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German Pages 416 Year 2013
Stefan Lang, Lars-Thade Ulrichs (Hrsg.) Subjektivität und Autonomie
Subjektivität und Autonomie Praktische Selbstverhältnisse in der klassischen deutschen Philosophie
Herausgegeben von Stefan Lang und Lars-Thade Ulrichs
DE GRUYTER
ISBN 978-3-11-026100-4 e-ISBN 978-3-11-026101-1 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2013 by Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Jürgen Stolzenberg zum 65. Geburtstag
Vorwort Der vorliegende Sammelband Subjektivität und Autonomie widmet sich sowohl historisch als auch systematisch einem Thema, das Jürgen Stolzenberg in einer Reihe von Forschungsbeiträgen behandelt hat. In ihm nehmen deswegen wissenschaftliche Weggefährten – Lehrer, Schüler wie Kollegen – den 65. Geburtstag Jürgen Stolzenbergs zum Anlass, über ein zentrales Problem der klassischen deutschen Philosophie aus verschiedenen Perspektiven erneut nachzudenken. Jürgen Stolzenberg hat in der Vergangenheit bedeutende historische und systematisch-argumentanalytische Beiträge zur klassischen deutschen Philosophie und darüber hinaus zu Martin Heidegger und dem Neukantianismus, aber auch zu analytischen Theorien praktischer Subjektivität geliefert. Den Schwerpunkt seiner Forschungsarbeit bilden dabei vier Themenbereiche. Es sind dies zunächst das Phänomen des Selbstbewusstseins in seinen verschiedenen Facetten, sodann das kaum weniger facettenreiche Problem der praktischen Subjektivität sowie, drittens, jenes Theorieprogramm, welches die klassische deutsche Philosophie nach Kant maßgeblich prägt, das Programm einer Geschichte des Selbstbewusstseins. Seine jüngsten Forschungen sind schließlich der Entwicklung einer subjekttheoretischen Interpretation der klassischen Musik der Moderne gewidmet, deren erster Ertrag unlängst unter dem Titel „Seine Ichheit auch in der Musik heraustreiben“. Formen expressiver Subjektivität in der Musik der Moderne erschienen ist. Diese Problembereiche sind auf vielfältige Weise eng miteinander verbunden: Sie alle sind auf dem weiten Feld der philosophischen Subjektivitätstheorie zu verorten, die in ihrer modernen Gestalt maßgeblich von Kant und seinen Nachfolgern beeinflusst ist, im Grunde aber bereits vom Begründer der neuzeitlichen Philosophie, René Descartes, ihren Ausgang genommen hat. Die Arbeiten von Stolzenberg stehen im Zeichen der Überzeugung, dass die Entwicklung der Philosophie nicht im Sinn eines stetigen und einsinnigen Fortschritts missverstanden werden darf. Vielmehr ist die Geschichte der Philosophie durch Diskontinuitäten und Brüche gekennzeichnet, in deren Verlauf bedeutende Einsichten und Ansätze bereits verloren gegangen sind oder verloren zu gehen drohen. Die Rekonstruktion dieser vergangenen Formen von Rationalität sollte ein zentrales Anliegen philosophischer Forschungsarbeit sein, und zwar weniger aus philosophiegeschichtlichem als vielmehr aus einem systematischen Interesse an wesentlichen philosophischen Sachproblemen, deren Behandlung ohne den beständigen Bezug auf Positionen der philosophischen Tradition der Gefahr der Verarmung ausgesetzt ist. Die in diesem Sammelband vereinigten Aufsätze wollen zur Erfüllung dieses Jürgen Stolzenbergs Forschung leitenden Anliegens einen Beitrag leisten, indem sie mit Blick auf einen Arbeitsschwerpunkt des Jubilars, das Thema „praktische
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Vorwort
Subjektivität“, die Vielfältigkeit und das außergewöhnliche Erklärungspotential klassischer philosophischer Ansätze von Immanuel Kant bis Ernst Cassirer in Erinnerung rufen, welche in aktuellen Debatten oftmals nicht oder nicht hinreichend zur Kenntnis genommen werden. Die von Expertinnen und Experten aus Europa und den USA verfassten Beiträge dokumentieren das große Ansehen, das Jürgen Stolzenberg in der wissenschaftlichen Forschungsgemeinschaft genießt, und sind Ausdruck der Dankbarkeit für eine langjährige freundschaftliche Zusammenarbeit mit dem Jubilar. Wir bedanken uns vielmals bei den Autorinnen und Autoren für die termingerechte Abgabe bisher unveröffentlichter Untersuchungen sowie beim Verlag Walter de Gruyter Berlin für das großzügige Entgegenkommen und die gute Zusammenarbeit. Wir danken desweiteren dem Dekan der Philosophischen Fakultät I, Herrn Prof. Dr. Burkhard Schnepel, sowie Herrn Prof. Dr. Matthias Kaufmann und Herrn Prof. Dr. Johannes Hübner für die freundliche und vielfältige Unterstützung. Frau Prof. Dr. Violetta L. Waibel hat unser Projekt dankenswerterweise von Anbeginn gefördert. Gleiches gilt für den während der Drucklegung dieses Sammelbandes zu unserem Bedauern nach langer Krankheit verstorbenen Herrn Prof. Dr. Konrad Cramer, dem wir für Vieles zu großem Dank verpflichtet sind. Schließlich möchten wir uns herzlich bei Frau Sigrun Rößler bedanken, die durch ihre Kenntnisse und ihr Geschick maßgeblich zur Realisierung des Sammelbandes beigetragen hat. Halle, im Frühjahr 2013
Stefan Lang und Lars-Thade Ulrichs
Inhalt Vorwort
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Stefan Lang und Lars-Thade Ulrichs Subjektivität und Autonomie: Einführung in ein Grundlagenthema der praktischen Philosophie 1 Konrad Cramer Das philosophische Interesse an der Geschichte der Philosophie
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Rainer Enskat Spontaneität oder Zirkularität des Selbstbewusstseins? Kant und die kognitiven Voraussetzungen der praktischen Subjektivität 51 Manfred Baum Das ethische Gemeinwesen in Kants Religionsphilosophie
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Hans Friedrich Fulda Menschenrechte – Plädoyer für einen kantischen Ansatz zu ihrer begrifflichen Bestimmung, Begründung und Gliederung im Hinblick auf Hegel 95 Johannes Hübner Epistemische Autonomie und praktische Rationalität
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Matthias Kaufmann Wem gehört die Autonomie? Vom politischen Umgang mit einem zentralen Begriff neuzeitlicher Philosophie 151 Violetta L. Waibel Autonomie des Subjekts. Kants Gefühl der Achtung und Spinozas Konzept der Freude über wahre Einsichten 171 Jindřich Karasek Ding an sich: Zur Produktivität eines „Problems“ der 193 Transzendentalphilosophie Kants
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Inhalt
Birgit Sandkaulen Würde – einige Diskontinuitäten zwischen Kant und der nachkantischen Philosophie 233 Christian Klotz Monismus und Freiheit in Fichtes Philosophie der Religion
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Günter Zöller Identitas discernibilium. Spinoza und Fichte über Streben, Trieb und Affekt 259 Frederick Neuhouser Rousseau und Hegel: Zwei Begriffe der Anerkennung
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Lars-Thade Ulrichs Reiner Wille, unreines Wollen: Praktische Selbstverhältnisse bei Kant, Fichte, Schelling, Schopenhauer und Frankfurt 289 Holger Gutschmidt Selbstsein bei Søren Kierkegaard. Subjekttheorie zwischen Philosophie und Religion 317 Jan Kuneš Das „praktische“ Sein: Zu Heideggers vollständigem Seinsbegriff in Sein und 337 Zeit Birgit Recki Ernst Cassirer über Selbstbewusstsein
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Volker Gerhardt Freiheit und Leben. Eine große Aufgabe vor dem Hintergrund eines größeren 383 Problems Personenregister
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Autorinnen und Autoren
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Stefan Lang und Lars-Thade Ulrichs
Subjektivität und Autonomie: Einführung in ein Grundlagenthema der praktischen Philosophie 1 Subjektivität, Autonomie und Theorien praktischer Selbstverhältnisse „Subjektivität“ und „Autonomie“ sind zwei Schlüsselbegriffe der Philosophie, die nicht nur in den philosophischen Debatten, sondern auch in den gesellschaftswissenschaftlichen, kulturwissenschaftlichen und selbst in den naturwissenschaftlichen Diskussionen der Gegenwart eine wichtige Rolle spielen. Dabei ist es nicht zu viel gesagt, wenn man behauptet, dass diesen Begriffen beinahe so viele unterschiedliche Bedeutungen zugeschrieben werden wie es Argumentationszusammenhänge gibt, in denen sie Verwendung finden.¹ So ist, auf der einen Seite, etwa von moralischer oder sittlicher wie auch von epistemischer Autonomie ebenso die Rede wie von der Autonomie des Politischen, eines Volkes, einer Kultur, einer staatlichen Institution, eines politischen Subjekts und sogar des Gehirns. Auf der anderen Seite spricht man u. a. von moderner Subjektivität, vom Rechtssubjekt, vom kulturellen Subjekt oder subjektiver Kultur, aber auch vom neuronalen Selbst,von beschädigter Subjektivität,vom Ende oder gar vom Tod des Subjekts.Und in der Regel ist in diesen – und unzähligen weiteren Fällen – etwas je Verschiedenes gemeint. Insbesondere aber innerhalb der fachphilosophischen Debatten besitzen die Ausdrücke „Subjektivität“ und „Autonomie“ je nach Argumentationskontext oftmals ganz unterschiedliche Bedeutungen, die einander diametral entgegengesetzt sein können, etwa wenn der Begriff der Autonomie einerseits mit der Wahlfreiheit oder der Authentizität einer Person, andererseits mit moralischer Selbstbestimmung in Orientierung an objektiven Gesetzen in Verbindung gebracht wird. Besonderes Aufsehen haben in der breiten Öffentlichkeit zuletzt neurowissenschaftliche Untersuchungen erregt, nach denen die vermeintliche Freiheit des Menschen eine Illusion darstelle und zentrale Aspekte menschlicher Sub1 Das lässt sich in diesen Fällen auch dann behaupten, wenn man nicht die Wittgensteinsche Position vertritt, dass die Bedeutung von Begriffen maßgeblich oder ausschließlich über ihren Gebrauch bestimmt wird – eine Auffassung, die zuletzt, im Ausgang von Hegel, Brandom mit seinem „pragmatischen Inferentialismus“ stark gemacht hat.
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jektivität, etwa Selbstbewusstsein und Gefühle, das Resultat neurobiologischer Prozesse des menschlichen Organismus seien. Dadurch wird auch im Bereich der praktischen Philosophie das vermeintlich überschaubare Feld der Debatten um Subjektivität und Autonomie rasch unüberschaubar. Gerade aber in der Philosophie ist es von größter Wichtigkeit, die verschiedenen Bedeutungen dieser Begriffe scharf voneinander abzugrenzen – gehören doch möglichst genaue und möglichst distinkte Begriffsbestimmungen zu den Hauptaufgaben der Philosophie. Wenn man auf die Rolle und Funktion der Begriffe „Subjektivität“ und „Autonomie“ in der – insbesondere praktischen – Philosophie reflektiert, so ist jedoch mehr noch und Gewichtigeres zu sagen, als dass sie je nach Argumentationskontext sehr verschiedene Bedeutungen haben können. Man kann nämlich mit guten Gründen behaupten, dass nur mit Hilfe dieser Begriffe die fundamentalen Prinzipien gerade der praktischen Philosophie formuliert werden können. Im Selbstverständnis der nachkantischen System-Philosophie ist freilich jedwede Philosophie in einem gewissen Sinne Fundamentalwissenschaft, insofern sie nach den obersten Prinzipien allen Wissens fragt. Aber auch wenn man dieses Projekt einer System- oder Grundsatzphilosophie heute kaum noch in der Form, die ihm die Philosophie um und nach 1800 gegeben hat, wird verfolgen können, so kann man doch mit Fug die Untersuchung der praktischen Subjektivität als eine Art Grundlagenforschung auf dem Gebiet der praktischen Philosophie ansprechen. Das Konzept der praktischen Subjektivität ist jedoch kaum sinnvoll zu analysieren, wenn man es nicht in eine sachhaltige Beziehung zum Autonomiebegriff setzt. Auch das gehört zweifellos zum philosophischen Erbe der kantischen und nachkantischen Philosophie, die über all ihre Differenzen hinweg fast durchweg einen engen Zusammenhang zwischen Subjektivität und Autonomie gesehen hat. Doch muss man sich – die gegenwärtigen Debatten in der analytischen Philosophie zeigen das – keineswegs an diesem Erbe orientieren, um sowohl die zentrale Rolle als auch den engen Begründungszusammenhang der Begriffe Subjektivität und Autonomie anzuerkennen. Selbst wenn man beiden Konzepten äußerst skeptisch gegenübersteht, kommt man wohl nicht umhin einzuräumen, dass „Subjektivität“ und „Autonomie“ zwei so grundlegende Begriffe der praktischen Philosophie sind, dass man zu ihnen in jedem Falle – sei es kritisch, sei es affirmativ – Stellung beziehen sollte. Zwar ist der „Tod des Subjekts“ oft schon von ganz verschiedenen Seiten (etwa seitens der Diskurstheorie, des Dekonstruktivismus und auch der frühen analytischen Philosophie) verkündet worden; doch heute kann man feststellen: Nichts ist so tot wie diese These. Das zeigt sich nicht allein in der Kant- und Idealismusforschung, sondern ist insbesondere in der neueren analytischen Philosophie augenfällig, von der man geradezu behaupten kann, dass sie inzwischen führend in der Subjektivitätstheorie geworden ist. Es
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zeigt sich aber vor allem dort, wo von praktischer Subjektivität die Rede ist, die heute wieder, über alle Grenzen der philosophischen Schulrichtungen hinweg, hoch im Kurs steht. Eines sollte aber ohnehin klar sein: Sowohl die enorme Bedeutungsvielfalt als auch die fundamentale Rolle der Begriffe „Subjektivität“ und „Autonomie“ fordern zur Bescheidung auf, wenn man sich ihrer bedient, um auf dem Gebiet der praktischen Philosophie zu sachhaltigen Einsichten zu gelangen. Was immer nun praktische Subjektivität in den unterschiedlichen theoretischen Kontexten genau bedeutet, über viererlei herrscht weitgehende Einigkeit: 1. Praktische Subjektivität ist maßgeblich an das Vorhandensein von praktischem Selbstbewusstsein gebunden. 2. Praktische Subjektivität ist ein hochstufiges, komplexes Selbstbewusstseinsphänomen, das in irgendeiner Weise andere Selbstbewusstseinsphänomene, etwa Selbstgefühl oder indexikalisches Selbstbewusstsein, einschließt. 3. Das praktische Selbstbewusstsein hat, wie jedes Bewusstsein, einen Gegenstand oder, vorsichtiger, einen Bewusstseinsinhalt, etwa Handlungen, Maximen oder den Willen. 4. Praktische Subjektivität erschöpft sich nicht in einem nach außen abgeschlossenen Selbstbewusstsein, sondern steht in einer innigen und permanenten Beziehung zu etwas außerhalb dieses Selbstbewusstseins, seien dies nun empirische Objekte der Außenwelt, Normen, Personen oder auch Institutionen. Diese vier Thesen haben zumindest dann Gültigkeit, wenn man Selbstbewusstsein überhaupt als ein zentrales Problem der Philosophie des Geistes gelten lässt. Und erst recht können sie solch eine grundlegende Geltung beanspruchen, wenn man bei der Untersuchung der praktischen Subjektivität von der klassischen deutschen Philosophie seinen Ausgang nimmt. An diese vier sehr allgemeinen Thesen lassen sich nun aber eine Reihe von Fragen knüpfen, die wiederum eine Vielzahl von sehr voraussetzungs- und folgereichen Problembereichen eröffnen, von denen an dieser Stelle nur drei knapp umrissen werden sollen: 1. Gesetzt den Fall, dass praktische Subjektivität ein hochstufiges, komplexes Selbstbewusstseinsphänomen ist, so sollte jedes umfassende Modell praktischer Subjektivität Aussagen darüber enthalten, in welchem Verhältnis das praktische Selbstbewusstsein zu anderen Formen von Selbstbewusstsein steht. 2. Gesetzt den Fall, dass das praktische Selbstbewusstsein einen Gegenstand hat, so sollte jedes Modell praktischer Subjektivität Aussagen darüber ent-
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halten, um was für einen Bewusstseinsinhalt es sich dabei genau handelt und wie dieses Selbstbewusstsein möglich ist. Gesetzt den Fall, dass praktische Subjektivität kein selbstgenügsames Phänomen ist, das sich in einem nach außen abgeschlossenen Selbstbewusstsein erschöpft, so sollte jedes Modell praktischer Subjektivität Aussagen darüber enthalten, worauf sich praktische Subjektivität bezieht und in welcher Weise es diesen Außenbezug herstellt und aufrechterhält.
Im Laufe der Geschichte der Philosophie sind die damit verbundenen Fragen freilich ganz unterschiedlich beantwortet worden; und entsprechend dem grundlegenden Charakter der in ihnen angesprochenen Probleme sind selbstverständlich auch die vorgeschlagenen Lösungen grundlegend verschieden. Aus der Perspektive der kantischen und nachkantischen System-Philosophie lassen sich folgende Grundannahmen anführen, welche bei der Lösung dieser Aufgabenstellungen eine bedeutende Rolle spielen: 1. Praktisches Selbstbewusstsein setzt andere Formen von Selbstbewusstsein voraus. Deswegen muss eine Analyse der praktischen Subjektivität auch eine Analyse des Verhältnisses des praktischen Selbstbewusstseins zu anderen Selbstbewusstseinsformen enthalten. Diese Analyse erfolgt innerhalb des Deutschen Idealismus im Rahmen einer genetischen Subjektivitätstheorie, die von der Einheit von theoretischer und praktischer Vernunft ausgeht und mit Schelling als eine „Geschichte des Selbstbewusstseins“ bezeichnet werden kann.² 2. Der (bewusstseinsimmanente) Gegenstand des praktischen Selbstbewusstseins ist (immer auch) praktische Selbstbestimmung. Durch die jeweils nähere Bestimmung der Bedeutung dieses Begriffs unterscheiden sich die nachkantischen System-Philosophen grundlegend, wobei sich die Differenzen vor allem an der Frage nach der Bedeutung und Funktion des kantischen Konzepts des „reinen Willens“ entzünden. In einem Punkt waren sich von Reinhold über Fichte bis Schopenhauer die wichtigsten Repräsentanten der klassischen deutschen Philosophie jedoch einig: Konkretes, empirisches Wollen ist immer intentional gerichtet,Wollen „von etwas“. Das führt hinüber zum dritten Problembereich:
2 Dass dieses im System des transcendentalen Idealismus durchgeführte Programm Schelling mit Fichte und Hegel verbindet, hat Stolzenberg in mehreren Aufsätzen gezeigt (vgl. dazu Stolzenberg, 2003 u. 2009 a). Dass aber die genetische Subjektivitätstheorie zu demselben „Syndrom“ gehört, dem sich um 1800 etwa auch die erzählende Literatur und die Bildungstheorie zuordnen lassen, hat v. a. Ulrichs zu begründen versucht (vgl. Ulrichs, 2010, 2011 u. 2012).
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Die intentionale Beziehung, in der die praktische Subjektivität zur Außenwelt steht, konstituiert sich über unser Handeln in der Welt. Das Wollen findet also erst im Handeln seine intentionalen Erfüllungsbedingungen. Dabei ist das Wollen – das war die Überzeugung nicht nur Fichtes – immer über unseren Leib vermittelt, d. h. wir können nur als materielle Entitäten auf die materiellen Gegenstände der Welt intentional einwirken.
Mit diesen Bemerkungen zu den grundlegenden Annahmen der kantischen und nachkantischen Philosophie bezüglich der praktischen Subjektivität soll jedoch nicht suggeriert werden, dass es sich im Falle der praktischen Philosophie dieser Epoche um ein einheitliches Gebilde, gleichsam einen monolithischen Theorieblock handle. Vielmehr gehen die Auffassungen der Hauptvertreter der klassischen deutschen Philosophie in der konkreten Ausgestaltung einer Theorie praktischer Subjektivität teilweise weit auseinander. So weisen bspw. die jeweiligen Begründungen der praktischen Philosophie durch die Deutschen Idealisten bedeutende Unterschiede auf, die nicht zuletzt Jürgen Stolzenberg in einer Reihe von Untersuchungen identifiziert und in systematische Beziehungen zueinander gesetzt hat.³ Gleichwohl wird gerade dann deutlich, dass Kant und seine Nachfolger im Hinblick auf eine Reihe von Grundannahmen übereinstimmen, wenn man die Rolle des Autonomiekonzepts in den verschiedenen Modellen der kantischen und nachkantischen Philosophie betrachtet – auch wenn Kant, Reinhold, Fichte, Schelling, Hegel und Schopenhauer dem Begriff der Autonomie in ihren Theorien praktischer Subjektivität zuletzt eine jeweils andere Bedeutung oder Funktion zugeschrieben haben. Eine Theorie praktischer Subjektivität kommt, so scheint es, ohne den Begriff der Autonomie nicht aus. Nicht nur ist festzustellen, dass das Autonomiekonzept innerhalb der kantischen und nachkantischen Subjektivitätsphilosophie eine zentrale Rolle spielt, man kann sogar mit Gründen behaupten, dass der Begriff der Autonomie in nahezu allen interessanten Theorien praktischer Subjektivität virulent wird. Es ist allerdings erneut zu betonen, dass „Autonomie“ in den unterschiedlichen Modellen praktischer Subjektivität oft eine sehr unterschiedliche Bedeutung hat. Und das gilt nicht nur für die verschiedenen historisch sich ausbildenden philosophischen Richtungen, also diachron, sondern auch für gleichzeitig formulierte Modelle praktischer Subjektivität, mithin synchron. Es ist daher stets sorgfältig zu prüfen, ob in den jeweiligen Debatten – auch und gerade in denjenigen der Gegenwart – überhaupt noch von demselben „Gegenstand“ bzw. Phänomen gesprochen wird. Umgekehrt ist also zu fragen, ob es in diesen un-
3 Vgl. Stolzenberg, 1995, 2001, 2004 a.
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terschiedlichen Verwendungsweisen des Begriffs der Autonomie einen gemeinsamen Bedeutungskern gibt, der die verschiedenen Modelle von Autonomie und damit von praktischer Subjektivität kommensurabel macht. Auch hier ist es hilfreich, sich an den in der kantischen und nachkantischen Philosophie vorgeschlagenen Autonomiekonzepten zu orientieren. Denn selbst wenn man von dem überaus anspruchsvollen Projekt der Deutschen Idealisten abrückt, das Konzept der Autonomie über die Trennung zwischen theoretischer und praktischer Philosophie hinweg fruchtbar zu machen und zur Versöhnung der daran sich anschließenden Dualismen einzusetzen,⁴ und entsprechend den Geltungsbereich des Autonomiekonzepts auf das Gebiet der praktischen Philosophie einschränkt, muss man feststellen, dass um und nach 1800 maßgebliche Vorgaben für eine Theorie der praktischen Subjektivität formuliert worden sind. Näherhin kann man aus der Beschäftigung mit den kantischen und nachkantischen Modellen praktischer Subjektivität lernen, dass „Autonomie“ hier, wenn man es hinreichend allgemein fasst, mindestens zwei Bedeutungen hat: 1. Autonomie wird verstanden als eine insofern impersonale Selbstbestimmung, als sie in Orientierung am allgemein gültigen „Sittengesetz“ erfolgt; entsprechend handelt es sich hier um einen moralischen Autonomiebegriff, der in diesem Sinne auch als ein „objektiver“ bezeichnet werden kann. 2. Autonomie wird verstanden als eine insofern personale Selbstbestimmung, als sie in Orientierung an den grundlegenden Willensbestimmungen einer konkreten, individuellen Person erfolgt; entsprechend handelt es sich in diesem Falle um einen volitionalen Autonomiebegriff, der gegenüber moralischen Bestimmungen neutral ist und in diesem Sinne auch als ein „subjektiver“ bezeichnet werden kann, welcher mit dem Begriff der Authentizität größtenteils oder vollständig gleichbedeutend ist. Das objektive, impersonale Konzept der Autonomie (1) bindet sich vor allem an den Namen Kant, wird jedoch auch für Fichte und, mit Einschränkungen, Schelling virulent, während sich die subjektive, personale Autonomie qua Authentizität (2) innerhalb der klassischen deutschen Philosophie v. a. an die Namen Schopenhauer und Nietzsche, später an Heidegger knüpfen lässt – sie ist aber, insbesondere durch den Einfluss Harry G. Frankfurts, für die analytische Philosophie von zentraler Bedeutung geworden. Ein Gutteil der Meinungsverschie-
4 Das für dieses Versöhnungsunternehmen zentrale Konzept der „Spontaneität“ bzw., so v. a. bei Fichte und dem frühen Schelling, der „Selbsttätigkeit“ steht dabei nämlich in engstem Begründungszusammenhang mit dem Konzept der Autonomie.
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denheiten auf diesem Gebiet rührt daher, dass diese beiden Grundbedeutungen nicht hinreichend auseinander gehalten werden. Beiden Grundbedeutungen ist jedoch Eines wesentlich gemeinsam: Wie schon das Wort „Auto-nomie“, noch deutlicher in den deutschen Übersetzungen als „Selbst-Bestimmung“ und „Selbst-Gesetzgebung“, sagt, ist damit ein Selbstverhältnis angesprochen, und zwar ein begrifflich organisiertes: Ein autonomes Subjekt resp. eine autonome Person setzt sich zu sich selbst in ein Verhältnis, indem es sich in irgendeiner Weise (begrifflich) bestimmt. Das gilt bereits für den Bereich der sogenannten „epistemischen Autonomie“, wie an den in diesen Modellen einschlägigen Wendungen deutlich wird wie „sich auf eine Behauptung festlegen“, „für eine Aussage die Verantwortung übernehmen“ oder „sich eine Überzeugung zueigen machen“, indem man seine Bereitschaft signalisiert, für eine Behauptung Gründe anzugeben, die man sich in demselben Zuge zueignet, was wiederum ein Selbstverhältnis voraussetzt. Ebenso und noch mehr gilt es für die praktische Autonomie, wie besonders klar erkennbar wird, wenn man den Sachverhalt aus einer kantischen Perspektive betrachtet: Das (moralische) Subjekt prüft seine (subjektive) Maxime anhand des Universalisierungstests des kategorischen Imperativs auf seine Verallgemeinerbarkeit resp. Allgemeingültigkeit oder Impersonalität und macht sie sich, indem es das tut, als (ein nun objektives) Gesetz für sein Handeln zueigen. Aber auch für ein Stufenmodell praktischer Subjektivität, das zwischen reinem Willen und empirischem Wollen (Fichte), empirischem und erworbenem Charakter (Schopenhauer) oder Wunsch 1. Stufe und Volition 2. Stufe (Frankfurt) unterscheidet, lässt sich zeigen, dass Autonomie nur als ein praktisches Selbstverhältnis verständlich zu machen ist. Das gilt gerade dann, wenn am Ende eines autonomen Entscheidungsprozesses, wie bei Frankfurt oder auch Parfit, eine „Identifikation“ mit den eigenen authentischen Willensbestimmungen steht: In einer derartigen Identifikation ist zwar die innere, infolge seines praktischen Reflexionsprozesses entstehende „Spaltung“ des Subjekts (scheinbar) aufgehoben, aber die dann (vorübergehend) erreichte „Einheitlichkeit des Willens“ bzw. „Charakters“ konstituiert sich immer erst auf der Basis eines praktischen Selbstverhältnisses. Viele gegenwärtige Theorien – auch von solchen Philosophen, die von Kant und seinen Nachfolgern ausgehen – versuchen jedoch derartige, nur schwer und mit erheblichem theoretischen Aufwand zu bewältigende, Selbstverhältnisse aus dem Gebiet der praktischen Philosophie zu verbannen oder verzichten auf eine Analyse ihrer Binnenstruktur. Sie scheuen, wie Jürgen Stolzenberg immer wieder betont,⁵ alles Selbstreflexive wie der Teufel das Weihwasser. Damit scheint ein folgenreicher Verlust an Problem-
5 So mehrfach mündlich, in Seminaren und Gesprächen.
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bewusstsein einherzugehen, in Zuge dessen eine bedauernswerte Reduktion der Komplexität des praktischen und sittlichen Bewusstseins und damit auch der menschlichen Handlungen nicht zu übersehen ist. Autonomie ist jedoch keineswegs bloß ein intrasubjektives oder intrapersonales Phänomen, das dann schon hinreichend analysiert ist, wenn die Binnenstruktur des (praktischen) Subjekts aufgeklärt ist. Vielmehr wird gerade am Problem der Autonomie ersichtlich, dass für den Bereich des Praktischen die Umkehrung einer berühmten fichteschen These gilt: es gibt letztlich kein Selbstverhältnis, das nicht zugleich ein Weltverhältnis einschließt. Das aber bedeutet auch, dass praktische Subjektivität letztlich nur innerhalb intersubjektiver oder interpersonaler Kontexte angemessen gedeutet werden kann. Diese enge Beziehung, die praktische Subjektivität bzw. Autonomie zur Intersubjektivität bzw. Interpersonalität unterhält, verschafft den in Rede stehenden Bewusstseinsphänomenen wie auch der ohnehin schon schwierigen Theorielage, innerhalb derer diese Phänomene verhandelt werden, eine zusätzliche Komplexität. So hat das Autonomiekonzept eine zentrale Bedeutung für die Theorie der Anerkennung, beherrscht die Debatten um „Freiheit“ bis in die feinsten begrifflichen Verästelungen und wird als Begründungspotential für die sowohl philosophisch als auch juridisch geführte Diskussion um „Würde“ und die Bestimmung der Menschenrechte verwendet. Es erstaunt darum auch nur wenig, dass auf „Autonomie“ bzw. „Selbstbestimmung“ immer wieder auch in politischen Debatten Bezug genommen wird – teilweise mit einschneidenden grundrechtlichen und völkerrechtlichen Konsequenzen. Die – oft mit Waffengewalt geführten – Auseinandersetzungen um das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“, die seit dem Ende des kalten Krieges an der politischen Tagesordnung sind, zeigen das auf eindrückliche und oftmals wenig erfreuliche Weise. Aus einer ideengeschichtlichen Perspektive ließe sich sogar behaupten, dass darin die ursprüngliche Herkunft des Autonomiebegriffs aus der antiken politischen Philosophie ersichtlich wird, wonach „Autonomie“ primär ein Volk charakterisiert, das sich selber seine Gesetze gibt und darüber als eine staatliche Gemeinschaft konstituiert, und erst in einem zweiten Schritt – im Rahmen etwa einer platonischen Analogisierung von „Staat“ und „Seele“ – auf das einzelne Subjekt übertragen wird.Wie immer dem auch sei, an den Versuchen, das Autonomiekonzept als Begründung konkreten politischen Handelns in Anschlag zu bringen, erkennt man jedenfalls, dass die Theorien praktischer Subjektivität – so abstrakt und geradezu realitätsfern sie zunächst daherzukommen scheinen – in Wirklichkeit von grundlegender Bedeutung für das Selbstverständnis des modernen Subjekts sind. Und es wird mithin neuerlich erkennbar, mit welch umfassendem Recht die Entwicklung von Modellen praktischer Subjektivität, die das Autonomiekonzept zu ihren zentralen begrifflichen Bestand-
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stücken zählen, als philosophische Grundlagenforschung bezeichnet werden kann.
2 Vom Nutzen der Geschichte der Philosophie für die Philosophie In den vorangehenden Überlegungen wurde immer wieder deutlich, dass ein unverzichtbarer Bestandteil jeder philosophischen Grundlagenforschung in der Untersuchung klassischer Theorien, in diesem Falle insbesondere der Modelle der kantischen und nachkantischen Philosophie besteht. Dies geschieht nicht nur aus dem Grund, weil die Philosophie immer auch Sachwalterin ihrer eigenen Geschichte sein sollte. So legitim ein solches im engeren Sinn philosophiehistorisches Interesse an, mit Hegel zu sprechen, vergangenen „Gestalten des Geistes“ auch ist, die Auseinandersetzung mit der philosophischen Tradition sollte niemals nur zu diesem Zweck erfolgen. Vielmehr ist die Beschäftigung mit klassischen Theorien für die jeweilige Gegenwartsphilosophie von größter systematischer Bedeutung. Das lehrt auch die Geschichte der Philosophie selbst. Es handelt sich dabei also ihrerseits bereits um eine geschichtliche Tatsache. So haben etwa – um nur zwei, gerade für den vorliegenden Sammelband einschlägige, Beispiele zu nennen – auf der einen Seite der Deutsche Idealismus und die Romantik maßgeblich von der Beschäftigung mit der antiken Philosophie profitiert und auf der anderen Seite ganz unterschiedliche Richtungen der analytischen Philosophie wichtige Impulse durch die Berücksichtigung I. Kants und G.W.F. Hegels gewonnen. Insbesondere mit Blick auf die praktische Philosophie ist das offenkundig: Neue moralphilosophische, sozialphilosophische und politische Theorien wie etwa von J. Habermas, A. Honneth, C. Korsgaard, M. Nussbaum und J. Rawls schließen entweder explizit an klassische Ansätze an oder sind entscheidend von ihnen geprägt. Aber auch die Entwicklung der modernen Subjektivitätstheorie hätte sicherlich einen völlig anderen Verlauf genommen, wenn sie nicht in permanenter Auseinandersetzung mit den Positionen der klassischen deutschen Philosophie erfolgt wäre. Dies gilt keineswegs nur für solche sich explizit an den Vorgaben der kantischen und nachkantischen Subjekttheorie anschließenden philosophischen Richtungen wie die sogenannte „Heidelberger Schule“ um Dieter Henrich, Konrad Cramer, Ulrich Pothast und Manfred Frank, sondern auch und vor allem für diejenigen Ansätze, die ihre Modelle in kritischer Distanz zu diesen Vorgaben entwickeln, wie das im deutschsprachigen Raum insbesondere Martin Heidegger und Ernst Tugendhat unternommen haben.
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Die Beschäftigung mit der Geschichte der Philosophie ist also nicht bloß historisch von Bedeutung, sie ist auch in den aktuellen systematischen Debatten ein Nährboden, dessen Fruchtbarkeit schier unerschöpflich zu sein scheint. Der Rückblick auf die philosophische Tradition ist – gerade wenn er sich mit einem systematischen Interesse an Sachproblemen verbindet – deshalb mitnichten ein Rückschritt, sondern, im Gegenteil, dem Fortschritt der Philosophie in einem Maße förderlich, dass dieser Fortschritt ohne ihn schlechthin undenkbar zu sein scheint. Die Geschichte der Philosophie und ihr Verlauf sind, mit Jürgen Stolzenberg gesprochen, somit als ein Jahrtausende währendes Gespräch von Expertinnen und Experten über spezifische Sachprobleme zu verstehen, die in der Philosophie immer wieder verhandelt werden (vgl. Stolzenberg, 2009 b, S. 86). Die in diesem Sammelband vereinigten Aufsätze wollen einen Beitrag zu diesem Gespräch leisten, indem sie sich Grundproblemen der praktischen Philosophie nach Kant widmen. Zu diesen Grundproblemen zählt zweifellos, wie gesehen, das Verhältnis zwischen Subjektivität und Autonomie – ein Problem, aus dem sich wiederum andere, nicht weniger wichtige, Themen wie Freiheit und Anerkennung oder die Begründung der Menschenrechte zwanglos entwickeln lassen. Die in eins mit der Behandlung dieser Probleme analysierten Schlüsselbegriffe wie u. a. Freiheit, moralisches Selbstbewusstsein, Würde und praktische Rationalität machen ebenfalls deutlich, wie viele weitere Themengebiete mit einer Untersuchung des Verhältnisses von Subjektivität und Autonomie aufs Engste verbunden sind. Das macht einen nicht unerheblichen Teil der oft niederschlagenden Komplexität des Problems „praktische Subjektivität“ aus, aber sicherlich auch dessen nicht minder erheblichen Reiz. Nach Kant ist dabei in dreifacher Hinsicht zu verstehen. Es bedeutet erstens, dass einen Schwerpunkt der Beiträge die Erörterung und Diskussion derjenigen Interpretationen und Lösungen bilden, die Kant hinsichtlich zentraler Aufgabenstellungen der praktischen Philosophie vorgeschlagen hat.⁶ Nach Kant meint zweitens, dass diejenigen Theorien ausführliche Berücksichtigung erfahren, welche Kants Zeitgenossen und unmittelbare Nachfolger in Auseinandersetzung mit Kants Überlegungen entwickelt haben.⁷ Nach Kant bedeutet schließlich drittens, dass klassische Theorien behandelt werden, die in expliziter oder impliziter Kritik und Absetzung von Kant ganz eigenständige Überlegungen zur praktischen Philosophie enthalten. Ein zweiter Schwerpunkt des Sammelbandes ist somit die klassische deutsche Philosophie im Anschluss an Kant. Als klassische deutsche Philosophie nach Kant
6 Vgl. zur Sache: Stolzenberg, 1988, 2005, 2007, 2010 a. 7 Vgl. zur Sache: Stolzenberg, 1998, 2000, 2004 b, 2005, 2006.
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wird in der Regel die Zeitspanne von 1785 bis 1845 bezeichnet (vgl. etwa Arndt / Jaeschke, 2012, S. 17), in der die Philosophie in Deutschland eine Blütezeit erlebte und die System-Philosophie insbesondere durch K.L. Reinhold, J.G. Fichte, F.W.J. Schelling und G.W.F. Hegel, die Romantik etwa durch F. Hölderlin, Novalis und F. Schlegel, aber auch die Kritik an transzendentalphilosophischen und idealistischen Ansätzen wie bspw. durch F.H. Jacobi, G.E. Schulze und A. Schopenhauer ihren epochalen Höhepunkt erreichten. Darüber hinausgehend werden schließlich S. Kierkegaards christlich motivierter Ansatz, M. Heideggers phänomenologisch-ontologische Theorie in den späten 1920er Jahren sowie E. Cassirers neokantianischer Ansatz berücksichtigt, welche die Philosophie des 20. Jahrhunderts entscheidend beeinflussten, dies jedoch ebenfalls in ständiger Auseinandersetzung mit der kantischen und nachkantischen Philosophie zu leisten unternahmen. Durch die Berücksichtigung klassischer Theorien von Kant bis Cassirer geben die Beiträge des Sammelbandes eine breite, zugleich aber grundlegende und fundierte Orientierung zur praktischen Philosophie. Sie leisten andererseits jedoch auch einen wichtigen Beitrag zu aktuellen Debatten, indem Erkenntnisse, Argumente sowie Aufgaben- und Fragestellungen erläutert werden, die in der neuzeitlichen Philosophie nach Kant entwickelt und untersucht wurden und welche in gegenwärtigen Debatten in der praktischen, aber auch der theoretischen Philosophie diskutiert werden oder berücksichtigt werden sollten. Die Beiträge des Sammelbandes demonstrieren auf diese Weise, dass die Beschäftigung mit der Geschichte der Philosophie auch in der Gegenwart ein tragendes Fundament lebendigen und progressiven Philosophierens ist.
3 Zu den Beiträgen des Bandes Den Gründen für die Beschäftigung mit der Geschichte der Philosophie geht auch der Lehrer von Jürgen Stolzenberg, Konrad Cramer, nach, dessen während der Drucklegung dieses Sammelbandes erfolgter Tod einen unersetzlichen Verlust darstellt. In mehrerlei Hinsicht eröffnet Cramers Beitrag den vorliegenden Sammelband auf ideale und instruktive Weise. Ausgehend von der Beobachtung, dass die Physik auf der einen und die Philosophie auf der anderen Seite mit ihrer Geschichte gänzlich unterschiedlich umgehen, und in Abgrenzung von einer sich an den Namen Quine knüpfenden Auffassung, dass die Auseinandersetzung mit historischen Positionen keinen Beitrag zur Philosophie als Wissenschaft leiste, untersucht Cramer zunächst kritisch die ihrerseits schon klassisch zu nennende Position, wonach Texte der philosophischen Vergangenheit nicht als solche, sondern als zeitgenössische Texte zu lesen seien, an denen man nicht nur phi-
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losophieren lernen könne, sondern die auch auf unsere gegenwärtigen Sachfragen bestimmte Antworten zu geben vermöchten. Cramer wendet gegen eine solche Auffassung ein, dass sich daraus kein interner Grund für die Kenntnisnahme der Geschichte der Philosophie ableiten lasse, da man sowohl das Philosophieren selbst als auch die Untersuchung von Sachproblemen ebenso gut durch die Beschäftigung mit Texten unserer philosophischen Gegenwart üben könne. Zudem sehe eine Lektüre der Texte der philosophischen Überlieferung als potentiell gleichzeitiger von ihrer Historizität gerade ab, und könne deshalb nicht als Argument dafür dienen, dass die Geschichte der Philosophie – als Geschichte – Bestandteil der Philosophie selbst ist. Vielmehr schrumpft, so Cramer, die Geschichte der Philosophie dadurch auf eine zeitlose Gegenwart von sogenannten ewigen philosophischen Problemen zusammen, bei deren Behandlung die Philosophen der Vergangenheit nur deswegen berücksichtigt werden, weil sie zur Formulierung und Lösung dieser Probleme beigetragen haben. Zwar verspreche diese Auffassung der Geschichte der Philosophie als einer Problemgeschichte eine Begründung dafür an die Hand zu geben, dass die Beschäftigung mit der Geschichte der Philosophie selber Philosophie und nicht bloße Historie ist, doch erweise sich der problemgeschichtliche Ansatz trotz aller gegenteiligen Versicherungen nicht nur als zutiefst ahistorisch, sondern auch insofern als eine Fiktion, als er sich die Probleme, an denen die Philosophen sich über alle Zeiten hinweg vorgeblich abgearbeitet hätten, unkritisch von der jeweils gegenwärtigen Philosophie vorgeben lasse. Aus diesem Grunde hat insbesondere die hermeneutische Philosophie den problemgeschichtlichen Ansatz als einen Dogmatismus aus Mangel an historischer Bildung bezeichnet, der auf die Kontingenz seiner Auswahl philosophischer Probleme nicht oder nur unzureichend reflektiere. Dem stellt die hermeneutische Philosophie als Begründung für die These, dass das Interesse an der Geschichte der Philosophie ein philosophisches Interesse ist, die Überzeugung entgegen, dass all unser Verstehen geschichtlich verfasst sei. Cramer wendet gegen diese Position jedoch ein, dass die Historizität des philosophischen Denkens nicht impliziere, dass man Geschichte der Philosophie betreiben muss, um philosophisch zu denken. Die Konstruktion eines notwendigen Zusammenhanges zwischen Philosophiegeschichtsschreibung und Philosophie sei auf diese Weise also nicht begründbar. Cramer plädiert stattdessen für eine Auffassung, wonach die Beschäftigung mit der Philosophie einer vergangenen Epoche erst dann philosophische Bedeutung gewinnt, wenn man davon ausgeht, dass sie uns etwas zu sagen hat, das für unser eigenes Philosophieren insofern von Bedeutsamkeit ist, als sie uns über vergessene Vernunftkonzepte und Begründungsstrategien aufklärt, die echte Alternativen und Korrektive zu unserer Vernunftkonzeption bzw. unseren Begründungsverfahren bieten. Cramers Position ist also von der Überzeugung geleitet, dass eine vergangene Gestalt des Philosophierens
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Rationalitätspotentiale enthält, mit denen sich zu konfrontieren eine Bereicherung darstellt, da sie uns vor der Einseitigkeit der in der Gegenwart jeweils üblichen Rationalitätsmuster bewahrt. Eine Geschichtsschreibung, die auf diese Weise die dem Menschengeschlecht möglich gewesenen Alternativen seiner Selbst- und Weltauffassung in den vergangenen Zeiten vor Augen führt und die Cramer als „Teil einer pragmatischen Geschichte des menschlichen Geistes“ bezeichnet, sei aber von philosophischem und nicht bloß von historischem Interesse. Der Beitrag Cramers kann – obwohl er den Gedankenreichtum dieses Philosophen sicher nicht im Entferntesten ausschöpft – insofern als eine Art von philosophischem Vermächtnis angesehen werden, als er in beeindruckender Weise zeigt, mit welcher methodischen Strenge und mit welchem Kenntnisreichtum Konrad Cramer das philosophiegeschichtliche Erbe für seine systematisch motivierten Untersuchungen fruchtbar gemacht hat. Hierin war er nicht zuletzt für Jürgen Stolzenberg ein Vorbild und eine Richtschnur – eine Richtschnur nämlich für ein Denken, das sich der philosophischen Tradition gegenüber verpflichtet und zugleich verantwortlich weiß, ohne sich dabei in einem bloß antiquarischen Interesse zu verlieren. Die Schlüsselfigur der klassischen deutschen Philosophie ist fraglos Immanuel Kant. Dies gilt insbesondere auch mit Blick auf dessen praktische Philosophie, welche nicht nur Kants Zeitgenossen maßgeblich beeinflusste, sondern darüber hinaus die nachkantische Philosophie sowie die Philosophie bis in die Gegenwart nachhaltig geprägt hat. Diese herausgehobene Bedeutung Kants spiegelt die vergleichsweise große Zahl an Beiträgen des vorliegenden Sammelbandes wieder, die entweder direkt der Untersuchung kantischer Überlegungen zur praktischen Philosophie gewidmet sind, den Einfluss Kants auf die nachkantische Philosophie nachzeichnen oder die Bedeutung von Kants Ansatz für gegenwärtige Debatten verdeutlichen. Rainer Enskat und Manfred Baum untersuchen in Naheinstellung zentrale Begriffe und Thesen Kants. Im Zentrum der Untersuchung von Rainer Enskat stehen Immanuel Kants Interpretation menschlichen Selbstbewusstseins in der Kritik der reinen Vernunft, der Begriff der Spontaneität sowie, als Kernbegriff seiner praktischen Philosophie, der Begriff des moralischen Selbstbewusstseins. Zunächst wird gezeigt, dass die Begriffe Handlung und Spontaneität die Grundbegriffe sowohl der praktischen als auch der theoretischen Philosophie Kants sind. Der Handlungsbegriff ist dabei der Grundbegriff der praktischen Philosophie, da in der Interpretation Enskats nur Handlungen und deren Maximen einer moralischen Beurteilung fähig sind. Dass dieser Begriff aber auch eine zentrale Rolle in der theoretischen Philosophie spielt, ist nach Enskat u. a. anhand von Kants Definition eines Urteils zu erkennen, gemäß der ein Urteil eine „Handlung [darstellt], durch die gegebene Vorstellungen zuerst Erkenntnisse eines Objects wer-
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den“ (Kant, MA, S. 475*). Sodann ist der Begriff der Spontaneität vor allem deswegen ein Leitbegriff, weil die Handlungen sowie die logischen Formen der Urteile sich der Spontaneität des Subjekts verdanken. Anschließend zeigt Enskat, dass Kants berühmte Zirkel-Diagnose im Paralogismuskapitel, gemäß der durch das „Ich, oder Er, oder Es (das Ding), welches denkt, […] nichts weiter, als ein transzendentales Subjekt der Gedanken vorgestellt = x [wird], […] um welches wir uns […] in einem beständigen Zirkel herumdrehen“ (Kant, KrV, B 404), nur mit Einschränkungen Gültigkeit hat. Sie gilt zwar für Urteile des inneren Sinns, in denen die Prädikate des inneren Sinns sich auf das Subjekt beziehen; sie gilt jedoch weder für die ursprüngliche und reine Apperzeption noch für den Satz „Ich denke“. Enskat erläutert in diesem Zusammenhang das sachliche Motiv, das Kants Zirkel-Diagnose zugrunde liegt. Es bestehe darin, dass Kant mit der Zirkel-Metapher vier funktionale Rollen charakterisieren möchte, welche das Subjekt in paradigmatischer Weise im Zusammenhang mit einem Urteil über das Subjekt besitzt. Diese Rollen bestehen darin, dass das Subjekt (1) der unthematische spontane Akteur eines Urteils ist, (2) spontan die logische Form der Urteile bestimmt, (3) das ‚Original aller Objekte’ ist, indem es sich selbst zum Objekt macht und (4) als das thematisierte spontane Subjekt der logischen Verhältnisbestimmung der Urteile auftritt. Auch mit Blick auf Kants praktische Philosophie ist der Begriff des Selbstbewusstseins von entscheidender Bedeutung. Im Rahmen einer moralischen Selbstbeurteilung ist nicht nur erforderlich, dass eine Person sowohl Kläger, Angeklagter, Beistand und Richter in einer Person ist, sondern auch, dass die Person sich spontan ihrer Identität in diesen vier Funktionen der moralischen Selbstbeurteilung bewusst ist. Dieses Identitätsbewusstsein prägt, so Enskat, die Struktur des moralischen Selbstbewusstseins entscheidend. Zum Abschluss wird die These begründet, dass für Kant die Bedeutung der Lügenmaxime sich nicht darin erschöpft, ein exemplarisches Beispiel zur Anwendung seines moralischen Beurteilungsverfahrens darzustellen. Vielmehr bildet sie das Paradigma und den Ausgangspunkt moralischer Selbstbeurteilung überhaupt. Manfred Baum untersucht Kants Interpretation des ethischen Gemeinwesens in Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Der Begriff ethisches Gemeinwesen bezeichnet nach Kant eine Gesellschaft, die nach Tugendgesetzen errichtet ist und welche in der Beförderung der Tugenden sowie in der Bekämpfung des Bösen ihre Hauptaufgaben sieht. Der Begriff des Bösen bezeichnet in der Religionsschrift den angeborenen Hang zur Übertretung des Sittengesetzes sowohl bei der Aneignung als auch bei der Realisierung der Maximen des Willens. Jedoch ist, so Baum, für Kant zugleich – in Übereinstimmung mit Rousseau – die Gesellschaft die Ursache dafür, dass die moralischen Anlagen verdorben werden. Baum zeigt, dass für Kant die Bekämpfung des Bösen in der Gesellschaft eine ethische Pflicht ist. Die Errichtung eines ethischen Gemeinwesens ist somit eine
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moralische Notwendigkeit. Baum identifiziert die wesentlichen Merkmale des ethischen Gemeinwesens, indem er Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der bürgerlich-rechtlichen Gesellschaft und dem ethischen Gemeinwesen erörtert. Beide Gesellschaften stimmen darin überein, dass sie auf einer absichtlichen Vereinigung ihrer Mitglieder beruhen und ihre Gesetze öffentliche Gesetze darstellen, die promulgiert werden und somit als gesellschaftlich anerkannt gelten. Sie unterscheiden sich jedoch dadurch, dass im ethischen Gemeinwesen die Tugend das Vereinigungsprinzip ist, während diese Funktion im bürgerlichen Gemeinwesen vor allem vom positiven Recht übernommen wird. Anschließend erläutert Baum Kants Interpretation des rechtlichen und ethischen Naturzustands und identifiziert wiederum Übereinstimmungen und Unterschiede der beiden Naturzustände. Zum Abschluss wird Kants These erörtert, dass das Verlassen des ethischen Naturzustands eine Pflicht des Menschengeschlechts gegen sich selbst ist, und erläutert, warum für Kant allein die Idee Gottes als moralischen Weltherrschers das Problem der Stiftung eines ethischen Gemeinwesens aller Menschen zu lösen vermag. Auch Hans Friedrich Fulda reflektiert in seinem Beitrag auf die rechtsphilosophischen Implikationen des Subjektivitätskonzepts Kants, konzentriert sich aber, anders als Baum, auf die Frage, ob Kants Rechtsphilosophie für ein sachhaltiges Menschenrechtskonzept fruchtbar gemacht werden kann. Zwar kommt der Terminus „Menschenrechte“ bei Kant nicht vor, Fulda meint aber, dass Kants Rechtsdenken das größte Potential für eine Begründung der Menschenrechte berge, die allen gegenwärtig dominierenden Auffassungen, wie denjenigen von Tugendhat, Habermas oder Rawls, überlegen ist. Fulda bestimmt die Menschenrechte als subjektive Rechte einzelner Menschen, denen aber eigentümlich ist, dass sie Menschen nicht erst aufgrund einer besonderen Qualifikation oder Leistung, sondern bereits als bloße Menschen zukommen. Genauso seien sie unabhängig davon zu denken, ob sie subjektive Rechte in einem bestimmten Staat oder einer bestimmten Kultur sind, denn nur dann genüge man ihren umfassenden Geltungsansprüchen. Kants Konzeption der Menschenrechte beruht laut Fulda dabei auf der Lehre des „exeundum est e statu naturae“. Bei Kant sei die Begründung für diesen Übergang eine streng rechtliche und rekurriere auf keine natürlichen Interessen im Naturzustand, wobei der Rechtszustand als ein solcher bestimmt wird, in dem eine distributive Gerechtigkeit herrscht, welche im Rechtsstreitfall jedem durch justizielle Entscheidung seine subjektiven Rechte wirksam zuteil werden lässt. Die fundamentalen privatrechtlichen Normen bleiben also bei diesem Übergang unangetastet, sie erhalten sogar nun erst wirksame Geltung. Im nicht-rechtlichen (Natur‐)Zustand folge dagegen jeder Einzelne nur seiner Willkür. Anders als im klassischen Naturrecht beginne somit bei Kant der Übergang aus dem nichtrechtlichen Zustand in einen rechtlichen dort, wo die
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Träger subjektiver Rechte die Realisierung ihrer privatrechtlichen Autonomie zugunsten der Erfüllung einer Rechtspflicht aufgeben. Hier aber liegt, so Fulda, zugleich der Ursprung des kantischen Konzepts der Menschenrechte. Kants „Postulat des öffentlichen Rechts“, aus dem natürlichen, nicht-rechtlichen Zustand in einen rechtlichen überzugehen, gehört als Rechtsimperativ ebenso wie die diesen Imperativ begründende moralisch-rechtliche Norm noch zum Privatrecht. Allerdings muss nach dem Übergang alles Recht – privates wie öffentliches – auf Gerechtigkeit ausgerichtet sein. Grundsätzlich gewendet bedeutet das aber, dass für den Übergang die Erhaltung, Sicherung und Wirksamkeit der Menschenrechte oberstes Rechtsgut ist. Wie immer diese Menschenrechte im Einzelnen bestimmt werden mögen, immer werden in ihnen, so Fulda, bestimmte Ansprüche formuliert, die jeder Mensch qua Mensch erheben kann. Diese Ansprüche gehen (1) auf Schutz elementarer subjektiver Rechte, auch vor willkürlichen Übergriffen staatlicher Gewalten, (2) auf aktive Teilhabe am politischen Prozess in einem Staat und (3) auf Ermöglichung sozialer Teilnahme am Leben in diesem Staat. Darüber hinaus müssen alle natürlichen Personen und private wie öffentliche Institutionen dahin zusammenwirken, die Menschenrechte so zu universalisieren, dass ein kosmopolitisches Recht geschaffen wird. Das war bekanntlich ein Hauptanliegen Kants. Während nun die Ansätze zur Rechtsphilosophie der Kantianer der ersten Stunde, einschließlich Fichtes, nach Fuldas Dafürhalten durchweg als misslungen gelten müssen, hat Hegel zum Thema Menschenrechte durchaus Sachhaltiges beigetragen – freilich nur als Ergänzung, nicht als Überbietung des kantischen Ansatzes. Denn zwar verweise bei Hegel die Rechtspraxis zumindest implizit auf das Menschenrechtskonzept, insofern der Mensch in ihr als allgemeine Person und damit qua Mensch behandelt werde, doch beziehe sich die Rechtspflege immer nur auf Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft, also in einer besonderen Sphäre des Zusammenlebens, die den modernen Staat bereits voraussetzt. Dagegen fehlt, so Fulda, bei Hegel eine dem kantischen Postulat öffentlichen Rechts entsprechende Forderung, die auf das Recht der Menschen als solches verweist. Deshalb sei gar nicht auszumachen, wie Hegels Rechtsphilosophie zu einer Begründung von Menschenrechten führen sollte. Man müsse Hegel vielmehr erst mithilfe Kants berichtigen, bevor man die philosophische Erkenntnis der Menschenrechte mit hegelschen Mitteln noch weiter ausgestalten könne. Fulda plädiert deshalb für „ein beherztes Zurück zu und weiter mit Kant!“. Johannes Hübner und Matthias Kaufmann erläutern ebenfalls die Bedeutung der kantischen Philosophie für aktuelle Fragestellungen, indem sie zeigen, dass der für Kants Denken zentrale Begriff der Autonomie im Bereich der praktischen wie der theoretischen Philosophie bis in die Gegenwart gleichermaßen von zentraler Bedeutung ist. Für das letztgenannte Gebiet verfolgt Johannes Hübner in seinem Beitrag das Ziel, über die Klärung des Begriffs des epistemischen Sollens
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einen Begriff von epistemischer Autonomie in Analogie zum kantischen Verständnis von praktischer Autonomie zu entwickeln. Dass auch das epistemische Sollen immer normativ ist, wird, so Hübner, in der Praxis des Kritisierens theoretischer Aussagen deutlich, in der zum einen dem sich auf eine Aussage Festlegenden die Verantwortung für diese Festlegung zugeschrieben, zum andern dieser zur Begründung seiner Aussage aufgefordert wird. So wie schon Kant der Vernunft die maßgebliche Rolle in der Deutung des Freiheitsbegriffs einräume, so appelliere also auch das Konzept der epistemischen Autonomie an die Rationalität des Aussagenden. Die Willensfreiheit – verstanden als Fähigkeit, den eigenen Willen zu bestimmen – und nicht die Handlungsfreiheit stelle dabei das praktische Gegenstück zur epistemischen Autonomie dar. Denn so, wie man selbst überlegt und urteilt, was man tun soll, so überlegt und urteilt man selbst, was der Fall ist. Das provoziert aber die Frage, wie man dafür sorgt, dass man es tatsächlich selbst ist, der das eigene Urteil trifft. In Orientierung an Kant gibt Hübner darauf folgende Antwort: Die Entscheidung für eine Aussage muss an Gründen orientiert sein, die für jedes andere vernünftige Wesen ebenfalls Gründe sein können, was wiederum die Bindung durch universale Normen impliziert. Die epistemische Autonomie stellt sich demnach als die Fähigkeit dar, das eigene Urteil zu bestimmen, indem man sich an Gründen orientiert und sich so epistemischen Normen unterwirft, die festlegen, was überhaupt als epistemischer Grund gelten kann. Genuin epistemische Normen sind zum einen inferentielle Normen, die die Konsistenz der Aussagen regeln, und zum andern evidentielle Regeln, die festlegen, was als Rechtfertigung einer Aussage gelten kann bzw. welche Wissensquellen in dieser Rechtfertigungspraxis akzeptabel sind. Allerdings sei dabei die Möglichkeit der Reflexion qua expliziter Thematisierung epistemischer Normen eine Bedingung der epistemischen Autonomie: Eine in ihrem Urteil autonome Person muss laut Hübner immer überprüfen können, ob eine Regel, der gemäß sie sich verhält, tatsächlich als universale Norm gedacht werden kann, und ob ihr Verhalten regelkonform ist. Gegenüber einem instrumentellen Ansatz, mit dem man zwar dem universalen, nicht aber dem kategorischen Charakter des epistemischen Sollens Rechnung tragen könne, sieht Hübner den Vorteil des von ihm unter Berufung auf Wilfried Sellars und Robert Brandom vorgeschlagenen Konzepts der epistemischen Autonomie darin, dass in ihm die Bindung durch epistemische Normen konstitutiv dafür ist, überhaupt welthaltige Überzeugungen haben zu können. Hübner zeigt, dass erst auf der Basis dieses Ansatzes zu Recht die Forderung nach Einhaltung der epistemischen Normen (wie Widerspruchsfreiheit, Tauglichkeit für die Übernahme einer inferentiellen Rolle im Spiel der Begründungen und Folgerungen oder die Beachtung der Wahrnehmungsevidenz) erhoben werden kann. Diese Forderung stütze sich dann allein auf die Natur und den Status eines epistemischen Subjekts als eines – wiederum mit Kant – kohä-
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renten Vernunftwesens, das sich reflexiv und autonom selbst an die epistemischen Normen bindet. Matthias Kaufmann zeigt in seinem Beitrag, wie sehr und wie vielfältig das Autonomiekonzept – gerade kantischer Prägung – die Debatten der Politik und der politischen Philosophie bis in die Gegenwart beeinflusst hat. Das gelte auch dort, wo ein Diskurs geführt wird, in dem Freiheitsbegriffe Verwendung finden, die scheinbar weitab vom Konzept der Autonomie liegen. Kaufmann verweist zunächst darauf, dass die klassische Unterscheidung zwischen positiver und negativer Freiheit allenthalben auch im politischen Bereich auftritt: Während bei der positiven Freiheit die Freiheit zur Selbstbestimmung im rechtlich-politischen Bereich i.S. einer Teilhabe an der Entscheidungsfindung im Mittelpunkt steht, geht es im Falle der negativen Freiheit um die Freiheit von unnötiger Bevormundung, also um die Gewährung eines Bereichs, aus welchem der Staat sich heraushält. Bei der negativen Freiheit, der gerade im klassischen Libertarianismus mit seiner Betonung der Schutzwürdigkeit und -bedürftigkeit der Privatsphäre herausragende Bedeutung zugemessen wurde, handle es sich um einen graduierbaren Begriff, dem immer qualitative Abstufungen eingeschrieben seien. So sind etwa Meinungs- und Pressefreiheit essentiell für unsere politische Unabhängigkeit, die von Tempolimits, Rauchverboten oder der Beschränkung von Gastronomieöffnungszeiten nicht tangiert wird. Als „querliegend“ zu negativer und positiver Freiheit, weil unter ihr Unabhängigkeit i.S. einer Garantie der für die politische Willensbildung essentiellen Rechte verstanden werde und sie sich insofern dem Begriff der positiven Freiheit nähere, fasst Kaufmann die republikanische Freiheit auf: Diese Freiheit als „Nicht-Unterwerfung“ kann nur dann legitim beschränkt werden, wenn die Einmischung durch die Gesetzesförmigkeit oder zumindest Gesetzeskonformität der jeweiligen staatlichen Handlung limitiert ist. Es muss also gewährleistet sein, dass die Freiheitsbeschränkungen wechselseitig sind und nach allgemeinem Gesetz erfolgen – auch hier spielt der kantische Freiheitsbegriff eine unverkennbare Rolle. In den modernen westlichen Gesellschaften wird zunehmend der Begriff der sozialen Freiheit Gegenstand ideologischer, aber auch theoretischer Diskussionen. Durch sie wird vor allem der Handlungsspielraum der Gesellschaftsmitglieder materiell abgesichert. Man kann somit die soziale Freiheit als Ergänzung der Freiheit als Unabhängigkeit im demokratischen und sozialen Staat ansehen, da nur die Freiheit von materieller Not die Möglichkeit sichert, die formal gewährten Freiheiten auch auszuleben. So fern sie auf den ersten Blick auch dem kantischen Freiheitsbegriff steht, so erweist sich laut Kaufmann doch bei näherem Hinsehen, dass auch in der sozialen Freiheit das Motiv wechselseitiger Anerkennung von zentraler Bedeutung ist: Erst auf der Basis einer sozialen Anerkennung, die ein gewisses materielles Auskommen einschließt, besteht die Möglichkeit, die eigene Freiheit qua Autonomie auszuüben – sonst bleibt die
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Autonomie letztlich ein leerer Begriff. Insofern lässt sich, so Kaufmann, auch der Begriff der sozialen Freiheit an das kantische Autonomiekonzept zwanglos anschließen. Der Beitrag von Violetta L. Waibel beschäftigt sich mit dem Thema Autonomie des Subjekts. Kants Gefühl der Achtung und Spinozas Konzept der Freude über wahre Einsichten. Der Beitrag nimmt zunächst Schillers berühmte Kritik an Kants moralischem Rigorismus auf, welche die Berücksichtigung des ganzen – sinnlichen und rationalen – und nicht bloß des rationalen Menschen in moralischen Angelegenheiten verlangt. Anschließend untersucht Waibel Kants Interpretation des Gefühls der Achtung vor dem Sittengesetz und konfrontiert damit das Gefühl der durch die Aktivität des Denkens erzeugten Freude durch wahre Einsicht, das Spinoza als ein wichtiges Moment zur Verbesserung des Menschen entdeckt hat. Sowohl das Gefühl der Achtung als auch das der Freude stimmen dahingehend überein, dass sie auf eine rationale Einsicht folgen und ihr nicht vorhergehen. Waibel zeigt, dass Kant in der Kritik der praktischen Vernunft davon ausgeht, dass mit der Achtung vor dem Sittengesetz eine Demütigung und Niederwerfung der gesetzwidrigen sinnlichen Regungen und Wünsche des moralischen Subjekts einhergeht, während Spinoza auf derlei Wertungen verzichtet und stattdessen den aufwändigen Weg desjenigen beschreibt, der bereit ist, einen umfassenden Einblick sowie Kenntnisse der Welt, der eigenen Wünsche, Verstrickungen und Begehrungen zu gewinnen, um die kurzsichtigen schädlichen Begehrungen von den weitsichtigen lebensklugen zu unterscheiden und schließlich ihnen auch zu folgen. Das bloße Denken sei Spinoza zufolge zu schwach, die mächtigen, zerstörerischen, unmoralischen Affekte einzuschränken. Da nun aber das Denken selbst einen Affekt erzeugt, nämlich die die wahren Einsichten begleitende Freude, so ist das Denken und das durch es erzeugte Gefühl der Freude fähig, dem Menschen ein Leben in innerer Freiheit und Zufriedenheit zu gewähren. Darin sieht Waibel einen frühen Beitrag zur Versöhnung von rationaler und emotionaler Intelligenz, wie Schiller sie gegen Kant eingeklagt hat. Kant selbst hat, so Waibel, Schillers Forderungen gegenüber erstaunliche Konzessionen gemacht und wäre vielleicht auch bereit gewesen, einer genaueren Beschäftigung mit der Sinnlichkeit der Gefühle des Menschen nachzugehen und in seine Moralphilosophie einzubeziehen, zumal er im Kontext der Achtung vor dem Sittengesetz eine vernünftige Selbstliebe von einem Eigendünkel unterscheidet. Jindřich Karasek schlägt in seiner Untersuchung eine Brücke von Kant zu Fichte, indem er neben Fichte die Ansätze solcher Philosophen untersucht, welche die nachkantische Philosophie beeinflussten, in der Forschungsliteratur oftmals jedoch nicht oder nur am Rande Berücksichtigung finden. Es sind dies Jacob Sigismund Beck, Johann Heinrich Tieftrunk und Salomon Maimon. Karasek zeigt, dass für diese Philosophen Jacobis berühmte Kritik an Kant in der Beilage Über den
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transzendentalen Idealismus zu dessen David Hume über den Glauben von zentraler Bedeutung gewesen ist. Jacobi identifiziert einen internen Widerspruch in Kants Ansatz. Dieser Widerspruch besteht nach Jacobi darin, dass Kants Lehre von der Sinnlichkeit implizit die kausale Einwirkung von Dingen an sich auf das Gemüt voraussetze, da andernfalls Kants Begriff der Sinnlichkeit „ohne alle Bedeutung“ wäre (Jacobi, 2004, S. 109), dass damit aber Kants Einschränkung der Anwendung der Kausalitätskategorie auf Erscheinungen widersprochen werde und so der „transzendentale Idealismus […] zugrunde“ gehe (Jacobi, 2004, S. 112). Karasek zeigt anhand Kants Briefwechsel mit Beck, Maimon und Tieftrunk, dass die Ansätze dieser Autoren sich durch das Bestreben auszeichnen, im Anschluss an Kants Ausführungen in der Kritik der reinen Vernunft das von Jacobi angesprochene Problem zu lösen. Karasek erläutert in einer detaillierten Analyse die Lösungsansätze von Maimon, Beck, Tieftrunk und Fichte. Dabei wird zum einen herausgestellt, dass diese Autoren sich zum Teil entgegen ihrer ursprünglichen Absicht immer mehr von Kants Ansatz entfernen und aufgrund ihrer eigenständigen systematischen Überlegungen gezwungen sehen, über Kant hinauszugehen. Zum anderen werden Übereinstimmungen und Unterschiede zwischen den Überlegungen Maimons, Becks, Tieftrunks und Fichtes identifiziert. Bei seiner ausführlichen Analyse von Fichtes Ansatz widerlegt Karasek das bekannte Vorurteil, gemäß dem für Fichte die gesamte Wirklichkeit ein Produkt der Handlungen des Subjekts darstellte. Karasek zeigt, dass nach Fichte das Subjekt das Wissen vom konkreten, qualitativ bestimmten Inhalt hervorbringt, nicht jedoch die qualitative Bestimmtheit selbst, welche insbesondere im praktischen Weltbezug als Beschränkung und Grenze des Subjekts erfahren wird. Abschließend erläutert Karasek daher Fichtes Überlegungen zur praktischen Dimension menschlicher Subjektivität in der Zweiten Einleitung zum Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre und seine Begründung der praktischen Philosophie in der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre von 1794/95. Die Beiträge von Birgit Sandkaulen und Christian Klotz verdeutlichen, dass die Zeitgenossen und unmittelbaren Nachfolger Kants maßgeblich von Kants praktischer Philosophie beeinflusst gewesen sind, indem sie ihre eigenen Überlegungen entweder in kritischer Abgrenzung von oder in positiver Bezugnahme auf Kants Ansatz profilieren. Birgit Sandkaulen geht in ihrem Beitrag von dem Befund aus, dass trotz Kants Überlegungen zu diesem Thema die Würde des Menschen in der nachkantischen Philosophie keine zentrale Rolle spielt. Das heiße jedoch nicht, dass die Philosophen nach Kant dessen Überlegungen einfachhin übergangen hätten; vielmehr erfolgt ihr Denken auch bezüglich der Menschenwürde auf der Basis einer intensiven Auseinandersetzung mit Kant. Dass sie bei der Bestimmung der Würde ganz andere Wege einschlagen, sei vielmehr der Ablehnung der dualistischen Anthropologie Kants und ihrer „Sehnsucht nach Einheit“
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geschuldet. Dieser Wege sind, so Sandkaulen,vornehmlich zwei:Während Schiller den Geltungsbereich der Würde einschränkt und sie zum Ausnahmefall menschlicher Existenz erklärt, entschränken Fichte und Hegel die Würde zum Regelfall einer von aller konkreten Individualität befreiten Vernunft. Schiller stellt in seinen Überlegungen die Anmut der Würde als eine gleichberechtigte Alternative an die Seite. Beide Optionen entspringen laut Sandkaulen einer je anderen Konstellation von Vernunft und Sinnlichkeit: Entspricht die Anmut der Sehnsucht nach Einheit des Menschen, die sich als harmonische Durchdringung und Versöhnung von Vernunft und Sinnlichkeit manifestiert, zeigt die Würde gerade den „Widerstreit“ zwischen dem „Sittlichen und Sinnlichen“ an, der jedoch zugunsten der Vernunft entschieden wird. Schiller unterscheidet, anders als Kant, zwischen zwei Typen von Neigungen: auf der einen Seite die Liebe, also alle altruistischen Neigungen und moralischen Gefühle, auf der anderen Seite das blinde, unserem Selbsterhaltungstrieb entspringende Begehren. Insbesondere die Unterwerfung der letztgenannten Neigungen lässt den Menschen Würde erlangen, die entsprechend kein anthropologisch garantierter Besitz wie bei Kant ist, sondern eine – geradezu „heroische“ – Leistung der einzelnen Person. Sandkaulen sieht in Schillers Ansatz deshalb auch eine Personalisierung der Würde. Während Schiller den Dualismus und Würdebegriff Kants von der Seite der Sinnlichkeit her angreife, erfolge die Kritik Fichtes und Hegels demgegenüber von der Vernunft aus. Dabei finde insofern eine Entpersonalisierung der Würde statt, als die Menschen diese nur mehr dadurch erlangen, dass sie an der Würde der Vernunft partizipieren und begreifen, dass es auf ihre Individualität gerade nicht ankommt. So kommt bei Fichte nicht der einzelnen Person, sondern der Menschheit eine unbedingte Würde zu. Das Individuum wird dabei von Fichte – entgegen dem Postulat Kants – als Werkzeug begriffen, allerdings als Werkzeug zur Durchsetzung des Sittengesetzes. Bei Hegel hingegen kommt weder dem einzelnen Individuum noch der gesetzesförmigen Vernunft Würde zu, sondern dem „sittlichen Charakter“. Das Bewusstsein Würde zu haben ist damit zu einem anderen Ausdruck dafür geworden, dass die Vernunft in einem politischen Gemeinwesen die Gestalt angenommen hat, die ein freies und versöhntes Leben zu führen erlaubt. Sandkaulen stellt zusammenfassend fest, dass das Konzept der Würde dort seine Stellung als Leitbegriff menschlicher Selbstverständigung einbüßt, wo die dualistische Anthropologie an Geltung verliert und stattdessen, wie in der nachkantischen Philosophie, eine monistische Grundposition eingenommen wird. Die Lehre, die man aus der Kritik Schillers, Fichtes und Hegels an Kant ziehen kann, besteht Sandkaulen zufolge darin, dass man sich, um einen Träger der Würde zu identifizieren, zuvor grundsätzlich über den Begriff personaler Individualität verständigen sollte. Sandkaulen plädiert dafür, dass man als basale Fähigkeit der Person, die sie der Würde würdig macht, keine einzelne – sei es sinnliche, sei es ver-
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nünftige – Leistung begreift, sondern das Vermögen, sich zu sich selbst als einem sinnlich-vernünftigen Wesen zu verhalten, also ein praktisches Selbstverhältnis zu gewinnen. Christian Klotz untersucht die Frage, ob Fichte in seiner späten Religionsphilosophie das Projekt der Vereinigung seines monistischen Ansatzes mit der Verteidigung von Kants Begriff der Willensfreiheit verabschiedet hat. Klotz zeigt, dass der Begriff der Freiheit in Fichtes Anweisung zum seligen Leben (1806) eine andere Bedeutung besitzt als in Fichtes frühen Untersuchungen. Während Fichtes Interpretation des Begriffs der Freiheit etwa im Versuch einer Kritik aller Offenbarung (1792) an Kants Begriff der Willensfreiheit anschließe, bilde der Begriff der Freiheit gemeinsam mit dem Prinzip der Wissenschaftslehre, das Fichte nunmehr als „Sein“ bezeichnet, in der Anweisung zum seligen Leben die Grundlage seiner Theorie möglicher Weltansichten. Der Begriff der Weltansicht bezeichnet nach Klotz die Weise, wie ein Subjekt sich in theoretischer und affektiver Hinsicht auf die Welt bezieht und damit eine bestimmte Interpretation der Welt, etwa den moralischen oder religiösen Standpunkt, als wahr anerkennt. Der Begriff der Freiheit bezeichne nunmehr das Vermögen des Subjekts, eine der von Fichte identifizierten möglichen Weltansichten anzunehmen. Damit hat Fichte, so Klotz, das Projekt der Vereinigung seines monistischen Ansatzes mit der Verteidigung von Kants Begriff der Willensfreiheit aufgegeben. Jedoch enthält Fichtes monistisches System insofern eine Theorie der Freiheit, als der Begriff der Freiheit nunmehr eine unverzichtbare Bedingung der Möglichkeit darstelle, überhaupt eine Weltansicht einzunehmen. Schließlich erläutert Klotz die Konsequenzen, die sich daraus für Fichtes Religionsphilosophie ergeben und erörtert das vielschichtige und spannungsreiche Verhältnis zwischen Fichtes Ansatz in der Anweisung zum seligen Leben und Kants Die Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft, Schellings Philosophischen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit sowie Hegels Phänomenologie des Geistes. Wie schon Klotz zeigt auch Günter Zöller in seinem Beitrag, dass Fichte nicht nur von Kant, sondern ebenso von Spinoza beeinflusst ist. Zöller stellt sich der gängigen Gegenüberstellung Spinozas als rationalen Dogmatikers, Substanzmetaphysikers und Naturphilosophen und Fichtes als kritischen Transzendentalphilosophen, Subjekttheoretikers und Philosophen der Freiheit entgegen. So hält er zunächst dafür, dass beide Denker in analoger Weise von der dualistischen Grundkonzeption ihres jeweiligen Vorgängers – Descartes‘ resp. Kants – zu einer ganzheitlichen und monistischen Philosophie zu gelangen versuchen. Dabei stimmen, so Zöller, Spinoza und Fichte insofern überein, als sie beide die Differenz von Mentalem und Physischem auf ein prädisjunktives Eines zurückführen wollen. Wer nun behauptet, dass Spinoza, wenn er seinen Ausgang von einem objektiven ersten Seienden nimmt, und Fichte, wenn er vom Subjekt ausgeht, völlig
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unterschiedliche ontologische Konzeptionen bei der Bestimmung dieses Einen verfolgen, verkennt laut Zöller, dass Fichtes Bezeichnung des Absoluten als Ich keine einseitige, subjektive Auffassung zum Ausdruck bringt, sondern gerade dazu dienen soll, den übergegensätzlichen, subjektiven wie objektiven Grundcharakter des Unbedingten anzuzeigen. Diese Annäherung des absoluten Subjekts bei Fichte an die Gott-Natur bei Spinoza lasse sich auch daran erkennen, dass Fichte das absolute Ich von allen subjektiven Merkmalen wie Individualität, Bewusstsein und Selbstbewusstsein entkleide. Deshalb sei es unangemessen, Fichtes Wissenschaftslehre als „umgekehrten Spinozismus“ zu bezeichnen. Die Gemeinsamkeiten zwischen dem Denken Spinozas und Fichtes manifestieren sich jedoch auch in der praktischen Philosophie. Die dynamisch-vitalistische Auffassung der Wirklichkeit, die sie beide das Absolute als tätig und selbsttätig konzipieren lässt, zeige sich zum einen in Spinozas Theorem vom Streben jedes Dinges, in seinem Sein zu verharren, zum andern darin, dass Fichte „Trieb“ und „Streben“ von jedem organischen Naturprodukt prädiziere. So verwundere es nicht, dass beide Denker ihre Sitten- jeweils als Teil der Naturlehre entwickeln und damit menschliches Handeln in den Kontext von Fremdbestimmung stellen. Zugleich jedoch, so Zöller weiter, argumentieren beide Denker für den Primat der Selbstbestimmung. Damit brächten sie ein minimales Element von Normativität ins Spiel, das dem Streben Richtung und Ziel vorgibt. Dieses Ziel lasse sich in den Formeln zusammenfassen: „Wo Fremdkausalität war, soll Eigenkausalität sein“ bzw. „wo Nicht-Ich war, soll Ich werden“. Dennoch bleibt für Spinoza wie für Fichte auch das selbstbestimmte Streben immer naturverhaftet.Während sich dies bei Spinoza in der umfassenden Funktion des Affektbegriffs zeige, lasse sich bei Fichte die Naturalität des ethischen Handelns darin feststellen, dass Fichte, im Unterschied zu Kant, den Beitrag der Vernunft zum sittlichen Handeln auf eine kriteriologische und kognitive Funktion beschränke. Die konkrete Motivation zum Handeln entstamme für Fichte hingegen der Triebsphäre. Ohne eine solche physiologische Fundierung der Ethik bleibe die Sittenlehre für Fichte „formal und leer“. Damit verlegt Fichte die ethische Differenz in die Triebe selbst, als Differenz von „Naturtrieb“ und „reinem Trieb“. In der Deutung Zöllers ist Kants Projekt einer Metaphysik der Sitten somit nach Fichtes Einschätzung um eine Physik der Sitten zu erweitern. Zöller spitzt seinen Vergleich von Spinoza und Fichte dahingehend zu, dass das Ausmaß an Freiheit bei Spinoza eher unterschätzt, während es bei Fichte eher überschätzt werde. Beide verstehen Freiheit jedoch nicht als Freiheit der Wahl („Willkür“), sondern als Freiheit der Selbstbestimmung („Autonomie“). Die klassische deutsche Philosophie ist aber nicht nur von Spinoza und Kant, sondern auch von den Überlegungen französischer Philosophen wie Jean-Jacques Rousseau und René Descartes maßgeblich beeinflusst. Frederick Neuhouser untersucht den Einfluss Rousseaus auf Hegel anhand der Analyse eines Schlüssel-
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begriffs der praktischen Philosophie. Es ist dies der Begriff der Anerkennung. In seiner exzellenten Untersuchung Rousseau’s Theodicy of Self-Love: Evil, Rationality, and the Drive for Recognition hat Neuhouser detailliert Rousseaus Interpretation der Anerkennung erläutert. In seinem Beitrag erörtert Neuhouser nun Unterschiede zwischen Rousseaus und Hegels Begriff der Anerkennung. Neuhousers leitende These lautet, dass ein wesentlicher Unterschied zwischen Rousseau und Hegel in der jeweiligen Interpretation des Verhältnisses zwischen Anerkennung und Freiheit besteht. Nach Neuhouser ist die Eigenliebe, l’amour propre, der zentrale Begriff von Rousseaus Theorie der Anerkennung. Aufgrund der amour propre streben Menschen nach Anerkennung, d. h. insbesondere nach Hochschätzung (esteem) durch andere. L’amour propre ist somit, so Neuhouser, die wichtigste Ursache, die zum Verlust der menschlichen Freiheit i.S. der Abwesenheit der Herrschaft durch einen fremden Willen führt. Somit trage sie die Hauptverantwortung für die Ungleichheit in der Gesellschaft (vgl. Neuhouser, 2008, S. 2, S. 10 f., S. 17.). Der Zustand der Befriedigung des Strebens nach Anerkennung besitze bei Rousseau für sich genommen keinen positiven Wert. Demgegenüber sei für Hegel die, mit Neuhouser gesprochen, soziale Freiheit identisch mit einer bestimmten Art der Anerkennung. Der Begriff der sozialen Freiheit ist zu unterscheiden von den Begriffen der negativen Freiheit, d. h. dem Recht, ungestört von der Einmischung anderer Personen zu handeln, der persönlichen Freiheit, d.i. dem Vermögen, nach frei gewählten Zwecken zu handeln, und der moralischen Freiheit, d. h. dem Vermögen, gemäß normativen Prinzipien zu handeln, die von der handelnden Person als moralisch gut erachtet werden (vgl. Neuhouser, 2000, S. 5 f, S. 17 ff., S. 286). Der Begriff der sozialen Freiheit bezeichnet bei Hegel das Beisich-selbst-Sein im Anderen,welches sich in sozialen Institutionen wie der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft realisiert. Neuhouser erläutert ausführlich die Bedeutung dieses Begriffs und identifiziert Unterschiede zwischen Rousseaus und Hegels Auffassungen hinsichtlich des Verhältnisses von Freiheit und Anerkennung. Zum Abschluss der Untersuchung werden die Vorteile von Hegels Interpretation der Anerkennung gegenüber der Interpretation Rousseaus erörtert. Neuhousers These lautet, dass es Hegel besser als Rousseau gelingt, den ethischen Wert der Anerkennung zu verstehen und damit zu zeigen, dass Anerkennung ein zentraler Themenbereich der Sozialphilosophie ist. Lars-Thade Ulrichs schlägt in seiner Analyse der praktischer Subjektivität einen Bogen von Kant bis Frankfurt. Er geht davon aus, dass das doppelte Selbstund Weltverhältnis als Subjekt und Person, wie es von T. Nagel und D. Henrich beschrieben worden ist, bereits für die kantische und nachkantische Philosophie maßgeblich war. Im Bereich der praktischen Philosophie manifestiere es sich in zwei Grundoptionen: auf der einen Seite dem Egoismus, der partikulare Interessen verfolgt, auf der anderen dem Altruismus, der durch Einnahme eines universellen
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Standpunkts ausgezeichnet ist. Die Philosophie um 1800 erhob, so Ulrichs, den Anspruch, eine Theorie zu entwickeln, die die beiden dahinter stehenden scheinbar unvereinbaren Perspektiven – die Teilnehmer- und die Beobachterperspektive – in ein reflektiertes Verhältnis bringt. Insofern stellten ihre Modelle praktischer Subjektivität ein Versöhnungsunternehmen dar. Das werde bereits bei Kant deutlich. Nach Kants Auffassung ist jeder Mensch ein „Doppelwesen“, das zwei grundverschiedenen Prinzipien folgt: als Sinneswesen dem Prinzip der Glückseligkeit, als Vernunftwesen dem Prinzip der Sittlichkeit. Während also der reine Wille von sich aus das Sittengesetz realisiert, unterliegt der menschliche Wille dem permanenten ‚Störfeuer‘ durch seine Sinnlichkeit. Er bedarf deshalb einer Instanz, anhand derer er prüfen kann, ob seine subjektive Maxime und das moralische Gesetz übereinstimmen. Diese Prüfungsinstanz ist der kategorische Imperativ, mit dessen Hilfe die Maximen einem Universalisierungstest unterworfen werden. Das bedeutet vom Standpunkt einer vom doppelten Selbst- und Weltverhältnis ausgehenden Theorie praktischer Subjektivität, dass sich die Person die impersonale Perspektive als personale Perspektive aneignet. Dies setzt voraus, dass das moralische Subjekt in einem doppelten Selbstverhältnis steht: es gibt sich selber das Gesetz und ist sich dieser Selbstgesetzgebung zugleich bewusst. Mit dem Autonomiekonzept beschreibt Kant also die autoreflexive Binnenstruktur des menschlichen Willens in seiner Position zwischen reinem und sinnlich affiziertem Willen, unabhängig von intentionalen Gegenständen. Auch bei Fichte hat das reine praktische Selbstbewusstsein keinen unmittelbaren Bezug zum Handlungsraum des moralischen Subjekts. Gleichwohl ist der reine Wille immer auf diese empirische Welt bezogen, indem er sich auf das Wollen der Person richtet. Des Menschen Wille stehe in einem doppelten Abhängigkeitsverhältnis einerseits zum reinen Willen, der das Sittengesetz repräsentiert, andererseits zum empirischen Wollen, das intentional auf die Welt gerichtet ist. Das Eigentümliche an der praktischen Subjektivität ist danach, dass es sich um ein „Verschränkungsphänomen“ handelt. Schelling präsentiert, so Ulrichs weiter, dieses Modell in einer anderen Terminologie, indem er zwischen Universal- und Partikularwillen unterscheidet und deren Verhältnis untersucht. Laut Schelling kann der Mensch entweder den Partikular- dem Universalwillen unterordnen, wodurch er sein Handeln altruistisch organisiere bzw. am allgemeinen Sittengesetz orientiere. Oder er kann das Verhältnis umkehren, sodass sein Verhalten egoistisch wird. Die Pointe sei dabei, dass sich praktische Subjektivität erst in einem Selbstverhältnis konstituiert, indem eine personale Instanz Partikular- und Universalwillen ins richtige Verhältnis bringt und so erst die moralische Identität schafft. Damit finde sich in Schellings Beschreibung der autoreflexiven Binnenstruktur des Willens genau das wieder, was bei Kant und Fichte unter dem Titel der Autonomie verhandelt wird. Ähnlich wie Schelling, so Ulrichs, charakterisiere auch Schopen-
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hauer die praktische Subjektivität so, dass sie mit zwei Grundoptionen konfrontiert sei: die (selbstsüchtige) Bejahung einerseits, die (selbstlose) Verneinung des Willens andererseits. Diese Optionen beruhen auf zwei verschiedenen „Erkenntnißweisen“: Während sich das egoistische Handeln an eine dem principium individuationis folgende Erkenntnis bindet, gründet sich die Willensverneinung auf eine solche, die das als Täuschung durchschaut und in allem denselben Willen identifiziert. Soll die Erkenntnisweise aber praktische Konsequenzen haben, muss das Subjekt dazu Stellung beziehen. Das setze wiederum ein Selbstverhältnis voraus. Darüber hinaus könne die Person ein reflexives praktisches Selbstverhältnis ausbilden. Dieses Selbstverhältnis beschreibt Schopenhauer mit dem Begriff des „erworbenen Charakters“. Wir hätten nämlich die Möglichkeit, uns zu unserem Charakter praktisch zu verhalten, indem wir ihn bewusst handhaben. Das aber impliziert eine evaluative Stellungnahme zu uns selbst. Doch die dabei zugrundegelegten Werte sind, anders als bei Kant, nur subjektiv-personale. Was das bedeutet, versucht Ulrichs mit Frankfurts Personenmodell aufzuklären, der ein gegenüber dem kantischen Modell alternatives Autonomiekonzept entwickelt hat. Während sich Kants Modell an einer impersonalen Willensbestimmung orientiert, konstituiert sich in Frankfurts Modell Autonomie in Orientierung an grundlegenden personalen Willensbestimmungen. Wenn wir diesen „volitional necessities“ folgten, befänden wir uns in Übereinstimmung mit uns selbst. Damit wird Autonomie auf Authentizität reduziert: Eine Person ist schon dann selbstbestimmt, wenn sie mit sich selbst übereinstimmt. Da aber jede solche Identifikation in der Zueignung einer Willensbestimmung durch die Person besteht, beruht sie ebenfalls auf einem praktischen Selbstverhältnis. Frankfurts Konzept sei also strukturell dem kantischen ähnlich, wenn auch der Bezug auf moralische Normen fehlt. Ulrichs zeigt damit, dass all diese Modelle praktischer Subjektivität – so verschieden sie in der Ausgestaltung sind – darin übereinkommen, dass sie ein praktisches Selbstverhältnis voraussetzen. Eine solche selbstreflexive Binnenstruktur der praktischen Subjektivität sei aber immer – das sei die gemeinsame Auffassung aller behandelten Autoren – eine voluntative Struktur, wenngleich sich die jeweiligen Willensbegriffe stark voneinander unterschieden. Kierkegaards subjektivitätstheoretische Überlegungen haben in den letzten Jahrzehnten eine zunehmende Aufmerksamkeit erfahren. Holger Gutschmidt zeigt in seinem Beitrag jedoch, dass die These, Kierkegaard habe eine Theorie entwickelt, die auch unabhängig von ihrer „christlichen“ Bestimmung gewürdigt werden könne, nicht haltbar ist. Gutschmidt legt dar, dass Kierkegaards Theorie des Selbstseins durch drei Grundbegriffe bestimmt ist: „Selbst“, „Verhältnis“ und „Grund“. Es wird allerdings oftmals nicht hinreichend beachtet, dass Kierkegaard, wenn er das Selbst als „ein Verhältnis [bestimmt], das sich zu sich selbst verhält“, dieses Selbst in einem „Grund“ verankert, es also weder in diesem Verhältnis
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selber noch in seiner reflexiven Beziehung auf sich sucht. Nicht Selbstkonstitution sei deshalb die Bedingung für Selbstsein, sondern dass sich das Selbst des Menschen im Selbstbezug zugleich auf den konstitutiven Grund seiner selbst beziehe bzw. dass es sich, indem es sich auf sich bezieht, auf Anderes beziehe. So bedeute „ein Selbst zu sein“ auch für Kierkegaard zwar zunächst, dass unser intentionales Handeln auf konkrete Objekte geht, wir also bestimmte Akte des Wollens, Fühlens und Erkennens vollziehen. Wenn wir uns aber in dieser „Endlichkeit“ verlören, verfehlten wir uns als Selbste. Wir haben also laut Kierkegaard die Balance zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit im Verhältnis des Selbst zu wahren – sonst sei die Konsequenz „Verzweiflung“. Das aber gelinge nur,wenn wir uns in unserem Selbstverhältnis zugleich auf Gott als den Grund des Selbst bezögen. Anders als in der Verzweiflung, in welcher der Mensch sich ganz auf sich selbst stellt, fungiert in solch einem „theologischen Selbst“ Gott als Maßstab des Selbst, womit aber das Bewusstsein der „Sünde“ untrennbar verbunden ist. Ein gelingendes Selbstverhältnis sei sonach dadurch ausgezeichnet, dass der Mensch das,was er sich frei zum Objekt des Fühlens, Erkennens und Wollens setzt,vor Gott setzt. An dieser zentralen Stelle kommt bei Kierkegaard also der Glaube und die Offenbarung – und nicht das Denken oder die Vernünftigkeit – ins Spiel: Der Glaube an die Wahrheit der Offenbarung, dass Christus der Gott ist, der die Menschen erlöst hat, indem er ihnen ihre Sünden vergibt, bezeichnet somit die notwendige und hinreichende Bedingung dafür, ein Verhältnis zu sein, dass sich zu sich selbst verhält, indem es sich zu demjenigen verhält, das es gesetzt hat. Aus philosophischer Perspektive sind solche Bedingungen des Selbstseins sicherlich kontingent und nicht ableitbar, aber ohne ihre Beachtung entzieht man, so Gutschmidt, Kierkegaards Projekt den Boden unter den Füßen. Christlich ist Kierkegaards Lehre also darin, dass ihr gemäß der Mensch nur im Glauben und in der Annahme der Offenbarung zu verstehen vermag, was sein (individuelles und konkretes) Selbst ist, d. h. woher dieser Mensch ist (gegründet in und durch Gott), wer er ist (ein Sünder) und was seine Bestimmung darstellt (eine Existenz aus dem Glauben zu führen). Kierkegaard erteilt auf die philosophische Frage nach der praktischen Subjektivität somit eine religiöse Antwort. Dies nicht zu sehen, verfälscht laut Gutschmidt das Subjektivitätsmodell Kierkegaards entscheidend. Die Beiträge von Birgit Recki und Jan Kuneš sind mit Martin Heidegger und Ernst Cassirer zwei Autoren gewidmet, die nachhaltig von der klassischen deutschen Philosophie beeinflusst sind und die Philosophie des 20. Jahrhunderts ihrerseits nachhaltig prägten. Birgit Recki untersucht ein in der Forschung noch wenig erschlossenes Theorem Ernst Cassirers, das von systematischem Belang für die Theorie des Selbstbewusstseins ist. Es besagt, dass jeder Form des symbolisch vermittelten Gegenstandsbewusstseins eine entsprechende Form des Selbstbewusstseins korrespondiere. Für die Sprache wie für jede andere symbolische Form
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soll nach Cassirer gelten, dass sich mit der verobjektivierenden Artikulation und ihr entsprechend das Selbstbewusstsein des Subjekts konstituiere. Deutlich und ausführlich behandelt Cassirer diese überwiegend im Modus programmatischer Absichtserklärung mitgeführte Reziprozitätsthese in seiner Theorie der Technik, in der es ihm auch gelingt, den Grundlegungsgedanken vom freiheitsstiftenden Distanzgewinn in allen poietischen Prozessen, der ihm das Element aller Kultur ist, zu konkretisieren. Recki verfolgt in ihrem Beitrag den Gewinn an Präzision, Prägnanz und Emphase der techniktheoretischen Exemplifikation der Reziprozitätsthese. Hatte Cassirer den Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit, den der Einsatz von Werkzeug bedeutet, bereits in Das mythische Denken zur Geltung gebracht, so bewerte er in dem Aufsatz Form und Technik die Sprache und das Werkzeug als die wichtigsten Mittel der Befreiung und stelle damit – in der Betonung der immer auch epistemischen Dimension des Werkzeuggebrauchs – die Technik mit der Sprache systematisch auf dieselbe Stufe: Im Vorgang der instrumentellen Mediatisierung durch den Werkzeuggebrauch zeige sich nicht allein die nämliche Struktur, die den Bewusstseinsvollzug im Denken auszeichnet, vielmehr sei es der technische Vollzug des „mittelbaren Handelns“, in dem sich geradezu das Selbstbewusstsein im Denken konstituiere. In Geltung gesetzt ist damit der Doppelbegriff eines sich in technischer Pragmatik vollziehenden Selbstbewusstseins und einer selbstbewusstseinspragmatischen Technik, aus dem Recki systematische Konsequenzen für den Begriff der Kultur wie des Menschen zieht. Darüberhinaus macht sie zum einen darauf aufmerksam, dass sich das später von Hans Blumenberg mit Husserls Krisisabhandlung von 1937 entwickelte Verständnis des menschlichen Intellekts als potentieller Technisierung in großer systematischer Nähe zu diesem Konzept bewegt; und sie erinnert zum anderen an Ernst Kapps Theorie der Technik als Organprojektion. In dem hier an der kulturstiftenden Leistung der Technik exemplifizierten Theorem vom synthetischen Charakter des Selbstbewusstseins sei eine historische Quelle von Cassirers Reziprozitätsthese zu sehen. Jan Kuneš beschäftigt sich in seinem Beitrag mit Martin Heideggers Ansatz in den späten 1920er Jahren. Im Zentrum seiner Untersuchung stehen Heideggers Interpretation des Seins, die ontisch-ontologische Verfassung des Daseins, das Verhältnis zwischen der theoretischen und praktischen Existenzweise des Daseins sowie der Begriff der Freiheit. Im Anschluss an eine ausführliche Erläuterung der Bedeutung von Schlüsselbegriffen der Philosophie Heideggers wie Sein, Dasein und ontisch-ontologische Differenz wird gezeigt, dass Heidegger im Rahmen seiner Ontologie insofern an klassische subjektivitätstheoretische Untersuchungen anschließt, als er in kritischer Auseinandersetzung mit Descartes und insbesondere mit Kant und Husserl eine selbstständige Interpretation menschlicher Subjektivität entwickelt, die er seiner letztlich gleichfalls transzendentalphilo-
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sophischen Position zugrunde legt. Mit Blick auf Heideggers Überlegungen zum Begriff des Praktischen lautet Kuneš’ leitende These, dass für Heidegger die theoretische Einstellung des Menschen von größerer Bedeutung als die praktische Einstellung ist. In der praktischen Einstellung, die Heidegger als instrumentelles und auf das Bewerkstelligen eines Ziels gerichtetes Tätigsein versteht, wird das Seiende nur seinem Gebrauch nach bekannt. Die Aufgabe der theoretischen Einstellung besteht hingegen, so Heidegger, darin, das Seiende nicht nur seinem Gebrauch nach zu verstehen, sondern auch wie es unabhängig von demselben „an sich“ besteht. Die theoretische Zugangsweise zum Seienden ermöglicht die wissenschaftliche Untersuchung des Seins, d. h. die Ontologie als Seinswissenschaft. Die theoretische Einstellung, so Kuneš, ist jedoch nicht mit kontemplativer Untätigkeit zu verwechseln.Vielmehr schließt sie die Entwicklung der höchsten Form von Aktivität ein, die Heidegger im philosophischen Wissen des Wissens, d. h. im Sich-Wissen des Daseins erkennt. Der Übergang vom praktisch-instrumentellen Verhalten zur theoretischen Einstellung und ihrem Seinsverständnis setzt einen freien Willensakt des Subjekts voraus. Diese Freiheit deutet Heidegger als die Freiheit des Subjekts zur Verwirklichung des Wissens vom Wissen, die in der Philosophie angestrebt wird. Den Schlusspunkt setzt Volker Gerhardt mit einer umfassenden Analyse und Verteidigung menschlicher Freiheit. Seit der Antike hat die Freiheit bekanntlich das Schicksal, immer wieder neu in Abrede gestellt zu werden. Die Darstellung der jüngsten, von einigen Hirnphysiologen inszenierten Leugnung der Freiheit bildet den Ausgangspunkt der Abhandlung. Gerhardt ist zunächst darum bemüht, den grundsätzlichen Sinn der Rede von menschlicher Freiheit freizulegen. Im Anschluss an die philosophische Tradition, insbesondere unter Berufung auf Kant, exponiert er dabei die dominierende Stellung des Willens. Ein zureichender Begriff des Willens könne jedoch nicht allein mit Blick auf einen vom Individuum gefassten Entschluss und die auf ihn folgende Handlung gewonnen werden. Der Wille eines Individuums sei vielmehr nur in seinem Bezug auf das Wollen seiner Mitmenschen zu begreifen. Wollen ist ausdrücklich eigenes Wollen, das sich in Relation zum Willen eines Gegenübers begreift. Entsprechend besteht Freiheit vorrangig darin, nicht dem Willen eines anderen unterworfen zu sein. In dieser Gegenseitigkeit ist die Freiheit wesentlich auf den sozialen Zusammenhang der Individuen bezogen. Das verstärkt die Aufmerksamkeit auf den ihr zugrundeliegenden Prozess des Lebens, der ebenfalls ursprünglich sozial verstanden werden muss. Dem Leben kommen aber aus der Sicht der Biologie bereits die Merkmale der Spontaneität und Autopoiesis zu. Hier setzt die systematische Analyse der Untersuchung an, um in positivem Bezug zu Kant und in kritischer Aufnahme von Einsichten Nietzsches die tief in die Naturgeschichte reichende Vorgeschichte der menschlichen Freiheit kenntlich zu machen. Dabei geht es Gerhardt wesentlich
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darum, die strukturelle Verwandtschaft der Akte des Lebens und der Freiheit sichtbar zu machen. Die von Gerhardt schließlich ermittelte und im Titel der Untersuchung exponierte Einsicht lautet, dass die Freiheit nur als ein Akt der spezifischen Lebendigkeit eines sozialen Wesens verstanden werden kann. Wer Freiheit leugnet, müsse so konsequent sein, auch das Spezifikum des Lebens in Abrede zu stellen. Gerhardt beschließt seine Überlegungen mit dem Hinweis, dass nicht ernsthaft in Zweifel stehen kann, dass Freiheit nicht nur praktisch, sondern auch theoretisch ein nicht geringes Problem darstellt. Aber im Vergleich dazu habe das Leben, zumindest theoretisch, als das größere Problem zu gelten.
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Konrad Cramer
Das philosophische Interesse an der Geschichte der Philosophie 1 Befragt man einen Durchschnitt der heutzutage an Universitäten Studierenden des Faches Physik, ob er einmal Newtons unsterbliches Hauptwerk, wie noch Immanuel Kant dies nannte, nämlich die 1687 erschienenen „Philosophiae Naturalis Principia Mathematica“ – die Mathematischen Prinzipien der Naturphilosophie – gelesen habe, so wird seine Antwort „Nein“ sein. Abgesehen davon, dass unser Durchschnitt darauf hinweisen wird, dass er zu einem solch mühseligen Unterfangen nicht genug Latein könne, wird er auch sagen, dass es für einen heutigen Studenten der Physik schlicht nicht notwendig sei, Newtons Principia als solche überhaupt auch nur in einer deutschen Übersetzung zu lesen. Gewiss, so wird er sagen, ist ihm bekannt, dass das mit dem Namen Newtons verbundene Gravitationsgesetz der klassischen theoretischen Mechanik für punktförmige Massen lautet, dass die Kraft der Anziehung, die solche Massen aufeinander ausüben, proportional dem Produkt der beiden Massen und umgekehrt proportional dem Quadrat ihrer Entfernung ist. Er wird jedoch darauf hinweisen, dass er im Unterricht gelernt hat, dass sich die mit Newtons Konzeption der Gravitation verbundene Vorstellung von einer Fernwirkung schon im Zuge der innerhalb der Elektrodynamik durch Maxwell im 19. Jahrhundert vollzogenen Wendung zu einer Nahwirkungstheorie, die den Begriff des Feldes in einen Brennpunkt der Physik rückte, sozusagen aufgelöst habe, und dass sich erst durch die allgemeine Relativitätstheorie Einsteins das Grundgesetz der Gravitation als Nahwirkungsgesetz formulieren lässt, welches es zugleich erlaubt, aus den Gleichungen des Gravitationsfeldes Newtons Gesetz als Näherungsgesetz zu gewinnen. Ebenso sei die Quantentheorie und die Bestimmung ihres Verhältnisses zur Relativitätstheorie nicht mit den begrifflichen Mitteln der klassischen theoretischen Mechanik Newtons zu formulieren. Wer sich daher mit Newtons „Philosophiae Naturalis Principia Mathematica“ als solcher beschäftige, beschäftige sich nicht mit Aufgaben, die der gegenwärtige Stand der Physik stelle, sondern mit einer Theorie, die einem vergangenen Zustand des Wissens von der unbelebten Natur angehöre.Wer sich mit der Genese und der Wirkung dieses Wissens beschäftige, betreibe nicht Physik, sondern Geschichte der Physik als einen Teil der Wissenschaftsgeschichte. Um als Physiker Wissenschaftler zu sein, müsse man aber nicht Wissenschaftshistoriker sein. Und vielleicht hat der eine oder die andere unseres Durchschnitts
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einmal von dem süffisanten Wort gehört, dass diejenigen, deren Ingenium nicht ausreicht, auf dem Stande heutiger physikalischer Forschung auf bestimmten Gebieten produktiv mitzuarbeiten, am ehesten geneigt sind, nicht Wissenschaft, sondern Geschichte ihrer Wissenschaft zu betreiben. Studierende der Physik werden sagen, dass es schon mühevoll genug ist, sich im Laufe ihres Studiums auf den heutigen Stand physikalischen Wissens zu bringen, dass es auch dieser Stand allein ist, der in Examina abgeprüft wird, und dass die Geschichte ihrer Wissenschaft oder von Bereichen derselben zwar gewiß ein eigenes Interesse verdienen mag. Dieses aber sei das des Historikers, nicht das des Physikers als solchem. Die meisten der professionell in physikalischen Forschungsinstituten Arbeitenden werden diese Auffassung teilen. Verändern wir nun die Befragungsszenerie und stellen wir uns folgende Situation vor: Wir fragen einen Studierenden des Faches Philosophie, ob er schon einmal einen platonischen Dialog gelesen hat. Er antwortet uns auf diese Frage: „Nein, das habe ich noch nie getan.“ Was wird die Reaktion eines das Fach Philosophie an einer Universität Lehrenden auf diese Antwort sein? Sehr viele, vielleicht nicht alle, werden auf die erhaltene Auskunft mit der Aufforderung reagieren: „Das sollten Sie aber einmal tun!“ Unser dergestalt reagierender Lehrer der Philosophie unterscheidet sich damit auf signifikante Weise vom Lehrer der Physik. Während dieser nicht der Auffassung ist, dass die Lektüre von Newtons „Philosophiae Naturalis Principia Mathematica“ zur Ausbildung im Fach Physik gehört, sondern in die Beschäftigung mit der Geschichte des Faches, ist unser Lehrer der Philosophie offenbar anderer Meinung. Welcher Meinung genau? Das kann deutlicher werden, wenn wir uns die Reaktion ansehen, die unser Lehrer der Philosophie auf eine Nachfrage mobilisiert, die unser Philosophiestudent an ihn richten kann: „Einen platonischen Dialog lesen. Gut, aber warum denn und wozu eigentlich?“ Auf diese Frage erhält er nun die Antwort, dass die Kenntnisnahme von Textzeugen des philosophischen Denkens der Vergangenheit eben ein integrierendes Bestandstück der philosophischen Ausbildung ist und dass in dieser Hinsicht ein Katalog von sogenannten Klassikern der Philosophie mehr oder weniger kanonisch ist, ein Kanon, zu dem in jedem Fall Plato und Aristoteles für die Antike, Descartes, Locke, Hume, Kant für die frühe Neuzeit und das 18. Jahrhundert, Hegel und vielleicht auch Nietzsche für das 19. gehören, und für unser Jahrhundert, d. h. je näher wir unserer eigenen Zeit kommen, die Angelegenheit schon strittiger ist. Da könne man Husserl und Heidegger auf der einen, Frege und Wittgenstein auf der anderen Seite erwägen. Deren philosophische Entwürfe aber haben, so wird unserem Philosophiestudenten bedeutet, eine direkte Wirksamkeit auf das philosophische Denken unserer Zeit, wie ihre Wirkungsgeschichte beweise. Denn unser gegenwärtiges Philosophieren, das heißt die Form der Artikulation der im Zentrum unserer Aufmerksamkeit stehenden philosophischen
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Sachfragen und die Methodik ihrer Behandlung leite sich auf die eine oder andere Weise als sprachanalytisch orientierte oder als hermeneutische Philosophie von den Grundeinsichten dieser Gründungsväter der Philosophie der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts ab. Unser Philosophiestudent wird mit dieser Auskunft nicht zufrieden sein. Denn diese impliziert in ihrem zweiten Teil doch offenbar, dass es im Rahmen dessen, was auch heute noch Philosophie heißt, systematische Probleme gibt, die als solche, und das heißt ganz unabhängig von ihrer historischen Genese und Vermittlung durch ihnen zeitlich vorhergehende philosophische Theorien und deren Sachfragen, zur Behandlung anstehen – Probleme, die wir nur mit dem Instrumentarium der gegenwärtigen avanciertesten Methoden der philosophischen Analysis einer Lösung zuzuführen hoffen können, Probleme zudem, denen sich Philosophen der Vergangenheit noch gar nicht zuwenden konnten, weil sie noch gar nicht als solche zu identifizieren waren. Man mag hier an die Herausforderungen denken, die der Philosophie zum Beispiel im Bereich der sogenannten normativen Ethik durch die Tatsache entstanden sind, dass die wissenschaftlichtechnologische Welt, in der wir, aber nicht vergangene Geschlechter von Philosophen und Nichtphilosophen lebten, gänzlich neue Lebensverhältnisse heraufgeführt hat, für deren angemessene Bewältigung ganz neue Regulative entworfen und begründet werden müssen. Was sollte uns da der Kanon philosophischer Klassiker helfen? So artikuliert sich in unserem Philosophiestudenten nun ein Verdacht. Dass zur Ausbildung im Fache Philosophie auch die Kenntnisnahme klassischer Textzeugen der Vergangenheit des philosophischen Denkens gehört, beruht vielleicht nur auf einer Konvention, die dem Fach Philosophie auch seine Geschichte in dem Sinne zuschlägt, dass eine zumindest ausschnitthafte Kenntnisnahme von Positionen, die im Laufe der Entwicklung des philosophischen Denkens von besonderer Bedeutung und daher auch Wirkungsmächtigkeit gewesen sind, eben einfach gefordert wird. Dass sich in dieser Konvention ein eigentlich so zu nennendes philosophisches Interesse niederschlägt, ein Interesse nämlich, das man als Philosoph haben muss, derart nämlich, dass das Interesse des Philosophen an der Geschichte der Philosophie ein solches ist, ohne das zu haben man kein Philosoph sein kann, ist jedoch gar nicht ersichtlich. Viel näher liegt es, das Interesse an der Geschichte der Philosophie nicht als ein eigentlich so zu nennendes philosophisches, sondern als ein historisches Interesse zu bestimmen, das selber eine historische Wurzel hat. Es ist, so könnte gesagt werden, die Entwicklung des historischen Bewusstseins im 19. Jahrhundert, die zur Folge gehabt hat, dass die Vergewisserung über die Herkunft der eigenen geschichtlichen Stellung einer Gestalt der intellektuellen Kultur, hier der Philosophie, in die Bestimmung dessen, was Philosophie ist, Eingang gefunden hat. Früheren Zeiten hat dies ganz ferne gelegen. Was wusste Kant von Aristoteles? Fast nichts.
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2 Nun wird man sagen wollen, dass das Interesse an der Geschichte der Philosophie als solches natürlich ein unverächtliches ist, so wie auch das Interesse an der Geschichte der Physik ein ganz unverächtliches ist. Und ein auch nur einigermaßen historisch informierter Betrachter der Geschichte der neuzeitlichen Physik wird wissen, dass er die Geschichte dieser Wissenschaft ohne ausgebreitete Kenntnisse der neuzeitlichen Geschichte der Philosophie gar nicht mit Aussicht auf Erfolg betreiben kann. Denn er wird leicht gewahr, dass die Gründungsväter der neuzeitlichen Physik, Galilei und Descartes, und später Newton, ihre Konzeptionen von dem, was der Gegenstand einer mathematisch verfassten Naturforschung ist, in Begriffen von der eigentlichen Natur der Welt der materiellen Körper formuliert haben, die nicht innerphysikalische, sondern solche waren, vermittels welcher sie diese Welt allererst als die ihrer physikalischen Forschung entwarfen. Deswegen konnte Newton von seiner theoretischen Mechanik noch als von einer Naturphilosophie und nicht als von Naturwissenschaft sprechen. Aber derjenige, der auf Grund seiner wissenschaftsgeschichtlichen Forschungsinteressen auch ein Interesse an der Geschichte der Philosophie haben muss – und das gilt natürlich nicht nur für den Physikhistoriker, sondern für den Geistesgeschichtler überhaupt –, hat ein externes Interesse an der Geschichte der Philosophie. Mit dem Titel „Das philosophische Interesse an der Geschichte der Philosophie“ sind jedoch nicht solche externen Gründe gemeint. Solche externen Gründe – die sehr vielfältiger Art sein können – wären bereits angemessen und auch affirmativ berücksichtigt, wenn von einem historischen Interesse an der Geschichte der Philosophie die Rede wäre. Die Frage, die mit dem Titel dieses Beitrags verknüpft ist, lautet vielmehr: Gibt es für denjenigen, der Philosophie betreibt, interne, das heißt aus dem, was Philosophie ist, selber erhebbare Gründe dafür, sich mit ihrer Geschichte zu beschäftigen? Liegt es im Begriff der Philosophie selber, Reflexion auf ihre eigene Geschichte zu sein, näherhin: sein zu müssen? Die unleugbare Tatsache, dass philosophiehistorische Forschung heutzutage einen großen, ja in unserem Lande sogar den bei weitem größten Teil des philosophischen Betriebs ausmacht, beantwortet diese Frage nicht. Es könnte ja gerade sein, dass dies deshalb der Fall ist, weil der größere Teil der sogenannten Philosophen sich nicht in der Lage sieht, produktive Beiträge zu den systematischen Fragen heutigen Philosophierens zu liefern, und sich deshalb in den Historismus flüchtet. Einige der wirkungsmächtigen gegenwärtigen Philosophen haben behauptet, dass es solche internen Gründe in der Tat nicht gibt. Einer dieser Philosophen, dessen systematische Gedanken innerhalb der philosophischen Logik, Erkenntnis- und Sprachphilosophie die größte Wirkung auf unsere Zeit ausgeübt haben,
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Willard Van Orman Quine, hat einmal die nicht nur witzig gemeinte Bemerkung gemacht, dass es zwei verschiedene Sorten von Leuten gibt, die sich für Philosophie interessieren, solche, die sich für Philosophie interessieren und solche, die sich für die Geschichte der Philosophie interessieren.¹ Sie sehen, dass Quine mit dieser Bemerkung das Verhältnis der Philosophie zu ihrer Geschichte dem eingangs von mir beschriebenen Verhältnis der Physik zu ihrer Geschichte angleicht: So wie der Wissenschaftshistoriker der Physik nicht physikalische Forschung betreibt, so betreibt der Historiker der Philosophie nicht Philosophie. In dieser Behauptung liegt natürlich, dass der Philosoph die Orientierung an der Geschichte der Philosophie nicht braucht, um Philosoph zu sein. Quine reiht sich mit dieser Auffassung in eine Reihe großer Namen ein. Es waren gerade Klassiker der Philosophie der Neuzeit, Descartes und Hobbes, und später Hume und Kant, die empfahlen, die meisten Texte der überkommenen Philosophie in den Scheiterhaufen des Vergessens zu werfen und die Sache noch einmal aus eigenem Recht ganz von vorne anzufangen, in der Ontologie, in der Theorie des Staates, in der Theorie der Moral, in der Theorie der Erkenntnis. Von Kant stammt der Satz, dass man nicht Philosophien, sondern Philosophieren lernen müsse.² Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!³ Wenn man den nur hat! Kants aufklärerische, durchaus antihistorische Empfehlung kann, beim Worte genommen, leicht dazu führen, den Narren auf eigene Faust zu spielen.Wilhelm Dilthey hat von John Stuart Mill einmal gesagt, er sei dogmatisch aus Mangel an historischer Bildung.⁴ Ist also die Beachtung von Positionen, die innerhalb der Entwicklung des philosophischen Denkens mit dem Anspruch auf Wissen auftraten, deswegen ein Grund, sich mit ihnen zu beschäftigen, weil sie hilft, aktuelle Borniertheit und, im schlimmsten Fall, aktuellen Unsinn zu vermeiden, oder doch wenigstens einen Zustand, der dadurch definiert ist, dass man immer wieder dasselbe Brett an derselben Stelle bohrt, und noch dazu dort, wo es am dicksten ist, nämlich vorm Kopf? Mag sein. Aber ist dieser Grund wirklich ein interner Grund? Müsste sich nicht vielmehr das,was ich soeben aktuelle Borniertheit und aktuellen Unsinn genannt habe, eben dann, wenn er sich auf einen aktuellen Bestand an diskutierten Fragen und Problemen bezieht und mit Bezug auf eben diesen unhaltbar ist, nicht auch und nicht weniger schlagend durch den systematischen Nachweis innerhalb der philosophischen Forschergemeinschaft identifizieren lassen und nicht, sagen wir einmal, dadurch, dass man darauf hinweist, dass schon Hume dies gezeigt habe? Dass die Ge1 2 3 4
Quine, 1985, S. 194. Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 837. Vgl. Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784), in: AA VIII, 35. Zit. nach: Gadamer, 2000, S. 92.
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schichte der Philosophie Korrektive für Irrtümer bereitstellt, die gegenwärtig begangen werden, mag immerhin sein. Dass nur sie dazu in der Lage ist, wird niemand behaupten können. Wenn ahistorisch argumentierendes, nur nach den Wahrheitswerten aktueller philosophischer Aussagen fragendes Philosophieren dies auch kann, und sogar müheloser, ist der soeben diskutierte Grund kein zureichender Grund dafür, die Beschäftigung mit der Geschichte der Philosophie aus philosophischen Gründen zu legitimieren, nämlich so, dass solche Beschäftigung integrierendes Moment des Philosophierens selber ist, als ein notwendig in Funktion zu setzendes Kathartikon gegenüber schon früher Erreichtes unterbietendem philosophischen Denken. Nun gibt es freilich innerhalb des Curriculums eines Philosophiestudiums Veranstaltungen, die sich mit philosophischen Texten der Vergangenheit in einer ganz anderen als in historischer Perspektive beschäftigen. Diese nicht in historischer Absicht erfolgende Beschäftigung mit Texten der Vergangenheit steht dann in der Perspektive, dass man an solchen Texten nicht eine Philosophie kennen lernen soll, sondern zu philosophieren lernen kann. Texte, die in genau dieser Perspektive Gegenstand werden, müssen zwei Bedingungen genügen. Sie müssen erstens bezüglich der in ihnen behandelten Sachproblematik hinreichend interessant sein. Die Entscheidung darüber, ob dies der Fall ist oder nicht, wird davon abhängen, ob das Thema dieser Texte an gegenwärtig laufende Sachdebatten anschließbar ist oder nicht. Ein scholastischer Text, der in extenso diskutiert, wie viele Engel auf einer Nadelspitze Platz nehmen können, wird zu dieser Textsorte kaum gehören können. Die Texte müssen zweitens hinreichend dichte Texte sein, d. h. ihre argumentative Verfassung – und ein philosophischer Text argumentiert immer – muss hinreichend komplex, nicht auf triviale Weise zu durchschauen, mithin schwierig zu rekonstruieren sein. Man lernt, so ist die Hoffnung, durch die Interpretation solcher Texte dadurch philosophieren, dass man sich mit dem vertraut macht, was ein philosophisches Argument ist, damit, ob das vom Autor des Textes vorgeschlagene Begründungsverfahren für seine These ausreicht, sie zu begründen, wie es, für den Fall, dass es nicht ausreicht, zu verändern wäre, welche zusätzlichen Prämissen erforderlich wären, und manches dieser Art mehr. Eine solche Bezugnahme auf klassische Textzeugen der philosophischen Überlieferung muss sich um deren Einbettung in die historische Situation, in der sie entstanden sind, nicht oder doch nicht notwendigerweise kümmern. Hierfür ein Beispiel. Einer der für die Durchführung philosophischer Proseminare beliebtesten Texte sind Descartes‘ „Meditationen über die Erste Philosophie“, 1641 in der Editio Princeps veröffentlicht. In einem solchen Proseminar wird es nicht darum gehen, sich darüber zu verständigen, welche Theorielage in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts es gewesen ist, die Descartes zu seinem Programm einer völligen Neubegründung der Wissenschaften und zu seiner Auffassung geführt hat, dass
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die von ihm in den Meditationen entworfene Erste Philosophie, d. h. die cartesische Metaphysik, von ihm als die unabdingbare Grundlage für seine Wissenschaft von der materiellen Natur, d. h. seine Physik, verstanden worden ist. Das Proseminar wird sich vielmehr denjenigen Textteilen der Meditationen zuwenden, durch welche Descartes nach einer communis opinio zum Vater der neuzeitlichen Philosophie geworden ist und die auch nach unserer heutigen Überzeugung eine Sache verhandeln, die ein Grundproblem auch unserer gegenwärtigen philosophischen Theorie des Geistes geblieben ist, nämlich die Bestimmung des Verhältnisses zwischen Mentalem und Materiellem, zwischen Ausdehnung und Bewusstsein, wie Descartes dies nannte. Es ist diese systematische Perspektive, in der wir diejenigen Textsegmente der Meditation lesen, in denen Descartes seine Argumente dafür entwickelt, dass ein Gedanken welcher skeptischen Art auch immer vollziehendes Ich seine Skepsis nicht so weit treiben kann, dass es an seiner eigenen Existenz als Innehaber von Gedanken zweifeln kann, und dass diese Fundamentaleinsicht Folgen für die Auffassung darüber hat,welcher ontologische Status dem Sachverhalt, den wir Bewusstsein und Selbstbewusstsein nennen, zukommt, der nämlich, so sucht Descartes zu zeigen, dass Bewusstsein und Selbstbewusstsein kein materieller Prozess sein kann. Das ist eine Behauptung, die, wenn sie denn wahr ist, für uns offensichtlich nicht nur ein historisches Interesse hat. Denn sie betrifft unser eigenes Selbstverständnis auf grundlegende Weise. Wenn wir nun auf dem Wege einer argumentationsanalytischen Behandlung der einschlägigen Textteile der Meditationen den Nachweis führen können, dass es Descartes entgegen seiner eigenen Auffassung von der Sache nicht gelungen ist, diese seine These und desweiteren seinen berühmten Substanzendualismus unter Beweis zu stellen, werden wir daraus zwar nicht schließen, dass seine These falsch ist. Aber wir werden eingesehen haben, dass Descartes die Begründung seiner entscheidenden metaphysischen Optionen misslungen ist. An dieser Diagnose würde sich, vorausgesetzt sie ist selber gut begründet, durch noch so vielen Nachschub an historischer Information, welche die Genese des cartesischen Denkens, seine latente Abhängigkeit von der spätscholastischen Metaphysik und deren Begriffe, seine Wirkungsgeschichte und anderes mehr betreffen, nichts ändern.
3 Dass dies nicht der Fall wäre, deutet darauf hin, dass wir in der soeben entwickelten Perspektive einen klassischen Textzeugen der philosophischen Vergangenheit nicht als einen der Vergangenheit, sondern als einen potentiell zeitgenössischen Text lesen, der uns deshalb etwas zu sagen hat, weil wir Sachfragen
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haben, auf die er uns auf bestimmte Weise antwortet. Aber das heißt nicht, dass wir uns, um diese unsere Fragen zu artikulieren und einer angemessenen Antwort zuzuführen, notwendigerweise auf Texte der philosophischen Vergangenheit zurückbeziehen müssen. Die innerhalb der Philosophie des Geistes unserer Zeit systematisch diskutierte Frage nach dem Verhältnis von Mentalem und Materiellem, um beim Beispiel zu bleiben, ist keineswegs gezwungen, Descartes‘ Lösungsvorschlag zur Kenntnis zu nehmen. Diese These, dass das Mentale, das, was man einmal die menschliche Seele nannte und auch Descartes noch so nannte, nicht mit materiellen Prozessen im zentralen Nervensystem identifiziert werden könne, kann von jemandem, der den Namen Descartes nie gehört hat, mit eigenen Argumenten gestützt werden, der nichts anderes als die gegenwärtigen Debatten über das Verhältnis von Mentalem und Materiellem kennt, und das gleiche gilt für den gegenwärtigen Verteidiger der Gegenthese. Der muß nichts von Hobbes materialistischen Argumenten gegen Descartes gehört haben, um Argumente für die Identifizierbarkeit von Mentalem und Materiellem vorzuschlagen. So ergibt sich weder aus der zuvor bemühten, sozusagen edukatorischen Bedeutung der Lektüre von Texten der philosophischen Überlieferung, an denen man Philosophieren lernen kann, noch aus der potentiellen Gleichzeitigkeit solcher Texte ein interner Grund, die Kenntnisnahme der Geschichte der Philosophie als integrierenden Bestandteil des Philosophierens selber anzusehen. Denn Philosophieren kann man natürlich auch durch die Beschäftigung mit hinreichend komplex strukturierten und sachlich bedeutsamen Texten unserer philosophischen Gegenwart lernen. Und die Auffassung, welche Texte der philosophischen Überlieferung als potentiell gleichzeitige, gegenwärtige liest, sieht von ihrer Historizität recht eigentlich ab, kann also auch nicht als Argument dafür dienen, dass die Geschichte der Philosophie – als Geschichte – integrierender Teil der Philosophie ist. Wenn sich unsere Beschäftigung mit Textzeugen der philosophischen Überlieferung darin erschöpft, in diesen Zeugen dieselben Probleme lokalisiert zu sehen, die wir heutigen Philosophen als philosophische Probleme und deren Autoren wir daher als „older contemporaries“ ansehen, mit denen wir eine virtuelle Diskussion über eben diese Probleme führen können, derart, dass ein solcher Autor, wie dies der englische Philosoph Peter Strawson einmal formuliert hat, uns als „a great contemporary, with whom we can argue“⁵ erscheint, wenn wir beispielsweise, wie der kanadische Philosoph Jonathan Bennett, ein Buch über „Locke Berkeley Hume“ in der Perspektive schreiben, eine Anzahl von Sachproblemen („topics“) in der Gesellschaft dieser drei Philosophen zu diskutieren,⁶
5 Zit. nach: Krüger, 1984, S. 84. 6 Bennett, 1971.
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dann eben ist das Interesse an diesen Autoren genau genommen gar kein historisches Interesse. Es ist ein Interesse an gegenwärtigen Problemlagen der Philosophie. Es ist, wie mein Kollege Wolfgang Carl dies einmal gesagt hat, eigentlich zufällig, dass die Philosophie eine Vergangenheit hat und dass nicht alle relevanten Diskussionsteilnehmer, die sogenannten „great philosophers“, nicht Zeitgenossen sind. Die Geschichte der Philosophie schrumpft auf eine zeitlose Gegenwart von sogenannten philosophischen Problemen zusammen, bei deren Behandlung die Philosophen der Vergangenheit deswegen, aber auch nur deswegen mit berücksichtigt werden, weil sie zur Formulierung und Lösung dieser Probleme beigetragen haben. Mit dieser Auffassung verbindet sich leicht die weitere, dass es einen invarianten Bestand an sozusagen ewigen Problemen gibt, die diejenigen des Philosophierens zu allen Zeiten gewesen sind, sind und bleiben werden. Die Geschichte der Philosophie erscheint unter dieser Voraussetzung als ein Intellektualgeschehen, dessen einzelne Phasen durch die Kontinuität mit sich identisch bleibender Fragestellungen verbunden sind. Insofern nun unsere eigenen, die gegenwärtigen Weisen zu fragen, selber in der Kontinuität dieser Fragestellungen stehen, gilt es, so wird nun behauptet, ein geschärftes Bewusstsein von dieser Tatsache zu entwickeln. Wenn wir heute fragen, was „Wissen“ ist, fragen wir immer noch nach demselben, nach dem Plato fragte, wenn er in seinem Dialog Theaitetos die Frage stellte: „Ti esti epistéme?“, nach demselben, nach dem Descartes fragte, als er sich auf die Suche nach etwas schlechthin Gewissem aufmachte, nach demselben, nach dem Kant fragte, als er in seiner Kritik der reinen Vernunft die Frage nach dem Ursprung, dem Umfang und den Grenzen der menschlichen Erkenntnis stellte. Wenn wir heute die Frage nach der Begründbarkeit moralischer Normen stellen, so fragen wir immer noch nach demselben, nach dem Plato fragte, als er die Frage stellte, was das Gute sei, nach dem Aristoteles fragte, als er die Frage stellte, was das menschliche Leben zu einem guten Leben mache, nach dem Kant fragte, als er die Frage stellte, was die Grundverfassung unseres moralischen Bewusstseins sei.Wir wälzen immer noch denselben Stein. Dies zu gewahren, setzt uns aber allein der Blick auf die Überlieferung des philosophischen Denkens in Stand.Warum aber wälzen wir eigentlich immer noch denselben Stein? Deswegen, weil die Antworten eines Plato, Aristoteles, Descartes, Kant und so weiter und so fort zu keiner endgültigen Antwort auf diese Fragen geführt haben. Und so können wir heute nicht mehr Platoniker, Aristoteliker, Cartesianer, Kantianer und so weiter und so fort sein. So können wir heute nicht mehr denken.Wir müssen vielmehr mit den uns heute zugewachsenen begrifflichen und analytischen Mitteln über dasselbe nachdenken, über was die Klassiker der Geschichte der Philosophie mit ihren Mitteln nachdachten.
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Das ist die Auffassung der Geschichte der Philosophie als einer Problemgeschichte, als eine Geschichte diachroner Behandlungsweisen nicht diachroner, sondern gegen Zeit und Raumdifferenzen invarianter und daher „ewiger“ Probleme des philosophischen Denkens. Eine solche problemgeschichtliche Auffassung führt dann auch zu dem Versuch, diese ewigen Probleme zu quantifizieren. Ein Buchtitel wie der des Philosophiehistorikers Heinz Heimsoeth „Die sechs großen Themen der abendländischen Metaphysik“ ist ein solcher Versuch.
4 Für die Fragestellung, die meinen Überlegungen zugrunde liegt, ist es nun von Wichtigkeit, dass diese Auffassung von der Philosophie in ihrer Geschichte eine Begründung dafür an die Hand zu geben verspricht, dass die Beschäftigung mit der Geschichte der Philosophie selber Philosophie, nicht bloße Historie ist, dass also das Interesse an der philosophischen Überlieferung kein externes, sondern ein internes Interesse der Philosophie selber ist. Denn erstens ist das Bewusstsein, dass auch wir Heutigen noch dieselben Bretter bohren und dieselben Steine wälzen wie schon Plato, ohne die Beschäftigung mit Plato oder, genereller, mit den als klassisch aufgefassten Textzeugen der philosophischen Vergangenheit natürlich nicht zu haben. Zweitens aber, und das ist das Entscheidende, soll eben dieses Bewusstsein gemäß der These der Geschichte der Philosophie als Problemgeschichte die Auffassung darüber, was Philosophie in ihrer eigenen Zeit, also auch was Philosophie unserer eigenen Zeit ist, und damit die Auffassung darüber, was Philosophie als Philosophie ist, definieren. Drittens aber genügt es für die Konstitution dieses Beweises der Philosophie von sich selber nicht, Textzeugen der philosophischen Vergangenheit unbefangen als „older contemporaries“ anzusehen und sich in direktem Zugriff auf sie des Sachverhalts zu vergewissern, mit ihren Autoren in der Kontinuität der Behandlung sich über die Zeiten durchhaltender identischer Probleme zu stehen. Solch unbefangener Zugriff wäre, so habe ich schon ausgeführt, noch nicht eigentlich philosophiehistorisch orientiert. Was die allererst eigentlich so zu nennende geschichtliche Behandlung der Textzeugen als eine notwendige Bedingung für die Konstitution eines angemessenen Bewusstseins unserer selbst als Philosophierender anzusehen zwingt, ist vielmehr die mit dem problemgeschichtlichen Ansatz unmittelbar verknüpfte Überzeugung, dass sich die behauptete Invarianz eines philosophischen Problems gerade und nur in der diachronischen Varianz der Weisen ihrer Behandlung durch diese Textzeugen identifizieren lässt. Für den problemgeschichtlichen Ansatz erweist sich daher die in Wahrheit ahistorische Auffassung, in diesen Textzeugen Beiträge eines virtuell contemporanen Mitglieds der philo-
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sophischen Forschergemeinschaft der Gegenwart zu sehen, mit dem man produktiv diskutieren kann, obwohl er eigentlich als solcher nicht mehr mitdiskutieren kann, als Fiktion. Die angemessene Betrachtung des diachronischen Verlaufs von Problemlösungsstrategien schließt vielmehr – das ist gerade eine der entscheidenden Pointen des problemgeschichtlichen Ansatzes – die explizite Reflexion auf die jeweiligen Entstehungsbedingungen und die Wirkungsgeschichte der Texte ein, die solche Strategien enthalten. Die Frage ist, ob der problemgeschichtliche Ansatz und seine These, dass das Interesse an der Geschichte der Philosophie und damit Philosophiegeschichtsschreibung ein internes Interesse der Philosophie selbst sein muss, nicht selber eine Fiktion ist. Dass dies so ist, dass der problemgeschichtliche Ansatz selber Dogmatismus aus Mangel an historischer Bildung ist, das hat insbesondere die hermeneutische Philosophie unseres Jahrhunderts darzutun versucht. Wilhelm Diltheys und insbesondere Martin Heideggers Ausarbeitung der Grundstruktur der Geschichtlichkeit all unseres Verstehens und meines Lehrers Hans-Georg Gadamer auf der Grundlage der von Heidegger empfangenen Anstöße mit weltweiter Wirksamkeit vorgelegter Versuch einer philosophischen Hermeneutik haben, so meine ich, klar werden lassen, dass der problemgeschichtliche Ansatz bloße Ideologie ist. Was er als die „ewigen“ Probleme des Philosophierens überhaupt deklariert, sind, so lautet die hermeneutische Kritik an ihm, in Wahrheit bei näherer Betrachtung nur genau diejenigen Probleme, die zu der Zeit als philosophische Probleme gelten, zu der der problemgeschichtliche Ansatz sie als zeitlose Probleme fixieren will.Wenn es aber so ist, dass die Identifikation philosophischer Probleme als invarianter Konstituentien der Geschichte der Philosophie in Wahrheit nur die Verabsolutierung des philosophischen Geistes einer bestimmten Zeit zu denn aller Zeiten ist, wenn vom problemgeschichtlichen Ansatz das Wort Mephistos gilt „Der Geist der Zeiten ist der Herren Geist“,⁷ dann verkennt der problemgeschichtliche Ansatz seine eigene Historizität und damit die Kontingenz seiner Selektion philosophischer Probleme als sich durch die Geschichte der Philosophie in deren differenten Theorieentwürfen durchhaltender. Dann aber entfällt gerade die vom problemgeschichtlichen Ansatz angegebene Begründung dafür, dass das Interesse an der Geschichte der Philosophie ein internes Interesse der Philosophie selber ist. Denn diese Begründung ist, wie wir sahen, über die These von der Invarianz der entscheidenden philosophischen Fragen durch alle Zeiten vermittelt.
7 In Goethes Faust heißt es genau: „Was ihr den Geist der Zeiten heißt, / Das ist im Grund der Herren eigner Geist, / In dem die Zeiten sich bespiegeln.“ (Johann Wolfgang von Goethe, Faust I, Vers 577 ff.)
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Nun scheint es freilich, dass die hermeneutische Philosophie selber eine Begründung dafür an die Hand gibt, dass das Interesse an der Geschichte der Philosophie ein philosophisches Interesse ist. Ist all unser Verstehen geschichtlich verfasst, dann gilt das auch für diejenigen Verstehensleistungen, die in der Philosophie erbracht werden. Und daher muß das philosophische Denken gerade dann, wenn der problemgeschichtliche Ansatz nicht trägt, auf Grund seiner Geschichtlichkeit ein direktes Interesse an der Geschichte dieses Denkens nehmen. Schon Dilthey hat diese Forderung so radikalisiert, dass er von der Philosophie forderte, sich in eine Philosophie der Philosophiegeschichtsschreibung zu verwandeln. Aber selbst dann, wenn man die These der hermeneutischen Philosophie von der Geschichtlichkeit alles Verstehens unterschreibt, folgt nicht, dass sich das nach dieser These grundsätzlich geschichtlich verfasste Denken der Philosophie aus philosophischen Gründen mit seiner eigenen Geschichte befassen muss, um sich selber verstehen zu können. Denn wenn man zugibt – und wer wollte dies nicht zugeben –, dass unserem gegenwärtigen Philosophieren seine Fragestellungen und die begrifflichen und methodischen Mittel zu ihrer Beförderung geschichtlich zugewachsen sind, d. h. durch die Wirkungsgeschichte philosophischer Theoriekonzepte der Vergangenheit und deren Kritik, folgt daraus noch nicht, dass sich gegenwärtiges Philosophieren nur unter der Bedingung als ein solches verstehen kann, wenn es sich seiner Herkunft bewusst ist. Geschichtlichkeit des Verstehens heißt nicht eo ipso auch verstehende Zuwendung zu der Geschichte, aus der es kommt, und schon gar nicht notwendigerweise. Unsere gegenwärtigen philosophischen Interessenlagen mögen von weit her kommen und durch vieles vermittelt sein, dessen wir uns gar nicht bewusst sind, wenn wir im Kontext dieser Interessenlagen arbeiten. Aber offensichtlich können wir, wie die systematische Philosophie unserer Tage zum Beispiel in Erkenntnistheorie und Ethik beweist, philosophische Arbeit auch dann leisten, wenn uns das Bewusstsein ihrer Herkunft fehlt. Die Historizität des menschlichen Daseins, zu dessen Artikulationsformen auch das gehört, was man philosophisches Denken nennt, impliziert nicht, dass man Geschichte der Philosophie betreiben muss, um philosophisch zu denken. Der Nachweis, dass es sich so verhalten muss, wird weder durch den problemgeschichtlichen Ansatz noch durch den Ansatz der hermeneutischen Philosophie, die diesen mit guten Gründen kritisiert, erbracht. Insofern steht Quines Diktum, dass, wer Geschichte der Philosophie treibt, nicht Philosophie, und wer Philosophie treibt, nicht Geschichte der Philosophie treibt, immer noch unangefochten da. Und so ist immer noch nicht klar, wie und aus welchen Gründen sich Philosophiegeschichtsschreibung zur Philosophie anders verhalten sollte als Physikgeschichtsschreibung zur Physik.
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5 Ein Postulat, das auf die Konstruktion eines notwendigen Zusammenhanges zwischen Philosophiegeschichtsschreibung und Philosophie hinausläuft, scheint mir nicht begründbar. Aber heißt das, dass sich der Historiker der Philosophie sozusagen nur als Antiquar verstehen muss, dass er nicht begründen kann, dass seine historische Forschung selber durch ein philosophisches Interesse an der Geschichte der Philosophie und damit an der Philosophie geleitet ist? Auch das glaube ich nicht. Es gibt sehr wohl ein philosophisches Interesse an der Geschichte der Philosophie; und dieses läßt sich in zweierlei Hinsicht begründen. Auf die erste dieser Hinsichten weise ich durch eine Reminiszenz hin. Es ist Wilhelm Dilthey gewesen, der zur Abfassung einer Jugendgeschichte Hegels aufforderte.⁸ Dabei ging er von der Überzeugung aus, dass nur die Rekonstruktion der ursprünglichen Denkmotive und Überzeugungen, die den jungen Hegel in seiner Berner Zeit und später in engem Kontakt mit Hölderlin in der Frankfurter Zeit herumtrieben, Aufschluss über die Genese und die Verfassung seiner dann in Jena hervortretenden spekulativen Dialektik liefern könne. Es ist nach Diltheys Überzeugung die entwicklungsgeschichtliche Methode der Rekonstruktion des Denkweges eines Philosophen, die uns Inhalt und Form der Philosophie verstehen lässt, die ihn zu einem Klassiker des philosophischen Denkens haben werden lassen. Tatsächlich machen entwicklungsgeschichtliche Studien zu Hegel den größten und auch beachtenswertesten Teil der Hegelforschung, die in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts einen zuvor ungeahnten Aufschwung genommen hat, aus; und niemand wird ihren Wert bestreiten, wenn es darum geht, sich über Hegels Philosophie ins Klare zu setzen. Ganz ähnliches gilt für Kant, Aristoteles, Plato und andere Meisterdenker unserer philosophischen Überlieferung. Aber ist damit entwicklungsgeschichtliche Forschung schon als philosophische legitimiert? Diese Frage wäre offenbar nur dann affirmativ zu beantworten, wenn wir Gründe zu der Behauptung hätten, dass uns die Philosophie Hegels aus philosophischen Gründen interessieren muss oder doch wenigstens kann, und daher auch die Entwicklung seines Denkens, ohne die wir seine reife Philosophie nicht verstehen können. Und dasselbe gilt für entwicklungsgeschichtliche Studien zu Kant und Aristoteles und so weiter. Aber was heißt es eigentlich, philosophisch betrachtet, Hegels Philosophie, um bei diesem Beispiel zu bleiben, durch die Erforschung der Entwicklung von Hegels Denken besser zu verstehen als zuvor? Man kann ja ein exzellenter Historiker der Entwicklung von Hegels Denken sein und dabei doch der Meinung sein, dass Hegels System der
8 Vgl. dazu Dilthey, 1921.
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spekulativen Dialektik völliger Unsinn ist. Dafür gibt es sogar Beispiele. Hat philosophiegeschichtliche Forschung unter einer solchen Prämisse überhaupt mehr als eine antiquarische, nämlich eine philosophische Bedeutung? Gewiss nicht! Philosophische Bedeutung hat die Beschäftigung mit der Entwicklungsgeschichte eines Denkers, dessen Philosophie einer vergangenen Epoche angehört,vielmehr erst dann, wenn wir davon ausgehen, dass uns sein philosophisches System etwas zu sagen hat, das für unser eigenes Philosophieren von Bedeutsamkeit sein könnte. Ohne eine solche Voraussetzung wäre das Interesse an der Entwicklungsgeschichte Hegels zwar immer noch zu legitimieren, nämlich als historisches Interesse an den Formationsbedingungen einer vergangenen, endgültig vergangenen Gestalt des Philosophierens. Als ein der Philosophie selber zugehöriges Interesse kann es sich jedoch nur dann verstehen, wenn es von der Überzeugung geleitet ist, dass eine vergangene Gestalt des Philosophierens Rationalitätspotentiale enthält, die unsere eigenen stabilisierten Auffassungen von dem, was unserem Philosophieren seine rationale Form verleiht, affizieren und auch korrigieren könnten. Diese Überzeugung kann dann an Durchschlagskraft gewinnen, wenn ausgemacht werden kann, dass in Wahrheit bis heute nicht geklärt ist, welchen Rationalitätsgehalt eine vergangene Form des philosophischen Denkens eigentlich besitzt. Der Fall Hegel ist ein hochgradiger Fall solchen Nichtwissens.Wir wissen bis heute nicht wirklich, was der Rationalitätsgehalt der Hegeischen Dialektik ist. Es ist aber gar nicht auszuschließen, dass Ihr Rationalitätsgehalt, einmal eindeutig bestimmt, unsere gegenwärtig umlaufenden Vorstellungen von Vernunft in der Philosophie einzuschränken erlauben oder gar erzwingen. Ohne dass hierfür Garantien gegeben werden können, ist eine Beschäftigung mit Hegel und der Entwicklung seines Denkens dann selber von einem philosophischen, nicht bloß historischen Interesse geleitet,wenn sie in dieser Perspektive erfolgt. Es könnte, allgemeiner gewendet, so sein, dass die Wirkungsgeschichte philosophischer Theorien gerade durch das Nichtgewahren oder das Vergessen ihrer ihnen eignenden Beiträge zu einer Theorie der Vernunft bestimmt gewesen ist. Dies auszumachen, wäre ein Beitrag zur historisch vermittelten Aufklärung über vergessene oder nicht mehr präsente Vernunftkonzepte, die nicht vergangene Alternativen zu unserer Konzeption von Vernunft, sondern präsentische Möglichkeiten ihrer Korrektur sein können und gar sein sollten. Ohne eine solche Grundüberzeugung hat philosophiehistorische Forschung zwar ein eigenes Interesse, eben das Interesse einer Geschichte unter vielen Geschichten, aber kein mit Recht so zu nennendes philosophisches Interesse. „Warum beschäftigst Du Dich mit der Entwicklungsgeschichte des kantischen Denkens bis hin zur Kritik der reinen Vernunft?“ „Weil ich ohne die Rekonstruktion dieser Entwicklung den Grundgedanken der kantischen Erkenntnistheorie nicht wirklich verstehen kann.“ „Warum willst Du den Grundgedanken der
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kantischen Erkenntnistheorie verstehen?“ „Weil Kant ein Klassiker der Philosophie ist.“ „Warum aber beschäftigst Du Dich mit Klassikern der Philosophie?“ „Weil die Beschäftigung mit Klassikern der Philosophie zum Curriculum des Studiums des Faches Philosophie gehört. Übrigens wird in Göttingen sogar ein Kant–Schein verlangt.“ „Ja, aber warum denn gehört das Studium der Klassiker der Philosophie zum Studium der Philosophie? Warum gehört denn nicht bloß das Studium der philosophischen Disziplinen, Erkenntnistheorie, Ethik, Handlungstheorie, Logik und so weiter zum Studium der Philosophie?“ „Ja, das habe ich mich auch schon oft gefragt.“ Die soeben gegebene Exposition der Bedingungen, unter denen das Studium der Geschichte der Philosophie nicht aus einem bloß historischen, sondern aus einem philosophischen Interesse erfolgen kann, könnte eine Antwort auf diese Frage unseres Durchschnitts von Philosophiestudierenden sein. Aber nicht die einzige Antwort! Das philosophische Interesse an der Geschichte der Philosophie steht, so habe ich bisher ausgeführt, unter der Prämisse, dass wir nicht wähnen, es nun endlich besser zu wissen.Wüssten wir aus nunmehr eigenem, von wie weit auch immer herkommendem Recht, was wahr ist, wozu dann noch eine Verständigung darüber, was einmal als wahr galt, aber nicht wahr ist, oder darüber, dass auch die Vergangenheit gelegentlich schon das Wahre wusste? Solche Verständigung wäre Aufgabe des Antiquars – ein unverächtlicher Beruf –, aber nicht die des Philosophen. Der muss als Historiker von der Prämisse ausgehen, dass ihm die Tradition der Philosophie etwas zu sagen hat, das für unser gegenwärtiges Selbst- und Weltverständnis, so wie es sich in der Philosophie unserer Gegenwart artikuliert, von Bedeutsamkeit ist oder doch sein kann, ja sein sollte. So sagte ich. Aber muss das wirklich so sein? Kann nicht auch die an philosophischen Theorien der Vergangenheit zu machende Erfahrung ihrer völligen Fremdheit, ihrer eklatanten Inaktualität, die Tatsache, dass wir dem, was sie behaupten und zu begründen versuchen, mit völligem Unverständnis gegenüberstehen, ein eigentlich so zu nennendes philosophisches Interesse auf sich ziehen, nämlich das philosophische Interesse an Alterität, um einen heute inflationär verwendeten Modeausdruck zu verwenden? Wie steht es mit der in der scholastischen Philosophie inständig diskutierten Frage, wie viele Engel auf einer Nadelspitze Platz nehmen können? Die Vermutung, dass diese Fragestellung noch in unser heutiges philosophisches Denken integrierbar sein könnte, wäre ohne Zweifel abwegig. Und doch können wir an der Tatsache, dass diese Frage einmal in der Philosophie gestellt worden ist, ein philosophisch zu nennendes Interesse nehmen. Werfen wir, um dies klar werden zu lassen, noch einmal einen Blick auf die ahistorische Auffassung von Texten der philosophischen Vergangenheit als „older contemporaries“. Ein Blick auf bedeutende zeitgenössische Zeugen dieser Auf-
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fassung zeigt, dass die Konkretisierung dieses Verfahrens einen Text selektiv betrachtet, insofern er nämlich Lebendiges und Totes an ihm unterscheidet. Was für einen so ausgezeichneten Autor wie Peter Strawson an Kants Kritik der reinen Vernunft lebendig ist, das ist das eine Gesicht dieses Werkes, die in ihm formulierte Theorie der Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrungserkenntnis. Ihr anderes Gesicht aber ist, dass diese Theorie als „mixed up with a lot of outdated foolishness“ erscheinen muss.⁹ Wem? Nun eben dem Leser, der Kant als einen „great contemporary“ liest. Der unterscheidet an der Kritik Gedanken, die auch noch für die gegenwärtige Erkenntnistheorie relevant und daher der Wahrnehmung wert sind, von denjenigen, die – nach dieser Auffassung – gänzlich obsolet geworden sind. Zu diesen obsolet gewordenen Gedanken gehört nach Strawson „the doctrinal fantasy“ des transzendentalen Idealismus und damit Kants Lehre von der bloßen Subjektivität von Raum und Zeit. Aber Kant selber war offenbar der Überzeugung, dass diese Lehre integrierendes Bestandstück bei der Beantwortung seiner kritischen Hauptfrage „Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?“ sein müsse. Kants eigenes Problem war offensichtlich nicht das Problem, wie es sich Strawson als Kants Problem zurechtgelegt hat, genauer: Kants eigenes Bewusstsein von der Beantwortbarkeit dieser seiner Hauptfrage war gerade dadurch bestimmt, dass das, was Strawson als „outdated foolishness“ beschreibt, ein integrierender Bestandteil genau dessen sei, was Kant für Strawson unter dessen Nichtberücksichtigung allererst zu einem „great contemporary“ macht. Ganz ähnlich hatte schon – ein anderes Beispiel – Benedetto Croce zwischen Lebendigem und Totem in der Philosophie Hegels unterschieden. Das Lebendige von dem Toten einer Philosophie der Vergangenheit zu unterscheiden, bemisst sich für den so Unterscheidenden nach Maßgabe dessen, was ihm als ein lebendiger, d. h. in seiner philosophischen Gegenwart diskutierbarer Gedanke gilt. Aber abgesehen davon, dass die Verstehenshorizonte, die über solche Geltung entscheiden, demnächst selber historisch sein werden und dann von nachkommenden Generationen vielleicht selber als „outdated foolishness“ bezeichnet werden, denke ich, dass das Tote, so wie es uns jetzt als ein Totes erscheint, selber ein eigenes philosophisches Interesse auf sich zu ziehen vermag. Denn dass uns heute an philosophischen Theorien der Vergangenheit mancherlei als unverständlich und abstrus vorkommt, das ist eigentlich nicht das Interessante. Unser Interesse sollte sich vielmehr darauf richten, wie es zu verstehen ist, dass den Autoren dieser Theorien das, was uns als abstrus gilt, keineswegs als abstrus, sondern als vollkommen rational gegolten hat. So sollte es dem Historiker der Philosophie gerade darum gehen, wie Philosophen der Vergangenheit, deren
9 Vgl. dazu Strawson, 1966.
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Gedanken uns fremd geworden sind, ihren eigenen, und nicht etwa unseren Willen zu wissen, in Theorieformen artikuliert haben, deren interne Struktur aufzuklären heißt, sich darüber ins Bild zu setzen, nicht, was sie wissen konnten oder noch nicht wissen konnten, sondern was sie eigentlich wissen wollten. Ein solches Interesse wird nicht auf die Vereinnahmung der philosophischen Tradition unter der Fragestellung „Was können wir wissen?“, sondern gerade durch die Distanzierung von dieser Frage und deren Ersetzung durch die ganz andere Frage „Was wollten sie wissen?“ bestimmt. Verschiedenen Zeiten galt Verschiedenes als wissenswert. Und diese Verschiedenheit, mit der wir als einem uns Fremden konfrontiert sind, lässt sich nicht auf den uns geläufigen Rationalitätsraster ziehen. Solche Fremdheit zu gewahren, ist von philosophischem, nicht bloß historischem Interesse. Es fällt nicht nur in die sogenannte Geistesgeschichte als historische Disziplin. Es fällt in die Geschichtsschreibung der dem Menschengeschlecht möglich gewesenen Alternativen seiner Selbst- und Weltauffassung in den vergehenden Zeiten. Solche Geschichtsschreibung gehört in die Philosophie. Wenn es, wie Kant meinte, richtig ist, dass die philosophischen Fragen „Was können wir wissen?“, „Was sollen wir tun?“, „Was dürfen wir hoffen?“ in der einen Frage zentriert sind „Was ist der Mensch?“, dann ist das Interesse an der Vergangenheit des philosophischen Denkens dann ein philosophisches, wenn die Frage „Was ist der Mensch?“ nicht ohne die Beantwortung der Frage „Was war der Mensch?“ beantwortet werden kann. Philosophiegeschichte, in dieser Perspektive betrieben, ist Teil einer pragmatischen Geschichte des menschlichen Geistes. Und an der müssen wir ein philosophisches Interesse nehmen.
Literatur Bennett, Jonathan Francis (1971): Locke, Berkeley, Hume. Central themes, Oxford. Dilthey, Wilhelm (1921): Gesammelte Schriften. Bd. 4: Die Jugendgeschichte Hegels und andere Abhandlungen zur Geschichte des deutschen Idealismus, hrsg. Nohl, Herman, Leipzig / Berlin. Gadamer, Hans-Georg (2000): Hermeneutische Entwürfe. Vorträge und Aufsätze, Tübingen. Kant, Immanuel (1900 ff.): Gesammelte Schriften, hrsg. Preussische Akademie der Wissenschaften, Berlin. (Zitiert mit AA unter Angabe des Bandes (röm. Ziffern) und der Seitenzahl) Krüger, Lorenz (1984): „Why do we study the history of philosophy?“, in: Rorty, Richard / Schneewind, Jerome B. / Skinner, Quentin (Hrsg.): Philosophy in History, Cambridge, S. 77 – 102. Quine, Willard van Orman (1985): The time of my life. An autobiography, Cambridge, Mass. Strawson, Peter Frederick (1966): The bounds of sense. An essay of Kants ‚Critique of pure reason‘, London.
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Spontaneität oder Zirkularität des Selbstbewusstseins? Kant und die kognitiven Voraussetzungen der praktischen Subjektivität I Seit die Praktische Philosophie vor allem durch Platons Tugend-Dialoge und durch die Ethiken des Aristoteles angefangen hat, die eine der Hemisphären der Philosophie in ihre Obhut zu nehmen, stehen die Struktur der Handlung und die kognitiven Beziehungen des Handelnden zu seinen Handlungen in Brennpunkten ihrer Aufmerksamkeit. Platon sucht schon früh nach etwas Charakteristischem der Handlungen, das in allen Handlungen selbst mit sich selbst dasselbe ist,¹ und macht den Handelnden auf das kognitive Desiderat aufmerksam, dass er darauf angewiesen sei, blickend² auf jene Form selbst,³ sich nach einem Muster⁴ zu richten, wenn er zu beurteilen sucht, ob eine Handlung diese Form erfüllt oder nicht. Aristoteles macht indessen darauf aufmerksam, dass die kognitiven Beziehungen des Handelnden zu seinen Handlungen durch eine tiefe Ambivalenz charakterisiert sind, weil leibhaftige Handlungen mit natürlichen und mit erzwungenen Bewegungen in Raum und Zeit die Eigenschaft gemeinsam haben, dass sie kontinuierlich in infinit teilbare zeitliche und räumliche Teile geteilt werden können.⁵ Bis in unsere Tage und insbesondere im Einzugsbereich der ungeheuren Fortschritte der neuzeitlichen naturwissenschaftlichen Forschungen insbesondere auf dem Feld der mikro-prozessualen Bewegungen wird diese Ambivalenz immer wieder einmal zum Ausgangspunkt für die verschiedenartigsten sog. reduktionistischen Versuche genommen zu zeigen, dass sich die Strukturen von Handlungen in den Strukturen sogar erschöpfen, die für natürliche oder experimentell erzwungene Bewegungen in Raum und Zeit charakteristisch sind. Zu Recht hat Heidegger mit Blick nicht nur auf solche reduktionistischen
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Ταὐτόν ἐστιν ἐν πάση πράξει […] αὐτὸ αὑτῷ, Platon, Euthphr., 5d1– 3. ἀποβλέπων, Platon, ebd., 6e4. ἐκεῖνο αὐτὸ τὸ εἴδος, Platon, ebd., 6d10 – 11. παραδείγματι, Platon, ebd., 6e4– 5. Vgl. Aristoteles, Eth. Eud. 1220b 21 ff.
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Traditionen bemerkt: „Wir bedenken das Wesen des Handelns noch lange nicht entschieden genug.“⁶ Ein bedeutsames Indiz für das Bedenkenswerte dieser Diagnose bietet der Umstand, dass Kant gleichzeitig mit seiner ersten systematischen Schrift zur Praktischen Philosophie – der Kritik der praktischen Vernunft – eine Überlegung entwickelt, durch die der Begriff der Handlung als der Grundbegriff sogar der Theoretischen Philosophie konzipiert wird. Er vergewissert sich hier „der genau bestimmten Definition eines Urtheils überhaupt [als] (einer Handlung, durch die gegebene Vorstellungen zuerst Erkenntnisse eines Objects werden)“.⁷ Verwechselt man die geforderte Genauigkeit dieser Definition nicht mit ihrer Vollständigkeit, dann wird man auch in Rechnung stellen, dass „praecisio – […] die Abgemessenheit [ist], d. h. die Absonderung alles übrigen, was nicht zur hinlänglichen Deutlichkeit erfordert ist“.⁸ Es kann nicht gut bezweifelt werden, dass Kants Arbeitsdefinition allerdings mit ‚hinlänglicher Deutlichkeit‘ den Handlungsbegriff zum Grundbegriff auch der Theoretischen Philosophie stempelt. Er hat gelegentlich auch ein Plausibilitätskriterium für den Handlungscharakter des Urteils bedacht, wenn er bemerkt: „In jedem Urteils ist subjektiv eine Zeitfolge“.⁹ Denn von den Vorstellungen, die man in der logischen Form eines Urteils verbindet, kann man im Zuge des Urteilsakts stets nur nach und nach, also sukzessiv Gebrauch machen.¹⁰ Kant bringt die Reflexion auf die temporale Form des Urteilsakts
6 Heidegger, 1954, S. 53. 7 Kant, MA, S. 475*. 8 Kant, AA XXIV, 1,2, S. 756, m. H. 9 Kant, AA XX, S. 369. 10 In den Logik-Erörterungen unserer Tage wird diese temporale Dimension nur sehr selten einmal und dann auch nur bei sehr speziellen thematischen Gelegenheiten berücksichtigt. An prominenter Stelle findet sich eine solche Berücksichtigung bei Quine, 1973, bei Gelegenheit der Erörterung der Frage, wie man die Grenzen der Zeitspanne bestimmen kann, die durch die Verwendung der temporalen Situationsvariable „now“ in satzförmigen Äußerungen angedeutet wird: „One possible answer […] would be to construe the temporal boundaries as those of the shortest utterance of sentential form containing the utterance of ‚now‘ in question“ (Quine, 1973, S. 173). Obwohl Quine gewiß nicht ein typischer Sprechakttheoretiker ist, hat er mit der Thematisierung des zeitlichen Formats indexikalischer sprachlicher Äußerungen einen Aspekt fruchtbar gemacht, der ganz allgemein für solche Äußerungen, also für Sprechakte charakteristisch ist. In Kants Konzeption der Urteilsakte ist der kürzeste Vollzug eines solchen Akts dementsprechend durch die kategorische ‚sentential form‘ festgelegt. – Unter den direkt an der Sprechakttheorie und an der Philosophie des Geistes arbeitenden Autoren wird gelegentlich wenigstens der empirisch-psychologische Parallelbefund als Argument verwendet, so wenn z. B. Searle, 1992, S. 130 bemerkt: „For example, when I speak or think a sentence, even a long one, my awareness of the beginning of what I said or thought continues even when that part is no longer thought or spoken“. Allerdings verkennt Searle den von Quine berücksichtigten wichtigen
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darüber hinaus in plausibler Kohärenz sogar mit der Bindung eines solchen Akts an den Gebrauch der Worte in Zusammenhang, die diese Vorstellungen ausdrücken: „Wir würden gar nicht urteilen, wenn wir keine Wörter hätten“.¹¹ Die Bindung des mentalen Charakters des Urteilsaktes an den Sprechaktcharakter des Urteilens ist sogar so fest, dass nicht nur die Kommunikation des urteilenden Subjekts mit seinesgleichen, sondern sogar die gelingende Kommunikation des urteilenden Subjekts mit sich selbst davon abhängt: „Wir bedürfen der Wörter, um nicht allein andern, sondern uns selbst verständlich zu werden“.¹² Insbesondere diese sprachabhängige Verständigung des Menschen mit sich selbst rückt Kant in seiner reifen Praktischen Philosophie in den Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit, wenn er das ‚Geschäft‘, das der Mensch unter der Obhut seines Gewissens zu absolvieren hat, als „ein Geschäft des Menschen mit sich selbst“¹³ charakterisiert. Der Mensch würde daher in diesem Gewissensgeschäft mit sich selbst noch nicht einmal sich selbst verständlich werden, wenn er nicht über Wörter verfügen und mit ihrer Hilfe praktisch-moralische Urteile über sich selbst fällen würde, die gleichsam den Kern der Währung bilden, in der er dies Geschäft mit sich selbst absolviert. Bildet das so verstandene Geschäft des Menschen mit sich selbst das genuine Medium seiner praktischen Subjektivität? Wenn Kant den Handlungscharakter des Urteils zum ersten Mal nach dem Abschluss seines ersten systematischen Werks zur Praktischen Philosophie herausstreicht, dann trägt er zwar auch dem Umstand Rechnung, dass kommunikative Sprechakte der Unaufrichtigkeit in seinen bis dahin publizierten ethischen Schriften die paradigmatischen Beispiele für unmoralische Handlungsweisen bilden – unaufrichtige Versprechen und Lügen.¹⁴ Denn nur Handlungen und
formalen Zusammenhang zwischen den mehr oder weniger komplexen logischen Formen sprachlicher Äußerungen und ihren entsprechenden mehr oder weniger kurzen Zeitspannen. Weil Searle diese logische Komponente verkennt, kann er auch irrtümlich meinen, Kants terminologischer Titel „the transcendental unity of apperception“, ebd., sei nur eine andere Bezeichnung des „binding problem“, ebd., der Neurophysiologie und nicht der Titel für die von dieser Apperzeption gestiftete logische Einheit von Vorstellungen im Urteil; vgl. hierzu unten Fußnote 45. 11 Kant, AA XXIV, 1,2, S. 580; vgl. auch S. 588. 12 Kant, AA XVI, R 3444, S. 839. 13 Kant, MS, S. 438. 14 Da unaufrichtige Versprechen aus begriffsanalytischen Gründen aber lügenförmige Selbstverpflichtungen gegenüber anderen Personen sind, vgl. Kant, GMS, S. 21 f., hängt der unmoralische Charakter von unaufrichtigen Versprechen nicht primär von irgendwelchen Verletzungen der eingegangenen Verpflichtung ab, sondern von ihrem lügenförmigen Charakter. Die in der Kant-Forschung dominierende Orientierung der Rekonstruktion des Beurteilungsverfahrens, das der Kategorische Imperativ entwirft, tut insofern den zweiten vor dem ersten Schritt. Dass die in unaufrichtigen Versprechen involvierte Verpflichtungsverletzung zusätzliche und anders zu
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deren Maximen sind einer moralischen Beurteilung fähig, und nur wenn Urteile Handlungen sind, sind auch sie einer moralischen Beurteilung fähig. Doch die Arbeitsdefinition des Urteils als einer Handlung wird von ihm nun einmal ganz unabhängig von diesem praktisch orientierten systematischen Kontext seiner Arbeit auch an einer ganz anderen Stelle verortet als es für eine Ethik unmittelbar angemessen wäre. Sie wird von ihm nachträglich zur ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft und in Ergänzung zur gleichzeitig erscheinenden zweiten Auflage in den thematischen – allerdings nicht in den buchtechnischen – Kontext des Abschnitts Von dem logischen Verstandesgebrauchs überhaupt ¹⁵ eingefügt. Sie dient dazu, den formalen Zusammenhang zwischen den logischen Funktionen des Gebrauchs von (sprachlich formulierten) Vorstellungen im Urteilsakt und der nur dadurch möglichen Erkenntnis von Objekten der Urteilsakte möglichst kurz und bündig durchschauen zu können.
II Dennoch braucht man sich im Rahmen von Kants Erster Kritik weder mit einer arbeitsdefinitorischen Fixierung noch mit temporalen und linguistischen Plausibilitätskriterien für den Handlungscharakter von Urteilen zufrieden zu geben. Die wichtigsten Fingerzeige Kants in Richtung auf die davon unabhängige Basiskonzeption dieses Handlungscharakters erhält man, wenn man noch hinter seine Ausführungen zum ‚logischen Verstandesgebrauch überhaupt‘ zurückgeht. Denn im Hintergrund dieser Ausführungen stehen Überlegungen, die Kant zwar erst in der zweiten Auflage der Ersten Kritik und mit buchtechnischen Mitteln sogar erst mit erheblicher Entfernung von diesem Auftakt zur sog. Urteilstafel¹⁶ präsentiert. Dennoch bilden diese Überlegungen – entgegen allen äußeren Indizien und entgegen einer breiten und tiefen hermeneutischen Tradition – die Basiskonzeption des Handlungscharakters des Urteils. Den thematischen Mittelpunkt dieser Überlegungen bildet denn auch ein Handlungsmoment wie es handlungsspezifischer nicht sein könnte – „ein Actus der Spontaneität“.¹⁷ In einer zunächst nicht unmittelbar einleuchtenden Erläuterung dieses Akts charakterisiert er ihn auch als „Selbstbewußtsein“.¹⁸ Den sprachlichen Ausdruck dieses Akts
analysierende und zu beurteilende moralische (und rechtliche) Probleme mit sich bringt, bleibt davon unberührt. 15 Kant, KrV, A 67, B 92–A 69, B 94. 16 B 129 ff. 17 B 132. 18 Ebd.
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der Spontaneität bzw. des Selbstbewusstseins formuliert Kant für seinen innertheoretischen Gebrauch entsprechend durch einen „Satz […], der das Selbstbewußtsein ausdrückt“¹⁹ bzw. als „Ausdruck des Selbstbewußtseins“²⁰ und gibt ihm die nahezu alltägliche, formelhafte Gestalt „Ich denke“.²¹ Das durch diese sprachlichen Formulierungen thematisierte Selbstbewusstsein bzw. der durch sie thematisierte Akt der Spontaneität der reinen und ursprünglichen Apperzeption²² ist bekanntlich „der höchste Punkt, an dem man allen Verstandesgebrauch, selbst die ganze Logik, und, nach ihr, die die Transzendental-Philosophie heften muß“.²³ Die diversen terminologischen bzw. formelhaften Thematisierungen des ‚höchsten Punkts‘ der Philosophie, an der Kant im Rahmen seines ‚kritischen Geschäfts‘ arbeitet, legen nicht nur für seine Leser unterschiedliche thematische Zuspitzungen der in diesem Geschäft verhandelten Sachfragen nahe. Vor allem Kants Rede vom ‚Selbstbewusstsein‘, vom ‚Ausspruch des Selbstbewusstseins‘ und seine sprachliche Standardformulierung dieses Ausspruchs durch den ‚Satz‘ Ich denke sind zum Ausgangspunkt einer überaus reichen systematischen und hermeneutischen Tradition geworden. Fichtes diverse Entwürfe seiner Wissenschaftslehre und einige Abhandlungen des jungen Schelling sind für die systematische Philosophie auf dieser thematischen Linie traditionsstiftend geworden; Dieter Henrichs thematische Untersuchungen – von Fichtes ursprüngliche Einsicht ²⁴ bis zu Noch einmal in Zirkeln ²⁵ – haben die hermeneutischen Auseinandersetzungen mit diesen Entwürfen der klassischen deutschen Philosophie in durchaus schulbildender Weise für eine methodisch gereifte Philosophie der Subjektivität fruchtbar gemacht. Es fällt indessen auf, dass diese diversen Auseinandersetzungen insbesondere mit der These von der Zirkularität des Selbstbewusstseins in Verbindung mit dem „Begriff, oder, wenn man lieber will, […] Urteil: Ich denke“²⁶ an einem Kontext orientiert sind, der innerhalb der Kritik der reinen Vernunft und im Verhältnis zum doktrinalen Hauptteil von deren Elementarlehre eine auffällig randständige Stellung einnimmt. Kant handelt hier Von den Paralogismen der reinen Vernunft. Doch angesichts der späten Entdeckung des Paralogismus, von Adickes an Hand von R 5553 auf die Zeit ab 1779 datiert, war die Zeit bis zur Publikation der ersten
19 A 398 – 99. 20 A 346, B 404. 21 B 131. 22 Vgl. B 132. 23 B 133*. 24 Vgl. Henrich, 1967 a. 25 Vgl. Henrich, 1989 b. 26 Kant, KrV, A 341, B 399.
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Auflage der Ersten Kritik für Kant nur allzu offenkundig zu kurz, um das Potential dieser Entdeckung rechtzeitig ganz auszuschöpfen. In philologischer Hinsicht fällt die enge sachliche Begrenztheit von Kants Primäranalyse des Satzes Ich denke am aufschlussreichsten aus, wenn man beachtet, dass dieser Satz in der ersten Auflage ausschließlich im Kontext des Paralogismus-Problems auftaucht.²⁷ Er wird in diesem Kontext primär als Teil des Materials einer formallogischen Analyse eines einzigartigen Fehlschlusses der traditionellen Ontologie der Seele behandelt.²⁸ Wohl gibt der Kontext dieses Paralogismus’ Kant auch schon in der ersten Fassung Gelegenheit zu mancherlei Reflexionen, die auch im Rahmen der später entwickelten Konzeption des ‚höchsten Punkts‘ direkt fruchtbar gemacht werden können (vgl. unten Abschnitte III und IV). Doch es kann keinen ernstzunehmenden Zweifel daran geben, dass die Transposition des Satzes Ich denke an den ‚höchsten Punkt‘ von Kants philosophischer Arbeit sowohl diesen Satz wie die Themen des Spontaneitäts-Akts, des Selbstbewusstseins und der reinen und ursprünglichen Apperzeption mit unüberbietbarer Radikalität und ein für alle Mal nicht nur aus dem paralogistischen Medium befreit. Diese Transposition sorgt ebenso dafür, dass sie aus dem Einzugsbereich der Diagnose gelöst werden, dass wir uns durch das „Ich, oder Er, oder Es (das Ding), welches denkt, […] in einem beständigen Zirkel herumdrehen“.²⁹ Wenn der Satz Ich denke und das durch ihn formulierte Selbstbewusstsein auch noch in Kants fast revolutionär gereifter Konzeption des ‚höchsten Punkts‘ einen Fall für diese Zirkularitäts-Diagnose bilden würden, dann wären die Konsequenzen geradezu desaströs, die sich daraus für seine Praktische Philosophie ergeben würden. Denn im nicht weniger reifen Rückblick der Metaphysik der Sitten auf das Ganze dieser Philosophie verortet er die komplexe, vom Kategorischen Imperativ geprägte Struktur der moralischen Selbstbeurteilung des Menschen „in jenem moralischen Selbstbewußtsein“.³⁰ Doch ein Selbstbewusstsein, in dem sich ein ‚Ich oder Er oder Es (das Ding), welches denkt, in einem beständigen Zirkel herumdrehen‘ würde, wäre nun einmal schlechterdings unverträglich mit einem Selbstbewusstsein, dem durch das Moralkriterium des Kategorischen Imperativs angesonnen wird, aus der Beurteilung seiner maximenkonformen Handlungsweisen praktische Konsequenzen im Sinne eines Handle so, dass … zu ziehen, also den „Zauberkreis des Selbst-
27 Vgl. A 341– 401. 28 Vgl. hierzu auch die kritischen Ausführungen zu Wolffs fundamental-ontologischem Rückfall hinter Descartes’ Orientierung am ‚höchsten Punkt‘ des Ich denke bei Scheffel, 1994, S. 157– 162. 29 Kant, KrV, A 346, B 404. 30 Kant, MS, S. 439; vgl. auch S. 439*.
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bewußtseins“³¹ gar nicht erst zu betreten. Ihm wird vielmehr angesonnen, in jener praktischen Welt des leibhaftigen Handelns zu Hause zu bleiben, die es nur für die mehr oder weniger flüchtigen Zeitspannen zu verlassen braucht, während denen es unter der Obhut seines Gewissens in den dafür reservierten Schutzräumen den handlungsorientierten Beratschlagungen mit sich selbst nachgeht, die Kant schließlich unter dem Namen des moralischen Selbstbewusstseins thematisiert. Das so konzipierte praktisch-moralische Selbstbewusstsein bildet daher nicht nur den Kern der praktischen Subjektivität. Seine Konzeption bildet auch den gewichtigsten Grund, die Zirkularität nicht mit einem Charakter des Selbstbewusstseins zu identifizieren.
III Indessen gibt es nicht nur praktische, sondern auch nicht weniger gewichtige in der Binnenkonzeption des ‚höchsten Punkts‘ liegende Gründe, ganz andere Charaktere und -funktionen des Selbstbewusstseins, der ‚reinen und ursprünglichen Apperzeption‘, des ‚Aktus der Spontaneität‘ und des sie formulierenden Satzes Ich denke ins Auge zu fassen. Diese internen Gründe aus Kants reifer Leitfaden-Theorie des Selbstbewusstseins, des Denkens, der Spontaneität und der Apperzeption haben sich erkennbar aus Überlegungen ergeben, die zunächst Gelegenheitsreflexionen in den Analysen des Paralogismus’ der vorkritischen Seelen-Ontologie waren und auf dem Weg über Retraktationen in den Prolegomena sowie über handschriftlich dokumentierte Werkstattreflexionen aus dieser Zeit zu ihrer endgültigen buchtechnischen Gestalt in der zweiten Auflage der Ersten Kritik gefunden haben. Es ist dies ein Weg, wie er nur allzu typisch für eine Philosophie ist, die diesen Namen nicht zuletzt deswegen verdient, weil sie nach dem trefflichen Wort Husserls eine Arbeitsphilosophie ist, also die Philosophie eines Denkers, der keine ‚Anstrengung des Begriffs‘ auch dann scheut, wenn sie ihn zeitweise Umwege, Abwege, Holzwege und Irrwege kostet, vorausgesetzt, dass es ihm ungeachtet der unvermeidlichen „Erkenntnis in Zerstreuung“³² immer wieder von neuem gelingt, auf einen kohärenten Weg weiterführender Einsichten zurückzufinden. Den Anfang dieses verschlungenen, aber kohärenten Wegs von den einschlägigen Gelegenheitsreflexionen der Paralogismus-Analyse bis zur reifen
31 Wieland, 1967, S. 407 f. 32 Vgl. Henrich, 2011 c, S. 132– 68; zur speziellen systematischen Frage der Zerstreuung des moralischen Bewusstseins, vgl. unten die Abschnitte IV und V.
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Konzeption des ‚höchsten Punkts‘ bildet der Gedanke: „Ich, als denkend Wesen, bin das absolute Subjekt aller meiner möglichen Urteile“.³³ Diesen Gedanken präzisiert und verschärft Kant bei der ersten publizistischen Gelegenheit zu dem Gedanken: „Also ist Denken so viel als Urtheilen“,³⁴ spitzt ihn in einem nächsten Schritt in einer ungefähr gleichzeitigen Werkstatt-Aufzeichnung zu dem Gedanken zu: „Wir können nur durch Urteile denken“,³⁵ und fasst beide schließlich in der abstrakten These zusammen: „Das Denken, für sich genommen, ist bloß die logische Funktion“.³⁶ Vor allem die durch diese Schrittfolge erlangte Klarheit über den urteilsfunktionalen Charakter des ‚Aktus der Spontaneität‘, den das denkende Subjekt vollzieht und den der ‚Ausspruch des Selbstbewusstseins‘ Ich denke formuliert, lässt auch klar werden, dass es sich bei diesem ‚Ausspruch‘ im Rahmen von Kants Theorie gar nicht um einen wohlformulierten Satz handelt. Es handelt sich vielmehr lediglich um eine Art von logischem Präfix, das erst durch die Ergänzung einer Art von propositionalem Suffix der Form …, dass-p zur logischen Form eines Satzes Ich denke, dass-p syntaktisch vervollständigt wird und in dieser vervollständigten Form auf Konkretisierungen des …, dass-p durch konkrete Urteile wartet – z. B. in der Form Ich denke, dass die Sonne den Stein erwärmt. ³⁷
33 Kant, KrV, A 348. 34 Kant, Prol., S. 304. – Diese Klarstellung Kants verwendet Rosefeldt daher auch zu Recht als eine der wichtigsten Prämissen seiner in methodischer Hinsicht vorzüglich gearbeiteten und vieles Wichtige klärenden Untersuchung, vgl. Rosefeldt, 2000, S. 9 ff. 35 AA XVI, R 5650, S. 300, m. H. 36 KrV, B 428. – Kemmerling fragt im Rahmen einer aufschlussreichen hermeneutischen und systematischen Studie zum ‚verschwindenden‘ cartesischen cogito, ergo sum: „Was denkt der Denker, wenn er denkt, daß er denkt“, (Kemmerling, 1987, S. 145). Zumindest im Rahmen von Kants Konzeption der logischen Funktion des Ich denke ist diese Frage falsch gestellt. Die Frage, die das Ich denke am ‚höchsten Punkt‘ mit dessen logischer Funktion für das Urteilen verbindet, erkundigt sich vielmehr, wie der Denker denkt, wenn er denkt, dass er denkt. Kants Antwort auf diese wie-Frage besagt daher im ersten Schritt, dass der Denker jedenfalls und mindestens in bestimmten logischen Formen bzw. Urteilsformen bzw. mit Hilfe von bestimmten logischen Funktionen bzw. Urteilsfunktionen denkt, wenn er denkt.– Es ist in diesem Zusammenhang irritierend, dass auch ein vielfach so klarsichtiger Interpret von Kants einschlägigen Texten wie Carl diesen wie-Aspekt verfehlt, wenn er bemerkt: „Was immer über dieses Ich gesagt werden kann, besteht in der Angabe darüber, was es denkt“ (Carl, 1992, S. 67, Hervorhebung R. E.), während er fast im selben Atemzug bemerkt, dass „es Kant um die Form geht, in der wir Gedanken haben“ (ebd., S. 67, Hervorhebung R. E.), also doch wohl darum, wie wir Gedanken haben. Dass auch die kategorialen Formen der Gegenstandsbeziehungen der Urteile zum Wie des urteilsförmigen Denkens des Denkenden gehören, kommt im zweiten Schritt, dem der Kategorien-Deduktion noch hinzu. 37 Dass der ‚formale Satz der Apperzeption‘ Ich denke im Aufbau von Kants Theorie der Erfahrung nicht in jeder Hinsicht ein selbstgenügsames Gebilde ist, sondern funktional mit der propositionalen Syntax „Ich denke, dass-p“ verflochten ist, durch die er mit jedem Urteil-über-
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Erst im Licht der vollständigen, urteilsfunktionalen Konzeption des ‚höchsten Punkts‘ kann auch klar werden, dass die Spontaneität und die Selbsttätigkeit, die Kant in diesem Zusammenhang thematisiert, in Wahrheit die formalen Hauptcharaktere des Urteilsakts sind, und zwar noch ganz unangesehen der logischen Formen und der Inhalte, die die Urteile haben, die das urteilende Subjekt durch spontane, selbsttätige Akte – und nur durch solche Akte – stiftet. Sie sind daher gerade nicht die Charaktere eines selbstgenügsamen Akts des Denkens, der durch seine Ziel- und Inhaltslosigkeit sein Subjekt überdies dazu verurteilen würde, sich in einem nicht näher zu charakterisierenden Kreis um sich herumzudrehen.³⁸ Kant gibt zu verstehen, dass ein Urteilsakt, der diesen Namen verdient, von seinem Subjekt nur spontan, „nur vom Subjekte selbst verrichtet werden kann“.³⁹ Erst im Licht dieser Voraussetzungen kann daher auch verständlich werden, warum Kant berechtigt ist, den Urteilsakt-Charakter der Spontaneität in einem Atemzug mit dem Selbst-Bewusstsein zu thematisieren. Denn dies Selbst-Bewusstsein ist in diesem Licht gar nichts anderes als das Bewusstsein des urteilenden Subjekts, seine Urteilsakte selbst, also spontan zu vollziehen und sie nicht einer unverfügbaren super-, sub- oder intrapersonalen Instanz oder Macht zuschreiben zu müssen oder auch nur zu können.⁴⁰ Der Weg von den urteilsfunktionalistischen
haupt verbunden ist, betont auch Carl, wenn er die Form „I think that […]“ benutzt, um die Form des „assessment by judgements“ zu charakterisieren, die mit Hilfe der reinen und ursprünglichen Apperzeption durch „acts of spontaneity“ in Anspruch genommen werden muss, um „my representations“ (Carl, 2007 S. 41), zu den meinen zu machen. – In dieselbe Richtung zielt in vorpropositionalistischen Zeiten auch schon Reich, wenn er diese syntaktische Funktion des ‚formalen Satzes der Apperzeption‘ Ich denke in der Form „Ich denke dies oder das“ (Reich, 21948, S. 31, 32 f., vgl. auch 33 ff.), präsentiert. Kant hat für die propositionale Ergänzungsbedürftigkeit des Ich denke indirekt durch den Gedanken vorgesorgt: „Allein ohne irgendeine empirische Vorstellung, die den Stoff zum Denken abgibt, würde der Aktus Ich denke, doch gar nicht stattfinden, und das Empirische ist nur die Bedingung […] des Gebrauchs des reinen intellektuellen Vermögens, KrV, B 422*. Die propositionale Ergänzung …dass-p des Aktus-Ich-denke repräsentiert lediglich die Form, in der der Gebrauch jeder beliebigen empirischen Vorstellung durch den Akt Ich denke des ‚reinen intellektuellen Vermögens‘ in jedem konkreten Fall eines solchen Gebrauchs stattfindet. 38 Zur Charakterisierung dieses Kreises vgl. jedoch Abschnitt IV. 39 Kant, KrV, B 130, m. H.; vgl. auch B 157*. 40 Dies selbst, für das es aufschlussreicherweise keine spezifische grammatische Kategorie gibt, ist nicht mehr als ein eigentümliches Adverb, das aber, wie Kants Theorie zeigen kann, einen äußerst wichtigen formalen Vollzugscharakter von Handlungen als Handlungen des mit Urteilsspontaneität begabten Menschen zum Ausdruck bringt. Es ist also alles andere als ein mehr oder weniger mysteriöses ‚kapitales‘ Selbst, wie es von John Lockes Konzeption des Selbstbewusstseins über George Herbert Meads Sozialpsychologie bis zu Ernst Tugendhats sprachanalytischen Versuchen von Entlarvungen von Holzwegen der neuzeitlichen Subjektivitätsphilosophie durch den philosophischen und den psychologischen Sprachgebrauch geistert.
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Gelegenheitsreflexionen der Paralogismus-Analysen in der ersten Auflage zu den handlungskonzeptionell basierten Überlegungen im Umkreis des ‚höchsten Punkts‘ wird umso aufschlussreicher, wenn man beachtet, welche Begrifflichkeit es ist, die von der praktizistischen Begrifflichkeit der Spontaneität, der Selbsttätigkeit und der im Mittelpunkt stehenden Handlungskonzeption des Urteils abgelöst wird. Denn der Begriff der Spontaneität bzw. der Selbsttätigkeit des Urteilsakts ist nichts anderes als der positive praktizistische Nachfolgerbegriff des formalen und negativen Absolutheits- bzw. Unbedingtheitsbegriffs, mit deren Hilfe Kant zunächst davon spricht, dass „Ich, als denkend Wesen, […] das absolute Subjekt aller meiner möglichen Urteile [bin]“⁴¹ und dass „die einzige Bedingung, die alles Denken begleitet, das Ich, in dem allgemeinen Satze Ich denke […] selbst unbedingt ist […] aber auch nur die formale Bedingung“.⁴² Die Spontaneität bzw. Selbsttätigkeit des Urteilsakts ist gar nichts anderes als der formale Handlungscharakter, der durch seine Absolutheit bzw. Unbedingtheit garantiert, dass der Urteilscharakter eines Urteils auf nichts anderes zurückgeführt werden kann als auf die Spontaneität, mit der das urteilende Subjekt urteilt. Wie Kant zu verstehen gibt, reicht die urteilsprägende Funktion dieser Spontaneität aber nicht nur hin, den Charakter eines Urteils-überhaupt zu prägen. Sie reicht vielmehr bis in die logische Binnenstruktur des Urteils: „In allen Urteilen bin ich nur immer das bestimmende Subjekt desjenigen Verhältnisses, welches das Urteil ausmacht“.⁴³ Also auch solche das Urteil und seine logische Form ausmachenden Verhältnisse wie das kategorische, das hypothetische und das disjunktive Verhältnis gehören in die von der Spontaneität des Urteilsakts geprägten Charaktere des Urteils. Auch die logischen Formen von Urteilen sind Resultate einer auf keinerlei externe Bedingungen zurückführbaren Spontaneität des denkend-urteilenden Subjekts.⁴⁴ An einem entsprechenden sachlichen Bedeutungsgehalt der Rede von der Spontaneität hat unter diesen Voraussetzungen auch der von Kant hier eingeführte Be-
An einem Abstieg vom Selbst zum „selbst“ hat sich Tugendhat, 1979, bedauerlicherweise nicht versucht, vgl. S. 68 ff. 41 Kant, KrV, A 348. 42 A 398, m. H. 43 B 407. 44 Mit den Überlegungen zur propositionalen, den Urteilscharakter bildenden Funktion des Denkens im Sinne des ‚formalen Satzes‘ Ich denke, dass-p sowie zur wortsprachlichen Bindung des Urteilens ist Kants Theorie offenbar nicht anfällig für die von Wittgenstein zu bedenken gegebenen irregeführten und irreführenden Gebrauchsformen des kognitiven Worts denken, vgl. Wittgenstein, 1960, §§ 22, 25, 32, 92, 95 – 97, 305 – 08, 327– 32, 339, 360, 371, 376 – 77 bzw. S. 500, 518, 534; denn sofern gilt: „Das Wesen ist in der Grammatik ausgesprochen“ (§ 371), ist das Wesen des in Kants Theorie analysierten Denkens zumindest auch in der Grammatik des ‚formalen Satzes‘ Ich denke, dass-p ausgesprochen.
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griff des Selbstbewusstseins teil. Er charakterisiert das Bewusstseins des urteilenden Subjekts, den Urteilsakt und die das jeweilige Urteil prägende logische Grundform selbst gestiftet zu haben und nicht das Medium irgendwelcher höheren oder niederen Steuerungsmächte zu sein.⁴⁵ Ein Urteil ist nur deswegen eine Handlung, weil es sich zusammen mit seiner jeweiligen logischen Form der Spontaneität des jeweils urteilenden Subjekts verdankt. Das von Kant hier thematisierte Selbst-Bewusstsein ist das Spontaneitäts-Bewusstsein jedes denkendurteilenden Subjekts, das diesen Namen verdient. Das Subjekt des so strukturierten Selbstbewusstsein kehrt daher auch nicht auf irgendwelchen schwer zu analysierenden ‚reflexiven‘ Wegen zu sich zurück, um sich in irgendwelchen ‚selbstrepräsentierenden‘ Formen – z. B. einer ‚intellektuellen Anschauung‘ – zu erfassen. Das Subjekt eines solchen Selbstbewusstseins erschöpft sich vielmehr in dem Spontaneitätsbewusstsein, die Urteile, die es trifft, mitsamt ihren logischen und ihren gegenstandsreferentiellen, kategorialen Formen selbst zu treffen. Es ist daher auch eher irreführend, mit Blick auf das von Kant thematisierte Selbstbewusstsein von einem epistemischen Selbstbewusstsein zu sprechen. Jedenfalls umfasst dies Selbstbewusstsein weder irgendeinen für seinen jeweiligen Träger thematischen Erkenntnisgehalt noch sonst irgendeinen thematischen kognitiven Gehalt. Es ist ausschließlich das unthematische Bewusstsein des formalen Vollzugscharakters seiner Urteilsakte, diese Akte selbst zu vollziehen.⁴⁶ Orientiert man sich an diesen den Begriff des Selbstbewusstseins bestimmenden Momenten aus Kants Konzeption des ‚höchsten Punkts‘, dann fällt auch ein erstes klärendes Licht auf die seine Praktische Philosophie abschließende Formel vom moralischen Selbstbewusstsein. Denn unter diesen Voraussetzungen 45 Diese Möglichkeit, die selbst-Komponente in der Rede vom Selbstbewusstsein im Rahmen einer Analyse des Bewusstseins der denkend-urteilenden Selbst-Tätigkeit bzw. Spontaneität fruchtbar zu machen, mit der das Subjekt eines Urteils eben dies Urteil und dessen logische Form unabhängig von allen nicht-personalen und über-personalen Instanzen bildet, übersieht Searle, 1992, S. 141– 43. Es geht Searle hier um die Prüfung der allgemeinen These, dass jeder Fall von Bewusstsein auch ein Fall von Selbstbewusstsein sei. Er hält die zweigliedrige Alternative zwischen einer zutreffenden, aber trivialen und einer falschen Option für erschöpfend. Bei der zutreffenden, aber trivialen Option handelt es sich um den Fall, von der Aufmerksamkeit auf eine Situation zur Aufmerksamkeit auf diese Aufmerksamkeit überzugehen, also sich seiner Aufmerksamkeit bewusst zu werden, vgl. ebd., 143 f.; bei der falschen Option handelt es sich um die Fälle, in denen sich eine Person bewusst wird, in einer außerordentlichen und unintendierten Situation zu sein, vgl. ebd., S. 142– 43. Wie seine ergänzende Bemerkung über „unity of self“, ebd., S. 141, indessen zeigt, scheint er sich zwar an einem Problemkomplex zu orientieren, dem gerade auch Kants Theorie des Spontaneitätsbewusstseins gewidmet ist. Nach Lösungen für ihn sucht er indessen in der Neurophysiologie (vgl. oben Fußnote 10). 46 Diesen nicht-epistemischen Charakter des von Kant analysierten Selbstbewusstseins verkennt auch Tugendhat, 1979, vgl. S. 44 ff.
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ist auch durch diese praktische Gestalt des Selbstbewusstseins das Bewusstsein des Menschen geprägt, ein Urteil mitsamt dessen charakteristischer Form selbst zu fällen und nicht als das Medium oder gar als das Opfer externer Instanzen oder Mächte zu funktionieren – das Urteil über den moralischen Charakter einer von ihm praktizierten oder intendierten Handlungsweise. Die Form eines solchen moralischen Urteils kann selbstverständlich nur mit Hilfe von Mitteln beschrieben werden, wie sie durch das „principium der diiudication“⁴⁷ festgelegt werden, als das der Kategorische Imperativ auch bei der Thematisierung des moralischen Selbstbewusstseins fungiert.⁴⁸ Nur wenn es gelingt, eine moralische Urteilsform zu finden, die in dem ‚formalen Satz‘ Ich denke, dass-p das propositionale Suffix … dass-p konkretisiert und vom praktisch-moralisch urteilenden Subjekt als die Form seiner praktisch-moralischen Selbstbeurteilung adoptiert werden kann, hat das von Kant konzipierte praktisch-moralische Selbstbewusstsein und mit ihm die praktische Subjektivität das angemessene praktische fundamentum in re (vgl. hierzu unten Abschnitt V).
IV Achtet man genügend darauf, dass das Ich denke des ‚Aktus‘ der Spontaneität der ‚reinen und ursprünglichen Apperzeption‘ erst in der urteilsfunktionalen Gestalt des Ich denke, dass-p eine ihm angemessene sprachliche Form findet, dann zeigt sich auch zur Genüge, dass man diesen Akt von Anfang an gründlich missversteht, wenn man ihn mit einem autarken kognitiven Akt identifiziert, der in selbstgenügsamer Weise die Struktur desjenigen ausmachen würde, was Kant gelegentlich auch als das Selbstbewusstsein apostrophiert. Nun kann man allerdings auch nicht einfach darüber hinwegsehen, dass das Missverständnis einer solchen Autarkie bzw. Selbstgenügsamkeit durch einige Schlüsselstellen im Text der Ersten Kritik begünstigt wird. An prominentester Stelle kommt hier selbstverständlich Kants suggestive, schon zitierte Bemerkung in Frage, dass wir uns um „dieses Ich, oder Er oder Es […], welches denkt, […] in einem beständigen Zirkel herumdrehen […] müssen“,⁴⁹ als wenn eine im strikt formalen Sinne zirkuläre Struktur für dies scheinbar autarke Selbstbewusstsein charakteristisch wäre. Will man die Konzeption des denkend-fungierenden Subjekts und damit auch die des praktischmoralischen Selbstbewusstseins nicht einem störenden, obwohl unnötigen und
47 Kant, AA XXVII,1, S. 274, XXVII, 2.2, S. 1428, m. H. 48 Vgl. Kant, MS, S. 437 ff. 49 KrV, A 346, B 404; vgl. auch A 366.
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scheinbar textbasierten Zirkularitätsverdacht aussetzen, dann wird man den von Kant ja offensichtlich intendierten sachlichen Gehalt seiner Zirkularitäts-These zunächst um seiner selbst willen klären müssen. Hier ist zu beachten, dass Kant den Intentionsbereich seiner anschaulichen Rede von einem Zirkel sogleich selbst in hinreichend bestimmter Form einschränkt, in dem wir uns um das denkende Ich ‚herumdrehen‘ müssen. Es geht dabei ausschließlich um die sehr speziellen Fälle, in denen „wir uns seiner Vorstellung jederzeit schon bedienen müssen, um von ihm irgendetwas zu urteilen“.⁵⁰ Doch es ist nur allzu aufschlussreich, dass Kant den wichtigsten logischen Einblick in die hier angedeutete Urteilsform ebenfalls erst auf dem Weg gefunden hat, der von den paralogistischen Analysen der ersten Auflage der Ersten Kritik zur Ausarbeitung der Konzeption des ‚höchsten Punkts‘ in der zweiten Auflage führt. Erst in den Prolegomena kann er klärend mitteilen, dass es sich bei diesen speziellen Urteilen nur um solche handelt, bei denen sich die „Prädikate des inneren Sinnes […] auf das Subjekt [beziehen] und dieses kann nicht weiter als Prädikat irgend eines andern Subjekts gedacht werden“.⁵¹ In einer handschriftlichen Aufzeichnung notiert er eine klärende Exemplifizierung dieses Typs der Urteile-desinneren Sinns durch die Aufzählung „Ich bin, Ich denke, Ich handele“.⁵² Insbesondere mit Blick auf die Konzeption des praktisch-moralischen Selbstbewusstseins muss es zu denken geben, dass Kant auch das Ich handele zum Typus des Urteils-des-inneren-Sinns schlägt. Denn dieses praktische Urteil-des-innerenSinns bildet einen integralen Teil jeder Maxime und damit des wichtigsten direkten Materials der moralischen Beurteilung mit Hilfe des moral-spezifischen Kategorischen Imperativs.⁵³ Es bildet also einen integralen Teil des praktischmoralischen Selbstbewusstseins (vgl. unten Abschnitt V). Nun gilt allerdings zunächst einmal ganz allgemein und unabhängig von diesen speziellen Fällen, dass wir uns jederzeit ‚der Vorstellung von demjenigen schon bedienen müssen, von dem wir irgendetwas zu urteilen suchen‘ – nicht nur im Falle der Urteile ‚vom Ich‘, sondern in allen möglichen Fällen der Urteile von irgendetwas. So müssen wir uns beispielsweise in dem Erfahrungsurteil Die Sonne erwärmt den Stein der Vorstellung von demjenigen, wovon wir urteilen – hier also der Vorstellung von der Sonne – schon bedienen, wenn wir von ihr irgendetwas – hier also, dass(!) sie den Stein erwärmt – urteilen. Andernfalls könnten wir gar nicht verstehen, wovon wir jeweils überhaupt irgendetwas urteilen. Kants allzu
50 A 346, B 404, m. H. 51 Kant, Prol., S. 334, m. H. 52 Kant, AA XVIII, S. 266. 53 Zum rechts-spezifischen Kategorischen Imperativ und seinem maximenspezifischen Beurteilungsfeld vgl. Kant, MS, S. 229 – 31.
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abstrakte logische Charakterisierung der Urteilsform, die er in der Einleitung zum Paralogismus-Kapitel der ersten Auflage zum Ausgangspunkt für eine zirkulärmetaphorische Veranschaulichung des Selbstbewusstseins zu machen scheint, ist daher zunächst einmal schon deswegen nicht ohne Weiteres geeignet, eine zirkuläre Struktur im strikten Sinne plausibel zu machen, weil man sie in dieser abstrakten Form gar nicht strikt auf die Urteile-des-inneren-Sinnes einschränken kann. Ausschlaggebend für das angemessene Verständnis von Kants sachlichem Motiv, die Zirkel-Metaphorik im Blick auf die Fälle einzuführen, in denen wir irgendetwas ausschließlich ‚vom Ich‘ urteilen, ist vielmehr eine ganz bestimmte formale Komplikation, wie sie sich in paradigmatischer Weise im Fall des Urteilsdes-inneren-Sinns Ich denke aus einer vierfachen Rollenverteilung des von Kant apostrophierten Ich ergibt. Es ist diese vierfache Rollenverteilung, die gleichsam die vier Quadranten eines Kreises bestimmt.⁵⁴ Diese Zirkel-Metaphorik erweist sich bei genauerem Hinsehen also als das Ergebnis eines Versuchs zu zeigen, wie man in anschaulicher Weise eine vierfache Rollenverteilung für das von ihm apostrophierte Ich charakterisieren kann. Die eine Rollenverteilung hat Kant durch die komplementären Charakterisierungen berücksichtigt, dass man im Rahmen von Urteilen-des-inneren-Sinns – und nur von solchen Urteilen – einerseits ‚irgendetwas vom Ich urteilt‘ und dass man andererseits ‚sich der Vorstellung vom Ich bedient‘. Doch diese Rollenverteilung durchschaut man nur dann, wenn man zunächst die schon benutzten Reflexionen „Ich, als denkend Wesen, bin das absolute Subjekt aller meiner möglichen Urteile“⁵⁵ und „In allen Urteilen bin ich nur immer das bestimmende Subjekt desjenigen Verhältnisses, welches das Urteil ausmacht“⁵⁶ zu Hilfe nimmt. Denn damit stellt Kant klar, dass dies absolute Subjekt als denkendes Wesen nicht nur in allen Fällen von Wahrnehmungsurteilen, Erfahrungsurteilen, praktischen Urteilen und ästhetischen Urteilen die logischen Binnenstrukturen dieser Urteile bestimmt, sondern auch in allen Fällen von Urteilen-des-inneren Sinns – bestimmend nämlich ‚dasjenige Verhältnis, welches das Urteil ausmacht‘, also im Fall des Urteils-des-innerenSinns Ich denke bestimmend das kategorische Verhältnis zwischen dem logischen Subjekt Ich … und dem Prädikat-des-inneren-Sinns …denke dieses Urteils. Daher ist ‚die Vorstellung vom Ich‘, deren man ‚sich bedient‘, indem man ‚das Denken vom Ich urteilt‘, die Vorstellung von nichts anderem als die vom ‚Ich als absolutem, die jeweiligen urteilsinternen Verhältnisse bestimmenden Subjekt‘; und 54 Vgl. zu dieser trefflichen geometrischen Vervollständigung der Zirkel-Metaphorik in einem verwandten Kant-spezifischen Kontext schon Reich, 21948, S. 28 – 29. 55 Kant, KrV, A 348. 56 B 407.
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das ‚irgendetwas‘, das man ‚vom absoluten Subjekt urteilt‘, ist das Attribut des Denkens, das man von ihm ‚als denkendem Wesen‘ auch nur mit Hilfe des Prädikats-des-inneren-Sinns … denke ‚urteilt‘. Der springende Punkt in diesem Zusammenhang zeigt sich besonders klar, wenn man die treffliche terminologische Prägung zu Hilfe nimmt, die Husserl für das fungierende Ich gefunden hat: Durch das Urteil Ich denke wird das ursprünglich spontan denkend-urteilend-fungierende Ich und seine die urteilsinternen logischen Verhältnisse denkend-bestimmende Funktion thematisiert, während das urteilsinterne kategorische Verhältnis des logischen Subjekts Ich … und des Prädikats-des-inneren-Sinns … denke des Urteils Ich denke wiederum von diesem spontan denkend-urteilend-fungierenden Ich, also vom absoluten Subjekt durch dessen spontan denkend-bestimmende Funktion bestimmt wird. Das von Kant in seiner Theorie thematisierte Ich ist das unthematisch fungierende Ich der spontanen Regie über jede logische Urteilsform – und daher auch über die logische Form jedes Urteils-des-inneren-Sinns. Die erste wichtige Rollenverteilung, die Kant mit der Zirkel-Metaphorik des Selbstbewusstseins anschaulich zu machen sucht, ist daher die zwischen dem unthematisch denkend-urteilend-fungierenden und dem thematisierten unthematisch denkend-urteilend-fungierenden Ich, dem absoluten Ich der urteils-internen logischen Relationenbestimmung. Erst im Licht dieser Rollenverteilung kann auch eine Schwierigkeit überwunden werden, die die Klärung des Zirkels des Selbstbewusstseins zunehmend in dem Maß begleitet, in dem die Kontrollen schärfer geworden sind, denen Theorien des Selbstbewusstseins im Licht der methodologischen Errungenschaften der Analytischen Philosophie ausgesetzt sind. Die entsprechenden Kontrollen von Kants Thesen zur Zirkularität des Selbstbewusstseins beginnen zweckmäßigerweise mit der Klarstellung, dass Kants schriftsprachliche Gestaltung der urteilsförmigen Thematisierung des Zentralakts des denkend-urteilendfungierenden Ich vom Pronomen der ersten Person Singular Gebrauch macht und der Eindeutigkeit halber mit Hilfe des kleingeschriebenen Pronomens ich denke formuliert werden sollte. Davon verschieden ist Kants von dem denkenden Zentralakt abstrahierende sprachliche Gestaltung der nicht-urteilsförmigen Thematisierung des Subjekts dieses Zentralaktes mit Hilfe des bestimmten Artikels und des großgeschriebenen „das/des/dem/das Ich“ – also des unthematisch fungierenden Ich. Kant selbst hat die entsprechenden funktionalen Differenzen zum Nachteil der auf der Oberfläche seiner Texte wünschenswerten Klarheit in der Regel nicht berücksichtigt. Trägt man diesen Differenzen indessen auch in ihrer unvermeidlichen schriftsprachlichen Formulierung gebührend Rechnung, dann
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zeigt sich, dass sogar innerhalb von Kants Theorie sachlich gerechtfertigte und methodisch kontrollierbare Schritte vorgesehen sind, die einem Abstieg vom Ich zum „ich“ ⁵⁷ entsprechen – dem Abstieg nämlich vom un-thematisierten spontan denkend-urteilend-fungierenden Ich, also vom un-thematisierten absoluten, die urteilsinternen (logischen) Relationen spontan bestimmenden bzw. die urteilsinternen (logischen) Verbindungen spontan stiftenden Subjekt zum thematisierten spontan denkend-urteilend-fungierenden Ich des Urteils-des-inneren-Sinns ich denke. ⁵⁸ Kants Theorie ist daher in diesem zentralen Punkt auch nicht im mindesten mit irgendeiner Subjekt-Objekt-Spaltung, -Trennung oder einer sonstigen ontologischen oder epistemologischen Kluft zwischen einem wie auch immer konzipierten Subjekt und einem wie auch immer konzipierten Objekt befasst. Sie ist ausschließlich mit dem funktionalen Rollen- und Statusunterschied zwischen einem unthematischen und einem thematisierten Subjekt der logischen Verknüpfung von geeigneten Elementen zur formalen Einheit eines Urteils befasst.⁵⁹ Das unthematisch fungierende Ich ist der einzigartige Fall eines nichtsprachlichen Funktors, der in den logischen Formen jedes Urteilsakts als die spontaneitätstiftende Quelle zum Zuge kommt, ohne deren Inanspruchnahme dem Subjekt eines solchen Urteilsakts gar kein Urteilsakt gelingen könnte, der diesen Namen verdienen würde. Ohne diese unthematisch fungierende Spontaneitätsquelle wäre das Subjekt gar kein Subjekt irgendeines Aktes mehr, sondern nichts als ein Medium eines Affektsturms, wie er allenfalls durch evolutionäre Instinktbildungen lebensdienlich gesteuert werden könnte. Die Spontaneität dieser Quelle ist sogar so radikal, dass ein urteilsfähiges Subjekt noch nicht einmal vermeiden kann, von ihr nicht spontan Gebrauch zu machen.⁶⁰ 57 Vgl. zu diesem formelhaften Generalprogramm einer Überwindung aller am großgeschriebenen „Ich“ orientierten Theorien des Selbstbewusstseins Tugendhat, 1990, bes. S. 68 ff. 58 Zur Kant-basierten Kritik an Tugendhats Abstiegs-Programm, das in Wahrheit ein Programm zur Eliminierung aller Thematisierungen eines wie auch immer konzipierten Ich ist, vgl. auch die trefflichen, bislang allerdings programmatisch gebliebenen Andeutungen von Cramer, 1987, S. 201. 59 Das verkennt gerade mit Blick auf Kant Tugendhat 1979, vgl. bes. S. 16 f., 33 ff.; vgl. auch hierzu die treffliche, wiederum nur programmatische Kritik von Cramer, 1987, S. 201. 60 Rosefeldt, 2001, bleibt unbeschadet aller wichtigen Klärungen in der anscheinend auch durch Wittgenstein-Studien inspirierten Auffassung befangen, dass das logische Ich ausschließlich in solchen Urteilen relevant sei, in denen das Subjekt des spontanen denkenden Urteilens unmittelbar und ausdrücklich mit Hilfe des Ersten Personalpronomens thematisiert wird, also in Urteilen-des-inneren-Sinns. Damit verkennt Rosefeld jedoch, dass Kants Theorie der reinen und ursprünglichen Apperzeption eine Pointe eben auch darin hat, dass dies Ich bzw. Ich denke bzw. Ich denke, dass-p in unthematischer und unausdrücklicher Form auch dann seine Funktion ausübt, wenn ein Urteil in direkter und expliziter Weise ausschließlich z. B. einen Gegenstand möglicher Erfahrung wie z. B. die Erwärmung eines Steines durch die Sonne the-
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Hat man erst einmal den funktionalen Rollen- und Statusunterschied zwischen dem unthematisch fungierenden Ich und dem thematisierten unthematisch fungierenden Ich geklärt, dann ist es viel leichter, auch den anderen funktionalen, also den anderen Rollen- und Statusunterschieden gerecht zu werden, die Kant in der suggestiven Halbmetapher vom Zirkel des Selbstbewusstseins zusammenfasst. Die dritte Rolle hat Kant in zwei prägnanten einander ergänzenden Reflexionen auf Begriffe gebracht: „Ich, das Subject, mache mich selbst zum Object“⁶¹ und „Ich bin das original aller obiecte“.⁶² Durch seine robuste, geradezu handwerklich inspirierte Rede vom Sich-selbst-zum-Objekt-machen signalisiert Kant in unmissverständlicher Weise zweierlei: 1.) Das denkend-fungierende Ich-Subjekt macht sich überhaupt erst durch seine Bestimmung der kategorischen Form des Urteils-des-inneren-Sinns Ich denke selbst, also spontan bzw. selbsttätig zum Original, also zum ursprünglichen Muster aller Objekte; 2.) ‚das Original aller Objekte‘ ist nichts, was als Objekt am Ende irgendwelcher reflexiver Suchaktionen vorgefunden werden könnte, so dass man zu ihm in seiner Vorhandenheit nur nachträglich durch einen speziellen, egozentrischen Akt der Referenz in Beziehung treten könnte.Vielmehr handelt es sich bei der Eigenschaft, das Original aller Objekte zu sein, um eine funktionale Rollen- und Statuseigenschaft, wie sie dem spontan fungierenden Subjekt des apperzeptiven Aktes des urteilenden Denkens durch das spontane Urteil-des-inneren-Sinns Ich denke bzw. ich denke überhaupt nur verliehen werden kann. Die vierte funktionale Eigenschaft schließlich des von Kant apostrophierten Ich, die alle anderen dominiert, wird indessen auch im Fall der Urteile-des-inneren-Sinns durch Kants Gedanken berücksichtigt: „In allen Urteilen bin ich nur immer das bestimmende Subjekt desjenigen Verhältnisses, welches das Urteil ausmacht“.⁶³ Während sich die ersten drei Rollen noch einigermaßen im Horizont der referenz- und prädikat-semantischen Analysen der Gegenwart klären lassen, fasst Kant mit der Berücksichtigung der vierten Rolle des von ihm apostrophierten Ich den Schlüssel ins Auge, mit dessen Hilfe sich unmittelbar die logische Dimension öffnen lässt, in der den spontanen Verbindungsakten des denkend-urteilendfungierenden Ich-Subjekts durch eben dies Ich-Subjekt bestimmte Urteilsformen aufgeprägt werden – beispielsweise die kategorische Form, die Kant den Urteilendes-inneren-Sinns dadurch attestiert, dass er in der entsprechenden Passage der
matisiert. Denn seine Funktion zeigt sich in einem solchen Urteil darin, dass es immer noch ‚das bestimmende, also denkend-urteilende Subjekt desjenigen logischen (und kategorialen!) Verhältnisses ist, das dieses Urteil ausmacht‘. 61 Kant, op. post. I, S. 93, Kants Hervorhebungen; vgl. auch S. 58, 69, 72, 77, 79, 87, 89. 62 Kant, AA XVII, R 4674, S. 646. 63 Kant, KrV, B 407.
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Prolegomena ausdrücklich die „Prädikate des inneren Sinns“⁶⁴ als die charakteristischen logischen Funktionselemente solcher Urteile einführt.⁶⁵ Doch für diese vierte Rolle – also für die Rolle der ‚Bestimmung desjenigen Verhältnisses,welches das Urteil ausmacht‘ – kommt es gerade nicht darauf an, dass sie thematisiert und zur Sprache gebracht wird – weder mit Hilfe des Ersten Personalpronomens „ich“ noch mit Hilfe des Prädikats-des-inneren-Sinns … denke. Es kommt vielmehr ausschließlich darauf an, dass diese Rolle vom denkenden Ich in logisch fruchtbarer Weise ausgeübt wird. Daher bleibt „dieses Ich, […] welches denkt“⁶⁶ in allen Urteilen außer in dem Urteil-des-inneren-Sinns Ich denke unthematisch, ohne dass deswegen irgendetwas von seiner zentralen Funktion für den Urteilscharakter der Urteile zu kurz kommen würde. Es ist außer in diesem singulären Sonderfall nicht der thematische Bezugsgegenstand irgendeines Urteils. Insofern – und nur insofern – ist das Denken des ‚fungierenden‘ Ich „bloß die logische Funktion“.⁶⁷ Deswegen ist es in der Sprache der modernen Syntax-Theorie der höchste nicht-sprachliche Funktor unter allen von Kant analysierten Funktionalfaktoren der denkenden, urteilenden und erkennenden Subjektivität.⁶⁸ In den von Kant mit seiner Zirkel-Metaphorik ins Auge gefassten Fällen von Urteilen-des-inneren-Sinns handelt es sich daher bei dem von ihm apostrophierten Ich bei genauerem Hinsehen 1.) um das Personalpronomen „ich“(!), das im Rahmen eines solchen Urteils in der logisch-grammatischen Rolle des Subjekts dieses Urteils verwendet wird; 2.) um das Ich, das mit Hilfe des Ersten Personalpronomens „ich“ in dessen logisch-grammatischen Rolle des internen Subjekts des Urteils zum ‚originalen Objekt aller Objekte‘, also zum originalen ReferenzObjekt, zum Referenz-Objekt-Muster aller anderen Referenz-Objekte gemacht wird; 3.) um das attributive Objekt-Ich, von dem jeweils irgendein Attribut mit Hilfe eines Prädikats-des-inneren-Sinns wie … denke, … existiere oder … handle geurteilt
64 Kant, Prol., S. 334, m. H. 65 Damit beendet Kant auch das frühere Schwanken in der ersten Auflage der Ersten Kritik, ob die Formulierung Ich denke als „Begriff, oder, wenn man lieber will, […] Urteil“ (KrV, A 342, B 300) oder in logisch unbestimmter Form als „Text“ (A 343, B 401) aufgefasst werden sollte. 66 A 346, B 404. 67 B 428. 68 Zu Recht macht daher Henrich gegen Tugendhat geltend, dass es „bei der Aufklärung von Selbstbewußtsein“ darauf ankomme, „sich nach anderem als dem umzusehen, was mit dem geläufigen und trivialen Begriff einer Person gegeben ist, die als solche kompetenter Sprecher ist“ (Henrich, 1989, S. 101). Ein „Abstieg vom Ich zum ‚ich‘“, wie ihn Tugendhat, 1979, S. 68 – 90, fordert, ist daher in Kants Kontext nicht nötig. Nötig ist indessen die sorgfältige Unterscheidung zwischen der gegenständlichen Thematisierung des denkend-urteilend-fungierenden Ich-Funktors aller formalen Urteilsbildung durch ein sprachlich formuliertes Urteil-des-inneren-Sinns und diesem unthematisiert denkend-urteilend-fungierenden Ich-Funktor.
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wird bzw. dessen Vorstellung als eines Denkenden, Existierenden bzw. Handelnden sich das urteilende bzw. prädizierende Subjekt des Urteilsakts jeweils bedient; und 4.) um das Ich, das auch mit Blick auf solche Urteile das bestimmendfungierende Subjekt des Verhältnisses, speziell desjenigen kategorischen Verhältnisses des grammatisch-logischen Subjekts „ich“ und eines Prädikats-desinneren-Sinns ist, das als kategorisches Verhältnis jeweils auch ein Urteil-desinneren-Sinns als Urteil ausmacht. Welche Tragweite mit der Berücksichtigung des spontan denkend-urteilendfungierenden Ich in Kants Theorie verbunden ist, lässt sich auch indirekt ermessen, wenn man die Funktoren-Sprache der modernen Syntax-Theorie mit der Sprache der überlieferten Metaphysik vergleicht, in der Kant diese Tragweite gelegentlich verdeutlicht. Denn in dieser Sprache ist „das denkende Ich […] die Seele“⁶⁹ und „Ich, als denkend, heiße Seele“.⁷⁰ Insofern ist die Seele unter der Kennzeichnung das Ich der denkend-urteilende Funktor. Ein Wesen, das von diesem spontaneitätstiftenden denkend-urteilend-fungierenden Ich zugunsten von Urteilen als Urteilen Gebrauch macht, wird daher von diesem Ich gleichsam beseelt. Stellt man diesen Rückgriff auf die Sprache der überlieferten Metaphysik der Seele gebührend in Rechnung, dann zeigt sich unter einem anderen Aspekt die Tragweite vielleicht sogar noch prägnanter, die Kant für seine Theorie der ursprünglichen und reinen Apperzeption des spontanen denkenden Urteilens ins Auge fasst, wenn er das Vermögen zu solchen Akten als „das Radikalvermögen aller unserer Erkenntnis“⁷¹ auffasst. Denn im Licht von Kants Theorie ist die so konzipierte Seele gar nichts anderes als eben dieses Radikalvermögen. Die Spontaneität, zu der es seine Inhaber befähigt, bildet insofern den genuinen ‚seelischen‘ Charakter aller Akte, durch die seine Inhaber von ihm Gebrauch machen. Im Medium der Akte des Denkens und des Urteilens – und nur in diesem Medium – zeigt sich die so verstandene Seele. Kants Bemerkung, dass der spontane Akt des denkend-urteilenden Ich auch jeder Erfahrung – eigentlich: jedem Erfahrungsurteil bzw. jeder Erfahrungserkenntnis ⁷² – als subjektive Bedingung 69 Kant, KrV, A 361. 70 A 342, B 400. 71 A 114. 72 In der ersten Auflage der Ersten Kritik respektiert Kant einen Unterschied ausschließlich zwischen „viel Wahrnehmungen“ und „einer und derselben Erfahrung“, zu der „alle Wahrnehmungen […] gehören“, vgl. A 110. Erst in den Prolegomena hat er die logische und die kategoriale Struktur der vielen möglichen Erfahrungsurteile und deren Abhängigkeit von den ebenfalls vielen möglichen und für den Gewinn von Erfahrungsurteilen nötigen Wahrnehmungsurteilen durchschaut, vgl. IV 298 ff. Die Tragweite dieser Einsicht in die distributiv-plurativen empirischen Urteilstypen zugunsten des unitären Ganzen der Erfahrung kann schwerlich überschätzt werden. Zu Recht schreibt Vleeschauwer im Anschluss an Erdmann den Fortschritt
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‚anhängt‘, gibt daher zu verstehen, dass und inwiefern auch die dem Menschen mögliche Erfahrung zu der ‚seelischen‘ Tragweite der spontanen Akte des denkenden Urteilens gehört, zu denen das Radikalvermögen aller Erkenntnis seine Inhaber befähigt – insofern nämlich, als es auch einem Erfahrungsurteil wie Die Sonne erwärmt den Stein so ‚anhängt‘, dass diese Form durch das Urteil-des-inneren-Sinns „Ich denke, dass die Sonne den Stein erwärmt“ direkt thematisiert und zur Sprache gebracht wird.⁷³
V Wenn das Selbstbewusstsein das Bewusstsein eines denkend-urteilenden Subjekts ist, das der Urteile, deren es fähig ist, nur insofern fähig ist, als es sie – und vor allem ihre logischen Formen – selbst, also spontan bilden kann, dann kann auch das moralische Selbstbewusstsein, das Kant thematisiert, nur ein spontan moralisch urteilendes Bewusstsein eines solchen Subjekts sein. Die Urteilsför-
von der ersten zur zweiten Auflage der Ersten Kritik vor allem der Einsicht in die strukturelle Differenz zwischen Wahrnehmungsurteilen und Erfahrungsurteilen und in die funktionale Kohärenz zwischen ihnen zu, vgl. Vleeschauwer, 1937, S. 15 – 18. Er spricht ebenso zu Recht davon, dass es Kant auf dieser Linie darauf ankomme, „à mettre en évidence le rôle primordial du jugement“ (ebd., S. 16); er stellt aber ebenfalls klar, dass dies Augenfällig-machen der primordialen Rolle des Urteils nicht verwechselt werden dürfe mit einer späten Entdeckung dieser Rolle; vielmehr ist Kant dies Augenfällig-machen gelungen „grace à une plus saine conception du jugement“ (ebd., S. 284, Hervorhebung R. E.); erst mit Hilfe dieser reiferen Konzeption dokumentiere er in der berühmten langen Fußnote der Vorrede zu den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft jedoch sogar, dass er endlich „en possession complète du nouveau principe de la deduction“ (ebd., S. 17), der Kategorien sei; er hält Kants Erörterung der Strukturen und der Rollen der Wahrnehmungs- und der Erfahrungsurteile in den Prolegomena sogar für „l’essence de la nouvelle déduction“ (II, S. 476). Eine umfassende Rekonstruktion von Kants Theorie der Erfahrung wird diese Zusammenhänge zugunsten einer erheblichen Vereinfachung der Transzendentalen Deduktion fruchtbar machen können. 73 In seiner ebenso scharfsinnigen wie tiefsinnigen Untersuchung hat Gregor Damschen gezeigt (vgl. Damschen, 2012, S. 29 – 93), dass eine einzigartige philosophische Satzform durch die Eigenschaft ausgezeichnet werden können muss, einer reflexiven Anwendung, also einer Anwendung auf sich selbst zugänglich zu sein, ohne durch diese Form der Anwendung irgendeine Form eines Widerspruchs, speziell eines performativen Widerspruchs zu provozieren (vgl. Damschen, 2012, bes. S. 88 – 93). Den paradigmatischen Kandidaten für diese Satzform bildet im Rahmen von Kants Theorie die Urteilsform Ich denke, sofern ihre vollständige Form durch Ich denke, dass-p repräsentiert wird (vgl. oben Abschnitt III sowie FN 37, 44). Denn in dieser – und nur in dieser – Form ist eine Selbstanwendung in der Form (eines Urteils-des-inneren-Sinns zweiter Stufe) Ich denke, dass ich denke, dass-p möglich, ohne irgendeine Form eines Widerspruchs zu provozieren.
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migkeit dieses moralischen Selbstbewusstseins hat Kant in der Phase seiner Auseinandersetzung mit der Frage nach der prozeduralen Funktion des moralischen Kategorischen Imperativs sogleich ins Auge gefasst, wenn er ihm die Rolle eines „principium der diiudication“⁷⁴ zuschreibt. Die traditionelle terminologische Verkürzung dieser Charakterisierung durch die Rede von einem Kriterium hat er sich erst in der Phase der Ausarbeitung des rechtlichen Kategorischen Imperativs zunutze gemacht.⁷⁵ Ungeachtet dieser in der fortgesetzten Werkstattarbeit liegenden Verzögerung der terminologischen Zuspitzung ist gleichwohl spätestens durch Kants Rede vom moralischen Selbstbewusstsein klar, dass der moralische Kategorische Imperativ ein Kriterium ausschließlich der moralischen Selbstbeurteilung des Subjekts dieses Selbstbewusstseins ist und nicht eines der moralischen Beurteilung eines anderen Subjekts durch dies Subjekt oder umgekehrt. Kants wiederholte Erörterung dieser Beurteilungsform im Rahmen des QuasiBildes vom inneren Gerichtshof ⁷⁶ spricht in diesem Punkt eine hinreichend deutliche Sprache. Dennoch hat Kant gerade im Kontext dieses Quasi-Bildes einen außerordentlich wichtigen Hinweis auf eine komplexe Struktur gegeben, die diesen inneren Gerichtshof zu einem Forum stempelt, das nicht nur den Inhalt eines anschaulichen, zu didaktischen Zwecken verwendeten Bildes bildet. Diese komplexe, der bildlichen Anschaulichkeit vorgeordnete Struktur hat Kant im Auge, wenn er mit Blick auf das Beurteilungsverfahren, das auf diesem Forum durchgeführt wird, die Beteiligung eines Klägers, eines Angeklagten, eines Beistands und eines Richters ins Auge fasst.⁷⁷ Damit macht Kant offensichtlich darauf aufmerksam, dass an der forensischen Komplexität dieses Verfahrens ganz unabhängig von dessen prozeduraler Komplexität jedenfalls auch eine wohlbestimmte komplexe,vierfältige Rollenverteilung beteiligt ist. Gleichwohl bildet seine Berücksichtigung dieser Rollenverteilung nicht den springenden Punkt seiner Gerichtshof-Analogie. Sie bildet vielmehr den vorletzten Schritt der Vorbereitung auf diesen springenden Punkt. Den letzten Schritt dieser Vorbereitung bildet der Gedanke, dass es „eben derselbe Mensch“⁷⁸ ist, der in den Rollen des Klägers, des Angeklagten, des Beistands und des Richters die moralische Beurteilung einer Handlungsweise bzw. von deren Maxime ausübt. Andernfalls würde der Mensch einer ‚Zerstreuung‘ in diese vier Rollen analog anheim gegeben sein wie Kant ihn
74 Kant, AA XXVII, 2.2, S. 1428 f.; vgl. auch AA XXVII, 1, S. 274 f. 75 „[…] das allgemeine Kriterium, woran man überhaupt Recht sowohl als Unrecht (iustum et iniustum) erkennen könne“, Kant, MS, S. 229. 76 Vgl. Kant, MS, S. 438 – 40. 77 Vgl. Kant, MS, S. 439*. 78 Ebd.
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in seiner Basistheorie des Selbstbewusstseins für den kontrafaktischen Fall ‚zerstreut‘ sein lässt, dass er nicht von der logischen Fähigkeit Gebrauch machen könnte, die diversen ihm jeweils gegebenen Vorstellungen zu einer Einheit eines urteilsförmigen Gebildes zu verbinden. Den letzten Schritt der Vorbereitung des springenden Punkts und nicht diesen springenden Punkt selbst bildet der Identitäts-Gedanke ‚eben desselben Menschen‘ deswegen, weil Kant mit ihm noch vor der Ausbuchstabierung dessen stehen bleibt,was denn nun genau die Struktur des von ihm apostrophierten moralischen Selbstbewusstseins ausmacht, das hier im Mittelpunkt seiner Überlegungen steht. Die abstrakte theoretische IdentitätsThese Kants macht lediglich indirekt auf den Inhalt des apostrophierten moralischen Selbstbewusstseins aufmerksam, präsentiert aber gerade noch nicht die Form, die es als ein identitäres Selbstbewusstsein prägt. Denn als solches muss es offenbar die besondere Form eines moralischen Identitätsbewusstseins haben, also die Form eines Bewusstseins, dessen Subjekt sich spontan seiner Identität in der Vierheit der an seiner moralischen Selbstbeurteilung beteiligten Kläger/Angeklagter/Beistand/Richter-Rollen bewusst ist. Für die Präsentation der Spontaneität dieses moralischen Identitätsbewusstseins hat Kant ebenfalls die Spontaneitätsformel des Urteils-des-inneren-Sinns Ich denke bzw. Ich denke, dass-p vorgesehen. Diese Formel für das selbstbewusstseinstheoretisch wichtigste Urteildes-inneren-Sinns muss offenbar an der propositionalen Leerstelle …, dass-p nur noch durch den Inhalt des spezifisch moralischen Identitätsbewusstseins ergänzt werden, also durch einen Inhalt, der auch die Ausübung der vier Rollen umfasst, die an der moralischen Selbstbeurteilung eines Menschen beteiligt sind. Der erste Schritt zur Bildung dieses Bewusstseins besteht dann offenbar darin, dass der Inhalt des Kategorischen Imperativs aus seiner imperativischen, scheinbar subjekt-externen Lehrbuch-Form⁷⁹ in die subjekt-interne Form des spontanen moralischen Identitätsbewusstseins eines Urteils-des-inneren-Sinns transformiert wird: (1) Ich denke, dass ich jede meiner Handlungen so gestalten muss, dass die Maxime meines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten kann. Die Personal- und die Possesivpronomina dieser Formen signalisieren schon unabhängig von den vier forensischen Rollen noch eine andere, vielfache Rollenidentität,⁸⁰ die das Subjekt dieses Bewusstseins spontan übt – seine Identität 79 Vgl. Kant, KpV, S. 30. 80 Im Basistext von Kants Theorie des Selbstbewusstseins, KrV §§ 16 ff., spielen die Demonstrativpronomina offensichtlich die Rolle von sprachökonomisch verkürzten Identitätssignalen: Z. B. der possessivistisch formulierte Halbsatz „Denn die mannigfaltigen Vorstellungen, die in
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mit einem bestimmten Handlungssubjekt und einem bestimmten Willensmaximen-Subjekt sowie mit einem Subjekt, das sich verpflichtet, seine Handlungsweisen und seine Willensmaximen im Licht eines nomologisch-universellen Kriteriums zu beurteilen. Die vier forensischen Rollen kommen nur, aber auch immer dann zum Zuge, wenn ‚eben der selbe Mensch‘ in den Rollen des Klägers, des Angeklagten, des Beistands und des Richters zu beurteilen sucht, ob eine konkrete moralrelevante Handlungsweise so gestaltet ist, dass deren Willensmaxime jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten kann. Es handelt sich daher nicht einfach um eine nicht weiter begründbare moralanthropologische Identitätsthese Kants, wenn er die vier forensischen Rollen von einem und demselben Menschen ausgeübt sieht. Es ist vielmehr eine und dieselbe Form der moralischen Beurteilung einer Handlungsweise und der sie leitenden Willensmaxime, wodurch diese Identität gestiftet wird: Ein Mensch ist als Träger des moralischen Selbstbewusstseins nur insofern derselbe Mensch in der Ausübung dieser vier verschiedenen Rollen, als er in jeder dieser vier Rollen dieselbe Form einer solchen Beurteilung als einziges zuverlässiges Kriterium einer solchen Beurteilung respektiert. Nun ist dies Kriterium allerdings auch mit einer notorischen Schwierigkeit verbunden dadurch, dass es selbst „keine moralischen Begriffe voraussetzt“.⁸¹ Es scheint seine Benutzer daher schon bei der Frage, was für Handlungsweisen und sie leitende Willensmaximen auch nur als moralisch relevant in Frage kommen, im Stich zu lassen, von der Antwort auf die Frage, welche von ihnen definitiv moralisch untadelig und welche moralisch tadelhaft sind, ganz zu schweigen. Man ist bei wohlwollender Lesart zwar noch bereit, Kant zuzugestehen, dass dies Kriterium im exemplarischen Ausnahmefall der Lüge funktioniere, weil unter einem Lügen-Gesetz die wechselseitige Vertrauensmöglichkeit und damit die für die Möglichkeit gedeihlichen Zusammenlebens und Zusammenarbeitens der Menschen notwendige moralische Bedingung aufgehoben sei.⁸² Doch über eine exemplarische Erörterung und über eine allenfalls ein Teilgebiet moralischer Verpflichtungen erschließende Erörterung ist Kant auch im Licht einer solchen wohlwollenden Lesart nicht hinausgekommen. Indessen ist Kant bei exemplarischen Analysen des Lügen-Falls nicht stehen geblieben, sondern hat seine Überlegungen schließlich zu einer moral-anthropologischen Basisthese ausgearbeitet: „Die Lüge („vom Vater der Lügen, durch
einer gewissen Anschauung gegeben sind, würden nicht insgesamt meine Vorstellungen sein, wenn […]“, B 132, ist gleichbedeutend mit dem Satz Denn ich wäre nicht dasselbe Subjekt aller Vorstellungen, die in einer Anschauung gegeben sind, wenn …. 81 Patzig, 1994, S. 67. 82 Vgl. ebd. und S. 69 – 70.
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den alles Böse in die Welt gekommen ist“) ist der eigentliche faule Fleck in der menschlichen Natur„⁸³. Unter dieser Voraussetzung verwandeln sich Kants exemplarische Gelegenheitserörterung des Falles der Lüge aus einer Moralkasuistik in einen Ansatz, dessen Tragfähigkeit und vor allem Tragweite dazu taugen können muss, einsichtig zu machen, dass und inwiefern die moralische Struktur der Lüge im Licht der formalen Beurteilung mit Hilfe des Kategorischen Imperativs dazu führt, dass von ihr gleichsam wie vom faulen Fleck auf der Oberfläche einer Frucht eine unmoralische Tiefenwirkung in alle Teile der menschlichen Praxis ausgehen kann. Indessen hat Kant ungeachtet aller Vorläufigkeiten seiner kasuistischen Lügen-Analyse von Anfang an klargestellt, dass die spätere AnalogApostrophierung eines ‚faulen Flecks‘ nicht auf einer naturalistischen Verwirrung beruht: Die unmoralische Struktur der Lüge zeigt sich für die moralphilosophische Analyse von Anfang an in der noch genauer zu klärenden formalen Eigenschaft der Lügenmaxime, dass sie „sich notwendig widersprechen müsse“.⁸⁴ Wohl ist es notorisch unklar, inwiefern ein und derselbe Satz – zumal wenn er eine Maxime ist – sich selbst widersprechen kann. Doch bei einem in logischen Fragen zu seiner Zeit vergleichsweise so streng blickenden Autor wie Kant lohnt sich ein Versuch allemal, dem logischen Gehalt der hinter dieser laxen Formulierung stehenden Intuition auf die Spur zu kommen, gleichgültig, ob er letztlich zugunsten oder zuungunsten von Kants theoretischen Intentionen ausgeht. Immerhin hängt davon ab, ob wir zu Kant auch in der moralphilosophischen Schlüsselfrage „nur mit dankbarer Bewunderung aufblicken können“.⁸⁵ Denn wer möchte nicht über die Struktur der Selbstverständlichkeit aufgeklärt werden, mit der jeder Mensch inmitten der lebenslangen widerspruchsträchtigen kognitiven und praktischen Zumutung seines praktischen Alltags glaubt oder hofft oder wünscht, wenigstens in moralischer Hinsicht ‚eben derselbe Mensch‘ zu bleiben?
VI Inzwischen hat sich mehrfach und unter verschiedenen Aspekten gezeigt, dass sich das Zutrauen in eine solche Intuition zugunsten von Kants Intentionen lohnt. Man muss die traditionelle Rekonstruktion der Form des Beurteilungsverfahrens, das der Kategorische Imperativ entwirft, allerdings in mehrfachen Hinsichten strenger gestalten und gerade in formaler Hinsicht besser durchsichtig machen als es in aller
83 Kant, AA VIII, S. 422. 84 Kant, GMS, S. 422. 85 Frege, 1961, S. 101.
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Regel unternommen worden ist.⁸⁶ Vor allem muss man diese Beurteilungsform im Licht von Kants Thematisierung der identitären Struktur des moralischen Selbstbewusstseins von Anfang an als die Form spontaner moralischer (Selbst‐)Beurteilung von Maximeninhabern bzw. Akteuren konzipieren. Mit dem ersten Schritt muss die Lügenmaxime daher aus ihrer randständigen Rolle als wichtiges, aber okkasionelles exemplarisches Material zur Anwendung eines abstrakten formalen Beurteilungsverfahrens für beliebige moralisch relevante Maximen und Handlungsweisen gelöst werden und als das einzigartige Kernparadigma spontaner moralischer (Selbst‐)Beurteilungen von Maximeninhabern den Anfang des Beurteilungsverfahrens bilden: (2) Ich lüge in Situationen vom Typ S sodann muss die triviale logische Universalisierung der (Lügen‐)Maxime – also vor allem die Umformung des individuellen ich der Maxime in den Quantor alle bzw. jeder zusammen mit dessen Referenzbereich der Menschen oder Personen – (3) Jede Person lügt in Situationen vom Typ S durch eine Operation der Nomologisierung ergänzt werden, durch die die Form des faktischen Lügen-Wollens und -Handelns aller individuellen (Lügen‐) Maximeninhaber in die gesetzlich normierte Form des Müssens oder Sollens ihres Lügen-Wollens und -Handelns transformiert wird: (4) Jede Person ist verpflichtet, in Situationen vom Typ S zu lügen. Sodann muss – und das ist der erste wichtige Schritt der Respektierung der komplexen Verflechtung von Spontaneität und Identität – die spontane Selbstidentifizierung des individuellen (Lügen‐)Maximeninhabers mit einem der gesetzesunterworfenen und -konformen Lügner (in der Rolle des ‚Angeklagten‘) einen eigenständigen Schritt im formalen Rahmen der logischen Selbstbeurteilung des (Lügen‐)Maximeninhabers bilden: (5) Ich bin verpflichtet, in Situationen vom Typ S zu lügen. Erst diese Selbstidentifizierung eröffnet einem individuellen Maximeninhaber die Möglichkeit, die Form des Verhältnisses selbst zu beurteilen, in dem die charakteristische Erfolgspräsupposition seiner Lügenmaxime und die charakteristische Erfolgsbedingung steht, der er diese Erfolgspräsupposition im Einzugsbereich eines gesetzlichen Lügengebots aussetzt: Denn einerseits setzt ein Inhaber der Lügenmaxime voraus, dass es in der Gestalt des jeweiligen Adressaten der von ihm praktizierten Lügenmaxime wenigstens eine Person gibt, die auf die Wahrheit des propositionalen Gehalts seiner Lüge zu vertrauen bereit ist:
86 Vgl. Enskat, 1990 a, 2001 b, 2006 c, 2010 d, 2010 e.
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(6)
Es gibt jemand y, der darauf vertraut, dass irgendjemand anders x wahrhaftig ist, indem x an die Adresse von y mitteilt, dass p. Andererseits gibt es im Geltungsbereich eines respektierten Lügengesetzes offensichtlich nicht wenigstens eine Person, die auf die Wahrheit des propositionalen Gehalts seiner Lüge zu vertrauen bereit ist: (7) Es gibt nicht jemand y, der darauf vertraut, dass irgendjemand anders x wahrhaftig ist, indem x an die Adresse von y mitteilt, dass-p. Zwischen der Erfolgspräsupposition (6) eines Inhabers der Lügenmaxime und der charakteristischen praktischen Konsequenz aus der Respektierung eines gesetzlichen Lügenverbots (7) besteht offenkundig ein einfacher formaler Widerspruch. Der moralische Gehalt des um die Lügenmaxime zentrierten Beurteilungsfahrens ist durch den Vertrauensgehalt der Erfolgspräsupposition der Lügenmaxime zunächst gleichsam nur stillschweigend präsent. Er wird erst durch die Reflexionen zur Sprache gebracht, die, wenn man Kants Rollenverteilung im Beurteilungsverfahren berücksichtigt, zur ‚anklagenden‘ Rolle gehören: Durch die nomologische Verschärfung der Verallgemeinerung seiner Maxime (4)⁸⁷ sowie durch die Analyse seiner vertrauensbasierten Erfolgspräsupposition (6) und durch seine Identität bzw. Selbstidentifikation mit einem dem Lügengesetz Unterworfenen (5) wird dem ‚angeklagten‘ Maximeninhaber vor Augen geführt, wie er und jeder ebenbürtige Maximeninhaber und Akteur beurteilen und erkennen kann, dass die Lügenmaxime und -praxis in Form des Widerspruchs (7.1) Es gibt jemand y, der darauf vertraut, dass ich wahrhaftig bin, indem ich an die Adresse von y mitteile, dass-p (7.2) Es gibt nicht jemand, der darauf vertraut, dass ich wahrhaftig bin, indem ich an die Adresse von y mitteile, dass-p die Aufhebung der universellen Vertrauenssolidarität zur Konsequenz hat, auf die sie nicht nur angewiesen sind, sondern die sie in jeder interaktiven und kommunikativen Situation mehr oder weniger stillschweigend in Anspruch nehmen – und zwar sogar im unsolidarischen Schutz der Lügenmaxime und -praxis.⁸⁸
87 Diese deontologische Verschärfung bildet ebenso die Verschärfung des Universalitätsgedankens, der in der moralpädagogischen, aber im Irrealis(!) formulierten Alltagsformel des Was wäre, wenn alle so handeln würden präsent ist. 88 Dass das Sittengesetz in der kantischen Fassung die ‚Solidarformel der Menschheit‘ ist, zeigt schon Cohen, 1877, S. 199 ff., 263 f.
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Es liegt fast schon auf der Hand, dass alle Handlungsweisen, die vom Strafrecht mit Sanktionen verbunden werden können, ihrer Struktur nach auf Maximen beruhen, mit denen ihre Inhaber lügenanaloge und damit Vertrauenssolidarität aufhebende Täuschungen ihrer Kommunikations-, Interaktions- und Kooperationspartner verbinden. Umgekehrt setzen dagegen die Normen des Bürgerlichen Gesetzbuchs strukturell voraus, dass die Subjekte der normierten Handlungsweisen diese Vertrauenssolidarität praktizieren. Das Beurteilungsverfahren, das der Kategorische Imperativ entwirft, ist daher durchaus nicht darauf eingeschränkt, nur ein Teilgebiet der menschlichen Praxis zu erfassen. Das bedeutet nicht, dass im Sinne von Kants Theorie das Strafrecht so etwas wie ein moralisches Minimum⁸⁹ garantieren bzw. das Bürgerliche Gesetzbuch ein moralisches Minimum voraussetzen würde. Es bedeutet ausschließlich, dass sich jeder einzelne Akteur im Rahmen seiner moralischen Selbstbesinnung prinzipiell aus eigener kognitiver Kraft die Verwerfungsbedürftigkeit jeder Maxime und jeder Handlungsweise einsichtig machen kann, zu deren Struktur solche Erfolgspräsuppositionen gehören. Die strikt rechtliche Beurteilung entsprechender Handlungsweisen durch die zuständigen ordentlichen Gerichte eines republikanischen Gemeinwesens ist auf die Beurteilung der Handlungsweisen und deren Konsequenzen für die durch sie jeweils betroffenen Interakteure des Subjekts solcher Handlungsweisen eingeschränkt. Doch den springenden Punkt dieses Beurteilungsverfahrens bildet, wie Kant durch die ausdrückliche Thematisierung des moralischen Selbstbewusstseins signalisiert, die Bindung an die in der Ersten Kritik ans Licht gebrachte Struktur des Selbstbewusstseins – an die Spontaneität des Bewusstseins, mit dem ein Maximeninhaber und Akteur selbst beurteilen und erkennen kann, ob er sich durch irgendwelche Erfolgspräsuppositionen seiner jeweiligen Maxime bzw. Handlungsweise selbst in den Widerspruch verstrickt, der das ausschlaggebende formale Indiz für die von ihm selbst intendierte bzw. praktizierte Aufhebung der universellen Vertrauenssolidarität abgibt, die er gleichwohl selbst in Anspruch nimmt,weil er wie jeder, der mit ihm ebenbürtig ist, selbst auf sie angewiesen ist. Die Form der praktischen Subjektivität ist daher diese Form des Selbstbewusstseins. Doch so wenig irgendein Subjekt des von Kant in der Ersten Kritik analysierten Selbst- bzw. Spontaneitätsbewusstseins die durch Kant analysierte Spontaneität der Urteilsförmigkeit seines Denkens gegenständlich durchschauen muss, so wenig muss ein Subjekt des moralischen Selbstbewusstseins die durch den Kategorischen Imperativ entworfene Form der moralischen Beurteilung seiner Maximen und Handlungsweisen gegenständlich durchschauen. Kant macht im Licht dieser Ur-
89 Vgl. zu dieser Konzeption – allerdings unter dem Namen eines ethischen Minimums – die in dieser Hinsicht einflussreich gewordene Schrift von Jellinek, 21908, S. 45 f.
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teilsform mit den typischen philosophischen Mitteln von Reflexion, Abstraktion und formaler Roh-Analyse lediglich nachträglich darauf aufmerksam, welche Struktur jeder Lügnermaxime und jeder Lüge auch dann zugrunde liegt, wenn der jeweilige Maximeninhaber bzw. Lügner diese Struktur gar nicht im einzelnen durchschaut. Gleichwohl bildet die Analyse dieser Struktur nicht etwa eine weltabgewandte Angelegenheit einer sich selbst genügenden philosophischen Reflexion. Sie ist als ein integraler Teil der Praktischen Philosophie ein unmittelbarer Beitrag zur Praxis selbst. Denn ihre Aneignung durch einen Maximeninhaber und Akteur eröffnet diesem zum ersten Mal die Möglichkeit, eine seine Praxis modifizierende strukturelle Einsicht zu gewinnen – die Einsicht, dass und inwiefern sich seine Praxis im Licht der Struktur, die seiner Einstellung zur Lüge unreflektiert zugrunde liegt, bewährt oder aber einer Korrektur bedarf. Diese Einsicht kann jedem Maximeninhaber und Akteur zeigen, dass und wie er seine Maximen und Handlungsweisen in der von Kant berücksichtigten ‚richterlichen‘ Rolle Schritt für Schritt selbst nicht nur prüfen, beurteilen und bewähren lassen kann. Nötigenfalls kann er sie in der Rolle eines ‚reuigen‘ und von ihm selbst ‚angeklagten‘ Maximeninhabers und Akteurs auch selbst so korrigieren, dass seine durch diese Beurteilungen und Korrekturen verworfenen Maximen und Handlungsweisen ein für alle Mal der Vergangenheit seiner Praxis und die durch diese Beurteilungen und Korrekturen gewonnenen Maximen und Handlungsweisen ein für alle Mal seiner jeweils gegenwärtigen künftigen Praxis angehören. Indessen übt dieselbe Einsicht im Bewusstsein dessen, der sie sich zu eigen macht, noch eine andere Funktion aus. Denn dadurch, dass er sie sich mit jedem von dieser einen und selben Beurteilungsform eröffneten Schritt selbst, also spontan bzw. selbsttätig zueigen macht, kann er auch einsehen, dass und warum er auch inmitten der unüberschaubaren Vielheit der praktischen Rollen seines täglichen Lebens ‚eben derselbe Mensch‘ sein kann. Das von Kant apostrophierte moralische Selbstbewusstsein ist dies durch selbstidentifikatorische Einsicht gewonnene Identitätsbewusstseins. Die Struktur der praktischen Subjektivität bildet es, weil es vom Subjekt nur in seiner alltäglichen Praxis gewonnen werden kann und weil es nur durch spontane und reflexive identifikatorische Urteilsakte des handelnden Subjekts gewonnen werden kann.
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Das ethische Gemeinwesen in Kants Religionsphilosophie Im Dritten Stück der kantischen Religionsschrift von 1793, das vom „Sieg des Guten Prinzips über das böse [Prinzip] und [der] Gründung eines Reichs Gottes auf Erden“ (Kant, AA VI, S. 93) handelt, finden wir den Umriss einer Theorie des ethischen Gemeinwesens, die sich in den vorangegangenen Schriften Kants zur Moralphilosophie (Kant, GMS 1785, KpV 1788) noch nicht findet, und die auch im späteren System der Moralphilosophie von 1797, der Metaphysik der Sitten, kein Gegenstück hat. Dem Sieg des guten Prinzips über das böse Prinzip, dem im Menschen sein natürlicher Hang zum Bösen und die ebenso natürliche Anlage zum Guten entsprechen, geht der Kampf dieser beiden Prinzipien um die Herrschaft über den Menschen (im Zweiten Stück) und die Ausführung der These von der „Einwohnung des bösen Prinzips neben dem guten oder über das radikale Böse in der menschlichen Natur“ (Kant, AA VI, S. 19) im Ersten Stück voraus. Kants philosophische Religionslehre bedient sich der populären Moralbegriffe des Guten und Bösen, die auf die menschliche Natur, die menschlichen Willensbestimmungen und Handlungen, auf die jeweiligen Reiche und manches andere bezogen werden, in sehr ausgiebiger Weise, obwohl die Kritik der praktischen Vernunft gezeigt hatte, warum das Gute und Böse, als Gegenstände oder Zwecke des Wollens, in seiner Moralphilosophie nur eine untergeordnete Rolle spielen können. Denn das Gute und Böse als Gegenstände eines unter einem obersten Moralgesetz stehenden Willens (bzw. einer Willkür) erhalten ihre Definition erst vermittelt durch das Verhältnis der Maximen des Wollens zum moralischen Gesetz, das a priori und unbedingt eine Form dieser Maximen gebietet. Der Wille, dessen Maximen diesem Gebot gemäß sind, und die Willkür, die diese Maximen annimmt, weil sie diesem Gesetz gemäß sind, sind der gute Wille und die gute Willkür, und das Gewollte dieses Wollens, oder des durch das moralische Gesetz bestimmten Begehrungsvermögens, ist das Gute. Entsprechend sind das Wollen und das Handeln, deren Maxime dem moralischen Gesetz zuwider ist, böse, und das gewollte Objekt eines solchen Willens ist das Böse. Kant legt größten Wert darauf, dass diese Begriffe erst nach der Einführung des moralischen Gesetzes als eines kategorischen Imperativs für die Maximen des Willens definiert und nicht der Handlungstheorie und Moral zu Grunde gelegt werden. Darin besteht das Paradoxon seiner Methode in der Moralphilosophie. Das liegt einmal daran, dass Kants Moral in der Nachfolge der stoischen Moralphilosophie eine Gesetzesmoral ist, im Unterschied zur Tugend- oder Wertethik der platonischen und aristotelischen Tradition. Und zum
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zweiten ist Kant der Auffassung, dass ein moralisches Gesetz als solches keine empirischen Bedingungen seiner Geltung zulassen kann, dass also sein Gebot nicht Handlungen als Mittel zu vorausgesetzten Zwecken, einschließlich des natürlichen Endzweckes aller Menschen, der sogenannten Glückseligkeit, gebieten kann, weil es dadurch seinen Gesetzescharakter der unbedingten Notwendigkeit und unbeschränkten Allgemeinheit verlöre. Denn wenn der Begriff eines guten Handlungszweckes oder der des höchsten Gutes dem Gesetz des Wollens und Handelns als Bedingung zu Grunde gelegt würde, so ließe sich dieses Gutsein des Zweckes (und sein entsprechendes Bösesein) nur empirisch, durch die Gefühle der Lust und Unlust, die mit diesem vorgestellten Zweck verbunden sind, bestimmen, und diese empirische Bedingung für Handlungsgebote macht sie zu bloßen Empfehlungen oder Ratschlägen, und beraubt sie, wie gesagt, ihres Gesetzescharakters. Nicht also die Begriffe des Guten und Bösen, als der Zwecke des Wollens und Handelns, sondern nur ein kategorischer Imperativ kann das Fundament der Moral sein. Aber in einer Religionsphilosophie, die die Natur des Menschen als desjenigen, der eine Religion hat, zu Grunde legt und die sich auf die religiösen Vorstellungen der Menschen bezieht, geht es, im Gegensatz zur Grundlegung einer Moral, um das Gut- oder Bösesein dieser Menschen, also um die Frage, ob der wollende und handelnde Mensch, der als ein Geschöpf Gottes angesehen wird, nach der Erfahrung, die die Geschichte mit ihm gemacht hat, gut oder böse ist, so, dass sich das Gut- und Bösesein seines Wollens und seiner Handlungen aus seiner guten oder bösen Natur erklären lässt. Enthält diese menschliche Natur nun zwei Prinzipien, einen angeborenen Hang zum Bösen, d. h. zur Übertretung des Sittengesetzes in der Annehmung der Maximen seines Willens, und eine gleichfalls natürliche Anlage zum Guten, d. h. zur Befolgung der Stimme der reinen praktischen Vernunft und ihres Gesetzes, so stellt sich das Leben der Individuen und der Verlauf der Geschichte der Menschheit als ein Kampf beider Prinzipien dar, wobei schon die Überschrift des Dritten Stücks den Sieg des guten über das böse Prinzip verheißt. Dieser scheint in der „Gründung eines Reichs Gottes auf Erden“ (Kant, AA VI, S. 93) zu bestehen. Aber in den ersten beiden Abschnitten des Kapitels ist von Gott noch nicht die Rede. Hier geht es um den ethischen Naturzustand und das ethische gemeine Wesen. Geht man von dem Kampf aus, den die moralische Anlage des Menschen mit seinem Hang zum Bösen führt, so resultiert er, nach Kant, nicht darin, dass das böse Prinzip ein für alle Mal besiegt wird, sondern darin, dass der Mensch sich von seiner Herrschaft befreit, aber nichtsdestoweniger weiterhin seinen Angriffen ausgesetzt bleibt, so dass seine durch das böse Prinzip angefochtene Freiheit weiterhin nur dadurch behauptet werden kann, dass der Mensch „immer zum Kampf gerüstet“ (Kant, AA VI, S. 93) bleibt. Das erinnert schon an die Schilderung
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des Naturzustandes bei Hobbes, in dem der Friedfertigste gezwungen ist, sich gegen seinen bedrohlichen Nachbarn zu rüsten, um nicht gerade durch seine Friedfertigkeit und Waffenlosigkeit zum Opfer der Aggression des anderen zu werden. Wenn der Mensch sich nach den Ursachen für diesen „gefahrvollen Zustand“ (ebd.) umsieht, so findet er, dass das seine Freiheit bedrohende Böse in ihm nicht aus seiner Sinnlichkeit, d. h. „von seiner eigenen rohen Natur“ (ebd.), stammt, die er auch als abgesonderter Einzelmensch hat, sondern „von Menschen […] mit denen er im Verhältnis oder Verbindung steht“ (ebd.). Seine Leidenschaften und die von ihnen bewirkten „Verheerungen“ seiner guten Anlage folgen nicht aus den Anreizen seiner rohen Natur, sondern aus der Vergesellschaftung mit anderen Menschen. Die These, dass die Vergesellschaftung des im Naturzustand in Isolation von seinen Mitmenschen und in Bedürfnislosigkeit lebenden Menschen ihn in die moralische Depravation führt, ist die These Rousseaus in seinem zweiten (und ersten) Discours. Rousseau hatte gegen Hobbes’ Schilderung des Naturzustandes als eines Zustandes der „competition“ zwischen den Menschen eingewandt, dass Hobbes damit das Verhalten der Menschen im zivilisierten Zustand der Gesellschaft Englands in seiner eigenen Zeit auf den Naturzustand zurückprojiziere. Hobbes beschrieb dieses Verhalten so: „Competition of riches, honour, command, or other power, inclineth to contention, enmity, and war; because the way of one competitor to the attaining of his desire is to kill, subdue, supplant, or repel the other.“ (Hobbes, Leviathan XI, S. 70) Das ist, nach Rousseau, eine angemessene Beschreibung der bürgerlichen Gesellschaft im England des 17. Jahrhunderts mit seinem blutigen Bürgerkrieg, nicht aber des menschlichen Naturzustandes, in dem es nach Rousseau noch keine Gesellschaft gibt. Kant ist offenbar Rousseau gefolgt in der Zurückführung der die menschliche Anlage zum Guten gefährdenden bösen Leidenschaften auf die Vergesellschaftung selbst. Über den Menschen in der Gesellschaft heißt es nämlich bei Kant: „Seine Bedürfnisse sind nur klein, und sein Gemütszustand in Besorgung derselben gemäßigt und ruhig. Er ist nur arm (oder hält sich dafür), sofern er besorgt, dass ihn andere Menschen dafür halten und darüber verachten möchten. Der Neid, die Herrschsucht, die Habsucht und die damit verbundenen feindseligen Neigungen bestürmen alsbald seine an sich genügsame Natur, wenn er unter Menschen ist, und es ist nicht einmal nötig, dass diese schon im Bösen versunken, und als verleitende Beispiele vorausgesetzt werden; es ist genug, dass sie da sind, dass sie ihn umgeben, und dass sie Menschen sind, um einander wechselseitig in ihrer moralischen Anlage zu verderben, und sich einander böse zu machen.“ (Kant, AA VI, S. 93 f.) Hier ist die Hobbessche competition for „honour“ ersetzt durch den Neid, der aber ebenso wie Herrschsucht und Habsucht auf dem Vergleich beruht, den die competitors in einer jeden Gesellschaft über sich und die anderen anstellen. So heißt es in der Metaphysik der Sitten über das „der Menschenliebe gerade (cont-
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rarie) entgegengesetzte Laster“ (Kant, AAVI, S. 458) des Neids: „Der Neid (livor) [ist ein] Hang, das Wohl anderer mit Schmerz wahrzunehmen, obzwar dem seinigen dadurch kein Abbruch geschieht“ (ebd.). In seiner Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784) greift Kant die Hobbessche Trias vollständig auf. Vom Menschen und seiner ungeselligen Geselligkeit heißt es, dass er „zum Widerstande gegen andere geneigt“ (Kant, AA VIII, S. 21) sei: „dieser Widerstand ist es nun, welcher alle Kräfte des Menschen erweckt, ihn dahin bringt seinen Hang zur Faulheit zu überwinden und, getrieben durch Ehrsucht, Herrschsucht oder Habsucht, sich einen Rang unter seinen Mitgenossen zu verschaffen, die er nicht wohl leiden, von denen er aber auch nicht lassen kann.“ (ebd.) In der Anthropologie (1798) heißt es über das „Vermögen, auf Andere Einfluss zu haben“ (Kant, AA VII, S. 271): „Dieses Vermögen enthält gleichsam eine dreifache Macht in sich: Ehre, Gewalt und Geld; durch die, wenn man im Besitz derselben ist, man jedem Menschen, wenn nicht durch einen dieser Einflüsse, doch durch den andern beikommen und ihn zu seinen Absichten brauchen kann. – Die Neigungen hiezu, wenn sie Leidenschaften werden, sind Ehrsucht, Herrschsucht und Habsucht.“ (ebd.) Wenn nun die menschliche, und insbesondere die bürgerliche Gesellschaft in der angedeuteten Weise die Ursache dafür ist, dass die Menschen „einander böse machen“ (Kant, AA VI, S. 94), auch ohne es abgesondert, je für sich lebend, schon zu sein, so scheint es nur zwei Wege zu geben, diesem moralischen Übelstand abzuhelfen: entweder sich aus der Gesellschaft zurückzuziehen oder aber eine Gesellschaft zu gründen, die sich der Beförderung des Guten im Menschen eigens widmet. Das Erstere ist nicht nur aus Gründen des Überlebens und wegen der Unaufhebbarkeit der wechselseitigen Abhängigkeit der Glieder einer Gesellschaft (fast) unmöglich. Es widerstreitet vielmehr einer moralischen Pflicht des Menschen, die in der Metaphysik der Sitten als eine der beiden allein möglichen Tugendpflichten, oder Zwecksetzungen, die zugleich ethische Pflicht sind, genannt werden. Da es ethische Pflicht ist, sich die Menschheit in (mir und) anderen zum Zweck zu setzen, und da ich die Zwecke des Anderen nicht selbst setzen kann, ist es Pflicht, sich die Beförderung der moralisch erlaubten Zwecke des Anderen zum eigenen Zweck zu machen. Fremde Glückseligkeit ist (neben der eigenen Vollkommenheit) eine solche Tugendpflicht, und da die Realisierung eines jeden Zweckes für den Handelnden Glückseligkeit bedeutet, so bedeutet die Beförderung der Zwecke des Anderen zugleich eine Beförderung seiner Glückseligkeit. Sind also die Zwecksetzungen des Anderen moralisch mindestens erlaubt, oder sogar ihrerseits geboten, so ist die tätige Anteilnahme an der Glückseligkeit des Anderen ein Zweck, der zugleich Pflicht ist. Das gilt für alle Menschen wechselseitig im Verhältnis zueinander, also auch für alle Mitglieder einer bestehenden Gesellschaft. Gleichgültigkeit gegenüber dem Glück des Anderen ist also nach
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Kant eine Verletzung meiner Tugendpflicht; die Menschen in einer menschlichen Gesellschaft sind also nicht bloß durch ökonomische, kulturelle und andere Bande miteinander verbunden, sondern auch durch moralische. Die Suche nach Glückseligkeit und diese selbst, die einen unvermeidlichen Zweck für alle bedürftigen vernünftigen Wesen darstellen, ist also zugleich unter moralischen Bedingungen eine Suche nach der durch gemeinsames Handeln zu realisierenden gemeinsamen Glückseligkeit. Geht es aber um die Bekämpfung der Herrschaft des bösen Prinzips über das Gute in einer menschlichen Gesellschaft, so ist es Pflicht, nach einem Mittel Ausschau zu halten, durch das dieses Ziel durch diese oder eine andere, eigens zu diesem Zweck zu stiftende, Gesellschaft gemeinsam erreicht werden kann. Denn: „Wenn nun keine Mittel ausgefunden werden könnten, eine ganz eigentlich auf die Verhütung dieses [gesellschaftlich begründeten] Bösen und zu Beförderung des Guten im Menschen abzweckende Vereinigung, als eine bestehende, und sich immer ausbreitende, bloß auf die Erhaltung der Moralität angelegte Gesellschaft zu errichten, welche mit vereinigten Kräften dem Bösen entgegenwirkte, so würde dieses, so viel der einzelne Mensch auch getan haben möchte, um sich der Herrschaft desselben zu entziehen, ihn doch unablässig in der Gefahr des Rückfalls unter dieselbe [die Herrschaft des Bösen] erhalten.“ (Kant, AA VI, S. 94) Das Böse, soweit es eine Folge der Vergesellschaftung der Menschen ist, kann also nur durch eine gesellschaftliche Vereinigung zum Zweck der Erhaltung und Vermehrung des Guten in Schranken gehalten werden, und nichts hindert daran, dass alle Mitglieder einer gegebenen und als Staat verfassten Gesellschaft, und darüber hinaus alle Mitglieder des Ganzen der menschlichen Gesellschaft über die Grenzen der jeweiligen Staaten hinaus, zur Errichtung eines solchen ethischen Gemeinwesens gewonnen werden. Vielmehr ist es, wie gezeigt, sogar ethische Pflicht, ein solches alle Menschen umfassendes und die Beförderung ihres gemeinsamen Zieles, der moralisch unbedenklichen Glückseligkeit, bezweckendes Gemeinwesen zu stiften, da die Menschen auf der geschlossenen und endlichen Oberfläche der Erdkugel allesamt Nachbarn sind, die nicht aus dieser Weltgesellschaft austreten könnten, wenn sie es auch wollten. Kant resümiert nun das bisher gesagte: „Die Herrschaft des guten Prinzips, sofern Menschen dazu hinwirken können, ist also, soviel wir einsehen, nicht anders erreichbar, als durch Errichtung und Ausbreitung einer Gesellschaft nach Tugendgesetzen und zum Behuf derselben; einer Gesellschaft, die das ganze Menschengeschlecht in ihrem Umfange zu beschließen, durch die Vernunft zur Aufgabe und zur Pflicht gemacht wird.“ (ebd., meine Textkorrektur) Kant fährt fort: „Denn so allein kann für das gute Prinzip über das Böse ein Sieg gehofft werden.“ (ebd.) Kant insistiert nun darauf, dass die Stiftung einer solchen, der Erfüllung von Tugendpflichten und der Bekämpfung des gesellschaftlich be-
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dingten Bösen, also z. B. von Ehrsucht, Herrschsucht und Habsucht und ihren ebenso bösen Folgen, gewidmete Gesellschaft eine moralische Notwendigkeit und nicht eine Sache der pragmatischen Zweckmäßigkeit sei: „Es ist von der moralischgesetzgebenden Vernunft außer den Gesetzen, die sie jedem einzelnen vorschreibt, noch überdem eine Fahne der Tugend als Vereinigungspunkt für alle, die das Gute lieben ausgesteckt, um sich darunter zu versammeln, und so allererst über das sie rastlos anfechtende Böse in die Oberhand zu bekommen.“ (ebd.) Die militärische Metaphorik einer Versammlung der Liebhaber des Guten unter der von der Vernunft ausgestreckten Fahne der Tugend als Vereinigungspunkt unterstreicht den Kampfcharakter der Auseinandersetzung zwischen den beiden Prinzipien im Menschen, der in Gesellschaft mit seinesgleichen lebt. Dann geht es Kant um die Bezeichnung des von der moralisch gesetzgebenden Vernunft geforderten Gemeinwesens und sein Verhältnis zum politischen Gemeinwesen, dem Staat: „Man kann eine Verbindung der Menschen unter bloßen Tugendgesetzen, nach Vorschrift dieser Idee, eine ethische, und sofern diese Gesetze öffentlich sind, eine ethischbürgerliche (im Gegensatz der rechtlichbürgerlichen) Gesellschaft, oder ein ethisches gemeines Wesen nennen.“ (ebd.) Gemeinsam ist diesen Gemeinwesen, die beide auch „Republik“ und „Staat“ genannt werden können, dass sie auf einer absichtlichen Vereinigung ihrer Mitglieder beruhen und nichts Natürliches sind. Aber während die Zugehörigkeit zu einem durch Rechtsgesetze eines allgemeinen Willens (als Gesetzgeber für die äußere Freiheit der Bürger) konstituierten Staat notfalls auch erzwungen werden kann, beruht das ethische Gemeinwesen auf einer bloß freiwilligen, vertragslosen und sich ständig erweitern könnenden Assoziation von Freunden der Tugend. Dass beide Gesellschaften „bürgerlich“ genannt werden, beruht darauf, dass die Rechts- und Tugendgesetze als öffentliche Gesetze gedacht werden, die für alle Angehörigen der respektiven Gesellschaften eigens verkündet (promulgiert) werden und so als von ihnen gemeinschaftlich akzeptiert angesehen werden können. Kant bestimmt nun das Verhältnis beider Gemeinwesen so: „Dieses [das ethische] kann mitten in einem politischen Gemeinwesen, und sogar aus allen Gliedern desselben bestehen, (wie es denn auch, ohne dass das letztere zum Grunde liegt, von Menschen gar nicht zu Stande gebracht werden könnte). Aber jenes [ethische] hat ein besonderes und ihm eigentümliches Vereinigungsprinzip (die Tugend), und daher auch eine Form und Verfassung, die sich von der des letzteren [politischen] wesentlich unterscheidet. Gleichwohl ist eine gewisse Analogie zwischen beiden, als zweier gemeinsamer Wesen überhaupt betrachtet, in Ansehung deren das erstere auch ein ethischer Staat, d.i. ein Reich der Tugend (des guten Prinzips), genannt werden kann, wovon die Idee in der menschlichen Vernunft ihre ganz wohlbegründete objektive Realität hat (als Pflicht, sich zu einem solchen Staate zu einigen), wenn es gleich subjektiv von dem guten Willen
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der Menschen nie gehofft werden könnte, dass sie zu diesem Zwecke mit Eintracht hinzuwirken sich entschließen würden.“ (Kant, AA VI, S. 94 f.) Das heißt: auch wenn faktisch eine solche Vereinigung niemals stattfände, wäre es dennoch Pflicht für die Menschen und also ihnen auch möglich, sich in dieser Weise unter nichterzwingbaren Tugendgesetzen zu vereinigen. Dass aber die Tugend das Vereinigungsprinzip des ethischen Gemeinwesens ist, bedeutet zweierlei: (1) ist es Tugendpflicht, sich zur gemeinschaftlichen Realisierung der durch die Sittlichkeit der Zwecksetzung bedingten Glücksseligkeit aller, also ihres höchsten Gutes zu vereinigen. Nun ist es aber unmöglich, die Sittlichkeit, also den moralischen Teil seines höchsten Gutes, eines andern Menschen direkt zu befördern, denn wenn sie nicht aus seinem eigenen Willen stammte, wäre sie gar keine Sittlichkeit. Dennoch ist (2) der Zweck der Vereinigung der Menschen zu einem ethischen Gemeinwesen die Beförderung der Tugend, d. h. des guten Prinzips in allen Mitgliedern dieser Vereinigung. Dies kann aber nur indirekt, durch gemeinsame Bekämpfung des bösen Prinzips und seiner gleichfalls bösen Folgen geschehen, nämlich insbesondere derjenigen, die gerade durch die Vergesellschaftung der Menschen entstehen. Das Dritte Stück der Religionsschrift hat zwei Abteilungen, die von der „Philosophischen Vorstellung des Sieges des guten Prinzips unter Gründung eines Reichs Gottes auf Erden“ (Kant, AAVI, S. 95) und von der „Historischen Vorstellung der allmählichen Gründung der Herrschaft des guten Prinzips auf Erden“ (ebd., S. 124) handeln. Der erste Abschnitt der ersten Abteilung handelt „Von dem ethischen Naturzustande“ (ebd., S. 95 f.) und verweist schon durch seinen Titel auf Hobbes’ Lehre vom rechtlichen Naturzustand, an der sich Kant orientiert. Zunächst wird der ethisch-bürgerliche Zustand, der nach dem Verlassen des ethischen Naturzustands zu stiften ist, mit dem rechtlich-bürgerlichen in Parallele gesetzt. Ein ethisch-bürgerlicher Zustand ist demnach „ein Verhältnis der Menschen untereinander, sofern sie […] unter öffentlichen […] zwangsfreien, d.i. bloßen Tugendgesetzen vereinigt sind.“ (ebd.) In beiden Fällen ist der liebe eilige Naturzustand durch die Abwesenheit des jeweiligen bürgerlichen Zustands definiert. Und das bedeutet: „In beiden gibt ein jeder sich selbst das Gesetz, und da ist kein äußeres, dem er sich, samt allen anderen, unterworfen erkennte.“ (ebd.) Dass sich im rechtlichen Naturzustand jeder selbst das Gesetz für den Gebrauch seiner äußeren Freiheit gibt, bedeutet, dass er ein Zustand der Rechtlosigkeit ist, denn der einzig mögliche Gesetzgeber für die äußere Freiheit ist einer, der durch seine Gesetzgebung niemandem Unrecht tun kann, der vereinigte Volkswille, la volonté générale, zu dessen Willensakten, den Gesetzen, alle diesen Gesetzen unterworfenen Staatsbürger als Mitgesetzgeber beigetragen haben oder haben beitragen können. Also gibt es im rechtlichen Naturzustand, eben darum weil jeder Mensch in ihm sich selbst das Gesetz seines äußeren Handelns gibt, gar keine allgemein
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verbindlichen Rechtsgesetze und folglich keine Rechte. Dass sich im ethischen Naturzustand jeder selbst sein Gesetz gibt, bedeutet etwas ganz anderes. Diese Gesetze sind nur subjektive Gesetze oder Maximen, also Regeln, nach denen ein rational wollendes und handelndes Wesen seine einzelnen Handlungen bestimmt, so dass jede dieser Einzelhandlungen als Fall dieser Regel angesehen werden kann. Im ethischen Naturzustande gilt also nicht das allgemeine Tugendprinzip „handle nach einer Maxime der Zwecke [d.h. der Zwecksetzung], die zu haben ein allgemeines Gesetz sein kann“ (Kant, AA VI, S. 395), durch das die Annahme der Maximen für die Zwecksetzung dem Gesetz ihrer Gesetzestauglichkeit als einschränkender Bedingung unterworfen werden. Also gibt es im ethischen Naturzustand keine Maximen, die um ihrer Konformität mit dem allgemeinen Sittengesetz willen von mir zu meinen Maximen gemacht wurden. Also entbehrt das Wollen und Handeln im ethischen Naturzustand der Sittlichkeit oder Moralität. Kant fährt fort: „In beiden ist ein jeder [auch] sein eigener Richter, und es ist keine öffentliche machthabende Autorität da, die, nach Gesetzen, was in vorkommenden Fällen eines jeden Pflicht sei, rechtskräftig bestimme, und jene [Gesetze] in allgemeine Ausübung bringe.“ (Kant, AA VI, S. 95) Das bedeutet, dass im rechtlichen Naturzustand jeder Richter über seine rechtliche Befugnis zu handeln ist, d. h. über die Kompatibilität des eigenen äußeren Freiheitsgebrauchs mit der äußeren Freiheit aller anderen nach einem allgemeinen Gesetz dieser Freiheit befindet und somit in eigener Sache nach eigenem Rechtsurteil entscheidet. Entsprechend gibt es dort auch keine Regierung als machthabende Autorität der Durchsetzung der Entscheidung eines öffentlichen Gerichtshofs, durch die sie „rechtskräftig“ wird. Also kann auch nicht entschieden werden, was in vorkommenden Fällen Rechtspflicht, Rechtspflichtverletzung und rechtliche Befugnis war. Schließlich bedeutet das Richter-in-eigener-Sache-sein im ethischen Naturzustande, dass das Urteil darüber, ob meine Maxime zumindest ethisch erlaubt ist, nicht nach einem allgemeinen Gesetz für Maximen erfolgt, das nur ihre Form betrifft, sondern nach dem moralischen Gefühl des wollenden und handelnden Subjekts selbst, das über seine Zwecke nur reflektiert. Auch in diesem Falle ist keine „öffentliche machthabende Autorität“ vorhanden, die „rechtskräftig“ und „nach Gesetzen“ (ebd.) bestimmt, was in vorkommenden Fällen eines jeden ethische Pflicht oder Befugnis sei, aber diesmal ist der Grund der, dass die Maximenwahl, als ein inneres Handeln der Willkür eines Subjekts, gar keiner öffentlichen Beurteilung (oder gar Durchsetzung) zugänglich ist. Allenfalls ein göttlicher „Herzenskündiger“ (ebd., S. 99) und Richter könnte hier eine Entscheidung treffen, d. h. „rechtskräftig bestimmen“, was Pflicht, pflichtwidrig und erlaubt war. Aber von ihm kann im ethischen Naturzustande nicht die Rede sein,
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da der Glaube an einen solchen göttlichen Richter davon abhängt, dass es objektiv gültige moralische Gesetze, einschließlich derer für die Zwecksetzung der Willkür, gibt, was aber durch die Definition des Naturzustandes generell ausgeschlossen ist. Die Parallelisierung der beiden Naturzustände nach dem Vorbild von Hobbes wird nun abgelöst durch eine Reflexion Kants über die Unterschiede zwischen beiden, die es möglich machen, dass in einem schon bestehenden politischen Gemeinwesen, das den rechtlichen Naturzustand überwunden hat, der ethische weiter fortbesteht. Diese Überlegungen sind offensichtlich durch Mendelssohns Jerusalem (1783) beeinflusst, was aber hier nicht weiter untersucht werden soll. „In einem […] bestehenden gemeinen Wesen sind alle politischen Bürger als solche doch im ethischen Naturzustande und sind berechtigt, auch darin zu bleiben; denn das jenes [politische Gemeinwesen] seine Bürger zwingen sollte, in ein ethisches gemeines Wesen zu treten, wäre ein Widerspruch (in adjecto); weil das letztere schon in seinem Begriffe die Zwangsfreiheit bei sich führt.“ (ebd., S. 95) Der Eintritt in ein ethisches Gemeinwesen unter Tugendgesetzen, das außerdem zur Beförderung der Tugend bestimmt ist, kann schon deshalb nicht erzwungen werden, weil die Tugend in der Stärke der Befolgung der Pflicht als für sich hinreichender Triebfeder des Handelns besteht. Als ein solches im Gemüt, d. h. in der Willkür, des handelnden Subjekts bestehendes Verhältnis zwischen seiner reinen praktischen Vernunft als Gesetzgeberin und dem Begehrungsvermögen sind Tugend und Tugendgesinnung weder äußerlich erkennbar noch erzwingbar. Erzwingbar sind nur äußere Handlungen und deren Unterlassung. Der Bürger eines Staates ist und bleibt also hinsichtlich dessen „völlig frei“ (ebd., S. 96), „ob er mit anderen Mitbürgern überdem [dass er unter einer rechtlichen Gesetzgebung steht] auch in eine ethische Vereinigung treten, oder lieber im Naturzustand dieser Art bleiben wolle.“ (ebd.) Allerdings dürfen, nach Kant, die öffentlich verkündeten Tugendgesetze eines ethischen Gemeinwesens nicht „der Pflicht [seiner] Glieder als Staatsbürger widerstreite[n].“ (ebd.) In einem Punkte geht das ethische Gemeinwesen allerdings über die Zuständigkeit des Staates für seine Staatsbürger hinaus: „Weil die Tugendpflichten das ganze menschliche Geschlecht angehen, so ist der Begriff eines ethischen Gemeinwesens immer auf das Ideal eines Ganzen aller Menschen bezogen, und darin unterscheidet es sich von dem eines politischen. Daher kann eine Menge in jener Absicht vereinigter Menschen noch nicht das ethische gemeine Wesen selbst, sondern nur eine besondere Gesellschaft heißen, die zur Einhelligkeit mit allen Menschen (ja aller endlichen vernünftigen Wesen) hinstrebt, um ein absolutes ethisches Ganze zu errichten“ (ebd.). Diese Universalität (eigentlich: universitas) des ethischen Ganzen des Menschengeschlechts unter Tugendgesetzen ist es, die das ethische Gemeinwesen für den Staat und seine Sachwalter suspekt machen kann, weil es seiner äußeren Gesetzgebung
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entzogen wäre. Es genügt aber hier darauf hinzuweisen, dass Kant auch in seiner Religionsschrift für einen „philosophischen Chiliasmus“ eintritt, „der auf den Zustand eines ewigen, auf einen Völkerbund als Weltrepublik gegründeten Friedens hofft“ (ebd., S. 34). Man vergleiche auch das Ende des Dritten Stücks, wo es heißt, dass die „Bearbeitung des guten Prinzips [darauf zielt,] sich im menschlichen Geschlecht, als einem gemeinen Wesen nach Tugendgesetzen, eine Macht und ein Reich zu errichten, welches den Sieg über das Böse behauptet, und unter seiner Herrschaft der Welt einen ewigen Frieden zusichert“ (ebd., S. 124). Die Gründung eines Völkerbundes zur Sicherung des ewigen Friedens und die Vereinigung aller Staaten der Welt in einer Weltrepublik sind zwar Rechtspflichten, aber da die Rechtspflichten auch indirekte ethische Pflichten sind – was bedeutet, dass eine Rechtspflicht, die um dieser Pflicht willen oder aus Pflicht befolgt wird als ethische Pflicht gedacht wird –, so ist die Herbeiführung eines weltweiten ewigen Friedens indirekt auch eine ethische Pflicht, gehört also zur Gesetzgebung eines ethischen Gemeinwesens. Analog zum rechtlichen oder juridischen Naturzustand, der wie bei Hobbes und unter Berufung auf ihn ein Zustand „des Krieges von jedermann gegen jedermann“ (ebd., S. 96) ist, ist „auch der ethische Naturzustand ein Zustand der unaufhörlichen Befehdung durch das Böse, welches in ihm [= jedermann] und zugleich in jedem anderen [Menschen] angetroffen wird, die sich […] einander wechselseitig ihre moralische Anlage verderben, und selbst bei dem guten Willen jedes einzelnen, durch den Mangel eines sie vereinigenden Prinzips […] durch ihre Misshelligkeiten [sich] von dem gemeinschaftlichen Zweck des Guten entfernen“ (ebd., S. 96 f.). Deshalb gilt für diesen ethischen Naturzustand das, was Hobbes über den juridischen sagte: „exeundum esse e statu naturae“ (ebd., S. 97): „Der Mensch soll aus dem ethischen Naturzustande herausgehen um ein Glied eines ethischen gemeinen Wesens zu werden“ (ebd., S. 96), wie die Überschrift des zweiten Abschnitts der Ersten Abteilung lautet. Die Frage stellt sich unmittelbar: Warum genügt es nicht, dass jeder einzelne im ethischen Naturzustand einen „guten Willen“ hat, um sie alle zusammen auf gute Zwecke hinwirken zu lassen? Im ethischen Naturzustand würden sich vielmehr alle, die einen guten Willen haben, doch zueinander so verhalten, „als ob sie Werkzeuge des Bösen wären“ (ebd., S. 97). Einen Hinweis auf die kantische Beantwortung dieser Frage, warum die distributive Güte der einzelnen Willen nicht zum kollektiven guten Willen aller zusammen ausreicht, gibt eine Passage aus Zum ewigen Frieden (1795/96), in der es allerdings um den analogen juridischen Naturzustand geht: „Freilich ist das Wollen aller einzelnen Menschen, in einer gesetzlichen Verfassung nach Freiheitsprinzipien zu leben (die distributive Einheit des Willens Aller), zu diesem Zweck nicht hinreichend, sondern dass Alle zusammen diesen Zustand wollen (die collective Einheit des vereinigten Willens),
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diese Auflösung einer schweren Aufgabe, wird noch dazu erfordert, damit ein Ganzes der bürgerlichen Gesellschaft [d.h. hier: des Staates] werde, und da also über diese Verschiedenheit des particularen Wollens Aller noch eine vereinigende Ursache desselben hinzu kommen muss, um einen gemeinschaftlichen Willen herauszubringen, welches keiner von Allen vermag; so ist in der Ausführung jener Idee [des bürgerlichen Zustandes als eines rechtlichen Zustands] (in der Praxis) auf keinen anderen Anfang des rechtlichen Zustandes zu rechnen, als den durch Gewalt, auf deren Zwang nachher das öffentliche Recht gegründet wird“ (Kant, AA VIII, S. 371). Diese Passage, in der von der Notwendigkeit einer gewaltsamen Begründung des rechtlichen Zustandes in der historischen Praxis im Gegensatz zur Koalition aller Einzelwillen zu einem vereinigten Volkswillen in der Theorie, d. h. in der Idee, die Rede ist, kann auch für unsere Stelle und ihr Verständnis hilfreich sein. Das vereinigende Prinzip der guten Einzelwillen kann nicht das Wollen dieser Einzelwillen selbst sein, denn kein einzelner von ihnen und also auch nicht alle insgesamt können durch ihr Wollen bewirken, dass sich aus ihnen ein reales Willensganzes bildet. Ihre Vereinigung muss von außen kommen, freilich in diesem Falle nicht durch Gewalt, aber doch durch einen von allen guten Einzelwillen unabhängigen Faktor, der aus der bloß analytischen Einheit der guten Willen eine synthetische Einheit und Ganzheit, eine universitas, bildet. Es wird sich später herausstellen, dass dieser von außen wirkende,vereinigende Faktor die Idee eines göttlichen Weltregenten ist. Zunächst wird der ethische Naturzustand als „eine öffentliche wechselseitige Befehdung der Tugendprinzipien“ bezeichnet „und als ein Zustand der inneren Sittenlosigkeit, aus welchem der natürliche Mensch sobald wie möglich herauszukommen sich befleißigen soll“ (Kant, AA VI, S. 97). Diese Pflicht des Herausgehens aus dem ethischen Naturzustand ist „eine Pflicht von ihrer eigenen Art, nicht der Menschen gegen Menschen, sondern des menschlichen Geschlechts gegen sich selbst“ (ebd.). Nun gibt es Pflichten gegen sich selbst bei Kant in der Rechts- und in der Tugendlehre, aber diese sind keine Pflichten eines Kollektivs gegen sich selbst. Ferner unterscheidet sich diese Pflicht des Menschengeschlechts gegen sich selbst von allen andern Pflichten dadurch, dass sich aus allen andern Pflichten als durch moralische Gesetze gebotenen Handlungen schließen lässt, dass der Verpflichtete diese Handlungen auch vollziehen kann. Denn könnte er das nicht, so wäre er nach dem naturrechtlichen Prinzip ultra posse nemo obligatur auch nicht dazu verpflichtet. Umgekehrt folgt also aus der obligatio (dem Sollen) das posse (das Können). Die Pflicht des Menschengeschlechts, sich als eine Vielheit von Menschen zu der Einheit eines kollektiven Ganzen zu vereinigen, kann aber nicht erfüllt werden, da kein einzelner Mensch und also auch nicht alle einzelnen Menschen bewirken können, dass sie ein reales Ganzes bilden. Die
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Sache ist allerdings noch komplizierter, da die Einheit aller Menschen als eine solche gedacht werden muss, die zur Bewirkung eines Zweckes erforderlich ist, wobei diese kollektive Bewirkung ihrerseits Pflicht ist. Die Stiftung einer vernünftigen und kollektiven Ursache zur Realisierung des höchsten gemeinsamen Gutes, das darum von Kant „das höchste sittliche Gut“ (ebd.) genannt wird, scheint so selbst Pflicht zu sein, da ihre intendierte Wirkung etwas ist, zu dem jeder Einzelne verpflichtet ist.Weil aber die Stiftung des Kollektivs der Menschheit über die Kräfte jedes einzelnen Menschen hinausreicht, so kann sie nicht Pflicht für jeden Einzelnen sein. Aber zu sagen, deshalb sei sie eben eine Pflicht des ganzen Menschengeschlechts zur Bewirkung dieses gebotenen Zweckes, setzt das voraus, was unmöglich zu sein scheint, die Vereinigung der einzelnen Menschen zur Einheit des Menschengeschlechts. Hören wir Kant selbst: „Jede Gattung vernünftiger Wesen [also nicht nur der Menschen] ist nämlich objektiv, in der Idee der Vernunft, zu einem gemeinschaftlichen Zwecke, nämlich der Beförderung des höchsten, als eines gemeinschaftlichen Guts, bestimmt.“ (ebd.) Das ist der Ausgangspunkt des Problems, der nur voraussetzt, dass das in der Idee bestehende Bestimmtsein der Gattung der Vernunftwesen zum gemeinschaftlichen höchsten Gut dasselbe bedeutet, wie die Tugendpflicht zu diesem „höchsten sittlichen Gut“. Nun fährt Kant in der Problemexposition fort: „Weil aber das höchste sittliche Gut durch die Bestrebungen der einzelnen Person zu ihrer eigenen moralischen Vollkommenheit allein nicht bewirkt wird, sondern eine Vereinigung derselben in ein Ganzes zu eben demselben Zwecke, zu einem System wohlgesinnter Menschen erfordert, in welchem und durch dessen Einheit es allein zu Stande kommen kann, die Idee aber von einem solchen Ganzen, als einer allgemeinen Republik nach Tugendgesetzen, eine von allen moralischen Gesetzen (die das betreffen, wovon wir wissen, dass es in unserer Gewalt steht) ganz unterschiedene Idee ist, nämlich auf ein Ganzes hinzuwirken,wovon wir nicht wissen können, ob es als ein solches auch in unserer Gewalt stehe, so ist die Pflicht, der Art und dem Prinzip nach, von allen anderen unterschieden.“ (ebd., S. 97 f.) Nach dem, was wir über das von Kant aufgeworfene Problem gesagt haben, sind nur noch wenige Erläuterungen erforderlich. Zunächst sagt Kant etwas Triviales: durch die Bestrebungen einer einzelnen Person zu ihrer eigenen moralischen Vollkommenheit, das auch eine Tugendpflicht ist, kann natürlich „allein“ das höchste sittliche Gut nicht bewirkt werden, welches ja der gemeinsame Zweck aller durch die Tugendpflicht „fremde Glückseligkeit“ verpflichteten Personen ist. Trotz des etwas undurchsichtigen Satzbaus ist klar, dass als das Subjekt der Verpflichtung nun ein „Ganzes“ eingeführt wird, das Kant teils „System wohlgesinnter Menschen“, teils „allgemeine Republik nach Tugendgesetzen“ (ebd., S. 98) nennt, und das nichts anderes als das ethische Gemeinwesen ist. Von diesem
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Ganzen wird nun nicht mehr gesagt, dass es durch das Bestreben nach Selbstvervollkommnung „allein“ nicht bewirkt wird, d. h. bewirkt werden kann, sondern dass wir bloß nicht wissen können, ob es in unserer Gewalt steht. Die Besonderheit der Pflicht, nach moralischen Gesetzen auf ein Ganzes hinzuwirken, von dem wir nicht wissen, ob es möglich ist, besteht also darin, dass wir nicht wissen können, ob diese Pflicht eine Pflicht ist. Während wir sonst nach dem Prinzip, „du kannst, denn du sollst“, aus dem Verpflichtetsein zu einer Handlung schließen können, dass diese in unserer Gewalt ist, wird jetzt von Kant umgekehrt argumentiert: aus der Ungewissheit des Könnens folgt die Ungewissheit der Pflicht. Das ist das Besondere an dieser Pflicht. Aber wenn sie bestehen sollte, dann müsste das erstrebte Ganze real möglich sein, dann müssten die Kräfte der Einzelpersonen, die für sich nicht zu seiner Hervorbringung ausreichen, durch etwas anderes ergänzt werden: „Man wird schon zum voraus vermuten, dass diese Pflicht [damit sie eine sei] der Voraussetzung einer anderen Idee [als der der Selbstverpflichtung einer Gattung vernünftiger Wesen], nämlich der [Idee] eines höheren moralischen Wesens bedürfen werde, durch dessen allgemeine Veranstaltung die für sich unzulänglichen Kräfte der einzelnen zu einer gemeinsamen Wirkung vereinigt werden“ (ebd., S. 98), nämlich zu der Bewirkung des ethischen Gemeinwesens, von dem man dann sagen kann, dass es zur Hervorbringung des höchsten sittlichen Guten durch sich selbst verpflichtet sei. Die nach dem Herausgehen aus dem Naturzustand gebotene Stiftung des ethischen Gemeinwesens aller Menschen, bloß als vernünftiger Wesen, ist also als von den Einzelpersonen nicht zu bewältigende Vereinigung in ihrer Realisierung von einer göttlichen Intervention abhängig. Oder vielmehr umgekehrt, durch Reflexion auf die Bedingungen der Gründung eines ethischen Gemeinwesens sind wir an die Schwelle einer Moraltheologie gelangt, in der die Idee Gottes als „eines moralischen Weltherrschers“ (ebd., S. 99) das Problem der Stiftung eines ethischen Gemeinwesens aller Menschen erst lösen soll.
Literatur Thomas Hobbes (1991): Leviathan, hrsg. v. Tuck, Richard, Cambridge. (Zitiert mit, Hobbes, Leviathan). Kant, Immanuel (1907): Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: Gesammelte Schriften Bd. 7 [= AA], hrsg. Preussische Akademie der Wissenschaften, Berlin 1903 ff., S. 117 – 333. (Zitiert mit „Anthropologie“.) Kant, Immanuel (1903): Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: AA Bd. IV, S. 385 – 463. (Zitiert mit „GMS“.) Kant, Immanuel (1907): Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, in: AA Bd. VI, S. 1 – 202. (Zitiert mit „Religionsschrift“.)
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Kant, Immanuel (1907): Metaphysik der Sitten, in: AA Bd. VI, S. 203 – 493. Kant, Immanuel (1908): Kritik der praktischen Vernunft, in: AA Bd. V, S. 1 – 163. (Zitiert mit „KpV“.) Kant, Immanuel (1912): Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: AA Bd. VIII, S. 15 – 31. Kant, Immanuel (1912): Zum ewigen Frieden, in: AA Bd. VIII, S. 341 – 386.
Hans Friedrich Fulda
Menschenrechte – Plädoyer für einen kantischen Ansatz zu ihrer begrifflichen Bestimmung, Begründung und Gliederung im Hinblick auf Hegel I Unbefriedigende Bestimmungen und Begründungsvoraussetzungen A) Wenn es um die Auffassung von Menschenrechten zu tun ist – d. h. um ein Konzept, das sehr spät in der Menschheitsgeschichte Bestandteil kodifizierter Rechtsordnungen geworden ist, dann tut man wohl gut, nicht gleich zu Beginn an positives Recht zu denken, sondern sich dem jedermann geläufigen Sprachgebrauch anzuvertrauen.¹ Wir sagen „Menschenrechte“ – in hartnäckiger Fixierung auf den Plural, während der Singular mit dem bestimmten Artikel („das Menschenrecht“) außer im fragwürdigen Pathos der „Internationale“ so gut wie nicht mehr vorkommt.² Wir bringen mit dieser Redegewohnheit zum Ausdruck, dass es sich bei den so bezeichneten Rechten um einzelne Rechte einer bestimmten, aber nicht leicht generisch zu charakterisierenden Klasse von Rechten handelt, die jedenfalls subjektive Rechte einzelner Menschen sind; d. h. Rechte, welche diese Menschen haben. Zugleich aber geht es um spezielle subjektive Rechte, welche nicht erst aufgrund der einen oder anderen, besonderen Qualifikation oder Handlung zukommen.³ Vielmehr handelt es sich hier um subjektive Rechte, welche Menschen bereits als Menschen haben – ganz unabhängig von irgend1 Reflexionen zu philosophie-typischen „Was-ist …?“-Fragen sollten sich gewiss nicht im Rekurs auf den Sprachgebrauch erschöpfen. Aber damit zu beginnen empfiehlt sich allemal, weil nur so der common sense zum Zuge kommen kann, der sich in unserer Sprache niedergeschlagen hat. Sinnvolle Abweichungen davon ergeben sich dann im weiteren Gang der Reflexion nahezu von selbst. 2 Selbst in einer so umfangreichen Abhandlung wie der von Uertz, die den Ausdruck „Menschenrecht“ sogar im Titel gebraucht (Uertz, 2005), wird das Stichwort „Menschenrecht“ im ausführlichen Sachregister (anders als „Menschenrechte“) nicht aufgeführt. 3 Es handelt sich, m.a.W., nicht um subjektive Rechte, die Menschen zuzusprechen sind, sofern sie, z. B., einer bestimmten Abstammung, Lebensform, Altersstufe, Geschlechtsbesonderheit, Gemeinde, politischen Einheit, Religionsgemeinschaft zugehören, eine gewisse soziale Rolle spielen oder einen besonderen Status innehaben oder auch nur irgendetwas rechtlich Relevantes getan haben.
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welchen weiteren, sie voneinander unterscheidenden Merkmalen; und um Rechte, die jeder Mensch hat – eben deshalb, weil das Gehabt-werden nicht von dergleichen Besonderheiten individuellen menschlichen Lebens abhängt. Träger von Menschenrechten sind m.a.W. alle Menschen als natürliche Rechtspersonen; als solche aber nicht kollektiv, sondern vereinzelt. Die Menschen haben diese Rechte – desweiteren – selbst dann, wenn es für einige oder alle von ihnen (noch) keine institutionelle Rechtsordnung gibt, die den so gehabten subjektiven Rechten auch Kräfte zur Seite stellt, durch welche die Forderungen aus diesen Rechten wirksam werden und dabei ihre besondere Prägung bekommen. Ohnehin sind ja der Wirkungsbereich solcher Kräfte und die Rechtsordnung, die in ihm besteht, überall begrenzt. Geschweige denn gibt es für die Menschenrechte eo ipso eine allen Menschen gemeinsame, institutionelle Rechtsordnung mit den diese Rechte ausdrücklich statuierenden Gesetzen, die von einer dazu rechtlich legitimierten Autorität und Gewalt positiviert sind. Man hat eben bei Menschenrechten – wie beim Recht überhaupt – allemal mit zwei nacheinander zu beantwortenden umfassenden Orientierungsfragen zu tun: (1) Worin bestehen die Normen, unter denen und denen gemäß subjektive Rechte einer bestimmten Klasse durchgängig Menschenrechte sind, und was charakterisiert infolgedessen generell alle diese Rechte aller Menschen? Und: (2) Wodurch, d. h. aus welchem rechtlichen, aber effektiven Grund, kommt diesen Rechten wirksame Geltung zu, wenn und wo immer sie besteht?⁴ Diese Frage steht hier erst an zweiter Stelle, weil subjektive Rechte, um berechtigtermaßen als solche wirksam geltend gemacht werden zu können, trivialerweise bereits „gehabt“ sein und die Normen, unter denen sie jemandem zukommen, vorab bestehen müssen; erst recht aber, um zu Wirkungen zu gelangen, in denen sie institutionell zur Geltung kommen. A fortiori sind Menschenrechte für sich genommen deshalb auch als unabhängig davon zu denken, ob sie subjektive Rechte in dem einen oder anderen Staat sind – ja, sogar als unabhängig davon, ob es für ihre Träger irgendeinen Staat gibt oder eben nicht gibt. Damit gerät jegliche Philosophie der Menschenrechte, welche sich am positiven Recht orientiert oder die Untersuchung der Menschenrechte auf deren Statuierung in dem einen oder anderen positiven Recht beschränkt, von vorne herein in eine Aporie: den Grund dieser Rechte aufsuchen zu müssen, aber
4 Wer nicht wenigstens auf die erste dieser beiden Fragen eine überzeugende Antwort weiß, wird angesichts der Tatsache, dass Menschenrechte in der Vergangenheit so lange unentdeckt waren, und angesichts der Schwierigkeit, die zweite Frage prinzipiell, aber bündig zu beantworten, immer wieder vom Verdacht beschlichen oder zur Behauptung verführt werden, Menschenrechte seien eine Angelegenheit letztlich leerer Deklaration, sei die auch noch so gut gemeint.
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nur im positiven Recht finden zu können, auf das der Grund sich nicht beschränken kann. Der Sinn dieser Rechte jedenfalls muss denkbar sein und bei deren Begründung in seinen fundamentalen Bestimmungen gedacht werden, ohne dass dafür schon ein Staat vorausgesetzt wird. Philosophisch zu beantworten gilt es somit vor allem die Frage, von welcher speziellen Art (unter subjektiven Rechten überhaupt) die Menschenrechte sind. Zur Beantwortung dieser Frage wird man in einem ersten Schritt wohl sagen dürfen, wenn man dabei von unserem common sense ausgeht und an paradigmatische, uns jedenfalls nicht zweifelhafte, einzelne Menschenrechte denkt: Menschenrechte sind ihrem Begriff nach sicherlich Rechte auf etwas, das einzelne Menschen sich gemeinhin nicht selbst verschaffen und sich, wenn sie es denn haben, überhaupt nicht alleine erhalten oder gar garantieren können.⁵ Soviel zum Wort „Menschenrechte“ hinsichtlich seiner wichtigsten Gebrauchsbedeutungen, wie diese sich seit den ersten Menschenrechtserklärungen gebildet haben und sich in unserer Umgangssprache noch ohne eventuell begründungstaugliche Nebengedanken zum Ausdruck bringen. B) Von welcher speziellen Art sind diese subjektiven Rechte generell? Präziser gefragt: Wie grenzen sie sich ab von anderen, ebenfalls sehr fundamentalen subjektiven Rechten – vor allem aber im Unterschied einerseits zu subjektiven Rechten überhaupt, andererseits zu Bürgerrechten, mit denen sie ja oft in einem Atemzug genannt werden? Wie lässt sich ferner diese besondere Art von subjektiven Rechten im Kontext der Rede von subjektiven Rechten überhaupt verstehen? Schließlich aber auch: Wie lässt sich die Behauptung begründen, dass es Rechte dieser besonderen Art und mit ihnen verbundene Geltungsansprüche gibt? Und nicht zuletzt: Sind Menschenrechte in diesem Kontext so zu verstehen und zu begründen, dass dabei der merkwürdigste Zug an ihnen ganz ernst genommen wird: subjektive Rechte zu sein, die einsehbarerweise gehabt werden und sich hier und da erfolgreich selbst dann geltend machen lassen, wenn von allem Staat und seiner rechtlichen Bedeutung noch konsequent (und sogar in den Voraussetzungen der Rede von Menschenrechten) abstrahiert wird – sei’s, weil es keinen Staat gibt oder weil ein Träger von Menschenrechten an keinen aussichtsreich
5 Im Unterschied beispielsweise zum Recht darauf, willensgemäß das eigene, nach dem Lauf der Natur fortdauernde Leben unbeschädigt fortzusetzen, oder zur Freiheit, sich im Rahmen des Privatrechts aus eigener Willkür zum Tun oder Unterlassen äußerer Handlungen zu bestimmen und rechtlich unter gleichen Bedingungen nicht anders als die anderen behandelt zu werden, oder schließlich zum Recht auf das Haben/Erwerben/Veräußern von Eigentum nach gleichen Rechtsnormen wie denjenigen, denen die anderen unterstehen.
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appellieren kann, oder sei’s, weil Menschenrechte in einem Staat nicht wirksam Geltung haben, vielleicht sogar nicht einmal positives Recht sind?⁶ Angesichts dieser Fragen ist nun auf die Gedankenlinien einzugehen, die mich von den gegenwärtig dominierenden Auffassungen trennen und für einen – recht verstandenen – Kant Partei ergreifen lassen – sowohl was ein der kantischen Rechtslehre gemäßes Konzept von Menschenrechten betrifft, als auch hinsichtlich der Gründe für so konzipierte Menschenrechte. Auch zahlreiche gegenwärtige Autoren, z. B. J. Rawls, J. Habermas, E. Tugendhat und ihre Schüler, nehmen in Veröffentlichungen über Menschenrechte mehr oder weniger deutlich Bezug auf die kantische Philosophie des Rechts und der Politik. Doch diese Bezugnahme sollte, wie mir scheint, genauer und inspirierter erfolgen, als das bei ihnen der Fall ist, – und das sowohl um einer möglichst präzisen, philosophisch überzeugenden Bestimmung des Begriffs der Menschenrechte willen als auch zugunsten einer möglichst triftigen Begründung der Behauptungen, die dabei über Menschenrechte aufgestellt werden; nicht zuletzt aber wegen der Geltungsansprüche für Menschenrechte, die sich mit diesen Behauptungen verbinden. Werfen wir dazu kurz einen Blick auf die Auskunft über Menschenrechte, die man bei den genannten Autoren findet! Die einfachste Antwort auf die gestellten Fragen scheint diejenige zu sein, welche stark sprach- und common-sense-philosophisch ausgerichtete Philosophen favorisieren, wie z. B. Ernst Tugendhat und seine Schüler: Menschenrechte seien elementar sowie von der Voraussetzung irgendeines Staats und seiner Politik insofern unabhängig, als sie moralische Rechte seien, wobei unter „Moral“ ein universelles, jedenfalls alle Menschen in gleicher Weise bindendes System von praktischen Normen verstanden wird – und zwar von Normen, deren Forderungen an Menschen und deren Erlaubnisse für Menschen sich im Grund jeder einzelne anhand von einfachen Beispielen in einsamer Reflexion oder informellem Diskurs mit irgendwelchen Anderen klar machen kann. So einleuchtend diese Auffassung prima vista wegen der Selbstverständlichkeit erscheinen mag, mit der sich in ihr der universelle, alle Menschen umfassende Charakter von Menschenrechten ergibt – die Auffassung hat mindestens zwei gravierende Gründe gegen sich: Zum einen ist der Begriff des Moralischen darin so vage, dass das in ihm Gedachte – irgendwie intersubjektiv verankerte Normen menschlichen Verhaltens, die alle Menschen in gleicher Weise binden – unvermeidlich in Verdacht gerät, eine bloße 6 Die Abstraktion vom Staat und von seiner rechtlichen Bedeutung mag aber auch deshalb vorgenommen werden, weil es oftmals philosophisch fruchtbar ist, von selbstverständlich gemachten Voraussetzungen abzusehen, um festzustellen, wie weit man im begründenden Nachdenken damit kommt.
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Chimäre zu sein. Außerdem ist dabei der Begriff subjektiver Rechte (unter solchen Normen) wie auch der Begriff der diese Rechte bestimmenden Normen selber so unterbestimmt, dass gar nicht zu verstehen ist, wie diesen „Rechten“ überhaupt ein spezifisch juridischer Charakter zukommen soll, aufgrund dessen sie sich zuerst von aller nichtjuridisch moralischen Berechtigung unterscheiden, sich dann aber auch auf der Basis dieser Unterscheidung innerhalb sämtlicher juridischen Rechte noch einmal auszeichnen als subjektive Rechte, die Menschenrechte sind. Schon dieser Einwand müsste für die Vertreter eines moralischen Verständnisses von Menschenrechten Grund genug sein, sich mit Kants Begriff des Moralischen und innerhalb desselben mit dem genuin kantischen Rechtsbegriff genauer zu befassen, als dies de facto geschieht. – Zum anderen aber ist im Hinblick auf den zuletzt erwähnten Unterschied (zwischen juridischen subjektiven Rechten überhaupt und Menschenrechten) leicht an einzelnen, simplen Fällen der Verletzung elementarer Rechte festzustellen, dass sich, verglichen mit solchen Fällen von Rechtsverletzung, die Verletzungen von Menschenrechten eigens disqualifizieren müssen; dass also auch ein entsprechender Unterschied bestehen muss zwischen Klassen der so oder so verletzten subjektiven Rechte selbst. Man nehme z. B. den Fall, dass jemand rechtswidrig den Körper eines anderen verletzt oder diesen seiner Freiheit beraubt. Wir sprechen in einem solchen Fall keineswegs schon eo ipso von Menschenrechtsverletzung. Offenbar enthalten Menschenrechte, obwohl sie subjektive Rechte einzelner Menschen sind, eine speziellere rechtliche Normierung des Verhaltens jeweils Anderer – eine Normierung nämlich, die hinausgeht über jene schon im subjektiven Recht überhaupt liegende, ganz grundsätzlich mit einem Vermögen verbundene, Andere dazu zu verpflichten, dass sie den zu solchen Rechten gehörenden HandlungsSpielraum respektieren. Vermutlich haben nicht zuletzt Einwände dieser Art viele der heutigen Menschenrechtsphilosophen, wie z. B. Jürgen Habermas und seine Schüler, in der Überzeugung bestärkt, das Konzept der Menschenrechte sei kein moralisches, sondern ein wesentlich politisches. So verstanden dürfen Menschenrechte dann, wie Habermas es ausdrückt, einem politischen Souverän „nicht gleichsam paternalistisch übergestülpt werden“. Der Idee rechtlicher Autonomie der Bürger widerspräche es Habermas zufolge, „wenn der demokratische Verfassungsgesetzgeber die Menschenrechte als so etwas wie moralische Tatsachen schon vorfinden würde, um sie nur noch zu positivieren.“⁷ Moralische Deutung der Menschenrechte sei allenfalls Sache einer Begründung dieser Rechte, wenn sie nicht sogar in Begründungsfragen zu unterlassen ist, wie Andere meinen.
7 Habermas, 1996, S. 301.
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Gegen diese kurzerhand ans Politische angebundene Auskunft über Menschenrechte sprechen jedoch ebenfalls sehr gewichtige Gründe. – Zum ersten gilt für den Fall der eingeräumten Möglichkeit moralischer Deutung oder gar Begründung der Menschenrechte: Wenn die Möglichkeit besteht, so muss sich die Deutung bzw. Begründung bereits an juridischen Grundbegriffen ergeben, die den Menschenrechten inhärent und konstitutiv für sie sind, ohne selbst schon einen Begriff des Politischen auszumachen. Dann aber kann der moralische Sinn dieser Begriffe kein zureichender Grund sein für die Behauptung, mit einer auf Bestimmungen derselben zurückgehenden Deutung oder Begründung der Menschenrechte würden diese einem politischen Souverän gleichsam paternalistisch übergestülpt werden oder würde der demokratische Verfassungsgesetzgeber die Menschenrechte als so etwas wie moralische Tatsachen „vorfinden“. Denn dann sind die moralischen Bestimmungen, die in die Menschenrechte konstitutiv eingehen, für den Begriff, dessen Bestimmungsmomente sie sind, grundlegend; und sie machen zusammen mit den Gründen ihrer synthetischen Verbindung nicht nur die Begründung der Menschenrechte aus, sondern sind auch ein grundlegendes Moment der Bestimmtheit eines Verfassungsgesetzgebers und müssen in dessen rechtliche Bildung bereits eingebaut sein. Dem Verfassungsgesetzgeber wird somit nichts paternalistisch übergestülpt, und er findet nicht so etwas wie moralische Tatsachen vor, wenn er in sich selbst von der begrifflichen Bestimmtheit der Menschenrechte her schon ein moralisches Konstituens seiner eigenen Bestimmtheit hat. Andernfalls müsste man von diesem Verfassungsgesetzgeber annehmen, er sei hinsichtlich des von ihm zu gebenden Verfassungsgesetzes ein Wesen fast so uneingeschränkter Willkür wie der Gott der Nominalisten hinsichtlich der ganzen Welt. Im Unterschied zum Nominalistengott bei der Weltschöpfung würden diejenigen, die zusammen der Verfassungsgesetzgeber sind, bei der Verfassungsgesetzgebung nur einigen wenigen pragmatischen Diskursregeln unterliegen. Das hätten freilich diejenigen Verfassungsgesetzgeber und politischen Souveräne gern, die sich nicht darum scheren, wie das Recht ihre Willkür vom ersten Betätigungsschritt an begrenzt; ebenso aber auch diejenigen, welche sich als das Resultat einer so wundersamen Transsubstantiation privater menschlicher Willkürfreiheitssubstanz verstehen, wie Rousseau sie sich für die volonté générale seines republikanischen Volkssouveräns dachte. Zum zweiten: Selbst für den Fall einer Bestreitung der Möglichkeit moralischer Begründung oder Deutung der Menschenrechte darf man den in gegenwärtigen moralischen Konzepten derselben so kläglich unterbestimmten Begriff des Moralischen nicht vergessen. Mit diesem Begriff ist weder zugunsten der Möglichkeit noch zugunsten der Unmöglichkeit einer solchen Deutung oder Begründung von Menschenrechten etwas Substantielles auszumachen, weil damit schon Recht überhaupt nicht zu fassen ist. Auch in dieser Hinsicht also empfiehlt sich dringend
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ein Rückgang auf Kant. Nach dessen Verständnis steht das Moralische generell dem (ausschließlich) Pragmatischen sowie auch dem Technisch-Praktischen gegenüber und zeichnet sich durch die Bestimmtheit aus, Gesetzen der Freiheit und ihren Normen zu unterliegen oder diese selber samt ihrer wirksamen Verbindlichkeit auszumachen, sodass es von der Art dieser Gesetze (solche der inneren Selbstgesetzgebung, oder aber solche einer ihr gemäß möglichen äußeren Gesetzgebung zu sein) abhängt, ob man es mit Moralisch-Ethischem oder MoralischJuridischem zu tun hat. Zum dritten aber ist das dem moralischen entgegengesetzte politische Konzept der Menschenrechte evidentermaßen mangelhaft im Hinblick auf die Menschenrechte all derjenigen Menschen, die am Wirken weder eines Verfassungsgesetzgebers noch eines politischen Souveräns (als angeblichem Autor des Gehalts von Menschenrechten) Teil haben und somit bestenfalls von diesen wohlwollend bedachte Objekte ihrer Entscheidungen sind. Zum vierten: Das ausschließlich politische Menschenrechts-Konzept lässt eine klaffende Rechts- und Rechtsbegründungs-Lücke entstehen zwischen Menschenrechten im einen oder anderen politischen Zustand unter Menschen und jenen Menschenrechten, die vernünftiger sowie einsehbarerweise unabhängig von einem politischen oder auch nur gesellschaftlichen Zustand unter Menschen gehabt werden. Zum fünften arbeitet dieses Konzept mit einer überzogenen Idealisierung des politischen Zustandes. Von dieser Idealisierung aus kann man überhaupt nicht sehen, mit welchen prinzipiellen, rechtspolitisch zu lösenden Problemen der Weg gepflastert ist, der vom antagonistischen Zustand der Verhältnisse zwischen vielen politischen Souveränen oder gar vom Zustand eines Staats mit geteilter Souveränität hin zur Annäherung an den Idealzustand führt, und wie dieser Weg trotz einer unabsehbaren Anzahl an Stolpersteinen auf ihm erfolgreich begangen werden kann. Zum sechsten ergibt sich aus dem politischen Konzept ein gefährliches Anspruchsdenken in Sachen Menschenrechte. Es scheint dann, als richteten sich die Ansprüche, die man mit Menschenrechten hat, nur an den Staat, der’s dann schon „richten“ wird.⁸ Nicht zuletzt die Tatsache, dass es sich bei den Menschenrechten sogar um ein alle Menschen betreffendes politicum handelt, dürfte auch zur Auffassung beigetragen haben, Menschenrechte seien vor allem eine Angelegenheit internationalen Rechts und seiner politischen Durchsetzung, womit sich vorrangig John Rawls befasst hat. – Dass die Fragen, um die es dabei geht, uns heute besonders heiß auf 8 Vgl. Menke/Pollmann, 2007, S. 41.
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den Nägeln brennen, sei nicht bestritten. Evidentermaßen aber können sie ohne vorgängigen Rekurs auf die fundamentalen Aspekte der begrifflichen Bestimmung und Begründung von Menschenrechten philosophisch nicht zulänglich bearbeitet werden. Auch in allen, vom dritten der obigen Einwände an relevanten Hinsichten bietet sich Kants Metaphysik des Rechts als die bessere Alternative an. Ohne sie steckt man im Dilemma, sich für ein unzulängliches moralisches Konzept oder aber für ein ebenfalls unzulängliches politisches bzw. völkerrechtliches Konzept entscheiden zu sollen; doch nicht zu einer Verbindung dieser Konzepte gelangen zu können und dennoch der Verbindung zu bedürfen, um sich vom Dilemma zu befreien. Kant hingegen hält zum Vermeiden dieser Kalamitäten den Schlüssel in petto. Er gibt ihn auch bereitwillig heraus, wenn er nur recht verstanden und ein kleines Stück weitergedacht wird – ein Stück, das hinzuzufügen man von einem Staatsdiener der Wissenschaft, der zur Zeit der Französischen Revolution im obrigkeitstaatlichen Preußen lebte, fairerweise nicht verlangen konnte. Darum nun – wieder einmal – ein beherztes Zurück zu und weiter mit Kant auf seinem „ehrlichen Weg“! Auf diesen Weg verweisen uns auch die Kantianer der ersten Stunde mit ihren Ansätzen zur Rechtsphilosophie, – und zwar nicht durch Vorwegnahme, sondern vielmehr durch das, was ihnen allen, einschließlich Fichtes, misslungen ist. Keiner von ihnen nämlich hat einen Rechtsbegriff zu entwickeln vermocht, der auch nur den kantischen Gedanken gewachsen gewesen wäre, von prinzipienkritisch untersuchter reiner praktischer Vernunft aus einen überzeugenden Begriff des Rechts und seines Prinzips zu entwickeln.⁹ Geschweige denn bietet einer von ihnen, soweit ich sehe, von da aus einen aussichtsreichen Ansatz für eine überzeugende Philosophie der Menschenrechte. Über die Neukantianer des 19. und 20. Jahrhunderts ist bezüglich eines solchen Ansatzes nichts Besseres zu sagen.¹⁰ – Einzig Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts, die ein Vierteljahrhundert später erschienen als die Rechtsphilosophien der frühen Kantianer, sind noch daraufhin zu inspizieren, ob sie als eine Basis für die Bestimmung und Begründung von Menschenrechten gelten dürfen und als eine solche mit der genuin kantischen konkurrieren können. Darauf ist im letzten Teil der vorliegenden Arbeit einzugehen.
9 Vgl. dazu Fulda, 2006. 10 Vgl. dazu ebd., S. 175 – 177; 178 – 182; 188 f. Ferner Fulda, 2009, S. 83 – 132. Relevant darin für den vorliegenden Kontext sind S. 93 ff., insbesondere aber die Seiten 97– 122, die sich auf den gesamten Neukantianismus beziehen.
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II Für einen genuin kantischen Ansatz A) Kant gebraucht den Ausdruck „Menschenrechte“ so gut wie nicht; jedenfalls gebraucht er ihn nicht in seinen rechts- und politikphilosophischen Hauptschriften.¹¹ Wohl aber ist da die Rede vom – universalen – Recht der Menschen. Kant versteht hierunter einen Inbegriff fundamentaler Rechtsnormen (für alle Menschen, unter Freiheits-Gesetzen einer möglichen äußeren Gesetzgebung) mit sich daraus ergebenden subjektiven Rechten, die im Überschneidungsbereich der Willkürspielräume ihrer Inhaber gemäß diesen Normen bestehen, sowie mit zugeordneten elementaren Rechtspflichten der Betreffenden als natürlicher Personen, deren Willkür sich nach dem Prinzip der Privatrechts-Autonomie betätigen kann und es auch darf, weil sie durch jene Normen auf die Willkür Anderer abgestimmt ist, sofern deren Entscheidungen damit kollidieren könnten, jedoch im Rahmen der rechtlichen Befugnisse und Pflichten zu solchen Entscheidungen, soweit man sehen kann, nicht kollidieren. So entsprechen den subjektiven Rechten unter jenen Normen in weitgehender Parallelität Rechtspflichten – nicht nur der jeweils Anderen, sondern in mehreren Hinsichten auch der betreffenden Person selbst.¹² Wie wir’s zu erwarten haben, sind hier die subjektiven Rechte im Recht der Menschen nicht eo ipso Menschenrechte, und ihre Verletzung durch Andere ist für sich genommen noch keine Verletzung von Menschenrechten – dies aber insbesondere deshalb, weil die erwähnten, einfachsten subjektiven Rechte keine Rechte auf etwas derart Bestimmtes sind, dass es, so bestimmt, der juridisch notwendigen, nicht bloß willkürlichen Kooperation mit Anderen bedarf. Sie enthalten vor allem keine Ansprüche darauf, dass andere Personen der betreffenden Rechtsperson ohne ein vorher zwischen ihr und ihnen eingegangenes
11 Dem Textstellen-Index der Akademie-Ausgabe zufolge kommt im ganzen, uns überlieferten kantischen Œuvre der Plural „Menschenrechte“ nur ein einziges Mal vor – 1793 im gegen Moses Mendelssohn gerichteten Teil der Schrift Über den Gemeinspruch… (AA VIII, 307), wo von „vorsätzlicher wechselseitiger Verletzung der heiligsten Menschenrechte“ die Rede ist und mit dieser Formulierung zumindest angespielt wird auf jene Menschenrechte, die inzwischen in einigen westlichen Republiken feierlich deklariert worden sind. An allen anderen Stellen aber findet sich nur die Singularform „Menschenrecht“. Bis auf eine geben die Stellen deutlich zu erkennen, dass dabei das Wort „Menschenrecht“ nicht in der begrifflichen Bedeutung gebraucht wird, die es seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts im Diskurs über Menschenrechte angenommen hat. Auch der kantische Ausdruck „Recht der Menschen“ (z. B. AA VI, 308) hat diese Bedeutung unverkennbar nicht. In einem Gedicht Kants auf den Tod seines Universitätsrektors und Fakultätskollegen Carl Andreas Christiani ist zwar offenkundig von Menschenrecht im Sinn eines subjektiven Rechts die Rede. Zweifellos aber ist darin nicht speziell auf subjektives Recht von der Art der Menschenrechte abgehoben (vgl. AA XII, 396). 12 Vgl. Fulda, 2006, insbes. S. 191 ff. Ferner Fulda, 1999.
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Rechtsverhältnis etwas leisten – zusätzlich dazu, dass sie freilich die subjektiven privaten Rechte der Person zu respektieren und sich eines Eingriffs in deren rechtlich bestimmte Willkürsphäre zu enthalten haben. Wie und warum aber müssen vom kantischen Ansatz einer Rechtsphilosophie aus Menschenrechte konzipiert werden – und in welcher Bedeutung der Rede von solchen? Die kantisch gedachte Antwort auf diese Frage führt uns, obwohl von Kant selber nicht gegeben, nicht in einen prinzipiell-moralischen oder gar moralisch-ethischen Kontext; aber auch nicht unmittelbar in die politische Philosophie oder zu einem staatlichen Souverän, sondern – das ist der entscheidende Punkt – erst einmal in ein Vorstadium zur Bestimmung des letzteren und in eine grundlegende Voraussetzung für prinzipielle, rechtliche Bestimmtheit alles Politischen einschließlich des darin zu denkenden Verfassungsgesetzgebers und Souveräns. Das Vorstadium ist dasjenige der Verpflichtung zu Herstellung und Erhaltung eines Zustandes unter Menschen, in welchem es dann u. a. auch politische Souveräne gibt, in welchem aber – dem zuvor – sich solche Souveräne allererst rechtlich – von unter privatrechtlichen Normen lebenden Menschen aus – bilden sowie erhalten können und müssen, während die fundamentalen privatrechtlichen Normen unangetastet bleiben, ja sogar sich mit verstärkten Kräften wirksamer Geltung verbinden. Zugleich ist dieses Vorstadium des Politischen zusammen mit der grundlegenden Voraussetzung von dessen rechtlicher Bildung und Erhaltung die Basis für eine kantisch gedachte Bestimmung des Begriffs von Menschenrechten und für Begründung der Behauptung, dass dieser Begriff instantiiert ist und dass sich inhaltlichere begriffliche Bestimmungen des Instantiierten entwickeln lassen. Um das evident zu machen, ist nun darzulegen, worin die Basis einer Auskunft über Menschenrechte besteht und woraus sich ihre Behauptung philosophisch rechtfertigt; dann aber ist zu zeigen, wie sich aus ihr ein kantisch gedachtes Konzept von Menschenrechten ergibt und warum dessen Grundbestimmungen noch in ein umfassendes System öffentlichen Rechts hinein zu ergänzen sind, sodass man begreift, weshalb Menschenrechte auch in einem bedeutenden Sinne politische Rechte sind, ohne sich jedoch zu reduzieren auf Ergebnisse einzelstaatlicher Gesetzgebung – und sei’s Verfassungsgesetzgebung; oder aber auf Konventionen zwischen einzelstaatlichen Souveränen bzw. auf Deklarationen zwischenstaatlicher Institutionen, wie das in einigen Varianten derzeitiger politischer Konzepte von Menschenrechten sowie nolens volens in der gegenwärtigen Wirklichkeit der Fall ist. B) Zuerst also zur Frage, warum kein unmittelbarer Übergang von subjektiven Rechten der Privatrechtsautonomie und von deren Normen hinüber zur Autonomie politischer Souveräne zu denken ist. Die Frage führt in die Nähe der neu-
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zeitlichen, klassisch-naturrechtlichen Lehre des exeundum est e statu naturae, also in den Umkreis des Gedankens, dass die Menschen aus einem vorstaatlichen „Naturzustand“ in einen gesellschaftlichen, bürgerlichen oder politischen Zustand übergehen müssen. Der ganze Gedankenkontext ist in rechtsphilosophischen Überlegungen seit Längerem verpönt oder zumindest gering geschätzt. Was Kant dazu zu sagen hat, wird deshalb kaum noch genau angesehen, geschweige denn von sämtlichen vor ihm aufgetretenen Äußerungen zum Übergang aus dem einen in den anderen Zustand klar unterschieden. In Wahrheit aber ist Kants Auskunft hierzu höchst originell und überhaupt nicht mit den Schwächen der älteren Lehren behaftet. Sie arbeitet mit einer streng rechtlichen, auf keine natürlichen Interessen von Menschen im Naturzustand rekurrierenden Begründung für den Übergang; sie nimmt aber in ihrer endgültigen Version¹³ für diesen Übergang selbst nicht die Rechtsform eines (privatrechtlichen) Vertrags (oder irgendeiner Variante solcher „Sozialvertragstheorien“) in Anspruch und redet überhaupt nicht nur, ja, nicht einmal in erster Linie von einem – geschichtlichen oder fingierten – Übergang, dessen Ausgangspunkt ein Leben von Menschen ohne allen Staat sein soll und dessen nächstes Stadium dann sogleich durch das Leben derselben Menschen im vereinzelten Staat gekennzeichnet ist. Vielmehr redet Kant, was den Ausgangspunkt betrifft, von einem „nicht-rechtlichen“ Zustand unter Menschen (unbestimmt, ob aller oder nur einiger); er bestimmt diesen Zustand als einen, „in dem keine austeilende Gerechtigkeit ist“, welche jedem im Rechtsstreitfall durch justizielle Entscheidung seine subjektiven Rechte und alles zu ihnen Gehörige wirksam zuteil werden lässt. Dann wird von diesem Zustand gezeigt, dass er unter Normen bloßer Privatrechtsautonomie, selbst wenn gegen diese Normen nicht im Mindesten verstoßen wird, unausweichlich sowohl eintritt als auch sich ausbreitet und dass dabei das Recht der Menschen keinerlei Geltung behalten kann, sondern die Menschen es durch Verwicklung in Rechtsfehden „überhaupt umstürzen“ müssen. M.a.W.: Solange die Menschen sich allein an ihre Privatrechtsautonomie halten, berauben sie sich, sogar ohne Rechtsverletzung, in einem nicht-rechtlichen Zustand zwangsläufig des Rechtsbodens, auf dem sie sich befinden. Die einzige rechtserhaltende Alternative dazu ist, dass die Menschen aus diesem Zustand heraus und in einen rechtlichen übergehen. Das aber heißt: in einen Zustand mit wirksamer Sorge für distributive Gerechtigkeit, welche dank einer entsprechenden Gerichtsbarkeit samt zugehöriger Rechtsvollzugs-Tätigkeit
13 D.h. in Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre (1797), wenn auch noch nicht eindeutig in Über den Gemeinspruch… (1793); vgl. aber hierzu den Anfang von Abschnitts II dieser Schrift mit den Aussagen der daran anschließenden Folgerung (AA VIII, 197 f.; 207 ff.).
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das subjektive Recht dem, der es hat, im Zweifel wirksam zuteil werden lässt.¹⁴ Solche, justizielle Gerechtigkeit bedarf, um zustande zu kommen, ihrerseits auch der Sorge für (das Recht) schützende Gerechtigkeit und der Sorge für die kommutative Gerechtigkeit, der gemäß Träger subjektiver Rechte wechselseitig Gleichwertiges an Rechten dann erwerben können,wenn jede Auswechslung eines subjektiven Rechts gegen ein anderes bei jemandem derart auf gerechte Weise stattfindet, dass allemal subjektives Recht für ein (mindestens) äquivalentes anderes aufgegeben wird. Das prinzipiellste Rechtsgebot, ohne dessen Befolgung die so verstandene, dreigliedrige Gerechtigkeit kein „Zustand“ zwischen Menschen werden kann, ist dasjenige der dritten Ulpianischen Rechtsregel: suum cuique tribue.¹⁵ Die Pointe aber besteht erst darin, dass der nicht-rechtliche Zustand keineswegs bloß einer der ganzen Menschheit oder der in Frage kommenden Population auf einem gewissen Territorium ist und dass der Beginn des Übergangs in einen rechtlichen Zustand keineswegs unmittelbar schon einen politischen Zustand mit den zu diesem gehörenden politischen Gewalten herbeiführt. Im nicht-rechtlichen Zustand befindet sich vielmehr jeder einzelne schon für sich genommen, wenn, wo und wann immer er sich der Willküreinstellung hingibt, sein subjektives Recht in die eigene Hand nehmen zu wollen, sobald es nach seiner Meinung gefährdet, verletzt, strittig ist oder Zweifeln ausgesetzt wird – anstatt den Streit darüber vor eine für justizielle Gerechtigkeit eintretende Instanz zu bringen und ihre Entscheidung gelten zu lassen. Alles Genannte aber kann grundsätzlich ebenso in einem Staat wie auch schon ohne die Existenz eines Staats, ja sogar schon ohne die eines förmlichen Gerichts der Fall sein. Der Übergang des Betreffenden aus solch nichtrechtlichem Zustand in einen rechtlichen fällt also keineswegs zusammen mit dem, was das klassisch neuzeitliche Naturrecht als Beendigung des Naturzustandes unter den Menschen verstanden hat. Der Übergang beginnt überall dann und da, wenn und wo zwei oder mehr Träger subjektiver Rechte im Verhältnis zueinander den charakterisierten „natürlichen“ sowie nicht-rechtlichen Zustand (nicht „Naturzustand“) der Einstellung ihres Willkürvermögens und des Verständnisses von Privatrechtsautonomie aufgeben und sich darauf festlegen, eine lexikalisch vorrangige Rechtspflicht zu erfüllen, also willens werden, diese Pflicht zu befolgen: die Rechtspflicht nämlich, aus dem natürlichen, nichtrechtlichen Zustand in einen rechtlichen überzugehen. Die Forderung hierzu,
14 Ein Anarchist, der Kant bis hierher aufmerksam genug studiert, müsste seine helle Freude an diesem Gedanken haben. 15 Vgl. AA VI, 237. Das Rechtsgebot ist bei Licht besehen noch grundsätzlicher zu nehmen, als es Kant an der erwähnten Stelle sogleich deutet. Näheres dazu im Folgenden.
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deren Norm darin ihren Grund hat, dass einzig so der Ruin allen Rechts vermeidbar wird, gehört als Rechtsimperativ ebenso wie die diesen Imperativ begründende Norm durchaus noch zum Privatrecht. Sie ist also noch keine politische, sondern sozusagen eine simpel moralisch-rechtliche Norm. Aber sie besteht nicht um irgendeines pragmatischen oder ethischen Interesses willen (und sei’s das der Erhaltung je eigenen Lebens), sondern als nur minimal bedingte Rechtsforderung. Kant nennt sie das „Postulat des öffentlichen Rechts“.¹⁶ Es verlangt von jeder Rechtsperson für den Fall, dass sie den Willkürkontakt mit Anderen nicht gänzlich vermeiden kann und meidet, aus dem natürlichen Zustand heraus in den einer distributiven Gerechtigkeit überzugehen. Man darf jedoch nicht übersehen, dass in diesem Rechtsgebot schon fünf noch elementarere Rechtsforderungen enthalten sind: die der drei Ulpianischen Rechtsregeln in einem strikt aufs Recht unter einer möglichen äußeren Gesetzgebung begrenzten Verständnis¹⁷ und diejenige das Recht (wo immer es besteht) schützender Gerechtigkeit, nicht zuletzt aber auch die Forderung kommutativer Gerechtigkeit. Bereits damit ändert sich – noch im nichtrechtlichen Zustand – das rechtliche Verhältnis eines jeden Menschen zu denjenigen, mit denen er unvermeidlich in Willkürkontakt steht. Der politische, bürgerliche oder gesellschaftliche Zustand hingegen tritt allein hiermit noch nicht ein. Durch die so veränderte Rechtswahrnehmung (im feststellenden ebenso wie aktiven Sinn) ist sozusagen erst der Beginn des Übergangs aus dem einen, ausschließlich privatrechtlichen Zustand in den politischen (durch die Etablierung staatlichen und überstaatlichen öffentlichen Rechts) markiert. Er sorgt öffentlich-rechtlich für gerechte justizielle Entscheidungen in Rechtsstreitsachen und bringt dafür eine den natürlichen Rechtsträgern übergeordnete Instanz für solche Entscheidungen ins Spiel, die schon unter der Voraussetzung bloßer Privatrechtsautonomie zu denken ist.¹⁸ Nicht aber kommt damit eo ipso ein Staat mit seinen öffentlichen Gewalten und seinem Souverän oder gar ein Vertrag aller mit allen zu seiner Bildung zustande. Dadurch verliert der Übergang in den politischen Zustand jene Unmittelbarkeit, die ihm gewöhnlich zugesprochen wird. Im bloßen Beginn des Übergangs aber liegt zugleich der Ursprung sowohl des Konzepts von Menschenrechten als auch einer möglichen kantischen Begründung solcher Rechte. Das ist nun endlich zu zeigen.
16 Zur Begründung dieses Postulats vgl. Fulda, 1998. 17 Vgl. AA VI, 236 f. Die Regeln lauten: honeste vive (im Sinn von „sei ein rechtlicher Mensch“), neminem laede („tue niemandem Unrecht“) sowie suum cuique tribue („tritt in einen Zustand, worin jedermann das Seine gegen jeden anderen gesichert sein kann“). 18 Vgl. ebd., 297 (§ 36).
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C) Das Postulat des öffentlichen Rechts (mit den darin schon enthaltenen rechtlichen Forderungen) ist ein merkwürdiger Rechts-Satz¹⁹ nicht nur deshalb, weil ihn jeder (zur Wahrnehmung von Rechtspflichten und -ansprüchen fähige) Mensch mit Vorrang vor allen sonstigen Rechtspflichten gegen Andere zu befolgen hat, wenn er nicht ausnahmsweise die Option besitzt, allen Willkürkontakt mit Anderen erfolgreich zu vermeiden, und sich für diese Option entschieden hat. Dieser kategorische Sollsatz ist als Postulat auch mit dem Wissen verbunden, befolgbar zu sein;²⁰ darüber hinaus aber als praktisches Postulat auch mit einem Wissen, wie die Handlung auszuführen ist.²¹ Zu diesem Wissen gehört zweifellos auch das Wissen, dass kein Mensch ganz allein in den Zustand einer erfolgreich zum Zuge kommenden distributiven Gerechtigkeit übergehen kann, es sei denn die Instanz dafür und ihre Gewalt, sich mit ihren Entscheidungen durchzusetzen, wären schon etabliert. Das aber ist für den nichtrechtlichen Zustand im Bewusstsein des Postulats gerade nicht vorauszusetzen, selbst wenn es de facto dank der Leistungen Anderer schon vollkommen der Fall wäre. Zur notwendigen Bedingung
19 Im Folgenden wird dazu der Vereinfachung halber zuweilen „Imperativ“ gesagt, obwohl der betreffende Satz, der ein Tun-Sollen bezeichnet, genau genommen von einem Imperativ, der aus ihm folgt, noch zu unterscheiden ist, insofern ein Imperativ (in der zweiten Person redend) ein Sollen zwar zum Ausdruck bringt, aber die angeredete Person direkt anweist, etwas Bestimmtes zu tun oder zu unterlassen, das so (oder so) dem Gesollten entspricht. 20 Nach dem Prinzip „Du kannst, denn Du sollst“. 21 Ein Postulat nämlich ist – der von G.B. Jäsche herausgegebenen Logik Kants zufolge – ein „praktischer unmittelbar gewißer Satz oder ein Grundsatz, der eine mögliche Handlung bestimmt, bei welcher vorausgesetzt wird, daß die Art, sie auszuführen unmittelbar gewiß sei“. Für einen solchen Grundsatz, dessen Befolgung im vorliegenden Fall Vorrang hat vor derjenigen aller sonstigen besonderen Imperative des Privatrechts, sodass sie allein schon aufgrund des allgemeinen Rechtsgesetzes und andernfalls eintretenden Rechtsfiaskos verbindlich geboten ist, muss gelten, dass man bereits in der eigenen Rechtsvernunft Bescheid weiß, wie eine jede, den Imperativ befolgende äußere Handlung auszuführen ist. Die Voraussetzung, dass es so sei, wird also nicht grundlos gemacht. Das schließt freilich nicht aus, dass man es beim Befolgen des Postulats mit vielen Handlungen zu tun hat, unter denen auch mit Handlungen Anderer zu koordinierende sind, und dass es zur optimalen Aufeinanderfolge und Koordinierung all dieser Handlungen unter denjenigen, welche Adressaten desselben Postulats und zur Befolgung der selben Befolgungsaufgabe verpflichtet sind, einer Verständigung bedarf. Die Normen dieser Verständigung sind von Kant nicht thematisiert worden. Zweifellos aber sind auch unter ihnen praktische Normen; sie erschöpfen sich also nicht in Verständigungspragmatik. Sie zu explizieren und zu begründen wäre eine eigene Aufgabe. Ihr nachzugehen würde zweifellos erfordern, den hermeneutischen Tendenzen in den gegenwärtigen philosophischen Menschenrechtsdiskursen besser Rechnung zu tragen, als dies um prinzipieller Fragen willen im Folgenden geschieht. Zugleich aber müssten die hermeneutischen Prinzipien dafür – anders als in der gegenwärtigen hermeneutischen Literatur und ihren Diskursen – auch eigens für die genuin praktische Erkenntnisperspektive spezifiziert werden.
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dafür, dass es auch gewusstermaßen der Fall ist, gehört natürlich, dass mit dem so Wissenden, welcher jeweils das Postulat erfüllen soll und will, alle diejenigen kooperieren, von deren Kooperationsbereitschaft die Befolgbarkeit des Postulats beim Betreffenden abhängt. Außerdem aber muss natürlich der jeweilige Adressat des im Postulat ausgedrückten Rechtsimperativs bewusst mit den Anderen kooperieren, deren Willkür der seinen ins Gehege kommen kann. Aber eine Gemeinschaft zwischen ihm und ihnen ist weder dem Sollsatz noch seiner Befolgung vorausgesetzt. Selbst wenn sie de facto besteht, kommt sie im Postulat und seiner Befolgung nur als Folge der letzteren in Betracht. Wenn zum Inhalt des so zu verstehenden Postulats wenigstens einige Menschenrechte gehören, die den Begriff dieser Gruppe von subjektiven Rechten exemplifizieren, wird man daher sagen müssen, dass die Menschenrechte ihrem Begriff nach nicht von irgendeiner Gemeinschaft kommen. Vielmehr wohnen sie dann schon der rechtsbestimmenden praktischen Vernunft eines jeden Menschen ohne Voraussetzung solcher Gemeinschaft inne, sind also auch nicht abhängig von der einen oder anderen Kultur des Zusammenlebens derjenigen, welche die Gemeinschaft miteinander haben. Das Bestehen zwischenmenschlicher Gemeinschaft ist ja für den ganzen Inhalt des Postulats nicht vorausgesetzt. Dem Postulat gemäß wäre es sogar widersinnig, fürs Denken solchen Inhalts diese Voraussetzung zu machen. Man vergesse aber auch nicht: Die prinzipielle Gemeinschaftsvoraussetzung ist bis heute einer der Hauptgründe, aus denen Menschenrechte rechtswidrig (nämlich sozialethisch) gedeutet und dann den nicht zur Gemeinschaft Gehörenden oder aus ihr Ausgestoßenen sogar vorenthalten werden. In allem, was nun berücksichtigt ist, erschöpft sich das fragliche Wissen-wie jedoch nicht. Für das Kooperieren Anderer, das zum praktischen Wissen der im Postulat liegenden rechtlichen Verpflichtung gehört, kann nicht nur die faktische Bereitschaft oder Nachgiebigkeit der Anderen ausschlaggebend sein. Über ihr Vorliegen weiß der mit dem Postulat Konfrontierte, solange er sich im nichtrechtlichen Zustand befindet, normalerweise ja auch ziemlich wenig. Da das gewusste Kooperieren Anderer mit begrifflicher Notwendigkeit enthalten ist im Wissen, wie das Postulat befolgt wird, während jedoch eine generelle Befugnis zu Zwang, dessen Ausübender das Recht individuell in die eigene Hand nimmt, gemäß dem Postulat nunmehr gerade aufzugeben ist, muss hier auf Seiten eines jeden, der die praktische Forderung des Postulats zu erfüllen hat, in rechtlicher Hinsicht mehr und noch Anderes gewusst sein als bloß faktisch Vor- oder nicht Vorliegendes. Doch selbst das Wissen, dass auch jeder Andere das Postulat ebenfalls (nicht zuletzt gemäß eigenem praktischem Wissen) zu befolgen hat, reicht nicht aus, wenn ein Befolgen durch Kooperieren geboten ist und dabei gewusst wird, wie man’s bewerkstelligt. Es dürfte in eines jeden Bewusstsein des
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Postulats vielmehr zum Wissen-wie von dessen Erfüllbarkeit auch das praktische Wissen gehören, an die Anderen, von deren Kooperation die Befolgbarkeit des Postulats für jemanden abhängt, einen Rechtsanspruch auf die betreffende Kooperation zu haben und über Durchsetzung dieses Rechtsanspruchs (durch wen und mithilfe von wessen Gewalt auch immer) das Postulat erfolgreich befolgen zu können. Der Inhalt des Postulats ist gewissermaßen eine Aufgabe, zu deren Erfüllung nach jeweiligem Vermögen beizutragen geboten ist, wobei aber die zur Erfüllung beitragenden Handlungen hinsichtlich der Art ihrer Ausführung (im Unterschied zum Fall eines Problems) unmittelbar gewiss sind, obwohl die Erfüllung der Aufgabe nur durch koordiniertes Zusammenhandeln mehrerer zustande kommt. Das dürfte nur so zu verstehen sein, dass die rechtlich zur Koordination Verpflichteten wechselseitig aneinander einen Anspruch auf eine der Aufgabe gemäße Beteiligung der jeweils Anderen an der Aufgabe-Erfüllung haben. Für den näheren Inhalt dieses Anspruchs aber ist die Frage entscheidend, worin die Aufgabe genau besteht. Was kann und muss man noch sagen zum Inhalt des fraglichen Wissens-wie? Vom drohenden Ruin allen Rechts der Menschen als Ursprung der Aufgabe her ist leicht auszumachen, dass es nicht darum zu tun sein kann, bloß irgendeinen (begrenzten) politischen Zustand herzustellen, dessen Gewalt dann selber alle Rechte geben mag, darunter auch beliebige, innerhalb der politischen Einheit unter dieser Gewalt geltende private Rechte. Vielmehr müssen die schon unterm Recht der Menschen bestehenden, wenn auch gefährdeten privaten Rechte unbeschädigt erhalten bleiben – mit der einzig hier relevanten²² Ausnahme genereller rechtlicher Befugnis zu je von den individuellen Rechtsträgern ausübbarem, das Recht in die eigene Hand nehmendem und den Richter sowie Gerichtsvollzieher in eigener Sache machendem Zwang. Einzig diese Befugnis, die im nicht-rechtlichen Zustand jeder sich allein von ihrer Privatrechtsautonomie bestimmen lassenden Person zukommt, muss aufgegeben werden. Ineins damit aber muss zur Erfüllung der Aufgabe die Ausrichtung allen Rechts – des privaten sowie des (rechtlich möglichen) öffentlichen – auf Gerechtigkeit (in der trias beschützender, wechselseitig erwerben lassender und distributiver, d. h. justizieller) erhalten bleiben und zu ihrer Erhaltung (schließlich dann auch durch Etablierung öffentlich-rechtlicher Gewalt) gesichert werden, nachdem sie zuvor schon durch die im Imperativ des Postulats öffentlichen Rechts enthaltenen Rechtsforderungen und ihre Normen präzisiert ist.
22 Veränderungen am Inhalt privaten Rechts, die mit der Ablösung seines provisorischen status durch einen peremtorischen einhergehen (vgl. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, § 9), gehören nicht hierher.
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III Grundzüge eines kantisch gedachten Menschenrechtekonzepts Was ergibt sich aus dem Bisherigen im Hinblick auf einen sich gut einführenden Begriff der Menschenrechte; und welches Potential für deren Begründung enthält dieser Begriff? – Gewiss dürfen wir nicht davon ausgehen, der Übergang, um den es nun zu tun ist, müsse zu einem Staat mit seinem Souverän führen. Am Ende, beim Befolgen des Postulats, mag sich herausstellen, dass es unter anderem so ist. Zunächst aber ist dem Postulat gemäß nur zu denken, dass der Übergang den nicht-rechtlichen Zustand zugunsten eines rechtlichen beenden muss – zugunsten eines Zustandes nämlich, in welchem die distributive (d. h. justizielle) Gerechtigkeit zum Zuge kommt; und dass er erfolgen muss, weil andernfalls ein Fiasko allen Rechts der Menschen unvermeidlich wäre. Oberstes Rechtsgut ist also für den Übergang die Erhaltung, Sicherung und Wirksamkeit des Rechts der Menschen. Dieses Recht aber kann bei Errichtung einer souveränen Gewalt, die allen übrigen Willkürvermögen von Menschen an Macht überlegen ist, fast ebenso leicht zuschanden werden wie in einem Fehdezustand, der alle natürlichen Personen und Personenverbindungen in seinen Strudel hineinzieht. Man muss sogar sagen: Das Recht der Menschen wäre auch dadurch höchst gefährdet, ja, aufs Äußerste beschädigt, wenn es sich verwandeln würde in – wie immer zustande kommendes – positives Recht eines vereinzelten souveränen Staats, der bloß seine Vorstellungen – und sei’s von Gerechtigkeit – durchdrückt. Auch ein paar auf Kompromiss und Konsensbildung ausgerichtete, diskurspragmatische Regeln für den souveränen Gesetzgeber oder Verfassungsgesetzgeber dieses Staats würden daran nichts Wesentliches ändern. Unter einfachen zwischenmenschlichen Verhältnissen hingegen mag ein Rabbi oder ein Mullah bewirken, dass die Menschen seiner Umgebung aus dem nicht-rechtlichen Zustand heraustreten, und er für richterliche Gerechtigkeit sorgen kann,²³ auch wenn damit dem Postulat des öffentlichen Rechts noch längst nicht voll entsprochen ist. Nur darf sich beim Befolgen und Durchsetzen des Postulats als eines rechtlich-praktischen keiner anmaßen, Anderen bestimmte Motive oder Zwecksetzungen aufzuzwingen. Jeder muss sich bei der Kooperation strikt darauf beschränken, das äußere Handeln (bzw. Unterlassen) sowie die Willküreinstellung hierauf bei den Anderen gemäß dem vom Postulat Geforderten zu beeinflussen. Ob solches Einwirken auf die Anderen auch deren Tugendgesinnung fördert oder nicht, muss rechtlich gleichgültig bleiben. Andernfalls wäre damit bereits der erste Schritt zu einem Tugendregime getan und
23 Vgl. zur Veranschaulichung Singer, 1971.
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Korrumpierung des Rechts die Folge. In ihrer Fortsetzung läge die Errichtung einer Robespierre’schen Schreckensherrschaft. Was also hat hier mit dem Gehalt der subjektiven Rechte unterm allgemeinen Recht der Menschen zu geschehen, damit dieses Recht als eines der (d. h. aller) Menschen erhalten bleibt? Was muss zur Erfüllung der im Postulat öffentlichen Rechts enthaltenen Aufgabe getan und diesem Postulat zufolge erkennbarerweise gedacht sowie beachtet sein, damit sich das Recht der Menschen erhält? Für die Beantwortung der nun derart zugespitzten Frage sind die Ansprüche ausschlaggebend, welche die das Postulat Befolgenden an jeweils Andere richten (die es befolgen oder nicht befolgen) und welche die vom Imperativ im Postulat Verpflichteten auch haben, ob sie – sowie die jeweils Anderen – dieses Postulat nun befolgen und die Ansprüche erheben oder nicht. Um hier den für unser Thema entscheidenden Schritt zu tun, sollte man sich Gedanken machen zu vier Aspekten jener Ansprüche, um die es hier geht: 1. Wer hat die Ansprüche? – 2. Welchen – generell, aber genau bestimmten – Inhalts sind die Ansprüche und welche fundamentalen Spezifikationen zeichnen sich unter ihnen ab? – 3. An wen, genau, richten sie sich? – Nicht zuletzt aber: 4. Inwiefern bestehen sie, wenn sie gemäß den Ausführungen zu 1.–3. verstanden werden, aufgrund der verpflichtenden Forderung, die mit dem Postulat des öffentlichen Rechts an jeden Menschen als Menschen ergeht? 1. Am einfachsten ist zu sagen, wer die Ansprüche hat. Natürlich hat sie jeder individuelle Mensch als Mensch. Aber das heißt nun präziser: Jeder hat sie insofern, als er sich, bloß als Mensch genommen, vor Anderen nicht dadurch auszeichnet, ausnahmsweise über die Willküroption zu verfügen, sich aus allem Verkehr mit Anderen erfolgreich zu entfernen, und dieser Option entsprechend gehandelt zu haben.²⁴ Jeder individuelle Mensch hat die Ansprüche aber – bloß als Mensch – auch ganz unabhängig von der Frage, ob er sich dadurch auszeichnet, dass er das Postulat öffentlichen Rechts befolgen kann oder ob er das nicht kann oder das Postulat sogar nicht einmal als solches wahrzunehmen vermag. Es genügt, dass er ein zum Individuum gewordener Mensch ist. Ferner: Alle, die vor der Forderung dieses Postulats stehen, haben dadurch den oben – unter II. C) – in abstracto bezeichneten Rechtsanspruch ganz unabhängig von der Frage, ob sie das Postulat im Umfang des ihnen hierzu möglichen und rechtlich erlaubten Beitrags erfüllen oder nicht. Insofern gilt: Wenn dieser Anspruch impliziert, dass 24 Ganz so wie jeder Mensch, bloß als Mensch genommen, sich vor Anderen nicht dadurch auszeichnet, von allem Verkehr mit Anderen entfernt zu sein und sich entfernt halten zu können. Eben deshalb ist der im Postulat öffentlichen Rechts enthaltene Rechtsimperativ auch für jeden, bloß als Menschen, kein hypothetischer, sondern ein kategorischer.
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es Menschenrechte gibt,²⁵ dann haben wirklich alle individuellen Menschen als Menschen diese Menschenrechte auch in vollem Umfang – im Unterschied zu den Bürgerrechten, die für einige von ihnen in jeweils einem besonderen Staat gemäß dessen Verfassung bestehen. 2. Zum Inhalt des schon generell gekennzeichneten, allen Menschen zukommenden Anspruchs und zu Spezifikationen desselben in je besonderen Ansprüchen werden wir eine ganze Reihe von Aussagen machen müssen, durch die dann unter Anderem auch die Behauptung bekräftigt werden wird, dass für den Begriff der Menschenrechte und fürs Bestehen von Menschenrechten überhaupt eine zwischenmenschliche Gemeinschaft keine konstitutive Voraussetzung ist, sodass diese Rechte auch nicht von einer solchen kommen können. Desgleichen wird sich dadurch die Chance zur Begründung von Menschenrechten konkretisieren und wird erstmals eine vage Strukturierung der Verschiedenheit einzelner Menschenrechte absehbar. a) Wenn, wie gesagt, die im Postulat enthaltene imperativische Forderung nach dem Grundsatz einer in Auswechslung subjektiver Rechte gegeneinander bestehenden und insofern kommutativen Gerechtigkeit befolgt werden soll, die für aufzugebende Befugnisse (mindestens) gleichwertige Rechte erwerben lässt, so wird die (zunächst im allgemeinen Begriff des Rechts und seines allgemeinsten Prinzips implizierte) Befugnis der einzelnen, Andere in den Rahmen bestehender subjektiver Rechte (und mit diesen einhergehender Rechtspflichten gegen die Befugten) notfalls zu zwingen, nicht ersatzlos entfallen können. Sie wird mindestens – zunächst jedenfalls und bekräftigt durch die im Postulat öffentlichen Rechts enthaltenen Rechtsforderungen – in den rechtlichen Anspruch aller übergehen müssen, Andere, mit denen im Erfüllen der Rechtspflicht zu kooperieren ist, synergetisch (notfalls mit Gewalt) zu entsprechendem Verzicht auf Selbstjustiz zu bringen und für die aufgegebene Befugnis dauerhaft eine reelle Chance auf Erhaltung des Rechts der Menschen und aller weiterhin unter diesem bestehenden subjektiven Rechte zu bekommen. So führt das Postulat öffentlichen Rechts im Wissen, wie es zu befolgen ist, zum Anspruch eines jeden auf diese Kompensation – und zwar so, dass damit alle übrigen subjektiven Rechte aus dem Recht der Menschen erhalten bleiben, darüber hinaus aber dauerhaft (im Maße anhaltender Kooperation) gesichert werden. Diese Substanz-Erhaltung der subjektiven Rechte aus dem Recht der Menschen (einschließlich ihrer Einbettung in die aus ihm bestehenden Rechtspflichten) wird natürlich auch für alle übrigen,
25 Denn damit wird ja eine notwendige Bedingung von Menschenrechten, die schon in subjektiven Rechten unterm Recht der Menschen besteht, durch eine weitere – sie zur auch hinreichenden machende – Bedingung ergänzt.
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besonderen Ansprüche unterm bislang generell gekennzeichneten Anspruch gelten müssen, so wahr das Postulat öffentlichen Rechts nach dem Grundsatz nicht nur kommutativer, sondern auch bestehende Rechte schützender Gerechtigkeit sowie gemäß den Ulpianischen Rechtsregeln zu erfüllen ist. b) Ein weiterer besonderer Anspruchsinhalt, der mit jedem Schritt zur Befolgung des im Postulat formulierten Imperativs gegenüber den zur Kooperation gebrauchten Anderen geltend zu machen ist, geht zweifellos darauf, dass diese Anderen jeweils nach ihrem Vermögen beitragen zu einer Bildung und Erhaltung leistungsfähiger, öffentlich ausgeübter Rechtsfunktionen, deren Wirken nicht etwa der Entfaltung größtmöglicher Macht überhaupt dient, sondern auf Optimierung der Durchsetzung distributiver Gerechtigkeit gerichtet ist und zu erfolgen hat gemäß den in der Forderung solcher Gerechtigkeit schon enthaltenen Rechtsgeboten. Das wiederum impliziert, wie mir scheint, Anspruchsinhalte, mit denen wir endlich zum Konzept der Menschenrechte kommen: Die distributive Gerechtigkeit lässt sich ja nur durchsetzen über Rechte schützende und wechselseitig erwerben lassende Gerechtigkeit sowie ihre Garantie. Daher muss der wechselseitig bestehende und zu erhebende Anspruch auf Leistungen Anderer unter den nur kooperativ zu erbringenden Leistungen auch kollektiv zu treffende rechtliche Vorkehrungen dafür umfassen, dass die subjektiven Rechte aus dem Recht der Menschen erhalten bleiben und ihr wechselseitiger Erwerb gerecht erfolgt. Das aber will recht verstanden werden. Die Kompensation, von der unter a) die Rede war, kann keineswegs bloß von Fall zu Fall erfolgen oder gar nur nach dem Maß von Leistungen, die in Befolgung des Postulats erbracht werden. Das wäre nicht nur für ein Wissen, wie das Postulat zu befolgen ist, illusorisch. Es befände sich vor allem auch im Widerstreit zur dreifachen Gerechtigkeit, auf deren Wirksamkeit die Forderung des Postulats gerichtet ist. Ihr gemäß muss vielmehr jedem Adressaten dieser Forderung als einem Rechtsträger, der einzelner Mensch und natürliche Rechtsperson ist, all dasjenige an subjektiven Rechten, also Rechtsansprüchen, zuerkannt werden, ohne welches die Preisgabe der Befugnis, Andere notfalls in die Grenzen bestehenden Rechts zu zwingen, im Rechtsträger beim Übergang in einen rechtlichen Zustand kein überzeugendes Äquivalent hätte, das der Situation des Übergangs und allemal schon dessen jeweiligem Stadium angemessen ist. Dem einzelnen Menschen als natürlicher Person müssen also dauerhaft und generell diejenigen Rechtsansprüche zukommen, ohne die sein Wissen, wie das Postulat zu befolgen ist, keinen Bestand haben könnte. Und die Differenzierung dieser Ansprüche muss der mit dem Postulat generell an den Einzelnen gerichteten Forderung in mehrerlei Spezifikationen des Wissens-wie entsprechen. Sie muss sich auf Erfüllung von Bedingungen hin differenzieren, welche für die Postulatsbefolgung praktisch notwendig sind, und darf ihre für frühere Stadien des
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Übergangs erkannte Notwendigkeit auch in späteren Stadien nicht verlieren, sondern darin allenfalls ergänzt finden. Schon für das Anfangsstadium strukturiert sich die Differenzierung unter mindestens drei Gesichtspunkten: insofern nämlich, als die praktisch notwendigen Bedingungen bereits hier zum einen in der Natur des Rechtsträgers selbst liegen, aber ihre Erfüllung eigens gesichert werden muss; zum anderen insofern, als sie dessen Relation zu seinen subjektiven Rechten unterm Recht der Menschen betreffen, die schon bestehen, aber im nicht-rechtlichen Zustand gefährdet sind; zum dritten aber insofern, als sie charakteristisch sind für das Verhältnis des Betreffenden zu einer justiziellen Gerechtigkeit, auf die kooperativ mit Anderen hinzuwirken ist. In jeder dieser drei Hinsichten lassen sich relativ leicht unumgängliche Anspruchstypen ausmachen und als einzelne Menschenrechte identifizieren. Zugleich finden sich diese Ansprüche in den wichtigsten Menschenrechtskatalogen seit Ende des Zweiten Weltkriegs verzeichnet: In der ersten Hinsicht gehören dazu Persönlichkeitsrechte wie diejenigen auf Leben, ²⁶ körperliche Unversehrtheit ²⁷ und eine beidem entsprechende Sicherheit ²⁸ der Person sowie das Verbot von Sklaverei und Folter, ²⁹ aber auch Freiheitsrechte, in denen sich das (einzige) „angeborene Recht“³⁰ inhaltlich reicher bestimmt als in der Unmittelbarkeit, in der es angeboren ist: z. B. als Achtung des Privatlebens,³¹ Freiheit der Information,³² der Gedanken, des Gewissens, der Religionsausübung,³³ sowie als Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit.³⁴ Nicht zuletzt gehört zu dieser Hinsicht aber auch der Anspruch auf Chancen zur freien Entfaltung der Persönlichkeit und zur Bildung. ³⁵ Unterm Gesichtspunkt der zweiten Hinsicht hat man es einerseits zu tun mit Anspruch auf kollektiven Schutz und Achtung von subjektiven Rechten, die, ohne angeboren zu sein, schon (wie insbesondere Eigentums-Ansprüche)³⁶ unterm Recht der Menschen bestehen. Desweiteren gehört zu dieser Hinsicht zweifellos
26 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 1949 (= GG), Art. 2 (2); vgl. Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen, 1948 (= AE), Art. 3; Europarat-Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, 1950 (= EK), Art. 2 (1). 27 GG, a.a.O. 28 AE, Art. 3; EK, Art. 5 (1). 29 AE, Art. 4, Art. 5; EK, Art. 4, Art. 3. 30 Kant, AA VI, 237,5/238]. 31 EK, Art. 8 (1); vgl. AE, Art. 6, Art. 12. 32 GG, Art. 5 (1); AE, Art. 19; EK, Art. 10. 33 GG, Art. 4 (1), (2); AE, Art. 18; EK, Art. 9. 34 GG, Art. 8 (1), 9 (1)-(3); AE, Art. 20. 35 GG, Art 2 (1); AE, Art. 26, 1., 2.; vgl. Verfassung des Landes Niedersachsen, 1993, Art. 4 (1). 36 GG, Art. 14; AE, Art. 17.
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auch der Anspruch, dass der Rechtsträger vor dem Gesetz im ursprünglichen Besitz und in der Möglichkeit zur Erlangung seiner subjektiven Rechte allen anderen Rechtsträgern, die natürliche Personen sind, gleichgestellt ist;³⁷ es gehört zu den menschenrechtlichen Normen also auch eine Norm, aus welcher das Verbot rechtlicher Diskriminierung folgt, wie z. B. derjenigen wegen des Geschlechts oder wegen anderer ethnischer Zugehörigkeit, Rasse, Abstammung, religiöser Anschauung. In der dritten Hinsicht schließlich bedarf es zur Befolgung des Postulats öffentlichen Rechts auf Seiten des jeweiligen Rechtsträgers eines menschenrechtlichen Anspruchs auf rechtliches Gehör,³⁸ auf ein faires Verfahren im Rechtsstreitfall³⁹ und, nicht zuletzt, auf Einrichtung einer Gerichtsinstanz für Menschenrechtsstreitigkeiten.⁴⁰ Bereits fürs erste Stadium des Übergangs in einen rechtlichen Zustand ist also mit den praktisch notwendigen Bedingungen zur Befolgung des Postulats öffentlichen Rechts eine erhebliche Menge jener Menschenrechte erkennbar, über die heute in parlamentarisch-rechtsstaatlichen Verfassungen und Menschenrechtserklärungen Konsens besteht. c) Wenn sich, wie im weiteren Verlauf wohl unvermeidlich, die Funktionen öffentlichen Rechts zu öffentlichen Gewalten ausbilden oder ausgebildet haben, so muss sich der Anspruch, der zunächst an andere natürliche Personen des bezeichneten Personenkreises gerichtet ist, auch ausdehnen auf die juristischen Personen, welche die Ausbildung der öffentlichen Gewalten bewirken oder deren Betätigung verantworten. Zugleich muss jeder, der sich im Tätigkeitsbereich der diese Gewalten repräsentierenden, juristischen Personen befindet, berechtigt sein, zu deren Funktionen in angemessener Weise beizutragen, ebenso aber auch ihnen gegenüber Anspruch haben auf Schutz vor Übergriffen ihrer Gewalt. Aus Anlässen solcher Übergriffe ist die Idee der Menschenrechte geschichtlich aufgekommen. Doch den in der Sache einleuchtenden Ursprung hat ihr Begriff bereits im jetzigen, von allem Historischen abstrahierenden Kontext. So kann man, glaube ich, generalisierend in erster Näherung sagen: Menschenrechte sind diejenigen subjektiven Rechte unterm Recht der Menschen, die aufgrund des Postulats öffentlichen Rechts mit (mindestens) all den oben unter a) – c) genannten Ansprüchen verbunden sind; und mit diesen Ansprüchen verbundene subjektive Rechte unterm Recht der Menschen sind jedenfalls Menschenrechte.
37 GG, Art. 3; AE, Art. 2, Art. 7; EK, Art. 14. 38 AE, Art. 10. 39 EK, Art. 6. 40 EK, Art. 19.
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Handlungen oder Unterlassungen hingegen, welche die genannten Ansprüche oder einige von ihnen nicht respektieren, sind allemal Verletzungen von Menschenrechten. Eine schon bestehende zwischenmenschliche Gemeinschaft zwischen den Inhabern und den Adressaten der Ansprüche ist dabei jedoch weder für solche Verletzungen noch für die so verstandenen Menschenrechte unter a), b) und c) vorauszusetzen, insbesondere aber nicht für die schon gemäß a) bestehenden Ansprüche und nicht für alle Inhaber sowie Adressaten der Ansprüche unter b).⁴¹ Wenn es sich so verhält, ist die Auskunft über weitere Inhalte der mich hier interessierenden Ansprüche nicht mehr schwer; und auch diese Inhalte sind dann solche von Menschenrechten. Um sie wenigstens noch zu skizzieren: d) Bei Zentrierung der Gewalten zu denen eines vereinzelten Staats kommt jeder natürlichen Person, da sie in ihren subjektiven Rechten zu schützen und ihr das Ihrige zu gewähren ist, gerechterweise der Anspruch zu, wenigstens einem solchen Staat anzugehören sowie an dessen Politik aktiven Anteil zu haben und nehmen zu können. Jeder einzelne hat den Anspruch, in mindestens einem Staat nicht nur Untertan, sondern auch Aktivbürger zu werden und dann zu sein. Andernfalls nämlich bliebe ihm dem Staat gegenüber seine schon unterm Recht der Menschen bestehende Befugnis nicht unverkürzt, selber aktiv darauf hinzuwirken, dass ihm Gerechtigkeit (als schützende, kommutative und distributive) zuteil wird. e) Da es unter der Gefahr von Übergriffen seitens öffentlicher Gewalten um distributive, durch solche Gewalten zu bewirkende, justizielle Gerechtigkeit geht, diese aber wohl nur zu erlangen ist unter einer „legitim“, d. h. berechtigtermaßen rechtsgesetzlich herrschenden, souveränen Gewalt, muss der menschenrechtliche Anspruch auch enthalten, dass die Gewalten kooperativ in eine rechtliche Verfassung gebracht werden und die Verfassung die Form eines positiv-rechtlichen Verfassungsgesetzes erhält. Ausgezeichneter Bestandteil dieses Gesetzes müssen positivierte Menschenrechte sein, durch die alle Menschen im Wirkungsbereich der betreffenden öffentlichen Gewalten ihre subjektiven Rechte unterm Recht der Menschen geschützt finden, mag gleichzeitig auch jeweils denen von ihnen, die gemäß dem Postulat vorrangig zu kooperativer Erhaltung der jeweiligen Einheit eines bestimmten Staats verpflichtet und dessen Bürger sind, ein fair erhöhter Anteil an der politischen Betätigung gesichert sein. Man sollte bei diesen zunehmend komplexer werdenden Anspruchsinhalten aber nicht vergessen, dass
41 Je nachdem, wie eng oder wie weit man den Begriff einer zwischenmenschlichen Gemeinschaft in Rechtsangelegenheiten fasst, möge man sich hier an die weitergehende oder an die weniger weitgehende Behauptung halten.
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wie zuvor auch diese inhaltlich bestimmteren Ansprüche bei denen, die sie haben, stets mit entsprechenden – ebenfalls wechselseitig unter ihnen bestehenden – Pflichten (gemäß dem Postulat des öffentlichen Rechts) verbunden sind – ohne freilich in ihrer effektiven Geltung zur Voraussetzung zu haben, dass diese Pflichten tatsächlich befolgt- oder gar erfüllt werden. f) Vermutlich verlangt die Idee kommutativer Gerechtigkeit zusätzlich, dass allenthalben allen, die im Wirkungsbereich einer politischen Einheit von öffentlichen Gewalten leben, rechtlich ein fairer Anteil an den fundamentalen Lebensvorteilen gewährt wird, die aus dem erfolgreichen Wirken dieser Gewalten durch Mehrung des öffentlichen und privaten Wohls und Erhöhung sozialer Chancen hervorgehen. Denn Lebensvorteile, die sich kollektiv erarbeiten lassen oder sogar schon erarbeitet sind, werten natürlich auch das Potential zu ihnen auf, das mindestens teilweise bereits in den mit Willküroptionen verbundenen subjektiven Rechten enthalten war, die zum nicht-rechtlichen Zustand gehörten. Beim Herausgehen aus ihm und Übergang in den Zustand einer besonderen, politischen Rechtsgemeinschaft muss nach Maßgabe kommutativer Gerechtigkeit auch diese Aufwertung der ursprünglichen subjektiven Rechte Berücksichtigung finden. So zeichnen sich unter d) – f) die grundlegenden Klassifikationen von besonderen, bereits in ihrem Ursprung politischen Menschenrechten ab: Gemäß einer sachlichen Ordnung, welche auch eine Abfolge spezifischer, aus gleichem Ursprung hervorgehender „Generationen“ von Menschenrechten zu erkennen gibt, gliedern sich diese ausgezeichneten subjektiven Rechte (mindestens) in folgende Ansprüche: (1) auf Schutz elementarer subjektiver Rechte aus dem Recht der Menschen sowie bereits vorpolitisch bestehender Menschenrechte, insbesondere aber auf Schutz vor willkürlichen Übergriffen öffentlicher, staatlicher Gewalten; (2) auf aktive Teilhabe am politischen Prozess in jeweils (mindestens) einem Staat; und (3) auf Ermöglichung sozialer Teilnahme am Leben in diesem Staat und an der in ihm dauerhaft verbesserten sowie nach Möglichkeit erhaltenen Lebensqualität und Lebenschancen-Verteilung. Deutlich wird dabei auch, dass zwischen den ersten beiden dieser Gruppen von Menschenrechten und der dritten Gruppe (einschließlich ihrer zuletzt angedeuteten Variante) ein markanter Unterschied besteht. g) Ganz abgesehen davon gilt jedoch wegen des globalen Umfangs der natürlichen Personen, welche Inhaber von Menschenrechten sind: Zum Schutz von Menschenrechten sowie zur Ausdehnung und Verstärkung ihrer wirksamen Geltung müssen die Gewalten, die gemäß dem Postulat öffentlichen Rechts zu errichten und zu erhalten sind, weit über je einzelne, souveräne politische Einheiten solcher Gewalten hinausreichen. Sie müssen auch zwischen- sowie überstaatliche und unter ihnen nicht zuletzt private Institutionen umfassen, die alle darauf
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hinwirken, den Menschenrechten allmählich zu globaler Wirksamkeit zu verhelfen. Alle natürlichen Personen und diesen Zweck enthaltenden privaten Institutionen müssen mit allen öffentlichen Institutionen letztlich dahin zusammenwirken, in Sachen Menschenrechte ein kosmopolitisches Recht zu schaffen, dessen Normen alle Adressaten ihrer Forderungen wirksam verpflichten und nach und nach alle natürlichen Personen mit im Kern gleichen sowie gleich starken menschenrechtlichen Ansprüchen ausstatten. Wenngleich dieser Gedanke (als ein regulatives praktisches Prinzip) die Menschenrechte nicht begründet, ist er doch ein stimulans ihrer weiteren Entwicklung und, recht verstanden, eine zusätzliche Stütze für ihre wirksame Geltung. Das gedankliche Potential, das Kants Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre in dieser Hinsicht mit ihren „drei Formen“ des legitime öffentliche Gewalt ausübenden Rechts (§§ 43 f.) enthalten, müsste Gegenstand einer eigenen Untersuchung werden. Es scheint mir selbst in J. Rawls wertvollen Beiträgen zum völkerrechtlichen Aspekt der MenschenrechtsThematik nicht voll ausgeschöpft. 3. An wen oder an welche mit Willkür ausgestatteten Akteure gehen die skizzierten Ansprüche? Auch das ist nun nicht mehr schwer zu sagen. Zwei Dinge sind evident: a) Adressaten der Ansprüche sind beim Übergang in einen rechtlichen Zustand zunächst jeweils diejenigen anderen natürlichen Personen, deren Willkürumfang sich mit dem des Anspruchsträgers oder für diesen rechtlich Verantwortlichen so überschneidet, dass sie zur Verwirklichung des Anspruchsinhalts etwas zu leisten vermögen. Nur muss man dabei beachten, dass sich mit dem Zustandekommen von Kooperationsbeziehungen der Willkürumfang der in solchen Beziehungen Stehenden erhöht. Stärker und stärker richtet sich der Anspruch damit bei weiterer Ausbildung des rechtlichen Zustandes an jene natürlichen Personen, die mit ihrer Willkür einen besonderen Beitrag leisten können zur Bildung und Aktivierung von privaten, der Erfüllung des Postulats öffentlichen Rechts förderlichen Personenverbindungen. Er geht daher auch an Funktionsträger solcher Verbindungen (sowie über sie auf kooperative Entwicklung weltweiter privater Institutionen, die sich der Verstärkung der Wirksamkeit von Menschenrechten widmen); und er ergeht auch an diese Institutionen selbst als juristische Personen, sobald sie gebildet sind. Unabhängig davon aber und dem zuvor sind alle Menschen in ihrem Willkürbereich jeweiligen menschenrechtlichen Ansprüchen Anderer konfrontiert; und ihre je eigenen menschenrechtlichen Ansprüche auf Leistungen Anderer sind allemal eingebaut in jene mit dem Postulat öffentlichen Rechts an sie gerichtete Rechtspflicht, die vor allen anderen speziellen Rechtspflichten Vorrang hat und verhindert, dass die menschenrechtlichen Ansprüche ein einseitiges Anspruchsdenken befördern. Falsch aber
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wäre es zu behaupten, der menschenrechtliche Anspruch richte sich von jedem Anspruchsträger aus an alle anderen Menschen. Denn der Adressaten-Umfang ist allemal begrenzt auf den Bereich möglicher Kollisionen von Willküroptionen zwischen dem jeweiligen Inhaber von Menschenrechten und anderen, natürlich vereinzelten oder kollektiven Willkürsubjekten. b) Sind politische öffentliche Gewalten (sei’s staatliche, zwischenstaatliche oder überstaatliche) einmal gebildet und auf der Basis zu ihrer Erhaltung beitragender Kooperation unter natürlichen Personen gesichert, so kann man auch sagen: Für diesen rechtlichen Zustand werden die jeweils zuständigen (oder durch Andere zuständig zu machenden) öffentlichen Gewalten und ihre Funktionsträger vorrangiger Adressat der menschenrechtlichen Ansprüche. Denn sie haben im Vergleich zu natürlichen Personen auch das größere Leistungsvermögen zu deren Erfüllung und die oben unter 2. c) bis f) registrierten menschenrechtlichen Anspruchsinhalte verpflichten ohnehin vorrangig oder ausschließlich sie. Trotzdem darf man nicht behaupten, die Ansprüche seien nun nicht mehr eingebaut in Pflichten gemäß dem Postulat öffentlichen Rechts; oder die öffentlichen Gewalten seien nun der einzige Adressat von menschenrechtlichen Forderungen und seien bei Verstößen gegen solche allein noch in Anspruch zu nehmen. Die Ansprüche an die unter a) bezeichneten natürlichen Personen bleiben ebenso bestehen wie die diese Personen verpflichtenden Rechtsimperative, die im Postulat öffentlichen Rechts enthalten sind. Auch insofern findet das Anspruchsdenken, das bei einem bloß politischen Konzept von Menschenrechten schwer zu vermeiden ist, hier keine Chance, sich auszubreiten. 4. Schließlich: Inwiefern bestehen die menschenrechtlichen, für die Menschenrechte konstitutiven Ansprüche (in Ansehung sowohl des Umfangs der Träger als des Inhalts als auch der Adressaten von Menschenrechten) irgendwie aufgrund der im Postulat öffentlichen Rechts an jeden Menschen gerichteten Verpflichtung? Das, hoffe ich, bedarf nun im Grundsätzlichen keiner Erklärung mehr, wohl aber noch mancher Präzisierung und Bekräftigung der bisher nicht deutlich genug angegebenen Gründe: Die Ansprüche bestehen – so ließ sich bis jetzt immerhin sagen –, weil 1) das den Gehalt des Postulats öffentlichen Rechts bildende Sollen mit allen aus ihm folgenden Imperativen seinen rechtlich zwingenden Grund darin hat, dass ohne es und seine Wirksamkeit allem Recht der Menschen ein Fiasko beschieden wäre, welches praktisch unmöglich machen würde, das „allgemeine Rechtsgesetz“⁴² zu befolgen; weil 2) zum Befolgen dieser Imperative als derjenigen eines Postulats jene Ansprüche als praktisch notwendige Bedingungen der Befolgung hinzugehören und weil 3) jene Ansprüche im Postulat irgendwie,
42 Vgl. Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, § C, Abs. 4.
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nämlich mindestens potentiell, gewusst sind als rechtens bestehende, wirksam zur Geltung zu bringende und praktischer Gewissheit zufolge auch zur Geltung kommende Ansprüche. – Eine förmlich beweisende, ihre Schlüssigkeit evident machende und zugleich allen absehbaren Bedenken Rechnung tragende Begründung, so wichtig sie wäre, kann nicht Sache eines Plädoyers sein. Ausgangspunkt und tragender Grund für die Erkenntnis wäre darin jedoch ebenfalls das Postulat öffentlichen Rechts. Es sollte als solcher Grund im heutigen philosophischen Menschenrechtsdiskurs endlich wahrgenommen und auch von Rechtsexperten sowie Politikern in ihre Erwägungen einbezogen werden. Die Früchte, die das zeitigen würde, würden, wie mir scheint, nicht nur unser Verständnis der Menschenrechte und ihrer Prinzipien bereichern. Sie wären auch unter Gesichtspunkten der Positivierung und der wirksamen Durchsetzung von Menschenrechten sowie im Hinblick auf bestmögliche Menschenrechtspolitik bedeutsam.
IV Hegel statt Kant? Als oben (am Ende von I.) Rechtsphilosophien, die im Umkreis der Wirkung Kants entstanden sind, kurz auf Möglichkeiten hin erwogen wurden, in ihren Kontext die Menschenrechte einzubeziehen, ist Hegels Rechtsphilosophie ausdrücklich ausgespart geblieben.Wäre nicht wenigstens sie, alternativ zum hier unternommenen Versuch, Kant in einem wichtigen Lehrstück seiner Metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre weiterzudenken, als Grundlage für einen analogen Versuch tauglich – oder zumindest für eine Ergänzung zum obigen, vom kantischen Ansatz aus möglichen und hier empfohlenen Versuch? Immerhin bringt sie ja zahlreiche Gesichtspunkte, unter denen Kants Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre das Privatrecht abhandeln, durchsichtiger, vollständiger und kohärenter als Kant selbst zur Geltung. – Zwar kommen auch bei Hegel die Ausdrücke „Menschenrechte“ und „Menschenrecht“ in den von ihm selbst veröffentlichten Schriften gar nicht und im gesamten, uns von ihm überlieferten Oeuvre nur höchst selten vor.⁴³ Gleichwohl aber hat Hegel über die Rechtspflege angemerkt, für sie und innerhalb der Bildungs- sowie Rechtsgeltungs-Sphäre der Bürgerlichen Gesellschaft, in welche sie gehört, gelte der Mensch als allgemeine Person und gelte als solche, „weil er Mensch ist, nicht weil er Jude, Katholik, Protestant, Deutscher, Italiener 43 Die im Suhrkamp Verlag erschienene Ausgabe der Werke in zwanzig Bänden verzeichnet in ihrer elektronischen Fassung (hrsg. v. Hegel-Institut Berlin e.V.) nur vier Vorkommnisse, unter denen sich nur einmal der Ausdruck „Menschenrechte“ findet, nämlich in der Encyclopädie, § 433, aber auch dort nur in einem nicht von Hegel selbst veröffentlichten Zusatz.
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usf. ist“; dies Bewusstsein sei „von unendlicher Wichtigkeit“.⁴⁴ Doch ein Versuch, die zitierten Äußerungen zum Ausgangspunkt für eine Philosophie der Menschenrechte zu nehmen, stünde vor einer unüberwindlichen Schwierigkeit: Die Äußerungen beziehen sich nur auf Menschen in der präzis als solche gedachten Bürgerlichen Gesellschaft, die ihrerseits expressis verbis nur eine besondere Sphäre des Zusammenlebens von Menschen unter Voraussetzung moderner, politisch verfasster Staaten ist.⁴⁵ Oben hingegen haben wir uns klargemacht, dass nicht einmal die Zugehörigkeit zu irgendeiner menschlichen Gemeinschaft als Voraussetzung für das Zukommen von Menschenrechten gelten kann. Wenn man hoffen dürfte, in Hegels Rechtsphilosophie das Fundament für eine Lehre von Menschenrechten zu finden, müsste man also hinter Hegels Entwicklung des Begriffs von Recht als Gestalt moderner Sittlichkeit zurückgehen in die Lehre vom „abstrakten Recht“ und /oder von „moralischen“ Aspekten rechtlich relevanter oder gar bestimmter Handlungen. In beiden Lehren, die den ersten und zweiten Teil von Hegels dreiteiligen Grundlinien der Philosophie des Rechts ausmachen, endet die Begriffsentwicklung, ähnlich wie bei Kant das Privatrecht, in einem alles Recht bedrohenden Fiasko: Das abstrakte Recht in einer Ahndung von Unrecht, die eine ad indefinitum fortlaufende Kette von Rache- und Wiedervergeltungsakten nach sich zieht; die Moralität der Handlungen hingegen in einer auf die höchste Spitze der Subjektivität getriebenen Selbstsicherheit des Gewissens, in welcher „das Böse in Gutes und das Gute in Böses verkehrt wird“.⁴⁶ Im Unterschied zur kantischen Begründung des Postulats öffentlichen Rechts ergibt sich daraus bei Hegel weder im einen noch im anderen Fall eine unbedingte Rechtsforderung, die zu erfüllen vor allen anderen Rechtsforderungen Priorität hat, sondern „nur“ der Fortgang in eine neue Sphäre der Entwicklung des Rechtsbegriffs, ohne dass am einen oder anderen dieser beiden Fortgänge eine entsprechende Rechtsforderung explizit gemacht und begründet würde. Wenn unter solchen Umständen gleichwohl eine Möglichkeit zu zureichender begrifflicher Bestimmung und Begründung von Menschenrechten bestehen soll, müsste sie entweder ohne den Aufweis einer dem kantischen Postulat öffentlichen Rechts analogen Rechtsforderung auskommen; oder sie wäre nur um den Preis von Hinzufügungen zu den hegelischen Gedanken zu haben, und diese müssten darin nicht bloß ergänzt, sondern auch korrigiert sein.
44 Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 209 A. 45 Vgl. ebd., § 182 Z. 46 Ebd., §§ 102, 140.
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Gegen die erste der beiden hier zu erwägenden Möglichkeiten spricht so gut wie alles, was bereits eingangs bezüglich elementarer Erfordernisse einer philosophisch überzeugenden, begrifflichen Bestimmung der Menschenrechte ausgemacht wurde. Darüber hinaus aber ist auch an Hegels Rechtsphilosophie, näher besehen, gar nicht auszumachen, wie diese zu einer begrifflichen Bestimmung und Begründung von Menschenrechten sollte führen können ohne eine dem kantischen Postulat öffentlichen Rechts entsprechende Rechtsforderung, die begründet würde, wenn nicht in der (den ersten Teil der Grundlinien bildenden) Lehre vom abstrakten Recht spätestens an ihrem Ende, so wenigstens in der (den zweiten, „Die Moralität“ betitelten Teil ausmachenden) Lehre von moralischen Aspekten rechtlich relevanter Handlungen – und zwar zumindest an ihrem (als „Übergang von der Moralität in Sittlichkeit“ bezeichneten) Ende, in welchem es ein Fazit sowohl aus der Entwicklung des Begriffs abstrakten Rechts als auch aus dem ganzen Zusammenhang moralischer Handlungsaspekte zu ziehen gilt. Ohne eine spezifizierende Abhebung von allem, was schon zum Recht freier Rechtspersonen und als solcher zusätzlich moralischer Subjekte gehört und – kantisch gesprochen – schon das „Recht der Menschen als solches“ ausmacht, ist kein überzeugender Begriff von Menschenrechten zu gewinnen. Diese Abhebung aber leistet bei Hegel weder der Übergang vom abstrakten Recht zur Moralität noch der von moralischen Handlungsaspekten zur Sittlichkeit. Am Ende der Lehre vom abstrakten Recht nämlich bekommen wir’s zwar auch mit einer Forderung zu tun,⁴⁷ nämlich mit derjenigen einer „strafenden Gerechtigkeit“. Die Forderung wäre bloß durch weiteres, rechtlich tätiges Handeln zu erfüllen. Doch es wird an dieser Stelle nicht auszumachen versucht, worin die Erfüllung zu bestehen, welchen Gerechtigkeitsprinzipien sie zu genügen hat und wie sich ihnen Rechnung tragen lässt. Die Forderung bringt Hegel zufolge erst einmal lediglich das philosophische Erkennen dazu, die moralischen Aspekte von Handlungen zum Thema zu machen. Auch am Ende dieser Thematisierung jedoch ist bei Hegel weder ein Begriff von Gerechtigkeit und ihrer Prinzipien entwickelt noch zeichnet sich nun wenigstens der Weg zu solcher begrifflichen Entwicklung ab.⁴⁸ Unter solchen Umständen lässt sich die erste der beiden hier zu erwägenden Möglichkeiten gewiss nicht realisieren. Aber auch für eine Realisierung der zweiten Möglichkeit, die sich mindestens am Punkt des Fortgangs von Moralität zur Sittlichkeit ergeben müsste und sich nach allem bisher Festgestellten auch nicht früher ergeben kann, stehen die Chancen schlecht. An diesem Übergangspunkt nämlich wird eine neue, nunmehr
47 Ebd., § 103. 48 Vgl. ebd., § 141.
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doppelte Forderung ausgesprochen:⁴⁹ dass es für das Gute, „aber noch Abstrakte“ zu „Bestimmungen überhaupt“ und zum „Prinzip derselben“ kommt, sowie dass das Gewissen zur „Allgemeinheit und Objektivität seiner Bestimmungen“ gelangt. Dann aber wird nicht gesagt, wie und durch welche, von Anfang an Gerechtigkeitsforderungen Rechnung tragende, rechtlich handelnde Tätigkeit diese Forderungen zu erfüllen sind. Es wird vielmehr nur behauptet, die Integration beider Abstraktionen, die je eine relative Totalität ausmachen, zu deren „absoluter Identität“ sei „schon an sich vollbracht“ und sei „die Sittlichkeit“.Wie soll von hier aus ein Postulat öffentlichen Rechts wie das kantische zu denken sein oder wenigstens ein funktionales Äquivalent zu ihm? Warum berauben sich (gemäß den Grundlinien-Paragraphen 102– 104 und 140 f.) die Rechtspersonen und Rechtssubjekte nicht des Rechtsbodens, auf dem sie sich befinden, sodass sie diesen Boden im Übergang zur schon an sich vollbrachten Sittlichkeit erst einmal, äußerlich und dabei Gerechtigkeitsforderungen gemäß handelnd, auch für sich wieder zurückgewinnen müssen, bevor die Sittlichkeit mit dem ihr entsprechenden Fürsichsein sich in ihren Mitgliedern gewärtigen kann? Vielleicht kann man – möglichst Hegel-freundlich – folgendermaßen argumentieren: Selbst wenn Hegels eigene, oben angegebene Behauptung akzeptiert wird, ist geltend zu machen, dass der Fortgang über die Moralität hinaus sich hinsichtlich materiell rechtlicher, von Prinzipien bestimmter Gerechtigkeit nicht im an sich Vollbrachten erschöpfen kann. Recht ist allemal Dasein des an und für sich freien Willens, das aus dessen äußerer Tätigkeit hervorgeht oder hervorgegangen ist. Der Fortgang muss in einer Philosophie des Rechts daher auch sagen, durch welches handelnde Tun die (am Ende des abstrakten Rechts sowie der Moralität manifest gewordenen) Forderungen zu ihrem praktischen Teil zu erfüllen sind, sodass das erst an sich Vollbrachte, auch vom und für den Willen einzelner Rechtspersonen und moralischer Subjekte in ihnen, die Forderungen erfüllend, vollzogen wird. Leider aber hat Hegel dies sowohl in seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts als auch in seiner Encyclopädie unterlassen. Die bessere, einer begrifflichen Bestimmung und Begründung von Menschenrechten nähere Alternative zum kantischen Ansatz, der uns im Postulat öffentlichen Rechts vorliegt, stellt somit Hegels Rechtsphilosophie in ihrer authentischen Fassung gewiss nicht dar. Statt Kant lässt sich Hegel für die Grundlegung einer Philosophie der Menschenrechte also nicht heranziehen. Man müsste Hegel an der hierfür entscheidenden Stelle vielmehr erst einmal mithilfe Kants berichtigen, bevor man die Ausgestaltung einer dadurch möglichen, philosophischen Erkenntnis der Menschenrechte mit hegelischen Mitteln noch weiter kon-
49 Ebd.
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kretisieren könnte. Dazu wäre freilich auch Hegels Lehre von Rechtspflege in der Bürgerlichen Gesellschaft wertvoll. Der Weg dahin aber wäre erheblich länger als derjenige, den Hegel in seinen Grundlinien gegangen ist. Allerdings könnte er auch frei gehalten werden von Unplausibilitäten und Inkonsistenzen, die Kant in seiner Lehre vom Privatrecht unterlaufen sind. Glücklicherweise war von diesen Mängeln jedoch nicht das kantische Fundament einer Philosophie der Menschenrechte betroffen. Eben dadurch war es besonders glaubwürdig und verlässlich als Ausgangspunkt für das hier vorgetragene Plädoyer.
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Epistemische Autonomie und praktische Rationalität Wenn wir unsere theoretische Vernunft ausüben, sei es spontan in der Wahrnehmung oder gezielt in der Überlegung, konstatieren oder erklären wir, was der Fall ist.Wenn wir dagegen unsere praktische Vernunft betätigen, entscheiden oder begründen wir, was wir tun sollen. Fakten und ihre Erklärung, so scheint es, sind Sache der theoretischen Vernunft, während das Sollen und seine Begründung in die Domäne der praktischen Vernunft fallen. Gleichwohl ist auch die theoretische Vernunft mit dem Sollen verbunden. Das zeigt sich in Diskussionen darüber, was der Fall ist und warum etwas der Fall ist, kurz: in theoretischen Diskussionen, an denen teilnehmen können muss, wer theoretische Vernunft besitzt. Theoretische Diskurse sind durchsetzt von impliziten normativen Ansprüchen. Wer ein Tatsachenurteil kundtut, beansprucht Zustimmung; der Adressat erwartet, dass die Behauptung nicht aufs Geratewohl aufgestellt, sondern fundiert ist. Bei Meinungskonflikten oder bei der Anfechtung von Meinungen werden Autoritäten ins Feld geführt oder Gründe namhaft gemacht, die dafür sprechen, dass sich etwas so und so verhält. Typischerweise werden in den theoretischen Diskurs kritische Kommentare eingeflochten. Das ist so zwanglos möglich, dass der Perspektivenwechsel unauffällig bleibt, der damit einhergeht: Man wechselt mit der Kritik auf die Meta-Ebene und wendet den Blick von den Fakten auf Aussagen über Fakten. Kritische Stellungnahmen machen oftmals den normativen Status von Behauptungen und Urteilen explizit. Sie betreffen einerseits propositionale Inhalte und andererseits epistemische Einstellungen dazu, insbesondere die Einstellung des Für-Wahr-Haltens. Der Inhalt von Behauptungen und Urteilen wird als wahr oder falsch bewertet, die Einstellung zum Inhalt als berechtigt oder unberechtigt, als vernünftig oder unvernünftig.¹ Da man im theoretischen Diskurs unterstellt, dass eine Person nur das glauben sollte, was wahr ist, und keine Annahmen treffen sollte, zu denen sie nicht berechtigt ist, beinhalten kritische Stellungnahmen nicht selten Aussagen dahingehend, dass ein Gesprächspartner
1 Die folgenden Überlegungen machen einige Vereinfachungen: Unaufrichtige Behauptungen werden außer Acht gelassen, sodass einer Behauptung stets eine Überzeugung entspricht. Überzeugungen sind längerfristige Dispositionen, Urteile sind datierbare Vorkommnisse im mentalen Leben einer Person. Dieser Unterschied wird ebenfalls nicht berücksichtigt. Nicht nur Überzeugungen sind epistemische Einstellungen, die als epistemisch berechtigt oder unberechtigt bewertet werden können, sondern auch Urteilsenthaltungen. Letztere werden gleichfalls vernachlässigt.
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ein bestimmtes Urteil treffen, eine andere Überzeugung dagegen aufgeben sollte. Dieser Gebrauch von ‚sollen‘ wird als epistemisches Sollen bezeichnet. Welchen Sinn hat dieses Sollen? Was sind seine Voraussetzungen, insbesondere: In welchem Sinn muss ein Wesen frei sein, das dem epistemischen Sollen unterworfen ist? Woher bezieht es seine Autorität? Diese Fragen, die von grundlegender Bedeutung für das Verhältnis von theoretischer und praktischer Rationalität sind, bilden den Gegenstand des vorliegenden Aufsatzes. Sie werden mit dem Ziel behandelt, einen Begriff von epistemischer Autonomie in Analogie zum kantischen Verständnis von Willensfreiheit als praktischer Autonomie zu entwickeln.
1 Epistemisches Sollen Zur Eingrenzung des epistemischen Sollens ist es zweckmäßig, es von einem Sinn von ‚sollen‘ zu unterscheiden, der nicht normativ ist und in Vorhersagen vorliegt. In passenden Kontexten könnte man z. B. sagen ‚Die Farbe sollte in einer halben Stunde trocken sein‘ oder ‚Der Bus sollte in fünf Minuten eintreffen‘. In solchen Sätzen hat ‚sollte‘ in etwa den Sinn von ‚die verfügbaren Informationen implizieren, dass‘ oder ‚es steht zu erwarten, dass‘. Zu erwartendes Verhalten ist nicht unbedingt gesolltes Verhalten. Mit ‚sollen‘ formulierte Erwartungen können zwar mit normativen Wertungen verbunden sein, aber es besteht keine begriffliche Verbindung mit einem normativen Sollen. Auch Aussagen der Form ‚S sollte glauben, dass p‘ können durchaus im nicht-normativen Sinn als Prognosen über epistemisches Verhalten gemeint sein. Dieser Sinn steht hier jedoch nicht zur Debatte und wird im Folgenden ausgeklammert, denn das epistemische Sollen ist immer normativ.² Die klar normative Ausrichtung wird sichtbar, wenn man die Praxis des Kritisierens betrachtet. Die Kritik an epistemischen Einstellungen im Rahmen von theoretischen Diskussionen verhält sich in signifikanten Hinsichten wie die praktische Kritik, die man an Handlungen übt: Sie ist persönlich adressiert und kann den Charakter eines Vorwurfs haben. Das heißt, dass der Kritiker dem
2 Wolterstorff möchte das epistemische Sollen in ähnlicher Weise verstehen wie das ‚sollen‘ der Vorhersage. Ein ‚sollen‘ der Vorhersage drückt nach seiner Terminologie ein „paradigm-obligation“ im Unterschied zu einem „responsibility-obligation“ aus (Wolterstorff, 1997, S. 233 f.). Diese Terminologie ist irreführend, denn das ‚sollen‘ der Vorhersage drückt gar keine Verpflichtung aus, und Verpflichtungen sind begrifflich mit der Übernahme von Verantwortung verbunden. Die Terminologie kann darüber hinweg täuschen, dass Wolterstorff das epistemische Sollen letztlich als nicht normativ versteht.
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Adressaten ein Verhalten zurechnet und ihn dafür verantwortlich macht, sofern es etwas zu beanstanden gibt. Der Bequemlichkeit halber können wir den ein wenig künstlichen Ausdruck ‚epistemisches Verhalten‘ gebrauchen, um mögliche Gegenstände von epistemischer Kritik zusammenzufassen: Überzeugungen und sonstige epistemische Festlegungen, z. B. Festlegungen auf Folgerungsprinzipien, Akte wie Folgerungsschritte in einem Argument sowie Einstellungen wie Vertrauensseligkeit gegenüber einer Informationsquelle oder Unaufmerksamkeit in der Begutachtung einer Situation.Wenn man einem anderen z. B. sagt, er solle die Annahme p fallen lassen, weil sie auf einem unschlüssigen Argument beruhe, darf man die berechtigte Erwartung haben, dass der Kritisierte für sein Verhalten einsteht. Er sollte entweder den Einwand akzeptieren und die eigene Annahme entsprechend korrigieren oder aber versuchen, den Einwand mit Gründen abzuwehren und die eigene Annahme zu verteidigen. Sollte ein kritischer Einwand stichhaltig sein, kommt die Möglichkeit der Entschuldigung in Betracht, sofern ein epistemischer Fehler unter ungünstigen Umständen unvermeidlich war (‚ich konnte nicht ahnen, dass die Nachricht manipuliert war’). Mit einer Entschuldigung entledigt man sich der Verantwortung für ein Verhalten. Dass diese Möglichkeit überhaupt besteht, ist ein Beleg dafür, dass epistemisches Verhalten grundsätzlich zugerechnet wird. Zurechnende Kritik geht über Zurechtweisung hinaus. Man kann ein Kleinkind oder einen Hund in erzieherischer Absicht zurechtweisen, aber es scheint verfehlt, einem Kleinkind oder einem Hund ein fehlerhaftes Verhalten vorzuwerfen, weil sie nicht dafür einstehen können. Angemessene Adressaten der Kritik wären in solchen Fällen Eltern und Hundehalter. Da wir ‚sollen‘ in epistemischer Kritik mit dem Impetus gebrauchen, den Anderen nicht nur zurechtzuweisen, sondern zur Rechenschaft zu ziehen, unterstellen wir die Normativität des epistemischen Sollens.³ Wenn es angemessen ist, ein Verhalten zu kritisieren, untersteht es einem Sollen, und wenn ein Verhalten gesollt ist, kann man jemanden für Abweichungen kritisieren. Das epistemische Sollen ist zwar normativ, aber nicht praktisch. Das zeigt sich durch den Vergleich mit dem prudentiellen und dem moralischen Sollen. Prudentiell gesollt ist Verhalten, das dem eigenen Überleben und Wohlergehen förderlich ist, sowie die Vermeidung des gegenteiligen Verhaltens. Auch das Haben
3 Der Ausdruck ‚normativ‘ wird hier im Sinn von ‚deontologisch‘ gebraucht. Leser, die einen Bedeutungsunterschied zwischen den Ausdrücken machen, etwa deshalb, weil sie natürliche Normen (‚Katzen sollen vier Beine haben‘) anerkennen, mögen ‚normativ‘ durch ‚deontologisch‘ ersetzen. Dagegen wird vorausgesetzt, dass Bewertung nicht automatisch normative oder deontologische Bewertung ist. Z.B. kann die Wetterlage als nützlich, angenehm oder schön bewertet werden, ohne als gesollt bewertet zu werden.
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und Nichthaben von Überzeugungen kann in dieser Hinsicht gesollt sein, da etwa der Besitz von brisanten Informationen oder von politisch relevanten Überzeugungen unter bestimmten Bedingungen gefährlich sein kann. Die Bewertung einer epistemischen Einstellung als gesollt ist also nicht automatisch eine epistemische Bewertung, da sie auf Klugheitsgründen beruhen kann. Zur prudentiellen Bewertung zählt auch, ob die Überzeugungen einer Person nützlich oder interessant sind. Jemand könnte sich abseitige Untersuchungsziele setzen und in epistemisch vorbildlicher Weise entsprechende Überzeugungen gewinnen, etwa über die Häufigkeit des Buchstabens ‚A‘ in den Nachnamen der Berliner Bürger. Möglicherweise soll man sich aus Klugheitsgründen nicht mit überflüssigen Überzeugungen belasten, aber wer das tut, kann sich durchaus so verhalten, wie es epistemisch gesollt ist.⁴ Entsprechendes gilt in Abgrenzung zum moralischen Sollen. Moralisch gesehen mag es keine Rolle spielen, ob jemand eine bestimmte Überzeugung hat oder nicht, auch wenn die Überzeugung angesichts zwingender Belege epistemisch gesollt ist. Es ist vielleicht sogar moralisch verwerflich, gewisse Überzeugungen zu haben, z. B. über das geschützte Privatleben einer fremden Person, aber gleichwohl können diese Überzeugungen aufgrund der verfügbaren Informationen epistemisch gesollt sein. Nach den bisherigen Überlegungen ist das epistemische Sollen normativ, aber weder prudentiell noch moralisch. Das prudentielle Sollen beruht auf Gründen der Klugheit, das moralische auf moralischen Gründen. Entsprechend kann man das epistemische Sollen positiv damit beschreiben, dass es auf epistemischen Gründen beruht. Während ein praktischer Grund dafür spricht, etwas zu tun, spricht ein epistemischer Grund gemäß einer gängigen Formulierung dafür, etwas zu glauben. Die Formulierung wird auch hier gebraucht, aber es sollte darauf hingewiesen werden, dass sie ein wenig irreführend ist. Denn da man, wie gerade gesehen, auch einen prudentiellen Grund haben kann, etwas zu glauben, verschleiert die Wendung das entscheidende Charakteristikum epistemischer Gründe: Wenn letztere dafür sprechen, eine Überzeugung zu bilden, dann deshalb, weil sie für deren Wahrheit sprechen und belegen, dass etwas der Fall ist. Ein epistemischer Grund, den eine Person für eine bestimmte Überzeugung hat, orientiert die Person in erster Linie auf die Welt und lenkt in dieser Weise die betreffende epistemische Einstellung.
4 Man kann sagen, dass ein solches Verhalten in einem weiten Sinn auch intellektuell zu beanstanden ist. Um den begrifflichen Raum dafür zu schaffen, ist es zweckmäßig, mit Sosa (2007, S. 89) die Theorie des Wissens von einer „intellektuellen Ethik“ zu unterscheiden und Fragen nach der Nützlichkeit von Wissen der letzteren zuzuordnen.
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Zwischen dem normativen Sollen und Gründen besteht ein begrifflicher Zusammenhang. Wenn eine Person S Verhalten x zeigen sollte, dann gibt es einen Grund dafür, dass S das Verhalten zeigt, und wenn es einen Grund dafür gibt, dass S das Verhalten zeigt, dann sollte S das tun – sofern ansonsten nichts dagegen spricht.⁵ Die einschränkende Klausel ist notwendig, weil manche Gründe nicht zwingend sind, sondern lediglich prima facie für etwas sprechen. Nur wenn ein Grund alles in allem für Verhalten x spricht, ist er in dem Sinn bindend, dass x vollzogen werden sollte. Aufgrund der begrifflichen Verbindung lässt sich zusammenfassen: Das normative epistemische Sollen ist insofern spezifisch epistemisch, als es auf epistemischen Gründen beruht. Epistemische Gründe sind ihrerseits mit epistemischen Normen verbunden, d. h. mit universalen Regeln, die festlegen, was ein epistemischer Grund ist und was nicht. Man kann die Auffassung, dass epistemisches Verhalten typischerweise im normativen Sinn gesollt ist, als ‚Normative Konzeption des epistemischen Verhaltens‘ bezeichnen.⁶ Die gängige Praxis der epistemischen Kritik wäre unangemessen, wenn die Normative Konzeption falsch wäre. Gleichwohl ist sie nicht trivial, denn sie scheint zu implizieren, dass epistemisches Verhalten unserer Kontrolle unterliegt. Normatives Sollen setzt Verantwortung voraus und Verantwortung, so scheint es, impliziert Freiheit. In irgendeinem Sinn muss gesolltes epistemisches Verhalten in unserer Hand liegen. In welchem Sinn, ist nun zu klären.
5 Kolodny berücksichtigt einen Gebrauch von ‚sollen‘, bei dem die erste Implikation nicht besteht. In diesem Gebrauch ist ‚sollen‘ an die Perspektive des Subjekts gebunden, das dem Sollen unterworfen ist. ‚S sollte Verhalten x zeigen‘ meint dann etwa soviel wie ‚Im Lichte der sonstigen Einstellungen von S wäre es irrational, wenn S nicht Verhalten x zeigen würde‘ (vgl. Kolodny, 2005, S. 509 f.). Da es keine Gründe für die einschlägigen sonstigen Einstellungen von S geben muss, gibt es nicht unbedingt einen Grund für Verhalten x, wenn S in diesem Sinn x zeigen soll. – Wenn man einen solchen perspektivengebundenen Gebrauch von ‚sollen‘ überhaupt einräumt, dann sollte man auch einen entsprechenden Gebrauch von ‚für S gibt es einen Grund‘ anerkennen, den man so wiedergeben könnte: ‚Aus der Perspektive von S gibt es einen Grund‘. Ob das, was aus der Perspektive von S ein Grund ist, wirklich ein Grund ist, ist offen. Damit lassen sich die Implikationen aufrechterhalten: Sollen impliziert Gründe; perspektivengebundenes Sollen impliziert perspektivengebundene Gründe. 6 Man findet in der Literatur auch den Namen ‚Epistemischer Deontologismus‘. Die Diskussion um die Normative Konzeption und ihre Voraussetzungen ist wesentlich durch Alstons Kritik an der ‚Deontologischen Konzeption von Rechtfertigung‘ befördert worden. Danach besteht die epistemische Rechtfertigung für eine Überzeugung darin, dass die Überzeugung keine epistemischen Prinzipien verletzt (vgl. Alston, 1988, S. 259). Der klassische Verfechter einer solchen Konzeption innerhalb der analytischen Debatte ist Chisholm.
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2 Freiheit als Voraussetzung des epistemischen Sollens Die Normative Konzeption erscheint dann als fragwürdig, wenn als einzige Option für den gesuchten Modus von Freiheit Willkürfreiheit in Betracht gezogen wird. Der doxastische Voluntarismus behauptet, dass man direkte willentliche Kontrolle über die Bildung der eigenen Überzeugungen haben kann, und nimmt damit Willkürfreiheit in Bezug auf epistemisches Verhalten an. Wenn diese These richtig ist, kann die Entscheidung, eine Überzeugung zu bilden, in derselben Weise zur Bildung der Überzeugung führen, wie die Entscheidung, die Faust zu ballen, zum Faustballen führen kann. Der doxastische Voluntarismus wird meist abgelehnt,⁷ und der gerade angestellte Vergleich erklärt,warum das so ist. Es ist uns Menschen psychologisch schlicht nicht möglich, die Überzeugung, dass die Faust geballt ist, dadurch herbeizuführen, dass man sich entscheidet, die Überzeugung zu bilden. Der Kontrast zum Handeln lässt sich durch einen Vergleich illustrieren, den William Alston angestellt hat. Wenn man einer Person eine Belohnung für eine Handlung anbietet, z. B. dafür, den Raum zu verlassen, gibt man ihr einen Grund, die Handlung zu vollziehen. Wenn man die Belohnung erhöht, gibt man ihr einen besseren Grund. Die Person kann sich entscheiden, die Belohnung zu akzeptieren, und entsprechend handeln. Wenn man einer Person dagegen eine Belohnung für die Bildung einer Überzeugung anbietet, z. B. dass die Erde eine Scheibe ist, kommt sie nicht einfach aufgrund der Entscheidung, sich entsprechend zu verhalten, zu der Überzeugung, gleichgültig, wie hoch die Belohnung sein mag und wie lukrativ es wäre, wenn ihr der Trick gelänge (vgl. Alston, 1988, S. 263). Das gilt auch für andere intentionale Einstellungen zu Sachverhalten. Ob man einen Sachverhalt bedauert oder begrüßt, erhofft oder befürchtet, ist nicht Sache der Willkürfreiheit, sondern hängt (neben Annahmen über Wirklichkeit oder Wahrscheinlichkeit der Sachverhalte) von Wertungen ab, die sich unserer Willkür entziehen. Man beachte, dass der doxastische Voluntarismus nicht einfach willentliche Überzeugungsbildung für möglich erklärt, sondern direkte willentliche Kontrolle annimmt. Es gibt verschiedene Optionen, Überzeugungen absichtlich auf indirektem Wege zu bilden. Eine besteht darin, Belege zu manipulieren (vgl. Feldman, 2001, S. 81 f.).Wenn eine Person z. B. die Überzeugung zu bilden beabsichtigt, dass
7 Eine Ausnahme bildet Ginet. Ginet versucht durch Beispiele plausibel zu machen, dass man sich im Entscheidungsprozess für eine Handlung entscheiden kann, zu glauben, dass p, sofern man sich bei der Entscheidung für die Handlung zugleich entscheidet, darauf zu zählen, dass p (Ginet, 2001, S. 67).
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ihre Faust geballt ist, könnte sie die Absicht umsetzen, indem sie die Faust ballt und minimale Aufmerksamkeit auf ihre Hand richtet. Allgemein, man kann Überzeugungen über einen Sachverhalt willentlich bilden, sofern man das Bestehen und Nichtbestehen dieses Sachverhaltes kontrollieren kann und die Überzeugungen mit dem Sachverhalt Schritt halten. Außerdem kann man langfristig einige der Faktoren beeinflussen, die für die Überzeugungsbildung ausschlaggebend sind. Möglicherweise schafft es eine Person, sich dazu zu bringen, die Erde für eine Scheibe zu halten, indem sie sich einer Gemeinschaft anschließt, in der diese Meinung hochgehalten wird. Die Möglichkeit der indirekten Kontrolle ist also durchaus anzuerkennen. Der doxastische Voluntarismus ist dagegen abzulehnen.⁸ Wer an der Normativen Konzeption festhalten will, muss verneinen, dass sie ihn impliziert. Da irgendeine Form von Freiheit Voraussetzung für die Normative Konzeption ist, erscheint die Annahme einer Implikation dann unvermeidlich, solange lediglich Willkürfreiheit in Erwägung gezogen wird.⁹ Diese enge Auffassung von Freiheit ist allerdings problematisch. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass die Willkürfreiheit selbst im Bereich der Handlungen nicht grundsätzlich gegeben ist. Körperliche Basishandlungen wie Armheben und Fingerkrümmen werden gern als Beispiele für Handlungen angeführt, die der direkten willentlichen Kontrolle unterliegen. Eine Basishandlung ist, grob gesprochen, eine Handlung, die man nicht vollzieht, indem man etwas anderes tut. Wenn man eine Handlung als körperliche Basishandlung beschreibt, dann lässt man ihre weiteren Konsequenzen über die körperliche Veränderung hinaus außer Acht. Da man in der praktischen Überlegung gerade die ferneren Konsequenzen abwägt, erscheint die Handlung dann nicht mehr als angemessener Gegenstand praktischer Überlegung. Diese Einschränkung begünstigt den Eindruck, Handlungen seien Sache
8 Die Gegenpositionen sind unterschiedlich stark. Nach Feldman (2008, S. 341) hat man de facto typischerweise keine direkte willentliche Kontrolle über gewöhnliche Überzeugungen. Nach Alston (1988, S. 263) ist es psychologisch unmöglich, Überzeugungen willentlich und direkt herbeizuführen, nach Williams (1973, S. 148) und Raz (1997, S. 220) ist es sogar begrifflich unmöglich. Das ebenso kurze wie schwierige Argument von Williams ist Gegenstand einer umfangreichen Debatte, über die Nottelmann (2007) informiert. Das Argument von Raz besagt, dass man sich nur zu Handlungen entscheiden könne und dass die Bildung einer Überzeugung im Urteil keine Handlung sei. Das ist soweit einleuchtend, aber kein schlagkräftiges Argument gegen den doxastischen Voluntaristen. Denn warum ist die Bildung einer Überzeugung keine Handlung? Es liegt nahe, zu antworten, ‚weil man sich nicht entscheiden kann, eine Überzeugung zu bilden‘; aber damit würde man sich in einen Zirkel begeben. 9 Positive Begründungen für die Annahme einer Implikation sind rar. William Alston beruft sich schlicht auf das „[…] time honoured principle that ‚Ought implies can‘“ (Alston, 1988, S. 259). Ähnlich Plantinga (1993, S. 19).
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unserer Willkür. Man betrachte Herrn S, der seine Tochter liebt und alles tun würde, um Schaden von ihr abzuwenden. Es scheint plausibel, dass S ohne weiteres den rechten Zeigefinger krümmen kann – aber wenn sich der Finger am Abzug einer geladenen und auf seine Tochter gerichteten Waffe befindet, dann wird S den rechten Zeigefinger nicht krümmen können, in dem Sinn, dass es ihm psychologisch unmöglich sein wird. Das heißt aber nicht, dass er in seinem Verhalten nicht frei ist (jedenfalls, sofern er seinerseits nicht einem Zwang ausgesetzt ist). Ob man sich für eine Handlung entscheiden kann, hängt auch von den Konsequenzen ab, die sie (voraussichtlich) im jeweiligen Kontext hat, und ist nicht Sache der Willkür. Denn je nachdem, welche Absichten eine Person hat, kann sie die Konsequenzen einer Handlung in Kauf nehmen oder auch nicht. Und wenn Freiheit schon in Bezug auf Handlungen nicht zwingend Willkürfreiheit ist, so gilt das erst recht für Freiheit im epistemischen Bereich. Was ist die Alternative?
3 Epistemische Autonomie Freiheit im relevanten Sinn, in dem die Bildung einer Überzeugung bei der Person liegt, möge ‚epistemische Autonomie‘ heißen. Der Ausdruck soll nun im Anschluss an Kants Begriff der Autonomie mit Inhalt gefüllt werden. Der kantische Ansatz räumt im Vergleich zum voluntaristischen Freiheitsbegriff der Vernunft die dominierende Rolle in der Deutung des Freiheitsbegriffs ein und eignet sich deshalb in besonderer Weise, um sowohl den Unterschied als auch die Gemeinsamkeit von praktischer und epistemischer Freiheit zu erfassen. Ein guter Ausgangspunkt ist Kants Behauptung, dass „[…] wir jedem vernünftigen Wesen, das einen Willen hat, notwendig auch die Idee der Freiheit leihen müssen, unter der allein es handle“ (GMS, 448). Der Gedanke von Kant lässt sich über den Unterschied zwischen der praktischen und der theoretischen Perspektive erläutern. In der praktischen Perspektive überlegt man, was man tun soll, indem man Optionen abwägt. Man fragt, was für diese und was für jene Alternative spricht, um zu eruieren, wozu man den besten Grund hat. Dabei ist es unvermeidlich, die Alternativen nicht nur als mögliche Weltverläufe aufzufassen, sondern auch als mögliche Handlungen, und das heißt nichts anderes als anzunehmen, es liege bei einem selbst, welchen Weg man einschlägt. Man kann die praktische Perspektive nicht einnehmen, ohne ein Feld von Alternativen im Einflussbereich des eigenen Willens (der praktischen Vernunft) zu sehen und zu unterstellen, dass die getroffene Entscheidung wirksam werden und einen Weltverlauf wirklich werden lassen kann. Man unterstellt, mit einer an Kant angelehnten Formulierung von
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Christine Korsgaard, dass man sich selbst dazu bestimmen kann, eine Ursache zu sein (Korsgaard, 2009, S. 77). In der praktischen Perspektive bezieht man sich zunächst auf das eigene künftige Tun. Praktische Vernunft kann aber auch retrospektiv in der praktischen Bewertung ausgeübt werden, sowohl in der Bewertung des eigenen als auch fremden Verhaltens; ferner ist prospektive Betätigung in der Beratung möglich; schließlich kann man retrospektiv erklären, warum jemand (man selbst oder ein anderer) so und so gehandelt hat, indem man die Gründe angibt, die aus der Perspektive des Handelnden dafür sprachen. Für diese Fälle gilt analog: Überlegungen darüber, was ein anderer tun sollte, und was man selbst oder ein anderer hätte tun sollen oder getan hat, sind an die Unterstellung gebunden, dass die tatsächliche Handlung und die betrachteten Alternativen beim Handelnden liegen oder lagen. Man muss dem Handelnden stets die „Idee der Freiheit leihen“. Im Unterschied dazu ist die theoretische Perspektive die eines Beobachters, der feststellt (und möglicherweise erklärt), was der Fall ist (oder war oder sein wird). Man kann die theoretische Perspektive durchaus in Bezug auf das eigene künftige Verhalten einnehmen und eine Prognose darüber abgeben, was man tun wird (‚wie ich mich kenne, kann ich mich heute Abend nicht zum Sport aufraffen‘). Das ist aber etwas ganz anderes als zu überlegen, was man tun soll. Mit der Beschreibung oder Prognose begreift man das Verhalten nicht als Handlung, sondern als Geschehnis im Lauf der Dinge. Man kann es als solches durchaus verständlich machen, etwa im Rekurs auf Regelmäßigkeiten, die im eigenen Charakter oder in der Natur anderer Dinge begründet sind. Aber damit behandelt man das eigene Tun nicht als Handlung, für die man sich aus Gründen entscheidet.¹⁰ Damit ist ein zentraler Unterschied zwischen theoretischer und praktischer Vernunft bestimmt. Zugleich enthält der kantische Begriff der Autonomie die entscheidende Gemeinsamkeit. Um sie in den Blick zu bekommen, ist es hilfreich, zwei Aspekte des Gedankens zu unterscheiden, man könne durch praktisches Überlegen und Entscheiden den Weltverlauf bestimmen. Zum einen setzt der Gedanke die Fähigkeit voraus, eine getroffene Entscheidung umzusetzen. Handeln zu können, wie es dem eigenen Willen entspricht, ist Handlungsfreiheit. Zum
10 Um Missverständnissen vorzubeugen: Praktische Überlegung sollte den Faktoren Rechnung tragen, auf die sich Verhaltensprognosen stützen und Sache der Art von Selbstkenntnis sind, die auch ein Dritter haben kann. Es ist z. B. vernünftig, einer anderen Person nicht eine Zusage zum gemeinsamen abendlichen Training zu machen, wenn man um die Unwahrscheinlichkeit weiß, dass man das Versprechen halten wird. Doch würde man das eigene Verhalten ausschließlich als Gegenstand von Prognose und theoretischer Erklärung auffassen, würde man sich nicht mehr als handelnde Person begreifen.
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anderen impliziert der kantische Gedanke die Fähigkeit, die eigene Entscheidung zu treffen, indem man durch praktisches Überlegen eruiert, was zu tun ist. Die Fähigkeit, den eigenen Willen zu bestimmen, ist Willensfreiheit. Die Willensfreiheit und nicht die Handlungsfreiheit stellt das praktische Gegenstück zur epistemischen Autonomie dar. So, wie man selbst überlegt und urteilt, was man tun soll, so überlegt und urteilt man selbst, was der Fall ist. Die Betonung des ‚selbst‘ führt freilich zu der Frage, wie man dafür sorgt, dass man es selbst ist, der das eigene Urteil trifft. Die kantische Antwort lautet, in un-kantischer Manier ausgedrückt: Die eigene Entscheidung muss an Gründen orientiert sein, die für jedes andere vernünftige Wesen ebenfalls Gründe sein können. Das wiederum impliziert die Bindung durch universale Normen: Die Entscheidungsbildung muss praktischen Normen unterworfen sein, die für jedes vernünftige Wollen bindend sein, in kantischer Terminologie also Gesetze sein können. Der Wille ist sich selbst ein Gesetz, indem er dem Kategorischen Imperativ gehorcht; in Kants erster Formulierung: „handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“ (GMS, 421). Der Kategorische Imperativ kann als Test für die Autonomie des Willens verstanden werden: Man frage sich, ob man wollen kann, dass sich alle nach den praktischen Grundsätzen richten, die für das eigene Wollen maßgeblich sind. Welche praktischen Grundsätze tatsächlich für alle gültig, also Gesetze sind, hängt davon ab, von welchen Grundsätzen man wollen kann, dass sie für alle bindend sind. Hier geht es nicht darum, wie überzeugend die kantische Position hinsichtlich der Willensfreiheit ist, sondern lediglich um ihre Übertragung auf die epistemische Autonomie. Der Anspruch, das eigene Urteil zu treffen, kann nur durch die Orientierung an epistemischen Gründen eingelöst werden. Einen Grund zu haben, ist insofern keine Privatsache, als jedem vernünftigen Wesen Anerkennung des Grundes unterstellt werden können muss. Jedes vernünftige Wesen müsste in einer ähnlichen epistemischen Situation durch einen epistemischen Grund zu dem gleichen Urteil geführt werden. Geistige Aktivität kann nur dann als Überlegen und Urteilen verstanden werden, wenn sie unter epistemischen Normen steht, von denen gedacht werden kann, dass sie jedes Überlegen und Urteil binden. So, wie Wollen im kantischen Sinn heißt, sich durch praktische Normen zu binden, heißt Urteilen im Sinn der epistemischen Autonomie, sich durch epistemische Normen leiten zu lassen. Im Fall der epistemischen Autonomie lässt sich im Vergleich zur Willensfreiheit leichter einsichtig machen, warum es nicht auf die Willkürfreiheit ankommt. Hier ist der Vergleich mit einem klaren Beispiel für Ausübung der Willkürfreiheit instruktiv, dem Raten. Wer rät, ist mit der Frage konfrontiert, welcher von mehreren möglichen Sachverhalten besteht, und wählt eine der Alternativen. Dabei muss jede Alternative aus der Perspektive des Ratenden in etwa gleich
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wahrscheinlich sein, d. h. er darf entweder gar keine Belege für eine der Alternativen haben oder aber Belege, die insgesamt gleich stark für jede der Alternativen sprechen. Wenn die Belege eher für eine Alternative als für eine andere sprechen würden, würde man nicht mehr raten, sondern vermuten. Deshalb ist das Vermuten kein bloßer Akt der Willkür, das Raten dagegen schon. Raten ist zwar an der Wahrheit orientiert, insofern man die Wahrheit erraten möchte, aber ob man die Wahrheit trifft, ist naturgemäß bloßer Zufall. Entsprechend wäre der Impetus verfehlt, einen Ratenden für die Wahl zu kritisieren, die er getroffen hat (allenfalls könnte man ihn dafür kritisieren, dass er sich überhaupt auf das Spiel eingelassen hat). Zwar ist es der Ratende, der die Wahl trifft, aber da ihm jeder Grund fehlt, auf eine bestimmte Alternative zu setzen, kann nicht zugerechnet werden, worauf genau die Wahl gefallen ist. Das lehrt hinsichtlich der epistemischen Autonomie, dass es nicht hilft, sich auf die Willkürfreiheit zu berufen, wenn man erklären möchte, warum ein Urteil bei einem selbst liegt und inwiefern man es selbst ist, der das Urteil trifft. Ganz im Gegenteil, sobald Willkürfreiheit für das Treffen der Wahrheit eingesetzt wird, endet die Selbstbestimmung, die Zurechnung ermöglicht. Auf die Willkürfreiheit zu setzen hieße, Urteilen mit Raten zu verwechseln. Für die Bildung des eigenen Urteils kommt es nicht nur darauf an, dass man selbst das Urteil trifft, sondern auch darauf, dass man ein Urteil trifft. Letzteres setzt voraus, dass epistemische Gründe maßgeblich sind. Das wiederum impliziert die Bindung durch Normen, denen gemäß etwas ein Grund ist, und von denen man unterstellen muss, dass sie alle rationalen Wesen binden. Bildung des eigenen Urteils in Orientierung an Gründen sollte allerdings nicht mit perfekt rationalem Verhalten gleichgesetzt werden. Nur da, wo Abweichung von der Norm in Frage kommt, macht die Rede von einem Sollen Sinn. Für die epistemische Autonomie kommt es nicht darauf an, dass die Urteile einer Person die eines vollkommen rationalen Wesens sind, wohl aber darauf, dass sie es selbst ist, die sie trifft. Man stelle sich einen Manipulator vor, der das mentale Leben von Person S genau verfolgen, vorhersagen und kontrollieren kann. Wann immer S im Begriff ist, einen epistemischen Fehler zu begehen, etwa einen ungültigen Folgerungsschritt zu vollziehen oder einer Verwechslung aufzusitzen, greift der Manipulator ein und lenkt das Verhalten auf die richtige Bahn, ohne dass S die Manipulation bemerken könnte. Dann wäre das epistemische Verhalten, das sich in S abspielt, zwar fehlerfrei, aber es wäre in dem Maß, in dem der Manipulator eingreift, nicht mehr das Verhalten von S. S würde in seinen Urteilen und Behauptungen nach und nach zum Sprachrohr eines anderen werden. Für die epistemische Autonomie ist also auch der Aspekt wesentlich, dass man selbst urteilt. Das Überzeugungsbildungssystem einer Person, das durch die Erziehung
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und kognitive Biographie geformt ist, muss Ursache des epistemischen Verhaltens sein, wenn das Verhalten zurechenbar sein soll.
4 Epistemische Normen Epistemische Autonomie besteht nach dem bisher Skizzierten in der Fähigkeit, das eigene Urteil zu bestimmen, indem man sich an Gründen orientiert und sich so epistemischen Normen unterwirft. Um diesen Gedanken zu vertiefen, ist es erforderlich, näher auf epistemische Normen einzugehen. Eine erste Gruppe von epistemischen Normen betrifft Sorgfaltspflichten, die typischerweise an gewisse institutionelle Rollen geknüpft sind: Der Korrektor soll die Klausuren aufmerksam lesen; der Ingenieur soll die Statik der Brücke sorgfältig berechnen; der Richter soll das Entlastungsmaterial vollständig zur Kenntnis nehmen. Solche Normen werden im Folgenden vernachlässigt, da sie nicht konstitutiv für die Überzeugungsbildung sind, sondern den Charakter von begleitenden Anweisungen haben. Genuin epistemische Normen teilen sich in inferentielle und evidentielle Regeln. Die ersteren betreffen logische und materielle Inferenzen. Während logische Inferenzen formal gültig sind, beruht die Gültigkeit von materiellen Inferenzen auf den Bedeutungen der jeweils verwendeten sprachlichen Ausdrücke beziehungsweise auf dem Inhalt der beteiligten Begriffe. Es gehört zur Bedeutung von ‚rot‘ und ‚farbig‘, dass es erstens legitim ist, von ‚das ist rot‘ zu ‚das ist farbig‘ überzugehen, und dass zweitens die Aussage ‚das ist rot, aber nicht farbig‘ inkonsistent ist. Inferentielle Normen schreiben Einklang mit der Bedeutung des logischen und des sonstigen Vokabulars vor, sind also Konsistenz-Forderungen. Man betrachte das ‚wenn…, dann…‘, dessen Bedeutung in Logik-Lehrbüchern durch ein Schema angegeben wird. Um den Norm-Charakter deutlich zu machen, müsste man etwa die folgende Formulierung wählen: Wenn man zu den Aussagen ‚p‘ und ‚wenn p, dann q‘ berechtigt ist, dann auch zur Aussage ‚q‘.¹¹ Der Modus Ponens besagt nichts darüber, ob eine Person zu ihren Ausgangsprämissen berechtigt ist. Wenn eine Person p und wenn p, dann q akzeptiert und mit der Frage konfrontiert wird, ob q der Fall ist, dann wäre sie inkonsistent, wenn sie urteilen würde, dass q nicht der Fall ist. Einklang könnte entweder durch das
11 Alternativ: ‚Wenn die Aussagen ‚p‘ und ‚wenn p, dann q‘ behauptbar sind, dann darf man zu ‚q‘ übergehen.
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Urteil q oder durch Aufgeben der Ausgangsüberzeugungen hergestellt werden. Der Modus Ponens schreibt nicht vor, welche Weise der Harmonisierung richtig ist. Den Maßstab dafür, ob eine Person zu einer Annahme berechtigt ist, stellen evidentielle Normen bereit. Sie bestimmen, wann Überzeugungen in Reaktion auf Belege gebildet werden dürfen. Da evidentielle Normen unmittelbar mit epistemischer Rechtfertigung verbunden sind und letztere sehr unterschiedlich konzipiert wird, lässt sich die Beschaffenheit von evidentiellen im Vergleich zu inferentiellen Normen weniger leicht unstrittig beschreiben. Eine hinreichend neutrale Beschreibungsweise bietet der Rückgriff auf Quellen von Überzeugungen. Die Bildung unserer Überzeugungen hat typischerweise (mindestens) eine Basis oder Quelle. Manche Quellen sind nicht wissenstauglich. So sind Träume keine geeignete Wissensquelle, können aber gelegentlich die Basis für felsenfeste Überzeugungen bilden. Für die hier verfolgten Zwecke genügt es, sich auf Wissensquellen zu beschränken: Wahrnehmung, Introspektion, Erinnerung, das Zeugnis anderer, Intuition oder Vernunfterkenntnis sowie Inferenz unter Einschluss der Induktion. Zwar unterscheiden sich die Wissensquellen signifikant voneinander, aber man kann sie global betrachten und gemeinsame Grundzüge feststellen. Ihre Aktivierung liefert in verschiedenen Modi Informationen, die als Belege für Überzeugungen fungieren. So können sowohl die Wahrnehmung als auch der Wetterbericht in unterschiedlichen Weisen darüber informieren, dass es gerade regnet. Man schenkt einer Information in einer konkreten Situation Vertrauen, indem man in Reaktion auf sie die entsprechende Überzeugung bildet. Je höher der Anteil der korrekten Informationen ist, desto zuverlässiger ist die Quelle. Da eine Überzeugungsquelle nur dann eine Wissensquelle ist, wenn sie hinreichend zuverlässig ist, und da rationale Wesen sensibel für Bedingungen sind, unter denen die Zuverlässigkeit einer Wissensquelle getrübt ist, ist es epistemisch legitim, den gelieferten Informationen zu vertrauen. Das erlaubt eine allgemeine Angabe der Form evidentieller Normen: Wenn eine Wissensquelle Person S die Information p liefert, dann ist S, sofern kein widerstreitender Grund erkennbar ist, zu dem Urteil p berechtigt. Spezifische Formulierungen müssten nicht nur die einzelnen Wissensquellen nennen, sondern auch Bereiche von Sachverhalten unterscheiden, denn eine Quelle kann in Bezug auf Fakten der einen Art zuverlässig sein, in Bezug auf Fakten einer anderen dagegen nicht. Für die gegenwärtigen Zwecke ist das nicht erforderlich, da es lediglich auf das grundsätzliche Verhältnis von epistemischen Normen zu epistemischen Gründen und auf ihre maßgebliche Rolle für die Urteilsbildung ankommt.
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Zunächst sei einem möglichen Missverständnis vorgebeugt. Berechtigung zu einem Urteil ist keine Wahrheitsgarantie. Vielmehr kann ein berechtigtes Urteil in verschiedenen Hinsichten zum Gegenstand von epistemischer Kritik werden, die ihrerseits berechtigt ist. Unterschiedliche Wissensquellen können unverträgliche Belege zu einem Sachverhalt geben, sodass eine Abwägung erforderlich wird. Ferner sind die Bedingungen, unter denen eine Wissensquelle aktiviert wird, möglicherweise auch dann ungünstig, wenn für die Person keine Kontraindikatoren erkennbar sind. Kurz, Einklang mit einer evidentiellen Norm sichert nicht Unanfechtbarkeit. Evidentielle Normen sind nicht identisch mit Belegen oder epistemischen Gründen, sondern legen fest, wann eine Information ein Grund ist, eine bestimmte Annahme zu treffen. Dank der Übereinstimmung mit einer evidentiellen Norm ist das, was eine Person zu einer Annahme veranlasst, auch ein Grund für diese Annahme. Entsprechendes gilt für inferentielle Normen. Wenn S zu der Annahme p berechtigt ist und sich aus p gemäß einer inferentiellen Norm die Folgerung q ableiten lässt, dann stellt die Annahme p einen Grund für die Annahme q dar, und nicht die Norm. Aber nur deshalb, weil die Folgerung q im Einklang mit der Norm gezogen werden kann, gibt die Annahme p einen Grund. Allgemein: Epistemische Normen legen fest, was epistemische Gründe sind. Daher haben epistemische Gründe den gleichen universalen Charakter wie Normen: Wenn für S eine bestimmte Information oder Annahme ein Grund für die Annahme p ist, dann wäre die Information oder Annahme für jedermann in der gleichen Situation ebenfalls ein Grund, weil die Information dank der Übereinstimmung mit einer für jedermann gültigen Norm ein Grund ist. Wir können nun zum Begriff der autonomen, an Gründen orientierten und normengeleiten Urteilsbildung zurückkehren. Die Orientierung an einem epistemischen Grund und die Bindung durch eine epistemische Norm sind nicht zwei verschiedene Akte. Vielmehr beweist eine Person ihre Festlegung auf eine Norm, indem sie etwas in korrekter Weise als Grund für eine Annahme behandelt.Wenn S aufgrund der Annahme p die Annahme q macht, zeigt sie damit ihre implizite Anerkennung der entsprechenden inferentiellen Norm. Ebenso wenig ist die Orientierung an einem epistemischen Grund ein weiterer Akt, der zur Urteilsbildung hinzukommen würde. Sich in der Urteilsbildung nach einem epistemischen Grund zu richten und ihn als solchen bestimmend sein zu lassen, heißt nicht, den Grund und die epistemische Norm selbst zu thematisieren. Das lässt sich am Beispiel des Modus Ponens einsehen.¹² Person S stellt im Einklang mit dem Modus Ponens die folgende schlüssige Überlegung an:
12 Man vergleiche den Disput zwischen Achilles und der Schildkröte bei Lewis Caroll sowie die
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(1) Franz ist im Stadion. (2) Wenn Franz im Stadion ist, dann ist auch Uli im Stadion. (3) Uli ist im Stadion. S könnte seinen Grund für die Annahme (3) sowie die entsprechende Norm thematisieren, indem er folgendermaßen räsoniert: (1’) Ich bin berechtigt zu den Annahmen ‚Franz ist im Stadion. Wenn Franz im Stadion ist, dann ist auch Uli im Stadion‘. (2’) Wenn ich zu diesen Annahmen berechtigt bin, dann auch zu ‚Uli ist im Stadion‘. (3’) Also: Ich bin zu ‚Uli ist im Stadion‘ berechtigt. Damit wechselt S im Vergleich zur ersten Überlegung das Thema.Während S in der ersten Überlegung die objektsprachliche Annahme ableitet, dass Uli im Stadion ist, spricht er nun über Annahmen, indem er in (1’) seinen Grund sowie in (2’) die inferentielle Norm thematisiert und in (3’) seine Berechtigung zur Folgerung ableitet. Wenn es nötig wäre, diese Meta-Überlegung anzustellen, um die erste Überlegung in Orientierung an einem Grund zu vollziehen, ergäbe sich ein Regress. Denn auch in der zweiten Überlegung orientiert sich S an einem Grund und verhält sich im Einklang mit einer epistemischen Norm, nämlich dem Modus Ponens.Wäre dafür die Thematisierung von Grund und Norm erforderlich, müsste S eine weitere Meta-Überlegung anstellen, und so weiter. Selbstverständlich ist ein Aufstieg auf die Meta-Ebene möglich. Man kann auf die Berechtigung zu Urteilen reflektieren und sich im Nachhinein bescheinigen, alles richtig gemacht oder einen Fehler begangen zu haben. Auch eine solche Reflexion kann wiederum im Nachhinein zum Gegenstand gemacht und auf ihre Korrektheit hin überprüft werden. Es gibt keine grundsätzliche Grenze für die Zahl der Ebenen, die man in der Reflexion erklimmt. Aber es wäre ein grundsätzlicher Irrtum zu meinen, eine Überlegung anzustellen hieße, zugleich den Aufstieg auf die Meta-Ebene zu vollziehen. Dann könnte man niemals eine Überlegung durchführen. Die Annahme, man müsse Grund und Norm thematisieren, um etwas im Einklang mit einer Norm als Grund aufzufassen, läuft darauf hinaus, eingeübtes
Unterscheidung von Zustands- und Handlungsregeln bei Wilfrid Sellars (vgl. Caroll, 1895; Sellars, 1969, S. 506 – 513). Epistemische Normen sind Zustandsregeln im Sinn von Sellars. Der Unterschied lässt sich so formulieren: Während denkbar ist, dass Handlungsregeln in dem Verhalten, für das sie maßgeblich sind (also im Handeln) thematisiert werden, ist es absurd anzunehmen, dass Zustandsregeln in dem Verhalten, für das sie maßgeblich sind, thematisiert werden.
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epistemisches Verhalten mit der Reflexion auf dieses Verhalten gleichzusetzen. Mit dem Spracherwerb wird eingeübt, wie man sich epistemisch richtig zu verhalten hat, welchen Informationsquellen man trauen darf, welche inferentiellen Übergänge zulässig sind. Die Ebene der antrainierten Konformität mit epistemischen Normen wird durch die Reflexion auf Gründe und Normen nicht ersetzt, sondern bleibt stets ihre Basis, denn eine reflektierende Überlegung ist als vernünftige Überlegung selbst wiederum ein Fall eingeübten Verhaltens.¹³ Allerdings – und das ist ein entscheidender Punkt – ist die Möglichkeit der Reflexion eine Bedingung der epistemischen Autonomie. Das eigene Urteil zu fällen, heißt, so wurde im Anschluss an den kantischen Begriff der Autonomie gesagt, sich durch epistemische Normen leiten zu lassen, von denen gedacht werden kann, dass sie jedes Überlegen und Urteilen binden. Damit die Führung durch Normen nicht lediglich faktischer Einklang, sondern im normativen Sinn bindend ist, muss die Reflexion auf die Normen möglich sein. Eine in ihrem Urteil autonome Person muss überprüfen können, ob eine Regel, der gemäß sie sich verhält, tatsächlich als universale Norm gedacht werden kann, und ob ihr Verhalten tatsächlich regelkonform ist. Nur dann ist die Zurechnung epistemischen Verhaltens möglich, die mit dem epistemischen Sollen unterstellt wird. Solche Reflexionen müssen keinen elaborierten Charakter haben. Streit darüber, ob eine vermeintliche Wissensquelle tatsächlich eine solche ist, bietet ein alltägliches Beispiel für (öffentliche angestellte) Reflexion über eine epistemische Norm. Nur dann, wenn eine Informationsquelle hinreichend zuverlässig ist, ist eine universale Berechtigung denkbar, der Quelle zu trauen. Entsprechend gilt es, Belege für die Zuverlässigkeit einer in Frage gestellten Informationsquelle zu finden. Wenn S etwa reklamiert, durch die Ausschläge eines Pendels einen besonderen Erkenntniszugang zu besitzen, unterwirft er sich einer universalen Norm, solange er die Frage nach der Zuverlässigkeit des Pendels für relevant hält. Wenn S der Frage dagegen keinerlei Bedeutung zumessen würde, wäre unklar, wie man seine pendelgestützten Behauptungen und mentalen Akte zu interpretieren hat. Wenn S erklärte, dass die beanspruchten Erkenntnisse keinerlei Zusammenhang mit den sonstigen Erkenntnissen besäßen und sich jeglicher Überprüfung entzögen, dann würde man nicht nur die Ansprüche zurückweisen, sondern es fiele sogar schwer, sie überhaupt als Erkenntnisansprüche zu verstehen und S Überzeugungen zu bescheinigen.
13 Diese Überlegung schließt eng an Sellars an, der den springenden Punkt so formuliert: „The linguistic activities which are perceptual takings, inferences and volitions never become obeyings of ought-to-do-rules“ (Sellars, 1974, 424).
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5 Die Autorität des epistemischen Sollens: Der instrumentelle Ansatz Die Fähigkeit, das eigene Urteil zu bilden, setzt nach dem Konzept der epistemischen Autonomie die Bindung durch epistemische Normen voraus, die durch Reflexion explizit gemacht werden können. Man kann nicht nur die Normen, sondern auch die Bindung durch sie hinterfragen: Warum soll man sich epistemisch so und so verhalten? Warum soll man sich der und der Norm unterwerfen? Bevor verfolgt wird, welche Antwort sich aus dem Ansatz der epistemischen Autonomie ergibt, soll eine alternative Position betrachtet werden. Nach einer Auffassung, die ihre Tradition auf (den in einer gewissen Weise interpretierten) Aristoteles zurückführen kann, erschöpft sich die praktische Vernunft in der Aufgabe, Mittel zu gegebenen Zielen zu finden. Als Modell zur Erklärung der Autorität epistemischen Sollens ist das instrumentelle Verständnis von praktischer Vernunft besonders aus naturalistischer Sicht attraktiv. Die Normativität ist ein Prüfstein für naturalistische Positionen in sämtlichen Disziplinen der Philosophie. Wie kann man den Geltungsanspruch von Normen erklären, ohne Begriffe zu verwenden, die aus naturalistischer Perspektive anstößig sind? Im Blick auf epistemische Normen scheint es aussichtsreich, auf das Modell der instrumentellen Rationalität zu setzen, deren Domäne es ist, hypothetische Imperative im Sinn von Kant aufzustellen (vgl. GMS, 414): Gegeben das Ziel x, muss man y tun. Der Bezug auf das vorausgesetzte Ziel ist selten ausdrücklich, aber implizit gegeben. Die kategorisch formulierte Aufforderung ‚Du musst die nächste U-Bahn nehmen‘ könnte etwa das Interesse unterstellen, pünktlich zur Arbeit zu erscheinen. Die Autorität des instrumentellen Sollens speist sich vollständig aus dem vorausgesetzten Wollen. Nur insofern der Adressat sich auf das vorausgesetzte Ziel festgelegt hat, ist er durch das Sollen gebunden. Das instrumentelle Sollen verschwindet, wenn hypothetische Imperative als Tatsachen-Feststellungen formuliert werden: Ziel x wird tatsächlich (unter den gegebenen Umständen und Gesetzmäßigkeiten) nur dann erreicht, wenn Maßnahme y ergriffen wird. Gerade das macht das instrumentelle Sollen aus naturalistischer Perspektive attraktiv, denn der verbleibende Begriff des Ziels ist, so scheint es, naturalistisch unproblematisch. Willard Van Orman Quine, der Erfinder einer „Naturalisierten Epistemologie“, ist der bekannteste Verfechter des naturalistisch motivierten Versuches, das epistemische Sollen instrumentell zu verstehen.¹⁴ Dafür ist es erforderlich, we-
14 Für die „Naturalisierte Epistemologie“ vgl. Quine (1975, S. 115), für die epistemische Nor-
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nigstens ein epistemisches Ziel zu identifizieren, unter dessen Voraussetzung ein kognitives Verhalten gesollt ist. Üblicherweise wird das doppelte Ziel unterstellt, wahre Überzeugungen zu maximieren und falsche Überzeugungen zu minimieren (kurz zusammengefasst: das Ziel der Wahrheit). Ohne auf einige schwierige Fragen einzugehen,¹⁵ sei um des Argumentes willen zugestanden, dass rationale Wesen das Ziel der Wahrheit haben. Die Autorität des epistemischen Sollens kann mit dem instrumentellen Ansatz auf die einfache Formel ‚ich soll, weil ich will‘ gebracht werden: Eine Person richtet sich nach einem epistemischen Grund und unterwirft sich einer epistemischen Norm, weil das Ziel der Wahrheit von der Person erstrebt und durch Einklang mit dem Gesollten befördert wird. Das Grundproblem für den instrumentellen Ansatz besteht darin, dem universalen Charakter des epistemischen Sollens Rechnung zu tragen. Der Ansatz stellt epistemische Sollens-Sätze als hypothetische Forderungen auf. Wenn man dagegen von der Praxis der epistemischen Kritik ausgeht, erscheint das epistemische Sollen als kategorisch. So kritisiert man eine Person für einen epistemischen Fehler und fordert sie auf, sich zu korrigieren, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, ob die Person ein Interesse an der Wahrheit nimmt. Um die instrumentelle Konzeption nicht schon im Ansatz scheitern zu lassen, müsste man den Anschein für trügerisch erklären und darlegen, worauf er beruht. Ein naheliegender Vorschlag ist folgender. Der hypothetische Charakter des epistemischen Sollens bleibt unauffällig, weil wir vernünftigen Wesen das universal geteilte Ziel der Wahrheit beilegen.¹⁶ Da uns das Ziel so selbstverständlich ist, machen wir seine Voraussetzung in der epistemischen Kritik nicht ausdrücklich. So, wie wir jemandem sagen, er solle dem nahenden Lastwagen ausweichen, ohne explizit an das Ziel des Überlebens zu appellieren, so können wir jemandem sagen, er solle eine Inkonsistenz in seinen Überzeugungen ausräumen, ohne das Ziel der Wahrheit eigens zu nennen. Das instrumentell verstandene epistemische Sollen ist zwar nicht kategorisch, wohl aber universal. Diese Verteidigung räumt das Grundproblem für den instrumentellen Ansatz jedoch nicht aus. Was auch immer uns zum gemeinsamen Ziel der Wahrheit motiviert, sei es natürliche Neugier oder die Sorge ums Überleben, es ist jeder
mativität vgl. Quine (1986, S. 664– 665). Für eine Unterscheidung von Alternativen innerhalb des instrumentellen Ansatzes vgl. Kornblith (1993). 15 Welches relative Gewicht haben die beiden Teilziele? Ist es besser, in Bezug auf ein gegebenes Thema gar keine Überzeugung zu haben, als eine wahre und eine falsche zu besitzen? Kommt es auf alle wahren Überzeugungen in gleichem Maß an, gleichgültig, was genau ihr Inhalt ist? Ist nicht das Verstehen, nach dem wir gemäß Aristoteles von Natur aus streben, ein wenigstens gleichrangiges epistemisches Ziel? 16 Für eine kritische Diskussion des Vorschlags vgl. Kelly (2003, S. 621– 630).
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einzelnen Person möglich, die Zielsetzung einzuschränken und gewisse Themen vom Wahrheitsinteresse auszunehmen. Wenn das epistemische Sollen seine Autorität dem vorausgesetzten Ziel der Wahrheit verdankt, verliert es die Autorität für einen Bereich des epistemischen Verhaltens,wenn die Person sich hinsichtlich des einschlägigen Themas vom Ziel der Wahrheit distanziert. Letzteres ist wiederum ohne weiteres möglich, wie ein Beispiel zeigt: S meint, nicht mit der Überzeugung leben zu können, dass die bei einem Schiffsunglück vermisste Tochter tot ist, und gibt sich in dieser Frage dem Wunschdenken hin. Belege, die auf die traurige Wahrheit hindeuten,werden ignoriert, Inkonsistenzen werden in Kauf genommen. S klammert die Frage nach dem Schicksal der Tochter von dem ansonsten verfolgten Ziel der Wahrheit aus. Wenn man S vorhalten würde, er solle sich aus epistemischen Gründen anders verhalten, dann könnte S der instrumentellen Konzeption zufolge die Kritik mit dem Hinweis darauf entkräften, dass er in dieser speziellen Frage nicht an der Wahrheit interessiert sei. Wäre die instrumentelle Konzeption richtig, gäbe es für S in diesem Punkt gar keine epistemischen Gründe und kein epistemisches Sollen mehr. Das ist eine inakzeptable Konsequenz. Das Verhalten von S mag psychologisch gesehen verständlich sein, in epistemischer Hinsicht ist es verfehlt. Wenn jemand einen prudentiellen Grund dafür hat, in einer bestimmten Frage der Wahrheit aus dem Weg zu gehen, entkräftet das nicht die epistemischen Gründe. Die instrumentelle Konzeption kann diesem Umstand nicht Rechnung tragen. Wo immer das Ziel der Wahrheit fallen gelassen wird, verliert ein instrumentell verstandenes epistemisches Sollen seine bindende Kraft. Da eine solche Einschränkung möglich ist, kann die instrumentelle Konzeption dem universalen Charakter des epistemischen Sollens nicht Genüge tun.¹⁷ Das liegt natürlich am Charakter eines hypothetischen Imperativs.Wenn das Subjekt das unterstellte Ziel nicht hat, greift der Imperativ nicht.
17 Grimm entgeht diesem Problem. Wie der instrumentelle Ansatz ist seine Konzeption teleologisch, da sie das epistemische Sollen vom Ziel der Wahrheit abhängig macht. Sie enthält aber eine spezifisch moralische Komponente. Das Ziel der Wahrheit sei ein „gemeinsames Gut“, auf das wir aus moralischen Gründen verpflichtet seien, da wir die Pflicht hätten, gute Informationsquellen für andere zu sein (Grimm, 2009, S. 258 – 301). Demnach kann sich eine Person nicht ohne weiteres vom Ziel der Wahrheit distanzieren. Die Konzeption hat allerdings ihre eigenen Schwierigkeiten. So unterstützt sie die absurde Forderung, dass jeder jede Wahrheit glauben sollte, weil jede beliebige Wahrheit für einen Mitmenschen relevant sein könnte.
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6 Die Autorität des epistemischen Sollens: Der Ansatz der epistemischen Autonomie In welcher anderen Weise lässt sich die Autorität des epistemischen Sollens erklären? Die Diagnose des Grundproblems für den instrumentellen Ansatzes weist die Richtung, in die eine erfolgreiche Erklärung gehen sollte. Der instrumentelle Ansatz sieht eine externe Beziehung zwischen der Bindung durch das epistemische Sollen und der Natur eines epistemischen Subjekts. Da sich ein Subjekt in Bezug auf einzelne Sachverhalte oder Themen ohne weiteres vom Ziel der Wahrheit zu distanzieren vermag, kann ein instrumentelles epistemische Sollen, wie gesehen, jederzeit entkräftet werden. Daher scheint ein Ansatz aussichtsreich, der eine engere Beziehung zwischen dem Sollen und dem Wesen eines epistemischen Subjekts zugrunde legt. Der Ausgangspunkt der im Folgenden entwickelten Erklärung ist die im obigen Begriff der epistemischen Autonomie implizierte These, dass die Bindung durch epistemische Normen konstitutiv dafür ist, überhaupt Überzeugungen zu haben und insbesondere solche, die sich auf die Umwelt beziehen. Die konstitutive These ist für Normen der logischen und der materiellen Inferenz unabweisbar. Einklang mit den inferentiellen Normen stiftet Kohärenz, und Überzeugungen sind, wie vor allem Donald Davidson betont hat, ohne ein gewisses Maß an Kohärenz nicht denkbar (vgl. Davidson, 2004, S. 196 f.). Kohärenz schließt sowohl Widerspruchsfreiheit ein als auch das Zusammenwirken von Überzeugungen als Prämissen und Folgerungen. Um den einfachsten Fall herauszugreifen, eine Äußerung der Form ‚p und non p‘ könnte man nicht als Kundgabe einer Überzeugung begreifen. Wenn die Widersprüchlichkeit in den Äußerungen eines Subjekts ein gewisses Maß überschreitet (und kein Anlass besteht, dem Subjekt Unaufrichtigkeit zu unterstellen), wird es unmöglich, die entsprechenden mentalen Akte überhaupt als Urteile aufzufassen. Das Gleiche gilt,wenn die Interaktion von Überzeugungen in der Herstellung von inferentiellen Zusammenhängen ein gewisses Mindestmaß unterschreitet. Je öfter ein Subjekt Aussagen der Form ‚p‘ und ‚wenn p, dann q‘ akzeptiert und sich zugleich jeweils hinsichtlich der Wahrheit von ‚q‘ völlig neutral verhält, desto weniger wird man es als Wesen mit Überzeugungen betrachten. Ebenso für Normen der materiellen Inferenz: Wenn ein Subjekt S etwa einen Hund zugleich als ‚Hund‘ und als ‚Katze‘ bezeichnet, und wenn S von ‚das ist ein Hund‘, nicht aber von ‚das ist eine Katze‘ zu ‚das ist ein Tier‘ überzugehen bereit ist, wird man vermuten, dass S das Wort ‚Katze‘ nicht versteht und über den Begriff der Katze nicht verfügt. Wenn sich
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derartige Unstimmigkeiten häufen, lassen sich die Äußerungen nicht mehr als Behauptungen und Fälle von Begriffsgebrauch identifizieren.¹⁸ Während im Großen und Ganzen bestehender Einklang mit inferentiellen Normen wesentlich dafür ist, überhaupt Überzeugungen zu haben, definieren evidentielle Normen und insbesondere Normen der Wahrnehmungsevidenz, was es heißt, Überzeugungen über die Umwelt zu haben. Wenn S im strahlenden Sonnenschein behauptet, es sei Mitternacht, oder wenn S meint, in dieser Situation nicht feststellen zu können, ob die Sonne scheine, wird man in ähnlicher Weise an seinem Sprachgebrauch und Begriffsverstehen zweifeln, wie dann, wenn er äußern würde, dass die Sonne scheine und zugleich Nacht herrsche. Allgemein, je häufiger S in einer Situation, die zwingende Belege dafür bietet, dass p der Fall ist, eine Äußerung tätigt, die prima facie die Negation von p ist, und je häufiger er in so eine Situation keine Anhaltspunkte für p sehen kann, desto weniger lässt sich S als jemand begreifen, der Urteile über seine Umgebung trifft. Konformität mit epistemischen Normen ist also unvermeidlich für ein Wesen, das Überzeugungen über seine Umwelt hat. Die bloße Unvermeidlichkeit erklärt allerdings noch nicht die Autorität des epistemischen Sollens.¹⁹ Man betrachte ein Wesen S, das sich aufgrund von Konditionierung im Großen und Ganzen im Einklang mit den epistemischen Normen verhält, aber nicht auf sein epistemisches Verhalten reflektieren kann. Die Übereinstimung mit den Normen wäre insofern unvermeidlich, als sie eine notwendige (nicht hinreichende) Bedingung dafür darstellt, S überhaupt Überzeugungen über seine Umwelt zuzuschreiben. Allerdings reicht das nicht aus, um S der Autorität des epistemischen Sollens unterworfen zu sehen, denn, wie im 1. Abschnitt gesehen, ist mit dem epistemischen Sollen die Zuschreibung von Verantwortung verbunden, und man könnte das Wesen nicht allein deshalb für sein regelkonformes epistemisches Verhalten
18 Das heißt nicht, dass wir stets vollkommen konsistent sind. Inkonsistenzen liegen nicht so offen zu Tage wie in Kontradiktionen der Form ‚p und non p‘ und können deshalb unbemerkt behauptet werden. Überzeugungen als latente Dispositionen entziehen sich den inferentiellen Normen leichter als Urteile, die Akte des Bewusstseins sind. Wir haben Überzeugungen, die unmittelbar oder aufgrund ihrer Implikationen logisch unverträglich miteinander oder mit aktuellen Urteilen sind. 19 Darauf weist Kornblith in einer Kritik an Feldman hin. Feldman möchte das epistemische Sollen damit erklären, dass es mit der Rolle eines Glaubenden verbunden sei und gegenüber dieser Rolle „keine wirkliche Wahl“ bestehe (Feldman, 2001, S. 88). Kornblith wendet ein, dass ein Verhalten nicht schon deshalb gesollt ist, weil es alternativlos ist. Er führt einen Fall von Zwang als Beispiel für unvermeidliches Verhalten an: Wenn man gezwungen werde, sich zu prostituieren, impliziere das nicht, dass man sich (in einem normativen Sinn von ‚sollen‘) prostituieren solle (Kornblith, 2001, S. 237).
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verantwortlich machen, weil solches Verhalten notwendig für das Haben von Überzeugungen ist. Zusätzlich muss kritische Reflexion möglich sein. Wenn man jemanden kritisiert, spricht man ihn als jemanden an, der sich auf sein eigenes epistemisches Verhalten beziehen und eine kritische Einstellung dazu einnehmen kann. Um die Stufe zu erreichen, auf der man adäquat als Adressat epistemischen Sollens behandelt werden kann, muss man ein reflektierendes Verhältnis zum eigenen epistemischen Verhalten bilden können. In der Reflexion sind sowohl Bekräftigung als auch Korrektur möglich. Wenn Person S etwa kritisch eine eigene Überlegung hinterfragt, die dem Modus Ponens folgt, und sich im Nachhinein die Korrektheit der Überlegung bescheinigt, bekräftigt sie damit implizit ihre Festlegung auf den Modus Ponens. Sie könnte die Festlegung explizit bestätigen, indem sie sich sagt, dass sie immer dann, wenn sie zu ‚p‘ und ‚wenn p, dann q‘ berechtigt ist, auch zu ‚q‘ berechtigt sein muss. Wenn S dagegen von ‚die Straße ist nass; und wenn es regnet, ist die Straße nass‘ zu ‚es regnet‘ übergeht, könnte ein kompetenter Kritiker darauf hinweisen, dass S sich an einem ungültigen Inferenzmuster orientiert. Sowie S das eingesehen hat, sollte er nicht nur die Folgerung ‚es regnet‘ zurücknehmen, sondern sich auch dazu aufrufen, ähnliche Fehler in Zukunft zu vermeiden. Der Kritiker kann das Sollen damit begründen, dass die eingeforderte Übereinstimmung mit einer bestimmten epistemischen Norm zu den Forderungen gehört, denen man Folge leisten muss, um überhaupt Überzeugungen über die Welt zu haben. Der Kritisierte wird mit dem Anspruch wahrgenommen, ein rationaler Gesprächspartner zu sein. Beharrliche Missachtung von epistemischen Normen gefährdet diesen Status. Das zeigt sich in dem resignierenden ‚Mit dir kann man nicht reden‘, mit dem ein Kritiker reagieren wird, wenn sich der Adressat gegenüber berechtigter Kritik unzugänglich zeigt. Die konstitutive Bedeutung der epistemischen Normen kommt auch dann zum Tragen, wenn sich eine Person aus der Innenperspektive fragt, warum sie sich einem epistemischen Sollen unterwerfen soll. Sich zu fragen, ob man sich überhaupt epistemischen Normen gemäß verhalten soll, heißt sich zu fragen, ob man ein epistemisches Subjekt sein soll. Bereits dadurch, dass man eine reflektierende Überlegung anstellt, beweist man die Festlegung auf epistemische Normen. Überlegen und Urteilen heißt, sich an Gründen zu orientieren, und für jemanden, der epistemische Gründe hat, gibt es keine Alternative dazu, epistemische Normen anzuerkennen. Epistemische Normen können zwar im Einzelfall verletzt werden, aber sie machen keine Ausnahmen für Einzelfälle. Die Bindung durch eine epistemische Norm erstreckt sich auf jeden einzelnen Fall im Geltungsbereich der Norm. Nach dem Ansatz der epistemischen Autonomie ist der Geltungsanspruch des epistemischen Sollens im Vergleich mit dem instrumentellen Ansatz signifikant
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anders begründet. Wäre letzterer korrekt, könnte sich eine Person einer epistemischen Forderung in Bezug auf ein gegebenes Thema entziehen, indem sie das Ziel der Wahrheit für dieses Thema fallen ließe. Dann wäre für die Person in diesem Zusammenhang nichts mehr ein epistemischer Grund, und der Impetus, mit dem ein Kritiker zur Konformität mit epistemischen Normen aufriefe, wäre verfehlt.Wenn dagegen der autonomiebasierte Ansatz zugrunde gelegt wird, kann ein Kritiker mit Recht an einer epistemischen Forderung festhalten, auch wenn der Kritisierte tatsächlich in einem bestimmten Gebiet nicht an der Wahrheit interessiert ist. Die Forderung stützt sich auf die Natur und den Status eines epistemischen Subjekts, ihre Missachtung gefährdet diesen Status. Der Punkt ist nicht, dass die Autonomiekonzeption dem Kritiker ein schlagendes Argument an die Hand geben würde, mit dem der Kritisierte überzeugt werden kann. Vielmehr kommt es darauf an, dass sie erklären kann, warum der Kritiker berechtigt ist, zu insistieren, S solle sich so und so verhalten, selbst wenn S in einem bestimmten Gebiet kein Interesse an der Wahrheit hat. Solange S ein geeigneter Adressat für irgendein Sollen ist, muss er ein epistemisches Subjekt sein und ist als solches dem epistemischen Sollen unterworfen. Man kann die reflektierende Anerkennung epistemischer Normen als Selbstbindung bezeichnen. Robert Brandom hat mit Rekurs auf Kant den Gedanken vorgetragen, dass normative Bindungen Selbstbindungen seien (vgl. Brandom, 2009, S. 62 f.). Autorität müsse frei anerkannt sein. Diesem Gedanken ist zuzustimmen, sofern der vernünftige Charakter des freien Aktes der Selbstbindung betont wird. Er beruht auf der Einsicht in die Alternativlosigkeit des Gebundenseins. Anerkennung von epistemischen Normen setzt eine im epistemischen Verhalten eingeübte und faktisch bestehende Konformität mit den Normen voraus. Sie bekräftigt die normative Bindung aus der Erkenntnis, dass sie für ein Wesen, das Überzeugungen über seine Umwelt hat, unvermeidlich ist.
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Wem gehört die Autonomie? Vom politischen Umgang mit einem zentralen Begriff neuzeitlicher Philosophie Im Frühjahr 2012 hat die zumeist theoretische, zumeist akademische Diskussion um unterschiedliche Freiheitsbegriffe die Tagespolitik erreicht: Die Partei „Die Linke“ erklärt, ihre Vertreterinnen und Vertreter in der Bundesversammlung könnten am 18. 3. 2012 in der Bundesversammlung nicht für Joachim Gauck votieren, weil der von jenem in seiner steten Betonung von Freiheit und Verantwortung gebrauchte Freiheitsbegriff nicht die soziale Freiheit einschließe, was angesichts einer sich immer weiter in Arme und Reiche aufspaltenden Gesellschaft nicht hinnehmbar sei. Man könnte hier auf den ersten Blick die Neuauflage eines für moderne politische Verhältnisse alten ideologischen Krieges vermuten: Auf der einen Seite steht eine neoliberale Freiheitskonzeption, wie sie sich archetypisch bei August Friedrich von Hayek findet. Danach ist ein „Zustand der Freiheit“ ein solcher, „in dem Zwang auf einige seitens anderer Menschen so weit herabgemindert ist, als dies im Gesellschaftsleben möglich ist“ (Hayek, 2005, S. 13) und in dem „Gleichheit der allgemeinen Gesetzes- und Verhaltensregeln […] die einzige Art von Gleichheit [ist], die der Freiheit förderlich ist, und die einzige Gleichheit, die wir ohne Zerstörung der Freiheit sichern können.“ (ebd., S. 110). Hayek hatte bereits 1944 Nationalsozialismus und Staatssozialismus gemeinsam als „Weg zur Knechtschaft“ enttarnt (Hayek, 2011) und war beim Aufspüren der „sozialistischen Wurzel des Nationalsozialismus“ (Hayek, 2011, S. 210 – 226) nicht allein geblieben. Für Ludwig von Mises, war „das demokratische und freiheitliche Element im Programm der sozialistischen Parteien“ – und darunter zählt er ausdrücklich auch die sozialdemokratische Partei Deutschlands – „ein Mittel der Täuschung, eine Kriegslist, sonst nichts“ (von Mises, 1978, S. 77). Man scheut sich in diesen Kreisen auch nicht, Keynessche Wirtschaftspolitik und Roosevelts New Deal mit Stalinismus und Nationalsozialismus zu identifizieren, zumindest insoweit man das zu erkennen glaubt, was Foucault dann als „antiliberale Invariante“ zusammengefasst hat (Foucault, 2006, S. 160 f.). Auf der in ähnlicher Weise absonderlich vereinfachenden anderen Seite galt die liberale Freiheitsauffassung als gemeinschaftsschädigendes Kampfmittel eines nur auf persönliche Gewinnmaximierung bedachten Egoismus. Dagegen ging es Wladimir Iljitsch Lenin um die materiale Gleichheit, jedenfalls um die Beseitigung der Unterdrückung des Proletariats durch das Finanzkapital. Allerdings
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gehört dazu keineswegs eine Bemühung um gleiche Partizipation der Menschen an der politischen Entscheidung, sondern spätestens seit dem Aufsatz „Was tun?“ von 1902 ist klar, dass dies Aufgabe der kommunistischen Partei als revolutionärer Avantgarde ist (Lenin, Werke 5, S. 397). Entsprechend geht es auch beim Umgang mit der Freiheit allein um die „Ausnutzung“ der Freiheit „für den proletarischen Kampf, um dem Sozialismus zu dienen“, jede andere Propagierung der Freiheit diene nur der Bourgeoisie (Ein neuer revolutionärer Arbeiterbund, Werke 8, S. 503). Diese instrumentelle Haltung prägte in nur geringen Variationen die Haltung des realen Sozialismus gegenüber individueller Freiheit und individuellen Freiheitsrechten. Freiheit wurde, soweit überhaupt thematisiert, am ehesten verstanden als Freiheit des Volkes bzw. der Arbeiterklasse zur Gestaltung der Produktionsbedingungen auf der Basis der gesellschaftlichen, auch kulturellen Tätigkeit der kommunistischen Partei. Gegen diese Deutung der Freiheit richteten sich bekanntlich die Aktivitäten der Dissidenten in den Ländern des real existierenden Sozialismus. Glücklicherweise ist die Lage nicht mehr so einfach. Es bedarf keiner gleichsam seherischen Kompetenz, um festzustellen, dass gegenwärtig die individuelle Freiheit wohl allseits unangefochtener als zu verteidigender Wert anerkannt ist als je zuvor. Zugleich sieht man sie vielfach bedroht. Zu den leider noch immer viel zu häufigen Fällen von Unterdrückung in diktatorischen Regimen kommt jedoch heutzutage die Bedrohung der Freiheit in den auf den ersten Blick gut funktionierenden Demokratien durch Gefährdung der Partizipationsmöglichkeiten in supranationalen Organisationen, aber auch durch weltweit verbreitete Entwicklungen, die wir gerne als Teil oder Folgeerscheinung der Globalisierung bezeichnen. Es kann also hier nicht darum gehen, die Kohärenz und Stringenz dessen zu untersuchen, was die Protagonisten auf der Bühne der Tagespolitik von sich geben. Wohl aber kann es hilfreich sein, zu zeigen, dass bei sinnvoller Interpretation die traditionellen, in den Debatten der Neuzeit und insbesondere der letzten 250 Jahre¹ formulierten Freiheitsbegriffe keineswegs in die unausweichlichen Dichotomien steuern, die einige Autoren zu entdecken glaubten. In einem zweiten Abschnitt sei gezeigt, dass der von Kant zur Blüte gebrachte, in unterschiedlichen Verwendungsweisen zu einem Zentrum der modernen Freiheitsdebatte gewordene Autonomiebegriff schon bei Kant da, wo man eine Verbindung des moralischen Terminus zu politischen Freiheitsbegriffen annehmen kann, weder eindeutig auf die Berechtigung zur politischen Partizipation noch auf eine individuelle Privatautonomie reduziert ist, wie dies unterschiedliche Kommentatoren anzunehmen scheinen.
1 Rousseaus Contrat Social wurde erstmals 1762 publiziert.
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1 Freiheit und Freiheiten „Unter all den ethischen Werten, die in der modernen Gesellschaft zur Herrschaft gelangt sind und seither um die Vormachtstellung konkurrieren, war nur ein einziger dazu angetan, deren institutionelle Ordnung auch tatsächlich nachhaltig zu prägen: die Freiheit im Sinne der Autonomie des einzelnen.“ (Honneth, 2011, S. 35). Es gilt also, die verschiedenen Realisierungsansätze zu sichten und auf ihre Kompatibilitäten oder Idiosynkrasien zu prüfen. Für die Untersuchung der Frage nach der Vereinbarkeit oder Konfliktträchtigkeit unterschiedlicher Freiheitskonzeptionen kommt man nicht umhin, wenigstens in knapper Form einige der gängigen Differenzierungen vorzustellen, wohl wissend, dass dies stets auch mit etwas anderer Benennung, Strukturierung und Akzentuierung geschehen kann (vgl. Honneth, 2011, Teil A). Begonnen sei mit der Unterscheidung zwischen positiver und negativer Freiheit: Bei der positiven Freiheit steht die Freiheit zur Selbstbestimmung im rechtlich-politischen Bereich, d. h. die Teilhabe an der Entscheidungsfindung im Mittelpunkt, bei der negativen Freiheit die Freiheit von unnötiger Bevormundung, die Gewährung eines Bereiches, aus welchem der Staat sich heraushält. Beide Varianten der Freiheit lassen sich in sehr unterschiedlicher Weise interpretieren. Der Autor, der sie während des Kalten Krieges in die neuere politische Diskussion brachte, Isaiah Berlin (Berlin, 1969), war der Ansicht, dass nur die negative Freiheit von staatlicher Bevormundung mit dem liberalen Staat vereinbar sei,während die positive Freiheit dazu tendiere, zur totalitären Demokratie, zum Stalinismus mit seinem Archipel Gulag umgedeutet zu werden. Entgegen der aus unterschiedlichen ideologischen Richtungen kommenden Tendenz, hier einen unversöhnlichen Gegensatz zu konstruieren – die einen warnten vor totalitärer Vereinnahmung durch den angeblichen Gemeinwillen, die anderen sahen nur die Angst des Bourgeois um seine Privilegien – vertrete ich die Auffassung, dass beide Konzepte sich im demokratischen Verfassungsstaat sogar ergänzen sollten, um zur vollen Entfaltung gelangen zu können. In den wesentlichen Deklarationen des späteren 18. Jahrhunderts, wie der Virginia Declaration of Rights (12. Juni 1776) und der Déclaration des droits de l’homme et du citoyen (1793) findet sich auch beides. Die Virginia Declaration of Rights, die erste Grundrechtserklärung im engeren Sinn, räumt dem gleichen Recht auf Leben und Freiheit (§ 1), der demokratischen Staatsordnung (§§ 2,3) und der Gewaltenteilung (§ 5) einen zentralen Platz ein. Die Pressefreiheit (§ 12) und die Religionsfreiheit (§ 16) sind abgeleitete Umsetzungen der allgemeinen Prinzipien. Ähnliche Artikel formulieren in Frankreich die Erklärung der Menschenrechte von 1789 und die detaillierten Verfassungen von 1791 bzw. 1793.
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Auch die zwischen Neoliberalen und Linken häufig politisch umstrittene soziale Freiheit eignet sich bei genauerer Betrachtung eher zu einer graduellen, durch empirische Fakten dominierten, als zu einer prinzipiellen theoretischen Auseinandersetzung. Die von verschiedenen Autoren (Pettit, 1997; Spitz, 2005) in den letzten fünfzehn Jahren ins Spiel gebrachte republikanische Freiheit erweist sich als methodisch hilfreicher Aspekt.
1.1 Freiheit zur Selbstbestimmung – positive Freiheit Positive Freiheit soll die Selbstbestimmung in der Sphäre des Politischen sichern. Einfacher gesagt muss irgendwie geklärt werden, wie das Individuum Grund dazu haben kann, die Entscheidungen der Gemeinschaft, denen es unterworfen ist, als die eigenen anzusehen. Wie lässt sich die individuelle Autonomie mit der Tatsache vereinbaren, dass es in einem staatlichen Rechtssystem nun einmal Zwangsgesetze gibt? Nun, zunächst dadurch, dass dem Individuum die Möglichkeit geboten wird, an der Entstehung der Gesetze, denen es unterworfen ist, mitzuwirken. Eine klassische Formulierung dieser Deutung der positiven Freiheit findet sich bei Rousseau, im Kapitel IV, 2. des Contrat social: Man wird jedoch die Frage aufwerfen: Wie kann ein Mensch frei sein und doch gezwungen sein, sich Willensmeinungen zu fügen, welches nicht die seinigen sind? […] Ich antworte darauf, dass die Frage schlecht gestellt ist. Der Staatsbürger gibt zu allen Gesetzen seine Einwilligung, sogar zu denen, die wider seinen Willen gefasst werden, ja er nimmt auch die an, die ihn strafen, falls er es wagen sollte, eines derselben zu übertreten. Der beständig in Kraft bleibende Wille aller Staatsglieder ist der allgemeine Wille; durch ihn sind sie erst Staatsbürger und frei. (Rousseau, 1971)
Dass Immanuel Kant bei Isaiah Berlin als zweiter Urheber dieses positiven Freiheitsbegriffs fungiert, kann gegenüber seiner Einordnung als Verfechter einer bloß privaten Autonomie Vorsicht angebracht erscheinen lassen. Kant billigt nach dem Grundsatz volenti non fit iniuria dem Staatsbürger seines Staates in der Idee das Recht zu, „keinem anderen Gesetz zu gehorchen, als zu welchem er seine Beistimmung gegeben hat“ (Rechtslehre, § 46, AA VI, 314). Dabei betont er, dass der Staatsbürger nicht einen Teil seiner angeborenen Freiheit opfere, sondern die „wilde, gesetzlose Freiheit“ ganz verlasse, um sie im gesetzlichen Zustand unvermindert wiederzufinden (Rechtslehre, § 47, AA VI, 315 f.). Dies ist bei Kant die staatsbürgerliche Freiheit, die nicht per se identisch ist mit der Freiheit als einzigem „angebornen Recht“, nämlich der „Unabhängigkeit von eines anderen nöthigender Willkür“ (Rechtslehre, Einleitung, AA VI, 237).
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Für Kant und für Rousseau kann es keinen Bereich geben, der auch einem demokratischen Souverän prinzipiell entzogen bleibt. Der Gesellschaftsvertrag enthält nach Rousseau die stillschweigende Übereinkunft, „dass jeder, der dem allgemeinen Willen den Gehorsam verweigert, von dem ganzen Körper dazu gezwungen werden soll; das hat keine andere Bedeutung als dass man ihn zwinge, frei zu sein.“ (Contrat social, Kap. I, 7.). Die Herrschaft des Gesetzes, welcher alle in gleicher Weise unterworfen sind, sodass man in seinem Lebensvollzug frei ist von den Launen und der Willkür anderer Menschen – sogar von den eigenen Begierden – ist der Inbegriff von Freiheit schlechthin. Ähnlich, wie in der Ethik die Autonomie des Subjektes und seine Unterwerfung unter das Sittengesetz nicht nur miteinander vereinbar, sondern geradezu gleichbedeutend sind, wäre im rechtlichen Rahmen jeder Vorbehalt gegen das Gesetz, jeder dem Individuum reservierte Bereich „wilder, gesetzloser Freiheit“ ein Einfallstor für die Rückkehr der nötigenden Willkür und der Unfreiheit. Mit der vollständigen Aufgabe der wilden, gesetzlosen Freiheit bei Kant ist indessen nicht gemeint, das Individuum sei nur frei zu dem, was durch allgemeine Gesetze ausdrücklich erlaubt ist. Für Kant ist erst einmal „jede Handlung recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann“ (Rechtslehre, Einleitung, § C, AA VI 230). Erst wer in die Freiheit eines anderen eingreifen will, muss eben daran gehindert werden. Staatlicher Zwang ist somit eine „Verhinderung eines Hindernisses der Freiheit“ (Rechtslehre, Einleitung, § D, AA VI 231). Die Diskussion um die positive Freiheit spitzt sich jenseits inhaltlicher Festlegungen auf die Frage zu, ob es eine Art „vorstaatlicher“ Sphäre gibt, in die auch dem demokratischen Gesetzgeber jedes Eindringen verwehrt ist, die dem Individuum vorbehalten bleibt. Hegels Deutung der positiven Freiheit weist nicht nur dies zurück, denn „der Staat ist die Wirklichkeit der konkreten Freiheit“ (Rechtsphilosophie, § 260). Obendrein hat der Gemeinwille bei ihm ausdrücklich nichts mit dem zu tun, was die beteiligten Individuen denken, sondern er ist das Gebot der Vernunft selbst. So bereitet er durch seinen enormen Einfluss auf den Marxismus nach Berlins Ansicht den Boden für eine Interpretation der Freiheit, wonach nicht die durch falsches Bewusstsein geformten Wünsche der Individuen, sondern erst der durch die Partei vollzogene wahre Wille zur Verwirklichung der Freiheit führt. Die Freiheit des Individuums kann dabei gerade dadurch entstehen, dass es im Lager umerzogen wird, wie man es etwa aus der stalinistischen Epoche kennt. Bezweifeln lässt sich freilich, dass dies bereits im Konzept positiver Freiheit bei Rousseau und Kant enthalten ist. Sie gelten in anderer Interpretation nämlich als wichtige Verfechter einer Gruppe von Menschenrechten, die man als Partizipationsrechte bezeichnet. Wir sind heute generell bemüht, diese Partizipations-
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möglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger zu erweitern, wo immer dies möglich ist. Positive Freiheit als Freiheit zur Selbstbestimmung ist also nicht nur mit dem demokratischen Verfassungsstaat vereinbar, sie ist integraler Bestandteil desselben. Die positive Freiheit, die Möglichkeit durch politische Partizipation die Geschicke des eigenen politischen Gemeinwesens mitzubestimmen, schwindet – spätestens seitdem die Nationalstaaten an politischer Relevanz verlieren – in für viele Menschen wahrnehmbarer Weise. Dass dies als alarmierend erlebt wird, zeigen die diversen Abwehrreaktionen gegen die EU, aber auch ein Teil der Ressentiments amerikanischer Politiker gegenüber den Vereinten Nationen dürfte so zu erklären sein. Man verliert das Gefühl, den eigenen Politiker, der dieselbe Sprache spricht und auch wenn man ihn ablehnt, doch noch im selben Erfahrungshorizont lebt, nicht mehr bestimmen oder abwählen zu dürfen. Unbestreitbar wird die Möglichkeit politischer Mitbestimmung bei immer größer werdenden politischen Organisationen immer indirekter und fiktiver, weshalb es andere Wege der Partizipation zu erforschen gilt. Doch muss man sich auch vor Augen führen, dass bereits der Nationalstaat alles andere als die substantielle Einheit darstellte, als welchen man ihn gerne darstellen will. Außerdem gibt es seit jeher völlig berechtigte Klagen über die geringen Partizipationsmöglichkeiten, die geringen Einflussmöglichkeiten auf die Politik etc. Man wird zugestehen müssen, dass dies in größeren politischen Einheiten zunächst einmal nicht besser wird. Doch lässt sich das Instrumentarium zur Verbesserung der innerstaatlichen Partizipation durchaus auch in größerem Rahmen verwenden. Man wird also nach einer möglichst umfassenden öffentlichen Diskussion relevanter und strittiger Fragen sorgen müssen. Dazu leisten Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs) einen unverzichtbaren Beitrag. Anders gesagt besteht die Gegenmaßnahme in der Stärkung der Zivilgesellschaft gegenüber den staatlichen Organen. Diese NGOs und generell die Zivilgesellschaft sind auch von großer Bedeutung beim Versuch, die Erosion bürgerlicher Freiheitsrechte im Kampf gegen den Terror aufzuhalten. Durch gemeinsame, organisierte Aktionen, durch eine sich immer wieder rückbesinnende Presse, aber auch durch kontinuierliche Wachsamkeit der Einzelnen gegenüber mehr oder minder offenen Gleichschaltungsversuchen kann man hoffen, die bürgerlichen Freiheitsrechte verteidigen zu können. Die Diskussion um den Alleinvertretungsanspruch der positiven Freiheit anstelle der vorstaatlichen Freiheit dreht sich weniger darum, zu welchen Handlungen das Individuum am Ende frei ist, sondern um die Frage, ob es eine vorstaatliche Sphäre gibt, in die auch dem demokratischen Gesetzgeber jedes Eindringen verwehrt bleibt. Unterschiedliche Varianten, eine solche Sphäre zu verfechten, sollen nun skizziert werden.
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1.2 Freiheit von Bevormundung – negative Freiheit Als klassische liberale Freiheit sah man die hier als negative Freiheit bezeichnete Freiheit von unnötiger Bevormundung an, die Nichteinmischung – non-interference – des Staates, die Freiheit als „Schweigen der Gesetze“, wie Hobbes es nannte. Kants „Unabhängigkeit von eines Andern nöthigender Willkür“ wird auf die Freiheit von der Einmischung des Staates und der Öffentlichkeit ausgedehnt. Wie es nicht anders sein kann, ist allerdings auch hier einiges an Binnendifferenzierung nötig, um den zahlreichen Missverständnissen zu begegnen, die als Kern liberaler Freiheit den freien Waren- und Kapitalverkehr, damit den Schutz der Produktionsmittel vor dem Proletariat ansahen, oder auch die sexuelle Freizügigkeit mit der angeblich durch sie verursachten Verrohung der Bevölkerung. Eine Möglichkeit besteht darin, eine Freiheit als Erlaubtheit, die nicht mehr bedeutet, als dass die betreffende Handlung durch die gerade geltenden Gesetze nicht verboten ist und eine Freiheit als Unabhängigkeit, die uns die grundlegenden Rechte sichern soll, wie Versammlungsfreiheit, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit etc., unter deren Ausnutzung wir überhaupt erst die Möglichkeit zu einer reflektierten politischen Teilhabe bekommen. Auch bei der Freiheit als Erlaubtheit mag man sich nochmals fragen, ob man nur dann von Freiheitsbegrenzungen sprechen kann, wenn man das, woran man gehindert wird, auch hätte tun wollen und wenn die Begrenzung unberechtigt ist. Hillel Steiner hat mit einiger Plausibilität dafür plädiert, das Frei-Sein nicht mit dem Sich-frei-Fühlen zu verwechseln und die Trennung der Beschreibung einer Freiheitsbegrenzung von ihrer Rechtfertigung aufrecht zu erhalten (Steiner, 1994, S. 11– 21). Gemäß der „Natur der Sache“ kann es die Freiheit zum Mord, Betrug, Diebstahl etc. in einem Rechtssystem nicht geben, da es die Aufgabe hat, die Menschen zu schützen. Derartige Verbote sind also berechtigt, gleichwohl sie in einem bloß deskriptiven Sinne Einschränkungen der Freiheit sind. Nicht immer ist die Rechtfertigung für die Einschränkung derart eindeutig. Es gab oder gibt in einigen Rechtssystemen Bräuche, Verträge oder auch Gesetze, die bestimmten Personen Freiheiten erlauben, die wir für nicht akzeptabel halten. Die Erlaubtheit der Sklavenhaltung etwa oder die Erlaubtheit der Polygamie. Zumindest das erste verstößt nach heutiger Auffassung gegen die Grundvorstellung eines elementaren Freiheitsrechtes als gleiche Freiheit von nötigender Willkür für alle und lässt sich damit im modernen Verfassungsstaat nicht aufrecht erhalten. Darüber hinaus wird es indessen schwierig, apriorische Grenzen in der einen oder anderen Richtung anzugeben. Es gibt anscheinend nicht allzu viele Verhaltensweisen, die notwendigerweise verboten sind. Dies belegen die sich immer wieder ändernden Regelungen rund um das Rotlichtmilieu oder um die Verbrei-
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tung anzüglicher Schrift-, Ton- und Filmwerke, wenn man einmal von den konstanten Fällen wie erwiesener Zuhälterei oder der Herstellung von Produkten mit sadistischen Praktiken absieht. Andererseits gibt es auch keine den konkreten rechtlichen Regelungen vorausoder zugrunde liegenden moralischen oder naturrechtlichen Ansprüche auf Gewährung solcher Freiheiten, etwa Pornographie, Drogenkonsum, Fahren ohne Tempolimit. Es gibt einen generellen Vorbehalt zugunsten der Erlaubtheit,wonach diejenige, die jemandem etwas verbieten möchte, begründen muss, warum dies zum Schutz oder für das Wohlergehen anderer Menschen erforderlich ist, nicht die von einem Verbot Betroffene, warum sie in Ruhe gelassen werden möchte. Diese Verteilung der Beweislast kann man als allgemeinen Vermutung zugunsten der Freiheit bezeichnen. Davon abgesehen sind die Dinge, die unter diese Freiheit als Erlaubtheit fallen, moralisch zumindest soweit irrelevant, dass es nicht offenkundig erforderlich ist, sie als überstaatlich-schützenswert einzustufen, dass ebenso wenig evidente Notwendigkeit besteht, zu ihrer Verhinderung mit gesetzlichen Mitteln einzugreifen. Zu den Freiheiten dieser Art gehört die Freiheit des Handels, allgemein der ökonomischen Sphäre. Man lässt hier ein großes Maß an Freiheiten, da sich dieses in den letzten zwei Jahrhunderten als langfristig vorteilhaft für alle Beteiligten erwiesen hat. Ein Menschenrecht auf Handel gibt es so wenig wie in den anderen genannten Gebieten, es sei denn man zählt sie zum Schutz der Privatsphäre; auf diesen gibt es nämlich einen Anspruch. Ebenso gibt es einen Anspruch auf die Freiheiten, die man auch als Abwehrrechte oder als erste Generation der Menschenrechte bezeichnet, wie Pressefreiheit, Rede- und Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Freizügigkeit etc. Man kann sie unter dem Titel Freiheit als Unabhängigkeit zusammenfassen (Benn/Peters, 1977). Sie sollen das sichern, was den Menschen in seinem Wesen ausmacht, nämlich ein zoon logon echon zu sein, ein Wesen, das seine Vernunft gebrauchen kann und sich mit anderen in argumentierender oder erzählender Weise zu verständigen vermag, um seinen persönlichen Weg des Glücks, aber auch das für die politische Gemeinschaft Richtige zu suchen. Hierzu zählt das Recht auf Schutz der Privatsphäre. Diese Freiheiten sind daher in keiner Weise moralisch indifferent; sie sind „unverbrüchliche“ Rechte der Einzelnen, deren Wahrung als ein Prüfstein für die Legitimität eines Regimes gelten kann. Ein Eingriff in diese Freiheiten ist auch dem demokratischen Staat verboten. Hier gibt es kein Mehr oder Weniger, sie sind schlicht zu respektieren, solange sie mit den Freiheiten der anderen vereinbar sind. Da sie jedem Individuum in gleicher Weise zugestanden werden, erfordert ihre Realisierung auch die politische und rechtliche Gleichheit. Nur so kann man sie tatsächlich als Menschen- und Bürgerrecht und nicht nur als Gruppenprivileg
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ansehen. Damit sie als einklagbares Recht innerhalb eines politischen Systems realisiert werden können, nicht nur als Gnade eines Monarchen oder einer herrschenden Minderheit gewährt werden, müssen sie ferner mit positiven Freiheitsrechten der empirischen Individuen, mit Rechten auf Beeinflussung der politischen Entscheidungen also, verknüpft sein. Indem man eine Privatsphäre, eine Zone der Autonomie beansprucht, überlässt man dem Individuum die Auswahl dessen, was es von der Allgemeinheit respektiert haben möchte. Daher kann man diese Art von Recht nicht mehr auf einen überschaubaren Katalog von Pflichten für die anderen reduzieren. Es ist also sinnvoll, auch irreduzible moralische Rechte anzunehmen. Gerade deshalb ist es wichtig, jenen Bereich von Grundfreiheiten festzuhalten, auf deren Schutz das Individuum einen Rechtsanspruch besitzt, sodass ihre Verletzung eine Unrechtshandlung des Staates darstellt und gar nicht erst in einen Abwägungsprozess aufgenommen werden darf. Dies zeigt sich noch deutlicher, wenn man hier schon einmal das Problem berücksichtigt, dass die faktische Freiheit, sein Leben gemäß dem eigenen Entwurf zu gestalten, nicht nur formale Freiheitsrechte und Erlaubtheiten erfordert, sondern auch ein gewisses Maß an materialer Grundausstattung, die überhaupt erst den durch die formalen Freiheiten angedeuteten Handlungsspielraum eröffnet. Eine Grenze findet die private Autonomiezone logischerweise bei jenen Handlungen, die bei allgemeiner gleicher Erlaubtheit miteinander unvereinbar wären. Der Übergang zwischen den Einschränkungen der privaten Autonomiezone, die zur Erhaltung der Gesellschaft erforderlich sind, und der begründeten Verweigerung einer bloßen Erlaubtheit ist fließend. Ein gewisses Maß an Freigestelltheit im Sinne der Erlaubtheit ist allerdings erforderlich, damit diese Autonomiezone auch als solche erfahren werden kann. Auch durch eine Fülle von Regulierungen des Alltagslebens auf offizieller oder halboffizieller Ebene, die je einzeln durchaus vernünftig sind und keineswegs unmittelbar Freiheitsrechte verletzen, kann man eine Atmosphäre der Enge und Beklemmung erzeugen, worin die Bewahrung effektiver Freiheitsrechte kaum noch Lebensqualität zu verschaffen vermag. Will sagen: Einschränkungen der Meinungsfreiheit sollten sehr viel vorsichtiger behandelt werden als Geschwindigkeitsbegrenzungen, Drogenverbote oder Gaststättenöffnungszeiten. Doch droht eine Überregulierung in jenen anderen Bereichen auch die Lebensqualität zu vermindern. Es geht jedoch nicht allein um den Schutz der Individuen vor der Gemeinschaft, wie man dem Liberalismus immer vorwirft. Mills Plädoyer für die Freiheit beruft sich generell auf deren gesellschaftlichen Nutzen. Es gibt Bereiche, die aus diesem Grunde nochmals besonderen Rechtsschutz genießen, wie die Freiheit der Wissenschaft und die Freiheit der Kunst. Es sind diese Bereiche, welche die Fähigkeit einer Gesellschaft, sich zu verbessern, sich zu entwickeln, sich neuen
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Gegebenheiten anzupassen auf ihre je eigene Art sichern sollen. Auch hier wird man nicht per se jede Handlung zulassen. Man denke an die Debatten um Wissenschaftsfreiheit und Embryonenschutz oder auch um die Freiheit der Forschung gegen die Versuche von Tierschützern, Tierversuche zu verhindern. Dass man überhaupt Ausnahmen von den normalen Regeln im Umgang mit Tieren in Erwägung zieht, zeigt, wie wichtig dieser Bereich unseres Lebens genommen wird. Vergleichbare Fragen tauchen immer wieder bei der Freiheit der Kunst auf. Diese Debatte war lange Zeit dominiert von der Auseinandersetzung mit Menschen, die sich um die Erhaltung von Zucht und Ordnung im sexuellen Bereich sorgten, und von Beschützern des Glaubens. Heute wird dies zur Verletzung religiöser Gefühle individualisiert, auf die der Künstler nach Ansicht mancher Kritiker Rücksicht zu nehmen hat. Derartige Debatten müssen stets aufs Neue geführt werden und können nicht vorab entschieden werden, denn dies wäre auch das Ende der innovativen Rolle der Kunst. Ohne einen garantierten Schutzraum kann sich diese indes auch nicht entfalten, können keine neuen, bisher noch nicht für denk- oder wahrnehmbar erachteten Kreationen entstehen. Negative Freiheit sollte also über die unveräußerlichen Schutzrechte hinaus auch die Teile der Gesellschaft protegieren, die ihre Suche nach Wahrheit und neuen Reaktionsweisen auf die Herausforderungen der Zukunft gewährleisten. Das klassische Instrument zur Sicherung dieser Freiheitsrechte ist das habeascorpus-Prinzip, der Schutz vor willkürlicher Verhaftung (Kriele, 1975, S. 152). Da sie jedem Individuum in gleicher Weise zugestanden werden, erfordert ihre Realisierung auch die politische und rechtliche Gleichheit. Nur so kann man sie tatsächlich als Menschen- und Bürgerrecht und nicht nur als Gruppenprivileg ansehen. Insofern stehen die liberalen Freiheitsrechte weder mit der Gleichheit der Bürger noch mit deren positiver Freiheit im Widerspruch.
1.3 Republikanische Freiheit Mit der Freiheit als Unabhängigkeit im Sinne einer Garantie der für die politische Willensbildung essentiellen Rechte kompatibel, aber in der Grundauffassung etwas anders gelagert ist die sogenannte typisch republikanische Freiheit als NichtUnterwerfung (non-domination). Philip Pettit versteht in seinem eindrucksvollen Werk Republicanism als typisch liberale Freiheit die Freiheit als Nichteinmischung – non-interference – des Staates. Dieser stellt er die republikanische Freiheit als Nicht-Beherrschen – freedom as non-domination – entgegen. Sie fällt weder mit der bloß als Maximierung staatlicher Nicht-Einmischung verstandenen negativen Freiheit, noch mit der positiven Freiheit zusammen, sondern besteht zum einen Teil in dem, was bereits Kant als „Unabhängigkeit von eines andern nötigender
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Willkür“ bezeichnet hatte: Es ging historisch darum, dass niemand dominium ², hier im Sinne von Eigentum, also Sklave eines anderen sein, ihm nicht gehören durfte, weil ihn dies dessen Willkür unterwerfen würde. Von ‚Beherrschen’ kann man sprechen, wenn eine Person die Möglichkeit hat, sich willkürlich in die Lebensentscheidungen einer anderen einzumischen. Die einzige Form, in der eine Einmischung akzeptiert wird, wird durch die Gesetzesförmigkeit oder zumindest Gesetzeskonformität der jeweiligen staatlichen Handlung bestimmt und limitiert. Während dieser Gegenüberstellung zufolge der Liberalismus jede Form der staatlichen Einmischung zurückzudrängen versucht, will der Republikanismus nur die willkürliche Beherrschung unterbinden; will verhindern, dass ein Mensch über einen anderen ein dominium im Sinne einer Eigentumsbeziehung ausübt. Freiheitsbeschränkungen, dies scheint der zweite definitorische Bestandteil dieser Art von Freiheit, dürfen in diesem Sinne nur wechselseitig und nach allgemeinem Gesetz vorkommen, in anderer Formulierung geht es um die Herrschaft der Gesetze, nicht von Menschen (Pettit, 1997, S. 171 ff.). Da man annehmen kann, dass die Beschränkung der unter die Freiheit als Unabhängigkeit fallenden Grundsätze nicht Gegenstand einer solchen Gesetzgebung sein kann, kommen sich Freiheit als Unabhängigkeit und Freiheit als Nicht-Beherrschung relativ nahe. Mir geht es allerdings um einige inhaltliche, nicht lediglich prozedurale Festlegungen, den Schutz der Meinungsfreiheit, der Freizügigkeit, der Pressefreiheit etc., für die es der Freiheit als Nicht-Unterwerfung bedarf, die aber noch nicht darin impliziert sind (Pettit, 1997, S. 81 f.). Es gibt aus vielfacher historischer Erfahrung eben auch Gründe, gegenüber einem demokratischen Gesetzgeber ein gewisses Maß an Misstrauen zu bewahren. Es bedarf daher nicht nur der formalen republikanischen Freiheit, sondern auch des substanziellen Schutzes bestimmter Rechte. Schließlich galt Freiheit zumindest in der republikanischen Tradition über Jahrtausende hinweg als edel und erstrebenswert. Sie wurde jedoch keineswegs als ‚Recht für Alle’ angesehen. Noch Christian Thomasius zählt sie zu den Vorzugsgütern und erklärt, in Ansehung der natürlichen Gleichheit der Menschen seien Anstand, äußerliche Ehre, Reichtum und Freunde ähnlich wie Freiheit „nicht so nothwendig“ wie Gesundheit, Weisheit und Tugend (Thomasius, 1692, § 125). Erst im 18. Jahrhundert wird die Freiheit allmählich zum für alle Menschen geforderten, unveräußerlichen Recht. Keineswegs zufällig sind die Ähnlichkeiten von Pettits republikanischer Position mit Kants Rede von der Freiheit von eines anderen nötigender Willkür als einzigem angeborenen Recht, zusammen mit der Bestimmung des strikten Rechts
2 Zum Begriff des dominium vgl. Tellkamp, 2004.
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als gesetzmäßigen und wechselseitigen Zwangs (Rechtlehre, Einleitung, § E, AA VI, 232). Damit ist man freilich bei einem der angeblich traditionellen Vertreter der positiven Freiheit angekommen, obwohl sich Pettit von der seiner Ansicht nach irreführenden Unterscheidung zwischen positiver und negativer Freiheit gerade distanzieren wollte. Allerdings ist es tatsächlich, wie sich zeigen wird, irreführend und überflüssig, Kant in dieser Weise zu rubrizieren.
1.4 Was nützt die Freiheit? – Soziale Freiheit Wir haben bislang zwischen einer positiven und einer republikanischen, einer Freiheit als bloßer Nichteinmischung, als Erlaubtheit also, sowie einer Freiheit als Unabhängigkeit unterschieden und fügen nun die auch als ‚aktive Freiheit’ oder ‚soziale Freiheit’ bezeichnete Freiheit als materiell abgesicherten Handlungsspielraum hinzu, die man als Sicherung und Weiterentwicklung der Freiheit als Unabhängigkeit im demokratischen und sozialen Staat ansehen kann. Damit die Menschen ihre Rechte auf Entfaltung der Persönlichkeit innerhalb eines modernen Staates wahrnehmen können, muss man ihnen, so sieht es etwa John Stuart Mill, auch ein gewisses materielles Auskommen sichern, sodass sie tatsächlich die Möglichkeit haben, ihre Freiheit auszuüben. Es geht also um die Freiheit von materieller Not und von Furcht vor einem Fall ins soziale Nichts, um die Möglichkeit, die formal gewährten Freiheiten auch auszuleben, sowie um die Freiheit von so genannten sozialen Zwängen. Man spricht daher auch von „sozialer Freiheit“ (Koller, 1992, S. 302). Der Begriff sozialer Freiheit besitzt freilich noch eine wesentlich anspruchsvollere und weitergehende Bedeutung als die bloße soziale Sicherheit des Individuums. In der Tradition Hegels gehört dazu wesentlich das Motiv wechselseitiger Anerkennung in den verschiedenen Bereichen menschlichen Daseins. „’Frei’ ist das Subjekt letztlich allein dann, wenn es im Rahmen institutioneller Praktiken auf ein Gegenüber trifft, mit dem es ein Verhältnis wechselseitiger Anerkennung deswegen verbindet, weil es in dessen Zielen eine Bedingung der Verwirklichung seiner eigenen Ziele erblicken kann“ (Honneth, 2011, S. 86), was für Liebende zutrifft, aber auch für Marktteilnehmer. Ohne die Bedeutung der Anerkennung für das menschliche Leben schmälern zu wollen, kann man geteilter Meinung darüber sein, ob der Begriff der Freiheit, insbesondere im politischen Rahmen, die geeignete kategoriale Einbindung bietet. Dies angemessen zu diskutieren fehlt hier der Raum, es sei indessen darauf hingewiesen, dass man generell die Rede von „bloß formaler Freiheit“, der es soziale Freiheit entgegenzusetzen gelte, als Mythos bezeichnet hat (Carter, 2011). Es ergeben sich, wenn man sich bei sozialer Freiheit auf die materiale Ermöglichung von Handlungsoptionen beschränkt, diverse Querverbindungen:
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John Stuart Mill hob in On Liberty, das gerne als paradigmatischer Text für eine rein negative Freiheit angesehen wird, hervor, dass auch in einer Demokratie der Einzelnen der persönliche Weg zum Glück, the pursuit of happiness notfalls gegen die Überzeugungen der Mehrheit und gegen die öffentliche Meinung, gesichert werden muss (Mill, 1980, Kap. 1). Mill begründet dies durch die Vorteile, die der Gesellschaft aus der Gedankenfreiheit, der Diskussionsfreiheit (Mill, 1980, Kap. 2), aber auch der Freiheit zur selbstbestimmten Lebensführung, insbesondere bei der Suche nach Wahrheit erwachsen, und durch das größere Wohlergehen der Menschen, denen man die Gelegenheit zur freien Entfaltung gibt (Mill, 1980, Kap. 3). Dazu gehört, dass man den Menschen nicht wegen eines ungewöhnlichen Lebensstils die ökonomische Möglichkeit nimmt, ihr Leben zu führen. Damit die Menschen ihre Rechte auf Wahrung der Persönlichkeit innerhalb eines modernen Staates wahrnehmen können, muss man ihnen ein gewisses materielles Auskommen sichern, sodass sie tatsächlich die Möglichkeit haben, ihre Freiheit auszuüben. Außer Mill wiesen Autoren wie Max Stirner oder Marx und Engels wie vor ihnen bereits Rousseau darauf hin, dass formale Bürgerfreiheiten den in extremer Not Lebenden wenig nützen. Anders als bei den oben angeführten Grundrechten, spielt hier allerdings auch die wirtschaftliche Machbarkeit eine erhebliche Rolle. Rawls meint daher, man solle nicht von einer besonderen Art der Freiheit sprechen, sondern vom Wert, den die Freiheit für die einzelnen je nach sozialer Situation besitzt (Rawls, 1972, § 32). Damit stellt die Forderung nach allgemeiner sozialer Freiheit durchaus ein wichtiges politisches Programm dar, muss jedoch mit ebenso wichtigen politischen Forderungen wie der nach Sicherung der Lebensbedingungen für die Nachfolgegenerationen abgewogen werden. Dass bei der Abwägung dieser Fragen sehr unterschiedliche Aspekte ins Spiel kommen, ist aus der tagespolitischen Diskussion bekannt. Doch scheint ein relativ breiter Konsens darüber zu bestehen, dass ein gewisses Maß an dieser sozialen Freiheit für die Legitimität eines sozial verantwortlichen demokratischen Verfassungsstaates unabdingbar ist. Insofern sind die genannten Formen der Freiheit unterschiedliche Aspekte, mitunter unterschiedliche Beschreibungsformen der politischen und rechtlichen Freiheit in einem modernen Staat. Sie sind für dessen Fortbestand und für seine Legitimität allesamt wichtig, müssen allenfalls abgewogen, nicht jedoch gegeneinander in Form eines Entweder-Oder ausgespielt werden. Um nochmals auf Mill und seinen Essay zurückzukommen: „Wer die Welt oder sein Milieu einen Lebensplan wählen lässt, braucht dazu nichts anderes als affenhafte Nachahmungskunst. Wer seinen Plan für sich selbst aussucht, benötigt dazu alle seine Fähigkeiten.“ (Mill, 1980, S. 81). Es ist unsere Aufgabe, die Menschen bei der Herausbildung ihrer Fähigkeiten zu fördern, auch weil dies langfristig dem Gemeinwohl dient. Die Gesellschaft hat sich also nicht in die beson-
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deren Lebensformen mancher Menschen einzumischen, weder durch rechtliche Verbote, noch durch Entzug der ökonomischen Existenzgrundlage. Ohne diese Freiheiten bleibt die Menschheit hinter ihren über öde Durchschnittlichkeit hinausgehenden Entwicklungsmöglichkeiten zurück (Mill, 1980, S. 91). Es ist Aufgabe des Staats, generell der politischen Organisation, diese Möglichkeit aufrecht zu erhalten und die Verelendung der Bevölkerung zu verhindern. Dies kann z. B. durch eine Grundversorgung, eventuell auch durch einen Mindestlohn geschehen. Der entscheidende Punkt scheint hier jedoch allemal das Vermeiden willkürlicher Herrschaftsverhältnisse zu sein, die einer Seite die Möglichkeit bieten, die andere auszubeuten, also liberty as non-domination. Ein hierfür wesentliches Element ist auch das Programm einer Republikanisierung und Demokratisierung multinationaler Unternehmen unter Beteiligung der Belegschaft. Schließlich sind die Entscheidungen dieser Machtstrukturen häufig äußerst undurchsichtig,während von den nicht seltenen Fehlentscheidungen sehr viele Menschen betroffen sind. Da sowohl für die Teilhabe an der politischen Willensbildung als auch für die Wahrnehmung des Bereichs staatlicher Nichteinmischung, der Privatautonomie, ein gewisses Maß an materieller Absicherung unverzichtbar ist, scheint die von den traditionellen libertarians einerseits, marxistisch inspirierten Egalitariern andererseits immer wieder gerne bemühte Konfrontation angeblich unvereinbarer Freiheitskonzeptionen nicht mit einer sinnvollen Deutung des Begriffs politischer Freiheit vereinbar. Schon eine kurze Untersuchung zeigt, dass auch Kant, mit dem die „individualethische“ Autonomieauffassung paradigmatisch verknüpft ist, sehr wohl einen Sinn für sämtliche der eben vorgestellten Freiheitsbegriffe besitzt.
1.5 Freiheit und Gleichheit Umstritten bleibt das Verhältnis von Freiheit und Gleichheit auch dann, wenn man der neoliberalen Warnung, jede über die Rechtsgleichheit hinausgehende Bemühung um Gleichheit führe in den Despotismus keinen Glauben schenkt. Bei Rawls als einem Hauptvertreter des egalitären Liberalismus ist eine gerechte Gesellschaft durch zwei Prinzipien bestimmt: Erstens durch das maximale System von Freiheiten, das sich mit der Freiheit der anderen vereinbaren lässt, und zweitens dadurch, dass Ungleichheiten nur in dem Maße erlaubt sein können, wie sie den am schlechtesten Gestellten langfristig mehr nützen als absolute Gleichheit. Als Ausgangspunkt wählt Rawls die demokratische Gleichheit, die sich von der bloßen Chancengleichheit nochmals davon unterscheidet, dass nicht nur eine gleiche „Startlinie“ für alle angenommen wird, sondern dass obendrein die so-
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zialen oder natürlichen Nachteile, unter denen einige Beteiligte zu leiden haben, ausgeglichen werden (Rawls 1979, S. 95 ff.). Ein weiterer Strang der Kritik richtet sich, durchaus aus der Sicht des liberalen Sozialstaates, gegen einen radikalen, gewissermaßen konsequent „ausbuchstabierten“ Egalitarismus, der erstens eine Gleichheit oder jedenfalls Kommensurabilität der von Menschen begehrten Güter unterstellen muss, die in dieser Form nicht vorliegt und allenfalls mit hochgradig paternalistischen Methoden herstellbar ist, und zweitens die Menschen unter einen – gegebenenfalls technisch zu realisierenden – Egalisierungsdruck setzt, damit sich auch niemand im Hinblick auf Güter wie Schönheit, Lebenserwartung etc. benachteiligt fühlen muss (Kersting, 2002, S. 84 ff.). Dies ist gewiss eine berechtigte Kritik an einer möglichen, wenig wahrscheinlichen, aber auch wenig wünschenswerten Weiterentwicklung des egalitären Liberalismus. Gegenwärtig geht es den Vertreterinnen und Vertretern jener Richtung jedoch primär darum, für Menschen so etwas wie „Ressourcengleichheit“ (Ronald Dworkin) als Möglichkeit zur autonomen Entwicklung gemäß der eigenen Anlagen zu erreichen und den unter natürlichen Nachteilen Leidenden (z. B. chronisch Kranken) ein Recht auf Unterstützung zuzusprechen, damit sie nicht von Almosen anderer abhängen. Dies scheint in den europäischen Wohlfahrtsstaaten „im Prinzip“ konsensfähig, wobei umstritten ist, welches Ausmaß sozialer Absicherung Ziel politischer Aktivität sein sollte oder kann und Begriffe wie z. B. „Gerechtigkeitssinn“ oder „Neid“ teils für erhebliche moralische Aufladung sorgen. Allerdings entrinnt man dem Problem der Herausforderung durch die globale Ungleichverteilung des Wohlstandes auch nicht, wenn man einen Gegensatz von Freiheit und Gleichheit zu konstruieren versucht und sich dann „auf die Seite der Freiheit“ stellt. Politische Freiheit kann heute ebenfalls nicht mehr rein lokal, national oder auch europäisch, nordamerikanisch etc. konzipiert werden. Die Abriegelung der wohlhabenden Teile der Welt wird auf der südlichen Hemisphäre, in der ein erheblicher Teil der Bevölkerung in Slums, Favelas etc. wohnt und in denen die Menschen- und Freiheitsrechte nur pro forma gelten, oft als gewaltsame Freiheitsbeschränkung und die wohlhabende Welt selbst als despotisch empfunden. Als Signal dafür mag die Häufigkeit gelten, mit der sie in der Popkultur als „Babylon“ bezeichnet und damit mit einem Namen belegt wird, der für Luxus und Laster genauso wie für Despotismus steht.
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2 Autonomie und politische Freiheit Bei Kant ist die Autonomie, ganz gemäß der Wortbedeutung, untrennbar verbunden mit dem Begriff des moralischen Gesetzes: „Das Princip der Autonomie ist also: nicht anders zu wählen, als so, daß die Maximen seiner Wahl in demselben Wollen zugleich als allgemeines Gesetz mit begriffen sein.“ (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, 440). Dieses moralische Gesetz unterscheidet sich in dem für unseren Kontext relevanten Punkt zunächst dadurch von den meisten anderen Gesetzen, dass man ihm als vernünftiges Wesen nicht nur unterworfen ist, sondern zugleich als Gesetzgeber im sogenannten Reich der Zwecke und darüber hinaus als Berücksichtigter auftritt, insofern man als Vernunftwesen von allen anderen Vernunftwesen niemals bloß als Mittel, sondern stets auch als Zweck an sich selbst angesehen werden soll. Kant hebt hervor, daß jedes vernünftige Wesen, als Zweck an sich selbst, sich in Ansehung aller Gesetze, denen es nur immer unterworfen sein mag, zugleich als allgemein gesetzgebend müsse ansehen können, weil eben diese Schicklichkeit seiner Maximen zur allgemeinen Gesetzgebung es als Zweck an sich selbst auszeichnet, imgleichen, daß dieses seine Würde (Prärogativ) vor allen bloßen Naturwesen mit sich bringe (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, 438).
Diese Gleichsetzung all derer,von denen man moralisches Verhalten erwartet, weil man ihnen als Vernunftwesen ihre Taten zurechnen kann, wie es dann in der Metaphysik der Sitten heißt (AA VI, 223), mit denen, die einen absoluten Anspruch auf Berücksichtung als Zweck an sich selbst besitzen, als Personen und nicht bloß als Sachen, stellt ein bis dato wohl unerreichtes Maß an Gleichheit der Menschen in moralischen Fragen her. Ob sich der Kreis der moralisch Berücksichtigungsfähigen heute um weitere „Schutzgenossen“ erweitern lässt, etwa um manche Tiere, wie gelegentlich gefordert, kann hier nicht erwogen werden. Der dem „Begriff eines jeden vernünftigen Wesens […] anhängende“ (Grundlegung, AA IV, 433) Begriff eines Reichs der Zwecke, quasi die moralische Republik der Vernunftwesen, worin alle Vernunftwesen allgemeine Gesetze für alle Vernunftwesen beschließen, durch die v. a. alle Vernunftwesen berücksichtigt werden, lässt sich unschwer als Internalisierung der volonté générale Rousseaus identifizieren, nur dass kein begrenzter corps politique, sondern die Gemeinschaft aller Vernunftwesen an diesem Reich teilhat (über den Einfluss Rousseaus vgl. z. B. Schneewind, 1998, S. 487 ff.). Diese systematische Nähe des transzendentalen ethischen Ansatzes zu einem klassischen Text politischer Theorie zeigt bereits erste Verbindungen zu Kants politisch-rechtlichem Freiheitsverständnis auf: Es wurde bereits die Definition staatsbürgerlicher Freiheit zitiert, die darin besteht, „keinem anderen Gesetz zu
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gehorchen, als zu welchem er seine Beistimmung gegeben hat“ (Rechtslehre, § 46, AA VI, 314). An verschiedenen Stellen zeigt sich, dass Kant zweifellos Sinn für Schutzrechte, also negative Freiheit hat. Dies nimmt insofern wenig wunder, als sich generell während der Aufklärung die Debatte um Religions- und Meinungsfreiheit mit dem Blick auf das gesellschaftliche Zusammenleben vertieft. Zwar schließt Locke von seinem Plädoyer für die religiöse Toleranz (1689) noch die Katholiken und die Atheisten aus: Die einen, weil sie eine absolute Loyalität gegenüber einer nicht-staatlichen Instanz besitzen, die anderen, weil sie überhaupt keinen Grund zu Moralität und Loyalität haben (Locke 1996, S. 92 ff.), doch gibt es im Verlauf des 18. Jahrhunderts immer mehr Staaten, welche die Religionsfreiheit gewährleisten. Rousseau entwirft im 8. Kapitel des 4. Buches des Contrat social das Modell einer verpflichtenden „religion civile“, um Staatserhaltung und Kohäsion der Gesellschaft zu sichern, belässt ansonsten jedoch dem Bürger in religiösen Dingen seine Freiheit (vgl. auch Rehm, 2006; Asal, 2007). Kant seinerseits fordert Religionsfreiheit, die den „Leitfaden des Gewissens in Glaubenssachen“ anerkennt (Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft [1793], AA VI, 185 ff.), und hebt im politischen Kontext insbesondere die „Freiheit der Feder“ heraus, zur Verbesserung und zum Wohle des Staates („Über den Gemeinspruch ‚Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis’“, AAVIII, 304). Dass der Begriff des Rechts selbst, der jede mit der Freiheit der anderen kompatible Handlung erst einmal rechtens sein lässt, relativ große Freiheitsräume eröffnet, wurde bereits angesprochen. Die genannte „Unabhängigkeit von eines Anderen nöthigender Willkür“ schließt unter anderem ausdrücklich die Befugnis ein, den Anderen „seine Gedanken mitzuteilen, ihnen etwas zu erzählen oder zu versprechen“ (AA VI, 238). Umstritten ist bekanntlich, inwieweit es bei Kant so etwas wie soziale Freiheit oder gar Tendenzen zur Gleichheit geben kann. Die Art, wie Kant vor allem in der Rechtslehre der Metaphysik der Sitten zwischen empirischem und intelligblem Besitz, dann auch zwischen dem provisorischen, durch prima occupatio auf der Basis ursprünglichen Gemeinbesitzes erworbenen, und dem peremtorischen, durch den allgemeinen Willen bestätigten Besitz unterscheidet, gab Anlass zu intensiven Auseinandersetzungen über die angemessene Interpretation, bei denen Kant einmal zum besitzindividualistischen Liberalen, dann wieder zum beinahe sozialistischen Sozialreformer erklärt wird und die hier nicht in extenso diskutiert werden können (vgl. Kaufmann, 2005). Fraglich ist z. B., ob der a priori gedachte allgemeine Wille die egalitären Elemente enthält, aus denen man einen sozialreformerischen Zug in Kants Rechtslehre herauslesen könnte (vgl. Brandt, 1974, S. 193; Kersting, 1993, S. 338 ff.; Merle, 1997, S. 101 ff.), der von verschiedenen prominenten Autoren so heftig bestritten wird. Zunächst besteht Konsens darüber,
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dass Kant nicht bereit ist, Adelsprivilegien zu akzeptieren. Andererseits wird offenbar auch keine völlige oder auch nur ungefähre Besitzgleichheit unterstellt, wenn die Sorge um das Armenwesen und die Findelhäuser Aufgabe des Oberbefehlshabers ist (AA VI, 325 f.). Es gibt keine klaren Beweise dafür, dass der Rousseau-Verehrer Kant bei seiner kontinuierlich wiederholten Rede vom allgemeinen Willen in egalisierender Weise auf Rousseaus Feststellung Rücksicht nimmt, die bloße Rechtsgleichheit widerstreite bei sozialer Ungleichheit vielleicht der Gerechtigkeit. Im Gegenteil, man kann mit dieser Überlegung auch Kants eher unglückliche Forderung begründen, nur Selbständige als Bürger anzuerkennen (AA VI 314 f.), also die Ungleichheit derart auszudehnen, dass ein Großteil der Bevölkerung von der positiven Freiheit, hier in Form des Partizipationsrechtes, ausgeschlossen bleibt. Doch ist es wenig plausibel, dass Kant stets aufs Neue die Legitimität des Gemeinwillens darin sieht, dass jeder dabei auch über sich entscheidet und „keiner sich selbst Unrecht thun kann“³, und dass er dabei immer wieder die iustitia distributiva anspricht, während er gleichzeitig annimmt, man werde zustimmen, ohne den Ausgleich der größeren Ungerechtigkeiten anzustreben. Dagegen spräche auch eine eher apriorische Überlegung: laut den Vorarbeiten zur Metaphysik der Sitten muss zwar jeder ein Recht haben, einen Boden als erster Besitzer zu haben, weil „das Gegentheil zum Gesetz gemacht […] die Freyheit als positives Vermögen aufheben“ würde. „Aber wie viel ich erwerben könne bleibt dadurch unbestimmt denn wenn ich alles erwerben könnte, würde meine Freyheit anderer ihre nicht einschränken sondern aufheben.“ (Kants handschriftlicher Nachlass, Vorarbeiten zur Rechtslehre, AA XXIII, 278). Dies darf man ja wohl von der anderen Seite so verstehen, dass jemandem die materielle Lebensgrundlage zu nehmen auch heißt, seine Freiheit, seine Autonomie aufzuheben, ein Zustand, der vom allgemeinen Willen kaum akzeptiert werden kann. Dass Kant ein Befürworter von Reformen unter Akzeptanz des vorhandenen Rechtsstatus war, ist aus vielen Passagen seiner Schriften unmissverständlich zu erkennen (vgl. z. B. AA VI, 372). Es ist keineswegs klar, warum das Streben nach sozialem Ausgleich, nach der Gewährung sozialer Freiheit für breitere Schichten, von diesen Reformen grundsätzlich ausgeschlossen bleiben sollte. Allerdings verweist er dieses Streben vollständig in den Bereich rechtsförmiger Prozeduren. Gerade das könnte Kants Vorgehen jedoch für uns interessant machen. Wie viel Sozialstaatlichkeit sich nun genau aus Kants Vernunftrecht ableiten lässt, spielt keine nennenswerte Rolle, da
3 Immanuel Kant, Reflexionen zur Rechtsphilosophie, Nr. 7664, AA XIX, 482, vgl. Reflexion 7529: „Ein jeder muß eben dasselbe über alle beschließen, was alle über ihn, d.i. es ist ein Gesetz.“ Siehe auch Reflexion, Nr. 7634, AA XIX, 446 u. ä..
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dieses Vernunftrecht für die Vielzahl der modernen Problemlagen ohnehin unterkomplex wäre. Kants Konzeption ist nicht zuletzt dadurch interessant, dass sie gleichzeitig eine Erklärung des Besitzstandes, des status quo in Termini der Gewalt und einen Grund zu deren Akzeptanz, nämlich den öffentlichen Frieden liefert, und dabei auf Unzulänglichkeiten der bloß faktischen Verteilung sowie die Kontingenz ihrer Entstehung verweist und die Möglichkeiten ihrer Revision offen hält. Entscheidend ist darüber hinaus das konsequente Insistieren auf der Rechtsförmigkeit dieser Revision und Transformation. Es ist diese präzise Umgangsweise mit Recht, Gewaltsamkeit und Reformanstrengungen, die Kant heute hilfreich erscheinen lassen.
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Violetta L. Waibel
Autonomie des Subjekts. Kants Gefühl der Achtung und Spinozas Konzept der Freude über wahre Einsichten Wer sich auf Kants Moralphilosophie einlässt, begegnet dem Gefühl der Achtung vor dem Sittengesetz, das innerhalb der Theorie eine wichtige Stellung innehat. Wer zudem mit Spinozas Ethikkonzept vertraut ist, sieht sich auf ein Gefühl der Freude verwiesen, das er dem Menschen als einem aktiven, denkenden Wesen zuschreibt und dem Spinoza im Gang seiner Ethik eine wichtige Funktion zuschreibt. Nicht ohne Grund lässt sich darin eine gewisse Verwandtschaft zu Kants Gefühl der Achtung vermuten. Das Gefühl der durch die Aktivität des Denkens erzeugten Freude tritt Spinoza zufolge dann auf, wenn der Mensch Einsicht gewinnt und damit Zufriedenheit erlangt und die Lebensqualität optimiert. Die Unterschiede der beiden ethischen Theoriekonzeptionen sind groß und ebenso gibt es große Unterschiede in den jeweiligen Funktionen, die dem Gefühl der Achtung und dem Gefühl der Freude durch die Aktivität des Denkens innerhalb der Theoriekomplexe zukommen. Dennoch ist es von Interesse, diese beiden Gefühle von ethisch zentraler Bedeutung genauer zu untersuchen, um ihre Nähe und Differenz herauszuarbeiten. Schon zu Kants Zeiten wurde Kants Rigorismus beklagt hinsichtlich der Nötigung des in Freiheit gesetzten Subjekts, die moralische Pflicht zu erfüllen und dem Sittengesetz zu gehorchen, weil es soll, was es muss. Schiller war der Wortführer, der seine Stimme gegen Kants moralische Strenge erhob. Schiller schrieb in seiner Schrift Ueber Anmuth und Würde: In der Kantischen Moralphilosophie ist die Idee der Pflicht mit einer Härte vorgetragen, die alle Grazien davor zurückschreckt, und einen schwachen Verstand leicht versuchen könnte, auf dem Wege einer finstern und mönchischen Ascetik die moralische Vollkommenheit zu suchen. Wie sehr sich auch der große Weltweise gegen diese Mißdeutung zu verwahren suchte, die seinem heitern und freyen Geist unter allen gerade die empörendste seyn muß, so hat er, deucht mir, doch selbst durch die strenge und grelle Entgegensetzung beyder auf den Willen des Menschen wirkenden Principien, einen starken (obgleich bey seiner Absicht vielleicht kaum zu vermeidenden) Anlaß dazu gegeben. (Schiller, Ueber Anmuth und Würde, S. 284)
Schiller dringt darauf, dass die Neigungen des Menschen so gebildet werden müssen, dass die der Vernunft gemäßen Gefühle die Herrschaft über die unvernünftigen gewinnen und auf diesem Wege das Geschäft der praktisch-moralischen Vernunft unterstützen. Er verspricht sich davon, dass die Ausübung von sittlichen
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Handlungen weniger ein Kampfplatz einander widersprechender Forderungen und Triebe im Menschen ist, als dass vielmehr die Kräfte des Menschen in optimierter und zielführender Weise vereint das sittlich Gute wollen. Hölderlin, aber auch die Romantiker pflichteten ihm bei. Es galt in Schillers Diktion, den ganzen Menschen als ein Wesen zu betrachten, das nicht bloß seine Gefühle durch die Einsicht der Vernunft und einen Pflichtenkatalog zu zähmen hatte, um den moralischen Forderungen des Sittengesetzes gerecht zu werden, sondern auch die Sinnlichkeit so auszubilden hatte, dass Neigungen unmittelbar dazu beitragen, der Vernunft gemäß zu handeln. Bemerkenswert ist, dass Spinozas Philosophie zur Zeit des Aufkommens von Kants Kritiken und Schillers Theorie einer Ästhetischen Erziehung des Menschen in aller Munde war, aber dennoch sein Hauptwerk kaum oder gar nicht als ein Ganzes eingehend studiert wurde. Die Substanzontologie wurde diskutiert, die Frage erörtert, wie ein Monismus, ein philosophisches System am Leitfaden Spinozas und doch unter gänzlich veränderten Bedingungen begründet und ausgearbeitet werden kann. Die Potenziale jedoch, die in Spinozas Ethik verborgen liegen, um den Rigorismus von Kants Moralphilosophie zu humanisieren, blieben bemerkenswerter Weise unbeachtet. Der vorliegende Beitrag ist der Versuch, Kants Begründung der Moralphilosophie in ihren Grundlinien anzuerkennen, dennoch aber dieser rationalen Theorie moralischen Handelns eine Theorie des sinnlichen Menschen zur Seite zu stellen, die einem modernen Verständnis angemessen ist und die Spinoza bereits vorgesehen hat. Dass der aufreibende Kampf der inneren Seelenkräfte zugunsten des sittlich Guten nicht besonders erfolgreich ist, zählt zu Spinozas wichtigen Einsichten. Über ein Jahrhundert vor Schiller hat Spinoza eine Ethik ausgearbeitet, die sich dem Problem zuwandte, wie sich der Antagonismus von Affekten und wahrer Einsicht durch das klare Denken so in ein Verhältnis zueinander bringen lassen, dass der Mensch trotz den Anfechtungen der Affekte ein sittlich gutes und zufriedenes Leben führen kann. Solange die Affekte und das Denken sich selbst überlassen bleiben, hat das Denken gegen die Macht der Affekte wenig Chancen. Somit ist auch kein zufriedenes Leben möglich, da der Mensch, der das Wesen, die Struktur und die Macht der Affekte nicht versteht, einem eher aussichtslosen Kampf der Kräfte seiner Natur ausgesetzt ist. Sittlich ist nach Spinoza nur der Mensch, der fähig ist, tiefe Einsicht in die gesamte Natur des Menschen und des Universums zu erlangen. Erlangt er den höchsten Grad der Weisheit, so führt er auch ein Leben in weitgehender Zufriedenheit und innerem Seelenfrieden. Bevor das Gefühl der Achtung und das Gefühl der durch das Denken hervorgebrachten Freude einer näheren Betrachtung unterzogen werden, gilt es zunächst, Kants moralphilosophische Beurteilung von Spinoza in den Blick zu bringen.
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1 Kants Urteil über Spinoza und sein System in moralischer Hinsicht Spinozas Ethica more geometrico hat nie die Breitenwirkung erlangt, die Kants Moralphilosophie zuteil wurde. Bemerkenswert ist aber, dass Spinoza als Mensch und als sittliche Person vielfach hohe Achtung erfuhr, weil er als unbestechlich, gerade und seinen Prinzipien treu handelnd galt. Auch Kant schließt sich diesem Urteil an, wenn er im Rahmen seiner Teleologie in der Kritik der Urteilskraft schreibt: Wir können also einen rechtschaffenen Mann (wie etwa den Spinoza) annehmen, der sich fest überredet hält, es sei kein Gott und (weil es in Ansehung des Objekts der Moralität auf einerlei Folge hinausläuft) auch kein künftiges Leben; wie wird er seine eigene innere Zweckbestimmung durch das moralische Gesetz, welches er tätig verehrt, beurteilen? Er verlangt von Befolgung desselben für sich keinen Vorteil, weder in dieser noch in einer anderen Welt; uneigennützig will er vielmehr nur das Gute stiften, wozu jenes heilige Gesetz allen seinen Kräften die Richtung gibt. (Kant, KU § 87, S. 427)
Kant zeigt mit diesen Zeilen größten Respekt vor Spinoza als Mensch, der trotz seiner ganz anderen Philosophie die Züge eines naturalistischen, ethischen Ansatzes zeigt, dem Sittengesetz vollkommen genüge leiste. Doch Kant fragt sich, ob nicht auch Spinoza, den er als atheistischen Denker einstuft, der uneigennützig zum Guten in der Welt beitrage und es befördern wolle, ob also nicht auch er zuletzt darauf angewiesen ist, einen Gott als Endzweck der Schöpfung in praktischer Absicht der Vernunft zu denken, wie Kant es selbst tut. Kant fährt mit einer bündigen Zusammenfassung seiner Argumentation zugunsten des Postulats vom Dasein Gottes in praktischer Absicht aus der Kritik der praktischen Vernunft fort. Die Befolgung des Sittengesetzes fordert zwar nicht den Glauben an Gott, denn das wäre Heteronomie der Bestimmung des reinen sittlichen Willens. Wohl aber dienen die beiden Postulate der Unsterblichkeit der Seele und des Daseins Gottes in praktischer Absicht dazu, die Antinomie der reinen praktischen Vernunft zu schlichten, die zwischen dem natürlichen Streben des Menschen nach Glückseligkeit auf Erden und dem Widerstreit der häufigen Unerfüllbarkeit der Glückseligkeit angesichts der Forderungen des Sittengesetzes aufkommt. Den letzten Zweck des Daseins erkennt Kant in der Sittlichkeit, die zu erfüllen allein dem Menschen als einem vernünftigen Wesen aufgetragen ist. Daher ist das endliche Wesen Mensch Kant zufolge nur glückswürdig, hat aber keinen Anspruch auf die Erfüllung seines Begehrens nach Glückseligkeit. Am Beispiel Spinozas als Mensch und seinem sittlich philosophischen Denken glaubt Kant zeigen zu können, wo die Grenzen einer Philosophie sind, die
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höchste Redlichkeit möglich macht, aber keine Handhabe hat, dem Menschen Halt zu geben in einem Endzweck der Schöpfung durch den Glauben an Gott,wenn ihm großes Unbill droht, das die Forderungen des Sittengesetzes aushöhlt: Aber sein [Spinozas, V.L.W.] Bestreben ist begrenzt; und von der Natur kann er zwar hin und wieder einen zufälligen Beitritt, niemals aber eine gesetzmäßige und nach beständigen Regeln (so wie innerlich seine Maximen sind und sein müssen) eintreffende Zusammenstimmung zu dem Zwecke erwarten, welchen zu bewirken er sich doch verbunden und angetrieben fühlt. Betrug, Gewalttätigkeit und Neid werden immer um ihn im Schwange gehen, ob er gleich selbst redlich, friedfertig und wohlwollend ist; und die Rechtschaffenen, die er außer sich noch antrifft, werden unangesehen aller ihrer Würdigkeit, glücklich zu sein, dennoch durch die Natur, die darauf nicht achtet, allen Übeln des Mangels, der Krankheiten und des unzeitigen Todes gleich den übrigen Tieren der Erde unterworfen sein und es auch immer bleiben, bis ein weites Grab sie insgesamt (redlich oder unredlich, das gilt hier gleichviel) verschlingt und sie, die da glauben konnten, Endzweck der Schöpfung zu sein, in den Schlund des zwecklosen Chaos der Materie zurückwirft, aus dem sie gezogen waren. (Kant, KU § 87, S. 427 f.)
Dem Denken Spinozas, so muss man hier folgern, fehlt es Kant zufolge an einem Prinzip, das dem sittlichen Handeln Gesetzmäßigkeit nach einer beständigen Regel gibt. Denn es ist Kants unumstößliche Überzeugung, dass die Natur immer nur zufällig, nie aber nach einer festen Regel die Forderungen des Sittengesetzes durchsetzen kann. Hält man die Glückseligkeit für den Endzweck der Schöpfung, so hat man ein Naturprinzip gewählt, nämlich das Streben nach einem sinnlichen Glück, dem man die Sittlichkeit nur unzuverlässig anvertrauen kann. Richtig ist, dass Spinoza zufolge das höchste Ziel des menschlichen Daseins darin besteht, Zufriedenheit zu erlangen. Vom Weisen, der seinem Weg folgt, sagt Spinoza am Ende seiner Ethik, er sei „nahezu ruhigen Gemüts; sich seiner selbst, Gottes und der Dinge nach einer gewissen ewigen Notwendigkeit bewußt, hört er niemals auf zu sein, sondern genießt immer wahren inneren Frieden“ (Spinoza, Ethik, V LS 42 Anmerkung, S. 595). Der Weg dorthin sei schwer zu finden. Die Ethik beschließt er mit den Worten: Und natürlich muß das, was so selten gefunden wird, schwer sein. Wenn das Heil einfach daläge und ohne große Anstrengung gefunden werden könnte, wie wäre es dann möglich, daß fast jeder es fahren läßt? Aber alles, was vortrefflich ist, ist ebenso schwierig wie selten. (Spinoza, Ethik, V LS 42 Anmerkung, S. 595)
Aus der Perspektive Kants hat sich Spinoza einem Konzept verschrieben, das die Glückseligkeit in Form der Zufriedenheit und eines inneren Friedens zum höchsten Ziel des menschlichen Daseins erklärt, die zwar schwer und in Wahrheit nur für wenige, aber unter bestimmten Bedingungen der richtigen und weisen
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Lebensführung dennoch erreichbar ist. Kant ist überzeugt, dass die Theorie des in moralischer Hinsicht vortrefflichen Spinoza dem Irrtum erlegen ist, irdische Zufriedenheit als letztes Ziel seiner Ethik anzuerkennen: Den Zweck also, den dieser Wohlgesinnte [Spinoza; V.L.W.] in Befolgung der moralischen Gesetze vor Augen hatte und haben sollte, müßte er allerdings als unmöglich aufgeben oder will er auch hierin dem Rufe seiner sittlichen inneren Bestimmung anhänglich bleiben und die Achtung, welche das sittliche Gesetz ihm unmittelbar zum Gehorchen einflößt, nicht durch die Nichtigkeit des einzigen ihrer hohen Forderung angemessenen idealischen Endzwecks schwächen (welches ohne einen der moralischen Gesinnung widerfahrenden Abbruch nicht geschehen kann): so muß er,welches er auch gar wohl tun kann, indem es an sich wenigstens nicht widersprechend ist, in praktischer Absicht, d. i. um sich wenigstens von der Möglichkeit des ihm moralisch vorgeschriebenen Endzwecks einen Begriff zu machen, das Dasein eines moralischen Welturhebers, d. i. Gottes annehmen. (Kant, KU § 87, S. 428)
In diesen Zeilen spricht sich nochmals Kants Hochachtung für Spinoza als einer moralischen Instanz aus, auch wenn er mit seiner Ethica more geometrico eine deutlich andere Theorie moralischen Handelns vertritt. Er spricht von „dem Rufe seiner sittlichen inneren Bestimmung“ und ferner von der „Achtung, welche das sittliche Gesetz ihm unmittelbar zum Gehorchen einflößt“. Diese innere Stimme gegen alle Anfechtungen irdischen Unbills zu befestigen, geschehe durch die Annahme vom „Dasein eines moralischen Welturhebers, d. i. Gottes“ in praktischer Absicht. Kant bricht an dieser Stelle seine Überlegungen ab, die sich auf das vorbildliche Beispiel Spinozas als einem rechtschaffenen Mann berufen, der gut daran getan hätte, das Dasein Gottes als eines moralischen Welturhebers und Endzwecks der Schöpfung anzunehmen, um der moralischen Gesinnung einen letzten Halt zu geben. Ob Kant Spinozas Schriften oder auch nur seine Hauptschrift, die Ethik, wirklich gelesen hat, muss dahingestellt bleiben.Vieles deutet darauf hin, dass er sich für ihn im Rahmen des Pantheismusstreits durch Lektüre aus zweiter Hand zu interessieren begann (Kühn, 2003, S. 351– 359). Aus Kants Zeilen geht auch nicht deutlich hervor, ob ihm bekannt ist, dass Spinozas Ethik das höchste Ziel eines inneren Friedens nur dem verspricht, der zur Liebe zu Gott, also zur dritten Erkenntnisart, der scientia intuitiva oder dem amor Dei intellectualis gelangt. So bleibt unklar, mit welcher Intention Kant den Schlusssatz formulierte: „so muß er, welches er auch gar wohl tun kann, indem es an sich wenigstens nicht widersprechend ist, in praktischer Absicht, d.i. um sich wenigstens von der Möglichkeit des ihm moralisch vorgeschriebenen Endzwecks einen Begriff zu machen, das Dasein eines moralischen Welturhebers, d.i. Gottes annehmen.“ Kant scheint hier eine Empfehlung oder Möglichkeit auszusprechen, die seinem Urteil zufolge Spinoza nicht ergriffen hat.
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Spinoza verwirft einerseits die Möglichkeit, das Dasein des Menschen durch einen Endzweck teleologisch bestimmen zu können. Denn er kritisiert scharf das Unwesen der Menschen, die sich selbst zum Endzweck erklären, auf den hin die Schöpfung zweckvoll eingerichtet sei, wie er ausführlich im „Anhang“ zum Ersten Teil der Ethik darlegt (Spinoza, Ethik, I Anhang, S. 79 – 97). Andererseits sieht er die Möglichkeit, dass diejenigen Personen ein gutes und zufriedenes Leben zu führen vermögen, denen es gelingt, durch ihre anhaltende Bemühung um Erkenntnis zur dritten Erkenntnisart des amor Dei intellectualis aufzusteigen, die die Liebe zu Gott und die Einsicht in Zusammenhänge des Universums verspricht. Damit ließe sich Spinozas Ethik entgegen Kants Lesart als eine solche verstehen, die im moralischen Endzweck des amor Dei intellectualis gipfelt. Kant selbst interpretiert Spinozas teleologischen Ansatz im Rahmen der Kritik der Urteilskraft folgendermaßen: Spinoza [will, V.L.W.] uns aller Nachfrage nach dem Grunde der Möglichkeit der Zwecke der Natur dadurch überheben und dieser Idee alle Realität nehmen, daß er sie überhaupt nicht für Produkte, sondern für einem Urwesen inhärierende Akzidenzen gelten läßt, und diesem Wesen, als Substrat jener Naturdinge, in Ansehung derselben nicht Kausalität, sondern bloß Subsistenz beilegt, und (wegen der unbedingten Notwendigkeit desselben samt allen Naturdingen, als ihm inhärierenden Akzidenzen) den Naturformen zwar die Einheit des Grundes, die zu aller Zweckmäßigkeit erforderlich ist, sichert, aber zugleich die Zufälligkeit derselben, ohne die keine Zweckeinheit gedacht werden kann, entreißt und mit ihr alles Absichtliche, so wie dem Urgrunde der Naturdinge allen Verstand, wegnimmt. (Kant, KU § 73, S. 325)
Kant kann im System Spinozas keine überzeugenden Zweckbestimmungen entdecken. Darum kann er in Spinozas Idee von der Inhärenz alles Daseins in der Substanz oder Gott auch nicht ein angemessenes Äquivalent zum moralischen Endzweck allen Daseins im Postulat vom Dasein Gottes erkennen. Kant fährt daher mit seiner Erklärung des Scheiterns von Spinozas Theorie folgendermaßen fort: Der Spinozism leistet aber das nicht, was er will. Er will einen Erklärungsgrund der Zweckverknüpfung (die er nicht leugnet) der Dinge der Natur angeben und nennt bloß die Einheit des Subjekts, dem sie alle inhärieren. Aber wenn man ihm auch diese Art zu existieren für die Weltwesen einräumt, so ist doch jene ontologische Einheit darum noch nicht sofort Zweckeinheit und macht diese keineswegs begreiflich. Die letztere ist nämlich eine ganz besondere Art derselben, die aus der Verknüpfung der Dinge (Weltwesen) in einem Subjekte (dem Urwesen) gar nicht folgt, sondern durchaus die Beziehung auf eine Ursache, die Verstand hat, bei sich führt und selbst, wenn man alle diese Dinge in einem einfachen Subjekte vereinigte, doch niemals eine Zweckbeziehung darstellt: wofern man unter ihnen nicht erstlich innere Wirkungen der Substanz, als einer Ursache zweitens ebenderselben, als Ursache durch ihren Verstand denkt. Ohne diese formalen Bedingungen ist alle Einheit bloße
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Naturnotwendigkeit und, wird sie gleichwohl Dingen beigelegt, die wir als außereinander vorstellen, blinde Notwendigkeit. (Kant, KU § 73, S. 325 f.)
Aus diesem Befund folgt nun für Kant: daß Spinoza dadurch, daß er unsere Begriffe von dem Zweckmäßigen in der Natur auf das Bewußtsein unserer selbst in einem allbefassenden (doch zugleich einfachen) Wesen zurückführte, und jene Form bloß in der Einheit des letzteren suchte, nicht den Realism, sondern bloß den Idealism der Zweckmäßigkeit derselben zu behaupten die Absicht haben mußte, diese aber selbst doch nicht bewerkstelligen konnte, weil die bloße Vorstellung der Einheit des Substrats auch nicht einmal die Idee von einer auch nur unabsichtlichen, Zweckmäßigkeit bewirken kann (Kant, KU § 73, S. 327).
Kant erklärt Spinozas Theorie der Endzwecke offenkundig für gescheitert. Es muss hier ununtersucht bleiben, ob Kants Fazit Spinoza gerecht wird. Doch auch dann, wenn gilt, dass Spinoza Kants Vorstellung vom moralischen Endzweck des Daseins, das durch die Postulate von der Unsterblichkeit der Seele und vom Dasein Gottes befestigt wird, kein angemessenes Äquivalent zur Seite zu stellen vermag, ist immerhin festzuhalten, dass Kant dem Menschen Spinoza als einer respektablen moralischen Instanz das Gefühl der Achtung vor dem Sittengesetz zuschreibt. Dabei hat Kant wohl kaum bedacht, dass das durch das Denken erzeugte Gefühl der Freude, das Spinozas Theorie zufolge allein fähig ist, die verderblichen Kräfte der Sinnlichkeit zu schwächen und das Handeln der Person zum Guten zu wenden, nur dann hervortritt, wenn es durch das Denken erzeugt wird. Davon unterscheidet Spinoza die sinnlich passiv hervorgebrachte Freude. Ähnlich ist für Kant das Gefühl der Achtung bekanntlich ein vernunftgewirktes Gefühl (vgl. Kant, KpVAAV, S. 76) und nicht ein sinnlich pathologisch hervorgebrachtes. Es wird sich zeigen, dass sowohl das Gefühl der Achtung als auch das der Freude durch das Denken ihren systematischen Ort dort haben, wo das Denken mit dem Zustand des Körpers zusammentrifft. Die Bewusstseinsform des Körpers aber ist das Gefühl. Es gilt nun, zunächst Kants Theorie des vernunftgewirkten Gefühls der Achtung zu untersuchen, sodann Spinozas Theorie des Gefühls der Freude, das die Erkenntnis begleitet, um schließlich Nähe und Differenz dieser Ansätze darzustellen.
2 Die Funktion des Gefühls der Achtung in Kants Moralphilosophie einer autonomen Vernunft Kant legt in seiner Moralphilosophie bekanntlich großen Wert auf die Unterscheidung einer rein moralischen Gesinnung, die ihm ein Handeln aus Pflicht
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bedeutet, von einer Handlungsart, die bloß legal und nicht moralisch ist, und die daher auch pflichtmäßig genannt wird (Kant, KpV, S. 71 f.). Diese Unterscheidungen verdanken sich dem Umstand, dass der Mensch ein Wesen ist, dessen Erkenntnis auf zwei unreduzierbaren Stämmen der Erkenntnis beruht, der Sinnlichkeit und dem Verstand. Die erkenntnistheoretische Zweistämmelehre hat ihre Wurzeln in der anthropologischen Grundausstattung des Menschen, die durchgängig zwei Naturen zuzuordnen ist, dem Menschen als Sinnenwesen, seiner Körperlichkeit und Emotionalität einerseits, und andererseits der Natur der Vernunft und des Rationalen im Menschen, das ihn zum Denken, zum Urteilen und überhaupt zu rein mentalen Handlungen befähigt, die allein Freiheit und Autonomie im sittlichen Handeln garantieren. Eine der Grundkonstanten, die zu Kants Einschätzung des Menschen zählt, ist die Behauptung, dass der Mensch aus krummem Holz geschnitzt sei und daraus nichts Gerades hervorgehen könne. So ist im 6. Satz von Kants Schrift Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, die in der Berlinischen Monatsschrift vom November 1784 erschienen ist, zu lesen: „Das höchste Oberhaupt soll aber gerecht für sich selbst und doch ein Mensch sein. Diese Aufgabe ist daher die schwerste unter allen; ja ihre vollkommene Auflösung ist unmöglich: aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden. Nur die Annäherung zu dieser Idee ist uns von der Natur auferlegt.“ (Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte, S. 10) Die Krummheit des menschlichen Wesens manifestiert sich darin, dass die vernünftige Einsicht und das sinnliche Wünschen und Begehren des Menschen selten zusammen fallen. Darin liegt für Kant auch der Grund dafür, dass der Mensch überhaupt auf Moralität angewiesen ist. Die berühmten Zeilen des Ersten Abschnitts der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten von 1785 sprechen von einem heiligen, an sich guten Willen, über den der Mensch nicht an sich verfügt (Kant, GMS IV, S. 393). Der Mensch ist ein Wesen, das sich ohne Aufklärung über sein Tun haltlos und führungslos der Mischung aus sinnlichen und rationalen Antrieben überlässt. Darin liegt nun auch ein wichtiger Grund dafür, weshalb sich in der Kritik der praktischen Vernunft (1788) an die Ausarbeitung der „Grundsätze der reinen praktischen Vernunft“ und der Überlegungen zum „Begriffe eines Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft“ ein Kapitel über die „Triebfedern der reinen praktischen Vernunft“ anschließt. Die Einsicht in die Grundsätze der Bestimmung des reinen Willens durch die Freiheit der reinen praktischen Vernunft reicht nicht hin, um die Autonomie des freien Vernunftsubjekts auch im Handeln zu garantieren. Die Antriebe des Menschen zum Handeln sind häufig von Gefühlen und Neigungen, von Lust und Unlust, von Selbstliebe in vielfältigen Abschattungen bestimmt und durchkreuzen so die moralischen Absichten, die der auf sich selbst
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gestellte freie Wille alleine wollen darf und soll. Kant spricht von der Selbstsucht, der Arroganz als einem Wohlgefallen an sich selbst, der Eigenliebe, dem Eigendünkel (vgl. Kant, KpV AA V, S. 74), die der Vernunft und ihrer Einsicht entgegenstehen. Alle diese von Gefühlen getragenen Selbstverhältnisse und alle die pathologischen Gefühle, die mit den verschiedenen Formen der Selbstliebe einhergehen, müssen Kant zufolge gezielt und aktiv davon abgehalten werden, sich in das Geschäft der Bestimmung des reinen Willens einer moralischen Handlung einzumischen. Das reine Denken und die bloße Vernunfteinsicht reichen nicht hin, das richtige Tun auch tatsächlich zu realisieren. Er hält daher fest: Das Wesentliche aller Bestimmung des Willens durchs sittliche Gesetz ist: daß er als freier Wille, mithin nicht bloß ohne Mitwirkung sinnlicher Antriebe, sondern selbst mit Abweisung aller derselben, und mit Abbruch aller Neigungen, sofern sie jenem Gesetze zuwider sein könnten, bloß durchs Gesetz bestimmt werde. (Kant, KpV AA V, S. 72)
Es reicht also nicht hin, in der Theorie zu wissen, dass der freie Wille ohne Mitwirkung der sinnlichen Antriebe bestimmt werden müsse. Die allgegenwärtigen Neigungen müssen, wie Kant sagt, gezielt und bewusst davon abgehalten werden, sich in die Bestimmungen moralischer Handlungen einzumischen oder unbemerkt einzuschleichen. Dieser Akt des aktiven Abhaltens sinnlicher Einmischungen geschieht offenkundig durch die Vernunft, die die reine Vernunftbestimmung des Willens gegen die Anfechtungen der Neigungen zu verteidigen hat. Kant gibt keine genaue Auskunft darüber, wie sich die Vernunft gegen die Anfechtungen der Sinne durchsetzen kann. Klar ist, dass sie es soll. Geschieht dies erfolgreich, so gibt es nach Kants Verständnis je nach Art der Selbstliebe verschiedene Reaktionen, die er einerseits der Eigenliebe zuschreibt, andererseits dem Eigendünkel. Die Eigenliebe zeigt Kant zufolge nur eine schwache Abwehr gegen eine reinmoralische Bestimmung: „Die reine praktische Vernunft tut der Eigenliebe bloß Abbruch, indem sie solche, als natürlich und noch vor dem moralischen Gesetze in uns rege, nur auf die Bedingung der Einstimmung mit diesem Gesetze einschränkt; da sie alsdann vernünftige Selbstliebe genannt wird.“ (Kant, KpV AA V, S. 73) Die Eigenliebe interpretiert Kant als eine natürliche sinnliche Regung, die gleichwohl kein Anrecht darauf hat, sich in das Geschäft der Vernunft einzumischen. Deswegen muss ihr Anspruch in moralischen Kontexten zurückgewiesen werden. In diesem Fall spricht Kant von vernünftiger Selbstliebe. Kant setzt seine Überlegungen nun mit einer Betrachtung des Eigendünkels fort. Der Eigendünkel zeigt schon in seinem Wortgebrauch an, dass mit ihm eine
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deutlich negativere Haltung in moralischen Angelegenheiten zur Sprache kommt. Kant schreibt: Aber den Eigendünkel schlägt sie gar nieder, indem alle Ansprüche der Selbstschätzung, die vor der Übereinstimmung mit dem sittlichen Gesetze vorhergehen, nichtig und ohne alle Befugnis sind, indem eben die Gewißheit einer Gesinnung, die mit diesem Gesetze übereinstimmt, die erste Bedingung alles Wertes der Person ist (wie wir bald deutlicher machen werden), und alle Anmaßung vor derselben falsch und gesetzwidrig ist. Nun gehört der Hang zur Selbstschätzung mit zu den Neigungen, denen das moralische Gesetz Abbruch tut, sofern jene bloß auf der Sinnlichkeit beruht. (Kant, KpV AA V, S. 73)
Im Falle des Eigendünkels ist nicht mehr bloß von einer Zurückweisung oder einem Abbruch der Neigungen durch die Vernunft die Rede, sondern von einer Niederschlagung der Regungen und Ansprüche. Die Selbstliebe kann vernünftig genannt werden, weil sie offenkundig die Forderungen der Vernunft als angemessen „anerkennt“ und sich so leicht in Schranken weisen lässt. Der Eigendünkel und alle mit ihm einhergehenden sonstigen Neigungen wie Neid, Habgier oder Anmaßung erweisen sich als „falsch und gesetzwidrig“, wie Kant schreibt, angesichts der Forderungen der moralischen Vernunft. Kant behauptet, dass es „das moralische Gesetz“ ist, das den Eigendünkel niederschlägt. Die Niederschlagung durch das Sittengesetz bewirkt nun zwei gegensätzliche Gefühlsregungen: Da dieses Gesetz aber doch etwas an sich Positives ist, nämlich die Form einer intellektuellen Kausalität, d.i. der Freiheit, so ist es, indem es im Gegensatze mit dem subjektiven Widerspiele, nämlich den Neigungen in uns, den Eigendünkel schwächt, zugleich ein Gegenstand der Achtung, und indem es ihn sogar niederschlägt, d.i. demütigt, ein Gegenstand der größten Achtung, mithin auch der Grund eines positiven Gefühls, das nicht empirischen Ursprungs ist und a priori erkannt wird. Also ist Achtung fürs moralische Gesetz ein Gefühl, welches durch einen intellektuellen Grund gewirkt wird, und dieses Gefühl ist das einzige, welches wir völlig a priori erkennen, und dessen Notwendigkeit wir einsehen können. (Kant, KpV AA V, S. 73)
Im Falle der Niederschlagung falscher Anmaßungen der Sinnlichkeit gegen die Vernunft und ihr Gesetz wird die Durchsetzung der Vernunft von zwei sehr unterschiedlichen Gefühlen begleitet. Einerseits erfährt der Eigendünkel eine Demütigung, da sein Anspruch gebrochen wird. Denn der Eigendünkel kann seine Forderungen nicht an denen des Sittengesetzes und der Vernunft messen. Kant geht davon aus, dass der Eigendünkel dann, wenn er unterliegt, sich in Beschämung geschlagen geben muss. Zugleich aber, so Kant, erfährt das Sittengesetz, das sich bei der Bestimmung des freien Willens erfolgreich durchgesetzt hat, Achtung. Im Falle des Erfolgs des Sittengesetzes gegen die falschen Neigungen sei es sogar ein „Gegenstand der größten Achtung“. Vom Gefühl der Achtung sagt Kant hier
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ausdrücklich, dass es „durch einen intellektuellen Grund gewirkt“ werde, nämlich durch die Kausalität, die das Sittengesetz mit der Bestimmung des reinen moralischen Willes ausübt. Ferner behauptet Kant, dieses Gefühl sei das einzige, das a priori erkannt und als notwendig eingesehen werden könne. Dass das vernunftgewirkte Gefühl der Achtung a priori erkannt werden kann, versteht sich keineswegs von selbst. Denn wir wissen ja nur deshalb von diesem Gefühl, weil wir mit der gemischten Natur des Menschen in der Erfahrung vertraut sind und vertraut damit, dass sich die Vernunfteinsicht und die individuellen Wünsche sowie Neigungen widerstreiten. Kant gleicht mit der behaupteten Erkenntnis a priori des Gefühls der Achtung den Status dieses Gefühls an den des Sittengesetztes an und verleiht ihm dadurch die dem Sittengesetz entsprechende moralische Würde. Kant argumentiert aber überdies, dass mit der Achtung keinesfalls eine Bestimmung des freien Willens vollzogen wird, und dass es auch nicht zur Beurteilung der moralischen Handlung oder zur Begründung des objektiven Sittengesetztes Unterstützung biete.Vielmehr diene es „bloß zur Triebfeder, um dieses in sich zur Maxime zu machen.“ (Kant, KpV AA V, S. 76) Mit „dieses“ muss hier das objektive Sittengesetz gemeint sein. Das Gefühl der Achtung ist Folge des Herrschaftsanspruchs, den das Sittengesetz gegen die Übertretung seiner Gebote anmeldet. Bemerkenswert ist die von Kant getroffene Unterscheidung zwischen der Eigenliebe und dem Eigendünkel. Sie ruft die Differenz in Erinnerung, die Jean Jacques Rousseau zwischen amour de soi, einer gesunden Selbstliebe, und amour propre, einem selbstischen Egoismus, macht. Kant als sehr guter Kenner von Rousseaus Schriften (Kühn, 2003, 160) dürfte ihr verpflichtet sein. Im Discours sur l’origine et les fondements de l‘inégalité parmi les hommes (Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen) von 1755 und in seinem Erziehungsroman Émile ou de l′éducation (Emile oder über die Erziehung) von 1762 macht Rousseau deutlich, dass die Depravationen des Menschen nicht in seiner Natur, sondern in seiner Kultur begründet sind. Im natürlichen Zustand wird der handelnde Mensch von einer gesunden Eigenliebe (amour de soi) angetrieben, im Kulturzustand herrscht hingegen Selbstsucht (amour propre), bedingt durch soziale Gefühle der Habsucht, der Gier, des Neides, die durch Eigentum und Machtverhältnisse begünstigt, hervorgerufen und erhalten werden (vgl. Rousseau, Émile ou de l′éducation, S. 49). Diese Selbstsucht erzeugt eine immer tiefere soziale Abhängigkeit. Zwar hat es die rationale Kultur des Menschen Rousseau zufolge in vielen Hinsichten zu einer hohen Entwicklungsstufe gebracht, aber sie hat zugleich auch grobe Entgleisungen und Einseitigkeiten des durch Kultur geprägten Menschen zu verantworten. Während Rousseau den aufklärerischen Fortschrittsglauben der menschlichen Kultur radikal infrage stellt, ist
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es Kant zufolge die gemischte Natur des Menschen, die ihn immer wieder auf Abwege führt. Das reine Denken und die reine praktische Vernunft müssen sich vor den Entgleisungen schützen, die die sinnliche Natur des Menschen mit ihren falschen Begehren, ihrem Eigendünkel, ihrer Selbstgefälligkeit bereithält. Dann ist das Vernunftwesen Mensch das autonome Wesen, das es seiner eigentlichen Bestimmung nach als moralisches Wesen sein soll und muss. Es gilt nun, sich Spinoza zuzuwenden. Während Kants Argumentationspotenziale bis heute auffordern, es ihm gleich zu tun, seine Argumente zu prüfen, zu rekonstruieren und zu modifizieren, erwägt kein Denker von heute, Spinozas mos geometricus der Ethik als eine zeitgemäße Methode philosophischen Denkens zu akzeptieren, um daraus eine ethische Handlungsbasis abzuleiten. Autonomie ist zudem kein Terminus der Ethik Spinozas. So stellt sich die Frage, ob es etwas gibt, das Kants Autonomiekonzeption im System Spinozas zu entsprechen vermag. Räumt man ein, dass in der Frage der Methode Kant der neuzeitlichere Denker der beiden ist, so gilt es dennoch, ein wichtiges Potenzial in Spinozas Ethik gegen Kants Moralphilosophie geltend zu machen. Zu einem Autonomieverständnis im heutigen Sinne zählt, nicht nur die rationale Seite des Menschen, sondern auch die emotionale Seite angemessen zu verstehen und in eine Ethikkonzeption einzubeziehen. Der emphatische Begriff der Freiheit, den Kant, Fichte, Schiller und andere verteidigten, kann heute nicht mehr in vollem Umfang überzeugen. Freud lehrte, dass der Mensch zumeist nicht Herr in seinem eigenen Hause ist. Er ist einem Unbewussten ausgeliefert, das seinen Stolz über die eigene Freiheit und Autonomie konterkariert, ihn in vielfältiger Weise zu einem hilflosen Wesen macht. Auch Spinoza wusste um die Knechtschaft des Menschen angesichts der Bedrängnisse durch seine sinnliche Natur. Radikaler als Kant, Fichte oder Schiller hat er die Unfreiheit des Menschen bedacht, um schließlich doch im vollen Bewusstsein seiner Abhängigkeit einen Weg in die Freiheit zu bahnen. In dieser Frage lässt sich Bedeutendes von Spinoza lernen.
3 Die Funktion des durch das Denken erzeugten Gefühls der Freude in Spinozas Ethik Von einer Niederwerfung und Demütigung der Selbstsucht angesichts der Forderungen des Sittengesetzes ist bei Spinoza nicht die Rede. Spinoza hält es vielmehr für nicht möglich, dass das Denken die Gefühle und Affekte direkt beeinflussen kann. Der Zweistämmelehre von Rationalität und Sinnlichkeit bei Kant steht in Spinozas Theorie ein Parallelismus der res cogitans und der res extensa,
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also der Welt des Geistes und der körperlichen Ausdehnung, gegenüber, den er von Descartes übernommen hat. Diese beiden Welten sind nach Spinozas Vorstellung strikt parallel geordnet. Sie stellen die zwei Attribute der einen Substanz dar, die dem Menschen zugänglich sind und in seinem System den Inbegriff alles Daseins bilden. Der Lehrsatz 7 des Zweiten Teils der Ethik, der die Erkenntnistheorie beinhaltet, behauptet den strikten Parallelismus: „Die Ordnung und Verknüpfung von Ideen ist dieselbe wie die Ordnung und Verknüpfung von Dingen.“ (Spinoza, Ethik, II LS 7, S. 109) Der Parallelismus von den Ideen des Geistes und den Dingen der ausgedehnten Körperwelt besagt, dass jedes Ereignis der res cogitans zugleich ein Ereignis in der res extensa darstellt, weil in jedem Attribut die Substanz in ihrer Ganzheit erscheint, jedoch in der jeweils spezifischen Weise. Dass der Parallelismus keinen direkten Übergang von dem einen zum andren Attribut und seinen Modi, also keinen direkten Übergang vom Denken zum Körper und seinen Affekten und Gefühlen zulässt, besagt der Lehrsatz 2 des Dritten Teils der Ethik, der vom „Ursprung und der Natur der Affekte“ handelt und der allererst die Grundlage für einen Übergang von der Erkenntnistheorie zur eigentlichen Ethik schafft, die im Vierten und Fünften Teil ausgeführt wird und zuerst von der „menschlichen Knechtschaft“ und dann von der „Macht des Verstandes“ handelt. Der Lehrsatz 2 im Dritten Teil von Spinozas Ethik lautet: „Der Körper kann den Geist nicht zum Denken bestimmen und der Geist nicht den Körper zu Bewegung und Ruhe oder zu irgendetwas anderem“ (Spinoza, Ethik III, LS 2, S. 227). Mit diesem Lehrsatz ist ausdrücklich gesagt, dass kein direkter Weg der Beeinflussung und der Interaktion zwischen den Modi des Körpers und des Geistes möglich ist. Das Argument wendet sich gegen Descartes Vorstellung von der Macht des Geistes und der Vernunft über den Körper und die Affekte in seiner Schrift Passions de l’âme (Die Leidenschaften der Seele) von 1649.¹ Zugleich kann das Argument als ein systematischer Einwurf gegen Kants These von der Niederschlagung der Selbstsucht durch die reine Bestimmung des Willens der autonomen Vernunft interpretiert werden. Darauf ist zurückzukommen. Wenn es also keine direkte Beeinflussung des schädlichen und unnützen Affektverhaltens des Menschen gibt, so sieht Spinoza doch eine indirekte. Denn auch er schreibt deshalb eine Ethik, weil er glaubt, eine Möglichkeit und eine Anleitung dazu bieten zu können, das Handeln des Menschen zu ordnen und zu verbessern. Seine Theorie sieht vor, dass es etwas im Menschen gibt, das eine indirekte Vermittlung der zwei streng getrennten Welten zulässt. Dies ist der Conatus, das Streben
1 Zur Theorie der zwischen Körper und Geist vermittelnden Drüse und der Lebensgeister in Descartes Leidenschaften der Seele, vgl. die Artikel 31 ff., S. 50 ff., sowie den Herausgeberkommentar von Hammacher, 1996; zur Quelle für Descartes Annahme vgl. ebd., S. 336 f.).
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des Menschen, der sowohl ein bloß körperlicher Trieb (appetitus) ohne Bewusstsein ist, als auch als Begierde (cupidus) von Bewusstsein begleitet sein kann. Begierden heißen somit „sämtliche Formen von Streben, Antrieb, Trieb und Wollen des Menschen“, die bewusst sind oder es sein können (Spinoza, Ethik III, Definitionen der Affekte, S. 337; vgl. ferner Ethik III, LS 11 mit Anmerkung, S. 243 – 247). Begierden sind hier, entgegen dem geläufigen Sprachgebrauch, wertneutral zu verstehen. Alle Affekte sind Spinozas Theorie zufolge Modifikationen einer neutralen Grundbegierde. Die Energiebilanz kann durch den Grundtrieb der Freude und zahlreiche weitere lebenssteigernde Affekte erhöht werden, lebenshemmend wirken hingegen der Grundtrieb der Trauer und seine zahlreichen Modifikationen. In Spinozas Systematik der Affekte gibt es eine Vielzahl differenter Affekte und Affektmischungen auf der das Leben steigernden und der hemmenden Seite der Begierde. Affekte können bald ohne Ideen, das heißt, ohne begleitende Vorstellungen auftreten, bald werden sie von Ideen oder Vorstellungen begleitet. Will man sich nun von der Macht schädlicher und lästiger Affekte befreien, so reicht es nicht aus, nach Geboten zu leben, die ethische, lebenskluge oder deontologische Vorschriften beinhalten. Kants Theorie, der zufolge die Maximen moralischen Handelns als reine Bestimmungen des Willens aufgestellt werden, die nun auch dazu dienen, alle sinnlichen Neigungen abzuhalten, kann Spinoza zufolge nicht erfolgreich sein. Maximen oder Vorschriften sind bloße Gedanken, sind bloßes Wissen. Von einem bloß kognitiven Zustand des Bewusstseins kann ein starker Affekt in der Regel nicht wirksam erreicht, beeinflusst und abgeschwächt werden. Ein Gedanke, ein Gebot, ein Befehl hat nicht wirklich Macht über Affekte, weil diese von tiefsitzenden, interessengeleiteten Lebensenergien angetrieben werden. Nur etwas, das stärker ist als die Macht eines gegebenen Affektes, ein stärkerer Affekt also, kann die Herrschaft über die schädlichen übernehmen. Affekte sind für Spinoza einerseits Ausdruck einer machtvollen Lebenskraft, dem Conatus. Andererseits aber stimmt er der allgemeinen Vorstellung zu, dass sie, gemessen an der Kraft der Aktivität des Denkens, zugleich auch als Ausdruck von Passivität und von Leiden für den Geist einzuordnen sind. Nun hat Spinoza auf die Tatsache aufmerksam gemacht, dass wahre Einsicht auch ihrerseits eine Begierde erzeugt, nämlich die Begierde der Freude, die die ohnehin vorhandene und notwendige Aktivität der Arbeit des Denkens steigert. Die das Denken begleitende Begierde ist also Ausdruck des Conatus, der hier eine von Bewusstsein begleitete Lebensenergie darstellt. Nur wahren Ideen und Einsichten des Verstandes ist eine gerichtete Aktivität des Subjekts im eigentlichen Sinn zuzusprechen, während alle übrigen passiven Begierden und Affekte im Subjekt hervorbrechen und das Dasein passiv bestimmen. Der Lehrsatz 58 des Dritten Buches der Ethik spricht daher den Unterschied zwischen passiver Freude aus, die dem Menschen wiederfährt, und der
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Freude, die mit der Kraft und Aktivität des Denkens aufkommt: „Außer [den Affekten] der Freude und der Begierde, die Leidenschaften sind, gibt es andere Affekte der Freude und Begierde, die uns zukommen, insofern wir aktiv sind.“ (Spinoza, Ethik III, LS 58, S. 331; vgl. Renz, 2008) Die Tatsache, dass auch das Denken und nicht nur die Affekte einerseits Modi des Bewusstseins sind, andererseits aber als Modi der ausgedehnten Welt hervortreten, weil Denken und Fühlen als Erscheinungsweisen des Conatus körperliche Präsenz haben, ist der Dreh- und Angelpunkt von Spinozas Ethik (vgl. Cook, 2006). Spinozas Theorie sieht im Umgang mit der Macht der Affekte und mit der eingestandenen Abhängigkeit des Geistes von ihnen auf einer ersten Stufe vor, dass die Wirkkräfte der Körper, die Natur der Affekte und die Natur des Geistes genau studiert werden müssen (vgl. Renz, 2010, vierter Teil zur „Psychologie und Erkenntnistheorie“ Spinozas). Die Modi des Körpers und die des Geistes müssen je für sich verstanden werden, dann auch in ihren jeweiligen Zusammenhängen, um schließlich Handlungsweisen zu verstehen und in ihrer Motivation zu durchschauen, die bald nützlicher und klüger, bald schädlich und zerstörerisch sein können. Die philosophische Erkenntnistheorie, die mit Spinozas Ethik vorgegeben ist, ist dazu eine essentielle Hilfe, die sehr detailliert ausgeführt ist.² Eine wesentliche Arbeit, die jedes Individuum zu leisten hat, ist, anders als für Kant, die Reflexion auf die zahlreichen individuellen Prägungen und Assoziationskontexte, die in Spinozas Erkenntnistheorie bemerkenswerter Weise eine bedeutende Rolle spielen. In den individuellen Prägungen und Assoziationskontexten sind viele der affektbegleitenden Ideen und Fixierungen zu finden, die die Macht der Affekte mittragen. Auf all die Kontexte der Verknüpfungen von Affekten und Ideen zu reflektieren, in denen die unliebsamen, hemmenden Affekte herrschen und suggestive Macht ausüben, bedeutet auf einer weiteren Stufe, eine kognitive Neuorientierung der Einstellungen zum Fühlen, Denken und Handeln möglich zu machen. Man kann in bequemen affektiven Gewohnheiten verharren, man kann aber auch die Einsicht und die Freude daran, etwas Wichtiges begriffen zu haben dazu nutzen, Veränderungen herbeizuführen. Ein wichtiger Aspekt ist, dass der Geist Einsicht gewinnt in die Natur der Affekte, die üblicherweise durch Trieb und Gewohnheit die nächstliegenden, kurzsichtigen Begierden realisieren, während längerfristige Ziele leicht von den nächstliegenden Begierden zur Seite gesetzt werden. Nur die klare Einsicht und die Freude an der Veränderung von schlechten Gewohnheiten, die erlauben, auf die nächstliegenden Freuden zu verzichten und sich auf längerfristige Freuden einzustellen, bewirken das, was heute als Triebaufschub bekannt ist. Doch
2 Schiller hat gefordert, dass der ganze Mensch gebildet werden müsse, wie das näherhin geschehen könne, hat er aber mehr angedeutet als ausgeführt. Vgl. dazu Waibel, 2013.
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gelingt dies nur, wenn die Einsicht in den alten schlechteren und den neuen besseren Lustgewinn getragen ist von der gefühlten Einsicht in den Schaden, der dem längerfristigen Ziel zuwächst,wenn das Begehren bloß auf kurzfristige Lusterfüllung aus ist. So erst gewinnt die Freude der Einsicht genügend aktive Macht, dem kurzfristigen Begehren zu widerstehen und auf eine längere Frist und ein bedeutenderes Ziel sehend planen zu können. Für Spinozas Theorieansatz ist die kundige und umsichtige Erkenntnis von hoher Bedeutung. Aber der bloße wahre Gedanke und das interesselose, kalte Verstehen von ursächlichen Zusammenhängen und anderen Ideenverknüpfungen sind ohne affektive Hilfe durch die Freude am Erkennen machtlos gegen die Natur der Affekte und der körperlichen Begehren. Nur dann, wenn sich die Einsicht des Gedankens mit der Begierde der durch Aktivität erzeugten, erkennenden Freude verbinden kann, löst sich das schädliche Begehren durch die affektiv unterstützte Kraft des Gedankens, oder wird wenigstens geschwächt. Andernfalls sieht man das Bessere, Nützlichere, Zuträglichere und handelt doch nach dem Schlechteren. Ovid zitierend schreibt Spinoza: „Ich sehe das Bessere und billige es, dem Schlechteren aber folge ich.“ (Spinoza, Ethik IV, LS 17, S. 407) Warum das so ist, hat Spinoza ausführlich erklärt, denn es ist in aller Regel wahr, was Spinoza in einer Sentenz festhält: „Wer Wissen mehrt, mehrt Schmerz.“( Spinoza, Ethik IV, LS 17, S. 407) Das dynamisch Unbewusste, das Freud aufdecken wird, wird genau deshalb verdrängt, weil Wissen Schmerz ist und Wegsehen zunächst entlastend ist. Entlastend dann, wenn ein Weg der Verständigung mit sich und anderen nicht erreichbar oder nicht greifbar scheint. Sartre hat genau aus diesen Gründen die Unaufrichtigkeit (mauvaise foi) als Grundbedingung menschlichen Daseins in seiner philosophischen Hauptschrift L’être et le néant (Das Sein und das Nichts) erkannt (Waibel, 2005), der nur zu entkommen ist, wenn man zu einem authentischen Lebensweg findet. Das aber fordert den Weg der existenziellen Psychoanalyse, die eine gewisse Verwandtschaft zu Spinozas bewusster, reflektierender Lebensführung aufweist. Spinoza hat auf dem Weg einer genauen Naturbeobachtung und dem genauen Nachdenken über diese Beobachtungen mental und dank der Arbeit der Begriffe einen Lösungsweg aufgezeigt, um aus der Unfreiheit der affektbestimmten Knechtschaft des Menschen zur Freiheit zu gelangen. Diese Freiheit, mit der ein innerer Friede einhergeht, stellt ein bemerkenswertes Pendant zu dem Theoriestück dar, das Kant die Autonomie der reinen Vernunft nennt. Spinoza hat schon im 17. Jahrhundert einen Weg dazu gewiesen, rationale mit emotionaler Intelligenz zu verbinden. Man muss ihm nicht in einzelnen Details seiner Theorie, wohl aber in dieser großartigen systematischen Einsicht folgen (vgl. auch Waibel, 2012).
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4 Kant und Spinoza – Autonomie der Vernunft und innerer Friede Kant war zutiefst davon überzeugt, dass sich in die Bestimmung der Maximen moralischen Handelns durch den reinen Willen keine anderen Bestimmungsgründe einmischen dürfen. Eine Einmischung durch Gefühle lässt er auch für den Fall nicht zu, dass diese genau das wollen, was das Sittengesetz fordert. Das wäre Heteronomie der Willensbestimmung. So mag sich aus dem Vorausgehenden das Urteil aufdrängen, dass Kants und Spinozas Theorien unversöhnliche Gegensätze bilden, auch wenn sie im Ergebnis das Gute im Menschen wollen und Kant überdies dem Menschen Spinoza auch höchste Redlichkeit und Achtung vor dem Sittengesetz zuschreibt. Doch eine genauere Betrachtung zeigt, dass Kants strenge Forderung der Autonomie der Vernunft und Spinozas Weg zum inneren Frieden in manchen Hinsichten kompatibel sind. Um das zu verstehen ist es hilfreich, zunächst Kants Antwort auf Schiller zu betrachten, der forderte, den moralischen Rigorismus durch eine Bildung des Menschen durch Schönheit abzuschwächen. Kant beantwortet Schillers Kritik in seiner 1793 erschienenen Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Er lobt in einer Fußnote Schillers „mit Meisterhand verfaßte[] Abhandlung (Thalia 1793, 3. Stück) über Anmut und Würde“ (Kant, Religion, S. 10) und verteidigt zugleich den von Schiller missbilligten moralischen Rigorismus, der fälschlicherweise einer „karthäuserartige[n] Gemütsstimmung“ bezichtigt werde, da er der Ansicht ist, mit Schiller in den wichtigsten Punkten übereinzustimmen. Dem „Pflichtbegriffe“ könne, „gerade um seiner Würde willen, keine Anmut“ beigesellt werden, betont Kant gegen den Dichter. Denn: Die Majestät des Gesetzes (gleich dem auf Sinai) flößt Ehrfurcht ein (nicht Scheu, welche zurückstößt, auch nicht Reiz, der zur Vertraulichkeit einladet), welche Achtung des Untergebenen gegen seinen Gebieter, in diesem Fall aber, da dieser in uns selbst liegt, ein Gefühl des Erhabenen unserer eigenen Bestimmung erweckt, was uns mehr hinreißt als alles Schöne. (Kant, Religion, S. 11)
Doch wenn Kant auch fordert, dass die Bestimmung des Moralischen ohne Beihilfe einer Gesinnung geschehen müsse, die durch das Gefühl für das Schöne geprägt sei, so räumt er dennoch ein, dass es wünschenswert ist, die Pflichterfüllung aus reiner moralischer Gesinnung in einen Kontext einzubetten, der von Schönheit, Anmut und Grazie bestimmt ist. Kant schreibt nämlich: Aber die Tugend, d. i. die fest gegründete Gesinnung, seine Pflicht genau zu erfüllen, ist in ihren Folgen auch wohltätig, mehr wie alles, was Natur oder Kunst in der Welt leisten mag; und das herrliche Bild der Menschheit, in dieser ihrer Gestalt aufgestellt, verstattet gar wohl
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die Begleitung der Grazien, die aber, wenn noch von Pflicht allein die Rede ist, sich in ehrerbietiger Entfernung halten. Wird aber auf die anmutigen Folgen gesehen, welche die Tugend, wenn sie überall Eingang fände, in der Welt verbreiten würde, so zieht alsdann die moralisch-gerichtete Vernunft die Sinnlichkeit (durch die Einbildungskraft) mit ins Spiel. (Kant, Religion, S. 11)
Demzufolge ist es das alleinige Geschäft der Vernunft, die moralisch richtigen Maximen des Handelns aufzustellen. Wenn sich dann aber als Folge eine sinnlich bestimmte Zustimmung einstellt, hält Kant dies nicht bloß für unschädlich für die rein moralische Gesinnung, sondern sogar für förderlich. Hier darf daran erinnert werden, dass auch das Gefühl der Achtung für das Sittengesetz als vernunftgewirktes Gefühl angesehen wird, das die Moralität für die weiteren Folgen zu festigen verspricht. Kant fährt nun in seinen Überlegungen fort, den Wert einer sinnlich gestimmten, positiven Einstellung zu seinen Pflichten im Kontrast zu einer von negativen Gefühlen geprägten Haltung hervorzuheben: Fragt man nun,welcherlei ist die ästhetische Beschaffenheit, gleichsam das Temperament der Tugend: mutig, mithin fröhlich oder ängstlich-gebeugt und niedergeschlagen, so ist kaum eine Antwort nötig. Die letztere sklavische Gemütsstimmung kann nie ohne einen verborgenen Haß des Gesetzes stattfinden, und das fröhliche Herz in Befolgung seiner Pflicht (nicht die Behaglichkeit in Anerkennung desselben) ist ein Zeichen der Echtheit tugendhafter Gesinnung, selbst in der Frömmigkeit, die nicht in der Selbstpeinigung des reuigen Sünders (welche sehr zweideutig ist und gemeiniglich nur innerer Vorwurf ist, wider die Klugheitsregel verstoßen zu haben), sondern im festen Vorsatz, es künftig besser zu machen, besteht, der, durch den guten Fortgang angefeuert, eine fröhliche Gemütsstimmung bewirken muß, ohne welche man nie gewiß ist, das Gute auch lieb gewonnen, d. i. es in seine Maxime aufgenommen zu haben. (Kant, Religion, S. 11 f.)
Diese Zeilen sprechen für sich. Kant betont die unabhängige autonome Bestimmung des Willens einer moralischen Handlung, sieht sich aber überdies mit Schiller darin einig, dass eine innere Haltung, die nach Schillers Forderung den ganzen Menschen bildet und ergreift, der Tugend eines Menschen durchaus dienlich ist und die moralische Gesinnung insgesamt festigt. Diese Überlegungen lassen es kaum mehr zu, dass das Sittengesetz moralwidrige Gefühle niederschlage und demütige. Ein Lernerfolg zum Besseren ist weit eher gegeben, wenn dem Moralgesetz eine positive innere Einstellung entgegensteht. Kant unterschied in der Kritik der praktischen Vernunft zwischen den sinnlichen Haltungen des Eigendünkels einerseits und andererseits der (gesunden und vernünftigen) Eigenliebe, die durch das Sittengesetz in Schranken gewiesen werden müssen, um sich nicht in die Vernunftbestimmungen einzumischen. So gälte es, die gesunde Eigenliebe zu bilden, um Schillers, aber auch Spinozas Forderungen Genüge zu tun. Dies wäre mit Kants Ansatz durchaus kompatibel, auch wenn er selbst dazu in
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der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und der Kritik der praktischen Vernunft keine eigenen Vorschläge macht. Mit diesem Ergebnis lässt sich nun überdies behaupten, dass es Spinoza ist, der in vorzüglicher Weise gezeigt hat, wie eine innere versöhnliche Bildung der verschiedensten Kräfte des Menschen aussehen kann. Er hat gezeigt, wie der innere, kräftezehrende Kampf der verschiedensten Wünsche, Triebe und Regungen durch eine weitausgreifende und weitsichtige Reflexion vermieden werden kann, ja sogar muss, da der innere Kampf wenig zielführendes austrägt. Freilich kennt er nicht eine Forderung wie die Kants, der zufolge eine moralische Bestimmung des Willens nur durch die rein rationale Vernunfteinsicht aufgestellt werden dürfe. Doch in der Sache treffen sie zusammen, denn nach Spinoza geschieht die entscheidende Kraft der Einschränkung der negativen Kräfte im Menschen auch durch die Einsicht des Denkens. Es gibt ja keinen direkten Eingriff der Sinne in das Denken und umgekehrt. Das Denken stellt nun aber seinerseits eine positive, konativ sinnliche Kraft dar, wodurch es sich auf dieser Ebene den negativen sinnlichen Kräften unmittelbar entgegenstellen kann. Während Kant in seiner Antwort auf Schiller einen positiv gestimmten sinnlichen Kontext zulässt, der die Vernunft in ihrer Willensbestimmung offenkundig mittelbar befördern kann, weiß Spinoza um eine Kraft des denkenden Verstandes, die unmittelbar wirkt, sobald die richtige Einsicht gewonnen ist. Veränderung zum Guten ist Spinoza zufolge möglich, weil alles Denken und Tun als Ausdruck des Bewusstseins und zugleich als Ausdruck des Conatus oder Lebenstriebes verstanden wird. Dazu zählen die lebensbejahenden und daher die Lebenskraft steigernden unmittelbaren Affekte ebenso wie die die Lebenskraft mindernden Affekte. Hinzukommt derjenige Lebenstrieb, der Freude an der Erkenntnis ist. Es ist Spinoza zufolge gefordert, seine Affekte zu kennen, ihre Ursachen klar zu erkennen, die Ordnung der Affekte und ihrer Ursachen untereinander zu durchschauen. Die klare Sicht auf die Affekte und auf die mit ihnen verknüpften Ideen geben dem Geist die Macht, das Streben nach kurzsichtigen Freuden, von denen abzusehen ist, dass sie in Leiden umschlagen, abzuschwächen zugunsten weitsichtigerer Freuden. Die Erkenntnis wirkt auf die Affekte dadurch regulierend, dass diese nicht von einem rationalen und abstrakten Sollen beherrscht werden, sondern von einem durch rationale Einsicht gewonnenen mächtigeren Lebenstrieb. Für Spinoza gilt allgemein: Je fähiger, verglichen mit anderen, ein Körper ist, vieles auf einmal zu tun oder zu erleiden, desto fähiger ist, verglichen mit anderen, sein Geist, vieles auf einmal wahrzunehmen; und je mehr die Tätigkeiten eines Körpers von ihm allein abhängen und je weniger andere Köper bei seinem Tätigsein mitwirken, desto fähiger ist sein Geist zu deutlicher Einsicht. (Spinoza, Ethik II, LS 13 Anmerkung, S. 127)
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Schiller müsste mit diesem Satz sehr einverstanden sein. Und da sich Kant mit Schiller weitgehend einig weiß, könnte wohl auch er zustimmen. Nun hat Spinoza freilich niemals von einer Autonomie des Subjekts gesprochen. Kant ist bekanntlich der Autor, der die Autonomie menschlicher Subjektivität in den Fokus der Aufmerksamkeit rückte (O’Neill, 2011), eine Aufmerksamkeit, die bis heute anhält. Bis heute wird Kants Moralphilosophie lebhaft diskutiert, während Spinozas utilitaristische Ethik eher von Spezialisten beachtet wird.Von Autonomie ist bei ihm keine Rede, wohl aber von einem inneren Frieden und einer inneren Freiheit, die der erlangt, der sich einer umfassenden Erkenntnis der Dinge verschreibt. Kant legt größten Wert darauf, dass die rein moralische Gesinnung alleine, mithin die Bestimmungen des reinen Willens, nicht die Folgen einer Handlung den moralischen Wert bestimmen. Spinoza spricht dem Menschen einen Willen im eigentlichen Sinne ab. Die Klarheit des Denkens ist es, die den Weg bahnt, auch richtig zu handeln. Um seine Moralphilosophie zu begründen, arbeitet Kant das Reinrationale der moralischen Handlungsbestimmungen heraus, das alleine moralisches von bloß legalem Handeln unterscheidbar macht. Moralisches Handeln entspricht der Pflicht, legales ist bloß pflichtmäßig. Wohl weiß Kant, dass der Mensch daneben auch ein sinnliches Wesen ist. Doch dem sinnlichen Menschen hat er nur so viel Aufmerksamkeit geschenkt, wie nötig ist, reine Moralität zu begründen, auch wenn er Schillers Forderungen in seiner Religionsschrift beachtliche Zugeständnisse macht.
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Ding an sich: Zur Produktivität eines „Problems“ der Transzendentalphilosophie Kants In der Geschichte der Philosophie kommt es oftmals vor, dass Probleme, die als Probleme einer philosophischen Theorie gelten, diese Theorie in Wahrheit nicht betreffen. Mit aller Wahrscheinlichkeit verhält es sich so auch mit demjenigen Problem, das bei dem Versuch, Kants theoretische Philosophie richtig zu verstehen, als erstes Problem identifiziert wurde. Dieses Problem stellte sich für Kants Nachfolger im Zusammenhang mit der Unterscheidung von Dingen an sich und Erscheinungen, also infolge Kants transzendentalem Idealismus. Aus dieser Unterscheidung schien notwendigerweise das Dilemma zu folgen, das bekanntermaßen Friedrich Heinrich Jacobi formuliert hat. Um seine Affektionslehre erklären zu können, müsse Kant annehmen, dass die Dinge an sich auf das Gemüt kausal einwirken und auf diese Weise in ihm Vorstellungen – Erscheinungen – hervorrufen. Mit dieser Lehre überschreite Kant allerdings die von ihm selber gesetzte Einschränkung der epistemisch relevanten Anwendung der Kausalitätskategorie auf die Erscheinungen, d. h. auf die Vorstellungen der Sinnlichkeit. Aus diesem Grund sei seine Theorie mit einem internen Widerspruch belastet. Im Folgenden soll nicht gezeigt werden, dass dieses vermeintliche Problem auf einem Missverständnis gründet.¹ Vielmehr soll seine positive Wirkung in der Rezeption der kantischen Philosophie thematisiert werden; denn bei dem Versuch, es zu beseitigen, sind Überlegungen entwickelt worden, die weit über Kants Ansatz hinausgegangen sind und neue Konzepte des menschlichen Bewusstseins in Gang gebracht haben. Diese Überlegungen sind in Kants Briefwechsel doku-
1 In diesem Zusammenhang sind zumindest zwei Arbeiten zu erwähnen. Die erste ist die Arbeit von Gerold Prauss, Kant und das Problem der Dinge an sich, Bonn 1974. Prauss versucht zu zeigen, dass der Ausdruck „an sich“ nicht adjektivisch, sondern adverbial gelesen werden muss. Denn er bezeichnet nicht ein Prädikat einer Entität, sondern die Art und Weise, wie Entitäten verstanden werden können. Dem entspricht Prauss zufolge die Tatsache, dass Kant in der Kritik der reinen Vernunft häufiger die Bezeichnung „Dinge an sich selbst betrachtet“ als die Bezeichnung „Dinge an sich selbst“ verwendet. An Prauss knüpft Henry Allison mit der Arbeit Kant’s Transcendental Idealism. An Interpretation and Defense an, in der er zeigt, dass ein und dieselbe Entität einmal als Erscheinung, d. h. als eine in der Sinnlichkeit gegebene Entität, und zum anderen „an sich“ aufgefasst werden kann, d. h. so, wie sie unabhängig von ihrer Gegebenheitsweise in der Sinnlichkeit gedacht wird. Die angelsächsischen Interpreten bezeichnen diese Zugangsweise als „the double aspect approach“ (bzw. „view“). Vgl. Aquila, 1983, S. 108 ff.
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mentiert. So versuchen Salomon Maimon, Jacob Sigismund Beck und Johann Heinrich Tieftrunk das Problem der Dinge an sich theoretisch zu bewältigen. Es soll gezeigt werden, dass sie in die Richtung getrieben wurden, in der Johann Gottlieb Fichte Jacobis Dilemma zu lösen versuchte.
1 Maimons dogmatischer Skeptizismus Zu Beginn des Jahres 1789 fing eine Debatte zwischen Kant und Maimon an, die durch Kants Schüler Marcus Herz vermittelt wurde. Es ging in ihr grundsätzlich um die Frage der Übereinstimmung von Vorstellungen, die allein aus dem Verstand kommen, mit den sinnlichen Vorstellungen. Es ging also um die Frage, von der Kant zu Recht meinte, auf sie eine zumindest gründliche, wenngleich nicht ohne Weiteres überzeugende Antwort in der Kritik der reinen Vernunft im Kapitel „Von der Deduktion der reinen Verstandesbegriffe“ gegeben zu haben. In diesem Kapitel versucht Kant zu zeigen, dass die Übereinstimmung der reinen Verstandesvorstellungen, Kategorien, mit den sinnlichen Vorstellungen, Erscheinungen, dadurch ermöglicht wird, dass die Kategorien die Bedingungen der Einheit von denjenigen reinen Anschauungsformen sind, in denen ohne Ausnahme alle sinnlichen Vorstellungen erscheinen. Kants Brief an Marcus Herz vom 26. 5. 1789 ² ist zu entnehmen, dass es gerade diese Antwort Kants war, die Maimon nicht zu überzeugen vermochte. Maimon hat Kant seine Schrift Versuch über die Transzendentalphilosophie zur Begutachtung gesendet.³ In dieser Schrift adressiert Maimon an Kant die Frage, wie die Möglichkeit der Übereinstimmung der Anschauungen a priori mit den Begriffen a priori, d. h. der reinen Anschauungsformen mit den Kategorien, erklärt werden kann, wenn mit Kant angenommen wird, dass sie spezifisch ganz verschiedener Herkunft, d. h. genetisch voneinander ganz unabhängig sind.⁴ Maimon wird in diesem Zusammenhang von Kant auf seine bereits angedeutete Lösung verwiesen, d. h. auf seine Lehre von der transzendentalen Idealität der Erscheinungen. Aus dieser Lehre geht Kant zufolge hervor, dass die Gegenstände unserer Erfahrung nicht Dinge an sich, sondern Erscheinungen, d. h. Bestimmungen des äußeren und inneren Sinnes sind. Daraus folgt für Kant, dass die Form, in der sie als Erscheinungen gegeben werden, von unserem Verstand abhängig ist, und zwar gilt
2 Kant, AA XI, S. 48 – 55. 3 Auf dem Titelblatt dieser Schrift ist zwar das Jahr 1790 angegeben, allerdings ist anhand von Kants Briefwechsel davon auszugehen, dass sie spätestens zu Beginn des Dezembers 1789 bereits erschienen ist. Vgl. Engstler, 1990. 4 Kant, AA S. XI, 50.
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diese Abhängigkeit Kant zufolge insofern, als die Bedingungen der Einheit unseres Verstandes zugleich die Bedingungen der Einheit derjenigen Anschauungsformen sind, in denen die Gegenstände der Erfahrung als Erscheinungen gegeben werden. In dem Brief führt Kant ein negatives Argument an, das in aller Kürze die Argumentation der transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe zusammenfasst. Dieses Argument lautet folgendermaßen: Würden die Kategorien die Einheit von reinen Anschauungsformen nicht selbst stiften, dann wären die Anschauungen von Objekten als Erscheinungen für uns nichts, weil sie in diesem Fall nicht als objektive Einheit des Bewusstseins gefasst werden könnten.⁵ Entscheidend ist allerdings nicht so sehr Kants soeben angedeutete Lösung, sondern die Art und Weise, wie von Maimon die Übereinstimmung der Begriffe a priori mit den Anschauungen a priori aufgefasst wird. Anhand von Kants Interpretation von Maimons Lösungsansatz, wie sie dem Brief an Marcus Herz zu entnehmen ist (Kant gibt Herz auf, Maimon den Brief zukommen zu lassen),⁶ ist zu erkennen, dass nach Maimon der Verstand ein Anschauungsvermögen besitzt. Während für Kant das Denken die Funktion erfüllt, in die Vorstellungen Einheit zu bringen, ist für Maimon das Denken nicht die einzige Verstandesfunktion, sondern nur eine der Weisen, wie das Mannigfaltige der Anschauung zu klarem und differenziertem Bewusstsein gebracht werden kann.⁷ Der auf diese Weise interpretierte Verstand ist dann nicht nur die Funktion der Einheit von Vorstellungen, d. h. ihres formalen Aspekts, sondern zugleich die Quelle ihres materiellen Aspekts, d. h. ihres Inhalts. Der Verstand, der anschaut, bringt mit dem Anschauungsakt zugleich auch die angeschaute Vorstellung materialiter hervor. Die Sinnlichkeit kann somit auf eine Funktion des Verstandes zurückgeführt werden, die sich vom Verstand in der Funktion des Denkens nur dem Grad des Bewusstseins nach unterscheidet. Wird die Sinnlichkeit auf diese Weise auf eine Funktion des Verstandes reduziert, kann auf die Annahme von Dingen an sich verzichtet werden, da „hinter“ unseren Vorstellungen kein „Etwas“ als ihre Quelle angenommen werden muss, und zwar auch dann nicht, wenn man sich auf die „minimale“ Voraussetzung beschränkt, dass dieses Etwas nur die Quelle des inhaltlichen, sachlichen Aspekts von sinnlichen Vorstellungen darstellt. Maimons Lösung des Verhältnisses der Dinge an sich und der Erscheinungen liegt daher die Annahme zugrunde, dass wir über die Fähigkeit verfügen, Akte auszuführen, kraft derer der sachliche, inhaltliche Aspekt unserer sinnlichen Vorstellungen selbst zustande kommt. Der Un-
5 Ebd., S. 51. 6 Ebd., S. 49. 7 Ebd., S. 50.
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terschied der Sinnlichkeit vom Verstand ist dann bloß ein psychologischer, d. h. ein quantitativer, und Kants Unterscheidung der Dinge an sich und der Erscheinungen, die einen qualitativen Unterschied impliziert, wird nutzlos. Im Rahmen einer solchen Theorie muss die Möglichkeit der Übereinstimmung der apriorischen Verstandesvorstellungen mit den Anschauungen a priori gar nicht eigens nachgewiesen werden, weil prinzipiell von allen Vorstellungen gezeigt werden kann, dass sie vom Verstand herstammen. Es ist offensichtlich, dass diese Theorie nicht anschlussfähig war. Und zwar nicht allein deshalb nicht, weil ihre Auffassung des Verhältnisses des Verstandes und der Sinnlichkeit als ein Versuch angesehen werden konnte, die vorkantische Metaphysik in ihrer traditionellen sog. „leibniz-wolffschen“ Form wieder herzustellen, sondern vor allem deshalb nicht, weil die Annahme eines Verstandes, der über die Fähigkeit verfügt, anzuschauen und damit den materiellen Aspekt von Gegenständen selbst hervorzubringen, und der sich also vom göttlichen archetypischen Verstand bloß quantitativ unterscheidet, nach Kants kritischer Destruktion der natürlichen Theologie gar nicht mehr philosophisch begründet werden konnte.⁸ Jacobis Dilemma hat daher zunächst einmal dazu aufgefordert, eine andere Lösung zu suchen.
2 Becks Theorie der affizierenden Erscheinungen Man wird ohne Weiteres sagen dürfen, dass Jacob Sigismund Beck der talentierteste Kantschüler war. Kant wird dieser Ansicht gewesen sein. Dafür spricht der Umstand, dass Beck einen verbindlichen Kommentar zu Kants Kritiken verfasste und sich auf dem Titelblatt dieses Kommentars darauf berufen konnte, dies mit Kants
8 Es ist eine offene Frage, ob Maimon diesen Standpunkt tatsächlich vertrat, auch wenn Maimon bekannte, dass Leibniz und Spinoza einen massiven Einfluss auf sein Denken ausgeübt haben. Vgl. Engstler, 1990, S. 43 f. Andererseits ist Maimon bereits von Kuno Fischer als ein Denker verstanden worden, der den Übergang von Kant zu Fichte ermöglichte und mit Fichte in wichtigen systematischen Punkten übereinkommt. Vgl. Engstler, 1990, S. 14, Anm. 13. Diese Interpretationsthese ist der zugespitzten und von der heutigen Forschung bereits überholten Interpretation von Fichtes Philosophie als einem radikalen Idealismus zuzuschreiben, der die These zugrunde liegt, das Ich sei die Quelle und der Schöpfer der sinnlichen Welt der Erscheinungen. Es ist davon auszugehen, dass, wenn Maimon von der intellektuellen Anschauung spricht, keine sachliche Übereinstimmung mit dem gleichnamigen Begriff Fichtes besteht, sondern es sich vielmehr um eine Aktualisierung des metaphysischen Begriffs eines archetypischen Verstandes handelt, die es ihm möglich machen soll, das von Kant zunächst in Frage gestellte und dann transzendental aufgefasste Verhältnis der apriorischen und empirischen Vorstellungen zu lösen.
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Zustimmung getan zu haben. Der dritte Band dieses Kommentars erläutert den Standpunkt,von dem aus Kants theoretische Philosophie verstanden werden soll.⁹ Obwohl es Becks Anliegen war, Kants Philosophie möglichst getreu zu interpretieren, entfernte er sich allmählich, dafür aber unvermeidlich von ihr. Und wie Fichte rasch und richtig bemerkte, hatte er sich von Kant in seine Richtung bewegt, obgleich Beck Fichtes Einschätzung nicht gerade angenehm gewesen sein dürfte. Wie Becks Brief an Kant vom 24. 6. 1797 ¹⁰ zu entnehmen ist, war Beck während Ostern 1797 bei Fichte in Jena zu Besuch, wobei Fichte sein Gespräch mit Beck mit den Worten eröffnete: „Ich weiß es, Sie sind meiner Meynung, daß der Verstand das Ding macht.“¹¹ Und weil Beck schon zuvor von Kants Freund, dem Pastor Schulz, „angeklagt“ worden war, Fichtes Ansichten zu vertreten, hielt er es für notwendig, an Kant folgende Worte zu schreiben: „Ich versichere Sie, sowahr ich ein ehrlicher Mann bin, daß ich unendlich weit, von diesem Fichtischen Unsinn mich entfernt befinde.“¹² Beck geht davon aus, dass das Problem des Verhältnisses der Dinge an sich und der Erscheinungen auch so gelöst werden kann, indem gezeigt wird, dass die Annahme von Dingen an sich nicht erforderlich ist, um den Ursprung der Erscheinungen erklären zu können. Denn diese Erklärung kann so erfolgen, dass auf die These von einem anschauenden Verstand, der die Dinge materialiter hervorbringt, verzichtet werden kann. Dies kann durch eine Überlegung begründet werden, die zeigt, dass das, was unsere Sinnlichkeit affiziert, gerade nicht Dinge an sich, sondern die Erscheinungen selbst sind. Genau diese Überlegung führt Beck in seinem Brief an Kant vom 20. 6. 1797 aus.¹³ In diesem Brief erwähnt Beck zunächst das Jacobische Dilemma, um gleich daraufhin anzumerken: Wenn ich über diese Bedenklichkeit [sc. über das Jacobische Dilemma], welche gewiß sehr vielen wichtig ist, mein Urtheil sagen und auch bestimmen soll, was Ihre Critik eigentlich meyne, wenn sie auf den ersten Seite der Einleitung von Gegenständen spricht, welche die Sinne rühren, ob sie darunter Dinge an sich oder Erscheinungen meyne? so werde ich antworten, daß da Erscheinung das Object meiner Vorstellung ist, in welcher Bestimmungen
9 Der dreibändige Kommentar hat den Titel: Erläuternder Auszug aus den kritischen Schriften des Herrn Prof. Kant, auf Anrathen desselben (I, II, Riga 1793; III, 1796). Der dritte Band heißt: Einzig möglicher Standpunkt, aus welchem die kritische Philosophie beurteilt werden muß. Dazu Henrich, 1973, S. 90 – 104, insb. S. 95. Zum Briefwechsel zwischen Kant und Beck vgl. Schmucker-Hartmann, 1976, S. 82– 96. 10 Kant, AA XII, S. 172– 175. 11 Ebd., S. 174. 12 Ebd., S. 173. 13 Ebd., S. 161– 169.
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desselben gedacht werden, die ich durch das ursprüngliche Verstandesverfahren (z. B. durch das ursprüngliche Fixieren meiner Synthesis von Wahrnehmungen, als eine successive, dadurch Erfahrung einer Begebenheit möglich wird) erhalte, so ist der Gegenstand der mich afficirt, eben daher Erscheinung und nicht Ding an sich. ¹⁴
Es ist offensichtlich, dass die Absicht von Becks Interpretation, wie Beck einige Seiten später sagt, darin besteht, „dem Begriff von Ding an sich den Zugang in die theoretische Philosophie zu verschliessen“.¹⁵ Dieses Ziel soll mit einer Überlegung erreicht werden, deren Grundgedanke Beck in den zitierten Sätzen präsentiert. Dieses Argument hat folgende Form: Weil die Erscheinung nichts anderes als ein Objekt meiner Vorstellung ist, in dieser Vorstellung aber die Bestimmungen dieses Objekts gedacht werden, und zwar durch die Kategorien als gegenständliche, d. h. objektive Grundbestimmungen der Erscheinungen gedacht werden, die zugleich die Formen einer ursprünglichen Synthesis des Mannigfaltigen der Erscheinungen sind, wird die Annahme eines Dinges an sich nutzlos, weil ich eben deshalb nicht durch ein Ding an sich, sondern durch die Erscheinung selbst affiziert werde. Dieses prima facie dunkle Argument ist nachvollziehbar, wenn davon ausgegangen wird, dass es zwei Prämissen und einen aus ihnen abgeleiteten Schluss enthält. Die erste Prämisse besagt, dass die Annahme eines Dinges an sich nur deshalb gemacht worden ist, um den Ursprung der Bestimmtheit der Gegenstände erklären zu können, d. h. den Ursprung ihrer gegenständlichen Bestimmungen, die ein Ergebnis der Affektion der Sinnlichkeit durch das Ding an sich darstellen sollen. Die zweite Prämisse richtet sich dann gegen die erste, denn Beck geht offensichtlich davon aus, dass in der Transzendentalen Analytik der Kritik der reinen Vernunft bereits gezeigt worden ist, dass alle gegenständlichen Bestimmungen den Erscheinungen in denjenigen Urteilen zugeschrieben werden, deren begriffliche Grundbestandteile in den Kategorien festgelegt sind. Dieser zweiten Prämisse zufolge muss also der Ursprung der gegenständlichen Bestimmungen von Erscheinungen in dem Verstand selbst und nicht etwa in dem Wirken der Gegenstände auf die Sinnlichkeit, also in der Affektion gesucht werden. Ist der Zusammenhang dieser zwei Prämissen zutreffend bestimmt, dann, so schließt Beck, kann man die Annahme eines Dinges an sich ohne Weiteres beiseitelassen, da man den Ursprung der gegenständlichen Bestimmungen von Erscheinungen auch ohne diese Annahme erklären kann. Dass diese Interpretation von Becks Überlegungen zutreffend ist, wird dadurch bestätigt, dass Beck kurz zuvor darauf hinweist, dass er mit seinem Begriff eines ursprünglichen Verstandesverfahrens nichts anderes meint, als den Um-
14 Ebd., S. 164. Hvh. v. Vf. 15 Ebd., S. 167.
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stand, dass Kategorien Prädikate sind, die in genau denjenigen reinen synthetischen Urteilen a priori verwendet werden, kraft derer allein wir zu den Begriffen von Objekten, also zu den gegenständlichen Grundbestimmungen der Erscheinungen gelangen.¹⁶ So wird z. B. erst kraft der Kategorie der Kausalität und des aus ihr in der Zweiten Analogie der Erfahrung abgeleiteten Grundsatzes die „Erfahrung einer Begebenheit“ möglich, weil erst diese Kategorie es möglich macht, von zwei Erscheinungen die eine als die Ursache und die andere als die Wirkung eben dieser Ursache und damit die sukzessive Synthesis der Erscheinungen als a priori „fixiert“ aufzufassen. Beck teilt also offensichtlich Kants Überzeugung, dass die „Erfahrung einer Begebenheit“ in einem empirischen Urteil zustande kommt, dessen transzendentale Form in demjenigen reinen synthetischen Urteil a priori angegeben wird, das den Verlauf der Synthesis der gegebenen Erscheinungen a priori festlegt, und das lautet: „Alle Veränderungen geschehen nach dem Gesetze der Verknüpfung der Ursache und Wirkung“ (B 232).¹⁷ Es stellt sich jedoch die Frage, ob es überhaupt sinnvoll ist, bei der Durchführung der angedeuteten Reduktion noch weiter von einer Affektion zu sprechen, wie Beck es offensichtlich tut.¹⁸ Die SInnhaftigkeit, auch weiter an dem Begriff der Affektion festzuhalten, wird deutlich, wenn man noch einen anderen Umstand in Betracht zieht. Beck zufolge gilt folgendes: Die gegenständlichen Grundbestimmungen müssen in den Urteilen genau denjenigen Gegenständen zugeschrieben werden, von denen angenommen wird, dass sie uns affizieren. Es ist also nicht Becks Versicherung an Kant, es sei ihm nicht eingefallen, „die Sinnlichkeit weg zu exegesieren“,¹⁹ sondern ein systematischer Umstand, der ihn dazu zwingt, an der Annahme einer Affektion auch weiter festzuhalten. Es fragt sich jedoch ferner, wie der angedeutete Umstand zu verstehen ist. Er ergibt sich daraus, dass erst die Gegenstände, von denen angenommen wird, dass sie uns affizieren, derjenige Bestandteil unserer Erfahrung sind, von dem gerechtfertigter Weise angenommen werden kann, dass er nicht nur unser subjektives Erzeugnis ist und daher die Objektivität unserer Erfahrung stiftet. Becks Argumentation lässt sich folgendermaßen weiterführen: Ginge man davon aus, dass unsere Sinnlichkeit durch die Dinge an sich affiziert wird, müsste man die gegenständlichen in Kategorien gedachten Grundbestimmungen den Dingen an sich zuschreiben. In diesem Fall müsste man aber des Weiteren auch
16 Ebd., S. 163. 17 Auch wenn man mit Konrad Cramer zugibt, dass es sich bei dem Grundsatz der Kausalität nicht um ein reines, sondern um ein nicht-reines synthetisches Urteil a priori handelt, ändert dies nichts daran, dass diese Interpretation richtig ist. Vgl. Cramer, 1985. 18 Z. B. Kant, AA XII, S. 167. 19 Ebd., S. 166.
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davon ausgehen, dass die Dinge an sich erkannt werden können, und zwar mindestens als etwas, das rein kategorial bestimmt ist. Genauer gesagt: Gerade die kategoriale Bestimmung der Dinge an sich würde ihre wenngleich nur rein formale Erkenntnis stiften. Die Dinge an sich müssten also gedacht werden als Substanzen, Ursachen, bzw. Akzidentien, Wirkungen usw. Daraus ergäbe sich folgende systeminterne Schwierigkeit, die zur Preisgabe der Annahme eines Dinges an sich führen sollte: Könnte man die Dinge an sich erkennen, auch wenn diese Erkenntnis nur einen rein formalen Charakter hätte, so hörten die Dinge an sich auf, die Dinge an sich zu sein, denn ein wesentlicher, weil geradezu definierender Bestandteil des Begriffs eines Dinges an sich, besteht gerade darin, dass es sich um etwas handelt, was auf gar keine Weise, und d. h. auch rein formal nicht erkannt werden kann. Der Grund hierfür besteht darin, dass das erkannte Ding an sich aufhört, ein Ding an sich zu sein; es wird eben zu einem erkannten Ding. Man würde also zwangsläufig zu der widersprüchlichen Aussage kommen, dass einem x, dem zugeschrieben wird, ein Ding an sich zu sein, zugleich die Bestimmung zukommt, nicht ein Ding an sich zu sein. Der Begriff des Dinges an sich würde also aufgehoben, wenn man davon ausgeht, dass es dasjenige ist, das unsere Sinnlichkeit affiziert. Auf diesen internen Widerspruch im Begriff des Dinges an sich weist zuerst Reinhold und nach ihm Fichte hin. Dass es sich dabei um ein systeminternes Problem handelt, bedeutet, dass es sich nur innerhalb einer Theorie ergibt, in der zwischen dem bloßen Denken und dem bestimmenden Erkennen noch nicht unterschieden wird und in der daher davon ausgegangen wird, dass dasjenige, was gedacht werden kann, auch erkannt werden kann, und zwar gerade insofern, als es gedacht wird. Anhand der ausgeführten, von Beck in seinem Brief allerdings nur angedeuteten²⁰ Überlegung kann ergänzend gezeigt werden, dass die Annahme eines Dinges an sich nicht nur nutzlos, sondern geradezu absurd ist. Daraus folgt nun für Beck: Angenommen, dass dasjenige, von dem unsere Sinnlichkeit affiziert wird, nicht Dinge an sich, sondern Erscheinungen sind, dann empfiehlt sich aufgrund der Denkökonomie sowie der logischen Notwendigkeit der bekannten von Ockham formulierten Regel zu folgen. So scheint Beck in der Tat richtig zu schließen, dass, weil die gegenständlichen Grundbestimmungen den Erscheinungen zugeschrieben werden, davon ausgegangen werden muss, dass die Erscheinungen auch dasjenige sind, das uns affiziert.
20 „Meynt aber jemand von den Categorien einen absoluten Gebrauch machen zu können, […], der ist in der Meynung die Dinge an sich zu erkennen und […], im Besitz einer Verstandesanschauung zu seyn sich dünke“. Ebd., S. 164 f.
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Beck muss jedoch eine eigentümliche Art der Affektion meinen, bei der wir von etwas affiziert werden, das ein Objekt unserer Vorstellungen ist. Die Erscheinung muss dieser Auffassung zufolge das letzte denkbare gegenständliche Korrelat unserer Vorstellungen sein, dem nur die in den reinen nicht-schematisierten Kategorien gedachten Bestimmungen und keine anderen zukommen. Diese Auffassung des Erscheinungsbegriffs impliziert Becks Versuch, das Jacobische Dilemma zu lösen. Sie ist von Beck in der Tat auch gemeint, wenn er sagt: Da heißt nun dieser auf mich wirkende, die Sinne rührende Gegenstand, Erscheinung und nicht Ding an sich, wovon ich lediglich den negativen Begriff aufstellen kann, als von einem Dinge dem Prädicate schlechthin (ganz abgesehen von diesem ursprünglichen Verstandesverfahren) zukommen.²¹
Das gegenständliche Korrelat von Vorstellungen kann nur negativ gedacht werden; z. B. als etwas, das nicht eine Bestimmung von etwas anderem sein kann, sondern dem alle Bestimmungen zugeschrieben werden müssen. Ein solches „Etwas“ wird dann Substanz genannt usw. Eine solche apriorische Bestimmung ist nicht so sehr deshalb negativ,weil sie über die tatsächlich erscheinenden Gegenstände nichts in concreto aussagt, denn sie legt nur ihre allgemeinsten gegenständlichen Züge fest, sondern vor allem deshalb, weil eine solche Bestimmung keineswegs für diejenige Erkenntnis gehalten werden kann, die schon Erfahrung konstituieren würde. Mindestens in dieser Hinsicht entfernt sich Beck von Kant. Denn Kant ging davon aus, dass die Erscheinungen nicht nur nicht das letzte gegenständliche Korrelat unserer Vorstellungen, sondern selber vielmehr dasjenige sind, von dem ein letztes negativ zu denkendes gegenständliches Korrelat abgeleitet werden kann. Diese Ableitung führt Kant nun in der Tat in der Kritik der reinen Vernunft (A 108) mit folgender Überlegung durch: Von allen Vorstellungen gilt, dass sie wiederum Gegenstände anderer Vorstellungen werden können. Erscheinungen sind jedoch keine Dinge an sich, sondern eben nur Vorstellungen und können deshalb zum Gegenstand anderer Vorstellungen gemacht werden. Dies besagt, dass ihre interne Struktur durch ein auf sie gerichtetes transzendental zu nennenden Reflexionsverfahren explizit gemacht werden kann, wie Kant es zu Beginn der Amphiboliekapitel definiert.²² Wird nun dieses Reflexionsverfahren durchgeführt, so zeigt sich, dass den Erscheinungen irgendein gegenständliches Korrelat entsprechen muss; und es muss genauer gesagt dasjenige Korrelat sein, das in ihnen erscheint: Weil die Erscheinungen bloße Vorstellungen sind, muss noch etwas angenommen werden, das als in ihnen erscheinend vorgestellt wird. Dieses Kor-
21 Kant, AA XII, S. 167. 22 Kant, A 260/B 316.
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relat ist allerdings von einer eigentümlichen Art: Weil die Erscheinungen die einzigen Vorstellungen sind, die uns unmittelbar gegeben werden können, beziehen wir uns auf sie auf anschauliche Weise. Die Erscheinungen sind daher Gegenstände, die wir anschauen, zugleich aber auch die einzigen Gegenstände, die wir unmittelbar anschauen. Zwar sind auch geometrische Figuren Gegenstände der Anschauung. Sie sind uns jedoch nicht als solche gegeben, sondern müssen von uns als Gegenstände der Anschauung in geometrischen Konstruktionen hervorgebracht werden. Insofern sind sie nicht unmittelbar gegeben und werden auch nicht unmittelbar angeschaut. Daraus folgt nun, dass das gegenständliche Korrelat der Erscheinungen nicht mehr angeschaut, deshalb aber auch nicht erkannt und nur zusammenfassend als ein nicht-empirischer, d. h. transzendentaler Gegenstand = X bezeichnet werden kann. An einer wenig beachteten Stelle in der transzendentalen Ästhetik deutet Kant darauf hin, dass die interne Struktur der Erscheinung nicht nur bekanntermaßen aus der Materie der Empfindungen und der Form des Raums besteht, sondern darüber hinaus auch einen Bezug auf ein, wie Kant es nennt, „wahres Correlatum“ enthält, das als Ding an sich aufzufassen ist, weil es anhand der Erscheinungen selber gar nicht erkannt werden kann.²³ Es sind also Kant zufolge nicht Erscheinungen, sondern die in ihnen gedachten gegenständlichen Korrelate, die nur negativ durch die Anwendung der nicht-schematisierten Kategorien bestimmt, durch diese negative Bestimmung aber gar nicht erkannt werden können. Die Erscheinung ist dagegen genau dasjenige, das als ein unbestimmter Gegenstand einer empirischen Anschauung definiert ist²⁴ und daher erst durch die schematisierten Kategorien bestimmt werden kann. Die Erfahrung im Sinne einer empirischen Erkenntnis besteht dann in nichts anderem, als gerade in dem Bestimmen der ursprünglich in der Anschauung unbestimmten Gegenstände. Beck entfernt sich von Kant noch in einem anderen nicht weniger wesentlichen Punkt. Denn es ist zu fragen, wie Beck die Objektivität von Vorstellungen gewährleisten zu können meint, wenn er davon ausgeht, dass dasjenige, das uns affiziert, Erscheinungen sind, die nicht nur für Kant, sondern auch für Beck bloße Vorstellungen sind. Es ist klar, dass ihr Charakter, bloße Vorstellungen zu sein, der ihnen von Kant zugesprochen worden ist, auch bei Becks modifizierter Auffassung des Erscheinungsbegriffs erhalten bleibt. In dem Brief sagt Beck zu diesem Problem folgendes: „Ich bemerke das ursprüngliche Verstandesverfahren in der Categorie, wodurch gerade die synthetisch objektive Einheit, die das ausmacht,
23 Kant, A 30/B 45. 24 Kant, A 20/B 34.
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was Sinn und Bedeutung meines Begriffs heißt, erzeugt wird.“²⁵ Der Sinn und die Bedeutung von Begriffen wird also Beck zufolge durch das „ursprüngliche Verstandesverfahren in der Categorie“ sichergestellt. Es wurde bereits angedeutet, was damit gemeint ist. Wird von dem ursprünglichen Verfahren des Verstandes, das in der jeweiligen Kategorie verankert ist, abgesehen, können, so Beck, gegenständliche Korrelate von Vorstellungen nur negativ, d. h. rein formal durch die Anwendung von reinen nicht-schematisierten Kategorien gedacht werden. Mit dem „ursprünglichen Verstandesverfahren in der Categorie“ muss daher das Verfahren gemeint sein, in dem der in der Kategorie gedachte (transzendental) logische Inhalt auf das reine Mannigfaltige der zeitlichen Anschauungsform angewendet wird. Es ist dies also das Verfahren der Schematisierung dieses reinen kategorialen Inhalts.Wende ich etwa den in der Kategorie der Substanz gedachten Inhalt, der dasjenige ausmacht, das nicht als Bestimmung von etwas anderem, sondern als etwas gefasst werden muss, dem alle anderen Bestimmungen zukommen, auf das reine Mannigfaltige der zeitlichen Anschauungsform an, so bekomme ich eine Vorstellung von etwas, das eine Beharrlichkeit in der Zeit aufweist und dem daher Bestimmungen zugeschrieben werden können, die sich in der Zeit ändern, während es in der Zeit beharrt. Die Vorstellung, die ich durch dieses Verfahren bekomme, ist also die Vorstellung von etwas Beharrlichem in der Zeit, die von Kant als das Schema der Kategorie der Substanz qualifiziert wird.²⁶ Beck ist offensichtlich der Auffassung, dass Sinn und Bedeutung von reinen Verstandesbegriffen, d. h. Kategorien, durch dasjenige Verfahren nachgewiesen werden kann, das er das ursprüngliche Verstandesverfahren in der Kategorie nennt und zu dem er anhand seiner Interpretation des Kapitels „Von dem Schematismus der reinen Verstandesbegriffe“ der Kritik der reinen Vernunft gelangt. Aus seiner Interpretation geht allerdings hervor, dass er das, was er das ursprüngliche Verstandesverfahren in der Kategorie nennt, gerade nicht als das Schematisierungsverfahren, sondern als das Verfahren auffasst, kraft dessen die Vorstellungen, die ursprünglich subjektiven Charakter haben, einen objektiven, sachlichen Charakter gewinnen. Die Kategorien verfügen daher nach Beck über einen privilegierten Status der Autoverifikation. In dem bereits zitierten Brief an Kant vom 24. 6. 1797, in dem Beck sich gegen die von Pastor Schulz erhobenen Einwände verteidigt, erklärt Beck, was er meint, wenn er behauptet, „daß die Categorie Realität die Synthesis der Empfindung
25 Kant, AA XII, S. 163. 26 Kant, A 144/B 183.
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ist“.²⁷ Beck will Kant im Einzelnen vor Augen führen, dass er damit Fichtes These nicht vertreten möchte, „daß der Verstand das Ding macht.“²⁸ Deshalb schreibt er: Wenn ich nun allerdings sage, daß die Categorie Realität die Synthesis der Empfindung ist, die vom Ganzen zu den Theilen (durch Remission) geht, so kann doch vernünftigerweise meine Meynung keine andere seyn, als daß die Sachheit eines Dinges (das Reale der Erscheinung die mich afficirt, und diese Empfindung in mir hervorbringt) allemahl eine Grösse (intensive) ist, daß eben daher eine absolute Sachheit […] nichts bedeutet. Dieses ursprüngliche Verstandesverfahren in der Categorie Realität, fällt mit dem in den Categorien der Existenz zusammen, vermöge dessen ich eben aus mir selbst herausgehe, und sage: hier ist ein Ding das mich afficirt.²⁹
Becks These besagt, dass erst durch das ursprüngliche Verfahren des Verstandes, etwa in der Kategorie der Realität, d. h. anhand der schematisierten Kategorie der Qualität, kraft deren Kant zufolge nur Erscheinungen als bestimmte intensive (kontinuierlich wachsende) Größen gefasst werden können – oder anders gesagt: kraft deren die unbestimmten Gegenstände einer empirischen Anschauung qualitativ bestimmt werden können –, irgendein Ding als etwas Sachhaltiges aufgefasst wird, weil ihm erst durch das kategoriale Verfahren Sachheit zugeschrieben wird. Dieser eigentümliche Ausdruck der Sachheit eines Dinges kann offensichtlich nichts anderes bedeuten, als dass erst anhand der schematisierten Kategorie der Qualität ein in der Form der Empfindung auftretendes Ding, Erscheinung, als ein Gegenstand, und d. h. überhaupt als etwas aufgefasst werden kann. Wie soeben angedeutet, geht diese These Becks über Kants Theorie der Bestimmung der Erscheinungen anhand der Kategorie der Qualität weit hinaus. Beck kommt daher zu dem Schluss, dass erst kraft des ursprünglichen Verstandesverfahrens in der Kategorie der Realität begründeter Weise gesagt werden kann, dass außer mir ein Ding vorkommt, das mich affiziert. Deshalb kann Beck die Kategorien der Qualität neu als die in der kantischen Kategorientafel nicht vorkommenden Kategorien der Existenz interpretieren: Die Qualitätskategorien haben gemäß Becks Auffassung nicht nur die transzendental zu nennende Funktion, die ihnen von Kant zuerkannt worden ist, und zwar die qualitative Bestimmung der Erscheinungen möglich zu machen. Sie haben vielmehr die Funktion, die Existenzaussagen über das Vorkommen der extramentalen Gegenstände zu begründen. Erst dann, so lässt sich jetzt diese These Becks formulieren, wenn die Kategorien der Existenz auf Erscheinungen angewandt werden, kann ein eigener,
27 Kant, AA XII, S. 173. 28 Ebd., S. 174. 29 Ebd., S. 173. Hvh. v Vf.
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die Subjektivität transzendierender Akt ausgeführt werden, kraft welchem gesagt werden kann: „Hier ist ein Ding, das mich affiziert.“ Dies ist eine notwendige Implikation von Becks Affektionstheorie, der zufolge wir nicht von Dingen an sich, sondern von Erscheinungen affiziert werden. Mit seiner Theorie deutet also Beck folgende Reihe von erkenntnistheoretischen Akten an: Wir werden zunächst von Erscheinungen affiziert, auf die wir dann Qualitätskategorien in ihren Existenzaussagen stiftenden Funktionen anwenden. Das Ergebnis dieses Anwendungsaktes stellt die Existenzaussage über das Vorkommen eines uns nicht affizierenden Dinges dar. Und schließlich wird erst anhand dieser Aussage die Sachheit der uns affizierenden Dinge, d. h. Erscheinungen, konstituiert, weil erst anhand der genannten epistemischen Akte die Erscheinungen zu etwas werden. Ohne diese Akte wären sie also nicht nur keine unbestimmten Gegenstände einer empirischen Anschauung, sondern vielmehr gar keine Gegenstände. Denn ein Gegenstand ist unserer intuitiven Auffassung nach etwas, bei dem davon ausgegangen wird, dass es auch unabhängig von dem Subjekt existiert, das es zu konstatieren in der Lage ist. Da nach Beck die uns affizierenden Erscheinungen nicht Dinge an sich, sondern Vorstellungen sind, Beck aber den Erscheinungen sowohl zuschreiben möchte, ein affizierendes Ding als auch eine bloße Vorstellung zu sein, nimmt er an, dass durch einen epistemischen Akt die Erscheinungen als unabhängig und außerhalb von uns bestimmt werden. Durch diesen Akt kommt somit die Sachheit, d. h. ihr gegenständlicher Charakter allererst zustande. Aus diesem Grund kann Beck erklären, ein Begriff habe erst dann Sinn und Bedeutung, wenn er dem ursprünglichen Verstandesverfahren unterworfen wird. Daraus ergibt sich jedoch zumindest mit Bezug auf die Qualitätskategorien eine eigenartige Theorielage: Weil die Qualitätskategorien Beck zufolge als Existenzkategorien zu interpretieren sind, gewinnen sie Sinn und Bedeutung genau dann, wenn sie einem in ihnen selbst angelegten Verifikationsverfahren unterworfen sind, da sie in diesem Fall auf etwas angewendet werden, das zwar einen sachhaltigen Charakter hat, diesen jedoch erst gerade durch die Anwendung der Qualitätskategorien gewinnt. Indem Beck aber dieses Verifikationsverfahren nicht an die durch die Qualitätskategorien zustande kommende Sachheit von Erscheinungen – was er eigentlich hätte tun müssen –, sondern an die in allen Kategorien festzustellende synthetische Einheit bindet, ist allgemein zu sagen, dass die Kategorien genau dann Sinn und Bedeutung haben, wenn die in ihnen angelegte „synthetisch objektive Einheit“ entwickelt wird. Beck meint freilich, mit seiner Theorie nur auf seine Weise Kants These zu interpretieren, dass Kategorien mit Sinn und Bedeutung nur auf Anschauungen angewendet werden können, und damit Kants Unterscheidung der Erkenntnisvermögen von Verstand und Sinnlichkeit einen neuen Sinn zu verleihen.
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Kant könnte dem keineswegs zustimmen. Kant meint, der Sinn und die Bedeutung von Begriffen werde erst dann unter Beweis gestellt, wenn gezeigt ist, dass sie sich auf etwas beziehen, das von ihnen genetisch unabhängig ist und bei dem daher gar keine subjektiven Akte erforderlich sind, damit gesagt werden kann, dass es als etwas Sachhaltiges gegeben ist. Kant zufolge kann nur unsere sinnliche und empirische Anschauung unseren reinen Begriffen Sinn und Bedeutung verschaffen. Diese Feststellung, zu der Kant in § 23 der Transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe kommt,³⁰ – nachdem er in § 22 ein Argument entwickelt hat,³¹ das seiner Meinung nach zeigt, dass Kategorien keine epistemisch relevante Anwendung haben, wenn sie nicht mit Bezug auf die Gegenstände einer möglichen Erfahrung, d. h. mit Bezug auf die uns in unserer Sinnlichkeit gegebenen Gegenstände erfolgt –, stellt eine bedeutende Einsicht innerhalb des Nachweises der objektiven Gültigkeit der Kategorien dar. Kant meint damit Folgendes: Zwar reicht zum Nachweis der objektiven Gültigkeit und der objektiven Realität der Kategorien ihre transzendentale Deduktion und dasjenige an sie anschließende Schematisierungsverfahren aus, das in der Anwendung auf das reine Mannigfaltige der zeitlichen Anschauungsform besteht. Damit wird jedoch bloß ein apriorischer Rahmen geschaffen, durch den nur sichergestellt ist, dass Kategorien auf die unbestimmten Gegenstände einer empirischen Anschauung angewendet werden können –nachdem zuvor in der Deduktion gezeigt worden ist, dass sie auf diese Gegenstände genau dann angewendet werden müssen, wenn die Erfahrung zustande kommen soll. Für ihre tatsächliche Anwendung muss allerdings eine sachhaltige Entität in Raum und Zeit gegeben sein, deren Sachheit, d. h. Wirklichkeit, durch ihre Irreduzierbarkeit auf alle möglichen bloß subjektiven Akte garantiert ist.³² Kants theoretische Überzeugung bestand darin, dass die Transzendentalphilosophie über das Vorkommen einer solchen Entität nichts zu entscheiden hat. Becks Interpretation von Kants Verfahren im Kapitel „Vom Schematismus der reinen Verstandesbegriffe“, die aus seiner Affektionstheorie folgt, zwingt ihn daher, mit Kant über Kant hinauszugehen. Und ohne es zunächst zu ahnen und später wahr haben zu wollen, nähert er sich auf diese Weise Fichte an. Dies soll in Abschnitt 4. anhand der Analyse eines Textes von Fichte gezeigt werden. Gegen Becks Lösung des Jacobischen Dilemmas kann allerdings eingewendet werden, dass sie es in Wahrheit gar nicht löst, sondern vielmehr vor sich wegschiebt, da das, was in Kants Interpretation den Dingen an sich zugesprochen wird, von Beck 30 Kant, B 149. 31 Kant, B 146 – 148. 32 Diese Interpretation impliziert keineswegs, dass die synthetischen Sätze a priori nur als nicht-reine synthetische Sätze möglich sind.
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dem zugeschrieben wird, was er Erscheinung nennt, die damit a limine ein „kleines“ Ding an sich wird. So wie Maimons Lösung nicht überzeugt, kann somit auch Becks Ansatz als keine wirkliche Lösung des Affektionsproblems gelten. Jacobis Dilemma musste daher für Kants unmittelbare Nachfolger auch weiterhin eine Herausforderung darstellen, auf die jedoch nur um den Preis geantwortet werden konnte, dass man sich noch mehr von Kant in Richtung zu Fichte entfernte. Der folgende Abschnitt zeigt, dass zwischen Kant und Fichte ein Lösungsansatz des Jacobischen Dilemmas entwickelt wurde, der, obwohl er auf den ersten Blick den Eindruck vermittelt, Kants theoretischer Philosophie treu zu bleiben, tatsächlich noch weiter von Kant sich entfernt als dies bei Beck der Fall war, da dieser Ansatz auch über die von Beck entwickelte Position hinausgeht und sich Fichte noch mehr annähert. Dieser Lösungsansatz ist von Becks Freund Johann Heinrich Tieftrunk in einem Brief an Kant ansatzweise entwickelt worden.
3 Tieftrunks Theorie eines affektiven Selbstbezugs des Gemüts Während Beck das dilemmatische Verhältnis von Dingen an sich und Erscheinungen mit Hilfe des Nachweises zu lösen sucht, dass wir nicht von Dingen an sich, sondern von Erscheinungen affiziert werden, versucht Tieftrunk, es anhand der Entwicklung einer bestimmten Implikation von Kants theoretischer Philosophie zu lösen. Diese Implikation ergibt sich, wenn man Kants Lehre von der Selbstaffektion bei der Interpretation seiner Lehre von der Sinnlichkeit in Anschlag bringt. Den Ausgangspunkt der Untersuchung des Affektionsproblems bildet für Tieftrunk, genauso wie für Beck, die Interpretation der Qualitätskategorien. Das ist prima facie sinnvoll, denn Kant selbst legt diese Kategorien als die begriffliche Auffassung der apriorischen Verfassung dessen aus, was das Empirische und Kant zufolge daher die Realität unserer Erfahrung ausmacht.³³ Der Index dieser Realität ist die Empfindung und wenn Kant bei der Formulierung des Grundsatzes der Antizipation der Wahrnehmung, der von den Qualitätskategorien abgeleitet wird, sagt: „In allen Erscheinungen hat das Reale, was ein Gegenstand der Empfindung ist, intensive Größe, d.i. einen Grad,“³⁴ so meint er nichts anderes, als dass alle Erscheinungen, sofern sie real sein sollen – oder anders gesagt, dass alle Gegenstände, sofern sie Erscheinungen sein sollen –, eine Empfindungsqualität
33 Vgl. Kants Beweis im Kapitel „Antizipationen der Wahrnehmung“ (A 166–A 176/B 207–B218). 34 Kant, A 166/B 207.
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aufweisen müssen, die kontinuierlich verkleinert bzw. vergrößert werden kann. Damit Erscheinungen mit dem Index der Realität versehen werden können, reicht es also nicht aus, dass sie eine extensive Größe haben. Dies ist bereits dadurch gewährleistet, dass sie Gegenstände der Anschauung sind und damit all diejenigen Eigenschaften a priori übernehmen, die die reinen Formen der Anschauung als solche auszeichnen. Sie müssen vielmehr intensive Größen sein. Alle Erscheinungen sind res extensae. Diese Eigenschaft, die ihnen allgemein und notwendig allein kraft dessen zukommt, dass sie Gegenstände der Anschauung sind, wird von Kant im Grundsatz der Axiome der Anschauung folgendermaßen formuliert: „Die Erscheinungen sind insgesamt Größen, und zwar extensive Größen, weil sie als Anschauungen im Raum oder der Zeit durch dieselbe Synthesis vorgestellt werden müssen, als wodurch Raum und Zeit überhaupt bestimmt werden.“³⁵ Real sind sie allerdings erst dann, wenn sie sich in der Form der Empfindung präsentieren. Die Empfindung ist daher ein Garant von realitas phaenomenon, oder mit Beck gesagt, ein Garant der Sachheit von Erscheinungen. Antizipiert, d. h. a priori bestimmt werden kann jedoch nur ein Aspekt der Empfindungen, der in der Eigenschaft besteht, einen positiv zu bestimmenden Grad zu haben. Ihr reales Vorkommen in Raum und Zeit kann allerdings keineswegs antizipiert werden.³⁶ Bereits Becks Interpretation der Qualitätskategorien ist weit über diese Auffassung hinausgegangen, und zwar nicht so sehr dort, wo er sie als Existenzkategorien aufgefasst und in ihnen den Garanten der Sachheit eines Dinges erkannt hatte, denn diese beiden Thesen könnte man mit einer gewissen Einschränkung mit Kants Theorie noch vereinbaren, sondern eher dort, wo er sie als etwas interpretierte, das uns ermöglicht, aus dem begrenzten Bereich unseres Bewusstseins hinauszugehen und in der Form einer Existenzaussage feststellen zu können: „Hier ist ein Objekt, das mich affiziert.“ Über Kants Auffassung der epistemischen Funktion der Qualitätskategorien geht auch Tieftrunks Interpretation hinaus. Im Brief an Kant vom 5. 11. 1797 ³⁷ profiliert Tieftrunk seine Interpretation zunächst gegenüber derjenigen von Fichte auf der einen und gegenüber derjenigen von Beck auf der anderen Seite. Tieftrunk stellt zunächst ganz allgemein fest, dass die Qualitätskategorien dem Interpreten größte Schwierigkeiten bereiten, weil es gerade bei ihnen nicht ganz leicht sei, dasjenige, das in ihnen rein ist, von dem eindeutig zu unterscheiden, was in ihnen empirischer Herkunft ist.³⁸ Damit meint Tieftrunk keineswegs, dass etwas Empi35 36 37 38
Kant, A 162/B 203. Vgl. insb. A 176/B 218. Kant, AA XII, S. 210 – 217. Ebd., S. 211.
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risches einen inhaltlichen Bestandteil der Qualitätskategorien ausmacht, denn als treuer Schüler Kants ist ihm bekannt, dass Kant alles Empirische aus den Kategorieninhalten ausgeschlossen wissen wollte. Es muss vielmehr gemeint sein, dass es komplizierter als bei anderen Kategorien ist, auszumachen, was rein an dem ist, das durch die Qualitätskategorien a priori aufgefasst werden soll, nämlich an der Empfindung selbst, und es von dem zu unterscheiden, was an ihr empirisch ist. Fichtes Fehler besteht Tieftrunk zufolge in der Auffassung, die Empfindungen qua tales a priori deduzieren zu wollen, während Beck den umgekehrten Fehler begeht, indem er meint, die Empfindung sei etwas bloß Empirisches.³⁹ Tieftrunk versucht daher einen mittleren Weg zwischen diesen seiner Meinung nach extremen Positionen einzuschlagen. Bei diesem Versuch geht er davon aus, dass die Empfindung eine subjektive und eine objektive Seite aufweist. Die subjektive Seite gehört zur Sinnlichkeit und macht daher dasjenige aus, was an der Empfindung empirisch ist. Die objektive Seite der Empfindung wird dagegen von dem konstituiert, das rein ist und daher zum Verstand, oder, wie Tieftrunk feststellt, zur Apperzeption gehört.⁴⁰ Es ist bereits dargelegt worden, dass es Kant zufolge etwas gibt, was an den Empfindungen und damit zugleich an den Wahrnehmungen antizipiert, d. h. a priori bestimmt werden kann. Dies ist nach Kant die a priori feststellbare Tatsache, dass alle Empfindungen Vorstellungen sind, die einen kontinuierlich bestimmbaren Grad an sinnlicher Wirkung aufweisen, z. B. die Empfindung der roten Farbe, eines Tones, der Wärme usw. Von allen Empfindungen und folglich auch von allen Wahrnehmungen kann daher a priori gesagt werden, dass sie im Augenblick ihres realen Auftretens intensive Größen sind. Die Abwesenheit der Empfindung wird dann als ein leerer Raum und eine leere Zeit, d. h. als die Negation ihres Inhalts gefasst. Die bestimmte Größe dieses Inhalts stellt schließlich der Zusammenhang von zwei Momenten dar, indem in ein gegebenes Empfindungskontinuum eine Grenze gesetzt und es damit als so und so limitiert, d. h. groß, vorgestellt wird. Dies sind Kant zufolge Bestimmungen einer Empfindungsvorstellung, die an dieser Vorstellung a priori anhand der Klasse der Qualitätskategorien festgelegt werden können und deren Inhalt daher von den Momenten der Realität, der Negation und der Limitation bestimmt wird. Es könnte prima facie den Anschein erwecken, Tieftrunk stimme mit Kants Auffassung überein, wenn er in dem zitierten Brief feststellt: „Die Function des
39 Ebd. 40 Ebd.
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Selbstbewußtseins unter dem Titel der Qualität besteht im Setzen.“⁴¹ Diese Aussage Tieftrunks könnte nämlich so verstanden werden, dass die Kategorie der Qualität als apperzeptive Funktion des Verstandes, d. h. als die Funktion des Selbstbewusstseins, dasjenige, das an den Empfindungen rein, d. h. a priori bestimmbar ist, a priori festsetzt. Ihr erstes Moment ist der Begriff der Realität, kraft dessen der Verstand etwas als etwas Reales setzen kann. Etwas, das auf diese Weise gesetzt werden kann, ist die Vorstellung, deren Inhalt in der Form der Empfindungsqualität gegeben ist. Genau diesen Umstand, dass die Empfindungsqualität in der Vorstellung vorkommt, nimmt der Verstand als einen Leitfaden beim Setzen von etwas als etwas Realem. Anders gesagt, der Verstand kann als etwas Reales nur das gegenständliche Korrelat derjenigen Vorstellung setzen, deren Inhalt die Empfindungsqualität ausmacht. Dies lässt sich als eine Regel festlegen,welche die epistemische Funktion der Qualitätskategorien zum Ausdruck bringt. Diese Regel besagt, dass das gegenständliche Korrelat einer Vorstellung genau dann (aber auch nur dann) als etwas Reales angesehen werden kann, wenn der Inhalt dieser Vorstellung in der Form der Empfindung auftritt. Der Akt des Setzens, den der Verstand unter dem „Titel der Qualität“ ausführt, ist nun Tieftrunk zufolge genau dann bestimmt, wenn er eine Einheit von Setzen und Nicht-Setzen, d. h. wenn er eine Gradesbestimmung darstellt.⁴² In Kants Terminologie gesagt: Eine intensive Größe ist nur limitiert, d. h. als Einheit von Realität und Negation möglich. Noch in einer anderen Hinsicht als mit Bezug auf die Auslegung der Qualitätskategorien könnte jedoch eine Übereinstimmung Tieftrunks mit Kant festgestellt werden. Denn es kann gezeigt werden, dass Kant die Kategorien in der Tat als Funktionen des Selbstbewusstseins, nämlich als Bedingungen seiner Möglichkeit verstanden wissen wollte, und zwar anhand einer Überlegung, deren Grundstruktur folgendermaßen zusammengefasst werden kann: Selbstbewusstsein ist die synthetische Einheit eines Mannigfaltigen und erfordert daher die Ausführung von synthetisierenden Akten, die jedoch ihrerseits Funktionen voraussetzen, welche ihnen einen einheitlichen Charakter verleihen. Diese Funktionen als Synthesisregeln sind die Kategorien. Die Kategorien sind insofern die Funktionen des Selbstbewusstseins.⁴³ Der Punkt, an dem Kant Tieftrunks Interpretation nicht mehr hätte folgen können, ist jedoch spätestens dann erkennbar, wenn man das Ergebnis in Betracht nimmt, zu dem Tieftrunk infolge seiner Interpretation der Qualitätskategorien kommt. Das Ergebnis seiner Interpretation fasst Tieftrunk folgendermaßen zu-
41 Ebd. Hvh. v. Vf. 42 Ebd., S. 212. 43 Vgl. Kant, A 116 – 119; B 133 – 134.
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sammen: „Alles Dasein beruht nun auch auf diesem ursprünglichen Setzen und das Dasein ist eigentlich nichts anderes, als ein Gesetztsein; ohne den ursprünglichen und reinen Actus der Spontaneität (der Apperception) ist oder existirt nichts.“⁴⁴ Die Reduktion der Existenz auf ein Produkt eines apperzeptiven Aktes ist eine Folge von Tieftrunks Interpretation der Qualitätskategorien. Dem zitierten Satz zufolge ist dasjenige, das die Apperzeption in die Empfindungen hinein transportiert, ihr Dasein, d. h. ihre Existenz selbst, weil das Mannigfaltige der Sinnlichkeit erst durch den Bezug zur Apperzeption zu etwas Gesetztem und damit Tieftrunk zufolge zu etwas wird, dem die Existenz zukommt. Diese Interpretation der apperzeptiven und zugleich existenzhervorbringenden Funktion, insbesondere des ersten Moments der Qualitätskategorien, der Kategorie der Realität, geht eindeutig über Kants Konzeption seiner epistemischen Funktion hinaus. Der Akt des Setzens von etwas als etwas Realem – den der Verstand Kant zufolge anhand des Begriffs der Realität, der das erste Moment der Qualitätskategorien darstellt –, ist nach Kant keineswegs als ein ontologischer Akt zu deuten, kraft dessen etwas existiert. Er ist als ein erkenntnistheoretischer Akt zu verstehen, kraft dessen Aussagen über das Vorkommen einer Gegebenheit gefällt werden können. Anders als Tieftrunk hat sich Beck bei seiner Interpretation des ersten Moments der Qualitätskategorien, der Kategorie der Realität, darauf beschränkt, den in ihr realisierten Akt des Verstandes als den Garanten der Sachheit von Erscheinungen zu deuten, (was mit einer Einschränkung mit Kants Konzeption hätte vereinbart werden können). Nun hätte freilich auch Tieftrunk seine Interpretation einschränken und sich damit begnügen können, darauf aufmerksam zu machen, dass durch den apperzeptiven Akt „unter dem Titel der Qualität“ ein bereits gegebenes und daher auch existierendes Mannigfaltiges nur auf eine bestimmte Weise für dasjenige Subjekt zu etwas wird, dem es in seiner Sinnlichkeit gegeben ist (vgl. § 16 der Kritik der reinen Vernunft).⁴⁵ Damit wäre dieser Akt „nur“ als ein Aussageakt vom Vorkommen eben dieses Mannigfaltigen interpretiert worden. In diesem Fall könnte man Tieftrunks These, das Dasein sei eigentlich nichts anderes als ein durch eine Funktion des Selbstbewusstseins unter dem Titel der Qualität realisiertes Gesetztsein, so verstehen, dass einem gegebenen Mannigfaltigen durch den apperzeptiven Akt nur eine neue Eigenschaft zukommt, nämlich für das Subjekt zu sein, dem es in seiner Sinnlichkeit gegeben ist. Diese Einschränkung hat Tieftrunk jedoch gerade nicht vorgenommen oder zumindest im Brief nicht angedeutet. Seine These ist somit radikaler zu deuten, und zwar als die Behauptung, dass es das Mannigfaltige ohne den apperzeptiven
44 Kant, AA XII, 212. Hvh. v. Vf. 45 Kantm, B 132.
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Akt eines ursprünglichen Setzens, den die Apperzeption „unter dem Titel der Qualität“ ausführt, gar nicht gibt. Daher kann erst ein Mannigfaltiges der Sinnlichkeit, auf das insbesondere das erste Moment der Kategorien der Qualität, die Kategorie der Realität, angewendet worden ist, – das damit überhaupt erst ein existierendes Mannigfaltiges geworden ist, d. h. ein Mannigfaltiges, das da ist –, zu einem Gegenstand der weiteren kategorialen Bestimmung gemacht werden, d. h. als Substanz bzw. Akzidenz, Ursache bzw. Wirkung, usw. bestimmt werden: „Durch Beziehung der Gradesbestimmung in der Apperception auf das Mannigfaltige des Sinnes wird dieses ein Gesetztes, ein Daseindes; das nun fernerhin den Principien der Apperception unter dem Titel der Relation anheim fällt.“⁴⁶ Damit zeichnet sich eine weitere nicht minder wichtige Differenz gegenüber Kant ab, welche mit der Auslegung der Qualitätskategorien mit Bezug auf die Möglichkeit des Selbstbewusstseins implizit vorliegt. Denn der Akt, den der Verstand „unter dem Titel der Qualität“ mit Bezug auf das Mannigfaltige der Sinnlichkeit ausführt, ist Tieftrunk zufolge der grundlegendste Akt des Selbstbewusstseins. Dies wird bereits durch folgendes Zitat angedeutet: „Die Funktion des Selbstbewußtseins unter dem Titel der Qualität besteht im Setzen. Der Actus des Setzens ist Bedingung a priori der Apperception, mithin Bedingung der Möglichkeit alles empirischen Bewußtseins.“⁴⁷ Anhand dieses Zitats kann man folgende Schlussfolgerung ziehen: Besteht die apperzeptive Funktion der Qualitätskategorien im Akt des Setzens, ist dieser Akt jedoch die apriorische Bedingung der Möglichkeit von Selbstbewusstsein, so müssen die Qualitätskategorien als Bedingungen des Selbstbewusstseins aufgefasst werden. Dies besagt, dass die Apperzeption, d. h. Selbstbewusstsein, nur dann möglich ist, wenn der Akt des Setzens durchgeführt wird; und das bedeutet: Selbstbewusstsein ist genau dann möglich, wenn auf das Mannigfaltige der Sinnlichkeit die Qualitätskategorien angewendet werden. Dass die Qualitätskategorien aber auch die ausschließlichen Bedingungen des Selbstbewusstseins sind – oder zumindest solche Bedingungen sind, denen innerhalb der Kategorientafel ein privilegierter Status zuzuerkennen ist –, folgt nicht nur daraus, dass dem Text zufolge nur ihnen die selbstbewusstseinstheoretische Funktion des Setzens vorbehalten ist, sondern zudem unmittelbar aus ihrer erkenntnistheoretischen Funktion, die Bedingungen für die Anwendung der Relationskategorien anzugeben. Diese Funktion bedeutet, dass ein Element des Mannigfaltigen der Sinnlichkeit erst dann etwa als Substanz bzw. als Akzidenz aufgefasst werden kann, wenn auf es die Qualitätskategorien bereits angewendet worden sind. Das heißt: Die Relationskategorien sind zwar als gegenständliche
46 Kant, AA XII, S. 213. Hvh. v. J.H.T. 47 Ebd., S. 211.
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Grundbestimmungen zu interpretieren, jedoch gerade nicht als Bedingungen des Selbstbewusstseins, denn das Selbstbewusstsein ist bereits durch den Akt der Anwendung von Qualitätskategorien auf das Mannigfaltige der Sinnlichkeit zustande gekommen und bedarf daher keiner weiteren kategorialen Akte, denen bloß eine gegenstandbestimmende Funktion zukommt. Den Qualitätskategorien muss daher die Eigenschaft zugesprochen werden, eine ursprünglichere Leistung des Subjekts zu sein als es bei den übrigen Kategorien der Fall ist, weil nur sie und keine anderen Kategorien über eine das Selbstbewusstsein des Subjekts konstitutive Funktion verfügen. Diese Interpretation lässt sich keineswegs mit Kants Konzeption vereinbaren. Anderenfalls könnte eine transzendentale Rechtfertigung des Gebrauchs von Kategorien, ihre transzendentale Deduktion, nur für die Qualitätskategorien durchgeführt werden. Die Durchführbarkeit der Deduktion wird jedoch zumindest in ihrem ersten Schritt von Kant eindeutig an die selbstbewusstseinstheoretische Funktion von allen Kategorien gebunden; diesem Aspekt des Beweisverfahrens kann Tieftrunk mit seiner Interpretation gerade nicht Rechnung tragen.⁴⁸ Wichtigere Schlussfolgerungen sind allerdings aus der ersten Differenz zu ziehen, die Tieftrunk von Kant unterscheidet. Diese Differenz ergibt sich mit Blick auf Tieftrunks Interpretation der Qualitätskategorien in ihrem Verhältnis zum Mannigfaltigen. Das Ergebnis des apperzeptiven Aktes des Verstandes „unter dem Titel der Qualität“ stellt Kant zufolge bloß die Einsicht dar, dass empirische Vorstellungen, die ihrerseits für die Erfahrung konstitutiv sind, stets von einem gewissen Grad an sinnlicher Wirkung begleitet sein müssen, um überhaupt als empirische bezeichnet werden zu können. „Alles übrige“ muss Kant zufolge der Erfahrung selbst überlassen bleiben,⁴⁹ und d. h. über all dasjenige, das die Grenzen dieser Einsicht überschreitet, hat die transzendentalphilosophische Reflexion gar keine Urteile zu treffen. Womöglich vermochte Kants Schüler diese „minimalistische“ Antwort nicht zu befriedigen. Sie stellte eine Herausforderung für ihre hermeneutischen Fähigkeiten und Kompetenzen dar, wie dies offensichtlich bei Beck und Tieftrunk der Fall gewesen ist. Wie bereits gesagt, wollte Tieftrunk mit seiner Interpretation der Qualitätskategorien zu Recht die Frage beantwortet wissen, was dasjenige ist, das an den Empfindungen a priori bestimmt werden kann und damit als das Objektive der Empfindungen zu verstehen ist. Seine Antwort auf diese Frage lautet, wie gesagt, dass der apperzeptive Akt, den der Verstand „unter dem Titel der Qualität“ mit
48 Das folgt aus Kants Verfahren in den §§ 16 – 19. Dies kann hier aus räumlichen Gründen im Einzelnen nicht dargelegt werden. Vgl. Henrich, 1973. 49 Kant, A 176/B 218.
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Bezug auf Empfindungen vollzieht, nicht nur ein Akt der Objektivierung von ursprünglich bloß subjektiven Vorstellungen ist – wie er von Kant interpretiert wird –, sondern vielmehr als ein Akt zu verstehen ist, der die Bedingung der Existenz als solcher angibt, so dass die Existenz nichts anderes als ein Gesetztsein ist. Diese Antwort hat Auswirkungen auf die Beantwortung einer weiteren Frage, und zwar der Frage, was an den Empfindungen rein subjektiv ist. Anders gesagt: Die Auffassung, der zufolge die Existenz nichts anderes als ein Ergebnis eines apperzeptiven Aktes ist und daher auf einen solchen Akt reduziert werden kann, hat systematische Auswirkungen auf die Interpretation der Sinnlichkeit. Tieftrunks Interpretation der Sinnlichkeit hat wiederum einen entscheidenden Einfluss auf seine Interpretation der Affektion und seine Lösung des Jacobischen Dilemmas. Nachdem soeben Tieftrunks Antwort auf die Frage nach der Funktion der Qualitätskategorien mit Bezug auf das Empfindungsmannigfaltige vorgestellt worden ist, wird es nicht überraschend sein, dass Tieftrunk die Beantwortung der Frage, was denn an einer Empfindung der Beitrag von Seiten der Sinnlichkeit ist, gewisse Schwierigkeiten bereitet, die dadurch zum Ausdruck gebracht werden, dass von Tieftrunk eine eindeutige Antwort auf diese Frage in dem Brief immer wieder verschoben wird. So stellt Tieftrunk zunächst fest, dass zu dem Akt der Apperzeption etwas hinzukommen müsse, damit Empfindung möglich wird. Dieses etwas sei das Mannigfaltige der Sinnlichkeit.⁵⁰ Danach fragt er, woher dieses Mannigfaltige komme, und antwortet mit einer nichtssagenden Aussage, und zwar es komme von der Sinnlichkeit her, um jedoch sofort weiter zu fragen, wo die Sinnlichkeit das Mannigfaltige hernehme. Tieftrunks Antwort auf diese mit Bezug auf das Jacobische Dilemma entscheidende Frage fällt prima facie nicht weniger verlegen aus: Das Mannigfaltige der Sinnlichkeit sei das Ergebnis der Affektion.⁵¹ Es ist zu fragen, welche Art von Affektion Tieftrunk meinen muss, wenn er die These vertritt, die Existenz sei nichts anderes als ein Gesetztsein. Tieftrunk geht von einer heuristischen Maxime aus, die Kants transzendentalphilosophische Fragestellung radikalisiert. Diese Maxime besagt, dass die Analyse des Wesens und der Bedingungen der Erkenntnis in einem immanent zu führenden Nachweis ihrer Momente besteht, der sich also auf keine, sei es angeblichen oder auch tatsächlich transzendenten Tatsachen berufen darf. Anders gesagt: Eine Analyse der Erkenntnis hat nichts außerhalb der Erkenntnis selber zu suchen.⁵² Die zweite These, von der Tieftrunk ausgeht, ist erkenntnistheoretischer, zugleich aber auch ontologischer Art und besagt, dass es zwei Grundquellen der
50 Kant, AA XII, S. 212. 51 Ebd., S. 214 f. 52 Ebd., S. 214.
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Erkenntnis gibt, welche Fähigkeiten ein und desselben Gemüts sind. Und gerade weil sie Fähigkeiten eines Gemüts sind, stehen sie im Verhältnis einer wechselseitigen Entsprechung zueinander.⁵³ Anhand dieser zwei Thesen kann Tieftrunk eine Interpretation der Affektion entwickeln, deren wesentliche Überlegung folgendermaßen lautet: Wenn ich sage: Das Gemüth wird afficirt, so subsumiere das Sein, (das Gesetztseyn) gewisser Vorstellungen unter die Kategorie Kausalität und sage ein Verhältnis des Gemüths zu sich selbst aus (Receptivität) welches verschieden ist von einem anderen Verhältnisse des Gemüths zu sich selbst (worin es als Spontaneität gedacht wird). Frage ich weiter: was afficirt das Gemüth? so sage ich: es afficirt sich selbst, indem es sich Receptivität und Spontaneität zugleich ist.⁵⁴
Im Jahre 1797 wird Kant vermutlich nicht mehr in der Lage gewesen sein, denjenigen Überlegungen seiner Schüler eine angemessene Aufmerksamkeit zu widmen, die sie ihm in ihren Briefen vorlegten. Anderenfalls müsste Kants Reaktion zumindest auf diese Ausführungen von Tieftrunk erhalten geblieben sein. Worum geht es? Tieftrunk versucht, der Rede von der Affektion des Gemüts Sinn zu verleihen. Was sage ich eigentlich aus, fragt Tieftrunk, wenn ich behaupte, irgendetwas affiziere mein Gemüt? Tieftrunk zufolge sage ich nichts anderes, als dass auf diejenigen Vorstellungen, denen zuvor durch die Anwendung der Qualitätskategorien Existenz zugeschrieben worden ist, indem sie, wie Tieftrunk es ausdrückt, durch den Akt des Verstandes „unter dem Titel der Qualität“ gesetzt worden sind, die Kategorie der Kausalität angewendet wird. Diese Anwendung fasst Tieftrunk jedoch gerade nicht so auf, dass durch sie nur gewisse Vorstellungen als Ursachen von anderen Vorstellungen, d. h. diese Vorstellungen als ein objektives Ereignis aufgefasst werden. Durch sie wird vielmehr ein Selbstbezug des Gemüts im Modus der Rezeptivität ausgesagt. Wie ist das zu verstehen? Die Bedeutung von Tieftrunks Aussage, ich „subsumiere das Sein, (Gesetztseyn) gewisser Vorstellungen unter die Kategorie Kausalität,“ kann sinnvollerweise nur so interpretiert werden, dass gewisse Vorstellungen als Ursachen aufgefasst werden und das Gemüt als dasjenige angesehen wird, was der Wirkung dieser Ursachen zugrunde liegt. Nur in diesem Fall kann diese Aussage mit einer anderen Aussage in Verbindung gebracht werden, der zufolge es durch den Akt der Subsumption zum Selbstbezug des Gemüts im Modus der Rezeptivität kommt. Um zu erkennen, dass es sich so verhält, genügt es sodann, zu beachten, dass auch diejenigen Vorstellungen, die durch den Akt ihrer Subsumption unter die Kate-
53 Ebd., S. 214 f. 54 Ebd., S. 215. Hvh. v. Vf.
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gorie der Kausalität als Ursachen aufgefasst worden sind, bloße Modifikationen des Gemüts sind. Auf die Frage, was denn das Gemüt affiziere, kann dann eine eindeutige Antwort gegeben werden, und zwar es affiziere sich selbst. Das von Tieftrunk hierzu angebotene Argument, dies sei deshalb so, weil das Gemüt zugleich Spontaneität und Rezeptivität ist, und beide nur zwei verschiedene Modi des Selbstbezugs des Gemüts darstellen, kann ausschließlich so interpretiert werden, dass nach Tieftrunk die jetzt als Ursachen von den Veränderungen im Gemüt aufgefassten Vorstellungen selber Wirkungen des Gemüts und nicht etwa Wirkungen eines außerhalb vom Gemüt vorkommenden Gegenstandes sind, und zwar deshalb, weil auch diese Vorstellungen vorher durch den Akt des Verstandes „unter dem Titel der Qualität“ allererst als existierende gesetzt werden mussten und daher vom Gemüt gerade nicht als etwas ihm „anderweitig“⁵⁵ Gegebenes angesehen werden können, sondern als seine eigenen Produkte verstanden werden müssen. Dieser Reflexionsakt, dessen Bedingung der Möglichkeit in einem spontanen Selbstbezug des Gemüts besteht, d. h. in der reinen von der Sinnlichkeit unabhängigen Apperzeption,⁵⁶ zeigt Tieftrunk zufolge, dass das Gemüt immer nur sich selbst denkt. Denn auch dann, wenn es meint, von einem außerhalb von ihm vorkommenden Gegenstand affiziert zu werden und sich also rezeptiv zu verhalten, denkt es nur sich selbst als affiziert und rezeptiv. Die Sinnlichkeit wird also im Rahmen von Tieftrunks Interpretation zu einem bloßen Modus, in dem das Gemüt sich selbst denkt. Das Gemüt begreift sich in diesem Modus als ein rezeptives Vermögen und schreibt sich kraft der Durchführung dieses Denktaktes die Sinnlichkeit zu. Auf diese Weise versucht Tieftrunk auch das Jacobische Dilemma zu lösen, nämlich so, dass die Anwendung der Kategorie der Kausalität bei der Interpretation der Herkunft unserer empirischen Vorstellungen die restringierenden Bedingungen der Sinnlichkeit gar nicht überschreitet, denn dadurch, dass die Sinnlichkeit als ein Modus des Selbstbezugs des Gemüts aufgefasst wird, wird ihr epistemischer Status allererst richtig ausgelegt: Dem Akt der Anwendung der Kausalitätskategorie, kraft dessen sich das Gemüt als rezeptiv denkt und sich also die Fähigkeit zuschreibt, affiziert zu werden, geht ein anderer Akt des Gemüts voraus, kraft dessen die Existenz von empirischen Vorstellungen allererst gesetzt wird. Wenn Kant allerdings von der Selbstaffektion spricht, so meint er damit diejenige Wirkung des Verstandes auf die in dem äußeren Sinn „anderweitig“
55 Kant, B 145. 56 „Man kann sich aber bewußtwerden, daß die ursprüngliche und reine Apperzeption für sich bestehe und unabhängig von allem Sinnlichen eine eigenthümliche Function des Gemüths, wie die oberste sei, von welcher alle Erkenntnis anhebt, ob sie gleich nicht alles, was zur Erkenntnis gehört, aus sich hergibt.“ Kant, AA XII, S. 210 f.
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gegebenen Vorstellungen, kraft deren diese Vorstellungen im inneren Sinn nach Maßgabe von Kategorien in dem zeitlichen Nacheinander geordnet werden. Das Ergebnis dieser Leistung des Verstandes ist daher die Erfahrung als die synthetische Einheit von geordneten Vorstellungen.⁵⁷ Diese Vorstellungen müssen aber vorher gegeben worden sein, und zwar als das Mannigfaltige einer empirischen Anschauung. An dieser Konzeption der Gegebenheit hat Kant mit guten Gründen stets festgehalten, weil er eingesehen hat, dass es den Sinn des Begriffs der Gegebenheit preiszugeben hieße, sie reduzieren zu wollen. Genau das schlägt jedoch Tieftrunk in seinem Brief an Kant vor. Zunächst war dies bei seinem Versuch zu erkennen, die Existenz auf das Gesetztsein zu reduzieren; jetzt zeigt sich dies erneut und noch deutlicher anhand seines zweiten Reduktionsversuchs, die Affektion auf Selbstaffektion zu überführen. Aufgrund dieser zweiten Reduktion kann gesagt werden, dass wir genau dann (aber auch nur dann) affiziert werden, wenn wir wissen, dass wir affiziert werden. Da es somit nur eine solche Affektion gibt, bei der das Gemüt sich selbst affiziert (und keine andere), ist bereits kraft dieser Tatsache grundsätzlich die Möglichkeit ausgeschlossen, dass es Affektionszustände gibt, von deren Vorliegen man kein Bewusstsein besitzt, weil man sie gerade nicht als objektive Einheit des Selbstbewusstseins kategorial auffassen kann. Denn ein jeder Selbstaffektionsakt stellt eo ipso einen Akt des Selbstbezugs des Gemüts dar. Daraus folgt, dass das Gemüt bei einem jeden Akt der Selbstaffektion auch wissen muss, dass es sich affiziert, und sich als rezeptiv denkt. Damit ist für Tieftrunk u. a. eine von denjenigen Schwierigkeiten gelöst, die Kant zur transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe veranlasste, und zwar das Problem, dass es gerade nicht von vornherein ausgeschlossen ist, dass die Erscheinungen, die unbestimmten Gegenstände einer empirischen Anschauung, auch so beschaffen sein könnten, dass das Gemüt mit Bezug auf sie feststellen müsste, dass sie nicht denjenigen Bedingungen gemäß sind, deren das Gemüt bedarf, um die objektive Einheit seines Wissens von sich selbst herstellen zu können.⁵⁸ Dieses Problem hat sich für Kant dadurch ergeben, dass die Anschauung, um da zu sein, der Funktionen des Denkens, die zugleich die Bedingungen der objektiven Einheit des Selbstbewusstseins abgeben, gar nicht bedarf.⁵⁹ Folglich muss Kant ein Argument entwickeln, das dieses Problem löst. Tieftrunk hat sich somit gerade in diesem für Kant entscheidenden Punkt von Kant entfernt. Während bei Beck die Rede von der Affektion immer noch einen nachvollziehbaren Sinn hatte, wird sie bei Tieftrunk sinnlos, denn ein einfacher
57 Kant, B 154– 155. Vgl. auch B 67– 68. 58 Vgl. Kant, A 90/B 123. 59 Vgl. Kant, A 91/B 123.
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Reflexionsakt zeigt, dass alle Affektion Selbstaffektion und damit ein Selbstbezug des Gemüts ist, wenngleich nur in demjenigen Modus, in dem sich das Gemüt als rezeptiv denkt. Im letzten Teil muss es darum gehen, zu zeigen, dass Tieftrunk mit seiner Interpretation der Qualitätskategorien, auf deren Grundlage er zur Interpretation der Affektion als Selbstbezug des Gemüts im Modus der Rezeptivität gelangt, den entscheidenden Schritt in Richtung Fichtes Lösung des Jacobischen Dilemmas gesetzt hat. Es ist dies die Lösung, die Fichte in der Zweiten Einleitung in die Wissenschaftslehre vom 1797 entwickelt.
4 Fichtes Konzeption der Sinnlichkeit Weder Maimons These von dem anschauenden Verstand noch Becks Konzeption eines Verstandes, der in der Lage ist, seinen Begriffen durch ein „autoverifizierendes“ Verfahren objektive Gültigkeit zu sichern, weisen Gemeinsamkeiten mit Fichtes Lösung des Problems der Affektion auf. Obwohl Fichtes Interesse mit demjenigen Becks identisch ist, dem Ding an sich den Zugang zur theoretischen Philosophie zu verschließen – dies wird Fichte wohl gemeint haben, als er Beck gegenüber äußerte, er wisse, dass Beck seine Auffassung teile, dass der Verstand das Ding machte, – hätte Fichte sich eher dem Teil von Tieftrunks Konzeption anschließen können, demzufolge alle Existenz auf das Gesetztsein durch das Gemüt reduziert werden kann. Im Folgenden wird gezeigt, dass Fichtes und Tieftrunks Interpretation des Affektionsproblems insbesondere in einem Punkt konvergieren, und zwar wenn Tieftrunk behauptet, dass die Rezeptivität und damit die Sinnlichkeit nur eine besondere Art des Selbstbezugs des Gemüts darstellen. Dies ist der Punkt, von dem aus Fichte seine Interpretation des Dinges an sich, des Affektionsproblems und damit die Lösung des Jacobischen Dilemmas entfaltet. Fichte behauptet so wie Beck, Tieftrunk und viele andere, seine Konzeption der Wissenschaftslehre sei nur die angemessene Interpretation der Philosophie Kants.⁶⁰ Dabei war sich Fichte zweierlei Umstände bewusst. Im Unterschied zu Beck und Tieftrunk wusste er, dass es zumindest schwer, wenngleich nicht unmöglich ist, einige seiner Interpretationsthesen mit dem in Einklang zu bringen, was Kant de facto in seinen Schriften sagt. Fichte spitzt diese Tatsache noch zu, wenn er darauf hinweist, dass, wenn er dasselbe sagen würde, was Kant ohnehin schon gesagt hat, er besser nichts sagen sollte bzw. ein anderes Fach des
60 Vgl. Fichte, 1971, S. 469.
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menschlichen Wissens zum Studium auszuwählen hätte.⁶¹ Er hält jedoch daran fest, dass das, was er sagt, mit dem Geist des kantischen Systems übereinstimmt, und zwar auch dann, wenn er gegen den Buchstaben dieses Systems verstoßen sollte. In diesem hermeneutischen Zusammenhang führt Fichte eine Analogie zum Kopernikusbeispiel⁶² Kants an, indem er sagt, dass wir gezwungen sind, ein System entsprechend „seinem Geist“ zu erläutern, wenn sich zeigt, dass es gemäß seinem Buchstaben nicht angemessen interpretiert werden kann.⁶³ Im Fall von Kants System zeige sich das besonders deutlich daran, dass man aus der Kritik der reinen Vernunft einzelne Sätze herausreißen und einander entgegensetzen könne, und zwar ad nauseam. Zur Lösung dieser Interpretationsschwierigkeit, mit der die Kant-Forschung noch heute konfrontiert ist, wendet Fichte die Dialektik von Teil und Ganzem an, und zwar so, dass der Buchstabe eines Systems sich mit Bezug auf seinen Geist wie ein Teil zum Ganzen verhält. Fichte behauptet also, dass man zunächst die Idee des zu interpretierenden Ganzen, d. h. des Geistes, verstanden haben muss, um die Teile dieses Systems, d. h. die einzelnen Sätze, in denen der Geist des Systems zum Ausdruck kommt, angemessen interpretieren zu können. Zweitens war sich Fichte aber auch dessen bewusst, dass es ein wenig überzogen klingen musste, wenn er den Anspruch erhebt, mit seiner Interpretation nicht nur eine angemessene Deutung des Geistes der kantischen Philosophie, sondern vielmehr die einzige angemessene Deutung vorgelegt zu haben. Fichte meint allerdings, an diesem Anspruch festhalten zu müssen, weil er der Meinung ist, dass die sogenannten Kantianer (also Reinhold, Schulz u. a.; Beck ist jedoch nicht gemeint) Kants Philosophie falsch interpretieren.⁶⁴ Besonders plastisch geht dies Fichte zufolge daraus hervor, wie sie das Problem der Affektion und den Begriff des Dinges an sich auslegen. Ihre Auslegung führt in Fichtes Augen dazu, dass Kants transzendentaler Idealismus in den alten Dogmatismus verwandelt wird, denn nach Fichte ist eine jede Philosophie als dogmatisch zu bezeichnen, die von der Existenz eines vom Bewusstsein unabhängigen Seins ausgeht, um Bewusstsein zu erklären.⁶⁵ Eben dies machen nach Fichte die Kantianer, indem sie die Existenz der Empfindungen von der Wirkung der vom Bewusstsein unabhängigen Dinge, also von Dingen an sich oder, wie Fichte es ausdrückt, von etwas vom Ich Verschiedenem, ableiten.⁶⁶ Ficht macht explizit darauf aufmerksam, dass die Kantianer damit das Risiko in Kauf nehmen müssen, dem Einwand ausgesetzt
61 62 63 64 65 66
Ebd., S. 478. Vgl. Kant, B XVI f. Fichte, 1971, S. 479 Anm. Ebd., S. 481. Ebd., S. 483 Anm. Ebd., S. 480.
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zu sein, der von Jacobi formuliert worden ist, und zwar dass durch die Annahme einer Affektion des Gemüts durch die Dinge an sich die Gültigkeit der Kausalitätskategorie unerlaubterweise amplifiziert wird.⁶⁷ Dies verdeutlicht, dass es Fichte darum geht, das Jacobische Dilemma befriedigend zu lösen. Zu diesem Zweck entwickelt Fichte eine Interpretation der in diesem Zusammenhang wichtigsten Sätze des § 1 der Transzendentalen Ästhetik, in denen Kant feststellt: Diese [sc. die Anschauung] findet aber nur statt, so fern uns der Gegenstand gegeben wird; dieses aber ist wiederum, uns Menschen wenigstens, nur dadurch möglich, daß er das Gemüt auf gewisse Weise affiziere. Die Fähigkeit, (Rezeptivität) Vorstellungen durch die Art, wie wir von Gegenständen affiziert werden, zu bekommen, heißt Sinnlichkeit.⁶⁸
Fichte bezieht sich insbesondere deshalb auf diese Sätze, weil gerade sie von den Kantianern gegen ihn und als Beleg der Angemessenheit ihrer Interpretation verwendet werden könnten, der zufolge die Existenz von Empfindungen aus einem transzendenten, außerhalb des Bewusstseins vorkommenden Gegenstand hergeleitet wird.⁶⁹ Der in diesem Zusammenhang wichtigste Begriff ist offensichtlich der Begriff des Gegenstandes, weil gerade dem Gegenstand eine Aktivität zugesprochen wird, deren Ergebnis die im Bewusstsein vorkommenden Vorstellungen sind. Daraus folgt für Fichte die Aufgabe, eine solche Interpretation des Gegenstandsbegriffs zu entwickeln, die es ihm erlaubt, die zitierten Sätze des § 1 der Kritik der reinen Vernunft vollkommen anders als die Kantianer zu verstehen. Es muss sich also um eine solche Interpretation handeln, die es erlaubt, den Begriff eines Dinges an sich zu eliminieren. Fichte verfährt dabei so, dass er zunächst gegen die zitierte Stelle des § 1 der Transzendentalen Ästhetik eine andere Stelle aus der Transzendentalen Analytik anführt, in der Kant den Gegenstandsbegriff in einem anderen Kontext als dem der Ästhetik einführt. In der transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe führt Kant aus: Es ist aber klar, daß da wir es nur mit dem Mannigfaltigen unserer Vorstellungen zu tun haben und jenes X, was ihnen korrespondiert (der Gegenstand), weil er etwas von allen unsern Vorstellungen Unterschiedenes sein soll, für uns nichts ist, die Einheit, welche der Gegenstand notwendig macht, nichts anderes sein könne, als die formale Einheit des Bewußtseins in der Synthesis des Mannigfaltigen der Vorstellungen. Alsdenn sagen wir: wir erkennen den
67 Ebd., S. 481 Anm. 68 Kant, A 19/B 33. Hvh. v. I. K. 69 Fichte, 1971, S. 486.
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Gegenstand, wenn wir in dem Mannigfaltigen der Anschauung synthetische Einheit bewirkt haben. […] und der Begriff dieser Einheit ist die Vorstellung vom Gegenstande = X.⁷⁰
Fichtes Rekurs auf dieses Zitat ist durchaus sinnvoll, und zwar schon allein deshalb, weil erst an dieser Stelle eine transzendentale Konzeption des Gegenstandes vorgestellt wird, während jene von den Kantianern zitierte Stelle aus der Ästhetik eher als eine vorläufige Einführung des Gegenstandsbegriffs angesehen werden kann, dessen Funktion innerhalb der kantischen theoretischen Philosophie und dessen transzendentalphilosophische Bedeutung erst im Laufe insbesondere der Transzendentalen Analytik erläutert wird. Dies wird deutlich, wenn man beachtet, dass erst an dieser Stelle von Kant eine Definition der Gegenstandserkenntnis angeboten wird, die offensichtlich transzendentalphilosophische Züge aufweist. Denn dieser Definition zufolge hat man einen Gegenstand genau dann erkannt, wenn das Mannigfaltige einer Anschauung als eine einheitliche und synthetische Vorstellung aufgefasst wird. Die Einheit dieses einheitstiftenden Synthesisaktes wird jedoch gerade nicht an die einheitlichen Momente des Gegenstandes selbst gebunden, da der Gegenstand im weitesten Sinne etwas ist, das von allen Vorstellungen toto genere verschieden ist und daher gar nicht erkannt werden kann. Denn zum Gegenstand einer Erkenntnis können nur Vorstellungsinhalte werden, die den Charakter eines Mannigfaltigen haben. Und so bleibt nichts anderes übrig, als die Einheit des Aktes, kraft dessen die synthetische Einheit des angeschauten Vorstellungsmannigfaltigen zustande kommt, an den Begriff vom Objekt der Erkenntnis zu binden. Deshalb sagt Kant an einer anderen Stelle: „Objekt aber ist das, in dessen Begriff das Mannigfaltige einer gegebenen Anschauung vereinigt ist.“⁷¹ Um also das Mannigfaltige als eine einheitliche Vorstellung auffassen zu können, muss man a priori, d. h. vor der Existenz des Anschauungsmannigfaltigen, über einen Begriff von der Einheit des Mannigfaltigen verfügen, der als „formale Einheit des Bewußtseins in der Synthesis der Vorstellungen“ bezeichnet werden kann, da die Einheit von Vorstellungen gerade durch die Synthesis des mit Bewusstsein begleiteten Mannigfaltigen zustande kommt und der Begriff daher als Synthesisregel verstanden werden kann. Die Funktion dieser Regel besteht darin, die Art und Weise anzugeben, wie die Elemente des Anschauungsmannigfaltigen auf ein identisches Objekt zu beziehen und damit als gegenständliche Bestimmungen dieses Objekts zu verstehen sind. Fichte muss diese soeben in den wichtigsten Zügen skizzierte transzen-
70 Kant, A 105. Hvh. v. Vf. 71 Kant, B 137. Hvh. z.T. v. Vf.
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dentalphilosophische Erkenntnistheorie vor Augen gehabt haben, wenn er gegen die Kantianer die Stelle A 105 in Anschlag bringt. Umso mehr ist es überraschend, dass Fichte die Stelle nicht genau zitiert. Das kommt daher, dass er sie nicht nach der Kritik der reinen Vernunft, sondern nach Jacobis Schrift Über den transcendentalen Idealismus zitiert, die als Anhang zu Jacobis Buch über Hume erschienen war. Jacobis Wiedergabe stellt jedoch eher eine Interpretation als ein Zitat dar. Auf diese Weise entsteht ein systematisch fruchtbarer Irrtum. Denn Fichtes Interpretation der Affektion und damit der Sinnlichkeit basiert auf Jacobis Ausführungen. Die Stelle A 105 gibt Jacobi folgendermaßen wieder: Der Verstand […] ist es, welcher das Object […] zur Erscheinung hinzuthut, indem er ihr Mannigfaltiges in Einem Bewusstseyn verknüpft. Alsdann sagen wir, wir erkennen den Gegenstand, wenn wir in dem Mannigfaltigen der Anschauung synthetische Einheit bewirkt haben, und der Begriff dieser Einheit ist die Vorstellung vom Gegenstande = X. Dieses = X ist aber nicht der transcendentale Gegenstand […], denn von diesem wissen wir nicht einmal so viel. ⁷²
Erstens: In A 105 ist zwischen der Definition der Erkenntnis und der Feststellung, der Begriff der Einheit sei die Vorstellung von dem Gegenstand, eine Passage enthalten, deren Zweck darin besteht, die transzendentale Bedingung der Erkenntnis als eine Synthesisfunktion zu bestimmen und am Triangelbeispiel zu erläutern. Und gerade diese zentrale Stelle wird von Jacobi ausgelassen. Zweitens: Jacobi zitiert nur die Definition der Erkenntnis genau, die anderen zwei Sätze werden sehr ungenau wiedergegeben, so dass man fragen muss, worauf sie sich in A 105 eigentlich beziehen. Der erste Satz besagt, der Gegenstand bzw. das Objekt sei dasjenige, was zu den Erscheinungen in dem Akt ihrer Synthesis nur hinzugesetzt wird. Die Synthesis der Erscheinungen besteht dann in nichts anderem als in dem Akt, kraft dessen sie auf einen Gegenstand bzw. ein Objekt bezogen werden. Daran anschließend wird im zweiten Satz zunächst geschlossen, dass der Gegenstand bzw. das Objekt erst dann erkannt ist, wenn in den mannigfaltigen Erscheinungen synthetische Einheit zustande gebracht worden ist. Im zweiten Teil des zweiten Satzes wird sodann die Bedingung dieses Synthesisaktes in dem Begriff vom Gegenstand als dem Begriff von der zu realisierenden Einheit erkannt. Und schließlich wird in dem dritten Satz in einem offensichtlichen non-sequitur auf eine negative Eigenschaft dieses Gegenstandes selbst geschlossen, nämlich über ihn überhaupt nichts aussagen zu können, und zwar nicht einmal dies, ein transzendentaler Gegenstand zu sein.
72 Zit. nach: Fichte, 1971, S. 487 f. Hvh. in der zit. Ausgabe.
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Aus dem Kontext geht hervor, dass Jacobi im Unterschied zu Kant den Ausdruck ‚transzendental‘ zur Bezeichnung eines den Bereich des Bewusstseins transzendierenden und unabhängig von ihm gegebenen Gegenstandes verwendet. Denn Jacobi will sagen, dass man denjenigen Gegenstand = X, den Kant genau deshalb als einen transzendentalen bezeichnet, weil er als das letzte negativ zu denkende Korrelat der Erscheinungen verstanden werden muss, gerade nicht für einen transzendentalen Gegenstand ausgeben kann. Das bedeutet, dass Jacobi gerade diejenige Eigenschaft, eine bloß formale und an Inhalt gänzlich leere Vorstellung zu sein, die Kant dazu führt, diesen Gegenstand als einen transzendentalen zu bezeichnen, als Anlass dazu nimmt, ihm die Bezeichnung ‚transzendental‘ abzusprechen. Daraus geht hervor, dass Jacobi den transzendentalen Gegenstand mit dem extramentalen Ding an sich identifiziert und mit Kant sagen möchte, dass man den Gegenstand = X und zwar kraft seiner inhaltlichen Leere nicht als ein Ding an sich zu verstehen hat, da gerade weil er eine inhaltlich völlig leere Vorstellung darstellt, von ihm nicht einmal gesagt werden kann, dass er sich außerhalb des Bewusstseinsbereichs befindet. Jacobis implizites Argument hierfür, dem Kant zustimmen können hätte, ist jedoch nicht so sehr dies, dass, um den Gegenstand = X als ein Ding an sich beschreiben zu können, man auf ihn etwa die Kausalitätskategorie anwenden müsste – was durch ihre Restriktion auf den Bereich des sinnlich Gegebenen untersagt ist –, sondern vielmehr der Umstand, dass man, wenn man ihn als ein Ding an sich beschreiben würde, den Sinn der einheitlichen Verbindung des Mannigfaltigen der Erscheinungen materialiter bestimmte. In diesem Fall müssten die Erscheinungen als Bestimmungen eines außerhalb des Bewusstseins vorkommenden Gegenstandes, z. B. als Akzidentien einer einzigen an sich existierenden Substanz usw. aufgefasst werden. Damit wäre der transzendentale Idealismus Kants wieder in einen alten metaphysischen Dogmatismus eines Wolff bzw. Spinoza verwandelt. Dieser systematische Kontext muss Fichte vor Augen gestanden haben, wenn er Jacobis Wiedergabe von A 105 als eine hinreichende Verteidigungsstrategie gegen die Kantianer zur Geltung bringt. Den Satz: „Dieses = X ist aber nicht der transzendentale Gegenstand […], denn von diesem wissen wir nicht einmal so viel“, hätte Kant in dieser Form vermutlich nie geschrieben, weil er ohne eine ausführliche Interpretation und aus dem Kontext herausgerissen wie eine Tautologie aussieht. Wird er aber im Zusammenhang mit den übrigen Sätzen und insbesondere mit dem ersten Satz betrachtet, so ist klar, welche Interpretation des Dinges an sich Fichte gegen die seiner Meinung nach dogmatisierenden Kantianer anwenden möchte und warum er Jacobis Schriften zur Lektüre empfahl.⁷³
73 Ebd., S. 481 f.
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Aus der Tatsache, dass ein Gegenstand etwas ist, was zu den Erscheinungen „nur hinzugetan“ wird, und d. h. in den Akten ihrer Synthesis als ihr objektives Korrelat, das für alle Erscheinungen gleich bleibt und daher als = X angesehen werden kann, hinzugedacht wird, leitet Fichte zunächst seine Interpretation des Affektionsproblems ab, um daran anschließend eine Interpretation der Sinnlichkeit zu entwickeln. Tatsächlich entwickelt Fichte mit seiner Interpretation von Kants Auffassung eines Gegenstandes der Erkenntnis nur eine von Kant nicht abgeleitete Implikation seiner Affektionslehre. Fichtes Überlegung lautet folgendermaßen: Ist ein Gegenstand ein bloßer Gedanke, und ist er nichts anderes, weil er zu den Erscheinungen nur hinzugedacht wird, dann hat die Aussage, wir würden von einem Gegenstand affiziert, nichts anderes zu bedeuten als dies, dass wir von dem affiziert werden, was bloß gedacht wird. Das bedeutet wiederum nichts anderes, als dass ein Gegenstand als eine affizierende Entität nur gedacht wird, weil er selber nur als ein Gedanke existiert.⁷⁴ Denn demjenigen, das als solches nur im Modus des Denkens existiert, können auch nur solche Prädikate zugeschrieben werden, die selber nur im Bereich des Denkens ihren Ursprung haben, und keine anderen; und weil der Gegenstand nur gedacht wird, so ist ihm die Eigenschaft, affizierend zu sein, nur mit der Einschränkung zuzuschreiben, dass er als affizierend gedacht wird. Diese Überlegung wird von Fichte bei seiner Interpretation der Sinnlichkeit durch eine weitere Überlegung ergänzt. Dieser Ergänzung liegt die von Fichte von Anfang an angewandte aussagentheoretische und seine Subjektivitätstheorie definierende als-Struktur zugrunde: Welche Aktivitäten auch immer das Subjekt ausführen mag, so tut es dabei nichts anderes, als dass es etwas als etwas setzt. Im Ausgang von dieser Struktur argumentiert Fichte wie folgt: Ein Subjekt, das einem Gegenstand das Prädikat zuschreibt, als affizierend gedacht zu werden, fasst sich selbst, und zwar gerade mit Bezug auf diesen Gegenstand und in keiner anderen Hinsicht, als affiziert auf. Nimmt dieses Subjekt zudem an, dass eine allgemein geltende Eigenschaft aller Wahrnehmungen darin besteht, dass ihr gegenständliches Korrelat mit Hilfe des Prädikats beschrieben werden muss, als affizierend gedacht zu werden, dann muss es, und zwar wiederum nur mit Bezug auf diese allgemein geltende Eigenschaft aller Wahrnehmungen, auch annehmen, dass es sich selbst generell mit Bezug auf alle Wahrnehmungen als affizierbar denken muss. Anders gesagt: Weil jene Eigenschaft der Wahrnehmungen, dass ihr gegenständliches Korrelat als affizierend gedacht werden muss, auf alle Wahrnehmungen zutrifft, d. h. auch auf diejenigen, die nicht gegenwärtig gegeben und nur gebbar sind, muss sich das Subjekt mit Bezug auf alle Wahrnehmungen als affi-
74 Ebd., S. 488.
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zierbar denken. Diese Eigenschaft kann das Subjekt in der Form einer Aussage folgendermaßen zusammenfassen: „Ich weiß, daß ich mich mit Bezug auf alles Gebbare als affizierbar zu denken habe.“ Kraft dieser Aussage schreibt sich das Subjekt die Eigenschaft zu, sich mit Bezug auf alles, das ihm gegeben sein kann, rezeptiv zu verhalten. Die Sinnlichkeit ist nichts anderes als eben diese Eigenschaft, die sich das Subjekt genau dann zuschreibt, wenn es erkennt, dass die gegenständlichen Korrelate der Wahrnehmungen als affizierend gedacht werden müssen. Weil sich aber diese Struktur nur in der Form einer Aussage, d. h. in der Form des wissenden Setzens von etwas als etwas, realisiert, weiß das Subjekt immer dann, wenn es sich rezeptiv verhält, auch davon, dass es sich rezeptiv verhält. Sein rezeptives Verhalten ist daher nie rein passiv, sondern ist immer schon mit der Aktivität des wissenden Setzens von etwas als etwas begleitet. Es ist wichtig zu beachten, dass es sich hierbei jedoch nicht um eine Zuschreibung von irgendwelchen Affektionszuständen handelt, sondern vielmehr um eine grundlegendere und wesentlichere Zuschreibung, nämlich um eine Zuschreibung, kraft welcher man in den Affektionszuständen überhaupt sein kann. Das bedeutet, dass die Möglichkeit, sich in einem Affektionszustand zu befinden, erst dadurch konstituiert wird, dass das Subjekt sich diese Möglichkeit selbst und zwar in Form der Aussage „Ich weiß, daß ich φ“ zuschreibt,wobei φ ein Prädikat bezeichnet, dessen Inhalt die Einsicht enthält, dass man sich mit Bezug auf alles Gebbare als affizierbar denkt. Die Sinnlichkeit ist Fichte zufolge nichts anderes als diese Möglichkeit. Weil sie aber durch einen Zuschreibungsakt bedingt ist, ist zu sagen, dass es sich um einen Zuschreibungsakt handelt, den Kant als einen transzendentalen bezeichnen würde.⁷⁵ Fichtes Theorie der Sinnlichkeit kann daher im kantischen Sinne des Wortes für eine transzendentale Theorie gelten. Es würde jedoch zu weit gehen, wenn man mit Ernst Tugendhat meinen würde, allein kraft der Form, in der dieser Zuschreibungsakt zum Ausdruck gebracht wird, komme das Selbstbewusstsein des ihn durchführenden Subjekts zustande,⁷⁶ denn dieser Akt, in dem sich das Subjekt die Sinnlichkeit im Modus des Wissens zuschreibt, setzt offenbar seinerseits einen anderen Akt voraus, kraft dessen sich das Subjekt in ein Verhältnis zu sich selbst setzt.Weil nun das Subjekt durch diesen Akt nichts anderes setzt als nur das Verhältnis zu sich selbst, kann er wiederum in der Form einer als-Aussage zum Ausdruck gebracht werden, deren Inhalt in diesem Fall darin besteht, dass das Subjekt sich selbst setzt als sich selbst setzend. Erst kraft dieses ursprünglichen Setzungsaktes schafft das Subjekt die
75 Vgl. A 56/B 80, wo Kant eine Definition der transzendentalen Erkenntnis liefert. 76 Vgl. Tugendhat, 1979, S. 32.
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Möglichkeit, Aussagen der Form „Ich weiß, daß ich φ“ zu bilden und damit auch die Möglichkeit der Aussage: „Ich weiß, daß ich mich mit Bezug auf alles Gebbare als affizierbar zu denken habe“, denn erst durch diesen Akt des Selbstsetzens wird die Begleitstruktur aller dieser Aussagen geschaffen, deren Ausdruck jenes „Ich weiß“ ist. Diesem Akt, von dem allererst gesagt werden kann, dass er das Selbstbewusstsein des ihn durchführenden Subjekts generiert, widmet Fichte bekanntlich den 1 § der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre 1794/1795.Von seiner Struktur ist daher auszugehen, wenn Fichte etwa drei Jahre später seine Theorie der Sinnlichkeit gegen die Kantianer in Anschlag bringt. Diese als transzendental zu bezeichnende Theorie der Sinnlichkeit ist eigentümlich fichtisch, und zwar deshalb, weil sie, wie ausgeführt, einen aussagentheoretischen Akt in der Form des wissenden Setzens von etwas als etwas impliziert. Dieser aussagentheoretische Akt ist nämlich unmittelbar mit einer anderen für Fichte wesentlichen Implikation zu verbinden. Diese Implikation besteht in der Einsicht, dass es nichts einfach Gegebenes und nur Gegebenes gibt, sondern von allem Gegebenem, dessen wir uns bewusst sind, kann gezeigt werden, dass es ein Ergebnis gewisser Akte darstellt. Dasselbe gilt auch für die Sinnlichkeit:Wir verfügen nur deshalb über sie,weil es einen Akt gibt, kraft dessen wir sie uns zuschreiben.⁷⁷ Dieser Akt muss aber ein Akt des Denkens sein, denn nur mittels eines Denkaktes und nicht etwa eines Wahrnehmungsaktes etc. können wir uns etwas zuschreiben, da unser Zuschreiben von etwas immer die Struktur einer Als-Aussage hat, durch die etwas als etwas aufgefasst wird. So zeigt sich, dass Fichte in der Tat Kant näher steht als die unmittelbaren Kantschüler, Beck und Tieftrunk. Das wird deutlich, wenn man an die von Kant in § 16 der Kritik der reinen Vernunft entwickelte Argumentation denkt. Die Interpretation von Kants theoretischer Philosophie, die sich von ihr zunächst entfernte, um das von Jacobi formulierte Dilemma befriedigend lösen zu können, kommt daher am Ende zu ihr zurück und zeigt, dass das Jacobische Dilemma doch mit den Mitteln von Kants theoretischer Philosophie gelöst werden kann. Auf diese Weise zeigt sich aber auch, dass der oft gegen Fichte erhobene Einwand, er wolle die gesamte Wirklichkeit auf ein Produkt der Tätigkeit des Ich reduzieren, endgültig obsolet geworden ist. Denn worum es Fichte in seinem Programm der Wissenschaftslehre tatsächlich geht, ist, die Struktur unseres Wissens von der gesamten Wirklichkeit so aufzuklären, dass sie von der Struktur
77 Fichte führt diese Zuschreibungsthese folgendermaßen aus: „Wenn du einen Gegenstand setzest mit dem Gedanken, daß er dich afficirt habe, so denkst du dich in diesem Falle afficirt; und wenn du denkst, daß dies bei allen Gegenständen deiner Wahrnehmung geschehe, so denkst du dich als afficirbar überhaupt, oder mit anderen Worten: du schreibst dir durch dieses dein Denken Receptivität oder Sinnlichkeit zu.“ Vgl. Fichte, 1971, S. 488. (Hvh. v. Fichte).
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der wissenden Beziehung des Ich auf sich selbst abgeleitet wird. Daher muss aber auch die Sinnlichkeit von dieser grundlegenden Struktur ableitbar sein, insofern sie die Sinnlichkeit eines Subjekts sein soll. Das heißt, die Möglichkeit, über das Gegebene überhaupt zu verfügen, muss von derjenigen Struktur abgeleitet werden können, kraft welcher sich das Subjekt in eine wissende Beziehung zu sich selbst setzt.Wie gezeigt, hat diese Struktur die Form einer Als-Aussage, in der ein Subjekt dieser Aussage unter jeweils einem anderen Gesichtspunkt beschrieben werden kann. Das Subjekt dieser Aussage ist nun immer jenes „Ich weiß“, welches sich Prädikate mit verschiedenen Inhalten zuschreiben und auf diese Weise sich selbst unter verschiedenen Gesichtspunkten beschreiben kann, so dass die Form entsteht „Ich weiß, daß ich φ“. Das epistemische Subjekt Fichtes, das Ich, ist also immer auch das grammatikalische Subjekt all seiner Aussagen, das diesen Aussagen zugrunde liegt. So kehrt bei Fichte erneut die kantische Forderung wieder, der zufolge das: „Ich denke alle meine Vorstellungen muß begleiten können“. Soll jedoch Fichtes Theorie eine Theorie des Wissens sein, so muss in ihr gezeigt werden können, dass es Aussagen gibt, in denen das Subjekt nicht nur sich selbst unter verschiedenen Gesichtspunkten beschreibt, sondern auch etwas beschreibt, das etwas anderes als es selbst ist. In diesem Zusammenhang tritt die Sinnlichkeit in einer anderen Funktion auf. Denn zwar wird sie vom Subjekt hinsichtlich ihrer Möglichkeit konstituiert, dies jedoch nur insofern, als das Subjekt über sie bewusst verfügen soll. In der Literatur zu Fichte ist in der letzten Zeit auf die Funktion der Leiblichkeit hingewiesen worden, indem gezeigt wurde, dass die Leiblichkeit für Fichte den Ansatzpunkt für seine staatstheoretischen und moralphilosophischen Überlegungen bildet.⁷⁸ Im Zusammenhang mit Fichtes Affektionstheorie wird die Funktion der Sinnlichkeit durch die Irreduzierbarkeit des Gefühls der Beschränktheit unseres theoretischen aber auch praktischen Weltbezugs zum Ausdruck gebracht. Dieses Gefühl leitet Fichte in der folgenden Überlegung ab: Das Bewusstsein meiner selbst kann als ein Bewusstsein desjenigen Aktes definiert werden, kraft dessen ich in jedem Augenblick mich selbst setze. Dieses Bewusstsein entsteht so, dass ich von dem Akt meines Setzens weiß, ich schaue ihn an, wie Fichte es ausdrückt. Wenn ich mich selbst so setze, dass ich mir dabei des Aktes meines Selbstsetzens thematisch bewusst bin, setze ich mich daher nicht mehr als ein reines Ich, sondern als ein solches Ich, das von seiner Beschränktheit durch etwas von ihm Verschiedenes weiß, welches daher zunächst nur als ein Nicht-Ich bezeichnet werden kann. Die einzige Instanz jedoch, durch die das Ich in seinem Selbstsetzungsakt beschränkt werden kann und die daher von ihm zwar verschieden sein
78 Vgl. Düsing, 1991, S. 29 – 50.
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muss, jedoch nicht außerhalb seiner sich befinden kann, ist die Sinnlichkeit. Weil nun die Beschränkung des Ich von Seiten der Sinnlichkeit die Bedingung der Möglichkeit des Bewusstseins vom Selbstsetzungsakt darstellt, muss sie selber eine ursprüngliche auf nichts anderes reduzierbare Beschränkung sein. Das heißt: Sie kann nicht in einen Denkakt überführt werden. Zwar schreibt das Ich sie sich durch einen Denkakt zu, sie selber stellt jedoch keinen Denkakt dar. Diese Überlegung kann auch so verstanden werden, dass zwar die Notwendigkeit dieser Beschränkung als eine Bedingung der Möglichkeit des Selbstbewusstseins abgeleitet werden kann. Was allerdings nicht abgeleitet werden kann, ist der konkrete Inhalt dieser Beschränkung in seiner Bestimmtheit. Den Inhalt der Beschränkung in seiner Bestimmtheit können wir nur wahrnehmen als die Beschränkung unseres insbesondere praktischen Weltbezugs, bei dem sie sich unmittelbar äußert: Bei der Realisierung unseres Weltbezugs stellen wir unmittelbar ihre Beschränkung fest, oder mit Fichte gesagt: Wir setzen ihre Beschränkung. Diese Feststellung äußert sich als eine unmittelbare Wahrnehmung der Beschränkung in ihrer Bestimmtheit und diese Wahrnehmung ist ein Gefühl (z. B. ein Gefühl der Kälte oder der roten Farbe).⁷⁹ Das Gefühl als Bedingung der Möglichkeit des Selbstbewusstseins eines endlichen vernünftigen Wesens ist daher für Fichte das äußerste denkbare Korrelat aller Ich-Akte. Und weil es in seiner Bestimmtheit von keinem Denkakt abgeleitet werden kann, ist es zugleich auch dasjenige, durch das das Nicht-Ich sich mit Bezug auf das Ich als autonom äußert. Das bedeutet: Zwar muss das Ich es zugleich mit seinem Selbstbewusstsein mitsetzen, aber dieser Setzungsakt ist kein Hervorbringungsakt. Das Gefühl nimmt somit für Fichte diejenige Funktion ein, die für Kant die Empfindung hat, nämlich ein Index der Realität zu sein. Und nur auf diese Weise sind für Fichte Aussagen möglich, in denen das Subjekt nicht nur sich selbst unter verschiedenen Gesichtspunkten beschreibt, sondern in denen es auch etwas beschreibt, das es nicht selbst ist. Es wurde gezeigt, dass Beck und Tieftrunk in ihrer Auslegung des Affektionsproblems von der Interpretation der kantischen Qualitätskategorie ausgegangen sind. Es wurde aber auch darauf hingewiesen, dass sie mit ihrer Interpretation den Sinn dieses kantischen Begriffs modifiziert haben. Im Unterschied zu ihnen fügt Fichte die Qualitätskategorie in die interne Logik seiner Systematik der Grundsätze ein. Er behauptet daher, nicht nur ihre Interpretation, sondern sogar ihre Ableitung vorgelegt zu haben. So leitet Fichte das erste Moment der Qualitätskategorie, den Begriff der Realität (der Position), von dem ersten Akt ab, kraft dessen das Ich sich selbst setzt.⁸⁰ Um jedoch sich selbst als beschränkt und
79 Vgl. Fichte, 1971, op. cit., S. 489 f. 80 Vgl. Fichte, 1971, S. 99.
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damit als etwas Konkretes setzen zu können, muss das Ich etwas setzen, das es nicht selbst ist. Von diesem zweiten Akt, kraft dessen das Ich etwas setzt, das gegen das Ich steht und das nicht das Ich ist, kann Fichte zufolge das zweite Moment der Qualitätskategorie, das Moment der Negation, abgeleitet werden.⁸¹ Das Nicht-Ich ist daher Negation des Ich. So könnte jedoch die Einheit des Bewusstseins nicht erklärt werden. Im Gegenteil. Jetzt droht, dass sie auseinanderfällt. Deshalb steht Fichte vor der Aufgabe, einen Akt des Ich anzunehmen, kraft dessen die Einheit des Bewusstseins als Einheit der Position und der Negation des Ich gedacht werden kann. Da die Position und Negation Akte des Ichs sind, muss Fichte eine Verbindung beider Akte im Ich erreichen. Diese Verbindung leistet nun das Ich durch einen dritten Akt, kraft welchen das Ich den Bereich des Ich und den Bereich des Nicht-Ich konstituiert und sie in eine Beziehung setzt, in der der Bereich des Ich durch den Bereich des Nicht-Ich bestimmt wird, et vice versa. Daher kann von diesem dritten Akt das dritte Moment der Qualitätskategorie abgeleitet werden, die Limitation.⁸² Kraft des dritten Aktes setzt das Ich sich als limitiert durch das Nicht-Ich.Weil aber das Vorkommen des Nicht-Ich im Ich auf eine Leistung des Ich zurückzuführen ist, wird das Nicht-Ich vom Ich als durch das Ich begrenzt gesetzt. So entstehen im Ich zwei Bewegungen, die gegenseitige Richtungssinne aufweisen. Dass das Ich sich als durch das Nicht-Ich limitiert setzt, bedeutet, dass das Ich sich zurückzieht, um das Nicht-Ich in sich auftreten zu lassen. Dies in der Absicht, es zu erkennen.Wenn dagegen das Ich das Nicht-Ich als durch das Ich limitiert setzt, so bedeutet das umgekehrt, dass das Ich aus sich selbst heraustritt, um das Nicht-Ich zu bestimmen, d. h. im Bereich des Nicht-Ich zu handeln. So leitet Fichte von der internen Logik der Grundsätze zwei traditionelle Bereiche der Philosophie her, den der theoretischen und den der praktischen Rationalität. Hier zeigt sich jedoch eine gewisse Asymmetrie, auf die Fichte bereits in der Grundlage hingewiesen hat. Sie ist zunächst methodischer Art und besteht darin, dass die Wissenschaftslehre von der die theoretische Rationalität begründenden Aussage ausgehen muss, dass das Ich sich als durch das Nicht-Ich limitiert setzt, weil die Bedeutung der umgekehrten Aussage, dass das Ich das Nicht-Ich als durch das Ich limitiert setzt, zunächst nur in dem Teil begründet ist, der das Ich betrifft. Dies ist deswegen so, so Fichtes Argument, weil die Realität des Nicht-Ich noch nicht feststeht.⁸³ In subjekt-ontologischer Hinsicht stellt sich die erwähnte Asymmetrie umgekehrt dar: Fichte deutet zunächst nur an, es würde sich „im
81 Ebd., S. 105. 82 Ebd., S. 122. 83 Vgl. ebd., S. 125.
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Verfolg“ zeigen, dass die praktische Rationalität die Bedingung der Möglichkeit der theoretischen ist.⁸⁴ Fichte bietet in der Grundlage verschiedene Argumente für diesen Umstand an. Ihr grundsätzlicher Sinn lässt sich kurz so zusammenfassen: Das Erkennen eines Objekts ist ein Akt, eine Tätigkeit des Ich, die auf das zu erkennende Objekt gerichtet ist. Dieses Gerichtetsein bedeutet, dass das Ich sich im Bewusstsein zugunsten des Objekts zurückzieht. Das bedeutet, dass das Ich sich zugunsten des Objekts begrenzt, damit die ursprüngliche auf das Ich nicht reduzierbare Bestimmtheit des Objekts vom Ich aufgenommen und erkannt werden kann. Die Frage, woher diese ursprüngliche Bestimmtheit kommt, setzt Fichte in Klammern, weil sie ohnehin nicht sinnvoll beantwortet werden kann. Der endliche Geist bewege sich in dieser Frage in einem unvermeidlichen Zirkel, ein Ding an sich voraussetzen zu müssen, das für ihn sein muss.⁸⁵ Der Begriff des Dings an sich ist daher mit einem internen Widerspruch belastet: „Es ist nur da, inwiefern man es nicht hat, und es entflieht, sobald man es auffassen will. Das Ding an sich ist etwas für das Ich, und folglich im Ich, das doch nicht im Ich sein soll.“⁸⁶ Fichtes Pointe ist nicht, dass das Ich sein muss, um sich selbst begrenzen zu können, denn das ist eher trivial. Sie besteht darin, dass eine Eigenschaft des Ich angenommen werden muss, kraft welcher das Ich sich selbst dazu entschließen kann, sich selbst zu begrenzen. Die Eigenschaft des Ich, sich selbst entschließen zu können, ist somit die Bedingung der theoretischen Rationalität. Sie ist von Fichte als Streben bezeichnet worden. „Das Resultat unserer bisherigen Untersuchungen ist demnach folgendes: die reine in sich selbst zurückgehende Thätigkeit des Ich ist in Beziehung auf ein mögliches Objekt ein Streben; und zwar […] ein unendliches Streben. Dieses unendliche Streben ist ins unendliche hinaus die Bedingung der Möglichkeit alles Objects: kein Streben, kein Object.“⁸⁷
Literatur Allison, Henry (1983): Kant′s Transcendental Idealism. An Interpretation and Defense, London/New Haven. Aquila, Richard. A. (1983): Representational Mind. A Study of Kant′s Theory of Knowledge, Bloomington. Beck, Jakob Sigismund (1793/1796): Erläuternder Auszug aus den kritischen Schriften des Herrn Prof. Kant, auf Anrathen desselben. 2. Bde. Riga.
84 85 86 87
Vgl. ebd., S. 126. Vgl. ebd., S. 281. Vgl. ebd., S. 283. Vgl. ebd., S. 261– 262. (Hvh. v. Fichte).
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Cramer, Konrad (1985): Nicht-reine synthetische Urteile a priori. Ein Problem der Transzendentalphilosophie Immanuel Kants, Heidelberg. Düsing, Edith (1991): „Das Problem der Individualität in Fichtes früher Ethik und Rechtslehre“, in: Fichte-Studien, Bd. III, Atlanta, 29 – 50. Engstler, Achim (1990) Untersuchungen zum Idealismus Salomon Maimmons, Stuttgart-Bad Cannstatt. (Zit. als: Engstler, Untersuchungen, mit Seitenangabe.) Fichte, Johann Gottlieb (1971): Grundlage der gesamten Wissenschftslehre, in: Fichtes Werke Bd. I, hrsg. Fichte, I. H., Berlin. Fichte, Johann Gottlieb (1971): Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, für Leser, die schon ein philosophisches System haben, in: Fichtes Werke Bd. I, hrsg. v. Fichte, I. H., Berlin. (Zit. als: Zweite Einleitung mit Seitenangabe.) Henrich, Dieter (1973): „Die Beweisstruktur von Kants transzendentaler Deduktion“, in: Prauss, G. (Hrsg.): Kant. Zur Deutung seiner Theorie von Erkennen und Handeln, Köln, 90 – 104. (Zit. als: Henrich, Beweisstruktur). Kant, Immanuel (1922): Briefwechsel Bd. II/2. (1789 – 1794), in: Gesammelte Schriften Bd. XI, hrsg. Preussische Akademie der Wissenschaften, Berlin. (Zit. als: Kant, XI und mit Seitenangabe.) Kant, Immanuel (1969): Briefwechsel Bd. II/3. (1795 – 1803), in: Gesammelte Schriften Bd. XII, hrsg. Preussische Akademie der Wissenschaften, Berlin. (Zit. als: Kant, XII und mit Seitenangabe.) Prauss, Gerold (1974): Kant und das Problem der Dinge an sich, Bonn. Schmucker-Hartmann, Josef (1976): Der Widerspruch von Vorstellung und Gegenstand. Zum Kantverständnis von Jacob Sigismund Beck. Meisenheim a. G. Tugendhat, Ernst (1979): Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung. Sprachanalytische Interpretationen, Frankfurt a. M.
Birgit Sandkaulen
Würde – einige Diskontinuitäten zwischen Kant und der nachkantischen Philosophie 1 Einleitung: Irritationen und Probleme Im Jahr 1794 beschließt Fichte die Reihe seiner öffentlichen Vorlesungen in Jena mit einem kurzen Beitrag, der den Titel Über die Würde des Menschen trägt. Alles, was Fichte zu sagen hat, und auch die charakteristische rhetorische Emphase, mit der er seine philosophischen Anliegen vertritt, finden unter diesem Titel ihren Ort. Wie auch nicht? Wieso sollte Fichte nicht über die Würde des Menschen sprechen, diesen Titel gleichsam als Inbegriff seines Philosophierens wählen? Schließlich ist es ihm darum zu tun, das Profil seines Denkens in der unmittelbaren Nachfolge Kants zu präsentieren – und hier, in der Moralphilosophie Kants, wird ja bekanntlich die überragende Bedeutung der menschlichen Würde in einer Weise formuliert, die bis auf den heutigen Tag als paradigmatische Grundlegung des Würdebegriffs in der Moderne gilt. Ausgehend von Kant also und dessen kanonischer Position zur Würde des Menschen sollte man nicht nur nicht überrascht sein, sondern im Gegenteil erwarten, dass die anschließende, sogenannte nachkantische Philosophie diesen Ansatz verstetigt: eben so, wie Fichte es offenbar tut. Und folgerichtig dürften sich solche Erwartungen auch auf Schiller, Schelling und Hegel erstrecken, um zumindest die prominentesten Vertreter der klassischen deutschen Philosophie in ihrer nachkantischen Ausprägung zu nennen. Substantielle Texte zu diesem Thema, nachdrückliche Klärungen des mit dem Begriff „Würde“ Gemeinten und die entschiedene Verteidigung des Konzepts als Fokus einer zureichenden Verständigung über den Menschen: das sollte hier doch vorgelegt werden, oder nicht? Tatsächlich verhält sich der Fall völlig anders. Ins Auge zu fassen ist der Umstand, dass die nachkantische Philosophie in der Würde des Menschen kein zentrales Motiv ihres Nachdenkens gesehen hat. Das ist ein erstaunlicher, vielleicht auch bedenklicher, in jedem Fall aber hochinteressanter Befund, den die folgenden Überlegungen aufzuhellen suchen. Nehmen wir zunächst den Befund als solchen in zweierlei Hinsicht näher in den Blick. Auffällig ist zum einen, dass der Begriff „Würde“ – ganz anders als etwa die Begriffe „Geist“, „Wissen“, „Vernunft“, „Subjekt“ oder „Freiheit“ – kein Schlüsselbegriff der nachkantischen Texte ist. In der Fassung „Menschenwürde“ kommt er überhaupt nicht vor, aber auch der Terminus „Würde“ selbst gelangt nur höchst sparsam zum Einsatz. Schelling widmet der Frage gar keine Aufmerk-
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samkeit. Hegel nimmt hin und wieder, jedoch nicht konstitutiv, auf die Würde Bezug. Demgegenüber gibt es von Fichte immerhin den eingangs erwähnten Beitrag, der das Stichwort „Würde“ genau besehen aber nur im Titel trägt und damit deutlich macht, dass es sich eigentlich nur um eine rhetorische Adresse handelt. Als Ausdruck rhetorischer Emphase bringt Fichte den Begriff „Würde“ auch später an diversen Stellen ins Spiel, insgesamt häufiger als Hegel, jedoch ohne besondere einschlägige Relevanz. Der einzige Text, der sich mit der Frage der Würde wirklich auseinandersetzt, stammt von Schiller, der seine Überlegungen Über Anmut und Würde 1793 veröffentlicht hat und dabei direkt auf Kant rekurriert. Allerdings gibt Schillers Darstellung sogleich auch Anlass, die zweite Hinsicht zu exponieren, die hier von Bedeutung ist. Die Diskontinuität zwischen Kant und seinen Nachfolgern in der Behandlung des Themas kommt nämlich zum andern auch darin zum Ausdruck, dass sich der Sinn des Begriffs „Würde“, sofern er denn überhaupt verwendet wird, gegenüber Kant in erheblichem Ausmaß verschiebt. Bei Schiller zeigt sich dies darin, dass er der „Würde“ die „Anmut“ gegenüberstellt. Eine Sinnverschiebung anderer Art macht sich bei Fichte und Hegel bemerkbar, die in Fichtes Formulierung von der „Würde [der] Vernunft“ (FW V, 208) ihren sprechenden Niederschlag findet. Beide Verschiebungen sind signifikativ, und von beiden muss darum im folgenden die Rede sein: von Schillers Einschränkung der Würde und deren damit einhergehender Aufstilisierung zum Ausnahmefall menschlicher Existenz; und von Fichtes und Hegels Entschränkung der Würde zum Regelfall einer Vernunft, die mit der Würde des Menschen nur in dem Maße identisch ist, wie sich das menschliche Individuum von den Dispositionen seiner konkreten Individualität distanziert. Bei Schiller stellt sich die Frage, unter welchen Bedingungen „Würde“ die angemessene Orientierungsgröße ist; bei Fichte und Hegel hingegen ist fraglich, an wen sich die Auszeichnung der Würde eigentlich adressiert. Angesichts der Entwicklung, die der Diskurs um Menschenrechte und Menschenwürde seither genommen hat, dürften beide Optionen irritierend sein. Nicht die situative Einschränkung auf einen Ausnahmefall menschlicher Existenz, sondern vielmehr die universale Geltung zeichnet hier die Bestimmung der Menschenwürde aus. Und diese Universalität wiederum ist nicht die Sache einer substantiellen Vernunft, sondern stellt vielmehr die Appellationsinstanz für jedes einzelne menschliche Individuum dar, dessen ihm zuerkannte Würde seinem unhintergehbaren Anspruch auf ein Leben in Würde entspricht. Insofern scheint die Diskontinuität in der Behandlung des Themas über das Verhältnis zu Kant hinaus auch für die gegenwärtige Problem- und Diskussionslage auffallend zu sein. Auf diese Frage komme ich am Ende noch einmal zurück. Vordringlich ist im Moment, die genannten Optionen zunächst genauer vorzustellen. Und dabei werde ich nun in den Mittelpunkt meiner Überlegungen die
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These rücken, dass es sich hier durchaus nicht um einen absonderlichen Seitenweg der nachkantischen Philosophie handelt. Das heißt: nicht weil sie über die Vorlage Kants hinweggesehen hätten, sondern im Gegenteil, gerade weil sie sich intensiv mit Kant auseinandergesetzt haben, schlagen Schiller einerseits und Fichte und Hegel andererseits die angedeuteten Wege in der Behandlung der Menschenwürde ein. Sie reagieren auf Kant – nämlich auf Probleme, die Kants Moralphilosophie ihrerseits aufwirft. Und auch wenn sie je unterschiedlich auf Kant reagieren, so ist doch der Kern der Problematik in beiden Fällen derselbe. Als nicht überzeugend gilt hier wie dort Kants dualistische Anthropologie, die in der Trennung zwischen Sinnlichkeit und Vernunft besteht. In dieser Trennung erblickt Schiller den auf Dauer gestellten Konflikt zwischen Pflicht und Neigung, dem jeder einzelne Mensch in allen seinen Handlungen ausgeliefert ist, wenn sie denn einer moralischen Schätzung würdig sein sollen. Für Fichte und Hegel hingegen spricht aus dieser Trennung vor allem ein ungeklärtes Verhältnis zwischen Allgemeinem und Besonderem insofern, als es hier den Riss zwischen der praktischen Vernunft auf der einen Seite und dem Leben des einzelnen Individuums auf der anderen Seite bezeichnet. Mit einem Wort: Die nachkantische Philosophie zielt gegenüber Kants anthropologischem Dualismus auf Einheit. Und eben dieser – vielleicht überschwänglichen, aber den Autoren zufolge ganz offenbar im Bedürfnis des Lebens verankerten – Sehnsucht nach Einheit ist die Umdeutung der Bestimmung der Würde geschuldet. Als Leitbegriff praktischer Orientierung tritt Würde mithin in genau dem Maße in den Hintergrund, wie die Voraussetzungen, an die Kant sie bindet, als unzureichend, das menschliche Leben nicht befreiend, sondern beklemmend, bezweifelt werden. So besehen aber provoziert dieser Befund eine systematisch nicht unerhebliche Frage. Angenommen nämlich, dass die Kritik der Nachkantianer an Kant nicht einfach von der Hand zu weisen ist, und gesetzt zweitens, dass auf die Bestimmung der Würde zugleich auch nicht zu verzichten ist, muss man sich am Ende fragen, ob und wie sich denn von Würde sprechen lässt, ohne dabei die moralphilosophischen Voraussetzungen Kants zu teilen.
2 Die „Personalisierung“ der Würde bei Schiller Als dem einzigen, der sich überhaupt ausführlich mit der Bestimmung der Würde auseinandergesetzt hat, soll Schiller nun das erste Wort gehören. Kant selbst hat die Schrift Über Anmut und Würde nicht nur als eine „mit Meisterhand verfaßte Abhandlung“ gelobt, sondern auch betont, dass man sich „in den wichtigsten Prinzipien“ und ihren Konsequenzen doch völlig einig sei (AA VI, 23). Damit scheint Schillers Einsatz von vornherein der Wind aus den Segeln genommen, was
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Birgit Sandkaulen
immerhin etwas anderes ist, als ihm ein Missverständnis Kants zu unterstellen. Tatsächlich kann Kant sich darauf beziehen, dass Schiller die anthropologische Trennung zwischen Vernunft und Sinnlichkeit übernimmt. Worauf es jedoch ankommt, ist der Umgang mit dieser dualistischen Disposition, der die Konzeptionen beider deutlich voneinander unterscheidet. Genau diesen Unterschied hebt Kants Einlassung dann sogar hervor, wenn er nämlich einerseits unterstreicht, dass „ich dem Pflichtbegriffe, gerade um seiner Würde willen keine Anmut beigesellen kann“ (ebd.), während er andererseits der Tugend als der „fest gegründete[n] Gesinnung seine Pflicht genau zu erfüllen“, durchaus erlaubt, die anmutigen „Grazien“ im Gefolge zu haben, die Sinnlichkeit also mit ins Spiel zu bringen (ebd.). Die Würde des Menschen besteht darin, dass er sich kraft seiner Vernunft das Gesetz moralischen Handelns selber auferlegen und aus keinem anderen Motiv als dem der Pflichterfüllung tätig werden kann. Jedoch schließt dies nicht aus, dass der moralische Kampf der Pflicht gegen die Neigung, den der kategorische Imperativ in der verbindlichen Gestalt des Sollens schlechthin gebietet – ein Kampf, der Kant wörtlich an die „bezwungenen Ungeheuer“ des Herkules denken lässt (ebd.) – zum Habitus werden kann. Ein tugendhafter Mensch hat demnach die Erfüllung der Pflicht so sehr verinnerlicht, dass er nicht jederzeit, bei jeder anstehenden Handlung, das Prüfverfahren der Universalisierbarkeit seiner Maximen von neuem durchführen muss, sondern sich darauf verlassen kann, seine Maximen dem Moralgesetz entsprechend eingerichtet zu haben. Die Anstrengung und Gewaltsamkeit, die zunächst in der herkulischen Aufgabe der Durchsetzung der Pflicht gegen die Neigung liegt, mag sich dann verlieren. Habitualisierte Pflichterfüllung, die „das Gute auch lieb gewonnen“ hat, zeigt sich in „fröhliche[r] Gemütsstimmung“, und nicht in ängstlich verzerrter Grimasse (AA VI, 24). Anmut also ist die schöne Konsequenz der Würde, kann sie zumindest sein – in dieser Hierarchie lässt Kant den Beitrag Schillers gelten, den er damit jedoch zugleich um seine entscheidende Pointe bringt. Denn Würde und Anmut stehen für Schiller gerade nicht in einer hierarchischen Beziehung von Grund und Folge, sondern im Verhältnis der Konkurrenz, das einer je anderen Konstellation von Pflicht und Neigung, von Vernunft und Sinnlichkeit entspringt. Auf die konzeptionellen Schwierigkeiten und Widersprüche, in die Schiller sich in der Durchführung seiner Überlegungen verstrickt, kann ich an dieser Stelle nicht eingehen, das habe ich anderswo gezeigt.¹ Sieht man davon ab, dann stellt sich der Grundgedanke etwa folgendermaßen dar.
1 Vgl. Sandkaulen, 2002.
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Der eben exponierten Sehnsucht nach Einheit entspricht die Anmut. In der Übereinstimmung von Pflicht und Neigung verkörpert sie nichts Geringeres als das „Ideal vollkommener Menschheit“ (SW V a, 478): die Einheit der sinnlich-vernünftigen Natur des Menschen, die sich nicht in der Unterwerfung der Sinnlichkeit durch die Vernunft oder umgekehrt in der Unterwerfung der Vernunft durch die Sinnlichkeit, sondern als harmonische Durchdringung beider Hinsichten manifestiert. Mit diesem Ideal der Menschheit verträgt sich, so Schiller, die Würde aber nicht, denn im Kontrast zur versöhnenden Anmut ist Würde die Anzeige des „Widerstreits“ zwischen dem „Sittlichen und Sinnlichen“, der zugunsten der Vernunft entschieden wird (ebd.). Wo Anmut den Konflikt erst gar nicht aufkommen lässt, spitzt er sich im Fall der Würde unvermeidlich und sogar aufs Schärfste zu. Der Gedanke Kants, dass die Autonomie der moralischen Selbstgesetzgebung den „Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur“ ausmacht (AA IV, 436), wird damit von Schiller übernommen und wie bei Kant mit der emphatischen Bestimmung menschlicher Freiheit enggeführt. Anders jedoch als Kant schränkt Schiller die Reichweite dieses Autonomiegedankens ein. Würde als Index moralischer Selbstbestimmung kommt demnach dem Menschen nicht überhaupt in dem Maße zu, wie er über die Fähigkeit zu sittlichem Handeln generell verfügt. Bei Schiller wird sie vielmehr für den Extremfall einer Situation reserviert, in der unser Verlangen nach Einheit nicht befriedigt werden kann, in der also der Konflikt, der in den dualistischen Voraussetzungen der kantischen Theorie angelegt ist, ganz bewusst hervorgekehrt wird und zur würdevollen Bewältigung aufgegeben ist. Gegenüber Kant verändert Schiller das Tableau somit in zweierlei Hinsicht. Während die Anmut auf der einen Seite die Trennung zwischen Vernunft und Sinnlichkeit und damit die Pflicht zur Überwältigung der Sinnlichkeit je schon unterläuft, lenkt die Würde auf der anderen Seite die ganze Aufmerksamkeit auf den Zwiespalt der menschlichen Natur, der die Ansprüche an unser Verhalten ins Heroische steigert. Dass Schiller in beiderlei Hinsicht in die Vorlage Kants eingreift, ist entscheidend. Gerade weil die Harmonie der Anmut hier nicht lediglich ergänzend hinzutritt – so hatte Kant selbst das Verhältnis von Pflicht und Tugend ja interpretiert –, eröffnet sich auch mit der Kontrastbestimmung der Würde in ihrer bei Schiller aufstilisierten Charakteristik der Dissonanz eine durchaus neue Perspektive. Das lässt sich noch deutlicher zeigen, wenn man sich zunächst einmal fragt, wie es denn zu diesen verschiedenen Konstellationen überhaupt kommen kann. Wieso gelingt es uns im einen Fall, Pflicht und Neigung zur Übereinstimmung und uns damit dem „Ideal vollkommener Menschheit“ näher zu bringen, im andern Fall aber nicht? Wieso dürfen wir uns in dem einen Fall unseren Neigungen überlassen, während wir sie im andern Fall bekämpfen und in solchem Kampf
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unsere Würde demonstrieren müssen? Aus kantischer Sicht ergibt diese Frage keinen Sinn, da es sich hier nicht um verschiedene Fälle, sondern allein um die Differenz zwischen dem allgemeinen Moralgesetz und dessen habitualisierter Erfüllung handeln kann.Wenn Schiller demgegenüber mit den Bestimmungen von Anmut und Würde verschiedene Situationen unterscheidet, dann deshalb, weil er anders als Kant zwischen verschiedenen Typen von Neigungen unterscheidet. Mit anderen Worten: wenn man vom Menschen als einem „sinnlich-vernünftigen“ Wesen spricht, dann hat man über die Art und Weise dieser Sinnlichkeit noch gar nichts gesagt. Und insofern sich Schiller seinerseits an dieser dualistischen Figur orientiert und sich dementsprechend auch an die pauschale Redeweise von der „Sinnlichkeit“ bindet, hat er selbst ersichtliche Schwierigkeiten, seinen ebenso plausiblen wie wichtigen Gedanken zu artikulieren. Erkennen kann man gleichwohl,wie er innerhalb der Zwänge der kantischen Theorie zugleich über Kant hinausstrebt. Ohne über eine ausdifferenzierte Theorie der Emotionen oder Affekte zu verfügen, verteidigt er nämlich im Fall der Anmut solche Empfindungen, „die der Mensch ohne Erröten sich gestehen darf“ (SW V a, 467), den „uneigennützigen Affekt“ (ebd., 466): die ganze Palette altruistischer Neigungen oder moralischer Gefühle also, die Schiller insbesondere mit dem Ausdruck Liebe einzufangen sucht. Die Sehnsucht nach Einheit und die Auszeichnung der Liebe gehen – wie dann auch bei den anderen nachkantischen Positionen – Hand in Hand. Im Kontrast dazu hat man es im Fall der Würde und dem hier virulenten Konflikt zwischen Pflicht und Neigung mit einem ganz anderen Typ von Affekten zu tun. Hier geht es um das „blinde“ Begehren, das unserem Selbsterhaltungstrieb entspringt und uns auf aufdringliche Weise demonstriert, dass wir nicht anders als jedes andere Tier Naturwesen und den Bedürfnissen unserer Natur wirklich ausgeliefert sind (ebd., 471 f.). Der Ausdruck „Sinnlichkeit“ deckt diese Differenz wie gesagt nicht ab. Stellt man aber in Rechnung, dass Schillers Theorie der Würde auf dieser Differenz der jeweilig in Anschlag gebrachten Neigungen basiert, dann ergeben sich zwei bedeutsame Konsequenzen. Die erste Konsequenz betrifft die Art des Konflikts, wie er im Fall der Würde zum Austrag kommt. Dass der Konflikt überhaupt nur deshalb entsteht, weil Menschen – anders als Tiere – auch Vernunftwesen sind, ist klar. Aber dass sie auch Vernunftwesen sind, geht hier nun mit einer deutlich dramatischeren Sicht auf unsere Naturverfallenheit einher. Die Überwältigung durch körperlichen Schmerz und die unwillkürliche Jagd nach Triebbefriedigung, die das Heft des Handelns an sich reißen wollen, machen uns zu Objekten unserer physischen Begierden. Solchen Begierden zu widerstehen, ohne sie leugnen oder überhaupt aus der Welt schaffen zu können, ist die „moralische Kraft“ der „Geistesfreiheit“ (ebd., 475). Ihre Größe bezieht solche Geistesfreiheit damit nicht so sehr aus sich selbst, aus so etwas wie einer verlässlichen Ausstattung des
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Menschenwesens mit der Mitgift der Vernunft, als vielmehr aus der andrängenden Gewalt des Naturtriebs, dem übermächtigen „Leiden“ (ebd., 476 f.), wie Schiller sagt, dem sie sich trotzdem widersetzt. Dieser Akzentverschiebung in der dramatischen Ausleuchtung unserer Naturverfallenheit entspricht, dass Würde zu demonstrieren weniger als Ausweis unserer „Menschheit“ wie bei Kant denn als Ausweis übermenschlicher Kraft zu verstehen ist (ebd., 479).² Nur in extremen Situationen, deren Bewältigung heroische, unsere Bewunderung erregende Anstrengung verlangt, ist die Demonstration von Würde angemessen und gefordert, während es abgeschmackt und verächtlich ist, sich „bei gleichgültigen Verrichtungen“ und alltäglichen Anforderungen an unser Verhalten in die Pose der „Dignität“ zu werfen (ebd., 478). Es ist klar, woran Schiller denkt: daran, Fassung zu gewinnen und zu bewahren trotz schwerster Krankheit, trotz massivster Beeinträchtigung natürlicher Lebensvollzüge, trotz der Überwältigung durch Unglück und Not und der je damit einhergehenden blinden Affekte. Und insofern ist auch klar, dass hier der Stoff liegt, aus dem der Held der Tragödie modelliert werden kann. Umso signifikanter ist, dass Schiller auch in seinen Reflexionen Über das Pathetische auf der Bühne betont, dass die „Darstellung der moralischen Freiheit“ nur in dem Maße überzeugt, wie die „lebendigste Darstellung der leidenden Natur“ gelingt: der „tragische Held muß sich erst als empfindendes Wesen bei uns legitimiert haben, ehe wir ihm als Vernunftwesen huldigen und an seine Seelenstärke glauben“ (SW V b, 513). Dabei macht Schillers Bühnenvision zugleich auch die zweite Konsequenz seines Ansatzes besonders plastisch. Die moralische Kraft, die der menschlichen Naturverfallenheit in extremen Situationen widersteht, findet in Gestalt der Würde ihren „Ausdruck in der Erscheinung“ (SW V a, 475). Das heißt: Würde ist Schiller zufolge nie anthropologisch garantierter Besitz, sie ist nicht angeboren wie bei Kant, sie ist auch nicht nur Potential oder Fähigkeit, sondern eine Leistung, die tatsächlich erbracht wird. Und damit geht folgerichtig einher, was wiederum im Verhältnis zu Kant nachdrückliches Interesse verdient. Um die Eigenart seiner Position zu unterstreichen, unterscheidet Schiller nämlich zwischen Achtung und Hochachtung. Achtung fordert das moralische Gesetz, unabhängig davon, ob wir es akut erfüllen oder nicht. Unsere Hochachtung hingegen gilt demjenigen, der die Realisierung des Gesetzes in Form seines würdevollen Verhaltens wirklich praktiziert. Dem Charakter einer persönlichen Leistung entspricht damit eine spezifische Form persönlicher Anerkennung, die Schiller ausdrücklich ein „freieres
2 „Überhaupt gilt hier das Gesetz, daß der Mensch alles mit Anmut tun müsse, was er innerhalb seiner Menschheit verrichten kann, und alles mit Würde, welches zu verrichten er über seine Menschheit hinausgehen muß.“ (SW V a, 479)
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Gefühl“ nennt. Dass er dieses gegenüber dem „Zwang“ der Achtung freiere Gefühl der Hochachtung zugleich mit der Liebe in Verbindung bringt, verwirrt die Systematik und zeigt von neuem, wie schwer es ist, auf kantischer Grundlage unseren emotionalen Haushalt zureichend zu erfassen (SW V a, 483 Anm.). Dennoch wird deutlich genug, worauf Schiller zielt. Sowohl in der Akzentuierung der Würde als einer situationsbedingten Leistung als auch in der Akzentuierung unserer freien Hochachtung für diese Leistung geht es hier um eine Dimension, die ich im Gegenzug zum Universalismus des Moralgesetzes bei Kant die Personalisierung der Würde nennen möchte.
3 Die „Entpersonalisierung“ der Würde bei Fichte und Hegel Das Stichwort „Personalisierung“ bildet die Brücke, auf der ich zu den Positionen von Fichte und Hegel übergehen kann – und zwar nicht im Sinne einer Fortsetzung des Schillerschen Ansatzes, sondern im Sinne einer Alternative, die sich ihrerseits nun geradezu einer Entpersonalisierung der Würde verschreibt und damit auf andere Weise über die Theorieanlage Kants hinausstrebt. Schematisch kann man sich dies am besten folgendermaßen verdeutlichen. Ausgangspunkt ist hier wie bei Schiller der von Kant zugrundegelegte Dualismus von Sinnlichkeit und Vernunft. Schillers Einsatz besteht wie gesehen darin, diesen Dualismus von der Seite der Sinnlichkeit her anzugreifen. Sei es in seiner Aufhebung durch die Anmut, sei es in seiner Zuspitzung und persönlichen Bewältigung in Gestalt der Würde: In beiden Fällen konterkariert Schiller die These Kants, wonach uns Würde in dem Maße zukommt, wie wir als vernünftige Wesen zur moralischen Selbstgesetzgebung fähig sind. Denn entweder hat der Imperativ dieser Selbstverpflichtung in der anmutigen Übereinstimmung von Pflicht und Neigung gar keinen Ort oder aber er ist im persönlichen Handeln eines Individuums auf eine Weise erfüllt, die uns nicht die vernünftige Disposition der „Menschheit“ in uns achten, sondern vielmehr denjenigen konkreten Menschen hochachten lässt, der seiner Naturverfallenheit im Extremfall wirklich widersteht. Demgegenüber lenken Fichte und Hegel die Aufmerksamkeit auf die andere Seite des Dualismus, nämlich auf die Vernunft. Und dabei machen sie nun Ernst mit der kantischen Bestimmung, dass die Vernunft die universale Dimension der „Menschheit“ vertritt. Das heißt: Das Gefälle zwischen Pflicht und Neigung, zwischen Moralität und Sinnlichkeit, das bei Kant den einzelnen Menschen in die Hinsichten der Menschheit auf der einen Seite und der empirischen Person auf der anderen Seite zerreißt, wird hier uminterpretiert zu einem Verhältnis, das zwi-
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schen Allgemeinem und Besonderem, zwischen der allgemeinen Vernunft einerseits und den menschlichen Individuen andererseits besteht. Diese Uminterpretation entbehrt nicht der Radikalität. Jedoch macht sie eigentlich eine Konsequenz nur sichtbar, die in Kants Moralphilosophie liegt, hier aber in eine gewisse Zweideutigkeit verhüllt bleibt. Denn wer ist das Subjekt moralischer Selbstverpflichtung bei Kant? Wer ist hier der Träger menschlicher Würde? Wie schwer es ist, innerhalb der kantischen Theorie die Bandbreite unseres emotionalen Haushalts zu erfassen, hat sich in der Diskussion der Schillerschen Position gezeigt. Dass es genauso schwer ist, ausgehend von der Trennung zwischen Vernunft und Sinnlichkeit ein Subjekt zu identifizieren, das sich selbst als sinnlich-vernünftiges Wesen erfährt und dem man als konkretem Subjekt Würde überhaupt zuschreiben könnte, ist an dieser Stelle entscheidend zu ergänzen. Die Konsequenz, die Fichte und Hegel aus dieser Problematik ziehen, habe ich schon angedeutet: Anstatt nach dem individuellen Subjekt einer solchen Zuschreibung Ausschau zu halten, gilt ihr Interesse im Gegenteil einer Vernunft, die die Frage der Verschiedenheit konkreter Individuen neutralisiert, indem sie alle Individuen substantiell vereint. In anderer Weise als bei Schiller, aber durch eine analoge Sehnsucht nach Einheit getragen, verliert der Diskurs über Menschenwürde damit seine anthropologisch ausgewiesene Funktion. Einer spezifischen Würde sind Menschen nicht deshalb teilhaftig, weil sie Menschen sind und insofern über die Fähigkeit moralischer Selbstbestimmung verfügen. Wenn man überhaupt noch von Würde spricht, dann besagt dies jetzt, dass Menschen an der Würde der Vernunft partizipieren, und zwar in genau dem Maße, wie sie begreifen, dass es auf den einzelnen Menschen als solchen keineswegs ankommt. Fichte ist der erste, der diese Konsequenz ausbuchstabiert – vom Furor geradezu einer Einheitsvision getragen, die den in der Anlage Kants liegenden Konflikt zwischen Vernunft und Sinnlichkeit zum Prospekt einer Menschheitsgeschichte uminterpretiert, der alle Differenz im Namen der einen Vernunft versöhnt. Denn worin besteht die Würde des Menschen, die Fichte in seinem eingangs erwähnten Text unter Zuhilfenahme aller rhetorischen Register beschreibt? Sowohl theoretisch, in der Anspannung seiner Erkenntniskräfte, als auch praktisch, in der tätigen Umsetzung seiner Zwecke, ist der Mensch Fichte zufolge derjenige, der Ordnung stiftet und Zusammenhang. Das betrifft basalerweise die Natur, darauf aufbauend aber auch und wesentlich die menschliche Kultur, und bis hierhin könnte es scheinen, als liege die Würde des Menschen darin, im Unterschied zu anderen Lebewesen die absolute Gestaltungshoheit über sein Leben zu besitzen. Dieser Gedanke erinnert – im Unterschied zu Schillers tragisch grundierter Version der Würde und ihrer im Extremfall erbrachten persönlichen Leistung – an die aus allen Bindungen freigesetzte Schöpfungsmacht, in der Pico della Mirandola das bestimmende Moment der Würde des Menschen sah.
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Tatsächlich schwingt solches Pathos des Könnens bei Fichte mit. Entscheidend ist aber, worauf sein Text dann zusteuert, auf den Satz nämlich: „Das ist der Mensch; das ist jeder, der sich sagen kann: Ich bin Mensch“ (FW I, 415). Denn in diesem Satz ist beschlossen und mit Bewusstsein begriffen, dass „alle Geister mit seinem Geiste Einen Geist ausmachen“ (ebd.).Wenn man hier überhaupt noch eine spezifische Signatur von Würde ausmachen will, so kann man gegenüber Schiller vermerken, dass sie für Fichte von neuem eher ein Besitz denn eine besondere Leistung darstellt, denn schließlich umfaßt die Einigkeit der Geister auch den „verworfenste[n], elendeste[n] Bösewicht“, sowie er nur sagt: „Ich bin“ (ebd.). Aber dieses Subjekt des Ich-Sagens ist zugleich kein persönliches Ich. Aus ihm spricht die Einigkeit derer, die „ich“ sagen können und sich darin eo ipso an eine überindividuelle Instanz adressieren. Kein Wunder, dass Fichte seine Vorlesung mit diesen Worten beschließt: „Erd und Himmel und Zeit und Raum und alle Schranken der Sinnlichkeit schwinden mir bei diesem Gedanken; und das Individuum sollte mir nicht schwinden? – Ich führe Sie nicht zu demselben zurück. Alle Individuen sind in der Einen großen Einheit des reinen Geistes eingeschlossen“ (ebd., 416). Von der Würde des Menschen zu sprechen, von einem Wesen, das zumindest durch seine physische Konstitution unhintergehbar in Raum und Zeit existiert, wird da zur rhetorischen Phrase. Indessen, und darauf kommt es mir hier an, sind dies nicht die Steilflüge haltloser Spekulation, sondern die Ergebnisse eines Denkens, das die eindeutige Konsequenz aus Kants ambivalenter Vorlage zieht. Dass Fichte sich völlig darüber im Klaren ist, dass und wie er in diese Vorlage eingreift, um Kants Theorie nicht nur konsistent erscheinen zu lassen, sondern in eins damit auch ihren für unerträglich erachteten Dualismus zu überwinden, zeigt schließlich auch sein System der Sittenlehre von 1798. Und diese Passage ist um so wichtiger, als sie sich auf diejenige berühmte Formulierung des kategorischen Imperativs bezieht, die nicht von ungefähr auch im gegenwärtigen Zusammenhang des Diskurses über die Menschenwürde vorzugsweise beachtet wird. Diese Formulierung lautet bekanntlich: „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ (AA IV, 429) Kant stützt diesen Gedanken, der jeder Instrumentalisierung des Menschen als einer bloßen „Sache“ einen Riegel vorschieben soll, durch die Unterscheidung zwischen Preis und Würde.Was als Mittel zum Zweck und somit als Werkzeug dient, hat einen Preis und ist je nach Marktlage durch ein Äquivalent jederzeit austauschbar. Demgegenüber besitzt Würde, was durch einen „innern Wert“ ausgezeichnet ist, der in keiner Äquivalenzbeziehung steht. Die Menschheit in der eigenen und der Person jedes andern als Zweck an sich selbst zu achten, geht so mit der Anerkennung der Würde als
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eines unbedingten Werts einher, der in der Fähigkeit zur moralischen Selbstverpflichtung gründet (ebd., 434 f.). Man ist geneigt, aus dieser Überlegung zu folgern, dass Menschen als Personen Würde besitzen und niemals als Werkzeuge zu anderen Zwecken gebraucht werden dürfen. „Jeder Mensch ist selbst Zweck, sagt Kant mit allgemeiner Beistimmung“, so formuliert auch Fichte (FW IV, 255). Allerdings ist das nur der Anfang des fraglichen Passus, denn liest man Kant genau, wie Fichte es tut, so ist keineswegs evident, dass es die Person ist, der eine unbedingte Würde zukommt. Vielmehr ist es in Wahrheit die Menschheit, die den Imperativ des Selbstzwecks des vernünftigen Wesens trägt, woraus Fichte unerschrocken schließt, dass nichts daran hindert, den einzelnen Menschen sehr wohl als Werkzeug zu begreifen: als Werkzeug des Sittengesetzes nämlich, das so zur Durchsetzung gelangt. In diesem Sinne ist der Einzelne „Zweck, als Mittel, die Vernunft zu realisiren“ (ebd., 256). Und da Fichte genau weiß, dass er mit dieser Denkfigur, die den Zweck des Menschen zum Mittel der Vernunft erklärt, gegen das übliche Kant-Verständnis verstößt, fügt er sogleich hinzu, dass durch seine Überlegung „die Würde der Menschheit nicht herabgesetzt, sondern erhöhet“ werde (ebd.). Denn nun, so lautet sein Argument, ist jedem „die Erreichung des Gesammtzwecks der Vernunft aufgetragen“, und „gerade dadurch, dass seine ganze Individualität verschwindet und vernichtet wird“, wird jeder zur „reine[n] Darstellung des Sittengesetzes in der Sinnenwelt; eigentliches reines Ich, durch freie Wahl und Selbstbestimmung“ (ebd.). Wo Schiller versucht, der Theorie Kants durch die Personalisierung der Würde einen Zug abzugewinnen, der begreifen lässt, dass es um uns und unser Leben geht, da versucht Fichte eben diesen Nachweis umgekehrt durch eine strikte Entpersonalisierung zu führen. Nichts Besseres kann uns passieren, als die Würde der Menschheit mit der Einsicht zusammenzuschließen, dass die Trennung zwischen Sinnlichkeit und Vernunft, zwischen Sein und Sollen verschwindet, wenn wir der Verwirklichung der einen Vernunft als deren Instrumente dienen. Mit diesem Gedanken ist schließlich auch Hegel grundsätzlich einverstanden. Auch hier kommt es deshalb darauf an zu sehen, dass im Namen der Vernunft Kants anthropologischer Dualismus nicht in einer anderen Variante fortgesetzt, sondern wirklich außer Kraft gesetzt werden soll. Aus den Trennungen Kants herauszuführen, versteht Hegel nicht anders als Fichte als Projekt einer Befreiung, das die Ambivalenzen Kants zugleich hinter sich lässt. Anders als Fichte verzichtet Hegel indes auch noch darauf, in der Vernunft so etwas wie die Instanz eines moralischen Gesetzes zu sehen.Wo von einem Gesetz die Rede ist, so lautet Hegels Argument, da ist immer noch eine Verpflichtung im Spiel, die den Abstand zwischen Pflicht und Neigung, zwischen der Geltung des Allgemeinen und dem Handeln der einzelnen Individuen im Bewusstsein hält.
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In den Grundlinien der Philosophie des Rechts ersetzt Hegel darum die Instanz des moralischen Gesetzes konsequent durch die Analyse konkreter Sittlichkeit, die diejenigen Lebensformen thematisiert, in denen wir Hegel zufolge wirklich leben. Die Rede von der Würde des Menschen, der von Kant her eine kontrafaktische Norm eingeschrieben ist, verliert damit endgültig ihren Sinn. An den wenigen Stellen, an denen Hegel überhaupt noch von Würde spricht, kommt sie deshalb weder dem einzelnen Individuum noch aber auch einer gesetzesförmigen Vernunft zu, sondern dem „sittlichen Charakter“, der das „zur wirklichen Vernünftigkeit aufgeschlossene Allgemeine als seinen bewegenden Zweck weiß und seine Würde sowie alles Bestehen der besonderen Zwecke in ihm gegründet erkennt und wirklich darin hat“ (TWA 7, § 152).³ Kein Besitz des Menschen, keine Fähigkeit seiner vernünftigen Natur und auch keine abgründig übermenschliche Leistung, ist das Bewusstsein, Würde zu haben, zu einem anderen – und in Wahrheit verzichtbaren – Ausdruck dafür geworden, dass die Vernunft in einem politischen Gemeinwesen die Gestalt angenommen hat, die ein freies, d. h. für Hegel versöhntes Leben zu führen erlaubt.
4 Schlussüberlegungen Ich komme mit einer abschließenden Überlegung zum Schluss. Panajotis Kondylis hat in seinem im Lexikon Geschichtlicher Grundbegriffe erschienenen Beitrag zum Stichwort „Würde“ die These aufgestellt, dass Würde ihre traditionelle Bedeutung im Rahmen einer „dualistischen Vernunftanthropologie“ erhält (Kondylis, 2004, S. 665 ff.). Wo diese Anthropologie an Geltung verliert, büßt deshalb auch Würde ihre Bedeutung ein. Dieser These schließe ich mich nach meinen Ausführungen grundsätzlich an, widerspreche jedoch Kondylis in einem entscheidenden Punkt. Während er nämlich auch die nachkantischen Äußerungen zur Würde immer noch der dualistischen Anthropologie Kants verpflichtet sieht, habe ich im Gegenteil herausgestellt, dass die Sehnsucht nach Einheit, der monistische Grundzug dieser 3 Vgl. den Passus im Ganzen: „Die sittliche Substantialität ist auf diese Weise zu ihrem Rechte und dieses zu seinem Gelten gekommen, daß in ihr nämlich die Eigenwilligkeit und das eigene Gewissen des Einzelnen, das für sich wäre und einen Gegensatz gegen sie machte, verschwunden [ist], indem der sittliche Charakter das unbewegte, aber in seinen Bestimmungen zur wirklichen Vernünftigkeit aufgeschlossene Allgemeine als seinen bewegenden Zweck weiß und seine Würde sowie alles Bestehen der besonderen Zwecke in ihm gegründet erkennt und wirklich darin hat. Die Subjektivität ist selbst die absolute Form und die existierende Wirklichkeit der Substanz, und der Unterschied des Subjekts von ihr als seinem Gegenstande, Zwecke und Macht ist nur der zugleich ebenso unmittelbar verschwundene Unterschied der Form.“ (TWA 7, § 152)
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Philosophie also, der philosophisch im Rückgriff auf Spinoza, politisch aber ganz offenkundig zugleich in den Verheißungen der Französischen Revolution begründet liegt, einer solchen Anthropologie widerspricht – mit der Konsequenz, dass Würde die Stellung eines Leitbegriffs menschlicher Selbstverständigung bereits hier verliert. Dieses, wenn man so will, ‚negative’ Ergebnis meiner Überlegungen ist aber genau deshalb nicht überflüssig, sondern gerade in systematischer Hinsicht relevant. Denn angesichts der Konsequenz, mit der Schiller, Fichte und Hegel in die theoretischen Voraussetzungen Kants eingreifen, stellt sich ja die Frage um so dringlicher, worauf denn die Bestimmung der Würde gestützt werden soll, wenn ihre Stütze in Kants „dualistischer Vernunftanthropologie“ bereits in den Augen seiner unmittelbaren Nachfolger nicht trägt. Eine hinreichende Antwort auf diese Frage kann ich hier natürlich nicht geben. Maßgeblich scheint mir aber aufgrund der vorgestellten Problematik die Richtung zu sein, in der man nach einer solchen Antwort zu suchen hat. Um einen Träger der Würde identifizieren zu können, bedürfte es einer grundsätzlichen Verständigung über den Begriff personaler Individualität. Mit guten Gründen hat ja bereits Schiller in diese Richtung gewiesen. Allerdings hat er dabei die Würde mit einer situationsbedingten heroischen Leistung des Individuums so sehr enggeführt, dass sie zur Unterfütterung etwa des Grundgesetzes, wonach die Würde des Menschen unantastbar ist, nicht wirklich taugt. Der Begriff personaler Individualität müßte deshalb so konzipiert werden, dass die Person nicht mit ihren aktuellen Leistungen identifiziert, sondern vielmehr als Basis auch solcher Leistungen verstanden wird, die Schiller ins Zentrum der Aufmerksamkeit stellt. Als basal wäre demnach die Fähigkeit der Person zu begreifen, sich zu sich als einem sinnlich-vernünftigen Wesen zu verhalten. Hält man aber dies fest, dann folgt daraus zugleich, dass ein solches personales Selbstverhältnis weder nach Maßgabe vernünftiger noch nach Maßgabe natürlicher Dispositionen und entsprechender Erklärungen zu erschließen ist. Der berühmte Satz: individuum est ineffabile bringt eben das zum Ausdruck.⁴ Und genau darin, sich unter allen Umständen den Maßgaben wissenschaftlicher, technischer und politischer Vergegenständlichung zu entziehen, besteht dann auch die ineffable Würde des Menschen und der schutzbedürftige Spielraum seiner Freiheit.
4 Vgl. Sandkaulen, 2012.
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Literatur Fichte, Johann Gottlieb (1971): Appellation an das Publikum, in: Fichtes Werke, Bd. V, hrsg. v. Immanuel Hermann Fichte, Berlin. (Zit. mit FW V.) Fichte, Johann Gottlieb (1971): Das System der Sittenlehre, in: Fichtes Werke, Bd. IV, hrsg. v. Immanuel Hermann Fichte, Berlin. (Zit. mit FW IV.) Fichte, Johann Gottlieb (1971): Über die Würde des Menschen, in: Fichtes Werke, Bd. I, hrsg. v. Immanuel Hermann Fichte, Berlin. (Zit. mit FW I.) Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1970): Grundlinien zur Philosophie des Rechts, in: Theorie-Werkausgabe, Bd. 7, hrsg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Frankfurt a.M. (Zit. mit TWA 7.) Kant, Immanuel (1968): Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Gesammelte Schriften, Bd. IV, hrsg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin (Nachdruck der Ausgabe 1903). (Zit. mit AA IV.) Kant, Immanuel (1968): Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, in: Gesammelte Schriften, Bd. VI, hrsg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin (Nachdruck der Ausgabe 1907). (Zit. mit AA VI.) Kondylis, Panajotis (2004): „Würde“, in: Brunner, Otto/Conze Werner/Koselleck, Reinhart (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 7, Stuttgart, S. 637 – 677. Sandkaulen, Birgit (2002): „Die ‚schöne Seele’ und der ‚gute Ton’. Zum Theorieprofil von Schillers ästhetischem Staat“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 76, S. 74 – 85. Sandkaulen, Birgit (2012): „’Individuum est ineffabile’. Zum Problem der Konzeptualisierung von Individualität im Ausgang von Leibniz“, in: Gräb, Wilhelm/Charbonnier, Lars (Hrsg.): Individualität. Genese und Konzeption einer Leitkategorie humaner Selbstdeutung, Berlin 2012, S. 153 – 179. Schiller, Friedrich (1993): Über Anmut und Würde, in: Sämtliche Werke, Bd. V, hrsg. v. Gerhard Fricke u. Herbert G. München. (Zit. mit SW V a.) Schiller, Friedrich (1993): Über das Pathetische, in: Sämtliche Werke, Bd. V, hrsg. v. Gerhard Fricke u. Herbert G, München. (Zit. mit SW V b.)
Christian Klotz
Monismus und Freiheit in Fichtes Philosophie der Religion Die philosophische Bewegung, die gemeinhin als „Deutscher Idealismus“ bezeichnet wird, kann ebenso – und aussagekräftiger – als nachkantischer Monismus charakterisiert werden. Denn die in einigen Hinsichten sehr unterschiedlichen Positionen, die ihr zugeordnet werden, setzen sich methodisch und inhaltlich dadurch von Kant ab, dass sie auf den Gedanken eines Absolutums gegründet sind, das sich in allem Wirklichen entfaltet. Dieser monistische Grundgedanke sollte aber zugleich mit den Einsichten Kants verbunden werden, die unaufgebbar erschienen. Hierzu gehörte zumindest in den Anfängen des Idealismus offenbar Kants These, die Annahme der Freiheit des Willens lasse sich verteidigen, ungeachtet aller scheinbar dieser These widersprechenden wissenschaftlichen Erkenntnis. Im Hinblick darauf, dass der Deutsche Idealismus in seinen Anfängen eine monistische Grundposition mit der Verteidigung des Freiheitsgedankens zu verbinden suchte, wurde sein Programm als das eines „Spinozismus der Freiheit“ beschrieben.¹ Diese Charakterisierung betont zugleich die innere Spannung, mit der ein solches Projekt behaftet ist, galt Spinoza doch gerade als Leugner der Willensfreiheit, und dies infolge seines Monismus, der den Menschen nur als determinierten, unselbständigen Modus der einen Substanz verstehen lässt. Kann man sich einen Spinozismus – oder allgemein: einen Monismus – überhaupt denken, der uns nicht zu fremdbestimmten Rädchen in der großen Maschinerie des Einen werden lässt? Der frühe Fichte hat dieses Problem bekanntlich dadurch zu lösen versucht, dass er das monistische Prinzip mit der „Ichheit“ identifiziert hat, d. h. dem Grundcharakter der Subjektivität, der darin besteht, sich selbst zu konstituieren. Sofern wir wesentlich Subjekte, d. h. individualisierte Instanzen der so verstandenen „Ichheit“ sind, müssen wir dann auch durch Selbstbestimmung charakterisiert sein, wenngleich wir diese immer nur in begrenzter Weise und unter Widerständen ausüben können. So folgt die Freiheitsannahme geradezu daraus, dass wir nichts anderes als Instanzen des monistischen Prinzips sind. Fichte ist jedoch bekanntlich in seiner Spätphilosophie von der am Ichbegriff orientierten Begründungsweise abgerückt. Stattdessen fasst er das monistische Prinzip nun als „Sein“, womit ein allem Wissen vorgängiges Absolutum gemeint ist, als dessen „Bild“ das Wissen nun gefasst ist. Sofern von einem „Ich“ nur auf der Ebene des
1 S. Henrich, 2003, z. B. S. 73.
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Wissens die Rede sein kann, geht Fichte in seiner Spätphilosophie also wirklich hinter die am Ichbegriff orientierte Begründung des Monismus zurück. Damit ist aber auch der direkte Übergang vom monistischen Prinzip zu dem Gedanken unserer Selbstbestimmung nicht mehr möglich. Und so stellt sich die Frage, was dies für das Projekt des „Spinozismus der Freiheit“ bedeutet, das Fichtes Philosophie in ihrem Anfang zweifellos bestimmt hat. Wird dieses Projekt in Fichtes später Philosophie des absoluten Seins noch in irgendeiner plausiblen Weise weitergeführt, oder muss man sagen, dass es letztlich aufgegeben wird? Dieser Frage soll im Folgenden nachgegangen werden, indem Fichtes Anweisung zum seligen Leben (1806) betrachtet wird, die als Haupttext des späten Fichte zur Religionsphilosophie gelten kann. Diese Schrift scheint mir besonders geeignet, die gestellte Frage zu diskutieren, da Fichte die Religion hier offenbar als eine monistische Sicht der Welt interpretiert, die ganz dem Monismus des Seins entspricht, der nun zur Grundlage der eigenen Philosophie geworden ist.² Zugleich will er aber offenbar dem kantischen Projekt einer philosophischen Auslegung der Religion treu bleiben, die mit der Verteidigung der Freiheit des Menschen in Einklang steht.³ Damit wird es aber unerlässlich, zu klären, in welchem Sinn der Monismus des Seins es noch erlaubt, von unserer Freiheit zu sprechen. Fichte geht in seiner späten Religionsschrift denn auch in besonders erhellender Weise auf diese Frage ein. In ihr wird deutlich, dass Fichte nun tatsächlich, und als Konsequenz seines Monismus, das Projekt einer noch kantisch zu nennenden Verteidigung der Willensfreiheit aufgegeben hat und stattdessen von Freiheit in einem ganz anderen Sinn spricht, der wesentlich auf den Gedanken einer Pluralität für uns möglicher Weltansichten bezogen ist. Dies wird jedenfalls meine zentrale These sein.⁴
2 So betrachtet Fichte als Prinzip aller Religion die Überzeugung, dass „Gott allein, ist, und ausser ihm nichts“ (AsL, S. 81). 3 Dieses Projekt ist schon in Kants Lehre von Gott als Postulat der reinen praktischen Vernunft leitend; hinsichtlich der historisch-konkreten Erscheinungsform der Religion ist es aber im zweiten und dritten Stück der Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft ausgeführt (s. Kant, 1907, S. 55 ff.). Fichtes Versuch einer Kritik aller Offenbarung (1792) lässt sich noch klar dem kantischen Projekt einer dem moralischen Standpunkt verpflichteten Religionsphilosophie zuordnen. 4 Fichtes Schrift soll hier nur unter diesem Aspekt und nicht unter eigentlich religionsphilosophischen oder theologischen Gesichtspunkten betrachtet werden, die in neueren Untersuchungen ausführlich erörtert wurden. So hat Björn Pecina Fichtes Anweisung in den Kontext der philosophischen Entwicklung Fichtes und der religionsphilosophischen Debatten der Zeit gestellt, wobei ihre Bedeutung darin bestehe, eine neue Theorie der religiösen Affektivität zu entfalten (Pecina, 2007). Erwähnt sei hier auch die umfangreiche Untersuchung von Emilio Brito über Fichtes Verständnis des Christentums (Brito, 2004) sowie die u. a. der Bedeutung der
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In drei Schritten soll die angedeutete These ausgeführt werden: Erstens soll der Freiheitsbegriff identifiziert werden, den Fichte in seiner späten Religionsphilosophie im Ausgang vom monistischen Prinzip des Seins ins Spiel bringt; in einem zweiten Schritt wird dessen Differenz zum kantischen Begriff der Willensfreiheit deutlich gemacht, dem Fichte hier nur noch eine untergeordnete Rolle zuweist; und drittens werde ich versuchen, die vom kantischen Akteursstandpunkt distanzierte Perspektive zu erhellen, die Fichte dem religiösen Bewusstsein zuordnet.
1 Der Bildcharakter des Bewusstseins und die Pluralität möglicher Weltansichten Der enge Zusammenhang zwischen den Grundlagen der Spätphilosophie Fichtes und seiner Religionsphilosophie wird in der Anweisung sehr deutlich, wenn Fichtes Gedankengang mit der „Aufgabe“ einsetzt, das „Sein“ zu denken, und damit den grundlegenden Begriff der späten Wissenschaftslehre.⁵ Das Sein wird hierbei als eine Instanz definiert, die vollkommen durch sich und aus sich ist. Es wird somit durch Attribute charakterisiert, die es als Absolutum kennzeichnen, und durch keine weiteren. Der entscheidende Schritt, der über diesen für sich kaum erklärungskräftigen Ausgangsbegriff hinausführt, ist jedoch erst mit Fichtes Feststellung gegeben, dass das Sein im definierten Sinn ganz in sich geschlossen, damit aber noch nicht „Dasein“ ist, d. h. noch keine Äußerung seiner selbst im Sinne einer Manifestation oder „Offenbarung“ seiner einschließt.⁶ Dies erfordert ein Verhältnis zwischen ihm selbst und seiner Manifestation, das der Definition nach im Sein noch nicht angelegt ist. Die Manifestation müsste sich auf das Sein, wie es in sich ist, als Ausdruck seiner selbst – als „Bild“, wie Fichte sagt – beziehen. Sie müsste somit einen auf das Sein bezogenen repräsentationalen Charakter besitzen. Fichte sagt daher, die Äußerung des Seins sei wesentlich „Wissen“, oder „Bewusstsein“ (nämlich des Seins).⁷ Dass wir das Wort „Bewusstsein“ hier aber nicht etwa im Sinne eines Cartesianischen Bewusstseinsbegriffs verstehen dürfen, der die Selbsttransparenz des Bewusstseins unterstellt, wird deutlich,wenn Fichte hinzufügt, der eigene Bildcharakter könne dem Bewusstsein
späten Wissenschaftslehre Fichtes für die theologische Wahrheitsdiskussion nachgehende Untersuchung von Roderich Barth (Barth, 2004). 5 S. AsL, S. 49. 6 S. AsL, S. 50. 7 S. AsL, S. 50 – 52.
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verstellt, unter „Schattenbildern“ verborgen sein.⁸ Tatsächlich wird sich zeigen, dass gerade dieses Defizit von Selbsttransparenz für Fichtes Freiheitskonzept entscheidend ist. Mit dem Begriff des Daseins als Äußerung des Seins im Wissen ist nun zwar schon eine Struktur gewonnen, die über den Ausgangsgedanken des absoluten Seins hinausführt. Wir sind aber offenbar noch weit davon entfernt, zu verstehen, warum das Wissen so ist, wie es ist – bezogen nämlich auf eine Mannigfaltigkeit von Gegenständen und andere bewusste Wesen, die angeordnet sind im Raum und einem potentiell unendlichen Zeitfluss. Die Frage, wie die Mannigfaltigkeit der Bewusstseinsinhalte aus dem repräsentationalen Verhältnis des Wissens zum Sein erklärt werden kann – und keine andere Basis hat Fichte für seine Erklärung –, wird in der Anweisung nur sehr knapp berührt, und dies unter Verweis auf die Wissenschaftslehre, in der sie zentral sei. Und hier ist auch nur festzuhalten, dass Fichte den Ursprung der Mannigfaltigkeit in den Reflexionsprinzipien des Wissens sieht, denen zufolge im Wissen Bestimmtheit, damit aber auch Differenz und Mannigfaltigkeit gesetzt werden müssen. Die Welt qua Mannigfaltigkeit ist also ein Produkt des Wissens, sozusagen das im Bewusstsein gebrochene, vermannigfaltigte Sein – und in diesem Sinn „Erscheinung“ des Seins.⁹ Die für meine Fragestellung entscheidende These Fichtes ist nun, dass dem so gefassten Bewusstsein Selbständigkeit und Freiheit zuzuerkennen ist, obwohl es doch nichts anderes ist als „Dasein“ und „Bild“ des Seins. Fichte expliziert diese These jedoch nicht etwa, indem er sich als guter Kantianer zeigt und die Freiheit des Willens verteidigt. Der mit dieser These eingeführte Freiheitsbegriff wird vielmehr unter Bezug auf die dem Bewusstsein möglichen Ansichten der Welt ausgeführt, die Fichte –, da er nur fünf mögliche Weltansichten annimmt – als „Fünffachheit“ des Bewusstseins bezeichnet.¹⁰ Von möglichen Weltansichten ist hier freilich in einem ganz eigentümlichen Sinn die Rede. Man kann ihn in der Weise explizieren, dass das auf die Welt als Mannigfaltigkeit bezogene Bewusstsein sich einen Fokus gibt, indem es etwas als das „eigentlich Wahre“ anerkennt. Würde es keinen Fokus setzen, würde das Bewusstsein sich gleichsam in der
8 AsL, S. 54. 9 S. AsL, S. 63 ff. 10 S. AsL, S. 74 ff. Der Gedanke der Notwendigkeit einer fünffachen Struktur ist bereits in Fichtes Wissenschaftslehre nova methodo präsent, wo er der synthetischen Struktur des Bewusstseins von Zwecken gilt und somit noch ganz Fichtes transzendentaler Handlungstheorie zugehört (Fichte, 1982, S. 188, 216, 219). Die systematische Grundlage der fünffachen Struktur der Weltansichten in den Anweisungen ist freilich im Prinzip der Fünffachheit zu suchen, wie es im zweiten Vortrag der Wissenschaftslehre 1804 aus der synthetischen Natur der Vernunft hergeleitet wird (s. Fichte, 1975, bes. S. 281 ff.).
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Mannigfaltigkeit verlieren – und dies, wie Fichte unter Verwendung christlicher Metaphorik sagt, wäre der (geistige) „Tod“. Dabei macht Fichte sehr deutlich, dass die möglichen Ansichten der Welt nicht nur theoretische Weisen sind, sich zur Welt zu verhalten. Sie sind vielmehr wesentlich mit einem „Affekt“ verbunden, d. h. mit einer Weise, die Welt und das eigene Dasein zu erleben, die ihrerseits mit einer „Form des Lebens“ verbunden ist.¹¹ Was hat all dies nun aber mit Freiheit zu tun? Indem das Bewusstsein eine Weltsicht annimmt, die im Gedanken eines „eigentlichen Wahren“ ein Zentrum hat, zeigt es sich selbständig gegenüber der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen, mit der es konfrontiert ist. Statt diese Mannigfaltigkeit indifferent auf sich einströmen zu lassen, privilegiert es eine Instanz als die, der gegenüber alles andere nur unwesentlich oder Mittel zum Zweck ist. Von Freiheit im eigentlichen Sinn wäre hier aber noch nicht zu sprechen, wenn dies nicht wesentlich im Blick auf alternative Möglichkeiten geschehen würde, die Welt zentriert zu sehen. Die Annahme einer Weltansicht ist ja erst hierdurch ein selbstbestimmter Akt, der eine Sichtweise in einem Raum von Möglichkeiten ergreift. Fichtes im Hinblick auf den Freiheitsbegriff zentrale These ist es daher, dass Freiheit „nur in Beziehung auf die angegebenen fünf Standpunkte des geistigen Lebens“ bestehe.¹² Mit dieser These bleibt Fichte seiner schon in den Jenaer Schriften vertretenen Auffassung treu, dass Freiheit „Bestimmbarkeit“ voraussetzt, d. h. wesentlich in Bezug auf einen Bereich von Möglichkeiten ausgeübt wird, die im Akt der Selbstbestimmung ergriffen werden können.¹³ Dieser Grundgedanke wird nun jedoch nicht auf Handlungsmöglichkeiten, sondern auf Weltansichten als die eigentliche Sphäre freier Selbstbestimmung bezogen. Der Freiheitsgedanke ist demnach in die monistische Konzeption durch die These einbezogen, dass das „Bild“ des Absoluten sich wesentlich in eine Pluralität von Sichtweisen differenziert, in der das Absolute als ihr eigentlicher Bezugspunkt mehr oder weniger adäquat zur Darstellung kommt. Fichtes späte Religionsphilosophie ist ein „Spinozismus der Freiheit“ in dem Sinn, dass sie den monistischen Grundgedanken mit der Analyse der Pluralität möglicher Weltansichten in Verbindung bringt.
11 S. AsL, S. 107 ff., 119. 12 AsL, S. 125. 13 S. Fichte, 1982, bes. S. 57 ff. sowie Fichte, 1971, bes. S. 79 f. und S. 137 f.
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2 Die Stellung des moralischen Standpunkts in Fichtes Religionsphilosophie Freiheit als eine der Weltansicht und damit auch der Lebensform zugrundeliegende Selbstbestimmung ist zu unterscheiden von der eigentlich praktischen Freiheit, d. h. der Willensfreiheit. Man könnte die Beziehung beider darin sehen, dass die Ausübung der Willensfreiheit die auf die Weltansichten bezogene Freiheit zur Bedingung hat. Denn Entscheidungen und Zwecksetzungen werden innerhalb einer schon ergriffenen Lebensform vollzogen, setzen also die Aneignung einer Weltansicht schon voraus. Fichte geht aber noch einen Schritt weiter: Ob wir uns überhaupt als mit Willensfreiheit begabte Akteure betrachten, hängt davon ab, welche der uns möglichen Weltansichten wir jeweils ergriffen haben. Denn diese Annahme ist nur ein Charakteristikum besonderer Weltansichten, keineswegs aber aller, die für uns möglich sind. Damit wird der Gedanke von sich als eigenständigem Akteur nicht mehr als eine mit der praktischen Vernunft gegebene universelle Voraussetzung angesehen, sondern als untergeordnetes Element besonderer Lebensformen. Diese These wird in Fichtes Vorlesung derart betont, dass die fünffache Einteilung der möglichen Weltansichten schließlich von einer Zweiteilung überlagert wird, in der die Lebensformen unter dem Gesichtspunkt eingeteilt werden, ob sie das Selbstkonzept des aus eigenem freien Willen handelnden Akteurs enthalten oder nicht.¹⁴ Im Rahmen der Zweiteilung stellen sich die ersten beiden Weltansichten im Sinne der fünffachen Einteilung – nämlich der auf die eigene Glückseligkeit zentrierte und der moralische Standpunkt – als durchaus verwandt dar, sofern sie wesentlich das Bild von sich als eigenständigem Akteur einschließen. Die eigene Glückseligkeit als das einzige wesentliche Ziel zu verfolgen heißt ja, sich die Fähigkeit zuzusprechen, die Welt gemäß den Bedingungen des eigenen Wohlbefindens verändern zu können. Diese Fähigkeit muss auch die zur Distanzierung von unmittelbaren Impulsen und Neigungen einschließen, die nicht immer dem eigenen Glück förderlich sind. Fichte ordnet daher der auf die eigene Glückseligkeit zentrierten Lebensform einen Freiheitsgedanken zu, den er freilich als „materialen“, d. h. als Fähigkeit zur Realisierung eines bestimmten Ziels definierten vom „formalen“ Freiheitsbegriff unterscheidet, der dem moralischen Standpunkt eigen ist.¹⁵ Mit dem letzteren will Fichte ausdrücklich den von Kant explizierten Standpunkt der Moralität in die Lehre der Lebensformen einbeziehen. Das Zentrum der Weltansicht ist hier ein unbedingtes Sollen, das eine Gemein-
14 S. bes. AsL, S. 126. 15 S. AsL, S. 128 ff.
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schaft der Menschen als gleichberechtigte Vernunftwesen ermöglicht. Der durch das kategorische Sollen geforderte Standpunkt ist „uninteressiert“, sofern er jeglichen Affekt der Liebe oder Neigung zum Gebotenen ausschließt. Fichte stellt diesen Aspekt in den Mittelpunkt seiner Darstellung der Moralität, da es ihm ja um diese als eine Weltansicht geht, die eine affektiv bestimmte Lebensform begründet. Soll sie dies sein, dann muss aber auch sie, ungeachtet der für sie charakteristischen Abwesenheit von Gefühlen der Liebe und Neigung, einen eigenen affektiven Charakter haben. Ähnlich wie das Glückseligkeitsstreben sieht Fichte auch den moralischen Standpunkt von einem selbstbezogenen Interesse bestimmt, das ihm seinen affektiven Charakter verleiht – dem Interesse daran nämlich, das Bild von sich als moralische Persönlichkeit aufrechtzuerhalten, und so die Selbstverachtung – das moralische Analogon des Unglücks – zu vermeiden. Fichte scheint dies als ein in erster Linie gleichsam defensives Interesse zu sehen. Die moralische Lebensform ist für ihn daher auch keine, die einen eigentlichen „Genuss“ des eigenen Daseins ermöglicht. Auf der anderen Seite aber kann der moralische Akteur sich in besonderem Maße als selbständig betrachten, da die Befriedigung seines Interesses nur vom eigenen Wollen abhängig ist und nicht von dessen äußerem Erfolg, wie beim Streben nach Glückseligkeit.¹⁶ Das in der Anweisung skizzierte Bild des moralischen Standpunkts verrät in einigen Hinsichten eine Distanzierung Fichtes von Kants Ethik. Der für meine Fragestellung entscheidende Gesichtspunkt ist aber, dass Fichte den moralischen Standpunkt als ausschließlich an der Aufrechterhaltung des moralischen Selbstbildes interessiert beschreibt. Das Interesse gilt hier nur dem, was durch eigenes Wollen auch gewährleistet werden kann. Damit wird der moralische Standpunkt unabhängig von der Hoffnung auf einen moralisch gerechten Weltzustand, auf das also, was Kant das „höchste Gut“ nannte. Sofern die moralische Notwendigkeit solcher Hoffnung für Kant den inneren Zusammenhang zwischen moralischem Standpunkt und Religion herstellt, lehnt Fichte damit Kants Projekt einer „Moraltheologie“ ab. So betont er, der moralische Standpunkt könne nur durch „Inkonsequenz“ zur Annahme eines Gottes kommen.¹⁷ Stattdessen findet die Selbstgenügsamkeit des moralischen Standpunktes ihren angemessenen Ausdruck im Goetheschen Gedicht Prometheus, das Fichte hier zitiert.¹⁸ Für den philosophischen Begriff von Religion bedeutet dies aber zugleich, dass Religion nicht mit einer moralisch begründeten Hoffnung oder „Verheißung“ in Verbindung gebracht werden kann.
16 S. AsL, S. 112 ff. 17 AsL, S. 117. 18 S. AsL, S. 116.
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Damit ist der Zusammenhang hervorgetreten, hinsichtlich dessen Fichte sich in seiner späten Religionsphilosophie am deutlichsten von Kant entfernt. Der Glaube wird nicht mehr der aus dem moralischen Standpunkt erwachsenden Frage „Was darf ich hoffen?“ zugeordnet, ja, er wird gar nicht mehr an die Perspektive moralischen Wollens im Sinne Kants gebunden. Dies heißt freilich nicht, dass Fichtes späte Religionsphilosophie in keinem positiven Bezug mehr zu Kants Philosophie stünde.Vielmehr sah Fichte in Kants Kritik der Urteilskraft, genauer: in Kants Konzeption der Genieproduktion, einen Standpunkt expliziert, der nicht mehr der des moralisch-autonomen Wollens ist und der hierin dem religiösen Standpunkt, wie dieser nun verstanden wird, verwandt ist. Die Distanzierung von Kants Religionsbegriff in der Anweisung wird insofern immer noch mit Kant vollzogen. Dies ist im Folgenden zu zeigen.
3 Die Überwindung des kantischen Akteursstandpunkts in der höheren Moralität und Religion Statt den religiösen Standpunkt im Sinne der kantischen Moraltheologie mit dem moralischen Standpunkt zu verbinden, sieht Fichte die religiöse Weltsicht dem Standpunkt verwandt, den er – in Abgrenzung hierzu – als den Standpunkt der „höheren Moralität“ bezeichnet.¹⁹ Der Ausdruck „Moralität“ ist hierbei freilich insofern irreführend, als es sich nicht um eine eigentlich ethisch-moraltheoretische Konzeption handelt. Fichtes zentrales Beispiel der „höheren Moralität“ ist vielmehr der Standpunkt der künstlerischen Produktion.²⁰ Diese unterscheidet sich grundlegend vom Handeln des moralischen Subjekts, sofern sie nicht als eine vom eigenen Willen gesteuerte Tätigkeit zu verstehen ist. Mit dem Standpunkt des Künstlers ist daher der Bereich der Weltansichten verlassen, die das Selbstverständnis als freier Akteur zum Zentrum haben, ohne dass hiermit freilich eine fatalistische Sicht eingenommen wäre. Man kann Fichtes Gedanken hier so formulieren, dass sich im künstlerischen Schaffen ein Produktionsprinzip zum Ausdruck bringt, das sich nicht als explizite Regel formulieren lässt und sich auch dem Künstler selbst nur im Produktionsprozess offenbart. Der eigentliche Akteur, wenn man dies so sagen kann, ist nicht der Künstler, sondern ein sich in seinem Schaffen manifestierendes, implizites Produktionsgesetz. Fichte nimmt hier Ele-
19 S. AsL, S. 80 f., 137 ff. 20 S. AsL, S. 139 – 42.
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mente aus der von Kant in der Kritik der Urteilskraft formulierten Konzeption des Genies auf, in welcher der Gedanke einer nicht explizit formulierbaren Regel im Mittelpunkt steht, die den künstlerischen Schaffensprozess steuert.²¹ Fichte münzt diesen Gedanken nun um, indem er das implizite Produktionsprinzip zum eigentlichen Subjekt des Ausdrucksprozesses erklärt. Damit ist nun aber die Möglichkeit geschaffen, die durch die künstlerische Produktion exemplifizierte „höhere Moralität“ mit dem Grundgedanken des fichteschen Monismus in Verbindung zu bringen, dass das Bewusstsein wesentlich Abbild oder Ausdruck des Seins ist. In der Perspektive künstlerischen Schaffens wird dieser sein BildCharakter für das Bewusstsein selbst manifest, indem die bewusste Produktion gar nicht mehr als freies regel- oder zweckgeleitetes Handeln, sondern als SichAusdrücken eines impliziten Produktionsprinzips erscheint. Man kann hieraus verstehen, warum Fichte das Beispiel der künstlerischen Produktion heranzieht, um in der Reihe der Weltansichten zum religiösen Standpunkt überzugehen. Der religiöse Standpunkt hat mit der durch die künstlerische Produktion exemplifizierten „höheren Moralität“ dies gemein, dass das, was eigenes Handeln zu sein scheint, als Selbstausdruck oder „Offenbarung“ eines für sich nicht explizierbaren Prinzips gesehen wird. Er unterscheidet sich jedoch vom künstlerischen Standpunkt in zwei Hinsichten: Erstens wird das Prinzip, das sich in der eigenen Produktion Ausdruck verschafft, auf dem religiösen Standpunkt als etwas gesehen, das sich in allem, in der Welt und allen anderen Personen, manifestiert. Dies ist der Übergang von der Manifestation des „Genies“ zu der „Gottes“. Zweitens wird erst auf dem religiösen Standpunkt begriffen, dass die Manifestation des impliziten Prinzips das schöpferische Tun selbst ist und nicht dessen Produkt – während der Künstler, so Fichte, oft dazu neigt, das Werk als das Wesentliche anzusehen und nicht das schöpferische Tun selbst.²² Aus der religiösen Perspektive ist also das, was als eigener Lebensvollzug erscheinen mag, letztlich nichts anderes als das Sich-Ausdrücken Gottes in der Erscheinung. Da aus religiöser Sicht die Gegenwart Gottes sich demnach schon im Hier und Jetzt ereignet, spricht Fichte vom religiösen Leben als „seligem“ Leben. Und diese Pointe: dass der religiöse Standpunkt hier gerade so ausgelegt wird, dass er nicht der der Hoffnung und Verheißung der Gegenwart Gottes, sondern der erlebten Gottesgegenwart ist, sie ist es natürlich, auf die Fichte schon im Titel der Vorlesung anspielt: Anweisung zum seligem Leben. 21 S. Kritik der Urteilskraft, bes. §§ 46 – 49 (Kant, 1908, S. 307– 319). Fichte nimmt aus Kants Darstellung den (dort gleichbedeutenden) Ausdruck „Talent“ auf, nicht explizit den des „Genies“. 22 S. AsL, S. 142.
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Abschließend möchte ich auf meine Ausgangsfrage zurückkommen: Inwiefern ist das Projekt, Monismus und Verteidigung der Freiheit zusammenzubringen, das den Deutschen Idealismus in seinem Anfang zweifellos charakterisiert, in der Religionsphilosophie des späten Fichte noch gegenwärtig? In der Beantwortung dieser Frage, so scheint mir, muss man zwei Gesichtspunkte unterscheiden: Sofern dieses Projekt anfänglich auf die Bewahrung eines mehr oder weniger kantisch geprägten Begriffs von Willensfreiheit im Rahmen einer monistischen Grundposition aus war, muss man sagen, dass es in Fichtes Religionsphilosophie verabschiedet wird. Denn das Bewusstsein der Gegenwart Gottes im eigenen Leben, so wie es von Fichte gefasst wird, ist ausdrücklich mit dem Gedanken verbunden, kein kantischer Akteur zu sein, sondern nur ein Ort des Selbstausdruckes Gottes. Fichte drückt diesen Aspekt der religiösen Perspektive in drastischen Worten aus, wenn er sagt, die religiöse Sicht erfordere die „Vernichtung“ des Ich.²³ Doch darf man hierüber nicht vergessen, dass in Fichtes Anweisung von Freiheit ursprünglich in einem anderen Sinn die Rede ist als in dem der kantischen Akteursfreiheit – nämlich im Sinn der Freiheit, eine der möglichen fokussierten Weltansichten anzunehmen. Angesichts der Tatsache, dass es verschiedene Möglichkeiten gibt, der Weltansicht ein Zentrum zu geben, muss diese Freiheit als eine unwiderrufliche Bedingung allen, auch des religiösen Bewusstseins gelten. Und so sagt Fichte auch, dass Freiheit „nur in Beziehung auf die angegebenen fünf Standpunkte des geistigen Lebens“ bestehe und dass Freiheit in diesem Sinne selbst von Gott nicht aufgehoben werden könne. Das heißt: Die Annahme dieser Freiheit ist nicht einer besonderen Weltansicht eigentümlich, sondern sie ist zu unterstellen, wenn man überhaupt verstehen will, was es heißt, eine Weltansicht zu haben. In dieser Hinsicht, als Untersuchung über die Pluralität möglicher zentrierter Weltsichten, ist Fichtes Monismus zugleich eine Theorie der Freiheit. Zur Frage, wie diese Weltsichten sich zueinander verhalten und ob eine rationale Entwicklung von einer Weltsicht zu einer anderen möglich ist, hat Fichte freilich noch wenig zu sagen, wenn man von seinen spärlichen Bemerkungen zu einem möglichen „Hervorgehen“ des religiösen Standpunktes aus dem der „höheren Moralität“ absieht.²⁴ Die Fragestellung, unter der Fichtes späte Religionsphilosophie hier betrachtet wurde, ist bekanntlich der Ausgangspunkt von Schellings Freiheitsschrift, die in geringem zeitlichem Abstand zu Fichtes Anweisung entstanden ist. Schelling orientiert seine Erörterung des Problems der Vereinbarkeit von Monismus und Freiheit indessen ganz am ethischen Verständnis der Freiheit als Fähigkeit des
23 AsL, S. 130. 24 S. AsL, S. 81 und S. 142.
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Willens zum Guten oder Bösen. Er bleibt insofern hinsichtlich des Freiheitsbegriffs dem Standpunkt der kantischen Religionsschrift nahe, wobei freilich die Dualität von Gut und Böse monistisch, d. h. aus der internen Selbstdifferenzierung des Absoluten verstanden wird. Wenn man sagen muss – und die vorausgehenden Ausführungen ergaben genau dies –, dass Fichte das Problem der Vereinbarkeit von Monismus und Freiheit durch die Verbindung des monistischen Grundgedankens mit der Untersuchung der Pluralität möglicher Weltansichten als grundlegendem Freiheitsraum zu lösen versucht, dann erscheinen Fichtes und Schellings Positionen als sehr divergente Lösungsansätze, die nicht mehr auf derselben begrifflichen Grundlage stehen – wobei Fichte sich hinsichtlich des Freiheitsbegriffs weiter von Kant entfernt als Schelling. Dennoch kann man nicht sagen, dass die von Fichte in der Anweisung eingeführte philosophische Untersuchungsart im philosophischen Szenarium der Zeit ganz isoliert dastünde. Ein Jahr nach Fichtes später Schrift zur Religionsphilosophie erscheint Hegels Phänomenologie des Geistes. Es ist wohl nicht allzu gewagt, zwischen Fichtes „Weltansichten“ und den von Hegel analysierten „Gestalten des Bewusstseins“ eine Entsprechung zu sehen, ungeachtet der fraglos bestehenden Differenzen ihrer Ausarbeitung und der systematischen Absichten, die den Ausführungen Fichtes und Hegels jeweils zugrunde liegen. Wenn dies richtig ist, dann kann man sagen, dass Hegel in seinem ersten systematischen Hauptwerk die Verbindung von monistischem Denken und Analyse der Pluralität grundlegender Sichtweisen der Welt weiterführt, die sich im Hinblick auf die Frage nach dem Freiheitsverständnis in Fichtes später Philosophie des Absoluten als das eigentliche systematische Zentrum der fichteschen Schrift von 1806 erwiesen hat.
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Günter Zöller
Identitas discernibilium. Spinoza und Fichte über Streben, Trieb und Affekt „… das infame Zwei in der Welt, Leib und Seele, Gott und Welt.“¹ G. Chr. Lichtenberg
Der Beitrag gliedert sich in eine erste allgemeinere Hälfte mit grundsätzlichen Überlegungen zum systematischen Verhältnis von Spinoza und Fichte (Abschnitte 1 bis 4), an die sich in der zweiten Hälfte speziellere Ausführungen anschließen, die den strukturellen Affinitäten in der Strebens-, Trieb- und Affektenlehre bei Spinoza und Fichte gelten (Abschnitte 5 und 6). Durchgängig liegt der Fokus auf dem Ausmaß an struktureller Verwandtschaft zwischen dem Philosophieren Spinozas und Fichtes. Bedingt durch den beschränkten Umfang, der hier für ein umfassendes Thema und sein weites Feld zur Verfügung steht, ist der Stil des Beitrags überwiegend thetisch, dabei auf die Synthesis – oder doch die Synthetisierbarkeit – von Spinoza und Fichte abzielend. Der angestrengte systematische Vergleich ist Teil einer umfassend konzipierten Fichte-Deutung, die im Anschluss an die Bestimmung von Fichtes sachlicher Nähe wie Distanz zu eigenen Zeitgenossen (Kant, Jacobi , Reinhold, Schelling und Schopenhauer)² nun seinen wohl wichtigsten historischen Referenzautor in den Blick nimmt.
1 Vergleichende Morphologie Geschichtliche und systematische Vergleiche zwischen Spinoza und Fichte sind oft durch einseitig inklinierte historische Kenntnisse und philosophische Präferenzen gekennzeichnet.³ Im Mittelpunkt steht dabei zumeist der Kontrast zwischen den Grundansätzen und hauptsächlichen Doktrinen der beiden Denker, die nicht selten unter schlagwortartige Titel der Unterscheidung gebracht werden: hier der rationale Dogmatiker, dort der kritische Transzendentalphilosoph, hier
1 Lichtenberg 1998, Bd. 4, S. 679 (Brief vom 3.7.1786 an Johann Daniel Ramberg). 2 Vgl. dazu Zöller, 1998, Zöller, 2000, Zöller, 2002, Zöller, 2003, Zöller 2004, Zöller, 2005, Zöller, 2006, Zöller, 2007, Zöller 2012, Zöller, 2012 a. 3 Zur einschlägigen Literatur siehe die bibliographischen Angaben in Baumgartner/Jacobs, 1968, S. 200 und Doyé, 1993, S. 215 f. sowie Sandkaulen, 2006, S. 71– 84.
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der Substanzmetaphysiker, dort der Subjekttheoretiker, hier der Naturphilosoph par excellence, dort der Philosoph der Freiheit kat’ exochen. Doch jenseits solcher Vergleiche, bei denen das tertium comparationis zum kleinsten gemeinsamen Nenner zu schrumpfen droht, offeriert die Gegenüberstellung von Spinoza und Fichte die Gelegenheit zum Blick auf Affinitäten im philosophischen Werk der beiden, die weniger im Partikularen liegen als in der Grundgestalt des Philosophierens und in der Grundeinstellung der Philosophen. Die morphologischen Grundzüge eines philosophischen Denkens residieren allerdings nicht an der Oberfläche der Texte. Vielmehr sind sie jenseits – oder besser: diesseits – der doktrinalen und methodologischen Partikularitäten verortet und oft nicht einmal explizit in den Texten thematisiert und reflektiert. Die Gesamtheit solcher Grundgestaltungen eines Philosophierens macht das philosophische Projekt aus, das ein Autor in seinen Texten und Werken verfolgt und realisiert. Einem solchen philosophischen Grund- und Gesamtprojekt sind die einzelnen Lehrinhalte und Methodenkonzepte funktional zugeordnet oder zuzuordnen. Sie können als der Buchstabe gelten, der den Geist eines Philosophierens materiell – in Begriffen und Argumenten – verwirklicht. Der Blick auf die Grundgestalt eines Philosophierens, der über doktrinale Details und methodische minutiae nicht etwa hinwegsieht, sondern der darüber hinaussieht, erlaubt es auch, phänotypisch differente Formen des Philosophierens als genotypisch verwandt, ja identisch auszumachen. Über den Abstand der Zeiten, Räume und Diskurse hinweg zeichnet sich so der geduldigen und umsichtigen Lektüre der Texte Spinozas und Fichtes eine tiefere Einheit ihres Denkens ab.
2 Proportionale Identität Die beiderseitige Annäherung Spinozas an Fichte und Fichtes an Spinoza kann ihren Ausgangspunkt von der analogen philosophiegeschichtlichen Situation der beiden Denker nehmen. Dem Verhältnis Spinozas zu Descartes entspricht nämlich in wesentlichen Hinsichten das Verhältnis Fichtes zu Kant.⁴ In beiden Fällen reagiert der jeweils Nachfolgende auf programmatische, methodische und substantielle philosophische Innovationen seines Vorgängers. Dabei ist das Verhältnis zwischen Vorgang und Nachfolge in beiden Fällen ebenso von Parteinahme und Kontinuität geprägt wie von kritischer Fort- und Weiterbildung. So 4 Das primäre Dokument von Spinozas Auseinandersetzung mit Descartes ist Spinoza, 2005. Fundamentales Dokument von Fichtes Auseinandersetzung mit Kant ist die „Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, für Leser die schon ein philosophisches System haben“, 6. Abschnitt, aus dem Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre von 1797/98 (GA I/4, 221– 244).
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teilen Spinoza und Fichte die Reorientierung der Philosophie bei Descartes und Kant von ihrer defizitären Vergangenheit als Scheinwissen weg auf ihre Zukunft als genuines Wissen bzw. Wissenschaft hin. Desweiteren verbindet Spinoza mit Descartes und Fichte mit Kant die Ambition einer methodisch abgesicherten umfassenden Neukonzeption der Philosophie als Fundamental- und Universalwissenschaft oder Erster Philosophie. Schließlich erstreckt sich die Gemeinsamkeit im Programmatischen, die zwischen Descartes und Spinoza sowie zwischen Kant und Fichte festzustellen ist, auch auf den Doppelcharakter der Philosophie, Wissenschaft zu sein – und überdies die Meta-Wissenschaft schlechthin – und dabei doch die Philosophie als Wissenschaft in den Dienst des Lebens zu stellen oder gestellt zu sehen und so der Philosophie den Weg von der „Wissenschaftslehre“ zur „Weisheitslehre“ vorzuzeichnen.⁵ Wichtiger noch als diese methodischen und programmatischen Affinitäten ist aber der von Spinoza und Fichte in analoger Weise vollzogene Schritt von der dualistischen Grundkonzeption ihres jeweiligen Vorgängers zu einer radikal integrierten Philosophie, die den Dualitäten, die ihren Vorgängern als unterhintergehbar gelten, eine nachgeordnete systematische Stellung innerhalb einer ganzheitlichen, komplex strukturierten Einheit zuweist. Dabei unterscheiden sich allerdings die bei Descartes und Kant vorfindlichen Dualismen ebenso voneinander wie die bei Spinoza und Fichte vorliegenden Formen von deren radikaler Integration. Der Cartesische Dualismus betrifft die Lehre von der Substanz und beinhaltet die Zweiteilung der Dinge („res“) nach denkender und ausgedehnter Dinglichkeit („res extensa“, „res cogitans“). Genauerhin handelt es sich zum einen um die kosmo-theologische Dualität von geistigen und materiellen Dingen und zum anderen um die psycho-somatische Dualität von menschlichem Geist und menschlichem Körper. Hinzukommt bei Descartes noch die innergeistige, intramentale Dualität von Verstand und Wille, die insbesondere in der Urteilslehre zum Tragen kommt. Als Vereinigungsmittel für die kosmologische Dualität dient bei Descartes der Rekurs auf die unendliche geistige Substanz („Deus“) als Schöpfer und Erhalter endlicher Dinge der denkenden wie der ausgedehnten Art. Die Einheitsbildung im Hinblick auf die substantielle Doppelnatur des Menschen delegiert Descartes an ein mental-korporales Übergangsorgan (Zirbeldrüse). Bei Kant betrifft das duale Denken hingegen nicht primär eine ontologische Differenz in der Substanzenlehre sondern einen epistemologischen Zwiespalt in der Konstitution des Subjekts und der diesem korrelierten Formen von Objektivität 5 Die Beschreibung der Fortschrittsbewegung der Philosophie von der Wissenschaft („Wissenschaftslehre“) zur Weisheit („Weisheitslehre“) findet sich in Kants fragmentarischer Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik (AA 20, 273). Zum analogen Übergang bei Fichte siehe GA II/ 12, 299 (Wissenschaftslehre 1811): „Wissenschaft hättest du: nun werde Weißheit.“
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– dies freilich mit ontologisch zu nennenden Konsequenzen. In erster Linie differenziert Kant zwischen der Sinnlichkeit und dem Verstand des Subjekts sowie zwischen den diesen beiden korrelierten Erkenntnismodi („Anschauen“ und „Denken“ bzw. „Anschauung“ und „Begriff“). Desweiteren unterscheidet er Gegenstandsbestimmung und Willensbestimmung als die beiden Gebrauchsmodi der Vernunft, die sich auf diese Weise in theoretische und praktische Vernunft dissoziiert. Auf der Objektseite sind mit diesen dualen Differenzierungen die Zweiteilung der Gegenstände überhaupt in Phaenomena und Noumena oder von Sinnenwelt (Natur) und Verstandeswelt (Freiheit) korreliert. Als Strategien der Einheitsbildung innerhalb der grundlegenden Dualismen sind bei Kant festzuhalten die funktionale Komplementarität von Sinnlichkeit und Verstand sowie die Primordialität des praktischen Vernunftgebrauchs in seiner Verbindung mit dem theoretischen („Primat der reinen praktischen Vernunft“).⁶
3 Formen und Strukturen von Integration Spinoza und Fichte kritisieren die bei Descartes bzw. Kant vorfindlichen Dualismen als grundsätzlich in der Sache unangemessen und beurteilen die Ansätze zur Einheitsbildung bei Descartes bzw. Kant als unzureichend für die angestrebte Neubegründung der Philosophie als Wissenschaft. Spinoza unterläuft Descartes’ Dualismus der Substanz zum einen durch die Degradation der Einzeldinge („res“) von Substanzen zu Substanzbestimmungen („modi“) und zum anderen durch die Umdeutung der substanziellen Arten zu Erscheinungsweisen der Substanz („attributae“), deren er unendlich viele glaubt annehmen zu dürfen, von denen aber lediglich zwei – Denken und Ausdehnung – endlicher Erkenntnis zugänglich sind. Damit tritt an die Stelle dualer Typen von Substanz („types“) bzw. pluraler Instanzen solcher Typen („tokens“) die streng einheitlich konzipierte Substanz im singulare tantum, die extensional mit der Natur und intensional mit Gott zu identifizieren ist. Der Cartesische Dualismus wird so ersetzt durch die Konzeption der wesentlichen, ursprünglichen Identität von allem und jedem als endliche oder unendliche Modi der einen Substanz. An die Stelle von Descartes’ substantiellem Dualismus von Denken und Ausdehnung tritt bei Spinoza die substantielle Identität von Ausdehnung und Denken als unterschiedlichen Manifestationen, oder – aus menschlicher Perspektive formuliert – unterschiedlichen Aspekte oder Seiten eines Selben, das sich als solches der Identifikation mit einem der beiden Attribute (und auch mit jedem anderen Attribut) entzieht.
6 Zum historisch-systematischen Kontext von Kants Primatkonzeption siehe Zöller, 2008.
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Der von Spinoza gegenüber Descartes vorgenommenen maximalen Integration dualer Seinstypen und pluraler Seinsformen in substantielle Einheit korrespondiert formal und struktural bei Fichte die gegenüber Kant vorgenommene Integration dualer Grundstrukturen von Subjektivität samt der diesen korrelierten Formen von Objektivität in einen absolut gefassten Begriff vom Subjekt („absolutes Ich“ bzw. „reiner Wille“).⁷ Dabei kommt es um einen zu einer innersubjektiven oder psychologischen ursprünglichen Einheitsbildung im Hinblick auf die systematisch nachträgliche Differenz von theoretischer und praktischer Subjektivität („Erkennen“ und „Wollen“). Zum anderen findet sich bei Fichte eine subjektiv-objektive oder kosmologische Einheitsbildung im Hinblick auf die ebenfalls als nachträglich einzuschätzende Differenz von Selbst und Welt („Ich“ und „NichtIch“). Ein Sonderfall der ursprünglich-identischen Einheit von Ich und Nicht-Ich ist die Identität von Geist oder Seele und je eigenem Körper („Leib“).⁸ Schließlich ist die von Fichte vertretene ursprüngliche Identität dessen,was bei Kant sich noch als grundverschieden manifestiert, ausgedehnt auf das Verhältnis von Naturordnung und moralischer Weltordnung („Sinnenwelt“ und „Geisterwelt“), bei denen es sich nicht um distinkte Welten handelt, sondern um unterschiedliche Ansichten auf ein Selbes, das sich als solches aller Einsicht entzieht. Fichte selbst bringt die durchgängige integrationistische Tendenz seines philosophischen Denkens auf den mereologischen Begriff, wenn er statt von „Dualismus“ und „Dualität“ von „ursprünglicher Duplizität“ redet und damit anzeigt, dass es sich bei den herausgestellten Formen komplexer Einheitsbildung jeweils statt um getrennte Zwei um ein zweiseitiges Eines handelt.⁹
4 Deus sive Ego Die weitreichende Analogie zwischen Spinozas Verhältnis zu Descartes und Fichtes Verhältnis zu Kant betrifft also nicht nur die formale Identität ihrer antidualistischen philosophischen Projekte. Spinoza und Fichte stimmen inhaltlich spezifisch auch darin überein, dass die manifeste Differenz von Mentalem oder Psychischem und Körperlichem oder Physischem zurückzuführen ist auf ein prädisjunktives Eines, das sich der einseitigen Identifikation als Geist oder Körper
7 Siehe GA I/2, 271 u. 387 (Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre), GA IV/2, 134 f. (Wissenschaftslehre nova methodo; 1798/99). 8 Zu Fichtes kritischer Auflösung des Leib-Seele-Problems siehe Zöller, 2007 a. 9 Zur systematischen Bedeutung der Zweieinheit von Verstand und Wille in Fichtes integrierter transzendentaler Theorie von Subjektivität, Objektivität und Intersubjektivität siehe Zöller, 1998 a.
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entzieht. Wenn Spinoza dieses Eine theologisch denkt („Deus sive natura“)¹⁰ und wenn Fichte es egologisch konzipiert („Ich“, „Wille“), dann könnte man versucht sein, diesen Unterschied ontologisch aufzufassen – als die Differenz zwischen dem Ausgang von einem objektiven ersten Seienden bei Spinoza und dem Ausgang von einem subjektiven ersten Seienden bei Fichte. Doch lässt sich zumindest im Hinblick auf Fichte feststellen, dass die subjekttheoretische Benennung des Absoluten als Ich keine einseitige, subjektive Auffassung des Ausgangs zum Ausdruck bringt, sondern dazu dienen soll, den übergegensätzlichen, subjektiven wie objektiven Grundcharakter des Unbedingten, von dem die Philosophie ihren Ausgang zu nehmen hat, anzuzeigen – wie dies sinnfällig auch die äquivalente Kennzeichnung des absoluten Ich als „Subjekt-Objekt“ bekundet.¹¹ Die zu beobachtende tendenzielle Annäherung des übersubjektiv zu denkenden absoluten Subjekts bei Fichte an die Gott-Natur bei Spinoza wird bestätigt durch Fichtes Dissoziation des absoluten Ich von jenen Merkmalen und Wesenszügen, die manifeste Subjektivität ausmachen, insbesondere Individualität, Bewusstsein und Selbstbewusstsein. Desweiteren bekräftigt sich die Affinität von Fichtes absolutem Ich zu Spinozas all-einer Substanz in Fichtes späteren Versuchen, den Ausgangspunkt des Philosophierens und den Ursprung allen Wissens mit Begriffen zu markieren, die noch weniger als die Rede vom „absoluten Ich“ manifestes individuiertes, bestimmtes Selbstbewusstsein konnotieren („absolutes Wissen“, „Sein“, „Leben“). Ichlichkeit kommt dabei nicht dem Absoluten als solchem zu, sondern dessen Erscheinungsform als Wissen („Ichform“).¹² In Anbetracht der grundsätzlichen übersubjektiven Tendenz von Fichtes Wissenschaftslehre ist es deshalb auch unangemessen, wenn deren Grundposition als „umgekehrter Spinozismus“ ausgegeben und damit suggeriert wird, der einseitigen objektivistischen Orientierung von Spinozas Denken korrespondiere bei Fichte eine gegenteilig disponierte subjektivistische Einseitigkeit. Solche simplifizierende Opposition wird dem übergegensätzlichen Status des absoluten Ich bzw. des vorichlichen Absoluten bei Fichte nicht gerecht – und kaschiert wohl auch das Subjektivitätspotential der Grundposition Spinozas. Eher wäre, mit F. H.
10 Siehe Ethica, Pars IV, Praef. und Prop. 4. 11 Siehe GA I/3, 253 f. („Vergleichung des von Hrn Prof. Schmid aufgestellten Systems mit der Wissenschaftslehre“; 1796) sowie I/2, 261, Anm. (Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, Hinzufügung der dritten Auflage von 1802) und I/4, 277 (Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre, Erstes Capitel, II.). 12 Siehe GA II/6, 130 ff. (Wissenschaftslehre 1801/02), GA II/8, 26 ff. (Wissenschaftslehre 1804, II. Vortrag) sowie GA II/10, 29, 31 u. 35 (Bericht über den Begriff der Wissenschaftslehre; 1806/07). Zur Fortbildung der Wissenschaftslehre beim späten Fichte siehe Zöller, 2001 und Zöller, 2003 a.
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Jacobi, im Hinblick auf Fichte von der „Verklärung“ des Spinozismus zu reden¹³ – als Auf- und Hinaufklärung des Spinozismus zu einem an Kant orientierten Reflexionsniveau des Aufmerkens auf die unhintergängliche Präsenz des Denkens in allem Gedachten und Denkbaren, das bei Fichte aber zusammengeht mit der Einsicht in die formative und deshalb immer auch deformative Wirkung des Denkens gegenüber einem als unvordenklich zu denkenden Unbedingten, demgegenüber das Denken sich deshalb letztlich „wegbringen“, „abziehen“, ja „vernichten“ soll.¹⁴ Es wäre deshalb angezeigt, Fichte nicht als von Kant inspirierte Alternative zu Spinoza zu verstehen, sondern als die kaum zu leistende, zweifelhafte und nachgerade verzweifelte Bemühung um die Vereinbarung Spinozas mit Kant, wie sich dies auch schon in Fichtes früher Selbstinterpretation seines philosophischen Projekts als des „ersten Systems der Freiheit“ bekundet, in dem geregelte Geschlossenheit („System“) und selbstzubestimmende Offenheit („Freiheit“) ineins gebracht werden sollen.¹⁵
5 Conatus, Trieb und Streben Die aufgezeigten formalen Analogien und materialen Affinitäten zwischen dem Denken Spinozas und Fichtes manifestieren sich auch in der Konzeption und Ausführung einer eminent praktischen Philosophie, die bei beiden Denkern im systematischen Anschluss an die Erste Philosophie des absoluten Seins bzw. absoluten Ich zur Ausarbeitung kommt. Dabei gehört für Spinoza wie für Fichte die philosophische Theorie von Tun und Leiden oder die praktische Philosophie in den Kernbereich der philosophischen Lehre von den Formen des substantiellen Seins bzw. des Wissens. Bei beiden Denkern führt nämlich der Ausgang von einem Absoluten („Sein“ bzw. „Wissen“) auf die Grundfrage nach dem Verhältnis des Unbedingten, Unendlichen zum Bedingten, Endlichen, zumal für Spinoza wie Fichte Letzteres nicht als von Ersterem getrennt seiend, sondern als ihm inniglich zugehörig und wesensgleich aufgefasst wird. Damit ergibt sich für Spinozas Philosophie von Tun und Leiden und für Fichtes praktische Philosophie die Aufgabe der Integration von unendlichem und endlichem Sein bzw. von unbedingtem Wissensgrund und je bestimmtem Wissen.
13 Zu Jacobis spinozistischer Fichte-Deutung und fichteanisierender Spinoza-Deutung siehe Jacobi, 1990 – 1995, Bd. 2/1, S. 6 f. 14 Siehe GA II/12, 299 (Wissenschaftslehre 1811) sowie GA II/13, 51, 88 f. (Wissenschaftslehre 1812). 15 Zu Fichtes Programmformel vom ersten System der Freiheit siehe GA III/2, 297– 299 (Briefentwurf an Jens Baggesen von April /Mai 1795). Siehe dazu auch Zöller, 2011.
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In beiden Fällen kommt es folgerichtig zu einer radikal dynamischen Konzeption des Endlichen – als unendlich agil und dabei orientiert auf das Ziel unendlicher Seins- bzw. Wissensfülle. Die von Spinoza und Fichte gezielt gewählten Termini des Strebens („conatus“, „Streben“)¹⁶ und des Triebes bringen dabei sowohl die Orientierung des Endlichen auf das Unendliche, dem es entstammt und zugehört, zum Ausdruck als auch die konstitutive Unzulänglichkeit solchen Strebens und Treibens, das in unendlicher Endlichkeit und endlicher Unendlichkeit befangen bleibt. Überdies ist die praktische Konzeption des Endlichen bei beiden Philosophen nicht auf die Sphäre menschlichen Handelns beschränkt, sondern umfasst auch die Natur, die allerdings bei Fichte, der darin Kant folgt, unter dem Vorbehalt ihrer Gedachtseins durch mögliches Bewusstsein steht. Die endlich-unendliche Dynamik des endlichen Seins und Wissens ist bei Spinoza wie Fichte desweiteren korreliert mit einer dynamischen Auffassung des Absoluten selbst als tätig und überdies selbsttätig. Doch unterscheiden Spinoza und Fichte auch deutlich zwischen der unbedürftigen, selbstgenügsamen unendlichen Selbstaffirmation des Absoluten und der Produktivität und Praktizität des endlichen Seins und Wissens. Der Gegenüberstellung von „natura naturans“ und „natura naturata“ bei Spinoza¹⁷ entspricht dabei die Kontrastierung von „ordo ordinans“ und „ordo ordinatus“ bei Fichte.¹⁸ Auch der von Fichte für die Kennzeichnung der dynamisch bewegten Grundnatur des Absoluten wie des Wissens favorisierte Begriff des Lebens¹⁹ hat sein Pendant bei Spinoza. So unterscheidet der frühe Spinoza zwischen der Lebendigkeit Gottes, der das Leben „ist“ und der Lebendigkeit des abhängigen Seins, das das Leben „hat“,²⁰ während der späte Fichte zwischen dem lebendigen Leben („vivere“) und dem gelebten Leben („vita“) unterscheidet.²¹ Vor allen aber manifestiert sich die dynamisch-vitalistische Auffassung der Wirklichkeit in Spinozas Theorem vom Streben jedes Dings, in seinem Sein zu verharren („in suo esse perseverare“),²² sofern dies nämlich nicht verstanden wird als Lehre von der angestrebten Konservation des status quo und somit als Ausdruck ontologischer Trägheit, sondern als Doktrin von der Durchsetzung des ei-
16 Siehe Spinoza, Ethica, Pars III, Prop. 6 – 13 sowie GA I/2, 151 und 399 f. (Ueber den Begriff der Wissenschaftslehre; 1794 bzw. Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre). 17 Siehe Ethica, Pars I, Prop. 29, Schol. 18 Siehe GA I/8, 373 f. (Aus einem Privatschreiben; 1800). 19 Zur systematischen und architektonischen Bedeutung des Lebensbegriffs bei Fichte siehe Schrader, 1972. 20 Spinoza, 2005, S. 165. 21 GA I/10, 119 und 131 (Wissenschaftslehre 1807, „Königsberg“). 22 Siehe Ethica, Pars III, Prop. 6 und 7.
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genen Seins gegenüber gleichartigen Bestrebungen aller anderen Dinge. Das fichtesche Gegenstück dazu ist die praktische Grundverfassung des Ich, das auf die Durchsetzung des Ich gegenüber dem Nicht-Ich, die Durchsetzung des NichtIch mit dem Ich damit und die Ersetzung des Nicht-Ich durch das Ich aus ist.²³ Zwar könnte es scheinen, als beschränke Fichte das Machtstreben auf ichlich Verfasstes, allenfalls noch unter Einschluss des ichlich verfassten Nicht-Ich als des anderen Ich („Du“), doch unter Ausschluss des nicht-ichlichen Nicht-Ich oder des Naturdings.²⁴ Doch die transzendentale Naturlehre Fichtes, deren Grundzüge dem System der Sittenlehre (1798) zu entnehmen wären,²⁵ prädiziert Trieb und Streben von jedem organischen Naturprodukt, sodass sich Natur bei Fichte als ein System von Trieben innerhalb wie außerhalb unserer erweist. Selbst die Konstitution des Individual-Ich erfolgt bei Fichte auf einer durchweg naturalen Grundlage: als spontan geleistete Emanzipation von der Natur, einschließlich der eigenen Natur. Insgesamt ergibt sich damit das Bild einer doppelten Integration des Ich mit der Natur außer ihm und mit der eigenen Natur in ihm, das die Vorstellung von Naturbeherrschung und Naturzernichtung, die sich bei Fichte einstellen könnte, modifiziert zum Bild der zum Ich heraufgebildeten Natur und des in die Natur hinauswirkenden Ich. Vor dem Hintergrund dieses naturphilosophisch angereicherten Verständnisses von Fichtes fortentwickelter Transzendentalphilosophie ist es dann auch aussichtsreich, spezielle Affinitäten zwischen der Lehre von menschlicher Naturverfallenheit und menschlicher Selbstbefreiung bei Spinoza und Fichte zu verfolgen.
6 Natur und Moral Grundlage der Freiheitslehre ist bei Spinoza wie Fichte eine Unfreiheitslehre. Beide Denker entwickeln die Ethik oder Sittenlehre im engeren Sinne als Teil einer Naturlehre, die menschliches Handeln in den Kontext von Fremdbestimmung stellt. Bei Spinoza ist dies das als inadäquate Erkenntnis sich manifestierende Überwiegen von passiver Determination über aktive Determinierung, bei Fichte der Naturtrieb in seinen multiformen und antagonistischen Ausprägungen. Zugleich argumentieren beide Denker für den prinzipiellen Vorzug von Selbstbestimmung gegenüber Fremdbestimmung und bringen damit ein minimales, formales Element von Normativität ins Spiel, das dem Streben eine Richtung und 23 Siehe GA I/2, 385 ff. (Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre). 24 Zu Fichtes transzendentaler Theorie des personalen Anderen siehe Zöller, 2007 b. 25 Siehe GA I/5, 77 ff., bes. 102– 118 (Das System der Sittenlehre; 1798). Für eine systematische Rekonstruktion von Fichtes Transzendentalphilosophie der Natur siehe Lauth, 1984.
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darüber hinaus ein Ziel vorgibt: wo Fremdkausalität war, soll Eigenkausalität sein; wo Nicht-Ich war, soll Ich werden. Doch ist für Spinoza wie Fichte festzuhalten, dass das normativ besetzte Streben auch da, wo es auf Selbstbestimmung abzielt, naturverhaftet bleibt. Bei Spinoza zeigt sich dies in der umfassenden Funktion des Affektbegriffs („affectus“), der nicht nur die passiven körperlich-seelischen Zustände bezeichnet, sondern jede Bestimmtheit („affectio“) des Tätigkeitsvermögens („potentia agendi“) des menschlichen Körpers samt der dieser korrespondierenden Vorstellung („idea“). Zu den Affekten rechnet Spinoza nicht nur das Leiden („passio“) sondern auch die Handlung („actio“).²⁶ Bei Fichte lässt sich eine analoge Naturalität des ethischen Handelns feststellen, auch wenn die doxographische fable convenue anderes erwarten lassen würde. Im Unterschied zu Kant, der in seiner reifen Moralphilosophie der Vernunft nicht nur die Leistung moralischer Erkenntnis, sondern auch die moralischer Motivation zutraut – der kategorische Imperativ ist ineins „principium dijudicationis“ und „principium executionis“ –,²⁷ restringiert Fichte den Beitrag der reinen Vernunft zum sittlichen Handeln auf eine kriteriologische und damit letztlich auf eine kognitive Funktion. Die konkrete Motivation zum Handeln entstammt für Fichte allemal der Triebsphäre.²⁸ Das kantische Projekt einer Metaphysik der Sitten ist nach Fichtes Einschätzung um eine Physik der Sitten zu erweitern. Ohne eine solche physiologische Fundierung der Ethik bleibt die Sittenlehre, so Fichte, „formal und leer“.²⁹ Indem Fichte, abweichend von Kants motivationalem Dualismus von Pflicht und Neigung, das sittliche Handeln auch zu einer Sache der Triebe macht, kann er die normative Differenz von gut und schlecht nicht als eine Differenz von triebhafter Fremdbestimmung und triebverdrängender Selbstbestimmung ausgeben. Vielmehr verlegt Fichte die ethische Differenz in die Triebe selbst, als Differenz von „Naturtrieb“ und „reinem Trieb“ oder – kantisch gesprochen – von Sinnennatur und Vernunftnatur.³⁰ Doch geschieht dies nicht so, dass der Trieb zum moralischen Handeln dem Naturtrieb opponiert wird. Vielmehr versteht Fichte den „sittlichen Trieb“ als „gemischten Trieb“, der vom Naturtrieb die inhaltliche
26 Siehe Ethica, Pars III, Def. 3. 27 Zur Unterscheidung zwischen dem Prinzip der Beurteilungs- und dem Leistungsprinzip von Moralität siehe Kant, 2004, S. 55 f. 28 Zu Fichtes systematischem Ansatz einer konkreten Ethik siehe Zöller 2005 a. 29 GA I/5, 126 (Das System der Sittenlehre). Der Ausdruck „Physik der Sitten“ entstammt dem Titel von Friedrich Eduard Benekes Gegenschrift zu Kant Grundlegung der Metaphysik der Sitten: Grundlegung zur Physik der Sitten. Ein Gegenstück zu Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (Berlin/Posen 1822). Auszüge in Bittner/Cramer, 1975, S. 333 – 353. 30 Siehe GA I/5, 105 ff. (Das System der Sittenlehre).
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Füllung und vom reinen Trieb – dem Trieb nach absoluter Selbstbestimmung – die Form enthält.³¹ Auf diese Weise erreicht Fichte eine maximale Integration der Natur – als Triebnatur – in das sittliche Handeln und umgekehrt des sittlichen Handelns in die Natur. Allerdings ist für Fichte nicht jede Strebensvorgabe des Naturtriebes sittlich qualifiziert. Solche und nur solche Manifestationen des Naturtriebes sind der Integration in den gemischten sittlichen Treib fähig, von denen gilt, dass sie direkt oder indirekt zum ultimativen Strebensziel absoluter Selbständigkeit beitragen, oder – wie Fichte dies imaginiert – in einer Reihe von Handlungen liegen, deren unendliche Fortsetzung in die absolute Freiheit münden würde.³² Für die Feststellung dieser Eignung rekurriert Fichte dann allerdings nicht auf Weltkenntnis, die solche Vorhersage ermöglichen würde, sondern auf Selbstkenntnis, nämlich auf das unmittelbare und infallible moralische Selbstbewusstsein („Gewissen“).³³ Die Integration von reinem Trieb und Naturtrieb zum gemischten Trieb fasst Fichte als Dienstbarmachung des materialen natürlichen Triebes für den rein formalen, „geistigen“ Trieb. Der moralisch sanktionierte Naturtrieb bleibt dabei in seinem Bestehen und Wirken unangetastet, gelangt aber unter die „Botmäßigkeit des Begriffs“.³⁴ Die Dominanz von Vernunft über Natur ist also für Fichte, der sich darin Spinoza annähert, keine absolute Herrschaft, sondern vollzieht sich in Gestalt der Kultivierung der Triebe unter Anleitung der Vernunft. Auch versteht Fichte die naturgestützte Praxis von Sittlichkeit nicht als solitäre Angelegenheit des moralischen Einzelkämpfers, sondern als eingebettet in Formen sittlicher Gemeinschaftlichkeit, die von der Rechtsgemeinschaft („Staat“) über die Religionsgemeinschaft („Kirche“) zur kritischen Weltbürgergemeinschaft („gelehrtes Publikum“) reichen³⁵ und denen bei Spinoza informellere Formen der Geselligkeit korrespondieren („amicitia“).³⁶ Dem entsprechend ist die angestrebte absolute Freiheit die Freiheit aller, die für Fichte Gegenstand eines unendlichen Prozesses der Annäherung ist. Spinozistisch gedacht ist das Erreichen dieses Fernzieles die Koinzidenz von Gott und Mensch, die Fichte tatsächlich unter der ketzerisch scheinenden, doch in Wahrheit krypto-christologischen Formel „Jeder wird Gott […]“ aufstellt.³⁷
31 Siehe GA I/5, 143 (Das System der Sittenlehre). 32 Siehe GA I/5, 139 – 141 (Das System der Sittenlehre). 33 Siehe GA I/5, 138 und 143 (Das System der Sittenlehre). 34 Siehe GA I/5, 48 und 53 (Das System der Sittenlehre). 35 Siehe GA I/5, 213 – 227 (Das System der Sittenlehre). 36 Siehe Ethica, Pars IV, Prop. 37. 37 Siehe GA I/5, 231 (Das System der Sittenlehre). Zu Fichtes apersonalem Gottesbegriff und zur systematischen Proximität von Gott und Mensch bei Fichte siehe Zöller, 2010.
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Auch Spinoza macht das Einswerden mit Gott zum Strebensziel seiner Ethik, allerdings nicht in Gestalt einer prometheischen Praxis, sondern im Medium kognitiver Anstrengung in Gestalt der intuitiven Erkenntnisart („tertia cognitio“) und des korrelierten Affekts der liebenden Erkenntnis Gottes („amor Dei intellectualis“).³⁸ Beim späten Fichte findet sich dazu eine frappierende Analogie, wenn der über den Standpunkt der Sittlichkeit hinausreichende religiöse Standpunkt und die ihm korrelierte ebenso werktätige wie kontemplative Lebenspraxis unter den Begriff der Liebe gebracht werden. Fichte versteht unter der Liebe in ihrer Funktion als Steigerungsform des Strebens den „Affekt des Seyns“ oder das „Gefühl des Seyns als Seyn“.³⁹ Gemeint ist damit die konstitutive Ausrichtung des aktual endlichen Seins auf das eigene potentiell unendliche Sein oder das Absolute („Gott“), die sich affektiv manifestiert als Lust („Wohlseyn“) oder Unlust („Schmerz“) über die „Vereinigung“ bzw. „Getrenntheit“ vom Gegenstand der liebenden Strebens („Geliebten“) und die damit den Grundaffekten der Freude und Trauer („laetitia“ und „tristitia“) bei Spinoza korrespondiert.⁴⁰ Die aufgezeigten weitreichenden Analogien und Affinitäten zwischen Spinoza und Fichte im Allgemeinen und zwischen ihren Strebens-, Trieb- und Affektenlehren im besonderen legen auch eine differenziertere Einschätzung des Verhältnisses zwischen ihren Freiheitslehren nahe. In verkürzter, finaler Zuspitzung ließe sich behaupten, dass das Ausmaß an Freiheit bei Spinoza eher unterschätzt wird, während es bei Fichte eher überschätzt wird. Wie Spinoza versteht auch Fichte unter Freiheit nicht die Freiheit der Wahl („Willkür“), sondern die Freiheit der Selbstbestimmung und Selbstherrschaft („Autonomie“ und „Autokratie“).⁴¹ Und wiederum Spinoza nicht unähnlich versteht Fichte die Freiheit, nach der wir streben, im Ausgriff auf ein unendliches Wesen, oder auf die Konzeption eines unendlichen Wesens, das wir selbst nicht sind und auch nie sein werden, aber dem wir uns in unserem Denken und Handeln unendlich anzunähern streben und dem wir dabei wesensmäßig immer schon zugehörig sind – dem absoluten Ich oder Gott.
38 Siehe Ethica, Pars II, Prop. 40, Schol. 2, [IV.] sowie Prop. 47, Schol. und Pars V, Prop. 15. 39 GA I/9, 133 f. (Die Anweisung zum seeligen Leben). 40 Siehe Ethica, Pars. III, Prop. 11. 41 Zur Vorgeschichte von Fichtes Unterscheidung von Willkür und Wille bei Reinhold und Kant siehe Zöller, 2006.
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Frederick Neuhouser
Rousseau und Hegel: Zwei Begriffe der Anerkennung Ein großer Teil meiner eigenen philosophischen Arbeit beruht auf der Überzeugung, dass die Geheimnisse von Hegels oft sehr dunkler Sozialphilosophie am besten dadurch aufzuklären sind, dass man vorher die Hauptlehren Rousseaus rekonstruiert und dann versucht, Hegel als Schüler und Erbe von Rousseau zu interpretieren. Diese Strategie kann ohne Zweifel fruchtbar sein. In meinem neuesten Buch (Neuhouser, 2008), zum Beispiel, gehe ich von der Voraussetzung aus, dass sich sehr viel davon, was Hegel mit dem Begriff der Anerkennung leisten will,verständlich machen lässt, indem man zuerst untersucht,wie Rousseau einen ähnlichen Komplex von Problemen behandelt, die er als Phänomene der grundlegenden menschlichen Leidenschaft auffasst, die er l’amour-propre nennt. Diese hermeneutische Strategie kann aber auch zu Missverständnissen führen, da sie die Gefahr mit sich bringt, Hegel zu sehr durch die Augen Rousseaus zu lesen und damit die eigentlichen Innovationen Hegels zu verkennen. Erst nachdem ich mich lange mit Rousseaus Lehre von l’amour-propre beschäftigt hatte, ist mir klar geworden, dass ein wesentlicher Unterschied zwischen den beiden Denkern in Bezug auf das Thema Anerkennung in deren jeweiligen Auffassungen des Verhältnisses zwischen der Anerkennung und der Freiheit besteht. In diesem Beitrag versuche ich, zu erklären, worin dieser Unterschied besteht und warum er wichtig ist. Obwohl Rousseau niemals den Terminus reconnaissance in dem spezifischen Sinne verwendet, den Hegel später dem Terminus „Anerkennung“ verleiht, könnte er als der erste große Theoretiker der Anerkennung betrachtet werden – das heißt, als der erste Denker, der das Thema der Anerkennung ins Zentrum seiner Sozial-, Moral- und politischen Philosophie gestellt hat. Diese Behauptung gewinnt an Überzeugungskraft, wenn man sich klar macht, dass der Schlüsselbegriff von Rousseaus Philosophie der Anerkennung nicht la reconnaissance ist, sondern l’amour-propre (auf Deutsch: die Eigenliebe). Dass l’amour-propre eine zentrale Rolle in Rousseaus Denken spielt, ist allgemein anerkannt, auch wenn es noch keine weitreichende Übereinstimmung darüber gibt, welche Rolle genau sie darin hat. Wenn man Rousseaus Behandlung des Themas Anerkennung mit der Hegels vergleichen will, ist es von großer Bedeutung, dass Rousseau von der Feststellung einer angeblichen Tatsache ausgeht, nämlich der Existenz einer Leidenschaft – une passion (Rousseau, 1964, S. 219) –, die alle Menschen dazu treiben soll, nach Hochschätzung oder Ansehen in den Augen Anderer zu streben. Es ist wichtig für
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Rousseaus Theorie, dass die Hochschätzung, die Menschen auf Grund ihrer amour-propre suchen, sehr diverse Formen annehmen kann. Applaus, Bewunderung, Lob, Ehre, Achtung und viele andere positive Einstellungen zu Anderen zählen für Rousseau zu den Formen der Anerkennung. Diese große Vielfalt deutet auf die fast maßlose Plastizität, die er der amour-propre zuschreibt. (L’amourpropre ist eine plastische Leidenschaft in dem Sinne, dass sie im Prinzip auf sehr verschiedene Weise ihre Befriedigung suchen und finden kann.) Dieser Ausgangspunkt Rousseaus ist wichtig, weil damit deutlich wird, dass seine Philosophie der Anerkennung auf einer Theorie der menschlichen Natur beruht – das heißt, auf einer Theorie der grundlegenden Veranlagungen und Fähigkeiten, die von Natur aus alle Menschen als solche besitzen (Rousseau, 1964, S. 122, 126, 153 – 6). (Genau diesen Ausgangspunkt in einer Theorie der menschlichen Natur will Hegel ablehnen, aber ob er das wirklich tut oder tun kann, ist eine sehr komplizierte Frage, mit der ich mich hier nicht weiter beschäftigen kann.) Rousseaus Theorie der menschlichen Natur hat vor allem eine beschreibende und erklärende Funktion, deren Ziel es ist, die verschiedenen Grundquellen der menschlichen Motivation festzulegen und aufzuklären. Dass für Rousseau l’amour-propre zu den grundlegenden Leidenschaften des Menschen zählt, bedeutet also, dass ihr ein eigenständiger Status neben l’amour de soi-même, dem Streben nach Selbsterhaltung, als eine der drei Hauptquellen der menschlichen Motivation, zukommt (Rousseau, 1964, S. 219). (La pitié – das Mitleid – die Fähigkeit, mit leidenden Anderen mitzufühlen – ist die dritte, und viel schwächere Quelle der menschlichen Motivation (Rousseau, 1964, S. 154).) Bekanntlich hat aber Rousseaus Theorie der menschlichen Natur auch eine normative Funktion. Einen Teil dieser normativen Funktion sieht man darin, dass in seiner politischen Philosophie die Zwecke der einen Form der Selbstliebe, l’amour de soi-même, den Status von Grundinteressen gewinnen, die eine Gesellschaft für alle befriedigen muss, wenn sie als vernünftig, gut oder legitim gelten soll. Das heißt, ein vernünftiger Staat muss für alle Mitglieder das Leben und die gesellschaftlichen Grundbedingungen des individuellen Wohls sichern können (Rousseau, 1964, S. 360). In der politischen Philosophie Rousseaus scheint aber die andere Form von Selbstliebe, l’amour-propre, im Gegensatz zu l’amour de soi-même, kein sozialtheoretisch relevantes Grundinteresse des Menschen zu implizieren. Im Gesellschaftsvertrag zum Beispiel kommt der Ausdruck „l’amour-propre“ nicht einmal vor, und in seiner Beschreibung der Hauptaufgabe der politischen Philosophie kommt die Anerkennung nicht unter den Grundinteressen vor, die ein legitimer Staat für alle Bürger befriedigen müsse. Im Diskurs über den Ursprung der Ungleichheit (dem sogenannten Zweiten Diskurs) ist auch keine Spur davon zu finden, dass die Befriedigung der amour-propre irgendwelchen positiven Wert hätte, der sie zu einem Grundinteresse des Menschen machen
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könnte. Dass l’amour-propre im Zweiten Diskurs eine große Rolle spielt, steht natürlich außer Frage. Aber als der Kern von Rousseaus Antwort auf die Hauptfrage des Diskurses, wo die Ungleichheit in der Gesellschaft herkomme, hat l’amour-propre dort eine lediglich negative, diagnostische Funktion. Und als die Haupterklärung für die Ungleichheit trägt l’amour-propre auch die Hauptverantwortung für die vielen anderen Übel, die dieser Ungleichheit entspringen: den Krieg, das menschliche Leiden, den Verlust der Freiheit, die Laster und die Selbstentfremdung. Es ist hier von besonderem Interesse, dass der zentralen These des Diskurses zufolge l’amour-propre eine der wichtigsten Ursachen des Verlustes der menschlichen Freiheit darstellt. Statt also die Anerkennung als ein freiheitsbeförderndes Phänomen zu verstehen, betont Rousseau im Zweiten Diskurs, dass es zwischen der Freiheit und dem menschlichen Streben nach Anerkennung eine tiefe und folgenreiche Spannung gibt. Der Grund dieser Spannung liegt darin, dass l’amourpropre ein eigenartiges menschliches Bedürfnis mit sich bringt: Ein Bedürfnis nach irgendeiner Art von Anerkennung, das noch mehr als die Bedürfnisse der Selbsterhaltung für einen Zustand der durchgehenden Abhängigkeit unter Menschen sorgt, die für Rousseau die Hauptgefahr für die menschliche Freiheit darstellt (Neuhouser, 2008, S. 79 – 80). Mit anderen Worten ist das mächtige menschliche Bedürfnis, auf irgendeine Weise von anderen hochgeschätzt zu werden, die Quelle einer ständigen Bedrohung unserer Fähigkeit, nur dem eigenen Willen zu gehorchen, was für Rousseau das Wesen der Freiheit ausmacht (Rousseau, 1964, S. 360). In diesem Zusammenhang wird Freiheit verstanden als der Zustand, dem Willen eines Anderen nicht unterworfen zu sein oder, was auf dasselbe hinausläuft, als die Abwesenheit von Herrschaft durch einen fremden Willen (Rousseau, 1964, S. 841). Jede Art der Abhängigkeit unter Menschen, nicht zuletzt die, die der amour-propre entspringt, bringt die Gefahr des Verlustes der Freiheit mit sich. Denn durch die Abhängigkeit werden Menschen regelmäßig der Versuchung ausgesetzt, sich ihre Handlungen von denen diktieren zu lassen, deren Kooperation ihnen bei der Befriedigung ihrer Bedürfnisse unentbehrlich ist. Insofern jemand also ein Bedürfnis nach Anerkennung hat – und das haben wir als Menschen alle –, ist er ständig in Gefahr, sich an den fremden Werten und Vorlieben jener Anderen auszurichten, deren positive Meinung er so dringend braucht. Dass im Gesellschaftsvertrag das Thema der amour-propre gar nicht zur Sprache kommt, ist umso überraschender, wenn man bedenkt, dass Rousseaus politische Lösung für das Problem der Abhängigkeit sich implizit auf eine Politik der Anerkennung stützt. Denn der Grundgedanke des Gesellschaftsvertrages lautet: Wenn die menschliche Abhängigkeit nicht zum Verlust der Freiheit führen soll, muss sie vom Staat nach den Prinzipien des volonté générale umstrukturiert
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werden (Neuhouser, 2000, S. 73 – 8). Das heißt: Die Gesetze und Institutionen des Staates müssen so beschaffen sein, dass sie den Grundinteressen aller Staatsbürger den gleichen Wert beimessen, oder, mit anderen Worten, dass sie alle Individuen mit Bezug auf ihre Grundinteressen als Gleiche behandeln und dadurch anerkennen. Die politische Anerkennung aller Staatsbürger als Gleiche kann also für Rousseau als eine notwendige Bedingung der Verwirklichung ihrer Freiheit betrachtet werden. Dennoch bleibt diese Anerkennung – ihr Anerkanntsein – etwas anderes als ihre Freiheit. Die Anerkennung aller als gleichwertige Staatsbürger gewinnen Individuen schon als passive Mitglieder des Staates, die unter gerechten Gesetzen und Institutionen leben, welche die Grundinteressen ihrer Mitglieder als gleichwertig behandeln. Ihre Freiheit aber – oder die spezifische Art von Freiheit, die ihnen als Staatsbürgern zukommt –, wird nach Rousseau nur durch ihre aktive Teilnahme am Prozess der Gesetzgebung verwirklicht, das heißt, nur insofern sie die gerechten Gesetze mitbestimmen und sie am Ende des Prozesses gutheißen. Bei Rousseau besteht also die Freiheit des Staatsbürgers darin, dass sein Wille nur durch vernünftige Prinzipien beschränkt ist, die von ihm selbst kommen (Rousseau, 1964, S. 373). Insofern er sich mit dem allgemeinen Willen, der seinen besonderen Willen beschränkt, auf irgendeine Weise identifiziert –, insofern er den allgemeinen Willen irgendwie als seinen Willen ansieht –, ist er darin nur von seinem eigenen Willen beschränkt, statt von einem fremden. Meinem Verständnis von Rousseaus Theorie der amour-propre nach kann man zeigen, wenn man etwas über den Text des Gesellschaftsvertrags hinausgeht, dass die Fähigkeit eines Staatsbürgers, sich mit dem volonté générale zu identifizieren, nur mit Hilfe der amour-propre möglich ist. Mit anderen Worten kann ein Mensch die Fähigkeit, sich von Prinzipien der Vernunft leiten zu lassen, nur aufgrund einer Form von amour-propre erwerben, die eine bestimmte Bildung durchlaufen hat, die es ihm erlaubt, eine Art Ehre dadurch zu gewinnen, dass er sich den Prinzipien der Vernunft unterwirft (Neuhouser, 2008, S. 239 – 40). Dass l’amour-propre im Prinzip auch eine solche positive Rolle spielen kann, ist vor allem im Émile zu sehen, wonach eine Hauptaufgabe der guten Erziehung darin besteht, Émiles amour-propre so zu gestalten, dass er durch vernünftiges Handeln eine Art Ehre – und dadurch eine wenigstens partielle Befriedigung seiner amour-propre – finden kann (Rousseau, 1969, S. 637). Trotz dieses positiven Potentials der amour-propre ist es schwierig, in Rousseaus Texten Spuren der Idee zu finden, dass aus der Perspektive der Sozialphilosophie die Anerkennung als ein grundlegendes menschliches Interesse oder Gut zu betrachten ist, also als etwas, was nicht nur gut ist, insofern es im Dienste eines anderen menschlichen Elementargutes steht, wie zum Beispiel der politischen Freiheit.
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Man könnte einen Schritt weiter gehen als Rousseau es selbst getan hat und der Anerkennung auf Grund der im Zweiten Diskurs beschriebenen Mächtigkeit und Unwiderstehlichkeit der amour-propre den Status eines Elementarbedürfnisses des Menschen zuschreiben, deren Befriedigung eine vernünftige Gesellschaft für alle ermöglichen muss. Aber auch dieser über Rousseaus eigene Worte hinausgehende Schritt fände seine Rechtfertigung nicht in der Behauptung, die Anerkennung sei ein wichtiges Gut für sich, sondern in der Tatsache, dass ohne irgendeine gesellschaftlich harmonische Befriedigung des Strebens nach Hochschätzung l’amour-propre notwendigerweise eine ständige Quelle von Konflikt, Böswilligkeit, Herrschaft, und Unzufriedenheit wäre. Das bedeutet, die Anerkennung gehörte auch bei dieser Revision der rousseauschen Sozialphilosophie nicht in dieselbe Kategorie neben die menschlichen Elementargüter, die seine Theorie zulässt, nämlich: die Selbsterhaltung, die gesellschaftlichen Bedingungen des individuellen Wohls und, am aller wichtigsten, die Freiheit. Diesem Vorschlag zufolge wäre es plausibel, Rousseaus Sozialphilosophie als implizit von der Frage geleitet zu verstehen:Wie muss eine Gesellschaft beschaffen sein, damit sie die Grundinteressen aller – die Selbsterhaltung, die Freiheit und die Grundbedingungen des individuellen Wohls – befriedigen kann, und zwar auf eine Weise, die es zugleich deren Mitgliedern ermöglicht, ein ausreichendes Maß von Anerkennung – oder, genauer, die Stillung ihres Triebes nach Ansehen – zu finden? Dennoch – um das noch einmal zu wiederholen: Auch wenn die Anerkennung von Rousseaus Sozialphilosophie als ein menschliches Bedürfnis angesehen würde – als etwas, ohne welches die Leidenschaft der amour-propre nicht zur Ruhe kommen kann – wäre es schwierig, in Rousseaus sozialphilosophischen Texten den Gedanken zu finden, dass der Zustand der Befriedigung der amourpropre irgendeinen positiven Wert für sich besäße. Versuchen wir festzustellen, in welchem Verhältnis die Anerkennung zur Freiheit in Hegels Sozialphilosophie steht, ist zunächst zu bemerken, dass dies kein externes Verhältnis ist, worin Verhältnisse der Anerkennung als notwendige Bedingungen der Freiheit verstanden werden, wie sie in Rousseaus politischer Philosophie es sind. Hegel zufolge ist Anerkennung vielmehr identisch mit Freiheit. Genauer gesagt ist es eine bestimmte Art von Anerkennung, die das Wesen einer bestimmten Art von Freiheit ausmacht. Der für Hegels Sozialphilosophie grundlegende Begriff von Freiheit, um den es hier geht, habe ich anderswo „soziale Freiheit“ genannt (Neuhouser, 2000, S. 17). Es ist diese Art von Freiheit, die Hegel erläutern will, wenn er von der Freiheit als einem Bei-sich-selbst-Sein im Anderen spricht. Diese Freiheit ist natürlich von der negativen Freiheit zu unterscheiden – dem Recht, ungestört von der Einmischung anderer Subjekte zu handeln – die für Locke, zum Beispiel, als das Paradigma der Freiheit gilt. In der Freiheit-als-Anerkennung sollen Beziehungen zu anderen Subjekten dagegen eine
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positive Rolle spielen; diese Freiheit soll ein Sich-Finden im Anderen sein, und die jetzt zu beantwortende Frage ist, wie das zu verstehen ist. Eine Explizierung dieses hegelschen Verständnisses der Freiheit findet man an der Stelle in der Philosophie des Rechts, wo Hegel zum ersten Mal im Text den Ausdruck „Bei-sich-selbst-Sein im Anderen“ verwendet (PhR, § 7, Zusatz). Dort wird der Begriff der sozialen Freiheit anhand der Beispiele der Freundschaft und der Liebe erläutert. Bemerkenswert ist Hegels eigene Erklärung, weshalb Freundschaft und Liebe als Verwirklichungen der Freiheit zu verstehen sind: „[I]n der Freundschaft und Liebe […] ist man nicht einseitig in sich, sondern man beschränkt sich gern in Beziehung auf ein Anderes, weiß sich aber in dieser Beschränkung als sich selbst. In der Bestimmtheit soll sich der Mensch nicht bestimmt fühlen, sondern indem man das Andere als Anderes betrachtet, hat man darin erst sein Selbstgefühl. […] [D]ie Freiheit ist, ein Bestimmtes zu wollen, aber in dieser Bestimmtheit bei sich zu sein […].“ (PhR, § 7, Zusatz). Obwohl das Wort „Anerkennung“ nirgendwo in diesem Zitat vorkommt, ist es sinnvoll, diese Textstelle als eine Explizierung der Freiheit als Anerkennung zu betrachten. Dass es sich hier um Anerkennung handelt, sieht man in Hegels Rede von einem Sichbeschränken auf ein Anderes. In der Liebe gelten dem Liebhaber die Wünsche und Interessen seines Geliebten als Beschränkungen seines Willens, und es ist genau dieses freiwillige Sichbeschränken zugunsten eines Anderen, das das Wesen der Anerkennung bei Hegel ausmacht. Dies erklärt aber weder, warum die Anerkennung ein Ort der Freiheit ist, noch, warum die Anerkennung als ein Beisich-selbst-Sein im Anderen zu verstehen ist. Das Verhältnis zwischen Freiheit und Anerkennung wird ersichtlicher, wenn wir auf einen weiteren Unterschied zwischen Hegels und Rousseaus Auffassungen der Anerkennung achten. Hegels Beschreibung der Anerkennung als einer Selbstbeschränkung des anerkennenden Subjekts zeigt, dass für ihn, im Gegensatz zu Rousseau, die Anerkennung wesentlich etwas Praktisches ist – etwas, was immer mit einem Wollen, mit einer Bestimmung des Willens, verbunden ist. Ein weiterer Punkt, der mit diesem praktischen Aspekt eng zusammenhängt, ist, dass Anerkennung für Hegel immer ein normatives Phänomen ist. Wenn man ein anderes Subjekt anerkennt, tut man es auf Grund irgendeiner Auffassung des Wertes oder des Status des Anerkannten, den man als eine den eigenen Willen beschränkende Norm betrachtet. Ein anderes Subjekt anzuerkennen heißt für Hegel zugleich eine bestimmte Norm als praktisch gültig anzuerkennen. Wenn zum Beispiel der Knecht den Herrn als das einzige selbständige Subjekt unter den beiden anerkennt, betrachtet er die Selbständigkeit des Herrn zugleich als eine normative Beschränkung seines Wollens (PhG, S. 151). Den Herrn als ein selbständiges Subjekt anzuerkennen, heißt, die Gültigkeit jener Normen zu akzeptieren, die bestimmen, wie ein selbständiges Wesen zu behandeln ist, was die
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Grundlage eines praktischen Verhältnisses zwischen den Subjekten der Anerkennung ausmacht. Hier hat die Anerkennung zur Folge, dass der Anerkennende den Willen des Anerkannten – in diesem Beispiel, jeden der besonderen Wünsche des Herrn – als eine Art praktischer Autorität betrachtet. Die Liebe stellt aus ähnlichem Grund eine Art von Anerkennung dar: Wenn ich einen Anderen liebe, schätze ich ihn als liebenswürdig – als (in irgendeinem Sinne) wertvoll – und lasse seine Wünsche und Interessen als Beschränkungen meiner eigenen Handlungen gelten. Dem Knecht sowohl als dem Liebhaber gelten die Wünsche und Interessen eines anerkannten Anderen als ein „Sollen“, wenn auch kein externes Sollen von der Sorte, die Hegel in der Moraltheorie Kants finden will (PhG, S. 321). In der Anerkennung haben die Wünsche und Interessen des Anerkannten den Status eines „zu Respektierenden“ oder eines „zu Befördernden“. Im Gegensatz zu Hegel hat Rousseau eine viel breitere Auffassung von Anerkennung, der zufolge sie primär in den Meinungen oder Urteilen – in „les opinions“ – des anerkennenden Subjekts bestehen. Wie schon oben angedeutet worden ist, gelten für Rousseau Applaus, Bewunderung, Lob und Ehre als Beispiele der Anerkennung. Das bedeutet, solange sie irgendeinen öffentlichen Ausdruck finden, tragen sie alle zur Befriedigung der Leidenschaft der amour-propre bei, auch wenn sie keine Handlung des Anerkennenden implizieren. Mit diesem Gedanken lässt sich verstehen, warum für Hegel die Anerkennung viel enger mit der Freiheit verbunden ist, als es bei Rousseau der Fall ist.Wenn der Anerkennende sein Handeln durch den Willen des Anerkannten beschränkt, kann Anerkennung leicht den Anschein eines Verlustes der Freiheit annehmen. Auf der anderen Seite – und hier liegt der Kern von Hegels Gleichsetzung von Anerkennung und Freiheit – stellt meine Selbstbeschränkung kein Verlust von Freiheit dar, wenn es auch der Fall ist, dass der, dessen Willen ich gehorche, (irgendwie) auch „ich“ ist. (Man denke hier an Hegels Charakterisierung der gelungenen Anerkennung in der Phänomenologie des Geistes mit Hilfe der Formel „Ich, das Wir, und Wir, das Ich ist“ (PhG, S. 145).) Oder anders gesagt kann nur irgendein Akt der Identifizierung mit dem von mir anerkannten Subjekt es zustande bringen, dass mein Beschränktsein durch einen Anderen mit meiner Freiheit vereinbar ist – oder, genauer gesagt, dass dieses Beschränktsein meine eigene Freiheit ausmacht. Denn aufgrund einer solchen Identifizierung mit dem Anerkannten wird mein Beschränktsein durch einen Anderen zu einem Beschränktsein durch mich selbst und das, was vorher nach Bestimmung durch einen Fremden aussah, lässt sich nun als Selbstbestimmung erkennen. Wie aber sollen wir die Identität zwischen Anerkanntem und Anerkennendem verstehen, die für die Gleichsetzung von Anerkennung und Freiheit notwendig ist? Man könnte sagen, das anerkennende Subjekt bleibt in seiner Selbstbeschränkung nur dann frei, wenn es – wie Axel Honneth es formuliert – „im Gegenüber den
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Anderen seiner Selbst erblicken“ kann (Honneth, 2011, S. 86, m. H.). Dieser Ausdruck erinnert sowohl an Aristoteles’ Auffassung der Freundschaft als auch an Hegels Beschreibung des Kampfes um Anerkennung in der Phänomenologie des Geistes, wo er von der Verdoppelung des Selbstbewusstseins spricht und behauptet, das nach Anerkennung strebende Selbstbewusstsein sehe „sich selbst im Anderen“ (PhG, S. 146). Auch in Hegels frühen Systementwürfen findet man ähnliche Formulierungen, wie zum Beispiel: „[D]er Genuss [der Anerkennung liegt] in dem Anschauen seiner selbst in dem Sein des [A]nderen“ (Hegel, 1986, S. 212). Von solchen Textstellen könnte man leicht den Eindruck gewinnen, das nach Anerkennung strebende Subjekt suche seine Befriedigung dadurch, dass es ein genaues Spiegelbild seiner selbst in der externen Welt vorfindet – ein ihm qualitativ identisches Subjekt, das ihm sein eigenes Selbstbild einfach widerspiegelt. In der Tat gibt es eine Identität dieser starken Sorte – zwischen numerisch verschiedenen, aber qualitativ identischen Subjekten – in bestimmten Formen von Anerkennung, auf die Hegel und Rousseau einen großen Wert legen, wie zum Beispiel in der Anerkennung unter Personen im abstrakten Recht (bei Hegel) (PhR, § 71, Anmerkung) oder unter Staatsbürgern im Gesellschaftsvertrag (bei Rousseau). Aber es wäre falsch, die Identität, auf der die Gleichsetzung von Anerkennung und Freiheit beruht, auf diese Weise zu interpretieren. Denn diese Art von Identität, in der der Anerkannte den Anerkennenden als das bloße Spiegelbild seiner selbst betrachtet, ist kein wesentliches Element der hegelschen Auffassung der Anerkennung als Freiheit, was sich leicht darin erkennen lässt, dass in den Formen von Anerkennung, die seiner Theorie der Sittlichkeit am wichtigsten sind, diese Identität meistens nicht vorhanden ist. Es ist kein Zufall, dass bei seiner Behandlung der konkreten Anerkennungsverhältnisse, in denen die soziale Freiheit verwirklicht wird, Hegel von seinem Vorgänger Aristoteles dadurch abweicht, dass er die Liebe zwischen andersartigen Subjekten statt der Freundschaft zwischen Gleichen als das Muster der intersubjektiven Anerkennung wählt. In seiner Behandlung der Liebe zwischen Eheleuten, zum Beispiel, betont er deren Unterschiede – vor allem, dass sie zwei von Natur aus völlig verschiedenen Geschlechtern angehören (PhR, §§ 165 – 6) – und lehnt damit ausdrücklich die Vorstellung ab, dass zwei sich durch die Liebe anerkennende Eheleute in einander bloße Spiegelbilder ihrer selbst sehen. Stattdessen sieht jeder in seinem Gegenüber ein Wesen einer anderen Natur, und dies – hier spricht Hegel, nicht ich – macht deren Verhältnis noch geistiger als die Liebe oder die Freundschaft zwischen zwei Frauen oder zwei Männern es sein könnte. Dasselbe gilt für die Hauptformen der Anerkennung in den anderen gesellschaftlichen Sphären: Die Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft und des Staates werden wegen ihrer besonderen Eigenschaften anerkannt, die sie von ihren Mitbürgern unterscheiden.
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Wenn also das Bei-sich-selbst-Sein im Anderen, das den Kern der sozialen Freiheit ausmacht, nicht in einem Verhältnis zu einem qualitativ identischen Anderen besteht, wie sollen wir die freiheitstiftende Identität verstehen, die zwischen zwei sich anerkennenden Subjekten bestehen soll? Der Schlüssel zur Beantwortung dieser Frage liegt schon in den vorher zitierten Worten Hegels: „[I]n der Freundschaft und Liebe […] beschränkt man sich gern in Beziehung auf ein Anderes […]. In d[ies]er Bestimmtheit soll sich der Mensch nicht bestimmt fühlen, sondern indem man das Andere als Anderes betrachtet, hat man darin erst sein Selbstgefühl […]“ (PhR, § 7, Zusatz). Hier betont Hegel wieder die Unterschiede zu einander, deren sich anerkennende Subjekte bewusst sind, und erklärt ausdrücklich, warum meine Anerkennung eines qualitativ verschiedenen Subjektes auch eine Verwirklichung meiner Freiheit darstellt, nämlich, weil ich dadurch mein Selbstgefühl gewinne (PhR, § 147). Der Begriff des Selbstgefühls kommt sicherlich von Rousseaus Verständnis dessen, was immer auf dem Spiel steht, wenn menschliche Subjekte die Befriedigung ihrer amour-propre suchen. Das Selbstgefühl von dem Hegel spricht – vermutlich eine Aneignung von Rousseaus Idee des sentiment de sa existence (Rousseau, 1964, S. 193) – legt die Vorstellung nahe, dass es in der Anerkennung um mehr als ein bloßes Gefühl (der Befriedigung) geht. Das Ergebnis der erfolgreichen Anerkennung ist zwar ein Gefühl der Befriedigung – ein sentiment –, aber ein Gefühl, das zugleich l’existence des Selbst mit sich bringt. Für beide Denker (obwohl es bei Rousseau eher implizit bleibt) kommt dem Selbst, um das es sich hier handelt, eine andere Existenzweise zu als die eines bloßen Naturgegenstandes. Ein Selbst in dem hier gemeinten Sinne gewinnt seine Existenz erst, wenn es für ein anderes Subjekt als etwas zählt – das heißt erst, wenn es von Anderen als etwas Werthabendes anerkannt wird. Das Dasein eines Selbst ist also wesentlich ein Sein-für-Andere – ein Sein, das in den öffentlich ausgedrückten Meinungen beziehungsweise in den praktischen Einstellungen anderer Subjekte sein Zuhause hat. Bei Hegel wird explizit und zentral, was bei Rousseau meistens unausgesprochen bleibt: Wir konstituieren uns als Selbste – wir verwirklichen unsere Identitäten – nur insofern wir als solche von Anderen anerkannt werden. Wie aber schon vorgeschlagen worden ist, setzt Hegel der Ansicht Rousseaus etwas Neues hinzu, insofern er die Anerkennung als einen Ort der Freiheit versteht. Jetzt lässt sich auch dieser Schritt Hegels verstehen. Ich bin in meiner Anerkennung eines Anderen nicht deshalb frei, weil der, dessen Wünsche und Interessen meinen Willen beschränken, mir als qualitativ oder sonst wie identisch mit mir erscheint, sondern weil, und nur insofern, ich durch mein Michbeschränken auf ein Anderes mein eigenes Selbstverständnis verwirkliche und zugleich eine öffentlich bestätigte Identität gewinne, als das Selbst, für das ich mich, meinem Selbstverständnisse nach, halte. Ich bin darin frei, insofern die Normen,
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denen ich mich durch meine Anerkennung eines Anderen unterwerfe, zugleich die Gesetze der Konstituierung meines eigenen Selbst sind. Aber unter welchen Bedingungen ist dies der Fall? Es ist wichtig, dass bei der Beantwortung der Frage, wie Anerkennung und Freiheit als vereint zu denken sind, der Gegenstand unserer Aufmerksamkeit vom anerkannten zum anerkennenden Subjekt gewechselt ist. Insofern Rousseau etwas zu sagen hätte über den Wert dessen, was aus der Befriedigung der amourpropre folgt, konzentrierte er sich auf die Befriedigung des Anerkannten und auf le sentiment de sa existence, das dieser durch die positiven Meinungen des Anerkennenden gewinnt. Um aber Hegels Gleichsetzung von Anerkennung und Freiheit zu verstehen, müssen wir stattdessen unsere Aufmerksamkeit zunächst auf den Anerkennenden richten, der sich in seiner Anerkennung eines anderen Subjekts gewissen Normen unterwirft, die bestimmen, wie ein solches Subjekt zu behandeln ist. Aber der Anerkennende kann seine Freiheit nur dann darin finden, wenn seine Anerkennung des Anderen zugleich sein eigenes Sichselbstfinden – ein Gewinnen seines eigenen Selbstgefühls – mit sich bringt. Da ein Selbst immer ein Sein-für-Andere haben muss, bedarf das Sichselbstgewinnen des Anerkennenden auch eines Elements der öffentlichen Bestätigung, was bedeutet: Der Anerkennende, der durch seine Anerkennung des Anderen auch seine Freiheit verwirklicht, muss in diesem Akt gleichzeitig auch selber Gegenstand eines Aktes der Anerkennung sein. Meine Anerkennung eines Anderen kann mich nur dann als ein Selbst konstituieren und deshalb meine Freiheit verwirklichen, wenn mein Akt der Anerkennung zugleich meine Anerkennung durch ein anderes Subjekt hervorruft. Bei Rousseau gibt es dagegen viele Beispiele der einseitigen Anerkennung, die, so scheint es, vom Anerkannten als befriedigend erfahren werden kann.Wenn Rousseau, zum Beispiel, vom Künstler spricht, der immer nach dem Applaus seines Publikums strebt (Rousseau, 1964, S. 21) oder vom Bewohner des Goldenen Zeitalters, der von seinen Mitmenschen als der Schönste oder der beste Sänger bewundert werden will (Rousseau, 1964, S. 169), fehlt jede Spur der hegelschen Vorstellung, dass nur die gegenseitige Anerkennung dem vernünftigen Potential der Anerkennung Genüge leisten kann. Freilich schließt nichts bei Rousseau die gegenseitige Anerkennung aus. Der schönste und der beste Sänger können sich gegenseitig als solche anerkennen, aber diese Gegenseitigkeit wäre dann bloß zufällig und bliebe der Befriedigung jedes Einzelnen extern. Wenn wir aber mit Hegel unsere Aufmerksamkeit auf Gestalten der freiheitskonstituierenden Anerkennung richten, müssen wir uns auf Beispiele der gegenseitigen Anerkennung konzentrieren, in denen das Beschränken meines Willens nach Normen, die meiner Wahrnehmung des Wertes des Anderen Ausdruck geben, zugleich und nicht zufälligerweise auch meine Anerkennung durch diesen Anderen hervorruft.
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Hier ist es wichtig zu bemerken, dass die Anerkennung durch einen Anderen, die für Hegel als ein Sichselbstgewinnen gilt, in mehr bestehen muss als bloß in einer bejahenden Meinung, die der Andere von mir hat. Der Herr gewinnt eine Verwirklichung seiner Identität als Herr durch die Anerkennung des Knechtes nicht primär, weil der Knecht irgendein Urteil über ihn fällt – etwa „der Herr ist selbständig im Gegensatz zu mir, dem Unselbständigen“ –, sondern weil der Knecht auch auf eine Weise handelt, die der Selbständigkeit des Herrn gemäß ist und die die normativen Folgen dieser Selbständigkeit konkret zum Ausdruck bringt (PhG, S. 151). Ein von Rousseau inspiriertes Beispiel von gegenseitiger Anerkennung, die dem hegelschen Verständnis von freiheitsverwirklichender Anerkennung nahe kommt, könnte man in den Verhältnissen finden, die nach Rousseau die Bürger einer wohlgeordneten Republik zu einander haben, in denen das freiwillige Beschränken meines Willens durch den volonté générale zugleich den Gehorsam meiner Mitbürger gegen den volonté générale und dadurch eine in ihrem Handeln ausgedrückte Achtung meines Status als Staatsbürger hervorrufen soll. Durch mein eigenes, die Gesetze und die Grundinteressen meiner Mitbürger anerkennendes Handeln rufe ich dieselben Handlungen meiner Mitbürger hervor, was zur Folge hat, dass meine Identität als Staatsbürger durch ihre Handlungen konkret bestätigt wird und eine öffentliche Existenz bekommt. Dennoch gilt für Hegel ein solches rousseausches Beispiel der gegenseitigen Anerkennung, in dem sich Subjekte identische, allgemeine Identitäten gegenseitig bestätigen, nicht als das Paradigma der sozialen Freiheit. Denn diese verlangt ein noch engeres Verhältnis zwischen meinem Handeln und dem meines Gegenübers – ein Verhältnis, in dem ich als besonderes Individuum handele und dadurch die wiederum besondere Handlung eines besonderen Anderen hervorrufe. In solchen Fällen – wie, zum Beispiel, in der Liebe zwischen Eheleuten oder in dem Verhältnis zwischen Doktorvater (oder Doktormutter) und Promovierenden – sind unsere Handlungen nach den besonderen Wünschen und Interessen spezifischer Individuen gerichtet und die Identitäten, die dadurch gewonnen werden, sind besondere Identitäten, die aus diesem Grund nach Hegel oft dem Selbst „näher am Herzen“ liegen als bloß allgemeine Identitäten, die wir mit vielen anderen Menschen teilen. Der Grund, weshalb für Hegel diese besonderen Anerkennungsverhältnisse – wie die in der Familie und in der bürgerlichen Gesellschaft – das Wesen der sozialen Freiheit ausmachen, beruht auf dem Gedanken, dass Verhältnisse der Anerkennung, in denen sich Menschen als besondere Individuen zu einander verhalten, ihnen eine präzisere Widerspiegelung ihrer Identitäten wiedergeben können als Verhältnisse, in denen es nur um abstrakte, allgemeine Identitäten geht, die man mit allen Anderen teilt. Mitglieder der Familie und der bürgerlichen
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Gesellschaft finden Widerspiegelungen ihrer Identitäten in ihren Verhältnissen zu Anderen nicht in dem Sinne, dass sie in der Anerkennung genaue Replike ihrer selbst vor sich haben, sondern in dem Sinne, dass die externe Welt, die aus Dingen und anderen Subjekten besteht, sich als eine Welt zeigt, die ihnen eine eigene, als ob „nur für sie“ zugeschnittene Nische anbietet, wo sie in diesem starken Sinne bei sich selbst sein können. Axel Honneth schlägt mit Recht vor, dass die Identität, die zwischen sozial freien, sich gegenseitig anerkennenden Subjekten bestehen soll, als eine Komplementarität zu verstehen ist, und zwar als eine Komplementarität der Wünsche und Ziele der sich so verhaltenden Subjekte (Honneth, 2011, S. 86). Mitglieder sittlicher Institutionen sind Inhaber von qualitativ verschiedenen, sich gegenseitig ergänzenden Eigenschaften, die ihnen die Erfüllung der besonderen Funktionen ermöglichen – als Kinder und Eltern, oder Bauern und Fabrikarbeiter –, die dem Wohlergehen ihrer Institutionen als Ganze wesentlich sind. Die Wünsche und Ziele solcher Individuen sind nicht identisch oder gleich, sondern sich ergänzend: Eine Mutter, zum Beispiel, kann ihre Wünsche und Ziele nur dann erreichen, wenn ihr Ehegatte und ihre Kinder andere Wünsche und Ziele haben, die den ihrigen komplementär sind (und umgekehrt). Wenn (um bei diesem Beispiel zu bleiben) Familienmitglieder zusammenhandeln, – wenn sie sich gegenseitig auf die besonderen Wünsche und Bedürfnisse der anderen Familienmitglieder beschränken – kurz, wenn sie sich anerkennen –, findet jedes von ihnen kein identisches Abbild seiner selbst vor sich, sondern vielmehr andere Subjekte, deren besondere Eigenschaften und praktische Einstellungen seinem eigenen besonderen Selbstsein notwendig sind. Diese Komplementarität ist natürlich keine Identität im strengen Sinne. Dennoch gibt es tatsächlich eine Art von Identität unter den Mitgliedern einer sittlichen Institution – eine Identität, ohne welche die soziale Freiheit nicht völlig verwirklicht ist. Denn nach Hegel reicht die bloße Komplementarität der Wünsche und Ziele von Institutionsmitgliedern nicht aus, um ein sittliches Ganzes auszumachen. Ein sehr hohes Maß von solcher Komplementarität gibt es zum Beispiel unter den Mitgliedern einer modernen Marktwirtschaft, in deren Verhältnissen aber die Identität unter ihnen fehlt, die die soziale Freiheit erfordert (PhR, §§ 186 – 7). Die Identität, ohne welche die volle soziale Freiheit nicht existiert, lässt sich mit der Identität vergleichen, die den Stücken eines Puzzles zukommt, wo die besonderen Eigenschaften jedes einzelnen Stückes komplementäre Eigenschaften aller anderen Stücke verlangen, die, einmal zusammengesetzt, ein Ganzes ausmachen, das mehr als die Summe seiner einzelnen Teile ist. Die Mitglieder eines solchen sittlichen Ganzen können größere („allgemeinere“) Zwecke verwirklichen, die jedes Mitglied befürwortet, aber ihm als Einzelnen unerreichbar wären. Die sozial freien Mitglieder einer sittlichen Institution verwirklichen also ihre
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besonderen Identitäten nur, indem sie an gemeinsamen Projekten teilnehmen, die von Endzwecken geleitet sind, die sie mit anderen Mitgliedern teilen. Dieses Teilen von Endzwecken stellt einen neuen, anerkennungsrelevanten Typus der Identität dar, die den Mitgliedern eines sittlichen Ganzen zukommt: Solche Mitglieder pflichten denselben Endzwecken bei und dieses Einverständnis über Endzwecke ist selbst eine Form der gegenseitigen Anerkennung – eine Form, die noch tiefer geht als viele der Phänomene, die Rousseau als Beispiele von gelungener Anerkennung betrachtet. Die Identität von Endzwecken, die den Mitgliedern einer sittlichen Institution zukommt, impliziert eine Bestätigung des Werts der eigenen höchsten Zwecke und Werte durch Andere. In Institutionen, in denen die soziale Freiheit verwirklicht wird, sind es nicht nur meine Fähigkeiten als Vater oder Arbeitstätiger, die von Anderen bejaht werden, sondern auch (und noch wichtiger) meine Kompetenz als ein moralisches Subjekt, zuverlässig über das menschliche Gute zu urteilen. Dass jedes Ensemble von wahrhaft befriedigenden Anerkennungsverhältnissen eine normative Gemeinschaft impliziert, – dass ein einzelnes Selbstbewusstsein nur als Geist verwirklicht werden kann –, ist ein hegelscher Grundsatz, dessen Spuren man bei Rousseau ab und zu, aber dann nur teilweise und konfus finden kann. Zum Schluss soll kurz die Frage gestellt werden, warum dieser Unterschied zwischen Hegel und Rousseau von Bedeutung ist. Die kurze Antwort lautet: Hegels Auffassung der Anerkennung als eine Art von Freiheit ermöglicht es ihm, den ethischen Wert der Anerkennung besser zu verstehen als Rousseau es kann, und daher auch besser zu erklären, warum Anerkennung eine Hauptangelegenheit der Sozialphilosophie sein muss. Meiner Meinung nach hat Rousseau selber noch keine klare Antwort auf die Frage, worin der Wert der Anerkennung bestehe und ob sie einen ethischen Wert besitze, den die Sozialphilosophie beachten muss. Soweit seiner Sozialphilosophie die Anerkennung als ein Gut gelten kann, gilt sie ihr als solches hauptsächlich aus empirischen Gründen, weil Menschen aufgrund ihrer Natur danach streben und weil, so könnte man sagen, ihr Glück sie deshalb erfordert. Aber wie Rousseau selber einsieht, reicht die bloße Tatsache, dass Menschen so geschaffen sind, dass sie faktisch nach irgendeinem bestimmten Ziel streben, nicht aus, um dessen Status als ein menschliches Gut oder ein Grundinteresse des Menschen zu begründen (Neuhouser, 2008, S. 49 – 52). Für Hegel gibt es demgegenüber keinen Zweifel darüber, warum der Anerkennung ein wichtiger Platz in der Sozialphilosophie zukommen muss: Ohne Anerkennung (der richtigen Formen) bleibt unsere Freiheit unvollständig. Auch wenn Rousseau der Anerkennung den Status eines grundlegenden menschlichen Guts zukommen ließe, gäbe es immer noch einen wichtigen Unterschied zwischen den beiden Denkern. Denn bei Hegel steht die Anerkennung nicht neben der Freiheit als ein Grundinteresse unter anderen; sie ist vielmehr unlösbar verbunden mit dem Interesse,
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das beide Denker als höchstes menschliches Gut anerkennen: der praktischen Freiheit. Ferner stellt Hegels Auffassung der Anerkennung einen Fortschritt gegenüber der seines Vorgängers dar, insofern sie der Sozialphilosophie Kriterien dafür liefert, wie die ethisch wichtigsten Formen von Anerkennung – die, die eine vernünftige Gesellschaft befördern muss – von anderen, weniger wichtigen Formen zu unterscheiden sind. Diese Kriterien entspringen dem Gedanken, dass einige Formen von Anerkennung – die, die in der modernen Familie, in der bürgerlichen Gesellschaft und im Rechtstaat zu finden sind – eine größere Rolle in der Verwirklichung von Freiheit spielen als andere Formen. Hegels vollständige Begründung dieser These ist allerdings äußerst komplex; weiter auf deren Einzelheiten einzugehen müsste Aufgabe eines anderen, leider viel längeren Aufsatzes sein.
Literatur Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1970): Die Phänomenologie des Geistes, in: Werke Bd. 3, Frankfurt am Main. (Zitiert mit „PhG“.) Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1970): Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: Werke Bd. 7, Frankfurt am Main. (Zitiert mit „PhR“ nach Absätzen.) Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1986): Jenaer Systementwürfe I. Das System der spekulativen Philosophie, Hamburg. Honneth, Axel (2011): Das Recht der Freiheit: Grundriss einer demokratischen Sittlichkeit, Berlin. Neuhouser, Frederick (2000): Actualizing Freedom: Foundations of Hegel’s Social Theory, Cambridge. Neuhouser, Frederick (2000): Actualizing Freedom: Foundations of Hegel’s Social Theory, Cambridge. Neuhouser, Frederick (2008): Rousseau’s Theodicy of Self-Love: Evil, Rationality, and the Drive for Recognition, Oxford. Rousseau, Jean-Jacques (1964): Œuvres Complètes, Bd. 3, Paris. Rousseau, Jean-Jacques (1969): Œuvres Complètes, Bd. 4, Paris.
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Reiner Wille, unreines Wollen: Praktische Selbstverhältnisse bei Kant, Fichte, Schelling, Schopenhauer und Frankfurt 1 Das doppelte Welt- und Selbstverhältnis und die praktische Subjektivität Zu Beginn des 2. Bandes der Welt als Wille und Vorstellung gibt Schopenhauer eine lebhafte Schilderung der „mißliche[n] Lage“ eines jeden bewussten und selbstbewussten Wesens: In der zeitlich wie räumlich unendlich ausgedehnten Welt werde es einerseits auf ein „bedeutungsloses Nichts“ reduziert, andererseits sei die Welt zugleich ein bloßes „Gehirnphänomen“ des erkennenden Subjekts.¹ Nachdem er dieser „mißliche[n] Lage“ eine umfassende philosophische Deutung zu geben versucht hat, beschreibt Schopenhauer sie am Ende seines Werkes nochmals mit eindrücklichen Worten: Jedes Individuum, indem es nach Innen blickt, erkennt in seinem Wesen, welches sein Wille ist, das Ding an sich, daher das überall allein Reale. Demnach erfaßt es sich als den Kern und Mittelpunkt der Welt, und findet sich unendlich wichtig. Blickt es hingegen nach Außen; so ist es auf dem Gebiete der Vorstellung, der bloßen Erscheinung, wo es sich sieht als ein Individuum unter unendlich vielen Individuen, sonach als ein höchst Unbedeutendes, ja gänzlich Verschwindendes. Folglich ist jedes, auch das unbedeutendeste Individuum, jedes Ich, von Innen gesehen, Alles in Allem; von Außen gesehen hingegen, ist es nichts, oder doch so viel wie nichts.²
Bekanntlich hat Dieter Henrich das, was die nachkantische Philosophie, in erstaunlicher Übereinstimmung,³ auf diese Weise als den Grundcharakter menschlichen Daseins beschrieben hat, als das „Grundverhältnis“ bezeichnet.⁴ Gemeint ist damit dasjenige doppelte Selbst- und folglich auch Weltverhältnis,
1 Schopenhauer, WWV 2, S. 11 ff. 2 Schopenhauer, WWV 2, S. 698. 3 Auf ähnliche Weise charakterisieren nämlich auch Fichte, dessen gesamte Schrift Die Bestimmung des Menschen sich etwa der Aufklärung über die beiden genannten Perspektiven widmet, und Schelling (vgl. z. B. § 1 des Systems des trancendentalen Idealismus und §§ 1– 4 der Einleitung zu einem ersten Entwurf der Naturphilosophie) diese von Schopenhauer beschriebene Grundsituation (selbst‐)bewussten Lebens. 4 Vgl. Henrich, 1982, v. a. S. 20 f., 91 f. u. 154 f.
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dem entsprechend wir uns „gleichursprünglich“ als Subjekte und damit als tragende Mittelpunkte unserer Welt begreifen – und zwar sowohl gegenüber uns selbst (im Selbstbewusstsein) als auch gegenüber der Welt (im Fremdbewusstsein) – und als einzelne Personen unter anderen Entitäten – d. h. sowohl unter anderen Personen, die sich gleichermaßen als Subjekte auffassen, als auch innerhalb der Mannigfaltigkeit natürlicher Gegenstände der Welt –, als Einzelne also, die innerhalb der eigenen Spezies und ebenso im Weltganzen eine bloß verschwindende Bedeutung haben. Ins Zentrum einer Untersuchung des doppelten Selbst- und Weltverhältnisses kann, wie dies in Ansätzen bereits bei Fichte und dann insbesondere bei Schopenhauer geschieht, das Verhältnis zu uns selbst als materiellen Entitäten gerückt werden, wonach wir uns zugleich als Leib und als Körper auffassen.⁵ Vor allem aber steht hinter dem doppelten Selbst- und Weltverhältnis jenes Problem, das sich immer dann zu stellen scheint, wenn man ein Phänomen aus zwei unterschiedlichen Perspektiven betrachtet: zum einen aus der Perspektive der ersten Person, der Teilnehmerperspektive, zum andern aus derjenigen der dritten Person, der Beobachterperspektive. Über alle Differenzen im Detail hinweg⁶ hat – nicht minder einflussreich als Henrich, nun aber vornehmlich für den angelsächsischen Raum – Thomas Nagel das doppelte Selbst- und Weltverhältnis zum Zentrum seiner Philosophie gemacht. Nagel kommt dabei das Verdienst zu gezeigt zu haben, dass diese beiden scheinbar unvereinbaren Perspektiven sowohl in der theoretischen als auch in der praktischen Philosophie von grundlegender Bedeutung sind und zu einschneidenden Konsequenzen führen.⁷ Damit aber schließt sich Nagel einer Sichtweise an, die bereits in der nachkantischen Philosophie als feste, wenn auch keineswegs sichere Ausgangsbasis für jede reflektierte Subjektivitätstheorie, die begründeten Anspruch auf theoretische wie praktische Geltung erheben wollte, etabliert worden war. Man kann nämlich behaupten, dass die Parallelen, die in der nachkantischen Philosophie hinsichtlich des doppelten Selbst- und Weltverhältnisses einerseits in theoretischen, andererseits in praktischen Kontexten gezogen wurden, unmittelbare Folge – oder vielmehr schon Ausdruck – des Bestrebens waren, theoretische und praktische Philosophie miteinander zu versöhnen und dadurch den kantischen Dualismus zu überwinden. Insbesondere nach Überzeugung Fichtes und Schellings ist das doppelte Selbst- und Weltverhältnis nicht bloß ein
5 Vgl. dazu Ulrichs, 2012 a, S. 266 – 268. 6 Vgl. dazu die Rezension Henrichs zu Nagels A View from Nowhere (Henrich, 1989). 7 Nagel hat dies in zwei Monographien – The Possibility of Altruism und A View from Nowhere – behandelt, deren Themen zwar nicht mit den Gegenständen der theoretischen und praktischen Philosophie deckungsgleich sind, sich doch aber weitgehend mit den unterschiedlichen Problemfeldern dieser Disziplinen befassen.
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theoretisches Problem, das sich im Rahmen der Auseinandersetzung zwischen Realismus und Idealismus – jener von Schopenhauer sogenannten „Antinomie in unserem Erkenntnißvermögen“⁸ – stellt, sondern es wird vor allem innerhalb des praktischen Kontextes virulent. Es stellt sich jedoch vor allem in dem Sinne nicht nur als ein theoretisches Problem dar, als seine Behandlung nicht der fachphilosophischen Spekulation allein überlassen ist. Vielmehr sieht sich mit der Frage, ob und gegebenenfalls wie die beiden Selbstverhältnisse als Subjekt und Person und die entsprechenden Weltverhältnisse vermittelt bzw. miteinander versöhnt werden können, jedes bewusste und selbstbewusste Vernunftwesen konfrontiert – wenn es das Problem vielleicht auch nicht in einer angemessenen philosophischen Terminologie zu artikulieren vermag. Denn zur Ausbildung sowohl eines ‚vollständigen‘ Selbstbewusstseins wie eines tragfähigen Weltverhältnisses als auch einer ‚vollwertigen‘ intersubjektiven Konstellation scheint es erforderlich zu sein, die beiden sich zunächst als unvereinbar darstellenden Einstellungen gegenüber sich selbst und der Welt in ein ausgewogenes Verhältnis, jedenfalls aber in eine reflektierte Balance zu bringen, scheint womöglich sogar der rational kontrollierte Wechsel zwischen diesen beiden Perspektiven unerlässlich zu sein.⁹ Deswegen ist es auch nicht allzu verwegen, die durch das doppelte Selbst- und Weltverhältnis charakterisierte Grundsituation als „existentiell“ anzusprechen und den Versuch ihrer Aufklärung als eine Art von Grundlagenforschung der praktischen Philosophie zu bezeichnen. Nicht nur folglich innerhalb des Kontextes der praktischen Philosophie, sondern im Leben eines jeden bewussten und selbstbewussten Wesens manifestiert sich nun das doppelte Selbst- und Weltverhältnis in zwei Grundoptionen, denen sich jeder, mehr oder weniger bewusst und selbstbewusst, gegenüber gestellt sieht: auf der einen Seite dem Egoismus i.S. eines „selbstischen“ Verhaltens, das partikulare Interessen verfolgt, auf der anderen Seite dem Altruismus i.S. eines „selbstlosen“ Verhaltens, das grundsätzlich durch die Einnahme eines generalisierten oder universellen Standpunkts ausgezeichnet ist. Diese Grundalternativen sind keine allgemeinen Haltungen, die man auf abstrakte Weise wählen und einnehmen kann, sondern es handelt sich um Optionen, die sich allererst und ausschließlich in konkretem Handeln äußern. Wenn man die beiden Grundoptionen als „existentiell“ bezeichnet, so ist zu erwarten, dass sie von so grundlegender Bedeutung sind, dass sich ein großer Teil
8 Vgl. Schopenhauer, WWV 1, S. 65 sowie die dortigen Ausführungen (ebd., S. 58 ff.). Zum Verhältnis von Idealismus und Realismus bei Fichte, Schopenhauer und Schelling vgl. auch Ulrichs, 2006, insbes. S. 260 ff. u. 2012 a, S. 257 ff. 9 Allerdings charakterisieren noch Henrich und Nagel (wie schon Fichte, Schelling und Schopenhauer) das Grundverhältnis als antinomisch, d. h. als letztlich unvermittelbar.
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der praktischen Philosophie an diesem dualen Modell orientiert. Und in der Tat kann dies gerade für den philosophiegeschichtlich so überaus bedeutsamen Zeitabschnitt der nachkantischen Philosophie gezeigt werden. Doch dies allein wäre bloß von philosophiehistorischem Interesse. Von weitaus größerer Bedeutung ist die systematisch motivierte Untersuchung der Frage, welche Vorschläge die praktische Philosophie um und nach 1800 hinsichtlich des Verhältnisses der beiden grundlegend verschiedenen Selbst- und Weltverhältnisse unterbreitet und welches Begründungspotential man ihren Versuchen, die mit diesen beiden Perspektiven verbundenen Grundoptionen auf rationale Weise miteinander zu vermitteln, aus der Sicht einer begründeten, heutigen Standards genügenden Theorie praktischer Subjektivität abgewinnen kann. Wie so oft hat auch eine solche Untersuchung von Kants Überlegungen ihren Ausgang zu nehmen.
2 Das Autonomiekonzept Kants und Fichtes und ihre Überlegungen zum Verhältnis von reinem Willen und empirischem Wollen Kants Autonomiekonzept beruht bekanntlich auf seiner sogenannten ZweiStandpunkte-Lehre. Ob und in welcher Weise sich diese Lehre ihrerseits wiederum auf seine zwischen Erscheinung und Ding an sich unterscheidende Zwei-WeltenTheorie stützt, also ontologisch begründet wird, soll an dieser Stelle nicht interessieren.¹⁰ Vielmehr begnügen wir uns mit der Betrachtung der Zwei-StandpunkteLehre auf dem Gebiet der praktischen Philosophie – und auch das nur in sehr skizzenhafter, höchst ungenügender Weise. Nach Kants Auffassung ist jeder Mensch immer zugleich Sinneswesen und Vernunftwesen. Innerhalb einer ‚Metaphysik der Person‘, die laut Kant insbesondere das Problem der Freiheit lösen helfen soll, nimmt dieses Modell, das man – mit aller Vorsicht angesichts der apriorischen Geltungsansprüche der kantischen Moralphilosophie – durchaus als „anthropologisch“ bezeichnen kann, die Gestalt an, dass in ihr zwischen intelligiblem und empirischem Charakter bzw. zwischen der Person als einem noumenalen und der Person als einem phänomenalen Wesen unterschieden wird.¹¹
10 Vgl. dazu etwa die Diskussion zwischen Steigleder (2002), Schönecker (2006) und Wolff (2009), aber auch schon die Ausführungen Kosgaards (1999) und Allisons (1991 u. 2011). 11 Natürlich kann Kant in Bezug auf dieses anthropologische Modell von der „Doppelnatur“ des Menschen keine Originalität beanspruchen; vielmehr gehört diese Lehre geradezu zum Kernbestand der gesamten abendländischen Philosophie, die sich zumindest bis Platon zurückverfolgen lässt. Einer gerade für Kant und seine Nachfolger wesentlichen Traditionslinie gehe ich in
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Der Mensch folgt nun laut Kant als ein solches „Doppelwesen“ zwei grundverschiedenen Prinzipien: als Sinneswesen dem Prinzip der Glückseligkeit, als Vernunftwesen dem Prinzip der Sittlichkeit. Seine Handlungsmaximen – als den subjektiven Prinzipien des Akteurs – versucht er dabei in Übereinstimmung mit dem jeweils leitenden Prinzip zu bringen. Im Rahmen des Strebens nach Glückseligkeit setzt die handelnde Person ihre Rationalität nur auf instrumentelle Weise ein, indem sie nach Maßgabe der Klugheit hypothetischen (und technischen) Imperativen folgt und die für die Realisierung der jeweils konkreten Ziele, die sämtlich Ausdruck ihres individuellen Glückseligkeitsstrebens sind, die jeweils geeigneten Mittel aufsucht und einsetzt. Im Rahmen des Versuchs, das Sittlichkeitsprinzip zu realisieren, kommt hingegen nicht die instrumentelle oder technische Vernunft zum Einsatz, sondern hier tritt die Vernunft, die dadurch erst zu einer eigentlich praktischen Vernunft wird, kategorisch auf und fordert, ohne Rücksicht auf etwaige sinnliche Neigungen der Person und also absolut, die Befolgung des Sittengesetzes ein. So weit handelt es sich bei Kants Personen- und Handlungstheorie um ein leicht nachvollziehbares – und vielleicht auch leicht annehmbares – dualistisch organisiertes Modell. Wie aber, muss man fragen, werden nun die beiden an die „Doppelnatur“ des Menschen gebundenen Grundprinzipien von Kant näherhin in ein Verhältnis gebracht? An dieser Stelle übernimmt Kants Konzept des „reinen Willens“ die entscheidende Begründungsfunktion; dieses Konzept ist es, was Kant am Ende zu seiner Autonomieethik führt. Während der reine – oder heilige – Wille, der dadurch ausgezeichnet ist, dass er sinnlich nicht affiziert wird, immer ‚automatisch‘ das Gute will bzw. immer ‚von sich aus‘ das Sittengesetz realisiert,¹² unterliegt der menschliche Wille bei dem Versuch, das Sittengesetz zu befolgen, gleichsam dem ‚Störfeuer‘ durch die permanent im Menschen sich regenden sinnlichen Neigungen. Das Sittengesetz nimmt deshalb laut Kant im Falle des sinnlich-vernünftigen Doppelwesens Mensch einen imperativischen, den Charakter des Gebietenden oder Pflichtmäßigen an. Da demnach die subjektiven Maximen der menschlichen Person niemals von ihnen selbst aus mit den Forderungen des Sittengesetzes übereinstimmen, bedarf der Mensch einer Instanz, anhand derer er prüfen kann, ob eine derartige Übereinstimmung zwischen Maxime und moralischem Gesetz vorliegt. Diese Prüfungsinstanz ist der kategorische Imperativ, mit dessen Hilfe die Maximen des
Ulrichs (2013) nach, indem ich die – teilweise verblüffenden – Gemeinsamkeiten der kantischen und nachkantischen Philosophie mit den Überlegungen Martin Luthers v. a. in De servo arbitrio aufzudecken versuche. 12 Die subjektiven Maximen des reinen Willens sind deshalb immer sofort und unausbleiblich objektive moralische Gesetze.
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Handelnden einer Art von Universalisierungstest unterworfen werden. Denn mit Hilfe des kategorischen Imperatives wird nur und nichts weiter als die Gesetzesförmigkeit i.S. der Verallgemeinerbarkeit der Geltung der Handlungsmaximen geprüft; nicht jedoch schreibt er seinerseits konkrete Handlungsziele vor.¹³ Auch das ist bekannt und muss deshalb hier nicht näher ausgeführt werden. Wichtig ist in diesem Zusammenhang jedoch, welche subjektivitätstheoretischen Implikationen dieses Modell hat und was es für Konsequenzen für Kants Autonomiekonzept hat. Unter subjektivitätstheoretischer Perspektive stellt sich der Universalisierungstest mit Hilfe der Prüfungsinstanz des kategorischen Imperatives nämlich so dar, dass sich der Handelnde nach erfolgreichem Maximentest einen nun objektiven Grund qua moralisches Gesetz als subjektive Handlungsmaxime zueigen macht. Das aber bedeutet vom Standpunkt einer vom doppelten Selbst- und Weltverhältnis ausgehenden Theorie praktischer Subjektivität, dass sich die handelnde oder zu handeln beabsichtigende Person die impersonale (universelle) Perspektive im Zuge der Maximenprüfung als seine personale Perspektive aneignet. Diese Aneignung der impersonalen Perspektive in der und durch die personale(n) Perspektive ermöglicht es erst, sich einen derartigen objektiven Grund qua allgemeines moralisches Gesetz zueigen zu machen. Das moralische Subjekt findet sich demnach in diesem moralischen Reflexionsprozess in einer dreifachen Rolle: es ist zugleich Ursprung des moralischen Gesetzes, Adressat des moralischen Gesetzes und Instanz seiner Aneignung – und zwar dergestalt, dass es sich bei all dem dieser dreifachen Funktion auch bewusst ist.¹⁴ Damit wird deutlich, dass das moralische Subjekt stets in einem Selbstverhältnis steht – und zwar in einem doppelten: es gibt sich zum einen selber das Gesetz, und es ist sich zum andern dieser Selbstgesetzgebung zugleich bewusst. Genau das meint Kant, wenn er von Autonomie spricht. In Bezug auf den Begriff des „reinen Willens“ lassen sich nun Kants Überlegungen zum moralischen Bewusstsein folgendermaßen reformulieren: Der reine Wille ist nichts anderes als ein Grenzbegriff; ihm vermag sich der menschliche Wille zwar wohl – mit einer Wendung der Frühromantiker gesagt – „unendlich anzunähern“, er kann ihn aber niemals erreichen. Gleichwohl übernimmt der reine Wille als Grenzbegriff auch im Bereich des menschlichen Handelns eine wichtige Funktion: Er ist gleichsam eine regulative praktische Idee, an der sich der empirische Wille des Menschen orientiert, durch welche Orientierung der Wille allererst selbstbestimmt, autonom und die Vernunft praktisch wird. Durch diesen 13 Der bereits in der nachkantischen Philosophie, vor allem von Hegel und Schopenhauer (!) erhobene Formalismus-Vorwurf geht deshalb – zumindest in dieser wesentlichen Hinsicht – fehl. 14 Vgl. dazu Stolzenberg, 2007, S. 258, aber auch schon Korsgaard, 2002, S. 90 ff.
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Bezug des menschlichen auf den reinen Willen aber gewinnt das moralische Bewusstsein eine autoreflexive Struktur; und genau für diese autoreflexive Struktur steht bei Kant der Begriff des „Selbstbewusstseins der reinen praktischen Vernunft“,¹⁵ der folglich die Binnenstruktur des menschlichen Willens in seiner Position zwischen reinem und sinnlich affiziertem Willen beschreibt, nicht jedoch das (intentionale) Verhältnis des Willens zu dessen Gegenständen in der Außenwelt erfasst. Mit Hilfe des – entsprechend in der Spannung zwischen reinem und empirischem Willen stehenden – Autonomiekonzepts wird also bei Kant nichts anderes geleistet als eine Explikation des moralischen Bewusstseins unabhängig von dessen intentionalen Gegenständen; dabei zeigt sich, dass dieses sittliche Bewusstsein nur als eine autoreflexive Struktur verständlich zu machen ist. Offen bleibt in diesem Zusammenhang freilich das Problem der Motivation. Man kann – und muss – nämlich an ein solches Konzept, wie es uns Kant präsentiert, die völlig berechtigte Frage stellen: Was soll mich dazu motivieren, meine Maximen überhaupt einem derartigen Universalisierungstest zu unterwerfen? Oder anders gefragt: Welchen subjektiven Grund habe ich, mir einen objektiven Grund qua moralisches Gesetz als Handlungsmaxime zueigen zu machen? Dies ist letztlich genau die Frage, die Schopenhauer in seiner Preisschrift Über das Fundament der Moral an die kantische Moralphilosophie richtet, indem er danach fragt, welche Motive Kant für diejenigen moralischen Maximen angibt, die den Universalisierungstest des kategorischen Imperativs erfolgreich bestanden haben und damit zu allgemeinen Gesetzen erhoben worden sind. Schopenhauers kritische Antwort darauf ist: Kant gibt dafür nur egoistische Motive an. Deshalb ist er der Meinung, dass man den kategorischen Imperativ im Grunde auf die goldene Regel (in seiner positiven Variante) zurückführen könne – weshalb er als Fundament der Ethik, die seiner Auffassung nach niemals auf egoistische Gründe rekurrieren dürfe, nicht tauglich sei.¹⁶ Auch Fichte greift in seinem Versuch, die praktische Philosophie auf das Autonomieprinzip zu gründen, auf das kantische Konzept des reinen Willens zurück. Fichte hält sowohl in seiner Sittenlehre als auch in seiner Wissenschaftslehre nova methodo dafür, dass der Gegenstand des reinen praktischen Selbstbewusstseins das reine, nämlich in Orientierung am allgemeinen Sittengesetz bereits universalisierte Wollen ist, dem keinerlei empirische Prädikate
15 Kant, AA V (KpV), 29. 16 Vgl. Schopenhauer, KS, S. 512 ff. Wie immer man diese Kritik Schopenhauers bewertet, zugestanden werden muss, dass er seinen Einwand mit einer Reihe von – zumindest missverständlichen – Kant-Zitaten zu belegen vermag.
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zukommen.¹⁷ Doch obwohl damit das reine praktische Selbstbewusstsein keinen konkreten intentionalen Gegenstand hat und keinen unmittelbaren Bezug zur Welt qua Handlungsraum des moralischen Subjekts unterhält, ist der reine Wille gleichwohl mittelbar immer auf diese Handlungswelt bezogen – und zwar indem der reine Wille auf das empirische Wollen der individuellen Person gerichtet ist.¹⁸ Ob dieses Gerichtetsein des reinen auf das empirische Wollen seinerseits intentional verfasst ist und, wenn ja, um was für eine Form von Intentionalität es sich hierbei handelt, verrät uns Fichte freilich nicht. Was gesagt werden kann und muss, ist aber, dass das praktische Selbstbewusstsein, dessen Inhalt der reine Wille ist, nicht auf etwas außerhalb seiner gerichtet ist. Das empirische Wollen hingegen ist bei Fichte immer „konkretes“, „bestimmtes“ Wollen, also „Wollen von etwas“ oder intentional auf die Gegenstände der empirischen, materiellen Außenwelt gerichtetes Wollen,¹⁹ das innerhalb dieser Welt Veränderungen („Modifikationen“) vorzunehmen versucht.²⁰ Das leistet es, indem das moralische Subjekt mit Hilfe der praktischen Vernunft Zwecke entwirft, die es in der Welt durch konkretes Handeln zu realisieren versucht.²¹ Realisiert werden können diese Zweckbegriffe jedoch nur durch die Vermittlung eines „artikulierten Leibes“, denn auf materielle Gegenstände kann man nur, so Fichte, vermittelst etwas Materiellem einwirken, niemals unmittelbar mit Hilfe von Begriffen.²² Was schon im Hinblick auf Kant gesagt werden kann, kann man mit noch größerem Recht über Fichtes Konzept sagen:²³ Des Menschen Wille ist gleichsam Diener zweier Herren: er steht in einem doppelten Abhängigkeitsverhältnis ei-
17 Vgl. Fichte, Werke, Bd. 4, S. 418 u. 422 f., wo Fichte darlegt, dass der Wille als „Tendenz zur Selbsttätigkeit um der Selbsttätigkeit willen“ nur dann begrifflich angemessen erfasst sei, wenn man alles „Fremdartige im Wollen wegdenk[t]“ bzw. „wenn das Ich an und für sich ohne alle Beziehung auf etwas außer ihm gedacht wird“. S. dazu auch die §§ 14– 15 der Wissenschaftslehre nova methodo. 18 Dies legt Fichte im Rahmen der „Deduktion der Realität und Anwendbarkeit des Prinzips der Sittlichkeit“ seiner Sittenlehre dar, indem er dort in Form eines „Beweises“ von drei „Lehrsätzen“ (§§ 4– 6) dartut, dass sich kein Vernunftwesen ein voluntatives Vermögen zuschreiben kann, „ohne zugleich etwas außer sich zu denken, worauf dasselbe gerichtet sei“ (ebd., S. 469), „ohne eine wirkliche Ausübung dieses Vermögens oder ein wirkliches freies Wollen in sich zu finden“ (ebd., S. 477) und „ohne zugleich eine wirkliche Kausalität außer sich sich zuzuschreiben“ (ebd., S. 483). Systematisch dargelegt wird das Verhältnis von „reinem“ und „bestimmtem Wollen“ insbesondere im § 17 der Wissenschaftslehre nova methodo. 19 Vgl. Fichte, Werke, Bd. 4, S. 417. 20 Vgl. etwa Fichte, Werke, Bd. 4, S. 476 f. 21 Vgl. v. a. Fichte, Werke, Bd. 4, S. 403 f. u. 458 ff. 22 Vgl. z. B. Fichte, Werke, Bd. 4, S. 405 f. 23 Zum Verhältnis von Kant und Fichte in Bezug auf das Konzept des reinen Willens vgl. auch Stolzenberg, 1988.
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nerseits zum reinen Willen, der das Sittengesetz repräsentiert, und andererseits zum konkreten empirischen Wollen, das intentional auf Gegenstände der (zu verändernden) Welt gerichtet ist. An Fichte wird damit endgültig deutlich, dass der Begriff des reinen Willens innerhalb einer Theorie des moralischen Handelns sinnvoll nur in beständigem Bezug zum Begriff des empirischen Wollens verwendet werden kann.²⁴ Den in beständigem Bezug zum reinen Willen stehenden menschlichen Willen beschreibt Fichte – noch deutlicher als Kant – damit als eine selbstreflexive Struktur, innerhalb derer sich der Wille selbst bestimmt, selbst ein Gesetz gibt. Fichte charakterisiert also den menschlichen Willen zugleich als einen intentionalen und autonomen Willen. Nach dieser Interpretation der kantischen und fichteschen Überlegungen zum Willen ist also das Eigentümliche an der praktischen Subjektivität des Menschen, dass es sich bei ihr sozusagen um ein „Verschränkungsphänomen“ handelt: Das praktische Selbstbewusstsein ist zwar intentional gerichtet auf etwas außerhalb seiner, insofern das Wollen immer konkretes Wollen von etwas ist und seine Erfüllung erst im Handeln auf empirische Gegenstände in der Welt findet; zugleich aber und in eins damit hat das praktische Selbstbewusstsein eine Binnenstruktur, indem sich das wollende und handelnde Subjekt zu sich selbst verhält. Als ein solches ‚gemischtes‘ oder ‚verschränktes‘ ist das menschliche Wollen immer ein ‚unreines‘. Das praktische Selbstverhältnis, das in ihm impliziert ist, wird gleichwohl innerhalb der kantischen und nachkantischen Philosophie unter dem Titel der „Autonomie“ verhandelt. Letztlich wird demnach mit einem so verstandenen Begriff der Autonomie Fichtes Kernthese, dass es kein Bewusstsein (von Welt) ohne Selbstbewusstsein gebe, für das Gebiet der praktischen Philosophie expliziert, wobei auf diesem Gebiet, anders als innerhalb der theoretischen Philosophie, auch die Umkehrung gilt: es gibt kein (praktisches) Selbstbewusstsein ohne Bewusstsein (von Welt).²⁵
24 Bereits Christian Klotz (2002) hat versucht Fichtes Modell dieser Binnenstruktur des Willens unter Rückgriff auf Frankfurts Stufenmodell zu rekonstruieren. 25 Vgl. dazu auch Stolzenberg, 1995 u. 1998.
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3 Die voluntativen Grundoptionen bei Schelling und Schopenhauer und ihr Verständnis des praktischen Selbstverhältnisses Schelling scheint in seinen Philosophischen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit das kantische Konzept des reinen Willens und damit das Projekt einer Autonomieethik aufzugeben. Doch dieser Eindruck täuscht. Eine derartige Deutung der Überlegungen Schellings lässt sich nur bei einer oberflächlichen Betrachtung aufrechterhalten, die sich teils von der Begrifflichkeit, teils vom Argumentationskontext in die Irre führen lässt. Vielmehr präsentiert Schelling das kantische Modell, wonach das moralische Bewusstsein eine autoreflexive Struktur hat und sich auf ein praktisches Selbstverhältnis gründet, nur in einer anderen Terminologie. Denn auch bei Schelling finden sich zwei Grundoptionen, die er gleichfalls mit einem voluntativen Vokabular zu beschreiben versucht, wenn er dabei auch auf den Begriff der Autonomie verzichtet. Schelling beschreibt diese ‚Uralternative‘, indem er innerhalb des praktischen Selbstbewusstseins des Menschen zwischen Universal- und Partikularwillen unterscheidet und nach deren Verhältnis fragt. Mag es auch durch teils metaphysische, teils gar theologische Reflexionen verunklärt werden,²⁶ im Grunde kehrt damit das duale Konzept Kants (und Fichtes) vom reinen und vom sinnlich affizierten Willen in Schellings Ausführungen zu den beiden Möglichkeiten des Handlungssubjekts, Universal- und Partikularwille in ein Verhältnis zu setzen, wieder – zumal er es in
26 In Schellings Freiheitsschrift steht die gesamte Behandlung des Problems der Willensfreiheit im Horizont einer Bestimmung Gottes, also in einem theologischen Begründungskontext. Denn für ihn markiert, wie er auch in den Stuttgarter Privatvorlesungen darlegt, nicht die „innere Unabhängigkeit“ von der Natur, sondern diejenige von Gott das eigentliche Problem der Freiheit der Selbstheit (vgl. Schelling, Werke, 4, S. 350). Gleichwohl versucht Schelling das Freiheitsproblem unter solchen theistischen Voraussetzungen mit rationalen Mitteln zu lösen. Es ließe sich also sagen, dass es ihm um die Möglichkeit einer philosophischen Theologie ging. Explizit wird dabei die Willensfreiheit von Schelling im Horizont des Pantheismusproblems behandelt, indem er dartut, dass die Unvereinbarkeit von göttlicher Allmacht und menschlicher Freiheit nur mit Hilfe der Lehre von der Immanenz der Freiheit in Gott überwunden werden könne. Zu diesem Zweck verändert er die christliche Gottesvorstellung dahingehend, dass er in Gott selbst zwischen der Existenz und dem Grund von Existenz – seiner „Natur“ – unterscheidet. Mit dieser Problemstellung formuliert er im Kontext der kantischen und nachkantischen Philosophie ein überaus eigentümliches, nämlich theologisch orientiertes Freiheitskonzept, dessen Hauptstoßrichtung dahin geht, das Phänomen des Bösen zu erklären. Vgl. dazu Ulrichs, 2013.
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seiner Freiheitsschrift in eine unmittelbare Beziehung zu Kants Unterscheidung zwischen empirischem und intelligiblem Charakter bringt.²⁷ Laut Schelling trägt der Mensch als bewusstes und selbstbewusstes Wesen ein doppeltes Prinzip in sich: Zum einen das „Princip, sofern es aus dem Grunde stammt und dunkel ist“, den blinden „Eigenwille[n] der Creatur“ bzw. der Natur, den er auch als „Selbstheit“ bzw. „Particularwille“ bezeichnet; zum andern das Prinzip des vernunftgeleiteten „Universalwillens“, der den „Particularwillen“ „gebraucht und als bloßes Werkzeug sich unterordnet“.²⁸ Diese beiden Willen seien nun „im Menschen zertrennlich“, wodurch die „Möglichkeit des Guten und des Bösen“ eröffnet werde: Der Mensch kann entweder den Partikular- dem Universalwillen unterordnen, wodurch er den Geist der „Liebe“ erlange,²⁹ d. h. sein Handeln altruistisch oder „selbstlos“ organisiere und, kantisch gesprochen, am allgemeinen Sittengesetz orientiere. Oder er kann dieses Verhältnis umkehren, d. h. „der Eigenwille kann streben, das, was er nur in der Identität mit dem Universalwillen ist, als Particularwille zu seyn“. In diesem Falle ist sein Verhalten egoistisch oder „selbstisch“, d. h. an den partikularen Interessen seiner sinnlich affizierten Willkür orientiert und damit in einem weiteren, nämlich moralischen Sinne ‚unrein‘.³⁰ Zu beidem besitzt der Mensch qua praktisches Subjekt das Vermögen; in der Fähigkeit, zwischen diesen beiden Grundoptionen zu entscheiden, besteht seine moralische Freiheit. Entsprechend bestimmt Schelling die Freiheit als das „Vermögen des Guten und Bösen“, wobei das Böse in der „Umkehrung der Principien“ bestehe.³¹ Denn zwar sei das Ziel der Unterordnung des Universalunter den Partikularwillen die Selbstermächtigung, in Wahrheit aber werde damit nur die Unfreiheit erreicht, da sich der Partikularwille unumgänglich im circulus vitiosus der Selbstheit herumdrehe. Jedoch ist für Schelling nicht schon die Trennung von Partikular- und Universalwillen böse, sondern erst die Unterordnung des letzteren unter den ersten. So eröffnet die ‚Zertrennlichkeit‘ von Eigen- und Universalwillen im Menschen zwar die Möglichkeit des Bösen; wirklich wird das Böse aber erst durch die Unterordnung des Universal- unter den Eigenwillen, die – 27 Vgl. Schelling, Werke, Bd. 4, S. 275 ff. 28 Vgl. ebd., S. 254 f. 29 Vgl. ebd., S. 256: „Das aus dem Grunde der Natur emporgehobene Princip, wodurch der Mensch von Gott geschieden ist, ist die Selbstheit in ihm, die aber durch ihre Einheit mit dem idealen Princip Geist wird.“ 30 Vgl. ebd., S. 257: „Der Wille des Menschen ist anzusehen als ein Band von lebendigen Kräften; solange nun er selbst in seiner Einheit mit dem Universalwillen bleibt, so bestehen auch jene Kräfte in göttlichem Maß und Gleichgewicht. Kaum aber ist der Eigenwille selbst aus dem Centro als seiner Stelle gewichen, so ist auch das Band der Kräfte gewichen; statt desselben herrscht ein bloßer Particularwille […].“ 31 Vgl. ebd., S. 258.
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aus kantischer Perspektive – einer Wendung gegen das Sittengesetz gleichkommt. Bei einer solchen Selbstbestimmung der Subjektivität durch Primatsetzung des Eigenwillens handle es sich jedoch um keine wahre Selbstbestimmung; diese sei vielmehr nur als dezentriertes, also allozentrisches, nicht als egozentrisches Selbst möglich.³² Die sich steigernde Durchdringung des Eigen- durch den Universalwillen kann man hingegen als einen (nur dem Menschen möglichen) Bewusstwerdungs- und Versittlichungsprozess betrachten. Die subjektivitätstheoretische Pointe ist dabei, dass sich praktische Subjektivität erst in einem Sich-zusich-Verhalten konstituiert, indem eine – von Schelling „Geist“ genannte – personale und offenbar gleichfalls voluntative Instanz Partikular- und Universalwillen ins richtige Verhältnis, nämlich ins Verhältnis der „Liebe“ bringt und so erst die moralische Identität schafft.³³ In diesem Selbstverhältnis ist Eigenwille nicht mehr gleichbedeutend mit Eigenliebe, sondern es handelt sich um eine voluntative Binnenstruktur, die funktional in Bezug auf das allgemeine Sittengesetz zu betrachten ist. Es ist offensichtlich, dass sich damit in Schellings Beschreibung der autoreflexiven (und gleichfalls dreigliedrigen) Binnenstruktur des menschlichen Willens in einer anderen Begrifflichkeit genau das wiederfindet, was bei Kant und Fichte mit Hilfe der Konzepte des reinen Willens und des empirischen Wollens unter dem Titel der Autonomie verhandelt wird. Es ist folglich keineswegs so, dass Schelling das Projekt seiner frühen Schriften, das Autonomiekonzept als gemeinschaftliches Prinzip von theoretischer und praktischer Philosophie zu etablieren, indem er die „Tätigkeit“ des Ich auf eine ursprüngliche, dieser Unterscheidung noch vorausliegende Selbstbestimmung zurückführt,³⁴ nunmehr in seiner Freiheitsschrift zugunsten einer – aufgrund ihrer Theologoumena kaum mehr rational nachvollziehbaren – Metaphysik der Person aufgegeben hätte. Dennoch beansprucht Schelling natürlich, mit seinen Philosophischen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit nicht nur einen Beitrag zur Subjektivitäts- und Handlungstheorie, sondern auch zur Metaphysik zu leisten – wie schon in seiner fundamentalen ontologischen Bestimmung deutlich wird, dass das „Urseyn“ im Wollen bestehe.³⁵ Das
32 Vgl. Sturma, Dieter: „Präreflexive Freiheit und menschliche Selbstbestimmung (382– 394)“, in: Höffe/Pieper (Hrsg.), 1995, S. 149 – 172, hier S. 156 f. u. S. 166. 33 Vgl. Pieper, Annemarie: „Zum Problem der Herkunft des Bösen I: Die Wurzel des Bösen im Selbst (364– 382)“, in: Höffe/Pieper (Hrsg.), 1995, S. 91– 110, hier S. 94 ff. 34 Vgl. dazu Stolzenberg, 2001. 35 Vgl. Schelling, Werke, Bd. 4, S. 242: „Es gibt in der letzten und höchsten Instanz gar kein anderes Seyn als Wollen. Wollen ist Urseyn, und auf dieses allein passen alle Prädicate desselben: Grundlosigkeit, Ewigkeit, Unabhängigkeit von der Zeit, Selbstbejahung. Die ganze Philosophie strebt nur dahin, diesen höchsten Ausdruck zu finden.“
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bedeutet jedoch nicht, dass Schellings Überlegungen zum Verhältnis von Universal- und Partikularwille keinen subjektivitätsphilosophischen Eigenwert besäßen. Will man diesen jedoch unabhängig von der amalgamierten metaphysischen oder theologischen Spekulation schätzen, so kommt man, wie gesehen, nicht umhin, seine Reflexionen in Bezug zum kantischen Autonomiekonzept zu setzen. Dann zeigt sich, dass Schelling sich einerseits ebenfalls am Modell des doppelten Selbst- und Weltverhältnisses orientiert, andererseits bei dessen Vermittlung oder Versöhnung gleichermaßen ein praktisches Selbstverhältnis in Ansatz bringt. Ähnliches gilt auch für Schopenhauer, der gleichfalls mit seinem Konzept des Willens eine Theorie begründen will, die zwar von theologischen, insbesondere christlichen Konnotationen weitgehend befreit ist, aber, ebenso wie diejenige Schellings, einen überaus eigentümlichen metaphysischen Ansatz verfolgt.³⁶ Dennoch kann Schopenhauers Willenskonzept, wiederum ähnlich wie bei Schelling, getrennt von diesem metaphysischen Kontext als ein wichtiger Beitrag zur Theorie praktischer Subjektivität angesehen werden. Und ähnlich wie Schelling charakterisiert dabei auch Schopenhauer die praktische Subjektivität so, dass sie sich mit zwei Grundoptionen konfrontiert sieht. Es sind dies die (selbstsüchtige) Bejahung einerseits, die (selbstlose) Verneinung des Willens zum Leben andererseits. In dieser „existentiellen“ Grundalternative geht es laut Schopenhauer um die Bestimmung der „letzten Zwecke“ des moralischen Subjekts, nicht jedoch um die Mittel, sie zu realisieren. Die Entscheidung zwischen Bejahung und Verneinung ist laut Schopenhauer der einzige Fall, in dem sich die Willensfreiheit in der Sphäre der Erscheinung manifestiert.³⁷ Dabei beruhen die beiden Grundoptionen auf zwei gänzlich verschiedenen „Erkenntnißweisen“: Während das sich als Bejahung des Willens zum Leben äußernde egoistische oder selbstische Handeln an eine dem principium individuationis und dem Satz vom Grunde folgende Erkenntnisweise bindet, gründet sich die Verneinung des Willens auf eine geradezu mystische Erkenntnis, die das Zerfallen der Welt in zahllose Individuen als Täuschung durchschaut und in allem (vor allem in allen Lebewesen) dasselbe
36 Zum (hermeneutischen) Metaphysikbegriff Schellings und Schopenhauers vgl. Ulrichs, 2006 und 2012 a. 37 Vgl. Schopenhauer, MdS, S. 260: „[D]er einzige Fall, wo die Freiheit des Willens auch unmittelbar in der Erscheinung sichtbar werden kann, ist der, wo sie dem was erscheint ein Ende macht; weil aber dabei dennoch die bloße Erscheinung, sofern sie ein Glied in der Kette von Ursachen und Wirkungen ist, in der Zeit, welche nur Erscheinungen enthält, fortdauert; so steht alsdann der Wille der sich in solcher Erscheinung manifestirt mit dieser in Widerspruch; denn er verneint, was die Erscheinung ausspricht: daher man auch diesen Zustand des Willens Selbstverleugnung nennt.“ (Vgl. fast gleichlautend Schopenhauer, WWV I, S. 517).
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„innerste Wesen“, nämlich den Willen identifiziert. Letztere Erkenntnis ist für Schopenhauer die „metaphysisch wahre“, sodass man in diesem Sinne (jedoch nur in diesem Sinne) geradezu sagen kann, dass jedes moralische Defizit letztlich in einem intellektuellen Defizit besteht. Nun stellt das, was mit dem Phänomen der Verneinung oder der Heiligkeit angesprochen ist, bei Schopenhauer nur die Radikalisierungsform dessen dar, was er als das „moralische Urphänomen“ bezeichnet hat: des Mitleids.³⁸ Oder, aus der umgekehrten Perspektive formuliert: Mitleid ist für Schopenhauer, wie schon die ästhetische Erkenntnis,³⁹ eine Art von vorübergehender Verneinung des Willens der Person. Dabei ist aber zu bemerken, dass auch Schopenhauer dieses ethische „Urphänomen“ des Mitleids als eine Vereinigung oder Versöhnung von personaler und impersonaler Perspektive beschreibt: Das moralische Subjekt leidet, wenn es mitleidet, in einem Anderen oder an der Stelle eines Anderen, ohne dieses Leiden dabei tatsächlich als eigenes zu empfinden; vielmehr betrachtet es sich selbst aus der drittpersonalen, den Anderen dagegen aus der erstpersonalen Perspektive. Aus der erstpersonalen Perspektive formuliert erscheint diese „Identifikation“ wie folgt: Ich eigne mir das Leiden eines Anderen als das meinige zu, ohne dass es dadurch, als solches, zu meinem eigenen Leiden wird – des Unterschiedes zwischen mir und dem Anderen bleibe ich mir vielmehr, wenn auch unter umgekehrten Vorzeichen, fortwährend bewusst: Wenn nun aber meine Handlung ganz allein des Andern wegen geschehen soll; so muß sein Wohl und Wehe unmittelbar mein Motiv seyn: so wie bei allen andern Handlungen das meinige es ist. […] Dies aber setzt nothwendig voraus, daß ich bei seinem Wehe als solchem geradezu mitleide, sein Weh fühle, wie sonst nur meines, und deshalb sein Wohl unmittelbar will, wie sonst nur meines. Dies erfordert aber, daß ich auf irgend eine Weise mit ihm identificirt sei, d. h. daß jener gänzliche Unterschied zwischen mir und jedem Andern, auf welchem gerade mein Egoismus beruht,wenigstens in einem gewissen Grade aufgehoben sei. Da ich nun aber doch nicht in der Haut des Andern stecke, so kann allein vermittelst der Erkenntniss, die ich von ihm habe, d. h. der Vorstellung von ihm in meinem Kopf, ich mich so weit mit ihm identificiren, daß meine That jenen Unterschied als aufgehoben ankündigt.⁴⁰
Damit wiederholt sich auch im Bereich der Mitleidsethik Schopenhauers die formale Struktur, die wir im Zusammenhang des Universalisierungstests mit Hilfe 38 Vgl. Schopenhauer, KS, S. 617. 39 Vgl. dazu Ulrichs, 2012 b. 40 Schopenhauer, KS, S. 564 f. Vgl. dazu auch ebd., S. 568, wo Schopenhauer betont, dass uns im Mitleid „jeden Augenblick klar und gegenwärtig [bleibt], daß Er der Leidende ist, nicht wir: und geradezu in seiner Person, nicht in unserer, fühlen wir das Leiden, zu unserer Betrübniß. Wir leiden mit ihm, also in ihm: wir fühlen seinen Schmerz als den seinen und haben nicht die Einbildung, daß es der unserige sei“.
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des kategorischen Imperativs bei Kant kennengelernt haben: Indem sich die moralische Person die impersonale Perspektive als seine personale zueigen macht und sich dessen zugleich bewusst ist,wird das doppelte Selbst- und Weltverhältnis im selbstreflexiven moralischen Bewusstsein versöhnt. Das Gesetz der Motivation gilt laut Schopenhauer jedoch – darüber darf seine Bemerkung, dass im Mitleid das „Wohl und Wehe [des Anderen] unmittelbar mein Motiv“ werde, nicht hinwegtäuschen – nur innerhalb der Bejahung, d. h. des egoistischen, selbstischen Verhaltens. Nur für ein praktisches Subjekt, das noch des (konkreten, intentionalen) Wollens voll ist, gibt es so etwas wie einen Motivationskonflikt und damit eine Wahlfreiheit, die aber laut Schopenhauer nur in der Wahl zwischen den geeigneten Mitteln für (durch die jeweilige Willensstruktur, den „Charakter“ unveränderlich bestehende) „letzte Zwecke“ besteht. Die Grundausrichtung des Wollens ist hingegen durch den Egoismus determiniert, also, wie bei Schelling, im moralischen Sinne ‚unrein‘. So sieht Schopenhauer die Unfreiheit des Willens in der Selbsthaftigkeit des Wollens begründet: Innerhalb der Bejahung des Willens gibt es nur Entscheidungen zwischen den Wahlobjekten, d. h. aufgrund der Fixiertheit des Handlungsrahmens durch die Selbsthaftigkeit des Handelns ist der Mensch in seinen Möglichkeiten beschränkt. Schopenhauer bestimmt demnach Unfreiheit als „Selbstbefangenheit“: hier besitzt der Akteur nur Handlungs- als Wahlfreiheit, aber keine Willensfreiheit. Dabei spielt es keine Rolle, ob das Handeln vernunftgeleitet ist, da die Vernunft nur Dienerin des ichhaften Willens sei und damit in Selbstbezogenheit verfangen bleibe. Auch für den vernunftgeleiteten Willen gibt es keinerlei Freiheit, da auch seine innere Bestimmung nur im Horizont der Selbstsucht möglich sei und der Wille keinerlei Spontaneität hinsichtlich der Aufhebung seiner Selbstbezogenheit habe. Schopenhauer hält sogar dafür, dass allein im Rahmen der Bejahung des Willens die Vernunft ihr Betätigungsfeld hat; sie ist daher immer instrumentelle Vernunft, die nach den angemessenen Mitteln zur Realisierung der Willensbestimmungen sucht.⁴¹ Dagegen versorgt die „metaphysisch wahre“ Erkenntnis vom einheitlichen Wesen der Welt das Subjekt überhaupt nicht mehr mit Motiven; vielmehr wirkt diese mystische Erkenntnis⁴² immer nur als „Quietiv“ des Willens. Denn die Möglichkeit der Motivation, als der „durch das Erkennen hindurchgehende[n] Kausalität“⁴³, setzt eine bestimmte Erkenntnisweise, nämlich die im principium
41 In diesem spezifischen Sinne kann man sagen, dass die Vernunft qua instrumentelle Vernunft bei Schopenhauer immer praktische Vernunft ist. Es ist dies freilich ein völlig anderer Begriff von praktischer Vernunft als der kantische. 42 Vgl. KS, S. 565. 43 Ebd., S. 389.
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individuationis befangene, voraus. Wo diese nicht mehr vorliegt, kann es auch keine Motivation mehr geben. Die „veränderte[] Erkenntnißweise“ hingegen, die das principium individuationis durchschaut, indem sie zum „reine[n] Spiegel der Welt“, zum „reinen Subjekt des Erkennens“, zum „klare[n] Weltauge“ wird und den Menschen sein eigenes Wesen, den Willen in allem wiedererkennen lässt, und die dadurch zur Identifizierung des Individuums mit der ganzen Welt, damit aber zur Willensverneinung führt – diese Erkenntnisweise fasst all das, was vordem als Motiv wirkte, nunmehr als Quietiv auf.⁴⁴ Schopenhauer selbst bringt diese beiden mit der Bejahung und Verneinung des Willens verbundenen Perspektiven in direkte Beziehung zum doppelten Selbst- und Weltverhältnis, wenn er sie als geradezu „natürliche“, gleichwohl aber spezifisch praktisch orientierte Sichtweisen – einmal „vom Centro“, zum andern „von der Peripherie aus“ – beschreibt: Die Natur selbst widerspricht sich geradezu, je nachdem sie vom Einzelnen oder vom Allgemeinen aus, von Innen oder von Außen, vom Centro oder von der Peripherie aus redet. Ihr Centrum nämlich hat sie in jedem Individuo: denn jedes ist der ganze Wille zum Leben. Daher […] die Natur selbst aus ihm also redet: „Ich allein bin Alles in Allem: an meiner Erhaltung ist Alles gelegen, das Uebrige mag zu Grunde gehen, es ist eigentlich nichts.“ So redet die Natur vom besondern Standpunkte, also von dem des Selbstbewußtseyns aus, und hierauf beruht der Egoismus jedes Lebenden. Hingegen vom allgemeinen Standpunkt aus, – welches der des Bewusstseyns von andern Dingen ist, also der des objektiven Erkennens ist, das für den Augenblick absieht von dem Individuo, an dem die Erkenntniß haftet, – also von Außen, von der Peripherie aus, redet die Natur so: „Das Individuum ist nichts und weniger als nichts.“⁴⁵
Sollen aber dieser letzteren „veränderten Erkenntnißweise“ praktische Konsequenzen im Wollen und Handeln folgen, so muss der Akteur sich der beiden „existentiellen“ Grundoptionen nicht nur bewusst werden, er muss zu ihnen auch Stellung beziehen. Dies setzt jedoch ein (praktisches) Selbstverhältnis voraus. Über die subjektivitätstheoretischen Voraussetzungen der ‚Urentscheidung‘ zwischen Bejahung und Verneinung verrät uns Schopenhauer allerdings nichts – er suggeriert geradezu, als handle es sich um einen quasi-automatischen Prozess, der sich nach Veränderung des Selbst- und Weltverhältnisses wie von selbst einstellt. Das geschieht wohl deswegen, weil ihn eine subjektivitätstheoretische, im engeren Sinn voluntaristische Deutung der ‚Urwahl‘ in Konflikt mit seiner metaphysischen Lehre vom Primat des Willens vor dem Intellekt, des Voluntativen vor dem Kognitiven gebracht hätte.
44 Vgl. Schopenhauer, MdS, S. 78 sowie WWV I, S. 245 u. 253. 45 Schopenhauer, WWV 2, S. 697 f.
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Innerhalb der Bejahung des Willens – und nur in ihm – kann die Person darüber hinaus ein reflexives praktisches Selbstverhältnis ausbilden. Dieses Selbstverhältnis beschreibt Schopenhauer mit dem Begriff des „erworbenen Charakters“.⁴⁶ Nun scheint es in Schopenhauers Theorie praktischer Subjektivität zunächst so, als könnten wir uns zum empirischen Charakter nicht eigentlich (praktisch) verhalten, da dieser unveränderlich und angeboren, also streng determiniert ist, ein für allemal festliegt. Dennoch haben wir, als selbstbewusste, vernunftbegabte Wesen, laut Schopenhauer die Möglichkeit, zu ihm in Distanz zu treten, d. h. einerseits ihn theoretisch zu beurteilen bzw. zu ihm evaluativ Stellung zu nehmen,⁴⁷ andererseits uns praktisch zu ihm zu verhalten, indem wir ihn bewusst einsetzen oder zurückstellen, d. h. handhaben, was ebenfalls ohne ein (praktisches) Selbstverhältnis nicht möglich ist.⁴⁸ Bei der Ausbildung eines solchen erworbenen Charakters beziehe ich mich jedoch nicht auf empirische Gegenstände außer mir, sondern auf meine Willensstruktur, d. h. ich stehe dabei primär nicht in einem Weltbezug, sondern in einem Selbstbezug. Gleichwohl sind laut Schopenhauer beide Bezüge intentional – nur ist im ersten Fall der intentionale Gegenstand ein empirisches Objekt in der Welt, im zweiten Fall ist es das – allerdings gleichfalls empirische – Subjekt (des Wollens) selbst. Für Schopenhauer nämlich heißt (empirisches) Wollen immer „etwas wollen“, d. h. das Wollen ist stets intentional gerichtet auf ein Objekt.⁴⁹ Liegt dieser intentionale Gegenstand
46 Schopenhauer hält im Übrigen dafür, dass eine Person, wenn sie einen solchen erworbenen Charakter ausbildet, zu einer Persönlichkeit wird (vgl. dazu Schopenhauer, WWV 1, S. 396 ff. sowie KS, S. 408). 47 Das wird, so Schopenhauer, schon in den Bewusstseinsphänomenen des Schuldgefühls, des Gewissens oder der Reue deutlich (vgl. z. B. Schopenhauer, WWV 1, S. 387 ff.). 48 Vgl. dazu insbes. ebd., S. 398: „Diese[r erworbene Charakter] ist demnach nichts Anderes, als möglichst vollkommene Kenntniß der eigenen Individualität: es ist das abstrakte, folglich deutliche Wissen von den unabänderlichen Eigenschaften seines eigenen empirischen Charakters und von dem Maaß und der Richtung seiner geistigen und körperlichen Kräfte, also von den gesammten Stärken und Schwächen der eigenen Individualität. Dies setzt uns in den Stand, die an sich einmal unveränderliche Rolle der eigenen Person, die wir vorhin regellos naturalisirten, jetzt besonnen und methodisch durchzuführen und die Lücken, welche Launen oder Schwächen darin verursachen, nach Anleitung fester Begriffe auszufüllen.“ 49 An diesem Objekt findet es laut Schopenhauer a) sein „Motiv“, b) seinen „Stoff“, d. h. die Intentionalitätsbeziehung (vom Willensakt auf das Objekt, an dem es eine Veränderung vornehmen will) ist zugleich eine Kausalitätsbeziehung (vom Objekt auf den Willensakt), wobei das Besondere dieser Art von Kausalität ist, dass sie durch das Medium des Erkennens geht: „Wenn ein Mensch will; so will er auch Etwas: sein Willensakt ist allemal auf einen Gegenstand gerichtet und läßt sich nur in Beziehung auf einen solchen denken. Was heißt nun Etwas wollen? Es heißt: der Willensakt, welcher selbst zunächst nur Gegenstand des Selbstbewußtseyns ist, entsteht auf Anlaß von etwas, das zum Bewußtseyn anderer Dinge gehört, also
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jedoch nicht in der Außenwelt, sondern, wie bei der auf sich selbst bezogenen Ausbildung eines erworbenen Charakters, in mir selbst qua individueller Willensstruktur, dann bedarf es dazu des Reflexionsvermögens, des Verfügens über abstrakte Begriffe, also der Vernunft. In einer solchen Selbstreflexion findet eine Aufklärung über 1) die Handlungs- und Lebensziele und 2) die Möglichkeiten der Lebensgestaltung des Reflektierenden statt. Die Funktion dieser Selbstreflexion besteht demnach letztlich in der praktischen Orientierung bei der Gestaltung des Weltverhältnisses – wenn dies bei Schopenhauer auch immer unter der Voraussetzung des unveränderlichen Charakters und seiner Zwecke erfolgt. Das reflexive Selbstbewusstsein kann dabei seinerseits als Handlung, nämlich als Verhalten zu sich selbst bestimmt werden; es ist also praktisch im doppelten Sinne: auf Praxis bezogen und selbst eine Praxis. Soll aber das reflexive Selbstverhältnis in diesem Sinne praktisch sein, so muss es eine evaluative Stellungnahme zu sich selbst implizieren, was wiederum einen Bezug auf Werte voraussetzt.⁵⁰ Diese Werte wiederum können subjektive oder objektive sein. Führt die evaluative Reflexion zu einer Identifizierung mit den eigenen Präferenzen, Zwecksetzungen oder (charakterlichen) Einstellungen und damit zu einer „Selbstübereinstimmung“ i.S. der Bildung einer praktischen Identität oder eines „erworbenen Charakters“, dann ergibt sich aus der Stellungnahme in Bezug auf subjektive Werte eine Autonomie im schwachen Sinne, die für Schopenhauer „der sicherste Weg [ist], um zur möglichsten Zufriedenheit mit sich selbst zu gelangen“.⁵¹ Dagegen führt eine Stellungnahme in Bezug auf objektive Werte in Gestalt eines Sittengesetzes zu einer Autonomie im starken Sinne. Hier wird endgültig deutlich, dass sich Schopenhauers Modell praktischer Subjektivität in entscheidender Hinsicht von dem kantischen Autonomiekonzept unterscheidet. Will man jedoch genauer verstehen, worin dieser Unterschied, gerade im Hinblick auf das doppelte Selbstund Weltverhältnis, besteht, ist es nützlich, sich den Überlegungen Harry G. Frankfurts zuzuwenden.
ein Objekt des Erkenntnißvermögens ist, welches Objekt, in dieser Beziehung Motiv genannt wird und zugleich der Stoff des Willensaktes ist, indem dieser darauf gerichtet ist, d. h. irgend eine Veränderung daran bezweckt, also darauf reagirt: in dieser Reaktion besteht sein ganzes Wesen.“ (Schopenhauer, KS, S. 372) Vgl. auch ebd. S. 370: „[D]aß unser Wollen stets äußere Objekte zum Gegenstande hat, auf die es gerichtet ist, um die es sich dreht und die als Motive es wenigstens veranlassen, kann Keiner in Abrede stellen; da er sonst einen von der Außenwelt völlig abgeschlossenen und im finstern Innern des Selbstbewußtseyns eingesperrten Willen übrigbehielte.“ 50 Nach dieser Deutung verbirgt sich demnach in Schopenhauers Konzept des erworbenen Charakters die Beschreibung eines reflexiven Sichzusichverhaltens, das (1) Selbstdistanznahme, (2) kritische Reflexion und (3) eine Selbstbewertung voraussetzt. 51 Vgl. Schopenhauer, WWV 1, S. 400.
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4 Frankfurts alternatives Konzept von Autonomie qua Authentizität In dem praktischen Selbstverhältnis, das Schopenhauer unter dem Titel des „erworbenen Charakters“ beschreibt, ist also ein gegenüber dem kantischen Modell alternatives Autonomiekonzept angelegt, über das man sich mit Hilfe des Personenmodells Harry G. Frankfurts Klarheit verschaffen kann. Während sich nämlich das Modell Kants an einer impersonalen Willensbestimmung orientiert, die das Subjekt in seinem moralischen Bewusstsein als Befolgung eines allgemeinen moralischen Gesetzes mit imperativischem Charakter erfährt, welches es sich jedoch aus der universellen Perspektive des reinen praktischen Selbstbewusstseins bzw. in Bezug auf den Grenzbegriff des reinen Willens zugleich selbst gegeben hat (wodurch es sich als autonom versteht), konstituiert sich im Modell Frankfurts (und auch schon Schopenhauers) Autonomie in Orientierung an grundlegenden personalen Willensbestimmungen, die das Subjekt als volitionale Notwendigkeiten erfährt. Diese „volitional necessities“ machen, so Frankfurt, den innersten Kern unseres Personseins aus. Wenn wir ihnen folgen, befinden wir uns in einer umfassenden (aber nur individuell gültigen) Übereinstimmung mit uns selbst, und diese Selbstübereinstimmung erzeugt in uns das Gefühl von Freiheit. Die Funktion dieser volitionalen Notwendigkeiten besteht laut Frankfurt in der Leitung des Handlungsvermögens einer Person und dadurch, ähnlich wie bei Schopenhauer, in der Fixierung ihres Charakters, den Frankfurt mit den „formalen Strukturbegriffen“ der „Entschlossenheit“ und „Integrität“ beschreibt:⁵² Ein solcher Charakter zeichnet sich durch die selbstgewisse Verfügung über einen einheitlichen Willen aus. Dadurch erst wird der Mensch zu einer (vollwertigen) Person.⁵³ Der Begriff der inneren „Nötigung“ bzw. „volitionalen Notwendigkeit“ macht dabei deutlich, dass es sich bei der von Frankfurt in Ansatz gebrachten Freiheit nicht um Wahlfreiheit handelt. In gewisser Hinsicht kann man Frankfurts Autonomiemodell sogar als einen neuerlichen Versuch auffassen, Freiheit und Notwendigkeit zu „versöhnen“, insofern derjenige, der in diesem Sinne autonom ist, sich selbst (sogar in einem emphatischen Sinne) subjektiv als frei erlebt, zugleich aber, indem er einer „volitionalen Notwendigkeit“ folgt, d. h. in Orientierung an seiner „tiefsten“ voluntativen Identität (seinem „eigentlichen Charakter“)
52 Vgl. Frankfurt, 2005, S. 51 ff. 53 Ebd., S. 102. Weitgehend unklar ist aber, wie Frankfurt diese Beschreibung einer Person als eines entschlossenen, integren, einheitlichen Charakters mit seinem Modell eines mehrstufigen Willens vereinbaren will. Die nachfolgenden Überlegungen zum Begriff der „Identifikation“ sollen hier zumindest eine gewisse Klarheit schaffen.
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handelt, objektiv gerade nicht frei ist – zumindest nicht im Sinne einer Wahlfreiheit: er hat gar keine Wahl.⁵⁴ In einem derartigen Modell, das die – zumindest unmittelbaren – ethischen Implikationen abweist,⁵⁵ wird damit die Autonomie, die bei Kant die personale Perspektive durch die Orientierung am moralischen Gesetz gerade transzendiert, letztlich auf eine personale Authentizität reduziert. Danach ist eine Person schon dann selbstbestimmt, wenn sie mit sich selbst übereinstimmt. Frankfurt bezeichnet diesen Vorgang als „Identifikation“. Damit will er zum Ausdruck bringen, dass die praktische Identität immer eine (wieder)hergestellte ist. Denn insofern jede Reflexion und damit jedes praktische Selbstverhältnis dem „Willen“ eine (mindestens binäre) Binnenstruktur gibt, heben sie die Einheitlichkeit des Charakters auf; soll eine solche Einheitlichkeit des Charakters dennoch legitim angesetzt werden können, müsste sie also erst wieder konstituiert werden: praktische Identität basiert immer auf Identifikation. Laut Frankfurt führt diese Identifikationsleistung zu einem Selbsteinverständnis der Person, durch die deren Handeln wiederum die Prädikate der Authentizität und der „wholeheartedness“ zukommen. Dadurch aber erst erhält die Person „something to care about“⁵⁶; d. h. sie verfolgt nun einen „Wunsch, mit dem sich die Person identifiziert und der für sie ausdrückt, was sie wirklich will“. Erst eine solche „mit ganzem Herzen“ vollzogene Identifikation mit dem eigenen Wollen garantiert für Frankfurt die personale Einheit und Kohärenz bzw. die volitionale Kontinuität einer Person, der man dann auch die Eigenschaft der Autonomie qua Authentizität zuschreiben kann. In dieser voluntativen Selbstbestimmung lässt sich dabei eine Prävalenz des zukünftigen vor dem vergangenen Selbst erkennen, d. h. es geht primär um auf die Zukunft gerichtete Handlungs- und Lebensentwürfe.⁵⁷
54 Vor diesem Hintergrund wird auch Nietzsches Bemerkung verständlich, dass von den meisten Menschen „gerade da die F r e i h e i t ihres Willens gesucht [wird], wo jeder von ihnen am festesten gebunden ist“ , bzw. sie sich dort „f ü r f r e i [halten], wo [sie] den Druck der Kette aus langer Gewohnheit n i c h t mehr [spüren]“ (vgl. Nietzsche, KSA 2, S, 546). 55 So jedenfalls formuliert Frankfurt selbst das Anliegen seiner Theorie praktischer Identität qua Identifikation mit den volitionalen Notwendigkeiten (vgl. Frankfurt, 1995, S. 159 ff.). Aber auch schon Schopenhauer weist darauf hin, dass der erworbene Charakter „nicht sowohl für die eigentliche Ethik, als für das Weltleben wichtig“ sei (WWV 1, S. 401). 56 Frankfurt gebraucht für diesen Sachverhalt wechselnde Ausdrücke, die sich verschieden übersetzen lassen: „etwas, um das sich die Person sorgt, das ihr wichtig ist, das ihr am Herzen liegt, was sie liebt“. Man kann dieses Modell auch durch Rückgriff auf Heideggers Begriff der (Selbst‐)Sorge als eines praktischen Selbstverhältnisses oder, mit Tugendhat, „Sichzusichverhaltens“ verständlicher machen. 57 Man könnte hier auch von „Selbstverwirklichung“ sprechen, insofern diese nur als Verwirklichung von Interessen, Präferenzen und Wünschen eines existierenden Selbst denkbar ist;
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Die vom praktischen Subjekt zu erbringende Leistung der Identifikation besteht also in der Zueignung einer grundlegenden Willensbestimmung durch die Person selbst.Wenn auch der Bezug auf ein allgemeines Sittengesetz bei Frankfurt fehlt, so ist sein Konzept damit formal oder strukturell dasselbe wie das kantische und steht auch vor denselben Problemen. Eine Antwort auf die zentrale Frage, wer oder was sich hier eigentlich mit wem oder was identifiziert, bleibt Frankfurt aber schuldig. Aus der Perspektive seines überaus wirkungsmächtigen Stufenmodells müsste man wohl sagen: Die Person identifiziert sich mit ihren Wünschen erster Stufe, indem sie diese Wünsche mit ihrem Willen zweiter (oder höherer) Stufe identifiziert bzw. in Übereinstimmung bringt, wodurch dieser Wille erst handlungseffizient bzw. zu einer echten Volition wird. Auch hier handelt es sich also um ein dreigliedriges Modell, in dem die Person zugleich Ursprung (Wille), Adressat (Wunsch) und bewusster Inhaber (Person) der Willensbestimmung ist. All das wird jedoch von Frankfurt nicht näher ausgeführt, sodass es – so attraktiv ein solches Unterfangen auch sein mag – überaus schwierig, wenn nicht unmöglich ist, Frankfurts Konzept von personaler Autonomie in eine sachhaltige Analogie zu Kants Modell von moralischer Autonomie zu bringen. Zwar erfolgt auch bei Frankfurt die Selbstbestimmung aus (kritisch bewerteten) Gründen, die man sich aneignet und für die man selbst die Verantwortung übernimmt, sodass man als ganze Person für sie einsteht. Zwar ist damit auch für Frankfurt Autonomie eine Selbstverpflichtung, mit der man sich, mit Brandom zu sprechen, auf das Geben und Nehmen von Gründen einlässt und die somit auf intersubjektive Verhältnisse, genauer: auf eine Anerkennungsgemeinschaft verweist.⁵⁸ Aber wenn man das im Ausgang von seinem Stufenmodell entwickelte Verständnis von Autonomie als Authentizität, innerhalb dessen Frankfurt die Ebene des konkreten, intentional auf die Welt gerichteten Wollens („Wünschens“) von der Ebene des grundlegenden, intentional nicht auf die Welt, sondern auf das konkrete Wollen der Person selbst gerichteten Wollens („Wille“ resp. „Volition“) unterscheidet, in Bezug auf das kantisch-fichtesche Konzept, in dem die Unterscheidung zwischen dem reinen Willen und dem empirischen Wollen einer Person getroffen wird, genauer aufklären will, so muss man sich darüber im Klaren sein, dass die moralischen Implikationen des letzteren Modells in Frankfurts Konzept nahezu vollständig getilgt sind: Der authentische Wille ist selbstbestimmt nur durch seinen Bezug auf die grundlegenden Willensbestimmungen der Person; der auto-
ohne ein solches aber ist weder die Rede von Sichzusichverhalten noch der Ausdruck „Identifikation“ sinnvoll. Auch „Selbstfindung“ oder „Selbstgestaltung“ ist immer schon an gestaltete Subjektivität gebunden, während die Rede von „Selbsterfindung“ oder „Selbstschöpfung“ im Rahmen dieses Modells nicht gerechtfertigt werden kann. 58 Vgl. Brandom, 1994, passim.
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nome Wille ist selbstbestimmt durch seinen Bezug auf das allgemeine Sittengesetz, also auf eine impersonale Willensbestimmung. Der Wille zweiter Stufe ist dabei grundlegend nur durch seinen Bezug auf das konkrete Wollen (erster Stufe); der reine Wille ist hingegen grundlegend in einem doppelten Bezug: einerseits als Instanz des Sittengesetzes selbst, andererseits als Maßstab für das konkrete intentionale Wollen, wodurch er eine Art von Vermittlungsinstanz zwischen Sittengesetz und empirischem Wollen darstellt. Mögen die formalen Strukturen beider Modelle auch ähnlich sein, so ist damit ein wesentlicher Unterschied markiert, der eine Parallelisierung dieser Konzepte nur beschränkt gültig sein lässt. Der spätere Frankfurt war sich offenbar über die Defizite seines Modells im Hinblick auf das sittliche Autonomiebewusstsein insgeheim bewusst; jedenfalls ist es auffällig, dass er darum bemüht ist, mit seinen Konzepten der „Liebe“ und des „caring“ spezifisch moralische oder zumindest moralaffine Bewusstseinsund Handlungsphänomene in Form von altruistischen Handlungsmaximen zu berücksichtigen. In Bezug auf beide Modelle kann jedoch berechtigterweise nach den vorausliegenden Ursachen oder Gründen oder Motiven der Aneignungs-, Befolgungsoder Identifikationsleistung des moralischen Subjekts gefragt werden. Befriedigende Antworten auf diese Frage findet man in beiden Modellen allerdings nicht – zumindest dann nicht, wenn man Kants Einführung des Gefühls der Achtung als der „moralischen Triebfeder“ für ungenügend hält.⁵⁹ Als grundlegendes Motiv für die Orientierung am Sittengesetz und damit für moralisches Handeln das Streben nach Kohärenz oder Widerspruchsfreiheit der Person als eines rationalen Wesens anzugeben,⁶⁰ reicht allein kaum aus: dieses Motiv ist m. E. viel zu schwach, als dass es, im Drange des Weltgeschehens, mehr als eine bloße „Klystierspritze bei einer Feuersbrunst“⁶¹ sein könnte. Das gilt auch dann, wenn eine derartige rationale Kohärenz darin besteht, die doppelte Selbst- und Weltauffassung als Subjekt und Person in einem „bewussten Leben“⁶² umfassend zu integrieren, d. h. die beiden unvereinbaren Perspektiven – die Teilnehmer- und Beobachterperspektive in seinem – nun moralischen – Wollen und Handeln zu versöhnen. Sicher ist es vernünftig, sich gleichermaßen als Subjekt und als Person aufzufassen, noch vernünftiger, diese beiden Selbstauffassungen kohärent zu machen, und am vernünftigsten schließlich, dabei ein praktisches Selbstverhältnis auszubilden und, indem man seine subjektiven Maximen einem Universalisierungstest un-
59 Kant, AA V (KpV), 73 ff. 60 Vgl. dazu etwa Steigleder, 2002, S. 76 f. in Bezug auf Kant, AA IV (GMS), 449 f. 61 So Schopenhauer, allerdings über den Universalisierungstest des kategorischen Imperativs selbst (vgl. KS, S. 499). 62 Vgl. Henrich, 1999.
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terwirft und im Zuge dessen in Übereinstimmung mit dem moralischen Gesetz bringt, im kantischen Sinne autonom zu werden. Aber für die Motivation moralischen Handelns muss man eine stärkere Basis als ein bloßes Kohärenzbedürfnis ausfindig machen, u.zw. in der Willensstruktur oder Affektivität der Person selbst – etwa in einem moralischen Gefühl wie dem Mitleid, das in Schopenhauers Beschreibung jene doppelte Selbst- und Weltauffassung ja bereits enthält, wobei man jedoch, wenn man, wie Schopenhauer, das Mitleid an eine veränderte Erkenntnisweise knüpft, Moralphilosophie letztlich auf Erkenntnistheorie reduziert, von anderen damit verbundenen Problemen (wie vor allem demjenigen der Geltung) zu schweigen. Abgesehen davon stellt in Frankfurts Modell jede Volition (zweiter Stufe) eine evaluative Stellungnahme dar, die ihrerseits, neben einer kognitiven, bereits eine voluntative und d. h. eine intentionale Komponente besitzt. Das bedeutet aber, dass die Volition ihrerseits eine Binnenstruktur in der Gestalt eines praktischen Selbstverhältnisses aufweist. Dadurch entsteht ein intensiver Zirkel – zusätzlich zu jenem extensiven Zirkel, der daraus erwächst, dass man notwendigerweise nach den kausalen, motivationalen und volitionalen Voraussetzungen einer solchen Volition fragen muss.⁶³ Fragen muss man aber vor allem: Ist es ein und dieselbe Form von Intentionalität, die im Falle des (praktischen) Selbstbewusstseins und im Falle des Fremdbewusstseins vorliegt? Richte ich mich, wenn ich eine Volition ausbilde, in demselben Sinne auf mich selbst (im einfachsten Fall: auf einen Wunsch, aber letztlich auf jede personale Eigenschaft), wie ich das im Falle der Anschauung eines äußeren Gegenstandes oder der praktischen Einwirkung auf die Außenwelt tue? Gewisse Formen des Selbstbewusstseins sind – so viel mag man zugeben – sicher intentional; aber der intentionale Gegenstand existiert hier nicht außerhalb des Bewusstseins, während intentionales Fremdbewusstsein und intentionaler Wille immer eine Realitätsvermeinung implizieren, die im Falle des praktischen Selbstbewusstseins nicht berechtigt zu sein scheint. An diesem ungewissen Status der dem praktischen Selbstbewusstsein inhärenten Intentionalität ändert auch der – vielleicht unstrittige – Umstand nichts, dass der Wille – über den zugeigneten oder nicht zugeeigneten Wunsch – mittelbar intentional auf einen Gegenstand außerhalb des Bewusstseins gerichtet ist.⁶⁴
63 Diesen „extensiven Zirkel“ hat Frankfurt bekanntlich mit seiner Metapher vom „Durchhallen“ („resounding“) der voluntativen Stufen einer Person im Falle einer nachhaltigen Entscheidung nur sehr ungenügend zu beantworten gewusst (vgl. Frankfurt, 1995, S. 21). 64 Auch bei Schopenhauer, der im Rahmen seines Modells vom erworbenen Charakter, wie gesehen, offenbar von der Intentionalität des (reflexiven) praktischen Selbstverhältnisses selbst überzeugt ist, sucht man vergebens nach einer Auskunft über das hier angesprochene Problem.
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5 Resultate In The Possibility of Altruism hat Nagel sein Altruismuskonzept in Analogie zu seinem Klugheitskonzept entwickelt und damit versucht, zwei unterschiedliche Traditionslinien – Lockes Personenmodell und Kants Autonomiekonzept – zu vereinen. Danach entspricht der intersubjektiven oder interpersonalen doppelten Selbstauffassung als (egoistischem) „Subjekt“ und (altruistischer) „Person“ die intrasubjektive oder intrapersonale Selbstauffassung als ein trieb- oder wunschgesteuertes und darin ausschließlich gegenwartsbezogenes „Subjekt“, das stets nur nach subjektiven Gründen handelt und seine unmittelbare Bedürfnisbefriedigung zu maximieren versucht, einerseits und als eine rational kontrollierte „Person“ andererseits, die sich, aus einer Haltung der Klugheit heraus, an objektiven Gründen orientiert und dabei ihre vergangenen und künftigen personalen Zustände als gleichrangig mit ihren gegenwärtigen ansieht und behandelt. Abgesehen davon, dass diese Analogie an mehreren Stellen hinkt,⁶⁵ haben wir mit den voranstehenden Ausführungen zumindest so viel gezeigt, dass mit einem solchen Modell die intrasubjektive oder intrapersonale Selbstauffassung eines moralischen Subjekts in keiner Weise ausgeschöpft ist. Vielmehr haben wir gesehen, dass ein moralisches Subjekt immer dann, wenn es sich aus der drittpersonalen Perspektive betrachtet und darin auf sich selbst in der erstpersonalen Perspektive Bezug nimmt, ein praktisches Selbstverhältnis ausbildet, dessen es sich zugleich auch bewusst ist. Diese selbstreflexive Binnenstruktur der praktischen Subjektivität muss stets vorausgesetzt werden – unabhängig davon, ob man nun einem starken Autonomiemodell wie demjenigen Kants, das sich am Sittengesetz bzw. am Konzept des reinen Willens orientiert, oder einem schwachen Autonomiemodell wie demjenigen Frankfurts anhängt, in dem eine Person ein Selbstverhältnis in Bezug auf ihre Wünsche erster und ihre Volitionen zweiter Stufe ausbildet und die Authentizität der Maßstab ist. Eine solche selbstreflexive Binnenstruktur der praktischen Subjektivität ist aber immer – das ist die gemeinsame Auffassung aller hier verhandelten Autoren – eine voluntative Struktur: Praktische Subjektivität manifestiert sich stets als Wille – wenngleich sich natürlich die Willensbegriffe, die Kant, Fichte, Schelling, Schopenhauer und Frankfurt entwickeln, jeweils stark voneinander unterscheiden. Nagel ist jedoch in seiner Analyse der praktischen Subjektivität insofern recht zu geben, als mit dem Hinweis auf das doppelte Welt- und Selbstverhältnis ein fundamentales Problem der praktischen Philosophie identifiziert ist, das gerade für die klassische deutsche Philosophie von Kant bis Schopenhauer (und darüber
65 Vgl. dazu Stolzenberg, 2007. Dies ließe sich jedoch auch mit Bezug auf Parfit, 1992 zeigen.
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hinaus) richtungsweisend geworden ist. Der Auffassung, dass eine befriedigende Subjektivitätstheorie dieser doppelten Selbst- und Weltauffassung eine angemessene Deutung zu geben habe, kann man sich jedenfalls nur anschließen. Das gilt gerade für eine Theorie praktischer Subjektivität, da nur mit ihrer Hilfe die mit jenen beiden grundlegend verschiedenen Perspektiven verbundenen „existentiellen Grundoptionen“ und deren vielfältigen ethischen Implikationen philosophisch Genüge getan werden kann. Schopenhauer zeigt sich dieser Problemlage bewusst, wenn er im Anschluss an seine eingangs zitierte Darstellung der dilemmatischen Situation eines jeden bewussten und selbstbewussten Wesens schreibt: Nur wer diesen offenbaren Widerspruch der Natur wirklich zu vereinen und zu auszugleichen weiß, hat eine wahre Antwort auf die Frage nach der Vergänglichkeit oder Unvergänglichkeit seines eigenen Selbst.⁶⁶
Die Theorie praktischer Subjektivität wird damit geradezu zu einem Versöhnungsunternehmen. Darin wissen sich Kant und seine Nachfolger einig. Wie jedoch die beiden grundverschiedenen Perspektiven auf uns selbst und unsere Welt – die Teilnehmer- und die Beobachterperspektive – konkret miteinander versöhnt werden können und ob und in welcher Weise dabei vom Autonomiekonzept Gebrauch gemacht werden muss, darüber gehen die Auffassungen innerhalb der klassischen deutschen Philosophie teilweise weit auseinander. Gleichwohl kann man behaupten, dass ihre Hauptvertreter, über alle Differenzen hinweg, so viele subjektivitätstheoretische Grundannahmen teilen, dass sich ihre Lösungsvorschläge wechselseitig erhellen können – zumal dann, wenn man sie in Bezug zu Modellen der analytischen Philosophie bringt. Das ist möglicherweise nur ein geringes Resultat, aber zumindest eines, das man jener „Philosophie des Ernstes“ beizählen kann, als die Schopenhauer gerade die praktische Philosophie bezeichnet hat.⁶⁷
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66 Schopenhauer, WWV 2, S. 698. 67 Vgl. Schopenhauer, WWV 1, S. 357.
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Selbstsein bei Søren Kierkegaard. Subjekttheorie zwischen Philosophie und Religion „Bei manchen Menschen ist es bereits eine Unverschämtheit, wenn sie Ich sagen.“ Th. W. Adorno, Minima Moralia, Aphorismus 29
1 Einleitung Søren Kierkegaard und sein Werk sind im 20. Jahrhundert nicht nur entdeckt, sondern auch durch und für die Philosophie entdeckt worden. Bekannte Vertreter des sog. „Existenzialismus“ – wie Jean-Paul Sartre, Martin Heidegger und Karl Jaspers – haben sich mit Kierkegaards Werk z.T. intensiv auseinandergesetzt. In Standardwerken zur existentialistischen Philosophie wird Kierkegaard daher als einer der Vorläufer und wichtigsten Anreger dieser Richtung des Denkens regelmäßig gewürdigt. Auch Denker anderer Schulen, z. B. Theodor W. Adorno, haben Kierkegaard ausführlich diskutiert. Universitätsgelehrte und akademische Philosophen schließlich – in Deutschland etwa Walter Schulz, Helmut Fahrenbach oder Michael Theunissen – haben seinem Werk wichtige Interpretationen gewidmet. Und die akademische Philosophie ist es auch, die, lange nach dem Untergang des Existentialismus und anderer avantgardistischer Strömungen des 20. Jahrhunderts, Søren Kierkegaards Texten bis heute die Treue hält. Nicht nur im dänischen oder deutschen Denken, sondern auch in der angelsächsischen Welt sind in den letzten Jahrzehnten immer wieder umfangreiche Monographien und Sammelwerke zu diesem Autor erschienen. In der Doxographie des philosophischen Denkens wird er demzufolge als bedeutender neuzeitlicher Theoretiker geführt, insbesondere als einer der wichtigsten Kritiker Hegels und des Deutschen Idealismus, neben Arthur Schopenhauer, Max Stirner oder etwa Karl Marx.¹ In der Rezeption seines Werkes hat sich jedoch nach dem zweiten Weltkrieg der Akzent langsam verschoben. Während in der ersten Rezeptionsphase ab etwa 1900 die Fragen nach der „Existenzerhellung“ und dem „wahren“, sinnerfüllten Leben des Einzelnen besonderes Gewicht besaßen (mitbestimmt durch die intensive Diskussion Kierkegaards in der protestantischen Theologie), sind in den
1 Vgl. zur Wirkungsgeschichte Theunissen/Greve, 1979, S. 54 ff. sowie den Beitrag von Roger Poole in The Cambridge Companion to Kierkegaard (Hannay/Marino, 1998, S. 48 ff.).
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letzten Jahrzehnten besonders Kierkegaards Begriff von Selbstsein bzw. Subjektivität und die damit verbundenen Phänomene und strukturellen Aspekte erörtert worden. Diese Akzentverschiebung steht in ersichtlichem Zusammenhang mit dem wiedererwachten Interesse am Phänomen der Subjektivität, das nach dem zweiten Weltkrieg in verschiedenen Bereichen der Philosophie (Erkenntnistheorie, Philosophie des Geistes, Sprachanalyse, Gesellschaftstheorie, Ethik) einsetzte. Zugleich ist Kierkegaard auch wieder stärker in den geistesgeschichtlichen Zusammenhang mit dem Deutschen Idealismus eingeordnet worden: Statt ihn nur als Kritiker von Entwürfen einer „absoluten“ Subjektivität zu verstehen, wird sein Werk heute oft so interpretiert, dass es an ähnlichen Problemen wie die Arbeiten von Fichte, Schelling und Hegel ansetzt, aber dabei gleichsam einen anderen „Ausgang“ nimmt.² Kierkegaard selber hat sich als christlichen Denker verstanden. Seine philosophischen und psychologischen Werke hat er unter Pseudonymen veröffentlicht – nur seine letzten, dezidiert christlichen Arbeiten (v. a. Der Augenblick sowie eine Reihe christlicher Reden und Predigten) sind unter seinem eigenen Namen erschienen. Die Behandlung essentieller christlicher Lehrstücke wie Offenbarung, Sünde, Glaube sind entscheidender Bestandteil vieler seiner Texte, auch der philosophischen Arbeiten. Die Bekämpfung eines falschen, „bürgerlichen“ Christentums ist eines der Hauptmotive seiner schriftstellerischen Tätigkeit. Auch von der philosophischen Sekundärliteratur zu Kierkegaard wird dieser Sachverhalt in der Regel nicht bestritten oder ignoriert. Jedoch wird von philosophischen Interpreten geltend gemacht, dass Kierkegaard Theorien und Analysen entwickelt habe, die auch unabhängig von ihrer „christlichen“ Bestimmung gewürdigt werden können. Das bedeutet entweder, dass sie von Kierkegaard selber als konkurrierende, philosophische Konzeptionen verstanden worden sind, oder dass sie zumindest durch Dritte so interpretiert und ausgewertet werden können.³ Es ist diese Position, die im Folgenden anhand eines zentralen Theoriestücks, Kierkegaards Lehre vom Selbstsein in Die Krankheit zum Tode, untersucht werden soll. Dabei wird sich zeigen, dass sie nicht haltbar ist und
2 Vgl. zur Beziehung zu Hegel etwa Taylor, 1980; Stewart, 2003; zu Schelling Hennigfeld/ Stewart, 2003; zu Fichte neuerdings Stolzenberg/Smail, 2010. – Zur Stellung Kierkegaards in der protestantischen Theologie des 19. Jahrhunderts informieren Hirsch, 1975, S. 433 ff. sowie AxtPiscalar, 1996, S. 206 ff. und S. 295 ff. (zur Sündenlehre). 3 Vgl. hierzu etwa die Arbeiten Michael Theunissens und seiner Schüler (Theunissen, 1991, S. 24 ff.; Theunissen, 1993, S. 14 ff.; mit Beziehung auf Theunissen Grøn, 1999, S. 189 und pass.; ferner Wesche, 2003, etwa S. 19 oder S. 125) oder aus sprachanalytischer Perspektive Pojman, 1984, S. IX ff. und passim. Unter den älteren Arbeiten siehe etwa Bollnow, 1956, S. 20 ff. oder Gabriel, 1968, S. 27 ff.
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dass Kierkegaards Anthropologie nicht nur in ihrer Ausgestaltung, sondern selbst in ihren Grundlagen als christlich angesehen werden muss.
2 Kierkegaards Bestimmung des „Selbstseins“ Kierkegaards Theorie des Selbstseins ist durch zwei bzw. drei entscheidende Begriffe bestimmt: „Selbst“, „Verhältnis“ und „Grund“. In einer berühmten und oft zitierten Definition bestimmt Kierkegaards christliches Pseudonym „Anti-Climacus“⁴ den Menschen als „Geist“ und gebraucht hierbei die ersten beiden dieser Begriffe:⁵ Der Mensch ist Geist. Doch was ist Geist? Geist ist das Selbst. Doch was ist das Selbst? Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, oder es ist in diesem Verhältnis jenes, dass dieses sich zu sich selbst verhält; das Selbst ist nicht das Verhältnis, sondern dass sich das Verhältnis zu sich selbst verhält. Der Mensch ist eine Synthese aus Unendlichkeit und Endlichkeit, aus dem Zeitlichen und aus dem Ewigen, aus Freiheit und Notwendigkeit, kurz: eine Synthese. Eine Synthese ist ein Verhältnis zwischen zweien. So gesehen ist der Mensch noch kein Selbst. / Im Verhältnis zwischen zweien ist das Verhältnis als negative Einheit das Dritte, und die zwei verhalten sich zum Verhältnis und in dem Verhältnis zum Verhältnis; so ist das Verhältnis zwischen Seele und Körper unter der Bestimmung Seele ein Verhältnis. Verhält sich dagegen das Verhältnis zu sich selbst, dann ist dieses Verhältnis das positive Dritte.
Kierkegaards Bestimmung ist reichlich abstrakt und aus sich heraus nicht adäquat zu verstehen. Erst die Formen der Verfehlung des Selbstseins, die Typen der „Verzweiflung“, können anzeigen, was unter den „Synthesen“, von welchen die Bestimmung hier spricht, verstanden werden darf. Doch erlauben es Kierkegaards Angaben bereits an dieser Stelle, gewisse strukturelle Eigenschaften des Selbstseins zu identifizieren. Und sie erlauben es, dem Verständnis seiner Konzeption von Selbstsein durch einige gezielte Fragen die Richtung anzugeben. Sehen wir erst einmal von der anspielungsreichen Terminologie in diesem Textstück ab, so zeigt sich, dass Kierkegaard das, was er unter dem „Verhältnis“ versteht, welches die Grundlage des Selbstseins darstellt, als eine „Synthese“ erläutert. Eine Synthese ist keine bloße Relation. Sie verbindet ihre Glieder vielmehr zu einer neuen, ihnen übergeordneten Einheit. Dies unterscheidet eine Synthese etwa von einem Aggregat. Unter einer solchen „Einheit“ kann zum einen
4 Vgl. zu den Pseudonymen „Climacus“ und „Anti-Climacus“ die Ausführungen Liselotte Richters in: Kierkegaard, 1962, S. 126 f. 5 Kierkegaard, 1997, S. 13 (Die Krankheit zum Tode (hier abgekürzt: KzT), Erster Abschnitt, A, A).
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nur die Eigenschaft des Verhältnisses verstanden werden (d. h. dass es sich um eine Einheit handelt und von welcher Art diese Einheit ist), zum anderen aber auch diejenige Handlung bzw. derjenige Prozess, durch welchen diese Einheit gestiftet wird. (Denken wir etwa an chemische Prozesse wie die Proteinbiosynthese oder die Ammoniaksynthese nach Haber und Bosch.) Diese Einheit wird aber nicht erst durch die Selbstbeziehung, die den Geist kennzeichnet, begründet. Indessen unterscheidet Kierkegaard eine positive von einer bloß negativen Einheit. Da unter einer negativen Einheit, d. h. der reinen „Synthese“, nicht die bloße Konjunktion der Relata verstanden werden kann, muss sich der Ausdruck „negativ“ auf etwas anderes beziehen als auf einen Mangel an Einheit. Es ist vielmehr die Einheit selber (das Verhältnis, die Synthese), die in einem bestimmten Sinne mangelhaft ist. Diese Mangelhaftigkeit soll nach Kierkegaard dadurch aufgehoben sein, dass die Einheit eine reflexive Beziehung auf sich eingeht bzw. in einer solchen steht. Es ist dieser Schritt, der aus einer negativen eine positive Einheit werden lässt. Aus dieser Überlegung resultieren aber einige Fragen. A) Von welcher Art ist die Reflexivität der Synthese, dass sie die positive Einheit herzustellen vermag? B) Worin unterscheidet sich die positive von der negativen Einheit? C) Woran können wir erkennen, dass die Einheit aus einer negativen zu einer positiven geworden ist? – Betrachten wir hierzu das, was Kierkegaard in unmittelbarem Anschluss an das gerade erörterte Textstück sagt.⁶ Hier tritt nun auch der dritte der o.g. entscheidenden Begriffe auf, der des „Grundes“ (wenngleich Kierkegaard den Ausdruck hier noch nicht verwendet): Ein solches Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, ein Selbst, muss sich entweder selbst gesetzt haben oder durch ein Anderes gesetzt sein. / Ist das Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, durch ein Anderes gesetzt, dann ist das Verhältnis zwar das Dritte, doch dieses Verhältnis, das Dritte, ist dann wiederum ein Verhältnis und verhält sich zu dem, was das ganze Verhältnis gesetzt hat. / Ein solcherart abgeleitetes, gesetztes Verhältnis ist das Selbst des Menschen, ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält und im Verhalten zu sich selbst zu einem Anderen verhält.
Es sind vor allem die Fragen (A) und (B), zu welchen uns Kierkegaards Äußerungen aus diesem Textstück (Teil‐)Antworten bieten. – Dass das Selbst, von dem Kierkegaard hier spricht, nicht die Eigenschaft der Aseität („Selbstgegründetheit“) besitzt, wird von ihm nur behauptet und nicht weiter begründet. Insofern ist seine Äußerung eine reine Positionsbestimmung. Diese Positionsbestimmung besagt, dass das Selbstverhältnis, von dem Kierkegaard handelt, keinen konstitutiven Charakter aufweist bzw. dass der Grund des Verhältnisses (der Synthese) weder in
6 Kierkegaard, 1997, S. 14 (KzT).
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diesem Verhältnis selber noch in seiner reflexiven Beziehung auf sich zu suchen ist. Dennoch soll es der Mensch sein (sein „Selbst“), der in einem Selbstverhältnis steht, und nicht etwa der Grund, durch den dieses Verhältnis und damit das Selbstsein des Menschen gegründet ist. Insofern ist Aseität auch keine Voraussetzung für dasjenige Selbstverhältnis, in dem das Verhältnis, das den Menschen ausmacht, steht. Doch scheint es eine wenig spektakuläre Behauptung zu sein zu sagen, dass es Selbstverhältnisse gibt, die nicht in denjenigen Dingen ihre Konstitutionsbedingung besitzen, deren Selbstverhältnisse sie darstellen, und deshalb auch nicht in diesen Selbstverhältnissen selber. Traditionell gilt ja sogar nur für Gott (und seine Selbstbeziehung), dass er „Causa sui“ ist, und nicht für irgendein anderes Ding. Interessant ist an dieser Stelle vielmehr, wie Kierkegaard beide, Grund und Selbstverhältnis, in Beziehung zueinander setzt. Nicht Selbstkonstitution ist die Bedingung für Selbstsein bzw. „Geist“, sondern dass sich das „Selbst“ des Menschen im Selbstbezug „zugleich“ auf den konstitutiven Grund seiner selbst bezieht. Wie die adverbiale modale Bestimmung im letzten Satz des o.g. Zitates anzeigt („das sich … im Verhalten zu … verhält“), ist damit nicht eine Parallelität der Weisen des Bezuges bezeichnet, sondern vielmehr ihre Identität, d. h.: im Verhalten zu sich – sich zum Anderen zu verhalten! Das Verhältnis1 (z. B. die Synthese von Endlichkeit und Unendlichkeit) verhält sich zu sich selbst (Verhältnis2) mithin, indem es sich zu einem Anderen, das es (Verhältnis1+2) „gesetzt“ hat, verhält (Verhältnis2*).⁷ – Obgleich in Kierkegaards Definitionen der Charakter der Verhältnisse, die er unterscheidet, noch völlig offen bleibt, deuten sich in diesen Bestimmungen bereits mehrere Aporien (Kierkegaard würde wohl „Paradoxe“ sagen) an. Zum einen ist eine Selbstbeziehung nicht eine Beziehung zum Anderen des Selbst. Soll sie eine solche umfassen, ist dies nur möglich durch
7 Das Verhältnis zum Anderen ist keine neue Komponente in dem komplexen Begriff des Selbst und erhält deshalb auch keinen höheren Index. Der Index „2*“ drückt nur aus, dass es einer erweiterten Definition unterliegt als das „Verhältnis2“. – Kierkegaard hält es für nötig darauf hinzuweisen, dass das Verhältnis2 das „Dritte“ sei. Das „Dritte“ ist es deshalb, weil die Synthese kein eigenes, numerisch von den Synthesegliedern verschiedenes Element darstellt, das, zwischen die Glieder gerückt, diese verbindet (wie z. B. eine Kupplung zwei Wagen verbindet). Eher ist die Verbindungsfunktion der „Synthese“ so zu verstehen, wie die Form-Beziehung eines bestimmten Schlüssels zu einem bestimmten Schlüsselloch, welches er allein öffnet. Hier ist auch darauf hinzuweisen, dass der Ausdruck „Verhältnis“ in den beiden Vorkommnissen von Verhältnis1 verschieden verwendet wird: Im ersten Fall charakterisiert er eine Relation („Synthese“) zwischen zweien, im zweiten Fall (dem „Ausgangspunkt“ des Selbstverhältnisses) bezeichnet er nicht mehr die Relation zwischen zweien, sondern nur noch ihre (negative) Einheit (d. h. den ganzen Komplex). Trotz seines etwas inflationären Gebrauches des Ausdrucks „Verhältnis“ kennt Kierkegaard nur zwei Typen der Relation, die das menschliche Selbst betreffen: negative und positive Einheit.
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eine Erweiterung des Begriffes des Selbst. Das „wahre“ Selbst, das hier in einer Beziehung steht, repräsentiert dann sowohl das, was in einer engeren Wortbedeutung das „Selbst“ ist, als auch eben das Andere, das es in einer weiteren Bedeutung noch einschließt. Ein solches begriffliches Manöver verlagert das Problem aber nur auf eine andere Ebene. Da beide, eng verstandenes und erweitert verstandenes „Selbst“, dasjenige sind, auf das im Ausdruck „Selbstverhältnis“ Bezug genommen wird, tritt entweder eine begriffliche Äquivokation oder ein Fall von Teil-Ganze-Aporie auf. Hält man hingegen daran fest, dass in Kierkegaards Selbstverhältnis (Verhältnis2*) ein und dasselbe Verhältnis auf dieselbe Weise das Selbst (Verhältnis1) auf zwei voneinander verschiedene Relate (konträr Gegensätzliches) bezieht (auf das Verhältnis1 und auf das „Andere“), dann behauptet man einen offenen Widerspruch.⁸ Doch sind es gerade Kierkegaards folgende Äußerungen, die diese Interpretation nahe legen:⁹ Daher kommt es, dass zwei Formen von eigentlicher Verzweiflung möglich sind. Hätte sich das Selbst des Menschen selbst gesetzt, dann könnte nur von einer Form die Rede sein, der, nicht man selbst sein, sich selbst loswerden zu wollen; dagegen könnte nicht die Rede davon sein, dass man verzweifelt man selbst sein will. Diese Formel ist nämlich der Ausdruck für die Abhängigkeit des ganzen Verhältnisses (des Selbst), ist der Ausdruck dafür, dass das Selbst nicht durch sich selbst zu Gleichgewicht und Ruhe gelangen oder sich darin befinden kann, sondern nur dadurch, dass es sich im Verhalten zu sich selbst zu dem verhält, was das ganze Verhältnis gesetzt hat. Ja, diese andere Form von Verzweiflung (verzweifelt man selbst sein wollen) ist so weit entfernt, nur eine eigene Art von Verzweiflung zu bezeichnen, dass sich, im Gegenteil, alle Verzweiflung schließlich darin auflösen und darauf zurückgeführt werden kann.
Auch diese Bemerkungen lassen sich vor allem zur Beantwortung von Frage (B) auswerten, doch enthalten sie auch einen Hinweis zur Frage (C). – Zum einen
8 Es ist verführerisch hierauf mit Beispielen zu entgegnen, in denen – etwa über die Hebelwirkung – durch ein und dieselbe Handlung eine Wirkung auf verschiedene Gegenstände zugleich ausgeübt werden kann (zu denen man damit also, kierkegaardisch gesprochen, zugleich in einem „Verhältnis“ stehen kann). So lässt sich durch die Einwirkung einer Kraft auf einen beliebigen Gegenstand (A) zugleich eine Wirkung auf die mit ihm verbundenen Gegenstände B, C, D usw. ausüben. Doch drücken die Ausdrücke „dieselbe“ und „zugleich“ nur eine Scheinidentität aus. Denn die Handlung, die die verschiedenen Wirkungen hat, ist zwar dieselbe, aber sie wirkt nicht auf dieselbe Weise. Unmittelbar wirkt sie nur auf A, mittelbar aber (d. h. indem sie sich des Gegenstandes A als eines Mittels bedient) wirkt sie auf B, C, D usw. Diese beiden Wirkungsweisen sind, obwohl sie derselben Handlung zukommen, qualitativ verschieden. Kierkegaard schreibt aber nicht: dass das Selbst sich vermittelst des Verhältnisses auf sich auf das Andere bezieht (oder umgekehrt), sondern: dass es sich, indem es sich auf sich bezieht, auf das Andere bezieht. 9 Kierkegaard, 1997, S. 14 f. (KzT, a.a.O.).
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gebraucht Kierkegaard hier wieder die modale Partikel „in“: im Verhalten zu sich selbst sich zu dem verhalten, was das ganze Verhältnis gesetzt hat. Dass das Selbstverhältnis dabei nicht nur als Vehikel im Verhältnis zum Anderen fungiert, zeigt die vorausgehende Bemerkung an: Das Verhältnis zum Anderen soll selber geradezu die Bedingung dafür, dass das „Selbst […] zu Gleichgewicht und Ruhe gelangen“ kann, sein. Das bedeutet zumindest, dass das Selbstverhältnis ohne das Verhältnis zum Anderen verfehlt wird. Auch die Formen einer solchen Verfehlung, d. h. die Typen der Verzweiflung, zeigen diesen Sachverhalt an. Nicht nur, dass zwei Formen der Verzweiflung vorkommen („verzweifelt nicht man selbst“ und „verzweifelt man selbst sein wollen“), sondern dass sich beide laut Kierkegaard sogar auf die Form zurückführen lassen, verzweifelt man selbst sein zu wollen, spricht nicht für die Annahme, dass allein die Beziehung zum „Anderen“ die wahre, die „eigentliche“ Selbstbeziehung darstellt.¹⁰ – Kierkegaards Hinweis auf die Typen der Verzweiflung verbindet schließlich die abstrakte Analyse des Selbstverhältnisses mit diagnostizierbaren Zuständen und Einstellungen des menschlichen Verhaltens. Diese Typen können daher als Kennzeichen des „Missverhältnisses“ im Selbstverhältnis des Menschen angesehen werden. Uns wird zu interessieren haben, ob diese Kennzeichen Zuordnungen erlauben und ob und von welchen weiteren Annahmen über die jeweils betrachteten Formen des Selbstseins sie für ihre Kennzeichnungsfunktion abhängen. Unklar bleibt freilich weiterhin, wie das Problem von Identität und Differenz im Selbstverhältnis des Geistes bei Kierkegaard gelöst wird. Kierkegaard gibt in seiner abstrakten Charakterisierung des Selbst und dessen Verfehlungen am Beginn von Die Krankheit zum Tode nur einen Hinweis in dieser Frage, der aber genau genommen auch nur in einem einzigen Wort besteht, welches die gelingende Selbstbeziehung beschreibt:¹¹
10 Doch ist die Position Kierkegaards, dass sich beide Formen der Verzweiflung auf diejenige, verzweifelt man selbst sein zu wollen, zurückführen lassen, nicht sonderlich überzeugend. Seine Bemerkung erhellt möglicherweise zwar aus der Intention des Selbst, reine Beziehung auf sich zu sein (d. h. exklusiv und gerade unter Absehung von aller Beziehung auf Anderes), doch gerade darin, dass es eine eingeschränkte (und für Kierkegaard auch selbst verantwortete) Vorstellung über das Selbst dieses Selbstverhältnisses hegt (aus der sogar noch die Beziehung auf dasjenige, durch das es gesetzt wurde, ausgeschlossen ist), zeigt sich, dass es – verzweifelt – gerade nicht es selbst sein „will“, obgleich es intentional darauf ausgerichtet zu sein scheint. (Es „will“ wohl ein „Selbst“, aber nicht es selbst sein!) 11 Kierkegaard, 1997, S. 15 (KzT); vgl. auch S. 33 (KzT, Erster Abschnitt, C, A, a, α): „[D]as Selbst ist nur dann gesund und von Verzweiflung frei, wenn es, gerade indem es verzweifelt ist, sich selbst durchsichtig gründet in Gott.“
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Dies […] ist die Formel, die den Zustand des Selbst beschreibt, wenn die Verzweiflung vollkommen getilgt ist: Indem es sich zu sich selbst verhält und indem es es selbst sein will, gründet das Selbst durchsichtig in jener Macht, die es setzte.
Das Wort lautet „durchsichtig“. Was „durchsichtig“ bedeutet, spricht Kierkegaard im Grunde zwar bereits im „Ersten Abschnitt“ von Die Krankheit zum Tode an,¹² doch vollständig wird seine Bedeutung erst durch das aufgeklärt, was Kierkegaard im „Zweiten Abschnitt“ des Werkes zum Thema des Glaubens schreibt.
3 Die „Verzweiflung“ als Verfehlung des Selbstseins Bevor wir uns diesem Problem zuwenden können, führt uns Kierkegaard noch in die vielfarbige Welt der Verzweiflung ein. Die einzelnen Typen und Varianten von verzweifeltem Selbstsein nacheinander durchzugehen, wäre hier allerdings von geringer Aussagekraft, doch nützlich ist es, zumindest eine davon exemplarisch zu betrachten. Eine solche Betrachtung kann uns zeigen, auf welche Phänomene sich Kierkegaard bezieht, wenn er die oben so genannten „Zustände und Einstellungen“ des verzweifelten Selbst anspricht. Die erste der von Kierkegaard am Anfang von Die Krankheit zum Tode aufgeführte Synthesen, die das menschliche Selbst charakterisieren und deren positive Einheit misslingen kann, ist die von „Endlichkeit“ und „Unendlichkeit“.¹³ In den Formen der Verzweiflung überwiegt laut Kierkegaard eines der Glieder des Verhältnisses1. Der Mensch bzw. sein Selbst wird dem gemäß entweder „endlich“ oder „unendlich“ und hört dadurch auf, die Synthese von beidem zu sein. Im Falle der Verzweiflung der Unendlichkeit bedeutet dies, dass der Mensch grenzenlos, d. h. „phantastisch“ wird.¹⁴ Nach Kierkegaard gibt es drei Formen des Phantastischen: des Gefühls, der Erkenntnis und des Willens. Unendlichkeit bzw. „Phantastik“ ist somit eine Eigenschaft entweder emotiver, kognitiver oder volitiver Akte und Einstellungen. Ein phantastisches Gefühl ist z. B. eines von der Art, dass es sich auf eine Abstraktion, etwa die Menschheit als solche, aber nicht mehr auf konkrete Menschen bezieht. Ähnlich bezieht sich die abstrakte, „phantastische“ Erkenntnis nur noch auf die allgemeinsten Begriffe, nicht mehr auf die einzelnen Fälle, die darunter befasst sind. Ein abstrakter Wille schließlich verliert
12 Siehe Kierkegaard, 1997, S. 53 ff. (KzT, Erster Abschnitt, C, B, b). 13 Vgl. zum Folgenden: Kierkegaard, 1997, S. 32 ff. (KzT, Erster Abschnitt, C, A, a, α). 14 Kierkegaard, 1997, S. 33.
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sich in Projekten und Vorsätzen und versäumt, die Handlungen vorzunehmen, die sich „noch heute, noch in dieser Stunde, noch in diesem Augenblick durchführen“ lassen.¹⁵ Die Unendlichkeit bzw. Phantastik ist mithin nicht eine Eigenschaft der Form oder der Intensität der entsprechenden Akte und Einstellungen, sondern ihrer Objekte. Die Objekte sind es, die in dieser Verzweiflungsform von einer Allgemeinheit und Abstraktheit sind, dass sie sich buchstäblich verflüchtigen. In solchen Objekten wird daher weder etwas empfunden, noch erkannt, noch angestrebt. Das Bewusstsein des „unendlichen“ Selbst, das ihm das Gegenteil suggeriert, beruht vielmehr nur auf Einbildungen (Phantasmata). Kierkegaard betont hier wie auch an anderen Stellen von Die Krankheit zum Tode, dass der Mensch eines phantastischen Selbst sich weder krank oder unglücklich fühlen, noch erfolglos oder gar ein gesellschaftlicher Außenseiter sein muss. Am äußeren Ge- oder Misslingen eines Lebens lässt sich das Vorliegen von Verzweiflung nicht festmachen. Verzweiflung ist daher keine psychische Krankheit, noch ist sie Ausdruck eines sich „verzweifelt“ fühlenden oder empfindenden Bewusstseins.¹⁶ Sie ist keine mindere Form von Subjektivität, welcher bestimmte Vermögen fehlten oder degeneriert wären. Sie ist schließlich auch keine Form des unsozialen, „beziehungsgestörten“ Verhaltens. Verzweiflung ist vielmehr ein objektiver Zustand des Menschen in dem Sinne, in dem wir von jemandem sagen, er befinde sich in einer verzweifelten Lage. Objektiv ist nach Kierkegaard die Lage des phantastischen Selbst darin „verzweifelt“, dass es sich im Umgang mit dem Wirklichen und Konkreten nicht mehr auf dieses selber bezieht, sondern nur noch auf dessen übersteigerte Surrogate (der einzelne Mensch wird, entsprechend dem oben Gesagten, zum bloßen Exponenten der „Menschheit“; der wirkliche Gegenstand zum bloßen Repräsentanten höherer Ideen; die konkreten Handlungen zu geringgeschätzten, „bloßen“ Mitteln übergeordneter Zwecke). Doch wenn das verzweifelte Selbst weder unglücklich noch erfolglos, weder unmoralisch noch unsympathisch sein muss, dann stellen sich zwei Fragen:Worin soll der von Kierkegaard beklagte Übelstand für den Menschen liegen? Woran, d. h. an welchem Kriterium, soll jener durch den Menschen erkennbar sein? Befassen wir uns mit der ersten Frage. Kierkegaard klärt den Zusammenhang zwischen der (phantastischen) Unendlichkeit der Objekte der Handlungen sowie der Einstellungen des verzweifelten Selbst einerseits und dessen Verzweifeltsein andererseits nirgends. Aber er ist aus dem bisher Beschriebenen ohne Schwierigkeit zu entwickeln. „Ein Selbst zu sein“ bedeutet ja, die Synthese und d. h. die 15 Kierkegaard, 1997, S. 34 f. 16 Vgl. auch Kierkegaards Erläuterungen und Beispiele in dem Textstück „Jene Verzweiflung, die nichts davon weiß, dass sie Verzweiflung ist …“, Kierkegaard, 1997, S. 47 ff. (KzT, Erster Abschnitt, C, B, a).
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Balance zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit im Verhältnis des Selbst zu wahren. Gemäß dem, was wir bisher erfahren haben, bedeutet dies somit, dass unser intentionales Handeln auf Objekte gehen soll, welche diese Synthese von Endlichkeit und Unendlichkeit darstellen. Selbstsein bedeutet damit nicht etwa einen dispositionellen Zustand, der sich über bestimmte Vermögen und Kompetenzen definierte, sondern Vollzüge bestimmter Typen von Akten, und zwar solche des Wollens, des Fühlens und des Erkennens.¹⁷ Charakterisiert werden diese Akttypen über bestimmte Objekttypen, d. h. Typen (intentionaler) Gegenstände, die bestimmte Eigenschaften aufweisen. Kierkegaards Zusammenführung des intentionalen Handelns menschlicher Subjekte und der Bewertung von Ge- oder Misslingen ihres Selbstseins lässt nur den Schluss zu, dass sich das Selbstverhältnis (Verhältnis2) des Menschen in denjenigen Gegenständen und ihren Eigenschaften ausdrückt, auf die seine Einstellungen und Handlungen gehen. Nach dieser Position sind es also erst die Einstellungen, die wir bilden, die Maximen, die wir wählen, die Entscheidungen, die wir treffen, und die Handlungen, die wir vollziehen, die uns in ein Selbstverhältnis bringen und damit zu einem „Selbst“ werden lassen. Abgesehen von der Exposition notwendiger Bedingungen solchen „Selbstseins“ kann es damit auch kein allgemeines oder abstraktes Selbst, das (nur) noch „verwirklicht“ werden müsste, geben. Jedes Selbst ist nach Kierkegaard also notwendig durch individuelle Merkmale bestimmt, entsprechend der Besonderheit und Konkretion der Wirklichkeitsbezüge, in welchen Menschen stehen und in welchen sie zu handeln haben. Ein „Selbst“ zu sein bedeutet somit nichts anderes als etwas Bestimmtes zu fühlen oder zu empfinden, etwas Bestimmtes zu erkennen und etwas Bestimmtes zu wollen oder abzulehnen. Da wir nach Kierkegaard unser Selbstsein verfehlen können, müssen alle solchen emotiven, kognitiven und volitiven Akte Resultat freier Wahlen sein. Ein Selbst zu sein bedeutet mithin, frei etwas zum Objekt unserer Handlungen zu bestimmen. Kierkegaard beschreibt nirgends, weder in Die Krankheit zum Tode noch in anderen Schriften, welche Objekte ein gelingendes „Selbst“ zu wählen hätte. Würde er dies tun, wäre er auch selber wieder bei dem „allgemeinen“, dem phantastischen Selbst angekommen, das er in dem KzT-Abschnitt über die „Verzweiflung der Unendlichkeit“ so beredt diskreditiert. Also kann Selbstsein nicht in der Wahl spezieller, approbierter Objekte oder Objektklassen unseres Handelns liegen, sondern nur darin, Objekte mit bestimmten Eigenschaften zu wählen.¹⁸ Das Missverhältnis im Selbstsein und d. h. die Verzweiflung kann in nichts anderem
17 Zu bemerken ist hier, dass der Glaube bei Kierkegaard nicht zu einem dieser Handlungstypen gehört. 18 Interessanterweise schließt dies auch aus, Gott zum Objekt des Handelns wählen zu können.
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bestehen als darin, Objekte unserer intentionalen Handlungen zu wählen, welche z. B. die Eigenschaft, eine Synthese aus Endlichkeit und Unendlichkeit darzustellen, nicht aufweisen. Solche Handlungen sind mithin auch nicht bloß äußere Kennzeichen eines verzweifelten Selbst, sondern sie stellen selber Formen von dessen Verzweifeltsein dar. Jedoch sind wir mit dieser Bestimmung noch nicht besonders weit gelangt. Denn wie zu sehen war, beansprucht Kierkegaard, einen Übelstand zu beschreiben, der im Leben eines Menschen weder als solcher bewusst, noch gemäß allgemeiner Kriterien nachweisbar sein muss. Ein geachtetes, sittlich hochstehendes, mit Glücksgütern reich gesegnetes und zufriedenes Leben kann demnach (gleichwohl) verzweifelt sein! Allgemeine bzw. klassische ethische, soziale und eudaimonologische Kennzeichen sind also nach Kierkegaard nicht hinreichend, den Zustand der Verzweiflung konstatieren zu können. Andererseits soll es Kierkegaards Analyse sogar ermöglichen, eine a priori gültige Aussage über alle Menschen zu treffen: eben dass sie – und zwar jeder, ohne Ausnahme – verzweifelt sind.¹⁹ Wenn daher durch Kierkegaard nicht ein oder mehrere neue Kennzeichen eingeführt werden können, an welchen das Missverhältnis im Selbstsein und damit die Verzweiflung sowohl definierbar, als auch identifizierbar sind, dann dürfte es sich bei seiner Verzweiflungsanalyse lediglich um eine geistreiche Hypothese handeln und um mehr nicht.
4 Die Verzweiflung „vor Gott“ (Sünde) und der Glaube als Fundament des Selbstseins Erst im „Zweiten Abschnitt“ von Die Krankheit zum Tode bietet Kierkegaard eine Überlegung auf, die tatsächlich geeignet ist, die Frage nach der Legitimation seiner Diagnose menschlichen Selbstseins zu beantworten. Gemeint ist seine Behauptung, dass „vor Gott oder mit der Vorstellung von Gott“ verzweifelt zu sein, Sünde ist.²⁰ Kierkegaard behandelt in diesem Abschnitt seines Werkes sowohl verschiedene Definitionen von Sünde, als auch verschiedene ihrer Spielarten. Wenn wir aber von dem christlichen Kontext seiner Erörterungen erst einmal absehen, ist „Sünde“ für Kierkegaard das Bewusstsein des Menschen, kein Selbst zu sein, und
19 Dies erhellt vor allem aus der Allgemeinheit der Sünde, vgl. etwa Kierkegaard, 1997, S. 139 (KzT, Zweiter Abschnitt, Drittes Kapitel, B, B), und Kierkegaards Erbsündenlehre in seinem Werk Der Begriff Angst. 20 Kierkegaard, 1997, S. 87 ff. (KzT, Zweiter Abschnitt).
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genauer dasjenige Bewusstsein, sich nicht so zu sich selbst zu verhalten, dass der Mensch sich dabei und dadurch zu dem Anderen verhält, durch das er gesetzt wurde. Kierkegaard hat schon im „Ersten Abschnitt“²¹ von Die Krankheit zum Tode dies als die höchste Form der Verzweiflung bezeichnet, da sie mit dem Bewusstsein darüber verbunden ist, worin die Verzweiflung besteht, an der das Selbst leidet. Er hat es aber in diesem Abschnitt (trotz seiner Erwähnungen des Christentums) offen gelassen, worin das Andere, das das Selbst gesetzt hat, bzw. die Macht, in der das Selbst gründet, besteht und vor allem, wodurch wir davon Kenntnis haben. Beide Bedingungen müssen aber erfüllt sein, damit ein Bewusstsein über die Verzweiflung und damit die höchste Form der Verzweiflung bestehen können. Ferner muss wiederum die Möglichkeit, beide Bedingungen zu erfüllen, jedem Menschen, jedem Selbst, gegeben sein, damit sein Selbstverhältnis ein freies (und insofern auch ein bewusstes) sein kann oder, wie sich Kierkegaard ja ausdrückt, „durchsichtig“ in der Macht gründet, die es setzte. Ein Selbstverhältnis, dessen konstitutives Verhältnis zu seinem eigenen Grund nur für ein Drittes möglich wäre, nicht aber für es selbst, wäre nicht nur kein bewusstes, sondern auch kein freies Selbstverhältnis.²² Kierkegaard nennt dies Bewusstsein, inwiefern es das Missverhältnis im Selbstverhältnis enthält, nun „Sünde“. „Sünde“ ist ein religiöser Ausdruck. Was sagt aber die Religion (d. h. das Christentum) zum Selbstverhältnis des Menschen? Für die Religion besteht ein wichtiges Element des Selbstverhältnisses des Menschen darin, sich in der Beziehung auf sich „zugleich“ auch auf Gott, als die Macht, die das Selbst gesetzt hat, zu beziehen. Betrachten wir, was Kierkegaard genau darunter versteht: ein Selbst vor Gott zu sein:²³ Die Sache ist die: Jene Gradation im Bewusstsein des Selbst, mit der wir uns bisher beschäftigt haben, befindet sich innerhalb der Bestimmung ‚das menschliche Selbst’ oder jenes Selbst, dessen Maßstab der Mensch ist. Dieses Selbst bekommt jedoch eine neue Qualität und Qualifikation dadurch, dass es das Selbst unmittelbar vor Gott ist. Ein solches Selbst ist nicht
21 Kierkegaard, 1997, S. 56 ff. (KzT, Erster Abschnitt, C, B, b). 22 Berücksichtigt man den Freiheitsgesichtspunkt nicht, wie er sich für Kierkegaard in der ethischen und religiösen Dimension des Selbstverhältnisses ausdrückt, dann kann man etwa zu Günter Figals Position gelangen, dass von Kierkegaard das „Verhalten des Selbst als ein wesentlich scheiterndes“ verstanden werde (Figal, 2001, S. 17). Doch dem ist nicht so. Die Menschen sündigen nicht kollektiv oder generisch, sondern distributiv („jeder einzelne“). Die Sünde liegt in der Tendenz des Menschen zur Selbstabschließung begründet („verzweifelt man selbst sein wollen“), nicht in einem wesentlichen „Defekt“ (Figal, 2001, S. 18 f.). Doch ist die Abkehr von der Sünde durchaus eine Voraussetzung für den Glauben. Daher führt die Sünde (indirekt) zur Gemeinschaft mit Gott und trennt den Menschen nicht nur von Gott bzw. seinem eigenen „Selbst“. 23 Kierkegaard, 1997, S. 89 – 91.
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mehr das nur menschliche Selbst, sondern,was ich in der Hoffnung, nicht missverstanden zu werden, das theologische Selbst nennen möchte, das Selbst unmittelbar vor Gott. Und welch eine unendliche Realität bekommt das Selbst durch das Bewusstsein, vor Gott zu existieren, ein menschliches Selbst zu werden, dessen Maßstab Gott ist! […] Der Maßstab für das Selbst ist stets dasjenige, vor dem es unmittelbar Selbst ist, das aber ist ja wieder die Definition, was ‚Maßstab’ ist. […] Die Verzweiflung potenziert sich im Verhältnis zum Bewusstsein des Selbst; doch das Selbst potenziert sich im Verhältnis zum Maßstab für das Selbst, und unendlich, wenn Gott der Maßstab ist. Je mehr Gottesvorstellung, desto mehr Selbst; je mehr Selbst, desto mehr Gottesvorstellung. Erst wenn sich ein Selbst, als dieses bestimmte einzelne, dessen bewusst ist, vor Gott zu sein, erst dann ist es das unendliche Selbst; und dieses Selbst sündigt nun vor Gott.
Zum einen ist hier gleich am Anfang des Textstückes die ungewöhnliche Formulierung zu bemerken: „jenes Selbst, dessen Maßstab der Mensch ist“. Sie könnte als ein Ausgangspunkt für die Unterstellung einer philosophischen Anthropologie verstanden werden, die Kierkegaard im „Ersten Abschnitt“ von Die Krankheit zum Tode verhandelt hätte, und deren Überbietung oder Erweiterung die nun folgende „theologische“ Anthropologie wäre. Doch kann die Gegenüberstellung vom „Menschen als Maßstab des Selbst“ und „Gott als Maßstab des Selbst“ schwerlich überzeugen, denn Kierkegaard hat bereits ganz zu Anfang seiner Schrift (s.o. Abschnitt 2) festgestellt, dass der Mensch ein „abgeleitetes, gesetztes Verhältnis“²⁴ und nicht ein selbstgesetztes Verhältnis ist. Somit bezeichnet der Bewusstseinsgrad des Menschen, in dem der Mensch selbst der „Maßstab“ ist, nicht etwa eine anthropologische Option, sondern den Zustand der Verzweiflung. Er bezeichnet genauer den Zustand der Verzweiflung, in dem der Mensch sich noch nicht oder noch nicht vollständig dessen bewusst ist, dass und wie sehr er verzweifelt ist. Ein Bewusstsein, für das solches der Fall ist, tritt erst dann auf, wenn der Grund des Selbstseins, zu dem sich das Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, zu verhalten hat (Verhältnis2*), bekannt ist. Da damit auch allererst die Bedingung der positiven Einheit des Selbstverhältnisses erfüllt ist, ist die höchste Form der Verzweiflung zugleich derjenige Zustand, von dem aus das gelingende Selbstverhältnis möglich wird. Mit der „Potenzierung“ der Verzweiflung ist diejenige der Gottesvorstellung und damit diejenige des Selbst verbunden! – Doch was soll es heißen, dass im Bewusstsein der Sünde die Gottesvorstellung bzw. Gott als der Maßstab des Selbst fungiert? Wir hatten gesehen (s.o. Abschnitt 3), dass das Verhältnis – das Selbst – sich dadurch zu sich verhält, dass es sich frei etwas zum Gegenstand des Fühlens, Erkennens oder Wollens setzt (Verhältnis2). Das gelingende Selbstverhältnis (Verhältnis2*) wird indessen nicht durch die Beziehung zu besonderen Objekten 24 S.o. Abschnitt 2 u. Fußnote 6.
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bestimmt, sondern dadurch, dass diese Objekte eine Synthese von Endlichkeit und Unendlichkeit, Zeitlichem und Ewigem, Freiheit und Notwendigkeit darstellen.Wenn dies aber nicht von den Objekten selber bestimmt wird, wovon hängt es dann ab, dass sie eine solche Synthese darstellen? Die Religion (das Christentum) thematisiert dies Setzen negativ, indem sie das misslingende Verhältnis als Sünde, als Verfehlen des Selbst vor Gott, begreift. Damit ist klar, dass das Gelingen des Verhältnisses auch davon abhängen muss, dass das, was sich der Mensch frei zum Objekt des Fühlens, Erkennens und Wollens setzt, er vor Gott und d. h. mit der Vorstellung von Gott setzt. Nur dadurch, dass dies Setzen vor Gott geschieht, ist es also möglich, dass die Objekte, vermöge derer sich das Verhältnis zu sich selbst verhält, eine Einheit von Endlichkeit und Unendlichkeit usw. darstellen. Somit können wir feststellen, dass ein Selbst zu sein bedeutet, sich frei etwas vor Gott und mit dem Bewusstsein, vor Gott zu stehen, zum Objekt der Handlung zu bestimmen. Indessen gilt diese Definition auch noch für die „Sünde“ und bezeichnet insofern nur eine notwendige, nicht aber die hinreichende Bedingung für dasjenige Verhältnis, das sich wahrhaft zu sich selbst verhält. Wie also handelt man „richtig“ vor Gott, um ein Selbst zu werden, das sich zu sich selbst verhält? Kierkegaards Antwort hierauf könnte, wenn er tatsächlich „bloß“ ein Philosoph wäre, nur die Exponierung einer natürlichen Theologie sein. Selbst der Rekurs auf eine allgemeine Metaphysik (etwa die platonische Ideenlehre oder eine Theorie des Absoluten bzw. des „Grundes im Bewusstsein“²⁵ usw.) sind ihm mit der Charakterisierung des Verfehlens des Selbstverhältnisses als Sünde (und nicht nur als Irrtum²⁶) verwehrt. Doch da er kein Philosoph ist, sondern ein christlicher Denker, antwortet Kierkegaard auf diese Frage auch nicht mit einer Theorie, sondern mit dem Verweis auf den Glauben und auf die Offenbarung. ²⁷ Im Vertrauen („Glaube“) auf die Wahrheit der Verkündigung („Offenbarung“), dass Christus der Gott ist, die Menschen erlöst hat, ihnen ihre Sünden vergibt usw., und im Gehorsam („Glaube“) gegenüber diesem (geoffenbarten) Gott sich frei etwas zum
25 Vgl. die von Dieter Henrich Friedrich Hölderlin zugeschriebene Theorie in seinem gleichnamigen Werk Der Grund im Bewußtsein. 26 Vgl. Kierkegaards Gegenüberstellung der ethischen (sokratischen) Definition von „Sünde“ und der christlichen in Kierkegaard, 1997, S. 94 ff. (KzT, Zweiter Abschnitt, A, Erstes Kapitel, Zusatz) und S. 99 ff. (KzT, Zweiter Abschnitt, A, Zweites Kapitel). 27 Kierkegaard, 1997, S. 94 ff. (s. voranstehende Fußnote) u. S. 108 f. (KzT, Zweiter Abschnitt, A, Zweites Kapitel): „Aber kann irgend ein Mensch dieses Christliche begreifen? Keineswegs, es ist ja auch das Christliche, also zum Ärgernis. Es muss geglaubt werden. Begreifen ist die Dimension des Menschen im Verhältnis zum Menschlichen; doch Glauben ist das Verhältnis des Menschen zum Göttlichen. Wie wird dieses Unbegreifliche nun vom Christentum erklärt? Ganz konsequent, auf eine ebenso unbegreifliche Weise, dadurch, dass es offenbart ist.“
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Gegenstand des Handelns bestimmen, bezeichnet somit die notwendige und hinreichende Bedingung dafür, ein Verhältnis zu sein, dass sich zu sich selbst verhält, indem es sich zu demjenigen verhält, das es gesetzt hat. Es ist diese Bedingung, die den Menschen sich etwas zum Objekt des Handelns bestimmen lässt, das die Eigenschaften aufweist, eine Synthese von Endlichkeit und Unendlichkeit usw. zu sein. Dem Gott nicht gehorsam zu sein oder seine Offenbarung nicht anzunehmen und somit auch nicht zu glauben, obwohl einem dieser Gott offenbart wurde, resultieren dagegen nur in Verzweiflung und im Bewusstsein der Sünde.²⁸ Aus philosophischer Perspektive sind solche Bedingungen des Selbstseins aber kontingent und somit nicht ableitbar, ja noch nicht einmal postulierbar. Sie sind, wie wir gesehen haben, nicht nur Bedingungen der Erfüllung von Selbstsein, sondern sie sind auch Bedingungen der Erkenntnis (des Wissens) vom „Selbst“ einer solchen Erfüllung (und damit der von Kierkegaard gleich zu Beginn von Die Krankheit zum Tode angesprochenen Durchsichtigkeit im Verhältnis zum Grund²⁹). In der Offenbarung und im Glauben zeigt sich dem Menschen allererst, was sein Selbst ist. Und wie sich nach Kierkegaard in der Offenbarung die Sündhaftigkeit des Menschen offenbart, so offenbart sich darin und dadurch auch erst seine Verzweiflung. Die ganze Verzweiflungsanalyse ruht mithin dem Offenbarungswissen und dem Bewusstsein der Sünde auf. Klammert man diesen Sachverhalt aus und rekonstruiert Kierkegaards Verzweiflungsanalyse soziologisch, psychologisch, subjektivitätstheoretisch usw., d. h. „abstrakt“ und „säkular“,³⁰ dann
28 Mit dieser Definition erhalten auch die Fragen (A), (B) und (C) von Abschnitt 2 (s.o.) ihre Beantwortung. Vgl. zur abschließenden Sündendefinition Kierkegaard, 1997, S. 109 (s. voranstehende Fußnote): „Es ist Sünde, nachdem man durch eine Offenbarung von Gott darüber aufgeklärt wurde, was Sünde ist, vor Gott verzweifelt nicht man selbst oder verzweifelt man selbst sein wollen.“ 29 Vgl. oben Abschnitt 2 u. Fußnote 11. 30 Kierkegaards kritische Auseinandersetzung mit der Philosophie und die Konkurrenzsituation, in der er sich insbesondere mit Hegel und dem dänischen Hegelianismus sah, haben Anlass dazu gegeben, Kierkegaard vor allem als Philosophen zu sehen (vgl. dazu die Angaben oben in Fußnote 3, insbes. die Arbeiten von Pojman und Wesche). Doch die Konkurrenz besteht nicht etwa in dem Anspruch, eine rationalere und besser begründete Theorie zu vertreten. Sie besteht vielmehr darin, dass Kierkegaard beansprucht, eher als die von ihm kritisierten Positionen die Wahrheit über den Menschen, seine Lebensbestimmung und sein praktisches Selbstverhältnis („Existenz“) erfasst zu haben. Nicht Rationalität, sondern das Streben nach Wahrheit ist also der Kierkegaard und die von ihm bekämpften Positionen verbindende Boden. Vgl. etwa folgende Bemerkungen aus der Unwissenschaftlichen Nachschrift, Kierkegaard, 2005 b, S. 166 (Erster Teil, Kapitel 1, § 2), die zwar gegen eine falsch verstandene theologische Dogmatik geschrieben sind, sich aber genauso gegen jede Form des „objektiven“ Verständnisses von Subjektivität richten: „Die bescheidene, unmittelbare, gänzlich unreflektierte Subjektivität hält
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entzieht man dem kierkegaardschen Projekt buchstäblich den Boden unter den Füßen und beschwert zusätzlich die eigene Interpretation mit der Bedingung, die nun fortgefallenen epistemischen und normativen Gründe und Voraussetzungen einer solchen Analyse durch eine neue, eigene Theorie erst herbeischaffen zu müssen. Jedem Versuch der philosophischen „Kontextualisierung“ von Søren Kierkegaards Lehre vom Selbstsein sollten die damit verbundenen Herausforderungen jedoch genau vor Augen stehen. – Kierkegaards Lehre mag nicht in dem Sinne christlich sein, dass sie den christlichen Glauben voraussetzte oder die Anerkenntnis der Wahrheit der Heiligen Schrift, um verständlich und relevant zu sein. Christlich ist sie aber darin, dass ihre entscheidende und zentrale These besagt, dass der Mensch nur im Glauben und in der Annahme der Offenbarung zu verstehen vermag, was sein (individuelles und konkretes) Selbst ist, d. h. woher dieser Mensch ist (gegründet in und durch Gott), wer er ist (ein Sünder) und was seine Bestimmung darstellt (die Existenz aus dem Glauben). Kierkegaard erteilt auf eine philosophische Frage somit eine religiöse Antwort. Es mag dem philosophisch Argumentierenden zwar immer noch lohnend erscheinen, den Versuch anzustellen, auf die Frage nach dem Selbstsein des Menschen mit einer Theorie kierkegaardschen Typs zu antworten, d. h. mit der Theorie eines (bewußtseins)transzendenten Grundes menschlicher Individualität und Subjektivität. Doch da die Quelle einer solchen Theorie nicht in der christlichen Offenbarung und ihre epistemischen Voraussetzungen nicht im Glauben liegen, dürfte sie bestenfalls als „von Kierkegaard inspiriert“ bezeichnet werden können, aber nicht mehr als „kierkegaardisch“. Leider interessiert dieser Unterschied die philosophische Kierkegaard-Interpretation von heute nur noch wenig. Es wäre indessen wünschenswert, wenn moderne Interpreten ihr Augenmerk stärker auf das Verhältnis philosophischen und christlichen Gedankengutes in Kierkegaards Werk legten und nicht nur auf die strukturellen und formalen Elemente von Kierkegaards Lehre des Selbstseins.
sich naiv davon überzeugt, daß wenn bloß die objektive Wahrheit feststeht, das Subjekt dann fix und fertig ist, sie sich überzustreifen. Hieran erkennt man gleich die Jugendlichkeit […], die keine Ahnung von jenem hinterlistigen kleinen sokratischen Geheimnis hat, daß der Knoten gerade das Verhältnis des Subjektes ist. Wenn die Wahrheit Geist ist, so ist die Wahrheit Verinnerlichung und nicht ein unmittelbares und höchst ungeniertes Verhältnis zu einer Summe von Sätzen […] [D]as sokratische Geheimnis, das, wenn das Christentum nicht ein unendlicher Rückschritt sein soll, in diesem nur durch eine tiefere Innerlichkeit unendlich gemacht sein kann, ist, daß die Bewegung nach innen geht, daß die Wahrheit die Verwandlung des Subjektes in sich selbst ist.“ Kierkegaard fragt und argumentiert also gewiss nicht „irrational“, doch macht er in seinen Antworten Prämissen und Voraussetzungen geltend, die sich „wissenschaftlich“ oder philosophisch nicht mehr einführen bzw. ausweisen lassen. Vgl. zu Kierkegaards Wahrheitsbegriff auch Hutter, 2007, S. 284 f.
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Sonst droht ihnen, dass sie gerade das in seinem Werk nicht verstehen, was Kierkegaard selber immer das Wichtigste war: den einzelnen Menschen.
5 Postskriptum An Weihnachten 1842 nahm das Leben des Magisters und Pastors Adolph Peter Adler, eines Bekannten Kierkegaards und dänischen Interpreten der Hegelschen Logik, eine schicksalhafte Wendung. Nachdem er den Abend zuvor über das Wesen des Bösen nachgegrübelt hatte, fuhr er mitten in der Nacht aus seinem Bett auf, da ihn ein schauriger Laut weckte. Es war der Erlöser, der zu ihm sprach und der ihm gebot aufzuschreiben, wie das Böse entstanden sei, nämlich dadurch, dass sich die Gedanken der Menschen in sich selbst vertieft hatten. Im Vorwort zu einem Predigtband, in dem Adler über diese Nacht Jahre später berichtet, schreibt er abschließend: „Darauf gebot mir Jesus, mein Ich zu verbrennen und mich in Zukunft an die Bibel zu halten.“³¹ Kierkegaard war, als er von diesem Ereignis Kenntnis erhielt, rundweg fasziniert. Insbesondere dessen Nachwirkungen führten ihn auch zu eigenen literarischen Aktivitäten.³² Adler war durch die Vision, die er hatte, tief erschüttert worden und vermeinte in ihrer Folge, dass ihm eine Offenbarung zuteil geworden sei und er nun gleichsam dazu berufen war, das Evangelium neu zu verkünden.³³ Diese Aussicht schreckte jedoch die dänische Amtskirche und ihre Führung auf. Man untersuchte eilig den Fall, erklärte Adler kurzerhand für verrückt und entließ ihn aus dem Kirchendienst. Adler selber hatte die Entlassung noch zu verhindern versucht, indem er sich von seiner Vokation nachträglich distanzierte, aber vergeblich. Kierkegaard war zwar durch Adlers Versuch, seine Berufung herunterzuspielen, um so sein Amt zu behalten, enttäuscht (wenngleich auch er Adler für verwirrt hielt); bemerkenswert ist aber doch, was er an Adler weiterhin schätzte – dessen religiöses Ergriffensein. Seine Äußerungen zu Adlers spiritueller Erfahrung lassen sich geradezu als Kommentar zum bisher Gesagten lesen. Mit ihnen soll daher dieser Beitrag schließen.³⁴
31 S. dazu v. a. Garff, 2006, S. 508 ff., hier S. 509. Vgl. zu dieser Geschichte und den Folgen, die sie für Adler und Kierkegaard hatte, auch Hannay, 2001, S. 367 ff. u. Paulsen, 1955, S. 317 ff. 32 Vgl. Das Buch Adler und die „kurze ethisch-religiöse Abhandlung“ Über den Unterschied zwischen einem Genie und einem Apostel. 33 Er verbrannte unter anderem alle Hegelschen Schriften, die er besaß. 34 Kierkegaard, 2005 a, S. 482 f. (Das Buch Adler, Viertes Kapitel, § 3: „Adlers Vorzug“).
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Das Gute, das Vorzügliche an Dr. Adler ist, daß er erschüttert ist, ergriffen, daß sein Leben dadurch einen ganz anderen Rhythmus bekommen hat, als den Droschkentrab, in welchem die meisten, religiös verstanden, das Leben durchträumen. Ob es nun asthmatische Betriebsamkeit ist, oder die Lust der Welt, oder abstraktes Denken, oder was nun das Zerstreuende sein mag, gewiß ist, daß die meisten Menschen, religiös verstanden, in einer Art Distraktion und Geistesabwesenheit durch das Leben gehen; sie fühlen niemals das eigene Ich und den Pulsschlag des eigenen Selbst und das Herzklopfen in Selbstbekümmerung; sie leben zu objektiv, um etwas zu fühlen (…) Das Vorzügliche an Dr. Adler liegt darin, daß man von ihm in ernstem und strengem Sinn sagen muß, daß er von einer höhern Macht heimgeholt worden ist; denn vor der Zeit war er freilich in großem Sinn draußen oder außer Landes, damals, als er Hegelianer und Objektiver war. (…) Alle Religiösität liegt in der Subjektivität, in der Innerlichkeit, in der Erschütterung, in dem qualitativen Druck auf die Feder der Subjektivität.
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Jan Kuneš
Das „praktische“ Sein: Zu Heideggers vollständigem Seinsbegriff in Sein und Zeit In § 8 der Einleitung in Sein und Zeit skizziert Heidegger den gesamten Inhalt des Buchprojekts, von dem bekanntlich bloß ein Torso veröffentlicht wurde. Das Werk sollte aus zwei Teilen mit jeweils drei Abschnitten bestehen. Der erste, systematisch orientierte Teil sollte den Begriff einer neuen Ontologie liefern. Er sollte zunächst aus zwei vorbereitenden Abschnitten bestehen, die sich mit der vorbereitenden ontologischen Analytik des Daseins beschäftigen sollten, und dann noch einen dritten Abschnitt enthalten, in welchem zum eigentlichen Vortrag des Begriffs des Seins fortgeschritten werden sollte. Der dritte, in der Buchveröffentlichung von Sein und Zeit nicht mehr veröffentlichte Abschnitt, der von Heidegger „Zeit und Sein“ genannt wurde, sollte als der Abschluss des systematischen Teils die Frage nach dem Sein bzw. nach dem Sinn von Sein beantworten, mit welcher in der Einleitung zu Sein und Zeit das ganze Werk begonnen wurde. Dieser Abschnitt sollte zeigen,was die Wortverbindung ‚Sein und Zeit‘ zu bedeuten hat: Sein aus der Zeit (von Herrmann, 1987, S. 190). Der zweite Teil des Werks sollte das Resultat des ersten Teils mit der Philosophie Aristoteles’, Descartes’ und Kants in Verbindung setzen. Unter den wichtigsten Themen, die in der Einleitung zu Sein und Zeit genannt werden, sind zwei zu nennen: 1. die ontisch-ontologische Verfassung des Daseins und 2. der systematische Zusammenhang der Ontologie und der Wissenschaften. Obwohl Heidegger den ursprünglich geplanten dritten Abschnitt des ersten Teils und den ganzen zweiten philosophiegeschichtlich orientierten Teil von Sein und Zeit nie veröffentlichte, finden sich diese Teile zerstreut in den Vorlesungen Heideggers. Bezüglich der Seinsfrage selbst ist wohl die Vorlesung Die Grundprobleme der Phänomenologie am wichtigsten, die Heidegger im Rahmen der Veröffentlichung seines Nachlasses, welchen er selber entworfen hat, als die erste herauszugebende Veröffentlichung bestimmt hat. In der Anmerkung zur ersten Seite dieser Vorlesung schreibt er: „Neue Ausarbeitung des 3. Abschnitts des I. Teiles von ‚Sein und Zeit‘“. Aber auch die philosophiegeschichtlichen Auseinandersetzungen vor allem mit der Philosophie Kants zeigen, wie Heidegger den Begriff des Seins konzipierte, der in die Veröffentlichung von Sein und Zeit nicht mehr aufgenommen wurde. Den ganzen Vortrag von Heideggers Seinsbegriff kann man also aufgrund dieser Texte rekonstruieren, er ist aber auch der veröffentlichten Einleitung zu Sein und Zeit zu entnehmen. Der folgende Text legt zunächst den systematischen Rahmen des Seinsbegriffs in Sein und Zeit vor. Im Zusammenhang mit der Vorlesung Die Grundprobleme der Phänomenologie, aber auch
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anderen Vorlesungen aus dieser Zeit werden dann die beiden genannten Themen aus der Einleitung in Sein und Zeit diskutiert. Es ist bemerkenswert, dass der Vortrag des Seinsbegriffs in der Vorlesung Die Grundprobleme der Phänomenologie, der die Antwort auf die Frage nach dem Sein bzw. nach dem Sinn von Sein zu liefern hat, mit der Behandlung genau dieser zwei Themen abschließt, die in der Einleitung von Sein und Zeit angesprochen werden. Es ist daher anzunehmen, dass der Bogen des ursprünglich geplanten Werks sich dadurch zumindest in seinem systematischen Teil tatsächlich schließt. Es leuchtet aus diesem systematischen Gesamtrahmen ein, dass Heidegger dem Theoretischen eine besondere Wichtigkeit beimisst. Es wird gezeigt werden, dass er im Zusammenhang mit dem Seinsbegriff die theoretische Einstellung des Menschen höher als die praktische setzt, obwohl er zugleich die These vertritt, dass die theoretische Einstellung nicht ohne den Zusammenhang mit der „zunächst und zumeist“ bestehenden praktischen Einstellung des Menschen zu erklären ist. Seine Erklärung der theoretischen Einstellung verbindet Heidegger mit dem Aristotelischen Begriff von praxis, deren eine und sogar die eigentlichste Form gerade die theoria ist (GA 27, S. 174). Diesen Begriff unterscheidet er vom modernen Begriff des Praktischen, der sich aus dem Gegensatz zum Theoretischen versteht. Wenn Heidegger vom „ursprünglich praktischen Charakter des Theoretischen“ (GA 27, S. 199) spricht, ist der Begriff des Praktischen, ebenso wie auch der Freiheitsbegriff, den er mit diesem Begriff des Praktischen verbindet, modern gesprochen nicht im Sinne des praktisch-instrumentellen Umgangs und Tätigseins, sondern im Sinne des theoretisch erkennenden Wissens zu verstehen, das sich im philosophischen Wissen des Wissens, also im Sich-Wissen des Wissens begründet. Es wird sich aber zeigen, dass mit Hilfe der aristotelischen Begrifflichkeit ein Thema dargestellt wird, das Heidegger eher mit der modernen transzendentalen Philosophie Kants, Fichtes und vor allem Husserls verbindet, als mit Aristoteles. Der Begriff des „Praktischen“ hängt dann wesentlich damit zusammen, wie Heidegger an die Subjekt-Problematik dieser Autoren anschließt, indem er um eine eigenständige Auffassung des Subjekts bemüht ist.¹
1 Dieser Text entstand im Rahmen des Forschungsprojekts der Czech Science Foundation „Overcoming Subjectivism in Phenomenology: An Assesment of Patočka’s Concept of Phenomenality“, P401/11/1747.
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1 Das Sein und das Projekt einer Ontologie Das Sein ist nach Heidegger „das, was Seiendes als Seiendes bestimmt“ (SZ, S. 6). Das Seiende versteht er im umfassenden Sinne als „alles,wovon wir reden,was wir meinen, wozu wir uns so und so verhalten, seiend ist auch, was und wie wir selbst sind“ (SZ, S. 6 f.). In diesem Sinne schließt Heidegger generell an die traditionelle Frage nach dem Sein als dem ‚ens qua ens‘ an. Von der überwiegenden Tradition der Ontologie möchte er sich allerdings absetzen, wenn er betont, dass das Sein selber kein Seiendes ist, und zwar in doppelter Hinsicht: Das Sein ist weder eine Eigenschaft des Seienden, die als eine solche „etwas am Seienden Mit-seiendes“ wäre (GA 26, S. 195) – diejenige Eigenschaft nämlich, dadurch es als Seiendes sich auszeichnet –, noch ist es ein selbstgenügsames Seiendes, von welchem das Seiende seiner Seiendheit nach abhängt. Für Heideggers Auffassung des Seins ist zugleich wichtig, dass das Sein nicht allein die Bestimmung des Seienden als Seienden ist, sondern auch das, „woraufhin Seiendes, mag es wie immer erörtert werden, je schon verstanden ist“ (SZ, S. 6). Das Sein fasst Heidegger als dasjenige auf, was das Seiende als Seiendes verständlich und auf diese Weise zugänglich macht. Es ist Heideggers These, dass,wenn das Sein die Bestimmung des Seienden als Seienden ist, es dies dann gerade im Sinne der Verständlichkeit des Seienden als Seienden ist. Das Sein bestimmt dann das Seiende als Seiendes weder so, dass es in unserem Zugang zum Seienden als eine – selbst seiende – Bestimmtheit erfasst wird, welche die Seiendheit desselben ausmacht, noch so, dass es als ein seiender Ursprung des Seienden erfasst wird, von welchem das Seiende als Seiendes hervorgeht und abhängt. Das Sein ist vielmehr der Zugang zum Seienden selbst und es kann daher keineswegs etwas Seiendes sein, was als ein solches bestimmt und also erst zugänglich gemacht werden müsste. Die Vertrautheit mit dem Sein besteht allein darin, dass es das Seiende, dessen Sein es ist, zugänglich macht. Heidegger sagt in diesem Zusammenhang: „Sein gibt sich ursprünglich und an sich, wenn es sein Seiendes zugänglich macht. […] Wir erkennen immer nur Seiendes, aber nie seiendes Sein.“ (GA 26, S. 195) Mit dem Sein ist man somit nur in Verbindung mit dem Erkennen des Seienden als Seienden vertraut. Das Sein als der Zugang zum Seienden, das es – wohl im umfassenden Sinne der Verständlichkeit des Seienden als Seienden – erkennbar macht, ist dann selbstverständlich nicht wieder als ein Seiendes, nämlich als ein „seiendes Sein“ erkennbar, denn dann würde sich die Frage stellen, was wiederum dieses Seiende als Seiendes zugänglich macht usw. Nach Heidegger transzendiert das Sein alles Seiende. Er sagt: „Sein und Seinsstruktur liegen über jedes Seiende und jede seiende Bestimmtheit eines Seienden hinaus. Sein ist das transcendens schlechthin.“ (SZ, S. 38) Das Sein
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transzendiert jedes Seiende und seine selbst auch seiende Bestimmtheit in dem Sinne, dass es als der Zugang zum Seienden die Erkenntnis jeder seienden Bestimmtheit des Seienden gleichsam erst zu seinem Resultat hat. Das Sein ist dieser Zugang zum Seienden in einem besonderen Sinne: Es ist – wie bereits zitiert wurde – das, „woraufhin Seiendes, mag es wie immer erörtert werden, je schon verstanden ist“. Daraus folgt nun auch die Art und Weise, wie das Sein jedes Seiende und jede seiende Bestimmtheit transzendiert. Es transzendiert sie, indem es dasjenige ist, „woraufhin“ das Seiende erst als Seiendes verständlich wird, indem es also die Bedingung dessen ist, dass das Seiende als Seiendes verstanden werden kann. Die Art und Weise, wie das Sein somit transzendental ist, drückt Heidegger mit anderen Worten auch so aus, dass es „früher“ ist als das Seiende. Als dieses Frühere, das die Bedingung der Verständlichkeit des Seienden als Seienden darstellt, ist es nach Heidegger das Apriori des Seienden, das als ein solches auch von der traditionellen, insbesondere von der neuzeitlichen Ontologie erkannt wurde.² Das Sein und seine Struktur als diese transzendentale und apriorische Bedingung der Seiendheit des Seienden ist nach Heidegger etwas, was durch eine „transzendentale Erkenntnis“ (SZ, S. 38) zu begreifen ist. Was nun diese transzendentale Erkenntnis näher besagt, das wird sich erst aus dem Folgenden ergeben können. Allgemein kann aber bereits jetzt gesagt werden, dass Heidegger sie als Ontologie versteht, die Wissenschaft vom Sein ist.³ Die Ontologie ist diese Erkenntnis, insofern sie das Sein und seine Struktur auffasst und begrifflich bestimmt. Sie soll sich dabei nach Heidegger nicht mit der begrifflichen Bestimmung des Seienden, d. h. des Ontischen befassen – das ist die Aufgabe der einzelnen positiven Wissenschaften. Die Ontologie als die Wissenschaft vom Sein soll sich ausschließlich mit der begrifflichen Bestimmung des Seins als des Apriori des Seienden beschäftigen – also, um sich mit Heidegger kurz auszudrücken: mit dem Ontologischen.
2 „Das Sein ist als Apriori früher als das Seiende.“ (GA 24, S. 27) „Sein ist früher als das Seiende; […] in der Sprache der späteren [d.h. später im Vergleich mit der traditionellen aristotelischen Ontologie – Vf.] Ontologie: a priori. Alles ontologische Fragen ist ein Fragen nach dem und ein Bestimmen des ‚Apriori‘.“ (GA 26, S. 184) „Dieses vorgängig und im vorhinein das Seiende als Seiendes Bestimmende, die Seinsverfassung, die das Seiende als das, das es ist, allererst ermöglicht, ist dasjenige, was in gewisser Weise ‚früher‘ ist als das Seiende, a priori ist.“ (GA 25, S. 37) 3 „Transzendentale Erkenntnis ist ontologische Erkenntnis.“ (GA 27, S. 208) Zum Begriff der Ontologie als der Wissenschaft vom Sein vgl. GA 24, S. 15: „Philosophie ist nicht Wissenschaft vom Seienden, sondern vom Sein oder, wie der griechische Ausdruck lautet, Ontologie.“
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Den Zusammenhang des Seins und des Seienden drückt Heidegger mit dem Begriff der ontologischen Differenz aus.⁴ Er artikuliert sie als das Verhältnis zwischen dem Ontologischen und dem durch das Ontologische bedingten Ontischen, wobei er folgende zwei extreme Auffassungen vermeiden möchte: „Entweder wird alles Ontische in das Ontologische aufgelöst (Hegel) ohne Einblick in den Grund der Möglichkeit der Ontologie selbst; oder aber das Ontologische wird überhaupt verkannt und ontisch wegerklärt, ohne Verständnis der ontologischen Voraussetzungen, die jede ontische Erklärung als solche schon in sich birgt.“ (GA 24, S. 466) Heidegger möchte den mittleren Weg zwischen den beiden zu vermeidenden Extremen gehen, wenn er das Sein als die transzendentale bzw. apriorische Bedingung alles Seienden bestimmt. Das Seiende ist in diesem Bedingungsverhältnis ein vom Sein zu unterscheidendes Moment, wie auch das Sein etwas anderes als das Seiende und etwas vom Seienden Unterschiedenes ist. Allein so kann die Frage nach dem Sein nach Heidegger wirklich gestellt werden. Der Unterschied des Seins und des Seienden darf dann nur soweit bestehen, dass der Sinn der Doppelstruktur Sein/Seiendes bzw. Bedingung/Bedingtes aufrechterhalten bleibt. Mit der ontologischen Differenz wendet sich Heidegger kritisch einerseits gegen Hegel, der sie nach seiner Auffassung im Namen des Seins auflöst, andererseits aber auch gegen diejenigen Konzeptionen, die bloß das Seiende zur Kenntnis nehmen und wiederum das Sein wegstreichen, wie es nach Heidegger in den zeitgenössischen realistisch und objektivistisch orientierten Strömungen der Fall ist. Diese Strömungen könnten, wenn sie dominant werden sollten, dazu führen, dass die Seinsfrage ungestellt bliebe.
2 Ontologie als Phänomenologie Heidegger entwickelt seine Auffassung des Seins im Rahmen einer Phänomenologie. Er verbindet die Seinsfrage als die Frage nach dem Apriori des Verstandenwerdens des Seienden als Seienden mit der phänomenologischen Fragestellung, insofern diese – wie es bei Husserl paradigmatisch der Fall war – nach den apriorischen Bedingungen des Offenbarwerdens des Seienden fragt. Das Verstandenwerden des Seienden als Seienden verbindet Heidegger mit dem Manifestbzw. Offenbarwerden des Seienden als Seienden. Die Fragestellung der Ontologie
4 Explizit wird die ontologische Differenz ab der Vorlesung Die Grundprobleme der Phänomenologie behandelt, sie wird aber der Sache nach als die ontisch-ontologische Unterscheidung bereits im veröffentlichten Teil von Sein und Zeit diskutiert.
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ist nach ihm mit der Fragestellung der Phänomenologie identisch. Er sagt: „Ontologie ist nur als Phänomenologie möglich. Der phänomenologische Begriff von Phänomen meint […] das Sein des Seienden, seinen Sinn, seine Modifikationen und Derivate.“ (SZ, S. 35) Der phänomenologische Begriff vom Phänomen gleicht in diesem Sinne dem ontologischen Begriff vom Sein. Das Sein ist die transzendentale Bedingung, insofern es transzendental bzw. a priori die Manifestation bzw. das Offenbarwerden des Seienden als Seienden ermöglicht. Ontologie ist somit mit der Phänomenologie identisch, weil sie das Sein als die apriorische Struktur des Offenbarwerdens des Seienden als Seienden zu untersuchen und begrifflich zu bestimmen hat. Die Phänomenologie bestimmt das Sein als die „Wissenschaft von den Phänomenen“ (SZ, S. 28), welche die „Begegnisart“ (SZ, S. 31) untersucht, in welcher das Seiende als Seiendes manifest wird. Die Begegnung mit dem Seienden, die durch diese Begegnisart bedingt wird, stellt nach Heidegger einen Vorgang dar, der mit dem Seienden geschieht. Die Manifestation des Seienden selbst ist dann vom Seienden unterschieden. Das Seiende ist etwas gegenüber dem Vorgang der Manifestation Unabhängiges und Indifferentes. Es ist nach Heidegger ein ‚An sich‘, das durch die Manifestation in den Bereich des Offenbarseins tritt, wodurch es ihm ermöglicht wird, sich in seinem ‚An sich‘ zu zeigen. Der phänomenologische Begriff vom Phänomen bezeichnet dann diese Manifestation bzw. die transzendentale oder apriorische Verfassung des Vorgangs derselben. Heidegger nimmt in diesem Zusammenhang Abstand von der Auffassung der Manifestation, nach welcher das Seiende sich allein als ein Phänomen zeigt, welches das wahre ‚An sich‘ des Seienden nicht offenbart, sondern höchstens ein Hinweis darauf ist. Eine solche Manifestation wäre ein Vorgang, in welchem das Seiende sich eigentlich nicht zeigt, sondern sich höchstens als ein Sich-nichtZeigen zeigt. Im Phänomen, wie Heidegger es versteht, zeigt sich das Seiende als Seiendes, das es ist. Das Phänomen ist also nicht ein ‚bloßes Phänomen‘, das hinsichtlich eines sich selbst nicht zeigenden ‚Dings an sich‘ hintergehbar wäre. Das Phänomen ist nach Heidegger ein Sich-Zeigen des Seienden – sein „Sich-anihm-selbst-zeigen“ (SZ, S. 31; vgl. von Herrmann, 1987, S. 358). Die Verfassung dieses Sich-Zeigens untersucht nach Heidegger die Phänomenologie, wenn sie unter dem phänomenologischen Begriff des Phänomens – wie bereits zitiert wurde – „das Sein des Seienden, seinen Sinn, seine Modifikationen und Derivate“ untersucht. Das Sein ist die eigentliche „Begegnisart“,welche das Offenbarwerden des Seienden bedingt. Diese phänomenologische Auffassung des Seins in Bezug auf das Seiende hat Konsequenzen für das Verständnis der ontologischen Differenz. Will Heidegger in ihr nicht allein beim Ontologischen bleiben, bedeutet das, dass er an der Selbständigkeit des Ontischen festhält. Er möchte die Frage nach dem Sein somit in
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Abgrenzung von Hegel nicht allein auf die Manifestation beschränken, die nach Hegel der sich mit sich vermittelnde Geist ist.⁵ Nach Heidegger ist das Seiende etwas, das im Vorgang der Manifestation manifest wird. Heidegger möchte aber auch das umgekehrte Extrem vermeiden, nach welchem man in der Ontologie nur beim manifesten Seienden stehen bleibt, ohne die Frage nach seiner Manifestation und der Bedingungen derselben überhaupt in den Blick zu bekommen. In diesem Zusammenhang kritisiert er unter anderem die realistischen und objektivistischen Strömungen in der Phänomenologie. Er kritisiert diese Strömungen, wenn er sagt, die Ontologie werde in ihnen „nicht als Wissenschaft vom Sein, sondern vom Seienden“ verstanden (GA 26, S. 190).
3 Sein und Dasein Heidegger verbindet das Sein mit dem Ontischen derart, dass er es gleichsam in das Ontische selbst einbezieht. Es ist von zentraler Bedeutung für seine Auffassung des Seins, dass dieses Sein und auch seine Untersuchung an ein Seiendes unter anderen gebunden sind, und zwar an dasjenige Seiende, welches das Sein versteht und welchem aufgrund seines Seinsverstehens das Seiende verständlich bzw. offenbar wird. Dieses Seiende, das nach Heidegger jeder von uns, also jeder Mensch ist, nennt Heidegger bekanntlich das Dasein. Das Dasein ist nach Heidegger dasjenige Seiende, dessen Weise zu sein die Existenz ist. Diese Seinsweise zeichnet es aus und unterscheidet es der Seinsweise nach von anderem Seienden. Existenz – oder besser: Existieren – heißt nach Heidegger: als ein Seiendes unter anderen, aber als ein Selbst in der Welt zu sein, in der mir gewisse Möglichkeiten offen stehen, die ich ergreifen und realisieren kann. Das schließt das Verhalten ein, in welchem das Dasein sich entweder zu seinesgleichen oder zu nichtdaseinsmäßigem Seienden verhält. Die Existenz wird im Seinsverstehen begründet.⁶ Mit dem Verstehen der Möglichkeiten hängt das Offenbarwerden des Seienden, zu welchem ich mich verhalten kann, und auch des Seienden, das ich selbst als das sich verhaltende Seiende bin, zusammen. Aus diesem Grund kann zweierlei be-
5 Vgl. TWA 10, S. 27: „Die Bestimmtheit des Geistes ist daher die Manifestation. Er ist nicht irgendeine Bestimmtheit oder Inhalt, dessen Äußerung und Äußerlichkeit nur davon unterschiedene Form wäre; so dass er nicht etwas offenbart, sondern seine Bestimmtheit und Inhalt ist dieses Offenbaren selbst.“ 6 „Der Mensch ist ein Seiendes, das inmitten von Seiendem ist, so zwar, dass ihm dabei das Seiende, das er nicht ist, und das Seiende, das er selbst ist, zumal immer schon offenbar geworden ist. Diese Seinsart des Menschen nennen wir Existenz. Nur auf dem Grunde des Seinsverständnisses ist Existenz möglich.“ (GA 3, S. 227)
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züglich der Ontologie, wie Heidegger sie versteht, gesagt werden: Wenn die Ontologie nach Heidegger das Sein des Seienden zu untersuchen hat, „wovon wir reden, was wir meinen, wozu wir uns so und so verhalten, […] was und wie wir selbst sind“ (SZ, S. 6 f.), dann muss sie von der Existenz ausgehen, in welcher gerade all dieses Seiende begegnet. Sie muss aber von der Existenz auch deshalb ausgehen, weil sie nach Heidegger mit der Phänomenologie identisch ist, denn allein in der Existenz zeigt sich das Seiende und man kann also allein aufgrund der Existenz das Sein untersuchen, das „in der Begegnisart von Phänomenen zu wissenschaftlicher Bestimmtheit gebracht werden soll“ (SZ, S. 35). Anhand der Existenz zeigt sich, in welchem Sinne das Sein an das Dasein gebunden ist. Es steuert in der Existenz des Daseins das Verstanden- und Offenbarwerden all des Seienden, mit welchem das Dasein in der Existenz vertraut ist – sei es das Seiende, zu welchem es sich verhält, oder es selbst als ein Seiendes, das sich zu anderem Seienden verhält. Dabei gilt, dass der Zugang zu anderem Seienden durch die Existenz vermittelt wird und auf diese Weise mit dem existierenden Dasein zusammenhängt. Es gibt neben dem Dasein generell noch zwei Seinsweisen des Seienden, wie die Seienden im Zusammenhang mit der Existenz vorkommen, und zwar wird das Seiende entweder als das „Zuhandene“ oder als das „Vorhandene“ zugänglich. Die Zuhandenheit und Vorhandenheit des Seienden bezeichnen die Weise, wie das Seiende ist. Was es dagegen inhaltlich, d. h. seinem Wassein nach ist, hängt von seinem ‚An sich‘ ab. Das Zuhandene ist das Seiende, wie es vom Dasein im Gebrauch im Rahmen der praktischen Tätigkeit verstanden wird. Das Vorhandene ist dagegen das Seiende, wie es unabhängig davon verstanden und offenbar wird, dass es im Gebrauch und seiner Bewandtnis zugänglich wird. Als ein solches wird es als ein Ding mit Eigenschaften, das in Relationen mit anderem tritt, verstanden und offenbar. Demgemäß gibt es zwei Weisen der Existenz: die praktische Existenzweise, in welcher wir uns gemeinsam mit anderem Dasein zum Seienden als zum Zuhandenen verhalten und uns selbst dabei als diejenigen verstehen, die es im Rahmen der praktischen Bewandtnis gebrauchen; oder die theoretische Existenzweise, in welcher wir gemeinsam mit anderem Dasein das Seiende als etwas Vorhandenes entdecken und uns selbst als die Erkennenden oder sogar als die Entdecker verstehen. Allein in Bezug auf die so verfasste Existenz macht es Sinn zu sagen, das Sein sei selbst an ein Seiendes gebunden, nämlich an das Dasein. Nach Heidegger ist diese Gebundenheit dermaßen stark, dass er sie sogar als eine Abhängigkeit des Seins vom Dasein versteht. Er drückt dies in einer viel diskutierten Stelle in Sein und Zeit aus, die sich in drei Teilaussagen gliedern lässt: 1. „Allerdings nur solange Dasein ist, das heißt die ontische Möglichkeit von Seinsverständnis, ‚gibt es‘ Sein.“ (SZ, S. 212) 2. „nur wenn Seinsverständnis ist, wird Seiendes als Seiendes zugänglich; nur wenn Seiendes ist von der Seinsart des Daseins, ist Seinsverständnis
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als Seiendes möglich.“ (SZ, S. 212) 3. An derselben Stelle spricht Heidegger von der „Abhängigkeit des Seins, nicht des Seienden von Seinsverständnis“ (SZ, S. 212). Das heißt mit anderen Worten, dass das Sein, nicht aber das Seiende vom existierenden Dasein abhängt. Nach den drei Teilaussagen ist das Bestehen des Seienden ‚Dasein‘ die Bedingung dafür, dass das Seinsverstehen sich vollziehen kann. Erst mit dem faktischen Bestehen des Daseins „ist“ dann das Seinsverstehen, das nach Heidegger auf diese Weise sogar „als Seiendes“ besteht. Allein in diesem Seinsverstehen gibt es nun Sein. Heidegger sagt dasselbe in der Vorlesung Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz: „es gibt Sein nur, wenn Dasein Sein versteht. Mit anderen Worten: die Möglichkeit, dass es Sein im Verstehen gibt, hat zur Voraussetzung die faktische Existenz des Daseins“ (GA 26, S. 199). Das Sein gibt es also im Seinsverstehen und dieses muss mit dem Dasein ontisch bestehen. Nennen wir dies die ontische Bedingtheit des Seins im Dasein. Es bestehen jedoch viele Seiende, ohne dass dadurch auch schon das Seinsverstehen und daher das Sein vorliegen würde, wie Heidegger es versteht. Vom ontischen Bestehen dieser Seienden hängt das Sein also nicht ab. Es hängt nur vom Seienden ab, welches existiert und in seine Existenz das Seinsverstehen und das im Seinsverstehen verstandene Sein derart einbezieht, dass „wir einmal verkürzter Weise sagen dürfen, dass das Sein existiert“ (GA 24, S. 318). Das Sein existiert auf diese Art und Weise mit dem existierenden Dasein. Es existiert mit ihm dabei nicht so, dass es zu seiner Existenz von außen als seine Bedingung hinzutreten würde, so als ob es etwas gegenüber dieser Existenz unabhängig Bestehendes wäre. Eine solche Interpretation könnte zur Annahme eines an sich „seienden Seins“ verleiten, die Heidegger bestreitet, wenn er sagt (wie bereits zitiert wurde), Sein gäbe sich ursprünglich und an sich im Zugang zum Seienden – wobei es diesen Zugang allein in der Existenz gibt. Es gehört nach Heidegger dem Vorgang an, in welchem das Seiende verstanden bzw. offenbar gemacht wird. Heidegger versteht nun diesen Vorgang als den Vollzug des existierenden Daseins selbst. Das Sein hat somit im Dasein selbst seinen Ursprung, so dass man eigentlich auch von der ontologischen Bedingtheit desselben im Dasein sprechen kann. Dasselbe kann Heideggers Gedankengang in der Vorlesung Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz entnommen werden, der in drei Thesen formuliert wird: „1. Seiendes ist an ihm selbst das Seiende, was es ist und wie es ist, auch wenn z. B. Dasein nicht existiert. 2. Sein ‚ist‘ nicht, sondern Sein gibt es nur, sofern Dasein existiert. […] 3. Nur sofern das existierende Dasein sich selbst so etwas wie Sein gibt, kann sich das Seiende in seinem An-sich bekunden, d. h. kann zugleich und überhaupt die erste These verstanden und erkannt werden.“ (GA 26, S. 194 f.)
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Es wird aus der 2. These zunächst noch einmal deutlich, dass das Dasein die ontische Bedingung für das Sein ist. In der 3. These ist aber bereits von der ontologischen Bedingtheit des Seins im Dasein die Rede, indem Heidegger nun davon spricht, dass das existierende Dasein sich selbst das Sein gibt. Auf diese Weise ist das Dasein nicht nur die Bedingung dessen, dass das Sein in seinem Seinsverstehen enthalten sein kann, sondern es ist selbst der Urheber des Seins. In diesem Sinne besteht der Zusammenhang zwischen der ontischen und der ontologischen Bedingtheit des Seins im existierenden Dasein selbst. Das Sein ist die transzendentale Bedingung des Verstandenwerdens bzw. des Offenbarwerdens des Seienden als Seienden. Das Seiende selbst ist vom Vorgang des Verstehens bzw. Offenbarwerdens seiner unabhängig. Andererseits muss aber gesagt werden, dass es als ein solches erst dann zugänglich wird, wenn das Dasein sich Sein gibt. Man kann diesen Sachverhalt nun auf das Dasein selbst übertragen, insofern es selbst die Verfugung der ontischen und ontologischen Bedingtheit des Seins ist. Das Dasein muss als die ontische Bedingung des Seins selbst als ein Seiendes unter anderen Seienden bestehen, es ist sich allerdings als ein solches nur unter der Bedingung bekannt, dass es sich das Sein gibt. Denn es ist bezüglich dieses Vollzugs die ontologische Bedingung des Seins und somit allen Zugangs zu Seiendem, auch zu sich selbst als Seiendem. Was sich an dieser wechselseitigen Bedingtheit zeigt, ist die ontisch-ontologische Verfassung vom Dasein. Einerseits ist es ein real bestehendes Seiendes unter anderem: „ein faktisch existierendes Dasein, ein wirklich existierender Mensch ist natürlich als wirklich Seiender da unter anderen Seienden, er steht auf der Erde, geht unter Bäumen und bewegt sich unter anderen Menschen“ (GA 26, S. 216). Andererseits ist das Dasein selbst der Ursprung oder – wie Heidegger sagt – der Grund des Seins.⁷
4 Dasein und Ontologie Das Dasein als ein existierendes Seiendes ist somit der Ausgangspunkt von Heideggers Ontologie. Die Untersuchung und begriffliche Erfassung des Daseins muss somit nach Heidegger den Anfang der Ontologie bilden, und zwar als „die vorbereitende ontologische Analytik des Daseins als Fundamentalontologie“ (GA 24, S. 319). Sie untersucht dieses existierende Seiende hinsichtlich des Strukturgefüges, das seiner Existenz zugrundeliegt. Als Analytik geht sie nicht zur Reduktion bis auf einfache Elemente zurück, wie es ihr Name zunächst nahelegen
7 Vgl. GA 24, S. 26, wo Heidegger sagt, dass „das Sein in einem Seienden, nämlich dem Dasein, gründet“.
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dürfte, sondern sie soll die apriorische Einheit des Strukturgefüges der Existenz vom Dasein, d. h. die einheitliche Struktur des Daseins als existierenden Seienden artikulieren. „Analytik“ bedeutet dabei ähnliches wie die Analytik im Rahmen der Kritik der reinen Vernunft Kants. Dies gilt auch in dem Sinne, dass sie einen systematischen Fortgang im Rückgang zur einheitlichen Struktur darstellt, die in ihr Schritt für Schritt entwickelt und begriffen werden soll.⁸ Sie soll vorbereitend für die Ontologie sein, „weil sie zur Aufhellung des Sinnes von Sein und des Horizontes des Seinsverständnisses erst hinleitet“ (GA 24, S. 319). In ihr soll sich zeigen, dass das Seinsverstehen, das die Existenz des Daseins begründet, in der zeitlichen Verfassung dieses existierenden Seienden begründet ist. Aus der Zeitlichkeit des Daseins, die das Resultat der vorbereitenden Analytik des Daseins ist, soll nun – eigentlich schon nach dem Programm des nicht veröffentlichten dritten Abschnitts des ersten Teils von Sein und Zeit – die einheitliche Struktur des Seins selber verstanden werden können. Heidegger knüpft an das Resultat der vorbereitenden Analytik des Daseins an und zeigt, dass aus den zeitlichen Ekstasen der Zukunft, der Gewesenheit und der Gegenwart in ihrer Einheit sich ein einheitlicher temporaler Seinshorizont entwickelt, der das Korrelat der ekstatischen Zeitlichkeit ist.⁹ Heidegger versteht diesen Vollzug als Entwurf des Seins, den er die Transzendenz nennt. Die systematische Bedeutung der Transzendenz liegt darin, dass sie die prästruktive Begründung der Intentionalität liefert.¹⁰ Denn in der Transzendenz wird der Bereich der Intentionalität entworfen, der den Bereich der Verhaltungen des Daseins als eines Seienden bedeutet, wenn es in seiner Existenz seine Möglichkeiten versteht und ergreift. Heidegger charakterisiert sie wie folgt: „Transzendenz, Transzendieren, gehört zum Wesen des Seienden, das (auf ihr als Grund) als intentionales existiert, d. h. das in der Weise des Sichaufhaltens bei Vorhandenem existiert. Die Intentionalität ist die ratio cognoscendi der Transzendenz. Diese ist ratio essendi der Intentionalität in ihren verschiedenen Weisen.“ (GA 24, S. 91) Diese Stelle bringt erneut die ontisch-ontologische Verfassung des Daseins zum Ausdruck. Die Transzendenz macht das ontologische Wesen der Intentionalität der Existenz von Dasein aus. Heidegger leiht sich hier das kantische Vo-
8 Zum Begriff der Analytik und seiner Verwandtschaft zur Verfahrensweise Kants in der Kritik der reinen Vernunft vgl. Malpas, 2007, S. 125. Vgl. auch Henrich, 2011, S. 96 ff. Henrich beschreibt Heideggers Verfahren als „eine Folge von Schritten im Rückgang“, und zwar im Rückgang zu einer einheitlichen apriorischen Struktur, und vergleicht dieses Verfahren generell mit Kants transzendentalen Begründungen (Henrich, 2011, S. 99). 9 GA 24, §§ 20 – 22. Vgl. dazu Kisiel, 2007, S. 259 – 262, vor allem aber von Herrmann, 1987, S. 180 – 195. 10 Zum Begriff des Entwurfs als Prästruktion vgl. Henrich, 2011, S. 97.
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kabular aus, um die Verbindung der Transzendenz und der Intentionalität im Rahmen der ontisch-ontologischen Verfassung des Daseins namhaft zu machen. Die Intentionalität deutet als die ‚ratio cognoscendi‘ die Transzendenz an, die das in der Intentionalität vollzogene Verhalten zum Seienden begründet und somit die ‚ratio essendi‘ der Intentionalität ist. Die Intentionalität wird durch die Transzendenz letztlich im zeitlichen ekstatischen Entwurf der temporalen Schemata begründet, die zusammengenommen den einheitlichen Horizont des Seins ausmachen. Heidegger selbst formuliert diese Begründung wie folgt: „Die Zeitlichkeit ermöglicht aufgrund der zu ihrer ekstatischen Einheit gehörigen Einheit der horizontalen Schemata das Verständnis von Sein, so dass es [d.h. das Dasein – Vf.] sich erst im Lichte dieses Verständnisses von Sein zu sich selbst, zu Anderen als Seienden und zu Vorhandenem als Seiendem verhalten kann.“ (GA 24, S. 453) Dieser Entwurf begründet die intentional verfasste Existenz, insofern er das Verhalten des Daseins als eines Seienden zu anderem Seienden als Seiendem steuert, das allein aufgrund des Seinsverstehens möglich ist. In diesem Sinne ist die Intentionalität als die ontische Seite des existierenden Daseins im zeitlichtemporalen Seinsentwurf, der vom Dasein in der Transzendenz vollzogen wird, ontologisch begründet. Auf diese Weise ist das Dasein der Grund seiner selbst als des existierenden Seienden. Den zeitlich-temporalen Vollzug der Transzendenz des Daseins nennt Heidegger „Selbstentwurf schlechthin“ (GA 24, S. 453). Im Vollzug dieses Selbstentwurfs gibt es das Sein. Mit dem Ausweis dieses Selbstentwurfs im Grunde des Existierens des Daseins gilt nach Heidegger die Frage nach dem „Sinn und Grund“ des Seins (GA 24, S. 319) für beantwortet. Dieser Selbstentwurf kommt dem Dasein zu, und zwar in zweierlei Hinsicht: Einerseits – hinsichtlich der ontischen Seite des Daseins – ist es Entwurf seiner selbst als des existierenden Seienden, indem das Dasein sich in ihm den ganzen Bereich seiner Existenz erschließt. Andererseits – hinsichtlich der ontologischen Seite des Daseins – ist es Entwurf, der nicht allein im Dasein geschieht, sondern sein eigener Vollzug ist. Er wird also nicht gleichsam von Außen in das Dasein hineingetragen, in welchem es sich bloß abspielte, sondern ist dessen Akt. Heidegger macht sich dabei anheischig, diesen Akt von den Tätigkeiten hinreichend zu unterscheiden, die in den Bereich der intentionalen Verhaltungsweise des existierenden Daseins gehören. In der Vorlesung Einleitung in die Philosophie aus dem Wintersemester 1928/29 nennt Heidegger den Selbstentwurf das „Sich-zu-verstehen-geben-von-Sein“ (GA 27, S. 205). Er charakterisiert diesen Entwurf als ein Handeln bzw. Tun, über welches er sagt: „Handeln, Tun heißt hier aber nicht ontisch herstellen, sondern übersteigend zeigen.“ (GA 27, S. 206) Das Überstiegene ist dabei das Seiende, das sich erst gegen den Horizont des Seins und durch ihn als Seiendes zeigen kann. Der Seinsentwurf ist nämlich
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„jederzeit und überall, wo und wenn Dasein zu Seiendem sich verhält. Das geschieht aber im Dasein nicht gelegentlich und zuweilen, sondern wesenhaft und ständig, sofern Dasein faktisch existiert. Darin liegt: Das Dasein ist als solches entwerfend. Dieser Entwurf […] ist vorgängiger. Dasein muss sich schon dergleichen wie Sein zu verstehen gegeben haben, um sich zu Seiendem verhalten zu können.“ (GA 27, S. 206) Es gibt bei Heidegger kaum eine deutlichere Begründung der Abhängigkeit des Seins vom Dasein. Der Vollzug des Seins wird an die Existenz des Daseins gebunden, er wohnt dem Verhalten des existierenden Daseins zum Seienden inne, er ist in ihm aber zugleich vorgängig, indem er dieses Verhalten zum Seienden als Seiendem ermöglicht. Das in diesem Vollzug hervorgebrachte Sein ist in diesem Sinne abhängig vom Dasein als das Apriori seiner Existenz. Heidegger nimmt hier deutlich die Verfugung der ontischen und ontologischen Seite des Daseins in Anspruch: Zugleich mit dem Geschehen der Existenz muss das Sein in ihrem Grund immer schon vollzogen werden. Und dieser Grund ist das Dasein selbst. An derselben Stelle äußert sich Heidegger auch näher zum internen Charakter des im Seinsentwurf in Frage kommenden Handelns bzw. Tuns. Er sagt: „Darin liegt erstens ein Charakter des Handelns und zweitens doch zugleich ein Handeln, das sich etwas gibt, sich etwas zu verstehen gibt, hinnimmt und d. h. sich daran hält.“ (GA 27, S. 206) Man kann aufgrund dessen sagen, dass der Selbstentwurf in sich zwei Momente unterscheidet, deren jeder wieder eine Handlung bzw. eine Teilhandlung ist. Er ist das Verhältnis zu etwas, was er sich zugleich gibt, derart, dass er es hinnimmt und sich daran hält. Im Rahmen der ekstatisch-horizontalen Verfassung des Selbstentwurfs besagt dies, dass die durch die ekstatische Zeitlichkeit entworfenen temporalen Schemata selbst nicht mehr ekstatisch sind, sondern den Charakter des Horizonts haben.¹¹ Während die Zeitlichkeit letztlich die „ekstatisch, d. h. intentional strukturierten Verhaltungen zu etwas“ (GA 24, S. 453) ausmacht, ist der temporale Horizont des Seins das Korrelat derselben, welches im Grunde von allem in den intentionalen Verhaltungen Intendiertem liegt. Dieses temporale Korrelat ist nicht selbst wieder ekstatisch, sondern eben horizontal. In einem gewissen Sinne kann man vom Selbstentwurf des Seins als von einem aktiv-passiven sprechen. In der Sekundärliteratur wird in diesem Zusammenhang auf Heideggers KantInterpretation und dabei insbesondere auf den Punkt hingewiesen, an welchem Heidegger auf den aktiv-passiven Charakter der transzendentalen Begründung im
11 Vgl. dazu von Herrmann, 1987, S. 195.
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Zusammenhang mit der Kritik der reinen Vernunft zu sprechen kommt.¹² Heidegger findet im Grunde der kantischen Begründung eine einheitliche Ich-Struktur, die er als eine Handlung bzw. „Spontaneität des Ich“ auffasst, die sich intern in zwei Teilhandlungen gliedert: diejenige der Apperzeption und diejenige der Selbstaffektion, wodurch nach Heideggers Interpretation von Kants Zeitauffassung das Ich sich mit der Zeit affiziere. Heidegger sagt: „Diese Spontaneität des Ich (des Selbst) ist also gleich ursprünglich reine Apperzeption und reine Selbstaffektion, reines Ich denke und Zeit.“ (GA 21, S. 342) Das Apperzeptionsmoment ‚Ich denke‘ versteht Heidegger als den aktiven, die kantische Zeit demgegenüber als den passiven Bestandteil der Ich-Spontaneität, wobei beim passiven Bestandteil Heidegger im Sinn hat, dass die Zeit nach Kant die apriorische Dimension des Gebbaren überhaupt ist. Der Sinn der ganzen einheitlichen Handlung des Ich ist die „entgegenstehenlassende Zuwendung“, die es erlaubt, dass das Seiende, das in der Existenz begegnen kann, sich als das Entgegenstehende zeigen kann (Hoppe, 1998, S. 186). In dieser Interpretation kommt auf den ersten Blick mehr Heidegger als Kant zu Wort. Heidegger versucht hier unter Berücksichtigung des neuzeitlichen Ich-Begriffs – und dabei nicht nur in Rücksicht auf Kant, sondern, wenn er vom Selbstentwurf als Handlung spricht, deutlich auch mit Blick auf Fichte und dessen Ich-Begriff ¹³ – die Grundverfassung des Daseins zu benennen, die seine Subjektivität ausmacht.
12 Vgl. Olafson, 1987, S. 142 f. Den Ansatz Olafsons diskutiert William Blattner in einem heute wohl schon klassischen Aufsatz Is Heidegger a Kantian Idealist?. Das Sein des Seienden versteht er im Zusammenhang mit Kant als „that in virtue of which an entity is an entity (Kant: an object is an object)“ (Blattner, 1991, S. 192). 13 In seiner Besprechung von Fichte sagt Heidegger: „Diejenigen Seinsbestimmungen, die das Seiende solcher Art meinen, was nur zugänglich wird im Zuschreiben, nenne ich Kategorien, kategoriale Aussagen. Dagegen vom Ich, das so ist, das nur je das Ich ist als ‚Ich bin‘, – vom Ich etwas sagen, heißt nie, diesem Seienden als einem anderen seiner selbst etwas zuschreiben, sondern alles ‚Ich bin so und so‘ heißt: Ich stelle mich in diese und jene meine Aufgabe, ich verstehe mich in meinem Existieren so und so, d. h. ich existiere so und so. Die Seinsbestimmungen des Ich, des menschlichen Daseins sind grundsätzlich keine Kategorien. Ich nenne sie Existenzialien, aber nicht um ein neues Wort einzuführen, auch nicht um eine Klasse von Kategorien anders zu benennen, sondern um von vornherein das Problem zu zeigen, dass hier von Kategorien überhaupt nicht die Rede sein kann. Gerade hier bei dem ‚Ich bin‘ kann sich die Philosophie am wenigsten der Frage nach dem Sein entziehen.“ (GA 28, S. 108) Zum FichteBezug Heideggers vgl. Stolzenberg, 2003.
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5 Dasein und Subjekt Die subjektivitätstheoretischen Konnotationen des Daseinsbegriffs werden bei Heidegger zu dieser Zeit deutlich. Sie können einerseits dem Umstand zugerechnet werden, dass Heidegger seinen Daseinsbegriff mit Hilfe der bereits vorliegenden Theorien verständlich macht, die zur traditionellen Subjektivitätstheorie zu zählen sind. Die Rede vom Subjekt bedeutet in diesem Zusammenhang oft die Annäherung an eine Theorie, mit welcher sich Heidegger kritisch auseinandersetzt, gleichsam eine Übersetzung eigener Problematik in die Terminologie der kritisierten Theorie. Damit sollte man sich aber nicht zur Annahme verleiten lassen, dass Heidegger in seiner Ontologie die Subjektproblematik verabschiedet. Denn die subjektivitätstheoretischen Konnotationen des Daseinsbegriffs finden sich bei ihm andererseits auch und vor allem deshalb, weil er um eine selbstständige Subjektivitätsauffassung bemüht ist, die aus einer kritischen Auseinandersetzung mit der ganzen Tradition hervorgeht und diese Problematik auf dem Boden seiner eigenen Ontologie zu rekonstruieren sucht. Worauf er dabei hinaus will, ist eine Konzeption des existierenden Subjekts (GA 28, S. 360).¹⁴ Bei der Formulierung dieser Konzeption setzt Heidegger sich kritisch mit zwei Positionen auseinander, wobei die ontisch-ontologische Verfassung des Daseins den Leitfaden dieser Kritik bildet. In Heideggers Terminologie gesagt darf das Dasein zum einen nicht auf das ontisch sich zu anderem Seienden verhaltende Seiende reduziert werden, dessen Verhaltensweise nicht in der Transzendenz als der ontologischen Seite des Daseins begründet ist. Das Dasein darf aber zum anderen genauso wenig auf seine bloß ontologische Seite, also auf die bloße Transzendenz reduziert werden. Diese Annahme würde zur Annahme eines Subjekts führen, das selbst kein Seiendes in der Welt ist, oder dessen Bezug auf ein solches Seiendes unklar bleibt, das also weltlos ist. Das existierende Subjekt zeichnet sich nach Heidegger dagegen durch die ontische und ontologische Seite zugleich, und zwar in einem nicht-dualistischen Sinne aus. Die erste kritisierte Position ist nach Heidegger paradigmatisch in Descartes’ Unterscheidung von res cogitans und res extensa vorgezeichnet. Mit der Kritik der zweiten Position, d. h. der Annahme eines weltlosen Subjekts, richtet sich Heidegger gegen Kant und Husserl.¹⁵ Er wendet sich kritisch zum einen gegen Husserls Auffassung der
14 Zu Heideggers Auffassung einer solchen Rekonstruktion, die zur Annahme des existierenden Subjekts führt, vgl. Olafson, 1987, 1. Kapitel „Critique of the Cartesian Tradition“ und S. 146. 15 Heidegger schreibt Kant und Husserl gelegentlich auch die erste kritisierte Position zu. Diese Kritik dürfen wir beiseitelassen, denn sie erledigt sich allein durch den Hinweis auf Kants Kritik der cartesianischen Psychologie und Husserls Kritik an der Naturalisierung und Psychologisierung der Subjektivität.
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Subjektivität als Bewusstsein, dessen Korrelat die Welt als Horizont, d. h. als apriorischer Sinnzusammenhang des intentional Gebbaren ist. Die Welt stellt nach Husserl „bloßes intentionales Sein“ für das Bewusstsein und im Bewusstsein dar (Hua 5, S. 106). Die Gegebenheiten sind die Transzendenzen in der Immanenz des Bewusstseins, wobei die Welt als Horizont die gesamte und „eigenartige“ Transzendenz ist.¹⁶ Zum anderen kritisiert Heidegger Kant, indem die phänomenale Welt nach Kant den Inbegriff aller möglichen Erkenntnis darstellt, die in der transzendentalen Subjektivität begründet wird. Heideggers Kritik dieser zweiten Position, die nach ihm das weltlose Subjekt behauptet, ist wohl ihrem systematischen Anspruch nach am problematischsten. Mit seiner Auffassung widerspricht Heidegger zum einen der Intention der Phänomenologie Husserls, in welcher Husserl dem real sich in der Welt vorfindenden Menschen die transzendentalen Grundstrukturen dieses seines In-der-Welt-seins aufzeigen möchte. Genauso wenig stimmt Heideggers Beschreibung mit dem systematischen Anliegen Kants überein. Denn für Kant ist – wie die Standardinterpretation mit Recht besagt – das Subjekt der Grund der Erkenntnis der Welt, von der es selbst ein Glied ist.¹⁷ Systematisch gesehen arbeitet Heidegger mit seinem Begriff des existierenden Subjekts weiter am Begriff des Subjekts bzw. des Ich, den Kant und Husserl lieferten. Nach Husserl gilt: „Wir Menschen selbst sind Subjekte, die die Welt erfahren, erkennen, bewerten, behandeln; und zugleich sind wir Weltobjekte und als das eben Objekte unseres Erfahrens, Wertens, Handelns.“ (Hua 7, S. 243) Das Subjektsein entspricht dem transzendentalen Ich und das Weltobjektsein dem empirischen Ich, welches „das Ich als Person, als Ding der Welt“ ist (Hua 2, S. 44). Die Beschreibung der zwei Seiten des Ich – die bei Husserl oft vorkommt – stammt in diesem Fall aus der weniger bekannten Studie Kant und die Idee der Transzendentalphilosophie (1924), in welcher er den sachlichen Anschluss seiner Phänomenologie an Kant diskutiert. Er vergisst jedoch zu bemerken, dass genau dieselbe Doppelstellung des Ich auch bei Kant vorliegt. Der Mensch ist nach Kant zugleich „Ich als Subjekt“ und „Ich als Objekt“, das letztlich „gleich andern Gegenständen außer mir, die Sache“ ist (AA 20, S. 270), ohne dass durch diese zwei
16 Die Welt ist dabei „eine eigenartige – nicht konstituierte – Transzendenz, eine Transzendenz in der Immanenz“ (Hua 5, S. 124). 17 Wilfrid Sellars beschreibt die transzendentale Begründung Kants als die Aufgabe „to explicate the concept of a mind that gains knowledge of the world of which it is a part“ (Sellars, 1967, S. 635). Ähnlich versteht Dieter Henrich die Fragestellung Kants, wenn er sagt, dass Kant immer davon ausgeht, „that mental activity always implies a world within which such activity occurs“ (Henrich, 2008, S. 19).
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Seiten des Ich jedoch ein Dualismus begründet werden könnte.¹⁸ Diese nichtdualistische Auffassung des Ich beschreibt Kant auch in der Kritik der reinen Vernunft: der Mensch ist sich „einesteils Phänomen“ unter anderen, „anderenteils“ wird er aber mit sich durch „bloße Apperzeption“ als Subjekt der Erkenntnis vertraut (KrV, A 546/B 574). Das kantische Ich bleibt also ähnlich wie das Husserlsche Ich keineswegs weltlos. Es zeichnet sich vielmehr durch die beiden Seiten aus, die Heidegger beim Dasein als seine ontische und ontologische Seiten unterscheidet, die bedeuten, dass das Dasein einerseits ein Seiendes unter den anderen ist, andererseits aber der Grund des Vermögens ist, das Seiende und auch sich selbst als ein Seiendes zu verstehen. Es zeigt sich daher eher ein sachlicher Anschluss Heideggers an die Subjekttheorie als eine Distanzierung von ihr. Vom Subjekt spricht Heidegger dabei hauptsächlich, wenn er die ontologische Seite des Daseins im Sinn hat. Mit Blick auf die Phänomenologie Husserls sagt er, dass „Sein ‚im Bewusstsein‘ ist, das heißt verstehbar im Dasein“ (SZ, S. 207).¹⁹ Die ontologische Seite des Daseins charakterisiert Heidegger aber durch seinen Begriff der Transzendenz. In diesem Zusammenhang sagt er: Vielmehr ist die Transzendenz die ursprüngliche Verfassung der Subjektivität eines Subjekts. Das Subjekt transzendiert qua Subjekt, es wäre nicht Subjekt, wenn es nicht transzendierte. Subjektsein heißt Transzendieren. D.h.: das Dasein existiert nicht etwa und vollzieht dann gelegentlich einen Überschritt, sondern Existieren besagt ursprünglich Überschreiten. Das Dasein selbst ist der Überschritt. Darin liegt: die Transzendenz ist nicht irgendein mögliches Verhalten (unter anderen möglichen Verhaltungen) des Daseins zu anderem Seienden, sondern die Grundverfassung seines Seins, auf deren Grunde es sich allererst zu Seiendem verhalten kann. […] ‚Wohin‘ das Subjekt als Subjekt transzendiert, ist nicht ein Objekt, überhaupt nicht dieses oder jenes Seiende, sei es ein bestimmtes Ding oder ein Wesen seinesgleichen oder ein sonstiges Lebewesen. Das Objekt bzw. Seiende, das den Begegnischarakter haben kann, ist das Überschrittene, nicht das Wohin. Wohin das Subjekt transzendiert, ist das, was wir Welt nennen. (GA 26, S. 211 f.)
18 In der Schrift Welches sind die Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibnitzens und Wolf’s Zeiten in Deutschland gemacht hat?, in der Kant die genannte Unterscheidung macht, heißt es, dass durch diese Unterscheidung keine „doppelte Persönlichkeit“ (AA 20, S. 270) eingeführt und begründet wird. 19 Heidegger geht immer noch davon aus, dass zur Phänomenologie „die grundsätzliche Klärung der Notwendigkeit des Rückgangs auf das Bewusstsein“ gehört (Hua 9, S. 265). Er sagt dies in den Textentwürfen, die er in Zusammenarbeit mit Husserl an dem Phänomenologie-Artikel für die Encyklopaedia Britannica geliefert hat. Die phänomenologische Reduktion ist nach ihm „die eigenste, „wundersame“ Existenzmöglichkeit“ (Hua 9, S. 275 Anm.). Er spricht sonst allerdings nicht vom Bewusstsein, sondern vom Seinsverstehen (vgl. Crowell, 2002). Zu Heideggers Anschluss an die phänomenologische Reduktion Husserls vgl. Bernet, 1994.
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Der Umstand, dass vom Dasein als vom Subjekt zu sprechen ist, hängt also mit dem Vollzug der Transzendenz zusammen. Die Subjektivität des Daseins besteht im Vollzug der Transzendenz, den Heidegger – wie oben gezeigt wurde – auch als das Handeln in einem nicht-ontischen Sinne bezeichnet. All die anderen Konnotationen des Daseins – ein Seiendes zu sein, intentional sich zu verhalten usw. – gehören dagegen zur ontischen Seite des existierenden Daseins. Die zuletzt zitierte Stelle enthält aber auch noch einen anderen wichtigen Punkt: Das Sein, das ekstatisch als der temporale Horizont entworfen wird, ist mit der Welt als Horizont, also mit dem apriorischen Sinnzusammenhang des Gebbaren identisch. Deshalb sagt Heidegger auch, dass die „Welt aber das im Seinsverständnis verstandene Sein“ ist (GA 26, S. 282).
6 Existenz und die ontologische Differenz Die Existenz, die durch das Seinsverstehen begründet wird, vollzieht sich nach Heidegger – wie bereits kurz gesagt wurde – auf zwei Weisen: Sie kann sich entweder in der praktischen oder in der theoretischen Existenzweise des Daseins vollziehen. In der praktischen Existenzweise versteht sich das Dasein als der/die Gebrauchende in Bezug auf andere und auf das dem gemeinsamen Gebrauch Zuhandene. In der theoretischen Existenzweise ist es erst auf der Spur dessen, was hinter dem Gebrauch und der zu ihm gehörenden praktischen Erkenntnis das Seiende als das schlicht Vorhandene ist. An ihrem Anfang steht nach Heidegger die Feststellung, dass die praktischen Maßnahmen wegen der Eigenschaften der materiellen Dinge getroffen werden (GA 27, S. 182). Die Dinge können dann auch unabhängig von ihrem Gebrauch als seiend erkannt werden, in welchem auf sie bereits Rücksicht genommen wurde. Die Existenzweise, welche nun die Dinge als solche zu erkennen anfängt, ist nicht mehr ein Teil der praktischen Existenzweise. Das Dasein versteht sich als der/die Erkennende, der/die sich auf das Seiende als das Vorhandene theoretisch bezieht. Heidegger macht deutlich, dass der Umfang des Seienden, zu welchem das Dasein sich gemeinsam mit anderem Dasein verhält, derselbe bleibt. Es geschieht zwar eine Erweiterung der Erkenntnis, oder die Erkenntnis fängt gar erst an, dies ist jedoch bloß eine neue Bezugnahme auf dasselbe Seiende (GA 27, S. 185). Es ändert sich somit die Einstellung des Daseins zum Seienden und zu sich selbst als Seiendem. Das bedeutet – und ist eigentlich darin begründet –, dass das Seinsverstehen sich verändert. Doch bedeutet seine Veränderung nicht, dass es sich qua talis ändert. Das Seinsverstehen selbst bleibt im Grunde dasselbe, es wird in den beiden Existenzweisen des Daseins bloß anders umgesetzt.
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Die praktische Existenzweise verbindet sich mit derjenigen Bezugnahme auf das Seiende, die Heidegger als das alltägliche Besorgen auffasst.²⁰ In dessen Rahmen wird das Seiende im Rahmen des Besorgens gebraucht, in welchem es „als Werkzeug“, noch nicht aber „als Körperding“ (SZ, S. 361) verstanden und überhaupt offenbar wird. Die Bezugnahme auf das Seiende im Rahmen der alltäglichen praktischen Existenzweise hat es generell bloß als Mittel im Rahmen des Zweck-Mittel-Bezugs des Besorgens im Blick (vgl. Bast, 1986, S. 145). Die praktische Existenzweise stellt im Unterschied zur theoretischen diejenige Bekanntschaft mit dem Seienden dar, die das Seiende „zunächst und zumeist“ zum Vorschein bringt und somit irgendwie schon als Seiendes versteht, dies jedoch so, dass das Seiende in Wahrheit noch nicht in seinem ‚An sich‘ zum Vorschein kommt. Dies ist deshalb der Fall, weil das Seiende im praktischen Umgang nur durch seine Funktion im Funktionszusammenhang seines Gebrauchs, nicht aber als es selbst, wie es auch unabhängig von diesem Gebrauch besteht, verstanden und offenbar wird. Somit geschieht nach Heidegger in der praktischen Existenzweise zwar die erste Offenbarkeit des Seienden, es muss zugleich aber bei aller Offenbarkeit von Seiendem, in der sich das Dasein bereits in seiner praktischen Existenzweise hält, „noch eine spezifische Verborgenheit des Seienden existieren“, die nicht mehr die praktische Existenzweise, sondern allein die theoretische Existenzweise beheben kann (GA 27, S. 180).²¹ Damit hängt Heideggers These zusammen, dass das Seinsverstehen, welches bereits die praktische Existenzweise des Daseins begründet, in ihr in einer impliziten Gestalt vorliegt. Es gilt insbesondere hier, dass das Dasein in seiner Existenz geläufig „zwar Sein versteht, aber nicht begreift“ (GA 27, S. 214). Auf diese Art und Weise liegt das Seinsverstehen in der praktischen Existenzweise implizit und unmittelbar vor, es kann allerdings weiter expliziert werden. Diese Explikation nimmt nun die theoretische Existenzweise in Anspruch. Es wurde gesagt, dass die theoretische Existenzweise keine Erweiterung des Umfangs des Seienden, das bekannt wird, sondern allein eine Erweiterung seines Verstanden- bzw. Offenbarwerdens ist. Es geht in ihr nicht um neues Seiendes, sondern um die „neue Bestimmung des Seienden“ (GA 27, S. 185). Die theoretische Existenzweise des
20 Zu dieser Form der praktischen Existenz und zum Verhältnis dieser Form zum Erkennen als der Form der theoretischen Existenz vgl. Bast, 1986, S. 139 ff. 21 Das Seiende wird in der praktischen Einstellung des Menschen zu ihm – wie dies Klaus Held gezeigt hat – auch nach Husserl offenbar bloß „im Licht seiner jeweils leitenden Interessen. Deshalb verweilt sein Blick nicht bei dem, was das Erscheinende als es selbst ist, sondern schweift sogleich über das Erscheinende hinaus, um sich auf das zu richten, wofür es brauchbar ist.“ (Held, 1990, S. 81) Diese Sachlage erzwingt auch bei Husserl den Übergang in die theoretische Einstellung.
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Daseins macht es sich zur Aufgabe, das Seiende zu erkennen, das im praktischen Gebrauch nur implizit zur Kenntnis genommen wurde. Das Dasein richtet sich auf das Seiende in seinem ‚An sich‘ als auf den Gegenstand seiner Erkenntnis. Die darin sich vollziehende Explikation des Seienden nimmt nun aber als seine Bedingung die Explikation des Seins des Seienden in Anspruch. Wie die Explikation des Seins, welche die Explikation des Seienden als solchen bedingt, stattfindet, zeigt Heidegger in seiner Erklärung der Begründung der wissenschaftlichen Bezugnahme auf Seiendes, in welcher die theoretische Existenzweise des Daseins sich vollzieht. Es wurde bereits gesagt, dass das Dasein das Seiende erkennen und dieses Seiende in seinem ‚An sich‘ bestimmen kann, wenn es sich auf es als auf den Gegenstand der Erkenntnis zu richten weiß. Dem entspricht nach Heidegger ein Akt der Vergegenständlichung. Der Akt der Vergegenständlichung liegt nach Heidegger jeder Wissenschaft vom Seienden zugrunde. Es geht in ihm um eine begriffliche Bestimmung und Umgrenzung eines Sachgebiets des Seienden, aufgrund dessen sich die Erkenntnis der Wissenschaft mit ihm beschäftigen kann. Eine solche Bestimmung und Umgrenzung setzt aber das Verstehen des Seins eines Gebiets des Seienden voraus. Somit setzt jede Wissenschaft nach Heidegger eine regionale Ontologie voraus, welche ihre Vergegenständlichung des Seienden begründet.²² Die einzelnen regionalen Ontologien, soll ihr Verfahren nicht kontingent, sondern zwingend sein, müssen in der Frage nach dem Sein ihren Leitfaden haben (SZ, S. 11). Ihr Verfahren muss in einer Ontologie begründet werden, die Heidegger als eine Wissenschaft vom Sein auffasst, welche die Vergegenständlichung des Seins im Begreifen der ekstatisch-horizontalen Verfassung des Seins vollzieht. Die ekstatisch-horizontale Verfassung des Seins wird von der Wissenschaft vom Sein als einer „temporalen Wissenschaft“ in temporalen Sätzen namhaft gemacht (GA 24, S. 460). Heidegger sagt an derselben Stelle: „Weil der temporale Entwurf eine Vergegenständlichung des Seins ermöglicht und eine Begreifbarkeit sichert, d. h. die Ontologie überhaupt als Wissenschaft konstituiert, nennen wir diese Wissenschaft im Unterschied von den positiven Wissenschaften die temporale Wissenschaft.“ (GA 24, S. 459 f.) Eine andere Bestimmung der Wissenschaft vom Sein ergibt sich nach Heidegger daraus, dass die ekstatisch-horizontale Verfassung der eigentliche Inhalt und die Bedingung der Transzendenz des Daseins ist. Heidegger sagt: „Die Vergegenständlichung des Seins kann sich zunächst im Hinblick auf die Transzendenz vollziehen. Die so konstituierte Wissenschaft
22 Vgl. GA 25, § 2. Zum Thema, das hier nicht weiter zu verfolgen ist, vgl. Bast, 1986, insb. S. 162 ff.
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vom Sein nennen wir die im Lichte der rechtverstandenen Transzendenz fragende und auslegende, die transzendentale Wissenschaft.“ (GA 24, S. 460) Der Begriff dieser Wissenschaft bestimmt nun den Sinn der „transzendentalen Erkenntnis“ vom Sein, die in der Einleitung in Sein und Zeit und auch am Anfang dieses Textes genannt wurde. Endlich erklärt Heidegger noch den Unterschied zwischen seiner transzendentalen Wissenschaft und derjenigen Kants: „Zwar deckt sich dieser Begriff der transzendentalen Wissenschaft nicht ohne weiteres mit dem kantischen, wohl aber sind wir imstande, die kantische Idee des Transzendentalen und der Philosophie als Transzendental-Philosophie aus dem ursprünglicheren Begriff der Transzendenz in ihren Grundtendenzen aufzuklären.“ (GA 24, S. 460) Es besteht kein Zweifel daran, dass bereits der interne Zusammenhang der praktischen Existenzweise mit dem Seinsverstehen eine Umsetzung der ontologischen Differenz darstellt, die im Dasein ihr Zentrum hat, indem es dasjenige Seiende ist, das ontisch-ontologisch ist. Aber es leuchtet genauso ein, dass der interne Zusammenhang des intentional verfassten Existierens und des transzendentalen Seinsverstehens erst in der theoretischen Existenzweise voll entwickelt wird, indem diese Existenzweise auch die Explikation des Seins in Anspruch nimmt. Die theoretische Existenzweise kann sich nach Heidegger, selbst wenn sie längst in der ontologischen Fragestellung begründet gewesen ist, auch in der Vergessenheit dieses Ursprungs vollziehen.²³ Wenn ihre Verfahrensweise jedoch vollständig erklärt werden soll, dann zeigt sich die Verfugung der Vergegenständlichung des Seienden und der Vergegenständlichung des Seins als die ausgezeichnete Gestalt der ontologischen Differenz. Die ontologische Differenz nimmt hierbei die Gestalt der expliziten internen Beziehung von Sein und Seiendem an, die als Beziehung der ontischen bzw. positiven Wissenschaften und der ontologischen bzw. wissenschaftlichen Philosophie auftritt. Denn zu dieser Zeit sagt Heidegger von der Philosophie als Ontologie: „Philosophie ist die Wissenschaft vom Sein. Wir verstehen künftig unter Philosophie wissenschaftliche Philosophie und nichts anderes.“ (GA 24, S. 17)
23 Diese Tendenz kritisiert Heidegger ähnlich wie Husserl als eine Art der Krisis im Selbstverständnis der Wissenschaften – am Bekanntesten wohl in seinem Antrittsvortrag als Professor der Freiburger Universität Was ist Metaphysik?. Diesem Thema widmete er sich zuvor in der Vorlesung Einleitung in die Philosophie. Später mündet diese Kritik in die These, dass die Wissenschaft nicht denkt. Diese These besagt nach Heidegger im Grunde genommen nichts anderes als die These über die notwendige, wenngleich vergessene Verbindung der Philosophie und der positiven Wissenschaften im Vortrag Was ist Metaphysik? (vgl. GA 16, S. 705).
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7 Das „praktische“ Sein Die theoretische Einstellung zum Seienden ergibt sich nach Heidegger durch die Überwindung der vorhergehenden praktischen Einstellung zum Seienden dadurch, „dass gerade vom praktisch-technischen Verhalten abgesehen und nur darauf hingesehen wird, wie eben die Dinge an ihnen selbst sind“ (GA 27, S. 182; vgl. GA 25, S. 25 f.). Die theoretische Intentionalität als das Hinsehen auf die Dinge, wie sie sind, schließt zwar das Aufgeben der praktischen Einstellung zu ihnen ein, führt aber nach Heidegger keineswegs zum Aussetzen jedes Handelns und Tuns. Er sagt dazu: Das „nur Hinsehen“ auf die Dinge an ihnen selbst ist keineswegs mit dem bloßen Nichtstun identisch. Das „Nur“ meint überhaupt nicht ein Weniger und eine Einschränkung, etwas Negatives, sondern etwas eminent Positives. Nur hinsehen auf heißt einzig sich darauf verlegen, dass sich die Dinge an ihnen selbst darbieten. Damit kommt zum Ausdruck, dass die Dinge dergleichen gar nicht von selbst tun, auch wenn sie noch so handfest an sich vorhanden sind. Es muss ihnen gleichsam die Gelegenheit verschafft werden, dass sie sich als das Seiende, das sie sind, offenbaren. […] Das betrachtende Verweilen bei den Dingen ist kein Müßiggang; wohl aber bedarf es der Muße, um eine Aktivität im höchsten Sinne zu entwickeln. (GA 27, S. 183)
Die theoretische Intentionalität ist kein Nichtstun, sondern schließt im Gegenteil die Entwicklung der höchsten Aktivität ein. Negativ genommen ist die theoretische Intentionalität zwar ein Absehen vom praktischen Verhalten zum Seienden, dieses Absehen setzt aber bereits die positive Aktivität voraus, in der das Dasein sich auf das Verhältnis zum Seienden verlegt. Dies erfordert auf der ontologischen Seite des Daseins das volle Sich-Verlegen auf das Seinsverstehen, das im Dasein als Selbstentwurf vollzogen wird. Gerade das hält Heidegger für die höchste Aktivität des Daseins, durch welche auf der ontischen Seite des Daseins die theoretische Intentionalität zustande kommt. Es ist deutlich, dass diese Aktivität mit der Vergegenständlichung des Seienden, die in der Vergegenständlichung des Seins begründet wird, zusammenhängt. Wenn die theoretische Einstellung zum Seienden hiermit die Überwindung einer spezifischen Verborgenheit des Seienden ist, setzt sie auf der ontologischen Seite die Überwindung einer ähnlichen Verborgenheit des Seins voraus (GA 27, S. 202). Sie ist die Überwindung des vorontologischen Seinsverstehens, in welchem das Sein zwar verstanden, aber noch nicht begriffen wird. Diese Verborgenheit des Seins hängt dabei nach Heidegger mit der Verborgenheit und begrifflichen Unbestimmtheit der Transzendenz in ihrer ekstatisch-horizontalen Verfassung zusammen. Heidegger sagt von der bisher unbestimmten Transzendenz: „Mit ihr geschieht der obzwar verborgene und zumeist unbestimmte Entwurf
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des Seins des Seienden überhaupt, so zwar, dass sich dieses zunächst und zumeist ungegliedert und doch im ganzen verständlich offenbart.“ (GA 3, S. 235) Im Entwurf des Seins, das bereits vorontologisch vorliegt, ist also das Seiende im Ganzen verständlich und offenbar, aber noch nicht begrifflich bestimmt. Dieser Mangel und die mit ihm zusammenhängende Verborgenheit des Seins kann nun allein durch die Philosophie als Ontologie beseitigt werden. Dadurch kann sich das Dasein auf das Sein selbst verlegen, das es im Selbstentwurf vollzieht. Es verlegt sich dabei auf den Grund seines Existierens. Da nun der Selbstentwurf des Seins in der Transzendenz das Wesen des existierenden Daseins ausmacht, bezeichnet Heidegger diesen Vorgang folgerichtig als das „Wesentlichwerden des Daseins“: Wenn nun die Transzendenz das Grundwesen des menschlichen Daseins überhaupt ausmacht, so geschieht im ausdrücklichen Transzendieren nichts Geringeres als das, dass das wesenhaft transzendierende Dasein im ausdrücklichen Geschehenlassen der Transzendenz wesentlich wird. Dieses Wesentlichwerden des Daseins im ausdrücklichen Transzendieren, das ausdrückliche Fragen nach dem Sein als solchem, ist nichts anderes als das Philosophieren. (GA 27, S. 213)
Das ausdrückliche Sich-Verlegen auf die Transzendenz als das Wesen des existierenden Daseins macht die höchste Aktivität des Daseins aus, in welcher der ausdrückliche Selbstentwurf des Seins geschieht, worin die theoretische Einstellung begründet ist. Durch die theoretische Einstellung zum Seienden, die durch die philosophische Bestimmung des Seins begründet wird, kommt das Dasein zu einer Selbstverwirklichung, die Heidegger einerseits mit seinem Begriff der Freiheit und andererseits mit seinem Begriff der „Wesensgeschichte des Daseins“ (GA 28, S. 353) zum Ausdruck bringt. Von der Freiheit spricht Heidegger im Zusammenhang mit der theoretischen Einstellung zum Seienden wie folgt: Das wissenschaftliche Erkennen aber ist dadurch bestimmt, dass sich das existierende Dasein als frei gewählte Aufgabe die Enthüllung des schon irgendwie zugänglichen Seienden um seines Enthülltseins willen vorsetzt. Das freie Ergreifen der Möglichkeit eines solchen Enthüllens – als Aufgabe der Existenz – ist als Ergreifen des Enthüllens von Seiendem in sich selbst ein freies Sichbinden an das zu enthüllende Seiende als solches. (GA 25, S. 26)
Die Freiheit bedeutet hinsichtlich der theoretischen Einstellung, dass der Übergang vom praktisch-technischen Verhältnis keineswegs irgendwie determiniert ist, sondern als eine frei gewählte und selbstbestimmte Aufgabe des Daseins vorkommt. Es ist dabei deutlich, dass der Sinn dieser frei gewählten Aufgabe des Daseins letztlich darin liegt, dass das Dasein zu eigenem Wesentlichwerden ge-
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langt. Dieser Vorgang findet seine Vollendung in der Philosophie. Im Sinne seines Freiheitsbegriffs sagt Heidegger dazu: Das Seinsverständnis ist sonach die ursprünglichste Bedingung der Möglichkeit der menschlichen Existenz. In den Wissenschaften wird dieses Seinsverständnis in gewisser Weise ausdrücklich; es bringt sich auf Begriffe, und zwar bezüglich bestimmter Gebiete des Seienden, die die Wissenschaften zum Thema machen. Ausdrücklich und eigens thematisch ergriffener Gegenstand wird das Sein in der Ontologie, d. h. in der Philosophie. Diese ist demnach die frei ergriffene Aufgabe der Erhellung und Ausbildung des zum Wesen der menschlichen Existenz gehörigen Seinsverständnisses. Gerade weil aber das Seinsverständnis überhaupt, sei es vorontologisch oder ontologisch, die ursprünglichste und notwendigste Bedingung der Möglichkeit der menschlichen Existenz ist, gerade deshalb ist das Ergreifen der Aufgabe seiner Erhellung, d. h. die Philosophie, die freieste Möglichkeit der menschlichen Existenz. (GA 25, S. 38)
Mit seinem Begriff der Freiheit verbindet Heidegger einen Freiheitsbegriff, der – wenig überraschend – theoretisch und philosophisch ist. Seinen Sinn zeigt eine emphatische Notiz Heideggers an: „ursprünglicher Wissenswillen, d. h.Wissen des Wissens!“ (GA 76, S. 224) In der Freiheit als der Begründung des Wissens und in ihrem Geschehen geht es letztlich also um das Sich-Wissen des Daseins. Zur theoretischen Einstellung, die letztlich in diesem Sich-Wissen begründet wird, erhebt sich das existierende Dasein nach Heidegger in der „Wesensgeschichte des Daseins“. Diese Geschichte, zu welcher die Erhebung aus der praktischen Existenzweise gehört, soll jedes existierende Dasein vollbringen, möchte es seine Freiheit verfolgen. Es wird in dieser Geschichte jedes einzelnen Daseins aber genauso – und nach Heidegger eigentlich deswegen – die allgemeine Geschichte begründet. Man kann es nach Heidegger am Übergang vom mythos zum logos im alten Griechenland namhaft machen, den Platon in seinem philosophischen Höhlenmythos schildert (GA 28, S. 351). Diejenigen, die sich in der praktischen bzw. mythischen Einstellung befinden, sind die Gefesselten in der Höhle.²⁴ Den Übergang aus diesem Zustand des Daseins interpretiert Heidegger wie folgt: „bedeutet dieser Übergang das Entstehen der Wissenschaft und Philosophie, dann zeigen sich damit Wissenschaft und Philosophie als ein Geschehen des Daseins selbst, als befreites Dasein“ (GA 28, S. 354). Der Sinn jeder individuellen, aber auch der allgemeinen Geschichte ist also nach Heidegger das be-
24 Eine ähnliche Analogie zwischen der praktischen und mythischen Einstellung des Menschen findet sich auch bei Husserl im Vortrag Die Krisis des europäischen Menschentums und die Philosophie (Hua 6, S. 314– 348). Ansätze zu dieser Position sind zuerst in einem Fragment Problem einer nicht historischen sondern idealen Genesis der Idee strenger Wissenschaft zu finden, das Husserl Mitte der zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts geschrieben hat (vgl. Hua 7, S. 294).
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freite Dasein in seiner ontisch-ontologischen Verfassung als das Dasein der Wissenschaften und der Philosophie. Mit Blick auf die altgriechische Begründung des Theoretischen nimmt Heidegger aber hauptsächlich auf Aristoteles Bezug. In der Vorlesung Einleitung in die Philosophie erklärt Heidegger seine Auffassung der theoretischen Einstellung sogar mit Hilfe von Aristoteles und dem begrifflichen Rahmen seiner Philosophie. Er spricht davon, dass die theoretische Einstellung das Resultat einer „Urhandlung des Daseins (praxis)“ ist, „in der so etwas wie die theoretische Einstellung möglich wird“ (GA 27, S. 198). Die Urhandlung des Daseins als „die ursprüngliche praxis“ habe zum Resultat den „ursprünglich praktischen Charakter des Theoretischen“ (GA 27, S. 199). Heidegger schließt hier an den Aristotelischen Begriff der Praxis als desjenigen Tuns an, welches sein Ziel und seine Vollendung in sich selbst hat. Der Begriff dieser praxis ist genauso wie der Freiheitsbegriff Heideggers theoretisch und philosophisch – und hängt nicht mit dem modernen Begriff des Praktischen (welches Heidegger das „Praktisch-Technische“ nennt) zusammen, der sich aus einem Gegensatz zum Theoretischen versteht. Dies ergibt sich aus Heideggers Anschluss an die eigentlichste Gestalt der praxis, die nach Aristoteles als theoria stattfindet (GA 27, S. 174). Die Anknüpfung an Aristoteles kann aber auch der Begriff der „höchsten Aktivität“ des Daseins anzeigen. Es ist anzunehmen, dass Heidegger das Dasein gelegentlich im Anschluss an Aristoteles durch das Begriffspaar dynamis-energeia deutet. Er spricht z. B. vom Seinsentwurf als von der „inneren Möglichkeit – Möglichkeit = Wesen“ (GA 27, S. 197). Die höchste Aktivität des Daseins kann infolgedessen als die Verwirklichung seiner Möglichkeit bzw. seines Wesens aufgefasst werden, welches letztlich in dem Selbstentwurf des Seins vorliegt. Diese Verwirklichung wird dann im Sinne von energeia bzw. entelecheia des Daseins verstanden. Es ist aber deutlich, dass Heideggers Anschluss an Aristoteles und seine Terminologie nur zum Vortrag der eigenen Auffassung dient, die von dieser Darstellung selbst unabhängig ist.²⁵ Dies zeigt der Umstand, dass Heidegger die Philosophie des Aristoteles, aber auch Platons und damit die Geschichte der Philosophie in der Tat durch seine eigene Philosophie zu interpretieren sucht. In der Geschichte des individuellen Daseins und danach auch in der allgemeinen Weltgeschichte und in der Geschichte der Philosophie soll sich das Selbstwerden und Sich-Wissen des Daseins vollziehen. Das eigentlich Geschichtliche an dieser Geschichte hängt letztlich davon ab, dass sich in ihr die einheitliche komplexe Struktur seines ekstatisch-horizontalen „Selbstentwurfs schlechthin“ zu sich
25 Eine ähnliche These formuliert auch Steven Crowell im bereits zitierten Aufsatz Does the Husserl/Heidegger Feud Rest on a Mistake? (Crowell, 2002).
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verhält und durchsetzt. Im Übergang zur theoretischen und philosophischen Existenzmöglichkeit vollzieht sich ein Fortgang im Rückgang genau auf diese Grundstruktur des Daseins, die das Dasein als „Subjekt der Transzendenz“ entwirft. Es handelt sich dabei um den Vorgang, den Heidegger in seiner Bezugnahme auf Aristoteles als das Vollbringen der Urhandlung des Daseins auffasst, welche als die ursprüngliche praxis zu deuten ist. Der systematische Rahmen, den Heidegger in seiner Frage nach dem Sein des Seienden verfolgt, wurde aufgezeigt. Seine Seinsphilosophie versteht sich als eine Phänomenologie, die sich hauptsächlich mit der Transzendentalphilosophie der Neuzeit produktiv auseinandersetzt. Heidegger zeigt dies selbst an, wenn er im Zusammenhang mit seiner Interpretation der Antike die zunächst befremdende These aufstellt: „Die Richtung auf das Subjekt bzw. auf das, was im Grunde damit gemeint ist, unser Dasein, nimmt auch schon die […] ontologische Fragestellung der Antike, die des Plato und Aristoteles.“ (GA 24, S. 103) Den Grund für seine subjektivitätstheoretisch geprägte Deutung der Autoren der Antike erklärt Heidegger mit den Worten: „Diese Produktivität des Subjekts (in transzendentalem Sinne genommen) ist aber, wie immer, wenn etwas philosophisch zentral ist, irgendwo schon in aller echten Philosophie hervorgetreten.“ (GA 26, S. 273)
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Das „praktische“ Sein
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Birgit Recki
Ernst Cassirer über Selbstbewusstsein Ernst Cassirer legt in seiner Philosophie der symbolischen Formen eine als Theorie der Kultur angelegte philosophische Anthropologie auf transzendentalphilosophischer Grundlage vor.¹ Die menschliche Kultur bewegt sich in den symbolischen Formen von Sprache, Mythos und Religion, Kunst, Wissenschaft, Recht, Moral, Geschichte und Technik. Cassirer begreift sie derart als Realisierung und Integration einer Vielfalt von Einstellungen des Bewusstseins und der spontanen Produktivität menschlichen Geistes. An der symbolischen Gestaltung, durch die sich Kultur in den ubiquitären Prozessen der Produktion und Rezeption, der Tradition, Innovation und Transformation von Bedeutung konstituiert, betont er immer wieder als grundlegend das Distanz-Apriori aller Symbolisierung in Poiesis, Praxis und Theorie (Recki, 2013, Kap. 3): In der Verobjektivierung, zu der es bei jedem Akt der Symbolisierung kommt, gewinnt der Mensch Distanz zu seinen Eindrücken, zu den Verhältnissen, zu sich selbst; durch diesen Distanzgewinn ist symbolische Formung der Ursprung von Freiheit: In der mediatisierten Objektbeziehung kommt es komplementär zu einem distanzierten Selbstverhältnis, durch diese Relation der doppelten Abstandnahme wird Verfügung über die eigenen Eindrücke überhaupt erst möglich, es eröffnet sich ein Aktionsraum. Durch Symbolisierung gewinnt der Mensch demnach gleichursprünglich mit der Verobjektivierung einen Spielraum der Verfügung, von dem er ausgeht – und fortschreitet. In diesem Sinne begreift Cassirer die Kultur als den Ort und den Prozess der Freiheit. Eng verknüpft mit dem Distanz-Apriori der kulturellen Formung ist das in der Forschung noch wenig erschlossene Theorem, dass jeder Form² des symbolisch vermittelten Gegenstandsbewusstseins eine entsprechende Form des Selbstbewusstseins korrespondiere. Den Gedanken führt Cassirer wie ein Leitmotiv der epistemologisch-pragmatischen Grundlegungsreflexion mit sich, in affirmativen
1 Gemäß dem weitgehenden Konsens in der Cassirerforschung ist hier als Philosophie der symbolischen Formen die gesamte seit den 20er Jahren entwickelte bedeutungstheoretisch fundierte Kulturphilosophie gemeint, unter Einschluss des Dutzends großer Abhandlungen, mit denen Cassirer sein dreibändiges Reihenwerk ergänzt; die Auszeichnung durch die kursivierte Schreibweise Philosophie der symbolischen Formen bleibt den drei Monographien unter diesem Titel (1923; 1925; 1929) vorbehalten. 2 Als Form wird hier sowohl die von anderen unterscheidbare funktionale Leistung (forma formans) wie deren – in historischen Stufen der Entwicklung sich vollziehende – Verobjektivierung (forma formata) bezeichnet.
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Paraphrasen seiner Referenztheorien³ wie in systematischer Einstellung auf den Systementwurf einer Philosophie der symbolischen Formen. Im Sinne dieses Leitgedankens betont er mit Bezug auf die Sprache als System der verobjektivierenden Artikulation von Bedeutung in Lauten, sie sei „ein Weg zu uns selbst; sie ist produktiv in dem Sinne, daß sich durch sie unser Ichbewußtsein und Selbstbewußtsein erst konstituiert“ (Cassirer, 1942, S. 411).⁴ Er fasst damit und in dem Zusatz „gleich der Kunst und gleich jeder anderen ‚symbolischen Form‘“ nur zusammen, was er als Leistung der Sprache wie als funktionale Gemeinsamkeit aller symbolischen Formen von Anfang an vertritt.⁵ Nirgends hat Cassirer diesen Gedanken von der gleichursprünglichen Konstitution und konkreten Prägung von Selbst und Objekt ausführlicher und deutlicher herausgearbeitet als in seiner Theorie der Technik.⁶ In deren epistemologischer Analyse exemplifiziert er sein Theorem des Distanz-Apriori – des Gewinns von gegenständlicher Wirklichkeit und freier Verfügung über sie durch Abstandnahme in der symbolischen Relation. Und auch die Technik, sie in einer ganz besonderen, auf die Willensbildung des Menschen im Verhältnis zu seinem Körper bezogenen Weise, leistet die kulturstiftende Distanzbildung in jenem doppelten Richtungssinn, den Cassirer in der Philosophie der symbolischen Formen immer wieder behauptet hat: durch die gleichzeitige Prägung des Objektbewusstseins und des Selbstbewusstseins.⁷ „Jedes neue Werkzeug, das der Mensch findet, bedeutet demgemäß einen neuen Schritt nicht nur zur Formung der Außenwelt, sondern zur Formierung seines Selbstbewußtseins“, so heißt es im zweiten Teil der Philosophie der symbolischen Formen. ⁸ In seinem großen Aufsatz über Form und Technik formuliert Cassirer fünf Jahre später die allgemeine Quintessenz, „daß das technische Wirken, in seiner Richtung nach außen, immer zugleich ein Selbst-
3 So heißt es in der Wiedergabe der kantischen Position: „Das empirische Selbstbewußtsein geht dem empirischen Gegenstandsbewußtsein nicht zeitlich und sachlich voran; sondern in ein und demselben Prozeß der Objektivierung und Bestimmung scheidet sich für uns das Ganze der Erfahrung in die Sphäre des „Inneren“ und „Äußeren“, des „Ich“ und der „Welt“.“ (ECW 8, 209) Ebenso ist es Cassirers eigene systematische Intention, die er in der Auseinandersetzung mit Schellings Philosophie der Mythologie auf den Punkt bringt, wo es in der affirmativen Paraphrase heißt: „Dieses Ganze [gemeint ist das Ganze der mythischen Welt, B.R.] birgt eine eigene innere „Wahrheit“ in sich, sofern es einen der Wege bezeichnet, auf dem die Menschheit zu ihrem spezifischen Selbstbewußtsein und zu ihrem spezifischen Objektbewußtsein vorgedrungen ist.“ (ECW 16a, S. 183). 4 ECW 24, S. 411. 5 Siehe vor allem ECW 11; Cassirer, 2009. 6 Orth, 1987, S. 91– 122; Schwemmer, 2001, S. 361– 382; Gotterbarm, 2011. 7 ECW 17, S. 139 – 183, Zitat: S. 167. 8 ECW 12, S. 254.
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bekenntnis des Menschen und in ihm ein Medium seiner Selbsterkenntnis darstellt.“⁹ Die starke These fügt sich passend ein in die Absicht, auch den freiheitsstiftenden Distanzgewinn, der ihm das Element aller Kultur ist, an der Technik in besonderer Prägnanz zu exemplifizieren. Cassirer nimmt darin die Technik so ernst, wie es nur wenige seiner Zeitgenossen und vor allem kaum einer jener Autoren getan haben, die wie er die Kultur als Produkt des Geistes begreifen.¹⁰ In Form und Technik behandelt er den Gebrauch der Worte und den Gebrauch von Werkzeugen als äquivalente Weisen der Konstitution von Wirklichkeit und damit – im Sinne seiner eigenen Pathosformel – der Befreiung vom bloßen Eindruck zum artikulierten Ausdruck.¹¹ In seinem Ansatz bei der symbolischen Formung des Sinns als elementarer Funktion der Formung von Wirklichkeit durch geistige Aktivität findet Cassirer, dass „der menschliche Geist in der Sprache und im Werkzeug die wichtigsten Mittel der Befreiung sich geschaffen hat“ und stellt derart die Technik mit der Sprache auf dieselbe Stufe.¹² Wie das Wort eine grundlegende Distanzierung von den Eindrücken schafft, die den Menschen vor aller Artikulation zu überwältigen drohen, so auch das Werkzeug; wie das Wort dies nur vermag, indem es zugleich Bedeutung schafft, so auch das Werkzeug. Dass die Technik ihren integralen Ort in der Philosophie der symbolischen Formen von Anfang an hat, dass Cassirer geradezu von einer methodischen Schlüsselstellung der Technik ausgeht, ist jedoch nicht erst in Form und Technik dokumentiert, wo die dominierende systematische Absicht auf Einholung der Technik in den Kanon der symbolischen Formen auch eine erneute und schärfere Akzentuierung ihrer selbstbewusstseinstheoretischen Bestimmung mit sich führt. Es wird vielmehr schon in der Erörterung des archaischen Werkzeuggebrauchs deutlich, die für Cassirer zur Analyse des mythischen Bewusstseins gehört.Von der ersten Untersuchung der epistemischen Funktion instrumentellen Mitteleinsatzes in Das mythische Denken bis zur Auseinandersetzung mit der Technik aller historischen Zeiten als Form der Freiheit in Form und Technik zeigt sich eine bemerkenswerte Präzisierung und mit dem Prägnanzgewinn die zunehmende Emphase desselben Gedankens.
9 ECW 17, S. 168. 10 Orth, 1995, S. 127– 146. 11 ECW 11, S. 23 u. ö. 12 ECW 17, S. 161.
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1 Die Epoche des Werkzeugs Schon im Kontext der mythischen Magie begreift Cassirer die Technik als grundlegenden Wirklichkeitsbezug,¹³ durch den der Mensch seine Verhältnisse und sich selbst wesentlich bestimmt; schon in Gestalt des Werkzeugs spielt die Technik eine entscheidende Rolle bei der Ausprägung des Bewusstseins. Die Technik in ihren elementaren Formen markiert damit in Cassirers geschichtsphilosophischer Konstruktion der Kultur geradezu eine Epoche. Denn Cassirer findet das mythische Bewusstsein und die mythische Lebensform charakterisiert durch die Indifferenz von Zeichen und Sache, durch mangelndes Bewusstsein von Medialität, durch Unmittelbarkeit des Gegebenen im unreflektierten Bild. Der Einsatz von Werkzeug erscheint hier als die erste Initiation in die Medialität,¹⁴ ein gleichermaßen praktischer wie epistemischer Entwicklungsschub in die Richtung des Bewusstseins der Mittelbarkeit allen Tuns, in dem sich allererst das distinkte Bewusstsein der Differenz des Objekts vom Subjekt – wie des Zeichens von der Sache selbst – bilden kann.¹⁵ Sowenig sich jedoch Magie und Technik rein genetisch voneinander sondern lassen, sowenig sich ein bestimmter Zeitpunkt in der Entwicklung der Menschheit angeben läßt, an dem sie von der magischen zur technischen Beherrschung der Natur übergeht, so schließt doch der Gebrauch des Werkzeugs als solcher schon eine entscheidende Wendung im Fortgang und im Aufbau des geistigen Selbstbewußtseins ein. Der Gegensatz zwischen der ‚inneren‘ und der ‚äußeren‘ Welt beginnt jetzt, sich schärfer zu akzentuieren. Die Grenzen zwischen der Welt des Wunsches und der Welt der ‚Wirklichkeit‘ fangen an, klarer herauszutreten. Nicht unmittelbar greift die eine Welt in die andere ein und geht in sie über, sondern an der Anschauung des vermittelnden Objekts, das im Werkzeug gegeben ist, entfaltet sich allmählich das Bewußtsein des vermittelten Tuns.¹⁶
13 Es ist diese These, die ein Vierteljahrhundert später Arnold Gehlen in seiner anthropologischen Annäherung von Technik und Magie elaboriert hat (Gehlen 1949/1957). 14 In Form und Technik wird Cassirer die Technik, unter anderem in der theoretisch einschlägigen Auszeichnung als eine der „Grundmächte des Geistes“, als eine symbolische Form bestimmen. Im Hinblick auf diesen systematischen Anspruch verdient es festgehalten zu werden, dass er am Werkzeuggebrauch und der mit ihm initiierten Weltwende der Erkenntnis auch für den auf den ersten Blick sperrigen, wenig plausiblen Fall der Technik ein genealogisches Leittheorem der Philosophie der symbolischen Formen einlöst: dass sich jede symbolische Form aus der ursprünglich ungeschiedenen Einheit im „Mutterboden des Mythos“ heraus entwickelt; siehe ECW 16b. 15 Zur genauen Analyse der auf das Objekt bezogenen Dimension siehe ECW 12, S. 253. 16 ECW 12, S. 254 f.
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Schon hier verfolgt Cassirer die Idee der epistemisch-praktischen Wende im Weltverhältnis des agierenden Subjekts, die er fünf Jahre später in Form und Technik deutlicher artikulieren wird. Entscheidend für die Einschätzung ihres grundlegenden Status wird ihm dann die Einsicht in den fließenden Zusammenhang zwischen Handeln und Denken werden. Cassirer betont das Theoretische am Praktischen, und stellt damit zugleich die praktische Appetenz des Theoretischen heraus, indem er die immer auch epistemische Dimension des Werkzeuggebrauchs kenntlich macht: „Es ist nicht zuviel gesagt, wenn man behauptet, daß in dem Übergang zum ersten Werkzeug nicht nur der Keim zu einer neuen Weltbeherrschung liegt, sondern daß hier auch eine Weltwende der Erkenntnis einsetzt.“¹⁷ Zunächst scheint dies nicht mehr zu sein als die These, dass die Technik eine der verobjektivierenden Tendenz des Denkens selbst entsprechende Form des Gestaltens ist. Doch: In der Weise des mittelbaren Handelns, die jetzt gewonnen ist, gründet und festigt sich erst jene Art von Mittelbarkeit, die zum Wesen des Denkens gehört. Alles Denken ist seiner rein logischen Form nach mittelbar – ist auf die Entdeckung und Gewinnung von Mittelgliedern angewiesen, die den Anfang und das Ende, den Obersatz und den Schlußsatz einer Schlußkette miteinander verknüpfen. Das Werkzeug erfüllt die gleiche Funktion, die sich hier in der Sphäre des Logischen darstellt, in der gegenständlichen Sphäre: Es ist gleichsam der in gegenständlicher Anschauung, nicht im bloßen Denken erfaßte ‚terminus medius‘. Es stellt sich zwischen den ersten Ansatz des Willens und das Ziel.¹⁸
Die Pointe dieser Überlegung geht keineswegs darin auf, dass Cassirer hier im Vorgang der instrumentellen Mediatisierung durch den Werkzeuggebrauch eine Struktur des Bewusstseinsvollzuges im Denken wiedererkennt. Über die in generalisierender Perspektive getroffene Bestimmung: „hier schafft das Ich sich in seinen eigenen Produkten eine Art von „Gegenüber“, das ihm als durchaus objektiv, als rein gegenständlich erscheint. Nur in dieser Art der „Projektion“ vermag es sich selbst anzuschauen“,¹⁹ geht Cassirer ersichtlich noch hinaus. In der Formulierung, dass in der Weise des mittelbaren Handelns sich erst jene Art von Mittelbarkeit, die zum Wesen des Denkens gehört, „gründet und festigt“, läuft der behauptete Richtungssinn nicht hinaus auf eine Begründung der Technik in der Form des Denken, sondern gerade umgekehrt: auf die Begründung der Form des Denkens in derjenigen der Technik. Es ist der technische Vollzug des „mittelbaren Handelns“, in dem sich das Selbstbewusstsein im Denken konstituiert: „gründet und festigt“. Weit entfernt zwar, eine materialistische Grundlegung des Denkens
17 ECW 17, S. 61. 18 ECW 17, S. 158. 19 ECW 12, S. 255.
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zu insinuieren (denn das „mittelbare Handeln“, das Cassirer hier als Ort dieser Grundlegung angibt, ist in seiner problembezogenen Konkretheit bereits geistige Leistung) enthält Cassirers Erörterung in dieser Grundlegungsthese immerhin eine bemerkenswerte Rehabilitierung der instrumentellen Vernunft, wie sie im Kontext einer Theorie, die den Menschen wesentlich als ein poietisches Wesen bestimmt, systematisch nicht ganz überraschend kommt. Dass der damit konturierte Gedanke eine tragende Intuition artikuliert, zeigt sich an der späteren komplementären Reflexion, dass „auch alle unsere theoretischen Begriffe den Charakter des ‚Instrumentalen‘ an sich tragen. Sie sind letztlich nichts anderes als die Werkzeuge, die wir uns für die Lösung bestimmter Aufgaben geschaffen haben und immer aufs neue schaffen müssen.“²⁰ Insofern, so betont Cassirer, bestehe zwischen der theoretischen und der praktischen Sphäre kein prinzipieller Unterschied.
2 Technik und Technisierung als Form des Bewusstseins Auf dieser Folie begreift er die Technik wesentlich als eine Kraft der Befreiung. Ihm geht es im Begriff der Befreiung anders als vielen anderen Technikphilosophen seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts nicht in erster Linie um den empirischen Effekt der Entlastung von schwerer Arbeit – sondern um den gleichermaßen epistemologisch wie praktisch fassbaren Effekt jenes elementaren Distanzgewinns im Verhältnis zu den Objekten, in dem die Bedingung der Möglichkeit von Problemlösung aller Art zu sehen ist. „Im Werkzeug und seinem Gebrauch […] wird gewissermaßen zum ersten Male das erstrebte Ziel in die Ferne gerückt. Statt wie gebannt auf dieses Ziel hinzusehen, lernt der Mensch von ihm ‚abzusehen‘ – und ebendieses Absehen wird zum Mittel und zur Bedingung seiner Erreichung.“²¹ Mit Blick auf die systematische Ausrichtung seiner epistemologisch und selbstbewussteinstheoretisch fundierten Theorie der Technik erscheint es völlig konsequent, dass Cassirer in einem unveröffentlichten Text eine „Logodizee des Technischen“ fordert.²² Man mag diesen Anspruch in seiner eigenen Analyse weitgehend eingelöst finden. Bestärkung findet er durch den Begriff von Technik als Technisierung, den Hans Blumenberg im Anschluss an Edmund Husserls Abhandlung über Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzen-
20 ECW 24, S. 382. 21 ECW 17, S. 159. 22 ECN 1, S. 256.
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dentale Phänomenologie (1937) pointiert hat: Technisierung als intellektuellen Prozess der Habitualisierung von Kompetenz. Auch die hier vertretene These lokalisiert die Technik bereits in der Struktur des menschlichen Bewusstseins: „Die Technik ist primär nicht ein Reich bestimmter, aus menschlicher Aktivität hervorgegangener Gegenstände; sie ist in ihrer Ursprünglichkeit ein Zustand des menschlichen Weltverhältnisses selbst“, so kommentiert Blumenberg den Husserlschen Begriff.²³ „Die Technik ist phänomenal ein Reich von Mechanismen.“ (Blumenberg, 1981, S. 50) „Technisierung“ ist Husserls Ausdruck für diese Mechanismen. Er soll die Verselbständigung der Methode von der ursprünglichen Folie sachhaltigen theoretischen Wissens bezeichnen, einen Abstraktionsvorgang, in dessen Verlauf ein Verfahren, das zunächst in einem anschaulich konkreten Fall der Problemlösung seinen Ort hat, als Methode für die generalisierte, nicht an spezifisches Wissen gebundene Anwendung zugerüstet wird. Husserls Beispiel ist die Abstraktion der Gegenstandskonstruktion durch die Einführung ablösbarer Rechenverfahren in die Geometrie. Technisierung ist die Funktionalisierung durch Formalisierung:Verselbständigung des Verfahrens zur Methode, die ihren Ursprungskontext nicht mehr mit reflektiert. Dem Fall der Algebraisierung der Geometrie stellt Blumenberg ein eigenes, anschaulicheres Exempel an die Seite, in dem sich die bereichsneutrale Anwendung von Technik als verselbständigter Methode an der Entspezifizierung der äußeren Gestaltung von technischen Funktionen zu erkennen gibt. Sein Beispiel ist die Klingel: ihre Entwicklung vom Hervorbringen des Geräuschs durch den Benutzer im Falle der älteren Drehklingel oder Zugklingel zum bloßen Auslösen des Geräuschs mittels eines Knopfes, der sich von den Knöpfen für andere technische Funktionen nicht unterscheidet. (Blumenberg, 1981, S. 35 f.) Tatsächlich: Wie oft verwechselt man nicht in einem Treppenhaus den Lichtknopf mit dem Klingelknopf – und auch darüber hinaus kennen wir noch ganz andere Funktionen, die durch Knopfdruck ausgelöst werden. Darin zeigt sich ‚Technisierung‘: die ubiquitäre Anwendung einer losgelösten Methode. Für Husserl ist eine solche Ablösung der Methode vom konkreten Sachverhalt eine Einbuße an Redlichkeit in der Wissenschaft, gegen die ausdrücklich die Philosophie als Phänomenologie in ihrer Potenz der ganzheitlichen Vergegenwärtigung der Erkenntniskontexte aufgerufen werden soll. Blumenberg stimmt Husserl zwar zu in der Auffassung, dass Technisierung eine „im Schoße des theoretischen Gesamtprozesses entspringende Transformation“ sei; deren generelle Einschätzung als Unredlichkeit, als „pathologisches Phänomen“, oder gar als
23 Blumenberg, 1981, S. 32.
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„Abweg“ des Bewusstseins dagegen weist er ebenso ausdrücklich zurück²⁴ – mit dem Argument, der menschliche Intellekt als solcher sei „auf der untersten elementaren Stufe seiner Leistungen […] stets schon“ in derjenigen „Formalisierung begriffen“ (ebd., S. 43), die „als die handlichste, dienstbarste Art [der] Funktionalisierung des einmal Geleisteten […] auch potentiell schon Technisierung“ sei (ebd., S. 41). Der Grund für die Zurückweisung der Kritik an der vermeintlich pathologischen Tendenz der ‚Technisierung‘ ist damit deutlich artikuliert: Der menschliche Intellekt als Form der Problemlösung hat nach Blumenberg per se eine intrinsische Tendenz zur Technisierung. Wird Technik als verselbständigte Methode derart als eine Tendenz schon des Bewusstseinsvollzugs wahrgenommen, so wird Blumenberg sie später in seiner Anthropologie vollends in die Konstitution des Menschen einlassen.²⁵ Blumenbergs Anthropologie enthält so eine fundamentale Rehabilitierung der instrumentellen Vernunft. Im Rahmen seiner Theorie des mythischen Bewusstseins hatte Cassirer Wert darauf gelegt, den bewusstseinsphilosophischen Ertrag seiner Analyse des Werkzeuggebrauchs für sämtliche in der Philosophie der symbolischen Formen thematische Kulturleistungen zu generalisieren: So wie im selbstgeschaffenen Werkzeug „das Ich sich in seinen eigenen Produkten eine Art von ‚Gegenüber‘“ schafft und „[n]ur in dieser Art der ‚Projektion‘ […] sich selbst anzuschauen“ vermag,²⁶ so hat man auch in allen anderen Fällen symbolischer Formung die Angewiesenheit des Selbstbewusstseins auf das je erreichte Objektbewusstsein zu beachten. Bekräftigt ist auf diese Weise die These von der Gleichursprünglichkeit und Reziprozität von Selbstbewusstsein und Objektbewusstsein. Doch birgt seine Analyse, insbesondere in der methodischen Gleichsetzung des Status von Sprache und Technik, von Wort und Werkzeug, noch ein ganz anderes Potential für das gesamte Verständnis der Kultur, das Cassirer selbst nur andeutungsweise artikuliert. So wie von der symbolischen Form der Sprache gilt, dass sie in allen anderen symbolischen Formen mitwirkt, so lässt sich dies auch von der Technik, verstanden als einen methodischen Einsatz von instrumentellen Mitteln zur Bewältigung von Problemen, geltend machen. Ist aber in diesem Begriff von Technik als instrumentellem Handeln die Kultur nicht in allen ihren Formen durch Technik als distanzschaffenden und problemlösenden Einsatz von Mitteln bestimmt, ganz so wie Cassirer dies unter dem logischen Oberbegriff eines Terminus medius in
24 Blumenberg, 1981, S. 40. Erst die im Zuge der Globalisierung stattfindende „Transplantation europäischer Wissenschaft und Technik auf die einst exotischen Völker und Kulturwelten“ (ebd., S. 49) erfüllt nach Blumenberg den Befund einer „Pathologie der Technik“ (ebd., S. 50). 25 Blumenberg, 2006. 26 ECW 12, S. 255.
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Form und Technik im bewussten Übergang von der epistemischen zur praktischen Ebene formuliert? Die Auswertung von Cassirers Erörterung der Technik führt dann auf drei grundlegende Thesen: 1. Technik gehört integral zu aller Kultur: Sie ist, ebenso wie die Sprache, mit der Cassirer sie methodisch gleichsetzt, nicht ein bestimmter Bereich der Kultur, sondern der Inbegriff methodischer Verfahren, von denen man sich klarmachen kann, dass sie in allen Bereichen menschlicher Lebensbewältigung wirksam und am Werke sind. Die Rolle der Technik in der Kultur ist so grundlegend und durchdringend, dass Kultur in allen ihren Formen immer auch als Technik zu begreifen ist. 2. Der Mensch ist in ebendem Maße, wie er das Wesen ist, das Kultur hat, immer schon ein technisches Wesen. Der Mensch löst seine Probleme durch die stringente Kultivierung jenes „mittelbaren Handelns“, als das Cassirer schlicht das technische Handeln bezeichnet. In das so begründete instrumentelle Weltverhältnis ist das Selbstverhältnis des Menschen immer schon einbezogen. 3. Technik ist als „mittelbares Handeln“ immer Methode des Gewinns an Effizienz und Handlungsspielraum – und daher Ursprung und Form der Freiheit. Sie ist in dem soeben ausgeführten elementaren Sinn der schon im Bewusstseinsvollzug angelegten Verselbständigung der Methode die Bedingung der Möglichkeit von Freiheit und in den elaborierten Konkretisierungen Form der Freiheit. Auch die Antwort auf die Frage „nach den Bedingungen der Möglichkeit des technischen Wirkens und der technischen Gestaltung“,²⁷ also nach dem Prinzip der Technik, gibt Cassirer mit einem vereinnahmenden Zitat, wo es heißt, Technik sei „Freiheit durch Dienstbarkeit“.²⁸ Die Frage über Wert und Unwert der Technik kann nicht dadurch entschieden werden, daß man ‚Nutzen‘ und ‚Nachteil‘ der Technik erwägt und gegeneinander aufrechnet – daß man die Glücksgüter, mit denen sie die Menschheit beschenkt, dem Idyll eines vortechnischen ‚Naturzustandes‘ entgegenhält und sie, in dieser Abwägung, zu leicht befindet. Hier geht es nicht um Lust oder Unlust, um Glück oder Leid, sondern um Freiheit oder Unfreiheit.²⁹
3 Leib und Technik. Ein Kronzeuge „Unter einer symbolischen Form verstehen wir jede Energie des Geistes, durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen ge-
27 ECW 17, S. 142. 28 Dessauer, 1927, S. 86. 29 ECW 17, S. 172 f.
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knüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird.“³⁰ Dem Begriff von symbolischer Formung entsprechend begreift Cassirer die in allen kulturellen Formen wirkende Symbolisierung als Versinnlichung von Bedeutung. In der Absicht, den unabdingbaren Materialbezug und die Konkretheit alles dessen zu betonen, was für den Menschen Bedeutung haben kann, spricht er häufig von Verkörperung von Sinn.³¹ In dieser systematischen Einstellung sieht er für seine Bestimmung der Technik auch nicht den geringsten Anlass, sich von der Definition abzugrenzen, die er von Max Eyth zitiert: „Technik ist alles, was dem menschlichen Wollen eine körperliche Form gibt.“³² Wo Cassirer in der Theorie des mythischen Denkens den archaischen Werkzeuggebrauch erörtert, da betont er auf der Seite des Selbstbewusstseins gleichermaßen die Herausbildung des intentionalen Willens aus dem bloßen Wunschdenken, das Bewusstsein des medialen Handlungscharakters und das Bewusstsein von Leiblichkeit. „An den Gerätschaften, an den Artefakten, die er sich bildet, lernt der Mensch erst die Beschaffenheit und den Aufbau seines eigenen Leibes zu verstehen.“ (ECW 12, S. 257). Wie im Fall des affirmativen Zitates von Max Eyth, so liegt in dieser Feststellung eine adaptierende Übernahme vor. Die zitierte Stelle steht im Kontext einer Paraphrase von Ernst Kapps Theorie der Technik als Organprojektion,³³ der gemäß die technischen Erfindungen von den ersten einfachen Werkzeugen und Maßeinheiten bis hin zu den entwickelten Systemen in einem starken Sinn aus der menschlichen Physis hervorgehen: Sie kämen zustande durch unbewusste Projektion organischer Verhältnisse in die äußere Welt. Dem homo-mensura-Satz des Protagoras gibt Kapp eine zunächst erkenntnistheoretische Ausrichtung, indem er den „anthropologischen Maassstab [sic!]“ (Kapp, 1877, S. 1 ff.) und mit ihm die Berechtigung des anthropozentrischen Standpunktes (ebd., vgl. S. 13) verteidigt. „Vorstellen und Denken ist an und für sich ein anthropocentrisches Verhalten. Jedes Ich ist ein weltmittelpunktliches.“ (ebd., S. 14) Doch er modifiziert diesen Satz zugleich in der komplementären Einsicht, dass der Mensch sich nur auf dem Umweg über die Dinge seiner selbst bewusst werde – so dass die Dinge in einem gewissen Sinne auch das Maß des Menschen seien. Im Sinne dieser Modifikation ist seine wichtigste These zu verstehen: Selbstbewusstsein hat synthetischen Charakter und verdankt sich einem Wechselverhältnis von Mensch und Natur. „Der Mensch holt aus der ganzen Natur sich selbst zusammen, an ihr philosophirt er sich zum Selbstbewusstsein hinauf und die Welt ausser ihm ist die Handhabe zur Erschliessung der Welt in ihm“ (ebd., 30 ECW 16c, S. 75 – 104; Zitat: S. 79. 31 Siehe die Problematisierung dieses Begriffs in Recki, 2012, S. 3 – 13. 32 Eyth, 1924, S. 229 – 262. 33 Kapp, 1877.
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S. 12), sagt Kapp und spricht im Hinblick auf diese Kontextualisierung des Menschen auch von „kosmisch erweiterte[r] Egoistik“ (ebd., S. 13). Was außerhalb des Menschen ist, die Dinge der Welt also, ist entweder Naturwerk oder Menschenwerk. Doch auch im Menschenwerk vermittelt sich die Natur in der Weise, wie Kapp sie in seiner material- und beispielreichen Theorie der Technik als Organprojektion zu qualifizieren sucht. Durch diese Theorie gibt er dem Satz des Protagoras neben der erkenntnistheoretischen eine zusätzliche kulturphilosophische Dimension: Der Mensch ist in einem auch noch anders als trivialen praktisch-poietischen Sinne das Maß der menschlich geschaffenen Dinge. Über den Gemeinplatz hinaus, dass der Mensch den von ihm selbst geschaffenen Dingen das von ihm gewollte Maß gibt, behauptet Kapp mit Geltung für die technischen Werke, dass der Mensch seine eigenen Organformen und Organfunktionen in diese Dinge projiziert, und erschließt in der technischen Erfindung und Gestaltung aufgrund von Organprojektion wenn nicht die einzige, so doch die wichtigste Dimension derjenigen Wechselkonstitution von Wirklichkeit nach außen wie nach innen, die er in seiner Selbstbewusstseinstheorie grundsätzlich behauptet.³⁴ Denn es ist nach seiner These nicht allein so, dass der Mensch durch das Schaffen technischer Hilfsmittel leibliche Bedingungen, Formen, Relationen und deren Funktionen in die äußere Welt überträgt und diese so nach seinem leiblichen Bilde schafft, sondern zudem auch so, dass er an dem nach außen Projizierten sich die Modelle vor Augen stellt, an denen er sich selbst in seinen leiblichen Funktionen dann allererst deutlich erkennen und sich einen Begriff von sich selbst machen kann. In seinen Werken – „von den ersten rohen Werkzeugen […] bis zum mannigfaltigst ausgebildeten ‚System der Bedürfnisse‘ […] erkennt der Mensch sich selbst.“ (Kapp, 1877, S. 25) Der synthetische Charakter des Selbstbewusstseins muss somit genauer als pragmatisch vermitteltes Selbst-
34 Der Begriff der Projektion ist dabei noch weder spezifisch im Sinne der Optik – als Lichtprojektion, wie sie etwa in der Camera obscura oder der späteren Dia- und Filmprojektion vorliegt –, noch spezifisch im Sinne der erst später entwickelten Freudschen Psychoanalyse zu verstehen. Er ist viel elementarer: „jede Art von Vorwurf, Entwurf, Plan, Riss, Skizze“, aber auch „die Beziehung der Empfindungen auf äussere Gegenstände und überhaupt […] die Bildung der Vorstellungen“ (Kapp, 1877, S. 30) macht das semantische Feld des Wortes aus: Projizieren ist damit „das Vor- oder Hervorwerfen, Hervorstellen, Hinausversetzen und Verlegen eines Innerlichen in das Aeussere“ (ebd.). Von den wissenschaftlichen und philosophischen Kronzeugen eines markanten Begriffsgebrauchs kommt nach Kapps Zitatbelegen das, was man zum Verständnis der Feuerbachschen Religionsphilosophie sagen kann, dem eigenen Begriffsgebrauch schon sehr nahe, vgl. (ebd., S. 30 f.). Der Begriff der Projektion meint das „scheinbare Heraustreten der Seele aus dem Körper“, das „Hinauswerfen geistiger Eigenschaften“ (ebd., S. 31) und bezeichnet die Selbstproduktion des Menschen, die nirgendwo anders als in der Arbeit stattfindet.
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bewusstsein des Menschen begriffen werden: „Die absolute Selbstproduction ist eben der tiefste Punkt im Menschen“, so zitiert Ernst Kapp mit rückhaltloser Zustimmung Ferdinand Lassalle (ebd., S. 29), und will seine Theorie der Organprojektion als Konkretisierung und Präzisierung dessen verstanden wissen, was man sich unter dieser Selbstproduktion vorzustellen hat. „An den Gerätschaften, an den Artefakten, die er sich bildet, lernt der Mensch erst die Beschaffenheit und den Aufbau seines eigenen Leibes zu verstehen,“ so hatte es in Cassirers affirmativer Paraphrase geheißen. (ECW 12, S. 257). Mit Aristoteles ausgehend von der menschlichen Hand als dem „Werkzeug der Werkzeuge“ und im geschickten Rekurs auf die Zweideutigkeit im griechischen Ausdruck organon, die ihm für die intendierte Verschränkung der Natur des Organismus mit dem Technischen entgegen zu kommen scheint, entwickelt Kapp seine These von der Technik als Organprojektion, wie sie vom ersten einfachen Werkzeug über die Ausprägung menschlicher Arbeit in Instrumenten und Apparaten aller Art bis hin zu Maschinen und technologischen Systemen (vgl. Kapp, 1877, S. 41 ff.) erkennbar sein soll. Stets nehmen die Formen der technischen Arbeitsorganisation in äußeren Zusammenhängen der Zweck-Mittel-Relation ihren Weg über die Realisierung organischer Formen, Strukturen, Relationen und Leistungen. Kapp erkennt in den instrumentellen Arbeitsmitteln durchgehend die „Verlängerung, Verstärkung und Verschärfung leiblicher Organe“ (ebd., S. 42). „Hammer, Beil, Messer, Meissel, Bohrer, Säge, Zange“ (ebd., S. 44) und ähnliche elementare Werkzeuge bilden die exemplarischen Beispiele für den „Reichthum von Schöpfungen des Kunsttriebes“, der aus Hand, Arm und Gebiss „quillt“. „Der gekrümmte Finger wird zum Haken, die hohle Hand wird zur Schale“ (ebd., S. 45). Die Belege für die These, „dass der Mensch in die ursprünglichen Werkzeuge die Formen seiner Organe verlegt oder projicirt hat“, sind ubiquitär – und damit die Bestätigungen der einen Hälfte der umgreifenden anthropologischen These von der absoluten Selbstproduktion, „dass der Mensch in dem Werkzeug stets nur sich selbst producirt“ (ebd., S. 45).³⁵
35 Vgl. auch Kapp, 1877, S. 51. Kapp bezieht in die These von der Organprojektion mit der Form und Funktion der Organe, von denen er geltend macht, dass sie zum Vorbild in einer ganzen Entwicklungskette von Nachformungen und Umformungen werden, auch die Bewegung und die Bewegungsgesetze der Organe ein (ebd., S. 59). „Die organischen Regeln, denen der leibliche Bewegungsapparat folgt, heissen in ihrer Anwendung auf Werkzeug und Maschine ‚mechanische Gesetze’.“ (ebd. S. 61) In denselben Phänomenbefund gehört die Übertragung physiognomischer Maßeinheiten auf äußere Größenrelationen: Fuß und Elle sind die ersten verobjektivierten Maße – auch mit ihnen projiziert der Mensch seine leiblichen Verhältnisse in die äußere Welt. Die ersten Zahlwörter sind in den meisten Kulturen nach dem Abzählen an Fingern und Füßen gewonnen, das Dezimalsystem ist ein besonders markantes Beispiel für Organprojektion – ein Beispiel, das übrigens auch Cassirer bemüht, siehe ECW 11.
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Doch Kapp sieht den Geltungsbereich seiner These in den einfachen Werkzeugen und Messvorgängen keineswegs erschöpft; er schreckt auch vor komplexeren und komplexesten Zusammenhängen nicht zurück. Auch die Maschinen und die technologischen Systeme verdanken sich dem Vorgang der Organprojektion. So ist für ihn die Dampfmaschine ein Aggregat der Erzeugung und Nutzung von Energie ganz nach Art der Verbrennung, wie sie im menschlichen Organismus geleistet wird. Das Linsensystem des Auges ist das Vorbild der optischen Mechanik. Auch referiert er auf neueste wissenschaftliche Forschungsergebnisse, in denen sich zeige, dass sich in Hochleistungskonstruktionen etwa im Gerüstund Brückenbau die Bildungsprinzipien wiederfinden, die in bestimmten Knochenfaserstrukturen wirksam sind. Im Schienenverkehrssystem nimmt er eine Projektion des Blutkreislaufssystems wahr und im elektrischen Telegraphensystem eine Projektion des Nervensystems: Die elektrischen Kabel sind nicht nur so aufgebaut und verzweigt wie die Nervenfasern, sie erfüllen auch ähnliche Funktionen. Kann die These im Fall von Hammer, Bohrer, Zange, Schale, von Fuß und Elle als Prototyp des Metermaßes noch einige anschaulich gestiftete Plausibilität für sich in Anspruch nehmen, so tut man sich mit Blick auf die Zumutung, sich das Schienennetz der Eisenbahn als Projektion des Blutkreislaufs, Brückenstreben als Projektion der spongiosen Knochenfaktur oder auch: elektrische Kabelleitungssysteme als Projektion der Nervenfaserstruktur zu denken, schwer mit der Plausibilität der Projektionsthese. Die Frage, die sich angesichts komplexer, überwiegend der empirischen Erfahrung entzogener systemischer Leistungen der Technik aufdrängt: Wie ist das möglich?, beantwortet Kapp mit dem Zerschlagen des Gordischen Knotens: Es ist der Begriff des Unbewussten, der zum asylum ignorantiae wird für alle offenen Fragen nach den konkreten Formen der Umsetzung, der Vermittlung von innen nach außen.³⁶ „Wir müssen uns hüten“, so zitiert Kapp in vollem Einvernehmen seinen theoretischen Gewährsmann Lazarus Geiger, „dem Nachdenken bei der Entstehung des Werkzeugs einen zu grossen Antheil zuzuschreiben.“ (ebd., S. 49) Unverkennbar ist es der Anspruch, der mit dem kühnen Entwurf dieser Theorie einhergeht, mit der Dichotomie von Natur und Technik zugleich den LeibSeele-Dualismus zu überwinden: „Auch für uns liegt der anthropologische Maassstab [sic!] ein für allemal im ganzen Menschen“ (ebd., S. 8). Doch der Dualismus, der hier überwunden werden soll, hat mehrere Dimensionen. Am exemplarischen Fall des kulturstiftenden Werkzeuges und seiner historischen 36 Auf Freud und seine Lehre vom Unbewussten kann sich Kapp dabei noch nicht berufen. Er nimmt neben Eduard von Hartmanns Philosophie des Unbewussten die Seelenlehre des romantischen Physiologen Carl Gustav Carus, in der das Unbewusste als Teil der menschlichen Psyche ernst genommen wird, emphatisch auf.
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Nachfolge-Instrumente soll die Einheit von Natur und Technik in ihrem funktionalen Zusammenhang vor Augen geführt werden: Ausgehend von der Projektion der Formen und Funktionen seines eigenen Leibes schafft der Mensch eine ganze Welt artifizieller Produkte zur Unterstützung und Steigerung von dessen Lebensfunktionen, welche er sich im Blick auf die selbst geschaffenen Produkte in ihrem Sinn und Zusammenhang überhaupt erst verständlich machen kann: Im Medium der Technik, auf dem Umweg über deren Abläufe begreift sich der Mensch in seinen eigenen Vollzügen. Eine Pointe dieses Ansatzes liegt in der Konzeption eines Selbstbewusstseins, das sich nirgends anders bildet als in der pragmatischen, instrumentell gestützten Auseinandersetzung mit den Problemen der Außenwelt. Entsprechend positiven Widerhall hat diese Theorie bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts bei vielen Zeitgenossen gefunden. Neben Arnold Gehlen, der die Technik unter erkennbaren stationären Anleihen bei Ernst Kapp als Organentlastung, Organverstärkung und Organersatz begreift,³⁷ zeigt sich die konstruktive Rezeption der Theorie der Organprojektion auch bei dem keiner Verrücktheit verdächtigen Kantianer Ernst Cassirer. „Wir gehen dem metaphysischen Gehalt dieser These wie der metaphysischen Begründung, die Kapp für sie gegeben hat, hier nicht näher nach. Soweit diese Begründung sich auf rein spekulative Grundannahmen, auf Schopenhauers Willenslehre und auf Eduard von Hartmanns Philosophie des Unbewußten stützt, ist sie mit Recht bestritten und scharf kritisiert worden. Aber […]“ – Dieses „Aber“ hat es in sich, ist es doch unter Absehung von dem, was Cassirer als metaphysische Überschwänglichkeit anmuten muss, der Sinn der doppelseitigen These von der absoluten Selbstproduktion, wie Kapp sie vertritt, den Cassirer in seiner Philosophie der symbolischen Formen in dem Theorem zur Geltung bringt: dass jeder Form und historischen Stufe in der Entwicklung des Gegenstandsbewusstseins eine entsprechende Form des Selbstbewusstseins korrespondiere. Auf dessen Seite differenziert Cassirer erkennbar ein zur praktischen Konsequenz in der artikulierten Äußerung tendierendes („Selbstbekenntnis“)³⁸ und ein rein epistemisches Moment („Selbsterkenntnis“), wenn es nach dem „Aber“ weitergeht: „diese Kritik tut der Grundauffassung und der Grundeinsicht keinen Abbruch, die Kapp in den Worten ausspricht, daß das technische Wirken, in seiner Richtung nach außen, immer zugleich ein Selbstbekenntnis der Menschen und in ihm ein Medium seiner Selbsterkenntnis ist.“ (Cassirer, Form und Technik, ECW 17, S. 168, H.v.m., B.R.)
37 Gehlen, 1949/1957. 38 Dem entspricht die Seite des Ausdrucks in der poiesis-pragmatischen Pathosformel ‘vom bloßen Eindruck zum artikulierten Ausdruck′, siehe z. B. Cassirer, 2001 a, S. 10 u. ö.
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Hatte er bereits in der systematischen Grundlegung seiner Philosophie der Kultur das Bewusstsein vor allem Gebrauch artifizieller Symbole als „natürliche Symbolik“ und damit als Ursprung der Repräsentation und der „künstlichen Symbolik“ auszuzeichnen versucht, so enthält dieses „zugleich“ im Modus der Andeutung ein systematisches Element zu einer Theorie des Selbstbewusstseins, die sich nicht von vornherein auf die Parameter theoretischer Vernunft beschränkt sehen will.³⁹ Markiert doch die Simultaneität von Erkenntnis und Stellungnahme in der Dimension des Selbstbewusstseins den Nukleus praktisch-poietischer Aktivität. Bemerkenswert ist die Konsequenz, mit der die Weichen für den Begriff des Menschen als Kultur schaffendes Wesen in dieser systematischen Anlage gestellt sind. Cassirer legt in seiner Systematik der Philosophie der symbolischen Formen wie in deren programmatischen Prospekten die geschichtsphilosophische Konzeption eines grosso-modo erkennbaren und dabei nicht ungebrochen linearen Fortschritts der Kultur nahe: Die historische Entwicklungsdynamik von der mythischen über die religiöse Lebensform zur Dominanz der wissenschaftlichen Rationalität muss so gedacht werden, dass in ihren hoch entwickelten Stadien die systemische Pluralität der Kultur, die Gleichzeitigkeit und Interferenz ihrer Formen von Sprache, Mythos, Religion, Kunst,Wissenschaft mit eingeschlossen bleibt. Die von Cassirer als konstitutiv vorgestellte Komplikation der gleichermaßen diachronen wie synchronen Systematik der kulturellen Formen stellt eine Theorie der Kultur im großen Ganzen wie im Einzelnen vor schwierige Aufgaben. Der Ansatz zur bereichsübergreifenden Rekonstruktion der kulturellen Dynamik dürfte dabei in der Technik als der methodischen Effektivierung produktiver Zwecksetzung und der in ihr entspringenden Optimierungstendenz gegeben sein: In der Technik als einer Grundmacht des Geistes gibt sich offensichtlich und in einsichtiger Weise das gemeinsame Movens aller Formen und Bereiche der Kultur zu erkennen. Gemäß dem elementaren Freiheitsbegriff, den Cassirer mit seinem DistanzApriori der symbolischen Formung vertritt, ist ihm die gesamte Kultur der Prozess der Befreiung. An der Exemplifikation, die der Technikbegriff für das Korrespondenztheorem des Selbstbewusstseins leistet, kann auch deutlich werden, welcher grundlegende, gleichermaßen erkenntnistheoretisch wie kulturphilosophisch zu erschließende Sinn sich der Rede vom „Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit“ geben lässt. (Hegel, 1970, S. 32)
39 Siehe Recki, 1998. – Eine über die Absicht einer ersten programmatischen Skizze hinausgehende Untersuchung der impliziten Selbstbewusstseinstheorie Cassirers hätte sich der Aufgabe zu stellen, die beiden Komponenten eines bewusstseinsphilosophischen Grundlegungsgedankens systematisch ins Verhältnis zu setzen; siehe Cassirer, 2001 a, S. 39 ff.; Recki, 2013, Kap. 3.
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Volker Gerhardt
Freiheit und Leben. Eine große Aufgabe vor dem Hintergrund eines größeren Problems 1 Freiheit im Widerstreit Über die Freiheit wird gestritten, seit es einen Begriff für sie gibt. In erster Linie ging und geht es dabei darum, wie weit sie reichen dürfe: wie viel Freiheit sich ein Mensch gegenüber Gott und seinen Mitmenschen herausnehmen darf. Das ist der praktische Gegensatz, in den die Freiheit vermutlich immer wieder führt. Er hätte eigentlich die Folge haben müssen, die in zweiter Linie aufgeworfene theoretische Frage, ob es Freiheit überhaupt gibt, ob es einen Sinn hat, von ihr zu sprechen, ein für alle Mal zu erledigen. Denn wenn strittig ist, wie weit sie reichen soll, kann nicht zugleich in Frage stehen, ob es sie überhaupt gibt. Es ist das Paradox der Freiheitsdebatte, dass ebendiese Konsequenz nicht eingetreten ist. Nicht weniger irritierend ist, dass niemand, der die Wirklichkeit der Freiheit bestreitet, sich dazu bekennt, dass er dazu gezwungen wurde, die Freiheit zu leugnen. Denn wenn er den Sinn der Rede von Freiheit verstände, wäre das die fällige Konsequenz. Solange jemand Zweifel an der Realität der Freiheit vorträgt und sich dabei auf seine Einsicht beruft, von der er möchte, dass sie auch die Einsicht anderer werde, kann er sich und anderen den Vortrag seiner Argumente erlassen. Denn mit jedem Beweisschritt gegen die Freiheit verstärkt er die Option für ihre reale Wirksamkeit. Denn sowohl seine eigene Einsicht wie auch die Wirkungsweise seiner Argumente (wie auch die Erwartung einer einsichtigen Zustimmung anderer) nehmen in jedem Akt des Vollzugs Freiheit in Anspruch. Wem das nicht offenkundig klar ist, sollte sich die Freiheit nehmen, meinem Text noch eine Weile zu folgen.
2 Die alltägliche Gegenwart der Freiheit Freiheit, von der wir Menschen sprechen, ist die Freiheit unseres eigenen Tuns.Wir wollen tun und lassen, was wir wollen, und wenn uns daran etwas hindert, sehen wir unsere Freiheit eingeschränkt. Die Hindernisse können verschieden sein, wie uns die Rede von der „Beinfreiheit“, die wir uns im Fond eines Wagens wünschen, von der „Armfreiheit“, auf die wir bei der Anprobe eines Jacketts zu achten haben, oder der „Bewegungsfreiheit“ eines Kindes im Laufstall lehrt.
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Volker Gerhardt
Dass wir solche Reden nicht auf den Menschen beschränken, mag jeder an sich selbst beobachten, wenn ihm die Einblendung von Bildern vor Augen führt, wie wenig „Bewegungsfreiheit“ den Tieren in Mastbetrieben und Legebatterien bleibt. Es ist eine oft gemachte Beobachtung, dass die Freiheit besonders da auffällt, wo sie fehlt oder genommen wird. So ist es auch, wenn die „Reisefreiheit“ der Bürger, die „Niederlassungsfreiheit“ der Ärzte oder die „Meinungsfreiheit“ der Presse zum Thema wird. Freiheit ist also ein Wort, das in vielen Lagen zur Anwendung kommt. Sogar in der Physik ist von „Freiheitsgraden“ eines beweglichen Körpers die Rede. Aber die vielfältige Verwendung schließt nicht aus, dass es einen erkennbaren Ausgangspunkt für den weitgefächerten Gebrauch des Ausdrucks gibt. Die Etymologie des Wortes verweist auf den gesellschaftlichen Handlungszusammenhang des Menschen. „Freiheit“ hängt in seiner Herkunft mit „Freund“ und „Frieden“ zusammen; es bezeichnet bereits in einer frühen gotischen Verwendung den „Zustand der Freihalsigkeit“.¹ Dazu braucht man nur zu wissen, dass der Ring um den Hals das altgermanische Kennzeichen der Sklaven war. „Frei“ war einer, der nicht direkt dem Willen eines anderen unterstand und somit seinem eigenen Willen folgen konnte. Als „Freier“ ließ sich somit auch ein Mann bezeichnen, der eine heiratsfähige Frau aus der Verfügung durch die väterliche Gewalt befreien wollte.
3 Das individuelle Bewusstsein der Freiheit Selbst wenn die Etymologie uns in die Irre führte, könnten wir ganz sicher sein, dass die Bedingung für eine sinnvolle Verwendung des Begriffs in der menschlichen Selbsterfahrung liegt. Wer nicht von sich aus weiß, was es heißt, von etwas „frei“zukommen, in etwas „frei“ zu sein oder aber eingesperrt zu sein, der wird wohl nie verstehen,was „Freiheit“ heißt. Zwar kann er beobachten,wie ein von der Leine gelassener Hund seine Bewegungslust austobt; vielleicht glaubt er auch zu wissen, warum Tiere im Zoo so traurig wirken; möglicherweise versteht er sogar, warum die Menschen auf den Bildern von der Maueröffnung im Herbst 1989 so ausgelassen wirken. Deshalb ist es nicht auszuschließen, dass er sich im Intelligenztest zu einem weitgehend korrekten Gebrauch des Wortes „Freiheit“ als fähig erweist. Aber verstehen, was Freiheit bedeutet und warum sie dem Menschen so wichtig ist, wird er vermutlich nicht.
1 Kluge, 1884.
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Zu diesem Verständnis gelangt er nur, indem er die Freiheit an sich selbst erfährt. Der letzte Schultag vor den Sommerferien, die Lust, ungestört im eigenen Zimmer zu sein, die Erlaubnis, aus dem Bücherschrank lesen zu dürfen, was immer man will, oder der erste Einkauf mit eigenem Geld: Das sind Situationen, in denen die Freiheit offenkundig ist. Auch der alljährlich wiederkehrende Kampf gegen die kratzigen Winterstrümpfe, gegen das elende „Leibchen“ und die viel zu langen „kurzen Hosen“ sind in meiner Erinnerung mit echtem Freiheitsbewusstsein verbunden. Oder, viel später, das Gewicht der eigenen Entscheidung für die Philosophie und damit gegen den unbeirrten Rat der Familie. Das sind mögliche Erfahrungen, die den Sinn des Begriffs der Freiheit bestimmen. Es ist das aus eigenem Erleben stammende, individuelle Freiheitsbewusstsein, das uns verstehen lässt, was Freiheit heißt. Und es ist nicht zu sehen, warum dieses Bewusstsein im Widerspruch zu den Kausalrelationen der Natur stehen soll. Im Gegenteil: Erst die Unverbrüchlichkeit des Naturzusammenhangs erlaubt, auf den Wirkungsmechanismus der eigenen Freiheit zu setzen. Wenn ich am kommenden Dienstag um 11 Uhr² mein aus eigener schwerer Entscheidung geschriebenes Sondervotum gegen die von der Mehrheit des Deutschen Ethikrates betriebene Verharmlosung der Demenz vorstelle, dann geschieht das im Vertrauen darauf, dass nicht nur die Welt, sondern auch die Institution, die Personen und der Beschluss, gegen den ich mich wende, genauso geblieben sind, wie sie vor vierzehn Tagen waren, als ich das Sondervotum – auch im Vertrauen auf die Verlässlichkeit der Naturgesetze – schrieb.
4 Kleine Phänomenologie der Freiheit Die Selbsterfahrung der eigenen Freiheit dürfte eng mit dem Selbstvollzug unserer Lebendigkeit verbunden sein. Deshalb reichen ihre Wurzeln mit Sicherheit weit in die Naturgeschichte des Lebens zurück. Folglich ist es auch nicht abwegig, Analogien mit dem ungehinderten Lebensvollzug von Pflanzen und Tieren herzustellen. Sie werden von Spinozas umfassender Definition der Freiheit abgedeckt,³ passen aber auch zum weitläufigen Alltagsgebrauch des Begriffs. Es ist daher
2 Die Rede ist von der Pressekonferenz des Deutschen Ethikrates am 24. April 2012 in Berlin. 3 „Dasjenige Ding heißt frei, das aus der bloßen Notwendigkeit seiner Natur da ist und allein von sich zum Handeln bestimmt wird; notwendig aber oder vielmehr gezwungen (necessaria autem, vel potius coacta) dasjenige, was von einem anderen bestimmt wird, auf gewisse und bestimmte Weise zu sein und zu wirken“ (Spinoza, Ethik, I, 7. Definition). Darauf gehe ich im Folgenden noch ein.
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keineswegs vergeblich, sich an einer Naturgeschichte der Freiheit zu versuchen, die das, was der Mensch an sich selbst erfährt, in einen evolutionären Kontext stellt. Damit ist das Thema der folgenden Ausführungen benannt. Zunächst aber ist festzuhalten, wie eng der skizzierte Erfahrungszusammenhang an das humane Selbstbewusstsein gebunden ist. Überall dort, wo sich das Individuum als Urheber seiner eigenen Bewegung erlebt, wo es ihm gelingt, sich selbst aus einer unbequemen Lage zu befreien, wo es einem eigenen Wunsch nachgibt oder sich dem Verlangen eines anderen widersetzt, auch dort, wo es sich selbst bemühen, seine eigenen Kräfte einsetzen oder aus eigenem Impuls „Ja“ oder „Nein“ sagen kann: In allen diesen Fällen liegen Erfahrungen vor, die in der Regel mit dem Bewusstsein der Freiheit verbunden sind. Die Erfahrung der Selbstbewegung aus eigenem Impuls gewinnt an Prägnanz, sobald sie im Kontrast zum Verhalten anderer steht. In solchen Fällen kommt es zumeist zu einer ausdrücklichen Artikulation des eigenen Willens, der den Impuls des eigenen Strebens für andere kenntlich zu machen sucht. Im sozialen Zusammenhang ist das Erleben der eigenen Freiheit mit der Ausübung des eigenen Wollens verknüpft. Dieses Wollen ist, wie Nietzsche sagt, auf „etwas“ gerichtet. Was Nietzsche aber zu wenig beachtet, ist, dass das Selbstverständnis des Willens vornehmlich dadurch bestimmt ist, sich im Verein mit und im Gegensatz zu dem Willen anderer zu behaupten. Wollen ist ausdrücklich eigenes Wollen, das sich in Relation zum Willen eines Gegenübers begreift. Zwar wird man nachträglich auch dort, wo man ohne nachzudenken einfach seinen Eingebungen gefolgt ist, von „Ungebundenheit“ oder „Spontaneität“ sprechen. Hier kann durchaus auch von „Freiheit“ die Rede sein. Andererseits kann man sich als extrem unfrei erfahren, wenn die Tür hinter einem ins Schloss gefallen oder der Weg zurück versperrt ist. Der vom Hochwasser Eingeschlossene, der vom Schnee Verschüttete, der vor Schreck Gelähmte wird sich in extremer Bedrängnis fühlen; niemand käme auf die Idee, ihn als frei zu begreifen, selbst wenn er noch über Handlungsalternativen verfügte. Hier ist es nicht der Wille eines anderen, der für die Einschränkung verantwortlich ist, sondern die Situation ist durch einen bedauerlichen Umstand derart eingeschränkt, dass die gewohnten Handlungschancen nicht gegeben sind. Gleichwohl dürfte sich das Bewusstsein der menschlichen Freiheit wesentlich in jenen Lagen schärfen, in denen man sich gegen den Willen anderer zu behaupten hat. Das schließt nicht aus, dass man es als erhebend und befreiend empfindet, wenn man sich ohne Zwang dem Willen anderer anschließen kann. Aber dieses „ohne Zwang“, das für das Erleben der Freiheit grundlegend ist, kann nur in Relation zum Wollen anderer verstanden werden. Und da Unfreiheit mit Sicherheit dort gegeben ist, wo man unter dem Diktat des Willens eines anderen
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steht, darf man im Umkehrschluss behaupten, dass die eigene Freiheit sich im Vollzug des eigenen Willens entfaltet. ⁴
5 Freiheit im Gegeneinander der Willen In ihrer artikulierten Form, so kann man den Ertrag der kleinen Phänomenologie resümieren, bringt die Freiheit einen gesellschaftlichen Tatbestand zum Ausdruck: Sie geht zwar von der Fähigkeit zur individuellen Selbstbewegung aus, setzt aber nicht nur die Kompetenz zum eigenen Handeln, sondern auch zur Vergewisserung der eigenen Absichten voraus. Ferner unterstellt sie die Realität gegensätzlicher Absichten von Individuen im jeweils gegebenen sozialen Raum. Denn nur im Spannungsfeld individueller Intentionen kann das eigene Wollen wirklich als frei oder unfrei erfahren werden. Im lebensgeschichtlichen Verlauf einer Biographie kann man die Essenz der Freiheit in der Befreiung von der Verfügung durch den Willen eines anderen sehen. Ursprünglich ist jedes Individuum dem Willen anderer unterworfen. In der Regel sind es die Eltern, die das Kind in ihrer Obhut haben und nach ihrer eigenen Einsicht mit ihm verfahren. Doch die organische Eigenständigkeit des Einzelnen greift in einer normalen Entwicklung sukzessive auf einen zunehmend eigenständig kontrollierten Bewegungsapparat und auf einen selbstbewussten Ausdruck über. Das Individuum kann, muss und will sich aus eigenem Antrieb bewegen und hat sich zunehmend eigenständig zu artikulieren. So entsteht und wächst die Geschicklichkeit im Umgang mit sich selbst, die eine weitreichende Selbstwahrnehmung sozial gerichteter Äußerungen im Gefolge hat. Zugleich wachsen die Eigeninteressen und rufen unvermeidlich Konflikte hervor. Sie sind es, in denen sich der Wille des Einzelnen schärft. Im trotzigen „Nein“ des Kindes wird er ihm selbst und anderen vermutlich erstmals bewusst. Sobald sich das Wollen differenzierter äußern kann, wird es zu einem für einen
4 Das hier skizzierte Verständnis von Freiheit hat eine lange Tradition. Jean Bodin hat ihm zu einem klassischen Ausdruck verholfen: „Natürliche Freiheit bedeutet für uns, […] keinem lebenden Menschen unterworfen zu sein und von niemand anderem Befehle entgegenzunehmen zu haben als von sich selbst, d. h. von der eigenen Vernunft, die stets im Einklang mit dem Willen Gottes steht“ (Bodin, 1981, Buch I, Abschnitt 3). Dass Bodin nicht nur an die Übereinstimmung der eigenen Tat mit dem eigenen Willen, sondern auch an eine Koinzidenz mit dem Willen Gottes denkt, bringt den Anspruch auf die Vernunft im eigenen Willen zum Ausdruck. Wenn der Einzelne mit seinem Wollen nicht nur im Augenblick übereinstimmen will, muss er sich auf einsichtige Gründe stützen, deren Angemessenheit im Horizont seiner Selbst- und Weltkenntnis tatsächlich am besten dadurch angezeigt werden kann, dass man glauben darf, sie entsprächen dem Willen Gottes.
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selbst wie für die anderen erkennbaren Movens der Freiheit, die ihr sicherstes Bewusstsein in der Unabhängigkeit vom konkreten Wollen eines anderen hat. Die Eigenständigkeit des eigenen Wollens ist es somit, die wir meinen, wenn wir von Freiheit sprechen. Solange sich ein Mensch nach seinen eigenen Einsichten richten, solange er nach seinen eigenen Gründen handeln kann, begreift er sich als frei. Und daran ändert sich nichts, wenn er die Natur sowohl im Ganzen wie auch im Detail als „determiniert“ bezeichnet. Diese Determination durch Kausalität bezieht sich auf den Weltlauf im Ganzen, meint vor allem die von den Wissenschaften zum Gegenstand gemachte Natur, zu der wir selbst gehören, ja gehören wollen, wann immer wir uns kratzen, auf die Einnahme von Medikamenten vertrauen, uns eines Angriffs erwehren oder bei einem Vortrag auf sicherem Boden stehen und zumindest akustisch verstanden werden wollen. Die „Kausalität aus Freiheit“, von der man im Anschluss an Kant bis heute spricht, bezieht sich hingegen auf die Urheberschaft für das eigene Tun. Deren Subjekt ist das sich artikulierende Selbst und damit das sich seiner selbst bewusste Ich, das, sofern es sich überhaupt äußern kann (und sofern es überhaupt einen Sinn ergibt, von einem Selbst oder Ich zu sprechen), keinen Anhaltspunkt dafür enthält, dass seine bereits in der Organisation seines Leibes zum Ausdruck kommende Eigenständigkeit seines artikulierten Bewegungs- und Handlungsimpulses zur Kausalität der Natur in Widerspruch stehen könnte.
6 Die Bedeutung der organischen Einheit Es ist nicht unerheblich, in der Zuschreibung der Urheberschaft darauf zu achten, dass jeweils vom ganzen Organismus die Rede ist. Die Zurechnung erfolgt üblicherweise nicht allein mit Blick auf die Hand, die den Backenstreich ausgeführt hat. Die Freiheit ist nicht auf die Lippen beschränkt, denen das unbedachte Wort entschlüpfen konnte, und meint, selbst wenn sich jemand aus Ärger über sein Tun an die Stirn fasst, niemals bloß seinen Kopf oder das, was darinnen ist. Sie ist vielmehr stets auf den ganzen Menschen gerichtet, und zwar auf die Einheit, die er in seinem Empfinden, Erleben, Denken und Handeln selbst erfährt, die aber auch von seinesgleichen wahrgenommen und angesprochen wird. Die organische Einheit eines Lebewesens trägt auch den praktischen, semantischen und symbolischen Konnex seiner Bewegungen. Die Einheit in der Wirkung und im Sinn seiner Äußerungen hat ihren Grund in der organischen Selbstbezüglichkeit des lebendigen Wesens, bei dem alles, was aus eigenen Systembedingungen heraus erfolgt, als Funktion ebendieses Systems angesehen
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werden muss. Noch dessen Offenheit und Veränderbarkeit stehen im Interesse des Systems. Folglich kann, ja muss man auch die affektiven und intelligiblen Leistungen eines Organismus als Momente im Vollzug seiner Eigenart verstehen. Alles, was ihn daran hindert, nach seiner Eigenart zu agieren und zu reagieren, schränkt ihn derart ein, dass man von der Behinderung seines Lebensvollzugs sprechen kann. Im Zustand aktueller Behinderung wird man ihn nicht als „frei“ bezeichnen können. Ist die Behinderung hingegen habituell, so dass er auf eine Prothese angewiesen oder an einen Rollstuhl gefesselt ist, kann er durchaus in seinen Lebensäußerungen als frei bezeichnet werden – sofern sie seiner eigenen Verfügung unterstehen. Und niemand, so hoffe ich wenigstens, käme auf die Idee, die der leiblichen Verfügung des behinderten Menschen entzogenen Organe von der Einheit abzuziehen, in der er als Mensch unter Menschen wahrgenommen wird. Wir bewundern Stephen Hawking nicht zuletzt deshalb als ganzen Menschen, weil ihm die Bewegungsdisposition über so gut wie alle Organe seines Körpers entzogen ist und er gleichwohl als Person, als Mensch in seiner Wahrnehmung, Empfindung und in seinem Denken zu einem eigenen Ausdruck findet, obgleich dieser in seiner intellektuellen Reichweite an die Übersetzungsleistung einer hochkomplexen elektronischen Maschinerie gebunden ist. Auch die Freiheit dieses Ausdrucks gibt es nur unter den Bedingungen der verlässlichen Kausalmechanik der Natur.
7 Die soziale Dimension von Ich und Selbst Doch so sehr die Freiheit vom ganzen Organismus getragen und ihm auch nicht genommen wird, wenn er eine Brille benötigt oder zur Fortbewegung auf den Rollstuhl angewiesen ist, so offenkundig ist es auch, dass wir ihm die Freiheit nicht allein in seiner organischen Präsenz zuschreiben, sondern in dem, worin er sich selbst zum Ausdruck bringt. Nicht ohne Grund ist in der jahrtausendealten Debatte von der „Willensfreiheit“ die Rede. Als „frei“ gilt das Wollen oder das, was wir als dessen Träger unterstellen, also das Ich oder das Selbst oder das, was wir als die eminente Leistung des Wollens, nämlich die Handlung, ansehen. Es liegt mir fern, die Unterschiede zwischen diesen Begriffen einzuebnen. Aber zunächst kommt es darauf an, die soziale Dimension ernst zu nehmen, in der sie verbunden sind: – Handlungen sind Bewegungsvollzüge im gesellschaftlichen Zusammenhang, die ihre Bedeutung dadurch haben, dass sie im Bewusstsein möglicher Verständlichkeit durch andere vollzogen werden. Wenn Robinson auf seinem
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namenlosen Eiland weiterhin handelt, dann geschieht das in Fortsetzung der längst erfolgten Sozialisation, die ihm erlaubt, auch außerhalb der Zivilisation ein Selbstverständnis zu haben, das ihm sein Erleben und seine Erzählung ermöglicht. In seinem Verhalten nimmt er die Gesellschaft mit, deren er als Gestrandeter entbehren muss, ohne die er aber nicht der geworden wäre, der er ist. Jedes Wollen bezieht seinen Sinn aus der Referenz auf das wechselseitige Wollen, durch das man sich im menschlichen Zusammenhang über mögliche Handlungen der in ihm verbundenen Individuen verständigt. Es ist auf das Wollen anderer bezogen und hat, wie übrigens auch die Gefühle, einen kommunikativen Sinn. Somit ist auch das Wollen, so absolut eigensinnig es zuweilen erscheint, ein sozialer Tatbestand. Das Selbst ist nicht einfach nur das selbstreferenzielle Integral des Leibes, der dadurch doch nur die Einheit gewönne, die er innerhalb seiner physiologischen Grenzen ohnehin schon hat. In das Selbst geht immer schon ein Umweltbezug ein, der es in der Interaktion mit anderen Lebewesen (vorzüglich mit denen seiner eigenen Spezies) erlaubt, einen Organismus als Urheber von Aktivitäten wahrzunehmen. So können im belebten Umfeld aus bloßen Ausdrucksmerkmalen und Verhaltensschemata Schlüsse auf Aktivitäten anderer gezogen werden. Das Selbst in dieser biologischen Formation kommt nur in der Wahrnehmung anderer zur Geltung. Erst im Ich macht ein Selbst eine ausdrückliche Erfahrung seiner selbst. Das Ich ist schließlich nicht, wie Nietzsches Zarathustra meint,⁵ die übermütige Erfindung des Selbst, um seine Macht zu steigern – und zu genießen, wann immer es das Ich „am Gängelbande“ laufen lassen und seine den Selbstgenuss befriedigenden metaphysischen Bocksprünge tun kann. Im Ich findet das Selbst vielmehr zu seiner auch für es selbst identifizierbaren Einheit, die wesentlich für die Wahrnehmung durch andere, eine sich selbst durch ein Ich profilierende Formation des Selbst, ist.
Dabei ist die (Nietzsche leider entgangene) Pointe, dass sich das in seiner sozialen Referenz auf andere Ich-sagende Individuen beziehende Ich bereits ursprünglich aus der Verfügung durch den Leib löst. Das Selbst hat ein Ich, nicht, weil es sich gegenüber dem Leib profilieren will, sondern weil es sich gegenüber anderen Trägern eines Selbst zu konturieren hat. Das Ich repräsentiert zwar mit dem Selbst auch den Leib, den es in der sozialen Verständigung konzentriert, aber es kann sich unter dem Eindruck der Verständigung mit anderen Ich-sagenden Individuen
5 Nietzsche, KSA 4, S. 39 f.
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durchaus auch gegen den Leib behaupten. Anders wäre die Nietzsche so wichtige „Selbstüberwindung“ ein Akt ohne Ich-Bewusstsein, und ein aus bewusster Entscheidung vollzogener Suizid liefe auf ein Missverständnis hinaus. Nimmt man diese hier nur angedeutete Analyse auf, dann zeigt sich, dass die Träger der Freiheit allesamt durch eine soziale Anlage ausgezeichnet sind. Folglich wird man die Freiheit in ihrer kategorialen Stellung selbst als ein ursprünglich soziales Vorkommnis ansehen müssen. Allein dadurch geht sie über die in allen Naturgegebenheiten wirksame Kausalität hinaus. Wer es ungeachtet des Selbstwiderspruchs, der darin ohnehin liegt, darauf anlegt, die Existenz der Freiheit mit wissenschaftlicher Verbindlichkeit zu leugnen, der müsste zunächst zeigen, dass es nicht nur in der Natur, sondern auch in der Gesellschaft keine Freiheit gibt. Niemand, der jetzt diese Zeilen liest, könnte sagen, dass er nichts Besseres zu tun hat. Einen solchen Negativbeweis, der sich, wie man weiß, schon aus methodologischen Gründen gar nicht führen lässt, könnte man somit gar nicht allein mit Blick auf die internen Funktionen in einem Organismus zuwege bringen. Hirnströme reichen unter keinen Bedingungen aus, um zu beweisen, dass es die Freiheit nicht gibt.
8 Es gibt nur eine Freiheit Ein willkommener Nebeneffekt der Einsicht in die soziale Dimension der Freiheit ist, dass wir erkennen können, warum es unerheblich ist, ob wir von Willens- oder Handlungsfreiheit sprechen. Wenn sowohl das Ich wie auch der Wille eine soziale Dimension haben, können sie in ihren Aktivitäten nicht vom gesellschaftlichen Umfeld abgelöst werden. Die Einsicht wird dadurch vertieft, dass auch das Bewusstsein mehr ist als ein durch Reflexion erhellter Innenraum der Subjektivität. Er ist vielmehr im Ganzen Ausdruck der Öffnung eines Individuums, das sich durch den Bezug auf Sachverhalte der gemeinsamen Welt seinesgleichen mitteilt. Insofern gehört die Freiheit zur Disposition des Bewusstseins in seiner Ausrichtung auf andere durch anderes. Diese Freiheit hat jeder, sofern er nur denkt. Hier etwa nur vom Willen zu sprechen, wäre schon zu wenig. Andererseits aber ist die dispositive Leistung des Bewusstseins ursprünglich auf andere seiner selbst bezogen. Bewusstsein ist Ausrichtung im Modus des Aufmerkens, des Hörens, des Zeigens, der Antwort und der An- und Aussprache. Ohne eigene Aktivität – zumindest die der Aufmerksamkeit auf andere und anderes seiner selbst – kann nichts zu Bewusstsein kommen, geschweige denn bewusst geäußert werden. Insbesondere dort, wo Widerstände erwartet oder
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vermutet werden, wird man die Ausdrücklichkeit des Wollens benötigen. Da es das Tun, die Umsetzung einer Intention einschließt, sind bereits auf der Ebene des Bewusstseins Handlungen im Spiel. Sie sind Ausdruck der Selbstaktivierung durch welthaltige Kommunikation mit anderen seiner selbst. Wo wollte man hier die rote Linie zwischen Willensfreiheit und Handlungsfreiheit ziehen? Gewiss: Wille und Handlung lassen sich analytisch trennen: Der Wille liegt, gerade auch unter Kondition der Verständigung, vor der in Angriff genommenen Tat. Und die Handlung lässt sich als Folge des willentlich gefassten Beschlusses begreifen. Ich kann, wie wir seit Schopenhauer immer wieder lesen können, auch ein bestimmtes Wollen wollen, und brauche selbst dann die Tat nicht folgen zu lassen. Hier hat der Scharfsinn eine schöne Spielwiese, auf der er sich austoben kann. Die Freiheit aber ist in beiden ein und dieselbe, auch wenn es natürliche und künstliche Hemmnisse gibt, die den Übergang vom Willen zur Handlung verhindern. Wollten wir hier eine kategoriale Unterscheidung einführen, hätten wir das Gleiche zwischen Wollen und Wünschen sowie zwischen Wünschen und Denken – und möglicherweise auch noch zwischen dem Denken und dem Denken des Denkens – vorzunehmen. Nach unserem Alltagsverständnis erscheint es keineswegs sinnlos, das zu tun. Man kann ja durchaus etwas damit verbinden, dass zwischen der Freiheit des Denkens, des Wünschens, des Wollens und des Tuns unterschieden wird. Der unseren amerikanischen Freunden offenbar nicht vertraute Reflexionsidealismus eines Theodor Litt, der noch in den Theorien des subjektiven Bewusstseins bei Dieter Henrich und Manfred Frank nachwirkt, kennt ein Denken des Denkens des Denkens – und glaubt, damit etwas über die Natur des Bewusstseins aussagen zu können. Halten wir hingegen an unserem Kriterium fest, die Freiheitserfahrungen daran zu binden, dass wir dann frei sind, wenn wir keiner zwingenden Verfügung durch den Willen eines anderen unterliegen, bleibt das entscheidende Moment der Freiheit ohnehin auf jene Aktivitäten beschränkt, die durch den Willen eines anderen behindert oder gar unterbunden werden können. Dieser Wille des einen ist an den Willen des anderen adressiert und dürfte in der Regel unterstellen, dass der andere neben handeln auch denken und wünschen kann. Aber ob der Zwang auch auf die Instanzen des experimentellen Wollens oder des prüfenden Denkens durchschlägt, lässt sich zweifelsfrei nur in physischen Handlungskontexten feststellen, sosehr er Auswirkungen auf das emotionale, volitive und intellektuelle Selbstverhältnis haben mag. Gleichwohl ist die Freiheit, die einer von außen nicht direkt einzuschränken vermag, keine prinzipiell andere als jene, die direkten physischen Ausdruck in vollzogenen Handlungen finden kann. Aus der Geschichte der Vorurteile, der
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Ideologien und der Zensur wissen wir, dass von außen auch auf das Bewusstsein von Zeitgenossen Einfluss genommen werden kann. Wo solche Ein- oder Auswirkungen vermutet werden, spricht man gelegentlich von „struktureller Gewalt“, die mit einer erheblichen Freiheitseinschränkung verbunden sein kann. Doch auf diesen mit vielen begrifflichen Schwierigkeiten belasteten Punkt gehe ich hier nicht näher ein. Ich erwähne ihn nur, um die systematische Fragwürdigkeit der zunächst so plausibel erscheinenden Unterscheidung zwischen Handlungs- und Willensfreiheit zu unterstreichen.
9 Freiheit nur unter der Gesetzmäßigkeit der Natur Nachdem ich so nachdrücklich für die individuelle wie auch für die soziale Dimension der Freiheit plädiert habe, wird man es hoffentlich nicht für den Ausdruck eines kruden Naturalismus halten, wenn ich im zweiten Teil meiner Überlegungen etwas zur Naturgeschichte der Freiheit zu sagen versuche. Auch wenn im Gebrauch des ursprünglich auf den handelnden Menschen bezogenen Freiheitsbegriffs die Kausalität der Naturereignisse kein Thema ist, bleibt es eine unausweichliche Frage, wie denn der Mensch mit seinem ihn als soziale Einheit unter sozialen Einheiten auszeichnenden Freiheitsbewusstsein in den Zusammenhang jener Naturvorgänge passt, denen er selbst als Naturwesen zugehört, denen er als soziales Wesen nicht entkommt und die er durch den Begriff der Kausalität zu erfassen sucht. Die erste und wichtigste Auskunft ist, dass der Mensch in seinem Freiheitsbewusstsein auf nichts so sehr angewiesen ist wie auf die Verlässlichkeit der ihm bekannten Natur. Bei jedem Schritt, den er tut, bei jedem Bissen, den er schluckt, bei jedem Werkzeug, das er einsetzt, und bei jedem Haus, das er baut, vertraut er auf die unverbrüchliche Gesetzmäßigkeit der ihn umgebenden Welt. Mag er die strikte, alles Geschehen tragende Geltung des Gesetzes der Kausalität auch noch so spät entdeckt und beschrieben haben: In der Sache gründet er seinen Umgang mit den Dingen schon immer auf die lückenlose Geltung der Naturgesetzlichkeit. Wie hätte der Mensch Waffen ohne die Annahme herstellen können, dass sie immer auf dieselbe Weise wirken und durchschnittlich nur den verletzen, gegen den sie gerichtet sind? Wie hätten die Menschen je das Feuer domestizieren können, wenn sie hätten befürchten müssen, dass es jederzeit auch auf die Steine, die Erde, die Höhle, den Herd oder das Löschwasser übergreift? Was hätten ihnen die Erkenntnis, das Lernen und die Wissenschaft gebracht, wenn die Natur
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wirklich voller „Lücken“ wäre, die sich erst dadurch füllen, dass einer sie mit freien Handlungen auszustopfen sucht?⁶ Im Wissen und im handwerklichen Tun, im Planen und Erinnern, im Umgang mit dem eigenen Körper und den Gegenständen der äußeren Welt, sei es das Holz, aus dem man Schiffe baut, seien es die Schienen, auf denen die Eisenbahn fährt, oder die Elektrizität, die unsere Computer treibt: In alledem geht der Mensch von der Regelmäßigkeit des Naturgeschehens aus. Er nimmt sie als Voraussetzung seines Handelns an, setzt sie nach Art eines Mittels ein und kann gar nicht umhin, sie auch noch jenen Zuständen zu unterstellen, die er mit seinen willentlichen Aktivitäten erreichen will. Warum denn sollte er selbst eine Ausnahme von den Naturerscheinungen sein? Er wird es jedenfalls nicht dadurch, dass er sich zur „Ausnahme“ erklärt.
10 Die Natur im Widerstreit mit sich selbst Die Natur, die wir sind, die wir erleben und die wir in separierten begrifflichen Leistungen erkennen, ist kein linearer Prozess im ungehinderten Übergang von Ursachen zu Wirkungen. Sie ist zunächst und in allem ein unendlich vielfältiges, myriadenhaft individuiertes und organisiertes, in labilen Gleichgewichten nur zeitweilig austariertes, aber fortlaufend durch sich selbst gestörtes Konglomerat
6 Zum Heil in der Lücke zitiere ich Ernst Cassirer: „Es wäre von vornherein schlecht um die Ethik und um ihre eigene Würde bestellt, wenn sie ihre Autorität nicht anders aufrechterhalten und ihre eigentümliche Aufgabe nicht anders erfüllen könnte als dadurch, daß sie nach Lücken in der wissenschaftlichen Naturerklärung Ausschau hält und sich in diese Lücken gewissermaßen einnistet. In ihnen könnte sie immer nur ein Schattendasein führen; die ethische ‚Freiheit‘ wäre irgendwie in der Welt geduldet, aber sie könnte keine Wirkung, keine wirkliche Macht auf die Welt ausüben; sie könnte ‚nach außen nichts bewegen‘. Und doch kommt für das Problem der Sittlichkeit alles auf diese Bewegung an. Sittliche Freiheit soll keine bloße Möglichkeit, keine leere ‚Potenz‘ bedeuten; ihr Sinn und ihre Bedeutung besteht in ihrer Aktualisierung, in ihrer ständig fortschreitenden Selbstverwirklichung. Für diesen Akt der Selbstverwirklichung reicht der bloß negative Begriff der Unbestimmtheit oder Bestimmungslosigkeit nicht aus; für ihn werden andere positive Kräfte, werden eigentümliche Prinzipien und Gründe der Bestimmung gefordert. Diese Gründe sind in der Ebene, innerhalb deren sich die physikalische Naturerklärung – die klassische wie die quantentheoretische – bewegt, nicht aufzufinden. […] Es handelt sich nicht darum, innerhalb des empirischen Geschehens den Zwang der ‚strengen Naturgesetze‘ zu durchbrechen oder irgendwie zu lockern. Es handelt sich darum, einen neuen Gesichtspunkt zu finden und durchzuführen. […] Menschliche Handlungen – das ist es, was die Ethik allein fordert – sollen einer doppelten Beurteilung fähig und zugänglich sein; sie sollen als Ereignisse in der Zeitreihe kausal determiniert sein. Aber ihr Gehalt und Sinn soll nicht in diesem Determinismus aufgehen“ (Cassirer, DIPh, S. 237 f.).
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von Gegensätzen, das überdies in seiner energetischen Grundstruktur auf Quanten beruht, deren Verhalten sich unter keinen Bedingungen berechnen lässt. Vermutlich ginge man schon zu weit, wenn man von einem „System“ repulsiver und attraktiver, antagonistischer und symbiotischer Kräfte spräche. Aber es kommt unserem Verlangen, selbst Einheit zu sein, entgegen, wenn wir auch unser Gegenüber als Einheit begreifen. Und die Freiheit, die mit unserem Einheitsverlangen auf das Engste verbunden ist, schreiben wir auch diesem Gegenüber zu. Daher die Neigung, die Natur als Ganze selbst als lebendig und eigenständig anzusehen und sie begrifflich entsprechend auszuzeichnen. Gleichwohl verzichte ich darauf, einen Begriff für das Flimmern der Energien zu finden, das sich uns als „Natur“ zu erkennen gibt. Sicher ist nur, dass wir viel zu wenig sagen, wenn wir die kausale Ordnung exponieren, ohne hinzuzufügen, dass sich die Kausalität offenbar bestens mit der inkommensurablen Vielfalt und den chaotischen Gegensätzen in ihrer realen Bewegung verträgt. Erst die Kausalität ermöglicht die Bildung und Verstärkung einzelner Kräfte, und es schmälert ihre Gesetzlichkeit keineswegs, dass sie es ist, die alles wieder zerstört. Das gilt vor allem für die belebte Natur. Hier konzentrieren und multiplizieren sich die Gegensätze ins Unabsehbare. Hier bilden sich immer neue Einheiten, die Lebensformen zerstören und schaffen, welche ihrerseits neuartige Widerstände stimulieren. Am selben Individuum und in derselben Gattung gibt es einen rhythmischen Wechsel von Steigerung und Verfall. Unablässig werden Einheiten gebildet und wieder vernichtet, einzelne Wesen entstehen und vergehen, wobei es immer wieder vorkommt, dass die Rekombination von Materialien und Strukturen zu völlig neuen Arten führt. In diesem synergetischen Feld fortgesetzter Kongruenzen und Oppositionen treten also lebendige Wesen auf, von denen sich, ohne dass es jemand bestreitet, sagen lässt, dass sie sich „aus eigenem Antrieb“ bewegen. Auch wenn ihre Bewegungen – innen wie außen – auf Naturgesetzen beruhen und obgleich ihr physisches Substrat durch und durch aus lückenlos aneinander liegenden Stoffen besteht, die jeweils selbst ihrer spezifischen Gesetzmäßigkeit folgen, haben die lebendigen Wesen dennoch ihre eigene Dynamik, die sich nach ihren gattungsspezifischen Regeln, nach den gemachten Erfahrungen und nach den situativen Gegebenheiten vollzieht. Angesichts der von den Apostaten der Freiheit unterstellten These einer durchgängig durch Kausalität festgelegten Natur ist das ein höchst unwahrscheinlicher, aber offenbar nicht unmöglicher Tatbestand, denn er ist es, der unser Leben ausmacht. Das nach strikter Kausalität Unmögliche manifestiert sich in jedem Akt des Lebens, das dieselben Theoretiker, die Freiheit bestreiten, als „spontan“ verur-
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sacht und als „eigengesetzlich“ beschreiben.⁷ Wenn es aber spontane Bewegung, eigene Dynamik und sich selbst erhaltende Strukturen gibt, dann ist nicht einzusehen, warum es ausgerechnet die Freiheit nicht geben soll, die diese Ursprünglichkeit und Eigengesetzlichkeit eines lebendigen Wesens zum Ausdruck bringt.
11 Das Leben paradiert nicht in geschlossener Front Es scheint niemanden zu wundern, dass die Kausalität der Natur eine so große Vielfalt an Formen hervorzubringen vermag und mit ihnen zahllose Wesen, die sich wechselseitig ihre Existenz streitig machen. Ehe wir uns über die Freiheit wundern, sollten wir darüber staunen, dass die Naturkausalität überhaupt so etwas wie Leben zulässt. Möglich ist das Leben nur, weil die Natur nicht in geschlossener Front prozessiert. Sie wird nicht von einer einzigen Kausalkette gezogen, sondern besteht aus einer Vielzahl sich wechselseitig verstärkender, behindernder und vernichtender Kräfte, und es ist das Wechselspiel dieser Kräfte, das zum Aufbau organischer Einheiten so genutzt wird, dass sie sich selbst nach Art einer einzigen Kraft behaupten können, die ihrerseits durch die Integration widerstreitender Kräfte entsteht und alles andere als eindeutig berechenbar ist. Angesichts der Vielfalt tatsächlich wirkender Kräfte ist es, trotz strikter Determination, noch nicht einmal möglich, die nächstliegende Wirkung vorherzusehen.⁸ Das Leben ist der Bereich der Natur, an dem wir auch „innerlich“ Anteil nehmen. Denn ihm gehören wir nicht nur äußerlich, sondern gänzlich zu – sowohl in unserem Stoffwechsel als auch in unseren Empfindungen und Gefühlen. Die Anteilnahme erlaubt uns zu sagen, ob sich unter den als gegeben beobachteten Bedingungen etwas nach eigenen Kräften ungehindert entwickeln und bewegen kann. In dieser – Erkenntnis immer schon voraussetzenden – Anteilnahme können wir dann sagen, dass sich der Fluss nicht mehr „ungehindert“ durch die 7 Roth, 1990, S. 167– 180. 8 In der nüchternen Sprache eines Biologen: „Die Wahrscheinlichkeiten für das Eintreten eines Ereignisses gehorchen dabei zwar deterministischen Gesetzen, ob das Ereignis jedoch auch eintritt, und wann dies geschieht, ist unvorhersagbar. Zusätzlich stellt ein Organismus kein abgeschlossenes System dar, sondern steht andauernd mit seiner beliebig hochdimensionalen Umwelt in Verbindung. Aus beiden Gründen kann die zukünftige Entwicklung eines Organismus selbst bei vollständig bekannten internen Anfangsbedingungen nie exakt vorausgesagt werden“ (Herz, 2008, S. 35).
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Niederungen schlängelt, sondern durch Dämme in ein festes Bett „gezwängt“ ist. Wir sehen nicht ohne Beklemmung auf das in Reih und Glied gesetzte Obst im Spalier, bedauern die mit Maulkorb oder Trense disziplinierten Tiere oder beschleunigen unversehens, wenn wir einen Viehtransporter zu überholen haben. In allen diesen Fällen haben wir eine Vorstellung vom natürlichen Bewegungsverlauf. Er erscheint uns zwangsläufig als „frei“, sobald wir ihn mit dem Verhalten vergleichen, das durch äußere Einwirkung erzwungen wird. Was der naturbelassenen Bewegung ausdrücklich entgegensteht, erscheint uns als gewaltsamer Eingriff, als Behinderung oder Zwang, als künstlich und eben damit nicht als „frei“. Dem entspricht die bereits erwähnte Definition der Freiheit in Spinozas Ethik: „Dasjenige Ding heißt frei, das aus der bloßen Notwendigkeit seiner Natur da ist und allein von sich zum Handeln bestimmt wird; notwendig aber oder vielmehr gezwungen (necessaria autem, vel potius coacta) dasjenige, was von einem anderen bestimmt wird, auf gewisse und bestimmte Weise zu sein und zu wirken.“⁹ Die Pointe von Spinozas Axiom liegt in der Verschränkung von Notwendigkeit und Freiheit. Frei ist das, was sich nach seinem eigenen Gesetz bewegt. Wir könnten, in Anlehnung an die Terminologie Immanuel Kants (dessen Freiheitsbegriff dem Spinozas nicht widerspricht),¹⁰ auch von der „Selbstorganisation“ des lebendigen Wesens sprechen.¹¹ Frei ist demnach das, was sich nach eigenen Gesetzen selbst organisiert. Wie nahe sich in diesem Verständnis Natur und Freiheit kommen, hat übrigens bereits ein antiker Denker vor Augen geführt. Wenn Lukrez die Natur als dasjenige definiert, was „selber, spontan alle Dinge ganz aus sich heraus vollführt“ (ipsa sua per se sponte omnia dis agere expers), begreift er sie als eine Art
9 Spinoza, Ethik, Teil I, 7. Definition. – Die Parallele zur Definition Jean Bodins ist offenkundig. 10 Denn auch Kant kennt im kausalen Naturgeschehen keine Teleologie. Dazu: Gerhardt, 2002; Zu den ethischen Konsequenzen: ders., 2006, S. 1– 10. 11 In seiner dritten Kritik, der Kritik der Urteilskraft von 1790, hat Kant eine ingeniöse Theorie des Lebens entworfen. Mit ihr hoffte er, den lange gesuchten Übergang von der mechanischen zur dynamischen Naturtheorie zu finden. Demnach beurteilen wir alles Lebendige als einen Fall von individueller Selbstorganisation im Prozess einer sich in und durch die Individuen vermehrenden Gattung. Jeden Organismus betrachten wir so, „als ob“ er im strukturellen Aufbau wie auch im Gang seiner prozessualen Entwicklung eigenen (und damit „freien“) Zwecken folgte. Die lebendigen Zwecke kommen unserer eigenen Vernunft in der Selbstbewegung organischer Wesen entgegen. In ihnen zeigt sich die innere Einheit der Natur, für deren Erkenntnis wir nicht mehr benötigen als das Selbstbewusstsein unserer eigenen Freiheit. Diese Freiheit erfahren wir in der Selbstbewegung aus eigener Kraft, in der wir selbstbestimmten Zwecken folgen, so dass wir darin selber Mittel unserer eigenen Zwecke sind. Im Bewusstsein unserer eigenen Freiheit organisieren wir uns selbst (vgl. Kant, KU, § 49; AA 5, S. 313).
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kosmischer Selbstorganisation, die sich jedem einzelnen Lebewesen mitteilt und die ihren höchsten Ausdruck im Verhalten des vernunftgeleiteten Menschen, vornehmlich natürlich des philosophierenden Weisen, findet.¹²
12 Die Spontaneität der Selbstorganisation und die Vielfalt der Arten Das unter Anleitung der modernen Biologie entstandene Verständnis der lebendigen Natur als einer sich in zahllosen Populationen individuell entfaltenden Selbstorganisation bringt die überlieferten Formen von Natur und Freiheit einander beträchtlich näher, als dies unter dem Paradigma der Physik möglich war. Nunmehr erscheint es immerhin als denkbar, eine Naturgeschichte der Freiheit zu entwerfen, die der Kulturgeschichte der eigentlichen, der selbstbewussten Freiheit des Menschen zugrunde liegt. Wenn wir das Lebewesen als eine in sich kohärente Einheit verstehen, die sich aus eigenem Impuls nach ihren eigenen Regeln zu bewegen vermag, dann braucht niemand anzunehmen, dass diese Regeln im Widerspruch zu den Gesetzen stehen, nach denen nicht nur die umgebende, sondern auch die den Organismus durch und durch tragende Natur verfährt. Die Kausalität gilt außen und innen. Sie ist überall anzutreffen, wo einzelne Ereignisse in nahtloser zeitlicher Sukzession aufeinander folgen. In seiner physischen Konstitution macht der Organismus keine Sprünge. Das gilt selbst für jene Fälle, in denen er selber springt. Sobald wir vom Ganzen eines Organismus sprechen, haben wir die lineare Erklärung nach dem Kausalschema hinter uns gelassen. Alle Einzelvorgänge mögen dem direkten Kausalnexus entsprechen, das Ganze eines lebendigen Wesens aber reagiert als System, das durch seinen spezifischen Konnex spezifischer Regeln seine eigene Gesetzmäßigkeit im Umgang mit äußeren Reizen hat. In Relation zu den separaten externen und internen Vorgängen nimmt sich das
12 Lukrez, De rerum natura, II, V. 1092. Die Feststellung wird in genetischer Perspektive gemacht und bezeichnet die „befreite Natur“ (natura libera), die sich von ihren „herrischen Zwingherren“ (dominis superbis), den Göttern also, losgelöst hat und sich nun ganz aus eigenen Impulsen bewegt. Bemerkenswert ist, dass Lukrez auch den weisen Menschen mit ähnlichen Worten beschreibt wie die von der Vormundschaft der Götter befreite Natur: „Doch der übrige Teil der Seele, verstreut durch den ganzen Körper, gehorcht und bewegt sich nach Willen und Wink des Geistes. Der ist weise für sich allein aus sich (sibi solum per se sapit), und er freut sich auch für sich, während nichts weder Körper bewegt noch das Leben“ (III, V. 142– 146). Dazu systematisch: Gerhardt, 1999, S. 180 ff.
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System, wenn ich so sagen darf, die Freiheit, sich so zu verhalten, wie es ihm entspricht. Natürlich gehen wir nicht so weit, jedem System „Freiheit“ nach Art der menschlichen Selbsterfahrung zuzusprechen. Andererseits aber käme wohl niemand auf die Idee, dem Organismus die Möglichkeiten zu hoch spezialisierten und das heißt zugleich: zu hoch individualisierten Verhaltensformen abzusprechen. Da jedes Individuum einzigartig ist und im Gang seines Lebens durch die Summierung von Eindrücken, Erfahrungen und Leistungen nichts von dieser Individualität verliert, ist auch nicht anzunehmen, dass sich die Besonderheit des Systems verliert, in dem das Individuum seine Einheit hat. Die Lebensgeschichte findet in der körperlichen Beschaffenheit des Organismus ihren Niederschlag. Aber entscheidend sowohl für den Organismus wie auch für den Betrachter ist, dass sich gegebene und gewachsene Individualität im Verhalten des Organismus dokumentieren. Das Verhalten ist Ausdruck des ganzen Systems, als das wir den Organismus begreifen. Folglich sind die Exposition und die Expression des Ganzen durch es selbst vermittelt.¹³ Wem diese Ausdrucksweise zu geheimnisvoll erscheint, der kann den (immerhin technisch simulierbaren) Begriff des reflexiven Mechanismus verwenden, der hinreichend deutlich anzeigt, dass sich das Verhalten eines Organismus nicht auf lineare Kausalrelationen reduzieren lässt. Also haben wir in den reflexiven Mechanismen, von denen in Biologie, Soziologie und Informatik die Rede ist, eine reale Form physischer Wirksamkeit in nicht linear-kausaler Form.¹⁴ Dazu brauchen wir den Bezug auf die individuell verstandene Einheit eines lebendigen Wesens. Dieser Bezug liegt uns nicht zuletzt deshalb so nahe, weil wir uns selbst als lebendige Einheit begreifen. Entsprechendes gilt für soziale Körperschaften, die Institutionen, in denen wir uns selbst als ein lebendiger Teil einer lebendigen Einheit verstehen. Dieses Verständnis kann durch die kausalmechanische Reduktion schon deshalb nicht bestritten werden, weil es den Prozess der Erkenntnis trägt, der uns nicht nur die Chance eröffnet, von reflexiven Mechanismen und lebendiger Organisation, sondern auch von kausalmechanischer Erklärung zu sprechen.
13 „Life and spirit do not belong to different spheres of existence. We need not to transcend the realm of nature in order to reach the realm of spirit“ (Cassirer, ECN 6, S. 256). 14 Das ist der Prozess, um den es bei der Freiheit geht. Wenn reflexive Mechanismen mit der Naturkausalität vereinbar sind (woran offenbar niemand zweifelt), dann braucht es auch zwischen Leben und Kausalität keinen Widerspruch zu geben – ganz gleich wie man die Kausalität zu fassen sucht. Wenn aber zwischen Leben und physikalischer Ordnung kein Widerspruch besteht, braucht es ihn auch zwischen Freiheit und Kausalität nicht zu geben. Das ist die schlichte Einsicht, die aus meiner Überlegung folgt.
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13 Freiheit als Selbstbestimmung aus eigenen Gründen Um wenigstens bis an die Schwelle eines systematischen Modells zur Rekonstruktion der Evolution der Freiheit zu gelangen, brauchen wir nur (ich sage noch einmal „nur“) das menschliche Bewusstsein als eine Instanz zur kommunikativen Bewältigung der gemeinschaftlich benötigten Realität zu begreifen.¹⁵ Das Bewusstsein des Menschen ist kein auf den Binnenraum des Individuums beschränktes Organ, das für die subjektive Verarbeitung der sinnlich aufgenommenen Eindrücke zu sorgen hat. Es ist vor allem in seinen logischen, grammatischen und symbolischen Leistungen selbst schon eine soziale Instanz, die eine Vielzahl höchst verschiedener Individuen den Bezug auf ein und dasselbe ermöglicht, das es in dieser sowohl Identität wie auch Differenz verbürgenden Form nur sub specie mentalis gibt.¹⁶ Ein Effekt dieses exakte Weltbezüge ermöglichenden Bewusstseins ist, dass es eindeutig bestimmbare Formen des Handelns und genaue Verständigung über Weltverhältnisse ermöglicht. Das wiederum erlaubt, Verhalten sachhaltig zu koordinieren und einvernehmlich zu kontrollieren, und hat als eine Folge, dass sich die Zahl der systembedingten kommunikativen Einflussfaktoren exponentiell erhöht. Ohne das Bewusstsein in seinen Leistungen zu überschätzen, kann man sagen, dass es die Selbstreferenz des Systems erheblich steigert. Im bewussten Zustand werden sachhaltige Momente des Wissens, die Ausdruck einer mit anderen bewusst geteilten Wirklichkeit sind, in den Komplex der Selbstorganisation einbezogen. Hier reagiert ein Organismus aufgrund von Regeln, die sowohl zur naturalen wie auch zur kulturellen Konstitution seiner Spezies gehören, auf eine Unzahl von äußeren und inneren Gegebenheiten an Ort und Stelle, und er tut dies ganz, also als eine Einheit, die durch die reflexiven Mechanismen der Erinnerung und der bewussten Absicht individuell derart komplex werden, dass es (um nicht von einem Gott zu sprechen) nur einem Supercomputer möglich wäre, den ganzheitlichen Effekt der ganzheitlichen Verrechnung aller Faktoren, die zum Verhalten des Menschen führen, aktuell zu erfassen. Diese Verrechnung im Ganzen eines Organismus zu einem Ganzen des Verhaltens, das überdies in einer kommunikativ erschlossenen soziokulturellen Einheit verständlich sein muss, kürzen wir ab und sprechen von „Freiheit“, wenn das menschliche Individuum die für sein eigenes Verständnis wichtigen Momente zu überschauen glaubt und sich ihnen im eigenen Verhalten überlässt. Das kann
15 Gerhardt, 2005, S. 273 – 283. 16 Dazu: Gerhardt, 2012.
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es nicht, wenn es durch ein anderes Individuum ausdrücklich an der Ausführung des Verhaltens gehindert wird. Ist das aber nicht der Fall und kann es Auskunft über die vermutlich ausschlaggebenden Momente des eigenen Verhaltens geben, kann es die von ihm selbst in seiner bewusst erfahrenen Ganzheit beglaubigten Faktoren „Gründe“ nennen. Wenn er dies tut, sind wir überzeugt, dass der Mensch im Bewusstsein der Freiheit gehandelt hat. Dabei hat er „nur“ die Unendlichkeit der individuellen Bedingungen, die durch seine eigene Konstitution, durch die Besonderheit in Raum und Zeit, die Spezifika seiner Kultur und die der gerade gegebenen sozialen Konstellation gegeben sind, so abgekürzt, wie das für die sachhaltige Verständigung selbstbewusster Wesen üblich ist. Wenn es möglich sein soll, unter diesen Bedingungen im Rekurs auf die von bewussten menschlichen Wesen beanspruchte intentionale Steuerung ihres Verhaltens sinnvoll zu handeln, ist es unverändert zweckmäßig, sich unter Berufung auf den Begriff der Freiheit zu verständigen. Dabei brauchen wir nicht zu unterstellen, dass im Menschen die Natur in zwei Teile zerfällt. Also brauchen wir auch nicht erst „Kompatibilisten“ zu werden, um sinnvoll von Freiheit sprechen zu können. Wenn wir den Unterschied zwischen einem Teil und einem Ganzen beachten, verfügen wir auch schon über die ganze Kunst des Perspektivismus, mit dem uns ein Teil der Philosophen die Freiheit verständlich macht. In meinen Augen also genügt es, wenn wir nur ernsthaft versuchen, die Eigenart des Lebens zu verstehen, um nicht länger in Zweifel zu sein, dass der Mensch mit seiner Freiheit in die Natur passt. Denn der Physikalismus scheitert nicht erst am Geist, sondern bereits an den Prozessen des Lebens. Und im Vergleich von Freiheit und Leben ist Leben allemal das größere Problem.¹⁷
Literatur Bodin, Jean (1981): Sechs Bücher über den Staat, Buch I–III, übersetzt und mit Anmerkungen versehen v. Bernd Wimmer, hrsg. Mayer-Tasch, P.C., München. Cassirer, Ernst (2004): Geist und Leben. Schriften zu den Lebensordnungen von Natur und Kunst, Geschichte und Sprache, in: Gesammelte Werke Bd. 17, hrsg. Berben, Tobias / Recki, Birgit , Hamburg. (Zitiert als „GuL“.)
17 „Wenn Leben und Geist völlig verschiedenen Welten angehören, wenn sie einander ihrem Wesen wie ihrem Ursprung nach gänzlich fremd sind – wie ist es möglich, daß sie nichtsdestoweniger eine durchaus einheitliche Leistung vollziehen, daß sie im Aufbau der spezifisch menschlichen Welt, der Welt des ‚Sinnes‘ zusammenwirken und ineinandergreifen?“ (Cassirer, GuL, S. 191) (Siehe dazu Möckel, 2005.)
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Cassirer, Ernst (2004): Determinismus und Indeterminismus in der modernen Physik: historische und systematische Studien zum Kausalproblem, in: Gesammelte Werke Bd. 19, hrsg. Rosenkranz, Claus / Recki, Birgit, Hamburg. (Zitiert als „DIPh“.) Cassirer, Ernst (2005): Nachgelassene Manuskripte und Texte Bd. 6, Vorlesungen und Studien zur philosophischen Anthropologie, hrsg. Hartung, G. / Kopp-Oberstebrink, H., Hamburg. (Zitiert als „ECN 6“.) Gerhardt, Volker (1999): Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität, Stuttgart. Gerhardt, Volker (2002): Immanuel Kant. Vernunft und Leben, Stuttgart. Gerhardt,Volker (2005): „Die Instanz der Realität“, in: Merkur, Heft 677/678, S. 273 – 283. Gerhardt, Volker (2006): „Menschheit in meiner Person. Exposé zu einer Theorie des exemplarischen Handelns“, in: Byrd, B.S. / Joerden, J.C. (Hrsg.): Jahrbuch für Recht und Ethik / Annual Review of Law and Ethics, Band 14, S. 1 – 10. Gerhardt, Volker (2012): Öffentlichkeit. Die politische Form des Bewusstseins, München. Herz, Andreas V.M. (2007): „Neuronaler Determinismus: Nur eine Illusion?“, in: Heiliger, Jan-Christoph (Hrsg.): Naturgeschichte der Freiheit, Berlin, S. 35 – 42. Kant, Immanuel (1908): Kritik der Urteilskraft, in: Gesammelte Schriften Bd. 5 [= AA], hrsg. Preussische Akademie der Wissenschaften, Berlin 1903 ff. (Zitiert mit „KU“.) Kluge, Friedrich (1884): Etymologisches Wörterbuch, 3. Aufl., Straßburg. Lukrez (1973), De rerum natura, hrsg. Büchner, Karl, Stuttgart. Nietzsche, Friedrich (1980): Also sprach Zarathustra, in: Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 4, hrsg. Colli, Giorgio / Montinari, Mazzino, München / New York. (Zitiert mit „KSA“.) Möckel, Christian (2005): Das Urphänomen des Lebens. Ernst Cassirers Lebensbegriff, Hamburg. Roth, Gerhard (1990): „Gehirn und Selbstorganisation“, in: Krohn, W. / Küppers, G. (Hrsg.): Selbstorganisation. Aspekte einer wissenschaftlichen Revolution, Braunschweig / Wiesbaden, S. 167 – 180. Spinoza, Baruch de (1999): Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt, hrsg. Bartuschat, Wolfgang, Hamburg.
Personenregister Adorno, Theodor W. 317 Allison, Henry E. 193 Aquila, Richard A. 193 Aristoteles 34 f., 41, 45, 51, 143 f., 282, 337 f., 361 f., 376 Beck, Jakob Sigismund 19 f., 194, 196 – 209, 211, 213, 217 – 219, 226, 228 Berlin, Isaiah 153 – 155 Blumenberg, Hans 28, 370 – 372 Bodin, Jean 387, 397 Brandom, Robert B. 1, 17, 149, 309 Carl, Wolfgang 41, 58 f. Cassirer, Ernst 8, 11, 27 f., 365 – 370, 372 – 374, 376, 378 f., 394, 399, 401 Cohen, Hermann 76 Cramer, Konrad 9, 11 – 13, 66, 199, 268 Descartes, René 22 f., 28, 34, 36 – 41, 56, 183, 260 – 263, 337, 351 Fichte, Johann Gottlieb 4 – 8, 11, 16, 19 – 23, 25, 55, 102, 182, 194, 196 f., 200, 204, 206 – 209, 218 – 230, 233 – 235, 240 – 243, 245, 247 – 257, 259 – 270, 289 – 292, 295 – 298, 300, 312, 318, 338, 350 Figal, Günter 328 Foucault, Michel 151 Frankfurt, Harry G. 6 f., 24, 26, 45, 289, 297, 306 – 312 Frege, Gottlob 34, 74 Fulda, Hans Friedrich 15 f. Habermas, Jürgen 9, 15, 98 f. Hayek, Friedrich August von 151 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 1, 4 f., 9, 11, 16, 21 – 24, 34, 45 f., 48, 95, 102, 121 – 125, 155, 162, 233 – 235, 240 f., 243 – 245, 257, 275 f., 279 – 288, 294, 317 f., 331, 333 f., 341, 343, 379 Heidegger, Martin 6, 9, 11, 27 – 29, 34, 43, 51 f., 308, 317, 337 – 362 Held, Klaus 355
Henrich, Dieter 9, 24, 55, 57, 68, 197, 213, 247, 289 – 291, 310, 330, 347, 352, 392 Hirsch, Emanuel 318 Hobbes, Thomas 37, 40, 83 f., 87, 89 f., 157 Honneth, Axel 9, 153, 162, 281 f., 286 Husserl, Edmund 28, 34, 57, 65, 338, 341, 351 – 353, 355, 357, 360 f., 370 – 372 Jacobi, Friedrich Heinrich 11, 19 f., 193 f., 196 f., 201, 206 f., 214, 216, 218, 220, 222 f., 226, 259, 264 f. Kant, Immanuel 2, 4 – 11, 13 – 26, 28 f., 33 – 35, 37, 41, 45 – 49, 51 – 78, 81 – 93, 98 f., 101 – 108, 115, 119 – 125, 128, 134 – 136, 143, 149, 152, 154 – 157, 160 – 162, 164, 166 – 169, 171 – 190, 193 – 221, 223 – 228, 233 – 245, 247 – 249, 252 – 257, 259 – 263, 265 f., 268, 270, 281, 292 – 303, 306 – 313, 337 f., 347 – 353, 357, 366, 388, 397 Kapp, Ernst 28, 374 – 378 Kierkegaard, Søren 11, 26 f., 317 – 334 Kluge, Friedrich 384 Korsgaard, Christine M. 9, 134 f., 294 Lauth, Reinhard 267 Lenin, Iljitsch Uljanow 151 f. Lichtenberg, Georg Christoph 259 Locke, John 34, 59, 167, 279, 312 Luther, Martin 293 Marx, Karl 163 f., 317 Mill, John Stuart 37, 159, 162 – 164 Nagel, Thomas 24, 290 f., 312 Neuhouser, Frederick 23 f. Nietzsche, Friedrich 6, 29, 34, 308, 386, 390 f. Patzig, Günther 73 Platon 51, 292, 360 f. Rawls, John 9, 15, 98, 101, 119, 163 – 165
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Personenregister
Raz, Joseph 133 Reich, Klaus 59, 64 Rousseau, Jean-Jacques 14, 23 f., 83, 100, 152, 154 f., 163, 166 – 168, 181, 275 – 285, 287 Sandkaulen, Birgit 20 f., 259 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 4 – 6, 11, 22, 25, 55, 233, 256 f., 259, 289 – 291, 298 – 301, 303, 312, 318, 366 Schiller, Friedrich 19, 21, 171 f., 182, 185, 187 – 190, 233 – 243, 245 Schopenhauer, Arthur 4 – 7, 11, 26, 259, 289 – 291, 294 f., 298, 301 – 308, 310 – 313, 317, 378, 392 Searle, John 52 f., 61 Sellars, Wilfrid 17, 141 f., 352 Singer, Marcus G. 111
Spinoza, Baruch de 19, 22 f., 171 – 177, 182 – 190, 196, 223, 245, 247, 259 – 270, 385, 397 Steiner, Hillel 157 Stolzenberg, Jürgen VIIf., 4 f., 7, 10 f., 13, 294, 296 f., 300, 312, 318, 350 Taylor, Charles 318 Theunissen, Michael 317 f. Thomasius, Christian 161 Tugendhat, Ernst 9, 15, 59 – 61, 66, 68, 98, 225, 308 von Mises, Ludwig 151 Wieland, Wolfgang 57 Wittgenstein, Ludwig 34, 60
Autorinnen und Autoren Prof. Dr. Manfred Baum Bergische Universität Wuppertal, FB A, Philosophie, Gaußstr. 20, D-42097 Wuppertal. Email: [email protected] Prof. Dr. phil. Dr. theol. h. c. Konrad Cramer (†) Prof. Dr. Rainer Enskat Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Seminar für Philosophie, 06099 Halle. Email: [email protected] Prof. Dr. Hans Friedrich Fulda Albert-Ueberle-Str. 24, 69120 Heidelberg. Prof. Dr. Volker Gerhardt Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für Philosophie, Unter den Linden 6, Raum 3036a, D-10099 Berlin. Email: [email protected] PD Dr. Holger Gutschmidt Wiss. Mitarbeiter am Lehrstuhl für Rechts- und Sozialphilosophie, Juristische Fakultät der Universität Göttingen, Platz der Göttinger Sieben Nr. 6, 37073 Göttingen. Email: [email protected]. Prof. Dr. Johannes Hübner Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Seminar für Philosophie, 06099 Halle. Email: [email protected] PD. Dr. Jindřich Karasek nam. Jana Palacha 2, Praha 1, 116 38 Czech Republic. Email: [email protected] Prof. Dr. Matthias Kaufmann Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Seminar für Philosophie, 06099 Halle. Email: [email protected] Prof. Dr. Christian Klotz Universidade Federal de Goiás (UFG), Faculdade de Filosofia (Fafil), Caixa-Postal 131, Câmpus Samambaia (Campus II), Itatiaia, 74001-970 – Goiania, GO-Brasil. Email: [email protected] Dr. Jan Kuneš Filosofický ústav AV CR, Jilská 1, 11000 Praha 1, Tschechische Republik. Email: [email protected]
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Autorinnen und Autoren
Dr. Stefan Lang Seminar für Philosophie, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, 06099 Halle. Email: [email protected] Prof. Frederick Neuhouser Barnard College-Columbia University, 3009 Broadway, New York, New York 10027. Email: [email protected] Prof. Dr. Birgit Recki Seminar der Universität Hamburg, Von-Melle-Park 6, Raum: Phil 1061, 20146 Hamburg. Email: [email protected] Prof. Dr. Birgit Sandkaulen Institut für Philosophie I, Ruhr-Universität Bochum, D-44780 Bochum. Email: [email protected] Dr. Lars-Thade Ulrichs Seminar für Philosophie, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, 06099 Halle. Email: [email protected] Prof. Dr. Violetta L. Waibel Institut für Philosophie, Universitaet Wien, Universitaetsstr. 7, A-1010 Wien. Email: [email protected] Prof. Dr. Günter Zöller Fakultät für Philosophie, Wissenschaftstheorie und Religionswissenschaft, Ludwig-Maximilians-Universität München, Geschwister-Scholl-Platz 1, Raum A 223, 80539 München. Email: [email protected]