder anerkennend. Mit anderen Worten: »Toleranz, die leichtfällt, ist keine; denn nur Abgelehntes kann der Toleranz unterliegen.« 27 Toleranz kommt demnach immer erst dort ins Spiel, wo man etwas erleiden oder erdulden muss und dann vor diesem Hintergrund ein tugendhaftes Verhalten an den Tag zu legen hat. Worin die Tugendhaftigkeit in solchen Fällen tatsächlich besteht, ist dabei zunächst noch eine offene Frage. Denn während es die einen als tugendhaft ansehen, sich duldsam zu verhalten, begreifen die anderen Toleranz in solchen Kontexten eher als Weg des geringsten Widerstandes. Sie fordern daher vor allem Mut und Entschlossenheit bei der Durchsetzung eigener, als wichtig empfundener Wert- und Normvorstellungen. Dabei verkennen sie jedoch zumeist den Aspekt von Toleranz, der mit der Notwendigkeit einer Grenzziehung verbunden ist. 28 Denn obschon die Motive für Toleranz vor allem in zwischenmenschlicher Anerkennung und Respekt gegenüber dem freien Willen anderer Personen liegen, sind sie nicht mit einer relativistischen Haltung oder voraussetzungsloser Menschenliebe zu verwechseln. Bereits diese ersten Hinweise lassen mit Blick auf den zeitgenössischen bürgerlichen Rechtsstaat den Schluss zu, dass Toleranz zwar eine politische Tugend darstellt, keineswegs aber bedingungslos eingefordert werden kann. Gerade die totalitären Regime des frühen 20. Jahrhunderts sind ein Beleg dafür, dass insbesondere Intoleranz 27 28

Hastedt 2012, 14. Vgl. Forst 2003, 37.

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Politische Konsequenzen für ein auskömmliches Miteinander in Differenz

nicht toleriert werden muss; und dies gilt auch dann, wenn sie mit dem Deckmantel der Meinungsfreiheit getarnt wird. In diesem Zusammenhang ist Dolf Sternberger beizupflichten, der bereits 1946 mit dem Satz: »Keine Duldung den Feinden der Duldung!« 29 unterstrich, dass die Feinde der Toleranz selbst keinen Anspruch auf Toleranz geltend machen können. 30 Gerade bei der Definition der Grenzen von Toleranz ist deshalb auch der Staat in der Pflicht, Gesetze zu verabschieden, die klare Rahmenbedingungen vorgeben. In der Bundesrepublik Deutschland wird dies vor allem im Umgang mit dem Nationalsozialismus und dessen Zeichen und Symbolen deutlich, die in der Öffentlichkeit nach wie vor verboten sind. Hier ist die freie Meinungsäußerung eindeutig eingeschränkt, aber die damit verbundene Grenzziehung in Fragen der Toleranz wird mehrheitlich akzeptiert. 31 Ohnehin ist die Mehrheitsmeinung nur bedingt ein Gradmesser dafür, was tolerabel ist und was nicht. So stand beispielsweise männliche Homosexualität noch in den 1950er Jahren mit der Begründung unter Strafe, dass sie einen Verstoß gegen das allgemeingültige Sittengesetz darstelle. 32 Toleranz kann also nicht allein davon abhängen, was eine Gemeinschaft noch als grundsätzlich hinnehmbar ansieht und was nicht. Sie ist nicht bloß ein großzügiges Entgegenkommen oder gnädiges Wohlwollen. Toleranz ist vielmehr eine Frage der Gerechtigkeit und der Vernunft. 33 Rainer Forst veranschaulicht dies anhand des Beispiels der Debatten um den Bau von Minaretten oder Moscheen. Nach Forst ist die Frage nach dem Recht einer Religionsgemeinschaft, einen Gebetsort zu errichten, keine Frage der Duldung durch eine nicht-muslimische Mehrheit, sondern eine Frage der Gerechtigkeit gegenüber einer religiösen Minderheit, die nicht aufgrund ihres Minderheitenstatus gegenüber der Mehrheit benachteiligt werden darf. 34 Sternberger, Dolf (1988): Toleranz als Leidenschaft für die Wahrheit, in: ders.: Gut und Böse. Moralische Essais aus drei Zeiten, Schriften IX, Frankfurt a. M., 141–166; hier: 166. 30 Vgl. dazu auch Hastedt 2012, 15–18. 31 Vgl. etwa Volkmann, Uwe (2000): Grund und Grenzen der Toleranz, in: Der Staat (39/3), 325–353; hier: 332. 32 Vgl. Volkmann, zitiert nach Dachselt, Rainer (2015): Kruzifix, Kopftuch, Karikaturen – wie tolerant müssen wir sein?, in: Oehler, Regina/Tillmanns, Julika (Hrsg.): Philosophie. Was geht mich das an?, München, 35–47; hier: 42. 33 Vgl. Forst, Rainer (2000b): Toleranz, Gerechtigkeit und Vernunft, in: ders. (Hrsg.): Toleranz, Frankfurt a. M./New York, 119–143; hier: 131. 34 Vgl. Forst, zitiert nach Dachselt 2015, 43. 29

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Der Gedanke der Toleranz

Toleranz hängt also nicht von individuellem Gutdünken ab, sondern basiert auf Gründen. Sie nach dem eigenen Empfinden oder der Mehrheitsmeinung zuzumessen, reicht folglich nicht aus. Übertragen auf das oben genannte Bespiel bedeutet das: Es bedarf gewichtiger Gründe, um einer muslimischen Gemeinde den Bau einer Moschee zu untersagen und damit das Recht der Gläubigen auf freie Religionsausübung zu beschneiden. Natürlich kann es solche Gründe geben, doch der bloße Hinweis, beispielsweise auf die Gewöhnungsbedürftigkeit des Anblicks einer Moschee, erfüllt diese Kriterien nicht. Toleranz gegenüber Muslimen bedeutet in diesem Kontext vielmehr Anerkennung; und zwar Anerkennung der Muslime als freie und gleiche Mitbürger. Und diese Anerkennung wiederum ist mit dem Wissen verknüpft, diesen Mitbürgern Einschränkungen ihrer Freiheit nicht aufgrund von Vorurteilen zumuten zu können, sondern nur vor dem Hintergrund plausibler und auch für die Betroffenen selbst nachvollziehbarer Gründe. 35 Gerade in modernen, weltanschaulich pluralen Gesellschaften besitzt der vernunftgeleitete Toleranzbegriff deshalb viel Plausibilität. Das ändert allerdings nichts daran, dass die Grenzen der Toleranz heutzutage nach wie vor umstritten sind. Um das Erreichte jedoch nicht immer wieder neu zur Disposition stellen zu müssen, sind verschiedene Aspekte von Toleranz mittlerweile Gegenstand positiven Rechts (zu denken wäre hier etwa an Antidiskriminierungsgesetze). Solche gesetzlichen Verpflichtungen zu Toleranz kann man einerseits als großen Fortschritt auf dem Weg zu einer toleranteren Gesellschaft wahrnehmen, man kann sie andererseits jedoch auch als staatliche Gängelung bzw. als Eingriff in den persönlichen Freiheitsbereich verstehen. Gerade die Antidiskriminierungsgesetze stehen somit bisweilen selbst im Verdacht, unter dem Vorwand der Toleranz eine Politik der Intoleranz gegenüber denjenigen zu begünstigen, deren Ansichten vom Moralkodex der Politik abweichen. Und tatsächlich besteht hierin die Gefahr eines gesetzlichen Moralismus und somit einer Instrumentalisierung des Rechts. Dennoch schärft eine solche Gesetzgebung auch den Blick für die Achtungsansprüche der Bürgerinnen und Bürger, die in der Vergangenheit oftmals vernachlässigt wurden. 36 Fasst man die genannten Aspekte zusammen, so bleibt die Toleranz eine der zentralen Forderungen im Umgang miteinander und 35 36

Vgl. Forst, zitiert nach Dachselt 2015, 43/44. Vgl. Forst 2003, 675–680.

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Politische Konsequenzen für ein auskömmliches Miteinander in Differenz

muss deshalb in einer bürgerlichen Gesellschaft auch als eine zentrale politische Tugend wahrgenommen werden. Sie ist allerdings deutlich anspruchsvoller als ein eindimensionaler Diskurs zwischen Duldern und Geduldeten, da sie die grundsätzliche Bereitschaft voraussetzt, gesellschaftliche Konflikte gerecht und ergebnisoffen auszutragen und sie nicht einseitig zu dominieren und möglicherweise sogar gewaltsam zu unterbinden. 37 Dies fällt natürlich immer dann besonders schwer, wenn solche Konflikte an eingelebten Gewohnheiten rühren und die gängigen Lebensformen der Bevölkerungsmehrheit herausfordern. Doch andererseits lässt sich das kulturell und gesellschaftlich Erreichte vielleicht erst dann angemessen wertschätzen, wenn es durch äußere Einflüsse in Frage gestellt und dadurch als Privileg erkannt wird, für das es sich diskursiv zu streiten und zu kämpfen lohnt.

11.3 Gleichheit und Anerkennung als Zielperspektive Schon bei der Akzeptanz-Komponente der Toleranz war davon die Rede, dass tolerantes Verhalten letztlich auf Gründen basieren muss, die das zu tolerierende Verhalten überflügeln. Dabei wurde auf einen grundsätzlichen Respekt bzw. eine prinzipielle Wertschätzung verwiesen. Solche Grundnormen des Zusammenlebens ergeben sich aus einer Haltung, die man als wechselseitige Anerkennung als Gleiche beschreiben könnte. Im nun Folgenden geht es darum, das Prinzip der Anerkennung zu erläutern und seine Implikationen gerade für eine Begegnung mit Fremden fruchtbar zu machen. Anerkennung findet immer dann statt, wenn andere Personen, Meinungen, Ansprüche etc. nicht nur wahrgenommen, sondern auch akzeptiert werden. Es geht also nicht bloß darum, etwas überhaupt zu erfassen, sondern es auch evaluativ zu bestätigen. 38 Dies wird im Bereich zwischenmenschlicher Anerkennung besonders deutlich: Von Anerkennung kann nämlich immer nur dort gesprochen werden, wo ein Mensch einen anderen Menschen »zur Kenntnis nimmt und respektiert.« 39 Auf zwischenmenschlicher Ebene ist Anerkennung zu-

Vgl. Dachselt 2015, 47. Vgl. Pollmann, Arnd (2008): Anerkennung, in: Gosepath/Hinsch/Rössler (Hrsg.): Handbuch der Politischen Philosophie und Sozialphilosophie. Bd. I, A–M, Berlin, 28– 33; hier: 28. 39 Pollmann 2008, 28. 37 38

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Gleichheit und Anerkennung als Zielperspektive

dem immer auch auf Wechselseitigkeit angelegt; d. h. sie findet nur dann statt, wenn sich die Menschen gegenseitig sowohl als Anerkennende als auch als Anzuerkennende begegnen. Schon aus diesen ersten Hinweisen wird ersichtlich, dass die wechselseitige Anerkennung der Menschen als Gleiche (also als gleichwertig Anzuerkennende) eigentlich sämtlichen Überlegungen zur (Sozial-)Moral vorausliegt. Denn das soziale Miteinander als symmetrisches Wechselspiel von mit gleichen Rechten und Pflichten ausgestatteten Individuen, die sich sowohl als Urheber als auch als Empfänger der Moral begreifen, ist ohne das Prinzip zwischenmenschlicher Anerkennung gar nicht denkbar. 40 Diese Überzeugung liegt auch den meisten politisch-philosophischen Überlegungen zu Grunde, wenngleich dort weniger der prinzipielle Status der Anerkennung reflektiert wird als vielmehr die Frage, inwieweit die Anerkennungsverhältnisse in einer Gesellschaft auch gerecht verteilt sind. Hier geht es also darum, ob jedes Gesellschaftsmitglied die ihm zustehende Anerkennung erfährt oder nicht. 41 Wenn nun in modernen Gesellschaften Anerkennungsverhältnisse immer wieder scheitern, liegt dies häufig daran, dass sich die verschiedenen Gesellschaftsmitglieder nicht länger als Gleiche in einem sozialen bzw. politischen Sinne wahrnehmen. So werden beispielsweise einzelnen Personengruppen (in der Regel sind es Minderheiten) von Teilen der Mehrheitsgesellschaft gewisse Rechte oder Ansprüche abgesprochen. Hintergrund dafür ist, dass die plurale und offene Struktur moderner Gesellschaften ein identitätsstiftendes kulturelles Selbstverständnis erschwert oder gar unmöglich macht. Dabei geht die Nicht-Anerkennung freilich nur in Extremfällen soweit, dass dem Gegenüber der Status eines vollwertigen Gesellschaftsmitglieds abgesprochen wird. Typisch ist vielmehr, dass die Allgemeingültigkeit einzelner Aspekte der Gleichheit, die sich etwa auf die bürgerlichen Rechte oder die individuellen Freiheiten beziehen, in Frage gestellt oder gegen andere Gleichheitspostulate in Stellung gebracht wird. 42 Vgl. Pollmann 2008, 31. Der Frage, ob sich Anerkennung auch in einer Anerkennung von Differenz (also einer Art Anerkennung der wechselseitigen Ungleichheit) ausdrücken kann, soll hier nicht weiter nachgegangen werden. Vgl. dazu allgemein: Taylor 2009b. 42 Für eine systematische Auseinandersetzung mit dem Gleichheitsbegriff vgl. Koller, Peter (2008): Gleichheit, in: Gosepath/Hinsch/Rössler (Hrsg.): Handbuch der Politischen Philosophie und Sozialphilosophie. Bd. I, A–M, Berlin, 438–445. 40 41

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Politische Konsequenzen für ein auskömmliches Miteinander in Differenz

Gegen solche Relativierungstendenzen lassen sich allerdings universalisierbare Gleichheitsprinzipien stark machen, die jeder Einschränkung schon logisch zuwiderlaufen. Dazu zählt mit Blick auf den Gleichheitsbegriff insbesondere das Gebot der gleichen Achtung, das neben der Verteilungsgerechtigkeit den normativen Kerngehalt der Idee der Gleichheit bildet. Denn nur die Annahme, dass allen Menschen prinzipiell der gleiche Wert und die gleiche Würde zuzuschreiben sind, »gebietet es, andere als Gleiche zu behandeln.« 43 Eine solche moralische Grundprämisse lässt aber noch immer die Frage offen, wie man einen so verstandenen Gleichheitsbegriff für alle Menschen auch faktisch zur Umsetzung bringen kann. Die Frage der Anerkennung, so scheint es, bedarf hier der Ergänzung um den Aspekt der politischen Zugehörigkeit. 44 Einen Versuch in dieser Hinsicht unternimmt Seyla Benhabib, die im Rückgriff auf Kant den Gedanken einer unter Menschen allgemein geschuldeten Hospitalität untersucht und ihn exemplarisch auf die Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Zuwanderung anwendet. 45 Benhabib greift zu diesem Zweck auf Kants kleine Schrift Zum ewigen Frieden zurück, in der dieser einen globalen Frieden denkt, der unter anderem auf Grundlage eines Weltbürgerrechts (ius cosmopoliticum) zu stiften ist. 46 Dieses Weltbürgerrecht ergibt sich im Wesentlichen daraus, dass alle Menschen als »Bürger eines allgemeinen Menschenstaats anzusehen sind« 47, woraus ihnen wiederum gewisse Ansprüche erwachsen. Einen dieser Ansprüche präzisiert Kant im dritten Definitivartikel seiner Schrift. Es handelt sich um das Recht auf »Hospitalität« 48. Kant versteht darunter das Recht eines Fremden, auf fremdem Gebiet »nicht feindselig« behandelt zu werden. Da es Kant jedoch nicht um »Philanthropie« geht, sondern um Recht, betont er sogleich, dass dieses »Besuchsrecht« nicht mit einem »Gastrecht« 49 verwechselt werden dürfe, dem gesonderte Verträge zu Grunde zu liegen hätten. Koller 2008, 442. Vgl. dazu die Grundüberlegungen in Benhabib, Seyla (2008): Die Rechte der Anderen. Ausländer, Migranten, Bürger, Frankfurt a. M., 24–35. 45 Vgl. Benhabib 2008, 36–55. 46 Vgl. Kant, Immanuel (1795/1973): Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, Stuttgart, 23. 47 Kant 1795/1973, 24. 48 Kant 1795/1973, 35. 49 Kant 1795/1973, 35/36. 43 44

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Gleichheit und Anerkennung als Zielperspektive

In ihrer eigenen Untersuchung greift Benhabib nun diesen Hospitalitäts-Ansatz auf, wobei sie zunächst deutlich macht, dass jeder Gast in einem fremden Land zunächst immer »ein Außenstehender« 50 bleibt. Denn während der Anspruch auf Hospitalität nach Kant als eine »allgemeine moralische Verbindlichkeit« 51 angesehen werden kann, unterliegt doch das Gastrecht dem Vorbehalt des Souveräns. Der Souverän ist nicht dazu verpflichtet, dem Fremden einen »besondere[n] wohltätige[n] Vertrag« 52 anzubieten, der seinen Status eindeutig regelt. Somit bleibt der Gast stets auf die Freigiebigkeit des Souveräns angewiesen; ein Zustand, in dem Jacques Derrida die Wurzeln für eine bemerkenswerte Paradoxie zwischen einem Recht und einer Ethik der Gastfreundschaft erkennt. Kant ist nach Derrida derjenige, »der die Möglichkeit dessen, was er auf diese Weise [gemeint ist: mit seinem Ansatz der allgemeinen Hospitalität, Anm. M. R.] postuliert und bestimmt, an ihrer Wurzel beseitigt. Dies hängt mit der Juridizität dieses Diskurses zusammen, mit der Einschreibung des Prinzips der Gastfreundschaft in ein Recht, während doch die unendliche Idee der Gastfreundschaft dem Recht selbst widerstehen müßte« 53. Dieses Problem bringt Derrida auf die Formel der hostipitalité 54 (Gastfeindschaft) und markiert somit die enge Verzahnung zwischen dem Fremden bzw. Gast (hospes) und dem Feind (hostis), die – wie auch Seyla Benhabib betont – »im ›Gast-Sein‹ stets einbegriffen ist« 55. Bei Benhabib scheint ein spezifisches Dreiecksverhältnis auf, in dem die Frage nach politischer Identität heute zu denken ist. Dieses Dreiecksverhältnis wird durch die Eckpunkte Kultur, Recht und Staat bestimmt. Die besonderen Herausforderungen dieses Verhältnisses zeigen sich vor allem im Hinblick auf den modernen Nationalstaat, der bei genauerer Betrachtung eine für den Untersuchungsgegenstand bedeutende Paradoxie offenbart. 56 Sie besteht darin, dass eben nicht nur die Souveränitätsansprüche der jeweiligen Nation zu den Benhabib, Seyla (2013): Gleichheit und Differenz. Die Würde des Menschen und die Souveränitätsansprüche der Völker im Spiegel der politischen Moderne, Tübingen, 15. 51 Benhabib 2013, 15. 52 Kant 1795/1973, 36. 53 Derrida, Jacques (2001): Von der Gastfreundschaft, Wien, 55/56. 54 Derrida 2001, 38. 55 Benhabib 2013, 15. 56 Vgl. Benhabib 2008, 51–55. 50

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Politische Konsequenzen für ein auskömmliches Miteinander in Differenz

Legitimationsquellen des Nationalstaates zählen, sondern auch das Prinzip einer gleichberechtigten Staatsbürgerschaft. Beide Aspekte treten jedoch gegenwärtig in ein immer stärker werdendes Spannungsverhältnis zueinander. Dieser Herausforderung versuchte Hannah Arendt bereits in den 1950er Jahren mit ihrem Konzept eines Rechts auf Rechte zu begegnen. 57 Arendt fordert nicht nur einen gültigen Anspruch auf Rechte für jedermann, sondern auch ein Recht auf Mitgliedschaft in einem politischen Gemeinwesen, das allein die Gewährung des Rechts auf Rechte verbürgen kann. Die Pointe der Arendt’schen Theorie fasst Seyla Benhabib so zusammen: »Das ›Recht auf Rechte‹ beruht nicht auf der Annahme eines vorpolitischen natürlichen Individuums, sondern bezieht sich stattdessen auf den staatsbürgerlichen Status der Rechtsperson, die als Bürgerin zu einer politischen Gemeinschaft gehört« 58. Im Umkehrschluss folgt daraus aber natürlich auch, dass überall dort, wo nationale Souveränität den Ausschluss bestimmter Menschen begründet, die Volkssouveränität de facto zu einer Aberkennung des Rechts auf Rechte führt. Dieser Gedanke Hannah Arendts zwingt förmlich dazu, sich eingehender mit dem Wesen des Rechts im hier vorgegebenen Kontext auseinanderzusetzen. Konkret geht es dabei um die Frage, worin die Autorität des Rechts letztlich gründet: in der Vernunft, in einer vorpolitischen religiösen Ordnung oder gar in einem bloßen Willensakt? 59 Zu den klassischen vernunftrechtlichen Argumentationen zählt dabei die Vorstellung eines auf Grundsätzen der Gerechtigkeit basierenden Rechts. Naturrechtliche Positionen hingegen vertreten einen Rechtsbegriff, der auf einem den menschlichen Gerechtigkeitskonzeptionen vorgeordneten Verständnis vom Wesen und der Natur des Menschen basiert. Eine dritte Quelle für rechtliche Autorität ist schließlich der politische Willensakt, der die Entscheidungskraft eines Gesetzgebers bzw. einer Nation widerspiegelt. 60 Welche der drei genannten Dimensionen dem Recht dabei die zwingendste Autorität verleihen, ist umstritten und hängt entscheidend davon ab, worin man die Vgl. Arendt, Hannah (1955/192016): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus und totale Herrschaft, München. 58 Benhabib 2013, 51. 59 Vgl. Benhabib 2013, 59. 60 Vgl. Benhabib 2013, 59–61. An dieser Stelle ist anzumerken, dass der Rechtspositivismus, der dem Naturrecht wissenschaftshistorisch eigentlich entgegensteht, letztlich auch auf der Setzung einer selbst nicht rechtfertigbaren Grundnorm beruht, was ihn zumindest logisch in die Nähe zu naturrechtlichen Konzeptionen bringt. 57

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Gleichheit und Anerkennung als Zielperspektive

Kernaufgabe des Politischen versteht – im Schutz der Rechte des Einzelnen, in der Verteidigung des Ideals einer rechtsstaatlichen Ordnung oder in der Durchsetzung eines autoritär definierten Volkswillens. Das für die politische Moderne charakteristische Dilemma von Gleichheit und Differenz kommt jedoch nicht nur in spezifischen historischen Episoden zum Ausdruck, sondern spiegelt sich auch in unserem zeitgenössischen Demokratieverständnis wider: 61 Anders als in der Antike beruht das moderne Demokratieverständnis auf einer Vertragskonzeption, die jeden Bürger sowohl als Urheber als auch als Adressaten derjenigen Rechte ausweist, die das Gemeinwesen konstituieren. Dies führt dazu, dass sich Menschen- und Bürgerrechte nicht ausschließen, sondern vielmehr wechselseitig bedingen. 62 Doch während die Menschenrechte keine Grenzen kennen, lassen sich die darauf basierenden Bürgerrechte konkret lokalisieren und definieren. Auf Grundlage der Bürgerrechte entstehen nationale Identitäten, und diese wiederum gewinnen gegenüber dem demokratischen Willensbildungsprozess an Einfluss. Dies führt dazu, dass der Wille aller nicht mehr zwingend mit dem allgemeinen Willen übereinstimmen muss, oder konkreter: dass der Volkswille zwar rechtmäßig und einstimmig artikuliert werden, aber dennoch ungerecht oder unklug ausfallen kann. 63 Moderne Demokratien sind deshalb herausgefordert, die ihnen ursprünglich zu Grunde liegenden menschenrechtlichen Verpflichtungen immer wieder neu auszuhandeln. Dabei kann es jedoch zu Widersprüchen und Konflikten kommen. Dies geschieht beispielsweise dann, wenn die vorsouveränen Rechtsansprüche mit den tatsächlichen Beschlüssen des Wahlvolkes in Widerstreit geraten. Die daraus resultierenden unterschiedlichen demokratietheoretischen Positionen fasst Seyla Benhabib wie folgt zusammen: »Während überzeugte Liberale den souveränen Willen durch Vorverpflichtungen an die Menschenrechte binden wollen, weisen überzeugte Demokraten ein solches vorpolitisches Rechtsverständnis zurück und argumentieren, dass Rechte, innerhalb gewisser Grenzen, durchlässig sein müssen gegenüber Neuverhandlungen und Neuinterpretationen durch das souveräne Volk« 64. 61 62 63 64

Vgl. Benhabib 2013, 65–79. Vgl. Benhabib 2013, 70. Vgl. Benhabib 2013, 71. Vgl. Benhabib 2013, 73.

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Politische Konsequenzen für ein auskömmliches Miteinander in Differenz

Die darin sichtbar werdende Paradoxie einer Gemeinschaft, die auf vorgeordneten Verpflichtungen beruht, welche durch den demokratischen Willensbildungsprozess selbst wiederum in Frage gestellt werden können, ist aber nicht die einzige Aporie demokratischer Legitimationsprozesse. Eine weitere besteht darin, dass die Selbstgesetzgebung eines demokratischen Gemeinwesens immer auch die Selbstkonstitution dieser Gemeinschaft als Volk zur Folge hat. Selbstgesetzgebung in diesem Sinne zieht Grenzen; und zwar nicht nur normativ, sondern auch physisch. 65 Die vollständige Mitgliedschaft in einem Staatskörper setzt die Staatsbürgerschaft voraus. Diejenigen, die diesen Staatsbürgerschaftsstatus nicht genießen, stehen deshalb entweder an der inneren oder der äußeren Grenze der jeweiligen Gemeinschaft. Innen stehen sie dann, wenn sie aufgrund familiärer Bindungen zum Staatskörper dazuzählen (diesen Status hatten beispielsweise Frauen vor Einführung des Frauenwahlrechts). Außen stehen sie, wenn ihnen solche familiaren oder kulturellen Identifikationsmöglichkeiten mit dem Staat fehlen (das ist beispielsweise der Status der meisten Asylsuchenden heute). 66 Erst die Selbstbegrenzungen von Souveränitätsansprüchen durch internationale Regime (so zum Beispiel durch die Menschenrechtsabkommen der verschiedenen Generationen) führen heutzutage dazu, dass diese Aporien demokratischer Legitimation allmählich überwunden und in neue kosmopolitisch orientierte Zugehörigkeitskonzepte transformiert werden. So hat etwa die Neuausrichtung von Gerechtigkeitsnormen am Ideal allgemeingültiger Menschenrechte mittlerweile immer öfter eine Nivellierung der vormals strikten Trennung zwischen Einwohner und Bürger zur Folge. 67 Eine Verstetigung derartige Veränderungsprozesse ist allerdings an verschiedene Bedingungen geknüpft, die es in vielen Staaten erst noch einzulösen gilt. Dazu zählt unter anderem die Förderung eines neuen, generativen Verständnisses von Recht, das Seyla Benhabib mit dem Begriff der »jurisgenerativity« 68 beschreibt. Der Kerngedanke dieses Konzeptes besteht in der Überzeugung, dass sich Recht nicht in bloßer Legalität erschöpft (wenngleich diese natürlich nach wie vor von Bedeutung ist), sondern vielmehr die Fähigkeit betont, schon heute For65 66 67 68

Vgl. Benhabib 2013, 73. Vgl. Benhabib 2013, 75. Vgl. Benhabib 2013, 79. Vgl. Benhabib 2013, 81.

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Gleichheit und Anerkennung als Zielperspektive

derungen für zukünftige Gerechtigkeitserwartungen vorzuformulieren, selbst wenn diese sich niemals realisieren lassen. 69 Das Recht steht hierbei nicht in seiner funktionalen Form als Herrschaftsinstrument im Vordergrund, sondern als Ideal, das immer auch über die Faktizität gesetzter Normen und Regelungen hinausweist. Um die Situation der Fremden und Ausgeschlossenen im 21. Jahrhundert positiv zu verändern, reichen derlei politische und rechtliche Entwicklungen jedoch nicht aus. Ergänzend dazu bedarf es eines Mentalitätswandels, der im Wesentlichen die Befähigung jedes Staatsbürgers beinhaltet »den Standpunkt des (und der) Anderen einnehmen zu können« 70. Angesichts der jüngsten Zuspitzungen in der europäischen Flüchtlingskrise mag dieses Vorhaben als bloßes Wunschdenken erscheinen. Tatsächlich jedoch entspricht es längst unserer Alltagserfahrung, dass der vormalige Gast einen Platz in unserem unmittelbaren Lebensumfeld eingenommen hat und dort zur Mitbürgerin, Arbeitskollegin, zum Vereinsmitglied oder Freund geworden ist. Eine solche Erkenntnis verlangt nicht nach einem besonderen Maß an Empathie. Sie verlangt lediglich die Akzeptanz der für alle Formen der Vergemeinschaftung unausweichlichen Herausforderung einer Begegnung mit dem Anderen, die immer auch das Moment einer Begegnung mit uns selbst beinhaltet. Diese Begegnung mit uns selbst im Anderen stellt dabei die wahrscheinlich größte Herausforderung dar. Allerdings handelt es sich dabei nicht um eine Herausforderung im Umgang mit einem äußerlich Fremden, sondern mit dem Fremden, der wir uns selbst bleiben, solange wir nicht dazu bereit sind, uns im Anderen zu begegnen. 71

69 70 71

Vgl. Benhabib 2013, 83. Benhabib 2013, 87. Vgl. Benhabib 2013, 95.

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12. Abschließende Überlegungen

Den Ausgangspunkt für die in dieser Arbeit angestrengten Überlegungen bildete die Einsicht, dass religiöse Symbole – namentlich das Kruzifix und das muslimische Kopftuch – gegenwärtig in einem charakteristischen Spannungsverhältnis von Identitätsstiftung einerseits und politischer Instrumentalisierung andererseits stehen. Sie dienen der Feststellung der eigenen Identität 1 und markieren kulturell-religiöse Zugehörigkeiten, die sich zu Zwecken der Einheitsstiftung oder Abgrenzung politisch vereinnahmen lassen. Diese Ambivalenz der genannten Symbole ist aus philosophischer Perspektive nicht ungewöhnlich und trifft in vergleichbarer Weise auch auf profane Symbole zu. Nationalflaggen und Firmennamen etwa haben ebenfalls identitätsstiftende Funktion. Sie können darüber hinaus aber auch zu Sinnbildern für komplexe Zusammenhänge wie Werte, Lebensstile oder spezifische Wirtschaftsformen werden. Beispiele hierfür wären die amerikanische Flagge, die nicht nur die amerikanische Nation symbolisiert, sondern auch den american way of life, oder die bereits erwähnte amerikanische Fast-FoodKette McDonald’s, die durch den von George Ritzer eingeführten Kunstbegriff McDonaldisierung 2 zum Symbol einer auf den ganzen Globus ausstrahlenden Form des kapitalistischen Rationalismus wurde. In einem weiteren Abstraktionsschritt werden solche Begriffe dann auch zu politischen Begriffen und zu Synonymen für eine ganze Weltanschauung. 3 Wie aber kommt diese Vieldeutigkeit von SymWobei der Begriff Feststellung hier im Wesentlichen als Festlegung verstanden wird und sich sowohl auf die Identitätsansprüche der Menschen bezieht, die sich eines solchen Symbols bedienen, als auch auf die Fremdwahrnehmung dieser Symbole durch Außenstehende und die Identitätszuschreibungen, die mit dieser Außenwahrnehmung einhergehen. 2 Vgl. Ritzer 21995. 3 Vgl. Barber, Benjamin R. (1996): Coca-Cola und Heiliger Krieg. Wie Kapitalismus und Fundamentalismus Demokratie und Freiheit abschaffen, Bern/München/Wien. 1

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Abschließende Überlegungen

bolen zustande, und wie lässt sich erklären, weshalb in gewissen Kontexten eine bestimmte Interpretation verfängt, die in anderen Situationen offenbar gar keine Erklärungsrelevanz besitzt? In diesem Zusammenhang sind symboltheoretische Reflexionen wichtig. Sie eröffnen ein Verständnis dafür, dass es zwar alltäglich ist, wenn Menschen Symbole verwenden und unterschiedlich deuten, aber eben keineswegs trivial. Denn es macht einen großen Unterschied, ob Menschen das Kruzifix als zentrales Symbol des christlichen Glaubens verstehen und damit eine Rückbindung an christliche Werte in unserer Kultur verbinden, oder ob sie es als abstoßende Darstellung einer antiken Foltermethode interpretieren. Gleiches gilt für den muslimischen Schleier, der einmal als bloßes Kleidungsstück aus einem fremden Kulturkreis, ein anderes Mal jedoch als Hinweis auf eine konservative islamische Gesinnung oder gar als Symbol der Ablehnung westlicher Werte wahrgenommen werden kann. Der Grund für solche Deutungsunterschiede ist in der Logik der Symbolsysteme selbst zu finden, denn diese sind in ihren verschiedenen Ausprägungsformen (in Sprache, Religion, Kunst etc.) nicht nur allgegenwärtiger Ausdruck von Kultur, sondern folgen auch je eigenen Gesetzmäßigkeiten der Objektivierung, durch die sie auf Distanz zum symbolbildenden und symbolwahrnehmenden Bewusstsein treten. Ein kulturell manifestierter Symbolbestand schafft somit erst einmal soziale Fakten, mit denen der Mensch umzugehen hat. Als freies Wesen besitzt er aber die Fähigkeit, sich den kulturellen Symbolbestand erneut geistig anzueignen und wiederum selbst kreativ umzuformen. Darin liegt, trotz gewisser kultureller Zwänge, ein großes Freiheitspotenzial. In seiner Symbolphilosophie entwirft Ernst Cassirer den Gedanken, dass sämtliche Bewusstseinsphänomene unseres Geistes letztlich symbolisch vermittelt sind. Was auch immer Menschen also wahrnehmen oder erkennen, sie erfahren es als etwas – oder anders ausgedrückt: sie erfahren es in funktionaler Form; die neuronale Überreizung wird als Schmerz erfahren, der artikulierte Laut als Buchstabe A, die Glaubensüberzeugung als handlungsleitender Impuls für die Tat. Als materielle Träger des jeweiligen Bedeutungsgehaltes fungieren dabei die verschiedenen Ausdrucksformen unseres Geistes, die Cassirer symbolische Formen nennt und mit deren Hilfe Menschen die sie umgebende Wirklichkeit gestalten. Durch deren Mannigfaltigkeit entsteht Raum für ein großes symbolisches Bedeutungsspektrum. So ist die symbolische Dimension des Kreuzes im 239 https://doi.org/10.5771/9783495824122 .

Abschließende Überlegungen

Kontext der Religion eine andere, als im Kontext der Kunst oder der mythischen Welterschließung. Symbole sind folglich mehrdeutig und können je nach Perspektive (im Sinne der verschiedenen symbolischen Ausdrucksformen) ganz unterschiedliche Interpretationen erfahren. Sie sind zudem – und diese Perspektive wird durch die soziologischen Überlegungen Pierre Bourdieus miteinbezogen – Ausdruck kultureller Sinnzusammenhänge und Bedeutungsstrukturen, auf die sie zugleich auch verweisen. In all dem offenbaren Symbole zwei Seiten, die es aufmerksam voneinander zu unterscheiden gilt: Sie sind einerseits Träger einer subjektiven und andererseits Träger einer objektiven Bedeutung. Im ersten Fall eröffnen sie dem Menschen Räume für die Selbstartikulation, im anderen sind sie Ausdruck kultureller Entwicklungen und deren historischer Kontingenzen. Diese beiden Aspekte bleiben nicht ohne Einfluss aufeinander. Bei Pierre Bourdieu, der vor allem die gesellschaftlichen Wirklichkeiten im Blick hat, können insbesondere die kulturellen Objektivierungen symbolischer Bedeutung z. B. in Sprache, Kunst oder Religion für das Individuum zur Last werden. Sie üben bis zu einem gewissen Grad Zwang und sogar Gewalt aus. Ernst Cassirer hingegen, der neben der kulturellen auch die geistige Dimension der Symbolbildung reflektiert, sieht im Akt der bewussten Bedeutungszuschreibung ein Moment menschlicher Selbstbefreiung, das auch in den jeweiligen kulturellen Manifestationen der symbolischen Formgebungsprozesse weiterwirkt. Muss man vor diesem Hintergrund also konstatieren, dass sich hier letztlich eine kulturpessimistische (Bourdieu) und eine kulturoptimistische (Cassirer) Sicht unversöhnlich gegenüberstehen? Die Antwort darauf ist: Nein. Denn wenn Bourdieu die Menschen in ihren kulturellen Abhängigkeiten beschreibt, dann hat er konkrete Individuen und konkrete gesellschaftspolitische Rahmenbedingungen vor Augen. Zwar sind die in seinen soziologischen Schriften erwähnten Lehrer, Arbeiter oder Unternehmer als Idealtypen im Sinne Max Webers zu verstehen, doch stehen sie natürlich auch stellvertretend für konkrete Menschen der (französischen) Nachkriegsgesellschaft. Cassirer hingegen untersucht in seiner Symbolphilosophie das animal symbolicum – also den symbolbildenden Menschen an sich. Nicht der Mensch am Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert bildet dabei den Untersuchungsgegenstand, sondern der Mensch der Menschheitsgeschichte, der sich in und durch Kultur als freiheitliches Wesen offenbart. 240 https://doi.org/10.5771/9783495824122 .

Abschließende Überlegungen

Nun lässt sich die Differenz zwischen Reflexionen über konkrete Individuen oder die Menschheit auch als Unterschied zwischen einer realistischen und einer idealistischen Konzeption beschreiben. Doch trifft es tatsächlich zu, dass Cassirers Kulturphilosophie im Angesicht von Zivilisationsbrüchen, wie sie sich beispielsweise in der Zeit des Nationalsozialismus ereignet haben, scheitern muss? Hier sind Cassirers Ausführungen in seinem nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges posthum veröffentlichten Werk Vom Mythus des Staates aufschlussreich, in denen er trotz aller Erschütterungen an den symboltheoretischen Grundpfeilern seiner Theorie festhält. 4 Im Bemühen, die ideengeschichtlichen Hintergründe zu entdecken, welche den Totalitarismus und die Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten überhaupt erst möglich gemacht hatten, schreibt er der NS-Ideologie eine Wiederbelebung mythischen Denkens zu, das er gleichwohl als wirklichkeitsstiftenden Ausdruck eines (wenngleich von falschen Motiven geleiteten) freien menschlichen Geistes beschreibt. Damit verfällt Cassirer nicht in einen naiven Formalismus, sondern unterstreicht vielmehr, was zuvor bereits in seinen humanistischen Reflexionen (etwa anlässlich seiner Rede »Die Idee der republikanischen Verfassung« aus dem Jahr 1928) angeklungen war: Freiheit im Sinne einer tätigen Selbstbefreiung des Menschen bleibt letztlich immer auch an das Prinzip der Menschenwürde rückgekoppelt; erst wo dieses Prinzip aufgekündigt wird, ist die Freiheit tatsächlich bedroht. Dieser humanistische Zug in der Symbolphilosophie Cassirers ist wichtig, wenn man sich aus einer kulturphilosophischen Perspektive den gerichtlichen Kontroversen um Kruzifix und Kopftuch zuwendet. Denn in einer globalisierten Welt gibt es zum Leben im ständigen Austausch mit fremden und teilweise unbekannten Kulturen und ihren Symbolsystemen kaum eine Alternative. Vor allem die weltweite kommunikative Vernetzung löst die Bedeutung politischer Grenzen immer mehr auf und zwingt die Menschen in eine globale Gemeinschaftlichkeit. Daran ändern auch die jüngst in vielen westlichen Gesellschaften immer lauter vorgetragenen Rufe nach sozialer Homogenität und kultureller Abgrenzung wenig. Denn anders als im Zeitalter des Nationalismus, ist Abschottung angesichts weltweiter ökonomischer und politischer Verflechtungen heute keine wirkliche Option mehr. Im 21. Jahrhundert sind Zuwanderung und

4

Vgl. dazu Recki 2013, insbesondere 86–90.

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Abschließende Überlegungen

kulturelle Vielfalt weniger das Ergebnis bewusster politischer Entscheidungen als vielmehr weltpolitische Realitäten, auf die es angemessen zu reagieren gilt. 5 Klärungsbedürftig ist demnach auch nicht, ob Menschen unterschiedlicher kultureller Herkünfte miteinander leben wollen, sondern wie sie es können oder sollen. Fest steht dabei, dass ein auskömmliches Miteinander von wechselseitiger Achtung geprägt sein muss und der Bereitschaft, den Lebensentwürfen der Anderen grundsätzlich mit Respekt zu begegnen: »Miteinander lebt man nämlich nicht, wenn man alle zwingt, ihr Dasein auf eine bestimmte Weise zu fristen […]. Miteinander lebt man vielmehr nur, wenn man jeden nach seiner Fasson selig werden lässt«. 6 Allerdings kommt ein solches Miteinander nicht ohne Regeln aus, denn die Betonung der Freiheit des Einzelnen verlangt immer auch nach Grenzziehungen gegenüber den Freiheitsräumen der Anderen. Wie aber lassen sich unter pluralen Bedingungen solche Regeln definieren? Mit seiner Idee eines übergreifenden Konsenses hat John Rawls einen der politisch-philosophisch einflussreichsten Versuche der vergangenen Jahrzehnte vorgelegt, um darauf eine passende Antwort zu geben. 7 Unter dem übergreifenden Konsens versteht Rawls eine über kulturelle und religiöse Unterschiede hinweg gültige allgemeine Zustimmungsfähigkeit zu einer »politischen Gerechtigkeitskonzeption, die auf grundsätzliche Weise die Ideale und Werte eines demokratischen Staates formuliert«. 8 Dazu zählt die Einsicht in die Notwendigkeit einer Einheitssicherung der Gemeinschaft bei gleichzeitiger Akzeptanz und Anerkennung des individuellen Autonomieprinzips. Eine Gesellschaft, die »an die Stelle der repressiven Einheitssicherung durch den staatlichen Leviathan« republikanischen Bürgersinn und öffentlichen Vernunftgebrauch setzt, bildet für Rawls diese konsensfähige »Gerechtigkeitsgemeinschaft« 9 ab. Was Rawls Konzept eines übergreifenden Konsenses voraussetzungsreich und anspruchsvoll macht, ist die Tatsache, dass sich die gemeinschaftsstiftenden ethischen Grundprinzipien nicht einfach

Vgl. Schönherr-Mann 2008, 17–19. Schönherr-Mann 2008, 17. 7 Vgl. Rawls, John (1992): Der Gedanke eines übergreifenden Konsenses, in: ders.: Die Idee des politischen Liberalismus. Aufsätze 1978–1989, Frankfurt a. M., 293–332. 8 Rawls 1992, 293. 9 Kersting, Wolfgang (32008): John Rawls zur Einführung, Hamburg, 186/187. 5 6

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Abschließende Überlegungen

aus den Wert- und Normbeständen der je verschiedenen Kulturen und Weltanschauungen herauslesen lassen, sondern sich erst auf der Grundlage eines allgemein zustimmungsfähigen Gerechtigkeitskonzeptes ergeben. Eine Alternative zu Rawls’ Ansatz könnte deshalb der Versuch darstellen, zunächst nach Gemeinsamkeiten oder normativen Anschlussfähigkeiten jenseits rationalistischer Konsenskonzepte Ausschau zu halten. Hier bieten sich Überlegungen an, die auf den klassischen Gedanken des Kosmopolitismus Bezug nehmen und die darin entwickelte Idee einer weltumspannenden Bürgergemeinschaft für die politische Realität einer globalisierten Welt fruchtbar machen wollen. 10 Viele dieser Ansätze kommen darin überein, dass Menschen heutzutage in globalen Beziehungen zueinander stehen und deshalb der Herausforderung zu begegnen haben, die Differenzen, die sich aus ihren unterschiedlichen Weltanschauungen ergeben, wenigstens partiell hintan zu stellen und über lebensweltliche Berührungspunkte miteinander ins Gespräch zu kommen. Auf praktisch politischer Ebene erwächst daraus die Aufgabe, die verschiedenen kulturellen Lebensmuster mit einer allgemein zustimmungsfähigen Moral zu verknüpfen. Ein Entwurf in diesem Sinne ist der von Julian NidaRümelin konzipierte humanistische Kosmopolitismus, der mit dem Humanismus und dem Kosmopolitismus zwei Geisteshaltungen verbindet, die beinahe notwendig zueinander in Beziehung stehen und einer politischen Ethik Kontur zu verleihen vermögen, die das Verbindende über das Trennende stellt: »Die Idee eines selbstverantwortlichen Individuums, das Rücksicht auf andere nimmt, schränkt die Bedeutung der Zugehörigkeit zu lokalen Gemeinschaften ein, wertet Menschen anderer politischer und kultureller Gemeinschaften auf, ja, gibt ihnen einen Status gleicher Freiheit und verlangt nach gleichem Respekt.« 11 Die hierbei artikulierte Bereitschaft, Verbindung zueinander aufzubauen, ist dabei bereits der ersten Schritt zur wechselseitigen Ent-Fremdung. Denn in jedem Kommunikationsbemühen ist bereits ein Moment der Anerkennung enthalten, das wiederum den Boden für ein dialogisches Verhältnis zueinander bereitet. Dialogisch ist ein solches Verhältnis immer dann, wenn beide Seiten ihre eige-

Vgl. dazu Reder, Michael (2009): Globalisierung und Philosophie. Eine Einführung, Darmstadt, 13–15. 11 Nida-Rümelin 22018, 434. 10

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Abschließende Überlegungen

nen Vorstellungen und Überzeugungen prinzipiell gleichberechtigt in den kulturellen Austausch miteinfließen lassen können. Dementsprechend müssen auch überall dort, wo aus Unterschiedlichem etwas Gemeinschaftliches entstehen soll, die kulturellen Eigentümlichkeiten nicht einfach aufgegeben werden. Entscheidend ist vielmehr der Wille, über die bestehenden Differenzen hinweg etwas Eigenes, Neues, Verbindendes zu schaffen. 12 Programmatisch könnte ein solches versöhnliches Miteinander in pluralen Gesellschaften mit dem Schlagwort Einheit in Vielheit überschrieben sein. Doch welche kulturellen Kräfte ermöglichen jene Einheit, die am Ende das Ziel dieser gemeinschaftlichen Bestrebungen sein soll? Oder mehr noch: Existieren solche kulturellen Kräfte überhaupt? Ernst Cassirer hat mit seiner Philosophie der symbolischen Formen darauf eine prinzipiell positive Antwort gegeben, denn nach Cassirer eröffnen uns die symbolischen Formen diese Möglichkeit. Doch die unterschiedlichen Verstehensweisen oder Ausdrucksformen können auch in Konflikt miteinander geraten. Indem alle einer eigenen inneren Logik gehorchen, schaffen sie unterschiedliche Wirklichkeiten, die auf den ersten Blick nicht miteinander kompatibel erscheinen. Cassirer ist sich dieses Konfliktpotentials bewusst, doch da es ihm vor allem um die Entschlüsselung der vielfältigen Facetten der kulturellen Existenz des Menschen geht, nimmt er keine Hierarchisierung der verschiedenen Ausdrucksformen vor. Die Bedeutung einer Ausdruckgestalt bemisst sich für ihn nicht danach, ob sie zum allgemeinen Erkenntnisfortschritt beiträgt, sondern lediglich danach, inwieweit sie unserem geistigen Impuls, uns auszudrücken, eine angemessene Form verleihen kann. Die symbolischen Formen sind also gleichberechtigt und verdeutlichen deshalb auch erst in ihrer Summe die umfassende Bedeutung der Fähigkeit des Menschen zur Symbolisierung. Vor diesem Hintergrund kann Cassirers These von der Gleichberechtigung der verschiedenen symbolischen Formen auch einen sinnvollen Ansatz für die Versöhnung unterschiedlicher kultureller Kräfte leisten. Denn zum einen kommt darin eine grundsätzliche Wertschätzung für die Vielfalt und Variabilität des menschlichen Geistes zum Ausdruck, zum anderen legt die Parallelordnung der verschiedenen symbolischen Formen innerhalb einer Kultur auch

12

Vgl. Schönherr-Mann 2008, 33–37.

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Abschließende Überlegungen

ein gleichberechtigtes Nebeneinander der Kulturen im größeren Maßstab nahe, die dann nicht mehr als Konkurrenten erscheinen, sondern lediglich als unterschiedliche Spielarten der faktisch unbegrenzten Vielfalt an Manifestationen des menschlichen Geistes. 13

13

Vgl. Schönherr-Mann 2008, 85.

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Personenregister

Abels, Heinz 167–168, 181–182, 186 Ackermann, Andreas 206–208, 211– 212 Adloff, Frank 201 Adorno, Theodor W. 171 Altermatt, Urs 44 Amir-Moazami, Schirin 34, 38 Anderson, Benedict 66 Appleby, R. Scott 58 Arendt, Hannah 234 Aristoteles 121, 224 Assmann, Aleida 25, 166 Assmann, Jan 58 Augsberg, Ino 35, 73 Aydin, Hayrettin 85 Bachmann-Medick, Doris 21, 103 Barber, Benjamin R. 238 Bartuschat, Wolfgang 184 Baudrillard, Jean 187 Bauer, Ullrich 118–119, 152 Beck, Ulrich 182, 186, 216 Beck-Gernsheim, Elisabeth 39 Beetz, Michael 20 Bellah, Robert N. 54 Benhabib, Seyla 28, 232–237 Berg, Eberhard 211 Berger, Brigitte 183–184 Berger, Peter L. 46, 51, 54, 181–184 Berghahn, Sabine 34, 38 Bergmann, Jörg 44 Bhabha, Homi K. 208, 211–212 Bickel, Cornelius 141, 156 Bielefeldt, Heiner 191, 194 Bittlingmayer, Uwe H. 152 Blumenberg, Hans 52

Böckenförde, Ernst-Wolfgang 16, 53, 77, 91–92 Bohlken, Eike 120 Bohn, Jochen 190 Bohrmann, Thomas 47, 65, 190 Bourdieu, Pierre 22, 27, 31, 100, 107– 108, 118–119, 123, 126–127, 132, 141–160, 163, 179, 181, 240 Bowen, John R. 38 Braun, Christina v. 38 Brieskorn, Norbert 62 Brink, Bert v. d. 69 Bruce, Steve 55 Brugger, Winfried 34, 37 Bucher, Anton 102–103 Burkhardt, Achim 101–102 Campenhausen, Axel v. 35 Casanova, José 56 Cassirer, Ernst 21–22, 26–27, 30–31, 100, 104–107, 114–116, 119–120, 122–125, 127–129, 131–139, 141– 142, 156–160, 163, 167, 220–222, 239–241, 244 Cicero 112 Classen, Claus D. 35, 77 Czermak, Gerhard 35, 75 Dachselt, Rainer 228–230 Dahrendorf, Ralf 201–202 Deile, Volkmar 91 Delgado, Mariano 44 Delmas, Clémence 38 Demko, Daniela 64 Derrida, Jacques 233 Descartes, René 157

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Personenregister Di Fabio, Udo 91 Dölling, Irene 155 Duque, Félix 49–50 Eckermann, Willigis 38 Eckert, Roland 175 Edelman, Murray 180 Eisenstadt, Shmuel N. 110 Elger, Ralf 195 Englmann, Felicia 133, 221 Erikson, Erik H. 27, 168–169, 176– 177 Esser, Hartmut 117 Esser, Sonja M. 34, 37, 79, 81, 83, 85 Fabian, Johannes 211 Finke, Roger 57 Fischer, Joachim 141 Forst, Rainer 28, 69, 72, 78, 205, 220, 226–229 Forstner, Dorothea 17 Frede, Dorothea 132–134 Freud, Sigmund 22, 111–112 Friese, Heidrun 166 Fröhlich, Gerhard 108–109, 118, 148, 152 Fuchs, Martin 211 Fuchs-Heinritz, Werner 126, 149–150 Gabriel, Karl 37, 75, 78 Gadamer, Hans-Georg 205 Ganz, Sarah 36 Geertz, Clifford 17–18, 104, 127, 132, 165, 188 Gephart, Werner 44, 218 Gerlach, Julia 38 Giddens, Anthony 186, 216 Glavac, Monika 175 Goffman, Erving 168–169 Gosepath, Stefan 47, 76, 109, 166, 182, 184, 199, 212, 224, 230–231 Gräb, Wilhelm 76 Graf, Friedrich W. 57 Haas, Evelyn 78, 84 Habermas, Jürgen 28, 31, 45, 48, 52– 55, 59, 65–71, 132–136, 214–215

Habermas, Tilmann 27, 174–178 Hahn, Alois 44 Hassemer, Winfried 15 Hastedt, Heiner 226–228 Haug, Frigga 38 Haug, Sonja 85, 219 Hegel, Georg W. F. 51–52, 61–62 Heidegger, Martin 119 Heitmeyer, Wilhelm 191, 194 Henning, Christoph 199 Herder, Johann G. 76, 112, 136 Hilgendorf, Eric 35 Hillmann, Karl-Heinz 164 Hinsch, Wilfried 47, 76, 109, 166, 182, 184, 199, 212, 224, 230–231 Höffe, Otfried 220, 222–225 Höhn, Hans-Joachim 57 Honneth, Axel 69, 169 Höpflinger, Anna-Katharina 175 Huber, Wolfgang 73 Hülst, Dirk 100–103, 164–165, 179– 180 Humboldt, Wilhelm v. 128, 135–138 Huntington, Samuel P. 23, 208–209 Huster, Stefan 34, 37 Inglehart, Ronald 55 Isensee, Josef 84 Jaeger, Friedrich 30, 112, 114, 122, 169, 171, 203, 206, 213 Jaeggi, Rahel 199 Jäggi, Christian J. 192 Jentsch, Hans-Joachim 91 Jessen, Frank 38 Jessen, Jens 188 Joas, Hans 63, 111, 142 Kämper, Burkhard 75 Kant, Immanuel 49–51, 113–114, 133–136, 157–158, 221, 232–233 Karcher, Tobias 58 Kaschuba, Wolfgang 213–217 Katzmair, Harald 157 Kellner, Hansfried 183–184 Kepel, Gilles 44 Kersting, Wolfgang 242

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Personenregister Khoury, Adel T. 193, 195 Kienzler, Klaus 193–194 Kinzinger-Büchel, Christine 35 Kirchhof, Paul 36 Klinkhammer, Gritt 20 Knieps, Claudia 17 Knoblauch, Hubert 57, 169 Knop, Julia 20 Kohl, Helmut 72 Koller, Peter 231–232 Konersmann, Ralf 29–30, 113 König, Alexandra 126, 149–150 Krais, Beate 155 Kreckel, Reinhard 148 Kreis, Guido 133–134, 136–140 Kreutzer, Florian 176 Krieger, David J. 192 Krois, John M. 122–126, 156, 158– 160 Küenzlen, Gottfried 47, 65, 190–192 Kymlicka, Will 204–205 Ladeur, Karl-Heinz 35, 73 Langer, Susanne K. 132, 189 Lash, Scott 186, 216 Leggewie, Claus 44 Lehmann, Karl Kardinal 85 Leibniz, Gottfried W. 157–158, 221 Lepsius, M. Rainer 142 Lévi-Strauss, Claude 104, 123, 125– 126, 156–157 Liebsch, Burkhard 114, 122, 169, 171, 203, 205–206, 213 Liedhegener, Antonius 57 Lipp, Wolfgang 37 Locke, John 163 Losch, Bernhard 47, 60–63 Lübbe, Hermann 36–37, 43, 45 Luckmann, Thomas 44 Lüddecke, Dirk 133, 221 Lüddeckens, Dorothea 175 Ludin, Fereshta 14–15, 86–88, 90–91 Lurker, Manfred 102 Magerski, Christine 141–142, 156 Maier, Hans 34, 37 Malik, Jamal 44

Martin, David 55 Marty, Martin E. 58 Marx, Karl 144, 152, 154 Mathes, Bettina 38 Mead, George H. 27, 166–169 Meisner, Joachim Kardinal 72 Mellinghoff, Rudolf 91 Merkel, Angela 73, 92 Meyer, Thomas 46, 58, 180, 187, 189– 191, 195 Mörth, Ingo 108 Muckel, Stefan 35, 75 Müller, Hans-Peter 142, 145 Müller, Johannes 58, 104, 209 Müller, Klaus E. 206 Münch, Richard 48 Müssig, Stephanie 85, 219 Nassehi, Armin 117–118, 202–203 Neidhardt, Friedhelm 142 Nida-Rümelin, Julian 221, 243 Nökel, Sigrid 20 Norris, Pippa 55 Nöth, Winfried 101 Nothelle-Wildfeuer, Ursula 20 Oehler, Regina 228 Oestreich, Heide 14, 34, 38, 73, 86, 88, 92 Opitz, Peter J. 209 Özmen, Elif 200–201, 204 Paetzold, Heinz 127–128, 132, 157– 158 Pape, Elise 38–39 Pappert, Peter 34, 37 Peirce, Charles S. 103, 123–125 Perpeet, Wilhelm 112 Pezzoli-Olgiati, Daria 175 Pfürtner, Stephan H. 192 Piepmeier, Rainer 48 Plümacher, Martina 17–18, 21 Pollack, Detlef 43, 48, 55–56, 182– 183 Pollmann, Arnd 230–231 Prantl, Heribert 15, 72 Pufendorf, Samuel v. 112

269 https://doi.org/10.5771/9783495824122 .

Personenregister Rau, Johannes 92 Rawls, John 68–70, 242–243 Recki, Birgit 105, 120, 134, 221, 241 Reckwitz, Andreas 104, 109–113, 218 Reder, Michael 54, 56, 58, 243 Reese-Schäfer, Walter 70 Rehbein, Boike 107–109, 118, 148– 149, 151–153, 208, 210–211 Rehberg, Karl-Siegbert 111–112 Reichelt, Matthias 65, 133, 190 Reijen, Willem v. 69 Reimer, Katrin 38 Renn, Joachim 170–171, 173–174 Ricœur, Paul 172–173 Riesebrodt, Martin 58, 194 Ritzer, George 208–210, 238 Rohe, Mathias 35, 77 Rolf, Eckard 102 Rosa, Hartmut 163–164, 166–167, 170, 172, 199 Rössler, Beate 47, 76, 109, 166, 182, 184, 199, 212, 224, 230–231 Rosta, Gergely 43, 56 Rostock, Petra 34, 38 Rousseau, Jean-Jacques 133, 204 Roy, Olivier 58, 192–193 Rudolph, Enno 114, 221 Rüsen, Jörn 113, 206 Saalmann, Gernot 148–149 Şahin, Reyhan 20 Sandel, Michael 69, 201 Sandkühler, Hans J. 17, 21, 49 Sarcinelli, Ulrich 180 Saussure, Ferdinand de 49, 103, 110, 125, 129 Schavan, Annette 86 Schieder, Rolf 37 Schimank, Uwe 186 Schmidt, Robert 153–155 Schmücker, Reinold 132–134 Scholz, Oliver R. 104 Schönherr-Mann, Hans-Martin 132, 242, 244–245 Schultz, Tanjev 212, 216

Schwarzer, Alice 15 Schwemmer, Oswald 30, 105–106, 115–116, 121–122, 128–129, 132– 134 Schwengel, Hermann 208, 210–211 Searle, John R. 18 Seelmann, Kurt 64 Seidl, Otto 78, 84 Seler, Elina 13 Seler, Ernst 13 Sen, Amartya 170 Sen, Faruk 85 Soeffner, Hans-Georg 117 Söllner, Alfred 78, 84 Staab, Philipp 148, 152–153 Stark, Rodney 57 Steenblock, Volker 30, 112 Steiner, Rudolf 13, 79 Sternberger, Dolf 228 Stichs, Anja 85, 219 Stoiber, Edmund 14–15, 72, 85, 92 Stolleis, Michael 72 Straub, Jürgen 30, 166, 168, 170–174 Streithofen, Basilius 34, 37, 79, 81 Taubes, Jacob 141 Taylor, Charles 44–46, 69–70, 163, 172, 185, 204–205, 217, 220, 231 Thies, Christian 120 Thönnes, Hans-Werner 75 Tillmanns, Julika 228 Tomasello, Michael 18 Uehlinger, Christoph 175 Uexküll, Johannes v. 120 Vergauwen, Guido 44 Vogel, Berthold 148, 152–153 Vogt, Katja 224 Voigt, Rüdiger 187 Volkmann, Uwe 228 Vosgerau, Ulrich 35 Wagner, Peter 47 Waldenfels, Hans 44, 218 Waldhoff, Christian 35

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Personenregister Wall, Heinrich de 35, 75 Walthert, Rafael 175 Walzer, Michael 185 Watson, James L. 210 Weber, Max 46, 104, 126–127, 152, 154, 240 Weiss, Johannes 142 Werkner, Ines-Jacqueline 57 Wetter, Friedrich Kardinal 85 Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich v. 38

Willems, Ulrich 48 Willke, Helmut 22, 129–130 Winter, Stefan 49–51 Wippermann, Carsten 19 Woltersdorff, Volker 153–155 Würtz, Stefanie 175 Zehetmair, Hans 85 Ziegler, Janine 38–39 Zima, Peter V. 51

271 https://doi.org/10.5771/9783495824122 .