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German Pages 239 Year 2011
Schriften zum Strafrecht Heft 217
Autonomie und strafrechtlicher Paternalismus Von
Ioannis Gkountis
Duncker & Humblot · Berlin
IOANNIS GKOUNTIS
Autonomie und strafrechtlicher Paternalismus
Schriften zum Strafrecht Heft 217
Autonomie und strafrechtlicher Paternalismus
Von
Ioannis Gkountis
Duncker & Humblot · Berlin
Die Juristische Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München hat diese Arbeit im Jahre 2010 als Dissertation angenommen.
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Meinen Eltern, Ce~qcio jai Vqeideq_jg Cjoumt^, in Dankbarkeit
T| c\q oQje?om 2j\st\ t0 v}sei jq\tistom jai Ddist|m 3sh 2j\st\·ja_ t` amhq~p\ d^ b jat\ t|m moOm b_or, eSpeq toOto l\kista #mhqypor. Ottor #qa ja_ eqdailom]stator. (Aristoteles, Nikomachische Ethik, X / 7 en fin)
Der wahre Zweck des Menschen … ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen. Zu dieser Bildung ist die Freiheit die erste und unerläßliche Bedingung. (Wilhelm von Humboldt, Über den Gemeinspruch, Kapitel II)
Those who would give up essential liberty to purchase a little temporary safety deserve neither liberty nor safety. (Benjamin Franklin, Historical Review of Pennsylvania, 1759)
The sole end for which mankind are warranted, individually or collectively, in interfering with the liberty of action of any of their number, is self-protection. [The] only purpose for which power can be rightfully exercised over any member of a civilized community, against his will, is to prevent harm to others. His own good, either physical or moral, is not sufficient warrant. (John Stuart Mill, On liberty, Introductory)
Normen, die durch Gebote und Verbote Handlungsfreiheit einschränken – und diese Einschränkung sanktionieren – [können] nur so legitimiert werden, dass sie durch Einschränkung von Handlungsfreiheit Handlungsfreiheit ermöglichen. (Winfried, Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens, S. 34)
A ship in harbour is safe; but that is not what ships are built for. (John A. Shedd, Salt from my attic)
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2010 von der Juristischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München als Inaugural-Dissertation angenommen. Schrifttum und Rechtsprechung konnten vollständig bis Juli 2010 berücksichtigt werden. Zuerst möchte ich mich bei meinem verehrten Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Bernd Schünemann, für die wohlwollende Betreuung meiner Arbeit herzlich bedanken. Seine Anregungen, konstruktive Kritik und Hilfsbereitschaft (auch in Zeiten großer Arbeitsbelastung) haben wesentlich zur Entstehung dieser Arbeit beigetragen. Herrn Prof. Dr. Ulrich Schroth danke ich für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Herrn Dr. Martin Weidlich danke ich herzlich für die sprachliche Prüfung des Textes; ohne seine sorgfältige und oft weit über das Maß des Erforderlichen geleistete Hilfe könnte die Arbeit in ihrer vorliegenden Form nicht erscheinen. Mein Dank gilt des Weiteren auch Freunden und Kollegen, welche mich während meiner Promotion für längere oder kürzere Zeit begleitet haben. Zu erwähnen sind hier (in alphabetischer Reihe) Herr Antonios Antonopoulos, Frau Prof. Dr. med. Aggeliki Asimaki, Frau Dr. Senem Aydin, Herr Martin Bauer, Frau Maria Fasouli, Herr Nikolaos Georgopoulos, Frau Poly Geraka, Herr Karl Hilz (einschl. Familie), Herr Asterios Papastergios, Herr Dr. med. Athanasios Terzis und Herr Ilias Voultsios. Sie haben alle das mühsame Verfahren des Verfassens dieser Arbeit sowie meinen Aufenthalt in München in schwierigen Zeiten mit ihrer Gesellschaft leichter gemacht. Vor allem schulde ich jedoch meinen Eltern, Herrn Georgios Gkountis und Frau Freideriki Gkounti (welchen dieses Werk liebevoll gewidmet ist) sowie meinem Bruder, Herrn Dr. Konstantinos Gkountis, und seiner Ehefrau Delphin Daude ein enormes Dankeschön: Die Liebe und die unermüdliche Unterstützung, welche mir diese Menschen gegeben haben, waren für die Entstehung dieser Arbeit unentbehrlich. Mein besonderer Dank gilt schließlich Frau Despoina Kanellopoulou für ihre Hilfe und Unterstützung. Ich bitte sie, mir die Erwähnung ihres Namens hier zu verzeihen. .
Thessaloniki, im Januar 2011
Ioannis Gkountis
Inhaltsverzeichnis A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 I. „Der Schutz des Menschen vor sich selbst“: Das Problem des staatlichen Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 II. Erscheinungsformen des staatlichen Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 1. Aktiver und passiver Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 2. Indirekter und direkter Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 3. Reiner und unreiner Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 4. Harter und weicher Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 III. Die Auferlegung „objektiver“ Wohlfahrtspläne durch das Strafrecht . . . . . . . . . . . . 23 1. Das Verbot des Umgangs mit Drogen durch die Bestimmungen des Betäubungsmittelgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 2. Die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 3. Die Regelung des Transplantationsgesetzes über die Lebendspende von Organen 37 4. Die Bestimmungen des Arzneimittelgesetzes über die klinische Forschung am Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 5. Die Begrenzung der Einwilligungsfreiheit durch die Klausel der „guten Sitten“ . 43 6. Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 IV. Demonstrandum und wesentliche Punkte der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 B. Die Thematisierung der Paternalismusproblematik durch die politische Philosophie der Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 I. Die aufklärerische Wende zum Menschen und der Aufstieg des Naturrechts – Die Theorie des Naturzustands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 II. Die angeborenen Rechte des Menschen und der Freiheitsbegriff des älteren Naturrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 III. Das Zwielicht des status naturalis, der Übergang zum status civilis und die Stellung des Menschen innerhalb der organisierten Staatsstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58
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Inhaltsverzeichnis
IV. Der Übergang zum status civilis in der deutschen Philosophie und die Geburt der Idee des staatlichen Paternalismus – Der Ansatz Christian Wolffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 V. Die wachsenden Bedenken gegenüber der Herrschaftsmacht im deutschen Kulturraum und die Entstehung der ersten Ansätze antipaternalistischen Staatsdenkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 VI. Der fundamentale Antipaternalismus des jüngeren deutschen Naturrechts – Die kritische Aufklärungsphilosophie Wilhelm von Humboldts und Immanuel Kants . . 71 VII. Die Bestimmung der legitimen Grenzen der staatlichen Tätigkeit in der postaufklärerischen Zeit – Die Grundlegung des modernen antipaternalistischen Denkens in der liberalen Doktrin John Stuart Mills . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 VIII. Zusammenfassung der wichtigsten Feststellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 IX. Folgerungen aus der historisch-philosophischen Betrachtung der Problematik des staatlichen Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 C. Die Bestimmung des Autonomiebegriffs aus philosophischer Perspektive und seine Gewichtung gegenüber der Doktrin des staatlichen Paternalismus . . . . . . . . . . . . 99 I. Die unterschiedlichen Konzeptionen der Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 1. Der Unterschied zwischen moralischer und persönlicher Autonomie . . . . . . . . . 100 2. Die Autonomie als idealer Zustand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 a) Die Autonomie nach Joseph Raz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 b) Der Ansatz von John Rawls zum Wesen der Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 3. Die Autonomie als negative und positive Freiheitskonzeption (Isaiah Berlin) . . . 109 4. Die Autonomie als „deskriptives“ Konzept und als angeborene Eigenschaft des Menschen („descriptive“ and „ascriptive“ models of autonomy – Der Beitrag von Richard Fallon) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 5. Die Autonomie als das Konzept der „bewussten“ Lebensführung: Der Beitrag von Gerald Dworkin und Harry Frankfurt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 6. Die liberale Autonomiekonzeption Joel Feinbergs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 7. Zusammenfassend zum Begriff der persönlichen Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . 132 II. Das Verhältnis der persönlichen Autonomie zum objektiven Wohl des Individuums: „ones right versus ones good“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 III. Die Freiwilligkeit als Maßstab autonomen Verhaltens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 1. Freiwilligkeitsausschließende Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137
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2. Das Verhältnis der Freiwilligkeit zu angrenzenden Begriffen . . . . . . . . . . . . . . . . 145 a) Freiwilligkeit und Vernünftigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 b) Freiwilligkeit und „personal integrity“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 c) Freiwilligkeit und Freiheitsmaximierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 3. Die praktische Festlegung der Freiwilligkeit des individuellen Verhaltens . . . . . 151 4. Zusammenfassend zum Begriff der Freiwilligkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 IV. Folgerungen aus der Analyse des Autonomiebegriffs für die Frage der Zulässigkeit der paternalistischen Doktrin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 D. Die Stellung der Autonomie in der liberalen Ordnung des Grundgesetzes . . . . . . 156 I. Die Entstehungsgeschichte des geltenden Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 II. Die Würde des Menschen als Fundament des modernen Staates . . . . . . . . . . . . . . . 162 III. Die Konkretisierung des Wesensgehalts der Menschenwürde: Die Autonomie als fundamentaler Bestandteil des Eigenwertes der Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 IV. Die positivrechtliche Verankerung und der Schutz des Autonomieprinzips . . . . . . . 170 V. Die legitimen Schranken der persönlichen Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 VI. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 E. Das Rechtsgutskonzept und seine Bedeutung für die Einschränkung der Strafgesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 I. Der historische Ursprung und die Entwicklung des Rechtsgutsdogmas . . . . . . . . . . 177 II. Das Rechtsgut und seine Funktion in der neueren Zeit – Die Rolle des Grundgesetzes als Bezugspunkt für den Strafgesetzgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 III. Die Substanzhaftigkeit des Rechtsguts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 IV. Feststellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 F. Die Beurteilung der paternalistischen Doktrin im Lichte des liberalen Staates . . . 207 I. Die Unvertretbarkeit des harten strafrechtlichen Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . 207 1. Die Wertordnung des Grundgesetzes als normativer Maßstab der Strafgesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 2. Die Ausscheidung reiner Abstraktionen aus dem Schutzfeld des Strafrechts . . . . 209 3. Die Unzulässigkeit der Auferlegung der geltenden Moral durch das Strafrecht . . 211
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Inhaltsverzeichnis 4. Die Ausgrenzung des Tabuschutzes aus dem Interessenbereich des modernen Strafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 5. Der subsidiäre Charakter des Strafrechts – Der verfehlte Einsatz der Strafe im Fall des harten Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 II. Die Zulässigkeit des weichen strafrechtlichen Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217
G. Zusammenfassende Betrachtung und Schlussgedanken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237
Abkürzungsverzeichnis a.a.O. Abs. a. E. a. F. AG AMG AöR ARSP Art. AT Aufl. Bd. BGBl. BGH BGHSt BT-Drucks. BtMG BVerfG BVerfGE bzw. ders. dies. ebd. f./ff. Fn. FS GA GG h. M. Hrsg. insb. i.S.v. i.V.m. JA JR JuS JZ LG MDR m.w.N. NJW
am angegebenen Ort Absatz am Ende alte Fassung Amtsgericht Arzneimittelgesetz Archiv des Öffentlichen Rechts (Zeitschrift) Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie (Zeitschrift) Artikel Allgemeiner Teil Auflage Band Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen Bundestags-Drucksache Betäubungsmittelgesetz Bundesverfassungsgericht Amtliche Sammlung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts beziehungsweise derselbe dieselbe ebenda folgende/fortfolgende Fußnote Festschrift Goltdammers Archiv für Strafrecht (Zeitschrift) Grundgesetz herrschende Meinung Herausgeber insbesondere im Sinne von in Verbindung mit Juristische Arbeitsblätter (Zeitschrift) Juristische Rundschau (Zeitschrift) Juristische Schulung (Zeitschrift) Juristenzeitung (Zeitschrift) Landgericht Monatsschrift für Deutsches Recht (Zeitschrift) mit weiterem(-n) Nachweis(-en) Neue Juristische Wochenschrift (Zeitschrift)
16 No. Nr. NStZ OLG RG RGBl. RGSt Rn. Rspr. S. sog. StGB StV TPG u. a. Urt. usw. v. vgl. vol. Vor./Vorbem. z. B. ZIS ZJS ZRP ZStW
Abkürzungsverzeichnis Number Nummer Neue Zeitschrift für Strafrecht (Zeitschrift) Oberlandesgericht Reichsgericht Reichsgesetzblatt Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen Randnummer Rechtsprechung Seite / Satz so genannt Strafgesetzbuch Strafverteidiger (Zeitschrift) Transplantationsgesetz unter anderem Urteil und so weiter von(-m) vergleiche volume Vorbemerkungen zum Beispiel Zeitschrift für internationale Strafrechtsdogmatik (Zeitschrift) Zeitschrift für das juristische Studium (Zeitschrift) Zeitschrift für Rechtspolitik (Zeitschrift) Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft (Zeitschrift)
A. Einleitung Der kennzeichnende Unterschied zwischen einem absolutistischen und einem auf liberalen Prämissen beruhenden Staat liegt in der Stellung, welche dem Bürger innerhalb seiner Ordnung zugesprochen wird1. In der Zeit vor der Etablierung des heutigen, an Gerechtigkeitsprinzipien orientierten Rechtssystems stellte jedes Individuum nichts anderes, als einen bloßen „Bestandteil“ einer auf der Tradition fußenden gesellschaftlichen Hierarchie dar, deren oberste Stelle der Regent innehatte. Die Rollen und die Optionen der Untertanen waren von vorne herein festgesetzt, und der individuelle Wille musste den vorgegebenen Normen und Geboten einer starren, ausschließlich auf die Erhaltung des status quo gerichteten Ordnung ausnahmslos untergeordnet werden2 : Die Rechte und Perspektiven des Einzelnen waren im Rahmen eines so konstruierten Staates begrenzt. Mit dem Aufkommen des liberalen Denkens – des Leitmotivs der Aufklärungsphilosophie – hat sich allmählich ein neues Verständnis vom Menschen und der Welt verbreitet. Die älteren, absolutistisch geprägten Werte wurden im Laufe der Zeit ernsthaft in Frage gestellt und schließlich endgültig überwunden. Im Mittelpunkt steht nunmehr das „vernünftige“, mit positiven Rechten versehene Individuum, dessen inhärente Würde seine Beziehung zur Staatsgewalt maßgeblich beeinflusst. Der Einzelne erlangt jetzt innerhalb der positiven Rechtsordnung eine selbstständige Stellung. Das menschliche Dasein wird von der strengen Kontrolle und den willkürlichen Interventionen des vergangenen Zeitalters endgültig befreit, während gleichzeitig der Schutz des Wertes der Individualität zur formellen Aufgabe des Staates erhoben wird. Der Bürger wird nun zum Subjekt, und ihm wird eine unantastbare, vom Gemeinwesen streng abgegrenzte persönliche Sphäre zuerkannt, in deren Rahmen er frei ist, sein Leben und seine Zielsetzungen – unter Beachtung der entsprechenden Interessen seiner Mitmenschen – nach eigenem Ermessen zu gestalten3: In den aussichtsreichen, liberal geprägten Rechtssystemen der späten Neuzeit tritt also das autonome, mit positiven Ansprüchen gegen die fremde Willkür ausgestattete Individuum in den Vordergrund, und der Staat wird verpflichtet, den Einzelnen vor jeder unzulässigen Beeinträchtigung seiner Freiheit zu bewahren und als Garant für seine ungehinderte Entfaltung zu stehen.
1 Vgl. Stern, Klaus, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/1, S. 15 (unter II. 1. a. E.). 2 Vgl. Kleinig, John, Paternalism, S. 3. 3 Ebd. S. 3 m.w.N.
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A. Einleitung
I. „Der Schutz des Menschen vor sich selbst“: Das Problem des staatlichen Paternalismus Die Grundsätze des liberalen Denkens spiegeln sich heutzutage in der Mehrheit der modernen, auf Gerechtigkeitsprinzipien beruhenden Rechtsordnungen wider. Die staatliche Funktion orientiert sich in dieser Hinsicht primär an der Gestaltung eines sicheren Raums für die Bevölkerung, innerhalb dessen jeder Mensch die Freiheit genießt, seinen individuell entworfenen Lebensplan zu verfolgen. Da jedoch die bürgerliche Gemeinschaft ein Zusammenschluss von mehreren Individuen ist, kommt dem Staat ebenfalls eine wichtige regulatorische Rolle zu, da die Interessen der Bürger sich nicht immer harmonisch miteinander vereinbaren lassen. Aus diesem Grund ist die öffentliche Gewalt verpflichtet, Gesetze zu erlassen, welche das reibungslose soziale Zusammenleben garantieren sollen. Die private Willkür darf insofern auch in einem liberalen Rechtssystem begrenzt werden, wenn das individuelle Verhalten entweder die schutzwürdigen Interessen Anderer auf unzulässige Weise beeinträchtigt, oder wenn die Verfolgung der eigenen Zielsetzungen eine Gefahr für die ordnungsgemäße Funktion des Staates und seiner Institutionen konstituieren könnte. Solange die Einschränkung der menschlichen Selbstbestimmung aus diesen Gründen erfolgt, ist sie auch durchaus legitim. In den letzten Jahrzehnten wird jedoch mit steigender Häufigkeit die Tendenz des Gesetzgebers beobachtet, Regelungen zu erlassen, welche die individuelle Freiheit begrenzen, um entweder den Handelnden vor den schädlichen, seine Wohlfahrtsbasis beeinträchtigenden Folgen seines selbstbezogenen und daher die Interessen Dritter nicht tangierenden Verhaltens zu bewahren, oder um mittels dieser Intervention schlechthin die Förderung des Glücks ihres Adressaten zu erzielen, und zwar unabhängig davon, ob diese aktive „Einmischung“ in die privaten Angelegenheiten seitens des Betroffenen letztlich erwünscht ist, oder nicht4. Charakteristische Beispiele derartiger Regelungen stellen die Auferlegung der Gurt- und Helmpflicht bei Auto- bzw. Motorradfahrern, das geltende Verbot des Rauchens an öffentlichen Orten, sowie der inzwischen als überwunden betrachtete Ausschluss „unmoralischer Sexualpraktiken“5 unter volljährigen Individuen dar6. Diese Art „öffentlicher Kontrolle“, welche im Wesentlichen darauf abzielt, den Menschen „vor sich selbst“ zu schützen, wird als staatlicher Paternalismus7 bezeichnet und ist als Problempunkt insbesondere im angelsächsischen Raum zunehmend thematisiert worden8. 4 Vgl. Van De Veer, Donald, Paternalistic intervention, S. 12; Papageorgiou, Konstantinos, Schaden und Strafe, S. 220. 5 Bis vor wenigen Jahren noch war in der Bundesrepublik Deutschland der Geschlechtsverkehr zwischen homosexuellen Männern verboten (alter § 175 StGB). Das gleiche galt sogar bis vor kurzer Zeit auch für den Fall des Sadomasochismus (Ausschluss der rechtfertigender Kraft der Einwilligung über die Klausel der Guten Sitten, § 228 StGB – näher dazu unten, unter A. III. 5. 6 Vgl. auch Möller, Kai, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, S. 11. 7 Der Begriff „Paternalismus“ wurde zum ersten Mal in der Debatte zwischen Herbert Hart (Law, Liberty and Morality, S. 30 f.) und Patrick Devlin (The enforcement of morals, S. 8 f.
I. „Der Schutz des Menschen vor sich selbst“
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Das rechtliche Verbot von Handlungen, welche für keinen Anderen nachteilig wirken als für den Handelnden selbst, kann in einem freiheitlichen Staat keinen legitimen Grund für sich reklamieren. Die paternalistische Doktrin steht im direkten Widerspruch zu den Grundzügen des liberalen Denkens und ist als moralisch verwerflich zu betrachten9. Der autonome Wille des Individuums wird nämlich bei derartigen Konstellationen nicht wegen der Überschreitung seiner rechtsmäßigen Grenzen eingeschränkt, sondern allein aufgrund der staatlichen „Behauptung“, dass dies in seinem eigentlichen „Interesse“ liege. Diesem „Vorwand“ könnten jedoch tatsächlich ganz andere Gedanken zugrundeliegen; so stellt eine paternalistische Intervention oft das geeignete Mittel dar, um mittelbar Verhaltensweisen zu beseitigen, welche der Staat oder der jeweils herrschende Teil der Gesellschaft als unerwünscht erachten, während ebenso häufig derartige Eingriffe ausschließlich dem Zweck der Aufrechterhaltung der geltenden Moral dienen: Der „Schutz des Menschen vor sich selbst“ könnte also die „Kehrseite“ eines Anliegens der „sozialen Kontrolle“, oder sogar einer menschenrechtsmissachtenden „Sicherheitsmoralität“ sein. In dieser Hinsicht wird der staatliche Paternalismus in der Literatur zu Recht als eine willkürliche, heteronome „Definitionsmacht“ bezeichnet, welche in einer Art „Registratur objektiver Werte“ bestimmte – auch fragwürdige – Interessen und deren Rang als für jedermann verbindlich festlegt und abweichende individuelle Festsowie 132) über die Zulässigkeit des Moralismus im Recht angewendet. Ihre Auseinandersetzung hat das Interesse vieler Autoren erregt, welche die einschlägige Terminologie in ihren eigenen Werken direkt übernommen haben. Vgl. diesb. Feinberg, Joel, The moral limits of the criminal law, vol. 3 (Harm to self), S. 375, Fn. 2, sowie Merkel, Reinhard, Früheuthanasie, S. 409, Fn. 44 m.w.N.; für eine allgemeine Bestimmung des Paternalismusbegriffs siehe Dworkin, Gerald, Paternalism, in: Morality and the law (1971), S. 108 (unter I): „By paternalism I shall understand roughly the interference with a persons liberty of action justified by reasons referring exclusively to the welfare, good, happiness, needs, interests or values of the person being coerced“, sowie S. 112 a. E. (unter IV): „Paternalism might be thought of as the use of coercion to achieve the good which is not recognized as such by those persons for whom the good is intended“; vgl. auch Papageorgiou, Konstantinos, a.a.O. (Fn. 4), S. 220: „[Unter Paternalismus sind] rechtliche Interventionen in das Verhalten des einzelnen [zu verstehen], die den ausschließlichen Zweck verfolgen, ihn vor der Gefährlichkeit seines eigenen Handelns und gegen seinen Willen zu schützen (oder positiv sein Wohl zu fördern)“. 8 Im Rahmen der kaum mehr überschaubaren Literatur zur Paternalismusproblematik seien hier nur die grundlegenden Werke von Dworkin, Gerald, Paternalism, in: Morality and the Law (1971), S. 107 f., Kleinig, John, Paternalism, Feinberg, Joel, The moral limits of the criminal law, vol. 3 (Harm to self), Van De Veer, Donald, Paternalistic intervention, sowie der Sammelband von Sartorius (Hrsg.) mit dem Titel „Paternalism“ erwähnt. Für den deutschen Sprachraum instruktiv zum Problem Hillgruber, Christian, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, Fischer, Kai, Die Zulässigkeit aufgedrängten Schutzes vor Selbstschädigung, Seher, Gerhard, Liberalismus und Strafe, Papageorgiou, Konstantinos, Schaden und Strafe, Möller, Kai, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, Klimpel, Paul K., Bevormundung oder Freiheitsschutz, sowie auch der Sammelband von Anderheiden u. a. (Hrsg.), Paternalismus und Recht. 9 Vgl. vor allem Papageorgiou, Konstantinos, a.a.O. (Fn. 4), S. 220, Fn. 362 m.w.N.
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A. Einleitung
legungen für unbeachtlich erklärt, um dadurch schließlich einem Menschen fremde Wertvorstellungen und Lebensideale „zu seinem Wohl“ aufzuerlegen10. Der inhärent problematische Charakter eines paternalistischen Eingriffs lässt sich also anhand seiner kennzeichnenden Merkmale unverwechselbar erkennen; denn dabei handelt es sich um nichts anderes als den Einsatz eines der härtesten Mittel im öffentlichen Instrumentarium, nämlich des staatlichen Zwangs, welcher durch seine Wirkung den Einzelnen von einem wesentlichen Bestandteil seines Personseins, seiner Autonomie, trennt, um schließlich dadurch, in Anlehnung an frühere Staatsmodelle, sein „Glück“ auf der Basis ihm fremder Werte zu fördern11. „Vorgehensweise“ und „Zwecksetzung“ des staatlichen Paternalismus erweisen sich als besonders hart und herabsetzend für das heutzutage mit „Würde und Rechten“ versehene Individuum, und machen des Weiteren die Existenz derartiger Regelungen innerhalb der modernen, liberal geprägten Rechtsordnung schwer nachvollziehbar. Dies ist auch der Grund, warum paternalistische Normen in der Praxis meistens durch die Heranziehung anderer, „unbedenklicher“ Zielsetzungen begründet werden. Vorschriften, welche nur implizit den Schutz des Menschen vor den Folgen seiner eigenen Entscheidungen fördern, erscheinen demzufolge „äußerlich“ als Regelungen, die hauptsächlich (jedoch oft nicht ausschließlich) auf die Bewahrung der Interessen Dritter bzw. der Allgemeinheit oder auf die Erhaltung einer Vielzahl anderer „Belange“ gerichtet sind, wodurch letztlich auf eine „geschickte“ Weise ein direkter Konflikt mit den durchgesetzten Wertvorstellungen des geltenden Rechtssystems vermieden wird12.
II. Erscheinungsformen des staatlichen Paternalismus Die „Förderung des individuellen Wohls“, das eigentliche Endziel der paternalistischen Doktrin, wird stets anhand konkreter gesetzgeberischer Entscheidungen verfolgt. Die dadurch entstehenden positivrechtlichen Vorschriften weisen jedoch eine deutliche Mannigfaltigkeit in der Art, der Intensität sowie der „Lauterkeit“ der Grenzen auf, die sie auf dem Wege der Erreichung ihrer Zwecksetzung der persönlichen Autonomie auferlegen. Insofern lassen sich die paternalistischen Normen systematisch in viele unterschiedliche Kategorien unterteilen, welche in ihrer Gesamtheit 10 Siehe Merkel, Reinhard, Früheuthanasie, S. 409. Der vollständige Text der einschlägigen Passage, aus welcher hier nur ein Ausschnitt zitiert wird, bezieht sich in seiner Gesamtheit auf den Fall des harten Paternalismus (näher diesb. unten, unter A. II. 4.). Abgesehen davon werden jedoch in dieser Passage alle wesentlichen Punkte der paternalistischen Doktrin insgesamt angesprochen, eine Tatsache, welche die Paternalismusbestimmung Merkels in jeder Hinsicht erwähnenswert macht. 11 Bezüglich der Merkmale paternalistischer Interventionen vgl. auch Hirsch, Andrew v., Direkter Paternalismus: Sollten Selbstschädigungen bestraft werden?, in: Paternalismus und Recht, S. 236 (unter I); Feinberg, Joel, The moral limits of the criminal law, vol. 3 (Harm to self), S. 16 f.; Arneson, Richard J., Mill versus Paternalism, in: Ethics, Vol. 90, No. 4 (July 1980), S. 471 f. (unter I); Papageorgiou, Konstantinos, a.a.O. (Fn. 4), S. 222. 12 Vgl. Dworkin, Gerald, a.a.O. (Fn. 8), S. 108; Feinberg, Joel, a.a.O. (Fn. 11), S. 16.
II. Erscheinungsformen des staatlichen Paternalismus
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die möglichen „Erscheinungsformen“ dieser Doktrin konstituieren; die wichtigsten unter ihnen, werden im Anschluss ausführlich dargestellt. 1. Aktiver und passiver Paternalismus Die Unterscheidung zwischen aktiven und passiven paternalistischen Regelungen erfolgt über die Formulierung der entsprechenden Vorschriften als Gebots- oder Verbotsnormen. In dieser Hinsicht ist ein Gesetz als „aktiv-paternalistisch“ zu verstehen, wenn seinen Adressaten dadurch ein bestimmtes Verhalten positiv als Pflicht auferlegt wird; ein charakteristisches Beispiel für diese Konstellation liefert das Gebot, Gurt oder Helm bei der Teilnahme am Straßenverkehr zu benutzen. Dagegen wird eine Norm als „passiv-paternalistisch“ bezeichnet, wenn sie den Betroffenen bestimmte Handlungen zum Zweck der Förderung ihres Eigenwohls untersagt; ein Beispiel für diese Kategorie ist das geltende Verbot des Rauchens an öffentlichen Orten13. 2. Indirekter und direkter Paternalismus Diese Differenzierung beruht auf der Tatsache, dass eine paternalistische Regelung zum Zweck der Erfüllung ihrer Zielsetzung nicht immer die Freiheit desjenigen einschränkt, dessen Wohlfahrt sie im Ergebnis auch fördern möchte14. So werden im Fall des indirekten Paternalismus die Handlungsmöglichkeiten eines Dritten begrenzt, um dadurch auf mittelbarer Weise eine andere Partei vor den schädigenden Folgen ihrer eigenen Entscheidung zu bewahren15; der Ansatzpunkt für den Schutz des endgültigen Adressaten der Norm wird hier einfach „vorverlagert“16. Ein Gesetz, welches beispielsweise den Verkauf von Tabakwaren aufgrund ihrer Gefährlichkeit für die Gesundheit der Bevölkerung untersagte, würde sich primär gegen die Freiheit der Händler von derartigen Produkten richten; dies stellte allerdings nicht den eigentlichen Endzweck der entsprechenden Regelung dar; denn der Sinn des Verbots ließe sich im staatlich geförderten Versuch konkretisieren, die Konsumenten vor ihrer eigenen „Unvernunft“ zu bewahren17.
13 Vgl. Kleinig, John, a.a.O. (Fn. 2), S. 6; vgl. auch Feinberg, Joel, a.a.O. (Fn. 11), S. 8, welcher im Rahmen seiner Ausführungen seine eigene Terminologie für diese Unterscheidung präsentiert. 14 Vgl. Dworkin, Gerald, a.a.O. (Fn. 8), S. 110 en fin (unter III); Kleinig, John, a.a.O. (Fn. 2), S. 11. 15 Vgl. dazu auch Papageorgiou, Konstantinos, a.a.O. (Fn. 4), S. 232 f. und insb. 234: „Als indirekte [paternalistische] Normen können wir diejenigen [Normen] bezeichnen, die zwar zum Schutze eines potentiellen ,Selbstschädigers bestehen, aber als ihren Adressaten nicht ihn (den Selbstschädiger), sondern einen Dritten haben“. 16 So, eindrucksvoll Möller, Kai, a.a.O. (Fn. 6), S. 16. 17 Vgl. dazu auch Möller, Kai, a.a.O. (Fn. 6), S. 16.
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A. Einleitung
Im Gegensatz zu derartigen Fällen steht die Konstellation des direkten Paternalismus. Dabei handelt es sich um Normen, welche in die Freiheit desjenigen eingreifen, dessen Schutz schließlich auch bezweckt wird. Die Pflicht, Gurt bzw. Schutzhelm zu tragen, stellt ein charakteristisches Beispiel für diese Kategorie dar18. 3. Reiner und unreiner Paternalismus Das entscheidende Kriterium für die Abgrenzung der Fälle des reinen, von denjenigen des unreinen Paternalismus bildet die Frage, ob zur Berechtigung der einschlägigen Freiheitseinschränkung ausschließlich die „Förderung des Wohls“ des Betroffenen, oder auch weitere Zielsetzungen herangezogen werden19; im Rahmen der heutigen, auf liberalen Prämissen beruhenden Rechtsordnung sind Normen der ersteren, „reinen“ Kategorie verhältnismäßig selten, da der Gesetzgeber seine Absicht, den Menschen vor sich selbst zu schützen, fast immer hinter anderen, „legitimen“ Gesetzeszwecken verbirgt20. 4. Harter und weicher Paternalismus Die Unterscheidung zwischen der harten und der weichen Form des staatlichen Paternalismus basiert auf dem Stellenwert, welcher dem autonomen Willen des Betroffenen im Rahmen der beiden Konstellationen grundsätzlich beigemessen wird21. Insofern ist eine Regelung als hart-paternalistisch zu bezeichnen, wenn damit der Mensch zu seinem Wohl bevormundet wird, ohne Rücksicht darauf, ob dieser in der Lage ist, freiwillig über die eigenen Angelegenheiten zu entscheiden, oder nicht. Typisches Beispiel derartiger Vorschriften stellt wieder der Fall der Gurt- bzw. Helmpflicht dar: Diese Norm beruht auf dem gesetzgeberischen Anliegen, die Gesundheit der Verkehrsteilnehmer vor den typischen Gefahren des Straßenverkehrs zu schützen. Im Rahmen dieser Zwecksetzung spielen die persönlichen Präferenzen auch des vollkommen über das einschlägige Risiko informierten und freiverantwortlich handelnden Individuums überhaupt keine Rolle; denn das im Gesetz enthaltene Gebot soll für jeden bindend sein.
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Ebd. S. 16. Vgl. dazu Kleinig, John, a.a.O. (Fn. 2), S. 11 a. E. ff.; Möller, Kai, a.a.O. (Fn. 6), S. 15; Feinberg, Joel, a.a.O. (Fn. 11), S. 8, welcher für diese Differenzierung seine eigene Terminologie („ungemischter“ – „gemischter“ Paternalismus) einführt. 20 Vgl. Dworkin, Gerald, a.a.O. (Fn. 8), S. 108 (unter I); Feinberg, Joel, a.a.O. (Fn. 11), S. 16. 21 Vgl. Feinberg, Joel, a.a.O. (Fn. 11), S. 12. 19
III. Die Auferlegung „objektiver“ Wohlfahrtspläne durch das Strafrecht
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Die Mehrheit der paternalistischen Regelungen gehört heutzutage zur harten Variante, welche auf Grund ihres autonomieverletzenden Charakters sowie ihrer inhärenten Missachtung der menschlichen Würde am ehesten legitimationsbedürftig ist22. Eine Norm ist dagegen als weich-paternalistisch zu verstehen, entweder wenn sie in die Handlungsfreiheit des Betroffenen eingreift, um den Einzelnen vor den benachteiligenden Folgen einer von ihm nicht freiwillig getroffenen Entscheidung zu bewahren oder wenn ein derartiges Einschreiten seitens des Staates unbedingt erforderlich ist, um den autonomen Charakter des individuellen Verhaltens festzustellen23. Diese Art der öffentlichen Einmischung in private Angelegenheiten beruht auf dem Gedanken, dass ein Mensch, welcher generell nicht über die erforderliche Einsichtsfähigkeit verfügt, oder dessen Handlungen konkret an Willensmängeln leiden, ohnehin vor den Folgen seiner Entscheidungen geschützt werden sollte, denn in seinem Verhalten wird der „Konkretisierungsakt“ eines authentischen, autonom entworfenen Lebensplans nicht mehr widergespiegelt24. Der staatliche Eingriff wird in derartigen Situationen für geboten erachtet, da dadurch das Individuum vor „ungewollten“ Beeinträchtigungen seiner eigenen Interessen geschützt wird, welche ansonsten auch vom Betroffenen selbst vermieden werden könnten, wenn er nur in der Lage wäre, freiwillig über sich selbst zu entscheiden. Der weiche Paternalismus wird insofern von einem „menschengerechten“ Beweggrund sowie von einem inhärenten Respekt für die individuelle Würde angetrieben. Aus diesem Grund lässt er sich auch mit den Grundzügen der liberalen Doktrin reibungslos vereinbaren, und wird von der Mehrheit der liberal denkenden Autoren als moralisch zulässig betrachtet25.
III. Die Auferlegung „objektiver“ Wohlfahrtspläne durch das Strafrecht Der inhärent problematische Charakter einer paternalistisch motivierten Eingrenzung der persönlichen Autonomie wird noch offenkundiger, wenn die Auferlegung der staatlichen Willkür mittels strafrechtlicher Sanktionen erfolgt. Tatsächlich findet sich im Rahmen des materiellen Strafrechts eine immer größer werdende Anzahl von paternalistisch geprägten Regelungen, welche durch ihre Bestimmungen den unter 22
Vgl. Papageorgiou, Konstantinos, a.a.O. (Fn. 4), S. 226; vgl. auch Seher, Gerhard, Liberalismus und Strafe, S. 128: „[Der harte Paternalismus] lässt sich nicht mit dem liberalen Menschenbild eines autonom handelnden Individuums vereinbaren. Er befürwortet den zwangsweisen Schutz auch kompetenter Erwachsener ,gegen sich selbst, ohne die Freiheit der Lebensentfaltung oder die Risikobereitschaft des Betroffenen zu berücksichtigen“. 23 Vgl. Feinberg, Joel, a.a.O. (Fn. 11), S. 12; Möller, Kai, a.a.O. (Fn. 6), S. 16; Klimpel, Paul K., Bevormundung oder Freiheitsschutz?, S. 27; Seher, Gerhard, a.a.O. (Fn. 22), S. 126. 24 Vgl. Papageorgiou, Konstantinos, a.a.O. (Fn. 4), S. 225. 25 Ebd., S. 225.
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dem Damoklesschwert der Strafe stehenden Bürgern „objektive“ Wohlfahrtswerte aufzuerlegen suchen. Derartige Normen berufen sich in der Regel zu ihrer Legitimation auf Generalklauseln, vage Zwecksetzungen, sowie in ihrer Bedeutung umstrittene Begriffe26, die alle vermeintlich dazu bestimmt sind, die legitimen Interessen des Staates, der Allgemeinheit oder sogar des Betroffenen selbst vor Beeinträchtigung zu wahren. Hinter dieser Argumentation versteckt sich jedoch das steigernde Anliegen des modernen Gesetzgebers, den Menschen vor den schädlichen Folgen seiner eigenen Entscheidungen zu schützen und ihn zu seinem Wohl zu bevormunden, um dadurch auf implizite Weise herrschenden gesellschaftlichen Wertvorstellungen oder sogar den Geboten der geltenden Moral gerecht zu werden. Vor diesem Hintergrund sind im Folgenden die wichtigsten Fälle paternalistischer Vorschriften im Rahmen des Strafrechts sowie die am häufigsten angeführten Argumente zu ihrer Berechtigung ausführlich darzustellen. 1. Das Verbot des Umgangs mit Drogen durch die Bestimmungen des Betäubungsmittelgesetzes Das in seiner heutigen Grundform seit dem Jahr 1982 geltende Gesetz über den Verkehr mit Betäubungsmitteln (BtMG)27 zielt durch seine umfassenden Verbotsnormen darauf ab, sowohl den Umgang der Bevölkerung mit Betäubungsmitteln als auch den illegalen Handel mit derartigen Substanzen unter strenger Kontrolle zu halten; die Unterdrückung der aus den Drogen herrührenden Gefahren für die Bevölkerung sowie die Bekämpfung der mit ihrem Verkehr verbundenen organisierten Kriminalität sind in den letzten Jahrzehnten zum Gegenstand weltweiter Initiativen geworden und stellen heutzutage eine wichtige Zwecksetzung im Rahmen des Strafrechts dar. Neben dem berechtigten Interesse des Staates an einer effektiven Betäubungsmittelprohibition, besteht jedoch auch ein separates Anliegen seitens des Individuums, an seiner Freiheit, auch von derartigen Stoffen Gebrauch zu machen, von der öffentlichen Gewalt nicht gehindert zu werden. Diese positive Forderung nach Respektierung der persönlichen Autonomie wurde insbesondere in der Zeit nach den sechziger Jahren zum Gegenstand lebhafter öffentlicher Diskussionen, welche die Befugnis des Gesetzgebers, in das Selbstbestimmungsrecht eines freiwillig Handelnden so restriktiv einzugreifen, heftig kritisiert haben: In der Auseinandersetzung über die Frage der Zulässigkeit des Eigenkonsums von Betäubungsmitteln wird ein oft erörtertes Thema der neuen Zeit widergespiegelt, welches mit mannigfaltigen Argumenten von beiden Seiten bis zum heutigen Tag fortgeführt wird.
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Vgl. Klimpel, Paul K., a.a.O. (Fn. 23), S. 14. „Gesetz zur Neuordnung des Betäubungsmittelrechts“ vom 28. 7. 1981 (BGBl. I von 1981, S. 681), welches am 1. 1. 1982 in Kraft getreten ist. 27
III. Die Auferlegung „objektiver“ Wohlfahrtspläne durch das Strafrecht
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Historisch wurde in Deutschland der erste Schritt auf dem Weg zum Verbot des freien Betäubungsmittelverkehrs durch das „Gesetz zur Ausführung des internationalen Opiumabkommens“28 (auch als Haager Abkommen bekannt) im Jahr 1920 gemacht. Dieses Gesetz lässt sich in erster Linie als Folge des verlorenen Ersten Weltkrieges verstehen, welcher das Deutsche Reich (dessen Pharmaindustrie damals zu den größten Produzenten von Morphium, Heroin und Kokain zählte) zur Befolgung der politischen und vor allem wirtschaftlichen Agenda der damaligen „treibende Kräfte“ verpflichtete29. Neben dem Zweck einer „sparsamen Bewirtschaftung“ der Betäubungsmittel (deren Nachfrage aufgrund des Krieges wesentlich zugenommen hatte) sollte das Gesetz hauptsächlich der „Gesunderhaltung des Volkes“30 als eines Ganzen dienen, ein Belang, welcher – nach der Gesetzesbegründung – durch die „missbräuchliche Verwendung von Betäubungsmitteln“31 ohnehin beeinträchtigt werden könnte. Der dadurch zum Ausdruck gebrachte, die Betäubungsmittelgesetzgebung seitdem prägende Zweck der Bewahrung der „Volksgesundheit“32 wurde damit (wenn auch mit einer sehr geringen Strafandrohung33) formal zum Gegenstand des ersten „Betäubungsmittelgesetzes“ gemacht und hat auch seinen Weg in die Rechtsprechung des Reichsgerichts gefunden34. Eine Erweiterung des Schutzes vor Betäubungsmitteln wurde im Jahr 1925 mit dem Verbot der Cannabisproduktion durch das zweite internationale Opiumabkommen vollzogen35, welches das deutsche Reich im Jahre 1929 mit dem „Gesetz über den Verkehr mit Betäubungsmitteln (Opiumgesetz)“36 ratifizierte. Die Verwendung von Drogen wurde dadurch auf Heilzwecke und wissenschaftliche Forschung beschränkt37 und der Umgang mit Betäubungsmitteln generell der Aufsicht des Reichsgesundheitsamts anvertraut. Die einschlägigen Verbotsnormen des Opiumgesetzes
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RGBl. I von 1921, S. 2. Vgl. Nestler, Cornelius, Grundlagen und Kritik des Betäubungsmittelstrafrechts, in: Handbuch des Betäubungsmittelstrafrechts, S. 706. 30 Vgl. dazu: Verhandlungen des Reichstages, Bd. 365, Nr. 1128, S. 4. 31 Ebd. S. 4. 32 Ebd. S. 5. 33 Der § 8 des ersten Opiumgesetzes sah für Zuwiderhandlungen – außer einer Geldstrafe – eine Freiheitsstrafe von höchstens sechs Monaten vor. 34 Vgl. dazu beispielsweise das Urteil des Reichsgerichts vom Jahr 1929 in: RGSt 63, 160, 164. 35 RGBl. II von 1925, S. 407 f. 36 RGBl. I von 1929, S. 215 f.; vgl. auch Nestler, Cornelius, a.a.O. (Fn. 29), S. 707, Fn. 19, und Klimpel, Paul, a.a.O. (Fn. 23), S. 184. 37 Vgl. Klimpel, Paul, a.a.O. (Fn. 23), S. 184; vgl. auch die einschlägigen Ausführungen des zweiten internationalen Opiumabkommens von 1925, insb. Art. 5, in: RGBl. II von 1925, S. 115. 29
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A. Einleitung
sahen wiederum eine (im Vergleich zu heute) geringe38 Bestrafung für abweichendes Verhalten vor39. Den Auftakt der neueren, paternalistisch geprägten Betäubungsmittelgesetzgebung signalisierte das Betäubungsmittelgesetz aus dem Jahr 1971, welches an die Stelle des bis zum damaligen Zeitpunkt geltenden Opiumgesetzes trat40. Wesentlicher Grund für die Erneuerung und Ausweitung der Betäubungsmittelkontrolle war die „Einheitskonvention über Suchtstoffe“ von 196141, welche die bis dahin fragmentarischen Kataloge verbotener Substanzen in einem einheitlichen Text sammelte. Das Hauptmotiv stellte allerdings der große Aufschwung dar, welchen die Benutzung von derartigen Mitteln in den sechziger Jahren als Bestandteil einer wachsenden Gegenkultur erfuhr42. Vor diesem Hintergrund (und unter dem enormen Druck der Völkergemeinschaft) lag das Interesse des Gesetzgebers nicht mehr in der Fortsetzung der „mäßigen Haltung“ der Vergangenheit, sondern ganz konkret in der sofortigen und effektiven Aufhaltung der „katastrophischen“ Folgen, welche die Ausbreitung der unmittelbar bevorstehenden „Rauschgiftwelle“43 nach Meinung des Gesetzgebers auf vielen unterschiedlichen Ebenen des sozialen Zusammenlebens auszulösen drohte. Das für den Betäubungsmittelbereich immer noch bestimmende und zugegeben vage Schutzgut der „Volksgesundheit“ wurde in dieser Hinsicht zum fokalen Punkt eines eifrigen, und vor allem resoluten gesetzgeberischen Anliegens gemacht. Sein Inhalt hat unter diesem Blickpunkt eine wesentliche und rasche Erweiterung erfahren, um der neuen Zielsetzung der Betäubungsmittelbekämpfung die benötigte rechtsdogmatische „Deckung“ zu bieten. Im Bedeutungsgehalt dieses nunmehr „ausufernden“ Rechtsgutes haben sich mithin eine Vielfalt von unterschiedlichen Belangen zusammengeschlossen, die sich – nach den Ausführungen der Gesetzesbegründung – von der Erhaltung der „individuellen Gesundheit“ und dem „Schutz der Familie“, bis hin zur Bewahrung der „Funktionsfähigkeit der Gesellschaft“ erstreckten44. Die „Volksgesundheit“ ist also gewissermaßen durch die Gesetzesinitiative der frühen siebziger Jahre zu einem „Sammelbegriff“ für die zusammenhängenden Inter-
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§ 10 Abs. 1 sah – außer einer Geldstrafe – eine Freiheitsstrafe von höchstens 3 Jahren vor. Vgl. Nestler, Cornelius, a.a.O. (Fn. 29), S. 707, Rn. 19. 40 Es handelt sich um das „Gesetz zur Änderung des Gesetzes über den Verkehr mit Betäubungsmitteln (Opiumgesetz) vom 22. 12. 1971“ (BGBl. I von 1971, S. 2092 f.), welches am 10. 1. 1972 (BGBl. I von 1972, S. 1 f.) durch eine geringfügige Änderung der Paragraphenreihenfolge neu gefasst wurde. 41 Es handelt sich um die so genannte „Single Convention“; siehe dazu Nestler, Cornelius, a.a.O. (Fn. 29), S. 707, Fn. 22 m.w.N. 42 Vgl. Klimpel, Paul, a.a.O. (Fn. 23), S. 184. 43 Vgl. die Gesetzesbegründung in: BT-Drucks. 6/1877, S. 5. 44 BT-Drucks. 6/1877, S. 5; vgl. auch Nestler, Cornelius, a.a.O. (Fn. 29), S. 712. 39
III. Die Auferlegung „objektiver“ Wohlfahrtspläne durch das Strafrecht
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essen des Einzelnen und der Allgemeinheit angewachsen45 und hat als Rechtsgut einen strafrechtsdogmatisch problematischen „Doppelcharakter“46 entfaltet, und zwar, dass sie in ihren Rahmen sowohl persönliche als auch überindividuelle Belange zugleich umfasste. Dieses Merkmal hat seinerseits dem Staat die erforderliche Basis geboten, um weitreichende Maßnahmen sowohl auf persönlichem, als auch auf überindividuellem Niveau zu ergreifen, die stets – und für den Gesetzgeber ohne große Bedenken – über einen „diffusen“ Bezug auf den Schutz der „Volksgesundheit“ legitimiert werden könnten. Der Leitgedanke des effektiven Schutzes des Einzelnen und der Bevölkerung vor der voranschreitenden Betäubungsmittelgefahr wurde im Laufe der Zeit konsequent verfolgt, und hat schließlich seinen Weg auch in die Begründung des heutigen Betäubungsmittelgesetzes gefunden47, welches mit nunmehr erneutem Engagement die Fortsetzung der nationalen und internationalen Drogenbekämpfung diktiert. Das geltende Gesetz über den Verkehr mit Betäubungsmitteln (welches die doppelte Zielsetzung seines Vorgängers völlig übernommen hat) beinhaltet in dieser Hinsicht die bis jetzt schärfsten Vorschriften zur Regelung des Umgangs mit Drogen, und greift zum Zweck ihrer Unterdrückung in alle Ebenen des menschlichen Alltags entscheidend ein. Dem dadurch entstandenen „Kontrollnetz“ konnte die immer wieder in der Geschichte der Menschheit auftretende und oft freiwillig formulierte Entscheidung des Einzelnen, von derartigen Substanzen Gebrauch zu machen, konsequenterweise nicht entgehen. Das Verbot des „Eigenkonsums“, welches der Staat (seinem herkömmlichen Gedanken getreu) unter Berufung auf ein Interesse an der Bewahrung sowohl der individuellen als auch der allgemeinen Gesundheit rechtfertigt, wird heutzutage im Rahmen des BtMG auf mittelbare Weise verhängt, indem die mit der Betäubungsmitteleinnahme notwendig verbundenen Vorstadien des „Erwerbs“ und des „Besitzes“ durch die Bestimmungen des § 29 Abs. 1 Nr. 1 und 3 BtMG mit bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe geahndet werden48. Die dadurch bewirkte Einschränkung des Selbstbestimmungsrechts des Konsumenten stellt eindeutig einen hart-paternalistischen Eingriff in die Wünsche des Individuums dar49, welcher dem ausschließlichen Zweck dient, die im Begriff der „Volksgesundheit“ enthaltene Wohlfahrtspolitik eines fürsorglichen Staates auch gegen den erklärten Willen eines freiwillig handelnden Menschen durchzusetzen. 45
Vgl. Nestler, Cornelius, a.a.O. (Fn. 29), S. 712, Rn. 30. Ebd. S. 712, Rn. 30. 47 Siehe BT-Drucks. 8/3551 von 1980, S. 37. 48 Klimpel, Paul, a.a.O. (Fn. 23), S. 187; Nestler, Cornelius, a.a.O. (Fn. 29), S. 719 f., und ders., Ist die Strafbarkeit der Selbstschädigung verfassungswidrig?, in: JuS 1993, S. 371 (vor III). 49 Diese staatliche Einmischung ist als ein Fall des direkten Paternalismus zu verstehen, wenn der Betroffene selbst z. B. für den Besitz von Drogen bestraft wird, und als ein Fall des indirekten Paternalismus etwa dann, wenn derjenige, welcher dem Konsumenten die Betäubungsmittel verabreicht hat für diese Handlung in Verantwortung gezogen wird. 46
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Darüber hinaus lässt sich die Regelung des § 29 BtMG auch als ein Fall des „unreinen“ Paternalismus bezeichnen, da unter dem „Mantel“ der Bewahrung überindividueller Interessen stets mittelbar auch der Schutz des Menschen vor sich selbst mit strafrechtlichen Mitteln erstrebt wird. Das paternalistische Anliegen des Betäubungsmittelgesetzes wird heutzutage (wenn auch konkludent und indirekt) auch durch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs unterstützt, welcher, um das Verbot des Eigenkonsums zu erhalten, den Einsatz der für den Fall der Verletzung von Individualrechtsgütern von ihm schon gebilligten50 Doktrin der eigenverantwortlichen Selbstgefährdung und Selbstverletzung auf die hier relevanten Konstellationen nicht überträgt. Diese Haltung begründet das Gericht durch einen konsequent wiederholten Verweis auf den „anders gearteten Schutzzweck der Vorschriften des Betäubungsmittelrechts“, welcher eine „Einschränkung des Prinzips der Selbstverantwortung“ gebiete51. Die Regelungen des Betäubungsmittelgesetzes seien nämlich nicht allein, und nicht einmal in erster Linie dazu da, „das Leben und die Gesundheit des einzelnen“ zu schützen, sondern sie existierten vielmehr um Schäden vorzubeugen, „die sich für die Allgemeinheit aus dem verbreiteten Konsum vor allem harter Drogen […] und
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Vgl. diesb. BGHSt, 32, 262, 263 a. E. ff., abgedruckt auch in NStZ 1984, S. 410 mit zustimmender Anmerkung von Roxin; vgl. auch BGH (Urt. v. 7. 8. 1984), NStZ 1985, S. 25, 26; BGH (Urt. v. 27. 11. 1985), NStZ 1986, S. 266, 267; BGH (Urt. v. 22. 4. 1987), NStZ 1987, S. 406. 51 Vgl. dazu hauptsächlich BGH (Beschl. v. 25. 9. 1990), StV 1992, S. 273. Obwohl diese Entscheidung vorerst die Frage der Strafbarkeit eines Drogenhändlers nach § 29 Abs. 3 sowie § 30 Abs. 1 BtMG behandelt, spiegelt sich in der einschlägigen Begründung die Grundeinstellung des Gerichts wider, dass im Rahmen des Betäubungsmittelgesetzes der eigenverantwortliche Charakter des individuellen Entschlusses zur Betäubungsmitteleinnahme irrelevant ist. Dies wird auch in den weiteren Entscheidungen des Gerichts indiziert, insbesondere wenn der BGH im Rahmen einer ähnlichen Fallkonstellation (Urt. v. 11. 4. 2000, NJW 2000, S. 2286 f.) die Tatsache, dass „das im Bereich der Körperverletzungs- und Tötungsdelikte entwickelte Prinzip der Selbstverantwortung und die Grundsätze zur bewussten Selbstgefährdung bei der Auslegung und Anwendung der Straftatbestände des Betäubungsmittelgesetzes eine Einschränkung erfahren“ (S. 2287), zu einem Grundsatz der einschlägigen Rechtsprechung erhebt; und selbst wenn der Bundesgerichthof in seinem Urteil vom 7. 2. 2001 (BGHSt. 46, 279 f.; auch in: NJW 2001, S. 1802 f.) aus dem eigenverantwortlichen Charakter des Opferverhaltens den Ausschluss der „Leichtfertigkeit“ der Täterhandlung im Rahmen des § 30 Abs. 1 Nr. 3 BtMG folgert und dadurch gleichzeitig eine teleologische Reduktion des Anwendungsbereichs dieses Tatbestands einleitet (siehe NJW 2001, S. 1804 unter II), wird im gleichen Urteil trotzdem unterstrichen, dass der Grundsatz der Eigenverantwortlichkeit „nicht ohne weiteres auf das [gesamte] Betäubungsmittelrecht übertragen werden [kann] […]. Das durch die betäubungsmittelrechtlichen Strafvorschriften geschützte Rechtsgut ist [nämlich] nicht nur die Gesundheit des Einzelnen, sondern auch die Volksgesundheit. Dieses universale Rechtsgut steht dem Einzelnen nicht zur Disposition […]“ (siehe dazu BGHSt. 46, S. 289 m.w.N.; auch in: NJW 2001, S. 1804 unter II. 1. b. aa. 2 m.w.N.); in dieser Richtung auch ein Teil der Literatur; vgl. beispielsweise die Anmerkungen von Beulke/Schröder zum Beschluss des Bundesgerichtshofs v. 25. 9. 1990, in: NStZ 1991, S. 393 f., (insb. S. 394 unter Nr. 3: „Der einzelne kann nicht zu Lasten der Volksgesundheit disponieren“, m.w.N.).
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den daraus herrührenden Gesundheitsbeeinträchtigungen der einzelnen ergeben (Schutzgut Volksgesundheit)“52. Das Individuum beeinträchtige also durch den Gebrauch von Betäubungsmitteln nicht ausschließlich sein eigenes Wohlbefinden, sondern gleichzeitig – und sogar vorrangig – auch die Gesundheit der gesamten Bevölkerung53. Deswegen solle es für den Einzelnen nicht erlaubt sein, mit Drogen umzugehen, da durch diese Handlung nicht nur ein individuelles, ihm zustehendes Rechtsgut, sondern unausweichlich – und sogar vornehmlich – auch ein „komplexes und universelles, der Verfügung des einzelnen nicht unterliegendes“ Rechtsgut – nämlich die „Volksgesundheit“ – gefährdet werde54. Der „besondere Charakter“ der Betäubungsmitteldelikte soll also zusammenfassend den Ausschluss der Regel der Eigenverantwortlichkeit für derartige Fallkonstellationen gebieten, und berechtige (in charakteristisch paternalistischer Weise) auch zu jeder gesetzgeberischen Initiative, welche geeignet ist, „Schäden zu verhüten, die der Missbrauch von Betäubungsmitteln beim Konsumenten selbst verursacht“55; der harte strafrechtliche Paternalismus erhält insofern im Fall des Betäubungsmittelgesetzes den höchstrichterlichen „Segen“. Die Haltung des Bundesgerichtshofs hat ihrerseits im Laufe der Zeit zu lebhaften Auseinandersetzungen im Rahmen der Literatur geführt, welche insbesondere den problematischen Charakter des Rechtsguts „Volksgesundheit“ thematisierte56. Die gesamte Diskussion hat dann Anfang der neunziger Jahre einen neuen Aufschwung erfahren, als das Landgericht Lübeck – zusammen mit einer Reihe von weiteren Untergerichten57 – die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit des Verbots des Drogenkonsums (Fall Chassis) aufwarf und das Verfassungsgericht zu einer Stellungnahme über die Vereinbarkeit dieser Einschränkung der persönlichen Autonomie mit dem Art. 2 Abs. 1 GG aufforderte58. Der durchgesetzte status quo wurde allerdings durch die Verfassungsbeschwerde schließlich nicht verändert. Das Bundesverfassungsgericht erklärte in seinem ausführlichen Beschluss die Bestimmungen des Betäubungsmittelgesetzes für verfas52 Vgl. BGH (Beschl. v. 25. 9. 1990), StV 1992, S. 273; ähnlich BGH (Urteil v. 27. 07. 2000), in: NJW 2000, S. 3015: „Mag auch der Schutz der Volksgesundheit vorrangig sein, so sollen die einschlägigen Straftatbestände des Betäubungsmittelgesetzes jedenfalls auch Leben und Gesundheit individuell Betroffener schützen“. 53 Kritisch auch Nestler, Cornelius, a.a.O. (Fn. 29), S. 713, Rn. 31 m.w.N. 54 BGH (Beschl. v. 25. 9. 1990), StV 1992, S. 273. 55 BGH (Urt. v. 25. 8. 1992), NJW 1992, S. 2976; kritisch Nestler, Cornelius, Ist die Strafbarkeit der Selbstschädigung verfassungswidrig?, in: JuS 1993, S. 371 (vor III): „Strafrecht soll demnach eingesetzt werden können, um den einzelnen vor sich selbst zu schützen“. 56 Siehe diesb. Nestler, Cornelius, a.a.O. (Fn. 29), S. 707, Rn. 20 m.w.N.; siehe auch Klimpel, Paul, a.a.O. (Fn. 23), S. 189 m.w.N. 57 Vgl. dazu Klimpel, Paul, a.a.O. (Fn. 23), S. 185 a. E. ff., m.w.N.; vgl. auch BVerfG Beschl. v. 9. 3. 1994, in: BVerfGE 90, 145 (146 – 147). 58 Vgl. LG-Lübeck (Beschl. v. 19. 12. 1991), NJW 1992, S. 1571, 1573 f.
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A. Einleitung
sungskonform59 und hat sowohl die Zielsetzung des in Frage stehenden Regelwerkes als auch die darin enthaltenen Verbote befürwortet60. Zweck des Betäubungsmittelgesetzes soll nach wie vor die Bewahrung der „menschlichen Gesundheit61, sowohl des Einzelnen, wie der Bevölkerung im Ganzen, von den von Btm. ausgehenden Gefahren“62 sein, genauso wie die Gestaltung des „sozialen Zusammenlebens in einer Weise, die [den menschlichen Alltag] von [den] sozialschädlichen Wirkungen des Umgangs mit Drogen freihält“63: Die Vorschriften des Betäubungsmittelgesetzes seien also zusammenfassend dazu bestimmt, Gemeinschaftsbelange zu erhalten, welche „vor der Verfassung Bestand haben“64. Die Erreichung der gesetzlichen Zielsetzung sollte ihrerseits von den entsprechenden Strafvorschriften des Regelwerkes garantiert werden65, deren Schutzbereich sich deswegen auf jede Verhaltensweise erstreckt, welche auch nur „generell geeignet ist, die beschriebenen Gefahren herbeizuführen“66. Dieses Risiko wird nach der Ansicht des Gerichts bereits durch den freiwilligen Drogenkonsum realisiert, denn die Auswirkungen dieser Tat reichen über den engen Bereich der individuellen Persönlichkeitssphäre hinaus, und tangieren unausweichlich auch übergeordnete Belange. Das in § 29 Abs. 1 Nr. 1 und 3 BtMG enthaltene (mittelbare) Verbot der Betäubungsmitteleinnahme wird insofern vom Bundesverfassungsgericht durch einen Appell an die (abstrakte) Gemeingefährlichkeit dieses Verhaltens gerechtfertigt, eine Haltung, welche gleichzeitig dem staatlichen Paternalismus auf diskrete Weise ein Einfallstor öffnet67. Durch den Beschluss vom 9. März 1994 wurde also die bisherige gesetzgeberische Linie weitaus bestätigt, während die konsequent entwickelte Argumentation des Bundesgerichtshofs ebenfalls stimmig fortgesetzt wurde. Das Bundesverfassungsgericht hat durch seine Äußerungen das Betäubungsmittelgesetz fest an das diffuse Schutzgut der Volksgesundheit gebunden und dadurch dem harten Paternalismus eine sichere Legitimationsbasis geliefert. Diese Haltung hat das Bundesverfassungsgericht auch in der jüngsten Zeit durch seinen Beschluss aus dem Jahr 2004 erneut unterstrichen68, als den Ausführungen des Amtgerichts Bernau seitens der Verfassungsrichter im Wesentlichen die gleichen Ar59
Vgl. BVerfGE 90, 145 (171, unter C); abgedruckt auch in StV 1994, S. 295 f. Vgl. BVerfGE 90, 145 (174 – 175) sowie (185 – 187); und in StV 1994, S. 296 – 297 (unter II. a.), 299 – 300 (unter V. insb. 1. und c.). 61 Das Gericht hat es vermieden, den ideologisch vorbelasteten Begriff der „Volksgesundheit“ im Rahmen des Beschlusses zu benutzen; vgl. Klimpel, Paul, a.a.O. (Fn. 23), S. 189. 62 Vgl. BVerfG Beschl. (v. 9. 3. 1994), BVerfGE 90, 145 (174), auch in: StV 1994, S. 296. 63 BVerfGE 90, 145 (174), auch in: StV 1994, S. 296, (jeweils unter II. a). 64 BVerfGE 90, 145 (175), auch in: StV 1994, S. 297, (jeweils unter II. a). 65 BVerfGE 90, 145 (174), auch in: StV 1994, S. 296, (jeweils unter II. a). 66 BVerfGE 90, 145 (184), auch in: StV 1994, S. 299, (jeweils unter 5.). 67 Vgl. diesb. auch Nestler, Cornelius, a.a.O. (Fn. 29), S. 737, Rn. 90. 68 Vgl. diesb. BVerfG Beschl. v. 29. 6. 2004, in: NJW 2004, S. 3620 f., und insb. 3622. 60
III. Die Auferlegung „objektiver“ Wohlfahrtspläne durch das Strafrecht
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gumente entgegengestellt wurden. Hierdurch ist jede neue Hoffnung auf eine „Liberalisierung“ der staatlichen Position gegenüber dem Betäubungsmittelkonsum ins Leere gelaufen, und der „Ruf“ des Betäubungsmittelgesetzes als eines der konsequentesten Fälle hart-paternalistischer Gesetzgebung ist „unversehrt“ erhalten geblieben. 2. Die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen Der freiverantwortliche Entschluss eines Menschen zur eigenen Entleibung, stellt eine der reinsten – wenn auch radikalsten – Formen der Selbstbestimmungsausübung dar. Abgesehen von den damit notwendig verbundenen sittlichen Implikationen wird ein derartiges Verhalten im Rahmen des modernen säkularen Staates geduldet. Dem Suizidenten droht keine Sanktion, da der Selbstmord von den Tatbeständen der §§ 211 ff. StGB – die sich gegen die Tötung eines anderen richten – nicht erfasst wird69. Nicht geahndet wird auch die Teilnahme an einem derartigen Unternehmen70, was seitens der Rechtsprechung und der Literatur mit jeweils unterschiedlichen Argumenten begründet wird71. Die Sachlage ändert sich jedoch, wenn der Sterbewillige die Tötungshandlung nicht selbst vornimmt, sondern zu diesem Zweck – in vollem Bewusstsein der Bedeutung seines Anliegens – einen Dritten dazu bestimmt. Selbst bei Vorlage eines „ausdrücklichen und ernstlichen Verlangens“ seitens des Veranlassenden wird in einer derartigen Konstellation die Ausführung des Todeswunsches nach der ausdrückli69
Seitens der Literatur vgl. Eser, Albin, Vorbem. zu § 211 ff. StGB, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch Kommentar, S. 1785, Rn. 33 m.w.N.; Fischer, Thomas, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, Vorbem. zu § 211 StGB, S. 1424, Rn. 10a m.w.N.; Herzberg, Dietrich, Beteiligung an einer Selbsttötung oder tödlichen Selbstgefährdung als Tötungsdelikt (Teil 1), in: JA 1985, S. 132 m.w.N.; vgl. auch RGSt. 70 (Urteil v. 14. 9. 1936), S. 313, 315; BGHSt. 2, (Urteil v. 12. 2. 1952), S. 150, 152 (Grundsatzentscheidung); BGHSt. 32 (Urteil v. 14. 2. 1984), S. 262, 264; BGHSt. 32 (Urteil v. 4. 7. 1984), S. 367, 371. Diese Ansicht wurde schon vom Anfang des vergangenen Jahrhunderts vertreten: vgl. dazu Schmidhäuser, Eberhard, Selbstmord und Beteiligung am Selbstmord in Strafrechtlicher Sicht, in: FS Welzel, S. 810 f. m.w.N. auf die einschlägigen Aussagen von Beling. 70 Siehe dazu den so genannten „Heroinspritzefall“ des Bundesgerichtshofs (BGHSt 32, 262 f.); im gleichen Kontext (bezogen jedoch auf den Medizinsektor) auch der Fall des Arztes Julius Hackethal, welcher im Jahre 1984 einer „schwerstkranken“ Frau mit Hilfe seiner Mitarbeiter ein tödliches Gift überlassen hat, welches Sie dann selbstständig einnahm; siehe diesb. OLG München, Beschl. v. 31. 7. 1987, in: NJW 1987, S. 2940 f., insb. S. 2941 (unter II. a). 71 Zur Rspr. vgl. BGHSt. 32, 262, 264 (Teilnahmeargument/Akzessorietätsgrundsatz); im Rahmen der Literatur vgl. u. a. Roxin, Claus, Strafrecht AT, § 11, S. 401, Rn. 107 f. m.w.N.; Schünemann, Bernd, Moderne Tendenzen in der Dogmatik der Fahrlässigkeits- und Gefährdungsdelikte, JA 1975, S. 715 f., 720 (unter „h“), ders., Fahrlässige Tötung durch Abgabe von Rauschmitteln?, in: NStZ 1982, S. 60 f.; Rudolphi, Hans-Joachim, Vorhersehbarkeit und Schutzzweck der Norm in der strafrechtlichen Fahrlässigkeitslehre, in: JuS 1969, S. 549 f.; Stree, Walter, Beteiligung an vorsätzlicher Selbstgefährdung, in: JuS 1985, S. 179 f. (Schutzzweckgedanke); einen guten Überblick zum Meinungsspektrum gibt Lasson, Maximilian, Eigenverantwortliche Selbstgefährdung und einverständliche Fremdgefährdung, ZJS 2009, S. 359 f.
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A. Einleitung
chen Bestimmung des § 216 StGB72 unter Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren gestellt. Dem Sterbewilligen wird folglich indirekt der „letzte und höchste“ Akt der Selbstbestimmung rechtlich untersagt. Die Widrigkeiten des menschlichen Lebens geben allerdings oft Anlass dafür, einen Dritten zur Beendigung der eigenen Existenz aufzufordern. Auch wenn ein solches Anliegen unter normalen Umständen grausam erscheint, stellt es trotzdem im Rahmen des menschlichen Alltags oft den einzigen „humanen“Ausweg aus einer großen Anzahl von Situationen dar73. Den weitaus häufigsten einschlägigen Fall bildet die Konstellation der aktiven Sterbehilfe, in deren Rahmen ein moribunder Patient, welcher nicht im Stande ist, selbst seinem Leben ein Ende zu setzen, freiwillig einen Anderen um die unmittelbare Beendigung seiner Existenz bittet74. 72 Im Gegenteil zum Fall der Selbsttötung, deren Behandlung im vergangenen Jahrhundert die Rechtsprechung und die Literatur über längere Zeit beschäftigt hat (instruktiv dazu Schmidhäuser, Eberhard, Selbstmord und Beteiligung am Selbstmord in Strafrechtlicher Sicht, in: FS Welzel, S. 801 f.; siehe auch Jakobs, Günther, Tötung auf Verlangen, Euthanasie und Strafrechtssystem, S. 5 f.), hat die gesetzgeberische Wahl, eine vom Opfer verlangte Selbstentleibung durch einen Dritten zu untersagen, im § 216 StGB schon früh einen klaren Ausdruck gefunden (vgl. dazu Fischer, Thomas, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, § 216 StGB, S. 1486, Rn. 1, wo es erwähnt wird, das der Abs. 1 des § 216 StGB seit dem Jahr 1871 unverändert besteht). 73 Eine Auflistung einschlägiger Fallkonstellationen unternimmt Jähnke, Burkhard, § 216 StGB, in: Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, S. 147, Rn. 1. 74 Formal wird die aktive Sterbehilfe als die „[…] Verkürzung eines verlöschenden Lebens durch eine aktive Einflussnahme auf den Krankheits- und Sterbeprozess“ (siehe Uhlenbruck, Wilhelm, Sterbehilfe, in: Lexikon des Arztrechts, Nr. 4980, S. 6, Rn. 6), oder als die „durch Mitleid bestimmte, direkt gewollte und aktiv ins Werk gesetzte Lebensverkürzung bei einem unheilbaren Leiden und mehr oder minder großer Todesnähe“ (vgl. Jähnke, Burkhard, Vorbem. zu § 211 StGB, in: Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, S. 19, Rn. 12, m.w.N.), oder schlicht als „die absichtliche und aktive Beschleunigung des Todeseintritts“ (siehe Lutterotti, Markus v./Eser, Albin, Sterbehilfe, in: Lexikon Medizin, Ethik, Recht, S. 1093) bestimmt. Diese Art der Leidensbeendigung ist auf Grund des direkten Verbots des § 216 StGB nach h.M. unerlaubt (vgl. Klimpel, Paul K., Bevormundung oder Freiheitsschutz?, S. 89; Eser, Albin, Vorbem. zu §§ 211 ff., in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch Kommentar, S. 1779, Rn. 24; Neumann, Ulfrid, Vor. § 211, in: Nomos Kommentar, S. 3585, Rn. 127 m.w.N.; Roxin, Claus, Zur strafrechtlichen Behandlung der Sterbehilfe, in: Medizinstrafrecht, S. 109; Lackner, Karl/ Kühl, Kristian, Strafgesetzbuch Kommentar, Vor. zu § 211 StGB, S. 889, Rn. 7; Jähnke, Burkhard, Vor. § 211 StGB, in: Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, S. 20, Rn. 14 m.w.N.). Aus der Rspr. vgl. BGHSt 37, (Urteil v. 8. 5. 1991), S. 376, 379: „[…] Sterbehilfe auch bei aussichtsloser (infauster) Prognose [darf] durch gezieltes Töten [nicht] geleistet werden“ (abgedruckt auch in: NStZ 1992, S. 34 f. mit Anmerkung von Roxin), sowie BGHSt. 46 (Urteil v. 7. 2. 2001), S. 279, 285 a. E. ff.: „Dieser grundsätzliche Vorrang des Lebensschutzes ist zu beachten, wenn, wie hier, in eine Abwägung ein auch in Art. 1 Abs. 1 GG angelegtes Recht des Einzelnen auf ein Sterben unter ,menschenwürdigen Bedingungen einzustellen ist“ (abgedruckt auch in NJW 2001, S. 1802, 1803 a. E.), und BGH (Urteil v. 20. 5. 2003), in: NJW 2003, S. 2326, 2327 a. E.: „Dieser Umstand [gemeint wird die aussichtslose Lage eines moribunden Patienten] kann aber nicht ein […] Recht auf ein Sterben unter menschenwürdigen Bedingungen begründen“). Davon zu unterscheiden ist die indirekte Sterbehilfe. Diese lässt sich entweder als „eine ärztlich gebotene schmerzlindernde Medikation entsprechend dem erklärten oder mutmaßlichen Patientenwillen, [die] als unbeabsichtigte, aber in Kauf genommene un-
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Das Verbot des § 216 StGB erscheint in dieser Hinsicht als ein restriktiver staatlicher Eingriff in die autonome Entscheidung der Person, dem eigenen Dasein ein Ende zu setzen, und bedarf unter diesem Blickpunkt einer besonderen Legitimation. Tatsächlich wurde in den letzten Jahrzehnten eine große Anzahl von möglichen Gründen angeführt, welche diese definitive Eingrenzung der Selbstbestimmung aus jeweils unterschiedlichem Blickpunkt zu rechtfertigen versuchen. In diesem Sinne geht sowohl die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs als auch ein erheblicher Teil der Literatur davon aus, dass sich die Bestimmung des § 216 StGB auf der Basis der „Unverzichtbarkeit“ des Lebens und seiner „vorrangigen“ Stelle innerhalb der Wertordnung des Grundgesetzes abstützen lässt75. Das Verbot vermeidbare Nebenfolge den Todeseintritt beschleunigen kann“ (vgl. dazu BGHSt. 42, Urteil v. 15. 11. 1996, S. 301), oder einfacher als „die Schmerzlinderung mit lebensverkürzender Wirkung als Nebenfolge“ (Jähnke, Burkhard, Vor. zu § 211 StGB, in: Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, S. 21, Rn. 15) bezeichnen. Die rechtliche Zulässigkeit der indirekten Sterbehilfe ist heute allgemein anerkannt (vgl. Roxin, Claus, Zur Strafrechtlichen Behandlung der Sterbehilfe, in: Medizinstrafrecht, S. 96; Neumann, Ulfrid, Vor. § 211, in: Nomos Kommentar, S. 3574, Rn. 95 m.w.N.; Klimpel, Paul K., Bevormundung oder Freiheitsschutz?, S. 85 m.w.N.); für die Rspr. vgl. BGHSt. 42, (Urteil v. 15. 11. 1996), S. 301, 305). Die genaue Begründung dafür ist jedoch umstritten (zusammenfassend Klimpel, Paul K., Bevormundung oder Freiheitsschutz?, S. 86 f. m.w.N.). Die passive Sterbehilfe schließlich ist als der „Verzicht auf lebensverlängernde Behandlungsmaßnahmen, insbesondere auf Wiederherstellung und Aufrechterhaltung vitaler Funktionen durch intensivmedizinische Verfahren bei progredienten Erkrankung mit infauster Prognose“ (Tenthoff, Christian, Die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen im Lichte des Autonomieprinzips, S. 213 m.w.N.), oder einfacher als der „Verzicht auf lebenserhaltender Maßnahmen oder deren Abbruch in Situationen, in denen das Grundleiden des Patienten einen unabwendbaren Verlauf zum Tode genommen hat“ (Uhlenbruck, Wilhelm, Sterbehilfe, in: Lexikon des Arztrechts, Nr. 4980, S. 7, Rn. 8) zu verstehen. Diese Art der Lebensverkürzung ist rechtlich betrachtet grundsätzlich zulässig (Klimpel, Paul K., Bevormundung oder Freiheitsschutz?, S. 82 m.w.N.; Roxin, Claus, Zur Strafrechtlichen Behandlung der Sterbehilfe, in: Medizinstrafrecht, S. 100; Eser, Albin, Vorbem. zu §§ 211 ff. StGB, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch Kommentar, S. 1780, Rn. 27 f. m.w.N.). Aus der Rspr. vgl. BGHSt. 32 (Urteil v. 4. 7. 1984), S. 367, 379 a. E. – 380: „der Arzt [darf] berücksichtigen, dass es keine Rechtsverpflichtung zur Erhaltung eines erlöschenden Lebens um jeden Preis gibt“; BGHSt. 37 (Urteil v. 8. 5. 1991), S. 376, 378: „Die Ausschöpfung intensivmedizinischer Technologie ist, wenn sie dem wirklichen oder anzunehmenden Patientenwillen widerspricht, rechtswidrig“, sowie BGHSt. 40 (Urteil v. 13. 9. 1994), S. 257 f., 260). Zur Kasuistik und für eine Zusammenfassung der Legitimationsargumente der passiven Sterbehilfe siehe Klimpel, Paul K., Bevormundung oder Freiheitsschutz?, S. 82 f. Durch das Inkrafttreten des 3. Gesetzes zur Änderung des Betreuungsrechts von 29. 7. 2009 (BGBl. I, Nr. 48, S. 2286 f.), findet im Rahmen der §§ 1901a ff. BGB der Respekt des Patientenwillen eine positivrechtliche Grundlage, eine Tatsache, welche in Hinblick auf die passive Sterbehilfe für die Ärzte und die sonst daran Beteiligten mehr Sicherheit schafft. 75 Vgl. Lackner, Karl/Kühl, Kristian, Strafgesetzbuch, Kommentar, § 216 StGB, S. 922 Rn. 1 m.w.N.; Fischer, Thomas, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, Vor. 211 StGB, S. 1429, Rn. 17a, sowie S. 1425, Rn. 10c m.w.N.; Eser, Albin, § 216 StGB, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, S. 1823, Rn. 1; skeptisch Sternberg-Lieben, Detlev, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, S. 107 f. m.w.N.; vgl. des weiteren BGH (Urteil v. 20. 5. 2003), in: NJW 2003, S. 2326, 2327; BGHSt. 46 (Urteil v. 7. 2. 2001), S. 279, 285 f (abgedruckt auch in NJW 2001, S. 1802, 1803 a. E.).
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der Tötung auf Verlangen wird somit rein deontologisch – und insofern teilweise auch rein moralisch – legitimiert. Der Stellenwert des Lebens ist demnach stets über denjenigen der persönlichen Autonomie einzustufen, selbst wenn dadurch – insbesondere in Fällen von moribunden Patienten – das dadurch verteidigte „Lebensrecht zu einer schwer erträglichen Lebenspflicht“76 umgewandelt wird. Ein weiterer Teil des Schrifttums führt als Rechtfertigungsgrund für die Begrenzung der Dispositionsbefugnis über das eigene Dasein „Generalisierungen“ an, wie das allgemeine „Interesse der Gesellschaft an der Erhaltung des individuellen Lebens“77. Dabei handelt es sich um ein kollektivistisches Argument, welches die „Gemeinschaftsbezogenheit“ des Individuums vor dem Wert der „autonomen Lebensführung“ positioniert. Die eigene Existenz steht unter diesem Blickpunkt zum Teil auch der Allgemeinheit zu Diensten, welche von jedem ihrer Mitglieder seine positive Beteiligung zur Sicherung ihres Fortbestehens erwartet78. Als möglicher Legitimationsgrund wird des Weiteren ganz offen auch die Förderung der individuellen Wohlfahrt herangezogen. In diesem Sinne soll das Verbot des § 216 StGB für einen Teil der Theorie der Bewahrung der „langfristigen Interessen“ des Einzelnen dienen79. Dieser Ansicht liegt die Annahme zu Grunde, dass der höchste Zweck des Individuums im Leben prinzipiell darin besteht, ein „gutes“, „glückliches“ und „erfülltes“ Dasein zu führen80. Der Mensch soll demnach seine Kräfte konstruktiv zur Realisierung dieses obersten Ziels einsetzen, während jede Abweichung von diesem Weg (ein Vorkommnis, das auf die „unvollkommene Natur“ des Menschen zurückzuführen ist81) sich lediglich als eine „zeitliche Verzögerung“ bei der Verfolgung des optimalen Lebenszustands interpretieren lässt. Beim Entschluss zur Beendigung des eigenen Daseins handelt es sich dagegen um ein Geschehen, welches dieser Zielsetzung eindeutig zuwiderläuft; denn dabei geht es offensichtlich um eine gravierende Beeinträchtigung der existentiellen Lage des Menschen, deren Fol76
So, eindrucksvoll, BGH (Urteil v. 20. 5. 2003), in: NJW 2003, S. 2326, 2327 a. E. Siehe Weigend, Thomas, Über die Begründung der Straflosigkeit der Einwilligung des Betroffenen, in: ZStW Bd. 98 (1986), S. 66, welcher jedoch im Anschluss auch weitere Argumente für die Unzulässigkeit der „einverständlichen Fremdtötung“ ausführt; Eser, Albin, § 216 StGB, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, S. 1823, Rn. 1 m.w.N.; Schmidhäuser, Eberhard, Selbstmord und Beteiligung am Selbstmord in strafrechtlicher Sicht, in: FS Welzel, S. 817 f.; zusammenfassend: Tenthoff, Christian, Die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen im Lichte des Autonomieprinzips, S. 147 f. m.w.N. 78 Vgl. Tenthoff, Christian, Die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen im Lichte des Autonomieprinzips, S. 147 m.w.N. 79 Vgl. Hoerster, Norbert, Rechtsethische Überlegungen zur Freigabe der Sterbehilfe, NJW 1986, S. 1789. Bei der Heranziehung dieses Arguments geht man natürlich davon aus, dass der Sterbewillige nicht an einer bald tödlich verlaufenden Krankheit leidet. 80 Ebd. S. 1789. 81 Ebd. S. 1789: „Die Erfahrung zeigt, wie groß in allen Bereichen die Versuchung des Menschen ist, sich aus Kaprice, Leichtsinn oder Willensschwäche auf Handlungen einzulassen, die ihn trotz seiner freien Entscheidung insofern schädigen, als sie seinen eigenen langfristigen Interessen eindeutig zuwiderlaufen“. 77
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gen für das Individuum irreversibel sind. Der Höchstwert „Leben“, die Grundlage jeder Persönlichkeitsentfaltung, wird in diesem Zusammenhang negiert, ein Verhalten, das dem „wahren“ Interesse der Person (den herrschenden gesellschaftlichen Anschauungen nach) „logischerweise“ nur entgegenstehen kann. Deswegen sei es vorzuziehen, die autonome Entscheidung eines Menschen zur Lebensbeendigung zu unterbinden, was langfristig für ihn nur vom Vorteil sein könnte82. Das Verbot des § 216 StGB beruht in diesem Sinne auf einer (von der ratio des Gesetzes vorweggenommenen) Art „nachträglicher Einsicht“ des Betroffenen, welcher im Laufe der Zeit in der Negierung seiner autonomen Wahl ohnehin eine „weise gesetzgeberische Entscheidung“ erkennen wird. Schließlich wird auch oft versucht, die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen mit einem Appell an die „gesellschaftliche Bedeutung“ des Verbots zu legitimieren, welches erhalten bleiben muss, um dadurch ein „in der Volksanschauung wurzelndes Prinzip“ – nämlich die „Unzugänglichkeit“ des fremden Lebens – vor seiner sonst unvermeidbaren „Erosion“ zu erhalten83. Die Vorschrift des § 216 StGB verhindere also die „Relativierung des Lebensschutzes“, indem sie jede „Verfügung“ darüber tabuisiere84. Das Strafrecht soll unter diesem Blickpunkt zur Bewahrung der „etablierten Werte“ der Gesellschaft herangezogen werden85.
82
Ebd. S. 1789. Vgl. Tenthoff, Christian, a.a.O. (Fn. 78), S. 150 f. m.w.N. 84 Vgl. Herzberg, Dietrich, Der Fall Hackethal: Strafbare Tötung auf Verlangen?, in: NJW 1986, S. 1643 m.w.N. auf die einschlägige Argumentation Wessels; Neumann, Ulfrid, § 216 StGB, in: Nomos Kommentar, S. 3654 a. E., Rn. 1 m.w.N.; Merkel, Reinhard, Früheuthanasie, S. 417 m.w.N. 85 Kritisch Tenthoff, Christian, a.a.O. (Fn. 78), S. 151; darüber hinaus werden im Rahmen der Literatur auch weitere Argumente für die Erhaltung des Verbots des § 216 StGB angeführt. In dieser Hinsicht soll die Regelung des § 216 StGB zunächst die „Bewahrung des Rechtsfriedens“ dienen, welche durch die Aufhebung des Verbots beeinträchtigt wird (vgl. Tenthoff, Christian, Die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen im Lichte des Autonomieprinzips, S. 152 f. m.w.N.). Des Weiteren würde für andere Autoren eine Aufhebung des Verbots mit Sicherheit zu einem nicht mehr einfach zu kontrollierenden Zustand führen, welcher „katastrophale“ Auswirkungen für die Gesellschaft hätte („Dammbruchargument“); vgl. dazu Weigend, Thomas, Über die Begründung der Straflosigkeit bei Einwilligung des Betroffenen, in: ZStW 98 (1986), S. 67; skeptisch zur „Dammbruchgefahr“ Sternberg-Lieben, Detlev, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, S. 118 m.w.N.; (vgl. auch Jähnke, Burkhard, Vor. § 211 StGB, in: Leipziger Kommentar, S. 20, Rn. 14 m.w.N.; Herzberg, Dietrich, Der Fall Hackethal: Strafbare Tötung auf Verlangen?, in: NJW 1986, S. 1642 f. m.w.N.; Tenthoff, Christian, Die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen im Lichte des Autonomieprinzips, S. 167). Schließlich sei die Feststellung der Freiwilligkeit des Sterbewilligen nicht immer eine einfache Sache, was die Gefahr eines eventuellen „Missbrauchs“ seitens Dritter in sich berge (kritisch Sternberg-Lieben, Detlev, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, S. 119 m.w.N.; vgl. auch Eser, Albin, § 216 StGB, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, S. 1823, Rn. 1 m.w.N.; Herzberg, Dietrich, Der Fall Hackethal: Strafbare Tötung auf Verlangen?, in: NJW 1986, S. 1642 f. m.w.N.; Tenthoff, Christian, Die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen im Lichte des Autonomieprinzips, S. 161 f.). 83
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Insofern wird ersichtlich, dass die Bestimmungen des § 216 StGB einen indirekten, hart-paternalistischen Eingriff in das Recht des Einzelnen, über das eigene Leben zu bestimmen, konstituieren86. Durch die Pönalisierung der Ausführung eines fremden Todeswunsches wird ein generelles Verbot eingeführt, welches selbst einem schwerkranken, moribunden Patienten die Möglichkeit eines friedlichen Abschieds vom Leben unmöglich macht. In dieser Hinsicht stellt das Verbot der Tötung auf Verlangen einen „tiefgreifenden und dauerhaften Eingriff“87 in das Selbstbestimmungsrecht der Person dar, welchen seine Befürworter auf der Basis „abstrakter Werte“ und mit Hilfe von Argumenten „moralischen Rangs“ zu legitimieren versuchen. Aus diesem Grund ist die Vorschrift des § 216 StGB auch als ein Fall des „unreinen“ staatlichen Paternalismus zu verstehen. Eine nennenswerte Abweichung von diesen Überlegungen leitet die von einem Teil der Literatur vertretene Meinung ein, welche im Verbot der Tötung auf Verlangen interessanterweise eine weich-paternalistische Zielsetzung erkennt. Die Norm des § 216 StGB soll – diesem Gedanken nach – ein abstraktes Gefährdungsdelikt konstituieren, dessen Zweck im Interesse der Allgemeinheit am Schutz jedes Sterbewilligen vor der Ausführung von nicht ausreichend durchdachten bzw. übereilten Entscheidungen besteht88. Im Fall dagegen, dass die für das Unternehmen erforderliche „Vollzugsreife“ seitens des Betroffenen unwiderleglich vorliegt, soll der Tatbestand des § 216 StGB ausscheiden89.
86 Vgl. Hirsch, Andrew v., „Indirekter Paternalismus im Strafrecht am Beispiel der Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB), in: GA 2007, S. 671 f.; vgl. auch Neumann, Ulfrid, § 216 StGB, in: Nomos Kommentar, S. 3654, Rn. 1 m.w.N.; Merkel, Reinhard, Früheuthanasie, S. 408 f. 87 Siehe Hirsch, Andrew v., „Indirekter Paternalismus im Strafrecht am Beispiel der Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB), in: GA 2007, S. 694. 88 Vgl. Jakobs, Günther, Tötung auf Verlangen, Euthanasie und Strafrechtssystem, S. 21 a. E. ff. (zusammenfassend, S. 23). 89 Ebd. S. 31 f. sowie S. 29; in ähnlichem Sinne auch Merkel, Reinhard, Früheuthanasie, S. 412 f., welcher den § 216 StGB ebenfalls als eine an die Überprüfung der Freiwilligkeit des Sterbewilligen gerichtete Vorschrift betrachtet, und die Regel des § 34 StGB zur Rechtfertigung des Täters heranzieht; eine abweichende Meinung vertritt Tenthoff (Die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen im Lichte des Autonomieprinzips, S. 153 a. E. f. und zusammenfassend S. 180 a. E.). In Anlehnung an Jakobs, geht Tenthoff auch davon aus, dass es sich im Fall des § 216 StGB um ein abstraktes Gefährdungsdelikt handelt. Er bemerkt jedoch, dass es bei derartigen Fällen meistens nur schwer feststellen lässt, ob das Anliegen des Sterbewilligen ausreichend freiwillig ist (S. 154). Wenn das Verbot des § 216 StGB nicht bestünde, dann wäre es durchaus möglich, dass eine große Zahl von Menschen ums Leben kämen, ohne dass dies ihren wahren Wünschen entsprach. Daher ist Tenthoff der Meinung, dass der Gesetzgeber die Vorschrift des § 216 StGB erlassen hat, um die Menschen generell vor der Gefahr zu schützen, dass sie „aufgrund eines unerkannt nicht freiverantwortlichen Tötungsverlangens getötet werden“ (siehe S. 154, und S. 180 a. E.). Wenn man dem Leitgedanke Tenthoffs folgen will, dann muss man den § 216 als eine eigenartige hart-paternalistische Vorschrift verstehen.
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3. Die Regelung des Transplantationsgesetzes über die Lebendspende von Organen Der Bereich des Medizinrechts lag immer im besonderen Interesse des Staates, welcher über die Jahre für die Schaffung eines dichten und möglichst effektiven Netzes von Regelungen zum Zweck der Bewahrung der menschlichen Gesundheit sorgte. Das hohe Engagement des Gesetzgebers war allerdings auch der Grund, warum heutzutage im medizinischen Sektor eine große Anzahl von paternalistisch geprägten Strafvorschriften aufzufinden ist. „Federführend“ sind in diesem Sinne die Bestimmungen des am Ende der neunziger Jahre in Kraft getretenen Transplantationsgesetzes (TPG)90, welches im Rahmen seines dritten Abschnitts zur Regelung der „Lebendspende von Organen“ von einem offensichtlichen paternalistischen Impuls angetrieben ist. Der § 8 Abs. 1 S. 1 TPG sieht in dieser Hinsicht vor, dass „die Entnahme von Organen oder Geweben zum Zwecke der Übertragung auf andere bei einer lebenden Person […] nur zulässig [ist], wenn“, unter anderem, „(Nr. 1) die Person (a) volljährig und einwilligungsfähig ist, und (b) nach Absatz 2 Satz 1 und 2 aufgeklärt worden ist, und in die Entnahme eingewilligt hat“; geschieht dies nicht, so droht § 19 Abs. 1 Nr. 1 TPG den Verantwortlichen mit einer Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren: diese Norm ist ein eindeutiges Beispiel weich-paternalistischer Gesetzgebung, womit angestrebt wird, den autonomen Charakter der Entscheidung des Spenders zu garantieren, und eine unfreiwillige Organübertragung zu unterbinden91. Der Betroffene wird dadurch vor einem eventuell ungewollten Eingriff in seine Gesundheit lediglich bewahrt, eine Zielsetzung, welche vom prinzipiellen Respekt für den Menschen gekennzeichnet ist. Eine unverkennbare Missachtung des Rechtes des Einzelnen, über sich selbst zu bestimmen, zeigt dagegen der zweite Satz des § 8 Abs. 1 TPG, laut welchem die Entnahme von nicht regenerierungsfähigen Organen zum Zweck der Übertragung nur dann zulässig ist, wenn sie ausschließlich zu Gunsten von „Verwandten ersten oder zweiten Grades, Ehegatten, eingetragenen Lebenspartnern, Verlobten oder anderen Personen, die dem Spender in besonderer persönlicher Verbundenheit offenkundig nahe stehen“, geschieht. Ist eine derartige familiäre, oder sonstige enge Beziehung zwischen Spender und Empfänger nicht vorhanden, dann wird die Übertragung des Organs laut § 19 Abs. 1 S. 2 TPG mit bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe geahndet: Durch diese Regelung wird also jeder erwachsene, einsichtsfähige und hinreichend informierte Mensch auch gegen seinen erklärten Willen vor der Gefährlichkeit seiner ausschließlich selbstbetreffenden Entscheidung geschützt. Eine Strafe droht hierbei nicht dem betroffenen Patienten, sondern dem behandelnden Arzt. Damit wird ein-
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„Gesetz über die Spende, Entnahme und Übertragung von Organen und Gewebe“ vom 5. November 1997, (BGBl. I, S. 2631). 91 Vgl. auch Schroth, Ulrich, „Die strafrechtlichen Tatbestände des Transplantationsgesetzes“, JZ 1997, S. 1154.
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A. Einleitung
deutig ein hartes, indirekt paternalistisches Verbot eingeführt92, auf dessen Basis es einem bereitwilligen, jedoch „fremden“ Spender untersagt wird, seinem Mitmenschen in einer gesundheitlichen Notlage Hilfe zu leisten. Der strenge Charakter dieser Vorschrift, welche vielen Menschen die Hoffnung auf eine lebensrettende Organtransplantation versagte, ist im Laufe der Zeit auf heftige Kritik gestoßen, und hat darüber hinaus auch drei Verfassungsbeschwerden veranlasst, welche die durch das Gesetz bewirkte Verhinderung einer altruistisch motivierten Fremdspende in Frage gestellt haben93 ; das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem Beschluss vom 11. 8. 199994 die entsprechenden Beschwerden nicht zur Entscheidung angenommen, und befürwortete in seiner umfassenden Begründung die hart-paternalistisch geprägte Regelung des § 8 Abs. 1 S. 2 TPG. Die einschlägige Argumentation des Bundesverfassungsgerichts weist in ihrem abstrakten und, vor Allem, willkürlichen Charakter viele Ähnlichkeiten mit der im Cannabis-Beschluss verfolgten Argumentation auf. Der Ton der Verfassungsrichter ist am Anfang mild: die Beschränkung des Spenderkreises durch die Bestimmungen des Transplantationsgesetzes sei ein Eingriff in das Grundrecht des Patienten auf Leben und körperliche Unversehrtheit, auf Grund dessen seine Therapiemöglichkeiten, wie die Verfassungsrichter selbst einräumen, „nachhaltig beeinträchtigt“ werden95. Diesem Geständnis folgt dann jedoch ein bemühter Versuch, die Einschränkung des Spenderkreises zu rechtfertigen. Die gesetzgeberische Entscheidung, eine nahe Beziehung für die Zulässigkeit der Lebendspende von Organen zu verlangen, soll aus dem Begehren des Staates legitimiert werden, die Gesundheit des Spenders vor den nicht übersehbaren Gefahren der Organtransplantation zu bewahren96. Dadurch werde nämlich ein „legitimes Anliegen“ der Allgemeinheit befriedigt, welche ein bestehendes Interesse an der Erhaltung der Gesundheit ihrer Mitglieder hat97: das Verbot des § 8 Abs. 1 S. 2 TPG soll insofern insgesamt durch seine Funktion „verfassungsfundierten Gemeinschaftsbelangen“ dienen98.
92 Ebd. S. 1154; vgl. auch ders, Die gesetzlichen Begrenzungen der Lebendspende – wie viel Paternalismus ist legitim?, in: Strafrecht, Biorecht, Rechtsphilosophie, S. 843 f.; ebenfalls Gutmann, Thomas/Schroth, Ulrich, Rechtliche und ethische Aspekte der Lebendspende von Organen, in: Transplantation, S. 277. 93 Siehe diesb. Gutmann, Thomas/Schroth, Ulrich, Rechtliche und ethische Aspekte der Lebendspende von Organen, in: Transplantation, S. 273. 94 BVerfG (1. Kammer des Ersten Senats), Beschl. v. 11. 8. 1999 – 1 BvR 2181-83/98, abgedruckt in NJW 1999, S. 3399 f. 95 Vgl. diesb. Gutmann, Thomas/Schroth, Ulrich, Rechtliche und ethische Aspekte der Lebendspende von Organen, in: Transplantation, S. 273; vgl. auch BVerfG Beschl. v. 11. 8. 1999, abgedruckt in NJW 1999, S. 3401. 96 Siehe BVerfG, Beschl. v. 11. 8. 1999, in: NJW 1999, S. 3401. 97 Siehe BVerfG, Beschl. v. 11. 8. 1999, in: NJW 1999, S. 3401 wo von einem „legitimen Gemeinwohlanliegen“ gesprochen wird, „den Menschen davor zu bewahren, sich selbst einen größeren persönlichen Schaden zuzufügen“. 98 Siehe diesb. BVerfG, Beschl. v. 11. 8. 1999, in: NJW 1999, S. 3403 a. E.
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Der Schutzzweck dieser Norm reicht also im Ergebnis über den engen Rahmen der Bewahrung der individuellen Gesundheit hinaus und richtet sich im Endeffekt auf die Erhaltung eines überindividuell erfassten Rechtsguts, nämlich des „Wohls der Allgemeinheit“99, welches durch die Teilnahme eines die Anforderungen des Gesetzes nicht erfüllenden Spenders an einer (selbst altruistisch motivierten) Organtransplantation stets beeinträchtigt werde. Dieser Belang soll so schwerwiegend sein, dass es sich als erforderlich darstellt, die strafrechtliche Sanktion schon in den Bereich der abstrakten Gefährlichkeit vorzuverlagern100, und die in Frage stehende Vorschrift als ein abstraktes Gefährdungsdelikt101 zu behandeln102. Das Bundesverfassungsgericht hat folglich auf dubiose Weise die hart-paternalistische Zielsetzung des § 8 Abs. 1 S. 2 TPG mit Geltung versehen. Das Verbot einer rein altruistisch motivierten Lebendspende von Organen stellt bis heute einen charakteristischen Eingriff in die persönliche Autonomie dar103, welcher, in unrein-paternalistischer Weise, durch die Heranziehung diffuser Belange der Allgemeinheit und kollektivistischer Zielsetzungen legitimiert wird. Die Anwesenheit dieser Vorschrift im Rahmen des materiellen Strafrechts weckt daher berechtigtes Bedenken, und wirft die Frage auf, inwieweit öffentliche Willkür durch die Aufstellung beliebiger Schutzgüter ihren Willen einsichtsfähigen Menschen auferlegen darf.
4. Die Bestimmungen des Arzneimittelgesetzes über die klinische Forschung am Menschen Das seit dem Jahr 1978 in Kraft getretene „Gesetz über den Verkehr mit Arzneimitteln“ (AMG)104 stellt einen weiteren Fall paternalistisch geprägter Gesetzgebung innerhalb des medizinrechtlichen Sektors dar. Auch wenn die Sorge um einen ordnungsgemäßen Verkehr mit derartigen Substanzen, und insbesondere die Sicherung der Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit solcher Präparate, im durchaus berechtigten Interesse des Staates liegt, wird der fürsorgliche Charakter des Arzneimit99
Siehe diesb. BVerfG, Beschl. v. 11. 8. 1999, in: NJW 1999, S. 3402, wo „legitime Gründe des Allgemeinwohls“ zur Rechtfertigung des durch § 8 Abs. 1 S. 2 TPG paternalistisch motivierten Schutzes der Gesundheit des Spenders herangezogen werden. 100 BVerfG, Beschl. v. 11. 8. 1999, in: NJW 1999, S. 3403 a. E., wo ausdrücklich auf die entsprechende Äußerung des Bundesverfassungsgerichts in der Cannabis-Entscheidung (BVerfGE 90, 145, 184) verwiesen wird. 101 Vgl. dazu auch Schroth, Ulrich, Die strafrechtlichen Grenzen der Lebendspende, in: Medizinstrafrecht, S. 286 a. E., der darüber hinaus die Fragwürdigkeit der Positionen des Bundesverfassungsgerichtsbeschlusses überzeugend kritisiert. 102 Zur eingehenden Kritik über den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts auch Gutmann, Thomas, Gesetzgeberischer Paternalismus ohne Grenzen? Zum Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zur Lebendspende von Organen, NJW 1999, S. 3387 f. 103 Zur Frage der Verfassungsmäßigkeit der Autonomiebegrenzung siehe auch Esser, Dirk, Organentnahme bei lebenden Organspendern, in: Kommentar zum Transplantationsgesetz (TPG), S. 224. 104 „Gesetz über den Verkehr mit Arzneimitteln“ vom 14. August 1976, (BGBl. I, S. 2445).
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telgesetzes an bestimmten Stellen durch die Einschleichung paternalistischer Gedanken weit über das erforderliche Maß hinaus getragen. Augenfällig wird dies im Rahmen der §§ 40 sowie 41 AMG, welche die Zulässigkeitsvoraussetzungen der klinischen Prüfung von noch nicht zugelassenen Arzneimitteln am Menschen regeln. Der § 40 AMG normiert im Einzelnen durch seine extensiven – und gewiss komplexen – Bestimmungen die erste „Erscheinungsform“ der klinischen Prüfung, nämlich den Fall des klinisch kontrollierten „Humanexperiments“. Dabei handelt es sich um „Eingriffe und Behandlungsweisen am Menschen […], die zu Forschungszwecken vorgenommen werden, ohne der Heilbehandlung [konkret] zu dienen, und deren Auswirkungen und Folgen aufgrund der bisherigen Erfahrungen noch nicht ausreichend zu übersehen sind“105. Im Vordergrund dieses Bemühens steht vor allem das wissenschaftliche Anliegen des Erkenntnisfortschritts106. Die generelle Übersicht über ein derartiges, oft multizentrisch durchgeführtes Verfahren ist nach Maßgabe des Gesetzes einer nach Landesrecht zusammengesetzten Ethik-Kommission anzuvertrauen, welche zu diesem Zweck über weitreichende Kontroll- und Entscheidungsbefugnisse verfügt107. Eine der wichtigsten Aufgaben im Rahmen des Zuständigkeitskreises dieses Organs ist die Prüfung der Wirksamkeit der nach § 40 Abs. 1 S. 3 Buchstaben a – c i.V.m. § 40 Abs. 2 AMG erteilten Einwilligung der am Experiment teilnehmenden Probanden; dabei ist insbesondere darauf zu achten, ob das Wesen, die Bedeutung, die Tragweite sowie die eventuellen Risiken des Verfahrens ausreichend erklärt und vom Betroffenen gut verstanden wurden. Der Ethik-Kommission kommt insofern die Rolle einer Kontrollinstanz zu, die (mit Hilfe der im § 96 Nr. 10 und 11 AMG normierten Strafandrohung) das Wohl der Beteiligten gewährleisten soll. Das Tätigwerden des Organs ist hier als ein Fall des weichen Paternalismus einzustufen, da Hauptziel seines Engagements die Überprüfung der Freiwilligkeit der Mitwirkung an einem derartigen, nicht immer risikofreien Verfahren ist108. Die Kompetenz der „Ethik-Kommission“ erstreckt sich jedoch laut § 42 Abs. 1 Nr. 3 i.V.m. § 40 Abs. 1 S.3 Nr. 2 auch auf die Kontrolle der „Zumutbarkeit“ des Experiments für die teilnehmenden Probanden109. Dieses Verfahren, welches als die Feststellung der „ärztlichen Vertretbarkeit“ der klinischen Prüfung bekannt ist110, fin105
Siehe Laufs, Adolf, Klinisches Experiment, in: Lexikon des Arztrechts, Nr. 2890, S. 1, Rn. 1 m.w.N.; Hart (Klinische Arzneimittelprüfung, in: Lexikon des Arztrechts, Nr. 2880, S. 3, Rn. 6) definiert seinerseits das Humanexperiment als „Versuche am Menschen mit Medizinbezug, aber ohne Therapiebezug für die Versuchsperson“. 106 Vgl. Laufs, Adolf, a.a.O. (Fn. 105), S. 1, Rn. 1. 107 Vgl. dazu § 42 Abs. 1 Nr. 3 i.V.m. § 40 Abs. 1 S. 2 AMG. 108 Für den Fall des klinischen Experiments an Minderjährigen sieht die ebenfalls weichpaternalistische Norm des § 40 Abs. 4 Nr. 3 AMG Entsprechendes vor. 109 Vgl. Seelmann, Kurt, Paternalismus und Solidarität bei der Forschung am Menschen, in: Forschung am Menschen, S. 111. 110 Vgl. Osieka, Thomas Oliver, Das Recht der Humanforschung, S. 168.
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det anhand einer positiven Abwägung seitens der Kommission statt, welche zu diesem Zweck die möglichen Risiken und Nachteile des gesamten Prozesses für den Betroffenen, dem für ihn daraus entstehenden Nutzen sowie der voraussichtlichen Bedeutung des Experiments für die Heilkunde gegenüberstellt. Die Kommission soll dabei insbesondere darüber entscheiden, ob das Verfahren mit den wesentlichen Prinzipien der ärztlichen Ethik im Einklang steht111, und sie ist laut § 42 Abs. 1 AMG darüber hinaus befugt, bei Bedarf die Meinung von weiteren Sachverständigen einzuholen; die Bereitschaft des Probanden, auch beim Fall eines unverhältnismäßigen Risikos, trotzdem am Experiment teilzunehmen, hat keinen Einfluss auf die Situation insgesamt, und die Durchführung der klinischen Prüfung ohne Bescheid oder trotz des negativen Votums der Kommission zieht für die verantwortlichen Wissenschaftler die laut § 96 Nr. 10 und 11 AMG vorgesehene Strafe mit sich. Das subjektive Erfordernis an eine „Risiko-Nutzen“-Abwägung, die schlichte Missachtung der individuellen Präferenzen eines bereitwilligen Probanden, sowie die gegen die zuständigen Ärzten gerichtete Strafandrohung, geben dem Tätigwerden der Ethik-Kommission im Rahmen dieser Konstellation einen indirekt hart-paternalistischen Charakter112, welcher umso problematischer wird, wenn man bedenkt, dass bei der gesamten Erwägung auch moralische Kriterien herangezogen werden dürfen113. Die Bestimmungen des § 42 Abs. 1 Nr. 3 i.V.m. § 40 Abs. 1 S. 3 Nr. 2 AMG stellen in dieser Hinsicht eine problematische Einschränkung der Freiheit eines Einzelnen dar, an einem derartigen Vorhaben teilzunehmen, eine Tatsache, welche im Rahmen einer modernen, liberal geprägten Rechtsordnung legitimationsbedürftig ist. Die paternalistische Prägung des Arzneimittelgesetzes lässt sich des Weiteren auch anhand der Bestimmungen des § 41 AMG erkennen, welcher seinerseits die zweite „Konkretisierungsform“ der klinischen Prüfung, nämlich den „Heilversuch“ regelt. Darunter sind „Eingriffe und Behandlungsweisen am Menschen [zu verstehen] …, die [vorwiegend] der Heilbehandlung dienen, […] obwohl ihre Auswirkun111 Ebd. S. 168 m.w.N.; Seelmann, Kurt (a.a.O. Fn. 109, S. 110) redet charakteristisch von einem „ethischen Urteil“ der Ethik-Kommission. 112 Vgl. Osieka, Thomas Oliver, a.a.O. (Fn. 110), S. 169 a. E.; vgl. auch Seelmann, Kurt (a.a.O., Fn. 109, S. 113), der sich gegenüber dem Erfordernis der „Risiko-Nutzen“-Abwägung skeptisch zeigt. 113 Vgl. Spickhoff, Andreas, Freiheit und Grenzen der medizinischen Forschung, in: Die klinische Prüfung in der Medizin, S. 26 a. E. und 27 m.w.N., welcher die verfassungsrechtliche Fragwürdigkeit derartiger moralischer Normen betont. Gegen die Einbeziehung von moralischen Erwägungen auch Seelmann, Kurt, Paternalismus und Solidarität bei der Forschung am Menschen, in: Forschung am Menschen, S. 114. Osieka (a.a.O., Fn. 110, S. 169, m.w.N.) vertritt die Meinung, dass der „Risiko-Nutzen“-Abwägung ein eher „anthropologisch begründetes Verständnis“ zugrunde liege, in dem Sinne, dass das Interesse der Individualperson stets den Vorrang gegenüber dem Nutzen der Allgemeinheit genießen sollte. Mit dieser Akzentuierung versucht er, eine Eingrenzung der Freiheit zur Teilnahme an einem Humanexperiment einzuleiten, etwa für Fälle, wo die mit dem Experiment verbundene Gefahr für den Probanden trotz jeden daraus entstehenden Nutzens für die Allgemeinheit erheblich ist.
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gen und Folgen auf Grund der bisherigen Erfahrungen noch nicht ausreichend zu übersehen sind“114. Im Gegensatz zum Humanexperiment, handelt es sich hier also um den Einsatz neuartiger und innovativer Methoden hauptsächlich zum Zweck der Behandlung eines mit den etablierten Therapiewegen nicht oder nicht mehr heilbaren Zustands. Auf Grund der konkreten Zielsetzung eines Heilversuchs und vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass hauptsächlich kranke und wesentlich geschwächte Menschen die „Zielgruppe“ dieses Vorgangs konstituieren, ist es auch zum Teil verständlich, warum § 41 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AMG strenge Anforderungen für die Zulassung eines derartigen Verfahrens stellen. Unter diesem Blickpunkt muss entweder „die Anwendung des zu prüfenden Arzneimittels nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft angezeigt sein, um das Leben [einer] Person zu retten, ihre Gesundheit wiederherzustellen oder ihr Leiden zu erleichtern“ (§ 41 Abs. 1 Nr. 1 AMG), oder „sie muss für die Gruppe der Patienten, die an der gleichen Krankheit leiden, wie diese Person, mit einem direkten Nutzen verbunden sein“ (§ 41, Abs. 1 Nr. 2 AMG). Die an diese Voraussetzungen angeknüpfte Vertretbarkeit des Heilversuchs sowie die Wirksamkeit der erteilten Einwilligung des Patienten sind wiederum nach Maßgabe des § 42 Abs. 1 Nr. 3 AMG von der zuständigen Ethik-Kommission zu prüfen, deren Einmischung im zweiten Fall wiederum weich-paternalistischen Zielsetzungen dient. Jeder Verstoß gegen diese Bestimmungen seitens der Zuständigen wird laut § 96, Nr. 10 und 11 AMG unter Strafe gestellt. Der harte Kern der Regelung wird allerdings offensichtlich, wenn die gesamte Konstellation aus der Sicht eines Patienten betrachtet wird, welcher an einer unheilbaren Krankheit in den letzten Stadien ihres Verlaufs leidet. Für solche Personen, die nichts mehr von den herkömmlichen Therapien zu erwarten haben, stellt jede neue Methode eine Chance dar, um ihren Zustand – wenn auch nur kurzfristig – zu verbessern. Diese Hoffnung hängt allerdings, den Bestimmungen des Gesetzes nach, primär weder von ihrer Bereitwilligkeit, noch von der Kompetenz der Forscher ab, sondern vom zustimmenden Votum der Kommission, welche, wie gesehen, aufgefordert ist, auch ethische Vorstellungen in ihr Kalkül miteinzubeziehen: Der freiwillig formulierte Wunsch des Patienten, vor dem Ende gegen sein Leiden zu kämpfen, kann insofern problemlos auf der Basis einer „stoischen“Abwägung dritter Personen einfach abgewiesen werden, mit der Begründung, dass dies in seinem eigentlichen Interesse liege. Die Ethik-Kommission entscheidet in dieser Hinsicht loco parentis für das Schicksal höchst persönlicher Angelegenheiten des Einzelnen und ersetzt den authentisch zum Ausdruck gebrachten Willen des Patienten durch ihren eigenen. Diese Haltung 114 Siehe Laufs, Adolf, Heilversuch, in: Lexikon des Arztrechts, Nr. 2480, S. 1, Rn. 1 m.w.N. Laut Hans Georg Koch (Humanexperiment, Heilversuch, Heilbehandlung, in: Lexikon der Bioethik, S. 238), handelt es sich beim Heilversuch „um ein Vorgehen, das darauf angelegt ist, (neben einem möglichen weiterreichenden Erkenntnisgewinn) [vorwiegend] eine Krankheit eines Patienten unter Einsatz innovativer Mittel oder Verfahren festzustellen (Diagnose), zu behandeln (Therapie) oder zu verhindern (Prophylaxe)“.
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ist ein eindeutiges Indiz für das hart-paternalistische „Potential“ der Bestimmungen des § 41 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AMG, einer Regelung, welche im Rahmen unserer liberalen Rechtsordnung auch keinen Platz haben sollte. 5. Die Begrenzung der Einwilligungsfreiheit durch die Klausel der „guten Sitten“ Das Rechtsinstitut der Einwilligung garantiert die prinzipielle Freiheit des Berechtigten, durch einen Dritten über strafrechtlich geschützte, in seiner Disposition stehende Individualrechtsgüter nach eigenem Ermessen zu verfügen115. Dieses Gebot blickt auf eine lange „Tradition“ im Rahmen der Rechtsordnung zurück, und hat seinen Ursprung im schon seit der Zeit des römischen Juristen Ulpians geltenden, gewohnheitsrechtlich überlieferten Satz „nulla iniuria est, quae in volentem fiat“116. Diese Anschauung findet heutzutage in der im Art. 2 Abs. I GG enthaltenen Garantie der „allgemeinen Handlungsfreiheit“ ihren positivrechtlichen Ausdruck, worin nach herrschender Meinung auch die Legitimationsbasis der Einwilligung erblickt wird117. Die Befugnis des Rechtsgutsträgers, unter Umständen auf den Rechtsschutz zu verzichten118, wird jedoch anhand des § 228 StGB119 erheblich eingegrenzt. Die rechtfertigende Kraft der Einwilligung wird nämlich ausgeschlossen, sofern das schädigende Verhalten gegen die „guten Sitten“ verstößt. Dies geschieht nach verbreiteter Meinung120 dann, wenn die Handlung dem „Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden“121 zuwiderläuft oder (laut einer aktuellen Umformulierung durch den 115
Vgl. Rönnau, Thomas, Vor. zu § 32 StGB, in: Leipziger Kommentar, S. 140, Rn. 146 m.w.N.; Paeffgen, Hans-Ullrich, Nomos Kommentar, § 228 StGB, S. 3997, Rn. 3. 116 Vgl. Roxin, Claus, Strafrecht AT., S. 539, Rn. 1 m.w.N. 117 Rönnau, Thomas, a.a.O. (Fn. 115), S. 141, Rn. 146 m.w.N.; Paeffgen, Hans-Ullrich, § 228 StGB, in: Nomos Kommentar, S. 3997, Rn. 3. 118 Roxin, Claus, Strafrecht AT, S. 541, Rn. 3; Paeffgen, Hans-Ullrich, a.a.O. (Fn. 117), S. 3997, Rn. 3. 119 Diese Regelung wurde als § 226a durch das „Gesetz zur Abänderung strafrechtlicher Vorschriften“ vom 26. 5. 1933 (RGBl. I, S. 295, 297) eingefügt (vgl. auch Hirsch, Hans-Joachim, § 228 StGB, in: Leipziger Kommentar, S. 137 a. E.). Dieser Paragraph gilt nunmehr durch das „sechste Gesetz zur Reform des Strafrechts (6. StrRG)“ vom 26. 1. 1998 (BGBl. I vom 1998, S. 164, 175) formell als § 228 StGB (vgl. auch diesb. Paeffgen, Hans-Ullrich, § 228 StGB, in: Nomos Kommentar, S. 3997, Rn. 2). 120 Vgl. Paeffgen, Hans-Ullrich, § 228 StGB, in: Nomos Kommentar, S. 4012, Rn. 36 m.w.N.; Hirsch, Hans-Joachim, § 228 StGB, in: Leipziger Kommentar, S. 141, Rn. 6 m.w.N.; Wessels, Johannes/Beulke, Werner, Strafrecht AT, S. 132 f., Rn. 377 m.w.N. 121 Vgl. BGHSt. 4 (Urteil v. 29. 1. 1953), S. 24, 32: „Als Verstoß gegen die guten Sitten kann deshalb in diesem strafrechtlichen Sinne nur das angesehen werden, was nach dem Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden zweifellos kriminell strafwürdiges Unrecht ist“, sowie BGHSt. 4 (Urteil v. 22. 1. 1953), S. 88, 91; Stree, Walter, § 228 StGB, in: Schönke/ Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, S. 1953, Rn. 6 m.w.N.; Paeffgen, Hans-Ullrich, § 228 StGB, in: Nomos Kommentar, S. 4012, Rn. 36 m.w.N. Auch in der angelsächsischen Literatur
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Bundesgerichtshof), wenn die Tat „nach allgemein gültigen moralischen Maßstäben, die vernünftigerweise nicht in Frage gestellt werden können, mit dem eindeutigen Makel der Sittenwidrigkeit behaftet ist“122. Wann jedoch eine Überschreitung dieser unbestimmten moralischen Grenze genau stattfindet, ist in der letzten Zeit höchst umstritten. Die ältere, überlieferte Meinung legt in dieser Hinsicht das Gewicht auf den Grund und – vor allem – die Zwecksetzung, welche durch die Rechtsgutsbeeinträchtigung verfolgt wird123, während die neueren Stimmen auf die Intensität sowie auf die konkrete Gefährlichkeit des angedrohten Schadens abstellen124. Ebenso umstritten ist jedoch auch der eigentliche Legitimationsgrund für eine derartige Begrenzung der persönlichen Autonomie. Zur Berechtigung des Eingriffs werden herkömmlich moralische Erwägungen herangezogen, aufgrund deren in der Einschränkung der Dispositionsbefugnis des Einzelnen die Erhaltung „sozialethischer Wertvorstellungen“125 gesehen wird; ebenso oft wird der Schutz des „sozialen Friedens“ (im Sinne der Bewahrung von „tiefverwurzelten Kulturnormen und gesellschaftlichen Wertanschauungen“) als Grundlage des § 228 StGB genannt126; für andere Autoren soll die Regelung des § 228 StGB ihren Grund im Schutz der „Menschenwürde“ des Einwilligenden haben, welche durch die Herabwürdigung des Berechtigten zum bloßen „Objekt fremden Handels“ verletzt werde127. Ferner wird auch die „Förderung der zukünftigen Interessen“ des Rechtsgutsinhabers als Legitimationsgrund des § 228 StGB ausgeführt: der Betroffene soll in dieser Hinsicht vor Verletzungen bewahrt werden, die er im Nachhinein bereuen wür-
wurde der Begriff der Sittenwidrigkeit ähnlich konzipiert. Vgl. diesb. Devlin, Patrick, The enforcement of morals, S. 15: „Immorality […], for the purpose of the law, is what every rightminded person is presumed to consider to be immoral“. 122 Vgl. BGHSt. 49, 34, 41; vgl. auch Fischer, Thomas, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, § 228 StGB, S. 1573, Rn. 11; Stree, Walter, § 228 StGB, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, S. 1953, Rn. 6 a. E.). 123 Vgl. Stree, Walter, § 228 StGB, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, S. 1953, Rn. 7 m.w.N.; Lackner, Karl/Kühl, Kristian, Strafgesetzbuch, Kommentar, § 228 StGB, S. 987, Rn. 10 m.w.N. 124 Vgl. Paeffgen, Hans-Ullrich, § 228 StGB, in: Nomos Kommentar, S. 4014, Rn. 40 m.w.N.; Hirsch, Hans-Joachim, § 228 StGB, in: Leipziger Kommentar, S. 143, Rn. 9 m.w.N.; vgl. auch BGHSt. 49 (Urt. v. 11. 12. 2003), S. 34, insb. 42 f. und BGHSt. 49 (Urt. v. 26. 5. 2004), S. 166, 170 f., insb. S. 171 (unter b); instruktiv dazu auch Roxin, Claus, Strafrecht AT, S. 558 f. (zur eigenen These), 562 f. (zu den neuen Stellungnahmen im Rahmen der Literatur), S. 564 f. (zur Tendenz der neueren Rspr.). 125 Vgl. dazu Sternberg-Lieben, Detlev, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, S. 125 m.w.N.; Stree, Walter, § 228 StGB, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, S. 1952, Rn. 5 m.w.N. 126 Vgl. Sternberg-Lieben, Detlev, a.a.O. (Fn. 125), S. 124 m.w.N.; Paeffgen, Hans-Ullrich, § 228 StGB, in: Nomos Kommentar, S. 4012, Rn. 33 a. E. m.w.N. 127 Sternberg-Lieben, Detlev, a.a.O. (Fn. 125), S. 122 m.w.N.; Stree, Walter, § 228 StGB, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, S. 1952, Rn. 5 m.w.N.
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de128. Schließlich wird auch auf den Schutz vor „gemeinschaftsschädlichen Eingriffen“129 hingewiesen, während ein kollektives Interesse am „Erhalt“ des Einzelnen130 die „Palette“ der möglichen Legitimationsgründe vervollständigt. Aus dem bisher Dargestellten wird ersichtlich, dass die Einschränkung der Einwilligungsfreiheit durch die Klausel der „guten Sitten“ eindeutig einen hart-paternalistisch motivierten Eingriff des Gesetzgebers in die prinzipielle Befugnis der Person darstellt, freiwillig über disponible Individualrechtsgüter zu verfügen. Dabei handelt es sich jedoch auch um einen Fall des indirekten Paternalismus, da der „Tadel“ für die Rechtsgutsbeeinträchtigung demjenigen „angehängt“ wird, der den Wunsch des Betroffenen zur Rechtsgutspreisgabe erfüllt. Der hinter dieser Eingrenzung stehende Zweck, den Menschen vor sich selbst zu schützen, wird schließlich – wie oben gesehen – durch die „grenzenlose“ Heranziehung einer großen Vielfalt von möglichen Legitimationsgründen „verdeckt“, eine Tatsache, aufgrund deren diese Vorschrift sich auch als „unrein-paternalistisch“ bezeichnen lässt. 6. Folgerungen Diese Übersicht über die wichtigsten paternalistisch geprägten Regelungen des geltenden Strafrechts bestätigt die zunehmende Tendenz des Gesetzgebers, die Menschen durch die Nutzung des schärfsten Mittels im staatlichen Instrumentarium und unter völliger Missachtung der Wertes der Autonomie zu ihrem fremdbestimmten Wohl zu bevormunden. Zur Rechtfertigung dieser Eingrenzung werden generell Zwecksetzungen dubioser Natur, diffuse Belange der Allgemeinheit oder sogar moralische Erwägungen herangezogen: Argumentative Topoi, die jedoch im Rahmen der heutigen strafrechtsdogmatischen Diskussion als höchst problematisch betrachtet werden. Die Heranziehung derartiger, bedenklicher Interessen zeigt insofern in aller Deutlichkeit den dubiosen Charakter der paternalistischen Vorschriften, deren Anstrengungen – wie im Laufe dieser Untersuchung zu veranschaulichen sein wird131 – schließlich nur als ein fragwürdiger Versuch erklärt werden könnte, die persönliche Autonomie durch das vorsätzliche Übergehen einer Mehrzahl fundamentaler Erkenntnisse und dogmatischer Grundpositionen der Strafrechtstheorie insgesamt132, und insbesondere durch die Missachtung der an der liberalen Ordnung des geltenden
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Sternberg-Lieben, Detlev, a.a.O. (Fn. 125), S. 122 m.w.N.; hier wird ein paternalistischer Gedanke direkt zur Legitimierung des staatlichen Eingriffs in seiner Autonomie herangezogen. 129 Stree, Walter, a.a.O. (Fn. 127), S. 1952, Rn. 5 m.w.N. 130 Sternberg-Lieben, Detlev, a.a.O. (Fn. 125), S. 122 a. E. f. m.w.N. 131 Siehe dazu insb. Kapitel F. I. 132 Dazu insb. Kapitel F. I. 2. – 4.
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A. Einleitung
Grundgesetzes orientierten, systemkritischen133 Funktion des Rechtsgutskonzepts134, zu begrenzen135.
IV. Demonstrandum und wesentliche Punkte der Untersuchung Die vorliegende Untersuchung wird von zwei eng aufeinander bezogenen Zwecksetzungen geleitet: Zum einen soll die Unvertretbarkeit des harten strafrechtlichen Paternalismus belegt werden, also der Doktrin, welche die staatliche Sanktionsbefugnis zu einem „Instrument“ des Eingriffs fremder Willkür in das Leben freiverantwortlich handelnder Individuen missbräuchlich umwandelt. Zum anderen soll die maßgebende Rolle nachgewiesen werden, welche den als Konstitutionsprinzipien des modernen Rechtsstaates aufzufassenden Werten der individuellen Würde und der freien Selbstbestimmung bei der Feststellung und anschließenden Ausgrenzung unzulässiger Zwecksetzungen (wie der „Bewahrung“ des Einzelnen vor seiner eigenen „Unvernunft“) aus dem Schutzfeld des Strafrechts zukommt. Den Auftakt für die systematische Dekonstruktion der paternalistischen Doktrin soll ein historisch-philosophischer Einblick in die Entstehung des Phänomens geben, dessen Wurzeln in den absolutistischen Staatsstrukturen des mitteleuropäischen Raums der Neuzeit zu lokalisieren sind. Anhand einer ausführlichen Darstellung der politischen Geschichte dieses geographischen Bereichs soll die herkömmliche Rolle des Paternalismus als eines harten Instruments der strengen sozialen Kontrolle und der zwangsweisen Durchsetzung des staatlichen Willens gezeigt werden. Dadurch wird belegt, dass diese Doktrin den Anschauungen einer älteren und obsoleten Rechtskultur entspricht, welche schon damals durch die Verbreitung und Durchsetzung der Ideen der Aufklärung heftiger Kritik unterzogen wurde. Diese neue, von den Prinzipien der Freiheit und der sozialen Gerechtigkeit geprägte philosophische Strömung (deren Erkenntnisse inzwischen die Basis der heutigen Rechtsordnung konstituieren), stellte ihrerseits den Menschen und seinen Eigenwert in dem Mittelpunkt, und forderte vom Staat den Respekt für die innewohnende Rechte des Individuums sowie die Abgrenzung eines Bereiches, innerhalb dessen der Einzelne die Möglichkeit hat, sich selbst nach eigenem Ermessen zu entfalten. Die Philosophie der Aufklärung konturierte insofern das Bild einer Gesellschaft von mündigen Subjekten, welche durch die konstruktive Nutzung ihrer freien und vernünftigen 133 Auch bekannt als „systemtranszendente“ Funktion des Rechtsgutskonzepts. Die zwei Termini werden im Rahmen der Theorie alternativ verwendet. Siehe dazu Hassemer, Winfried, Theorie und Soziologie des Verbrechens, S. 19 f. 134 Siehe dazu Kapitel E. II. sowie F. I. 1. 135 Eine eindeutige Ausnahme stellt der Fall des weichen Paternalismus dar, welcher (wie schon in A. II. 4. angedeutet wurde) eine völlig andere Zielsetzung verfolgt (Näheres dazu im Kapitel F. II.).
IV. Demonstrandum und wesentliche Punkte der Untersuchung
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Natur in der Lage sind, die eigenen Zielsetzungen im Leben zu verfolgen: Ein Konzept, welches die bisherige, paternalistisch geprägte Auffassung der absolutistischen Tradition obsolet werden ließ. (Kapitel B.) Die dadurch entstandene Vorstellung eines verantwortlichen und mit der Fähigkeit zur selbstbestimmten Führung des eigenen Daseins ausgestatteten Individuums hat im Laufe der Zeit das ältere Menschenbild verdrängt und entscheidend den Entstehungsprozess der meisten modernen Rechtsordnungen geprägt. Der Respekt vor der autonomen Persönlichkeit des Menschen stellt heute in zahlreichen Werken der politischen Philosophie die eigentliche Grundlage für die Beurteilung des Verhältnisses des Einzelnen zum Staat dar, und der Wert der Autonomie selbst wird als ein tief in der Natur des Menschen angesiedelter Belang angesehen, welcher das Individuum als Wesen kennzeichnet. Jede willkürliche Einschränkung der Selbstbestimmung durch die öffentliche Gewalt konstituiert in dieser Hinsicht auch einen unerlaubten Eingriff in den inneren Kern des Menschen, was die prinzipielle Unzulässigkeit jeder paternalistisch motivierten Bevormundung akzentuiert, und die grundsätzliche Schutzwürdigkeit der Autonomie gegenüber der Fremdbestimmung belegt. (Kapitel C.) Diese Erkenntnisse stellen ihrerseits keine Reihe bloßer normativer Erwägungen ohne jeglichen Bezug auf die rechtliche Wirklichkeit dar, sondern sie spiegeln sich eindeutig auch in den Grundaussagen der liberalen Ordnung des geltenden Grundgesetzes wider. Das von der aufklärerischen Tradition stark beeinflusste Fundament des heutigen Rechtsstaates positioniert den Einzelnen im Vordergrund und erkennt in seiner innewohnenden Würde den obersten Wert der staatlichen Gemeinschaft. Die Achtung und der Schutz dieses Belanges erweisen sich insofern als erste und wichtigste Pflicht der öffentlichen Gewalt, welche ihre gesamte Tätigkeit auf die Erhaltung des Eigenwertes der Person auszurichten hat. Die Fähigkeit zu selbstbestimmten Führung des eigenen Lebens wird ihrerseits zugleich als konstitutiver Bestandteil und „Erscheinungsform“ der Menschenwürde betrachtet, weswegen auch der Wert der persönlichen Autonomie letztlich ebenfalls zu den tragenden Prinzipien der geltenden Rechtsordnung zu zählen ist. Aus diesem Grund genießt die Selbstbestimmung auch einen erhöhten Schutz und darf legitimerweise nur dann beschränkt werden, wenn durch ihre Ausübung entweder die Rechte Anderer, oder die verfassungsmäßige Ordnung generell auf unzulässige Weise gefährdet oder verletzt werden. Der Schutz des freiverantwortlich handelnden und die Grenzen seiner Freiheitssphäre nicht überschreitenden Individuums vor sich selbst stellt insofern im grundgesetzlichen Verständnis per se keinen aussagekräftigen Grund für die Einschränkung der Autonomie dar, obwohl die paternalistische Doktrin dieses Ergebnis oft dadurch zu erzielen versucht, dass sie ihrer Zwecksetzung die äußere Form von scheinbar legitimen Interessen Dritter oder der Allgemeinheit gibt und dadurch die normative Möglichkeit der Eingrenzung der Selbstbestimmung im Wesentlichen missbraucht. (Kapitel D.) Der festgestellte Primat des Individuums gegenüber dem Staat sowie die Erhebung der Werte der Menschenwürde und der Autonomie zu Konstitutionsprinzipien der öf-
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A. Einleitung
fentlichen Gemeinschaft sind allerdings nicht nur Belege der heutigen individuumszentrierten und liberalen Orientierung des modernen Rechtssystems, sondern spielen eine erhebliche Rolle auch im Bereich des modernen Strafrechts, insbesondere auf der Ebene der Feststellung der Legitimität der unterschiedlichen strafrechtlichen Tatbestände. Denn der Gesetzgeber hat nach verbreiteter Auffassung bei der Konkretisierung derjenigen Interessen, Werte, Zustände oder Zwecksetzungen, welche als „Rechtsgüter“ zum Gegenstand des strafrechtlichen Schutzes zu erheben sind, nach systemkritischem Verständnis die Vorgaben der liberalen, den Eigenwert und die Autonomie des Einzelnen respektierenden Wertordnung des geltenden Grundgesetzes als feste Richtschnur seines Ermessens sich vor Augen zu halten und soll demzufolge keine Entscheidungen treffen, welche unberechtigt den Grundlagen des heutigen Rechtssystems widersprechen. (Kapitel E.) Diese Position belegt ihrerseits den unzulässigen Charakter des harten strafrechtlichen Paternalismus, da der letztere sowohl den inhärenten Wert als auch das Recht jeder Person zur freien Entfaltung des individuellen Daseins ausschließlich zum Zweck der Vervollkommnung der Menschen einzugrenzen bestrebt ist. Die hart paternalistische Doktrin wird hierdurch in dringende Legitimationsnot versetzt, welche sie zu überwinden versucht, indem sie andere vermeintlich unbedenkliche „Zielsetzungen“ (wie beispielsweise den Schutz der Volksgesundheit oder sonstige vage Belange der Allgemeinheit) als Vorwand zur Verdeckung ihres wahren Interesses verwendet. Diese „Methode“, mit deren Hilfe der staatliche Paternalismus die gegen ihn gerichtete Kritik zu umgehen versucht, erweist sich allerdings im Ergebnis als ineffektiv, denn die von der paternalistischen Doktrin vorgebrachten Zwecksetzungen stehen in ihrer Gesamtheit mit einer Mehrzahl von fundamentalen Erkenntnissen und dogmatischen Grundpositionen der modernen Strafrechtswissenschaft in direktem Widerspruch, wodurch der unzulässige Charakter der staatlichen Bevormundung vollverantwortlicher Individuen durch das Mittel des Strafrechts endgültig bestätigt wird. Die insofern festgestellte Unvereinbarkeit des harten paternalistischen Ansatzes mit den grundlegenden Prinzipien der heutigen Rechtsordnung betrifft allerdings die weiche Paternalismusvariante nicht, da die Einschränkung der persönlichen Freiheit in diesem Fall nicht zu dem Zweck erfolgt, mündigen Bürgern fremde Wohlfahrtsvorstellungen willkürlich aufzuerlegen, sondern lediglich im Interesse der Feststellung des freiwilligen Charakters individueller Verfügungen und der Abwendung von eigentlich ungewollten, aber vom handelnden Subjekt nicht wahrgenommenen Beeinträchtigungen seiner Belange stattfindet. (Kapitel F.)
B. Die Thematisierung der Paternalismusproblematik durch die politische Philosophie der Aufklärung Die Auseinandersetzung mit der Frage der Zulässigkeit des staatlichen Paternalismus stellt ein Anliegen dar, welches im Rahmen des modernen, säkularen, auf die Achtung der Würde des Menschen bedachten Staates ständig an Bedeutung gewinnt. Die dieser Erörterung zu Grunde liegende Problematik wurde allerdings längst vor dem Zeitpunkt der Etablierung der neuzeitlichen Staatsstruktur thematisiert. Der äußerst problematische Charakter der willkürlichen staatlichen Bevormundung, die Legitimationsbedürftigkeit einer derartigen Haltung, sowie die Notwendigkeit der Bewahrung des Einzelnen vor solchen Eingriffen wurden nämlich schon in der Vergangenheit zum Gegenstand der Untersuchung der politischen Philosophie der Aufklärung gemacht und im Laufe ihres längeren Entwicklungsprozesses fundiert erörtert. Der Ausgangspunkt dieses Vorgangs wird im wachsenden Bedenken der späten mittelalterlichen Welt gegen die unwidersprochene Macht der patrimonialen Herrschaftsorganisation lokalisiert136, eines Systems, welches laut Max Weber „die Mehrzahl aller großen Kontinentalreiche […] bis an die Schwelle der Neuzeit“137 entscheidend geprägt hat. Eine derartige Staatsorganisation beruhte nicht „auf der Dienstpflicht für einen sachlichen, unpersönlichen ,Zweck und der Obödienz gegenüber abstrakten Normen“ (wie es heutzutage bei den meisten modernen Rechtsstaaten der Fall ist) „sondern gerade umgekehrt: auf streng persönlichen Pietätsbeziehungen; ihr Keim lag in der Autorität eines Hausherrn innerhalb einer häuslichen Gemeinschaft“138. Die Normen basierten ihrerseits „auf der ,Tradition: dem Glauben an der Unverbrüchlichkeit des immer so Gewesenen als solchen“, und es war genau „die persönliche Unterwerfung unter den Herrn“ (der als Verkörperung dieser Tradition und oft als Träger der göttlichen Gnade angesehen wurde), „welche die von diesem gesatzten Regeln als legitim garantierte […]. Immer aber ging die Tatsache, dass dieser konkrete Herr eben der Herr war, im Bewusstsein der Unterworfenen allem anderen voraus; und soweit seine Gewalt nicht durch die Tradition oder durch konkurrierende Gewalten begrenzt war, übte er sie schrankenlos und nach freiem Belieben, vor allem: regelfrei“139. 136 Vgl. dazu Grunert, Frank, Paternalismus in der politischen Theorie der deutschen Aufklärung, in: Paternalismus und Recht, S. 10. 137 Weber, Max, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 584 und 585. 138 Ebd. S. 580. 139 Ebd. S. 580.
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B. Die Thematisierung der Paternalismusproblematik
Im Rahmen dieses mittelalterlichen Herrschaftsmodells, wo die Einschränkung der Autorität des Oberhaupts nur durch das große soziale Gewicht der „Bräuche“, oder die kirchlich vertretene „göttliche Ordnung“ überhaupt denkbar war, konnte der entgegenstehende Privatwille in der Staatsstruktur logischerweise weder einen systematischen Ort für sich beanspruchen, noch auf irgendeine sonstige Weise rechtlich geltend gemacht werden. Vielmehr waren sowohl das öffentliche als auch ein großer Teil des Privatlebens von strengen staatlichen und, vor allem, ethischen140 Vorgaben geregelt, so dass ein Recht auf autonome Führung der eigenen Sachen ein unbekannter Begriff bleiben musste. Jede derartige Idee galt als Widerspruch gegen die Macht des omnipotenten Regenten, welcher, als „Verkörperung“ des Staates und zugleich „Träger“ der göttlichen Gnade, seine Untertanen nach Belieben regieren durfte.
I. Die aufklärerische Wende zum Menschen und der Aufstieg des Naturrechts – Die Theorie des Naturzustands Gegen die bis zum damaligen Zeitpunkt verbreitete Annahme einer qua Tradition zulässigen Fremdbestimmung hat sich als erste die Philosophie der Aufklärung gewandt, die insbesondere ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts die durchgesetzten Herrschaftsstrukturen zunehmend kritischer Betrachtung unterworfen hat. Das Denken ist mit ihr aus einem „finsteren“ Zeitalter ausgetreten und hat eine entscheidende Wende zum Individuum gemacht, womit gleichzeitig auch der erste Schritt auf dem langen Weg der Gestaltung des heutigen Staatsverständnisses vollzogen wurde. Vor einem anthropozentrischen Hintergrund versucht der nunmehr „rationale“ Mensch durch die Vernunft141, welche als die „geistige Grund- und Urkraft […] zur Entdeckung der Wahrheit und zu ihrer Sicherung“142 angesehen wird, ein neues, vom Aberglauben und von jeder herkömmlichen Verlogenheit befreites Weltverständnis zu erreichen, in dessen Rahmen das Individuum als Subjekt und Endzweck gilt. In diesem Zusammenhang werden folgerichtig alle bisherigen sozialen Gegebenheiten und Institutionen der staatlichen Organisation – einschließlich des staatlichen Rechts und seiner Geltung – auf den Prüfstein der aufklärerischen Lehre gesetzt, und es wird nach dem Grund ihrer Rechtfertigung gefragt143. 140
Siehe Murmann, Uwe, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, S. 11 m.w.N. Die Erhebung der Vernunft zum Fundament jedes axiologischen Urteils über die Welt findet sich zuerst im Werk des griechischen Philosophen Anaxagoras; vgl. dazu Gans, Eduard, Naturrecht und Universalrechtsgeschichte, S. 11. 142 Cassirer, Ernst, Die Philosophie der Aufklärung, S. 16. 143 Siehe Cassirer, Ernst, Die Philosophie der Aufklärung, S. 23: „Sobald einmal die Kraft des Denkens im Menschen erwacht ist, dringt sie unaufhaltsam auch gegen diese Art der Wirklichkeit [damit ist das staatliche und gesellschaftliche Wesen gemeint] vor. Sie fordert sie vor ihren Richterstuhl und sie befragt nach ihren Rechtstiteln, nach ihrem Wahrheits- und Geltungsgrund“; dazu auch Forschner, Maximilian, Rousseau, S. 90: „Das Fraglose war der 141
I. Die aufklärerische Wende zum Menschen und der Aufstieg des Naturrechts
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Es war allerdings sofort ersichtlich, dass jeder Versuch, eine alternative, von der Vernunft geprägte und menschengerechte Legitimationsgrundlage für die bestehende Staatsstruktur zu liefern, auf eine ebenso aussagekräftige Doktrin gestützt werden musste, wie diejenige, welche in der Vergangenheit die patrimoniale Herrschaftsorganisation legitimiert hatte. Den Philosophen der frühen Aufklärungszeit leuchtete daher ein, dass die Lösung zu diesem Problem in der Logik eines alternativen, fundamentalen, vorpositiven „Gesetzes“ aufgefunden werden musste, welches aufgrund seiner zeitüberschreitenden und immanenten Geltung das Vermögen aufwies, sowohl für die Untertanen, als auch für das Oberhaupt maßgebend zu sein; eines Gesetzes, dessen Bedeutung nicht nur für die bestehenden Gesellschaftsmodelle ausschlaggebend war, sondern für jeden menschlichen Zusammenschluss im Laufe der Geschichte; einer Ordnung, deren Existenz und Geltung von der bisher allmächtigen kirchlichen Tradition weder angefochten, noch angegriffen werden könnte. Ein derartiges beständiges Wertsystem wurde von den Denkern dieses Zeitalters in der Lehre des Naturrechts gefunden, welche – nach ihrer Entbindung vom Einfluss der Spätscholastik144 – eine von „Glauben und Offenbarung unabhängige, und allgemeinverbindliche Begründung von Moral und Recht“145 versprach. Anhand dieses wertvollen neuen Instruments, welches die Aussagekraft der „ewigen“ und „unangefochtenen“ natürlichen Gerechtigkeit besaß146, wird nun versucht, dem Bedarf des aufgeklärten Menschen für eine neue, die Gebote der Vernunft und den Wert der Person widerspiegelnde Begründung für den staatlichen und gesellschaftlichen status quo entgegenzukommen147. einzelne, nicht die Gemeinschaft, und letztere bedurfte, ihres vormaligen Privileges naturwüchsiger Ursprünglichkeit und teleologischer Priorität ledig, einer Rechtfertigung ihrer Nachträglichkeit“. 144 Vgl. dazu Welzel, Hans, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, S. 108, der charakteristisch von der „Befreiung“ des Naturrechts von der Theologie spricht, sowie von dem zunehmenden Einfluss „politisierender Philosophen“ und „philosophierender Juristen“ auf die Zielsetzung der neuen Doktrin. 145 Siehe Bachmann, Hanns-Martin, Die naturrechtliche Staatslehre Christian Wolffs, S. 16. 146 Vgl. hierzu die Definition des Naturrechts von Strauss, Leo, Natural Law, in: International Encyclopedia of Social Sciences, S. 80: „By natural law is meant a law that determines what is right and wrong and that has power or is valid by nature, inherently, hence everywhere and always“. 147 Die Idee der Existenz eines derartigen, von der „Natur“ diktierten obersten und allgemeingeltenden Gesetzes ist wesentlich älter als die Philosophie der Aufklärung, und lässt sich bis zur Antike zurückzuführen. Welzel betrachtet das „Recht der Natur“ (vusij|m d_jaiom) als „das Kind des griechischen Geistes“ (vgl. dazu Welzel, Hans, Naturrecht und Rechtspositivismus, in: Naturrecht oder Rechtspositivismus?, S. 326). Seit dem Altertum war die Lehre über das Naturrecht ein „Werkzeug“ zur Erklärung der „Gegebenheiten“ und „Institutionen“ der jeweiligen Epoche. Wegen dieser „Rolle“ konnte auch der Inhalt der Naturrechtsdoktrin im Laufe der Zeit logischerweise nicht statisch bleiben, sondern musste „in der Aufeinanderfolge neu auftauchender und neu zu bewältigender sachlicher Aufgaben“ fortschreiten (vgl. Welzel, Hans, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, S. 108). Die Zielsetzung sowie die Interpretation der naturrechtlichen Doktrin müssen insofern für jedes Zeitalter von einem unterschiedlichen Blickpunkt betrachtet werden. Die ersten Spuren einer Naturrechtstheorie sind nach Henning
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B. Die Thematisierung der Paternalismusproblematik
Die vom Rationalismus geprägte naturrechtliche Doktrin148 hat tatsächlich die notwendigen Rahmenbedingungen für die Entfaltung von neuen und zugleich für den betroffenen Zeitraum viel benötigten Konzeptionen geschaffen. Ihr Ausgangspunkt lag in der systematischen Anwendung der analytischen und der synthetischen Methode als „Werkzeuge“ zur Erkenntnisgewinnung über die Welt, welche durch die Zerlegung komplexer Phänomene in ihre Bestandteile, und durch die – an Hand des dadurch erworbenen Wissens ermöglichte – Rekonstruktion dieser Systeme eine bessere Einsicht in komplexe Strukturen gewährten149. Dieses Vorgehen wurde konsequenterweise auch auf das Staats- und Gesellschaftswesen angewandt, um die Entstehungsgründe der politischen Gewalt, ihr Verhältnis zu den Bürgern, sowie die entsprechenden Rechte und Pflichten des Oberhaupts und der Untertanen zu erkunden. Das „Gemeinwesen“ ist also im Rahmen der naturrechtlichen Systematik zunächst als „aufgelöst“ betrachtet worden und anschließend in seine Bestandteile, die einzelnen Menschen, zergliedert. Das Individuum, nunmehr frei von jeder tradierten Verpflichtung, wurde dann von den Naturrechtlern in dem vorstaatlichen, „reinen“, natürlichen Zustand seines Daseins (status naturalis oder status naturae) „positioniert“, welcher den direkten Gegensatz zum bürgerlichen Zustand (status civilis) bildete150. Diese hypothetische ursprüngliche existentielle Lage151 fungierte dann für die Denker
Ottmann in den Schriften Hesiods zu finden, der die Existenz einer von den Göttern geschaffenen obersten und allgemeinbestimmenden sittlichen Ordnung der Natur annahm, welche für die Menschen – im Gegensatz zu den Tieren, die dem Recht des Stärkeren ausgesetzt sind – das gerechte Miteinanderleben als Bestandteil ihres Wesens vorsah (vgl. dazu Ottmann, Henning, Geschichte des politischen Denkens, Bd. 1, S. 51 – 52). Mit der Formulierung der platonischen „Ideenlehre“ und unter dem Einfluss der aristotelischen Philosophie und insbesondere der „Entelechienlehre“ wird später das Recht der Natur als der „idealistische Ausgangspunkt“ zur Erkundung der allgemeingeltenden und zeitüberschreitenden Gerechtigkeit betrachtet, welche eine bessere Einsicht in Wesen und Funktion der vom Menschen gesetzten Regeln ermöglichen sollte (siehe dazu Welzel, Hans, Naturrecht und Rechtspositivismus, in: Naturrecht oder Rechtspositivismus?, S. 326, und insb. Aristoteles, Werke, Rhetorik, Hellmut Flashar (Hrsg.), S. 62, 1373b 7 – 13; Aristoteles, Werke, Nikomachische Ethik, Ernst Grumach (Hrsg.), S. 110 ff.). Mit der Erscheinung der Stoiker wird das Naturrecht zur formellen Thematik der Philosophie erhoben und zur Grundlage des positiven Rechts erklärt. Die aus diesem Zeitraum stammende Lehre der lex naturalis wird ihrerseits – wenn auch mit Veränderungen in Inhalt und Zielsetzung sowie mit unterschiedlicher Prägungskraft – das römische und später das christliche Denken bis zur Spätscholastik beeinflussen, bevor schließlich die Aufklärung der natürlichen Gesetzlichkeit eine ihren Zwecken entsprechenden Interpretation verleihen wird (vgl. Strauss, Leo, Natural Law, in: International Encyclopedia of the social sciences, S. 82, und Bloch, Ernst, Naturrecht und menschliche Würde, S. 26). 148 Vgl. Welzel, Hans, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, S. 110. 149 Ebd. S. 110. 150 Ebd. S. 110 – 111; vgl. dazu auch Murmann, Uwe, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, S. 13 m.w.N.; siehe auch Locke, John, Two treatises of government, S. 269, §4, 1 – 3: „To understand Political Power right, and derive it from its Original, we must consider what State all Men are naturally in“. 151 Locke beschreibt den Naturzustand als „A State of Perfect Freedom [in which men are able] to order their Actions, and dispose of their Possessions, and Persons as they think fit,
II. Die Rechte des Menschen und der Freiheitsbegriff des älteren Naturrechts
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dieser Zeit als die notwendige Grundlage, auf deren Basis die Zusammensetzung und Entfaltung von neuen, nunmehr auf der Vernunft beruhenden Vorstellungen über das staatliche Wesen, die soziale Ordnung und den Einzelnen selbst möglich war: in der Lehre vom Naturzustand des Menschen war also der Ausgangspunkt jeder Untersuchung im Rahmen der politischen Philosophie der frühen Aufklärung zu sehen.
II. Die angeborenen Rechte des Menschen und der Freiheitsbegriff des älteren Naturrechts Eine der ersten und zugleich wichtigsten Thesen, die dem Naturzustandstheorem entsprungen sind, ist der Grundsatz, dass jeder Mensch im status naturalis über einen Kern von inneren, angeborenen Rechten (iura connata) verfügt152. Die Erkundung ihrer Anzahl sowie ihres genauen Sinngehalts ist zum Gegenstand vieler Abhandlungen dieser Periode geworden, die ihrerseits (dem Zeitgeist nach) ihren eigenen Beitrag zum immer größer werdenden „Rechtekatalog“ des Individuums zu leisten versuchten153. Kennzeichnend ist allerdings, dass die Geltung dieser Rechte auf keine externe, irdische oder übergeordnete (göttliche) Gewalt mehr zurückzuführen ist, sondern, dass sie nun direkt aus der Natur des Menschen selbst hergeleitet wird, welche als Fundament und Quelle des Naturrechts fungiert154. In der Konzeption der jura connata werden insofern sowohl die für das Zeitalter charakteristische Verleugnung jeder aus der Tradition überlieferten Autorität, als auch die Wendung zum Individuum deutlich widerspiegelt. Obwohl eine systematische und erschöpfende Auflistung dieser Rechte seitens der damaligen Literatur nicht erstrebt wurde, ist von den zeitgenössischen Naturphilosophen allmählich eine Vielzahl von Belangen dem Menschen im Naturzustand zuerkannt worden, die sich vom Recht auf Leben, Gleichheit und Eigentum bis auf das Interesse des Individuums am guten Namen hin erstreckten155. Unter diesen Werten erhielt jedoch derjenige der natürlichen Freiheit (libertas naturalis) die zentrale Stelle. Dieser Belang wurde von den meisten Werken des Zeitraums als das fundamentale jus connatum jeder Person betrachtet und fungierte als der Ausgangspunkt für jede within the bounds of the Law of Nature, without asking leave, or depending upon the Will of any other Man“; vgl. dazu Locke, John, Two treatises of government, S. 269, Chap. 2, §4, 3 – 6. 152 Vgl. u. a. Achenwall, Gottfried/Pütter, Johann Stephan, Anfangsgründe des Naturrechts (Elementa iuris naturae), S. 139, § 430 – 1. 153 Vgl. Klippel, Diethelm, Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts, S. 75 m.w.N. 154 Siehe Sabine, George H., A history of political theory, S. 361, der den Satz von Hugo Grotius zitiert: „For the very nature of man […] is the mother of the law of nature“. 155 Vgl. dazu Klippel, Diethelm, Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts, S. 75 m.w.N., der diesbezüglich auf Thomasius, Nettelbladt, Wolff, und Höpfner hinweist; vgl. ebenfalls Kersting, Wolfgang, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, S. 110, und insb. 112 – 113 bezüglich der von Locke eingeräumten natürlichen Rechte der Person.
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B. Die Thematisierung der Paternalismusproblematik
Untersuchung über die Frage des Inhalts und der Grenzen der persönlichen Freiheit in der Literatur des Zeitraums: die libertas naturalis verkörperte also in mehrfacher Hinsicht den Freiheitsbegriff der frühen Epoche des Naturrechts156. Trotz der offensichtlichen Bedeutung der natürlichen Freiheit für die aufklärerische Lehre hat sich jedoch jeder Versuch, ihren Wesensgehalt theoretisch zu erfassen und zu präzisieren, als eher unspezifisch und oberflächlich erwiesen. Die verschiedenen Definitionsanstrengungen haben in ihr zwar den vom Zeitgeist verlangten, allgemeinen Gegensatz zu jeglicher Art von Herrschaft deutlich erkannt, ohne aber gleichzeitig die inhaltlichen Grenzen der libertas naturalis zu Gunsten des Menschen auszudehnen und diese zum direkten Gegenpol der „persönlichen Unfreiheit“ und „bedingungslosen Unterwerfung“ unter die staatliche Herrschaft zu erheben157. Stattdessen wurden umfassende Formulierungen des Begriffs vorgezogen, welche die natürliche Freiheit mit der allgemeinen menschlichen Handlungsfreiheit gleichsetzten158, so dass den Individuen dadurch auf theoretischer Ebene schlicht die Möglichkeit verbürgt wurde, ihre eigenen Alltagstätigkeiten frei von unzulässiger fremder Willensbestimmung zu regulieren. Von einer Kongruenz mit dem heutigen Recht auf Selbstbestimmung darf deswegen nicht ausgegangen werden. Abgesehen jedoch von diesem insgesamt noch unklaren Bild, stellt die libertas naturalis in der Tat das Wesen der menschlichen Freiheit im Rahmen der älteren naturrechtlichen Doktrin dar. Sie gilt als eine konkrete Eigenschaft jedes Individuums im natürlichen Zustand seines Daseins, und wurde mit dem Letzteren im Laufe der Zeit so stark identifiziert, dass die beiden Termini im Wortgebrauch der Epoche schließlich als Synonyme zu verstehen waren159. Der größte Beitrag der libertas naturalis war jedoch zu diesem Zeitpunkt ein symbolischer, in dem Sinne, dass sie der aufgeklärten Welt die notwendige Grundlage für ihre ersten, mutigen Schritte auf dem Weg der endgültigen Verabschiedung vom mittelalterlichen Menschenbild geboten hat. 156 Siehe Klippel, Diethelm, a.a.O. (Fn. 153), S. 31, der darüber hinaus bemerkt, dass bei der Erkundung des damaligen Begriffs der natürlichen Freiheit sogar wichtige Aspekte der politischen Funktionen des frühen Naturrechts zu Tage treten können. 157 Ebd. S. 33. 158 Ebd. S. 33, wo ebenfalls die Definitionen der natürlichen Freiheit von Pufendorf (sui iuris potestatisque, ac nullius alterius hominis potestati subiectus esse) und Wolff (Unabhängigkeit bey den Handlungen von dem Willen eines andern, oder die Einrichtung [dependentia] seiner Handlungen nach seinem eigenen Willen) zu finden sind. Vgl. auch Kersting, Wolfgang, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, S. 154, der die Ansicht von Rousseau über den Inhalt der libertas naturalis zitiert: „Freiheit meint Unabhängigkeit von fremder Willensbestimmung, verlangt Gleichheit und damit Gesetz und Recht, verträgt nicht die Asymmetrie von Herr und Knecht, weist jede persönliche Herrschaft ab“; Rousseau hat im Gegensatz zu den anderen erwähnten Philosophen den Inhalt der natürlichen Freiheit erheblich breiter ausgelegt, und sah in ihr schon die Basis eines positiven Anspruchs gegen die fremde Herrschaft. 159 Vgl. dazu Klippel, Diethelm, a.a.O. (Fn. 153), S.35; die praktische Gleichstellung der natürlichen Freiheit mit dem Naturzustand wird bei Locke besonders deutlich (vgl. diesbezüglich die von ihm gegebene Definition des Naturzustands, a.a.O., Fn. 151).
II. Die Rechte des Menschen und der Freiheitsbegriff des älteren Naturrechts
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Außer der beschriebenen theoretischen Etablierung der „Freiheit“ als eines fundamentalen Belanges des Individuums ist es der libertas naturalis allerdings nicht immer gelungen, auch auf praktischer Ebene entsprechende „Leistungen“ im Rahmen des Menschenschutzes zu erbringen, da sowohl ihre Nützlichkeit für das alltägliche Leben des Einzelnen als auch ihre „Durchschlagsfähigkeit“ – im Sinne der Absicherung der Stelle der Person innerhalb eines absolutistischen Staates – sich letztlich als äußerst „instabil“ erwiesen haben. Grund dafür waren die zum größten Teil auseinander gehenden Auffassungen bezüglich der „Abwehrfunktion“160 der libertas naturalis seitens der Literatur, welche die Grenzen der Unantastbarkeit des Freiheitsbegriffs je nach gefolgter Doktrin unterschiedlich festlegten. Jean-Jacques Rousseau hat beispielsweise mit seiner Lehre für eine „anspruchsvolle“ Freiheitskonzeption gesorgt. Der Genfer Philosoph hat im Begriff der libertas naturalis das Fundament zur „Wesensbestimmung des Menschen“ deutlich erkannt, und sie deswegen zu „Quelle, Maß, und Zweck“ der Rechtsordnung erhoben161. Jede Regelung, welche die Freiheitssicherung nicht zu Grunde legt, ist laut Rousseau illegitim. Darüber hinaus argumentierte er auch gegen die Möglichkeit einer vollkommenen Enteignung der libertas, entweder durch die Willkür Dritter oder durch die Handlungen des Trägers selbst (etwa mittels eines Vertrags)162. In dieser Ansicht ist auch der entsprechende Gedanke John Lockes widerspiegelt, welcher ebenfalls die Unveräußerlichkeit der menschlichen Freiheit vertrat und den zu seiner Zeit blühenden Sklavenhandel für unvereinbar mit den Gesetzen der Natur erklärte163. Im Gegensatz zu dieser menschenrechtsfreundlichen Interpretation des Freiheitsbegriffs hat sich die gesamte Sachlage in Mitteleuropa jedoch anders gestaltet. Das herkömmliche „Bestehen“ auf der Formulierung allgemeiner Freiheitsdefinitionen hat die philosophischen Kreise dieses geographischen Raums dazu veranlasst, sich stattdessen mit der Entwicklung von Schranken der libertas naturalis zu befassen, um dadurch diesen „uferlosen“ Begriff genau zu „umgrenzen“164. Das Ergebnis dieser Bemühungen war die Entstehung einer Reihe von Einschränkungen der natürlichen Freiheit mit jeweils unterschiedlichem Legitimationsgrund und unterschiedlicher Eingriffstiefe. 160 Klippel, Diethelm, a.a.O. (Fn. 153), S. 35, redet charakteristisch vom „Resistenzvermögen“ der natürlichen Freiheit gegen jeden Versuch, sie zu begrenzen oder aufzuheben. 161 Siehe Kersting, Wolfgang, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, S. 154. 162 Ebd. S. 154. 163 Ebd. S. 110; siehe auch Locke, John, Two treatises of government, S. 269, Chap. 2, § 4, 7 – 12: „[…] all the Power and Jurisdiction is reciprocal, no one having more than another: there being nothing more evident, than that Creatures of the same species and rank promiscuously born to all the same advantages of Nature, and the use of the same faculties, should also be equal one amongst another without Subordination or Subjection […]“, und S. 284, Chap. 4, § 23, Z. 4 – 7: „For a Man, not having the Power of his own Life, cannot, by Contract, or his own Consent enslave himself to any one, nor put himself under the Absolute, Arbitrary Power of another, to take away his Life, when he pleases“. 164 Vgl. Klippel, Diethelm, a.a.O. (Fn. 153), S. 34.
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B. Die Thematisierung der Paternalismusproblematik
Samuel von Pufendorf hat in dieser Hinsicht die Limitierung der libertas naturalis aus ihrer systematischen Stelle innerhalb der Naturrechtsdoktrin hergeleitet. Laut Pufendorf stellte die natürliche Freiheit trotz ihrer offensichtlichen Bedeutung nur einen „Bestandteil“, und nicht die bestimmende „Größe“ der neuen Lehre dar. Der Umfang der libertas naturalis ließe sich in diesem Sinne anhand der übrigen, gleichrangigen „Gebote“ des Naturrechts festlegen, welche in gewissen Fällen sogar ihre Eingrenzung erfordern könnten165. Christian Wolff hat seinerseits die Notwendigkeit der Beschränkung der libertas naturalis durch einen Appell an die Gebote der Vernunft gerechtfertigt. In seinem Verständnis gleiche die unbegrenzte Freiheit einer „ungezähmten Begierde“, welche der bestehenden „natürlichen Verbindlichkeit“ des Menschen und der Logik des „natürlichen Rechts“ selbst zuwiderlaufe166. Die Aufstellung gewisser Grenzen erscheint also laut Wolff als unentbehrlich, um die „richtige“ Funktion der libertas naturalis zu sichern. Die größte Gefahr für die natürliche Freiheit stellte jedoch die zum damaligen Zeitpunkt in der Literatur verbreitete Ansicht dar, dass die natürliche Freiheit eigentlich keine „notwendige“ und „unveränderliche“ Eigenschaft des Individuums im Naturzustand sei167: im Gegensatz zu den Naturrechtssystemen des übrigen europäischen Raums, und entgegen dem allgemeinen Geist der Epoche, wird also das Fundament der natürlichen Freiheit (nämlich ihre Anknüpfung an das Wesen des Menschen selbst) im mittleren Bereich des alten Kontinents ernsthaft angezweifelt. Diese Ausführungen haben den Stellenwert, die Bedeutung, und die Rolle der libertas naturalis in diesem Gebiet deutlich herabgesetzt, und haben des Weiteren den Gedanken begünstigt, dass es durch die Einschaltung des privaten Willens eventuell möglich wäre, auf vertraglicher Basis über das fundamentale jus connatum (genauso wie über den Besitz und das Eigentum) zu verfügen168. Diese Ansicht hat sich tatsächlich zu einem der Kernaspekte der mitteleuropäischen naturrechtlichen Doktrin entwickelt, welche die Vereinbarung freiheitslimitierender Herrschaftsverhältnisse nicht staatlicher Art zwischen freien Individuen im Naturzustand für durchaus legitim betrachtete169. Der Abschluss derartiger „Verträge“ wurde sogar als ein inhärenter Bestandteil des alltäglichen Lebens gesehen und benutzt, um die unterschiedlichen Abhängigkeitsbeziehungen unter den Menschen – wie etwa zwischen dem Herrn und seinen Knecht – zu erklären. Die Tragweite einer 165
Ebd. S. 34 mit weiterem Verweis auf Pufendorf. Ebd. S. 35 m.w.N. 167 Ebd. S. 36. 168 Ebd. S. 36, und insb. Achenwall, Gottfried/Pütter, Johann Stephan, Anfangsgründe des Naturrechts, S. 143, §§ 438 und 440: „Im besonderen werden angeborene Rechte aufgehoben, wenn eine ihnen entgegengesetzte Verbindlichkeit eingegangen wird, so dass, soweit die Verbindlichkeit eingegangen wird, das angeborene Recht erlischt. […] Also ist auch der Vertrag eine Art, angeborene Rechte aufzuheben“. 169 Vgl. Klippel, Diethelm, a.a.O. (Fn. 153), S. 36. Es handelt sich um die so genannten „naturrechtlichen Vertragsgesellschaften“. 166
II. Die Rechte des Menschen und der Freiheitsbegriff des älteren Naturrechts
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so entstandenen Einschränkung der natürlichen Freiheit kannte ihrerseits keine feste Grenzen, so dass ihr Umfang sich vom einfachen „Gehorsam“ der Familien- bzw. Hausangehörigen dem „Pater familias“ gegenüber (im Rahmen der societas domus) durchaus bis auf den vollkommenen Verlust der Freiheit bei den Institutionen der Leibeigenschaft und der Sklaverei (societas herilis) erstrecken könnte170. Dieses erheblich begrenzte „Widerstandspotential“ der libertas naturalis gegen ihre Einschränkung oder sogar endgültige Aufhebung war auch kennzeichnend für die entsprechend schwache Position aller übrigen angeborenen Reche des Menschen, welche – nach einhelliger Meinung aller Naturrechtsphilosophen des Gebiets – auf vertraglicher Ebene ebenfalls beliebig begrenzt werden dürften171. Aufgrund des bisher Dargestellten lässt sich zusammenfassend konstatieren, dass im Rahmen der frühen Phase der Aufklärung kein klares und – vor allem – kein einheitliches Bild über den Inhalt und den Geltungsanspruch des Freiheitsrechts entwickelt werden konnte. Die in der Natur des Menschen angesiedelte libertas naturalis stellte zwar den ersten Versuch des älteren Naturrechts dar, einen Bereich autonomer Disposition des Individuums abzugrenzen, aber letztendlich war es ihr angesichts der großen Unterschiede in der Interpretation ihres „Resistenzvermögens“ nicht gelungen, sich auf europaweiter Ebene als ein effektiver Einwand gegen die Fremdbestimmung zu etablieren. Vielmehr wurde sie in vielen Fällen zum bloßen Gegenstand vertraglicher Vereinbarungen herabgesetzt, eine Ansicht, welche der aufklärerischen Wendung zum Menschen und seinen Rechten wenig Rechnung getragen hat. Der eigentliche Wert und die wahre Bedeutung der libertas naturalis ergeben sich jedoch genau aus diesem Punkt, den man sogar als ihre „Schwäche“ bezeichnen dürfte. Denn obwohl die natürliche Freiheit der Schaffung absolutistischer Herrschaftsformen kein wesentliches Hindernis setzte, hat sie trotzdem das Bewusstsein in den Menschen geprägt, dass eine derartige Begrenzung nicht mehr nach Belieben des Oberhaupts erfolgen kann, sondern dass sie ausschließlich auf einer entsprechenden Einigung der betroffenen Parteien beruhen musste, um gültig zu sein172. In dieser Hinsicht diente die libertas naturalis der Widerlegung jeder willkürlichen – institutionellen oder theologischen – Begründung der persönlichen Unfreiheit und sorgte für die allmähliche Verbreitung einer auf vertraglicher Grundlage beruhenden Gesellschaftskonzeption173.
170 171 172 173
Ebd. S. 36 und 37. Ebd. S. 75 und insb. 76. Vgl. Klippel, Diethelm, a.a.O. (Fn. 153), S. 38. Ebd. S. 38.
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B. Die Thematisierung der Paternalismusproblematik
III. Das Zwielicht des status naturalis, der Übergang zum status civilis und die Stellung des Menschen innerhalb der organisierten Staatsstruktur Obwohl die frühe aufklärerische Doktrin durch das Theorem des Naturzustands die Verbreitung des Bildes eines mit angeborenen Rechten versehenen Individuums erzielte, und abgesehen von der „Resonanz“, welche anschließend die Idee der natürlichen Freiheit in den verschiedenen Teilen Europas hatte, ist es den Naturrechtsphilosophen allmählich ersichtlich geworden, dass das „Leitmotiv“ des status naturalis als Argumentationstopos und Grundlage für die Gewinnung neuer Erkenntnisse nicht mehr tauglich war. Dies diktierte die Vernunft selbst, denn die „natürliche Befindlichkeit“ des Individuums ist ein Zustand, der logischerweise nicht andauernd fortbestehen kann. Vielmehr muss sie sich dem Wesen des Menschen und der allgemeinen Erfahrung nach, ohnehin in der Vereinigung zu einer organisierten Gesellschaft auflösen. Demzufolge bestand in den Naturrechtssystemen dieses Zeitraums weitgehend Einigkeit darüber, dass der status naturalis (und daher auch eine Anzahl der darauf beruhenden Ansätze über den Einzelnen) schließlich als Idee fallen zu lassen sei, damit eine neue, und – vor allem – zuverlässige Annäherung ans Individuum und seine Interessen unter dem Blickpunkt der staatlichen Gemeinschaft (status civilis) angestrebt werden könne174. Die bisherigen Bemühungen der Naturrechtsdoktrin waren jedoch nicht vergeblich, denn die in den philosophischen Kreisen inzwischen durchgesetzte „kontraktualistische“ Denkweise sah vor, dass die Verwirklichung eines derartigen Übergangs ausschließlich über den Abschluss eines entsprechenden Gesellschaftsvertrags möglich war175: der Gründung des Staates sowie der Entstehung der staatlichen Gewalt 174
Vgl. Murmann, Uwe, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, S. 14. Der Übergang vom status naturalis zum status civilis war – der Ansicht der Epoche nach – unvermeidlich, so dass den Menschen in dieser Sache keine weitere Wahl blieb, als ihre neue „existentielle Lage“ einfach zu akzeptieren (vgl. diesbezüglich Klippel, Diethelm, a.a.O., Fn. 153, S. 45). Der feste Glaube an die „Überlegenheit“ des staatlichen Zustands ist darüber hinaus auch in vielen Werken des Zeitalters nachzuweisen; vgl. diesbezüglich u. a. Boehmer, Justus Henning, Introductio in ius publicum universale, S. 46 – 47, Fn. (e), „[…] status civilis merito praefertur statui libertatis […]“. 175 Vgl. Murmann, Uwe, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, S. 14 und Klippel, Diethelm, a.a.O. (Fn. 153), S. 43. Die Konzeption des Naturzustandes und die zeitlich nachfolgende Überwindung dieser existentiellen Lage durch die vertragliche Gründung der staatlichen Gesellschaft bilden nach Sabine den Hintergrund jeder auf naturrechtliche Züge basierten politischen Theorie (siehe Sabine, George H., A history of political theory, S. 366: „[…] a political theory based on natural law contained two necessary elements: the contract by which a society or a government (or both) came into being and the state of nature which existed apart form the contract“). Die Idee des „Gesellschaftsvertrags“ ist jedoch laut Kersting wesentlich älter als die Philosophie der Aufklärung und ist in der konventionalistischen Sozialphilosophie der Sophisten schon im 5. Jahrhundert v. Chr. anzutreffen (vgl. dazu Kersting, Wolfgang, Thomas Hobbes zur Einführung, S. 103). Spuren der kontraktualistischen Idee sind
III. Das Zwielicht des status naturalis und der Übergang zum status civilis
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wurde dadurch ein „irdischer“, auf den Willen der Individuen zurückzuführender Charakter zugewiesen, der den menschlichen Ursprung der Herrschaft implizierte und die endgültige Abwendung der aufgeklärten Welt vom mittelalterlichen Denken signalisierte176. Die Übereinstimmung darin, dass der Übergang vom natürlichen zum bürgerlichen Zustand notwendig sei, bedeutete jedoch noch lange nicht, dass auch ein entsprechender Konsens über die inneren Beweggründe und die Zielsetzung herrschte, welche die Menschen zu einem derartigen „Schritt“ auffordern. In dieser Hinsicht wurde in den philosophischen Werken dieser Zeit eine Vielzahl von Positionen vertreten, welche die Entscheidung des Individuums zur Staatsbildung aus jeweils unterschiedlicher Perspektive zu erklären versuchten, eine Tatsache, die sich darüber hinaus auch in den mannigfaltigen Ausführungen zum Charakter und (hauptsächlich) zum Inhalt des für diesen „Übergang“ benötigten gesellschaftlichen Vertrags widerspiegelte. Das praktische Ergebnis dieser Auseinandersetzungen im theoretischen Feld war schließlich die Konzipierung und Propagierung einer Vielfalt von möglichen Staatsmodellen, welche, auf Grund ihrer divergierenden Prämissen, sowohl die Stelle des Individuums im Rahmen des status civilis als auch die ihm zustehenden Rechte unterschiedlich begriffen. Ein charakteristischer, das Hauptanliegen der Epoche kennzeichnender, Beitrag ist in dieser Hinsicht dem Werk des englischen Philosophen John Locke zu entnehmen. Wie viele seiner Zeitgenossen hat Locke seine Untersuchung über die „Grundzüge der Staatsbildung“ mit der Erkundung des Naturzustandes und – vor allem – der Verhältnisse der Menschen in diesem status zu einander begonnen. Das Individuum befindet sich demnach laut Locke vor dem Übergang zum Staat in einem Zustand „des Friedens, des Wohlwollens und des gegenseitigen Beistands und Erhaltung“, in dem er sein Leben vernünftig führt177; diese natürliche Befindlichkeit des Individuums ähnelt jedoch der gesetzlosen Existenz der Tiere nicht, sondern ist bereits als ein Rechtszustand aufzufassen, der schon in diesem „Frühstadium“ des menschlichen Daseins „die grundlegenden normativen Beziehungen benennt, die zwischen den Menschen a priori, von Natur aus bestehen“178. Locke setzt also in seinen Ausführungen kurzerhand die Existenz von Menschenrechten bereits im status naturalis voraus und schreibt des Weiteren dem Individuum die Befugnis zu, nicht nur zur Verteidigung seiner eigenen Interessen einzuschreiten, sondern auch als Garant für die Rechte der Mitmenschen zu fungieren179. .
auch in der Philosophie Epikurs nachzuweisen (vgl. dazu Bloch, Ernst, Naturrecht und menschliche Würde, S. 23). 176 Vgl. Klippel, Diethelm, a.a.O. (Fn. 153), S. 44. 177 Siehe Locke, John, Two treatises of government, S. 280, Chap. 3, § 19, Z. 3, 4 und 6. 178 Siehe Kersting, Wolfgang, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, S. 110. 179 Ebd. S. 114 ff. sowie 123 ff.
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B. Die Thematisierung der Paternalismusproblematik
Locke ist sich allerdings auch der Schwächen der menschlichen Natur bewusst und kommt deswegen schließlich zur Folgerung, dass ein derartiger, auf der privaten Initiative beruhender Rechtsschutz im Endeffekt nicht effizient sein kann180. Deswegen ist der Naturzustand schließlich aufzugeben, damit die menschlichen Interessen im Rahmen einer organisierten Gesellschaft besser gesichert werden können. Die Staatsbildung soll also nach dem Verständnis John Lockes keinem anderen Zweck als der Bewahrung der individuellen Rechte und der Erhaltung des natürlichen Gesetzes dienen181; die Realisierung dieser Zielsetzung gilt als die erste und oberste Pflicht der staatlichen Gemeinschaft. Die hier nur in ihren Grundzügen dargestellte Doktrin John Lockes gilt in ihrer Gesamtheit als einer der ersten Versuche, die menschliche Natur und ihre Belange absolut zu schützen. Dem Individuum kommt innerhalb ihrer Rahmen ein selbstständiger Wert zu, und es wird des Weiteren als ein autarkes Subjekt betrachtet, das durch die Nutzung seiner Rechte vollends in der Lage ist, sein Leben frei von jeder Art von Fremdbestimmung zu steuern. Der Staat – der klassische „Despot“ des älteren Naturrechts – wird seinerseits gegründet, um das reibungslose soziale Zusammenleben zu garantieren, und soll in dieser Hinsicht die Rolle des „Schiedsrichters“182 übernehmen, wenn die unvermeidlich auftauchenden zwischenmenschlichen Konflikte den gesellschaftlichen Frieden zu stören drohen. Den direkten Gegenpol zur Lockeschen These bilden die Überlegungen seines Zeitgenossen Thomas Hobbes, dessen Theorie zu Wesen und Funktion des Staates die Breite des Meinungsspektrums in der einschlägigen Literatur des Zeitalters deutlich zeigt. Hobbes hat sich im Rahmen seines Werkes zur Aufgabe gestellt, das Individuum und das menschliche Zusammenleben pragmatisch zu betrachten. Seine Erwägungen zeichnen deswegen ein zugegeben negativ geprägtes Weltbild auf. Der Mensch ist laut Hobbes ein Wesen, das primär an seiner Selbstbewahrung interessiert ist; aus diesem Grund ist auch der status naturalis vorrangig als ein „Kriegszustand“ zu verstehen, in dessen Rahmen jede Person in einen ständigen Überlebenskampf gegen jede Andere verwickelt ist (bellum omnium in omnes)183. Die Knappheit an lebenswichtigen Gütern sowie die unvollkommene Natur des Menschen verwandeln das vorstaatliche Dasein des Individuums in einem Zustand der Unsicherheit, des offenen Misstrauens und der Furcht184, in dessen Rahmen der Fortschritt unwahrscheinlich erscheint. Das einzige „wahre“ Recht der Person in einem derartigen status kann laut Hobbes nur dasjenige der Selbsterhaltung sein, welche dem Einzelnen die Befug180
Ebd. S. 124. Ebd. S. 116 und 125. 182 Der Begriff ist von Kersting (a.a.O. Fn. 178), S. 157 a. E. entliehen. 183 Ebd. S. 65 und ders., Thomas Hobbes zur Einführung, S. 109; vgl. auch Murmann, Uwe, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, S. 19. Vgl. auch Hobbes, De Cive, Kapitel I, Par. 12, abgedruckt in: Geismann/Herb, Hobbes über die Freiheit, S. 128. 184 Vgl. Kersting, Wolfgang, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, S. 65 sowie 67; vgl. auch ders., Thomas Hobbes zur Einführung, S. 109 f. 181
III. Das Zwielicht des status naturalis und der Übergang zum status civilis
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nis gibt, jede notwendige Handlung zu unternehmen und jedes Mittel zu nutzen, um sich selbst gegen jede Gefahrenquelle zu sichern (ius in omnia et omnes)185. Als einziger Ausweg aus dieser unerträglichen Situation erweist sich die Gründung der staatlichen Gemeinschaft186. Die Menschen sehen allmählich ein, dass der in ihrem Wesen angesiedelte Individualismus die friedliche Koexistenz aller Gesellschaftsmitglieder unmöglich macht, ein Hindernis, das sie – auf Grund der Schwäche ihrer Natur – ausschließlich mit eigenen Kräften nicht überwinden können. Deswegen wird auf der Basis eines Gesellschaftsvertrags Einigung darüber erlangt, einen souveränen Regenten mit der Aufgabe zu beauftragen, dem ungezähmten Selbsterhaltungsrecht der Menschen eine Grenze zu setzen und jede notwendige Handlung zu unternehmen, um den gesellschaftlichen Frieden im Staat zu garantieren187. Der Einzelne verpflichtet sich auf der gleichen Basis, dem Oberhaupt zu gehorchen und die Sicherstellung seines Daseins nicht mehr mit eigenen Kräften zu verfolgen, sondern ausschließlich seinem Herrn zu überlassen188. Der status civilis dient unter diesem Blickpunkt vorwiegend der Erhaltung des reibungslosen sozialen Zusammenlebens, und der Souverän stellt sich in gleicher Hinsicht als ein Agent dar, der die Verantwortung für die effektive Realisierung dieser Zielsetzung von den Gesellschaftsmitgliedern durch den Gesellschaftsvertrag übernimmt. Zu diesem Zweck statten die Bürger – als „konstituierende Parteien“ und steuernde Kraft des gesamten „Unternehmens“189 – ihren Herrscher mit weitgehenden Regelungs- und Einschätzungsprärogativen aus, so dass er seinen Aufgaben gerecht werden kann. Trotz seiner zentralen Rolle im gesamten Geschehen bleibt der Souverän jedoch laut Hobbes eine „dritte“, unbeteiligte Partei zum Gesellschaftsvertrag und ist deswegen durch dessen Bestimmungen nicht gebunden190. Diese Sonderstellung des Souveräns läuft auf eine Verabsolutierung seiner Machtbefugnisse hinaus und gewährt ihm des Weiteren die Möglichkeit, ungehindert auch strenge Maßnahmen zu ergreifen, wenn die Bewahrung des gesellschaftlichen Friedens es erfordert191. In einer derartigen sicherheitsorientierten Staatstruktur, welche dem Bedarf nach Ordnung und gesellschaftlichem Frieden den Vorrang gibt, bleibt für die Zuerkennung individueller Rechte wenig Raum. Die politische Philosophie von Thomas Hobbes gilt in dieser Hinsicht als ein klassisches Beispiel absolutistischen Staatsver185 Siehe Kersting, Wolfgang, a.a.O. (Fn. 184), S. 73 f. Im Gegensatz zu den anderen Naturrechtsphilosophen lehnt also Hobbes die Existenz aller übrigen jura connata ab; vgl. auch Haakonssen, Knud, Natural law and moral philosophy, S. 31 f. Vgl. auch Hobbes, Thomas, De Cive, Kapitel I, Par. 12, abgedruckt in: Geismann/Herb, Hobbes über die Freiheit, S. 122. 186 Vgl. Kersting, Wolfgang, Thomas Hobbes zur Einführung, S. 146. 187 Ebd. S. 177. 188 Kersting, Wolfgang, a.a.O. (Fn. 184), S. 83 f.; ders., Thomas Hobbes zur Einführung, S. 151 f. und 177; Murmann, Uwe, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, S. 21. 189 Ebd. S. 149 f. 190 Vgl. Kersting, Wolfgang, a.a.O. (Fn. 184), S. 82. 191 Vgl. Murmann, Uwe, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, S. 22.
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B. Die Thematisierung der Paternalismusproblematik
ständnisses der frühen Aufklärung, welche dem Einzelnen zwar eine sichere soziale Umgebung, aber sonst keine weitere Garantie für die Achtung seiner übrigen Interessen und Bedürfnisse anzubieten hat. Den „mittleren Weg“ unter den erwähnten Naturrechtsphilosophen stellen die Ausführungen von Jean-Jacques Rousseau dar. Seine Vorstellungen über den status naturalis weichen sowohl von der Utopie Lockes als auch von den menschenverachtenden Bildern Hobbes erheblich ab. Rousseau betrachtet den Naturzustand als ein „primitives“ Stadium der menschlichen Existenz, in dessen Rahmen das Leben des Individuums mit „unnötigen“ Schwierigkeiten verbunden ist. Diese Einsicht führt die Menschen allmählich dazu, einen Weg zu erfinden, um der „Unwirtlichkeit“ der natürlichen Umgebung schließlich zu entkommen; die beste Aussicht besteht in dieser Hinsicht in der vertraglichen Vereinigung ihrer Kräfte zur Bildung der staatlichen Gemeinschaft192, mit der gleichzeitigen Bestellung eines souveränen Herrschers, der die Menschen in diesem neuen Zustand verwalten soll. Das so eingesetzte Oberhaupt ist laut Rousseau mit der Gesamtheit des Willens seiner Untertanen zu identifizieren, welche ihrerseits seinen Bestimmungen und Geboten zum Zweck der effektiven Funktion des Staates Gehorsam schulden193. Der Souverän verpflichtet sich, für das reibungslose soziale Zusammenleben zu sorgen, und soll bei diesem Versuch die Interessensphären der Individuen respektieren194. Unter diesem Blickpunkt behalten die Bürger nach dem Übergang zum status civilis alle ihre Rechte aus dem Naturzustand, deren Erhaltung nunmehr unter der staatlichen Garantie steht. Die Vorstellungen Rousseaus zeichnen das Bild einer freiheitlich organisierten Gesellschaft, welche auf einer harmonischen Beziehung und gegenseitigem Respekt zwischen den Bürgern und dem Oberhaupt basiert. Solange also die Nutzung der individuellen Rechte den Fortbestand des Staatswesens nicht gefährdet, ist der Einzelne nach Rousseau auch frei, sein Leben nach eigenem Ermessen zu gestalten. Dieser kurze Einblick in die wichtigsten politischen Theorien der Epoche zeigt in aller Deutlichkeit das Unvermögen der frühen Naturrechtsdoktrin, eine überzeugende und – vor allem – konsistente These sowohl über die Zielsetzung des staatlichen Zusammenschlusses als auch über den Charakter des Gemeinwesens zu entwerfen. Die vertretenen Staatsmodelle wichen in ihrer Konzeption und Funktionsweise drastisch voneinander ab, was die Formulierung und Durchsetzung einer konkreten und – hauptsächlich – menschengerechten Position über die Art und Tragweite der Befugnisse des Oberhaupts erheblich erschwerte. Auf die beschriebene Mannigfaltigkeit ist des Weiteren auch die Unmöglichkeit der europaweiten Etablierung einer kohärenten Auffassung über Bedeutung und Stellung der Privatinteressen im status civilis zurückzuführen. Aus dem gleichen Grund 192 193 194
Ebd. S. 156 f. Ebd. S. 155. Ebd. S. 155 und 158.
IV. Der Übergang zum status civilis in der deutschen Philosophie
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haben sich auch die Versuche der neuentstandenen Staatstheorien, den Menschen mit bewährten Argumenten gegen die verbreitete Ideologie des staatlichen Absolutismus auszustatten, letztendlich als ungenügend erwiesen. Die Philosophie der frühen Aufklärung hat letztlich die Stelle des Individuums im Staat weder unmittelbar noch im großen Umfang verbessern können. Die Bürger waren im Grunde genommen der Willkür ihres souveränen Herrschers weiter schutzlos ausgesetzt, ohne diesem Verhalten eine vom Naturrecht entwickelte, allgemeingeltende und widerstandsfähige Menschenrechtskonzeption entgegensetzen zu können.
IV. Der Übergang zum status civilis in der deutschen Philosophie und die Geburt der Idee des staatlichen Paternalismus – Der Ansatz Christian Wolffs Während im übrigen Europa die verschiedenen Naturrechtsphilosophen die Gründung der staatlichen Herrschaft sowie die Position des Menschen im Rahmen der organisierten Gesellschaften aus jeweils unterschiedlicher – mehr oder weniger freiheitsfördernden – Perspektive zu erklären versuchten, hat sich im Territorium des heutigen Deutschlands bezüglich der gleichen Frage eine völlig andere Doktrin durchgesetzt. Dieser geographische Raum war nämlich der Geburtsort einer einzigartigen politischen Theorie, die ihre Wurzeln in der Lehre Pufendorfs Mitte des 17. Jahrhunderts hatte und ihre charakteristischste und ausgereifteste Form fast ein Jahrhundert später mit der Philosophie ihres wichtigsten Vertreters, Christian Wolffs, erreichte195 : es handelt sich um die Konzeption des paternalistisch organisierten Staates. Grundlage dieser Doktrin ist das so genannte „Vollkommenheitsprinzip“, welches – im damaligen Verständnis – das oberste Gebot der Natur darstellte196. Das Wesen dieser naturrechtlichen Forderung findet im Werk Christian Wolffs seinen prägnantesten Ausdruck: „Thue was dich und deinen oder anderer Zustand vollkommener machet; unterlaß, was ihn unvollkommener machet“197. Demnach ist der Mensch im natürlichen Zustand seines Daseins verpflichtet, alle notwendigen Handlungen zu unternehmen, die für seine innerliche sowie äußerliche Befindlichkeit vorteilhaft wirken198 ; alle besonderen naturrechtlichen Rechte und Pflichten des Menschen sind Emanationen des obersten Gebots der Selbstvervollkommnung und dienen aus-
195 Vgl. Gutmann, Thomas, Paternalismus – eine Tradition deutschen Rechtsdenkens?, S. 155. 196 Vgl. Murmann, Uwe, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, S. 26 – 27. 197 Siehe Wolff, Christian, Vernünftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen zu Beförderung ihrer Glückseligkeit, [Deutsche Ethik], Cap. I, §12, S. 12. 198 Vgl. Grunert, Frank, Paternalismus in der politischen Theorie der deutschen Aufklärung, in: Paternalismus und Recht, S. 13 m.w.N.
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B. Die Thematisierung der Paternalismusproblematik
schließlich seiner Erfüllung199. Der status naturalis gilt also unter diesem Blickpunkt als der „kontinuierliche Kampf“ des Individuums um die „persönliche Perfektion“. Der Mensch ist allerdings laut Wolff so beschaffen, dass es für den Einzelnen praktisch unmöglich ist, nur aus eigenen Kräften den naturrechtlich gebotenen Zweck zu erreichen; ihm bleibt deswegen keine andere Wahl, als sich an seine Mitmenschen zu wenden, um gemeinsam und mit vereinigten Kräften die Vervollkommnung anzustreben200. Dadurch wird der Zusammenschluss zu einer staatlichen Gemeinschaft veranlasst, die Wolff das „Gemeinwesen“ nennt201. Der Abschluss des Gesellschaftsvertrags und der Abschied vom Naturzustand geschehen also ausschließlich, um die naturrechtlich gebotene Verpflichtung auf Vollkommenheit zu begünstigen202. Dementsprechend besteht die erste und oberste Aufgabe des vertraglich konstituierten Staates genau darin, die Wohlfahrt und Sicherheit der Bürger zu garantieren203. Dieser Staatszweck der „Glückseligkeit sowol des ganzen Staats als seiner Theile“, wie er charakteristisch bezeichnet wurde204, setzte sich schnell in Mitteleuropa durch und hat sich, in den Worten Links, „durch die gesamte Literatur bis zum Ende des Reiches“ gezogen205.
199
Siehe Hillgruber, Christian, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, S. 27 m.w.N. Ebd. S. 28 m.w.N.; siehe auch Wolff, Christian, Vernünftige Gedanken von dem gesellschaftlichen Leben der Menschen und insonderheit dem gemeinen Wesen, [Deutsche Politik], § 213, S. 172: „Da nun einzelne Häuser […] das höchste Gut, danach sie zu streben verbunden sind, nicht zu erlangen vermögen: so ist nötig, dass so viele sich zusammen begeben und mit vereinigten Kräften ihr Bestes befördern, bis sie imstande sind, sich alle Bequemlichkeiten des Lebens zu verschaffen, der natürlichen Verbindlichkeit zu der anderen ungehindert fortzuschreiten und sich wider alle Beleidigungen sattsam zu verteidigen“. 201 Vgl. Wolff, Christian, [Deutsche Politik], § 213, S. 172, und § 222, S. 174. 202 Vgl. auch die Feststellung von Svarez, C. G., bei Kersting, Wolfgang, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, S. 227: „[…] der Zustand der natürlichen Freiheit und Unabhängigkeit [sei] nicht derjenige, in welchem das menschliche Geschlecht seine Glückseligkeit als den Zweck seines Daseins erreichen kann […]; […] um diesem Zweck näher zu kommen, [ist es] notwendig in jene großen bürgerlichen Gesellschaften unter einer gemeinschaftlichen Obergewalt, welche wir Staaten nennen, [zusammenzutreten]“. 203 Vgl. Murmann, Uwe, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, S. 27 f. m.w.N., Grunert, Frank, Paternalismus in der politischen Theorie der deutschen Aufklärung, in: Paternalismus und Recht, S. 13 m.w.N.; vgl. auch Wolff, Christian, [Deutsche Politik], § 245, S. 186: „Weil […] das höchste Gut […] mit der Glückseligkeit verbunden ist, so trachten diejenigen, welche für die gemeine Wohlfahrt sorgen, die übrigen im gemeinen Wesen glückselig zu machen. Und demnach sind regierende Personen, welche tun, was ihres Amts ist, […] begierig, die Untertanen glückselig zu machen“. 204 Vgl. Hillgruber, Christian, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, S. 27 mit weiterem Verweis auf viele Philosophen der Epoche; vgl. auch Klippel, Diethelm, Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts, S. 62 m.w.N. 205 Siehe Link, Christoph, Herrschaftsordnung und bürgerliche Freiheit, S. 137, der zusätzlich bemerkt, dass der „Gedanke des Wohlfahrtstaates […] sich vornehmlich in der deutschen Staatslehre [ausbildete] und [in diesem Gebiet] eine immer reichere Durchbildung [erfuhr]“ (ebd. S. 138). 200
IV. Der Übergang zum status civilis in der deutschen Philosophie
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Um die Untertanen schneller und effektiver zum Zustand der Glückseligkeit zu führen, muss der Herrscher laut Wolff eine „aufrichtige Liebe gegen sie“ haben206 und sie nach dem Modell des Hausvaters regieren207; und da der Vater, der Ansicht der Epoche nach, innerhalb des Haushalts die unbegrenzte Befugnis hatte zu bestimmen, wie seine Angehörige am besten zu erziehen sind, wird dem Staat durch das Gebot der „gemeinen Wohlfahrt“ ein extensiver und umfassender Tätigkeitsbereich eröffnet208. Der Regelungskompetenz des Herrschers wird demnach in der Tat kaum ein Gebiet menschlicher Aktivität entzogen: die Eingriffsmöglichkeit des Oberhaupts erstreckt sich auf das gesamte Feld der „natürlichen Freiheit“ des Menschen209 – sowie generell auf die Gesamtheit der Lebensbereiche210 –, und sie bestimmt nicht nur die vollkommenheitsrelevanten Pflichten des Individuums gegen sich selbst, sondern auch diejenigen Anderen gegenüber211. Der Regierende ist nach Wolff verpflichtet „alle dazu nötigen Mittel […] zu erdenken, wodurch der Untertanen Wohlfahrt auf das Bequemste befördert werden kann“212. Der Bürger wird in dieser Hinsicht auf die härteste Art und Weise staatlich bevormundet und wird an Hand rechtlicher Gebote zu seinem fremdbestimmten Besten aktiv gesteuert. Die Regelungsbefugnisse des Wohlfahrtstaates beschränken sich jedoch nicht auf die Bestimmung des äußeren Verhaltens der Menschen, sondern erstrecken sich auch auf seine innere Welt; denn die Einhaltung der guten Sitten sowie die tugendhafte Er206
Vgl. Grunert, Frank, Paternalismus in der politischen Theorie der deutschen Aufklärung, in: Paternalismus und Recht, S. 13 m.w.N., und Wolff, Christian, [Deutsche Politik], § 246, S. 186. 207 Vgl. Gutmann, Thomas, Paternalismus – eine Tradition deutschen Rechtsdenkens?, S. 158 m.w.N., und Grunert, Frank, Paternalismus in der politischen Theorie der deutschen Aufklärung, in: Paternalismus und Recht, S. 13 m.w.N.; siehe auch Wolff, Christian, [Deutsche Politik], S. 197, § 264: „Regierende Personen verhalten sich zu Untertanen wie Väter zu den Kindern“. 208 Vgl. Gutmann, Thomas, Paternalismus – eine Tradition deutschen Rechtsdenkens?, S. 158, und Murmann, Uwe, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, S. 28. 209 So Gutmann, Thomas, Paternalismus – eine Tradition deutschen Rechtsdenkens?, S. 158. 210 Grunert, (a.a.O., Fn. 207, S. 15, m.w.N. auf Wolff), nennt einige charakteristische Beispiele staatlicher Kompetenz: „Arbeitsbeschaffung, Bestimmung der Werte der Dinge und der Arbeit, Vorsorge wegen Speisse und Tranck, Vorsorge wegen reiner Luft“ usw.; eine ähnliche Auflistung ist auch bei Klippel, Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts, S. 63 zu finden: Maßnahmen gegen den Luxus durch Kleider- und Mahlzeitenordnungen, Bestimmungen zum Handeltreiben, Maßnahmen zur Förderung von Manufakturen und Fabriken usw. 211 Gutmann (a.a.O. Fn. 74, S. 156 f. m.w.N.) erwähnt einige von Wolff festgelegte Pflichten des Subjekts gegen sich selbst, deren Durchsetzung dem Staat überlassen wird: demnach muss der Mensch zunächst Arbeit leisten und sich um die Vollständigkeit aller Glieder seines Leibes zu bemühen, so dass er sie „gut gebrauchen kann“; des Weiteren muss er sich von „ungesunder Speise und Tranck“ enthalten und „sich vor Kranckheiten hüten“. 212 Siehe Wolff, Christian, [Deutsche Politik], S. 197, § 264.
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ziehung der Individuen werden von der paternalistischen Staatskonzeption ebenfalls als unabdingbare Voraussetzungen zur Erreichung der Glückseligkeit betrachtet213. Demnach ist der Souverän infolge seiner Bindung an den Staatszweck positiv verpflichtet, auch im Bereich der Moral einzugreifen und die Bürger durch seine Bestimmungen zu einem sittlichen Leben zu erziehen214. Der staatliche Zugriff auf das Innere des Menschen war nach der damals verbreiteten Ansicht nicht nur problemlos, sondern dringend geboten215. Die Kompetenz des Oberhaupts kannte also angesichts der Pflicht zur Vervollkommnung praktisch keine Grenzen. Die Einhaltung und praktische Anwendung all dieser staatlich diktierten „Gebote zur persönlichen Perfektion“ werden der Willkür der Untertanen nämlich nicht überlassen. Dem Souverän steht zur Sicherung ihrer praktischen Umsetzung in „Regeln des täglichen Lebens“ ein umfangreiches Feld straf- und polizeirechtlicher Maßnahmen zur Verfügung, was die effektive Kontrolle aller Bereiche des menschlichen Lebens ermöglichen soll216. Die Bürger verpflichten sich mit dem Abschluss des Gesellschaftsvertrags, willig zu sein, „alles dasjenige zu tun, was [der Herrscher] für gut befinden wird“217, und müssen „den Willen der Obrigkeit, ihren Willen sein lassen“218, denn der Regent hat bezüglich des Wohls seiner Untertanen ein de facto überlegenes Wissen219. Diese stehen dem Herrscher gegenüber wie unmündige Kinder220,
213
Siehe Wolff, Christian, [Deutsche Politik], S. 236, § 316: „Das gemeine Wesen wird zu dem Ende angerichtet, damit man imstande ist, dem höchsten Gut desto sicherer nachzustreben. Deswegen, da dieses durch die Tugend befördert wird, so hat man im gemeinen Wesen auch dafür zu sorgen, dass die Leute tugendhaft werden“ (Hervorhebung durch den Verfasser). 214 Vgl. Klippel, Diethelm, Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts, S. 52; vgl. Hillgruber, Christian, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, S. 30. 215 So Grunert, Frank, a.a.O. (Fn. 207), S. 15 zur Theorie Wolffs. 216 Vgl. Hillgruber, Christian, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, S. 29 m.w.N.; Klippel, Diethelm, Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts, S. 51 sowie 62 – 63; Wolff, Christian, [Deutsche Politik], S. 253, § 341: „[…] Allein da die natürliche Verbindlichkeit nicht hinlänglich ist, [die Menschen] zu Erfüllung dieser und anderer Pflichten zu bringen, so muss noch eine neue Verbindlichkeit im gemeinen Wesen dazu kommen, die da durchdringt, wo die natürliche unkräftig erfunden wird. Es kann aber diese Verbindlichkeit auf zweierlei Weise bewerkstelligt werden, teils wenn man auf die Übertretung dessen, was man geordnet, Strafen setzt […], teils wenn man sie mit äußerlichem Zwang […] bedroht, wofern sie sich nicht gutwillig bequemen wollen“ und S. 178, § 227: „Da das gemeine Wesen deswegen eingeführt wird, damit der Mensch desto bequemer den natürlichen Pflichten ein Genügen tun kann und darin nicht von anderen gehindert wird […], so hat man in Einrichtung und Verwaltung des gemeinen Wesens dafür zu sorgen, dass diejenigen […], welche die natürliche Verbindlichkeit aus den Augen setzten, dazu angehalten werden, dass sie wenigstens die äußerlichen Handlungen vollziehen, die da Gesetz der Natur erfordert, und diejenigen unterlassen, welche ihm zuwider sind“. 217 Siehe Wolff, Christian, [Deutsche Politik], S. 180, § 230. 218 Ebd. S. 180, § 229 a. E. 219 Vgl. Grunert, Frank, Paternalismus in der politischen Theorie der deutschen Aufklärung, in: Paternalismus und Recht, S. 17.
IV. Der Übergang zum status civilis in der deutschen Philosophie
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welche ihre Ziele und Zwecke selbst nicht wählen können221 und den Weisungen und – hauptsächlich – Zuchthandlungen ihres „Vaters“ und Souveräns Gehorsam schulden. Die Bildung eines eigenen Willens und folglich die Möglichkeit der selbstgewählten Führung des eigenen Lebens sind im Rahmen dieser absolutistischen Staatsstruktur ausgeschlossen. Die Präsenz stark-paternalistischer Züge in der Gestaltung, Funktion und Zielsetzung des Gemeinwesens bedeutet jedoch nicht ohnehin, dass die Bürger selbst über keinerlei Recht verfügten. Schon in der Zeit Wolffs und insbesondere ab der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts setzte sich in der Theorie des aufgeklärten Absolutismus des deutschen Kulturraums die Ansicht durch, dass den Untertanen nach dem Abschluss des Gesellschaftsvertrags ein fester Freiheitskern zusteht, der den für dieses Zeitalter charakteristischen Namen „bürgerliche Freiheit“ (libertas civilis) trug und als „Restbestand“ der libertas naturalis im Staat zu verstehen war222. Den Bürgern wird demnach auf normativer Ebene eine Sphäre freier Handhabung innerhalb des gemeinen Wesens gewährt, allerdings unter der restriktiven Voraussetzung, dass ihre Handlungen die Verwirklichung des Staatszwecks auf keine Art und Weise hinderten223. Die bürgerliche Freiheit umfasst in diesem Sinn alle Tätigkeitsbereiche des Menschen, welche dem Glückseligkeitsideal nicht im Weg stehen (actiones civiliter indifferentes, quae salutem publicam non tangunt)224. Da aber der Staatszweck des aufgeklärten Absolutismus, wie oben gesehen, extensiv auszulegen war, wurde kaum ein Lebensbereich außerhalb der Regelungskompetenz des Souveräns gelassen, welcher – darüber hinaus – die Befugnis hatte, nach Belieben zusätzliche Aspekte des gesellschaftlichen Daseins unter seine unmittelbare Kontrolle zu setzen225, ohne aus diesem Freiheitsbegriff begrenzt werden zu können. Dies hatte zur Folge, dass der Geltungsbereich der libertas civilis praktisch sehr eingeschränkt war, so dass den Untertanen lediglich die „Freiheit übrig blieb“, die Gebote des Oberhaupts und seines Durchsetzungsorgans – der so genannten „guten Policey“ – zur Erfüllung ihrer naturrechtlichen Pflicht zur Vollkommenheit zu befolgen226. In diesem Zusammenhang hat die Anerkennung der libertas civilis die Stellung des Menschen im Gemeinwesen nicht verbessert, da die perfektionisti220 Ebd. S. 197, § 265: „Und also […] [ist im] Bild der Kinder die Beschaffenheit der Untertanen zu finden“. 221 Vgl. Kersting, Wolfgang, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, S. 232; ausführlich dazu Grunert, Frank, Paternalismus in der politischen Theorie der deutschen Aufklärung, in: Paternalismus und Recht, S. 14. 222 Vgl. Klippel, Diethelm, Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts, S. 59 m.w.N. 223 Ebd. S. 60 m.w.N. 224 Ebd. S. 60 m.w.N. 225 Klippel a.a.O. (Fn. 210), S. 53 bemerkt diesbezüglich: „[…] die Festlegung dessen, was im Einzelfall dem gemeinen Besten dient, bleibt dem Herrscher selbst überlassen“. 226 Vgl. Gutmann, Thomas, Paternalismus – eine Tradition deutschen Rechtsdenkens?, S. 157.
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B. Die Thematisierung der Paternalismusproblematik
sche Willkür des Regenten den Handlungsspielraum der Untertanen sogar mit strafrechtlichen Mitteln zu jeder Zeit umgestalten konnte227. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der Staat im Zeitalter der Wolffschen Doktrin die Form einer öffentlichen Anstalt zur Besserung der Menschen bekommt228. Seine erste und wichtigste Pflicht besteht darin, über die Einhaltung des obersten naturrechtlichen Gebots der „Vervollkommnung“ durch seine Untertanen zu wachen. Dementsprechend übernimmt der Souverän mittels des Gesellschaftsvertrags die Verantwortung, die Glückseligkeit der Bürger zu garantieren. Zu diesem Zweck macht er Gebrauch von seinen weit reichenden Regelungsbefugnissen und schreibt Pflichten des Individuums gegen sich selbst und den Mitmenschen vor. Da aber auch die Moral zur inneren Perfektion der Bürger beiträgt, wird selbst das sittliche Verhalten zum Gegenstand öffentlicher Gesetzgebung. In seinem Versuch wird der Herrscher von der „guten Policey“ unterstützt, welche sich – notfalls auch mit strafrechtlichen Mitteln – um die praktische Umsetzung des Staatswillens im Alltag bemüht. Die Untertanen sind demgegenüber – genauso wie unmündige Kinder – nicht in der Lage, das eigene Beste zu erkennen. Aus diesem Grund werden sie verpflichtet, den Weisungen und Geboten des Herrschers zu folgen, ohne ihre eigenen Präferenzen auf irgendeinem Weg geltend machen zu können. Die Bürger haben selbst – praktisch betrachtet – keine Rechte, mittels derer sie sich gegen solche Eingriffe wehren könn227 Die hier geschilderte Sachlage, welche aus der Sicht der Förderung der Menschenrechte im Staat sich als eher düster erweist, ist dennoch als Fortschritt zu bezeichnen, wenn sie mit der entsprechenden Situation des deutschen Kulturraums Mitte des 17. Jahrhunderts verglichen wird. Die politischen Philosophen sind damals in ihren Werken überwiegend davon ausgegangen, dass mit dem Übergang vom status naturalis zum status civilis der Mensch verpflichtet ist, seine natürliche Freiheit gänzlich aufzuopfern (vgl. Klippel, Diethelm, Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts, S. 48 m.w.N. und Link, Christoph, Herrschaftsordnung und bürgerliche Freiheit, S. 144 m.w.N.). Die Eigenschaft der natürlichen Freiheit wird nur für den Souverän vorbehalten, der weiterhin auch nach der Gründung des Staates im status naturalis bleibt (vgl. Klippel, Diethelm, Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts, S. 49 m.w.N.). Die Macht des Herrschers ist absolut, und er selbst unterliegt keiner Kontrolle (vgl. Kersting, Wolfgang, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, S. 234 m.w.N.; Achenwall, Gottfried/Pütter, Johann Stephan, Anfangsgründe des Naturrechts, S. 261, § 797, 2). Darüber hinaus obliegt es seinem freien Ermessen, den Bürger überhaupt mit Rechten auszustatten; die letzteren haben aus dem Gesellschaftsvertrag keinen positiven Anspruch darauf (vgl. Klippel, Diethelm, Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts, S. 49 m.w.N.). Die einzige Bindung des Souveräns ergibt sich auch hier aus dem Staatszweck, der in diesem frühen Zeitraum die salus publica (das öffentliche Heil) ist. Demnach ist das Oberhaupt dazu aufgefordert, für die Wohlfahrt der Bürger zu sorgen (ebd., S. 50). Es darf jedoch (wie auch sonst später) selbst bestimmen, auf welchem Weg und mit welchen Mittel das höchste Gut zu erreichen ist, was zur Folge hat, dass die Untertanen – ohne den „Trost“ einer auch nur formellen Anerkennung ihrer Freiheit – jegliche Bestimmung und polizeiliche Maßnahme ihres Herrschers zu ihrer Vervollkommnung dulden mussten (ebd. S. 50 f.; Kersting, Wolfgang, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, S. 234). 228 Vgl. Murmann, Uwe, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, S. 28 m.w.N.; Gutmann, Thomas, Paternalismus – eine Tradition deutschen Rechtsdenkens?, S. 158.
V. Bedenken gegenüber der Herrschaftsmacht im deutschen Kulturraum
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ten; ihnen bleibt lediglich die „Freiheit“ offen, das Wohlfahrtsprogramm des Oberhaupts zu akzeptieren. Die Entwicklung individueller Lebenspläne wird vor dem Hintergrund einer derartigen absolutistischen Staatsstruktur ausgeschlossen: es handelt sich um die „Apotheose des Rechtspaternalismus“229.
V. Die wachsenden Bedenken gegenüber der Herrschaftsmacht im deutschen Kulturraum und die Entstehung der ersten Ansätze antipaternalistischen Staatsdenkens In den ersten Jahrzehnten nach der Zeit Wolffs, jedoch noch vor dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts, vollzog sich ein deutlicher Wandel in der Denkweise der Naturrechtler in Mitteleuropa. Obwohl in diesem Zeitraum keine rasche Änderung in der Form der politischen Organisation selbst zu beobachten war, wurde der Akzent bezüglich der Funktion des Staates und insbesondere der Machtausübung seitens des Oberhaupts in den meisten Werken der Periode anders gesetzt. Die etablierte Staatsstruktur des aufgeklärten Absolutismus und deren Perspektiven werden nun nochmals evaluiert, ohne dass dabei allerdings das etablierte Regierungsmodell gesprengt würde230. So wird in philosophischen Kreisen die Möglichkeit des Herrschaftsmissbrauchs seitens des Souveräns zunehmend thematisiert und immer häufiger als eine nicht mehr zu übersehende Wahrscheinlichkeit erörtert231. Deswegen wird an den Regenten appelliert, sich einerseits an den „vernünftigen Gebrauch“ seiner Macht zu halten, und andererseits keine unnötigen freiheitsbeschränkenden Maßnahmen zu ergreifen, welche das Ziel seiner Regierung nicht fördern232. Zur weiteren Sicherung der bürgerlichen Interessen vor einer derartigen Missbrauchsgefahr wird vom Oberhaupt immer deutlicher erwartet, selbst seiner Herrschaft Schranken aufzustellen; die Art und der Umfang dieser Souveränitätsgrenzen werden allerdings selbst jetzt – wie sonst früher – völlig dem Souverän überlassen, und sie erlangen die Form unverbindlicher moralischer Verpflichtungen den Untertanen gegenüber, welche der Herrscher im Rahmen der „guten Regierung“ einhalten sollte233. Es wird somit ersichtlich, dass die Naturrechtsphilosophen zu diesem Zeitpunkt darauf abzielen, den „vorbildlichen Souverän“ neu zu beschreiben, ohne gleichzeitig die bestehenden Herrschaftsverhältnisse und den politischen status quo in Frage zu stellen.
229
Die Bezeichnung ist Gutmann, a.a.O. (Fn. 228), S. 158 entliehen. Eine sehr gute und ausführliche Darstellung dieser Periode gibt Klippel, a.a.O. (Fn. 210), S. 67 f. 231 Vgl. dazu Klippel, Diethelm, a.a.O. (Fn. 210), S. 67. 232 Ebd. S. 67 m.w.N. 233 Ebd. S. 67 m.w.N. 230
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B. Die Thematisierung der Paternalismusproblematik
Auch der etablierte Staatszweck der gemeinen Wohlfahrt wird nunmehr kritisch betrachtet. Die Durchsetzung der libertas civilis als eines greifbaren – wenn auch schwachen – Kerns persönlicher Freiheit innerhalb des Staates entkräftet allmählich das herrschende perfektionistische Ideal und führt in dieser Übergangsphase zu reizvollen Diskussionen über die Zweckmäßigkeit der Einbettung weiterer Individualinteressen in den Staatszweck234. Unter diesem Blickpunkt wird die „klassische“ Auslegung des Letzteren von der Literatur zunehmend als eine Gefahr für die bürgerliche Freiheit gesehen, und es wird aus diesem Grund vom Oberhaupt erwartet, unter den staatlichen Prioritäten der libertas civilis den Vorrang zu geben235. Aus diesem zugegeben „mutigen“ Gedanken ist allerdings eine positiv formulierte Aufforderung zur endgültigen Verwerfung des Glückseligkeitsideals als Staatzwecks noch nicht zu entnehmen. Der kritischen Betrachtung entgeht auch nicht die Institution der „guten Policey“. In diesem Zeitraum mehren sich die Stimmen, welche tatsächlich für die Begrenzung ihres umfassenden Tätigkeitsfeldes argumentieren und damit für die Sicherstellung eines größeren Spielraums für die bürgerliche Freiheit sprechen. Die zweckmäßige Einschränkung der polizeilichen Eingriffsbefugnisse begünstigt die Entfaltung von Individualinteressen im Rahmen des Gemeinwesens, wodurch der eigentliche Zweck des Staates – der Ansicht der Epoche nach – sich letztlich effizienter erreichen lässt236. Darüber hinaus wird von vielen politischen Philosophen die regulatorische Einmischung der Polizei auch in die geringste Kleinigkeit und in privateste Aspekte des alltäglichen Lebens zunehmend als ein Missbrauch ihrer Befugnisse empfunden. Aus diesem Grund wird zusätzlich auch darüber diskutiert, ob die Begrenzung ihres Aufgabenkreises auf die wirklich gravierenden und wichtigen Angelegenheiten der staatlichen Sicherheit ihren eigentlichen Zweck nicht treffender beschreiben würde237. Durch die Einführung derartiger Gedanken in die gesamte Diskussion wird zwar die Rolle der „guten Policey“ als eines effektiven Mittels zur Durchsetzung des gesellschaftlichen Friedens und zur Förderung des Gemeinwohls nicht direkt in Frage gestellt. Allerdings reift nunmehr allmählich die Einsicht, dass dieses Organ im Rahmen der Erfüllung seiner Aufgaben mit dem Leben und der Freiheit der Bürger oft unnötig restriktiv umgeht. Ins Blickfeld rücken damit sowohl die Gefahr eines eventuellen Missbrauchs polizeilicher Macht als auch der Bedarf des effektiven Schutzes der Bürger davor. All diese Aktivität im Bereich der politischen Theorie weist deutlich auf die Tatsache hin, dass die inhärenten Probleme des aufgeklärten Absolutismus in diesem Zeitraum schon bekannt waren. Die Feststellung der problematischen Punkte allein 234 235 236 237
Ebd. S. 68. Ebd. S. 69 m.w.N. Ebd. S. 69 m.w.N. Ebd. S. 69 f. m.w.N.
VI. Der fundamentale Antipaternalismus des jüngeren deutschen Naturrechts
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bedeutet jedoch nicht, dass das in Europa allgemein durchgesetzte politische System selbst in diesem Augenblick in Frage gestellt wurde. Denn als problematisch gilt noch nicht die Herrschaft per se, sondern nur ihr Missbrauch. Im gleichen Sinn wird das Staatsziel der Glückseligkeit nicht direkt verworfen; es wird nur die seinetwegen extensive Einschränkung der Freiheit bedauert, in der Hoffnung, dass der Umfang der Letzteren erweitert wird. Die „gute Policey“ bleibt ihrerseits immer noch ein unabdingbares striktes Instrument des Herrschers; nur ihre sinnlose Befassung mit Kleinigkeiten im Namen der Förderung des Staatszwecks wird zunehmend in Frage gestellt. Der wesentliche Beitrag aller philosophischen Auseinandersetzungen dieser Epoche war deswegen notwendigerweise etwas Anderes, und zwar die Entstehung – durch die Forderungen nach Selbstbindung des Souveräns und menschenfreundlicher Regierung – des Bewusstseins, dass die Bürger durch die Ausübung einer derartigen Herrschaft gefährdet sind238. Die Bedeutung dieses „Zweifels“ an der etablierten Staatsstruktur ist enorm, da hierin sich der Ursprungsort von Ideen befindet, welche später zu großen gesellschaftlichen Reformen führen werden: durch die Einwirkung solcher Gedanken ist nämlich in den Menschen allmählich die Einsicht gereift, dass das Vorgehen des Oberhauptes nicht immer für das wahre Wohl der Bürger förderlich ist. In ähnlichem Sinne wird aus einer derartigen Denkweise auch künftig die Idee entstehen, dass die Untertanen nicht zu ihrer Perfektion polizeilich bevormundet werden dürfen. In diesem aufkeimenden „Gefährdungsbewusstsein“ spiegelt sich also die immer größer werdende Besorgnis der Bürger eines despotischen Staates um Sicherung ihrer eigenen Interessen und Bekräftigung ihrer Rechte wider: und darin befindet sich schließlich – um mit Klippel zu reden – „der Ausgangspunkt zur Überwindung der Theorie des aufgeklärten Absolutismus“ und folglich des paternalistischen Staates239.
VI. Der fundamentale Antipaternalismus des jüngeren deutschen Naturrechts – Die kritische Aufklärungsphilosophie Wilhelm von Humboldts und Immanuel Kants Das wachsende Bedenken gegen die absolutistische Fremdbestimmung des paternalistischen Staates in Deutschland wäre trotz des großen theoretischen Engagements seitens der Philosophen möglicherweise erfolglos geblieben, hätte nicht der Ausbruch der französischen Revolution im ausgehenden 18. Jahrhundert die notwendigen Rahmenbedingungen geschaffen, welche die Einführung und endgültige Durchsetzung neuer Auffassungen – sowohl auf dem Feld der politischen Theorie
238 Klippel, a.a.O. (Fn. 210), S. 67 spricht charakteristisch von der Entstehung eines „Gefährdungsbewussteins“ der Bürger gegen den Herrscher und die staatliche Tätigkeit. 239 Vgl. Klippel, Diethelm, a.a.O. (Fn. 210), S. 68.
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B. Die Thematisierung der Paternalismusproblematik
als auch bezüglich der Stelle des Einzelnen im Staat – begünstigten240. Die jüngere deutsche Naturrechtslehre benutzt die dadurch gestaltete Situation in Mitteleuropa auf konstruktive Weise und entwickelt in den letzten zwei Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts eine neue, die Theorie des aufgeklärten Absolutismus endgültig überwindende, Staatsdoktrin. Am Ausgangspunkt dieser Lehre steht die Entfaltung eines neuen Verständnisses vom Begriff der „persönlichen Freiheit“ des Individuums im Staat241: Die Naturrechtssysteme dieses Zeitraums knüpfen nämlich an die libertas naturalis des älteren Naturrechts, die sie nun allerdings mittels neuer Gedanken aktualisieren und welche sie den Tendenzen und Bedürfnissen der Epoche anzupassen versuchen, um sie schließlich als positive Forderung nachdrücklich gegen den Staat zu richten. Es handelt sich laut Klippel um den Prozess der „Stabilisierung der natürlichen Freiheit“242. Die Grundlage dieses Verfahrens bildet die Entwicklung neuer Anschauungen über den natürlichen Zustand des Menschen. Die Naturrechtler erkennen nun, dass die vom älteren deutschen Naturrecht beschriebene Beziehung zwischen dem status naturalis und der libertas naturalis für die Entfaltung und Durchsetzung individueller Rechte im Staat überhaupt nicht treffend war243 : Die ältere Doktrin sah zwar im natürlichen Zustand einen dem Menschen von der Natur her zustehenden Kern von Freiheitsrechten; dieser konnte aber nur im vorstaatlichen Zustand des Individuums geltend gemacht werden und besaß nach den Übergang zum status civilis keine Geltung mehr244. Die Folge war, wie oben schon beschrieben, dass die persönliche Freiheit sowie die sonstigen Rechte des Menschen im staatlichen Zustand vom Oberhaupt erheblich begrenzt werden konnten, da sie kein „Abwehrvermögen“ aufwiesen. Diesen methodologischen Fehler versuchen jetzt die neueren Naturrechtssysteme mit der Schöpfung innovativer Theorien zur Frage des status naturalis zu berichtigen. Eine Richtung unter den Naturrechtlern vertritt dementsprechend die Ansicht, dass der eigentliche „natürliche“ Zustand des menschlichen Daseins kein anderer als der bürgerliche Zustand ist245. Status naturalis und status civilis werden somit gleichgestellt, und der bürgerliche Zustand wird als die für das Individuum „natürliche und angemessene Lebensform“ anerkannt246. Absicht dieser Anschauung ist, die gesamte herkömmliche Naturrechtslehre zu Gunsten der Entwicklung individueller Freiheiten 240
Vgl. dazu Böhme, Heinz-Jürgen, Politische Rechte des einzelnen in der Naturrechtslehre des 18. Jahrhunderts und in der Staatstheorie des Frühkonstitutionalismus, S. 50. 241 Vgl. Klippel, Diethelm, Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts, S. 113. 242 Ebd. S. 113 f. 243 Ebd. S. 114. 244 Siehe die Feststellung Klippels (a.a.O. Fn. 210), S. 113: „In Gestalt der libertas naturalis und der iura connata hatte das ältere Naturrecht den Gedanken einer umfassenden menschlichen Freiheit und die Konzeption einzelner, naturrechtlich begründeter Rechte des Individuums vorformuliert, ohne damit auf deren Verwirklichung im Staat zu zielen.“ 245 Ebd. S. 114 – 115. 246 So Klippel, Diethelm, (a.a.O. Fn. 210), S. 114 m.w.N.
VI. Der fundamentale Antipaternalismus des jüngeren deutschen Naturrechts
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im Gemeinwesen umzuwandeln. Denn durch diese neue Konzeption des status naturalis wird das darauf basierende Naturrecht nicht mehr als dasjenige System angesehen, das ausschließlich für die Regelung der menschlichen Beziehungen im außerstaatlichen Zustand einschlägig ist, sondern es wird nun als befugt betrachtet, durch seine Lehre konkrete Rechte des Individuums zur Verwirklichung seiner Persönlichkeit gerade im status civilis zu gestalten247. Das Naturrecht wird auf dieser Weise erneut, genauso wie früher bei der Konzeption der jura connata, zur Quelle aller Rechte des Menschen – dieses Mal jedoch innerhalb der staatlichen Gemeinschaft – erhoben. Für die Sicherung der so deduzierten Rechte des Einzelnen im Gemeinwesen argumentiert des Weiteren eine zum damaligen Zeitpunkt ebenso verbreitete Auffassung einer anderen Richtung unter den Naturrechtlern, welche den status naturalis mit dem „Wesen des Menschen“ – mithin seiner „Menschheit“ – identifizieren will248. Da die „wesentlichen Eigenschaften des Einzelnen“ unveränderlich bleiben – so der leitende Gedanke hinter diesem Satz –, müssten folgerichtig auch die aus dem Naturzustand herzuleitenden Menschenrechte ebenfalls beständig sein249. Die praktische Folge dieses Ansatzes war für die Entfaltung der Menschenrechte zum damaligen Zeitpunkt von erheblicher Bedeutung, denn an Hand der Gleichsetzung des status naturalis mit dem Wesen des Individuums wird vom jüngeren Naturrecht versucht, die absolute Geltung der Rechte des Menschen im Staat zu garantieren250. Die zwei oben beschriebenen innovativen Auffassungen über den Naturzustand sind ein klarer Hinweis auf die neue Orientierung der Naturrechtslehre. Die kumulative Wirkung dieser neuen Konzeptionen stellt die Letztere praktisch auf neue Grundlagen. Der Bezugspunkt der „neuen“ Naturrechtslehre wird vom vorstaatlichen Zustand des Menschen entfesselt. Im Mittelpunkt ihres Interesses stehen nunmehr ausschließlich die Belange des Individuums im Staat. Mit der Idee der engen Verbindung des status naturalis zum status civilis einerseits251 sowie mittels der Gleichsetzung des Naturzustandes mit dem Wesen des Menschen andererseits252 erhält sie des Weiteren die benötigten Argumente, um konkrete Freiheiten des Einzelnen mit absoluter Geltung innerhalb des Staates zu formulieren. Zum Zweck der Gestaltung einer derartigen umfassenden Sphäre von persönlichen Rechten des Individuums im status civilis greifen die jüngeren Naturrechtssysteme auf den ihnen schon von der älteren Naturrechtsdoktrin bekannten Begriff der libertas naturalis zurück. Diese bezeichnet allerdings nicht mehr, wie früher, den Zustand der Freiheit des Menschen innerhalb der Grenzen der Natur. Die inzwischen 247
Ebd. S. 115 m.w.N. Ebd. S. 116 m.w.N. 249 Ebd. S. 116 m.w.N. 250 Ebd. S. 116 m.w.N. 251 Klippel (a.a.O., Fn. 210), nennt das die „Gesellschaftsbezogenheit“ des Naturzustandes. 252 Es handelt von der „Persönlichkeitsbezogenheit“ des Naturzustandes, vgl. Klippel, Diethelm, (a.a.O., Fn. 210). 248
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B. Die Thematisierung der Paternalismusproblematik
durchgesetzte Anerkennung des status civilis als des eigentlichen natürlichen Zustands des Individuums lässt sie nunmehr ausschließlich als Attribut des im Staat existierenden Menschen verstehen253. Ihre Bezeichnung als „natürliche“ Freiheit schwächt sich deswegen allmählich254 dahingehend ab, dass mit ihr eigentlich die politische Freiheit des Einzelnen gemeint wird. Die neu definierte libertas naturalis wird auf dieser Weise zum Ausgangspunkt der Untersuchungen der Naturrechtler gemacht. Anders jedoch als im älteren Naturrecht, wo die natürliche Freiheit nur als ein Wesentliches unter mehreren Rechten des Menschen betrachtet wurde, übernimmt sie nun eine andere Funktion, und wird als ein Sammelbegriff benutzt, der in seinen Rahmen alle Rechte des Individuums im Staat miteinzubeziehen versucht255. Die Benutzung der libertas naturalis als Inbegriff der Menschenrechte im Gemeinwesen hat nicht unmittelbar das von den Naturrechtlern erwünschte Ergebnis erbracht, insofern, als es der so verstandenen natürlichen Freiheit nicht gelungen ist, sich zu einem aussagekräftigen politischen Freiheitsbegriff zu konsolidieren. Grund dafür war, dass die libertas naturalis wegen ihres umfassenden und – vor allem – allgemeinen Charakters nicht einfach in spezielleren positiven Menschenrechtsforderungen gegen den Staat aufgelöst werden konnte256. Diese Unteilbarkeit und Allgemeinheit der natürlichen Freiheit hat den Versuch der Naturrechtsphilosophen, einen klaren und umfangreichen Freiheitsraum für den Menschen im Staat abzugrenzen, erheblich erschwert257. Dieser Problempunkt konnte jedoch die kennzeichnenden positiven Entwicklungen der Epoche nicht lange aufhalten. Der „allgemeine“ und „unfassende“ Charakter der natürlichen Freiheit wird allmählich verlassen258, während unterschiedliche Naturrechtssysteme mehr oder weniger ausführliche „Menschenrechtskataloge“ zusammenstellen259. Die darin beinhalteten Rechte werden aus der Person des Menschen selbst abgeleitet, und beruhen auf ihrer „Selbstzweckhaftigkeit“260. Die immer mehr werdenden „Listen von Menschenrechten“ sind am Anfang wenig systematisch und variieren in der Auflistung der einzelnen Rechte erheblich261. Im Laufe der Zeit werden sie jedoch kohärenter und erlangen unter dem Einfluss der französischen Revolution und der Entwicklungen im nordamerikanischen Raum einen eindeutig gegen
253
Ebd. S. 117 m.w.N. Ebd. S. 117. 255 Ebd. S. 123 m.w.N. 256 Es handelte sich nämlich laut Klippel (a.a.O. Fn. 210, S. 124), „lediglich um einen Sammelbegriff ohne wesentliche andere rechtliche und politische Funktionen“. 257 Ebd. S. 118 – 119 m.w.N. 258 Ebd. S. 124. 259 Ebd. S. 120. 260 Ebd. S. 120 – 121 m.w.N. 261 Ebd. S. 121. 254
VI. Der fundamentale Antipaternalismus des jüngeren deutschen Naturrechts
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die absolutistische Staatsstruktur gerichteten Charakter262. In diesem Rahmen bieten sie die zum damaligen Zeitpunkt viel benötigte theoretische Grundlage für die Ableitung und Bestimmung einer Sphäre freier Gestaltungsräume des Individuums innerhalb des Staates an263. Die Menschenrechte gewinnen somit in den jüngeren Naturrechtssystemen ständig an Bedeutung und werden nunmehr als unabdingbare inhaltliche Voraussetzung eines liberalen Freiheitsbegriffs betrachtet264. Der gesamte Kampf der Naturrechtler der Spätaufklärung um die Anerkennung und Durchsetzung der Menschenrechte im Staat wäre allerdings belanglos, wenn diese positiven Werte nicht gleichzeitig mit ausreichendem „Resistenzvermögen“ versehen wären, um jedem Modifizierungs- oder Beseitigungsversuch „widerstehen“ zu können. Deswegen – und im Gegensatz zum älteren Naturrecht, wo die persönliche Freiheit sowie die sonstigen angeborenen Rechte des Menschen der aufhebenden Wirkung des privaten oder (beim Übergang zum status civilis) des gesellschaftlichen Vertrags schutzlos ausgeliefert wurden – sorgen die jüngeren Naturrechtssysteme nun dafür, die Menschenrechte und den Freiheitsbegriff mit Abwehrsubstanz auszustatten. In dieser Hinsicht unterteilten die zeitgenössischen Naturrechtler die individuellen Rechte in zwei Kategorien: auf der einen Seite stehen die „angeborenen“ oder „ursprünglichen“ Belange des Menschen, wie das Leben, das Eigentum und die Religionsfreiheit, und auf der anderen Seite die „erworbenen“ oder „abgeleiteten“ Rechte, wie beispielsweise die aus dem Eigentum hervorgehenden Rechte265. In der politischen Theorie herrschte insoweit Einigkeit darüber, dass die auf vertraglicher Grundlage durchgeführte Übertragung oder Veräußerung der „erworbenen“ Rechte eines Bürgers vollkommen zulässig ist266 ; infolgedessen war der einzige Schutz, dessen sie überhaupt bedurften, lediglich der Schutz vor unerlaubten Beeinträchtigungen – etwa durch Zwang – der Vertragsfreiheit. Die prinzipielle Zulässigkeit der vertragsbasierten Verfügung über die „abgeleiteten“ Rechte gilt allerdings für die „ursprünglichen“ nicht. Denn die jura connata des jüngeren Naturrechts sind gegen Modifizierungs- oder Aufhebungsversuche durch private Vereinbarungen nunmehr grundsätzlich geschützt. Über den Grad und die Tragweite ihres „Resistenzvermögens“ – und infolgedessen über die „absolute oder relative Auslegung“ ihrer Unantastbarkeit – wurden verschiedene Auffassungen vertreten, die allerdings in ihrer Gesamtheit Freiheit und Menschenrechte vor der privaten Willkür ausreichend behüten. Dementsprechend ist eine Strömung unter den Naturrechtlern der Ansicht, dass sämtliche angeborenen Rechte des Menschen vor vertraglichen Abmachungen abso262 263 264 265 266
Ebd. S. 122 – 123. Ebd. S. 124. Ebd. S. 124. Ausführlich dazu Klippel, Diethelm, (a.a.O. Fn. 210), S. 125. Ebd. S. 125 – 126.
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B. Die Thematisierung der Paternalismusproblematik
lut geschützt sind. Die Unveräußerlichkeit dieser Rechte wird aus ihrer engen und unzertrennlichen Beziehung zum Wesen des Menschen, mithin zu seinem „Personsein“, abgeleitet267. Die praktische Folge dieses Postulats lautet, dass jeder Vertrag, in dem über ein „ursprüngliches“ Recht des Einzelnen verfügt wird, nichtig ist268. In dieser Hinsicht sind die im älteren Naturrecht durchaus erlaubten Sklavenverträge nunmehr nach einheitlicher Meinung als Verstoß gegen die natürlichen Gesetzte zu betrachten und damit ohne Weiteres untersagt269. Den Menschenrechten kommt auf dieser Weise ein – für die damalige Zeit neuartiger – aggressiver Aspekt zu, der die herkömmlichen durchgesetzten Strukturen innerhalb des Staates zu verändern vermag270. Die prinzipielle Unantastbarkeit der angeborenen Rechte des Individuums wird auch dann nicht ernsthaft in Frage gestellt, wenn eine andere Richtung unter den Naturrechtlern die Meinung vertritt, dass nicht alle „Rechte der Menschheit“ unveräußerlich sind. Dieser Auffassung nach sind nur diejenigen der angeborenen Rechte des Individuums absolut geschützt, welche für das Fortbestehen seiner menschlichen Existenz ohnehin notwendig sind, diejenigen also „ohne die der Mensch willkürlich als Mittel zu den Zwecken eines anderen gebraucht werden könnte“271, wie beispielsweise das Leben, die Freiheit des Willens und die Gleichheit. Trotz dieser Abweichung ist jedoch auch den Anhängern dieser Ansicht die große Bedeutung des Schutzes der individuellen Rechte bewusst, denn sie statten auch diejenigen Rechte, die sie als „veräußerlich“ kennzeichnen, mit einem festen Kern aus, der sich gegen jegliche vertragliche Willkür resistent erweist272, so dass – praktisch betrachtet – auch unter diesem Blickpunkt keins unter den Belangen des Individuums gegen private Angriffe vollkommen schutzlos bleibt. Den jüngeren Naturrechtssystemen gelingt es auf diese Art und Weise, den Freiheitsbegriff sowie die Menschenrechte vor der einschränkenden Wirkung des Vertrags grundsätzlich zu behüten. Die Möglichkeit, Verträge einzugehen, wird verständlicherweise nicht negiert, allerdings werden jetzt – und im Gegensatz zur älteren Naturrechtsdoktrin – der Vertragsfreiheit feste Grenzen gesetzt, so dass dem Individuum ein Mindestmaß an Sicherheit vor der bisher „freiheitsgefährdenden“ Wirkung privater Vereinbarungen garantiert werden kann273. Auch der Gesellschaftsvertrag zur Gründung des status civilis, welcher in der Vergangenheit das Ende der natürlichen Freiheit und aller sonstigen Menschenrechte signalisierte, kann die Geltung der beschriebenen positiven Belange des Individuums
267
Ebd. S. 127 m.w.N. Ebd. S. 127 m.w.N. 269 Ebd. S. 128 m.w.N. 270 Ebd. S. 127 und insb. 128. 271 Vgl. dazu Klippel, Diethelm, Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts, S. 126 m.w.N. 272 Ebd. S. 126 – 127. 273 Ebd. S. 127 – 128 m.w.N. 268
VI. Der fundamentale Antipaternalismus des jüngeren deutschen Naturrechts
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nach überwiegender Meinung nicht mehr beeinträchtigen274. Die angeborenen Rechte des Einzelnen werden jetzt nicht als eine „Gegengabe des Staates für die Unterwerfung der Bürger“ angesehen, sondern „sie markieren einen ursprünglichen, unverstaatlichen Freiheitsraum des Menschen“ innerhalb des Gemeinwesens275 ; sie sind „Freiheiten außerhalb des Staates, Freiheiten vom Staat und gegen den Staat, sie sind dem homo, nicht dem civis zu eigen“276. Infolgedessen wird auch der Gesellschaftsvertrag in seinen Auswirkungen für die Menschenrechte den privaten Verträgen gleichgestellt, und soweit er durch seine Bestimmungen die geschützten Rechte des Individuums verletzt, muss er ebenfalls als nichtig betrachtet werden277. Es versteht sich, dass die Durchsetzung eines derartigen liberalen Verständnisses sowohl von Wesen und Funktion der Menschenrechte als auch von der Stellung des Einzelnen im Gemeinwesen nur in direkter Konfrontation mit der etablierten Staatsstruktur des aufgeklärten Absolutismus und gegen diese erfolgen konnte. Die jüngeren Naturrechtssysteme empfinden nun die aus dem Glückseligkeitsideal abgeleiteten Forderungen zunehmend als eine unzulässige Einschränkung der individuellen Freiheitsbefugnisse, während der seit der Zeit Wolffs unangefochtene Staatszweck der Förderung der gemeinen Wohlfahrt als eine konkrete und positive Gefahrenquelle für den Menschen betrachtet wird278. Unter diesem Aspekt unterziehen die Naturrechtler der letzten zwei Jahrzehnte des achtzehnten Jahrhunderts die bisherige Staatsorganisation heftiger Kritik und versuchen die Aufgaben des Staates möglichst im Einklang mit einer – nach heutigem Verständnis – liberalen Doktrin zu bringen. Demnach wird zunächst der von stark paternalistischen Zügen geprägte Versuch des Staatsoberhaupts, alle Aspekte des Lebens seiner Untertanen zu regulieren, als problematisch angesehen279; insbesondere wird die staatliche Einmischung zur Überwachung des moralischen Verhaltens der Bürger einhellig verworfen, und es wird gefordert, dass der Bereich der Sittlichkeit dem Einzelnen überlassen werde280. Des Weiteren wird die „gute Policey“ mit ihren weit reichenden Überwachungsund Eingriffsbefugnissen ebenfalls als eine Gefahr für die Freiheitsentwicklung charakterisiert, und es wird verlangt, ihre Rolle allein auf die Abwendung gemeinschädlicher Übel zu beschränken, womit gleichzeitig der moderne Polizeibegriff sich ankündigt281. Schließlich definieren die jüngeren Naturrechtler den Zweck des Gemeinwesens erneut, um dadurch die Belange des Individuums endgültig abzusichern; die 274
Ebd. S. 129 f. m.w.N. Siehe dazu Link, Christoph, Herrschaftsordnung und bürgerliche Freiheit, S. 152 m.w.N. 276 Ebd. S. 152. 277 Vgl. Klippel, Diethelm, (a.a.O. Fn. 271), S. 131 m.w.N. 278 Ebd. S. 132 m.w.N. 279 Ebd. S. 132 m.w.N. auf Schaumann und Fichte. 280 Ebd. S. 132 – 133 m.w.N. auf Humboldt. 281 Ebd. S. 133 m.w.N. und Link, Christoph, Herrschaftsordnung und bürgerliche Freiheit, S. 151 m.w.N. 275
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B. Die Thematisierung der Paternalismusproblematik
Aufgabe des Staates wird in dieser Hinsicht auf die Erhaltung und Förderung der Freiheit und der Menschenrechte hin konkretisiert282. Der Staat ist nunmehr „eine Verbindung zur Freiheit“283. Der wichtigste Träger und Vertreter der neuen, gegen den durchgesetzten status quo absolutistischer Prägung gerichteten Doktrin, der zugleich zu den größten Denkern der späten Aufklärung zugezählt werden kann, ist Immanuel Kant. Mit seinem kritischen Werk hat er in den letzten zwei Jahrzehnten des achtzehnten Jahrhunderts die rechtsphilosophischen Grundlagen des paternalistischen Staates weitgehend abgebaut284, während seine Ideen, welche zu den wichtigsten Beiträgen der politischen Philosophie der Neuzeit gehören, die Rahmenbedingungen für die Entfaltung eines menschengerechten und liberalen Staatsverständnisses gestaltet haben. Dennoch hat Kant allerdings in seinem Werk die etablierte Ordnung nicht direkt in Frage gestellt und sich generell – im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen – mit der überlieferten Staatsdoktrin des älteren Naturrechts nicht offen auseinandergesetzt. Die Kritik, welche er an der paternalistischen Staatsstruktur geübt hat, ist uns als Bestandteil seiner ethischen Philosophie überliefert, in der auch seine Auffassungen über die Rechtslehre und die Stelle des Bürgers im Gemeinwesen zum Ausdruck kommen. Um das antipaternalistische Denken Kants zu erschließen, muss man sich deswegen notwendigerweise mit seinen Ideen über die Sittenlehre insgesamt befassen. Die Ethik285 ist folglich nach Kant die „Wissenschaft von den Gesetzen der Freiheit“, und stellt gleichzeitig, zusammen mit der Naturlehre (oder Physik), einen Zweig der materialen Philosophie dar286. Im Gegensatz zur Naturlehre, deren Schwerpunkt in der Entdeckung derjenigen Regel besteht, welche die physische Welt regieren (oder, wie Kant es selbst ausdrückt, „der Gesetze nach denen alles geschieht“)287, versucht die Sittenlehre die Gesetzlichkeit herauszufinden, welche den Willen des Menschen, das menschliche Verhalten und letztendlich die Beziehungen der Individuen zueinander (die Gesetze also, „nach denen alles geschehen soll“)288 bestimmen. 282
Vgl. Klippel, Diethelm, (a.a.O. Fn. 271), S. 134 m.w.N. Ebd. S. 136 m.w.N. auf Stephani. 284 Vgl. Gutmann, Thomas, Paternalismus – eine Tradition deutschen Rechtsdenkens?, S. 164. 285 Kant setzt in seinem Werk die Begriffe „Sittenlehre“ und „Ethik“ gleich; vgl. Kant, Immanuel, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 11. 286 Vgl. Kant, Immanuel, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 11. An diesem Punkt sei bemerkt, dass die materiale Philosophie der direkte Gegensatz zur formalen Philosophie (oder Logik) ist: während letztere sich mit der „Form des Verstandes und der Vernunft selbst, sowie mit den allgemeinen Regeln des Denkens überhaupt“ auseinandersetzt, befasst sich erstere „mit bestimmten Gegenständen und den Gesetzen, denen diese Objekte unterworfen sind“, oder, anders gesagt, mit der Gesetzlichkeit der Dinge; vgl. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 11. 287 Vgl. Kant, Immanuel, a.a.O. (Fn. 286), S. 11. 288 Ebd. S. 11. 283
VI. Der fundamentale Antipaternalismus des jüngeren deutschen Naturrechts
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Gegenstand der Ethik (oder Sittenlehre) ist nach Kant die Auseinandersetzung mit zwei Arten von Gesetzen: einerseits denjenigen, welche ausschließlich die äußeren Handlungen der Menschen betreffen, und andererseits denen, welche die inneren Prozessen der individuellen Willkür regeln; die ersteren werden „juridische“ Gesetze genannt, die letzteren „ethische“289. Das Recht und seine Regelungen finden demnach bei Kant ihren systematischen Ort in der Ethik290, und die Bestimmungen der letzteren sind folglich auch für das Recht einschlägig291. Der Geltungsanspruch der Gesetze der Sittenlehre kann allerdings nach Kant nicht aus der Natur des Menschen oder aus der praktischen Erfahrung hergeleitet werden, sondern er ist in Begriffen der reinen Vernunft zu suchen292. Zum Zweck also der Legitimierung der ethischen Gesetze insgesamt versucht Kant den obersten Grundsatz der Sittenlehre (oder anders ausgedrückt: „das oberste Prinzip der Moralität“)293 herauszufinden, der den gesamten Bereich der Ethik bestimmt, und auf dem letztere – und infolgedessen auch das Recht als ihr Bestandteil – beruhen kann. Kant drückt demnach das höchste Gesetz und Beurteilungskriterium der Sittenlehre in der Form eines kategorischen Imperativs aus, das heißt in der Gestalt eines „allgemeingültigen Gebots“, welches selbst keiner Art von Einschränkung unterliegt und den Menschen eine bestimmte Verhaltensweise auferlegt294. In seiner Grundform lautet er: „handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde“295, oder verkürzt: „handle nach einer Maxime, die zugleich als allgemeines Gesetz gelten kann“296. In den Worten Kants ist „jede Maxime, die sich hierzu nicht qualifiziert, der Moral (der Sittenlehre also) zu wider“297. Bezogen nun genau auf die Beziehungen der Menschen zu einander lautet der kategorische Imperativ: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest“298. Das Individuum und sein Wert erlangen demnach absoluten Rang, und 289
Vgl. Kant, Immanuel, Die Metaphysik der Sitten, S. 318. Vgl. Lisser, Kurt, Der Begriff des Rechts bei Kant, S. 4. 291 Ebd. S. 4: „Insofern Kants Ethik die Wissenschaft von den Gesetzen der Freiheit ist, als praktischen Grundsätzen des Handelns überhaupt, gilt ihre Gesetzlichkeit auch für die Rechtslehre“. 292 Ebd. S. 4 und Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 13. 293 Ebd. S. 16. 294 Vgl. Höffe, Otfried, Immanuel Kant, S. 181 und insb. 182. 295 Vgl. Kant, Immanuel, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 51. 296 Vgl. Kant, Immanuel, Die Metaphysik der Sitten, S. 332. 297 Ebd. S. 332. 298 Vgl. Kant, Immanuel, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 61, und S. 59: „[…] der Mensch, und überhaupt jedes vernünftiges Wesen, existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen, sondern muß in allen seinen, sowohl auf sich selbst, als auch auf andere vernünftige Wesen gerichteten Handlungen jederzeit zugleich als Zweck betrachtet werden“. Die deontologische Denkweise und die Kriterien Kants sind hier ersichtlich. 290
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B. Die Thematisierung der Paternalismusproblematik
jedes Verhalten (oder auch jede Regelung rechtlicher Art), welche diesem Gebot nicht konform sind, werden von der Sittenlehre als unerlaubt betrachtet. Auch wenn mit dem kategorischen Imperativ der höchste Maßstab alles sittlichen Handelns genannt wird, müssen jedoch die Menschen logischerweise auch ihrerseits die entsprechende Wahl treffen und ihre Handlungen darauf ausrichten, die Bestimmungen dieses Imperativs zu befolgen. Deswegen erlangt bei Kant die Autonomie des Willens ebenfalls große Bedeutung, weil allein auf ihrer Grundlage die Erfüllung der Forderungen des obersten Moralitätsprinzips überhaupt möglich ist299. Obwohl – theoretisch betrachtet – das letztere Ergebnis auch mit Zwang erzielt werden könnte, ist es allerdings nur durch die freie und autonome Entscheidung zur Beachtung des kategorischen Imperativs – und aller aus ihm hervorgehenden Gebote – für das Individuum überhaupt möglich, sich gegenüber „der Menschheit in seiner Person“300 zu verpflichten und so seinem Verhalten effektiv bestimmte Grenzen zu ziehen, um letztendlich dem höchsten Prinzip der Sittlichkeit treu zu bleiben. Kant versteht deswegen die Autonomie als „die Beschaffenheit des Willens [durch die] derselbe ihm selbst […] ein Gesetz ist“301, und sieht in ihr den eigentlichen Grund aller Verbindlichkeit (auch der rechtlichen) überhaupt302. In dieser Hinsicht stellt die Autonomie nach Kant die Grundlage aller moralischen Gesetze dar, sowie die notwendige Bedingung zur Erfüllung des kategorischen Imperativs303. Der Begriff der Autonomie erlangt also in der kantischen Lehre eine ebenso zentrale Stelle wie die persönliche Freiheit, welche der gemeinsame Topos aller Philosophischen Werke der jüngeren Aufklärung war. Diese zwei Begriffe sind allerdings für Kant in ihrem Inhalt identisch, und sie werden von ihm in ihrer Bedeutung gleichgesetzt, wenn er im Rahmen der Sittenlehre die Freiheit als die „Rückseite“ der Autonomie des Willens betrachtet304. Des Weiteren definiert Kant die Freiheit als die „Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür“, und er ernennt sie zum „einzigen, ursprünglichen, jedem Menschen, kraft seiner Menschheit, zustehenden Recht“305. In der Philosophie Kants wird somit die Freiheit sowohl zum wichtigsten Belang des Individuums als auch zum Kern der Sittenlehre erhoben. Das Recht ist nun als Teil der Sittenlehre logischerweise an die Einhaltung und vor allem Sicherung der Freiheit gebunden. Deswegen wird das Recht von Kant als der 299
Vgl. Höffe, Otfried, Immanuel Kant, S. 197. Vgl. Kant, Immanuel, Die Metaphysik der Sitten, S. 550. 301 Vgl. Kant, Immanuel, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 74. 302 Vgl. Lisser, Kurt, Der Begriff des Rechts bei Kant, S. 10 m.w.N. 303 Vgl. Höffe, Otfried, Immanuel Kant, S. 197 und 199. 304 Siehe Kant, Immanuel, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 81 – 82: „[…] was kann denn wohl die Freiheit des Willens sonst sein, als Autonomie, d. i. die Eigenschaft des Willens, sich selbst ein Gesetz zu sein? […] also ist ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen einerlei“. 305 Vgl. Kant, Immanuel, Die Metaphysik der Sitten, S. 345; vgl. auch Hillgruber, Christian, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, S. 24. 300
VI. Der fundamentale Antipaternalismus des jüngeren deutschen Naturrechts
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„Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“306 definiert. Seine Aufgabe besteht demnach darin, „die Sphären äußerer Freiheit [und damit sind auch sämtliche individuellen Rechte gemeint] der Menschen voneinander abzugrenzen“307. Selbst der Übergang zum status civilis ist am Schutz der libertas ausgerichtet, denn der Zweck, den eine solche Transition begünstigt, ist es, das angeborene Recht der Menschen unter „öffentliche Zwangsgesetze“ zu stellen, durch welche jedem ein eigener Freiheitsbereich zugeschrieben wird, und wodurch die Person vor Angriffen anderer gesichert wird308. Die Freiheit wird bei Kant sogar als eins der a priori geltenden, unentbehrlichen, konstitutiven Prinzipien der staatlichen Gemeinschaft betrachtet, „nach denen allein eine Staatserrichtung reinen Vernunftprinzipien des äußeren Menschenrechts gemäß überhaupt möglich ist“309. Hierin entfaltet sich das antipaternalistische Denken Immanuel Kants. Denn, solange die Freiheit das Recht und den Staat bestimmt, kann logischerweise kein Fremder das Individuum zwingen, „auf seine Art glücklich zu sein, sondern ein jeder darf seine Glückseligkeit auf dem Wege suchen, welcher ihm selbst gut dünkt, wenn er nur der Freiheit anderer, einem ähnlichen Zwecke nachzustreben […] nicht Abbruch tut“310. Jede positive Rechtsordnung muss folglich ihre Normen ausschließlich aus dem Prinzip der Kompatibilität der Freiheitssphären der Bürger gewinnen, und ihre Regelungen an der Einhaltung dieses Gebots orientieren, denn nur dann kann sie als legitim bezeichnet werden311. Die seit dem Zeitalter Wolffs geltende Staatsdoktrin der Gleichstellung des „rechtlich Erzwingbaren“ mit dem „sozialethisch Erwünschten“ ist also nicht mehr möglich312. Denn solange die Handlungen der Bürger die Grenzen der Freiheit Anderer nicht überschreiten, und folglich das kantische „universalistische Kompatibilitätskriterium des rechtmäßigen Freiheitsgebrauchs“313 erfüllen, fallen sie in die absolut geschützte Sphäre individueller Freiheit; und da jede selbstbetreffende Handlung des mündigen Individuums sich in diesem Rahmen bewegt, ist der Staat nicht befugt, es mit rechtlichen Mitteln vor sich selbst zu schützen314. Kant bestätigt dies mit seiner 306 Siehe Kant, Immanuel, Die Metaphysik der Sitten, S. 337, und ders., Über den Gemeinspruch, S. 40: „Recht ist die Einschränkung der Freiheit eines jeden auf die Bedingung ihrer Zusammenstimmung mit der Freiheit von jedermann, insofern diese nach einem allgemeinen Gesetze möglich ist“. 307 Vgl. Hillgruber, Christian, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, S. 24 m.w.N. 308 Siehe die Bestimmung Kants in: Über den Gemeinspruch, S. 40. 309 Ebd. S. 41. 310 Ebd. S. 41. 311 Vgl. Kersting, Wolfgang, Wohlgeordnete Freiheit, S. 285; vgl. auch Gutmann, Thomas, Freiwilligkeit als Rechtsbegriff, S. 55. 312 Vgl. Gutmann, Thomas, Paternalismus – eine Tradition deutschen Rechtsdenkens?, S. 165. 313 Ebd. S. 165. 314 Ebd. S. 165 m.w.N.
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B. Die Thematisierung der Paternalismusproblematik
möglicherweise bekanntesten Äußerung gegen den staatlichen Paternalismus: „Eine Regierung, die auf dem Prinzip des Wohlwollens gegen das Volk als eines Vaters gegen seine Kinder errichtet wäre, d. i. eine väterliche Regierung (imperium paternale), wo also die Untertanen als unmündige Kinder, die nicht unterscheiden können, was ihnen wahrhaftig nützlich oder schädlich ist, sich bloß passiv zu verhalten genötigt sind, um, wie sie glückselig sein sollen, bloß von dem Urteile des Staatsoberhaupts, und, dass dieser es auch wolle, bloß von seiner Gütigkeit zu erwarten: ist der größte denkbare Despotismus“315. Kant erkennt zwar in seinem Werk, dass der Mensch sich selbst gegenüber bestimmte Pflichten hat, welche als Begehungs- und Unterlassungspflichten einzustufen sind316 ; demzufolge ist der Einzelne einerseits zur moralischen Vervollkommnung seiner Person geboten (positive Pflicht) und andererseits zur Erhaltung seiner biologischen Natur durch die Unterlassung selbstschädigender Handlungen gehalten (negative Pflicht)317. Allerdings gehören diese Obliegenheiten nach Kant zu den Tugendpflichten des Menschen318, und aus diesem Grund ist es nicht möglich, ihre Einhaltung mittels paternalistischer Normen zu erzwingen319, da der Wirkungsbereich des Rechts sich ausschließlich auf die Regelung der äußeren Verhältnisse der Menschen zu einander erstreckt320. Die Befugnis zu zwingen bleibt also dem Staat nur für den Fall der Kollision der individuellen Freiheitssphären bewahrt, wenn etwa durch den unzulässigen Freiheitsgebrauch eines Bürgers die Belange eines Anderen beeinträchtigt werden321. Allein in diesem Zusammenhang steht es dem Staat zu, regulatorisch einzugreifen, um die „Kompatibilität“ der Interessen der Individuen zu garantieren. Die Auferlegung paternalistischer Normen wäre daher auch deswegen unerlaubt, da der staatliche Zwang in diesem Fall zu anderen Zwecken als zur Sicherung der bürgerlichen Freiheit ge315
Vgl. Kant, Immanuel, Über den Gemeinspruch, S. 41. Vgl. Kant, Immanuel, Die Metaphysik der Sitten, S. 551. 317 Ebd. S. 551 und 552: „Der erstere Grundsatz der Pflicht gegen sich selbst liegt in dem Spruch: lebe der Natur gemäß (naturae convenienter vive), d.i. erhalte dich in der Vollkommenheit deiner Natur [Pflicht zur Erhaltung der biologischen Natur], der zweite in dem Satz: mache dich vollkommner, als die bloße Natur dich schuf (perfice te ut finem; perfice te ut medium) [Pflicht zur moralischen Vervollkommnung]“; vgl. auch Gutmann, Thomas, Paternalismus – eine Tradition deutschen Rechtsdenkens?, S. 164 m.w.N. 318 Vgl. Kant, Immanuel, Die Metaphysik der Sitten, S. 551. 319 Vgl. Gutmann, Thomas, Paternalismus – eine Tradition deutschen Rechtsdenkens?, S. 164 f. 320 Vgl. Kant, Immanuel, Die Metaphysik der Sitten, S. 337; ders., Über den Gemeinspruch, S. 40. 321 Vgl. Gutmann, Thomas, Freiwilligkeit als Rechtsbegriff, S. 56 f., und ders., Paternalismus – eine Tradition deutschen Rechtsdenkens?, S. 166; vgl. auch Kant, Immanuel, Die Metaphysik der Sitten, S. 338 f.: „[…] wenn ein gewisser Gebrauch der Freiheit selbst ein Hindernis der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen (d. i. unrecht) ist, so ist der Zwang, der diesem entgegengesetzt wird, als Verhinderung eines Hindernisses der Freiheit mit der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammen stimmend, d. i. recht“. 316
VI. Der fundamentale Antipaternalismus des jüngeren deutschen Naturrechts
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braucht wird. Auf einer derartigen, freiheitsmissachtenden Zielsetzung darf keine Norm – weder eine juristische, noch eine moralische – beruhen322. Der Mensch muss darüber hinaus nach dem kategorischen Imperativ immer Zweck an sich sein und darf nie als Mittel zur Erfüllung fremdbestimmter perfektionistischer Weltanschauungen oder gar zur Förderung der gesellschaftlichen Glückseligkeit benutzt werden323. Daher ist jede staatliche Einmischung in primär selbstbetreffenden Gebrauch der persönlichen Freiheit des Bürgers sowie der Versuch der Regulierung des menschlichen Verhaltens mittels paternalistischer Gesetze „bereits begrifflich und notwendig Unrecht“324. Die Philosophie Immanuel Kants wendet sich demnach polemisch gegen die ältere Naturrechtsdoktrin und geht von der Forderung der selbstbestimmten Führung des eigenen Lebens aus325. Der Zustand der Heteronomie kann die Gründung eines freiheitlichen Staates nicht garantieren326, und die Fremdbestimmung wird in dieser Hinsicht als die Grundlage jedes unsittlichen Verhaltens betrachtet327. Das Glückseligkeitsideal – das Credo der paternalistischen Staatsdoktrin – ist nach Kant kein geeigneter Grundsatz zur Gesetzesbildung, denn die erste und oberste Aufgabe des Rechts besteht darin, die Sicherung der Freiheitssphären der Bürger zu gewährleisten328. Der Begriff des Rechts selbst geht aus dem Begriff der Freiheit in den äußeren Verhältnissen der Menschen zueinander hervor und hat – wie Kant charakteristisch postuliert – nicht mit der Suche der individuellen Vervollkommnung zu tun, so dass die Glückseligkeit im Endeffekt nie die Grundlage für die Erlassung von Gesetzen sein könnte329. Infolgedessen kann der Staat höchstens von den Individuen verlangen, gute Bürger zu werden: „ob jemand auch ein moralisch guter Mensch sei, ist […] vom Ge-
322
Vgl. Lisser, Kurt, Der Begriff des Rechts bei Kant, S. 12. Ebd. S. 8 f. m.w.N. auf den kantischen kategorischen Imperativ (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 61); vgl. auch den Zweck der Strafe – welche die notwendige Komponente zur Durchsetzung jeder paternalistischen Norm ist – bei Kant (Metaphysik der Sitten, S. 453). 324 Vgl. Gutmann, Thomas, Paternalismus – eine Tradition deutschen Rechtsdenkens?, S. 166. 325 Vgl. Hillgruber, Christian, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, S. 25. 326 Vgl. Kirste, Stephan, Idealismus und Paternalismus, in: Paternalismus und Recht, S. 35: „Mag ein solcher [heteronomer] Zustand [den Bürgern] ,behaglicher und erwünschter sein, ein rechtlicher Zustand, nach dem sich die Stellung der Bürger aus Freiheitsgesetzen ergibt, ist es nicht.“ 327 Vgl. Höffe, Otfried, Immanuel Kant, S. 197 m.w.N.; vgl. auch Kant, Immanuel, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 75 f. 328 Vgl. Kant, Immanuel, Über den Gemeinspruch, S. 50 und insb. 57 wo die Meinung Kants über die Glückseligkeit eindrucksvoll zu finden ist: „Was ein Volk über sich selbst nicht beschließen kann, das kann der Gesetzgeber auch nicht über das Volk beschließen“; vgl. auch ders., Die Metaphysik der Sitten, S. 591: „Ich kann niemand nach meinen Begriffen von Glückseligkeit wohl tun […] sondern nach jenes seinen Begriffen, dem ich eine Wohltat zu erweisen denke, indem ich ihm ein Geschenk aufdringe“. 329 Vgl. Kant, Immanuel, Über den Gemeinspruch, S. 40. 323
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B. Die Thematisierung der Paternalismusproblematik
sichtspunkt des Staates aus völlig gleichgültig“330. Kant verteidigt also das Recht des Einzelnen, das eigene Glück mit eigenen Mitteln zu suchen331 und vertritt im Rahmen seiner Philosophie eine paternalismusresistente Rechtsauffassung, welche die Verfügungsgewalt des Einzelnen über die eigenen Angelegenheiten garantiert332. Einen ähnlichen, stark antipaternalistischen Charakter weist ebenfalls das Werk eines weiteren großen Philosophen des jüngeren deutschen Naturrechts auf, dessen kritische Haltung gegen das herrschende absolutistische System von der kantischen Lehre inspiriert ist333. Dieser Theoretiker war Wilhelm von Humboldt, der im Jahr 1792 mit seinen „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen“ sowohl den richtigen Zweck der ganzen Staatseinrichtung, als auch die legitimen Schranken ihrer gesetzgebenden Willkür zu erschließen suchte334. Humboldt stellt den Menschen und dessen Natur in den Mittelpunkt seiner politischen Theorie und postuliert schon am Anfang seiner Untersuchung, dass jede Auseinandersetzung mit der Form und Legitimationsgrundlage der etablierten Ordnung ohnehin von der Betrachtung des einzelnen Menschen und der Erkundung seines höchsten Endzwecks im Leben ausgehen muss335. Unter diesem Blickpunkt birgt jede Person nach Humboldt ein ideales, geistiges Wesen in sich, welches als der Kern ihres Daseins verstanden werden sollte336. Wenn der Mensch der Träger eines „höheren“ Potentials ist, dann kann auch seine erste Pflicht und eigentlicher Endzweck kein anderer sein, als diese „ursprüngliche Form […] mittels fortwährender harmonischer Entwicklung aller Kräfte“337 möglichst zum Ausdruck zu bringen. Humboldt drückt dementsprechend diese Forderung in seinem Werk in der Form eines Grundsatzes aus: „Der wahre Zweck des Menschen – nicht der, welchen die wechselnde Neigung, sondern welchen die ewig unveränderliche Vernunft ihm vorschreibt – ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen“338. Obwohl diese Aussage aus erster Sicht das Glückseligkeitsideal zu unterstützen scheint, ist jede wohlfahrtsstaatliche Interpretation auszuschließen, denn nach der Ansicht Humboldts kann eine derartige Fortentwicklung nur durch individuelles und vor allem eigenverantwortliches Bemühen jeder einzelnen Person sowie durch 330
Vgl. Lisser, Kurt, Der Begriff des Rechts bei Kant, S. 40. Vgl. Hillgruber, Christian, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, S. 20 f. 332 Vgl. Gutmann, Thomas, Paternalismus – eine Tradition deutschen Rechtsdenkens?, S. 167. 333 Ebd. S. 170; vgl. auch Murmann, Uwe, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, S. 61 m.w.N. 334 Vgl. Humboldt, Wilhelm von, Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen, Kap. I, S. 13. 335 Ebd. Kap. I, S. 19 – 20. 336 Vgl. Spitta, Dietrich, Die Staatsidee Wilhelm von Humboldts, S. 65. 337 Ebd. S. 66. 338 Vgl. Humboldt, Wilhelm von, a.a.O. (Fn. 334), Kap. II, S. 21. 331
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die selbstbestimmte Verfolgung des eigenen Lebensplans erreicht werden339. Deswegen ist für den Menschen das Vorhandensein eines Raums freier Handhabung unerlässlich, denn nur durch die Existenz persönlicher Freiheit kann eine derartige Entwicklung überhaupt stattfinden340. Die Ausübung dieser Freiheit muss allerdings nach Humboldt innerhalb einer entsprechend offenen und vielfältigen sozialen Umgebung stattfinden, denn nur in diesen Rahmen kann der Mensch die bewusste und verantwortungsvolle Wahrnehmung seines prinzipiellen Rechts erlernen; die Abwesenheit dieser „Mannigfaltigkeit“ kann nur zu einer „minderen“ Bildung des Individuums führen341. Der Mensch ist also dazu bestimmt, durch die Nutzung seiner Freiheit in unterschiedlichen Lebenssituationen sich selbst zu einem Ganzen zu bilden. Der Zusammenschluss zu einer staatlichen Gemeinschaft könnte daher nach Humboldt keinen wichtigeren Beweggrund haben, als die Realisierung des obersten Ziels der menschlichen Natur zu ermöglichen. Deswegen müssen auch die Grenzen der staatlichen Wirksamkeit so gesetzt werden, dass diese mit der Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit im Einklang ist342. Der eigentliche Zweck der staatlichen Vereinigung ergibt sich also aus dem Endziel des Menschen und – vor allem – aus den zu seiner Verwirklichung notwendigen Voraussetzungen343. Unter diesem Aspekt kann die vom älteren Naturrecht vertretene Sorge um das „positive Wohl“ des Individuums – welches nach Humboldt das Bemühen um die Erhaltung und Förderung des physischen und moralischen Wohls des Menschen umfasst –344 keine legitime Orientierungsbasis für die staatliche Tätigkeit mehr liefern. Humboldt wendet sich direkt gegen jede staatliche Maßnahme, die auf das physische Wohlbefinden der Bürger abzweckt, weil dadurch die Einförmigkeit und die Unselbstständigkeit – das Gegenteil also zur Lebensvielfalt und Freiheit der Wahl – be-
339
Vgl. Spitta, Dietrich, a.a.O. (Fn. 336), S. 66. Ebd. S. 68; vgl. auch die eindrucksvolle Aussage Humboldts, (a.a.O. Fn. 334), S. 21: „Zu dieser Bildung [damit ist die Erreichung des Endzwecks gemeint] ist Freiheit die erste und unerlässliche Bedingung“. 341 Siehe Humboldt, Wilhelm von, a.a.O. (Fn. 334), Kap. II, S. 21: „Allein außer Freiheit erfordert die Entwicklung der menschlichen Kräfte noch etwas anderes, obgleich mit der Freiheit eng Verbundenes, – Mannigfaltigkeit der Situationen. Auch der freieste und unabhängigste Mensch, in einförmige Lagen versetzt, bildet sich minder aus“. 342 Vgl. Spitta, Dietrich, a.a.O. (Fn. 336), S. 77; vgl. auch Kirste, Stephan, Idealismus und Paternalismus, in: Paternalismus und Recht, S. 50 m.w.N. 343 Vgl. Spitta, Dietrich, a.a.O. (Fn. 336), S. 73 und 77. 344 Siehe dazu Spitta, Dietrich, Wilhelm von Humboldts Ideen von den Grenzen der Wirksamkeit des Staates, S. 63; vgl. auch Humboldt, Wilhelm von, Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen, Kap. III, S. 26: „Der Zweck des Staats kann nämlich ein doppelter sein: er kann Glück befördern oder nur Übel verhindern wollen […]. Schränkt er sich auf das letztere ein, so sucht er nur Sicherheit, und diese Sicherheit sei es mir erlaubt, einmal allen übrigen möglichen Zwecken, unter dem Namen des positiven Wohlstandes vereint, entgegenzusetzen“ (Hervorhebung durch den Verfasser). 340
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günstigt werden345 : „Das Glück“, schreibt Humboldt, „zu welchem der Mensch bestimmt ist, ist auch kein andres, als welches seine Kraft ihm verschafft“346 denn „allein […] Freiheit [ist] die notwendige Bedingung, ohne welche selbst das seelenvollste Geschäft keine heilsamen Wirkungen […] hervorzubringen vermag. Was nicht von dem Menschen selbst gewählt [wird], das geht nicht in sein Wesen über, das bleibt ihm ewig fremd“347. Die gleiche Ansicht vertritt Humboldt auch für die Sorge um das moralische Wohl – mithin der Glückseligkeit – der Menschen, und lehnt das eudämonistische Staatsverständnis völlig ab348. Der Bereich der Sitten und der Moral müssen außerhalb der Staatsbefugnisse bleiben: „[…] der Staat [muss] sich schlechterdings alles Bestrebens [der Möglichkeit], direkt oder indirekt auf die Sitten und den Charakter der Nation […] zu wirken […], gänzlich enthalten, und […] alles, was diese Absicht befördern kann, vorzüglich alle besondre Aufsicht auf Erziehung, Religionsanstalten, Luxusgesetze u.s.f. [muss] schlechterdings außerhalb der Schranken seiner Wirksamkeit [liegen]“349. Humboldt lehnt einen gesetzlichen Zwang zur Sittenbesserung eindeutig ab350. Nach der Prüfung und endgültigen Verwerfung des positiven Wohls als Beweggrunds staatlicher Tätigkeit weist Humboldt auf die Verhinderung von „Übeln“ natürlicher oder menschlicher Herkunft als den angemessenen Zweck des Staates hin351. Die Sorgfalt des Gemeinwesens ist demnach ausschließlich auf die Bewahrung der Sicherheit – mithin des negativen Wohls – gegen Beeinträchtigungen durch äußere Feinden oder andere Mitbürger zu richten352. Auf keiner anderen Grundlage darf die Freiheit des Einzelnen eingeschränkt werden, als um diesen obersten Zweck zu erzie-
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Vgl. Spitta, Dietrich, Die Staatsidee Wilhelm von Humboldts, S. 77 f. m.w.N., für eine ausführliche Analyse der Argumentation Humboldts über die negativen Wirkungen der staatlichen Sorge um das physische Wohl der Bürger. 346 Siehe, Humboldt, Wilhelm von, Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen, Kap. III, S. 31. 347 Ebd. Kap. III, S. 33. 348 Vgl. Hillgruber, Christian, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, S. 46 m.w.N. 349 Siehe, Humboldt, Wilhelm von, Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen, Kap. VIII, S. 95 f. 350 Vgl. Murmann, Uwe, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, S. 61 f. m.w.N. 351 Humboldt, a.a.O. (Fn. 334), Kap. III, S. 26, hat den Schutz vor Übeln schon am Anfang des dritten Kapitels seiner „Ideen“ als einen der beiden möglichen Staatszwecke bezeichnet: „Der Zweck des Staates kann nämlich ein doppelter sein: er kann Glück befördern oder nur Übel verhindern wollen, und im letzteren Fall Übel der Natur oder Übel der Menschen“ (Hervorhebung durch den Verfasser). 352 Ebd. Kap. IV, S. 50: „Ich glaube […], dass die Erhaltung der Sicherheit sowohl gegen auswärtige Feinde als innerliche Zwistigkeiten den Zweck des Staats ausmachen und seine Wirksamkeit beschäftigen muß“; vgl. auch Kap. X, S. 105: „Der Staat soll nämlich auf keine Weise für das positive Wohl der Bürger sorgen, daher auch nicht für ihr Leben und ihre Gesundheit […] aber wohl für ihre Sicherheit“.
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len353 und jeder Eingriff des Staates, der nicht von einer unerlaubten Verletzung der Interessen der Bürger hervorgerufen wird, ist illegitim354. In diesen Rahmen wird dem Menschen der erforderliche Schutz gewährt, um seine Freiheit konstruktiv nutzen zu können sowie den individuell gewählten Endzweck zu verfolgen. Solange der Betroffene bei der Wahrnehmung dieses Rechts ausreichend autonom handelt, muss der Staat seine Entscheidungen respektieren und darf ihm keine fremden Zielsetzungen auferlegen, selbst wenn die getroffenen Entscheidungen für die Interessen des Betroffenen auf Grund der Einschaltung Dritter sich im Endeffekt negativ auswirken werden355. Dieser Grundsatz sieht jedoch eine Ausnahme für den Fall vor, dass die Menschen nicht „im völligen Gebrauch ihrer gereiften Verstandeskräfte sind“356. In dieser Situation ist der Staat befugt, schützend und fördernd einzuschreiten, und die jeweils zur Betreuung des Unmündigen oder psychisch Kranken bestellten Individuen zu überwachen, um einem eventuellen Missbrauch ihrer Position vorzubeugen; dies soll allerdings auf keinen Fall eine mittelbare Auferlegung der jeweils geltenden staatlichen „Wohlfahrtspolitik“ begünstigen357. Die Freiheit und ihre Erhaltung spielen also für Humboldt eine konstitutive Rolle sowohl für die individuelle Entwicklung als auch für die Gründung der staatlichen Gemeinschaft insgesamt. Im Gegensatz zu Kant, der die individuellen Rechte vor dem staatlichen Eingriff durch das System der Ethik geschützt sehen will, sind für Humboldt der Mensch und seine Natur der Ausgangspunkt seiner gesamten Betrachtung. Er erwidert den Gegnern einer ungehemmten individuellen Entfaltung des menschlichen Charakters, dass selbst „die wahre Vernunft dem Menschen keinen andern Zustand als einen solchen wünschen kann, in welchem nicht nur jeder Einzelne der ungebundensten Freiheit genießt, sich aus sich selbst, in seiner Eigentümlichkeit zu entwickeln, sondern in welchem auch die physische Natur keine andere Gestalt von Menschenhänden empfängt, als ihr jeder Einzelne, nach dem Maße seines Bedürfnisses und seiner Neigung, nur beschränkt durch die Grenzen seiner Kraft und seines Rechts, selbst und willkürlich gibt“358. Für Humboldt ist das höchste Ideal
353 Ebd. Kap. III, S. 44: „[…] der Staat enthalte sich aller Sorgfalt für den positiven Wohlstand der Bürger, und gehe keinen Schritt weiter, als zu ihrer Sicherstellung gegen sich selbst und gegen auswärtige Feinde notwendig ist; zu keinem andren Endzwecke beschränke er ihre Freiheit“ (Hervorhebung durch den Verfasser). 354 Ebd. S. III, S. 26; Humboldt hält es für ein verwerfliches Bemühen des Staates, „sich in die Privatangelegenheiten der Bürger überall da einzumischen, wo dieselben nicht unmittelbaren Bezug auf die Kränkung der Rechte des einen durch den andern haben“. 355 Vgl. Gutmann, Thomas, Paternalismus – eine Tradition deutschen Rechtsdenkens?, S. 170 m.w.N. 356 Siehe Humboldt, Wilhelm von, a.a.O. (Fn. 334), Kap. XIV, S. 147. 357 Vgl. Kirste, Stephan, Idealismus und Paternalismus, in: Paternalismus und Recht, S. 50 m.w.N. 358 Siehe Humboldt, Wilhelm von, a.a.O. (Fn. 334), Kap. II, S. 25.
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des Zusammenlebens die Entwicklung aus und für sich selbst359. Der Staat hat ausschließlich für die Gestaltung einer sicheren sozialen Umgebung zu sorgen, welche für die Erreichung dieses Endziels unerlässlich ist. Die Fürsorge für das positive Wohl kann in der politischen Theorie Humboldts nur dann Anwendung finden, wenn die Bürger selbst über die erforderlichen Reife zur Förderung ihrer eigenen Interessen nicht verfügen. Das gesamte achtzehnte Jahrhundert kann zusammenfassend als Meilenstein in der Theorie des politischen Denkens gelten. Der im deutschen Kulturraum bis zum damaligen Zeitpunkt verbreiteten Staatslehre des aufgeklärten Absolutismus treten nun mehrere Stimmen entgegen, welche für eine individuumszentrierte Betrachtung des „gemeinen Wesens“ argumentieren. Den dem älteren Naturrecht zugehörigen Konzeptionen des status naturalis und der jura connata wird nun angesichts der neuen Zielsetzung in der politischen Theorie ein menschenrechtsfördernder Sinngehalt beigemessen. Dadurch wird das Individuum im Staat mit unveräußerlichen Rechten ausgestattet, welche gegenüber der Willkür des Oberhaupts und seiner Sicherheitsorgane resistent sind. Mit den Werken Kants, Humboldts und anderer bedeutsamer Philosophen des Zeitraums wird der Staatszweck des aufgeklärten Absolutismus einer heftigen Kritik unterzogen, während die Grundlagen eines liberalen Staatsverständnisses Gestalt und Wesen bekommen. Der Bürger als verbesserungsfähiges Subjekt soll selbst für seine Entfaltung sorgen und wird dafür mit einem festen Kern von Rechten versehen. Der Staat muss sich von diesem Entwicklungsprozess fernhalten, denn seine Aufgabe besteht lediglich darin, die harmonische Koexistenz der individuellen Freiheitssphären abzusichern. Die Einmischung des Oberhaupts zum Schutze des Menschen vor sich selbst und die Auferlegung einer fremdbestimmten Lebensplanung werden unter diesem Blickpunkt ausgeschlossen.
VII. Die Bestimmung der legitimen Grenzen der staatlichen Tätigkeit in der postaufklärerischen Zeit – Die Grundlegung des modernen antipaternalistischen Denkens in der liberalen Doktrin John Stuart Mills Die Auseinandersetzung mit der Frage der Zulässigkeit von stark paternalistischen Zügen in der Gestaltung und Funktion der staatlichen Gemeinschaft hat sich auch im neunzehnten Jahrhundert fortgesetzt. Das Herz der antipaternalistischen Lehre schlägt allerdings nicht mehr in Mitteleuropa. Denn im Jahr 1859 erschien im angelsächsischen Raum der Aufsatz „On liberty“ (Über die Freiheit) aus der Feder eines der wichtigsten politischen Philosophen der jüngeren Zeit. Dieser Denker war John Stuart Mill, der mit seiner liberalen Lehre einen gravierenden Beitrag auf dem Weg der Überwindung der paternalistischen Staatsorganisation geleistet hat und dessen Ideen 359 Vgl. Kirste, Stephan, Idealismus und Paternalismus, in: Paternalismus und Recht, S. 49 m.w.N.; vgl. auch Humboldt, Wilhelm von, a.a.O. (Fn. 334), Kap. II, S. 24.
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die einschlägigen Diskussionen und Abhandlungen der politischen Theorie bis zum heutigen Zeitpunkt entscheidend beeinflusst haben360. In seinem Hauptwerk „On Liberty“, welches an mehreren Stellen von der Lehre Humboldts stark beeinflusst ist361, befasst sich Mill mit der persönlichen und gesellschaftlichen Freiheit des Individuums im Rahmen des Staates sowie mit der Entwicklung von Kriterien, um die legitimen Grenzen der Macht der Gesellschaft über den Einzelnen zu bestimmen362. Dies ist laut Mill ein Problembereich, der die Menschheit schon seit ihren frühesten Entwicklungsstadien beschäftigt hat; in Anbetracht jedoch der großen gesellschaftlichen Änderungen der Epoche stellt sich nunmehr dieser Problembereich in einer völlig neuen Form dar und bedarf folglich einer fundierten Betrachtung363. Denn im Gegensatz zu seinen philosophischen Vorläufern, welche lediglich die Frage nach den Schranken der individuellen Freiheit als ein Problem der Grenzenziehung zwischen den Belangen der Untertanen einerseits und den Eingriffsbefugnissen des Oberhaupts innerhalb eines absolutistischen Staates andererseits betrachtet haben, ist für Mill diese Thematik nunmehr im Rahmen der demokratischen Staatsordnung anzusehen, ein politisches System, welches sich erst zum damaligen Zeitpunkt im europäischen Raum allmählich verbreitete364 ; das Problem liegt folglich nach Mill in seinem Zeitalter nicht mehr im Schutz der Freiheit vor der tyrannischen Regierung eines Monarchen – da dieser Punkt mit der Anerkennung von politischen Rechten im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert (zumindest in England, Frankreich und Nordamerika) schon überwunden wurde365 –, sondern in der Bekämpfung des 360
Vgl. Möller, Kai, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, S. 31. Mill selbst verweist an mehreren Stellen seines Werks auf Thesen und Gedanken Humboldts. Vgl. dazu Petersen, Jens, Wilhelm von Humboldts Rechtsphilosophie, S. 210 ff. 362 Vgl. Rawls, John, Lectures on the history of political Philosophy, S. 284; vgl. auch Möller, Kai, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, S. 31. Siehe auch Mill, John Stuart, On liberty, S. 59: „The subject of this essay is not the so – called ,liberty of the will […] but civil, or social liberty: the nature and limits of the power which can be legitimately exercised by society over the individual“. 363 Siehe Mill, John Stuart, On liberty, S. 59. „[This subject] is so far from being new, that in a certain sense, it has divided mankind almost from the remotest ages; but in the stage of progress into which the more civilized portions of the species have now entered, it presents itself under new conditions and requires a different and more fundamental treatment“; vgl. auch dazu Rawls, John, Lectures on the history of political Philosophy, S. 284. 364 Vgl. zum Ganzen Rawls, John, Lectures on the history of political Philosophy, S. 284; siehe auch Mill, John Stuart, On liberty, S. 59: „But in old times this contest [gemeint wird der Kampf um die Grenzen der persönlichen Freiheit] was between subjects, or some classes of subjects, and the government. By liberty was meant protection against the tyranny of the political rulers“, und S. 60: „A time, however, came, in the progress of human affairs, when men ceased to think it a necessity of nature that their governors should be an independent power opposed in interest to themselves. It appeared to them much better that the various magistrates of the state should be their tenants or delegates, revocable at their pleasure.“ 365 Vgl. Rawls, John, Lectures on the history of political Philosophy, S. 284; siehe auch Mill, John Stuart, On liberty, S. 60: „The aim, therefore, of patriots [im Rahmen einer absolutistischen Regierung] was to set limits to the power which the ruler should be suffered to exercise over the community; and this limitation was what they meant by liberty. It was attempted in two 361
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Missbrauchs der demokratischen Macht durch die regierende Mehrheit zu Lasten der Minderheit, ein Phänomen, das Mill zutreffend als die „Tyrannei der Mehrheit“ bezeichnet366. Mill sieht in der demokratischen Regierungsform tatsächlich eine mögliche Gefahr für die persönliche Freiheit, sowohl auf Grund der zum damaligen Zeitpunkt „besonders ausgeprägten Orthodoxie des Denkens in Fragen der Moral“, als auch wegen der Einförmigkeit des Lebens, welche die industrielle Revolution mit sich brachte367. Er glaubte des Weiteren nicht an die „selbstregulierenden Kräfte des politischen und wirtschaftlichen Lebens“368 als eventuelle Lösung. Mill wies zusätzlich auf die Tatsache hin, dass in einer Demokratie die Freiheit des Einzelnen nicht nur von den ungerechten Gesetzen der regierenden tyrannischen Mehrheit unterdrückt werden kann, sondern auch von indirekten und subtilen Eingriffsarten gesellschaftlicher Herkunft, die er unter dem Begriff „social tyranny“369 (soziale Tyrannei) subsumiert. Die Letztere beruht auf Anschauungen und Präferenzen, die im gesellschaftlichen Ganzen370 sich durchgesetzt haben, und umfasst solche „Druckmechanismen“, wie denjenigen der „herrschenden sozialen Meinung“ oder des „allgemeinen Gefühls“, welche in ihrer Anwendung einen ebenso effektiven Zwang auf das Verhalten des Menschen bewirken können wie ein staatliches Verbot. Dies beweist laut Mill eindeutig, dass innerhalb eines wahrhaft freien Staates Schutzmaßnahmen auch gegen solche Eingriffe ergriffen werden müssten371. ways. First, by obtaining a recognition of certain immunities, called political rights […]. A second, and generally a later, expedient was the establishment of constitutional checks […]“. 366 Vgl. Rawls, John, Lectures on the history of political Philosophy, S. 284; siehe auch Mill, John Stuart, On liberty, S. 62: „The will of the people […] practically means the will of the most numerous or the most active part of the people – the majority, or those who succeed in making themselves accepted as the majority; the people, consequently, may desire to oppress a part of their number, and precautions are as much needed against this as against any other abuse of power. The limitation, therefore, of the power of government over individuals loses none of its importance when the holders of power are regularly accountable to the community, that is, to the strongest party therein […]; and in political speculations ,tyranny of the majority is now generally included among the evils against which society requires to be on its guard“. 367 Vgl. dazu Schumacher, Ralph, John Stuart Mill, S. 135 f. m.w.N. 368 Ebd. S. 135. 369 Siehe Mill, John Stuart, On liberty, S. 63; vgl. auch Schumacher, Ralph, John Stuart Mill, S. 138. 370 Siehe Mill, John Stuart, On liberty, S. 63: „The practical principle […] on the regulation of human conduct is the feeling in each persons mind that everybody should be required to act as he, and those with whom he sympathizes, would like them to act. No one, indeed, acknowledges to himself that his standard of judgement is his own liking“. 371 Siehe Mill, John Stuart, On liberty, S. 63: „Like other tyrannies, the tyranny of the majority was at first and is still vulgarly, held in dread, chiefly as operating through the acts of the public authorities. But reflecting persons perceived that when society is itself the tyrant – society collectively over the separate individuals who compose it – its means of tyrannizing are not restricted to the acts which it may do by the hands of its political functionaries. Society can and does execute its own mandates; and if it issues wrong mandates instead of right, or any mandates at all in things with which it ought not to meddle, it practises a social tyranny more
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Es ist infolgedessen nach Mill angebracht, eine angemessene Grenze zwischen der „individuellen Freiheit und der sozialen Kontrolle“372 zu ziehen, um denjenigen Bereich menschlicher Tätigkeit zu präzisieren, welcher den Interventionen der öffentlichen Gewalt rechtlicher oder moralischer Art nicht unterliegt, so dass die Belange der Bürger vor den „unbegründeten Präferenzen der Gesellschaft“, oder jedenfalls „ihres herrschenden Anteils“373, im Ergebnis effektiv geschützt werden können. Zu diesem Zweck entwickelt Mill sein berühmtes Freiheitsprinzip – auch als „harm principle“ (Schadensprinzip) bekannt374 –, welches die Grundlage seiner antipaternalistischen liberalen Doktrin bildet. Dieses Prinzip bestimmt, „that the sole end for which mankind are warranted, individually or collectively, in interfering with the liberty of action of any of their number is self-protection. That the only purpose for which power can be rightfully exercised over any member of a civilized community, against his will, is to prevent harm to others. His own good, either physical or moral, is not a sufficient warrant. He cannot rightfully be compelled to do or forbear because it will make him happier, because, in the opinions of others, to do so would be wise or even right. These are good reasons for remonstrating with him, or reasoning with him, or persuading him, or entreating him, but not for compelling him or visiting him with any evil in case he do otherwise. To justify that, the conduct from which it is desired to deter him must be calculated to produce evil to someone else. The only part of the conduct of anyone for which he is amenable to society is that which concerns others. In the part which merely concerns himself, his independence is, of right, absolute. Over himself, over his own body and mind, the individual is sovereign“375.
Der Anwendungsbereich des Freiheitsprinzips erstreckt sich jedoch nach Mill ausschließlich auf mündige Individuen; bei Minderjährigen und unmündigen Erwachsenen darf die Gesellschaft dagegen mit angemessenen Maßnahmen zur Förderung
formidable than many kinds of political oppression since […] it leaves fewer means of escape, penetrating much more deeply into the details of life, and enslaving the soul itself. Protection, therefore, against the tyranny of the magistrate is not enough; there needs protection also against the tyranny of the prevailing opinion and feeling, against the tendency of society to impose, by other means than civil penalties, its own ideas and practices as rules of conduct on those who dissent from them; to fetter the development and, if possible, prevent the formation of any individuality not in harmony with its ways, and compel all characters to fashion themselves upon the model of its own“; und Mill folgert: „There is a limit to the legitimate interference of collective opinion with individual independence; and to find that limit, and maintain it against encroachment, is as indispensable to a good condition of human affairs as protection against political despotism“; vgl. auch Rawls, John, Lectures on the history of political Philosophy, S. 284 – 285 m.w.N.; vgl. Schumacher, Ralph, John Stuart Mill, S. 138. 372 Vgl. Rawls, John, Lectures on the history of political Philosophy, S. 285; Wasmus, Henning, Ethik und gesellschaftliche Ordnungstheorie, S. 33 m.w.N.; siehe auch Mill, John Stuart, On liberty, S. 63: „[…] to make the fitting adjustment between individual independence and social control“. 373 Vgl. Rawls, John, Lectures on the history of political Philosophy, S. 286. 374 Vgl. z. B. Möller, Kai, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, S. 31. 375 Siehe Mill, John Stuart, On liberty, S. 68 – 69.
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ihres Wohlbefindens einschreiten376. Ein derartiger, weich-paternalistischer Eingriff ist nicht nur erwünscht, sondern dringend geboten. Solange jedoch in allen übrigen Fällen das Verhalten des Einzelnen seine Pflichten gegen die Anderen nicht positiv verletzt, ist der Träger der öffentlichen Gewalt nicht befugt, der Freiheit des Ersteren Grenzen zu setzen; denn ein Eingriff ist ausschließlich zur Sicherung der Belange der Bürger vor unzulässigen Beeinträchtigungen vorzusehen377, und eine derartige unzulässige Verletzung geschieht nach Mill nur dann, wenn die Handlungen eines Subjekts die berechtigten Interessen eines Anderen benachteiligen, das heißt diejenigen, die jedem durch explizite gesetzliche Regelungen oder andere Konventionen als solche zuerkannt werden378. Das Schadensprinzip ist also nichts Anderes als ein Leitfaden für die Beurteilung der Zulässigkeit staatlicher Interventionen im privaten Handlungsraum. Anhand dieser praktischen Richtschnur kann folglich ein Bereich individueller Freiheiten umgrenzt werden, die „unter gar keinen Umständen“ von der staatlichen Kontrolle angetastet werden dürfen379, da sie dem Freiheitsprinzip konform sind und ausschließlich der Selbstentfaltung des Individuums dienen. Mill räumt auf diese Weise dem Einzelnen einen „Freiheitskern“ ein, der sowohl in „äußeren politischen“ als auch 376
Vgl. Rawls, John, Lectures on the history of political Philosophy, S. 289; Schumacher, Ralph, John Stuart Mill, S. 141; Möller, Kai, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, S. 35. Diese ist darüber hinaus auch die philosophische Basis für die Zulässigkeit von weich paternalistischen Interventionen. Siehe auch Mill, John Stuart, On liberty, S. 69: „It is, perhaps, hardly necessary to say that this doctrine is meant to apply only to human beings in the maturity of their faculties. We are not speaking of children or of young persons below the age which the law may fix as that of manhood or womanhood. Those who are still in a state to require being taken care of by others must be protected against their own actions as well as against external injury“; Mill betont des Weiteren, dass sein Prinzip auch bei „unzivilisierten Gesellschaften“ keine Anwendung finden kann, da dort ein absolutistisches Regierungssystem dem Wohl der Menschen besser dienen könne: „Despotism is a legitimate mode of government in dealing with barbarians, provided the end be their improvement and the means justified by actually effecting that end. Liberty, as a principle, has no application to any state of things anterior to the time when mankind have become capable of being improved by free and equal discussion“ (On liberty, S. 69). Eine letzte Begrenzung zu seinem Freiheitsprinzip leitet Mill auch mit der Ablehung der Gültigkeit eines Vertrags, mit dem der Mensch seine Freiheit gänzlich aufopfert (z. B. Sklavenvertrag): „The principle of freedom cannot require that [one] should be free, not to be free. It is not freedom to be allowed to alienate [ones] freedom“ (On liberty, S. 173); vgl. diesbezüglich auch Möller, Kai, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, S. 35. 377 Nach Petersen ist hier der Einfluss der Ideen Humboldts auf Mill besonders ersichtlich, in dem Sinne, dass das Schadensprinzip nichts anderes als die Umschreibung der „Sorgfalt für das negative Wohl der Bürger“ ist; vgl. dazu Petersen, Jens, Wilhelm von Humboldts Rechtsphilosophie, S. 216 f. 378 Vgl. Schumacher, Ralph, John Stuart Mill, S. 142 f. insb. 143; vgl. auch Mill, John Stuart, On liberty, S. 141: „[…] each should be bound to observe a certain line of conduct towards the rest. This conduct consists […] in not injuring the interests of one another, or rather certain interests which, either by express legal provision or by tacit understanding, ought to be considered as rights […]“. 379 Vgl. Schumacher, Ralph, John Stuart Mill, S. 140.
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in „inneren moralischen“ Freiheiten besteht380, unter denen hauptsächlich die Gewissens- und Diskussionsfreiheit, die Freiheit zu einer individuell bestimmten Lebensführung und die Vereinigungsfreiheit zu nennen sind381. Diese stellen für Mill das „Freiheitsminimum“ dar, das zu jeder Zeit den absoluten und bedingungslosen Schutz seitens des Staates genießen muss382. Mill will also mit seinem Freiheitsprinzip einen Grundsatz aufstellen, der für jede öffentliche Diskussion bezüglich des angemessenen Verhältnisses zwischen der individuellen Freiheit und der sozialen Kontrolle in der anbrechenden demokratischen Epoche bestimmend werden soll383. Ihm ist jedoch zugleich bewusst, dass dieses Kriterium einer moralischen Legitimationsgrundlage bedarf. Mill will sein Schadensprinzip nicht auf die herkömmlichen naturrechtlichen Konzeptionen der späten Aufklärung basieren384. Im Gegensatz zum Hauptvertreter der vergangenen Periode, Immanuel Kant, und seinem deontologischen Denken – welches die Gebotenheit einer Handlung ausschließlich aus dem nach ethischen Kriterien bestimmten, „inhärenten“ Wert der Handlung selbst bezieht385 – zeigt sich Mill derartigen „abstrakten Gerechtigkeitsprinzipien“ gegenüber skeptisch386. Stattdessen will er seine Doktrin auf utilitaristische Gedanken stützen, und versucht innerhalb dieser Rahmen zu zeigen, dass die in seinem Werk formulierte Konzeption über die legitimen Grenzen der staatlichen Eingriffsmacht sowohl für den Einzelnen, als auch für die Gesellschaft als Ganze, „nutzenmaximierend“ wirkt387. Um die Allgemeinnützlichkeit des „Schadensprinzips“ also zu belegen und dieses als den einzigen Weg zur Erfüllung und Bewahrung der Interessen des Menschen in der neuen Epoche zu erweisen, wendet sich Mill dem aus diesem Prinzip hervorgehenden „Kern“ individueller Freiheiten zu und bemüht sich, den Beitrag dieser Belange zum gesellschaftlichen Wohl darzustellen388. Er versucht – mit anderen Worten
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Ebd. S. 139. Ebd. S. 133 f. 382 Vgl. Mill, John Stuart, On liberty, S. 71 f.: „No society in which these liberties are not, on the whole, respected is free, whatever may be its form of government; and none is completely free in which they do not exist absolute and unqualified“. 383 Vgl. Rawls, John, Lectures on the history of political Philosophy, S. 287. 384 Vgl. Schumacher, Ralph, John Stuart Mill, S. 134. 385 Vgl. Regenbogen, Arnim/Meyer, Uwe, Wörterbuch der philosophischen Begriffe, S. 143; Olson, Robert G., Deontological ethics, in: The encyclopedia of philosophy, vol. 1, S. 343; Ulfig, Alexander, Lexikon der philosophischen Begriffe, S. 81. 386 Vgl. Möller, Kai, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, S. 32. 387 Ebd. S. 32; siehe auch Mill, John Stuart, On liberty, S. 69 – 70: „It is proper to state that I forego any advantage which could be derived to my argument from the idea of abstract right as a thing independent of utility. I regard utility as the ultimate appeal on all ethical questions; but it must be utility in the largest sense, grounded on the permanent interests of man as a progressive being“. 388 Vgl. Schumacher, Ralph, John Stuart Mill, S. 134 f. 381
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– zu zeigen, inwiefern die einzelnen Bestandteile der Freiheit, und infolgedessen auch die Freiheit des Individuums selbst, für das kollektive Glück nützlich sind389. Mill setzt folglich sein Werk mit der analytischen Darstellung der Argumente fort, welche die vorteilhaften Wirkungen der Gewissens- bzw. Diskussionsfreiheit einerseits sowie der Freiheit zu einer individuell bestimmten Lebensführung andererseits belegen. Ein derartiges Bemühen wird für die Vereinigungsfreiheit nicht unternommen, möglicherweise aus dem Grund, dass ihre positiven Aspekte für die Gesellschaft sich unproblematisch aus den Argumenten zu den übrigen beiden Belangen ergeben390. Bedeutung und Nutzen der Gewissens- und Diskussionsfreiheit für das Gemeinwesen werden infolgedessen im zweiten Kapitel des Aufsatzes „Über die Freiheit“ analysiert. Im Rahmen der einschlägigen Argumentation geht Mill von der Position aus, dass keine Theorie oder Ansicht bezüglich eines bestimmten Sachgebiets absolut gültig sein könnte; denn auch wenn diese zu einem bestimmten Zeitpunkt den allgemein anerkannten Kenntnisstand der Epoche darstellen könnten, ist es, Mill zufolge, trotzdem immer möglich, dass sie von einer neueren, revolutionären Position aus betrachtet sich als falsch erweisen391. Durch diese „fallibilistische“ Grundposition will Mill betonen, dass das einzige „Gewisse“ bezüglich jeder neuen Erkenntnis sich lediglich in der Tatsache beschränkt, dass sie noch nicht widerlegt wurde392. Die Nützlichkeit der Gewissens- und Diskussionsfreiheit für die Gesellschaft ergibt sich dann laut Mill unverkennbar aus dem tieferen Sinn dieser Feststellung; und dieser besagt, dass der Übergang von einer älteren, falschen Anschauung zu einer neuen, und eventuell richtigen – und in ähnlicher Hinsicht, das Erzielen des gesellschaftlichen Fortschritts überhaupt – nur dann möglich ist, wenn auseinandergehende Ideen fruchtbar kontrastiert werden können. Die Gesellschaft kann Mill zufolge vom freien Meinungsaustausch – und zwar unbeschadet der Richtigkeit der vertretenen Ansichten – nur profitieren, weswegen dieser durch regulatorische Eingriffe des Staates nicht begrenzt werden sollte393. Denn auch im Fall, dass eine neue Stellungnahme sich im Endeffekt als falsch erweist, ist der Nutzen für die Allgemeinheit schon allein deswegen gegeben, weil die bereits früher als gültig akzeptierte These im Bewusst389
Ebd. S. 148. Ebd. S. 148. 391 Ebd. S. 149. 392 Ebd. S. 149; vgl. auch Mill, John Stuart, On liberty, S. 81: „The beliefs which we have most warrant for have no safeguard to rest on but a standing invitation to the whole world to prove them unfounded. If the challenge is not accepted, or is accepted and the attempt fails, we are far enough from certainty still, but we have done the best that the existing state of human reason admits of: we have neglected nothing that could give the truth a chance of reaching us; if the lists are kept open, we may hope that, if there be a better truth, it will be found when the human mind is capable of receiving it; and in the meantime we may rely on having attained such approach to truth as is possible in our won day. This is the amount of certainty attainable by a fallible being, and this the sole way of attaining it“. 393 Vgl. Möller, Kai, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, S. 32 m.w.N. 390
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sein der Menschen bekräftigt wurde394. Unter diesem Blickpunkt wirkt für Mill die Meinungsfreiheit ausschließlich nutzenmaximierend für die Gesellschaft und muss deswegen respektiert werden. Die Nützlichkeit der „Freiheit zu einer individuell bestimmten Lebensführung“ – und damit auch der Nutzen des gesamten Schadensprinzips – für das Gemeinwohl wird anschließend im dritten und vierten Kapitel des Aufsatzes belegt. Genauso wie Wilhelm von Humboldt vor ihm, auf den er ausdrücklich verweist, erkennt Mill zunächst als oberstes Ziel des Individuums nach den Regeln der Vernunft die harmonische Entwicklung zu einem Ganzen an395. Folglich sind alle Menschen – entweder vereinzelt oder kollektiv – dazu aufgefordert, ihre Person zu vervollkommnen, um dadurch sowohl sich selbst als auch die Gesellschaft zu fördern. Grundsätzliche Voraussetzung jedoch zur Erfüllung dieses obersten Ziels ist nach Mill die Möglichkeit, ein selbstbestimmtes Leben wählen zu können, denn nur dadurch ist die Entwicklung des Wertes der Individualität überhaupt denkbar, ein Belang, der für den gesellschaftlichen Fortschritt unentbehrlich ist396. Mill folgert daraus, dass weder das Individuum, noch im Endeffekt die Gesellschaft selbst profitieren können, wenn der Einzelne sein Leben ausschließlich gemäß allgemeinen Gewohnheitsregeln führt397. Deswegen sollte das Individuum innerhalb des Gemeinwesens normativ die Freiheit haben, unterschiedliche Lebensstile auszuprobieren (experiments of living argument), um schließlich den für es selbst geeigneten auszuwählen398 und der Allgemein394 Vgl. Schumacher, Ralph, John Stuart Mill, S. 150 f.; siehe auch Mill, John Stuart, „On liberty“, S. 76: „But the peculiar evil of silencing the expression of an opinion is that it is robbing the human race, posterity as well as the existing generation – those who dissent from the opinion, still more than those who hold it. If the opinion is right, they are deprived of the opportunity of exchanging error for truth; if wrong, they lose, what is almost as great a benefit, the clearer perception and livelier impression of truth produced by its collision with error […] We can never be sure that the opinion we are endeavouring to stifle is a false opinion; and if we were sure, stifling it would be an evil still“. 395 Siehe Mill, John Stuart, On liberty, S. 121: „[…] the end of man, or that which is prescribed by the eternal or immutable dictates of reason, and not suggested by vague and transient desires, is the highest and most harmonious development of his powers to a complete and consistent whole“. 396 Vgl. Wasmus, Henning, Ethik und gesellschaftliche Ordnungstheorie, S. 34 und insb. 35: „Die mangelnde Individualität verhindert jede kulturelle Entwicklung. Individualität ist mit Fortschritt identisch“; Möller, Kai, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, S. 32; vgl. auch Mill, John Stuart, On liberty, S. 120: „It is desirable […] that in things which do not primarily concern others, individuality should assert itself. Where not the persons own character but the traditions or customs of other people are the rule of conduct, there is wanting one of the principal ingredient of human happiness, and quite the chief ingredient of individual and social progress“. 397 Vgl. Möller, Kai, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, S. 32; Mill, John Stuart, On liberty, S. 127: „It is not by wearing down into uniformity all that is individual in themselves, but by cultivating it and calling it forth, within the limits imposed by the rights and interests of others, that human beings become a noble and beautiful object of contemplation“. 398 Vgl. Schumacher, Ralph, John Stuart Mill, S. 152; Mill, John Stuart, On liberty, S. 120: „As it is useful that while mankind are imperfect there should be different opinions, so it is that there should be different experiments of living; that free scope should be given to varieties of
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heit mittels der dadurch erzielten Selbstentfaltung im Endeffekt einen Vorteil zu bringen. Im gleichen Sinne ist auch jede staatliche Einmischung in die Bestimmung der individuellen Präferenzen des Bürgers – eine „Taktik“, welche die paternalistische Doktrin stets befolgt – ein vergleichsweise wirkungsloser Beitrag zu seiner persönlichen – und infolgedessen auch zur gesellschaftlichen – Entfaltung, denn jedem mündigen Bürger liegt laut Mill – und im Gegensatz zu jedem Dritten – am meisten an seinem Wohl, und jeder Bürger ist folglich die geeignetste Person, um zu beurteilen, was für ihn selbst letzten Endes von Vorteil ist, und was nicht (best judge argument)399. Wenn also der Staat eine Verhaltensweise auferlegt, tut er das arbiträr, und begünstigt die individuelle – und folglich auch die gesellschaftliche – Entwicklung nicht. Damit legt Mill also dar, dass die Bewahrung der Freiheit zu einer individuell bestimmten Lebensführung ohnehin für die Allgemeinheit nutzenmaximierend wirkt, und dadurch bringt er ein weiteres Argument für den Beweis der Gültigkeit des Schadensprinzips. Der Versuch Mills, durch utilitaristische Argumente sein Freiheitsprinzip zu rechtfertigen, war im Laufe der Zeit heftiger Kritik ausgesetzt, und viele Punkte in seiner Argumentation – insbesondere diejenigen, die voraussetzen, dass eine selbstgetroffene Entscheidung stets die geeignetste für die Maximierung des individuellen Glücks ist – haben eine Anzahl von Autoren bei ihrer Suche nach einer aussagekräftigen Grenze gegen paternalistische Interventionen nicht überzeugt400. Abgesehen davon bleibt jedoch der Beitrag Mills zur Sicherung der individuellen Freiheit gegen paternalistische Interventionen immer noch ausschlaggebend. Seine liberale Staatskonzeption prägt die politische Theorie bis heute und das „Prinzip der Schädigung“ bleibt immer noch die deutlichste und charakteristischste Aussage gegen den
character, short of injury to others; and that the worth of different modes of life should be proved practically, when anyone thinks fit to try them“. 399 Vgl. Möller, Kai, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, S. 33 m.w.N.; vgl. Schumacher, Ralph, John Stuart Mill, S. 151; siehe auch Mill, John Stuart, On liberty, S. 142 f.: „But neither one person, nor any number of persons, is warranted in saying to another human creature of ripe years that he shall not do with his life for his own benefit what he chooses to do with it. He is the person most interested in his own well-being […]; with respect to his own feelings and circumstances the most ordinary man or woman has means of knowledge immeasurably surpassing those that can be possessed by anyone else. The interference of society to overrule his judgement and purposes in what only regards himself must be grounded on general presumptions which may be altogether wrong and, even if right, are as likely as not to be misapplied to individual cases, by persons no better acquainted with the circumstances of such cases than those are who look at them merely from without […]. But [the person] himself is the final judge. All errors which he is likely to commit against advice and warning are far outweighed by the evil of allowing others to constrain him to what they deem his good“. In gleicher Hinsicht bedarf der Bürger keines öffentlichen Schutzes für die Wahrung seiner Interessen, denn nach Mill ist er selbst die beste Wache über seine Belange: vgl. Mill, John Stuart, On liberty, S. 72: „Each is the proper guardian of his own health, whether bodily or mental and spiritual“ (best guardian argument). 400 Vgl. zum Ganzen Möller, Kai, a.a.O (Fn. 399), S. 34 f. und insb. 35 und 36.
IX. Betrachtung der Problematik des staatlichen Paternalismus
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staatlichen Paternalismus sowie die grundsätzlichste Trennlinie zwischen dem unantastbaren Bereich bürgerlicher Handlungsspielräume und staatlicher Kontrolle.
VIII. Zusammenfassung der wichtigsten Feststellungen Die gesamte Epoche der Aufklärung ist auf politischer Ebene durch die ständige Suche nach dem angemessenen Verhältnis zwischen Bürger und Staat gekennzeichnet. Den bislang herrschenden absolutistischen Strukturen in der Gestaltung des Gemeinwesens sind innovative Ideen entgegengetreten, welche das Individuum kraft seines Personenseins als Träger gewisser Rechte betrachteten. Während jedoch im übrigen Europa sich die Stimmen mehrten, welche dem Staat eine rechtsbewahrende Funktion beimessen wollten, um dadurch die Menschen vor der öffentlichen Willkür effektiv zu schützen, hat sich vor allem im deutschen Kulturraum die aufklärerische Doktrin mit dem etablierten politischen status quo in der einzigartigen und menschenrechtsbeschränkenden Staatsform des aufgeklärten Absolutismus verbunden. Erstes und oberstes Gebot dieser Staatsstruktur war die aktive Steuerung aller Bürger zu ihrer Vervollkommnung, und dem Souverän wurden zu diesem Zweck weitgehende Eingriffsbefugnisse – sogar strafrechtlicher Art mittels der Institution der „guten Policey“ – eingeräumt, um seine Untertanen auch wider Willen zu ihrem fremdbestimmten Wohl zu führen. Diese stark paternalistische Staatsdoktrin wurde mit zunehmendem Bedenken seitens der politischen Philosophen gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts konfrontiert, was zu einer neuen Bestimmung des Staatszwecks und der legitimen Grenzen staatlicher Macht geführt hat. Es wird nun ein klarer Bereich individueller Handlungsspielräume für den Menschen gefordert, und der Staat wird mit der Sicherung der Menschenrechte beauftragt. Einziger legitimer Grund, um die Freiheit des Einzelnen zu begrenzen, ist dementsprechend nur die unberechtigte Schädigung der Belange Dritter, so dass der unbeschränkten Nützung strafrechtlicher Mittel zur Durchsetzung dem je einzelnen Bürger fremder Ideale eine definitive Grenze gesetzt wird. Die Bürger sind nun frei, ihren eigenen Lebensplan mit eigenen Mitteln zu verfolgen, und der Respekt für die menschliche Autonomie wird zur Grundlage des Staates erhoben.
IX. Folgerungen aus der historisch-philosophischen Betrachtung der Problematik des staatlichen Paternalismus Sowohl die Entstehungsgründe als auch die praktische Umsetzung der paternalistischen Doktrin im mitteleuropäischen Raum weisen eindeutig auf ihren Charakter als eines harten und drastischen Werkzeugs auf dem Weg der Auferlegung fremder Vorstellungen in den individuellen Lebensplänen der Bürger hin. Historisch wurde Paternalismus ausschließlich zur gezielten Steuerung des menschlichen Verhaltens
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B. Die Thematisierung der Paternalismusproblematik
gemäß den Präferenzen eines omnipotenten und „allwissenden“ Staatsherrschers angewandt, der, um das Wohl seiner Untertanen vermeintlich zu fördern, die Grenzen ihrer Freiheitssphäre nach Belieben gezogen hat. Aufgrund dieser Funktion wird der paternalistische Ansatz vorwiegend als ein dem freien Menschenwillen und der unbefangenen persönlichen Entwicklung entgegenstehender Faktor eingestuft und stellt als unentbehrliches Instrument absolutistischer Staatsstrukturen, den direkten Gegenpol zu jeder liberal konzipierten Staatsdoktrin dar. Des Weiteren knüpft er an eine ältere und längst überholte Staatsform an, welche dem heutigen, auf den Gerechtigkeitsprinzipien eines Immanuel Kants und eines John Stuart Mills beruhenden Rechtsverständnis nicht entspricht. Die paternalistische Doktrin ist deswegen a priori negativ geprägt und kann des Weiteren aus ethischer Perspektive auf Grund ihrer kennzeichnenden Missachtung der inhärenten Würde des Menschen sowie seiner Individualität prima facie nicht vertreten werden. Unter diesem Blickpunkt stellt sich gegenüber jeder paternalistischen Norm aus philosophischer Perspektive stets ein entgegenstehender Anspruch des Individuums moralischen Rangs auf, welcher der Zulässigkeit von willkürlichen öffentlichen Eingriffen in die Privatsphäre zum Schutz des Bürgers vor sich selbst widerstreitet. Die dadurch zum Ausdruck gebrachte, positive Erwartung des Menschen hinsichtlich der Achtung des individuellen Wertes – ein Postulat, welches den eigentlichen Sinngehalt der aufklärerischen Lehre verkörpert – hat ihrerseits im Laufe der Zeit im Rahmen des philosophischen Diskurses ein neues „Gewand“ erhalten und wurde zunehmend, insbesondere ab der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, als die Frage des „Schutzes der persönlichen Autonomie vor der öffentlichen Willkür“ thematisiert. Im Mittelpunkt der einschlägigen Auseinandersetzung steht das so genannte Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen, dem die Freiheitskonzeption Wilhelm v. Humboldts und John Stuart Mills zu Grunde liegt. Dieser Belang des Individuums hat sich zum gemeinsamen Topos aller liberal denkenden Autoren der Nachkriegszeit entwickelt, und stellt auf moralischer Ebene den primären Einwand gegen jeden staatlichen Versuch dar, den Menschen vor sich selbst zu schützen401. Es lässt sich infolgedessen nun fragen, inwieweit die Konzeption der persönlichen Autonomie – das „Vermächtnis“ des aufklärerischen Denkens – begrifflich auch ein aussagekräftiges Argument gegen die Fremdbestimmung konstituiert. Auf welche Grundlage stützt sie im modernen Diskurs ihren Geltungsanspruch, und welche ist ihre Tragweite? Unter diesem Blickpunkt soll der nächste Schritt der Untersuchung die Erkundung der Fragen des Inhalts sowie der Merkmale der persönlichen Autonomie angehen, um dadurch im theoretischen Vorfeld die aus liberaler Sicht ethisch vertretbaren Grenzen der staatlichen Eingriffsmacht im Rahmen der Paternalismusdebatte deutlich ziehen zu können. 401 Vgl. dazu die Ausführungen von Gerald Dworkin, Joel Feinberg und vieler anderer, hauptsächlich abendländischer, Autoren. Die Auseinandersetzung mit ihren Positionen wird zum Gegenstand des anschließenden Kapitels gemacht.
C. Die Bestimmung des Autonomiebegriffs aus philosophischer Perspektive und seine Gewichtung gegenüber der Doktrin des staatlichen Paternalismus I. Die unterschiedlichen Konzeptionen der Autonomie Die Auseinandersetzung mit den wichtigsten Beiträgen der moralischen und politischen Philosophie der letzten Jahrhunderte zeigt deutlich, dass der Begriff der „Autonomie“402 im Schrifttum zunehmend an Bedeutung gewinnt403. Trotz ihrer gewichtigen Stelle als der des hauptsächlichen Einwandes gegen den staatlichen Paternalismus, bleibt die Selbstbestimmung als Begriff besonders vage und umfangreich. Der Sinngehalt dieses Terminus variiert gemäß den grundlegenden Ausgangsprämissen jedes Autors, weshalb er als Konzeption sehr breit und inkonsistent verwendet wird404. Einigkeit besteht nur darüber, dass die Autonomie eine menschliche Eigenschaft darstellt, nach der jedes Individuum im Laufe seines Lebens ständig streben muss405. Auf Grund also der Vielfalt der Funktionen, welche die Autonomie im Rahmen der Literatur anzusprechen hat, sind auch laut G. Dworkin die Chancen eher gering, eine verallgemeinerte Bestimmung des Terminus herauszukristallisieren zu können406. Es wäre folglich sinnvoller, zu versuchen, die Problematik aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Unter diesem Blickpunkt schlägt Dworkin vor, anstatt die Erarbeitung einer Definition anzustreben, sich dem Sinn und Inhalt der Autonomie eher durch die Beschreibung und Auslegung ihrer kennzeichnenden Aspekte und Merkmale anzunähern. Dieser Vorschlag bereitet weniger methodologische Schwierigkeiten und garantiert darüber hinaus, dass dem Selbstbestimmungsbegriff seine – für die Realisierung seiner Funktion unentbehrliche – inhaltliche Vielschichtigkeit nicht entzogen wird407. Diese Vorgehensweise wird tatsächlich – auch vor ihrer ausdrücklichen Formulierung durch Dworkin – oft bevorzugt. Allerdings hat eine derartige Annäherung an die Idee trotz ihrer offensichtlichen Vorteile ebenso häufig dazu geführt, dass wesentlich 402 Die Begriffe „Autonomie“ und „Selbstbestimmung“ werden im Rahmen dieses Kapitels gleichbedeutend verwendet. 403 Dazu Dworkin, Gerald, The theory and practice of autonomy, S. 3 ff. 404 Vgl. Dworkin, Gerald, The concept of autonomy, in: Science and ethics, S. 203. 405 Ebd. S. 204. 406 Vgl. Dworkin, Gerald, The theory and practice of autonomy, S. 6. 407 Ebd. S. 7.
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C. Die Bestimmung des Autonomiebegriffs aus philosophischer Perspektive
auseinandergehende Ansichten bezüglich des Inhalts der Autonomie vertreten werden. Denn, während viele Theoretiker auf normativer Ebene vom gleichen abstrakten Verständnis über die Selbstbestimmung ausgehen, folgen sie auf Grund ihrer divergierenden Zielsetzungen unterschiedlichen Argumentationslinien und kommen deshalb zu jeweils abweichenden Ergebnissen408. Deswegen sind im Laufe der Zeit viele divergierende Konzeptionen der Autonomie entstanden, welche die Grenzen der staatlichen Eingriffsbefugnis in die private Sphäre enger oder breiter ziehen, und infolgedessen mit der liberalen Doktrin in unterschiedlichem Maße konform sind. Zum Zweck also der Erkundung des einem liberalen Staatsverständnis entsprechenden Sinngehalts der Autonomie, soll nun eine ausführliche Darstellung der wichtigsten theoretischen Abhandlungen des zwanzigsten Jahrhunderts zu diesem Begriff folgen, um dadurch im Rahmen der Paternalismusproblematik die der staatlichen Gewalt zu setzenden Grenzen überzeugend beschreiben zu können. Es ist allerdings von großer methodologischer Bedeutung, zunächst eine klare Abgrenzung zwischen zwei sehr wichtigen, schon früher entwickelten Autonomiekonzeptionen vorzunehmen, welche die Debatte über die Selbstbestimmung des Menschen bis zum heutigen Tag prägen. 1. Der Unterschied zwischen moralischer und persönlicher Autonomie Die Trennung der moralischen409 von der persönlichen Konzeption von Selbstbestimmung hat ihre Wurzeln in den philosophischen Untersuchungen der späten Neuzeit, welche das Konzept der Autonomie und ihren Bedeutungsgehalt für den Menschen zu konkretisieren versuchten. Es handelt sich um zwei differente Auffassungen, welche den gleichen Oberbegriff aus unterschiedlichem Blickwinkel betrachten. Die moralische Konzeption der Autonomie beruht auf der Lehre Immanuel Kants und bezieht sich mit den Worten Gutmanns auf die Ansicht, „dass die [Menschen] als Vernunftwesen [ihren] Willen nach allgemein geltenden moralischen Prinzipien bestimmen können und so unabhängig von [ihren] subjektiven Bedürfnissen und Dispositionen befähigt sind, die Vernunftnatur in [ihnen] und anderen zu achten“410. Nach Kant agiert also eine Person nur dann autonom, „wenn [sie] die Grundsätze [ihrer] Handlung als bestmöglichen Ausdruck [ihrer] Natur als eines freien und gleichen Vernunftwesens gewählt hat, [und] nicht wegen [ihrer] gesellschaftlichen Stellung oder [ihrer] natürlichen Gaben oder wegen der Eigenart [ihrer] Gesellschaft oder wegen [ihrer] zufälligen Wünsche. Nach solchen Grundsätzen [zu] handeln 408 Dworkin redet charakteristisch von „one concept and many conceptions of autonomy“, vgl. Dworkin, The concept of autonomy, in: Science and ethics, S. 206. 409 Diese Bezeichnung wird von Gutmann und Raz entnommen; vgl. Gutmann, Thomas, Freiwilligkeit als Rechtsbegriff, S. 5 und Raz, Joseph, The morality of freedom, S. 370, Fn. 2. 410 Ebd. S. 5; vgl. auch die Bestimmung der Autonomie des Willens durch Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 74: „Autonomie des Willens ist die Beschaffenheit des Willens, dadurch derselbe ihm selbst (unabhängig von aller Beschaffenheit der Gegenstände des Wollens) ein Gesetz ist“.
I. Die unterschiedlichen Konzeptionen der Autonomie
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heißt heteronom handeln“411. Autonomie bedeutet somit für die kantische Doktrin die „Unabhängigkeit des Willens vom kasuistischen Determinismus“412. Kant hat sein Konzept der Selbstbestimmung streng an die Regel der reinen Vernunft angeknüpft, die von Wünschen und sonstigen Neigungen unbeeinflusst bleibt413 ; autonom handelt kurz gefasst laut dieser Ansicht derjenige, dessen Wille von eigenen Angelegenheiten, Bedürfnissen und von den darauf basierenden persönlichen Interessen befreit ist. Die moralische Konzeption der Autonomie ist im Laufe der Zeit jedoch auf Kritik gestoßen, und viele Theoretiker betrachten heutzutage die Fähigkeit zur Bestimmung des eigenen Lebens als keine von der empirischen Welt und ihren Einflüssen abzugrenzende Größe, denn Konsens besteht darüber, dass sie von diesen Faktoren stets bis zu einem gewissen Grad determiniert wird414. Der kantische Selbstbestimmungsbegriff bezieht sich somit auf das „Wesen der Moral“415, das heißt er konzentriert sich auf die „Autonomie als Grundlage der Sittlichkeit“416. Aus diesem Grund ist er auch für die Festlegung praktischer Kriterien für selbstbestimmtes Verhalten nach einem liberalen Verständnis nicht geeignet. Die persönliche Konzeption der Autonomie bezeichnet auf der anderen Seite „die normative Zuständigkeit und die tatsächliche Fähigkeit von Personen, nach eigenen Maximen über ihr Leben [zu] bestimmen“417. Im Gegensatz zum oben Beschriebenen handelt es sich in diesem Fall darum, „ob die Einzelnen in der Lage sind, sich im Rahmen ihrer (rechtlich oder moralisch geschützten) Freiheitssphären selbstgewählte Ziele zu setzen, diese zu bewerten und zu verfolgen“418, oder anders ausgedrückt, um die Frage der „individuellen Willkürfreiheit […] im Sinne der Fähigkeit, zwischen
411 Vgl. Rawls, John, A theory of justice, S. 252: „Kant held, I believe, that a person is acting autonomously when the principles of his action are chosen by him as the most adequate possible expression of his nature as a free and equal rational being. The principles he acts upon are not adopted because of his social position or natural endowments, or in view of the particular kind of society in which he lives or the specific things that he happens to want. To act on such principles is to act heteronomously“; die hier benützte deutsche Fassung dieser Passage wird aus der Übersetzung des Werkes Rawls ins Deutsche von Vetter Hermann im Jahr 1975 entnommen. 412 Vgl. Fallon, Richard H., Jr., Two senses of autonomy, in: Stanford Law Review vol. 46 (1994), S. 878; zum kantischen Autonomiebegriff vgl. auch Darwall, Stephen, The value of autonomy and autonomy of the will, in: Ethics 116 (2006), S. 263: „Autonomy of the will is the property of the will by which it is a law to itself independently of any property of the objects of volition“. 413 Vgl. Cristman, John, Constructing the inner citadel: Recent work on the concept of autonomy, Ethics vol. 99 (1988), S. 115. 414 Ebd. S. 115. 415 Vgl. Raz, Joseph, The morality of freedom, S. 370, Fn. 2: „Moral autonomy […] is a doctrine about the nature of morality“. 416 Vgl. Murmann, Uwe, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, S. 168. 417 Vgl. Gutmann, Thomas, Freiwilligkeit als Rechtsbegriff, S. 5. 418 Ebd. S. 5 m.w.N.
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C. Die Bestimmung des Autonomiebegriffs aus philosophischer Perspektive
Alternativen zu wählen“419. Raz beschreibt in diesem Zusammenhang die persönliche Autonomie als die „Freiheit der Menschen, ihre eigene Lebensart zu wählen“420. Diese Ansicht über die Autonomie entspricht auch dem heutigen allgemeinen Verständnis des Begriffs. Des Weiteren ist sie – historisch betrachtet – auf die Lehre Mills zurückzuführen421, so dass in ihr sich die Wertvorstellungen der liberalen Doktrin über den eigentlichen Sinn und Inhalt der Selbstbestimmung deutlich widerspiegeln. Selbst wenn Mill in seinem Werk den Terminus „personal autonomy“ weder benutzt noch explizit erläutert422, betont er doch, dass der höchste Zweck des Menschen allein durch die ungehemmte Wahl und konsequente Verwirklichung seiner individuellen Präferenzen erreicht werden kann423, ein Gedanke, der mit der oben gegebenen Beschreibung der persönlichen Autonomie im völligen Einklang steht424. 419
Vgl. Murmann, Uwe, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, S. 169. Vgl. Raz, Joseph, The morality of freedom, S. 370, Fn. 2: „Personal autonomy […] is essentially about the freedom of persons to choose their own lives“. 421 Vgl. Gutmann, Thomas, Freiwilligkeit als Rechtsbegriff, S. 6. 422 Vgl. Fuchs, Alan E., Autonomy, slavery and Mills critique of paternalism, in: Ethical theory and moral practice (2001), S. 244. 423 Das ist der eigentliche Sinn der Hervorhebung des Wertes der Individualität durch Mill; vgl. Mill, John Stuart, On liberty, S. 121. 424 Abgesehen von der strikten Trennung des moralischen vom persönlichen Autonomieverständnis ist es an diesem Punkt methodologisch angebracht, die „Autonomie“ auch vom sinnverwandten Begriff der „persönlichen Freiheit“ abzugrenzen, denn obwohl diese zwei Konzeptionen sich oft überschneiden, sind sie im Endeffekt nicht identisch. Der Sinngehalt und vor allem die Beziehung der Begriffe zu einander sind an Hand von zwei Beispielen zu veranschaulichen. Das erste ist aus dem Aufsatz Richard Arnesons zu entnehmen (Mill versus Paternalism, S. 475 a. E.), wobei es sich um den Fall eines Kriegsgefangenen handelt: der Letztere sitzt gefesselt in seiner Zelle und wird von seinen Wächtern ständig unter Druck gesetzt, um die Position seiner Kameraden zu verraten. Auch wenn der Kriegsgefangene – wie Arneson bemerkt – die Freiheit auf Grund seiner Position nicht hat, seine Zelle zu verlassen, kann er seiner schon im Voraus autonom getroffenen Wahl, seine Mitkämpfer nicht zu verraten, ohne Weiteres treu bleiben, denn das hängt allein von seinen Präferenzen ab, die er im Laufe seines Lebens formuliert hat. In diesem Zusammenhang ist also der Kriegsgefangene autonom, aber nicht frei [Arneson (S. 476) verweist zusätzlich auf eine in ihrer ratio ähnliche Konstellation im Werk J. S. Mills (On liberty, S. 160 f.), wo eine – zugegeben nicht explizite – Differenzierung des Autonomiebegriffs von demjenigen der Freiheit am Beispiel der Ehe von Mormonen vorgenommen wird]. Das zweite Beispiel stammt aus dem Werk G. Dworkins (Theory and practice of autonomy, S. 14), der die im Rahmen der Autonomiediskussion „klassische“ Konstellation eines Zeugen Jehovas als Patienten aufstellt. Wenn also der Letztere im Rahmen der Behandlung von seinen Ärzten gezwungen wird, eine Bluttransfusion hinzunehmen, dann wird dadurch laut G. Dworkin nicht nur seine Freiheit per se negiert (er kann in seiner geschwächten Position weder das Krankenhaus verlassen, noch dem medizinischen Eingriff Widerstand entgegenzusetzen), sondern es wird auf einer höheren Ebene auch sein Vermögen missachtet, für sich selbst entscheiden zu dürfen, welche Behandlungsalternative er akzeptieren will, und welche nicht. Die Freiheit ist also ein engerer Begriff im Vergleich zu demjenigen der Autonomie, denn eine autonome Person kann – objektiv betrachtet – in ihrer Freiheit eingeschränkt oder sogar unfrei sein, während eine freie Person, die jedoch ständig auf die Anweisungen Dritter angewiesen ist, im Endeffekt kaum autonom ist. G. Dworkin (The concept of autonomy, in: Science and ethics, S. 211) beschreibt den Unterschied der beiden 420
I. Die unterschiedlichen Konzeptionen der Autonomie
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Aus dieser kurzen Darstellung der zwei unterschiedlichen Möglichkeiten, die Autonomie konzeptuell und auf abstrakter Ebene zu erfassen, wird ersichtlich, dass das persönliche Verständnis der Selbstbestimmung mit den Werten eines liberalen Staates einfacher zu vereinbaren ist. Folglich werden im Folgenden diejenigen philosophischen Beiträge des vergangenen Jahrhunderts berücksichtigt, welche den genauen Sinn und Inhalt der Autonomie auf der Grundlage des „millschen“ Verständnisses zu erkunden suchen425. 2. Die Autonomie als idealer Zustand Einen ersten Annäherungsweg zum Sinngehalt der Selbstbestimmung bietet demnach eine Anzahl von Autoren, welche die Autonomie als einen Endzweck konzipieren, den die Menschen im Laufe ihres Lebens durch ihre Entscheidungen zu verfolgen haben. Der Begriff der „Selbstbestimmung“ umschreibt in dieser Hinsicht ein Ideal426. Diese stellt also einen optimalen Zustand des menschlichen Daseins dar, dem die Individuen sich durch die Ausübung der freien Wahl „höchstens annähern können“427. Eine derartiges Verständnis, welches die Autonomie als eine „Idealkonzeption“428 auffasst, verleiht ihr auf praktischer Ebene den Bedeutungsgehalt der „individuellen Vollendung“, der „persönlichen Errungenschaft“429 und der „Charakterexzellenz“430. Daraus folgt, dass auch jede Abhandlung über die Selbstbestimmung, die auf solchen Prämissen beruht, sich prinzipiell mit der Festlegung aller notwendigen Bedingungen und Eigenschaften wird befassen müssen, welche die Menschen graduell zur Erreichung dieses obersten Zustands „persönlicher Vervollkommnung“ führen könnten. Die wichtigsten dieser Beiträge seien im Folgenden ausführlich dargestellt. a) Die Autonomie nach Joseph Raz Der Beitrag von Raz zu Wesen und Bedeutung der Autonomie gilt als ein Meilenstein in der Reihe der Versuche, sich diesem Begriff aus philosophischer Perspektive Begriffe aus seiner Perspektive: „Freedom is neither necessary nor sufficient for autonomy. Not only are they different concepts, their scope is different. Freedom is a local concept; autonomy is a global one. The question of freedom is decided at specific points in time. […] That of autonomy can only be assessed over extended periods of a persons life“. 425 Einzige Ausnahme stellen die Überlegungen von John Rawls dar, der, wie es noch zu zeigen ist, auf die kantischen Ideen zum Begriff der Autonomie zurückgreift. 426 Vgl. Gutmann, Thomas, Freiwilligkeit als Rechtsbegriff, S. 6; vgl. auch Benn, Stanley, A theory of freedom, S. 155: „[Autonomy] is an ideal, not a normal condition“. 427 Vgl. Gutmann, Thomas, Freiwilligkeit als Rechtsbegriff, S. 6. 428 Die Bezeichnung wird ebenfalls von Gutmann entnommen (ebd. S. 6). 429 Vgl. Raz, Joseph, The morality of freedom, S. 204: „It should be clear […] that autonomy is […] construed as a kind of achievement“. 430 Vgl. Benn, Stanley, A theory of freedom, S. 155: „[Autonomy] is an excellence of character“.
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C. Die Bestimmung des Autonomiebegriffs aus philosophischer Perspektive
anzunähern. Die Selbstbestimmung wird im Rahmen seiner Überlegungen als das „Ideal der freien und bewussten Selbstentfaltung“431 konzipiert, und sie geht von der Voraussetzung aus, dass die Menschen grundsätzlich im Stande sind, durch aufeinanderfolgende Entscheidungen im Laufe ihres Lebens ihr eigenes Schicksal zu bestimmen432. In dieser Hinsicht sind autonome Individuen sowohl als die Schöpfer als auch als die steuernde Kraft ihres eigenen Daseins zu verstehen433. Des Weiteren stellen die Verfolgung von selbstgewählten Zielen sowie das Streben nach der Entfaltung zwischenmenschlicher Beziehungen wichtige Endzwecke für jede selbstbestimmte Person dar, die an diese Bedingungen ihr gesamtes Wohlergehen knüpft434. Daraus zieht Raz die Folgerung, dass ein autonomes Leben an der Art und Weise seiner Führung und nicht an der bloßen Anzahl der erreichten Zielsetzungen zu erkennen ist435, weswegen er auch im Rahmen seiner Theorie das „Ideal der Autonomie“ mit dem Ideal eines „autonom verbrachten Lebens“ im Ergebnis gleichsetzt436. Die Erreichung dieses obersten Ziels kann allerdings nach Raz nicht bezweckt werden, solange nicht schon im Vorfeld eine Reihe von wesentlichen Bedingungen erfüllt wird437. In dieser Hinsicht ist für die Führung einer selbstbestimmten Existenz zunächst erforderlich, dass der Einzelne über adäquate geistige Fähigkeiten dazu verfügt. Darüber hinaus ist das Vorhandensein eines angemessenen Umfangs von Wahlalternativen ebenfalls von wesentlicher Bedeutung. Schließlich muss der Betroffene bei der Formulierung und Ausführung seiner Präferenzen möglichst unbefangen sein. Raz betrachtet diese drei Konditionen als die Grundlagen der Autonomie, weswegen er auch seine Argumentation mit ihrer näheren Betrachtung fortsetzt. Geistig behinderte Personen sowie im Allgemeinen Individuen, die aus irgendwelchen Gründen – vorübergehend oder fortlaufend – keinen normalen Gebrauch von ihren geistigen Anlagen machen können, sind verständlicherweise auch nicht in der Lage, eine bewusste Wahl zu treffen, und folglich, autonom zu handeln. Um eine selbstbestimmte Existenz zu führen, muss der Mensch also vor allem auf kognitiver Ebene im Stande sein, sowohl sich komplexe Ziele zu setzen als auch eine ge431 Vgl. Raz, Joseph, The morality of freedom, S. 390: „Personal autonomy is the ideal of free and conscious self-creation“. 432 Ebd. S. 369: „The ideal of personal autonomy is the vision of people controlling, to some degree, their own destiny, fashioning it though successive decisions throughout their lives“. 433 Ebd. S. 154: „(Significantly) autonomous persons are those who can shape their life and determine its course“ und S. 370: „The autonomous person is part author of his life“. 434 Ebd. S. 370: „An autonomous persons well-being consists in the successful pursuits of self-chosen goals and relationships“. 435 Ebd. S. 371: „[…] the autonomous life is discerned not by what there is in it but by how it came to be“. 436 Ebd. S. 372: „The ideal of autonomy is that of the autonomous life“. Dieser ist auch nach Raz der „primäre Sinngehalt“ (the primary sense) der persönlichen Autonomie. 437 Diese sind nach Raz (ebd. S. 372) die Konditionen der persönlichen Autonomie, welche deren „sekundären Sinngehalt“ (the secondary sense) darstellen.
I. Die unterschiedlichen Konzeptionen der Autonomie
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eignete Strategie zur ihrer Erreichung zu entwerfen. Zu diesem Zweck ist nach Raz ein Mindestmaß an Vernünftigkeit notwendige Bedingungen, sowie auch die Fähigkeit, alle erforderlichen Mittel – welche zur Realisierung der jeweiligen Zielsetzung wesentlich sind – zu erkennen438. Die zuletzt erwähnten Erfordernisse sind auch in den Werken anderer Autoren unter dem Begriff der „Autarkie“ anzutreffen, die Kleinig als das Vermögen einer Person definiert, vernünftig zu denken439, und welche von Benn als das Vorhandensein eines Minimums an kognitiver und praktischer Rationalität beschrieben wird440. Diese Befähigung zur rationalen Wahl ist anschließend im Laufe des Lebens auch praktisch einzusetzen, um dadurch ein autonomes Dasein zu gestalten. Solange jedoch kein breites Spektrum von Zielen und Optionen dem Individuum zur Auswahl steht, ist auch die Entfaltung eines selbstbestimmten Lebensplans logischerweise nicht möglich. Deswegen ist nach Raz das Vorhandensein eines angemessenen Umfangs von Wahlalternativen für die Autonomie unentbehrlich441. Der Einzelne sollte in dieser Hinsicht normativ die Möglichkeit haben, zwischen unterschiedlichen Plänen und Zielsetzungen zu wählen, welche sowohl wichtige Bereiche des Lebens, als auch „triviale“Angelegenheiten des Alltags betreffen; denn nur, wenn das Subjekt die Übersicht und Kontrolle über alle Aspekte seines Lebens hat, kann sichergestellt werden, dass der Bildung eines autonomen Charakters nichts im Wege steht442. Die offenen Wahlalternativen sollten darüber hinaus auch eine gewisse Vielfalt und Ausdifferenzierung aufweisen, denn ein Mensch kann erst dann autonom werden, wenn er im Laufe seines Lebens die Gelegenheit hat, durch seine Entscheidungen die Gesamtheit seiner geistigen Anlagen zu nützen, was logischerweise nicht erfolgen kann, wenn er nur zwischen einer begrenzten Anzahl von Optionen zu wählen hat443. Aber auch die Gewährung eines breiten und mannigfaltigen Umfangs von offenen Alternativen kann für die Entwicklung der persönlichen Autonomie nicht fördernd wirken, wenn der Einzelne auf Grund des Verhaltens Dritter nicht in der Lage ist, frei und eigenverantwortlich Entscheidungen zu treffen. Für Raz stellen also Faktoren, wie Zwang fremden Ursprungs oder die unzulässige Manipulation des Subjekts und seiner Optionen, für die Führung eines autonomen Lebensplans erhebliche Hindernisse dar, weswegen er auch die Notwendigkeit der „Abschirmung“ des Subjekts vor derartigen Einwirkungen betont444. . 438
Ebd. S. 372 f. Vgl. Kleinig, John, Paternalism, S. 20. 440 Vgl. Benn, Stanley, A theory of freedom, S. 154. Der Begriff der Autarkie ist in diesem Sinne enger als derjenige der Autonomie. 441 Vgl. Raz, Joseph, The morality of freedom, S. 373: „[…] to be autonomous a person must not only be given a choice but he must be given an adequate range of choices“. 442 Ebd. S. 374. 443 Ebd. S. 375. 444 Ebd. S. 376 f. 439
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C. Die Bestimmung des Autonomiebegriffs aus philosophischer Perspektive
Mit der Erfüllung der geschilderten Grundvoraussetzungen ist auf normativer Ebene der notwendige Hintergrund für die Verfolgung eines selbstbestimmten Lebens schon gegeben. Der Einzelne kann allerdings dem Autonomieideal nicht näher kommen, wenn er selbst über bestimmte Charaktereigenschaften nicht verfügt445, welche nach Raz zur Erreichung dieses Endzwecks ebenfalls unentbehrlich sind. In dieser Hinsicht ist es zunächst erforderlich, eine gute Übersicht über die zu gegebener Zeit offenen Alternativen zu behalten, denn die bloße „Sicherstellung“ eines Umfangs von offenen Optionen allein ist ein ungenügender Beitrag zur Führung eines autonomen Lebens, wenn der Betroffene selbst sich im Prozess ihrer Evaluierung und Auswahl nicht aktiv einsetzt446. Darüber hinaus ist ein gewisser Grad an persönlicher Integrität ebenfalls unerlässlich, in dem Sinne, dass ein autonomes Subjekt sich mit seinen Entscheidungen identifiziert, und ihnen – als Verkörperung seiner inneren Präferenzen – treu bleibt447. Schließlich muss ein autonomes Subjekt auch im Stande sein, die eigene Person in ihrer „zeitlichen Dimension“ zu betrachten, denn die Führung eines autonomen Lebensplans verlangt sowohl die Fähigkeit, vergangene Erfahrungen kritisch zu bewerten, als auch die Bereitschaft, aus den daraus sich ergebenden Feststellungen nützliche Schlüsse für die Zukunft zu ziehen448. Obwohl die Argumentation von Raz eine methodisch „vernünftige“ Konzeption der Autonomie gestaltet, wandelt die exzessive Aufstellung von „Erfordernissen“ und „Voraussetzungen“ den Selbstbestimmungsbegriff notwendigerweise in ein „Stufenkonzept“449 um: denn nicht alle Menschen sind in der Lage, diesen Anforderungen in gleichem Maße gerecht zu werden, was auf ihre unterschiedliche natürliche Befähigung und ihren jeweiligen sozialen Hintergrund zurückzuführen ist. Die Einordnung der Personen in unterschiedliche „Autonomie-Klassen“ ist mit einer liberalen Auslegung des Begriffs nicht zu vereinbaren und im Rahmen eines modernen Rechtsstaates ohnehin nicht akzeptabel. 445 Dieses Erfordernis bestimmter Charaktereigenschaften ist bei mehreren Autoren anzutreffen. 446 Ebd. S. 381 – 382: „An autonomous person is aware of his options and chooses between them rather than drifting along until they are lost or made for him“. Damit wird allerdings von Raz weder angedeutet, dass spontan getroffene Entscheidungen nicht autonom sein können, noch wird es vom Individuum positiv erwartet, sich ständig über alle offene Optionen zu informieren. Es wird nur betont, dass dem Einzelnen bei jeder Wahl bewusst sein muss, dass auch eine entsprechende Alternative besteht, welche sein Leben eventuell auf andere „Gleise“ stellen würde: „All [that is required] is the awareness of ones options and the knowledge that ones actions amount to charting a course which could have been otherwise“. 447 Ebd. S. 382 f. Spontane Entscheidungen werden aus dem Spektrum autonomer Verfügungen der Person auch hier nicht ausgeklammert (vgl. dazu insb. S. 384). 448 Ebd. S. 385 f. 449 Ebd. S. 373: „All three conditions, mental abilities, adequacy of option, and independence admit of degree. Autonomy in both its primary and secondary senses is a matter of degree. Ones life may be more or less autonomous.“; vgl. auch Gutmann, Thomas, Freiwilligkeit als Rechtsbegriff, S. 7.
I. Die unterschiedlichen Konzeptionen der Autonomie
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Darüber hinaus ist das Razsche Autonomieprinzip insofern perfektionistisch, als ihm zufolge nur die Verfolgung von moralisch vertretbaren Zwecken eine „autonome“ Lebensweise ermöglicht450. Jede derartige Vorstellung persönlicher oder moralischer Vollkommenheit ist jedoch der Willkür überlassen, und kann daher keine sichere Basis für ein modernes Autonomieverständnis darstellen. b) Der Ansatz von John Rawls zum Wesen der Autonomie Der amerikanische Rechtsphilosoph John Rawls hat mit seinem Werk „A theory of justice“ für eine Wiederbelebung der politischen Philosophie in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts gesorgt. Im Rahmen seiner Argumentation befasst sich Rawls auch mit der Frage der menschlichen Autonomie, die er genauso wie Joseph Raz als ein Idealkonzept begreift. Seine Ausführungen beruhen jedoch auf dem kantischen Verständnis der Selbstbestimmung, welches die Autonomie – als Begriff der Moral verstanden – streng an die Regel der Vernunft bindet451. Demgemäß handelt ein Mensch nur dann autonom, wenn er ausschließlich auf der Grundlage bestimmter Prinzipien agiert, welche die Zustimmung aller frei und rational denkenden Mitglieder einer Gesellschaft genießen452. Diese Prinzipien beinhalten in diesem Sinne objektive Wertvorstellungen, und stellen insoweit einen Kern von Grundregeln dar, welche die Individuen als Maßstab für ihr Verhalten setzen müssen453. Diese Maximen wurden laut Rawls kollektiv von allen Menschen schon im „ursprünglichen Zustand“ ihres Daseins entworfen454, als sie sich über den inhärenten Wert und die zeitüberschreitende Geltung bestimmter „Gerechtigkeitsgrundsätze“
450 Ebd. S. 381 und insb. 417: „Autonomy is valuable only if exercised in pursuit of the good. The ideal of autonomy requires only the availability of morally acceptable options“; „Autonomous life is valuable only if it is spent in the pursuit of acceptable and valuable projects and relationships“; vgl. auch Gutmann, Thomas, Freiwilligkeit als Rechtsbegriff, S. 7. 451 Obwohl Ralws im Rahmen seiner Doktrin nicht von einem persönlichen – und infolgedessen auch liberal geprägten – Autonomieverständnis ausgeht, erschien es uns angebracht, seine Überlegungen auf Grund der Wichtigkeit seines Werkes für die Autonomiediskussion trotzdem darzustellen. 452 Vgl. Rawls, John, A theory of justice, S. 516: „[…] acting autonomously is acting from principles that we would consent to as free and equal rational beings […]“; vgl. auch Husak, Douglas, Paternalism and Autonomy, in: Philosophy and public affairs, vol. 10 (1981), S. 39. Von den eigenen Präferenzen und Bedürfnissen her zu handeln, heißt also in dieser Hinsicht heteronom zu handeln. 453 Vgl. Rawls, John, A theory of justice, S. 516: „[…] these principles are objective. They are the principles that we would want everyone (including ourselves) to follow were we to take up together the appropriate general point of view“. 454 Ebd. S. 11: „[These are principles] that free and rational persons concerned to further their own interests would accept in an initial position of equality as defining the fundamental terms of their association“. Rawls knüpft den Begriff der Autonomie fest an den ursprünglichen Zustand: „Both autonomy and objectivity are characterized in a consistent way by reference to the original position“ (vgl. Rawls, John, A theory of justice, S. 516).
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C. Die Bestimmung des Autonomiebegriffs aus philosophischer Perspektive
entschieden haben455. Um ein autonomes Leben zu führen, muss also der Einzelne seinen Willen diesen allgemeinen Vernunftregeln anpassen, denn nur dadurch – und nicht durch die Befolgung seiner individuellen Präferenzen und Bedürfnisse – kann er seiner Natur als Vernunftswesen Rechnung tragen. Deswegen hält Rawls auch jeden Eingriff in die Privatsphäre des Einzelnen für legitim, solange diese Beeinträchtigung auf der Grundlage der allgemein anerkannten Maximen einer Gesellschaft erfolgt456. Rawls erkennt jedoch, dass die Einhaltung der beschriebenen Regeln auf Grund der Veränderlichkeit des menschlichen Zustands oft erschwert oder sogar unmöglich ist. In Zeiten großer sozialer Unruhe und moralischer Unsicherheit, wenn der Rückblick auf den „normalen“ Zustand der Gesellschaft und dessen Werte unzumutbar erscheint, sollten die Menschen ausnahmsweise und nur für begrenzte Zeit einen festen und allgemeingeltenden Maßstab für die Beurteilung des autonomen Verhaltens aus solchen Werten wie persönliche Integrität, Ehrlichkeit, und Authentizität der individuellen Entscheidung schaffen457. Trotz der Bedeutung des Beitrags von John Rawls für die neuere politische Philosophie ist seine Konzeption zur Selbstbestimmung mit der liberalen Doktrin nicht vereinbar. Denn aus einem so abstrakten Begriff wie demjenigen des „ursprünglichen Zustands“ der Menschheit, lassen sich keine konkreten und vor Allem objektiven Regeln für die Beurteilung des autonomen Charakters des individuellen Verhaltens ableiten. Stattdessen basiert jede derartige Erwägung nur auf willkürlichen Vorstellungen über das „gebotene menschliche Handeln“, was die Einschleichung von paternalistischen Gedanken ins Selbstbestimmungsspektrum ermöglicht. Des Weiteren lässt eine derartige Autonomiekonzeption den individuellen Willen sowie die Präferenzen jeder Person vollkommen außer Acht und ebnet in dieser Hinsicht den Weg zur Fremdbestimmung. Schließlich ist die Auffassung von Rawls auch deswegen für die liberale Doktrin gefährlich, da sie eine eventuell paternalistische Norm zur Regelung des menschlichen Verhaltens nur mit Argumenten moralischer Natur in Frage zu stellen erlaubt458.
455
Vgl. Husak, Douglas, Paternalism and autonomy, in: Philosophy and public affairs, S. 39: „Rawls believes that persons in the ,original position would unanimously agree to a number of principles of justice“. 456 Vgl. Rawls, John, A theory of justice, S. 519: „In the original position the parties agree to be held responsible for the conception of justice that is chosen. There is no violation of our autonomy so long as its principles are properly followed“. 457 Ebd. S. 519. 458 Vgl. Husak, Douglas, Paternalism and autonomy, in: Philosophy and public affairs, S. 39.
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3. Die Autonomie als negative und positive Freiheitskonzeption (Isaiah Berlin) Obwohl – wie gezeigt459 – der Autonomiebegriff mit demjenigen der Freiheit nicht identisch ist, kann von Letzterem her immerhin eine Reihe von nützlichen Feststellungen und Kernaussagen gewonnen werden, welche ihrerseits ein besseres Verständnis des eigentlichen Sinngehalts der Selbstbestimmung ermöglichen. Einen erheblichen Beitrag in dieser Richtung hat der liberal denkende Isaiah Berlin mit seinem Werk geleistet, der in einem seiner bekanntesten Aufsätze460 die zwei wichtigsten „Dimensionen“ des Begriffs der persönlichen Freiheit ausführlich darstellt, was im Rahmen des Versuchs, die Autonomie näher zu bestimmen, die Bildung von wertvollen Parallelen erlaubt. Berlin beginnt dementsprechend seine Auseinandersetzung mit der Analyse des negativen Aspekts der Freiheit461. Aus dieser Perspektive bezieht sich die Freiheit zunächst auf die positive Forderung des Einzelnen, von Dritten bei der Ausübung seiner Tätigkeiten nicht gehindert zu werden, und umgrenzt einen „persönlichen Bereich“, innerhalb dessen das Individuum ungestört von externen Beeinträchtigungen die Möglichkeit genießt, seine Ziele im Leben zu verfolgen462. Unter diesem Blickpunkt kann die negative Freiheit mit dem Postulat der Unabhängigkeit von Fremdbestimmung gleichgesetzt werden. Berlin erkennt zwar, dass die äußeren Grenzen dieses Bereichs freier persönlicher Entwicklung nicht einfach zu ziehen sind463, betont aber gleichzeitig, dass ein gewisses „Minimum“ stets vor jeder Art sozialer Kontrolle bewahrt werden muss; denn sonst wäre es für den Menschen in einer derartigen despotischen Umgebung unmöglich, selbst ein Mindestmaß seiner Fähigkeiten zu entwickeln464. 459
Siehe diesbezüglich Fn. 424. Siehe Berlin, Isaiah, Two concepts of liberty, in: Four essays on liberty, S. 118 – 172. 461 Dazu ebd. S. 121 f. 462 Ebd. S. 121: „[…] the ,negative sense [of freedom] is involved in the answer to the question ,What is the area within which the subject – a person or a group of persons – is or should be left to do or be what he is able to do or be, without interference by other persons“; vgl. auch Fallon, R. H. Jr., Two senses of autonomy, in Stanford law review (1994), S. 876 m.w.N.: „Negative liberty is freedom from external interference in doing or determining what one wants“; Benn, Stanley, A theory of freedom, S. 170: „[In] negative freedom […] the analysis [is] centered on an unimpaired chooser deciding between options presented to him under the constraints of nature and those under social constraints, which are taken in context to be as invariable and inevitable as any purely natural impediment to action but not subject to interference by other persons“ […] „[This] account takes the agents preferences for granted, focusing on the objective conditions that might frustrate his acting on them“. 463 Vgl. die unterschiedlichen vertretenen Meinungen in der einschlägigen Literatur, welche Berlin (a.a.O. Fn. 460, S. 126) kurz wiedergibt. 464 Ebd. S. 124: „[…] there ought to exist a certain minimum area of personal freedom which must on no account be violated; for if it is overstepped, the individual will find himself in an area too narrow for even that minimum development of his natural faculties which alone makes it possible to pursue, and even to conceive, the various ends which men hold good or right 460
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C. Die Bestimmung des Autonomiebegriffs aus philosophischer Perspektive
Die zweite, positive Dimension der Freiheit beruht dagegen auf dem Gedanken, dass der Mensch Urheber seiner Handlungen und steuernde Kraft seines Lebens ist465. In dieser Hinsicht stellt das Individuum ein selbstbewusstes, aktives und rationales Wesen dar, das die Verantwortung für seine Handlungen und Entscheidungen trägt, die alle unmittelbar auf seine persönlichen Vorstellungen und Zwecke im Leben zurückzuführen sind466. Eine derartige Freiheitskonzeption nimmt im Gegensatz zum negativen Aspekt keine Rücksicht auf die externe Welt, sondern konzentriert sich ausschließlich auf die subjektive Seite des Agierenden sowie auf die inneren Beweggründe, die seine Präferenzen bedingen467. Das Individuum wird also im Rahmen dieser Freiheitsdimension als der „Autor“ seines Lebens erfasst. Aus den Ausführungen Berlins zu dieser „dualistischen“ Konzeption des Freiheitsbegriffs können gewisse Grundaussagen bezüglich des eigentlichen Wesensgehalts der persönlichen Autonomie gewonnen werden. In dieser Hinsicht wird zunächst aus dem negativen Freiheitsaspekt gefolgert, dass ein selbstbestimmtes Leben nur dann möglich ist, wenn der freie Wille des Menschen von äußeren Faktoren nicht auf unzulässige Weise beeinträchtigt wird. Die persönliche Autonomie erfordert also, dass man nicht durch Zwang, Täuschung oder eine sonstige illegitime Beeinträchtigung seiner Interessen, bei der Verfolgung und Verwirklichung seiner selbstgesetzten Ziele gehindert wird; ein Verständnis, das mit der liberalen Doktrin durchaus im Einklang steht. Aber auch der positive Aspekt der Freiheit ist an den Autonomiebegriff anzuknüpfen; denn als selbstbestimmtes Individuum wird stets dasjenige Subjekt betrachtet, welches sein Leben aktiv steuert, Ziele selbst erfasst, und alle notwendigen Handlungen unternimmt, um seine Wünsche zu realisieren: von einem autonomen Menschen wird also grundsätzlich erwartet, sich selbst bestimmen zu können. Die Ideen Berlins gewähren infolgedessen durch die Bildung von Parallelen eine zweifellos bessere Einsicht in das Selbstbestimmungsprinzip. Ihr Beitrag stößt allerdings damit an seine Grenzen: Denn trotz ihrer Wichtigkeit stellen die Argumente Berlins per se weder den Sinngehalt des Autonomiebegriffs erschöpfend dar, noch sprechen sie alle einschlägigen Aspekte der Selbstbestimmungsproblematik an, or sacred“ und S. 126: „[…] But both sides agreed that some portion of human existence must remain independent of the sphere of social control. To invade that preserve, however small, would be despotism“. 465 Ebd. S. 131: „The ,positive sense of the word ,liberty derives from the wish on the part of the individual to be his own master. I wish my life and decisions to depend on myself, not on external forces of whatever kind“; vgl. auch Fallon, R. H. Jr., Two senses of autonomy, in: Stanford law review (1994), S.876: „Positive liberty signifies the rational authorship of ones ends in life“, m.w.N. im Rahmen der Fn. 8 auf die vielen unterschiedlichen in der Literatur vertretenen Ansichten zum Inhalt des Begriffs. 466 Vgl. Berlin, Isaiah, Two concepts of liberty, in: Four essays on liberty, S. 131: „[Positive liberty is] to be conscious of myself as a thinking, willing, active being, bearing responsibility for my choices and able to explain them by references to my own ideas and purposes“. 467 Vgl. Benn, Stanley, A theory of freedom, S. 170: „This notion of positive freedom looks critically at the subjective conditions governing the agents choices“.
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mit der Folge, dass seine Ausführungen eine zwar wertvolle, aber nur auxiliäre Rolle im Rahmen der Autonomiediskussion spielen können.
4. Die Autonomie als „deskriptives“ Konzept und als angeborene Eigenschaft des Menschen („descriptive“ and „ascriptive“ models of autonomy – Der Beitrag von Richard Fallon) Neben den vielen Ansätzen, die aus unterschiedlichen Perspektiven versuchen, die Selbstbestimmung und ihren Inhalt zu erkunden, finden sich Beiträge zur einschlägigen philosophischen Diskussion, welche die brauchbaren Feststellungen der schon vertretenen Positionen erkennen und diese im Rahmen ihrer eigenen Konzeptionen über die Autonomie und ihren Wesensgehalt konstruktiv implementieren. Ein derartiger Annäherungsversuch wird von Richard Fallon unternommen, der die im theoretischen Vorfeld bereits angeführten Argumente für seine eigenen Vorschläge zur Bestimmung der Autonomie nutzbar macht. In dieser Hinsicht stellt Fallon zwei unterschiedliche theoretische Konzepte auf, um durch deren nähere Aufarbeitung und Verknüpfung mit präexistierenden Erkenntnissen an den eigentlichen Sinngehalt der Selbstbestimmung zu gelangen. So wird zunächst das „deskriptive“ Modell eingeführt, welches die Autonomie als einen rein empirischen Begriff behandelt468. Die Selbstbestimmung bezieht sich unter diesem Blickpunkt auf den „tatsächlichen Zustand“, in dem sich die Individuen in ihren Alltag befinden. Autonom zu sein bedeutet nach dieser Konzeption, die eigenen Kräfte im Leben sinnvoll einsetzen zu können, um dadurch bestimmte Verhältnisse für das eigene Dasein zu gestalten. Je mehr also ein Mensch faktisch betrachtet im Stande ist, seine eigene Person durch die Mannigfaltigkeit der Lebenssituationen zu steuern, desto größer ist auch der Grad seiner persönlichen Autonomie469. Es wird sofort ersichtlich, dass die Selbstbestimmung nach dem deskriptiven Konzept von dem tatsächlichen Vorhandensein bestimmter Charaktereigenschaften470 direkt abhängig ist. Dieses Modell verkennt allerdings nicht die Tatsache, dass jeder Mensch innerhalb eines breiteren – und oft einflussreichen – sozialen Umfelds lebt, das oft dem Individuum überwältigende Hindernisse entgegenstellt, welche 468 Vgl. Fallon, R. H. Jr., Two senses of autonomy, in: Stanford law review (1994), S. 880. Das „deskriptive Modell“ ist praktisch betrachtet ein von Fallon entwickelter Oberbegriff, um dadurch die Ideen all derjenigen Autoren, welche die Autonomie als eine empirisch feststellbare Größe betrachten, zu systematisieren. 469 Ebd. S. 877: „In one fundamental use, autonomy is largely a descriptive concept, which refers to peoples actual condition and signifies the extent to which they are meaningfully ,selfgoverned in a universe shaped by casual forces“ und S. 880: „Descriptive conceptions of autonomy vary in many ways, but all assume that whether a person is autonomous is substantially an empirical question, with the answer depending on criteria that can be justified on varying degrees“. 470 Die Anknüpfung der Autonomie an bestimmte Charaktereigenschaften ist schon – wie oben gesehen – bei Joseph Raz anzutreffen.
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die autonome Führung seines Lebens erschweren oder sogar ausschließen können471. Deswegen folgert Fallon, dass die Selbstbestimmung nicht nur an eine Reihe empirisch feststellbarer Belange der Person selbst gebunden ist, sondern, dass sie auch von externen Faktoren abhängt, welche eine ebenso entscheidende Rolle in der Gesamtevaluation zu spielen haben. Für die praktische Festlegung, Auflistung und Einordnung all dieser wesentlichen, inneren und äußeren „Komponenten“ der persönlichen Autonomie entwickelt Fallon jedoch – wie oben erwähnt – keine eigene Methode, sondern er hält sich an die schon von Berlin erfassten Kategorien der negativen und positiven Freiheit472. Aus der Verknüpfung der Selbstbestimmung zunächst mit dem negativen Freiheitsaspekt ergeben sich demzufolge deduktiv all diejenigen menschenexternen Elemente, welche sich für die Entfaltung der individuellen Autonomie stets nachteilig auswirken: der Zwang fremder Herkunft, die unzulässige Manipulation der Optionen und die Beeinträchtigung der Urteilsfähigkeit sind allesamt Gefahren für die Selbstbestimmung473. Solange also das Individuum von derartigen Beeinträchtigungen in seinem Alltag unberührt bleibt, ist es auch praktisch betrachtet prinzipiell in der Lage, autonom zu leben474. Die Betrachtung des positiven Freiheitsaspekts gewährt andererseits Einsicht in die inneren Eigenschaften des menschlichen Charakters, welche für die Autonomie unentbehrlich sind: in dieser Hinsicht sind Fähigkeiten wie Selbsterkenntnis und Selbstbeherrschung erfahrungsgemäß stets in selbstbestimmten Individuen anzutreffen475 und stellen daher in der Tat erforderliche Elemente für die Entwicklung einer autonomen Persönlichkeit dar. Es ist insofern offensichtlich, dass jede dieser Kategorien – trotz ihrer unterschiedlichen Orientierung – wichtige Elemente der persönlichen Autonomie beschreibt. Fallon legt diese Tatsache seinen Überlegungen zu Grunde und erkennt, dass die Annäherung an autonomes Verhalten nach dem deskriptiven Konzept nur durch die konstruktive Synthese sowohl der positiven als auch der negativen Freiheitskomponente erfolgen kann476. Unter diesem Blickpunkt erzeugt er einen „gemischten“ Katalog derjenigen Belange, welche seiner Ansicht nach auch die erforderlichen „Bedingungen“ der persönlichen Autonomie umschreiben477: die Fähigkeit, die äußere Welt und 471
Ebd. S. 877. Ebd. S. 880 f. und 883 f. m.w.N. 473 Ebd. S. 880 – 881 m.w.N. 474 Ebd. S. 880: „Negative libertarians typically assume […] that normal adults have the requisite capacities to lead autonomous lives and that, in the absence of extraordinary interferences, they in fact do so“. 475 Ebd. S. 883 m.w.N. 476 Ebd. S. 886: „Treated as a descriptive concept, autonomy requires elements of both negative and positive liberty“. 477 Wie Fallon selbst anmerkt (siehe diesb. S. 886, Fn. 69), wurde er bei der Wahl dieser Konditionen von Raz und seinen Ideen stark beeinflusst. 472
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die eigene Person kritisch zu betrachten, die Handlungskompetenz, das Vorhandensein einer ausreichenden Anzahl von offenen Optionen und schließlich die Freiheit von Zwang und sonstigen Manipulationskräften stellen nach Fallon die konstitutiven Bestandteile der Selbstbestimmung dar478. Trotz der unmittelbaren Nähe des deskriptiven Konzepts zum alltäglichen Autonomieverständnis – was den Rückgriff auf andere, komplexe und schwerverständliche theoretische Konstrukte unnötig macht – und unbeschadet der begrüßenswerten Simplizität der verwendeten Kriterien, birgt dieses Modell auch eine inhärente Gefahr für die Selbstbestimmung. Denn, wenn der autonome Charakter menschlichen Verhaltens ausschließlich von der Erfüllung bestimmter Bedingungen abhängt, wird der Begriff der Selbstbestimmung zwangsweise zu einem bloßen „Stufenkonzept“ herabgesetzt, da es immer Individuen geben wird, welche auf Grund ihrer überdurchschnittlichen Befähigung die „Autonomiekriterien“ einfacher und effizienter erfüllen werden können, als Andere479 ; und das – wie es noch zu zeigen ist – ist mit einem liberalen Verständnis über die Selbstbestimmung nicht ohne Weiteres vereinbar480. Darüber hinaus kann das deskriptive Modell auch die Gefahr eines „schleichenden Paternalismus“ nicht ausschließen, denn jede willkürliche Intervention in die Privatsphäre könnte sich einfach unter dem Mantel der „Förderung“ der Interessen der schwächeren und weniger begabten Bürger bergen481. Die beschriebenen „Lücken“ des deskriptiven Modells versucht dann Fallon durch den Appell an die so genannte „askriptive“ Autonomiekonzeption (ascriptive autonomy) zu schließen, welche die Selbstbestimmung als eine „angeborene Eigenschaft“ des Individuums begreift482. Die Autonomie erlangt unter diesem Blickpunkt einen metaphysischen Charakter, in dem Sinne, dass sie den „Bestand“ und den Wesensgehalt des Menschen als eines Vernunftswesens umschreibt483. Die Idee der Selbstbestimmung ist in dieser Hinsicht mit derjenigen des „Menschseins“ gleichzustellen484, 478
Ebd. S. 886 f. Ebd. S. 877 m.w.N. 480 An diesem Punkt sei nur bemerkt, dass auch Personen, welche einige der hier erwähnten Bedingungen nicht erfüllen, trotzdem ausreichend autonom handeln können. Joel Feinberg (s. unten unter 6.) sorgt für eine sinnvolle und mit der liberalen Doktrin konforme Interpretation des deskriptiven Modells, welches er auch mit askriptiven Elementen verstärkt, wodurch schließlich eine aussagekräftige Autonomiekonzeption entworfen wird. 481 Vgl. Fallon, R. H. Jr., Two senses of autonomy, in: Stanford law review (1994), S. 877 – 888. 482 Ebd. S. 878 und 890 f. Genauso wie bei dem „deskriptiven Modell“ handelt es sich auch hier um einen von Fallon entwickelten Oberbegriff, um die Ideen all derjenigen Autoren, welche die Autonomie als eine inhärente Eigenschaft jedes Menschen betrachten, unter einen Nenner zu bringen. 483 Ebd. S. 878: „Ascriptive autonomy – the autonomy we ascribe to ourselves and others as the foundation of a right to make self-regarding decisions – is a moral entailment of personhood“. 484 Ebd. S. 890 m.w.N. und S. 878; eine Parallele zwischen dem askriptiven Modell und dem kantischen Autonomieverständnis kann an diesem Punkt einfach gezogen werden. 479
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weswegen auch das souveräne Recht, über sich selbst zu bestimmen, im Rahmen dieses Theorems aus der Natur des Menschen direkt ableitbar ist485. Die Autonomie ist also nach dem askriptiven Konzept ein innerer, „naturgegebener“ Belang des Individuums und wird aus diesem Grund auch von jeder Person im gleichen Grad besessen, da sie an besondere persönliche Fähigkeiten und sonstige „Gaben“ des Einzelnen nicht anzuknüpfen ist486. Deswegen kann auch der tatsächliche Inhalt einer Entscheidung keinen Einfluss auf ihren autonomen Charakter haben, denn auch unüberlegte, oder sogar unvernünftige Handlungen – welche in der Regel auf bestimmte Charakterdefiziten zurückzuführen sind – entstammen trotzdem einem rationalen und vor allem de facto selbstbestimmten Subjekt487. Laut Fallon kann sogar aus der Autonomie durch die Bildung einer Parallele zum „negativen“ Freiheitsbegriff ein positives Abwehrrecht des Individuums abgeleitet werden, welches im Rahmen einer staatlichen Gemeinschaft als eine effektive Grenze gegen die Fremdbestimmung fungieren kann488. Das askriptive Modell führt folglich ein absolutes Autonomieverständnis ein, welches die beschriebene „Schwäche“ des deskriptiven Konzeptes durch die Anknüpfung der Selbstbestimmung an einen unantastbaren Wert – denjenigen des „Wesens“ des Menschen – effektiv ausgleicht. Die persönliche Autonomie hängt in dieser Hinsicht weder von den individuellen Fähigkeiten der Person noch vom Inhalt ihrer Handlungen ab und erweist sich dadurch als gegen paternalistische Interventionen „resistent“489. Schließlich wird anhand des askriptiven Modells ersichtlich, dass der staatliche Paternalismus im Wesentlichen einen gravierenden Eingriff in einen der grundsätzlichsten Belange des Individuums darstellt, was die Legitimationsbedürftigkeit jeder derartigen staatlichen Intervention im Endeffekt umso augenfälliger macht. Die Ausführungen Fallons zur persönlichen Autonomie gelten als ein wichtiger Beitrag zu den Bemühungen, die Selbstbestimmung begrifflich zu erfassen und ihren Inhalt zu systematisieren. Trotz der zugegebenen Bedeutung der erzielten Er485
Ebd. S. 890 m.w.N.; „ein Mensch zu sein“, bedeutet also nach dem askriptiven Modell, „autonom zu sein“. 486 Ebd. S. 878: „In contrast with descriptive autonomy, [ascriptive autonomy] is no more subject to measurement and comparative assessment that is personhood itself“ und S. 891: „Under this view, people to whom autonomy is ascribed are neither more nor less autonomous than anyone else“. Fallon merkt allerdings an, dass auch im Rahmen dieses Modells ein gewisses Minimum an geistigen Anlagen für die Zuerkennung der Autonomie trotzdem erforderlich ist (vgl. diesb. S. 878, Fn. 15, und S. 891). 487 Ebd. S. 878 m.w.N.: „Employed as an ascriptive concept, autonomy represents […] [the right of people] to make and act on their own decisions, even if those decisions are ill-considered or substantively unwise“. Die „askriptive“ Autonomie ist im Schrifttum auch als „respect autonomy“ bekannt (ebd. S. 890, Fn. 92), und verkörpert in diesem Aspekt die positive Forderung des Individuums Anderen gegenüber, seine Entscheidungen zu achten. 488 Ebd. S. 891. 489 Ebd. S. 878 und 890.
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gebnisse gestaltet jedoch Fallon aus den unterschiedlichen Einzelpunkten keine einheitliche und umfassende Theorie über die persönliche Autonomie: die aus dem deskriptiven und askriptiven Selbstbestimmungsverständnis gewonnenen Feststellungen werden im Ergebnis nicht zu einer konstruktiven Synthese zusammengeführt, so dass die beiden Thesen letztlich nur als Bezugspunkte für Kernfragen der Autonomiediskussion gebraucht werden können. 5. Die Autonomie als das Konzept der „bewussten“ Lebensführung: Der Beitrag von Gerald Dworkin und Harry Frankfurt Ein anderer Weg, um an den Wesensgehalt der Selbstbestimmung zu gelangen, wird von Gerald Dworkin und Harry Frankfurt durch ihre Ansätze zu diesem Thema eingeschlagen: An Stelle des gängigen Versuchs, die Kernelemente der Autonomie auf der Basis bestimmter Kriterien zu erkunden, schlagen die beiden Rechtstheoretiker eine alternative Ansicht vor, indem sie die Selbstbestimmung insgesamt als einen kognitiven „Vorgang“ wahrnehmen, mit dessen Hilfe das Individuum sein Leben steuert. Die Autonomie wird – im Einzelnen – als eine Funktion des menschlichen Geistes betrachtet, welche den Menschen in einen Selbsterkennungsprozess versetzt, durch den die Art und Weise der individuellen Lebensführung entscheidend und – vor allem – charakteristisch geprägt wird. Es handelt sich also diesem Verständnis nach um eine innere Eigenschaft des Individuums, welche den rationalen Teil seines Daseins „begleitet“ und aus diesem Grund auch in jedem Aspekt seiner Existenz zu erkennen ist. Die Beiträge von Dworkin und Frankfurt beruhen auf diesen Feststellungen und versuchen in dieser Hinsicht induktiv, aus der Gesamtbetrachtung des menschlichen Lebens, aus der Auseinandersetzung mit den Grundsätzen des individuellen Verhaltens, sowie aus dem Einblick in den menschlichen Alltag, das Wesen und die Rolle eines diese Aspekte übergreifenden „Belanges“ der Person, nämlich der persönlichen Autonomie, zu beziehen490. Unter diesem Blickpunkt gelangen die beiden Theoretiker zu einer ausführlichen Untersuchung der menschlichen Natur und insbesondere ihrer voluntativen Elemente, da diese in erster Linie den Bezugspunkt der Autonomie darstellen. Eine grundlegende Eigenschaft des menschlichen Willens ist demnach die Fähigkeit, Präferenzen im Laufe des Lebens zu formulieren, die ihrerseits auf praktischer Ebene in positive Wünsche umschlagen, welche der Einzelne zu befriedigen anstrebt. Eine große Anzahl der alltäglichen Handlungen ist tatsächlich auf die Erfüllung der
490 Dworkin (The concept of autonomy, in: science and ethics (1981), S. 211) merkt diesbezüglich an: „Autonomy [is] a global [concept]. […] the question of autonomy can only be assessed over extended portions of a persons life. It is a dimension of assessment that evaluates a whole way of living ones life“.
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mannigfaltigen menschlichen Bedürfnisse491 oder an die Realisierung einer Vielfalt von sonstigen gesellschaftsbezogenen Zwecksetzungen492 gerichtet. Obwohl die beschriebene Fähigkeit, sich Ziele zu setzten und diese zu verwirklichen, ein kennzeichnendes Merkmal der Freiheit des Willens eines Menschen ist, kann der autonome Charakter seines Verhaltens allein daraus nicht gefolgert werden. Denn die bloße Zufriedenstellung der unterschiedlichen individuellen Bedürfnisse – ein Verfahren, das Frankfurt als die Erfüllung der „erstgradigen Wünsche“ (firstorder desires) der Person bezeichnet493 – wird auch bei den Tieren beobachtet, die ebenfalls in der Lage sind, Entscheidungen zu treffen, um ihre alltägliche Bedürfnisse zu befriedigen494. Da jedoch das Merkmal der Autonomie – im hier verstandenen Sinne – logischerweise den Tieren nicht zugesprochen werden kann, muss folglich der menschliche Wille durch weitere Charakteristiken gekennzeichnet sein, die ihm seinen besonderen Stellenwert verleihen. Zu den Belangen des menschlichen Geistes ist in dieser Hinsicht auch das Vermögen hinzuzuzählen, den eigenen Präferenzen, Entscheidungen und Antrieben kritisch gegenüberzustehen, ein Prozess, der für die effektive Gestaltung des eigenen Daseins von besonderer Bedeutung ist495. Der Mensch ist in der Tat das einzige vernünftige Wesen, das über die Fähigkeit verfügt, sich selbst und seine Handlungen zu evaluieren496. Es wird also ersichtlich, dass eine Person kognitiv auch auf einem höheren geistigen Niveau als demjenigen der bloßen Befriedigung von „erstgradigen“ Wünschen tätig werden kann. Auf jener Ebene distanziert sich das Individuum von all seinen Forderungen und Bedürfnissen und hat die Gelegenheit, über diese zu reflektieren. Dieses Verfahren wird seinerseits im Laufe der Zeit zur Formulierung der individuellen Haltung des Menschen gegenüber seinen „erstgradigen“ Wünschen führen, welche der Letztere entweder als einen Aspekt seiner Persönlichkeit akzeptieren oder als etwas seinem Wesen „Fremdes“ endgültig verwerfen wird. Genau in diesem Vorgang, den Frankfurt als den Aufbauprozess von „zweitgradigen Präferenzen“ (second-order desires)497 bezeichnet, ist auch laut Dworkin das
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Darunter fallen etwa das Bedürfnis nach Ernährung, Bekleidung usw. Darunter sind beispielsweise die Teilnahme an einer Reise oder der Erwerb einer Theaterkarte zu verstehen. 493 Vgl. Frankfurt, Harry G., Freedom of the will and the concept of a person, in: The journal of philosophy (1971), S. 7. 494 Ebd. S. 7: „Many animals appear to have the capacity for what I shall call ,first-order desires or ,desires of the first order, which are simply desires to do or not to do one thing or another“. 495 Vgl. Dworkin, Gerald, The concept of autonomy, in: science and ethics (1981), S. 209: „It is characteristic of persons that they are able to reflect on their decisions, motives, desires and habits. In doing so they can form preferences concerning these“. 496 Vgl. Frankfurt, Harry G., Freedom of the will and the concept of a person, in: The journal of philosophy (1971), S. 7. 497 Ebd. S. 7 f. und insb. 10 (II) f. 492
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Wesen der persönlichen Autonomie zu lokalisieren498 : Denn ein selbstbestimmtes Individuum ist eigentlich nicht dasjenige, das sich ausschließlich vom Bedürfnis nach Erfüllung seiner beliebigen „erstgradiger“ Wünsche motivieren lässt; sondern darunter ist eher ein denkendes Subjekt zu verstehen, welches zu jeder Zeit im Stande ist, die Frage zu erheben, ob es sich mit den inneren Beweggründen, die es zu einer bestimmter Tat angetrieben haben, letztendlich auch identifizieren kann, oder nicht499. Der autonome Charakter eines Menschen lässt sich also – der Ansicht Dworkins und Frankfurts nach – nicht (wie bei anderen Ansätzen) mit Hilfe einer Reihe gesonderter und vorsichtig ausgewählter Kriterien erkennen, sondern ergibt sich aus dem gesamten „Persönlichkeitsbild“, welches das Individuum im Laufe seines Lebens durch die Formulierung einer bestimmten inneren Haltung gegenüber seinen Antrieben, Wünschen und Handlungen gestaltet. Die Abwesenheit eines derartigen Prozesses bedeutet gleichzeitig den Mangel an einem wesentlichen Autonomiebestandteil: ein derartiger Mensch wird, genauso wie ein Tier, ausschließlich von seinen Bedürfnissen getrieben und ist deswegen nicht in der Lage, sein Leben sinnvoll und autonom zu steuern500. Die beiden Rechtsphilosophen erkennen jedoch, dass das beschriebene kognitive Verfahren nur selten in einer „neutralen“ Umgebung stattfinden kann. Der Einzelne entwickelt als Teil eines größeren sozialen Umfelds wechselseitige Beziehungen, die sowohl auf die Gestaltung des eigenen Charakters als auch auf die Formulierung der individuellen Präferenzen einwirken. Solange dieser Einfluss den beschriebenen Selbsterkennungsprozess des Einzelnen begünstigt, wird dadurch ein wichtiger Beitrag zur Entfaltung der persönlichen Autonomie geleistet. Wenn allerdings der individuelle Wille von derartigen externen Faktoren auf unzulässige Weise – wie etwa durch Täuschung oder Zwang – beeinträchtigt wird, ist es für das betroffene Subjekt nicht mehr möglich, seine persönlichen Präferenzen autonom zu formulieren und sich mit seinen Handlungen zu identifizieren501. Aus diesem Grund betonen Dworkin und 498
Vgl. Dworkin, Gerald, The theory and practice of autonomy, S. 15. Ebd. S. 15: „It is not the identification or lack of identification that is crucial to being autonomous, but the capacity to raise the question of whether I will identify with or reject the reasons for which I now act“. 500 In diese Kategorie gehören nach Frankfurt sehr junge Kinder sowie eine geringe Anzahl von Erwachsenen; vgl. dazu Frankfurt, Harry G., Freedom of the will and the concept of a person, in: The journal of philosophy (1971), S. 11: „The essential characteristic of a ,wanton [leichtfertige Person] is that he does not care about his will. His desires [hier sind die „first-oder desires“ gemeint] move him to do certain things, without its being true of him either that he wants to be moved by those desires or that he prefers to be moved by other desires. The class of wantons includes all nonhuman animals that have desires and all very young children. Perhaps it also includes some adult human beings as well. In any case, adult humans may be more or less wanton“. 501 Vgl. Dworkin, Gerald, The concept of autonomy, in: science and ethics (1981), S. 212: „[…] the second-order identifications a person makes, or the choice of a person he wants to be, may have itself been influenced by others in such a fashion that we do not view it as being his own“; vgl. auch Frankfurt, Harry G., Freedom of the will and the concept of a person, in: The journal of philosophy (1971), S. 14 f. 499
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Frankfurt auch die Bedeutung der Abschirmung des Menschen von Quellen, welche den individuellen Willen außer Kraft zu setzen drohen, denn nur dann wird dem Einzelnen auf praktischer Ebene auch die Möglichkeit gewährt, sich selbst effektiv zu bestimmen. Die Autonomie lässt sich also nach dem hier beschriebenen Konzept als ein Selbsterkennungsprozess beschreiben, der seine Wurzel im voluntativen Vermögen des Individuums hat und welcher entscheidend auf die Gestaltung des eigenen Lebens einwirkt. Der Wesensgehalt der Selbstbestimmung besteht seinerseits in der „dialektischen Beziehung“ zwischen den individuellen Handlungen und der „inneren Welt“ des Subjekts. Dazu wird kein hoher Grad an intellektuellen Fähigkeiten und Ausbildung vorausgesetzt, zumal es sich nicht unbedingt um ein geistig erschöpfendes, bewusstes oder gar explizites Verfahren handelt502 : Auch Personen mit einem durchschnittlichen geistigen Vermögen, die über keine hoch entwickelte Intelligenz verfügen, sind laut Dworkin und Frankfurt unter den erwähnten Voraussetzungen wohl in der Lage, nach eigenem Ermessen ein autonomes Leben zu führen, ohne dafür ihren Alltag in einen ständigen, äußerlich wahrnehmbaren „Selbsterkennungskampf“ umwandeln zu müssen503. Schließlich wird im Rahmen ihrer Doktrin auch betont, dass der Inhalt und der moralische Wert der Präferenzen, mit denen sich das Individuum letztendlich identifiziert, keine Rolle für die Frage der Autonomie seines Charakters spielen504. Wichtig ist nur, dass das Subjekt eine konkrete Stellung seinen Präferenzen und Handlungen gegenüber einnimmt, ohne im Laufe dieses Prozesses von externen Faktoren auf unzulässige Weise beeinträchtigt zu werden. 6. Die liberale Autonomiekonzeption Joel Feinbergs Der amerikanische Rechtsphilosoph Joel Feinberg zählt zu den wichtigsten und engagiertesten Befürwortern der liberalen Doktrin im zwanzigsten Jahrhundert. Feinberg hat mit seiner Lehre versucht, die „traditionelle“ liberale Denkweise John Stuart Mills in den modernen Rechtsstaat zu implementieren und sie zur Grundlage des Ver502
Vgl. Dworkin, Gerald, The theory and practice of autonomy, S. 17: „The first error would be to suppose that […] only certain types or classes of people can be autonomous. If we think of the process of reflection and identification as being a conscious, fully articulated, and explicit process, then it will appear that it is mainly professors of philosophy who exercise autonomy and that those who are less educated, or who are by nature or upbringing less reflective, are not, or not as fully, autonomous individuals“. 503 Ebd. S. 17: „[…] a farmer living in an isolated rural community, with a minimal education, may without being aware of it be conducting his life in ways which indicate that he has shaped and molded his life according to reflective procedures. This will be shown not by what he says about his thoughts, but in what he tries to change in his life, what he criticizes about others, the satisfaction he manifests (or fails to) in his work, family, and community“. 504 Vgl. Dworkin, Gerald, The concept of autonomy, in: science and ethics (1981), S. 213: „[…] on my view, there is no specific content to the decisions an autonomous person may take. An autonomous person may be a saint or sinner, a rugged individualist or a conformist, a leader or a follower“.
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hältnisses von Bürger und Staat zu erheben. Unter diesem Blickpunkt strebt er mit seinem wohlbekannten vierbändigen Werk „The moral limits of the criminal law“ an, die legitimen Grenzen der staatlichen Gewalt dem Einzelnen gegenüber an Hand liberaler Grundsätze herauszuarbeiten. Zu diesem Zweck entwickelt Feinberg im Rahmen des dritten Bandes mit dem Titel „Harm to self“ eine aussagekräftige Selbstbestimmungskonzeption, welche den Menschen mit einem klar definierten Bereich für die autonome Gestaltung seiner Persönlichkeit ausstattet und welche im Prinzip als „Abwehr“ gegen jeden willkürlichen, paternalistischen Versuch des Staates verwendet kann, das Individuum vor sich selbst zu schützen505. Feinberg erkennt in der persönlichen Autonomie einen Begriff, der mit verschiedenen Aspekten des Lebens eng verbunden ist und dessen Funktion den menschlichen Alltag auf mehreren Ebenen entscheidend prägt. Daher kann die Selbstbestimmung inhaltlich nicht nur über eine einzige „Dimension“ verfügen, sondern sie ist als die „Summe“ und der „Bestand“ einer Vielfalt von zusammenhängenden Aspekten zu begreifen506. Die Anstrengungen Feinbergs konzentrieren sich deswegen in dem Versuch, diese grundlegenden Aspekte der Selbstbestimmung ausführlich darzustellen, um anschließend durch deren Zusammensetzung ein der liberalen Doktrin entsprechendes, beständiges Autonomiekonzept zu entwerfen507. In dieser Hinsicht stellt sich die Selbstbestimmung in erster Linie als eine positive und feststellbare „Fähigkeit“ des Menschen dar, die eigenen Angelegenheiten zu regulieren sowie die eigene Person durch das Leben zu steuern508. Für die Zuerkennung dieser „Befähigung“ muss jedoch das Individuum auch einen gewissen Grad an geistiger Kompetenz vorweisen können, denn erfahrungsgemäß sind Menschen, welche aus irgendeinem Grund als zurechnungsunfähig einzustufen sind, offensichtlich nicht in der praktischen Lage, autonom über sich selbst zu bestimmen509. Von wesentlicher Bedeutung ist daher, eine den liberalen Prinzipien entsprechende Methode für die
505 Vgl. Feinberg, Joel, The moral limits of the criminal law, vol. 3 (Harm to self), S. 26: „The most promising strategy for the anti-paternalist is to construct a convincing conception of personal autonomy that can explain how that notion is a moral trump card, not to be merely balanced with considerations of harm diminution in cases of conflict, but always and necessarily taking moral precedence over those considerations“. 506 Vgl. diesbezüglich Christman, John, Constructing the inner citadel: Recent work on the concept of autonomy, Ethics vol. 99 (1988), S. 109 f. 507 Ebd. S. 109 f.: „Feinberg […] is explicit in his doubts that ,autonomy has a single, coherent meaning. In this light, he attempts to explicate the related notions that function to formulate the general conception of ,personal autonomy […]. A full theory of autonomy, he suggests, would spell out the relations among these different meanings of the term and presumably support the various implications of the notion of autonomy in its different guises“. 508 Feinberg geht hier vom Aspekt der „autonomy as capacity“ aus; vgl. Feinberg, Joel, (a.a.O. Fn. 505), S. 28. 509 Feinberg weist charakteristisch auf derartige Personenkategorien, wie Säuglinge, Individuen mit schweren geistigen Behinderungen usw., hin; vgl. Feinberg, Joel, (a.a.O. Fn. 505), S. 28.
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C. Die Bestimmung des Autonomiebegriffs aus philosophischer Perspektive
Präzisierung des entscheidenden Punktes „ausreichender geistiger Begabung“ herauszufinden. In diesem Versuch lehnt sich Feinberg überwiegend an die Argumentation Daniel Wiklers an, der in einem oft zitierten510 Aufsatz511 zwei unterschiedliche Konzeptionen „geistiger Kompetenz“ aufstellt. Die erste ist die so genannte „relativistische Konzeption“ (relativist conception), der die Ansicht zu Grunde liegt, dass die geistige Befähigung der Menschen ein Wert ist, den die Individuen in jeweils verschiedenem Maß besitzen512, weshalb diese auch in unterschiedliche geistige Kategorien „eingeordnet“ werden können. Als Einstufungskriterium dient hier die „allgemeine Intelligenz“ der Subjekte, ein Maßstab, welcher jedoch den Nachteil hat, dass er zu einer exzessiven Auflistung von „relativen Kompetenzstufen“ führen könnte. Deswegen ist es auf der Basis dieser Konstellation nicht möglich, von einem bestimmten und nach objektiven Kriterien feststellbaren Grenzwert „ausreichender Kompetenz“ für die Zuerkennung der persönlichen Autonomie zu reden513, und folglich kann auch jede „Trennlinie“ zwischen geistig kompetenten und inkompetenten Individuen nur willkürlich gezogen werden514. Die relativistische Ansicht stellt sich insofern als eine eher ungeeignete Methode für die Bestimmung des Punktes hinreichender geistiger Befähigung zur autonomen Führung des eigenen Lebens dar. Darüber hinaus birgt die nach Intelligenzkriterien vorgenommene Einstufung der Menschen in Kategorien von „mehr und weniger Begabten“ auch eine eindeutige Gefahr der Einschleichung paternalistischer Gedanken, denn ohne einen klaren und objektiv erfassten „Grenzwert“ geistiger Kompetenz könnten die „Privilegierten“ ihren Eingriff zum Wohl des „intellektuellen Durchschnitts“ stets über ihr de facto überlegenes Wissen legitimieren, was ein eindeutiger Missbrauch des liberal geprägten – und in den meisten modernen Rechtsordnungen verbrieften – Prinzips wäre, das den Menschen normaler Intelligenz in gewissen Situationen und unter bestimmten Umständen die Einmischung in das Leben der in geringerem Maß Privilegierten erlaubt, um die Letzteren vor ungewollten Schädigungen ihrer Interessen zu schützen515. 510 Vgl. statt Vieler, Feinberg, Joel, (a.a.O. Fn. 505), S. 29, und Möller, Kai, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, S. 155 f. 511 Siehe Wikler, Daniel, Paternalism and the mildly retarded, in: Philosophy and public affairs, Vol. 8, No. 4 (Summer, 1979), S. 377 – 392. 512 Ebd. S. 380. 513 Ebd. S. 381. 514 Ebd. S. 381: „We may be able to distinguish various levels of mental ability through tests, but any line drawn between mentally ,impaired and mentally ,unimpaired is arbitrary. The line could be drawn anywhere else on the scale with equal justification“; vgl. auch Möller, Kai, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, S. 155 f. 515 Vgl. Wikler, Daniel, Paternalism and the mildly retarded, in: Philosophy and public affairs, S. 380: „If the average [person], now deemed ,normal, is ,impaired from the point of view of those of higher intellectual status, are persons of average intelligence for this reason subject to a paternalistic denial of civil liberties? It would seem that if the intellectual superiority of normal persons legitimates their controlling the decisions of the mildly retarded, the same
I. Die unterschiedlichen Konzeptionen der Autonomie
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Den Gegenpol zum relativistischen Modell bildet die „Schwellenkonzeption“ (threshold conception), welche die geistige Begabung eines Individuums zur Führung eines autonomen Lebens nicht aus dem Verhältnis seiner Intelligenz zum intellektuellen Grad anderer Gruppen deduziert, sondern aus seiner Kompetenz, sich mit den mannigfaltigen Herausforderungen des Alltags praktisch auseinanderzusetzen516. Solange in dieser Hinsicht ein Mensch über die geistigen Kräfte verfügt, um die üblichen Probleme und Konfliktlagen seines gesellschaftlichen Umfelds zu bewältigen, ist er nach dem Schwellenkonzept auch ohnehin fähig, sich selbst zu bestimmen, unabhängig davon, dass Andere – auf Grund ihrer geistigen Überlegenheit – die gleichen Situationen effizienter meistern könnten517. Ausschlaggebend ist nur, dass das jeweilige Subjekt als rationales Wesen die erforderliche natürliche Befähigung vorweisen kann, um dem „Durchschnitt“ entsprechen zu können518. Jeder, der diese Grenze überwindet, ist „in gleichem Maße zur Selbstbestimmung fähig“519 wie jeder Andere. Der Besitz überdurchschnittlicher geistiger Kräfte qualifiziert einen Menschen nicht zu einem entsprechend größeren „Autonomiegrad“520. Eine gesteigerte intellektuelle Begabung wird nach der Schwellenkonzeption als ein „irrelevanter Überschuss“ bewertet, der für die Frage der Autonomiefähigkeit keine Rolle spielt521.
difference in intellect would justify their being regulated by the gifted“; vgl. auch Möller, Kai, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, S. 157. 516 Vgl. Wikler, Daniel, a.a.O. (Fn. 511), S. 384 f. 517 Ebd. S. 384 f. 518 Ebd. S. 384 f., insb. S. 385: „[…] we need to show that the threshold happens to fall precisely at the level of intelligence just below what we consider normal“ und S. 386: „The threshold of competence in our society falls at or just below the average, because, first, the level of difficulty involved in the key life tasks is in large part socially determined; and, second, because society stands to gain by setting this level so as to render the average person competent“. 519 Vgl. Möller, Kai, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, S. 156. 520 Vgl. Feinberg, Joel, a.a.O. (Fn. 505), S. 29: „[…] above a certain minimum […] competence in this sense is possessed in equal degree by all who have it, no matter how much they differ in degree of competence in the other sense [gemeint wird hier der mögliche intellektuelle Unterschied unter den Menschen, auf den das relativistische Modell sich eigentlich stützt]; and below the threshold, everyone is equally incompetent despite other differences among them“. 521 Vgl. Wikler, Daniel, a.a.O. (Fn. 511), S. 384: „Though a person may have more intelligence than another, he will be no more competent at performing certain tasks; his added power is simply unused surplus. Those lacking enough intelligence for the task will be incompetent to perform it; while those having sufficient intelligence will be equally competent however great the difference in their intellectual levels“; vgl. auch Feinberg, Joel, a.a.O. (Fn. 505), S. 30: „Some competent persons are no doubt more richly endowed with intelligence, judgement, and other relevant capabilities than others, but above the appropriate threshold they are deemed no more competent (qualified) than the others at the ,task of living their own lives according to their own values as they choose. In respect to qualification for rightful self-government, their greater resources are ,simply an unused surplus“; Gutmann, Thomas, Freiwilligkeit als Rechtsbegriff, der auf S. 9 bemerkt, dass „Autonomiekünstler […] sich insoweit keinen moralischen oder rechtlichen Bonus erwerben [können]“.
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C. Die Bestimmung des Autonomiebegriffs aus philosophischer Perspektive
Feinberg erkennt anhand der Darstellungen Wiklers die inhärenten Vorteile des Schwellenkonzepts für die Entwicklung einer den liberalen Prinzipien entsprechenden Konstellation persönlicher Autonomie und beschreibt unter diesem Blickpunkt die Selbstbestimmung im Rahmen seiner Lehre als eine Eigenschaft jedes wenigstens durchschnittlich begabten Menschen522. In gleicher Hinsicht legt er seinen Überlegungen auch ein absolutes Autonomieverständnis zu Grunde, was jede willkürliche und aus paternalistischen Beweggründen erfolgende Einstufung der Individuen in unterschiedliche „Kompetenzkategorien“ praktisch ausschließt: nach Feinberg ist man entweder autonom oder gar nicht; über die erforderliche Mindestgrenze hinaus existieren keine weiteren „Autonomiestufen“523. Die auf der Basis dieses Räsonnements erkennbare normative Fähigkeit des Einzelnen, über sich selbst zu bestimmen, manifestiert sich nun auf faktischer Ebene in einer Reihe von empirisch feststellbaren Belangen des Individuums, welche durch ihre Umsetzung im alltäglichen Leben die praxisbezogene Dimension524 der Autonomie skizzieren. Ein selbstbestimmtes Subjekt verfügt mit anderen Worten nach Feinberg auch über eine Anzahl von kennzeichnenden Charaktereigenschaften, die seine Denkweise und Haltung entscheidend prägen und für die de-facto-Gestaltung einer Lebensart direkt verantwortlich sind, welche von der Mehrheit der Mitglieder einer Gesellschaft als „autonom“ angesehen wird. In dieser Hinsicht hängt ein selbstbestimmtes Leben in erster Linie von der Fähigkeit des Individuums ab, seine Meinung, seine Wünsche, seine Präferenzen, seine Ziele und letztendlich sein Wertesystem selbst zu formen525. Ein derartiger authentischer Mensch – der von seiner Umgebung als der „Herr und Schöpfer“ seines eigenen Daseins betrachtet wird – befindet sich stets in einem Selbsterkennungsprozess und ist deswegen gegebenenfalls auch bereit, seine bisherigen Vorstellungen zu revidieren, um sich selbst zu entfalten526. Eine de facto autonome Person legt des Weiteren auf die Erhaltung ihrer Individualität527 (im Rahmen eines ansonsten überwältigen522 Vgl. Seher, Gerhard, Liberalismus und Strafe, S. 132 und Feinberg, Joel, a.a.O. (Fn. 505), S. 30: „It is the threshold conception of natural competence – minimal relevant capability for a task – that is used in stipulations of necessary and sufficient conditions for the sovereign right of self-government ascribed to individuals“. 523 Vgl. Feinberg, Joel, a.a.O. (Fn. 505), S. 29 und insb. S. 30. Feinberg betrachtet die Autonomie als ein „Alles-oder-Nichts“ („all or nothing“) Konzept. 524 Feinberg leitet hier den De-facto-Aspekt der Selbstbestimmung (de facto autonomy) ein, den er im Rahmen seiner Auseinandersetzung auch als „Zustand tatsächlicher Autonomie“ bezeichnet (autonomy as condition); vgl. dazu Feinberg, Joel, a.a.O. (Fn. 505), S. 31 f. und Seher, Gerhard, Liberalismus und Strafe, S. 130. 525 Vgl. Feinberg, Joel, a.a.O. (Fn. 505), S. 32 (authenticity). 526 Ebd. S. 33 f. (self-determination); laut Christman (a.a.O. Fn. 506, S. 110) bilden die zwei erwähnten Elemente im Werk Feinbergs den inneren Kern der Autonomie: „Feinberg is not explicitly averse to the contention that the traits of „authenticity“ and „self-determination“ he discusses might straightforwardly be read as the core ideas of which the other characteristics in his list are extensions and variations“. 527 Vgl. Feinberg, Joel, a.a.O. (Fn. 505), S. 32 (individuality/self-possession).
I. Die unterschiedlichen Konzeptionen der Autonomie
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den sozialen Umfelds) sowie auf die Selbstbeherrschung528 (als erforderliches Mittel zur Erreichung dieses Zwecks) großen Wert. Schließlich erfordert das „Bild“ eines selbstbestimmten Menschen moralische Authentizität529 und darüber hinaus auch persönliche Integrität530, Eigeninitiative531 und Selbstverantwortlichkeit532. Feinberg verkennt an diesem Punkt jedoch nicht, dass die Wirkung dieser „autonomiefördernden“ Charaktereigenschaften oft vom Einfluss externer Faktoren mitbestimmt wird. Der Mensch, als Teil eines breiteren gesellschaftlichen Kreises, ist nämlich in seinem Alltag einer Vielfalt von Situationen ausgesetzt, welche seiner Kontrolle nicht unterliegen und die selbstbestimmte Führung seines Lebens erheblich erschweren oder sogar ausschließen können. Deswegen ist es nach Feinberg für die Entfaltung der persönlichen Autonomie ebenfalls von besonderer Bedeutung, dass das Individuum vor der Einwirkung derartiger äußerer Zwangsfaktoren, wie beispielsweise einer Nötigungssituation oder einer schweren, debilitierenden Krankheit, möglichst geschützt wird533. Schließlich entscheidet laut Feinberg auch nicht weniger der reine Zufall darüber, ob ein Mensch im Endeffekt – und trotz aller Schwierigkeiten – seine Anlagen zur Gestaltung eines selbstbestimmten Daseins gebrauchen wird oder nicht534. Aus den dargestellten Überlegungen wird als erstes Zwischenergebnis ersichtlich, dass der von Feinberg bis jetzt verfolgte methodologische Ansatz zur Annäherung an den Begriff der persönlichen Autonomie auf der Festlegung und auf konsequenter Auflistung einer Reihe von positiven535 und negativen536 Elementen der Selbstbestimmung basiert, die in ihrer Gesamtheit das „Bild des autonomen Individuums“ darstel-
528
Ebd. S. 41 (self-control). Ebd. S. 36 f. (moral authenticity); es ist von großer Bedeutung schon an diesem Punkt zu betonen, dass Feinberg, mit der Forderung an „moralische Authentizität“, die Autonomie nicht an die Befolgung der im Rahmen einer Gesellschaft herrschenden „moralischen Gesetze“ koppelt, sondern, dass er von einem autonomen Individuum lediglich die Einhaltung der eigenen ethischen Regeln positiv erwartet, unbeschadet ihrer Herkunft und ihres tatsächlichen, sittlichen oder unsittlichen Inhalts; siehe diesbezüglich auch unten, Fn. 544. 530 Ebd. S. 40 (integrity), verstanden als Prinzipientreue. 531 Ebd. S. 42 f. (initiative/self-generation), verstanden als die Fähigkeit, die eigenen Pläne im Leben selbst in Gang setzten zu können. 532 Ebd. S. 43 f. (responsibility for self), was nach Feinberg zur Entfaltung der Autonomie unentbehrlich ist. 533 Vgl. Feinberg, Joel, a.a.O. (Fn. 505), S. 31: „I do not govern myself if you overpower me by brute force and wrongfully impose your will on mine, or if illness throws me into a febrile stupor, delirium, or coma […]“. 534 Ebd. S. 31: „We must mention […], however, that de facto self-government presupposes luck. If a persons luck is bad, circumstances beyond his control can destroy his opportunities“. 535 Etwa die oben abgehandelte Fähigkeit zur Selbstbestimmung, die Authentizität des Charakters, die Individualität usw. 536 Darunter ist das Erfordernis der Abwesenheit von Zwangsfaktoren zu verstehen. 529
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C. Die Bestimmung des Autonomiebegriffs aus philosophischer Perspektive
len sollen. Insofern geht Feinberg – wie viele andere Autoren537 – von einem eindeutig deskriptiven Autonomieverständnis aus538, dem er allerdings einen veränderten, von der liberalen Doktrin geprägten Sinngehalt verleiht. In diesem Sinne unterliegt der feinbergische Selbstbestimmungsbegriff in erster Linie keinen quantitativen Erwägungen. Während also das „klassische“ deskriptive Modell – wie oben gesehen – die Menschen an Hand der Erfüllung gewisser Voraussetzungen in unterschiedlichen „Autonomiestufen“ einordnet539, dient die von Feinberg durchgeführte Aufzählung der Charaktereigenschaften eines „selbstbestimmten Individuums“ ausschließlich seinem Versuch, sich einem mannigfaltigen Begriff – wie demjenigen der persönlichen Autonomie – aus rein praktischer Perspektive anzunähern, um schließlich ein möglichst umfassendes und klares Verständnis von Selbstbestimmung zu ermöglichen. Feinberg legt dar, dass verschiedene Individuen – aufgrund ihres unterschiedlichen Hintergrundes und angesichts ihrer persönlichen Anlagen – auf rein praxisbezogener Ebene ihr Leben „mehr“ oder „weniger“ autonom führen können540. Für die Frage der „Zuerkennung“ von Autonomie, spielt jedoch das Vorliegen oder – im Gegenteil – der Mangel an einer Anzahl bestimmter Charaktereigenschaften keine Rolle: jeder durchschnittlich begabte Mensch ist laut Feinberg ipso facto auch ein autonomes Subjekt, unbeschadet seines tatsächlichen „Erfolgs“ oder charakterbedingten „Fortschritts“ im Leben541. Des Weiteren ist nach Ansicht Feinbergs der Autonomiebegriff ein „ethisch offenes Konzept“542, in dessen Rahmen Vorstellungen moralischer Art keine Relevanz haben können. Daher kann die Selbstbestimmung vom inhaltlichen Wert der Handlungen des Subjekts nicht abhängig gemacht werden. Im Gegensatz zur Ansicht von 537 Vgl. dazu Fallon, R. H. Jr., Two senses of autonomy, in: Stanford law review (1994), S. 877 m.w.N. 538 Ebd. S. 879, Fn. 20. 539 Insoweit weist das deskriptive Modell mit der weiter oben dargestellten relativistischen Konzeption gewisse Ähnlichkeiten auf. 540 Vgl. Feinberg, Joel, a.a.O. (Fn. 505), S. 30: „In summary, capacities relevant to selfgovernment do differ in the degree to which they are possessed by various competent persons. Therefore, above a certain minimal threshold, the autonomy that is defined in terms of those capacities is also a property admitting of ,more and ,less. The actual condition of selfgovernment (and its associated virtues), which defines ,autonomy in the second sense, also is subject to differences in degree. Some people are ,more in control of themselves than others, have more prudence […] authenticity or integrity than others […]. Dispositions of character, feeling, or sensibility, and differences in life circumstances […] may be contributing factors [to this fact]“. 541 Ebd. S. 30: „The person whose relevant capacities are just above the bare threshold of competence that qualifies him for de jure self-government may rightfully rule himself, but in fact he may rule himself badly, unwisely, only partially. He may in fact have relatively little personal autonomy in the sense of de facto condition, but like a badly governed nation, he may retain his sovereign independence nevertheless […]. Being stupid, no less than being wise, is the sole prerogative of the threshold-competent“; insoweit bleibt Feinberg dem liberal erfassten „Schwellenkonzept“ Wiklers treu. 542 Siehe Seher, Gerhard, Liberalismus und Strafe, S. 131.
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Raz ist es also nach Feinberg durchaus möglich, dass ein autonomes Individuum „erhebliche moralische Defizite“543 aufweist: ein Mensch, der sein Leben egoistisch, gefühls- oder rücksichtslos führt, ist nicht allein deswegen weniger autonom als sein sittlicher Mitbürger544. In dieser Feststellung liegt darüber hinaus auch der Grund für Feinbergs Ablehnung eines „Ideals“ persönlicher Autonomie: da die Moralität einer Handlung keine Rolle für ihren „autonomen“ Charakter spielt, kann folglich auch die Selbstbestimmung von der Erreichung eines perfektionistisch verstandenen Menschenbilds nicht abhängig gemacht werden. Darüber hinaus hat die Konstellation eines „vorbildlich autonomen Individuums“ auch keinen Bezug auf die soziale Wirklichkeit und kann – wenn paternalistische Gedanken im Hintergrund stehen – eine inhärente Gefahr für das liberale Selbstbestimmungsverständnis in sich bergen545. Feinberg stellt in dieser Hinsicht zutreffend fest, dass jeder Mensch – als Mitglied eines breiteren (und manchmal anspruchsvollen) sozialen Umfelds – sowohl seine Denkweise als auch sein Verhalten oft den wechselnden gesellschaftlichen Verhältnissen seiner Zeit anpassen muss, um seine Bedürfnisse zu befriedigen und um sein Leben möglichst reibungslos zu führen: ein von seinen Mitmenschen völlig abgeschirmtes Individuum, das keine Kompromisse macht, ist in der heutigen pluralistischen Gesellschaft recht schwer vorstellbar546. Der Mensch wird stets von seiner Umgebung mindestens bis zu einem gewissen Grad mitbestimmt. Folglich wäre es laut Feinberg auch ein eindeutiger Fehler anzunehmen, dass autonome Subjekte unbedingt ein „ideales Verhaltensmuster“ befolgen müssten, denn selbst Handlungen, welche unter einer objektiven Prüfung die Bedingungen der de-facto-Autonomie nicht erfüllen würden, könnten trotzdem von einem selbstbestimmten Individuum stammen, welches – im Rahmen einer unvollkommenen Gesellschaft und unter Berücksichtigung und Einbeziehung aller einschlägigen Aspekte seines breiteren Um-
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Ebd. S. 131. Vgl. Feinberg, Joel, a.a.O. (Fn. 505), S. 45: „[…] a self-governing person is no less selfgoverned if he governs himself badly, no less authentic for having evil principles, no less autonomous if he uses his autonomy to commit aggression against another autonomous person. The aggressor is morally deficient, but what he is deficient in is not necessarily autonomy. He may have more than enough of that“; vgl. auch die in diesem Kontext passende Bemerkung Möllers (Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, S. 157): „Es kommt eben gerade nicht nur darauf an, dass im Endergebnis möglichst viele richtige Entscheidungen getroffen werden, sondern in dem Recht [eines Menschen], seine eigene Entscheidungen zu treffen, liegt ein unabhängiger Wert“. 545 Vgl. Feinberg, Joel, a.a.O. (Fn. 505), S. 46. „There is a danger in discussing, in the abstract, the ideal qualities of a human being. Our very way of posing the question can lead us to forget the most significant truth about ourselves, that we are social animals“. 546 Ebd. S. 46: „The human world does not and cannot consist of millions of separate sovereign ,islands each exercising his own autonomous choice about what, where, how and when he shall be, each capable of surviving and flourishing if he so chooses, in total independence of all the others, each free of any need for the others“. 544
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felds – seine Interessen lediglich zu fördern versucht547. Ideale Vorstellungen über die Autonomie haben demnach im Rahmen der feinbergschen liberalen Doktrin keinen Legitimationsgrund und sind nie frei von dem Verdacht eines schleichenden Paternalismus. Aus den bislang dargestellten Teilaspekten der Selbstbestimmung nimmt Feinberg schließlich die Herleitung eines positiven Autonomierechts des Menschen vor: die Selbstbestimmungsfähigkeit, die praktischen Merkmale und Charaktereigenschaften eines autonomen Individuums, und die strenge Trennung der Selbstbestimmung von moralischen oder sonstigen perfektionistischen Vorstellungen, bilden für Feinberg die Kontur eines inneren, inhärenten Belanges des Individuums548. Der Mensch besitzt in dieser Hinsicht eine Art „natürlicher Souveränität“ über sich selbst, welche in ihrem absoluten Charakter und ihrer Geltung mit dem souveränen Recht eines Staates über sein Territorium vergleichbar ist549. Dieses Selbstbestimmungsrecht des Individuums ist für Feinberg so eng mit der menschlichen Natur verbunden550, dass jeder Versuch, es auf der Basis abstrakter Wertvorstellungen zu legitimieren, überflüssig ist. Stattdessen appelliert er mit einem argumentum ad hominem551 an die inneren Gefühle und Intuitionen jedes Menschen, welche ihm zufolge ohnehin auf die immanente Richtigkeit dieser Vorstellung hinweisen552.
547 Ebd. S. 46 – 47: „The danger for the philosopher who forgets for a moment these truisms [gemeint ist hier einerseits, dass der Mensch stets als Teil eines breiteren sozialen Umfelds zu betrachten ist, und andererseits, dass die Individuen von diesem Umfeld oft entscheidend beeinflusst werden] is to overreact to the human flaws we call inauthenticity, conformism, other-determination, lack of integrity, lack of self-control, overreliance on others, passive responsiveness, and the like, and assume that excellence consists in the states furthest from them on a common scale of measurement. It is impossible to think of human beings except as part of ongoing communities, defined by reciprocal bonds of obligation, common traditions, and institutions. Any conception of ideal human virtue must be consistent with this presupposition […]. The ideal of the autonomous person is [therefore] that of an authentic individual whose self-determination is as complete as is consistent with the requirement that he is, of course, a member of a community“; vgl. auch Seher, Gerhard, Liberalismus und Strafe, S. 131 m.w.N. 548 Vgl. Feinberg, Joel, a.a.O. (Fn. 505), S. 47 f. sowie 52 f. 549 Ebd. S. 47 f. und insb. S. 48: „[…] sovereignty is basic and underivative. Sovereignty is, in a sense, an ultimate source of authority“; vgl. auch Möller, Kai, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, S. 41: „[Feinberg] zieht eine Parallele von dem Souveränitätsrecht autonomer Staaten zu dem Recht des Einzelnen, bei „inneren“ Angelegenheiten selbst entscheiden zu können“. 550 Feinberg leitet dadurch in sein bisher deskriptives Autonomieverständnis auch askriptive Elemente ein, und baut somit eine ausgewogene Selbstbestimmungskonzeption auf; vgl. auch Fallon, R. H. Jr., Two senses of autonomy, in: Stanford law review (1994), S. 890, Fn. 94. 551 Vgl. Seher, Gerhard, Liberalismus und Strafe, S. 132. 552 Vgl. Feinberg, Joel, a.a.O. (Fn. 505), S. 52: „Demonstration of the doctrine is not possible, but the reader may find that it resonates with something in his most fundamental moral attitudes – particularly some of the attitudes he holds toward himself“; vgl. dazu auch die zutreffenden Bemerkungen Möllers (Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, S. 42, Fn. 35), der sich den Überlegungen Feinbergs anschließt.
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Mit der Zuerkennung eines Rechts auf Selbstbestimmung und mit der Anknüpfung dieses Wertes an das Wesen des Menschen selbst553 besteht Feinberg auf einer absoluten Autonomiekonzeption: solange also der Einzelne nach dem Schwellenkonzept Wiklers die erforderliche Kompetenzgrenze überschreitet, ist er auch gleichzeitig als „de jure autonom“ zu betrachten, ein Zustand, der keiner quantitativen Relativierung unterliegt554. Den so skizzierten Selbstbestimmungsbegriff baut Feinberg anschließend durch die Konkretisierung des Inhalts und der äußersten Grenzen der individuellen Autonomie weiter aus, um dieses Konzept schließlich für die Praxis brauchbar zu machen555. In diesem Zusammenhang greift Feinberg wieder auf die zwischen der individuellen Autonomie und der Souveränitätsmacht autonomer Staaten gezogene Parallele zurück und versucht in diesen Rahmen, mögliche Analogien festzustellen556. Unter diesem Blickpunkt umfasst das Selbstbestimmungsrecht in erster Linie die Freiheit, über den eigenen Körper zu bestimmen, genauso wie ein unabhängiger Staat die Freiheit genießt, über sein eigenes Territorium zu gebieten557. Diese Prärogative des Individuums besteht ihrerseits aus einer negativen und aus einer positiven Dimension, und zwar in dem Maße, dass der Einzelne – wiederum ähnlich einem souveränen Staat – direkte oder indirekte Eingriffe in die Belange der eigenen Person nach seinem Ermessen sowohl zulassen als auch verbieten darf558. Dieser „Entscheidungsraum“ des Individuums ist jedoch nach Feinberg in dem Sinne erweiternd auszulegen, dass er nicht nur Verfügungen über den eigenen Körper, sondern auch über einen Bereich „um den Menschen herum“ umfassen sollte559. Das 553 Diese Punkte weisen eindeutig auf die Einbeziehung von Elementen eines askriptiven Autonomieverständnisses in die Doktrin Feinbergs. 554 Vgl. Feinberg, Joel, a.a.O. (Fn. 505), S. 30: „In any case the fourth sense of autonomy – de jure independence – is not a matter of more or less. It belongs equally to the wise and the foolish, and is determined only by that competence [gemeint ist hier die früher erörterte Fähigkeit zur Selbstbestimmung] which is itself not a matter of degree“. 555 Siehe Seher, Gerhard, Liberalismus und Strafe, S. 133 a. E. 556 Vgl. Feinberg, Joel, a.a.O. (Fn. 505), S. 52: „Consider […] our basic political analogy. In what ways might the autonomous individual be analogous to the autonomous state?“. 557 Ebd. S. 52: „The politically independent state is said to be sovereign over its own territory. Personal autonomy similarly involves the idea of having a domain or territory in which the self is sovereign“; vgl. auch Seher, Gerhard, Liberalismus und Strafe, S. 134. 558 Feinberg subsumiert diese beiden Aspekte der menschlichen Entscheidungsfreiheit unter dem Oberbegriff „discretionary competence of the subject“; vgl. dazu Feinberg, Joel, a.a.O. (Fn. 505), S. 53: „The concept of discretionary competence implies both negative rights (e. g., the right not to have surgery imposed on oneself against ones will) and positive rights (e. g., the right to have surgery performed on oneself if one voluntarily chooses – and the surgeon is willing)“; vgl. auch Seher, Gerhard, Liberalismus und Strafe, S. 134, der zutreffend bemerkt, dass die Sicherstellung eines „positiven Entscheidungsfreiraums“ für Fragen des eigenen Körpers einen der grundlegenden inhaltlichen Aspekte des Autonomierechts in der Doktrin Feinbergs darstellt. 559 Vgl. Feinberg, Joel, a.a.O. (Fn. 505), S. 53 a. E. und 54; vgl. auch Seher, Gerhard, Liberalismus und Strafe, S. 134.
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C. Die Bestimmung des Autonomiebegriffs aus philosophischer Perspektive
Selbstbestimmungsrecht gewährt dem Einzelnen mit anderen Worten auch die Möglichkeit, zu bestimmen, welche Personen und welche Ereignisse seinen unmittelbaren Erfahrungsbereich „tangieren“ werden und welche nicht560. Der dadurch beschriebene Anspruch auf die eigene Privatsphäre ist allerdings nach Feinberg stets in Zusammenhang mit den entsprechenden Interessen Anderer zu betrachten, welche bei der Bestimmung der äußeren Grenzen dieser Sphäre mitberücksichtigt werden müssen561. In diesen erweiterten Bereich menschlicher Entscheidungsprärogative sollte schließlich laut Feinberg auch die Freiheit miteinbezogen werden, über Besitz und Eigentum zu verfügen562, denn die Privatsphäre des Einzelnen umfasst in der Praxis nicht nur immaterielle, sondern auch „räumlich-gegenständliche“ Interessen563, welche für das menschliche Leben und die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit ebenfalls von zentraler Bedeutung sind. Die dargestellten Aspekte erschöpfen jedoch nach Feinberg den Inhalt des Selbstbestimmungsrechts nicht, denn sie stellen eigentlich nichts Anderes als bloße „Erscheinungsformen“ seines Wesensgehalts dar, der in der Freiheit des Menschen besteht, Entscheidungen zu treffen564. Autonom zu sein bedeutet in erster Linie, die Möglichkeit zu haben, unter einer Vielfalt von unterschiedlichen offenen Optionen, eine freie und bewusste Wahl zu treffen, und in dieser Hinsicht muss auch der Kern des Selbstbestimmungsrechts zugleich auf die Ermöglichung und Bewahrung dieser prinzipiellen Freiheit gerichtet sein. Im Mittelpunkt einer liberalen Autonomiekonzeption steht demzufolge nach Feinberg das Recht des Individuums, den Verlauf seines eigenen Lebens zu bestimmen, welches seinerseits in der Freiheit besteht, wesentliche Lebensentscheidungen nach
560 Feinberg bezieht sich hier auf das im anglo-amerikanischen Rechtssystem als „right of privacy“ bekannte Recht des Individuums, welches vom Autonomierecht unmittelbar abzuleiten ist; vgl. dazu Feinberg, Joel, a.a.O. (Fn. 505), S. 54: „My right to determine by my own choice what enters my field of experience is one of the various things meant by the ,right of privacy, and so interpreted, that right is one of the elements of my personal autonomy“. 561 Vgl. Feinberg, Joel, a.a.O. (Fn. 505), S. 54: „My personal space, however, diminishes to the vanishing point when I enter the public world. I cannot complain that my rights are violated by the hurlyburly, noise, and confusion of the busy public streets; I can always retrace my steps if the tumultuous crowds are too much for me“. 562 Vgl. Feinberg, Joel, a.a.O. (Fn. 505), S. 54: „[…] contractual possession and land ownership are also defined by discretionary rights and form a part, but by no means the whole, of our personal autonomy. On my land, apart from emergencies […] and comparable rights of my landowning neighbors, I and I alone am the one who decides what is to happen“. 563 Siehe Seher, Gerhard, Liberalismus und Strafe, S. 134. 564 Vgl. dazu Feinberg, Joel, a.a.O. (Fn. 505), S. 54: „Even discretionary control of body, privacy, and landed property together do not exhaust a plausible conception of personal autonomy. The kernel of the idea of autonomy is the right to make choices and decisions […]“; vgl. dazu auch Seher, Gerhard, Liberalismus und Strafe, S. 134.
I. Die unterschiedlichen Konzeptionen der Autonomie
129
eigenem Ermessen zu treffen565. Aus diesem Appell an den Schutz der „Entscheidungsbefugnis“ des Einzelnen für wichtige und zentrale Angelegenheiten des Lebens darf jedoch nicht die Folgerung gezogen werden, dass paternalistische Interventionen in Entscheidungen minderer Wichtigkeit und Tragweite hinzunehmen sind. Denn in der liberalen Denkweise Feinbergs ist – mit den zutreffenden Worten Möllers – eine Unterscheidung zwischen „geringen“ und „unbedeutsamen“ Eingriffen in die Autonomie des Einzelnen und Eingriffen in „wichtige Lebensentscheidungen“ einfach unzulässig566. Jede derartige Differenzierung müsste sich darüber hinaus auf willkürliche und vage Kriterien stützen, welche die individuellen Präferenzen des Individuums außer Acht ließen und die Wichtigkeit jedes einzelnen Aspekts des menschlichen Lebens anhand seines – schwer einzuschätzenden – „objektiven Wertes“ beurteilen müssten567. Die Menschen sind eben durch ihre Vielfältigkeit gekennzeichnet und lassen sich nicht einfach in fremdbestimmte, konforme Kategorien einordnen: unterschiedliche Charaktermerkmale und Präferenzen bedeuten gleichzeitig auch unterschiedliche Interessenaufteilung, weswegen eine Einstufung von Lebensentscheidungen in Kategorien auf der Basis ihrer „Wichtigkeit“ im Rahmen der liberalen Doktrin unzulässig ist568. Die Grundlage des Selbstbestimmungsrechts besteht also in der Freiheit, jeden 565
Vgl. dazu Feinberg, Joel, a.a.O. (Fn. 505), S. 54: „[…] the most basic autonomy-right ist he right to decide how on eis to live ones life, in particular how to make the critical lifedecisions […]“; vgl. auch Seher, Gerhard, a.a.O. (Fn. 563), S. 134 und Möller, Kai, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, S. 42. 566 Vgl. Möller, Kai, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, S. 42; vgl. auch Feinberg, Joel, a.a.O. (Fn. 505), S. 54 a. E. – 55: „If we take the model of national sovereignty seriously, we cannot make certain kinds of compromises with paternalism. We cannot say, for example, that interference with the relatively trivial self-regarding choices involves only ,minor forfeitures of sovereignty whereas interference with the basic life-choices involves the virtual abandonment of sovereignty, for sovereignty is an all or nothing concept; one is entitled to absolute control of whatever is within ones domain however trivial it may be. In the political model, a nations sovereignty is equally infringed by a single fishing boat in its territorial waters as by a squadron of jet fighters flying over its capital city. Both are equally violations of sovereign rights, though the one, of course, is a more serious or important infringement than the other“. 567 Vgl. Feinberg, Joel, a.a.O. (Fn. 505), S. 93 – 94: „Many writers have complained that Mills self-and-other-regarding test is a difficult one to make precise and workable, but its difficulties are minor compared to those involved in applying the criterion of ,central, ,pivotal, or ,fecund interests, or those ,inseparable from the concept of ordered liberty, or those that express a person in ,some essential and important way. As the experience of the Supreme Court has shown, it is difficult to apply a restricted concept of personal sovereignty in ways that do not seem arbitrary […]. The correlative of vagueness in a criterion is arbitrariness in its application […] Here it suffices to emphasize the point that if a philosopher is operating with a concept of de jure autonomy, and not mere de facto liberty or freedom, he may not compromise […] and balance ,trivial interferences against great increases in safety. There is no such thing as a ,trivial interference with personal sovereignty; nor is it simply another value to be weighed in a costbenefit comparison“. 568 Seher (a.a.O., Fn. 563, S. 134) missinterpretiert in dieser Hinsicht die Argumentation Feinbergs bezüglich der Gebotenheit der Aufteilung der Lebensinteressen in „wichtige“ und
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C. Die Bestimmung des Autonomiebegriffs aus philosophischer Perspektive
Aspekt des eigenen Lebens bestimmen zu können; von dieser Ausgangsthese sind dann alle weiteren, oben dargestellten Komponenten dieses Rechts abzuleiten. Auf die ausführliche Darstellung des Inhalts der persönlichen Autonomie lässt Feinberg die Festlegung der äußersten Grenzen des Gebiets folgen, „innerhalb dessen das Individuum sein Selbstbestimmungsrecht geltend machen kann“569, womit er seine liberal geprägte Autonomiekonzeption vervollständigt570. Zum Zweck einer effektiven „Grenzziehung“ stellt Feinberg auf die liberalen Maximen des Schadens- und Störungsprinzips (harm and offense principles) ab571: Die Freiheit des Einzelnen, über sich selbst zu bestimmen, stößt in dieser Hinsicht an ihren „äußersten Rand“, wenn durch die Handlungen des Subjekts fremde Interessen verletzt oder auf rechtlich beachtliche Weise beeinträchtigt werden. Solange also ein Verhalten selbstbezogenen Charakter (self-regarding character) aufweist, bewegt es sich innerhalb des erlaubten Rahmens der Selbstbestimmung. Feinberg erkennt, dass dieses Kriterium mit dem unübersichtlichen Problem der praktischen Differenzierung der Handlungen in „selbst-“ und „fremdbezogene“ verbunden ist, was seine Nützlichkeit berechtigterweise in Frage stellen kann. Um dieses Hindernis zu überwinden, verweist er auf die von John Stuart Mill aufgebaute Zweiteilung des menschlichen Verhaltens in „hauptsächlich“ und „primär“ selbstbezogenes („directly“, „chiefly“, or „primarily“ self – regarding) einerseits, und „offensichtlich“ fremdbezogenes (plainly other – regarding) andererseits572 und stellt dadurch eine nützliche, praxisorientierte Faustregel auf. Obwohl Feinberg mit dieser Argumentation zugegebenermaßen keinen Maßstab für die Beurteilung jedes Einzelfalles entwickeln kann – sodass er insofern der „traditionellen“ Kritik der Gegner der klassischen liberalen Doktrin sich ebenfalls aussetzt –, gelingt es ihm dennoch, eine zweckdienliche äußere Grenzlinie des Selbstbe„unwichtige“. Die Überlegungen Feinbergs basieren nämlich auf der Prämisse, dass im Rahmen des liberalen Dogmas keine Unterscheidung zwischen wichtigen und unwichtigen Eingriffen in die Privatsphäre gemacht werden kann. Die persönliche Autonomie lässt sich im Rahmen seiner Doktrin nicht relativieren. Sein Ziel ist, eine kohärente und – vor allem – kompromisslose Verteidigungslinie gegen den staatlichen Paternalismus zu schaffen (vgl. Feinberg, Joel, a.a.O., Fn. 505, S. 26: „The most promising strategy for the anti-paternalist is to construct a convincing conception of personal autonomy that can explain how that notion is a moral trump card, not to be merely balanced with considerations of harm diminution in cases of conflict, but always and necessarily taking moral precedence over those considerations“, S. 98 f. und S. 136: „We have already dismissed – see Chap. 19, § 8 –, albeit respectfully, a fourth alternative, namely to restrict the domain boundaries of personal sovereignty to more fundamental interests or ,significant projects“). 569 Siehe Seher, Gerhard, a.a.O. (Fn. 563), S. 133. 570 Vgl. Feinberg, Joel, a.a.O. (Fn. 505), S. 55 f. 571 Ebd. S. 56. Feinberg hat diese zwei Maximen zum Gegenstand der zwei ersten Bände seines vierbändigen Werkes „The moral limits of the criminal law“ gemacht; vgl. auch Seher, Gerhard, a.a.O. (Fn. 563), S. 135. 572 Vgl. dazu Feinberg, Joel, a.a.O. (Fn. 505), S. 56, Mill, John Stuart, On liberty, S. 71, und Seher, Gerhard, a.a.O. (Fn. 563), S. 135 a. E.
I. Die unterschiedlichen Konzeptionen der Autonomie
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stimmungsrechts möglichst präzis zu ziehen, um mithin seine liberale Autonomiekonzeption als eine konkrete, schlüssige und effektive „Barriere“ für den Kampf gegen den staatlichen Paternalismus zu präsentieren. Das Autonomieverständnis Joel Feinbergs stellt sich zusammenfassend als ein aussagekräftiger Versuch dar, den Sinngehalt der Selbstbestimmung aus dem Wesen des Individuums abzuleiten. Die menschliche Natur ist mannigfaltig, weswegen auch Feinberg die persönliche Autonomie als eine ebenfalls komplexe und mehrdimensionale Gegebenheit erfasst, die das Leben des Einzelnen auf mehreren Ebenen prägt. Die Selbstbestimmung wird aus diesem Grund zunächst deskriptiv umrissen und als eine Fähigkeit jedes durchschnittlich begabten Menschen erkannt. Diese natürliche Befähigung der Person wird üblicherweise von einer Vielfalt entsprechender Charaktereigenschaften „begleitet“, deren Vorhandensein oder Fehlen jedoch für die Bezeichnung einer Handlung als autonom keine direkte Relevanz haben. Feinberg konstruiert unter diesem Blickpunkt ein absolutes Autonomieverständnis, das sich – im Gegensatz zum klassischen deskriptiven Modell – nicht relativieren lässt. Das bedeutet jedoch nicht, dass die selbstbestimmte Führung des eigenen Lebens unter gewissen Umständen nicht auch negiert werden kann, wie es oft bei der Einwirkung von externen Zwangsfaktoren oder bei Schicksalsschlägen der Fall ist. Darüber hinaus ergibt sich aus der Position Feinbergs, dass selbstbestimmte Handlungen einen gewissen „positiven“ ethischen Kontext nicht vorweisen müssen, da der Mensch zum Zweck der Erfüllung seiner eigenen Interessen oft ein breites – und nicht immer sittlich vertretbares – Spektrum von Mitteln benutzt; man handelt autonom, um die eigenen Ziele im Leben – oft angesichts überwältigender Hindernisse – zu fördern, und ein derartiges, individualistisches Autonomieverständnis kann von ethischen Vorstellungen nicht abhängig gemacht werden. In gleicher Hinsicht wird auch die Konzeption eines vorbildlich autonomen Individuums als unzumutbar abgelehnt, da jeder Mensch – als Teil einer Gesellschaft – dem ständigen und oft charakterverändernden Einfluss seines sozialen Umfelds ausgesetzt ist. Schließlich stellt sich die Selbstbestimmung im Rahmen der staatlichen Gemeinschaft laut Feinberg als das positive Recht des Einzelnen dar, die eigenen Angelegenheiten selbst zu regeln. Diese Freiheit umfasst jeden primär selbstbetreffenden Entscheidungsbereich der Person und bildet damit eine Sphäre um das Individuum herum, welche unzulässige Eingriffe anderer Mitbürger oder eines paternalistisch motivierten Staates verbietet. Mittels der Betrachtung der persönlichen Autonomie als eines positiven Rechtes des Menschen führt Feinberg im Endeffekt auch askriptive Aspekte in sein Selbstbestimmungsverständnis ein und vereint auf diese Art und Weise die Vorteile der zwei effektivsten philosophischen Ansätze zur Annäherung an den Autonomiebegriff in eine konsistente, liberal geprägte Konzeption.
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C. Die Bestimmung des Autonomiebegriffs aus philosophischer Perspektive
7. Zusammenfassend zum Begriff der persönlichen Autonomie Der Versuch der Entfaltung einer möglichst präzisen und aussagekräftigen Autonomiekonzeption zählt zu den schwierigsten, aber gleichzeitig auch bedeutendsten Entwicklungen im Rahmen der zeitgenössischen politischen Philosophie. Obwohl noch kein breiter Konsens über alle einschlägigen Aspekte dieses Belanges des Individuums besteht, lässt sich im Rahmen der mannigfaltigen Auseinandersetzungen mit dieser Thematik eine Reihe von gemeinsamen Punkten finden, welche die Bildung eines kohärenten begrifflichen Kerns ermöglicht. In dieser Hinsicht ist die Selbstbestimmung vor allem als ein Wert anzusehen, dessen Wurzel tief in der Natur des Menschen zu finden sind; sie stellt eine innere Eigenschaft der Person dar, welche das Individuum als Wesen kennzeichnet. Die Autonomie ist deswegen an das Erfordernis eines hohen Intelligenz- oder Ausbildungsgrades nicht zu binden, obwohl zu ihrer Ausübung der Mensch gewiss im Stande sein muss, seine geistigen Anlagen zu nutzen, und dem gängigen Bild des „durchschnittlich begabten Individuums“ zu entsprechen. Des Weiteren ist die Selbstbestimmung als Konzept vom moralischen Wesensgehalt einer Handlung strikt zu trennen. Die Autonomie ist in diesem Kontext ein neutraler Wert, und bezieht sich auf die tatsächliche Fähigkeit des Individuums, sein Leben zu steuern, und nicht auf die Art und Weise, nach der dieser Vorgang geschieht. In ähnlichem Sinne ist schließlich die Selbstbestimmung ein Belang, der sich nicht relativieren lässt. Auch wenn also jedes Individuum auf rein faktischer Ebene von seiner Autonomie einen besseren oder schlechteren Gebrauch machen kann (wenn etwa seine Handlungen mit denjenigen seiner Mitmenschen verglichen werden), ist die Selbstbestimmung trotzdem stets als ein absoluter Wert zu verstehen. Deswegen spielen die Aufstellung „optimaler Lebenspläne“ oder die Befolgung von „Vollkommenheitsidealen“ als Verhaltensmuster bei Autonomieerwägungen schlichtweg keine Rolle. Insoweit sind sowohl der inhärente Wert, als auch die Tragweite dieser wesentlichen menschlichen Eigenschaft offensichtlich. Die persönliche Autonomie stellt in der Tat ein unentbehrliches Element des individuellen Daseins dar, worauf der Entwurf und die Realisierung des Lebensplans jeder Person beruht. Unter diesem Blickpunkt müsste jede Begrenzung der persönlichen Autonomie sich logischerweise auf ein genauso fundamentales Prinzip stützen, um legitim zu sein. Es lässt sich mithin fragen, inwieweit die Förderung der individuellen Wohlfahrt – der eigentliche Zweck und die vermeintliche Legitimationsgrundlage der paternalistischen Bevormundung – aus philosophischer Perspektive einen derartigen Grund konstituiert.
II. Verhältnis der persönlichen Autonomie zum objektiven Wohl des Individuums 133
II. Das Verhältnis der persönlichen Autonomie zum objektiven Wohl des Individuums: „ones right versus ones good“ Die Auseinandersetzung zwischen dem Respekt für die autonome Sphäre des Einzelnen einerseits und der Förderung des individuellen Wohls – auch gegen den Willen des betroffenen Subjekts – andererseits stellt das Wesen der Paternalismusproblematik dar. Beiden Positionen liegt schon das Verständnis zu Grunde, dass jedem Menschen im Prinzip ein innerer Raum respektierter Selbstbestimmung zusteht; ihre Kontroverse beginnt erst dort, wo die Frage aufgeworfen wird, ob der Mensch seine Kräfte überhaupt in einer Art und Weise einsetzen darf, welche seiner Wohlfahrt – verstanden als eine „objektivierte Vorstellung von individueller Selbsterfüllung“ – nicht dienlich sind573. Unter diesem Blickpunkt steht eine liberale Position für die prinzipielle Unantastbarkeit der persönlichen Autonomie, während eine paternalistische den Bedarf der Orientierung des individuellen Lebens nach objektiven Wertvorstellungen befürworten würde. Die gesamte Paternalismusdebatte lässt sich unter diesem Aspekt in der Frage der Vorrangsbeziehung zwischen der persönlichen Autonomie und dem objektiven Wohl des Individuums zusammenfassen. Die Formulierung einer plausiblen und – hauptsächlich – möglichst objektiven Antwort zu diesem Anliegen ist im Rahmen des philosophischen Diskurses an die Beurteilung des Verhältnisses der beiden Extreme zueinander anzuknüpfen, denn nur eine direkte Gegenüberstellung dieser Begriffe kann im Endeffekt überzeugend abwägen, ob die Selbstbestimmungskonzeption – so, wie sie bisher von der liberalen Doktrin dargestellt wurde – paternalistischen Eingriffen berechtigterweise Grenzen ziehen kann. Die angelsächsische Literatur liefert mit Joel Feinberg einen wichtigen Beitrag zu dieser Fragestellung, der die gesamte Problematik unter dem Motto „ones right versus ones good“ thematisiert574. Feinberg entwirft im Rahmen seiner Untersuchung vier mögliche Modelle, welche das Verhältnis der persönlichen Autonomie zur Förderung des objektiven Wohls des Individuums aus jeder denkbaren Perspektive zu betrachten suchen. Diese Konstellationen beruhen ihrerseits auf jeweils unterschiedlichen Prämissen, so dass im Ergebnis ein breites Spektrum von mehr oder weniger liberalen und logisch vertretbaren Positionen präsentiert wird. Nach Maßgabe also der ersten Konzeption wird die Selbstbestimmung als ein Wert betrachtet, der ausschließlich an der Förderung des objektiven Wohls des Einzelnen ausgerichtet ist. Die Autonomie ist nach diesem Verständnis weder ein souveränes, 573 Vgl. dazu Seher, Gerhard, a.a.O. (Fn. 563), S. 136; vgl. auch Feinberg, Joel, The moral limits of the criminal law, vol. 3 (Harm to self), S. 57: „A majority view, associated with the writings of Plato, Aristotle, Rousseau, Hegel, and Mill, among others, identifies a persons good ultimately with his self-fulfillment – a notion that is certainly not identical with that of autonomy or the right of self-determination“. 574 Vgl. dazu Seher, Gerhard, a.a.O. (Fn. 563), S. 136 sowie Feinberg, Joel, a.a.O. (Fn. 505), S. 57 f.
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C. Die Bestimmung des Autonomiebegriffs aus philosophischer Perspektive
inneres Recht der Person, noch besitzt sie einen eigenen Stellenwert. Stattdessen beruht ihre Bedeutung allein auf der Tatsache, dass durch ihre „ordnungsgemäße“ Ausübung der Wohlfahrt des Individuums besser gedient werden kann575. Deswegen genießt das persönliche Wohl nach dieser Konstellation bei Konfliktfällen stets den Vorrang gegenüber der Selbstbestimmung576, denn sie existiert ausschließlich zu seiner Begünstigung. Diese Konzeption ist dem harten Paternalismus verpflichtet und setzt die Autonomie an die Stelle eines bloßen „Instruments“ auf dem Weg der Realisierung eines Wohlfahrtsplans herab. Die dadurch skizzierte Beziehung zwischen den beiden Begriffen erinnert an längst überholte absolutistische Modelle, welche logischerweise dem heutigen Verständnis nicht entsprechen; darüber hinaus übersieht eine derartige Ansicht auch den seit längerer Zeit allgemein anerkannten, inhärenten Wert der Autonomie und erweist sich auf Grund dieser Defizite als eher ungeeignet, das Verhältnis zwischen den beiden Extremen richtig darzustellen. Die zweite Konzeption versucht einen Kompromiss zwischen den beiden Werten zu schaffen. Beide Belange sind in diesem Sinne grundsätzlich als „gleichrangig“ zu behandeln, so dass keiner per se den Vorrang gegenüber dem anderen genießt577. Die freie Ausübung der Selbstbestimmung wird unter diesem Blickpunkt bloß als eine der effektivsten „Methoden“ angesehen, um das eigene Wohl zu fördern. In dem Fall, dass das freiwillige Verhalten des Individuums dieser Zwecksetzung nicht dient, sind dann die beiden Werte intuitiv gegeneinander abzuwägen, und es soll in concreto geprüft werden, welcher von beiden sich im Endeffekt durchzusetzen hat578. Diese „moderat-paternalistische“579 Ansicht, welche Feinberg als „balancing strategy“ bezeichnet580, eröffnet jedoch mit ihrem Erfordernis kontinuierlicher Abwägungen einen Weg in die Unsicherheit und würde darüber hinaus in ihrer praktischen Umsetzung auch viele Schwierigkeiten schaffen581. Der wichtigste Einwand liegt jedoch in der Tatsache, dass diese Position im Endeffekt für die persönliche Autonomie unberechtigterweise restriktiv wirken könnte, denn auch Entscheidungen, welche den inneren Kern des Individuums tangieren, müssten trotzdem – und zwar nach den Vorstellungen Dritter – gegen seine eventuellen Wohlfahrtsinteressen abgewogen werden. Die Bewahrung eines festen Raums für die freie Entfaltung des Individuums zählt jedoch längst zu den grundsätzlichsten Forderungen der Bürger dem Staat gegenüber. Dieses „Unvermögen“, den inneren Kern der Autonomie abzusichern, kann als ein eindeutiger Hinweis dafür dienen, dass diese zweite Position letztendlich ungeeignet ist, das angemessene Verhältnis der Autonomie zum objektiven Wohl des Individuums korrekt zu erfassen. 575
Vgl. dazu Feinberg, Joel, a.a.O. (Fn. 505), S. 58 und 60 (unter 2). Ebd. S. 60 (unter 2), sowie Seher, Gerhard, a.a.O. (Fn. 563), S. 136. 577 Vgl. dazu Feinberg, Joel, a.a.O. (Fn. 505), S. 59 a. E. 578 Ebd. S. 60. 579 Vgl. Seher, Gerhard, a.a.O. (Fn. 563), S. 136. 580 Vgl. Feinberg, Joel, a.a.O. (Fn. 505), S. 61 sowie 25 a. E. 581 Ebd. S. 61: „This is hard to do in individual cases; it may raise even more difficult problems for the legislator who must reason intuitively about whole classes of cases“. 576
II. Verhältnis der persönlichen Autonomie zum objektiven Wohl des Individuums 135
Die dritte Konzeption erkennt sofort den grundlegenden Wert der Selbstbestimmung und betrachtet sie als die wichtigste Eigenschaft des Menschen582. Die Autonomie wird unter diesem Blickpunkt als ein Belang erfasst, der von der Förderung des individuellen Wohls völlig unabhängig ist, weswegen auch die Art und Weise ihrer Ausübung dem Einzelnen völlig zu überlassen sind. Der Staat darf seinerseits das Individuum an der Betätigung dieser prinzipiellen Freiheit nicht hindern, selbst dann nicht, wenn das Verhalten des Betroffenen mit Sicherheit zu einer wesentlichen und dauerhaften Verschlechterung seiner Lebensverhältnisse führen wird583. Die Autonomie genießt also nach dieser Konzeption stets den Vorrang gegenüber der Förderung des individuellen Wohls, und lässt sich weder von normativen noch praktischen Erwägungen einschränken. Diese Ansicht stellt eine extrem-antipaternalistische Position dar, welche jedoch der Tatsache nicht Rechnung trägt, dass die Menschen – als unvollkommene Wesen – oft dazu neigen, gravierende Fehler zu machen, welche ihrerseits gelegentlich schwere, irreversible Folgen mit sich tragen. Ein derartiges Modell würde sich deswegen im Rahmen der heutigen Gesellschaft nur schwer umsetzen lassen und stellt wegen dieser empirischen Implausibilität584 im Endeffekt weder einen ernsthaften Einwand gegen paternalistisch geprägte Gedanken dar, noch erfasst es angemessen den Zusammenhang zwischen der persönlichen Autonomie und dem objektiven Wohl des Individuums. Die letzte Konzeption, welche Feinberg als die „soft paternalist strategy“585 bezeichnet, stimmt mit der vorherigen insofern überein, als sie die Selbstbestimmung als ein souveränes und inhärentes Recht jedes Menschen begreift, welches sich von Wohlfahrtserwägungen jeder Art nicht einschränken lässt. Das Individuum ist in dieser Hinsicht befugt, seine Autonomie nach Belieben auszuüben, und seine Prioritäten im Leben nach Maßgabe seiner eigenen Präferenzen zu setzen, ohne dabei Rücksicht auf die eventuelle Verbesserung seiner Lebensverhältnisse nehmen zu müssen586. Der kennzeichnende Unterschied dieser Position liegt jedoch darin, dass die ungehinderte Betätigung des Autonomierechts an die Freiwilligkeit der getroffenen Entscheidungen des Einzelnen direkt angeknüpft wird. Unter diesem Blickpunkt ist der Staat in Fällen, wo der freiwillige Charakter der individuellen Handlungen entweder offensichtlich oder zumindest ernsthaft im Zweifel gezogen werden kann, nicht nur berechtigt, sondern unter liberalen Erwägungen positiv verpflichtet, einzugreifen, um den Einzelnen vor einer eventuell ungewollten Verletzung seiner Interessen zu schützen587. Falls es sich jedoch bei diesem Eingriff herausstellt, dass die Entscheidung des Einzelnen – trotz der entgegenstehenden anfänglichen Annahme – tatsächlich freiwillig getroffen wurde, dann ist nach Maßgabe dieser Position 582 583 584 585 586 587
Vgl. Feinberg, Joel, a.a.O. (Fn. 505), S. 59. Ebd. S. 59. Ebd. S. 61. Ebd. S. 61 sowie 26. Ebd. S. 61. Ebd. S. 61 und 59.
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C. Die Bestimmung des Autonomiebegriffs aus philosophischer Perspektive
die autonome Wahl des Individuums durchaus zu respektieren, auch wenn diese ohne Zweifel zu einer wesentlichen Verschlechterung seiner Lebensverhältnisse führen wird. Diese Auffassung, welche den prinzipiellen Respekt jeder freiwillig getroffenen Entscheidung postuliert, steht mit den ethischen Wertvorstellungen einer großen Anzahl von Menschen im völligen Einklang, und widerspiegelt auch das natürliche Rechtsgefühl jeder Person bei Fällen, in denen die Einschaltung fremder Willkür die eigenen Entscheidungen außer Kraft zu setzten droht588. Des Weiteren gewährt diese Position dem Einzelnen die Möglichkeit, auch unüberlegte und riskante Handlungen zu unternehmen, ohne dieses Verhalten gegenüber dem Staat utilitaristisch rechtfertigen zu müssen589, was Jedem letztlich einen breiten und viel benötigten Raum zur Selbstentfaltung eröffnet. Schließlich entspricht diese Variante auch den Grundlagen der liberalen Doktrin – und demnach auch der Basis des modernen Staatsverständnisses – in dem Sinne, dass sie nur dann die Begrenzung einer selbstbezogenen individuellen Handlung billigt, wenn diese mit den persönlichen Vorstellungen des entsprechenden Subjekts nicht übereinstimmt590. Aus diesen Gründen, aber hauptsächlich wegen der Miteinbeziehung der pragmatischen Dimension des alltäglichen Lebens in ihrem Kalkül, ist unter den erwähnten Konstellationen nur die Letztere geeignet, dem Spannungsverhältnis zwischen der persönlichen Autonomie und dem Wohl des Individuums gerecht zu werden. Die Selbstbestimmung wird also im Rahmen dieser Konzeption als ein Wert aufgefasst, welcher innerhalb der liberal konzipierten Gesellschaft den Vorrang gegenüber jeder Wohlfahrtserwägung genießt, und insofern auch als Grenze gegen jeden paternalistisch motivierten Versuch, den Einzelnen zu bevormunden, fungiert; als Ausprägung der vernünftigen Natur des Menschen stellt sich die Autonomie in entsprechender Weise zugleich als Instrument und Garant der freien und unbefangenen Entfaltung des Lebensplans jeder Person dar, und sie manifestiert sich des Weiteren kennzeichnend im Prozess der freiwilligen Konkretisierung all derjenigen Belange, welche der Einzelne für die tatsächliche Realisierung dieses Plans für erforderlich hält. Im Fall jedoch, dass die Handlungen des Individuums den Verdacht erregen, dass sie mit seinen wahren Präferenzen nicht im Einklang stehen, dann ist der Staat durchaus befugt einzugreifen, um den Menschen durch eine Kontrollinstanz vor den möglichen Folgen eines Verhaltens zu bewahren, welches den authentischen Ausdruck seines autonomen Willens nicht repräsentiert: Der Grundsatz des Vorrangs 588
Ebd. S. 62 a. E. und 63. Ebd. S. 62: „There must be a right to err, to be mistaken, to decide foolishly, to take big risks, if there is to be any meaningful self-rule; without it, the whole idea of de jure autonomy begins to unravel“. 590 Selbst John Stuart Mill hat mit seinem berühmten „Brückenbeispiel“ argumentiert, dass bei Fällen extremer Gefährlichkeit sogar der Einsatz von Zwangsmaßnahmen berechtigt ist, um die Freiwilligkeit des betroffenen Subjekts festzustellen; vgl. dazu Mill, John Stuart, On liberty, Ch. 5, S. 165 a. E. und 166. 589
III. Die Freiwilligkeit als Maßstab autonomen Verhaltens
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der persönlichen Autonomie gegenüber jeder Wohlfahrtserwägung wird in dieser Hinsicht berechtigterweise relativiert. Aus diesen Darstellungen wird also letztlich ersichtlich, dass die Freiwilligkeit des individuellen Verhaltens maßgebend für die Funktion des Autonomiekonzepts als „Einwands“ gegen die Doktrin des staatlichen Paternalismus ist591. Aus diesem Grund soll auch der Akzent der Untersuchung im Folgenden auf die nähere Erkundung des Freiwilligkeitsbegriffs gelegt werden, und insbesondere auf die Erläuterung der Frage, wann ein konkretes menschliches Verhalten als Äußerung des „wahren Willens“ des handelnden Subjekts betrachtet werden kann.
III. Die Freiwilligkeit als Maßstab autonomen Verhaltens Der Begriff der Freiwilligkeit lässt sich genauso wie derjenige der persönlichen Autonomie nicht einfach präzisieren, denn es handelt sich um ein Konzept, welches „von komplexen intellektuellen und emotionalen Faktoren, [sowie] von [den jeweils herrschenden] situativen Umständen und normativen Vorgaben“592 abhängig ist. Tatsächlich wird die Freiwilligkeit über eine Mehrzahl von sowohl menscheninternen als auch äußeren Bedingungen mitbestimmt, deren Erfüllung eine entscheidende Rolle für die Beurteilung des autonomen Charakters des individuellen Verhaltens spielt (a). Die eingestandene Vielfalt der Freiwilligkeitskriterien erfordert jedoch gleichzeitig, dass diese streng von anderen Kategorien abgegrenzt werden, welche nur scheinbar eine Beziehung dazu haben und deswegen bei einer einschlägigen Bewertung nicht berücksichtigt werden sollten (b). Aber auch dann, wenn all diese Punkte geklärt werden, bereitet die praktische Beurteilung des freiwilligen Charakters einer Entscheidung, und insbesondere die Festlegung einer bestimmten „Freiwilligkeitsschwelle“ für das menschliche Verhalten, ihre eigenen Problemstellungen (c). Zu all diesen Themenbereichen leistet wiederum das Werk Joel Feinbergs einen wertvollen und liberal geprägten Beitrag. 1. Freiwilligkeitsausschließende Faktoren Schon im Rahmen der Diskussion über das Wesen des Autonomiebegriffs wurde von vielen Autoren die benachteiligende Wirkung angesprochen, die eine Reihe von persönlichen Umständen und sozialen Sachverhalten auf die tatsächliche Fähigkeit des Individuums zur selbstbestimmten Führung des eigenen Lebens typischerweise entfaltet593. Die gleichen Faktoren sind aber auch für die Beurteilung der Freiwilligkeit des menschlichen Verhaltens relevant, denn sie stellen eine Kategorie von nega591
Vgl. auch die zutreffende Bemerkung Sehers (a.a.O. Fn. 563, S. 137): „[…] nur mit [dem Begriff der Freiwilligkeit] zusammen ergibt das Konzept [der Autonomie] eine schlüssige, praktisch überzeugende Gegenposition zu paternalistischen Erwägungen“. 592 Ebd. S. 137. 593 Vgl. dazu beispielsweise die Ausführungen von Joseph Raz und Isaiah Berlin.
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C. Die Bestimmung des Autonomiebegriffs aus philosophischer Perspektive
tiven Bedingungen dar, bei deren Vorhandensein der autonome Charakter jeder Handlung eines Menschen entweder ausgeschlossen, oder zumindest ernsthaft in Frage gestellt werden kann. Feinberg nimmt in seiner Untersuchung eine ausführliche Systematisierung dieser Umstände vor594, die er in verschiedene Gruppen unterteilt. Unter diesem Blickpunkt wird zunächst der Begriff der „Unfähigkeit“ (incompetence) thematisiert. Dieser umfasst jede Behinderungsform des kognitiven oder voluntativen Vermögens eines Menschen, welche auf Grund unentwickelter oder gestörter geistiger Anlagen hervorgerufen wird595. Die einzelnen Faktoren nun, welche für die Bezeichnung eines Menschen als „unfähig“ verantwortlich sind, werden ihrerseits – und gemäß ihrer Dauer – in permanente, vorübergehende und wiederkehrende unterteilt596. Charakteristische Beispiele der ersten Gruppe sind Fälle gravierender geistiger Behinderung oder Erkrankung, unheilbare Psychosen, die Senilität sowie der irreversible komatöse Zustand597. Die zweite Gruppe umfasst Rauschzustände, die sich allerdings noch nicht zu einer Sucht entwickelt haben, lähmende Krankheiten, die bis zu ihrer Heilung einen Menschen in einem fiebrigen, schmerzhaften Zustand versetzen, in dem die Formulierung einer freiwilligen Willensäußerung unmöglich gemacht wird, sowie die Minderjährigkeit, welche – obwohl sie stricto sensu keine „Behinderungsart“ konstituiert – eine Kategorie von Personen beschreibt, die wegen ihrer Unerfahrenheit in der Regel noch nicht dispositionsfähig sind598. Die dritte Gruppe umfasst schließlich eine Anzahl von Situationen, wo der krankhafte Zustand mit variierender Regelmäßigkeit auftaucht, wie es typischerweise bei unbehandelten Epilepsiepatienten, Depressiven und Süchtigen der Fall ist599. Feinberg argumentiert auf der Basis dieser Darstellungen darüber, dass jedes Individuum, welches auf Grund eines einzelnen oder einer Kombination der beschriebenen Umstände als unfähig einzustufen ist, auch logischerweise entweder völlig, oder mindestens bis zu einem gewissen Grad (je nach Art und Umfang seiner Behinderung) nicht im Stande sein kann, „frei“ – und infolgedessen autonom – über die eigenen Angelegenheiten zu bestimmen600. Damit qualifiziert er die Unfähigkeit – in
594 Feinberg widmet dieser Diskussion den größten Teil seines Werkes „Harm to self“ (S. 143 – 340). Die ausführliche Darstellung seiner Überlegungen in ihrer Gesamtheit kann im Rahmen dieser Auseinandersetzung logischerweise nicht erfolgen; es werden jedoch alle wichtige Aspekte seiner Argumentation präsentiert, welche für die Würdigung des autonomen Charakters einer Entscheidung von wesentlicher Bedeutung sind. 595 Vgl. Feinberg, Joel, a.a.O. (Fn. 505), S. 318: „I shall use the term ,incapacity […] as a generic term for those inabilities, whether cognitive or volitional, that are consequences of undeveloped or impaired faculties“. 596 Ebd. S. 318. 597 Ebd. S. 318 – 320. 598 Ebd. S. 321 f. 599 Ebd. S. 320 f. 600 Ebd. S. 318 f.
III. Die Freiwilligkeit als Maßstab autonomen Verhaltens
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allen möglichen Erscheinungsformen601 – als einen Zustand, der die Freiwilligkeit des menschlichen Verhaltens stets negativ beeinträchtigt. Als nächste wird die Kategorie des „Zwangs“ (compulsion) behandelt, der Feinberg großen Raum in seinem Werk widmet602. Die Anwesenheit dieses Faktors im Willensbildungsprozess wird im Rahmen der klassischen liberalen Auffassung mit dem Ausschluss oder mindestens mit erheblicher Beeinträchtigung der Freiwilligkeit identifiziert. Feinberg erkennt allerdings zu Recht, dass der Zwang eine mannigfaltige Realität beschreibt603, die im Alltag eine Vielzahl von Erscheinungsformen bekommt, welche ihrerseits mit jeweils unterschiedlicher Intensität ins kognitive und voluntative Vermögen des Individuums eingreifen. Diese Feststellung führt logischerweise zu der Folgerung, dass nicht jede Art von Gewaltausübung (sei sie körperlicher oder psychologischer Natur) per se in der Lage sein kann, den freien Willen einer Person auf beachtliche Weise zu beeinträchtigen604. Diese Prämisse stellt die Hauptposition Feinbergs dar, der die möglichen Gewaltformen systematisch kategorisiert, mit dem Zweck herauszustellen, welche darunter tatsächlich ein Hindernis für die freie Willensbildung konstituieren. In diesem Sinne wird zunächst das Modell der vis absoluta („compulsion proper“)605 angesprochen, welche eine der charakteristischsten Formen der Zwangsausübung darstellt. Diese ist als eine die Kräfte des betroffenen Individuums überwältigende physische Gewalt zu begreifen, deren „Quelle“ sich entweder im aktiven Verhalten eines Dritten oder – weniger oft – in einem natürlichen Ereignis befindet, und welche durch ihre Wirkung606 das Willensbildungsvermögen des Opfers außer Kraft setzt607; ihr Empfänger kann – im wahrsten Sinne – überhaupt keine Wahl treffen, denn ihm wird auf Grund der Einschaltung der vis absoluta praktisch nie die Chance gewährt, seine geistigen Kräfte im Gang zu setzen und seine eigene Position ange-
601 Feinberg, a.a.O. (Fn. 505), S. 322, subsumiert in einem kurzen Katalog alle möglichen Faktoren, welche seiner Ansicht nach zur Unfähigkeit führen. Diese „Liste“ weist wesentliche Ähnlichkeiten mit den vom § 20 StGB umfassten Kategorien auf. 602 Vgl. Joel Feinberg, The moral limits of the criminal law, vol. 3 (Harm to self), S. 145 f., 150 f., 153 f., und insb. S. 189 – 228 (Kapitel 23) sowie 229 – 268 (Kapitel 24). 603 Ebd. S. 150: „This word [gemeint wird: ,the term compulsion] covers a multitude of factors“. 604 Ebd. S. 189: „There are many ways of getting a person to act as you want him to act, but only some of these can be described as forcing him to act“. 605 Ebd. S. 150 und 190. 606 Laut Feinberg (a.a.O., Fn. 602, S. 190) kann die vis absoluta entweder unmittelbar auf die Person ihres Empfängers wirken (wie etwa im Fall eines gewaltigen Stoßes), oder ein entsprechendes Ergebnis durch die gezielte Manipulation der äußeren Welt mittelbar erreichen (etwa, wenn jemand in einem engen Raum eingesperrt wird, ohne jegliche Möglichkeit auszubrechen). 607 Ebd. S. 150 und 190.
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sichts des Geschehens zu finden608. Aus diesem Grund macht es auch bei solchen Fällen keinen Sinn, vom freiwilligen Charakter des individuellen Verhaltens zu reden, denn eine freie Willensbetätigung seitens des Betroffenen findet einfach nie statt609. Aber selbst in dem Fall, dass es dem Einzelnen tatsächlich gelingt, einem der608 Ebd. S. 190: „One does not choose or decide or elect, in these cases, to move ones own body; rather ones body is moved for one, and there is no role whatever for ones will, whether resistant or acquiescent“. 609 Im Anschluss an das herkömmliche Verständnis der vis absoluta führt Feinberg in sein System von freiwilligkeitsbeschränkenden Faktoren zwei weitere Konstellationen „überwältigender Gewalt“ ein, welche nach seinem Verständnis mit der vis absoluta wesentliche Ähnlichkeiten aufweisen: Die erste betrifft den Fall der Neurose, welche Feinberg nicht als eine Indikation der eventuellen Unfähigkeit des Individuums begreift, sondern als eine interne und fortdauernde „Quelle“ unwiderstehlicher Gewalt qualifiziert: „Perfectly competent, responsible persons, who are in no sense deranged, suffer to one degree or another from these ,internal compulsions [damit werden eine Gruppe von Situationen gemeint, welche Feinberg kollektiv unter dem Oberbegriff ,Neurose subsumiert]“ (Harm to self, S. 152), „The ,force of [such] an obsession […] is more like compulsion proper than coercion. More exactly, it exerts something like ,compulsive force […]. [This] force is constant, and even though it is resistible, the measures required to withstand it might make unreasonable demands on ones vigilance and energy“ (Harm to self, S. 163). Merkmale des neurotischen Verhaltens sind also laut Feinberg: i) das überwältigende Bedürfnis („driving need“), einen bestimmten Zweck zu erzielen, abgesehen davon, ob daran erhebliche Nachteile anzuknüpfen sind, ii) Der Drang zur sofortigen und bedingungslosen Befriedigung des neurotischen Bedarfs bei gleichzeitiger Betrachtung jedes Dritten als eines bloßen Mittels zur Erreichung dieses Zwecks („indiscriminativeness“), und iii) die „Unersättlichkeit“ („insatiability“) des zwingenden Gefühls, welches nach seiner Befriedigung den gleichen „neurotischen Kreis“ zu einem späteren Zeitpunkt wieder im Gang setzen wird (vgl. Harm to self, S. 167 f. m.w.N.). Das zweite Modell betrifft den Fall, wo das Zusammenwirken unterschiedlicher Faktoren auf subtile Weise den Willen des Individuums in eine Zwangslage bringt, obwohl diese „Bausteine“ vereinzelt ein derartiges Ergebnis nicht bewirken könnten. Hier handelt es sich laut Feinberg um Situationen, wo sowohl personenbezogene als auch umstandsbedingte Zwangskomponenten ins Spiel kommen, welche in Verbindung mit der besonderen empfindlichen Lage, in der sich das betroffene Subjekt befindet, eine einzigartige Form überwältigender Gewalt im Präferenzensystem des Einzelnen auslösen. Zur Veranschaulichung dieser Konstellation leitet Feinberg das Beispiel eines Unfalls ein, welcher die angelsächsische Rechtsprechung in den achtziger Jahren beschäftigte: Steve Lewis, ein Stuntman, musste im Rahmen der Erfüllung seiner beruflichen Verpflichtungen ein lebensgefährliches Manöver ausführen. Bei der Probe ist alles einwandfrei gelaufen. Kurz jedoch vor der tatsächlichen Verfilmung kündigte er an, dass er sich müde und unwohl fühlte, und bat dementsprechend das Produktionsteam um einen Aufschub. Die Zuständigen bestanden allerdings beharrlich auf der Einhaltung des Zeitplans, und der Regisseur schrie ihm im aufgeregten Zustand mehrmals an, das Manöver sofort auszuführen. Der Darsteller gab daraufhin diesen Wünschen nach, und versuchte das Manöver, wobei er sich schwer verletzt hat. Laut Feinberg stellt der schlechte körperliche und geistige Zustand des Opfers die Grundlage dar, auf der das Verhalten der Dritten kumulativ seine Zwangswirkung entfaltete: die implizite Drohungen seitens der Produktion, und die aufdringlichen Aufforderungen zu einem hoch riskanten Verhalten, können im Normalfall nur schwer einen Menschen dazu zwingen, den fast sicheren Tod zu riskieren. Im vorliegenden Zusammenhang haben diese Einflussfaktoren allerdings die Gelegenheit gehabt, den gesamten Bewertungsprozess des Verletzten „umzugehen“ und seinen Willen in eine bestimmte Richtung direkt – und in analoger Art und Weise zu einem körperlichen Schub – zu
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artigen Eingriff zu widerstehen, bedürfte jede seiner anschließenden Äußerungen trotzdem einer vorsichtigen Prüfung, um sicherzustellen, dass diese Entscheidungen von der eventuellen (psychischen) Nachwirkung der stattgefundenen Zwangsausübung nicht übermäßig belastet sind610. Dieser extremen Variante der Gewaltanwendung stellt Feinberg im weiteren Verlauf seiner Untersuchung die Konstellation der vis compulsiva („coercion proper“)611 gegenüber, welche unter den mannigfaltigen Zwangsformen auch die größte Relevanz für das soziale Zusammenleben besitzt. Im Gegensatz zur Funktion der vis absoluta schließt die Ausübung von Gewalt in diesem Fall den Willensbildungsprozess nicht aus, sondern „lenkt“ ihn durch physische und psychologische Mittel zu einer gewissen, für das betroffene Subjekt nachteiligen Richtung. Das Netz der offenen Optionen des Individuums wird nämlich auf Grund der vorsätzlichen Einschaltung eines Dritten – oder laut Feinberg auch durch natürliche Vorkommnisse oder sonstige zufällige Ereignisse –612 so gestaltet, dass der Einzelne gezwungen wird, einen wesentzwingen. Bei solchen Situationen wird der Betroffene zu einem bloßen „Automat“ in den Händen Anderer gemacht, deren Äußerungen nach Feinberg eine vergleichbare Wirkung zu derjenigen der vis absoluta auf den Betroffenen entfalten (vgl. dazu Harm to self, S. 155 a. E. und ff.). 610 Feinberg versucht aus jeder möglichen Perspektive die Wirkung einzuschätzen, welche die Ausübung von „unwiderstehlicher“ physischer Gewalt auf ein Individuum haben kann. In diesem Kontext bemerkt er (Harm to self, S. 190): „[…] when the [exerted] pressures are resistible (d. h. wenn die ausgeübte Gewalt die Kräfte des Betroffenen nicht überwältigen kann) they do not necessitate movements or experiences; they simply render alternatives difficult, inconvenient, troublesome or costly. […] [Such] psychological pressures (commonly so-called) often become so great that a persons control [eventually] cracks under their weight […]“. Feinberg sieht also in den „Folgewirkungen“ der fehlgeschlagenen Zwangsausübung (die er alle durch den Begriff „compulsive pressure“ schildert) eine eventuelle „Gefahrenquelle“ psychischer Natur für den menschlichen Willen, da diese Faktoren durch die fortbestehende Belastung des kognitiven und voluntativen Vermögens der Person wohl in der Lage sein könnten, die Freiwilligkeit des menschlichen Verhaltens weiter negativ zu beeinflussen. 611 Ebd. S. 150 und 191. Es soll an diesem Punkt bemerkt werden, dass Feinberg – wie es noch zu zeigen ist – unter dem Begriff der „coercion proper“ einen breiteren Umfang von Fällen subsumiert, als denjenigen, den die Strafrechtdogmatik der vis compulsiva normalerweise zuspricht. 612 Ebd. S. 151. In der expliziten Miteinbeziehung auch unpersönlicher „Quellen“ als möglicher Ursachen der vis compulsiva ist ein Beitrag Feinbergs zur „klassischen“ strafrechtlichen Definition des gleichen Begriffs zu sehen, laut welcher diese Gewaltart in der Regel als das Ergebnis eines vorsätzlichen menschlichen Verhaltens aufgefasst wird (vgl. dazu Küpper, Georg, Strafrecht BT, Bd. 1, S. 69, Wessels, Johannes/Hettinger, Michael, Strafrecht BT, Bd. 1, S. 118, Roxin, Claus, Strafrecht AT, Bd. 1, S. 266, Wessels, Johannes/Beulke, Werner, Strafrecht AT, S. 36, Rn. 97, Lackner, Karl/Kühl, Kristian, Strafrecht AT, S. 13, Maurach/Zipf, Strafrecht AT, Bd. 1, S. 196, ). Darüber hinaus betrachtet Feinberg auch die diversen Anforderungen, welche die Position und die Rolle jeder Person im Rahmen des sozialen Systems dieser auferlegen, ebenfalls als eine mögliche Quelle psychologischer Gewaltausübung; vgl. dazu S. 151: „Other examples [of coercion proper] […] include options narrowed […] by the complex of human needs and social circumstances – the policeman kills the kidnapper to save his innocent victim […] The fire fighters destroy property in order to confine the forest fire […]“.
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lichen Belang aufzuopfern, um die Zufügung eines gravierenden, unmittelbar drohenden Übels zu vermeiden613. Unter diesem Blickpunkt stellen die gezielte und oft mit Drohungen verbundene Nutzung von körperlicher Gewalt seitens eines Räubers, zum Zweck der aktiven Steuerung des Opferwillens gemäß seinen Wünschen, sowie die Veranlassung eines Menschen zu widerrechtlichem Verhalten auf Grund einer Naturkatastrophe, typische Fälle dieser Form von Gewaltausübung dar. In allen diesen Situationen bleibt die Freiheit des Betroffenen, eine andere als die für ihn ungünstige Alternative zu wählen, auf normativer Ebene unberührt; an einem derartigen Entschluss werden allerdings solch unerwünschte Folgen angeknüpft, dass diese Handlungsoption für den Einzelnen letztlich unzumutbar wird614. Auf Grund also dieser erheblichen Beeinträchtigung des Willensbildungsprozesses ist laut Feinberg die Anwendung von vis compulsiva auch den wichtigsten Faktoren zuzurechnen, welche die Freiwilligkeit einer Entscheidung – und infolgedessen auch deren autonomen Charakter – stets ausschließen615. 613
Ebd. S. 151: „His alternatives (gemeint werden die Optionen des Opfers) through natural chance, or through the manipulations of another person, are arranged in such a way that all of them are undesired, and his only ,freedom is to choose the lesser of the evils, however distasteful it may be“. 614 Vgl. Feinberg, Joel, a.a.O. (Fn. 602): „Alternatives [in cases of coercion] are made not impossible but too expensive to be eligible for choice […]. [In such cases] there is a sense in which the victim is left with a choice. He can comply, or he can suffer the probable consequences. But if the alternative to compliance is some unthinkable disaster […] then one alternative choice is made so unreasonably costly that […] in effect, as we say, it is no better than no choice at all“. 615 Feinberg weist im Rahmen seiner Ausführungen auch auf das Vorhandensein einer besonderen Erscheinungsform der vis compulsiva, die er als (freedom enhancing) „coercive – offer“ bezeichnet (Harm to self, S. 232), und welche im deutschen Schrifttum unter den Begriffen „nötigendes Angebot“ (Seher, Gerhard, Liberalismus und Strafe, S. 142), „Angebot mit Zwangswirkung“ (Gutmann, Thomas, Freiwilligkeit als Rechtsbegriff, S. 149 f.), oder „Drohung mit Unterlassen“ (Rönnau, Thomas, Willensmängel bei der Einwilligung im Strafrecht, S. 448 f.) subsumiert wird. Ein typisches Beispiel dieser Gruppe bildet der Fall eines Millionärs, welcher einer armen, verzweifelten Mutter die Deckung aller aufwendigen Kosten für die Operation ihres schwerkranken Kindes anbietet, wenn sie zustimmt, für einen bestimmten Zeitraum seine Mätresse zu werden (vgl. diesb. Harm to self, S. 229; weitere ähnliche Beispiele gibt Feinberg auf S. 220 – 222). Feinberg widmet der Erörterung dieser Konstellationen breiten Raum (S. 216 – 268). Grundlage seiner Argumentation bildet die Position, dass der zwingende Charakter eines Angebots unabhängig von der eventuellen Erweiterung der Handlungsalternativen seines Empfängers sein kann (Harm to self, S. 231 und insb. 233, wo Feinberg charakteristisch von der Möglichkeit der Existenz von „freedom-enhancing coercive offers“ redet). Demnach werden im erwähnten Beispiel die Optionen des betroffenen Subjekts zwar erweitert, aber in Wirklichkeit handelt es sich um nichts Anderes, als einen Versuch, die Zwangslage des Betroffenen auf schlimmste Weise auszunutzen (vgl. Seher, Gerhard, Liberalismus und Strafe, S. 142). Das bedeutet jedoch laut Feinberg längst nicht, dass auch bei jeder derartigen Konstellation der Wille des Individuums auf unlautere Weise beeinträchtigt wird. Zum Zweck also der praktischen Differenzierung dieser Fälle schlägt Feinberg die Nutzung zweier Prüfungsinstanzen vor. Die erste leitet das so genannte „Polaritätskriterium“ (polarity) ein, welches dem Vorschlag einer Person nur dann einen „prima facie“ zwingenden Charakter zusprechen will, wenn dadurch seinem Empfänger eine neue, vorher nicht offene, aber auf jeden Fall unerwünschte Option als die einzige Alternative zur Vermeidung eines sonst unvermeidbaren Übels
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Unterhalb der Schwelle dieser Zwangsvariante setzt sich das Spektrum der unterschiedlichen Erscheinungsformen der „Gewalt“ laut Feinberg mit absteigender Tendenz bis zur Kategorie des bloßen „Einflusses“ hin fort: innerhalb dieses „Rahmens“ ist also zunächst jede Anstrengung zu thematisieren, welche psychologischen Druck auf das Präferenzennetz einer Person ausübt, ohne jedoch die Grenzen zur vis compulsiva zu überschreiten616. Dieser Konstellation folgt dann der Fall jedes positiven Versuchs, die Optionen des Einzelnen mit nicht eindringlichen Mitteln zu manipulieren. Noch niedriger rangieren in diesem Schema rein argumentative Überredungsbemühungen, verlockende Angebote und schließlich – auf dem tiefsten Punkt der Skala – jede Form von aufdringlichen Aufforderungen oder Bitten617, welche eher den Zweck haben, die Disposition des Einzelnen bezüglich einer bestimmten Situation zu beeinflussen. Gemeinsamer Punkt all dieser Fallgruppen bleibt jedoch die Tatsache, dass sie nicht in der Lage sind, die Freiwilligkeit des Verhaltens ihres Empfängers auf unlautere Weise zu beeinträchtigen618, weswegen sie auch für die Frage der Autonomie keine Relevanz haben. Schließlich untersucht Feinberg die Kategorie der „Fehlvorstellung“619 (defective belief)620, welche die Fälle des Irrtums (mistake) und der Unkenntnis (ignorance) umfasst621. Diese Umstände können ihrerseits ihre Ursachen entweder (i) in Fehlern oder Kenntnislücken haben, welche der Betroffene selbst oder in seltenen Fällen ein Dritvorgestellt wird. Angebote, welche dieses Polaritätskriterium nicht erfüllen, kommen nach Feinberg als mögliche Fälle eines „Angebots mit Zwangswirkung“ überhaupt nicht in Betracht (vgl. Harm to self, S. 234: „Offers are classifiable as coercive in their effect only when they satisfy a requirement of appropriate polarity; typically they force a choice between evils […]“). Der zweite Prüfungspunkt wirft die Frage auf, inwieweit die Notlage des Opfers durch die vorsätzliche Manipulation seiner Optionen seitens des Anbietenden hervorgerufen wurde. Unter diesem Blickpunkt hat ein Angebot dann zwingenden Charakter, wenn der Nötigende versucht, einen Umstand auszunützen, den er im Vorfeld mit seinem vorsätzlichen Verhalten provoziert hat. Denn hier handelt es sich im wahrsten Sinne um den „Höhepunkt“ einer Reihe von Handlungen, welche ausschließlich dem Zweck dienten, die Person des Genötigten auszunutzen. Wenn dagegen der Nötigende eine schon vorliegende Situation bloß zu seinem Vorteil benutzt, dann ist die abgegebene Zustimmung des Angebotsempfängers in den meisten Fällen als freiwillig genug zu betrachten (vgl. Harm to self, S. 244: „When A deliberately creates the circumstances of vulnerability which he later exploits with a coercive offer, his coercion virtually always reduces the voluntariness of Bs consent sufficiently to render it invalid. But when A merely exploits circumstances that he finds ready-made, then frequently, though not always, Bs consent, so produced remains valid“ sowie S. 246: „[…]coercive offers made in circumstances deliberately created by the offerer for the purposes of exploitation […]are […]climatic events in whole episodes created to undermine [ones] freedom“). 616 Derartige Fälle subsumiert Feinberg unter dem Begriff „coercive pressure“ (vgl. Feinberg, Joel, a.a.O., Fn. 602, S. 193). 617 Ebd. S. 189. 618 Vgl. Seher, Gerhard, Liberalismus und Strafe, S. 142, sowie Feinberg, Joel, a.a.O. (Fn. 602), S. 189 und 193. 619 Diese Bezeichnung wird von Seher (Liberalismus und Strafe, S. 142) entliehen. 620 Vgl. Feinberg, Joel, a.a.O. (Fn. 602), S. 152 und 269. 621 Ebd. S. 152.
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ter – dennoch auf nicht vorwerfbare Weise – veranlasst hat („honest mistake“ and „natural ignorance“)622, oder sie können (ii) auf trügerische Handlungen (Täuschung) und gezielte Manipulationsversuche Anderer zurückgeführt werden, welche mit ihrem unlauteren Verhalten den Kenntnisstand des betroffenen Subjekts vorsätzlich beeinträchtigen möchten („mistake“ and „ignorance“ produced by „fraud“ or „deception“)623. Fehlvorstellungen der ersten Variante beeinflussen laut Feinberg die Freiwilligkeit einer Entscheidung in einer gegebenen Situation erst dann, wenn sie eine Relevanz für den verfolgten Zweck haben624 ; dies ist dann der Fall, wenn die irrtümliche Annahme oder die Unwissenheit sich entweder auf „maßgebliche Umstände“ des gesamten Unternehmens beziehen625, oder auch auf einschlägige „Nebensachen“ bzw. „Hintergrundfaktoren“, die das Verhalten des Betroffenen und seine Zielorientierung entscheidend bestimmen626. Fehlvorstellungen der zweiten Variante beeinträchtigen den autonomen Charakter des menschlichen Verhaltens dann, wenn die Täuschungshandlung oder die zur Unkenntnis führende Manipulation wahrer Fakten entweder „situationserhebliche Tatsachen“ betreffen oder auch bloße „Handlungsanreize“627, sofern diese im Wertsystem des in Frage stehenden Subjekts eine gewichtige Stelle haben628. .
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Ebd. S. 152: „We fail to know because ,no one ever told us, or we have not read or remembered the appropriate books, or had the appropriate experiences. We have mistaken beliefs because someone or some book that we trusted misinformed us, or we have a distorted recollection of evidence, or we became confused in our inferences from what we do know“, sowie S. 270, Nr. 2 f. für eine Auflistung von weiteren derartigen Konstellationen. 623 Ebd. S. 152 f. Eine Veranschaulichung aller beschriebenen Konstellationen wird auf der gleichen Seite anhand des Diagramms 21-3 gegeben, welches auch eine Reihe von krankheitsbedingten Faktoren als Ursachen des Irrtums und des Nichtwissens nennt. 624 Ebd. S. 159: „Natural ignorance and mistaken belief […] reduce the voluntariness of self-regarding dangerous conduct when the ignorance or mistake is relevant […]“. 625 Zum Beispiel auf die Art, das Wesen oder die Größe der Gefahr. Vgl. auch Feinberg, a.a.O. (Fn. 602), S. 270, Nr. 2 f. für eine nähere Betrachtung. 626 Feinberg bemerkt an diesem Punkt (S. 160 f.) zu Recht, dass es bei einer großen Anzahl von Lebenssituationen praktisch unmöglich ist, sich über alle relevante Fakten im Klaren zu sein, denn ein gewisser Grad an Unkenntnis ist unvermeidbar. Bei solchen Konstellationen sollte es für Freiwilligkeitserwägungen jedoch genügen, dass dem Betroffenen die Existenz dieser Kenntnislücke schon bekannt ist: „Unavoidable ignorance is to some degree an element in all risk-taking, but to know which factors are unknown is itself to have knowledge of a relevant kind, contributing to responsible decision-making. All we need to assure ourselves of in assessing voluntariness is that the risk-taker knows exactly what the risk is that he is taking, and his ignorance is a vital component of that risk“ (Harm to self, S. 161); siehe darüber hinaus auch S. 273 f. und insb. S. 274. 627 Vgl. Seher, Gerhard, Liberalismus und Strafe, S. 143. 628 Vgl. zum Ganzen Feinberg, Joel, a.a.O. (Fn. 602), S. 162, und insb. 301, m.w.N. auf S. 291 f.
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Aus der durchgeführten Darstellung der Ideen Feinbergs über die Willensmängel wird ersichtlich, dass die Freiwilligkeit des menschlichen Verhaltens als das „Ergebnis“ der Übereinstimmung einer tatsächlich großen Anzahl von heterogenen Faktoren zu bezeichnen ist. In diesem Sinne ist bei jeder einschlägigen Beurteilung vorerst das Vorhandensein eines gesunden geistigen Zustandes des Betroffenen zu berücksichtigen, denn die Erfüllung dieses „biologischen“ Kriteriums ist immer ausschlaggebend für die Existenz der Fähigkeit des Individuums, frei über das eigene Leben zu bestimmen. In ähnlicher Hinsicht ist die Präsenz eines sicheren und abgeschirmten persönlichen „Rahmens“ ebenfalls eine unentbehrliche Voraussetzung für die Freiwilligkeit, denn nur in einer solchen Umgebung kann ein wirklich freier und unbefangener Gebrauch des kognitiven und voluntativen Vermögens überhaupt stattfinden. Dieser „individuelle Raum“ muss schließlich vor jeder fremdstammenden Zwangsausübung oder Täuschungshandlung stets bewahrt werden, denn diese sind Faktoren, welche im Präferenzennetz des Individuums meistens auf unzulässige Weise eingreifen, und den freien Charakter einer Entscheidung in der Regel beeinträchtigen. Abschließend ist allerdings daran zu erinnern, dass all diese Feststellungen eine Reihe von normativen Maßstäben darstellen, welche trotz ihrer großen Bedeutung nur die wichtigsten „Prüfungspunkte“ indizieren, die jede Freiwilligkeitsbewertung zu berücksichtigen hat. Eine sichere, unbefangene und möglichst präzise Antwort auf die Frage nach dem autonomen Charakter einer Handlung kann nämlich nur dann abschließend gegeben werden, wenn neben der Heranziehung allgemeingültiger Kriterien zusätzlich die konkreten Aspekte des Einzelfalles sowie die Besonderheiten jedes Menschen aufmerksam geprüft und berücksichtigt werden. Die gesonderte Annäherung an jede Lebenssituation erweist sich als ein unentbehrliches „Instrument“ auf dem Weg der Feststellung der Freiwilligkeit des individuellen Verhaltens, und ihre „Befunde“ sollten in diesem Sinne stets mitberücksichtigt werden. 2. Das Verhältnis der Freiwilligkeit zu angrenzenden Begriffen Im Rahmen der zeitgenössischen philosophischen Literatur zur Paternalismusproblematik wird seitens einer Anzahl von Autoren der autonome Charakter des menschlichen Verhaltens von Bedingungen abhängig gemacht, die sich in Konzeption und Inhalt von den schon dargestellten Kriterien wesentlich unterscheiden: Faktoren, wie die Vernünftigkeit der individuellen Handlungen, die Übereinstimmung der letzteren mit den durchgesetzten und beständigen Zielsetzungen des betroffenen Subjekts, oder sogar ihr Beitrag zur Erweiterung seiner zukünftigen Optionen, gelten in diesem Verständnis als wesentliche Merkmale der selbstbestimmten Führung des individuellen Lebens und könnten daher eventuell als Kriterien für die Beurteilung der Freiwilligkeit des menschlichen Verhaltens ebenfalls in Betracht kommen. Solche Ansätze werden jedoch von Joel Feinberg und anderen Theoretikern heftig kritisiert, denn sie beruhen auf Prämissen, die mit den grundlegenden Prinzipien der liberalen Doktrin nicht im Einklang stehen. Ihre Grundaussagen werden daher ver-
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worfen und die erwähnten Faktoren sowohl für die Frage der Autonomie selbst als auch für die praktische Beurteilung des freiwilligen Charakters des individuellen Verhaltens als belanglos bezeichnet. Die nähere Betrachtung dieser Auseinandersetzung ist offensichtlich für die hiesige Zielsetzung von wesentlicher Bedeutung, weswegen auch die Hauptpositionen beider Seiten in ihren Grundzügen im Folgenden darzustellen sind. a) Freiwilligkeit und Vernünftigkeit Hauptvertreter der Position, dass der autonome Charakter individuellen Verhaltens von seiner „Vernünftigkeit“ abhängt, ist John Rawls. Diese Ansicht belegt er in seiner „Theorie der Gerechtigkeit“ durch eine Interpretation des Begriffs der Rationalität, welche die Gewichtigkeit der Letzteren sowohl für den Menschen selbst als auch für die reibungslose Führung seines Lebens hervorhebt. Seine Methode beruht auf einer Reihe aufeinander aufbauender Argumente und Feststellungen, die seine These in mehreren Schritten untermauern. Ihre wesentlichen Punkte sind im Folgenden nachzuzeichnen. Die Vernunft stellt unwiderleglich einen der grundsätzlichsten Belange des Einzelnen dar, auf dessen Basis das Individuum sowohl sich selbst, als auch die äußere Welt definiert. Diese Fähigkeit hat immer den Menschen vor jedem anderen Wesen ausgezeichnet und begleitet ihn schon seit dem vorpositiven Stadium seines Daseins629. Diese höhere Funktion des menschlichen Geistes wird nun laut Rawls auf praktischer Ebene vorwiegend zum Zweck der Förderung der individuellen Interessen eingesetzt. Dies bedeutet, dass jede Person mittels ihrer Befähigung zum rationalen Denken hauptsächlich den Erwerb mehrerer Vorteile für sich selbst einerseits und die Bewahrung von schon vorhandenen Güter andererseits anstrebt630. Dazu stuft das Individuum die ihm offenen Optionen vorsichtig ab und wählt darunter diejenigen, welche eine günstigere Aussicht auf die Verbesserung seiner Lage haben631. Ein derartiges Verhalten garantiert den Wohlstand und wird deswegen als das einzige, logisch denkbare Muster betrachtet, nach dem jeder Mensch sein Leben überhaupt gestalten und verbringen möchte. 629 Vgl. Rawls, John, A theory of justice, S. 142: „I have assumed thoughout that the persons in the original position (damit ist der vorstaatliche Zustand der menschlichen Existenz gemeint) are rational“. 630 Ebd. S. 142-3: „[People would] prefer more primary social goods rather than less […]. They know that in general they must try to protect their liberties, widen their opportunities, and enlarge their means for promoting their aims […]“. 631 Ebd. S. 143: „[…] a person is thought to have a coherent set of preferences between the options open to him. He ranks these options according to how well they further his purposes; he follows the plan which will satisfy more of his desires rather than less, and which has the greater chance of being successfully executed“. Diese Interpretation der menschlichen Fähigkeit zum rationalen Denken wird von Arneson u. a. als „economic model of rationality“ bezeichnet (vgl. diesb. Arneson, Richard J., Mill versus Paternalism, in: Ethics, Vol. 90 (1980), S. 474, und Feinberg, Joel, a.a.O. Fn. 602, S. 110).
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Unter diesem Aspekt könnte auch eine Handlung nur dann als das Ergebnis autonomer Willensbetätigung betrachtet werden, wenn sie den strengen Anforderungen dieser „wirtschaftlichen Denkweise“ entspräche (oder anders ausgedrückt: wenn sie diese „vernünftige“ Einstellung zum Leben widerspiegelte), während jede andere Zielsetzung notwendigerweise zu bedeuten hätte, dass das Individuum unfreiwillig handele632. Die Überzeugung von John Rawls, dass nur ein derartiges Verhaltensmuster als autonom zu qualifizieren sei, kann darüber hinaus auch aus seiner festen Überzeugung gefolgert werden, dass die Bürger im Rahmen einer organisierten Gesellschaft kollektiv bereit wären, selbst ein System von Strafen einzusetzen, um selbst geistig gesunde Erwachsene von „törichten Handlungen“ abzuhalten633. Zu diesen Überlegungen erwidert Feinberg, dass die „Vernünftigkeit“ des individuellen Verhaltens und sein „autonomer Charakter“ zwei Begriffe sind, die sich nicht notwendigerweise decken634. Es ist nämlich durchaus möglich, dass eine Entscheidung freiwillig getroffen wird, obwohl sie bei objektiver Betrachtung unvernünftig erscheint635, während es umgekehrt offensichtlich „rationale“ Entscheidungen geben kann, die allerdings nicht auf den wahren Willen des betroffenen Subjekts zurückzuführen sind. Dies belegt Feinberg durch die Darstellung und Analyse dreier unterschiedlicher Persönlichkeitstypen. In diesem Sinne wird zunächst der Typ eines Individuums thematisiert, welches aufgrund gewisser Charaktereigenschaften bzw. Defekte (wie z. B. Reizbarkeit 632
Auch Jeffrie G. Murphy argumentiert in seinem Aufsatz „Incompetence and Paternalism“ in ähnlicher Weise darüber, dass die Unvernünftigkeit einer Zielsetzung ihren irrationalen – und infolgedessen auch unfreiwilligen – Charakter besagt; siehe diesb. Murphy, Jeffrie G., Incompetence and Paternalism, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie (ARSP), 1974, S. 473, 2. (a) und insb. die Fn. 15, wo auf Grund der objektiven „Unvernünftigkeit“ sadomasochistischer Praktiken, die Irrationalität der einschlägigen Teilnahmeentscheidung, und folglich die Unfähigkeit der dazu neigenden Personen, ihr Leben selbstbestimmt zu führen, von Murphy ausnahmslos gefolgert wird. 633 Rawls, John, A theory of justice, S. 249: „It is also rational for them (gemeint sind die Bürger) to protect themselves against their own irrational inclinations by consenting to a scheme of penalties that may give them a sufficient motive to avoid foolish actions and by accepting certain impositions designed to undo the unfortunate consequences of their imprudent behaviour“. In ähnlicher Weise argumentiert auch Gerald Dworkin, welcher der Meinung ist, dass die Menschen ein sicherheitsorientiertes gesellschaftliches Zusammenleben vorziehen sollten; vgl. dazu Dworkin, Gerald, Paternalism, in: Morality and the law, S. 120: „I suggest that since we are all aware of our irrational propensities – deficiencies in cognitive and emotional capacities and avoidable and unavoidable ignorance – it is rational and prudent for us to take out ,social insurance policies“. 634 Dies verdeutlicht Feinberg im „Harm to self“ anhand des Diagramms 20-3, auf S. 105; vgl. auch diesb. Möller, Kai, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, S. 165. 635 Vgl. Feinberg, Joel The moral limits of the criminal law, vol. 3 (Harm to self), S. 106: „,Unreasonable choices […] are commonly made by fully competent persons in full command of their rational faculties. […] Perfectly rational persons can have unreasonable preferences as judged by other perfectly rational persons, just as perfectly rational men and women (for example, great philosophers) can hold ,unreasonable beliefs or doctrines as judged by other perfectly rational people“.
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oder kurzfristige Maßlosigkeit)636 stets dazu neigt, von der Konzeption eines „vernünftigen“ Lebensplans abzuweichen637. Derartige Menschen betrachten laut Feinberg diese „Diskrepanz“ als etwas völlig Irrelevantes und Unwichtiges und weisen bei einschlägigen Diskussionen jeden Vorwurf bezüglich ihrer Präferenzen zurück. Sie führen ihr Leben ganz den eigenen Vorstellungen nach und bereuen dabei nichts638. Trotz der offensichtlichen Unvernunft, die also ihre Handlungen kennzeichnet, ist das Verhalten solcher Personen auf ihren freien Willen zurückzuführen639. Anschließend spricht Feinberg eine Kategorie von Individuen an, welche, obwohl in ihrem Leben meistens rational handeln, manchmal auch die Tendenz haben, unvernünftige Entscheidungen zu treffen. Personen dieser Art sehen in der Regel die „Irregularität“ in ihrem Verhalten ein und sind eventuell mit ihrer gelegentlichen „Abweichung von der Norm“ auch nicht zufrieden. Dies akzeptieren sie jedoch als inhärenten Teil ihrer „schwachen Natur“, gegen welchen sie nichts ausrichten können640. Folglich handeln laut Feinberg auch solche Menschen gleichzeitig unvernünftig und freiwillig641. Beide „Zustände“ können unproblematisch nebeneinander existieren. Schließlich gibt es auch Personen, welche in einem vorsichtig geplanten Leben einfach keinen Reiz finden. Diese Individuen haben längst gewählt, keine langfristigen Ziele zu verfolgen, und ziehen eher vor, ein erlebnisreiches, „abenteuerliches“ Dasein zu führen, als ihre Zeit mit der Abwägung des Nutzens und der Kosten ihrer Handlungen zu verbringen642. Trotz ihrer Abweichung vom Durchschnitt, kann die Freiwilligkeit des Verhaltens dieser „romantischen Abenteuer“ ebenfalls nicht in Frage gestellt werden643. Aus diesen Darstellungen wird für Feinberg ersichtlich, dass die „Vernünftigkeit“ des individuellen Verhaltens kein Kriterium für die Beurteilung seines autonomen Charakters konstituieren kann. Unüberlegte und eventuell benachteiligende Zielsetzungen werden oft durchaus freiwillig vorgenommen und verfolgt, denn der Mensch führt sein Leben nicht immer nach der Maßgabe eines gewissen, „vernünftigen“ Plans. Elemente wie die Spontaneität, die Individualität und oft die Eigenartigkeit sind konstitutive Bestandteile der menschlichen Natur, welche den Einzelnen oft 636
So Möller, Kai, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, S. 165. Feinberg bezeichnet ein derartiges Individuum, als „the generally unreasonable person“; vgl. Feinberg, Joel, a.a.O. (Fn. 602), S. 108. 638 Ebd. S. 108. 639 Ebd. S. 108: „Such a person, I am inclined to say, acts both voluntarily and unreasonably“. 640 Es handelt sich um die so genannte Kategorie der „morally defective unreasonable persons“; vgl. Feinberg, Joel, a.a.O. (Fn. 602), S. 109. 641 Ebd. S. 109. 642 Ebd. S. 109. 643 Ebd. S. 109: „To coerce the unapologetic romantic adventurer or gambler – the person with a genuine preference for the present to the future, for youth over old age – on the grounds that his preferences are not voluntary (truly and authentically his) […] is not possible“. 637
III. Die Freiwilligkeit als Maßstab autonomen Verhaltens
149
zu Handlungen treiben, die sich mit „rationalen Maßstäben“ nicht erklären lassen644. Darüber hinaus ist der Einsatz des Vernünftigkeitskriteriums auch deswegen als unzulässig zu betrachten, weil die Prüfung der Freiwilligkeit des individuellen Verhaltens in diesem Sinne nicht anhand der tatsächlichen Präferenzen des betroffenen Subjekts stattfindet, sondern nach Maßgabe der Werte und Vorstellungen eines „vernünftigen Durchschnitts“645. Deswegen sollte die fehlende Rationalität einer Handlung eher dann für Freiwilligkeitserwägungen Relevanz haben, wenn aufgrund der starken Abweichung des individuellen Verhaltens von der Norm der Verdacht eines eingeschränkten Beurteilungsvermögens, des Vorliegens eines Irrtums oder sogar einer verdeckten Zwangssituation erweckt wird646.
b) Freiwilligkeit und „personal integrity“ John Kleinig setzt sich in seinem Werk kritisch mit dem Vertrauen auseinander, welches die liberale Doktrin dem Einzelnen bei der Gestaltung seines eigenen Lebens zeigt647. Denn obwohl es einigen Menschen tatsächlich gelingt, in wichtigen Angelegenheiten meistens die richtige Wahl zu treffen, ist das Verhalten der Mehrheit oft von Leichtsinn, Kurzsichtigkeit und anderen derartigen Defekten geprägt, so dass die Individuen häufig mit ihrer Haltung ihren eigenen Präferenzen und festen Zielsetzungen zuwiderhandeln648. Kleinig ist daher skeptisch gegenüber der Ansicht, dass der autonome Charakter einer Handlung ausschließlich auf der Basis der zum Zeitpunkt der Entscheidung herrschenden Umstände festzustellen sei649. Der Mensch verfügt 644 Vgl. auch Feinberg, Joel, a.a.O. (Fn. 602), S. 111: „Many of the most basic of [our wants and values] will emerge as the natural expression of temperamental proclivities, acquired loyalties, and spontaneous tastes that must be taken as simply given. Some people quite naturally prefer adventure and risk to tranquillity and security, spontaneity to deliberation, turbulent passions to safety“. 645 Ebd. S. 111. Die Ungeeignetheit der Vernünftigkeit als Kriterium für den autonomen Charakter des menschlichen Verhaltens wird auch von anderen Autoren betont. Vgl. dazu Hodson, John D., The principle of paternalism, in: American Philosophical quarterly, S. 63, Christman, John, Constructing the inner citadel, in: Ethics, S. 116, und Arneson, Richard J., Mill versus Paternalism, in: Ethics (1980), S. 474. 646 Für die Rolle der Vernünftigkeit bei der Festlegung der Freiwilligkeit siehe auch unten, unter C. III. 3. 647 Vgl. dazu Kleinig, John, Paternalism, S. 67: „We need to go back to the conception of human nature that informs liberal theory. […] Our lives do not always display the cohesion and maturity of purpose that exemplifies the liberal ideal of individuality“; vgl. auch Möller, Kai, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, S. 170. 648 Vgl. dazu Kleinig, John, Paternalism, S. 67: „Although some people manage to create complex yet tightly integrated and stable [life] structures, most of us find ourselves with something less coherent and cohesive. […] Our lives […] [often] manifest a carelessness, unreflectiveness, short-sightedness, or foolishness that not only does us no credit but also represents a departure from some of our own more permanent and central commitments and dispositions“. 649 Ebd. S. 73: „There is a tendency to give full sovereignty to the present free decision, no matter how badly it sits with the individuals other pursuits, ideals, beliefs, and plans“.
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C. Die Bestimmung des Autonomiebegriffs aus philosophischer Perspektive
nämlich als Wesen über eine zeitliche Dimension; er ist nicht nur durch seine Gegenwart, sondern auch durch seine bisherigen Lebenspläne und seine Erwartungen für die Zukunft gekennzeichnet. Deswegen sollte sich laut Kleinig jeder Versuch, die Freiwilligkeit des individuellen Verhaltens einzuschätzen, nicht nur auf die Prüfung eines konkreten und abgesonderten Sachverhalts beschränken, sondern müsste auch die beständigen Interessen des Einzelnen berücksichtigen, die erst nach der Betrachtung seines gesamten Werdegangs zu erkennen sind650. In diesem Sinne hänge der autonome Charakter des menschlichen Verhaltens vorwiegend von seiner Übereinstimmung mit den angeeigneten Wertvorstellungen und den kennzeichnenden Merkmalen des in Frage stehenden Subjektes ab651. Diese Position könnte grundsätzlich überzeugen, denn sie beruht auf Prämissen, die sich im Rahmen des alltäglichen Lebens oft als wahr erweisen: tatsächlich wird die Freiwilligkeit einer Handlung oft in Frage gestellt, wenn der Einzelne durch sein Verhalten von seinen lang gehegten Überzeugungen stark abweicht. Dennoch sind der autonome Charakter einer Entscheidung und der von Kleinig beschriebene Begriff der persönlichen Integrität zwei Größen, die nicht ohne weiteres gleichgesetzt werden können. Denn obwohl die Menschen ihr Verhalten meistens nach Maßgabe bestimmter Werte oder auf der Basis gewisser Zielsetzungen regeln, sind sie ebenso oft bereit, einen neuen Weg einzuschlagen, wenn eine erschütternde Erkenntnis, oder ein spontaner Gedanke, ausreichenden Anlass dazu bieten. Aus diesem Grund sollte die Übereinstimmung einer Handlung mit den wesentlichen Prinzipien und Zielen des Individuums eher als Indikation des autonomen Charakters der dahinter stehenden Entscheidung, und nicht als eigenständiges Freiwilligkeitskriterium betrachtet werden. Dafür sprechen auch die praktischen Schwierigkeiten, welche die Implementierung eines derartigen Maßstabs mit sich bringt, denn es ist tatsächlich nicht ersichtlich, wie die Zielsetzungen sowie all diejenigen Elemente, welche die Persönlichkeit und den Charakter eines Menschen konstituieren, von Dritten objektiv herausgestellt werden sollten. Darüber hinaus könnte dieses Kriterium auch einfach zum Einfallstor für fremde Willkür gemacht werden, und zwar in dem Sinne, dass dadurch fremde Vorstellungen als die tatsächlichen Präferenzen des betroffenen Subjekts vorgeführt 650
Ebd. S. 73: „But individuals are continuants – existents who persist through time, having a past and future as well as a present. This is not simply a function of their physiology but of their personal life, which does not (usually) focus exclusively on the present, but reaches backward and forward in expectations, ongoing projects, life-plans, and so on. Recognition of the individuality of others, then, is not some respect for bare voluntary choices or rational choosers in an abstract sense but for continuants whose capacities have found concrete expression in ongoing projects, life-plans etc., and who in day-to-day decision-making can be expected to work within the framework they provide“. 651 In dem Fall, dass eine bestimmte Handlung mit der „persönlichen Integrität“ des Subjekts nicht im Einklang steht, ist für Kleinig der staatliche Eingriff durchaus geboten; vgl. Kleinig, John, Paternalism, S. 68: „Where our conduct or choices place our more permanent, stable, and central projects in jeopardy, and where what comes to expression in this conduct or these choices manifests aspects of our personality that do not rank highly in our constellation of desires, dispositions, etc., benevolent interference will constitute no violation of integrity“.
III. Die Freiwilligkeit als Maßstab autonomen Verhaltens
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werden652. Aus diesen Gründen sollte der Vorschlag Kleinigs für die Frage der Freiwilligkeit nur eine begrenzte Relevanz haben. c) Freiwilligkeit und Freiheitsmaximierung. In der Literatur wird zum Teil auch die Ansicht vertreten, dass eine Äußerung nur dann als Ausdruck des freien Willens einer Person respektiert werden sollte, wenn dadurch die zukünftigen Optionen des betroffenen Subjekts erweitert werden653. Die Freiheit, das eigene Leben zu bestimmten, wird also dieser Ansicht nach zu einem bloßen „Mittel“ herabgesetzt, welches ausschließlich dazu bestimmt ist, den größtmöglichen „Spielraum“ für das jeweilige Individuum zu sichern; unter diesem Blickpunkt weist diese Position Ähnlichkeiten mit derjenigen von John Rawls auf, allerdings mit dem wichtigen Unterschied, dass dort die „Maximierung der offenen Alternativen“ als Folge des „vernünftigen Verhaltens“ des Einzelnen, und nicht als Selbstzweck, wie hier, betrachtet wird. Diese Auffassung verkennt jedoch die Tatsache, dass die Nutzung des freien Willens für die Mehrheit der Menschen nicht den Zweck der bloßen Erweiterung der vorhandenen Optionen, sondern denjenigen der effektiven Realisierung ihrer individuellen Lebenspläne dient; und dies ist meistens nicht möglich, ohne vorhandene Güter aufzuopfern, riskante Entscheidungen zu treffen und Kompromisse einzugehen. Die Menschen regeln ihr Verhalten nicht immer nach einer vorsichtigen Kosten-Nutzen Abwägung, denn eine derartige Lebensart ist für die Mehrheit besonders restriktiv. Deswegen könnte die Freiheitsmaximierung auch keine Voraussetzung für die Beurteilung der Freiwilligkeit einer Entscheidung konstituieren654. 3. Die praktische Festlegung der Freiwilligkeit des individuellen Verhaltens Die bisherigen Überlegungen haben dem Zweck gedient, einerseits diejenigen Faktoren zu skizzieren, deren Vorhandensein den autonomen Charakter des menschlichen Verhaltens stets negieren, und andererseits die genaue Beziehung der Freiwil-
652 Dieser Missbrauchsgefahr ist sich auch Kleinig bewusst. Vgl. dazu Möller, Kai, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, S. 173 a. E. ff. m.w.N. 653 Vgl. Regan, Donald H., Paternalism, Freedom, Identity, and Commitment, in: Paternalism, S. 117 f., und die Erörterung seiner Ansicht bei Möller, Kai, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, S. 121; das Freiheitsmaximierungsargument wird auch bei Gerald Dworkin angetroffen; vgl. dazu Dworkin, Gerald, Paternalism, in: Morality and the Law (1971), S. 118: „Paternalism is justified only to preserve a wider range of freedom for the individual in question“. 654 Skeptisch auch zum Gedanken der Freiheitsmaximierung: Hodson, John D., The principle of Paternalism, S. 62 f. m.w.N., und Möller, Kai, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, S. 123 f. m.w.N.
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C. Die Bestimmung des Autonomiebegriffs aus philosophischer Perspektive
ligkeit zu einer Reihe von Begriffen zu präzisieren, die oft – zu Unrecht – im Rahmen einer einschlägigen Beurteilung als relevant betrachtet werden. Damit werden allerdings diejenigen Punkte beschrieben, welche die erforderliche Basis jeder Einschätzung über den freiwilligen Charakter einer Entscheidung lediglich bilden; ob eine Handlung dann auch in der Tat als ausreichend freiwillig zu bezeichnen ist, lässt sich ausschließlich mit Hilfe dieser Überlegungen nicht einfach feststellen. Zu diesem Zweck ist nämlich auch ein positiv erfasster „Maßstab“ erforderlich, an dem die Freiwilligkeit des individuellen Verhaltens konkret gemessen werden kann. Fraglich ist jedoch, wie ein derartiger „Grenzwert“ zu erfassen ist: sollte er die Form einer „festen Schwelle“ haben, die nur dann „überwunden“ wird, wenn konkrete Voraussetzungen seitens des Subjekts eingehalten werden655, oder sollte er eher der Mannigfaltigkeit der alltäglichen Lebenssituationen Rechnung tragen, und insbesondere der Tatsache, dass die Menschen oft freiwillig genug handeln, ohne einen ausführlichen, vordefinierten Katalog von Kriterien erfüllen zu müssen? Joel Feinberg ist der Auffassung, dass auf Grund der unvollkommenen Natur des Menschen und der mannigfaltigen Umstände des alltäglichen Lebens praktisch kaum eine Entscheidung existiert, welche unter objektiver Betrachtung als „perfekt freiwillig“ bezeichnet werden könnte: die Mehrheit der Äußerungen, die tatsächlich auf den freien Willen des Betroffenen zurückzuführen sind, weichen nämlich von einem derartigen „Vorbild“ meistens stark ab. Daher hätte es laut Feinberg auch keinen Bezug auf die Wirklichkeit, den erwähnten „Grenzwert“ als eine „feste“, von konkreten Kriterien abhängende „Größe“ zu konzipieren656. Stattdessen sollte dieser eher als eine „anpassungsfähige Schwelle“ betrachtet werden, deren „Höhe“ sich von Fall zu Fall unterscheidet. Diese Auffassung steht tatsächlich sowohl mit den Grundgedanken der liberalen Doktrin, als auch mit dem alltäglichen Empfinden am ehesten im Einklang. Damit jedoch eine derartige Einschätzung nicht vollkommen der Willkür überlassen wird, wäre auch ein schlüssiges System von Faustregeln erforderlich, welches eine möglichst objektive Einschätzung des in jeder Fallkonstellation benötigten „Ausmaßes an Freiwilligkeit“ erlauben würde. Dies ermöglicht Feinberg durch die Schaffung eines beständigen und objektiven einschlägigen Modells. Nach Maßgabe dieses Systems ist also die „Höhe“ der beschriebenen Schwelle zunächst nach dem Gefährlichkeitsgrad der konkreten Handlung für die eigenen Interessen zu beurteilen (magnitude of the risked harm)657, der seinerseits anhand der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts (probability of the risked harm occuring) sowie der Ernsthaftigkeit der eventuellen Folgen (gravity of the risked harm) einzu655 Eingehend zu dieser Fragestellung Feinberg, Joel, a.a.O. (Fn. 602), S. 113 f. und insb. 115 – 116. 656 Ebd. 116 f. 657 Vgl. Feinberg, Joel, a.a.O. (Fn. 602), S. 118 f.
III. Die Freiwilligkeit als Maßstab autonomen Verhaltens
153
schätzen ist658. Dabei sollte laut Feinberg die objektive Wichtigkeit der durch das Verhalten verfolgten Zielsetzung überhaupt keine Relevanz haben659. Des Weiteren ist die Unwiderruflichkeit der erwarteten Folgewirkungen (irrevocability of the risked harm) bei der Einschätzung ebenfalls zu berücksichtigen660, während schließlich die besonderen Umstände des Einzelfalles im Rahmen dieser Untersuchung auch in Betracht gezogen werden müssen661. Es gelte also unter diesem Blickpunkt folgende Grundformel: „je riskanter das Verhalten, und je definitiver seine Folgen, desto größer sei auch der erforderliche Grad der Freiwilligkeit“662. Feinberg vervollständigt sein Modell von Kriterien durch die Hervorhebung der Rolle, welche die praktische Vernunft im Rahmen einer derartigen Beurteilung zu spielen hat. In dieser Hinsicht soll jede einschlägige Prüfung immer dann mit erhöhter Vorsicht und nach noch stringenteren Kriterien durchgeführt werden, wenn Gegenstand der Untersuchung eine Entscheidung ist, die erfahrungsgemäß nur selten freiwillig getroffen wird663. Dieser Position ist im Ergebnis zuzustimmen, denn sie trägt der Tatsache Rechnung, dass die Frage der Freiwilligkeit einer Entscheidung sowohl mit der Mannigfaltigkeit der menschlichen Natur als auch mit den besonderen Umständen des in Frage stehenden Einzelfalles eng verbunden ist. Den freien Charakter einer Äußerung ausschließlich durch ihre bloße Kontrastierung zu einem unpersönlichen „Durchschnitt“ zu beurteilen, liefe auf eine allzu grobe Missachtung der Individualität der Person hinaus, sowie auf ein eindeutiges Unvermögen, die wirklich relevanten Kriterien für eine derartige Einschätzung zu konkretisieren. Der Vorschlag Feinbergs berücksichtigt stattdessen die kennzeichnenden Merkmale des Menschen als Wesen, und weiß die Bedeutung einzuschätzen, welche die Begleitumstände für eine derartige Erwägung haben können.
4. Zusammenfassend zum Begriff der Freiwilligkeit Aus den bisherigen Anmerkungen zum Begriff der Freiwilligkeit wird ersichtlich, dass die praktische Festlegung des autonomen Charakters des menschlichen Verhaltens keine einfache Aufgabe darstellt; vielmehr handelt es sich um ein aufwendiges Unternehmen, welches eine ganze Reihe von Faktoren in seinen einschlägigen Beurteilungsprozess miteinbeziehen muss. Dabei sind zunächst die Willensdefizite zu berücksichtigen: das Vorliegen von Zwang, Täuschung oder Irrtum im Willensbildungsprozess stellt stets einen Anhaltspunkt dafür dar, dass eine Entscheidung nicht autonom getroffen wurde. Gleichzeitig muss jedoch beachtet werden, dass nur scheinbar 658 659 660 661 662 663
Ebd. S. 119. Ebd. S. 119. Ebd. S. 120. Ebd. S. 121 a. E. ff. Vgl. auch Möller, Kai, Paternalismus und Persönlichkeitsschutz, S. 166 a. E. ff. Ebd. S. 124.
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C. Die Bestimmung des Autonomiebegriffs aus philosophischer Perspektive
relevante Größen – wie die Vernünftigkeit oder die persönliche Integrität – in dieser Einschätzung keine Berücksichtigung finden sollten. Die anschließende Klärung der Frage, ob die jeweilige Entscheidung sich definitiv auf den wahren Willen des Subjekts zurückführen lässt, stellt zum großen Teil einen empirischen Prozess dar, in dessen Rahmen jeder Einzelfall konkret, und mit Rücksicht auf die Individualität des Menschen sowie auf die jeweils herrschenden Umstände, geprüft werden muss. In dem Fall, dass die Freiwilligkeit bejaht wird, ist das entsprechende Verhalten als Ausdruck des Vermögens des betroffenen Subjekts zur selbstbestimmten Führung des eigenen Lebens zu betrachten und darf durch paternalistischen Wohlfahrtserwägungen nicht eingeschränkt werden.
IV. Folgerungen aus der Analyse des Autonomiebegriffs für die Frage der Zulässigkeit der paternalistischen Doktrin Trotz der eingestandenen hermeneutischen Schwierigkeiten mit dem Begriff, gilt die Autonomie im heutigen Verständnis als einer der fundamentalsten Belange des Menschen. Sie wird im Rahmen der zeitgenössischen philosophischen Literatur als eine tief in der Natur des Individuums angesiedelte Eigenschaft betrachtet, welche ihren Ausdruck in der Fähigkeit der Person findet, sich selbst auf der Basis eines beständigen Erkenntnisprozesses durch das Leben zu steuern. Die Autonomie erweist sich in dieser Hinsicht als eine unentbehrliche Voraussetzung des menschlichen Daseins, die zugleich die Grundlage für die individuelle Entwicklung konstituiert. Ein derartiges, liberal geprägtes Verständnis über den Sinngehalt und die Bedeutung der Selbstbestimmung postuliert auch deren prinzipiellen Schutz vor jedem Versuch, den Einzelnen paternalistisch zu bevormunden. Die Anknüpfung der Autonomie an das „Wesen des Menschen“ verbietet nämlich jede auf Wohlfahrtserwägungen beruhende Relativierung dieses Begriffs und bekundet ihre Funktion als prinzipiellen Einwand gegen die Fremdbestimmung. Eine paternalistisch motivierte Einmischung in die selbstbezogenen Angelegenheiten des Individuums ist unter diesem Blickpunkt nur dann als zulässig zu betrachten, wenn das konkrete Verhalten sich nicht auf den freien Willen des betroffenen Subjekts zurückführen lässt. Die Autonomie fungiert infolgedessen auf philosophischer Ebene als eine feste, unüberschreitbare Grenze der staatlichen Eingriffsmacht bei selbstbezogenen Angelegenheiten. Ihre prinzipielle Bedeutung für den Menschen wird von mehreren Autoren betont, und ihre Funktion auf dem Weg der Festlegung des ethisch vertretbaren „Spielraums“ der öffentlichen Gewalt wird in vielen einschlägigen Beiträgen hervorgehoben: in diesem Sinne ist in der Größe der Selbstbestimmung das seit dem Zeitpunkt der Aufklärung gesuchte „Gegenwicht“ zur paternalistischen Doktrin aufzufinden. Das insofern festgelegte Primat der Autonomie gegenüber der Fremdbestimmung wäre jedoch für das Individuum ohne jede praktische Bedeutung, wenn der auf ab-
IV. Folgerungen aus der Analyse des Autonomiebegriffs
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strakter Ebene postulierte Respekt für diesen Belang, sowie seine Wichtigkeit für den Menschen insgesamt, keinen Ausdruck in der heutigen positiven Rechtsordnung fänden. In einem derartigen Fall wären dann alle bisher gewonnenen Erkenntnisse bezüglich der Frage der Zulässigkeit des staatlichen Paternalismus bloß als „nicht bindende normative Vorgaben“ zu betrachten, welche dem Einzelnen kein brauchbares Argument gegen derartig motivierte Einmischungen des Staates liefern könnten. Aus diesem Grund muss folglich der nächste Schritt der Untersuchung eingehend die Frage behandeln, inwiefern die persönliche Autonomie eine „zentrale Größe“ des positiven Rechts konstituiert. Den Ausschlag soll dabei die Prüfung der Position geben, welche die Selbstbestimmung innerhalb des Grundgesetzes – als des Fundaments der modernen Rechtsordnung – innehat.
D. Die Stellung der Autonomie in der liberalen Ordnung des Grundgesetzes Die Verfassung ist die höchstrangige normative Grundordnung eines Staates664. Ihre Regelungen bestimmen die Form, die Struktur und die grundlegende Organisation der öffentlichen Gemeinschaft665 und legen insofern die maßgeblichen Bedingungen fest, unter welchen die staatliche Gewalt ausgeübt wird. Die Funktion der Verfassung erstreckt sich des Weiteren auf die Konkretisierung des Verhältnisses des Staates zu seinen Bürgern666 sowie auf die Aufstellung von Grenzen der öffentlichen Gewalt, um dadurch deren Missbrauch zu verhindern667. Die Bestimmungen dieses fundamentalen Gesetzes richten sich schließlich auch auf die Regelung des Verhältnisses der Bürger zu einander, da die Sicherung des reibungslosen gesellschaftlichen Zusammenlebens eine grundlegende Bedingung für das Fortbestehen der staatlichen Gemeinschaft konstituiert668. Die Verfassung stellt sich also generell als Garant einer bestimmten rechtlichen und politischen Kultur dar669. Sie ist der Gravitationspunkt, an welchem der Staat sich prinzipiell orientiert, und durch welchen er letztlich legitimiert wird670. Darüber hinaus konstituiert sie den Bezugspunkt für die Organisation der staatlichen Gemeinschaft und normiert unter diesem Blickpunkt den Aufbau des Gemeinwesens671. Des Weiteren stellt sie die beständige Richtschnur für die Fortentwicklung des Staates und
664 Vgl. Stern, Klaus, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, S. 59. Eine ähnliche Bestimmung gibt auch Hesse: „Die Verfassung ist die rechtliche Grundordnung des Gemeinwesens“; siehe dazu Hesse, Konrad, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, S. 10, Rn. 17. 665 Vgl. dazu Stern, Klaus, a.a.O. (Fn. 664), S. 59 und 62; vgl. auch Hesse, Konrad, Verfassung und Verfassungsrecht, in: Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, S. 6, Rn. 7, wo die „Normierung des staatlichen Aufbaus“ und die „Erfüllung der staatlichen Aufgaben“ als kennzeichnende Merkmale einer Verfassung betrachtet werden. 666 Vgl. Stern, Klaus, a.a.O. (Fn. 664), S. 59. 667 Ebd. S. 62; Stein, Ekkehart/Frank, Götz, Staatsrecht, S. 1. 668 Vgl. Hesse, Konrad, Verfassung und Verfassungsrecht, in: Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, S. 6, Rn. 9 f. 669 Vgl. Stern, Klaus, a.a.O. (Fn. 664), S. 62 m.w.N. 670 Ebd. S. 63 (Legitimationsfunktion der Verfassung). 671 Ebd. S. 62; Hesse, Konrad, Verfassung und Verfassungsrecht, in: Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, S. 6, Rn. 7 (Organisationsfunktion der Verfassung).
I. Die Entstehungsgeschichte des geltenden Grundgesetzes
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der Gesellschaft dar672 und sorgt für die effektive Harmonisierung der vielen heterogenen Interessen einer größeren Anzahl von Individuen673. Die Mehrheit der modernen Staaten stützt heutzutage ihre Existenz und ihren Fortschritt auf einen derartigen prinzipiellen Regelungskomplex. Diesem Beispiel folgt auch die Bundesrepublik Deutschland, in deren Rahmen allerdings an Stelle einer Verfassung das Grundgesetz auftritt. Dies konstituiert zugegeben eine Eigentümlichkeit unter den demokratischen Staaten Westeuropas, welche jedoch auf die besonderen historischen und politischen Umstände zurückzuführen ist, die im geteilten Deutschland in der Zeit nach dem Ende des zweiten Weltkriegs herrschten. Dessen ungeachtet hat das Grundgesetz eine liberale Ordnung begründet, die in erster Linie am Menschen und an der Bewahrung seiner Interessen orientiert ist. Dem heutigen Zustand der Gleichheit, der Freiheit und der sozialen Gerechtigkeit ist allerdings eine längere ereignisreiche Periode vorangegangen, welche von den harten Kämpfen frei denkender Menschen um die Entbindung ihres Lebens von der Unterdrückung durch fremde Willkür gekennzeichnet ist. Die Erkundung dieser historischen Phase ist ausschlaggebend für die Behandlung der Paternalismusfrage, denn sie gewährt eine bessere Einsicht sowohl in den Ursprung des modernen Staates als auch in die Gründe, welche zur Gestaltung der heutigen politischen und rechtlichen Situation geführt haben. In dieser Hinsicht erscheint es auch sinnvoll, zunächst der Entstehungsgeschichte des geltenden Grundgesetzes in ihren Grundzügen nachzugehen.
I. Die Entstehungsgeschichte des geltenden Grundgesetzes Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland aus dem Jahr 1949674 stellt das Ergebnis eines längeren, oft mit Hindernissen und Rückschritten verbundenen Entwicklungsprozesses dar, dessen Ausgangspunkt im Anliegen der Aufklärungsbewegung des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts nach der positivrechtlichen Statuierung des Respekts vor dem Menschen und seinen Belangen zu lokalisieren ist. Dieses Zeitalter stellte nämlich für den mitteleuropäischen Raum eine Periode dar, welche überwiegend vom steigenden Unbehagen der Bevölkerung gegen die damalige absolutistische Organisation des Gemeinwesens gekennzeichnet war. Der effektive Schutz des Einzelnen vor der staatlichen Willkür stellte in diesem Zeitraum eine nachdrückliche Forderung der Gesellschaft dar, und die Interessen des Individuums traten in entsprechender Weise immer häufiger in den Mittelpunkt der politischen
672 Hesse, Konrad, a.a.O. (Fn. 671), S. 6, Rn. 9 und S. 7, Rn. 10 f. (Leitfunktion der Verfassung). 673 Ebd. S. 5, Rn. 5 f. (Integrationsfunktion der Verfassung). 674 „Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949“, BGBl. I von 1949 (Nr. 1), S. 1, zuletzt geändert durch das „Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes“ vom 31. Juli 2009, BGBl. I von 2009 (Nr. 48), S. 2247, 2248 ff.
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D. Die Stellung der Autonomie in der liberalen Ordnung des Grundgesetzes
Diskussion675. Aus diesen Gründen wurde schließlich in zahlreichen europäischen Ländern die Schaffung eines Verfassungstextes nach dem Beispiel Frankreichs und Nordamerikas vorgeschlagen, welcher die öffentliche Gewalt an eine Reihe von Grundregeln binden sollte und generell als Garant für die Belange der Bürger im Gemeinwesen fungieren würde676. Der dadurch anvisierte Übergang zum Konstitutionalismus erfolgte allerdings auf deutschem Territorium erheblich langsamer als in den übrigen Regionen des alten Kontinents677, denn die deutschen Landesherren wurden erst im Jahr 1815 aufgrund der ausdrücklichen Bestimmungen der „Deutschen Bundesakte“ überhaupt dazu gebracht, „landessständische Verfassungen“678 für die Staaten des Deutschen Bundes zu erlassen679. Diese frühen Texte verbrieften durch ihre Bestimmungen eine für den damaligen Zeitpunkt schon beachtliche Reihe von Grundrechten, welche jedoch über keine echte Abwehrfunktion gegen ihre eventuelle Einschränkung verfügten680, da deren Sicherung lediglich dem Regenten anvertraut war681. Das damit im deutschen Gebiet eingeführte System der konstitutionellen Monarchie ähnelte insofern eher dem Vorbild der strengeren, angelsächsischen Tradition682, in deren Rahmen die Grundrechte den bloßen Status unverbindlicher Staatszielbestimmungen besaßen683. Trotz dieser Schwächen ist es den ersten Verfassungstexten gelungen, den Postulaten der aufklärerischen Doktrin zum ersten Mal einen positivrechtlichen Ausdruck zu geben, und insofern legten sie die Fundamente für die zeitlich nachfolgende politische Kultur des gesamten deutschen Raums684. Das ursprüngliche, tief im Bewusstsein der Bevölkerung angesiedelte Begehren nach einer menschengerechten Gestaltung des Staatswesens ließ allerdings im Laufe der Jahre nicht nach und führte die Bürger des Deutschen Bundes im Jahr
675
Vgl. Zippelius, Reinhold/Würtenberger, Thomas, Deutsches Staatsrecht, S. 2, Rn. 3. Ebd. S. 2, Rn. 3; vgl. auch Stein, Ekkehart/Frank, Götz, Staatsrecht, S. 8. 677 Vgl. Stein, Ekkehart/Frank, Götz, Staatsrecht, S. 7 (unter II); Zippelius, Reinhold/ Würtenberger, Thomas, Deutsches Staatsrecht, S. 3, Rn. 4. 678 Damit sind Verfassungen gemeint, welche eine Ständeversammlung vorsehen; vgl. dazu Stein, Ekkehart/Frank, Götz, Staatsrecht, S. 8, Fn.1. 679 Vgl. Zippelius, Reinhold/Würtenberger, Thomas, Deutsches Staatsrecht, S. 4, Rn. 8; Stein, Ekkehart/Frank, Götz, Staatsrecht, S. 8; Badura, Peter, Staatsrecht, S. 26, Rn. 24; vgl. auch Art. 13 der „Deutschen Bundesakte“ in: Deutsche Bundes-Acte und Schluß-Acte über Ausbildung und Befestigung des deutschen Bundes, S. 32: „In allen Bundesstaaten wird eine landesständische Verfassung Statt finden“. 680 Vgl. Zippelius, Reinhold/Würtenberger, Thomas, Deutsches Staatsrecht, S. 4, Rn. 10. 681 Vgl. Stein, Ekkehart/Frank, Götz, Staatsrecht, S. 8; vgl. auch Art. 18 der „Deutschen Bundesakte“ in: Deutsche Bundes-Acte und Schluß-Acte über Ausbildung und Befestigung des deutschen Bundes, S. 38: „Die verbündeten Fürsten und freien Städte kommen überein, den Unterthanen der deutschen Bundesstaaten folgende Rechte zuzusichern […]“. 682 Vgl. Stein, Ekkehart/Frank, Götz, Staatsrecht, S. 8. 683 Vgl. Zippelius, Reinhold/Würtenberger, Thomas, Deutsches Staatsrecht, S. 4, Rn. 10. 684 Ebd. S. 5, Rn. 11. 676
I. Die Entstehungsgeschichte des geltenden Grundgesetzes
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1848 schließlich zum Aufstand685. Die so genannte „Märzrevolution“ stellte sich polemisch gegen die bisherigen Kompromisse, und versuchte, eine rasche Änderung des status quo zu bewirken. Zur Verwirklichung dieser Zielsetzung traten im Mai des gleichen Jahres frei gewählte Abgeordnete in der Paulskirche in Frankfurt am Main zusammen, um für das gesamte deutsche Gebiet eine Verfassung zu erlassen686. Das dadurch entstandene Werk, welches als die „Paulskirchenverfassung“ in die Geschichte eingegangen ist, trug die Züge der aufklärerischen Tradition687, und leitete auf dem politischen Feld zusammen mit der Idee der Volkssouveränität auch einen umfassenden Rechtekatalog ein688. Die neue Ordnung, welche die Erwartungen der Bürger für die freiheitliche Organisation der öffentlichen Gemeinschaft widerspiegelte, vermochte jedoch ihre Zielsetzung schließlich nicht zu erfüllen, da in das Scheitern der „März-Bewegung“ im Jahr 1851 auch der Paulskirchentext hineingezogen wurde689. Immerhin stellte das Werk der Paulskirchenversammlung die erste liberale Verfassung Deutschlands dar, deren Postulate den Wunsch der Bevölkerung nach einer Abkehr von der langen Tradition des Absolutismus offenkundig belegten. Der nächste wichtige Punkt in der politischen Geschichte Deutschlands war die Gründung des Deutschen Reichs, ein Ereignis, welches nach einer längeren Periode von Krieg und gesellschaftlicher Unruhe erfolgte690. Die nach der Stabilisierung der gesamten Situation erlassene „Verfassung des Deutschen Reichs“ vom Jahr 1871 (auch als „Bismarcksche Verfassung“ bekannt691) trug durch ihre Bestimmungen zur staatlichen Struktur eindeutig den älteren Regierungsmodellen Rechnung692, und könnte insofern auf formeller Ebene als ein „Rückschritt“ gegenüber der bisherigen liberalen Entwicklung des Gebiets betrachtet werden. Das neue Staatswesen knüpfte allerdings trotz seiner äußeren Form nicht an die Ideen der deutschen absolutistischen Vergangenheit an, und optierte stattdessen dafür, die Traditionslinien der vorherigen Bürgerkämpfe auf gemäßigte Weise fortzuentwickeln. In dieser Hinsicht hat in einer Periode der Monarchie ein beachtlicher Ausbau des rechtstaatlichen Denkens stattgefunden693, der sich vorwiegend in der Etablierung der Idee der Berechenbarkeit des staatlichen Handelns sowie in der Förderung des effektiven Schutzes des Bürgers vor staatlicher Willkür konkretisiert hat694. 685
Vgl. Badura, Peter, Staatsrecht, S. 27, Rn. 25. Ebd., S. 27, Fn. 25; Stein, Ekkehart/Frank, Götz, Staatsrecht, S. 8 a. E.; Zippelius, Reinhold/Würtenberger, Thomas, Deutsches Staatsrecht, S. 5, Rn. 12. 687 Vgl. Stein, Ekkehart/Frank, Götz, Staatsrecht, S. 9. 688 Vgl. Zippelius, Reinhold/Würtenberger, Thomas, Deutsches Staatsrecht, S. 5, Rn. 12; Badura, Peter, Staatsrecht, S. 27, Rn. 25; Sachs, Michael, Vorbemerkungen zu Art. 1 GG, in: Grundgesetz Kommentar, S. 35, Rn. 6. 689 Vgl. Badura, Peter, Staatsrecht, S. 28, Rn. 25. 690 Vgl. Badura, Peter, Staatsrecht, S. 28 f., Rn. 26. 691 Ebd. S. 28 a. E., Rn. 26. 692 Vgl. Zippelius, Reinhold/Würtenberger, Thomas, Deutsches Staatsrecht, S. 5, Rn. 14. 693 Ebd. S. 6, Rn. 15. 694 Ebd. S. 6, Rn. 15. 686
160
D. Die Stellung der Autonomie in der liberalen Ordnung des Grundgesetzes
Diese beachtlichen Entwicklungen auf dem rechtlichen Feld konnten jedoch den Aufbau von gesellschaftlichen Spannungen nicht verhindern, die ihrerseits aufgrund der schon vorhandenen sozialen Ungleichheiten in den folgenden Jahrzehnten nur intensiver wurden. Die Stabilität der gesamten Region hat aus diesem Grund ständig nachgelassen und insbesondere nach der Niederlage des Reiches im ersten Weltkrieg einen kritischen Zustand erreicht, der anschließend im Jahr 1918 durch den Ausbruch der so genannten „November-Revolution“ in der Beendigung der Geltung der Bismarckschen Verfassung und im endgültigen Sturz der Monarchie gipfelte695. Die zum Zweck der Stabilisierung der gesamten Situation berufene Nationalversammlung verkündete im August 1919 die eindeutig liberal geprägte Weimarer Verfassung, auf deren Basis der Übergang Deutschlands zum System der parlamentarisch-demokratischen Republik vollzogen wurde696. Ihre Bestimmungen knüpften unmittelbar an die Tradition der Paulskirchenverfassung an, deren frühe Vorstellungen für eine freiheitliche Regelung des gesellschaftlichen Lebens nun einen positiven Ausdruck fanden697. Das Prinzip der Volkssouveränität sowie die Anerkennung von Grundrechten stellten die Ausgangsprämissen der neuen Rechtsordnung dar698, die sich ihrerseits durch die Intention kennzeichnete, jede Beziehung des Deutschen Staates zu seiner absolutistischen Vergangenheit abzuschaffen. Dieser wahren Errungenschaft auf dem Feld der Staatsorganisation folgte jedoch eine neue Periode politischer und wirtschaftlicher Krisen, welche schließlich die junge Republik Anfang der dreißiger Jahre zum Scheitern brachte und die liberale Entwicklung des deutschen Staatswesens anhielt699. Das einsetzende, „finstere“ Zeitalter war von der tiefen Missachtung des inhärenten Wertes des Individuums und seiner Rechte geprägt und wandelte schließlich den Staat zu einem Mechanismus der bedingungslosen Auferlegung extremer Ideale um. Diese Situation führte schließlich zum zweiten Weltkrieg, welcher auf ideologischer Ebene im Wesentlichen als das Ringen zwischen Unterdrückung durch eine grausame Willkür und deren Abwehr seitens aller frei denkenden Menschen aufgefasst werden kann. Die Ereignisse dieses Zeitraums haben in aller Deutlichkeit die Gefährlichkeit des Einschleichens von autoritären Tendenzen in die staatlichen Zielsetzungen gezeigt. Die bitteren Erfahrungen des Krieges mahnten das deutsche Volk unmittelbar zu einer Neugestaltung des Gemeinwesens, das nunmehr auf den Prinzipien der Gerechtigkeit und des Respekts für den Eigenwert der Person beruhen sollte. Dieser Entschluss zur individuumszentrierten und liberalen Einrichtung des Staates spiegelte sich auch im Bericht des Ausschusses von Sachverständigen wider, welcher im August 1948 auf
695
Vgl. Badura, Peter, Staatsrecht, S. 30. Ebd. S. 30 f.; Stein, Ekkehart/Frank, Götz, Staatsrecht, S. 10. 697 Vgl. Zippelius, Reinhold/Würtenberger, Thomas, Deutsches Staatsrecht, S. 6, Rn. 17. 698 Ebd. S. 6, Rn. 17; Badura, Peter, Staatsrecht, S. 30; Sachs, Michael, Vorbemerkungen zu Art. 1 GG, in: Grundgesetz Kommentar, S. 35, Rn. 7. 699 Vgl. Zippelius, Reinhold/Würtenberger, Thomas, Deutsches Staatsrecht, S. 6, Rn. 17. 696
I. Die Entstehungsgeschichte des geltenden Grundgesetzes
161
der Insel Herrenchiemsee den Entwurf eines Grundgesetzes für den westlichen Teil Deutschlands ausgearbeitet hat700. Die Vorschläge und Ideen701 dieses Konvents, welcher an die Tradition der Paulskirchen- und Weimarer Verfassung anknüpfte, wurden dann dem Parlamentarischen Rat702 vorgelegt, der auf ihrer Basis ein Grundgesetz für den westlichen deutschen Staat im Mai 1949 verabschiedete703. Auf die Bezeichnung dieses Textes als „Verfassung“ wurde damals verzichtet, um diesen Begriff für das „grundlegende Gesetz“ eines wiedervereinigten deutschen Staates vorzubehalten704 – ein Ereignis, welches zu jener Zeit als unmittelbar bevorstehend erachtet wurde. Das vom Parlamentarischen Rat lediglich als Provisorium ausgearbeitete „Grundgesetz“ hat inzwischen seine anfängliche Zwecksetzung weit übertroffen, und stellt heute nach vielen Änderungen im Laufe seiner Geschichte das liberal geprägte Fundament der Bundesrepublik Deutschland dar. Seine Bestimmungen sind das Ergebnis längerer Kämpfe gegen fremde Willkür und bekunden die Orientierung der Gemeinschaft an den Prinzipien der Freiheit und des Respekts vor dem Wesensgehalt des Menschen. Der Einzelne und seine Belange werden in den Mittelpunkt der Rechtsordnung gestellt, und die öffentliche Gewalt ist gegenüber den Bürgern in erster Linie durch ihre dienende Funktion gekennzeichnet705: Der eindrucksvollen Verkündung des Verfassungskonvents auf Herrenchiemsee nach ist also der Staat nunmehr „um des Menschen willen da“706.
700
Vgl. Badura, Peter, Staatsrecht, S. 24, Rn. 21; Stein, Ekkehart/Frank, Götz, Staatsrecht,
S. 11. 701
Zusammengefasst in: „Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee vom 10. bis 23. August 1948“. 702 Dies war ein von den Ministerpräsidenten der westdeutschen Länder, auf Anordnung der Militärgouverneure der westlichen Mächte bestelltes Gremium. Näher dazu Badura, Peter, Staatsrecht, S. 21, Rn. 18 und insb. S. 23, Rn. 20; Ziekow, Jan, Einheit in Freiheit – 50 Jahre Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, in: JuS 1999, S. 418 f. (unter 2). 703 Badura, Peter, Staatsrecht, S. 25, Rn. 22 f.; Stein, Ekkehart/Frank, Götz, Staatsrecht, S. 11; Ziekow, Jan, Einheit in Freiheit – 50 Jahre Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, in: JuS 1999, S. 420 f. (unter 4). 704 Ziekow, Jan, Einheit in Freiheit – 50 Jahre Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, in: JuS 1999, S. 418 f. und insb. 419; Badura, Peter, Staatsrecht, S. 22, Rn. 19; Stein, Ekkehart/Frank, Götz, Staatsrecht, S. 11. 705 Vgl. Badura, Peter, Staatsrecht, S. 12: „Die dem politischen Liberalismus folgende Verfassung unterwirft den Staat der Gesellschaft“. 706 Siehe „Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee vom 10. bis 23. August 1948“, S. 61 a. E.
162
D. Die Stellung der Autonomie in der liberalen Ordnung des Grundgesetzes
II. Die Würde des Menschen als Fundament des modernen Staates Die beschriebene, auf der Basis von geschichtlichen Erfahrungen getroffene Wahl der Förderung eines eindeutig individuumszentrierten und von der Maxime der Freiheit geprägten Rechtssystems findet heute rechtstechnisch ihre eklatante Verankerung schon in den ersten Aussagen des Grundgesetzes, welches im Art. 1 Abs. I die Unantastbarkeit der Menschenwürde, als der Quintessenz der Person, postuliert. In diesem positivrechtlichen Gebot, dessen Einhaltung gemäß Art. 1 Abs. II die erste und oberste Pflicht der öffentlichen Gewalt konstituiert707, wird die seit dem Zeitpunkt der Märzrevolution sich abzeichnende, liberale, und von der profunden Achtung des Wesens des Einzelnen gekennzeichnete Ausrichtung des modernen Staates subsumiert, welcher nunmehr verpflichtet ist, seine gesamte Tätigkeit auf diese Grundlage abzustimmen. Der Satz der Menschenwürde ist historisch aus einer „Gemengelage“ antiker und humanistischer Traditionen herausgewachsen708 und blickt auf eine Jahrtausendelange Geschichte zurück709. Die Idee einer allen Menschen eignenden Würde ist erst in der Philosophie der mittleren Stoa im antiken Griechenland anzutreffen710, während Spuren dieses Gedanken ebenfalls in den Schriften Ciceros zu finden sind711. Der nachfolgende Zeitraum der Spätantike und des Mittelalters wird geistig von der christlichen Theologie dominiert712, welche, unter dem Einfluss der Patristischen und Scholastischen Strömung713, die dignitas humana714 aus der „Gottesebenbildlichkeit der Person“ (imago dei) direkt ableitete715. Die Grundlage des modernen Menschenwürdeverständnisses wird jedoch im 15. Jahrhundert geschaffen716, als Giovan707 Vgl. Benda, Ernst, Menschenwürde und Persönlichkeitsrechts, in: Handbuch des Verfassungsrechts, S. 162, Rn. 3. 708 Vgl. Dreier, Horst, Artikel 1 I GG [Menschenwürde], in: Grundgesetz Kommentar, S. 94, Rn. 8. 709 Ebd. S. 92, Rn. 2. 710 Vgl. Robbers, Gerhard, Art. 1 GG [Menschenwürde, Menschenrechte, Grundrechtsbildung], in: Grundgesetz Mitarbeiterkommentar und Handbuch, S. 101, Rn. 10; vgl. auch Häberle, Peter, Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, in: Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, S. 834, Rn. 34. 711 Vgl. Dreier, Horst, a.a.O. (Fn. 708), S. 92, Rn. 4. 712 Ebd. S. 93, Rn. 5. 713 Ebd. S. 93, Rn. 5. 714 Vgl. Robbers, Gerhard, a.a.O. (Fn. 710), S. 101, Rn. 8; auch Thomas von Aquin hat gelegentlich von der dignitas humana gesprochen; siehe dazu Stern, Klaus, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/1, S. 7 (unter a). 715 Ebd. S. 93, Rn. 5; vgl. auch Stern, Klaus, a.a.O. (Fn. 714), S. 9 (unter c); Robbers, Gerhard, a.a.O. (Fn. 710), S. 101, Rn. 8; Häberle, Peter, Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, in: Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, S. 834, Rn. 34. 716 Vgl. Dreier, Horst, a.a.O. (Fn. 708), S. 94, Rn. 9.
II. Die Würde des Menschen als Fundament des modernen Staates
163
ni Pico Graf von Mirandola und Concordia die hominis dignitas ausschließlich aus der Vernunftbegabung des Menschen (anima rationalis) ableitete717; diesen Leitgedanken führte anschließend Samuel von Pufendorf im deutschen Raum während der Aufklärung fort718, bis schließlich das Werk Immanuel Kants dem Würdebegriff seine heutige Aussagekraft verlieh719. Dieser längere Entwicklungsprozess endete mit der positiven Verankerung des Würdebegriffs im geltenden Grundgesetz720. Das Postulat des Schutzes des Eigenwerts des Individuums konstituiert die Grundlage der Mehrheit der modernen Staaten721, und stellt darüber hinaus den Kernpunkt einer größeren Anzahl internationaler Abkommen722 dar. Der Artikel über die Menschenwürde wird nach einhelliger Meinung der Rechtswelt als eine der „gewichtigsten Aussagen des gesamten Verfassungswerkes“ betrachtet723 und gilt in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als „oberster (Verfassungs-)Wert“724 sowie als „tragendes Konstitutionsprinzip“725 des Grundgesetzes. Die Theorie726 erblickt ihrerseits in diesem Gebot das „Fundament der Verfassungsordnung“727, das „oberste Konstitutionsprinzip des ob717
Ebd. S. 94 f., Rn. 9 sowie Stern, Klaus, a.a.O. (Fn. 714), S. 7 (unter a). Vgl. Stern, Klaus, a.a.O. (Fn. 714), S. 7 (unter b). 719 Vgl. Dreier, Horst, a.a.O. (Fn. 708), S. 95, Rn. 11 f.; Robbers, Gerhard, a.a.O. (Fn. 710), S. 101, Rn. 9; Häberle, Peter, a.a.O. (Fn. 715), S. 834, Rn. 34 a. E. 720 Instruktiv zur Bedeutung der Positivierung der Menschenwürde Dürig, Günther, Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde, in: Archiv des öffentlichen Rechts (AöR) 81 (1956), S. 117 – 118. 721 Häberle, Peter, a.a.O. (Fn. 715), S. 818, Rn. 4 f.; Stern, Klaus, a.a.O. (Fn. 714), S. 19 (unter d). 722 Dreier, Horst, a.a.O. (Fn. 708), S. 99, Rn. 24 f.; siehe auch die einschlägige Auflistung von Robbers, Gerhard, a.a.O. (Fn. 710), S. 100, Rn. 4. 723 Siehe Stern, Klaus, a.a.O. (Fn. 714), S. 20 (unter 2) mit zahlreichen Nachweisen auf Rspr. und Literatur. 724 Siehe dazu BVerfGE 5, 85 (204); BVerfGE 6, 32 (41); BVerfGE 27, 1 (6); BVerfGE 30, 1 (39); BVerfGE 30, 173 (193); BVerfGE 32, 98 (106 und 108); BVerfGE 33, 23 (29); BVerfGE 50, 166 (175); BVerfGE 52, 223 (247); BVerfGE 96, 375 (399); vgl. dazu (und ebenfalls zur nachfolgenden Fußnote) auch Stern, Klaus, a.a.O. (Fn. 714), S. 23, Fn. 93; Häberle, Peter, a.a.O. (Fn. 715), S. 821, Rn. 7 m.w.N.; Fischer, Kai, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes vor Selbstschädigung, S. 79, Fn. 272; Robbers, Gerhard, a.a.O. (Fn. 710), S. 101, Rn. 6. 725 Siehe dazu BVerfGE 6, 32 (36); BVerfGE 30, 1 (39); BVerfGE 33, 23 (29); BVerfGE 45, 187 (227); BVerfGE 50, 166 (175); BVerfGE 54, 148 (153); BVerfGE 72, 105 (115); BVerfGE 87, 229 (228); BVerfGE 96, 375 (399). Darüber hinaus hat das Bundesverfassungsgericht die Menschenwürdeklausel ebenfalls als „oberstes Verfassungsprinzip“ (BVerfGE 54, 341, 357; BVerfGE 56, 216, 235), „obersten Zweck allen Rechts“ (BVerfGE 12, 45, 51; BVerfGE 37, 57, 65), „höchsten Rechtswert“ (BVerfGE 12, 45, 53; BVerfGE 45, 187, 227; BVerfGE 69, 1, 22; BVerfGE 48, 127, 163), und „Mittelpunkt des Grundgesetzes“ (BVerfGE 7, 198, 205; BVerfGE 21, 362, 372) charakterisiert. 726 Wegweisend Stern, Klaus, a.a.O. (Fn. 714), S. 23, Fn. 96; Fischer, Kai, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes vor Selbstschädigung, S. 79, Fn. 272. 727 Siehe Stern, Klaus, a.a.O. (Fn. 714), S. 18 a. E. f. sowie S. 23. 718
164
D. Die Stellung der Autonomie in der liberalen Ordnung des Grundgesetzes
jektiven Rechts“728 sowie die „Grundnorm unserer Rechtsordnung“729 und erkennt in dieser Klausel den eigentlichen „Maßstab alles staatlichen Handelns“730. Die Positionierung des Wertes der Menschenwürde an der Spitze des Grundgesetzes, eine Entscheidung, welche durch die „Unabänderlichkeit“ des entsprechenden Rechtssatzes gemäß Art. 79 Abs. III GG bekräftigt wird731, bekundet ihrerseits in aller Deutlichkeit den prinzipiellen Primat des Individuums in seinem Verhältnis zum Staat und führt in die wechselseitige Beziehung beider Parteien eine beständige Ausgangsvermutung zu Gunsten der ersteren ein732. Anhand des Postulats der Achtung der Menschenwürde wird eine freiheitliche „Grundvorstellung“ vom Individuum im Gemeinwesen konturiert, welche die öffentliche Gewalt zu einer entsprechenden Strukturierung der Gesamtrechtsordnung verpflichtet733. Der Staat zeichnet sich heutzutage in erster Linie durch seine dienende Funktion gegenüber dem Einzelnen aus734, dessen Interessen grundsätzlich über die des Kollektivs zu stellen sind735. Der Respekt und die Bewahrung der menschlichen Würde konstituieren insofern bindende Richtlinien für die gesamte staatliche Tätigkeit736 und sind ausschlaggebend für jede moderne, auf liberalen Prämissen beruhende Rechtsordnung.
III. Die Konkretisierung des Wesensgehalts der Menschenwürde: Die Autonomie als fundamentaler Bestandteil des Eigenwertes der Person Trotz der maßgebenden Bedeutung, welche der Menschenwürde für den Aufbau und die Funktion von Staat und Gesellschaft zukommt, ist der Versuch, sich diesem Belang auf begrifflicher und inhaltlicher Ebene anzunähern, mit besonderen Schwierigkeiten verbunden737. Denn bei einem derartigen Unternehmen handelt es sich um die Bezeichnung derjenigen Elemente, welche das „Wesen des Menschen“ ausma728
Siehe Dürig, Günther, Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde, in: Archiv des öffentlichen Rechts (AöR) 81 (1956), S. 119 (vor 4). 729 Siehe Fischer, Kai, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes vor Selbstschädigung, S. 79. 730 Vgl. Dürig, Günther, a.a.O. (Fn. 728), S. 123 (unter 7). 731 Vgl. dazu Stern, Klaus, a.a.O. (Fn. 714), S. 20 (unter 2); Fischer, Kai, a.a.O. (Fn. 729), S. 79 (unter 1); Benda, Ernst, Menschenwürde und Persönlichkeitsrecht, in: Handbuch des Verfassungsrechts, S. 164, Rn. 6. 732 Dürig, Günther, a.a.O. (Fn. 728), S. 123. 733 Ebd. S. 123. 734 Vgl. Fischer, Kai, a.a.O. (Fn. 729), S. 169; Stern, Klaus, a.a.O. (Fn. 714), S. 11. 735 Vgl. Tenthoff, Christian, Die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen im Lichte des Autonomieprinzips, S. 147 a. E., m.w.N. (Fn. 433). 736 Vgl. Benda, Ernst, Menschenwürde und Persönlichkeitsrecht, in: Handbuch des Verfassungsrechts, S. 165, Rn. 6. 737 Vgl. Fischer, Kai, a.a.O. (Fn. 729), S. 79.
III. Die Konkretisierung des Wesensgehalts der Menschenwürde
165
chen, eine Fragestellung, die zugegebenermaßen nicht einfach beantwortet werden kann. Dies war auch der Grund, warum insbesondere in der Ausgangsphase der Grundgesetzinterpretation eine positive Umschreibung des Sinngehalts der Menschenwürde meist vermieden wurde. Stattdessen ging die Theorie von dem Standpunkt aus, dass der Satz von der Menschenwürde absichtlich vag gelassen wurde und daher keiner weiteren Auslegung bedürfe738. Diese Auffassung ließ allerdings viele Fragen offen, und wurde im Laufe der Zeit durch den Versuch ersetzt, den Sinngehalt der Menschenwürde „negativ“, also vom „Verletzungsvorgang“ her, in „fallweiser Konkretisierung“ zu erschließen739. Dieser Weg wurde insbesondere vom Bundesverfassungsgericht mehrmals befolgt740, was durch die Identifizierung und anschließende Verurteilung von Handlungen, die den Eigenwert des Einzelnen eindeutig verletzen, für die Schaffung eines grundsätzlichen Konsensus über den „Mindestgehalt“ der Würde gesorgt hat741. Diese frühen Konkretisierungsversuche der grundgesetzlichen Würdegarantie wurden anschließend in der Dürigschen „Objektformel“ konstruktiv rezipiert742, anhand welcher ein wesentlicher Beitrag zur inhaltlichen Bestimmung des Würdebegriffs geleistet wurde743. In offenkundiger Anlehnung an die Philosophie Immanuel Kants744 wird auf der Basis dieser Formel745 postuliert, dass der Eigenwert des Individuums dann beeinträchtigt wird, wenn der Mensch zu einem bloßen „Objekt“ in den
738 Vgl. dazu Dreier, Horst, a.a.O. (Fn. 708), S. 103, Rn. 37; Häberle (a.a.O. Fn. 715, S. 835, Rn. 37) erkennt in dieser Haltung die Spuren eines neo-naturrechtlichen Räsonnements, da das Bestehen auf einer „Nicht-Definition“ seitens der damaligen Literatur oft mit dem Gedanken berechtigt wurde, dass es sich bei der Menschenwürde um eine vorpositive „Urgegebenheit“ des Personseins handelte. 739 Vgl. dazu Dreier, Horst, a.a.O. (Fn. 708), S. 103, Rn. 37, m.w.N.; Stern, Klaus, a.a.O. (Fn. 714), S. 24 (unter c); Höfling, Wolfram, Art. 1 GG [Schutz der Menschenwürde, Menschenrechte, Grundrechtsbildung], in: Grundgesetz Kommentar, S. 82, Rn. 14 m.w.N. 740 Für eine Auflistung solcher Entscheidungen siehe Dreier, Horst, a.a.O. (Fn. 708), S. 103, Rn. 37, Fn. 82. 741 Höfling, Wolfram, a.a.O. (Fn. 739), S. 82, Rn. 14 m.w.N. 742 Vgl. Robbers, Gerhard, a.a.O. (Fn. 710), S. 102, Rn. 13 m.w.N. 743 Vgl. Stern, Klaus, a.a.O. (Fn. 714), S. 24 (unter c); Häberle, Peter, a.a.O. (Fn. 715), S. 836, Rn. 38. 744 Vgl. dazu Höfling, Wolfram, a.a.O. (Fn. 739), S. 82, Rn. 15 m.w.N.; Becker, Ulrich, Das ,Menschenbild des Grundgesetzes in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, S. 39 (unter 2); zusätzlich sollte an dieser Stelle auch an die einschlägige und oft zitierte Kernaussage Immanuel Kants aus seiner „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ erinnert werden: „Handle so daß du die Menschheit in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest“. 745 Die „Objektformel“ stellt im Wesentlichen die direkte und sinnvolle Fortsetzung des früheren Versuchs dar, die Menschenwürde ex negativo zu konkretisieren; siehe dazu Enders, Christoph, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, S. 20 m.w.N.
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D. Die Stellung der Autonomie in der liberalen Ordnung des Grundgesetzes
Händen fremder Willkür herabgesetzt wird746, wenn also seine Subjektqualität selbst im Wesentlichen verworfen wird747. Diese Formel, welche von der bundesverfassungsgerichtlichen Judikatur zum Zweck der Festlegung von Würdeverletzungshandlungen konsequent benutzt wurde748, führte trotz ihres zugegeben vagen Charakters749 einen dringend benötigten „Maßstab“ für die nähere Präzisierung des Wesensgehalts der Würde der Person ein und stellte damit einen Ansatz dar, welcher allen künftigen Auslegungsanstrengungen einen konkreten und „fassbaren“ Bezugspunkt lieferte. Das anfängliche Zögern der Rechtswelt, den Wesensgehalt des obersten Verfassungswertes zu konkretisieren, wich allmählich dem Interesse an der Schaffung von Klarheit bezüglich der Grundlagen der modernen Gemeinschaft. Vor diesem Hintergrund hat ein systematischer Auslegungsversuch seitens der Theorie stattgefunden, welchem im Endeffekt tatsächlich gelungen ist, eine möglichst präzise Beschreibung des Sinngehalts des fundamentalsten Belanges des Individuums zu liefern: Demnach besteht das Wesen der menschlichen Würde im inhärenten Vermögen des Einzelnen zu freier Selbstfindung und aktiver Identitätsbildung750, in der abstrakten Fähigkeit des Menschen751 also zur „Eruierung“ der eigenen Person und zur Verwirklichung des eigenen Potentials auf der Basis seiner rationalen Natur752. Des Weiteren lässt sich der Inhalt der menschlichen Würde auch unverwechselbar in der Unabhängigkeit des menschlichen Geistes, im schrittweisen Aufbau der eigenen Integrität sowie in der bis zum Ende des individuellen Daseins fortbestehenden Entwicklung des einzelnen Menschen erkennen, in inneren Prozessen also, welche in ihrer Gesamtheit Teilaspekte des jeder Person zu unterstellenden Anliegens einer möglichst autonomen Selbstdarstellung konstituieren753. Diese Auffassung, welche mit der individuumszentrierten und liberalen Orientierung des Grundgesetzes im völligen Einklang steht, qualifiziert die Selbstbestimmung 746 Vgl. Dürig, Günther, a.a.O. (Fn. 728), S. 127 (unter 3): „Die Menschenwürde als solche ist getroffen, wenn der konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt wird“. 747 Vgl. Robbers, Gerhard, a.a.O. (Fn. 710), S. 103, Rn. 13. 748 Siehe etwa BVerfGE 9, 89 (95); BVerfGE 27, 1 (6, unter b); BVerfGE 28, 386 (391); BVerfGE 45, 187 (228); für eine ausführliche Auflistung aller einschlägigen Entscheidungen siehe Robbers, Gerhard, a.a.O. (Fn. 710), S. 103, Rn. 13; Höfling, Wolfram, a.a.O. (Fn. 739), S. 82, Rn. 15, Fn. 53; Dreier, Horst, a.a.O. (Fn. 708), S. 104, Rn. 39, Fn. 85; Becker, Ulrich, a.a.O. (Fn. 744), S. 37, Fn. 17. 749 Siehe dazu Dreier, Horst, a.a.O. (Fn. 708), S. 104, Rn. 39 m.w.N.; Höfling, Wolfram, a.a.O. (Fn. 739), S. 82, Rn. 15. 750 Vgl. Höfling, Wolfram, a.a.O. (Fn. 739), S. 89, Rn. 35 m.w.N.; Dreier, Horst, a.a.O. Fn. 708), S. 105, Rn. 42. 751 Vgl. Benda, Ernst, Menschenwürde und Persönlichkeitsrechts, in: Handbuch des Verfassungsrechts, S. 169, Rn. 16. 752 Vgl. Dürig, Günther, a.a.O. (Fn. 728), S. 125 (unter 1). 753 Vgl. Höfling, Wolfram, a.a.O. (Fn. 739), S. 89, Rn. 35; Dreier, Horst, a.a.O. (Fn. 708), S. 105, Rn. 40 f. sowie Rn. 44.
III. Die Konkretisierung des Wesensgehalts der Menschenwürde
167
als einen konstitutiven Bestandteil der menschlichen Würde und bekundet dadurch die fundamentale Bedeutung, welche der Autonomie innerhalb der geltenden Rechtsordnung zukommt. Die Freiheit zur Bestimmung des eigenen Daseins ist mithin zusammen mit dem Würdebegriff zu den Grundlagen des modernen Staates zu zählen, und erweist sich unter diesem Blickpunkt als ein Wert, welcher des besonderen Schutzes bedarf. Dieser enge Zusammenhang zwischen den zwei wichtigsten Belangen des Individuums wurde im Laufe der Zeit immer deutlicher zum Ausdruck gebracht und hat sich schließlich zu einer Grundposition im Rahmen der Theorie entfaltet, welche die persönliche Autonomie als den eigentlichen „Kern“ des Würdebegriffs betrachtet754. Die bestehende Beziehung zwischen den Werten der Autonomie und der Menschenwürde wird darüber hinaus auch anhand der vom Bundesverfassungsgericht entwickelten „Menschenbildformel“755 belegt, eines Satzes, welchen allerdings die Verfassungsrichter im Wesentlichen zum Zweck der Konkretisierung des aus dem Grundgesetz hervorgehenden „Gesamtbildes“ des Individuums756 sowie zur Festlegung der Stellung des Einzelnen gegenüber seinen Mitmenschen und dem Staat lediglich entworfen haben757. Diese Formel, welche inzwischen als ständige Rechtsprechung des Gerichts apostrophiert hat758, besagt grundsätzlich, dass der Mensch innerhalb der rechtlichen Ordnung nicht als ein isoliertes Individuum betrachtet werden muss759 ; „das Grundgesetz hat vielmehr die Spannung Individuum – Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit entschieden, ohne [jedoch] dabei deren [gemeint ist: der Individuen] Eigenwert anzutasten“.
754 Vgl. diesbezüglich Stern, Klaus, a.a.O. (Fn. 714), S. 31 (vor 7) sowie S. 641 (unter c), welcher die Autonomie das „Herzstück“ der Menschenwürde nennt; im gleichen Sinne Murmann, Uwe, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, S. 217: „[…] die Menschenwürde [ist] als die Freiheit zur Selbstbestimmung [aufzufassen]“; Tenthoff, Christian, Die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen im Lichte des Autonomieprinzips, S. 89: „Das Autonomieprinzip ist im Art. 1 Abs. I GG innewohnend“, S. 93: „Die Autonomie des Einzelnen prägt […] die Definition der Menschenwürde entscheidend“, m.w.N, sowie S. 20 m.w.N.; Fischer, Kai, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes vor Selbstschädigung, S. 80 m.w.N.: „Zur Eigenwertigkeit des Menschen als weitgehend anerkanntem Begriffskern der Menschenwürde gehört danach das Selbstbestimmungsrecht des Menschen“. 755 Zunächst in BVerfG Urteil v. 20. 07. 1954 (Investitionshilfe), BVerfGE 4, 7 (15 f.). 756 Siehe z. B. BVerfGE 50, 290 (293 a. E.) (Mitbestimmung). 757 Siehe z. B. BVerfGE 33, 303 (334 en fin) (Numerus clausus), BVerfGE 45, 187 (227 a. E.) (Lebenslänglich). 758 Siehe Murmann, Uwe, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, S. 218 m.w.N. auf BVerfGE 50, 290 (353); vgl. dazu auch Becker, Ulrich, Das ,Menschenbild des Grundgesetzes in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, S. 33, Fn. 1. 759 Siehe BVerfGE 4, 7 (15 a. E.).
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D. Die Stellung der Autonomie in der liberalen Ordnung des Grundgesetzes
Neben der Sozialgebundenheit760 ist also die Bedeutung und die Stellung des Menschen im Gemeinwesen auch durch dessen Eigenwert gekennzeichnet. Die Konkretisierung des letztgenannten Belanges, welcher im Wesentlichen eine Umschreibung desjenigen der Menschenwürde konstituiert, erfolgt in der Judikatur des Gerichts durch die Nutzung einer zugegeben „bunten“ Palette von Begrifflichkeiten761, welche jedoch in ihrer überwiegenden Anzahl autonomiebezogen sind. In dieser Hinsicht wird der Eigenwert des Einzelnen in erster Linie mit dessen Eigenständigkeit identifiziert762, ein Belang, welcher dann nachfolgend durch die „Fähigkeit zu eigenver-
760 Die im Rahmen der Menschenbildformel ausdrückliche Akzentuierung der sozialen Dimension des Einzelnen sowie der eindeutige Hinweis auf die Bindung des Individuums an die Interessen der Gemeinschaft hat ein Teil der Literatur dazu veranlasst, im Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft einen kategorischen Satz zu Gunsten der Allgemeinheit zu sehen (vgl. vor allem Dürig, Günther, Die Menschenauffassung des Grundgesetzes, JuR 1952, S. 259 f. und insb. S. 261: „Persönlichkeitsein und in Ganzheitsverbindung zu stehen, Persönlichkeitsein und Verantwortlichsein, Persönlichkeitsein und dem Gemeinwohl dienen, sind ein und dasselbe“; vgl. zu dem Themenkomplex auch Becker, Ulrich, a.a.O., Fn. 758, S. 41 f., unter „B“). Eine derartige Position ist jedoch insofern verfehlt, als sie einerseits die maßgebende Orientierung des Grundgesetzes an den Prinzipien der Freiheit und des Respekts für die individuelle Autonomie und andererseits den inhärenten Wert der sich „frei entfaltenden menschlichen Persönlichkeit“ verkennt (vgl. Becker, Ulrich, a.a.O., Fn. 758, S. 95, vor „aa“, m.w.N.). Gegen eine restriktive und folglich auch illiberale Auslegung der Menschenbildformel auch Schünemann, Bernd, Das „Menschenbild des Grundgesetzes“ in der Falle der Postmoderne und seine überfällige Ersetzung durch den „homo oecologicus“, in: Das Menschenbild im weltweiten Wandel der Grundrechte, S. 5 f.). Das Grundgesetz trägt nämlich die Züge eines „gemäßigten Individualismus“ und überhöht die Gewährleistungen für die Stellung und den Schutz des Einzelnen im Staat bis zum vorstellbaren Maximum (so, eindrucksvoll, Becker, Ulrich, a.a.O., Fn. 758, S. 97 f. unter „bb“ m.w.N.). Der Appell an die Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person lässt sich deswegen richtiger als eine Akzentuierung der „Mitmenschlichkeit“ des Individuums erklären (vgl. Höfling, Wolfram, a.a.O., Fn. 739, S. 89, Rn. 36 m.w.N.), sowie seiner „Beschaffenheit“, die durch das Leben in einer Gemeinschaft mehrerer Individuen bedingt ist (also die Urvorstellung des Menschen als eines „politischen Lebewesens“ – f`om pokitij|m ; siehe Aristoteles, Politik, Buch I, Über die Hausverwaltung und die Herrschaft des Herrn über Sklaven, Kap. 2, 1253 a, Zeile 3, in: Aristoteles, Werke, Bd. 9, Teil I, S. 13). Anhand der Ausführungen der Menschenbildformel wird also lediglich die bestehende „dialektische“ Beziehung zwischen Individuum und Gemeinschaft thematisiert (vgl. Höfling, Wolfram, a.a.O., Fn. 739, S. 89, Rn. 36 m.w.N.; Becker, Ulrich, a.a.O., Fn. 758, S. 82), welche den Einzelnen dazu verpflichtet, die Rechte seiner Mitmenschen zu achten. Die Aussagen dieser Formel knüpfen also an die immanente Schranke (Rechte anderer) der menschlichen Freiheit an (ausführlich dazu Murmann, Uwe, a.a.O., Fn. 758, S. 220 f. und insb. S. 224) und dürften insofern nicht als Beweis für den „Primat“ der Belange der Allgemeinheit vor denjenigen des Individuums interpretiert werden: Eine Deutung, welche dem staatlichen Paternalismus „freie Hand“ einräumen würde. 761 Für eine übersichtliche Auflistung aller vom Bundesverfassungsgericht zu diesem Zweck benutzten Begrifflichkeiten siehe Becker, Ulrich, a.a.O. (Fn. 758), S. 34 (unter A). 762 Siehe BVerfGE 4, 7 (16); ausführlicher dazu und für eine detaillierte Auflistung weiterer einschlägiger Entscheidungen Becker, Ulrich, a.a.O. (Fn. 758), S. 35 (unter I) und insb. Fn. 10; vgl. auch Murmann, Uwe, a.a.O. (Fn. 758), S. 218 a. E. m.w.N.
III. Die Konkretisierung des Wesensgehalts der Menschenwürde
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antwortlicher Lebensgestaltung“763 sowie durch ihr notwendiges Korrelat, nämlich das „Selbstbestimmungsvermögen“764 konturiert wird. Die menschliche Würde wird also im Zuge der höchstrichterlichen Rechtsprechung direkt an verschiedene „Attribute“ einer autonomen Persönlichkeit angeknüpft, eine Feststellung, welche zweifellos die Tatsache belegt, dass Eigenwert der Person und Selbstbestimmung in ihrer begrifflichen Erfassung vom Bundesverfassungsgericht eng aufeinander bezogen sind765,766. Schrifttum und Judikatur appellieren daher heutzutage zur Auslegung des Würdebelanges überwiegend an die Fähigkeit des Menschen zur eigenverantwortlichen Gestaltung des eigenen Daseins. Der Wert der Autonomie wird im Wesentlichen als die Kehrseite des obersten Konstitutionsprinzips des Staates betrachtet und etabliert sich mithin als zentrale Größe der geltenden Rechtsordnung. Die alten Forderungen der aufklärerischen Tradition sowie ihr entsprechendes Postulat der Achtung und des Schutzes des freien individuellen Willens erweisen sich dadurch als ausschlaggebend für die Zwecksetzung und die Funktion der modernen staatlichen Gemeinschaft, und der anfangs nur auf philosophischer Ebene festgelegte Primat der Selbstbestimmung gegenüber fremder Willkür findet anhand der Wertentscheidungen des geltenden Grundgesetzes auch seine lang erwartete positivrechtliche „Bestätigung“. Die Autonomie des Menschen liegt also als Interesse dem heutigen Rechtsstaat zu Grunde und erweist sich unter diesem Blickpunkt als ein besonders wichtiger Belang, dessen arbiträre Eingrenzung durch die öffentliche Gewalt eindeutig als eine Missachtung der eigentlichen Fundamente des Gemeinwesens einzustufen ist.
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Siehe dazu Becker, Ulrich, a.a.O. (Fn. 758), S. 35 f. (unter II); Murmann, Uwe, a.a.O. (Fn. 758), S. 219 m.w.N. zum BVerfG-Beschluss v. 11. 10. 1978 (Transsexuellen) in: BVerfGE 49, 286 (298). 764 Siehe dazu Becker, a.a.O. (Fn. 758), S. 36 (unter III) m.w.N. zu BVerfG Urteil v. 15. 12. 1983 (Volkszählung), in: BVerfGE 65, 1 (41); Murmann, Uwe, a.a.O. (Fn. 758), S. 219 m.w.N. 765 Zum gleichen Ergebnis auch Murmann, Uwe, a.a.O. (Fn. 758), S. 219 m.w.N. 766 Die Etablierung eines Zusammenhangs zwischen den Werten der Autonomie und der Menschenwürde ermöglicht darüber hinaus auch älteren Theorien, welche durch ihr Räsonnement früher nicht in der Lage waren, den Gehalt des Würdebegriffs konkret in seinem Wesen zu erfassen, für ein derartiges Unternehmen wieder Relevanz zu gewinnen. Charakteristisch ist in dieser Hinsicht der Einsatz der Dürigschen Objektformel, deren Aufgabe, nämlich die Erschließung des Sinngehalts der Menschenwürde „vom Verletzungsvorgang her“, nunmehr durch den Gewinn eines konkreten Bezugspunkts im Wert der Autonomie gezielter und effektiver erfüllt werden kann. Zur Objektformel als Weg der Präzisierung des Wesensgehalts der Menschenwürde siehe auch Becker, Ulrich, a.a.O. (Fn. 758), S. 37 a. E. ff. sowie Murmann, Uwe, a.a.O. (Fn. 758), S. 219 m.w.N.
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D. Die Stellung der Autonomie in der liberalen Ordnung des Grundgesetzes
IV. Die positivrechtliche Verankerung und der Schutz des Autonomieprinzips Die maßgebliche Bedeutung, welche dem Wert der persönlichen Autonomie innerhalb der geltenden Rechtsordnung zuerkannt wird, ergibt sich nicht nur aus der engen Beziehung dieses Belanges zu demjenigen der Menschenwürde, sondern wird darüber hinaus auf der Basis ihrer vorrangigen Absicherung bereits durch die ersten Artikel des Grundgesetzes ebenfalls belegt. Das Selbstbestimmungsrecht des Individuums genießt tatsächlich im Rahmen des fundamentalsten Rechtssatzes des heutigen Staates einen umfangreichen Schutz, welcher im Laufe der Zeit durch die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts näher präzisiert, und wesentlich erweitert wurde. Unter diesem Blickpunkt wird heute der Belang der persönlichen Autonomie auf zwei unterschiedlichen, jedoch eng miteinander verbundenen Ebenen verbürgt, eine normtechnische Besonderheit, welche dem Zweck dient, die Vielfalt der Aspekte dieses Wertes möglichst umfassend zu untermauern. Den Auftakt der positivrechtlichen Absicherung des Autonomieprinzips gibt zunächst die Bewahrung der „aktiven Form“ der menschlichen Selbstbestimmung anhand der Regelung des ersten Absatzes des Art. 2 GG, welcher nach der Konkretisierung seines Schutzfelds durch das „Elfes-Urteil“ des Bundesverfassungsgerichts767, die „allgemeine Handlungsfreiheit“768 des Einzelnen insgesamt garantiert769. Damit wird die Freiheit des menschlichen Handelns (der empirisch feststellbare Aspekt also der persönlichen Autonomie) in einem umfassenden, durch „qualitativ-wertende Merkmale“ nicht eingegrenzten Sinne gewährleistet770, und zwar ohne Rücksicht darauf, welches Gewicht der konkreten Betätigung für die Persönlichkeitsentfaltung ins-
767 BVerfG Urteil v. 16. 1. 1957 (Elfes), in: BVerfGE 6, 32 (36) und seither auch ständige Rspr.; vgl. dazu BVerfGE 8, 274 (328); BVerfGE 12, 341 (347); BVerfGE 54, 143 (146); BVerfGE 80, 137 (154); BVerfGE 90, 145 (171); siehe auch Hillgruber, Christian, Artikel 2 I GG [Persönliche Freiheitsrechte], in: Grundgesetz Mitarbeiterkommentar und Handbuch, S. 148, Rn. 19; Murswiek, Dietrich, Art. 2 GG [Freie Entfaltung der Persönlichkeit, Recht auf Leben, körperliche Unversehrtheit, Freiheit der Person], in: Grundgesetz Kommentar, S. 122, Rn. 42 m.w.N. 768 Zur grundgesetzlichen Absicherung des Wertes der persönlichen Autonomie durch den umfassenden Schutz der menschlichen Freiheit Murswiek, Dietrich, a.a.O. (Fn. 767), S. 116, Rn. 14 und insb. Rn. 15: „Die Freiheitsrechte schützen die Autonomie des Individuums“; in ähnlichem Sinne betont Dreier, dass der Art. 2 I GG die „Entstehungsbedingungen freier, autonomer Individualität“ sichern soll; siehe dazu Dreier, Horst, Artikel 2 I GG [Freie Entfaltung der Persönlichkeit], in: Grundgesetz Kommentar, S. 173, Rn. 18. 769 Vgl. dazu Murswiek, Dietrich, a.a.O. (Fn. 767), S. 122, Rn. 42; Hillgruber, Christian, a.a.O. (Fn. 767), S. 147, Rn. 17. 770 Siehe dazu Dreier, Horst, a.a.O. (Fn. 768), S. 174, Rn. 20 m.w.N.; Starck, Christian, Art. 2 GG, in: Kommentar zum Grundgesetz, S. 180, Rn. 13 m.w.N.; vgl. auch Weber-Fas, Rudolf, Der Verfassungsstaat des Grundgesetzes, S. 80 (unter 2).
IV. Die positivrechtliche Verankerung und der Schutz des Autonomieprinzips
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gesamt zukommt771. Dies bedeutet im Wesentlichen, dass der Mensch im Rahmen des Grundgesetzes im Prinzip frei ist, sein Dasein ganz nach eigenem Ermessen zu gestalten, und dass die aktive Seite seiner Selbstbestimmung grundsätzlich vor jeder Form externen Zwangs bewahrt werden muss. Die Autonomie erschöpft sich allerdings als Belang im positiven, äußerlich wahrnehmbaren Handlungsvermögen des Individuums nicht, sondern findet einen Ausdruck auch in wichtigen, internen Prozessen des Einzelnen, die sich vornehmlich an das Verfahren der Bildung der Individualität und der persönlichen Integrität anzuknüpfen sind. Dieser genauso bedeutsame, „innere“ Aspekt der Selbstbestimmung genießt im Rahmen des geltenden Grundgesetzes einen ebenfalls umfassenden Schutz und findet seine positive Verankerung im „allgemeinen Persönlichkeitsrecht“, welches das Bundesverfassungsgericht aus Art. 2 Abs. I GG i.V.m. Art. 1 Abs. I GG abgeleitet hat772. Die Hauptaufgabe dieser gesetzlichen Garantie773 besteht darin, die engere persönliche Lebenssphäre der Person zu bewahren774 und dem Einzelnen einen jeder externen Einwirkung entzogenen Bereich privater Lebensgestaltung zu sichern775. Damit ist einerseits Jedem die normative Möglichkeit zu verschaffen, die individuellen Lebenswerte nach eigenen Vorstellungen zu formulieren, und andererseits ist so der Selbstfindungsprozess des Menschen insgesamt von jeder ungewollten, fremden Einwirkung freizuhalten. Sowohl die „äußere“ als auch die „innere“ Form des Selbstbestimmungsbelanges finden insofern ihre positive Absicherung im Grundgesetz, welches durch seine Gebote jeden legitimen Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit verbrieft. Der Wert der Autonomie wird umfassend garantiert, ohne diesen Schutz vom „objektiven Wert“ oder von der „Vernünftigkeit“ der jeweils verfolgten Zielsetzung abhängig zu machen. Dem Einzelnen wird ein streng umgrenzter Handlungsraum gewährt, in dessen Rahmen er seine Persönlichkeit selbstbestimmt entfalten kann. Diese Fest771 So, eindrucksvoll, BVerfG Beschl. v. 6. 6. 1989 (Reiten im Walde), in: BVerfGE 80, 137 (152 f. unter C); siehe auch Dreier, Horst, a.a.O. (Fn. 768), S. 174, Rn. 20 m.w.N.; Starck, Christian, a.a.O. (Fn. 770), S. 180, Rn. 13 m.w.N. 772 Zum ersten Mal in BVerfGE 27, 1 (6) („Mikrozensus“, m.w.N. auf BVerfGE 6, 32, 41), und seither in ständiger Rspr.; vgl. etwa BVerfGE 35, 202 (219 a. E. ff.) (Lebach), BVerfGE 54, 148 (153) (Eppler), BVerfGE 79, 256 (268) (Kenntnis der eigenen Abstammung), BVerfGE 82, 236 (269), BVerfGE 90, 263 (270); vgl. auch Murswiek, Dietrich, a.a.O. (Fn. 767), S. 126, Rn. 60 m.w.N.; Dreier, Horst, a.a.O. (Fn. 768), S. 172, Rn. 16 m.w.N. sowie S. 190, Rn. 50 m.w.N.; Starck, Christian, a.a.O. (Fn. 770), S. 181, Rn. 14 m.w.N.; Hillgruber, Christian, a.a.O. (Fn. 767), S. 154, Rn. 45 m.w.N. 773 Die Bezeichnung „allgemeines Persönlichkeitsrecht“ wurde erst in BVerfGE 54, 148 (153) (Eppler) benutzt. 774 Siehe diesb. Epping, Volker, Grundrechte, S. 264, Rn. 607 m.w.N. auf BVerfGE 54, 148 (153); Murswiek, Dietrich, a.a.O. (Fn. 767), S. 126, Rn. 60 m.w.N.; Hillgruber, Christian, a.a.O. (Fn. 767), S. 154, Rn. 45 m.w.N. 775 Siehe Epping, Volker, Grundrechte, S. 264, Rn. 608; Weber-Fas, Rudolf, Der Verfassungsstaat des Grundgesetzes, S. 82 a. E.; Hillgruber, Christian, a.a.O. (Fn. 767), S. 155, Rn. 47 m.w.N. auf BVerfGE 35, 202 (220). Zusammenfassend zur Grundlage und Aufgabenstellung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, BVerfGE 79, 256 (268).
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D. Die Stellung der Autonomie in der liberalen Ordnung des Grundgesetzes
stellungen belegen ihrerseits erneut die anthropozentrische Prägung des geltenden Grundgesetzes sowie die liberale Orientierung des heutigen Staates, in welchem das paternalistische Räsonnement keinen legitimen Platz für sich beanspruchen kann.
V. Die legitimen Schranken der persönlichen Autonomie Der effektive Zusammenschluss von mehreren Individuen in einem freiheitlichdemokratischen Staat, die Vereinbarung von deren kontrastierenden Interessen, und letztlich die Realisierung der eigentlichen Ziele dieser Gemeinschaft wären jedoch ohne eine entsprechende regulatorische Eingrenzung der Geltung der verfassungsrechtlich garantierten Rechte der einzelnen Bürger nie möglich. Diese Einsicht, welche das Staatsdenken schon seit dem Zeitpunkt der Entstehung der ersten demokratischen Strukturen begleitet, prägt zurecht auch das geltende Grundgesetz, welches durch die Regelung des zweiten Halbsatzes des Art. 2 Abs. I Einschränkungen der Freiheit zur autonomen Gestaltung des eigenen Lebens dann für zulässig erklärt, wenn durch das individuelle Verhalten die verfassungsmäßige Ordnung, die Rechte anderer oder das Sittengesetz verletzt werden. Dieser Grundsatz, welcher in der Mehrheit der europäischen Verfassungstexte einen entsprechenden Ausdruck findet, ist für die Ermöglichung des Funktionierens eines Staates von fundamentaler Bedeutung und beruht auf der Tatsache, dass selbst innerhalb eines liberal geprägten Staates die Verfolgung der eigenen Zielsetzungen festen, unumgänglichen Grenzen ausgesetzt werden müssen. Zentrale Stellung unter den erwähnten Einschränkungen kommt derjenigen der „verfassungsmäßigen Ordnung“ zu, laut welcher das menschliche Handeln erst dann an die äußerste Grenze seiner Gesetzmäßigkeit stößt, wenn dadurch Normen, die formell und materiell mit der Verfassung im Einklang stehen, missachtet werden776. Dieser Maßstab garantiert durch seine weite Deutung777 die normative Möglichkeit, jede potentielle Beeinträchtigung der ordnungsgemäßen Funktion des im Diensten des Menschen stehenden Staates durch die private Willkür effektiv zu verhindern, und wird vom Bundesverfassungsgericht zum Zweck der Rechtfertigung von Eingrenzungen der individuellen Freiheit oft benutzt778. Die Einschränkung durch die „Rechte anderer“ konsolidiert ihrerseits in positiver Form den überlieferten und mit dem liberalen Verständnis durchaus im Einklang ste776 Siehe diesb. BVerfGE 6, 32 (37 a. E. ff.) und seitdem auch in ständiger Rspr.; siehe dazu Hillgruber, Christian, a.a.O. (Fn. 767), S. 175, Rn. 145 m.w.N.; Dreier, Horst, a.a.O. (Fn. 768), S. 183 f., Rn. 38 m.w.N. 777 Laut Hillgruber sind unter dem Begriff der verfassungsmäßigen Ordnung „nicht nur die vom Normgeber gesetzten verfassungsmäßigen Vorschriften (formelle Gesetze, Rechtsverordnungen und Satzungen), sondern auch deren Auslegung durch den Richter und ebenso die in zulässiger richterlicher Rechtsfortbildung getroffenen Entscheidungen“ zu verstehen; siehe dazu Hillgruber, Christian, a.a.O. (Fn. 767), S. 175, Rn. 146, m.w.N. 778 Vgl. vor allem Hillgruber, Christian, a.a.O. (Fn. 767), S. 174, Rn. 145.
V. Die legitimen Schranken der persönlichen Autonomie
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henden Grundsatz, dass der Bereich souveräner Selbstbestimmung des Einzelnen stets dort aufzuhören hat, wo die entsprechende Sphäre des Mitmenschen anfängt779. Die Freiheit zur selbstbestimmten Führung des eigenen Daseins muss daher immer die subjektiven Rechte der übrigen Mitglieder der staatlichen Gemeinschaft berücksichtigen780, eine Klausel, welche schon seit der Antike für das reibungslose soziale Zusammenleben gesorgt hat. Da aber die „Rechte anderer“ systematisch dem Kriterium der „verfassungsmäßigen Ordnung“ untergeordnet werden können, werden sie heute überwiegend als Teil dieses Oberbegriffs betrachtet, weswegen auch dieser Schranke im Endeffekt nur eine begrenzte praktische Bedeutung zukommt781. Schließlich konstituiert das Sittengesetz auf normativer Ebene ebenfalls eine Kontrollinstanz des Rechts zur freien Entfaltung der eigenen Person782, welche allerdings bislang keine tragende Rolle gespielt hat783, und nur in einem einzigen Urteil des Bundesverfassungsgerichts als Argumentationsgrundlage zur Anwendung gekommen ist784. Bereits die inhaltliche Annäherung an diese Schranke ist aufgrund ihrer Natur mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden. Die einschlägigen Auslegungsversuche orientieren sich in diesem Sinne vornehmlich an vagen, überpositiven Konzepten, wie den „historisch überlieferten sittlichen Anschauungen“, oder der „naturrechtlichen Moraltradition“785. Die Heranziehung von derartigen Maßstäben zur Eingrenzung des Autonomiebelanges ist allerdings aufgrund ihrer Wandelbarkeit786, ihrer Unbestimmtheit787, ihrer begrifflichen Unzugänglichkeit788, und hauptsächlich ihres willkürlichen Charakters durchaus ungeeignet. Darum ist auch die Schranke des Sittengesetzes im Rahmen der heutigen, liberalen Rechtsordnung auf heftige Kritik 779
Vgl. Starck, Christian, a.a.O. (Fn. 770), S. 189, Rn. 33 m.w.N., welcher diese Schranke der individuellen Freiheit zum „Urgestein des Menschenrechtsgedankens“ einordnet; siehe auch Murswiek, Dietrich, a.a.O. (Fn. 767), S. 134, Rn. 91, welcher die Einschränkung durch die „Rechte anderer“ als eine Umschreibung des allgemeinen Rechtsgrundsatzes des neminem laedere betrachtet. 780 Vgl. etwa Epping, Volker, Grundrechte, S. 241, Rn. 552; Hillgruber, Christian, a.a.O. (Fn. 767), S. 190, Rn. 207. 781 Stellvertretend für Viele Epping, Volker, Grundrechte, S. 241, Rn. 552. 782 Vgl. dazu BVerfGE 6, 389 (434); Hillgruber, Christian, a.a.O. (Fn. 767), S. 190, Rn. 210. 783 Siehe Dreier, Horst, a.a.O. (Fn. 768), S. 186, Rn. 44. 784 Siehe diesb. BVerfG Urteil v. 10. 5. 1957 (Homosexuelle), in: BVerfGE 6, 389 (434 f.), wo die Einschränkung der Freiheit zur sexuellen Selbstbestimmung schlicht durch einen Appell an die inhärente „Sittenwidrigkeit“ des Geschlechtsverkehrs zwischen homosexuellen Männern gerechtfertigt wurde: „Gleichgeschlechtliche Betätigung verstößt eindeutig gegen das Sittengesetz“. 785 Siehe diesb. Hillgruber, Christian, a.a.O. (Fn. 767), S. 192, Rn. 214 m.w.N.; Starck, Christian, a.a.O. (Fn. 770), S. 190 f. m.w.N., und insb. Rn. 36 sowie Rn. 39 f.; Murswiek, Dietrich, a.a.O. (Fn. 767), S. 134, Rn. 94 f. m.w.N. 786 Murswiek, Dietrich, a.a.O. (Fn. 767), S. 135, Rn. 97; Epping, Volker, Grundrechte, S. 241, Rn. 553. 787 Starck, Christian, a.a.O. (Fn. 770), S. 190, Rn. 36. 788 Weber-Fas, Rudolf, Der Verfassungsstaat des Grundgesetzes, S. 82.
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D. Die Stellung der Autonomie in der liberalen Ordnung des Grundgesetzes
gestoßen und wurde in entsprechender Weise aus der Rechtswelt weitgehend verdrängt789. Unter diesem Blickpunkt könnte letztlich die Existenz dieser Klausel nur dann als berechtigt erscheinen, wenn sie als ein konstanter Appell an die Bewahrung der dem Grundgesetz zugrunde liegenden Menschenrechtstradition790 und an den Respekt vor dem diese krönenden Wert der Menschenwürde791 betrachtet wird. Die beschriebene Reihe von Schranken liefert also dem Gesetzgeber eine normative Grundlage für die möglichst präzise Abgrenzung eines Bereichs, innerhalb dessen der Einzelne frei ist, sich selbst nach eigenem Ermessen zu entfalten. Die anhand dieser Kriterien bewirkte Einschränkung der persönlichen Autonomie ist vollkommen nachvollziehbar, und soll die Harmonisierung der mannigfaltigen individuellen Lebenspläne in einer heterogenen Gesellschaft ermöglichen, und das ungehinderte Funktionieren des Staates garantieren. Genau diese Sachlage wird aber von der paternalistischen Doktrin missbraucht, welche im Einzelnen durch die Heranziehung von diffusen Allgemeinheitsinteressen, den Hinweis auf die vermeintliche Beeinträchtigung der Rechtssphäre Dritter oder sogar durch den Appell an die geltende Moral, die in Art. 2 Abs. I GG vorgesehenen Schranken der persönlichen Autonomie zum Zweck der Bewahrung des Menschen vor den Folgen seiner frei getroffenen Entscheidungen beugt. Dieses Anliegen steht, wie oft angedeutet, mit der liberalen, an der Bewahrung der Werte der individuellen Würde und der Selbstbestimmung orientierten Rechtsordnung nicht im Einklang und kann im Rahmen des heutigen Staates normativ keinen Platz für sich beanspruchen792.
VI. Zusammenfassung Das Grundgesetz der deutschen Bundesrepublik stellt genauso wie die Mehrzahl der modernen Verfassungstexte Europas ein eindeutig liberal geprägtes Regelwerk dar, dessen Gestaltung in seiner heutigen Form das Ergebnis eines über ein Jahrhundert sich erstreckenden Entwicklungsprozesses darstellt, welcher durch längere, harte Kämpfe frei denkender Menschen gegen die gesellschaftliche Unterdrückung 789
Vgl. Hillgruber, Christian, a.a.O. (Fn. 767), S. 192, Rn. 215: „Ein solches verbindliches ,ethisches Grundgesetz würde die freiheitsschützende Wirkung der Gewährleistung allgemeiner Verhaltensfreiheit vollends aufheben. Individuelle Selbstbestimmung müsste sich heteronomer Moral auch dann unterwerfen, wenn weder das gleiche Selbstbestimmungsrecht des anderen noch überwiegende Belange der Gemeinschaft die Freiheitseinschränkung erfordern. […] [es kann nicht] Zweck der Schranke des Sittengesetzes sein, die Sittlichkeit um ihrer selbst willen zu wahren oder dem Menschen ein Mindestmaß an Sittlichkeit vorzuschreiben und dieses durchzusetzen“; Weber-Fas, Rudolf, Der Verfassungsstaat des Grundgesetzes, S. 82: „Weder die persönliche ethische Überzeugung des Richters noch entsprechende Auffassungen in Teilen der Gesellschaft rechtfertigen bereits die sittliche Missbilligung eines bestimmten Verhaltens im Schutzbereich des Grundrechts“. 790 Vgl. Starck, Christian, a.a.O. (Fn. 770), S. 191, Rn. 41 m.w.N. 791 Vgl. Murswiek, Dietrich, a.a.O. (Fn. 767), S. 135, Rn. 98 m.w.N. 792 Siehe dazu Kapitel F. I.
VI. Zusammenfassung
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und die soziale Ungerechtigkeit gekennzeichnet war. Die als Ergebnis dieses Verfahrens zustande gebrachte, freiheitliche Rechtsordnung Deutschlands stellt den Menschen und seine Interessen in den Mittelpunkt und erblickt in der ihm innewohnenden Würde den obersten Wert der staatlichen Gemeinschaft. Die erste und wichtigste Pflicht der öffentlichen Gewalt wird in der Achtung und im Schutz des Eigenwertes der Person lokalisiert, eines Belanges, welcher für die gesamte staatliche Tätigkeit richtungsweisend wirkt. Die Fähigkeit zur selbstbestimmten Führung des eigenen Lebens wird ihrerseits im Rahmen der heutigen liberalen Gemeinschaft zugleich als „konstitutiver Bestandteil“ und „Erscheinungsform“ der Menschenwürde betrachtet, weswegen auch der Wert der persönlichen Autonomie den tragenden Prinzipien der geltenden Rechtsordnung zugerechnet wird. Der Selbstbestimmungsbelang genießt im Rahmen des Grundgesetzes vorrangigen Schutz und darf nur dann eingeschränkt werden, wenn besondere Gründe, welche entweder das ordnungsgemäße Funktionieren des im Dienste des Einzelnen stehenden Staates oder an die berechtigten Interessen der übrigen Mitglieder der Gesellschaft anzuknüpfen sind, dies legitimerweise verlangen. Aus der Betrachtung der rechtlichen Stellung der Autonomie innerhalb des Fundaments der heutigen Rechtsordnung geht also hervor, dass diese nicht nur, wie es im vorherigen Kapitel festgestellt wurde, aus philosophischer Sicht einen der wichtigsten Aspekte des Menschen als Wesen konstituiert, sondern dass sie auch auf rechtlicher Ebene zusammen mit dem nah verwandten Begriff der Menschenwürde simultan als Grundlage und oberste Maxime des modernen liberalen Staates hervortritt. Die grundlegende Bedeutung dieses Befunds erschöpft sich allerdings nicht auf der Ebene der allgemeinen Staatslehre, sondern erstreckt sich auch auf den Bereich der Strafgesetzgebung und erlangt besondere Relevanz bei der Feststellung der Legitimität der unterschiedlichen strafrechtlichen Tatbestände. Denn der Gesetzgeber hat, wie noch zu zeigen ist, im Rahmen seiner Aufgabenstellung, individuelle und überindividuelle Rechtsgüter zu schützen, die systemtranszendente Funktion der Rechtsgutskonzepts stets zu beachten, welche ihn dazu auffordert, bei der Ausübung seiner Tätigkeit die Vorgaben der liberalen, den Eigenwert und die Autonomie des Einzelnen respektierenden Wertordnung des Grundgesetzes zu schätzen, und daher auch keine Entscheidungen zu treffen, welche unberechtigt, wie im Fall des harten Paternalismus, den Grundlagen des heutigen Staates widersprechen. Der nächste Ansatzpunkt im Versuch, die paternalistische Doktrin systematisch zu dekonstruieren, ist daher in der Auseinandersetzung mit dem als zentrale Figur der Strafrechtslehre oft bezeichneten793 Begriff des Rechtsgutes zu lokalisieren, und insbesondere in der Rolle des letzteren auf dem Weg der Ausgrenzung unzulässiger Zwecksetzungen aus dem Schutzfeld des Strafrechts.
793
Vgl. Anastasopoulou, Ioanna, Deliktstypen zum Schutz kollektiver Rechtsgüter, S. 7.
E. Das Rechtsgutskonzept und seine Bedeutung für die Einschränkung der Strafgesetzgebung Der Begriff des Rechtsgutes bezieht sich formalontologisch unmittelbar auf gewisse, rechtlich geschützte „Belange“ des Einzelnen oder der Allgemeinheit, deren Verletzung oder Gefährdung ein Verhalten innerhalb der geltenden Rechtsordnung zum Verbrechen qualifizieren794. Die „Rechtsgutsbeeinträchtigung“ stellt unter diesem Blickpunkt den gemeinsamen materiellen Unrechtskern aller rechtswidrigen Handlungsweisen dar795 und fungiert insofern als kriminalpolitischer Maßstab für die Konkretisierung der inhaltlichen Qualität strafbaren Handelns796. Jeder strafrechtliche Eingriff lässt sich infolgedessen als die staatliche Reaktion auf die Missachtung von Rechtsgütern verstehen, deren Bewahrung nach nahezu einhelliger Auffassung zugleich die zentrale Aufgabe und die eigentliche Legitimationsgrundlage des Strafrechts konstituiert797. Dem Rechtsgutskonzept kommt daher fundamentale Bedeutung im Rahmen der Strafrechtswissenschaft zu, die sich mit der Dogmatik dieses Begriffes schon seit über zwei Jahrhunderten auseinandersetzt. Trotz seines längeren geschichtlichen Werdegangs und im Gegensatz zu seiner zentralen Stellung, gelten heute die besonderen Konturen des Rechtsgutsdogmas jedoch zu den am wenigsten konsensfähigen Grundlagenproblemen des Strafrechts überhaupt798 : Das Wesen, der Inhalt und vor allem die Funktion dieses Begriffs sind alles andere als abschließend geklärt799, während die 794 Vgl. dazu Marx, Michael, Zur Definition des Begriffs ,Rechtsgut, S. 4 ff. und insb. S. 8; Hassemer, Winfried, Theorie und Soziologie des Verbrechens, S. 28. 795 Vgl. Rudolphi, Hans-Joachim, Die verschiedenen Aspekte des Rechtsgutsbegriffs, in: Festschrift für Honig, S. 151. 796 Vgl. Roxin, Claus, Strafrecht AT, S. 13 ff. 797 Vgl. dazu Roxin, Claus, Strafrecht AT, S. 14, Rn. 1; Wessels, Johannes/Beulke, Werner, Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 2, Rn. 6; Hassemer, Winfried/Neumann, Ulfrid, Vorbemerkungen zu § 1 StGB in: Nomos Kommentar, S. 101, Rn. 109; Hassemer, Winfried, Theorie und Soziologie des Verbrechens, S. 87; Rudolphi, Hans-Joachim, Vorbemerkungen vor § 1 StGB, in: Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, S. 2, Rn. 2; ders., Die verschiedenen Aspekte des Rechtsgutsbegriffs, in: Festschrift für Honig, S. 151 und 154 (unter III); Welzel, Hans, Das Deutsche Strafrecht, S. 5; Lagodny, Otto, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, S. 21; Anastasopoulou, Ioanna, Deliktstypen zum Schutz kollektiver Rechtsgüter, S. 7; vgl. auch BVerfGE 25, 269 (286): „Das strafrechtliche Delikt ist schuldhafte Verletzung eines für alle gewährleisteten Rechtsguts“. 798 Vgl. Rudolphi, Hans-Joachim, Die verschiedenen Aspekte des Rechtsgutsbegriffs, in: Festschrift für Honig, S. 151; Anastasopoulou, Ioanna, Deliktstypen zum Schutz kollektiver Rechtsgüter, S. 8 m.w.N. 799 Vgl. Anastasopoulou, Ioanna, a.a.O. (Fn. 798), S. 7 a. E. ff. m.w.N.
I. Der historische Ursprung und die Entwicklung des Rechtsgutsdogmas
177
einschlägigen Stellungnahmen innerhalb der Theorie schon seit dem Zeitpunkt seiner Schöpfung äußerst zahlreich und heterogen sind. Aus diesem Grund wird auch im Folgenden der Schwerpunkt vornehmlich auf denjenigen Facetten und Zusammenhängen der Diskussion zum Rechtsgutskonzept liegen, welche für den Nachweis seiner liberalen Wurzeln und für die Konturierung seiner Rolle als Schranke der strafrechtlichen Willkür von wesentlicher Bedeutung sind. Den Ausgangspunkt dieses Unternehmens bilden die Auseinandersetzung mit dem historischen Hintergrund und dem Entstehungsprozess dieses Begriffs, sowie die Darstellung derjenigen Auffassungen und Positionen der Literatur, welche seine Ausgestaltung und Wirkung im Laufe der Zeit entscheidend beeinflusst haben.
I. Der historische Ursprung und die Entwicklung des Rechtsgutsdogmas Die Genese des Rechtsgutskonzepts ist eng verbunden mit dem aufkeimenden Bedenken der aufgeklärten Welt gegen die bis zum damaligen Zeitpunkt vornehmlich auf den Werten der kirchlichen Tradition und der Willkür des Oberhaupts beruhenden Bestimmung des materiellen Kerns des Verbrechens, sowie mit der immer deutlich werdender Forderung nach einer auf den Regeln der Vernunft und der sozialen Gerechtigkeit basierenden Konkretisierung des legitimen Zwecks der staatlichen Strafbefugnis800. Noch bis zum achtzehnten Jahrhundert stand nämlich die Strafrechtsdogmatik im mitteleuropäischen Raum trotz kritischer Stimmen unter dem spürbaren Einfluss des mittelalterlichen Denkens801. Die Grundlage des damaligen strafrechtlichen Verständnisses bildete die Ansicht, dass jede kriminelle Handlung im Prinzip eine gegen den göttlichen Willen gerichtete Zuwiderhandlung konstituiert, welche der Staat, dessen ius puniendi von der „himmlischen Autorität“ direkt abgeleitet wird, durch die Auferlegung der Strafe zu vergelten hat802. Unter diesem Blickpunkt war das Verbrechen in erster Linie als die Verletzung einer übergeordneten Wertordnung konzipiert, deren Bewahrung dem Regenten anvertraut war. Diese vorwiegend theokratische Staats- und Strafzweckbetrachtung im Rahmen der Theorie wurde natürlich auch auf positivistischer Ebene propagiert, insbesondere durch die Bestimmungen der seit dem Jahr 1532 geltenden Constitutio Criminalis Carolina, deren zugrunde liegende religiöse Konnotationen803 das strafrechtliche Paradigma dieser Epoche charakteristisch wiedergeben. Das strafrechtliche Bild des Zeitraums vervollständigt die Inkonsistenz und die völlige Willkür, mit welchen die Rechtsanwender die in den un800 Eine gute Übersicht dazu gibt Sina, Peter, Die Dogmengeschichte des strafrechtlichen Begriffs „Rechtsgut“, S. 3 ff. 801 Vgl. Amelung, Knut, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft, S. 17 (unter B). 802 Ebd. S. 17 f. 803 Vgl. Sina, Peter, a.a.O. (Fn. 800), S. 4.
178
E. Rechtsgutskonzept und seine Bedeutung für die Strafgesetzgebung
terschiedlichen Kodifikationen beinhalteten Tatbestände ausgelegt und schließlich auch angewandt haben804. Gegen diesen status quo hat sich als Erste die Lehre des Naturrechts gerichtet, welche durch die Verbreitung ihrer Doktrin für eine allmähliche Säkularisierung des Staatsdenkens sorgte805. Unter dem Einfluss dieses neuen, vernünftigen Verständnisses vom Menschen und der Welt hat man die bestehende Gesellschaftsordnung immer weniger als eine gottgegebene Einrichtung betrachtet, und die Macht der weltlichen Obrigkeit wurde ausschließlich an deren erhobene Position innerhalb des Gemeinwesens angeknüpft. Der Zweck des Staates hat sich in entsprechender Weise auf die Befriedigung rein „irdischer“ Interessen beschränkt und konkretisierte sich insofern in der Förderung der salus publica806, deren Bewahrung nunmehr die erste und oberste Pflicht des Regenten war. Die Verhängung strafrechtlicher Sanktionen diente unter diesem Blickpunkt dem konkreten Aufgabenkreis des aufgeklärten Despoten, welcher aber zur Erhaltung des Gemeinwohls seine Strafbefugnis nach Belieben einsetzen durfte807. Dies begünstigte insbesondere im mitteleuropäischen Raum die Entstehung des staatlichen Paternalismus808 und bewirkte im Ergebnis die Ersetzung der kirchlichen Willkür im strafrechtlichen Denken durch diejenige des allmächtigen Oberhaupts. Den Auftakt für die definitive Überwindung der mittelalterlichen Vorstellung von Staat und Strafe gab schließlich die große kriminalpolitische Reformbewegung der späten Aufklärung, deren Postulate in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts ganz Europa erfassten809. Ihr Ausgangspunkt lässt sich im vorrevolutionären Frankreich lokalisieren, also in einem geographischen Raum, welcher damals reif für die Entstehung und Verbreitung von bahnbrechenden, das konventionelle Verständnis der Zeit verändernden Gedanken war. Im Rahmen einer derartigen, freiheitlichen Umgebung versuchen Montesquieu, Voltaire und die Enzyklopädisten durch ihre Ideen das Strafrecht von der kirchlichen Macht und dem Willen des Monarchen endgültig zu befreien und gleichzeitig die Aufmerksamkeit der Bevölkerung auf die Intoleranz und den religiösen Fanatismus zu lenken, welche die Strafgerichtsbarkeit bis zum damaligen Zeitpunkt dominierten810. Die Grundlage ihrer Argumentation bildet in echtem aufklärerischem Sinne die Lehre des Gesellschaftsvertrags, welche sowohl für die Schöpfung eines neuen, auf Gerechtigkeitsprinzipien gegründeten Konzeptes über das Gemeinwesen
804
Ebd. S. 4 ff. Vgl. Amelung, Knut, a.a.O. (Fn. 801), S. 18. 806 Für eine ausführliche Darstellung der rechtspolitischen Lage dieses Zeitraums siehe Kapitel B. IV. 807 Vgl. Amelung, Knut, a.a.O. (Fn. 801), S. 18. 808 Siehe diesb. Kapitel B. IV. 809 Vgl. Amelung, Knut, a.a.O. (Fn. 801), S. 16 m.w.N. 810 Ebd. S. 16; vgl. auch Sina, Peter, a.a.O. (Fn. 800), S. 6 f. 805
I. Der historische Ursprung und die Entwicklung des Rechtsgutsdogmas
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und die Funktion des Staates811 als auch für die inhaltliche Bestimmung des allgemeinen Verbrechensbegriffes und die Konkretisierung des eigentlichen Zwecks der Strafe konstruktiv eingesetzt wird812. Die Anschauungen der neuen Strömung sorgten für Aufsehen und prägten auf charakteristischer Weise das politische Verständnis dieser Epoche. Vor diesem Hintergrund hat sich allmählich im Bewusstsein der Bevölkerung die Vorstellung verbreitet, dass sowohl das Vorhandensein als auch die Legitimation der bürgerlichen Gemeinschaft ausschließlich auf dem freiwilligen Übereinkommen der einst einzeln lebenden Individuen beruhen, die ihrerseits den Übergang vom vorsozialen Zustand ihres Daseins zum status civilis im alleinigen Interesse der besseren Bewahrung ihrer Rechte und der effektiveren Förderung ihrer Anliegen vollzogen haben813. Dem dadurch entstandenen Staatswesen haben die Menschen aus eigenem Entschluss einen Teil ihrer Freiheit übergeben und ermächtigten es damit, den vertraglich begründeten gesellschaftlichen Frieden zu garantieren und die Belange aller in ihm lebenden Bürger unversehrt zu erhalten814. Die Schaffung der Rechtsordnung seitens der öffentlichen Gewalt erfolgt also nach den Ausführungen der neuen Strömung ausschließlich auf dem Weg der Erfüllung dieser aufwendigen Aufgabenstellung, und die oft mit strafrechtlichen Mitteln erstrebte Auferlegung der entstandenen gesetzlichen Regelungen konstituiert eine Notwendigkeit, welche ihre Basis im Gedanken der Absicherung der vom bürgerlichen Zusammenschluss bestimmten Interessen der Bevölkerung hat815. Aus dem soeben beschriebenen Gesellschaftsbild und der daran anknüpfenden Staatszwecklehre des Zeitalters wurde folgerichtig ein anthropozentrisches Verständnis von der staatlichen Gemeinschaft in die Welt gebracht und vor allem eine völlig neue, rationale Verbrechenstheorie geschaffen816, die als strafbares Verhalten nur diejenigen Handlungen qualifizierte, welche dem freiwillig geschlossenen Vertrag entgegenwirkten und die Bedingungen des friedlichen gesellschaftlichen Zusammenlebens störten817. Der materielle Kern jedes Deliktes konnte infolgedessen nicht mehr von der Willkür des Regenten oder dem Willen einer himmlischen Autorität bestimmt werden, sondern war ausschließlich in einem Tun oder Unterlassen zu lokalisieren, das sich unmittelbar gegen die vom Gesellschaftsvertrag geschaffene Ordnung richtete818. Der Zweck der staatlichen Strafe war in entsprechender Weise ganz konkret in 811
Vgl. Amelung, Knut, a.a.O. (Fn. 801), S. 19 f. Vgl. Anastasopoulou, Ioanna, a.a.O. (Fn. 798), S. 5. 813 Vgl. Amelung, Knut, a.a.O. (Fn. 801), S. 19 f. 814 Ebd. S. 19 f.; Roxin, Claus, Strafrecht AT, S. 16, Rn. 8; Anastasopoulou, Ioanna, a.a.O. (Fn. 798), S. 5. 815 Vgl. Roxin, Claus, Strafrecht AT, S. 16, Rn. 8; Anastasopoulou, Ioanna, a.a.O. (Fn. 798), S. 5. 816 Vgl. Amelung, Knut, a.a.O. (Fn. 801), S. 19 f. 817 Vgl. Anastasopoulou, Ioanna, a.a.O. (Fn. 798), S. 5. 818 Vgl. Amelung, Knut, a.a.O. (Fn. 801), S. 20. 812
180
E. Rechtsgutskonzept und seine Bedeutung für die Strafgesetzgebung
der Bewahrung der freiheitlichen Koexistenz der Bürger aufzufinden819, weswegen auch jede Pönalisierung des menschlichen Handelns nicht weiter reichen durfte, als es für die Realisierung dieser Zwecksetzung absolut erforderlich war. Die aufklärerische Reformbewegung dieses Zeitraums hat sich insofern gegen die bis zum damaligen Zeitpunkt herrschende Beliebigkeit in der Strafgesetzgebung gewendet und hat versucht, der staatlichen legislativen Kompetenz zum ersten Mal klare Schranken zu setzen820. Der strafrechtliche Tadel durfte demnach nicht mehr nach den Bestimmungen der öffentlichen oder religiösen Eigentümlichkeit an jedem Verhalten verhängt werden, sondern sollte nur für diejenigen Handlungen vorbehalten bleiben, welche für die Erhaltung der gesellschaftlichen Ordnung nachteilig wirkten. Der Begriff des Verbrechens wurde also unter diesem Blickpunkt unmittelbar mit der Missachtung eines positiven, von den Bürgern begründeten rechtlichen Zustandes verknüpft, was für die liberalen Denker dieser Zeit auch die längst benötigte und rationale Legitimationsbasis der staatlichen Strafbefugnis darstellte. Diese revolutionären kriminalpolitischen Reformgedanken haben in der Folgezeit ihren großartigsten Ausdruck im Werk des jungen Italieners Cesare Beccaria gefunden, welcher mit seiner für die Humanisierung des Strafrechts kämpfenden Schrift „Dei delitti e delle pene“ aus dem Jahr 1764 die Ideen der französischen Aufklärer systematisiert, weitergebildet und schließlich zum Allgemeingut des größten Teils der zivilisierten Welt erhoben hat821. Einen fundamentalen Punkt seiner Lehre bildete die Position, dass strafrechtliche Sanktionen für ein Verhalten nur dann verhängt werden dürfen, wenn dadurch der Gesellschaft ein feststellbarer Schaden zugefügt wird822. Jede darüber hinausgehende Zwecksetzung konstituierte für Beccaria einen eindeutigen Missbrauch der staatlichen Strafbefugnis und war unter diesem Blickpunkt als illegitim zu betrachten823. Im deutschsprachigen Raum wurde das in dieser Position enthaltene, liberale Gedankengut der strafrechtlichen Reformbewegung der Aufklärung erst einige Jahre später über das Werk Karl-Ferdinand Hommels eingeführt, welcher die Ideen Beccarias konstruktiv aufnahm, und das etablierte strafrechtliche Verständnis seiner Epoche heftig kritisierte. Seine Aussagen richteten sich gegen die Strafrechtsdoktrin des Absolutismus und plädierten für die Gestaltung eines vernünftigen und vor allem gerechten Verbrechensbegriffs. Hommel verknüpfte das strafrechtliche Unrecht, genau wie seine Vorgänger, nur mit denjenigen Handlungen, welche eine nachweisbar be819
Ebd. S. 20; Roxin, Claus, Strafrecht AT, S. 16, Rn. 8. Vgl. Amelung, Knut, a.a.O. (Fn. 801), S. 20 (unter B). 821 Vgl. dazu Sina, Peter, a.a.O. (Fn. 800), S. 7, m.w.N. 822 Siehe dazu Beccaria, Cesare, Von den Verbrechen und von den Strafen, S. 72: „[…] Wir haben gesehen, welcher der wahre Maßstab der Verbrechen ist, nämlich der Schaden für die Gesellschaft“ (Sozialschadenslehre). 823 Siehe dazu Hommel, Karl-Ferdinand, Des Herren Marquis von Beccaria unsterbliches Werk von Verbrechen und Strafen, S. 15: „Alles, was über diesen Endzweck der algemeinen Sicherheit gehet, und diese Absicht übersteiget, wird Misbrauch und nicht Gerechtigkeit. Es ist Gewalt, aber kein Recht“ (§ II. Von dem Befugniße zu Strafen). 820
I. Der historische Ursprung und die Entwicklung des Rechtsgutsdogmas
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nachteiligende Wirkung für die Gesellschaft entfalteten824, und versuchte, insbesondere durch seine Forderung nach einer weitreichenden Freiheit des Richters gegenüber den damaligen, als ungerecht betrachteten Gesetzen825, die Willkür zu bekämpfen, welche Kirche und weltliche Fürsten bis zum jenem Zeitpunkt in das Strafrechtssystem gebracht hatten826. Die anschließende Verbreitung dieser Ideen gab ihrerseits den Anstoß zu einer „wahren Flut“827 einschlägiger Abhandlungen in der Literatur, welche ebenfalls die Positionen der kriminalpolitischen Reformbewegung verfochten. Trotz dieser Anstrengungen ist ein deutlicher Wandel der etablierten Sachlage allerdings erst im letzten Jahrzehnt und um die Wende des „Jahrhunderts der Philosophie“828 eingeleitet worden, als eine neue Generation von Rechtsgelehrten den wissenschaftlichen „Kampfplatz“ betrat829. Die Vertreter dieser neuen Strömung machten sich die Gedanken der Aufklärung zu eigen, und erkannten in deren Licht den tief problematischen Charakter der überlieferten, vornehmlich auf Willkür beruhenden strafrechtlichen Praxis des vergangenen Jahrhunderts. Dies mahnte die neuen Vertreter des deutschen Geistes zur endgültigen Überwindung der herkömmlichen Situation durch die Schaffung eines neuartigen, auf konkreten Prinzipien beruhenden und vor allem gerechten Strafrechtssystems, welchem der liberale Gehalt der wichtigsten philosophischen Werke des Zeitraums zu Grunde liegen sollte830. 824
Siehe dazu Hommel, Karl-Ferdinand, Des Herren Marquis von Beccaria unsterbliches Werk von Verbrechen und Strafen, S. III f. (sog. „Hommelische Vorrede“), und insb. S. XXXI: „Allein der selbst denkende Jurist und Staatskundige muß durchaus durch moralische Plauderen und betäubende Wörter sich nicht irre machen lassen, die Größe des Verbrechens in etwas anders als einzig und allein in dem Schaden zu suchen, welcher daraus der Gesellschaft erwächset. Es sey die begangene That oder das ausgestosene Wort immerhin ein grammatikalisches, logikalisches, moralisches oder theologisches Verbrechen, das gehet uns nichts an, die wir uns blos mit bürgerlichem Unheile beschäftigen“; siehe dazu auch Schünemann, Bernd, Die Kritik am strafrechtlichen Paternalismus – Eine Sisyphus-Arbeit?, in: Paternalismus im Strafrecht, S. 224 (unter II. 1. b.). 825 Siehe dazu Amelung, Knut, a.a.O. (Fn. 801), S. 28. 826 Siehe dazu Hommel, Karl-Ferdinand, a.a.O. (Fn. 824), insb. S. V: „Man muss Sünde, Verbrechen und verächtliche Handlungen nicht unter einander werfen. Ein Loch im Strumpfe zu haben, ist weder Sünde noch Verbrechen, sondern Schande; seine Schwester zu heyrathen, ist bey den Christen Sünde, aber kein bürgerliches Unrecht. Denn Verbrechen oder Unrecht heist nur dasjenige, wodurch ich jemanden beleidige. Blos dieses ist der Gegenstand bürgerlicher Strafgesetze. Es kan etwas schändlich, es kan etwas sündlich und doch bürgerlich kein Verbrechen seyn. Mensch, Bürger und Christ sind drey unterschiedene Begriffe“; siehe dazu auch Schünemann, Bernd, Die Kritik am strafrechtlichen Paternalismus – Eine Sisyphus-Arbeit?, in: Paternalismus im Strafrecht, S. 224 (unter II. 1. b.). 827 Vgl. Amelung, Knut, a.a.O. (Fn. 801), S. 16. 828 Ebd. S. 17. 829 Vgl. Sina, Peter, a.a.O. (Fn. 800), S. 7 m.w.N.; Amelung, Knut, a.a.O. (Fn. 801), S. 28. 830 Vgl. Sina, Peter, a.a.O. (Fn. 800), S. 7 a. E. ff.; Amelung, Knut, a.a.O. (Fn. 801), S. 28 a. E. ff.
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E. Rechtsgutskonzept und seine Bedeutung für die Strafgesetzgebung
Den bei weitem bedeutsamsten Beitrag in dieser Richtung leistete im Jahr 1801 Anselm von Feuerbach, welcher mit seiner Lehre den Aufgang einer „neuen Epoche der strafrechtlichen Dogmatik“831 signalisiert hat und zugleich den Grundton der modernen Strafrechtswissenschaft angegeben hat832. In Anlehnung an die aufklärerische Tradition betrachtete Feuerbach die bürgerliche Gesellschaft als eine vertragliche Vereinigung einzelner Individuen, welche den vorstaatlichen Zustand ihrer Existenz im Interesse des besseren Schutzes und der sinnvolleren Realisierung ihrer wechselseitigen Freiheit verlassen haben833. Das Staatswesen wird eingerichtet, um diese Zielsetzung zu garantieren, und errichtet auf dieser Grundlage die rechtliche Ordnung834, um die libertas – und folglich auch die aus ihr hervorgehenden, aus dem Naturzustand in den status civilis mitgebrachten sonstigen Rechte835 – des Einzelnen zu bewahren836. Vor diesem Hintergrund versucht also Feuerbach, den Begriff des Verbrechens zu konkretisieren, und lokalisiert ihn in der Konzeption einer Handlung, welche die durch den Staatsvertrag verbürgte, und durch Strafgesetze gesicherte Freiheit (verstanden als Inbegriff aller individuellen Rechte) verletzt837. Ein derartiges Verhalten läuft nämlich dem Zweck des Staates eindeutig zuwider und verpflichtet die öffentliche Gewalt aufgrund ihrer vertraglich übernommenen Rolle, durch die Schaffung strafrechtlicher Sanktionsnormen zu reagieren838. Aus diesen Überlegungen deduziert Feuerbach, dass jede Strafe im Staat schließlich als die rechtliche Folge eines durch die Notwendigkeit der Erhaltung äußerer Rechte begründeten und eine Rechtsverletzung mit einem sinnlichen Übel bedrohen-
831
Vgl. Sina, Peter, a.a.O. (Fn. 800), S. 8 m.w.N. Siehe dazu Welzel, Hans, Das Deutsche Strafrecht, S. 12 (unter 5). 833 Vgl. dazu Feuerbach, Anselm v., Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts, S. 36, § 8: „Die Vereinigung des Willens und der Kräfte Einzelner zur Garantie der wechselseitigen Freiheit Aller, begründet die bürgerliche Gesellschaft“; vgl. auch Amelung, Knut, a.a.O. (Fn. 801), S. 34 m.w.N. 834 Vgl. dazu Feuerbach, Anselm v., a.a.O. (Fn. 833), S. 36, § 8: „Eine durch Unterwerfung unter einen gemeinschaftlichen Willen und durch Verfassung organisierte bürgerliche Gesellschaft, ist ein Staat. Sein Zweck ist die Errichtung des rechtlichen Zustandes, d. h. das Zusammenbestehen der Menschen nach dem Gesetze des Rechts“. 835 Vgl. dazu Sina, Peter, a.a.O. (Fn. 800), S. 9. 836 Vgl. Sina, Peter, a.a.O. (Fn. 800), S. 9 m.w.N. 837 Vgl. dazu Feuerbach, Anselm v., a.a.O. (Fn. 833), S. 45, § 21: „Wer die durch den Staatsvertrag verbürgte, durch Strafgesetze gesicherte Freiheit verletzt, begeht ein Verbrechen. Dieses, im weitesten Sinne, ist daher eine unter einem Strafgesetze enthaltene Beleidigung oder eine durch ein Strafgesetz bedrohte, dem Rechte eines Anderen widersprechende Handlung“. Aus dem zweiten Halbteil dieser Passage (und außerdem auch aus den Ausführungen Sinas, a.a.O., Fn. 800, S. 9, zum Werk Feuerbachs) wird ersichtlich, dass Feuerbach unter dem Begriff der „Freiheit“ auch alle übrigen, für den Menschen im Staatswesen unverzichtbaren individuellen Rechte verstanden haben müsste. 838 Vgl. Amelung, Knut, a.a.O. (Fn. 801), S. 34 m.w.N. 832
I. Der historische Ursprung und die Entwicklung des Rechtsgutsdogmas
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den Gesetzes zu verstehen ist839, und verankert unter diesem Blickpunkt den materiellen Kern jedes strafbaren Verhaltens in der Verletzung subjektiver Rechte840. Diese Position hat sich in der folgenden Zeit verbreitet und wurde schließlich im Rahmen der Strafrechtswissenschaft allgemein übernommen841. Das frühere Kriterium des Sozialschadens ist insofern durch den konkreteren Begriff der Rechtsverletzung ersetzt worden, womit auch ein wichtiger Beitrag auf dem Weg der Befreiung des Strafrechts von der staatlichen Willkür und der bisherigen Ungewissheit geleistet wurde842. Als Verbrechen durften also nunmehr nur jene Handlungen gekennzeichnet und verfolgt werden, die subjektive Rechte anderer positiv beeinträchtigten, ein innovativer Gedanke, welcher durch seine einschränkende Funktion die Ausscheidung von problematischen Deliktkategorien, wie derjenigen zum Schutz der Religion oder der Sittlichkeit, aus dem Feld des Strafrechts nunmehr normativ ermöglichte843. Feuerbach hat jedoch die Prinzipien seiner eigenen Lehre nicht immer konsequent befolgt844. Ersichtlich wird dies in seiner Haltung gegenüber einer Reihe von im allgemeinen Bewusstsein seiner Zeit als verwerflich betrachteten Verhaltensweisen, welche zwar den Gegenstand strafrechtlichen Tadels konstituierten, ohne aber gleichzeitig eine Verletzung subjektiv privater Rechte darzustellen845. In Abweichung von seiner bisherigen Auffassung hat Feuerbach die Strafbarkeit dieser Handlungen nicht kritisiert, und diese stattdessen der besonderen Deliktskategorie der „Verbrechen im weiteren Sinne“ zugeordnet, und als „Polizeiübertretungen“ bezeichnet846. Dadurch hat Feuerbach die Kohärenz seiner eigenen Lehre erschüttert und Anlass für berechtigte Kritik gegeben. Die skizzierte Abweichung vermindert jedoch den fundamentalen Wert seines Ansatzes in dessen Gesamtheit nicht und sollte in diesem Sinne weniger als Rücktritt eines der berühmtesten Theoretiker der liberalen Staats- und Strafrechtslehre von seinen Positionen interpretiert werden, sondern eher als ein eindeutiger Hinweis auf die Tatsache, dass jeder frühe Versuch, tief institutionalisierte Normen kritischem Blick zu unterziehen, notwendigerweise auch eine gewisse „Flexibilität“ in seinem Kalkül miteinbeziehen muss, um den erheblichen, mit diesem Un839
Vgl. dazu Feuerbach, Anselm v., a.a.O. (Fn. 833), S. 41, § 19. Vgl. Sina, Peter, a.a.O. (Fn. 800), S. 10; Eser, Albin, Rechtsgut und Opfer, in: Festschrift für Mestmäcker, S. 1011; Marx, Michael, Zur Definition des Begriffs „Rechtsgut“, S. 5 m.w.N. 841 Vgl. Sina, Peter, a.a.O. (Fn. 800), S. 10 f. 842 Ebd. S. 11. 843 Ausführlich zu diesem Punkt Amelung, Knut, a.a.O. (Fn. 801), S. 35 m.w.N. 844 Vgl. Sina, Peter, a.a.O. (Fn. 800), S. 10, Fn. 32; Anastasopoulou, Ioanna, Deliktstypen zum Schutz kollektiver Rechtsgüter, S. 6. 845 Vgl. Sina, Peter, a.a.O. (Fn. 800), S. 10, Fn. 32; ausführlich dazu Amelung, Knut, a.a.O. (Fn. 801), S. 35 f. 846 Vgl. Sina, Peter, a.a.O. (Fn. 800), S. 10, Fn. 32; siehe auch Feuerbach, Anselm v., a.a.O. (Fn. 833), S. 46, § 22. Auf diese Weise hat Feuerbach in der Form von „Polizeivergehen“ Verhaltensweisen wieder unter Strafe gestellt (z. B. die Sittlichkeitsdelikte), deren Erfassung als Gegenstand der „formellen“ Kriminalstrafgesetzgebung er zuvor durch seine Lehre bereits kritisiert hatte. 840
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ternehmen notwendigerweise verbundenen Widerstand der bestehenden Ordnung zu überstehen847. Obwohl die Rechtsverletzungslehre auf dogmatischer Ebene den lang erwarteten Anstoß zur aufgeklärten Modernisierung der Strafrechtswissenschaft gab, hat sich der Versuch, sie in die richterliche Praxis umzusetzen, als höchst problematisch erwiesen, denn der am positiven Gesetzessystem sich orientierende Rechtsanwender musste sich für die Gestaltung seines Rechtsspruchs plötzlich auf einen unsicheren Lehrsatz, mit häufig wechselnden Interpretationen stützen848. Dies führte im Laufe der Zeit zu einer gewissen Ernüchterung auf dem Feld der Theorie gegenüber dem voranschreitenden spekulativen Rationalismus der letzten Jahrzehnte und gab den Anlass für das Erwachen der auf pragmatischen Grundlagen fußenden, historisch-positiven Strömung im Rahmen des Strafrechts849. Vor diesem Hintergrund fängt also um 1815 die so genannte „gemäßigt positivistische Schule“ an, Kritik an der bis zum damaligen Zeitpunkt gültigen Doktrin Feuerbachs zu üben850. Der Gedanke der Rechtsverletzung führt nämlich nach ihren Überlegungen zu einer unzulässigen Reduktion des Verbrechenskreises sowie zu einer systematischen Fehleinordnung der Straftaten insgesamt851, während die Entfernung der Religions- und Sittlichkeitsdelikte aus dem Kriminalstrafgesetzbuch einen weiteren problematischen Punkt dieser Lehre darstelle852. Durch diese Ansatzpunkte schafften es schließlich die Vertreter der gemäßigt positivistischen Richtung im folgenden Jahrzehnt, ernsthafte Bedenken gegen die Theorie der Rechtsverletzung zu wecken, und stellten damit gleichzeitig die Forderung nach einer auf „sicheren“ Grundlagen beruhenden Strafrechtswissenschaft. Im Rahmen dieses historischen Zusammenhangs tritt Johann Michael Franz Birnbaum als Anhänger der Schule des gemäßigten Positivismus im Jahr 1834 mit seinem Werk in den Vordergrund und versucht das Geltende, das Philosophische und das Überlieferte im Strafrecht seiner Epoche vorsichtig gegeneinander abzuwägen853. Im Gegensatz zu seiner theoretischen Orientierung an der herrschenden Lehre des Zeitalters854 legte Birnbaum bei diesem Anliegen seinen Überlegungen keine konkre847 Vgl. dazu Amelung, Knut, a.a.O. (Fn. 801), S. 37; siehe auch die einschlägigen Anmerkungen von Sina, Peter, a.a.O. (Fn. 800), S. 10, Fn. 32, und Schünemann, Bernd, Das Rechtsgüterschutzprinzip als Fluchtpunkt der verfassungsrechtlichen Grenzen der Straftatbestände und ihrer Interpretation, in: Die Rechtsgutstheorie, S. 141. 848 Vgl. Sina, Peter, a.a.O. (Fn. 800), S. 14 m.w.N. sowie S. 16; Amelung, Knut, a.a.O. (Fn. 801), S. 40. 849 Vgl. Sina, Peter, a.a.O. (Fn. 800), S. 16. 850 Vgl. Amelung, Knut a.a.O. (Fn. 801), S. 39. 851 Vgl. Sina, Peter, a.a.O. (Fn. 800), S. 18 f. m.w.N. 852 Vgl. Amelung, Knut, a.a.O. (Fn. 801), S. 41. 853 Vgl. Sina, Peter, a.a.O. (Fn. 800), S. 16. 854 Birnbaum wird heute generell als Anhänger der gemäßigt positivistischen Richtung betrachtet; siehe dazu Amelung, Knut, a.a.O. (Fn. 801), S. 11; Sina, Peter, a.a.O. (Fn. 800), S. 20.
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te Staatszweckphilosophie zu Grunde855 und strebte in einem gewissen Abstand zum positivistischen Denken an, den materiellen Inhalt des Verbrechens auf natürliche, transpositive und folglich kritische Weise zu erkunden856. Auf der Basis dieser Prämissen knüpft Birnbaum an die überlieferte Lehre Feuerbachs an, und versucht im Verlauf seines Gedankengangs, ihre Irrtümer auf konstruktive Weise aufzuzeigen. Der Begriff der Rechtsverletzung als des gemeinsamen Merkmals aller strafbaren Handlungen stellt für Birnbaum eine durchaus missverständliche Konzeption dar857, denn durch eine Straftat wird seiner Ansicht nach nicht das immaterielle Recht vermindert oder entzogen, sondern allein der Gegenstand dieses Rechts, nämlich das Gut858. Deswegen sollte auch laut Birnbaum der eigentliche Kern des Verbrechens „nach der Natur der Sache“ oder „vernunftgemäß“ eher in „jeder, dem Menschen zuzurechnenden Verletzung oder Gefährdung eines durch die Strafgewalt Allen gleichmäßig zu garantierenden Gutes“859 aufgesucht werden, und dadurch legt er das Fundament für den nächsten wichtigen Schritt auf dem Weg der vernunftgemäßen Konkretisierung des legitimen Gegenstands des Strafrechts, der nun in der Beeinträchtigung von Gütern besteht. Trotz des großen Potentials der Güterlehre, das strafrechtliche Denken aus seinen bisherigen Kontroversen zu befreien, hat Birnbaum selbst keinen erheblichen Beitrag im Sinne einer genaueren Definition der „Güter“ geleistet860 und wies zu ihrer näheren Kennzeichnung lediglich darauf hin, dass sie „theils dem Menschen schon von der Natur gegeben, theils Ergebniß seiner gesellschaftlichen Entwicklung“861 sind. Als
855
Vgl. Amelung, Knut, a.a.O. (Fn. 801), S. 44. Vgl. dazu Schünemann, Bernd, Das Rechtsgüterschutzprinzip als Fluchtpunkt der verfassungsrechtlichen Grenzen der Straftatbestände und ihrer Interpretation, in: Die Rechtsgutstheorie, S. 140 m.w.N.; Sina, Peter, a.a.O. (Fn. 800), S. 20 m.w.N.; Amelung, Knut, a.a.O. (Fn. 801), S. 43 und 44 jeweils m.w.N.; vgl. auch Birnbaum, Johann Michael Franz, Über das Erforderniß einer Rechtsverletzung zum Begriffe des Verbrechens, in: Archiv des Criminalrechts neue Folge, Jahrgang 1834, zweites Stück, S. 155: „Wenn wir vom natürlichen Rechtsbegriffe des Verbrechens reden, so verstehen wir darunter dasjenige, was nach der Natur des Strafrechts vernunftgemäß in der bürgerlichen Gesellschaft als strafbar angesehen werden kann, insofern es in einen gemeinsamen Begriff zusammengefasst wird“. 857 Vgl. Amelung, Knut, a.a.O. (Fn. 801), S. 44 m.w.N. 858 Vgl. Sina, Peter, a.a.O. (Fn. 800), S. 20; Birnbaum, Johann Michael Franz, a.a.O. (Fn. 856), S. 172: „Dadurch, daß wir etwas verlieren oder einer Sache beraubt werden, die Gegenstand unseres Rechts ist, daß uns ein Gut welches uns rechtlich zusteht, entzogen oder vermindert wird, wird ja unser Recht selbst weder vermindert noch entzogen“. 859 Siehe Birnbaum, Johann Michael Franz, a.a.O. (Fn. 856) S. 179; vgl. auch Sina, Peter, a.a.O. (Fn. 800), S. 21; der Appell an die „Natur der Sachen“ und an die „Regel der Vernunft“ bestätigt laut Amelung (a.a.O., Fn. 801, S. 46 m.w.N.) die Annahme, dass Birnbaum sich um die Schaffung einer kritischen Verbrechenslehre bemühte. 860 Siehe Amelung, Knut, a.a.O. (Fn. 801), S. 45. 861 Vgl. dazu Schünemann, Bernd, Das Rechtsgüterschutzprinzip als Fluchtpunkt der verfassungsrechtlichen Grenzen der Straftatbestände und ihrer Interpretation, in: Die Rechtsgutstheorie, S. 140 mit weiterem Verweis auf Birnbaum, Johann Michael Franz, a.a.O. 856
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E. Rechtsgutskonzept und seine Bedeutung für die Strafgesetzgebung
taugliche Objekte einer verbrecherischen Handlung kämen demnach laut Birnbaum sowohl dem Einzelnen zuzuordnende Belange materieller862 oder ideeller863 Natur, als auch ausschließlich der Gemeinschaft dienende abstrakte Werte864 in Betracht, und er unterschied in entsprechendem Sinne ziemlich präzis Delikte gegen Individual- von solchen gegen Kollektivgüter865. Durch diese Vorstellungen hat Birnbaum den strafrechtlichen Schutzbereich zugegeben weit über den Maßstab der Rechtsverletzungstheorie hinaus ausgeweitet866 und unter anderem auch längst angefochtene Kategorien, wie diejenigen der Religions- und Sittlichkeitsdelikte, ins Feld des Strafrechts wieder eingeführt867. Diese Tatsachen erwecken den berechtigten Eindruck, dass die Güterverletzungslehre für die Strafrechtswissenschaft einen Rückschritt zur vorreformatorischen Zeit bedeute; Ziel der Doktrin Birnbaums war es jedoch, die staatliche Strafbefugnis an ein vernünftiges, vorpositiv bestimmtes Kriterium anzuknüpfen868 und dadurch das „aufgeklärte Strafrecht“ von jeglicher vorhandenen Verschwommenheit zu befreien. In diesem Sinne wird die Verhängung des strafrechtlichen Tadels über unsittliche und irreligiöse Handlungen im Rahmen dieser Lehre nicht mehr metaphysisch begründet, sondern lediglich auf der Basis des Gedankens, dass die dadurch verletzten Güter die Summe der überlieferten geistigen Vorstellungen eines Volkes konstituieren, welche der Staat eigentlich als eine bestehende, empirische Größe zu schützen hat869. Des Weiteren wird die liberale Orientierung Birnbaums auch durch seine Überzeugung belegt, dass der Gesetzgeber nicht die unschuldigste Tat zu einer Rechtsver-
(Fn. 856), S. 177; Sina (a.a.O., Fn. 800, S. 20 a. E. ff.) folgert aus dieser Formulierung die Beziehung der Güterlehre Birnbaums zu den Ideen der aufklärerischen Tradition. 862 Zur näheren Konkretisierung vgl. Sina, Peter, a.a.O. (Fn. 800), S. 21 f. mit weiterem Verweis auf Birnbaum, Johann Michael Franz, a.a.O. (Fn. 856), S. 150; dazu auch Amelung, Knut, a.a.O. (Fn. 801), S. 45 m.w.N. 863 Hierzu gehört beispielsweise der von Birnbaum mehrmals erwähnte Belang der persönlichen Ehre; vgl. dazu Sina, Peter, a.a.O. (Fn. 800), S. 22 mit weiterem Verweis auf Birnbaum, Johann Michael Franz, a.a.O. (Fn. 856), S. 180 und 183 ff. 864 Darunter sind Belange wie die Summe sittlicher und religiöser Vorstellungen der Gesellschaft zu verstehen; siehe Anastasopoulou, Ioanna, Deliktstypen zum Schutz kollektiver Rechtsgüter, S. 6; Sina, Peter, a.a.O. (Fn. 800), S. 22; Amelung, Knut, a.a.O. (Fn. 801), S. 45 mit weiterem Verweis auf Birnbaum, Johann Michael Franz, a.a.O. (Fn. 856), S. 178. 865 Siehe Schünemann, Bernd, Das Rechtsgüterschutzprinzip als Fluchtpunkt der verfassungsrechtlichen Grenzen der Straftatbestände und ihrer Interpretation, in: Die Rechtsgutstheorie, S. 140 mit Verweis auf Birnbaum, Johann Michael Franz, a.a.O. (Fn. 856), S. 178; Amelung (a.a.O., Fn. 801, S. 49) bemerkt, dass in dieser „Zweiteilung“ die ersten Spuren der erst viel später entstandenen Lehre vom „Träger“ der Rechtsgüter zu finden sind. 866 Vgl. Eser, Albin, a.a.O. (Fn. 840), S. 1012. 867 Siehe Birnbaum, Johann Michael Franz, a.a.O. (Fn. 856), S. 178. 868 Siehe Amelung, Knut, a.a.O. (Fn. 801), S. 46 und insb. Fn. 44. 869 Instruktiv dazu Schünemann, Bernd, a.a.O. (Fn. 865), S. 140 m.w.N.; Schünemann bemerkt, dass Birnbaum an anderen Stellen ernsthafte Bedenken gegen die Zulässigkeit des Schutzes von Religion und Sittlichkeit überhaupt geäußert hat.
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letzung stempeln dürfte870 und dass die Erhebung eines Verhaltens zum Verbrechen kein bloßer Wertungsakt politischer Willkür sein sollte871. Die gemäßigt positivistische Lehre der Güterverletzung stellte also im Wesentlichen einen Versuch zur Rationalisierung und Fortentwicklung des Strafrechts auf der Basis konkreter Wertungen dar. Der neu eingeführte Begriff des „Gutes“ konstituierte sachlich eine Korrektur der naturrechtlich geprägten Rechtsverletzungsdoktrin872 und bedeutete eine beachtenswerte Akzentverschiebung in der Verbrechenslehre von der Sphäre der vergeistigten, abstrakten Rechte zu den positiv aufgefassten, realen Gütern873, deren Verletzung oder Gefährdung nunmehr den empirisch-naturalistischen Kern jeder strafbaren Handlung bildete. Das bestehende Anliegen der aufgeklärten Welt hinsichtlich der Systematisierung des Strafrechts und der Eindämmung der gesetzgeberischen Willkür wurde seitens der Güterverletzungslehre Birnbaums874 nie aus dem Blick verloren875, so dass ihr Ansatz insofern als eine Fortführung der liberal-philosophischen Richtung betrachtet werden kann876: „Das Erbe des aufgeklärten Denkens“ war für diese Doktrin „bereits übernommener Besitz“877 geworden. In der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts entwickelte sich also, zusammengefasst, im deutschsprachigen Raum trotz der zum Teil differierenden Anschauungen ein für den damaligen Zeitpunkt neuartiger und kritischer Verbrechensbegriff im Rahmen der Strafrechtswissenschaft, der im Gegensatz zur absolutistischen Vergangenheit nicht mehr zur freien Disposition des Gesetzgebers stand und welcher nun ausschließlich durch den Schaden definiert wird, der insgesamt an den natürlichen oder gesellschaftlich geschaffenen Gütern der Bürger entsteht878. Der beliebige 870
Ebd. S. 140 m.w.N. Siehe dazu Birnbaum, Johann Michael Franz, Über den Begriff des natürlichen Verbrechens, in: Archiv des Criminalrechts Neue Folge, Jahrgang 1836, viertes Stück, S. 571 a. E. f.: „es [könne] nicht von bloßer Willkür des Gesetzgebers abhängen, was er als Verbrechen bestrafen wolle“; Amelung, Knut, a.a.O. (Fn. 801), S. 49 m.w.N.; Schünemann, Bernd, a.a.O. (Fn. 865), S. 140. 872 Vgl. Sina, Peter, a.a.O. (Fn. 800), S. 25; Amelung, Knut, a.a.O. (Fn. 801), S. 45 mit weiterem Verweis auf die zustimmenden Meinungen von Frank und Schaffstein. 873 Vgl. Sina, Peter, a.a.O. (Fn. 800), S. 23. 874 Diesem Vertreter des gemäßigten Positivismus wird heutzutage seitens der Theorie die erste Thematisierung des erst später von Binding und v. Liszt eingeleiteten Begriffs des „Rechtsguts“ zugeschrieben, da er im Rahmen seiner Werkes mit Formulierungen wie „[…] Gut, welches uns rechtlich zusteht […]“ (Birnbaum, Johann Michael Franz, a.a.O., Fn. 856, S. 172) oder „[…] durch die Gesetze zu schützendes Gut […]“ (ebd. S. 176 a. E.) diesen Terminus in seinem Kern vorgeprägt hat; vgl. dazu Sina, Peter, a.a.O. (Fn. 800), S. 23 m.w.N.; Anastasopoulou, Ioanna, Deliktstypen zum Schutz kollektiver Rechtsgüter, S. 6 m.w.N.; Hassemer, Winfried, Theorie und Soziologie des Verbrechens, S. 37. 875 Siehe Sina, Peter, a.a.O. (Fn. 800), S. 26. 876 Ebd. S. 27. 877 Ebd. S. 27 m.w.N. 878 So Schünemann, Bernd, Das Rechtsgüterschutzprinzip als Fluchtpunkt der verfassungsrechtlichen Grenzen der Straftatbestände und ihrer Interpretation, in: Die Rechtsgutstheorie, S. 141. 871
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Wille des Regenten bzw. die kirchliche Willkür per se werden als Quellen zur Bestimmung des strafbaren Verhaltens in Frage gestellt, und das wissenschaftliche Denken macht unter dem Einfluss der Aufklärung definitive Schritte auf dem Weg der Gestaltung eines gerechten strafrechtlichen Systems. Die, rein faktisch betrachtet, fehlende Möglichkeit der damaligen Theorie, diese innovativen Gedanken stets in Praxis umzusetzen, genauso wie die Verwendung von moderaten Ausdrücken an gewissen Stellen in den Werken der Periode – Tatsachen, die heute eine gewisse Skepsis gegen die kritische Potenz des Verbrechensbegriffs dieses Zeitalters begründen – lassen sich ihrerseits in einer Epoche, wo die herrschenden Mächte jeden entgegenstehenden Willen ohne Konsequenz einfach missachten konnten879, leicht erklären und schmälern daher nicht die Verdienste der neuen Strafrechtstheorien. Jeder weitere Aufbau der Verbrechenslehre auf der Basis des Gütergedankens musste allerdings im einsetzenden Zeitraum ausstehen, da die Rechtstheorie für über drei Jahrzehnte einen „Einbruch spekulativen Denkens“880 als Reaktion auf Hegels Dialektischen Individualismus erlebte881. Das Objekt des Verbrechens wurde im Gegensatz zu den bisherigen Ansätzen in der Sphäre der reinen Geistigkeit und Abstraktion gesucht882 und nahm die Form der bewussten Auflehnung gegen den „allgemeinen Willen“ an883. Die dadurch bewirkte Orientierung am „Metaphysischen“ hat allerdings im Laufe der Zeit an Überzeugungskraft verloren, und um 1870 wurde ihr durch die starke Verbreitung des Positivismus884 innerhalb der Rechtswissenschaft ein Ende gesetzt885. In den Vordergrund tritt nun die Wendung zur genauen Erforschung des „Gegebenen“, womit methodisch angestrebt wird, die geltenden Prinzipien des Rechts gründlich zu erkunden886. Einer der wichtigsten Vertreter dieser neuen Strömung war Karl Binding, dessen Überlegungen zum materiellen Kern jeder strafbaren Handlung einen neuen Weg für die Strafrechtswissenschaft seiner Epoche eingeschlagen haben. Den Ausgangspunkt der Verbrechenslehre Bindings bildet die Unterscheidung zwischen Normen und Strafgesetzen887. Die Normen stellen staatliche Imperative dar, welche durch ihre Bestimmungen Verhaltenspflichten des Einzelnen begründen, 879
Ausführlich dazu ders., S. 141. Näher dazu Sina, Peter, Die Dogmengeschichte des strafrechtlichen Begriffs „Rechtsgut“, S. 28 f. 881 Siehe dazu Marx, Michael, Zur Definition des Begriffs „Rechtsgut“, S. 5 m.w.N.; Anastasopoulou, Ioanna, Deliktstypen zum Schutz kollektiver Rechtsgüter, S. 6 a. E. m.w.N. 882 Siehe Marx, Michael, a.a.O. (Fn. 881), S. 6 m.w.N. 883 Siehe Anastasopoulou, Ioanna, a.a.O. (Fn. 881), S. 7 m.w.N.; Amelung, Knut, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft, S. 52. 884 Ausführlicher dazu Amelung, Knut, a.a.O. (Fn. 883), S. 52. 885 Siehe dazu Sina, Peter, a.a.O. (Fn. 880), S. 39 m.w.N. 886 Eingehend zu Klima und Zielsetzung der Epoche Amelung, Knut, a.a.O. (Fn. 883), S. 53 f. 887 Vgl. Sina, Peter, a.a.O. (Fn. 880), S. 42; Hassemer, Winfried, Theorie und Soziologie des Verbrechens S. 44 m.w.N. 880
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denen ein subjektives Recht des Staatswesens auf Gehorsam korrespondiert888. Die schuldhafte Missachtung des staatlichen Anspruchs auf „Botmässigkeit“ konstituiert jedoch nach Binding noch keine strafbare Handlung, sondern lediglich ein widerrechtliches Verhalten, welches er als Delikt bezeichnet889; zum Verbrechen wird ein derartiges Geschehen erst dann qualifiziert, wenn der Gesetzgeber durch seinen Willen ein Strafgesetz aufrichtet, welches jede künftige Übertretung der Norm pönalisiert890. Auf dieser Basis definierte Binding das Verbrechen in erster Linie, als den „schuldhaften Bruch einer mit Strafe bedrohten Norm“891, und knüpfte dessen Unrechtsgehalt an die Zuwiderhandlung gegen die staatlich statuierte Gehorsamspflicht892. Eine derartige Verbrechenskonzeption stand mit dem Geist des Zeitalters im völligen Einklang und lieferte durch ihre umfassende Formulierung auch eine taugliche Grundlage für den Aufbau eines positivistischen Strafrechtssystems893. Binding sah allerdings ein, dass der verallgemeinernde und formale Charakter dieses Verbrechensbegriffs, welcher das Unrecht lediglich im nicht quantifizierbaren894 Ungehorsamsmoment gegenüber dem Staat lokalisierte, weder eine Erklärung für die herkömmliche Abstufung der Straftaten nach ihrem Intensitätsgrad noch einen Grund für die ebenfalls überlieferte Differenzierung zwischen den vielen unterschiedlichen, schon als Teil der positiven Ordnung existierenden Tatbeständskategorien zu geben vermochte895. Diese problematischen Punkte könnten nämlich nur durch die Heranziehung eines materiellen Kriteriums gelöst werden, welches als Maßstab für jede einschlägige Abwägung fungieren sollte896. 888
Siehe Amelung, Knut, a.a.O. (Fn. 883), S. 73 m.w.N. Siehe Sina, Peter, a.a.O. (Fn. 880), S. 42 m.w.N.; Binding, Karl, Die Normen und ihre Übertretung, § 45, S. 298: „Als Delikt bezeichne ich […] die schuldhafte Missachtung des öffentlichen Rechtes auf Botmässigkeit“ und 299: „Eine ganz fest geschlossene Art des Unrechts ist das Delikt. Sein Angriffsobjekt ist das Recht auf Botmässigkeit, dessen Garantiegesetz die Norm. […] Wie aber neben dem Verbrechen das straflose Delikt steht, so giebt es auch sonst Unrecht, das gar keine Rechtsfolgen nach sich zieht […]“. 890 Siehe Hassemer, Winfried, Theorie und Soziologie des Verbrechens, S. 44 m.w.N. 891 Siehe Amelung, Knut, a.a.O. (Fn. 883), S. 73 m.w.N.; Eser, Albin, a.a.O. (Fn. 840), S. 1013 m.w.N.; siehe auch Binding, Karl, Handbuch des Strafrechts, S. 499: „Das Verbrechen ist das strafbare und zwar das mit öffentlicher Strafe zu belegende Delikt“. 892 Siehe Sina, Peter, a.a.O. (Fn. 880), S. 43 m.w.N.; Marx, Michael, Zur Definition des Begriffs „Rechtsgut“, S. 6; siehe auch Binding, Karl, Handbuch des Strafrechts, S. 186: „Die Botmässigkeit wird stets gefordert vom Staate selbst oder im Namen des Staates als des alleinigen Inhabers obrigkeitlicher Gewalt: die Verweigerung der Folge ist also stets eine Verneinung des obrigkeitlichen Willens im konkreten Falle, stets ein Zuwiderhandeln gegen ein dem Staat allein zustehendes Recht, das er freilich in einer Reihe von Fällen delegirt. Die Verletzung dieses subjektiven Rechts ist die einzige ,Rechtsverletzung, die jedem Delikt wesentlich ist“. 893 Vgl. Amelung, Knut, a.a.O. (Fn. 883), S. 73 a. E. 894 Siehe Anastasopoulou, Ioanna, a.a.O. (Fn. 881), S. 16 m.w.N. 895 Ebd. S. 73 a. E. ff. 896 Ebd. S. 74 m.w.N. 889
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Binding hat ein derartiges Kriterium im Zweck der Normen gefunden, welchen er in der „Bewahrung der Voraussetzungen des friedlichen und gesegneten Zusammenlebens“897 gesehen hat: Der notwendig differente Unrechtsgehalt jeder strafbaren Handlung ließe sich dann auf der Basis des Gedankens begründen, dass eine Zuwiderhandlung gegen eine Norm, welche beispielsweise auf den Schutz des fremden Lebens abzweckt, eine signifikantere Erfordernis für das gedeihliche Gemeinleben verletzt, als eine Beeinträchtigung des Eigentums; und die übliche Einteilung der Gesetze in unterschiedliche Tatbestandskategorien wird einsichtig, wenn man bedenkt, dass die Mannigfaltigkeit der Bedingungen für ein friedliches Miteinandersein logischerweise eine Anzahl von entsprechend vielfältigen regulatorischen Rechtssätzen voraussetzt. Mit der Heranziehung des Zwecks der Normen in seiner Verbrechenslehre hat Binding allerdings nicht nur einen Weg gefunden, seine Doktrin zu untermauern, sondern er hat vor allem auch einen wichtigen Schritt auf dem Weg der Weiterentwicklung der Strafrechtswissenschaft insgesamt gemacht. Denn in der Erhaltung der diversen „Voraussetzungen“ des Rechtslebens hat Binding insgesamt die gemeinsame Zielsetzung und den eigentlichen Legitimationsgrund aller Strafnormen erkannt. Im Mittelpunkt jedes Strafgesetzes muss unter diesem Blickpunkt stets ein schutzwürdiger Belang stehen, dessen Beeinträchtigung die staatliche Reaktion hervorruft898. Dieses Schutzobjekt hat Binding in bewusster Anlehnung an die Gedanken Birnbaums899 als „Rechtsgut“ bezeichnet, und definierte es als „Alles, was […] in den Augen des Gesetzgebers als Bedingung gesunden Lebens der Rechtsgemeinschaft für diese von Wert ist, an dessen unveränderter und ungestörter Erhaltung sie nach seiner Ansicht ein Interesse hat, und das er deshalb durch seine Normen vor unerwünschter Verletzung oder Gefährdung zu sichern bestrebt ist“900. Damit wurde neben der Missachtung des staatlichen Anspruchs auf „Botmässigkeit“ auch die Rechtsgutsbeeinträchtigung zum Angelpunkt des Verbrechens901 und dadurch führte Binding in die Strafrechtsdogmatik denjenigen Begriff ein, welcher fortan bei jedem Versuch, den materiellen Kern jeder strafbaren Handlung zu bestimmen, den konstanten Bezugspunkt darstellen würde902. Die Doktrin Bindings hat allerdings insgesamt trotz ihrer fundamentalen Bedeutung für die weitere Entwicklung der Strafrechtswissenschaft eine eindeutige Abkehr der Verbrechenslehre vom kritisch-liberalen Gehalt ihrer früheren, gemäßigt positi897
Ebd. S. 74 m.w.N.; Binding, Karl, Die Normen und ihre Übertretung, S. 339. Vgl. Amelung, Knut, a.a.O. (Fn. 883), S. 74. 899 Siehe Binding, Karl, Die Normen und ihre Übertretung, S. 328 (unter 3); Sina, Peter, a.a.O. (Fn. 880), S. 46. 900 Ebd. S. 353 f. 901 Trotz dieser Erweiterung betrachtete Binding den Verstoß gegen das subjektive staatliche Recht auf Gehorsam immerhin als das Wesentlichste im Verbrechen. Siehe Sina, Peter, a.a.O. (Fn. 880), S. 47 m.w.N. 902 Ebd. S. 42. 898
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vistischen Position eingeleitet. Denn die Konkretisierung derjenigen Elemente, welche als „Bedingungen eines friedlichen Rechtslebens“ zu schutzwürdigen Rechtsgütern erhoben werden sollen, hängt nun ausschließlich vom Werturteil des Gesetzgebers selbst ab903. Dieser besitzt bei der Aufstellung von Strafnormen die höchste Autorität904, und sein Spielraum kann nur durch seine eigenen Erwägungen und die Gesetze der Logik überhaupt eine Einschränkung erfahren905. Die Kennzeichnung eines Verhaltens als strafbar, knüpft sich indem nicht mehr an überzeitliche theoretische Wahrheiten, sondern lediglich an eine legislatorische Wertung, also an einen rein politischen, und deswegen auch potentiell willkürlichen, Willensakt an906. Die Verbrechenslehre Bindings hat insofern dem Staat auf normativer Ebene die Möglichkeit gegeben, Strafgesetze nach eigenem Ermessen zu erlassen und das gesellschaftliche Leben nach seinen Vorstellungen zu gestalten. Der starke Kontrast des strafrechtlichen Denkens dieses Zeitalters zu den liberal geprägten Lehren der Vergangenheit und der daraus sich ergebende zeitweilige Verlust des Verbrechensbegriffs an kritischer Potenz lassen sich jedoch logisch erklären, wenn der sozialpolitische Hintergrund der Epoche in der gesamten Erwägung herangezogen wird. Das Zeitalter nach dem Dialektischen Individualismus Hegels war nämlich auf philosophischer Ebene von einer starken Abneigung gegen die seit über drei Jahrzehnte herrschende „Abstraktion“ gekennzeichnet, welche als Reaktion eine rasche Wendung zum positivistischen Denken hervorgerufen hat; und auf politischer Ebene haben die damalige Entstehung des Deutschen Reichs und die Konsolidierung einer Monarchie mit stark obrigkeitsstaatlichen Zügen907 (zumindest in den Anfängen) keinen geeigneten Raum für die Weiterentwicklung von kritischen, die Macht des Regenten einschränkenden Positionen erlaubt: Die Etablierung des formal-positivistischen Denkens in der Strafrechtsdogmatik stellt unter diesem Blickpunkt das unvermeidbare Ergebnis eines jeden freiheitlichen Ansatz verdrängenden historischen Kausalverlaufs dar. Die gesamte Situation änderte sich allerdings in der folgenden Zeit wiederum, als Anfang der achtziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts die Ideen des naturalistischen Positivismus, genauer, der dogmatischen Richtung, welche das Unrecht nicht mehr mithilfe des Gegebenen, sondern durch den Bezug auf die äußere, soziale Wirklichkeit zu erklären versuchte908, sich innerhalb der Theorie durchsetzten. Einer der wichtigsten und einflussreichsten Vertreter dieser im Grunde genommen als liberal zu verstehenden neuen Strömung war Franz v. Liszt, dessen revolutionäre Gedanken
903
Ebd. S. 44 a. E. ff. Siehe Amelung, Knut, a.a.O. (Fn. 883), S. 94. 905 Ebd. S. 74 m.w.N.; Sina, Peter, a.a.O. (Fn. 880), S. 45 m.w.N.; Anastasopoulou, Ioanna, a.a.O. (Fn. 881), S. 8 m.w.N. 906 Siehe Amelung, Knut, a.a.O. (Fn. 883), S. 78. 907 Siehe diesbezüglich Kapitel D. I. 908 Vgl. Murmann, Uwe, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, S. 93 m.w.N. 904
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E. Rechtsgutskonzept und seine Bedeutung für die Strafgesetzgebung
eine wesentliche Erneuerung der Strafrechtslehre und -praxis der Epoche eingeleitet haben909. v. Liszt unterzog zunächst im Rahmen seines Werkes die Doktrin der formal-positivistischen Schule heftiger Kritik und verwarf die von Binding vertretene Akzentuierung der Gehorsamspflichtverletzung als des eigentlichen Bezugspunkts des Verbrechens910. Der rationale Einsatz des Strafrechts sollte nämlich nach der Ansicht v. Liszts eher an die Erhaltung der Lebensbedingungen der staatlichen Gemeinschaft geknüpft werden911, welche der Gesetzgeber in Anerkennung ihres inhärenten Wertes zu rechtlich geschützten Interessen erhebt912. Der materielle Kern jeder strafbaren Handlung sollte unter diesem Blickpunkt in der Verletzung oder Gefährdung dieser bewahrten Belange lokalisiert werden913, welche v. Liszt insgesamt als Rechtsgüter bezeichnet914 und zum Zentralbegriff seiner Verbrechenslehre macht915. Seine Doktrin unterscheidet sich allerdings von den Ausführungen der formal-positivistischen Richtung noch um einem weiteren wichtigen Punkt, da im Verständnis v. Liszts die Prärogative für die Bestimmung derjenigen Lebensbedingungen der rechtlich geordneten Gemeinschaft, welche in Rechtsgüter umschlagen können, im Gegensatz zum bisher Vertretenen, nicht mehr bei der Person des Gesetzgebers liegt. Seine innovative Konzeption legt stattdessen eine individuumszentrierte Betrachtung der positiven Ordnung zu Grunde916, welche davon ausgeht, dass alles Recht um der Menschen willen da ist917. Daraus folgert v. Liszt, dass die Rechtsgüter logischerweise nichts anderes als menschliche Interessen sein können918, welche vom Leben selbst und nicht von der Rechtsordnung erzeugt werden919. Deswegen ist ihre „Quelle“ der Bereich des Realen und des Natürlichen920 und nicht die willkürlichen 909
Vgl. dazu Hassemer, Winfried, Theorie und Soziologie des Verbrechens, S. 37. Vgl. Murmann, Uwe, a.a.O. (Fn. 908), S. 95 a. E. m.w.N. 911 Vgl. Amelung, Knut, a.a.O. (Fn. 883), S. 83 m.w.N.; siehe dazu auch v. Liszt, Franz, Der Zweckgedanke im Strafrecht, in: ZStW 3 (1883), S. 19. 912 Vgl. Murmann, Uwe, a.a.O. (Fn. 908), S. 96 m.w.N. 913 Siehe dazu Sina, Peter, a.a.O. (Fn. 880), S. 51 m.w.N. 914 Siehe dazu Liszt, Franz v., Der Zweckgedanke im Strafrecht, in: ZStW 3 (1883), S. 19; ebd., Rechtsgut und Handlungsbegriff im Bindingschen Handbuche, in: ZStW 6 (1886), S. 673. 915 Siehe Sina, Peter, a.a.O. (Fn. 880), S. 47 und 48 a. E. ff.; Eser, Albin, a.a.O. (Fn. 840), S. 1014 m.w.N. 916 Siehe Lagodny, Otto, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, S. 149. 917 Siehe Liszt, Franz v., Rechtsgut und Handlungsbegriff in Bindingschen Handbuche, S. 673; ders., Der Begriff des Rechtsguts im Strafrecht und in der Enzyklopädie der Rechtswissenschaft, in: ZStW 8 (1888), S. 141 a. E. Einen ähnlichen Gedanken hat auch, wie schon gesehen (Kapitel D., Fn. 706), der Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee in seinem Versuch herangezogen, das Verhältnis der neu entstandenen Bundesrepublik zum Individuum zu konkretisieren. 918 Siehe Amelung, Knut, a.a.O. (Fn. 883), S. 84 m.w.N. 919 Ebd. S. 84 m.w.N. 920 Siehe Sina, Peter, a.a.O. (Fn. 880), S. 51. 910
I. Der historische Ursprung und die Entwicklung des Rechtsgutsdogmas
193
Vorstellungen eines mit der Gesetzgebungskompetenz versehenen Organs, dessen Rolle unter diesem Blickpunkt ausschließlich im Akt der Positivierung strafbarer Handlungen zu sehen ist, und nicht in der Entscheidung darüber, was als eine solche Handlung auf normativer Ebene aufgefasst werden kann921. Die Lehre v. Liszts gestaltete also mit ihrer neuartigen konzeptuellen Annäherung an das Verbrechen eine originelle und sinnvolle theoretische Grundlage für die Strafrechtswissenschaft. Ihre Ausführungen knüpften an den liberalen Geist der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts an und führten in das formal-positivistische strafrechtliche Denken des Zeitalters Elemente einer materiellen Theorie ein. Das Rechtsgut, die eigentliche „Umschreibung“ der schutzwürdigen Lebensinteressen der bürgerlichen Gesellschaft, steht nun im Mittelpunkt des Verbrechensbegriffs, und seine Bewahrung vor rechtswidriger Gefährdung oder Verletzung gilt jetzt zugleich als Angelpunkt und Legitimationsgrundlage des Strafrechts922. Was nun als „wesentliches Lebensinteresse“, und folglich als Rechtsgut überhaupt angesehen werden kann, ist ausschließlich der Wirklichkeit des menschlichen Miteinanderseins zu entnehmen, und hängt mithin nicht mehr, wie im Positivismus Bindingscher Prägung, vom Werturteil der staatlichen Gewalt ab. Vor diesem dogmatischen Hintergrund entfaltet der Rechtsgutsbegriff v. Liszts als eigentlicher Kern einer liberal geprägten Verbrechenskonzeption kritische Potenz gegenüber dem Willen des Gesetzgebers und fungiert insofern zugleich als Grenze seiner Autorität und als Bezugspunkt bei der Bestimmung des materiellen Gehalts jeder strafbaren Handlung923. Das so erfasste Rechtsgutskonzept erfuhr in den letzten zwei Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts eine rasche Verbreitung im strafrechtlichen Denken des mitteleuropäischen Raums und etablierte sich innerhalb der Theorie als Ausgangsprämisse für jede Auseinandersetzung mit dem Begriff des Verbre921
Ein weiterer wichtiger Punkt in der Verbrechenslehre v. Liszts ist die klare Abgrenzung des von einer Strafnorm geschützten „Rechtsguts“ von ihrem „Handlungs-“ oder „Angriffsobjekt“ (siehe diesb. Liszt, Franz v., Der Begriff des Rechtsguts im Strafrecht und in der Enzyklopädie der Rechtswissenschaft, in: ZStW 8 (1888), S. 151), eine Unterscheidung, welche zu den Grundlagen der heutigen Strafrechtsdogmatik gezählt wird: Die Straftat stellt für v. Liszt etwas Reales dar, und ist insofern als eine „gewusste und gewollte Herbeiführung einer Veränderung in der Sinnenwelt“ zu verstehen. Die Begehung eines Verbrechens kann daher logischerweise nur dann überhaupt denkbar sein, wenn in der Außenwelt ein sinnfälliger, greifbarer Gegenstand (z. B. eine Person oder eine Sache) gegeben ist, an welchem der Erfolg des deliktischen Verhaltens verändernd sich manifestieren kann; dieser Gegenstand wird als „Objekt der Handlung“ bezeichnet. Das von einem Tatbestand geschützte „Rechtsgut“ ist dagegen lediglich ein inhaltserfüllter juristischer Begriff, und deswegen nicht kausal verletzbar. Es stellt als Konkretisierung von unerlässlichen menschlichen Lebensinteressen nur den Grund für die Kriminalisierung der sinnlichen Veränderung des Tatobjekts dar und ist deswegen begrifflich von letzterem streng zu trennen. Siehe auch dazu Sina, Peter, a.a.O. (Fn. 880), S. 52 m.w.N.; Amelung, Knut, a.a.O. (Fn. 883), S. 85 f. m.w.N. 922 Vgl. Marx, Michael, Zur Definition des Begriffs ,Rechtsgut, S. 6 m.w.N. 923 Vgl. Rudolphi, Hans-Joachim, Die verschiedenen Aspekte des Rechtsgutsbegriffs, in: Festschrift für Honig, S. 155 a. E. Hier ist der formelle Ausgangspunkt der erst später so genannten „systemkritischen“ Funktion des Rechtsgutsbegriffs zu lokalisieren.
194
E. Rechtsgutskonzept und seine Bedeutung für die Strafgesetzgebung
chens924. Die dem Rechtsgut gewidmeten, zeitgenössischen Diskussionen befassten sich kaum mehr mit der Frage seiner Existenzberechtigung925, sondern setzten den Akzent vorwiegend auf Fragen terminologischen Interesses926. Um die Jahrhundertwende und insbesondere ab der Zeit nach dem ersten Weltkrieg hat sich allerdings die gesamte Situation im Strafrecht aufgrund des Vordringens des neukantianischen Denkens wiederum verändert927. Die neue dogmatische Strömung hat das Rechtsgutskonzept als Grundlage ihres Systems zwar übernommen, übte aber zugleich heftige Kritik an den bisherigen Ausführungen zu seinem Inhalt und seiner Funktion. Ihre Einwände richteten sich insbesondere gegen die fehlende Klarheit und die materielle Unbestimmbarkeit des Begriffs928, da es der bisher führenden theoretischen Richtung des naturalistischen Positivismus immer noch nicht gelungen war, eine brauchbare Richtschnur für die einheitliche und erschöpfende Bestimmung aller schutzwürdigen Lebensinteressen der Menschengemeinschaft zu entwickeln929. Die Vertreter des Neukantianismus haben aus diesem Grund das Rechtsgutskonzept nicht als den Angelpunkt einer materiellen Verbrechenslehre erfasst, sondern interpretierten es als ein bloßes „Erzeugnis“ spezifisch-juristischer Begriffsbildung930. Das Rechtsgut stellt unter diesem Blickpunkt keine bereits vorpositiv existierende schutzwürdige Größe dar, sondern ist als „der vom Gesetzgeber in den einzelnen Strafrechtssätzen anerkannte Zweck in seiner kürzesten Formel“931, als „Abbreviatur des Zweckgedankens“932, oder einfach als ratio legis933 zu verstehen und fungiert insofern lediglich als „Auslegungskriterium“934 der jeweiligen Norm935. Der Rechtsgutsbegriff wird damit jedes kritischen Gehalts entkleidet und ist für jede beliebige inhaltliche Ausfüllung offen936. Tatbestand und bewahrtes Rechtsgut lassen sich mithin als einfache „Produkte“ des legislativen Willens eines konkreten Organs kennzeichnen, von welchem allerdings (in einem von den Zügen der freiheitlich geprägten 924
Siehe Amelung, Knut, a.a.O. (Fn. 883), S. 96. Siehe Marx, Michael, a.a.O. (Fn. 922), S. 6 a. E. m.w.N. 926 Siehe Amelung, Knut, a.a.O. (Fn. 883), S. 96. 927 Vgl. Schünemann, Bernd, a.a.O. (Fn. 878), S. 136 a. E.; ausführlich dazu Murmann, Uwe, a.a.O. (Fn. 908), S. 104 ff. 928 Siehe Rudolphi, Hans-Joachim, a.a.O. (Fn. 923), S. 152 m.w.N.; Amelung, Knut, a.a.O. (Fn. 883), S. 96 m.w.N. 929 Siehe Rudolphi, Hans-Joachim, a.a.O. (Fn. 923), S. 152 m.w.N. 930 Siehe Anastasopoulou, Ioanna, a.a.O. (Fn. 881), S. 9 m.w.N.; Rudolphi, Hans-Joachim, a.a.O. (Fn. 923), S. 153 m.w.N. 931 Siehe Honig, Richard, Die Einwilligung des Verletzten, S. 94. 932 Siehe Grünhut, Max, Methodische Grundlagen der heutigen Strafrechtswissenschaft, in: Festgabe für Reinhard von Frank, Bd. I, S. 8. m.w.N.; Honig, Richard, a.a.O. (Fn. 931), S. 109. 933 Siehe Schwinge, Erich, Teleologische Begriffsbildung im Strafrecht, S. 25 m.w.N. 934 Siehe Rudolphi, Hans-Joachim, a.a.O. (Fn. 923), S. 154. 935 In diesen Ausführungen lässt sich der Ausgangspunkt der erst später so genannten „systemimmanenten“ Rechtsgutskonzeption lokalisieren. 936 Siehe Rudolphi, Hans-Joachim, a.a.O. (Fn. 923), S. 153 a. E. 925
I. Der historische Ursprung und die Entwicklung des Rechtsgutsdogmas
195
Weimarer Verfassung gekennzeichneten Zeitalter) positiv erwartet wird, die durch harte Kämpfe durchgesetzten gesellschaftlichen Vorstellungen über die Behauptung des Einzelnen gegenüber dem Staat zu respektieren937 und bei der Erfüllung seiner Aufgaben nicht willkürlich zu fungieren. Die einsetzende, finstere Epoche bewies jedoch auf die schlimmste Weise, was die völlige Abwesenheit eines konkreten „Maßstabs“, an welchem die Entscheidungen des Gesetzgebers gemessen werden können, für das Strafrecht unter Umständen zu bedeuten hat. Dieser Zeitraum wurde von einer autoritären Doktrin gekennzeichnet, welche alle bisher gewonnenen Erkenntnisse über den Kern des Verbrechens und den eigentlichen Zweck der staatlichen Strafbefugnis negierte und zu dogmatischer Fundierung und Aufbau ihrer eigenen Unrechtskonzeption die bereits im strafrechtlichen Feld etablierten, streng positivistischen Strukturen der neukantianischen Theorie radikalisierte938. Das Recht wurde in dieser Periode zu einem effektiven „Instrument“939 gemacht, welches ausschließlich zum Zweck der sozialen Steuerung, Kontrolle und Integration benutzt wurde940. Im Mittelpunkt der so gearteten rechtlichen Ordnung steht nicht mehr der Einzelne mit seinen Interessen, sondern ausschließlich die „Gesamtheit“, das „Volk“941. Das Individuum verliert seine begründende bzw. begrenzende Bedeutung für den Staat942 und muss hinter dem Kollektiv zurücktreten. Der Wert des Menschen besteht lediglich in seiner Eigenschaft als eines „Glieds“ der Gemeinschaft943, welcher er mit all seinen Kräften zu dienen verpflichtet ist944. Vor diesem Hintergrund wird auch das Verbrechen nicht mehr als die Beeinträchtigung eines Rechtsgutes erfasst, sondern als eine Verletzung der sich aus der Gliedschaftsstellung des Einzelnen ergebenden Pflichten gegenüber der Gemeinschaft945, deren Anzahl und inhaltliche Ausgestaltung der Gesetzgeber unter Beachtung des „gesunden Volksempfindens“ ausschließlich bestimmt946.
937
Siehe Amelung, Knut, a.a.O. (Fn. 883), S. 216 m.w.N. Vgl. Sina, Peter, a.a.O. (Fn. 880), S. 71; Hassemer, Winfried, a.a.O. (Fn. 909), S. 50. 939 Siehe Murmann, Uwe, a.a.O. (Fn. 908), S. 127. 940 Siehe Vogel, Joachim, Einflüsse des Nationalsozialismus auf das Strafrecht, in: ZStW 115 (2003), S. 647. 941 Vgl. Amelung, Knut, a.a.O. (Fn. 883), S. 217 m.w.N.; Murmann, Uwe, a.a.O. (Fn. 908), S. 127 a. E. m.w.N. 942 Vgl. Sina, Peter, a.a.O. (Fn. 880), S. 72 m.w.N.; Murmann, Uwe, a.a.O. (Fn. 908), S 131 m.w.N. 943 Vgl. Vogel, Joachim, a.a.O. (Fn. 940), S. 656. Hassemer (a.a.O., Fn. 909, S. 51) spricht charakteristisch von der „Gliedhaftigkeit“ der Individuen im nationalsozialistischen Staat. 944 Siehe Murmann, Uwe, a.a.O. (Fn. 908), S. 131 m.w.N. und 133 m.w.N. 945 Ebd. S. 137 a. E. m.w.N.; Marx, Michael, a.a.O. (Fn. 922), S. 7; Hassemer, Winfried, a.a.O. (Fn. 909), S. 56; Vogel, Joachim, a.a.O. (Fn. 940), S. 656 m.w.N. 946 Vgl. diesb. Marx, Michael, a.a.O. (Fn. 922), S. 7; Hassemer, Winfried, a.a.O. (Fn. 909), S. 56. 938
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E. Rechtsgutskonzept und seine Bedeutung für die Strafgesetzgebung
Der bis dahin als Angelpunkt jeder strafbaren Handlung betrachtete Rechtsgutsbegriff hat also plötzlich seine zentrale Stellung innerhalb der Verbrechenslehre verloren und ist insbesondere in den ersten Jahren des nationalsozialistischen Zeitalters unter heftige Kritik geraten947, denn die Vertreter der autoritären Strömung948 im Rahmen der Strafrechtswissenschaft haben in ihm ein von freiheitlichen Gedanken herrührendes, kritisches Potential erkannt949, welches mit ihrer Vision eines Strafrechts, das ausschließlich den totalitären Zwecken eines antidemokratischen Regimes diente, nicht im Einklang stand. Das Rechtsgutskonzept stellte unter diesem Blickpunkt eine „unerwünschte Größe“ im Rahmen des nationalsozialistischen Strafrechtsdogmas dar, deren Existenzberechtigung aus diesem Grund heftig angegriffen wurde950. Trotz dieser offenen Polemik ist es jedoch dem längst im strafrechtswissenschaftlichen Denken angesiedelten Rechtsgutsbegriff schließlich gelungen, sich im dogmatischen Arsenal auch dieser Epoche zu behaupten. Grund dafür waren hauptsächlich die Argumente der positivistischen Schule Marburgs951, welche betonte, dass das Rechtsgut, verstanden als bloßes „Etikett“ des jeweiligen Gesetzeszwecks, im Stande sei, als Inbegriff einer Vielfalt von Zielsetzungen nationalsozialistischen Interesses zu fungieren952. Jedes schutzwürdige Anliegen des autoritären Staates ließe sich unter diesem Blickpunkt unproblematisch zu einem „Rechtsgut“ umwandeln953, dessen Erhaltung dann mit den Mitteln des Strafrechts auch „legitimerweise“ angestrebt werden konnte. Diese Ansicht war darüber hinaus mit der etablierten Grundvorstellung des Verbrechens als Pflichtverletzung ebenfalls leicht zu vereinbaren, da, normativ betrachtet, jede „Pflicht“ die Bewahrung eines für die „Volksgemeinschaft“ wertvollen Belanges bezweckte, welchen man auf terminologischer Ebene auch als „Rechtsgut“ bezeichnen durfte954. Der Rechtsgutsbegriff konnte insofern in einem Zeitalter, welches jeder liberalen Tradition innerhalb des Rechts den Kampf ansagte, nur durch die grundlegende Veränderung seiner Bedeutung und Funktion weiterhin bestehen955. Genauso wie viele andere Rechtsinstitute wurde er seines materiellen Gehalts gänzlich entleert und ist schließlich zu einer rein „logischen Größe“956 herabgesetzt worden, welche 947
Vgl. Sina, Peter, a.a.O. (Fn. 880), S. 70; Amelung, Knut, a.a.O. (Fn. 883), S. 228. Hierzu sind vor allem Dahm und Schaffstein zu zählen, die Repräsentanten der nationalsozialistischen Kieler Schule. Siehe dazu Sina, Peter, a.a.O. (Fn. 880), S. 80 m.w.N. und Amelung, Knut, a.a.O. (Fn. 883), S. 228 f. m.w.N. 949 Vgl. Amelung, Knut, a.a.O. (Fn. 883), S. 228; Sina, Peter, a.a.O. (Fn. 880), S. 80. 950 Siehe dazu Sina, Peter, a.a.O. (Fn. 880), S. 80. 951 Ihren Hauptvertretern sind Schwinge und Zimmerl zuzuzählen. Siehe dazu Sina, Peter, a.a.O. (Fn. 880), S. 79; Amelung, Knut, a.a.O. (Fn. 883), S. 229 a. E. 952 Sina, Peter, a.a.O. (Fn. 880), S. 81. 953 Vgl. Amelung, Knut, a.a.O. (Fn. 883), S. 229 a. E.; Sina, Peter, a.a.O. (Fn. 880), S. 77. 954 Vgl. Amelung, Knut, a.a.O. (Fn. 883), S. 240. 955 Siehe Marx, Michael, a.a.O. (Fn. 922), S. 7. 956 Siehe Sina, Peter, a.a.O. (Fn. 880), S. 69. 948
I. Der historische Ursprung und die Entwicklung des Rechtsgutsdogmas
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dann vom nationalsozialistischen Geist als ein „methodologisches Mittel“ bei dem Versuch benutzt wurde, den grausamen Einsatz des Strafrechts auf dogmatisch „konsistente“ Weise zu legitimieren. Die diesen Zeitraum kennzeichnende Unterdrückung des freien Denkens und der Menschenrechte, die damit verbundene Durchsetzung gesetzgeberischer Willkür, und vor allem die generelle Wendung der Strafrechtspflege und ihrer Strukturen ins Negative stellen jedoch Ereignisse dar, welche den „wahren“, liberal geprägten Gehalt des Rechtsgutsbegriffs letztlich allzu deutlich zu Tage treten lassen. Diese dogmatische Größe war, wie oben bereits erwähnt, in einer Periode, in deren Rahmen jede freiheitsfördernde Institution unterdrückt wurde, Gegenstand heftiger Angriffe, was logischerweise nicht geschehen wäre, hätten die Vertreter der nationalsozialistischen Strafrechtswissenschaft im Rechtsgutskonzept nicht sofort ein potentielles, liberal geprägtes Hindernis für die Zielsetzungen des autoritären Staates erkannt957. Abgesehen davon, spricht für den freiheitlichen Charakter des „Rechtsguts“ auch die Tatsache, dass die dogmatischen Wurzeln dieses Konzepts in einer Epoche zu finden sind, welche vom dringenden Anliegen der Bewahrung des Menschen vor der strafrechtlichen Willkür gekennzeichnet war958. Der liberale Akzent des Begriffs ist des Weiteren im Laufe seiner Entwicklung immer wieder im Vordergrund getreten959, während seine Unterdrückung in gewissen Zeitperioden lediglich auf konkrete politische Ereignissen zurückführen ist, welche den Abbau von freiheitlichen Idealen im Staatswesen generell, und folglich auch in der Strafrechtswissenschaft, bewirkt haben. In Anbetracht dieser Gegebenheiten kann also der Rechtsgutsbegriff insgesamt als eine „Objektivierung“ der freiheitlichen Tendenzen im Strafrecht betrachtet werden960, welche stets zur Eingrenzung der Beliebigkeit des legislatorischen Willens bei der Bestimmung des Verbrechensobjekts aufgefordert haben. Der liberale Gehalt des Rechtsguts konstituiert insofern eins seiner charakteristischsten und wichtigsten Merkmale961, welches, wie die Geschichte deutlich belegt, selbst von den Gegnern des Rechtsgutsdogmas thematisiert wurde.
957 958 959 960 961
Ebd. S. 84. Siehe Marx, Michael, a.a.O. (Fn. 922), S. 16. Ebd. S. 89. Siehe Sina, Peter, a.a.O. (Fn. 880), S. 90. Ebd. S. 90 a. E. f.
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E. Rechtsgutskonzept und seine Bedeutung für die Strafgesetzgebung
II. Das Rechtsgut und seine Funktion in der neueren Zeit – Die Rolle des Grundgesetzes als Bezugspunkt für den Strafgesetzgeber Die Periode nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland war im Gegensatz zum vorherigen Zeitraum generell vom Interesse an der Gestaltung einer freiheitlichen und gerechten Rechtsordnung gekennzeichnet, in deren Rahmen der Mensch und seine Belange im Mittelpunkt stehen962. Der neue status quo rückt die dienende Funktion des Staates deutlich in den Vordergrund, während die Bewahrung des Eigenwertes und der Rechte des Einzelnen nun die erste und oberste Pflicht der öffentlichen Gewalt konstituieren963. Die rasche Veränderung der Sachlage auf politischer Ebene wirkte ihrerseits entscheidend auch auf den Bereich der Strafrechtswissenschaft ein, welche aufgrund der neuen Entwicklungen ihre Dogmatik am freiheitlichen Gehalt des neu entstandenen Grundgesetzes auszurichten versucht hat964. Vor einem derartigen Hintergrund wurde der zuvor als Instrument der Durchsetzung gesetzgeberischer Willkür missbrauchte Güterschutzgedanke von jeder autoritären Deutung endgültig befreit, und das Rechtsgutkonzept erlangte wieder seine frühere, zentrale Stellung innerhalb der Verbrechenslehre. Die weitgehende Einigkeit innerhalb der Theorie bezüglich der fundamentalen Bedeutung des Rechtsgutsbegriffs für das Strafrecht besagt jedoch längst nicht, dass in diesem Zeitraum ebenfalls ein entsprechender Konsens über den Sinngehalt und die genaue Funktion dieser dogmatischen Größe erzielt werden konnte. Die einschlägigen Ausführungen im Rahmen der Literatur haben nämlich an die bereits seit über einen halben Jahrhundert bestehende, höchst kontroverse vorangegangene theoretische Debatte angeknüpft, die sie nun unter Berücksichtigung der Rahmenbedingungen der neuen rechtspolitischen Grundlage fortzuentwickeln versucht haben. Ergebnis dieser Anstrengungen war die Entstehung von zwei divergierenden und bis zum heutigen Tag – mit gewissen wichtigen Revisionen ihrer Standpunkte – immer noch vertretenen Ansätzen im Rahmen der Strafrechtswissenschaft, welche den Inhalt und die Rolle der Rechtsgutsgröße im Strafrecht unter jeweils unterschiedlichen Prämissen zu erklären anstreben. Das erste dogmatische Modell ist streng am positiven Recht orientiert und versucht insofern, sich dem Rechtsgutsbegriff, und damit dem Angelpunkt jeder strafrechtlicher Vorschrift, ausschließlich vom Bezugspunkt des bereits geltenden Systems von Strafnormen her anzunähern965. Danach gilt als „Rechtsgut“ alles, was der Gesetzgeber selbst durch seine Entscheidung zum Gegenstand des strafrechtlichen Schutzes 962
Vgl. Amelung, Knut, a.a.O. (Fn. 883), S. 258 a. E. Ebd. S. 258 a. E. f. 964 Ebd. S. 259. 965 Siehe statt Vieler Suhr, Christian, Zur Begriffsbestimmung von Rechtsgut und Tatobjekt im Strafrecht, in: JA 1990, S. 304. 963
II. Das Rechtsgut und seine Funktion in der neueren Zeit
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erhebt966. Diese dogmatische Größe stellt unter diesem Blickpunkt nichts anderes als ein einfaches „Produkt“ des legislatorischen Willens dar967 und bildet mithin bloß die „zusammenfassende Denkform“ für den „Sinn und Zweck der einzelnen Strafrechtssätze“968. Ein derartiges, oft als „systemimmanent“ bezeichnetes969 Rechtsgutsverständnis knüpft unmittelbar an die Lehre Bindings und Honigs an970 und weist insofern dem Rechtsgutsbegriff lediglich die Funktion eines einfachen „Mittels“ zur teleologischen Auslegung971 und Systematisierung972 der geltenden Strafrechtsordnung zu. Das Rechtsgut unterwirft sich damit dem positiven Normsystem973 und kann dessen „Horizont“ nicht überschreiten974. Der Rechtsgutsbegriff verfügt in diesem Sinne über keine kritische Potenz, und vermag dem Gesetzgeber als Maßstab zur Prüfung seiner Entscheidungen nicht entgegengehalten werden975. Dies öffnet jedoch auf dogmatischer Ebene den Weg zur legislativen Willkür976 und wandelt schließlich das Strafrecht zu einem bloßen Instrument der Verfolgung von politischen Zielsetzungen um977. 966
Ebd. S. 304. Vgl. Suhr, Christian, a.a.O. (Fn. 965), S. 304; Rudolphi, Hans-Joachim, Vor. zu § 1 StGB, in: Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, S. 2, Rn. 4. 968 Siehe Roxin, Claus, Strafrecht AT, S. 14 f., Rn. 4 m.w.N. auf Honig, Richard, a.a.O. (Fn. 931), S. 30; ähnlich auch Gössel, Karl Heinz, Das Rechtsgut als ungeschriebenes strafbarkeitseinschränkendes Tatbestandsmerkmal, in: Festschrift für Oehler, S. 101 (unter 2). 969 Vgl. Hassemer, Winfried, a.a.O. (Fn. 909), S. 19. Andere Autoren bezeichnen wiederum dieses Rechtsgutsverständnis im Rahmen ihrer Werke als methodisches (Roxin, Claus, Strafrecht AT, S. 14, Rn. 4) bzw. methodologisches (Lüderssen, Klaus, Kriminologie, S. 45, Rn. 101), teleologisches (Anastasopoulou, Ioanna, a.a.O., Fn. 881, S. 10 m.w.N.), oder einfach als hermeneutisches (Roxin, Claus, Strafrecht AT, S. 15, Rn. 4). 970 Siehe Hassemer, Winfried, a.a.O. (Fn. 909), S. 42 f. 971 Siehe Roxin, Claus, Strafrecht AT, S. 15, Rn. 4; Müssig, Bernd, Schutz abstrakter Rechtsgüter und abstrakter Rechtsgüterschutz, S. 9; Anastasopoulou, Ioanna, a.a.O. (Fn. 881), S. 10; Suhr, Christian, a.a.O. (Fn. 965), S. 304; Baratta, Alessandro, Jenseits der Strafe – Rechtsgüterschutz in der Risikogesellschaft, in: Strafgerechtigkeit, Festschrift für Kaufmann, S. 393. 972 Siehe Roxin, Claus, Strafrecht AT, S. 15, Rn. 4; Wohlers, Wolfgang, Deliktstypen des Präventionsstrafrechts – zur Dogmatik „moderner“ Gefährdungsdelikte, S. 218; Hassemer, Winfried, a.a.O. (Fn. 909), S. 22; Gössel, Karl Heinz, a.a.O. (Fn. 968), S. 101 (unter 2); Baratta, Alessandro, a.a.O. (Fn. 971), S. 394. 973 Siehe Hassemer, Winfried, a.a.O. (Fn. 909), S. 24. 974 Siehe Müssig, Bernd, a.a.O. (Fn. 971), S. 9. 975 Siehe Marx, Michael, a.a.O. (Fn. 922), S. 14; Wohlers, Wolfgang, a.a.O. (Fn. 972), S. 218 a. E. f.; Stächelin, Gregor, Strafgesetzgebung im Verfassungsstaat, S. 34; Anastasopoulou, Ioanna, a.a.O. (Fn. 881), S. 10. 976 Gegen die „Institutionalisierung“ des Strafrechts und seiner Nutzung als eines „Instruments der Sozialpolitik“ Weigend, Thomas, Bewältigung von Beweisschwierigkeiten durch Ausdehnung des materiellen Strafrechts?, in: Festschrift für Triffterer, S. 708. 977 Zur Kritik des systemimmanenten Rechtsgutskonzepts siehe auch Rudolphi, HansJoachim, a.a.O. (Fn. 967), S. 4, Rn. 8. 967
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E. Rechtsgutskonzept und seine Bedeutung für die Strafgesetzgebung
Der zweite dogmatische Ansatz befürwortet dagegen die Konkretisierung des Rechtsgutsbegriffs anhand des Systems einer vom positiven Strafrecht unabhängigen978 und die wesentlichen Interessen des Menschen verkörpernden Wertordnung979. Das Rechtsgut, und daher auch der schutzwürdige Kern jedes strafrechtlichen Tatbestands, stellt unter diesem Blickpunkt eine Größe dar, welche zwar auf die geltende Strafrechtsordnung rekurriert, deren Inhalt jedoch nicht von dieser, sondern auf der Basis übergeordneter Wertvorstellungen schließlich bestimmt wird980. Daraus folgt, dass die Rechtsgüter nicht erst anhand eines Werturteils des Gesetzgebers geschaffen werden, sondern, dass sie lediglich durch seine positive Entscheidung als taugliche Schutzobjekte der strafrechtlichen Ordnung in diese miteinbezogen werden981. Eine derartige, als „systemtranszendent“ apostrophierte982 Rechtsgutsauffassung lehnt sich dogmatisch an die Theorien Feuerbachs und v. Liszts an983 und legt den Grundstein für eine kritische Betrachtung des geltenden Strafrechtssystems insgesamt984. Denn das Rechtsgut, konzipiert als eine Größe, welche nicht vom legislatorischen Willen ausgeht, sondern ausschließlich auf der Grundlage einer von ihm unabhängigen Wertordnung besteht, erlangt aufgrund seiner Stellung die Potenz, sowohl als Topos für die Beurteilung der Legitimität von bereits geltenden Strafnormen als auch als kritischer Maßstab für die Aufstellung neuer Tatbestände zu fungieren985, und erhält in diesem Sinne generell eine den Strafgesetzgeber einschränkende Rolle986, welcher mithin bei der Erfüllung seiner Aufgabenstellung nicht nach Gutdünken, sondern unter Berücksichtigung eines ihm vorverlagerten Systems vorgehen muss987.
978
Vgl. Stächelin, Gregor, a.a.O. (Fn. 975), S. 33; Rudolphi, Hans-Joachim, a.a.O. (Fn. 923), S. 156 a. E. 979 Siehe Pragal, Oliver, Die Korruption innerhalb des privaten Sektors, S. 94 (unter 3). 980 Vgl. statt Vieler Suhr, Christian, a.a.O. (Fn. 965), S. 304. 981 Siehe Rudolphi, Hans-Joachim, a.a.O. (Fn. 967), S. 3, Rn. 6: „Die Entscheidung des Gesetzgebers beschränkt sich […] darauf, aus dem Kreis der […] möglichen Rechtsgüter jene auszuwählen und im einzelnen festzulegen, die tatsächlich strafrechtlichen Schutz genießen sollen“, sowie Hefendehl, Roland, Kollektive Rechtsgüter im Strafrecht, S. 19: „Der Gesetzgeber entscheidet darüber, ob er ein Gut rechtlich schützen will und damit zum Rechtsgut erhebt“. 982 Siehe Hassemer, Winfried, a.a.O. (Fn. 909), S. 19. Dieses Rechtsgutskonzept wird auch als substanzorientiertes (Lüderssen, Klaus, Kriminologie, S. 45, Rn. 101), systemkritisches (Gössel, Karl Heinz, a.a.O., Fn. 968, S. 101 m.w.N.), und kriminalpolitisches (Roxin, Claus, Strafrecht AT, S. 15, Rn. 5) bezeichnet. 983 Siehe Hassemer, Winfried, a.a.O. (Fn. 909), S. 34 f. 984 Vgl. Suhr, Christian, a.a.O. (Fn. 965), S. 304. 985 Rudolphi, Hans-Joachim, a.a.O. (Fn. 923), S. 158; Baratta, Alessandro, a.a.O. (Fn. 971), S. 393; Stächelin, Gregor, a.a.O. (Fn. 975), S. 33; Suhr, Christian, a.a.O. (Fn. 965), S. 304; Wohlers, Wolfgang, a.a.O. (Fn. 972), S. 219. 986 Vgl. Anastasopoulou, Ioanna, Deliktstypen zum Schutz kollektiver Rechtsgüter, S. 10. 987 Siehe Marx, Michael, a.a.O. (Fn. 922), S. 14 a. E. m.w.N.
II. Das Rechtsgut und seine Funktion in der neueren Zeit
201
Aus der Berücksichtigung des Ursprungs, der historischen Zielsetzung und der entsprechenden Entwicklung des Rechtsgutkonzepts, aus der gesamten Betrachtung des Werdegangs des modernen Rechtsstaates sowie der entsprechenden Etablierung der Prinzipien der Freiheit und der sozialen Gerechtigkeit als Fundamente der heutigen Ordnung, und schließlich aus dem Rang der Ansprüche, über welche der rationale, und mit Wert und Würde versehene Mensch im heutigen, liberal konzipierten Staat verfügt, geht eindeutig hervor, dass unter den zwei geschilderten dogmatischen Positionen das systemtranszendente Verständnis dasjenige ist, welches den Wesensgehalt und die Funktion des Rechtsgutsbegriffs im Ergebnis präziser erfasst hat. Denn ein rein immanent begriffenes Rechtsgutskonzept ist nicht in der Lage, die in einem solchen liberalen Rahmen von ihm erwartete Aufgabe zu erfüllen, als Bezugspunkt für die kritische Betrachtung des geltenden Strafrechtssystems zu fungieren oder vielmehr weiterführende Aussagen darüber zu treffen, ob der Gesetzgeber bestimmte Belange überhaupt strafrechtlich schützen sollte988. Diese Aufgabenstellung vermag tatsächlich nur die sich in den letzten Jahrzehnten innerhalb der Theorie immer weiter verbreitende systemtranszendente Rechtsgutskonzeption zu erfüllen989, welche allerdings weder die Bedeutung des Rechtsgutsbegriffs für die teleologische Auslegung und Präzisierung der Reichweite der einzelnen Tatbestände, noch die Prärogative des Gesetzgebers für die Einbeziehung der Rechtsgüter ins System der positiven Rechtsordnung verkennen dürfte. Die Konkretisierung derjenigen Interessen, Werte, Zustände oder Zwecksetzungen, welche im Rahmen des heutigen, freiheitlichen Rechtsstaates zum „Rechtsgut“ und dadurch auch zum Gegenstand des strafrechtlichen Schutzes erhoben werden können, hat also unter Bezugnahme auf das System einer der Strafgesetzgebung vorgelagerten Wertordnung zu erfolgen, deren axiologischer Gehalt für den legislativen Willen eine feste Richtschnur darstellen soll. Diese Wertordnung, welche im Laufe der historischen Entfaltung des Rechtsgutsbegriffs mannigfaltige Formen angenommen hat990, wird heute in den liberal geprägten Bestimmungen des geltenden Grundgesetzes erblickt991, welches den Einzelnen und seine Belange in den Mittelpunkt sei988
Kritisch zur systemimmanenten Konzeption des Rechtsgutsbegriffs Schünemann, Bernd, Das Rechtsgüterschutzprinzip als Fluchtpunkt der verfassungsrechtlichen Grenzen der Straftatbestände und ihrer Interpretation, in: Die Rechtsgutstheorie, S. 135 f. 989 Zu ihren wichtigsten Verfechtern sind Roxin (Strafrecht AT, S. 16, Rn. 7 f. und „Rechtsgüterschutz als Aufgabe des Strafrechts?“, in: Empirische und dogmatische Fundamente, kriminalpolitischer Impetus, S. 140), Schünemann (siehe etwa seinen gegen die verbreitete strafrechtliche Willkür der letzten Zeit gerichteten Aufsatz, a.a.O., Fn. 988, S. 133 ff.), Rudolphi (a.a.O., Fn. 923, insb. S. 158), Marx (a.a.O., Fn. 922), S. 14 f. und insb. S. 62 f.), und Hassemer (a.a.O., Fn. 909, etwa S. 27 a. E.) zu zählen. 990 Siehe Rudolphi, Hans-Joachim, a.a.O. (Fn. 923), S. 158 (unter IV). 991 Vgl. etwa Rudolphi, Hans-Joachim, a.a.O. (Fn. 923), S. 158: „Solche der Strafgesetzgebung vorgelagerte, gleichwohl aber für sie verbindliche Wertentscheidungen lassen sich […] allein in unserer Verfassung [auffinden]“; Schünemann, Bernd, a.a.O. (Fn. 988), S. 134 a. E.; Roxin, Claus, ursprünglich in nuce in: „Sinn und Grenzen staatlicher Strafe“, JuS 1966, S. 381 f., und dann deutlicher in: Zur Entwicklung der Kriminalpolitik seit den AlternativEntwürfen, in: JA 1980, S. 547, Strafrecht AT, 3. Aufl., Bd. I, S. 15, Rn. 9: „[…] die einzige dem
202
E. Rechtsgutskonzept und seine Bedeutung für die Strafgesetzgebung
nes Interesses setzt und die Werte der Menschenwürde und ihres Korrelats, nämlich der persönlichen Autonomie, zu tragenden Konstitutionsprinzipien der heutigen Rechtsordnung erklärt. In dieser Hinsicht wird also der Strafgesetzgeber bei der Aufstellung von Strafnormen aufgefordert, diese verbindlichen Wertvorgaben des obersten Gesetzes des Staates stets zu beachten, und daher keine Entscheidungen zu treffen, welche unberechtigt, wie im Fall des harten Paternalismus, den Grundlagen der heutigen liberalen Rechtsordnung widersprechen.
III. Die Substanzhaftigkeit des Rechtsguts Die dogmatischen Auseinandersetzungen bezüglich der mannigfaltigen Konturen des Rechtsgutskonzepts gehen jedoch weit über die bisher behandelten Fragen seiner begrifflichen Erfassung und entsprechenden Funktion hinaus und erstrecken sich insofern auch auf eine Vielzahl weiterer noch nicht endgültig geklärter Aspekte dieser Größe. Eine derartige, wichtige Debatte im Rahmen der Rechtsgutsdogmatik, welche schon seit Ende des neunzehnten Jahrhunderts anhält, betrifft das Thema, inwiefern das Rechtsgut, auf dessen Schutz sich das Interesse des Gesetzgebers bezieht, substanzhaften Charakter haben muss992 oder anders formuliert, inwieweit das Rechtsgut als eine „reale Größe“ oder lediglich als eine „gedankliche Abstraktion“ zu begreifen ist. Zu diesem Anliegen wurden innerhalb der Theorie zwei abweichende Auffassungen formuliert, welche jeweils unterschiedliche Anforderungen an die „Beschaffenheit“ dieses zentralen Begriffs des Strafrechts stellen. Die erste dieser Richtungen knüpft die Rechtsgüter unmittelbar an die Idee der „platonischen Universalien“993 an und fasst sie unter diesem Blickpunkt als „ideelle Sozialwerte“994, „gedankliche Gebilde“995 oder ausführlicher als „rechtlich geschütz-
Strafgesetzgeber vorgegebene Beschränkung [liegt] in den Prinzipien der Verfassung“, und Strafrecht AT, 4. Aufl., S. 16, Rn. 7 und S. 42, Rn. 92; Kaiafa-Gbandi, Maria, Ein Blick auf Brennpunkte der Entwicklung der deutschen Strafrechtsdogmatik vor der Jahrtausendwende, S. 268 f. und insb. S. 269: „[…] die strafbarkeitsbeschränkende Funktion des Rechtsguts [speist] sich aus den verfassungsrechtlichen – dem Strafrecht eigenen – Grundsätzen und den Grundrechten […]“; Robbers, Gerhard, Strafpflichten aus der Verfassung, in: Aufgeklärte Kriminalpolitik oder Kampf gegen das Böse?, S. 154 a. E.; Jäger, Herbert, Irrationale Kriminalpolitik, in: Festschrift für Schüler-Springorum, S. 239 a. E. f. und insb. 240; Baumann, Jürgen/Weber, Ulrich/Mitsch, Wolfgang, Strafrecht AT, S. 12, Rn. 12. Merkel, Reinhardt, Strafrecht, S. 297 m.w.N. 992 Siehe Wohlers, Wolfgang, a.a.O. (Fn. 972), S. 223. 993 Siehe Anastasopoulou, Ioanna, a.a.O. (Fn. 986), S. 16 m.w.N. 994 Siehe Wessels, Johannes/Beulke, Werner, Strafrecht AT, S. 3, Rn. 8. 995 Siehe Kaufmann, Arthur, Das Unrechtsbewusstsein in der Schuldlehre des Strafrechts, S. 120; Lenckner, Theodor/Eisele, Jörg, Vor. zu § 13 StGB, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch Kommentar, S. 153, Rn. 9; Blei, Hermann, Strafrecht AT, S. 89 (unter II); Otto, Harro, Grundkurs Strafrecht, S. 6, Rn. 31.
III. Die Substanzhaftigkeit des Rechtsguts
203
te abstrakte Werte der Sozialordnung“996 auf997. Diese „ideelle“ Rechtsgutskonzeption hat ihre Wurzeln in der Doktrin v. Liszts998, und wurde im Laufe der Zeit konsequent durch die Neukantianer fortentwickelt999, bis Mittasch kurz vor der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts in seinem Werk die wesentlichen Erkenntnisse dieser Lehre zusammenfasste und dadurch die Referenzbasis für jeden weiteren Ausbau dieser Position bildete1000. Das Rechtsgut wird im Rahmen dieser Auffassung abseits allen materialistischen Denkens definiert1001 und gilt als eine Größe, welche sinnlich nicht wahrnehmbar, und folglich auch jeder kausalen Veränderung durch das Täterverhalten entzogen ist1002. Die zweite theoretische Strömung lässt sich unmittelbar auf die Gedanken Bindings zurückführen, und ist der neueren Strafrechtswissenschaft zunächst durch die Anstrengungen Dahms1003 und später durch die Lehre Welzels überliefert worden1004. Dieser dogmatische Ansatz identifiziert das Rechtsgut als einen Wert der empirischen Welt1005 und fasst es demzufolge weitgehend als eine „reale Gegebenheit“1006, eine „objektive soziale Realität“1007 oder noch eklatanter als einen „in der Außenwelt verwirklichten […] werthaften Zustand“1008 auf1009 : Die dadurch gestellte 996 Siehe Jescheck, Hans-Heinrich/Weigend, Thomas, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, S. 257 (unter 2) sowie 259 (unter 4). 997 Diese Auffassung bezüglich der Substanzhaftigkeit des Rechtsgutsbegriffs wird auch von weiteren Autoren geteilt, welche dementsprechend die Rechtsgüter als „ideelle Achtungsansprüche“ (Schmidhäuser, Eberhard, Strafrecht AT, S. 37), als „ideelle Sachverhalte“ (Sax, Walter, „Tatbestand“ und Rechtsgutsverletzung, in: JZ 1976, S. 432), oder als „vergeistigten ideellen Wert“ (Baumann, Jürgen/Weber, Ulrich/Mitsch, Wolfgang, Strafrecht AT, S. 15, Rn. 18) bezeichnen. 998 Vgl. diesb. Amelung, Knut, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft, S. 175. Näher dazu Anastasopoulou, Ioanna, a.a.O. (Fn. 986), S. 21 f. 999 Siehe Anastasopoulou, Ioanna, a.a.O. (Fn. 986), S. 22 a. E. f. 1000 Vgl. Amelung, Knut, a.a.O. (Fn. 998), S. 174, 177 und insb. 253. 1001 Vgl. Blei, Hermann, a.a.O. (Fn. 995), S. 89 (unter II). 1002 Siehe Graul, Eva, Abstrakte Gefährdungsdelikte und Präsumtionen im Strafrecht, S. 56 m.w.N.; Anastasopoulou, Ioanna, a.a.O. (Fn. 986), S. 21 m.w.N. 1003 Siehe Amelung, Knut, a.a.O. (Fn. 998), S. 251 f. 1004 Siehe Anastasopoulou, Ioanna, a.a.O. (Fn. 986), S. 17 f., Graul, Eva, a.a.O. (Fn. 1002), S. 44 f. 1005 Siehe Anastasopoulou, Ioanna, a.a.O. (Fn. 986), S. 16 m.w.N. 1006 Siehe Worms, Martin, Die Bekenntnisbeschimpfung im Sinne des § 166 Abs. 1 StGB und die Lehre vom Rechtsgut, S. 65 (unter c). 1007 Vgl. Gössel, Karl Heinz, a.a.O. (Fn. 968), S. 102 m.w.N. 1008 Siehe Roxin, Claus, Täterschaft und Tatherrschaft, S. 413 a. E. 1009 Die Substanzhaftigkeit des Rechtsgutsbegriffs wird auch von anderen Autoren entsprechend aufgegriffen, welche das Rechtsgut als einen „werthaften (schützbaren) Zustand“ (Jäger, Herbert, Strafgesetzgebung und Rechtsgüterschutz bei Sittlichkeitsdelikten, S. 13; Frisch, Wolfgang, An den Grenzen des Strafrechts, in: Beiträge zur Rechtswissenschaft, FS für Stree/Wessels, S. 70), als einen realen Gegenstand oder Zustand körperlicher sowie nicht körperlicher Art (vgl. Binding, Karl, Die Normen und ihre Übertretung, S. 340 unter III, 339
204
E. Rechtsgutskonzept und seine Bedeutung für die Strafgesetzgebung
„Realitätsanforderung“ impliziert ihrerseits nicht, dass die Rechtsgüter sich nur auf „substanzhafte Gegebenheiten“ beziehen können, da ohnehin auch schützwürdige immaterielle Interessen Teilmengen der sozialen „Wirklichkeit“ konstituieren1010. Auf der Basis dieses „realen“ Rechtsgutskonzepts werden demnach die Rechtsgüter als empirische Größen betrachtet, welche durch menschliches Verhalten nachvollziehbar beeinträchtigt werden können1011 und aus diesem Grund auch gedanklich fassbar, realitätsnah und abgrenzungsscharf formuliert werden müssen1012. Geht man, der heutigen herrschenden Meinung gemäß, davon aus, dass die Hauptfunktion des Strafrechts im Rahmen der staatlich organisierten Gesellschaft in der Bewahrung individueller und kollektiver Rechtsgüter vor ihrer kausalen Gefährdung oder Verletzung besteht, so erscheint die „ideelle“ Güterauffassung im Ergebnis jeder rationalen Begründbarkeit entzogen1013. Denn wären die Rechtsgüter überhaupt als „abstrakte Gesinnungswerte“ zu begreifen, dann wären sie auch logischerweise vom unmittelbaren Zugriff des Täterverhaltens effektiv abgeschirmt und würden folglich als verletzungsunanfällige Werte des strafrechtlichen Schutzes nicht bedürfen1014.
a. E. sowie 346; dazu auch Anastasopoulou, Ioanna, a.a.O., Fn. 986, S. 17 m.w.N.; Graul, Eva, a.a.O., Fn. 1002, S. 43 m.w.N.), als einen „erwünschten sozialen Zustand, den das Recht vor Verletzungen schützen will“ (Welzel, Hans, Das deutsche Strafrecht, S. 4 a. E.; ders., Studien zum System des Strafrechts, in: ZStW 58 (1939), S. 509: „[Rechtsgut ist ein] rechtlich geschützter Zustand“. Zur Rechtsgutsauffassung Welzels siehe auch Anastasopoulou, Ioanna, a.a.O., Fn. 986, S. 19 a. E. f. m.w.N.; Graul, Eva, a.a.O., Fn. 1002, S. 44 f.; Amelung, Knut, a.a.O., Fn. 998, S. 187 f.), als einen für „wertvoll befundenen Sachverhalt“ (Köhler, Michael, Strafrecht AT, S. 24, unter 2.2) oder zusammenfassend als einen „durch die Norm geschützten realen Gegenstand/Sachverhalt/Zustand/Prozeß etc.“ (Graul, Eva, a.a.O., Fn. 1002, S. 107, unter IV) beschreiben, und dadurch gleichzeitig das Strafrecht und seine Tatbestände streng an die soziale Wirklichkeit binden; siehe dazu Bettiol, Giuseppe, Das Problem des Rechtsgutes in der Gegenwart, in: ZStW 72 (1960), S. 285 f. (23 f.), Hassemer, Winfried, Theorie und Soziologie des Verbrechens, S. 105 f. 1010 Vgl. dazu Hefendehl, Roland, a.a.O. (Fn. 981), S. 28; Wohlers, Wolfgang, a.a.O. (Fn. 972), S. 225. 1011 Siehe Jäger, Herbert, a.a.O. (Fn. 1009), S. 13; Hefendehl, Roland, a.a.O. (Fn. 981), S. 28 m.w.N.; Wohlers, Wolfgang, a.a.O. (Fn. 972), S. 225 m.w.N. bzw. 229; Worms, Martin, a.a.O. (Fn. 1008), S. 65 (unter c); Anastasopoulou, Ioanna, a.a.O. (Fn. 986), S. 16 (unter 2); Binding, Karl, Handbuch des Strafrechts, S. 170; ders., Die Normen und ihre Übertretung, S. 340 bzw. 364; Welzel, Hans, Das deutsche Strafrecht, § 11 II 2, S. 62. 1012 Vgl. Hassemer, Winfried, Darf es Straftaten geben, die ein strafrechtliches Rechtsgut nicht in Mitleidenschaft ziehen?, in: Die Rechtsgutstheorie, S. 64; Müssig, Bernd, a.a.O. (Fn. 971), S. 52 a. E. m.w.N. Diese Feststellung spielt große Rolle bei der Behandlung der Frage der Zulässigkeit des staatlichen Paternalismus (siehe diesb. Kapitel F. I. 2.). 1013 Vgl. Amelung, Knut, a.a.O. (Fn. 998), S. 175; Müssig, Bernd, a.a.O. (Fn. 971), S. 52 m.w.N. 1014 Siehe Hefendehl, Roland, a.a.O. (Fn. 981), S. 29; Anastasopoulou, Ioanna, a.a.O. (Fn. 986), S. 24 (unter ii); Graul, Eva, a.a.O. (Fn. 1002), S. 56; Amelung, Knut, a.a.O. (Fn. 998), S. 175.
IV. Feststellungen
205
Darüber hinaus würde ein ideelles Rechtsgutsverständnis auch die Tendenz fördern, jeden willkürlich erfassten Allgemeinbegriff ohne Realitätsbezug als „Rechtsgut“ auszugeben1015. Das Strafrecht dient allerdings, wie seine geschichtliche Entwicklung deutlich gezeigt hat, nicht der Bewahrung von bloßen „Abstraktionen“1016. Substanzlose, rein ideelle, und daher auch unverletzliche, „Gebilde“, unvergängliche „Ideen“ oder ewige „Werte“ müssen in dieser Hinsicht aus seinem Schutzfeld ausscheiden1017, und hierin lässt sich des Weiteren auch der Grund dafür erblicken, warum die Erhaltung der geltenden Moral oder sonstiger rein ideeller Wertvorstellungen mit seinen Mitteln nicht legitimerweise verfolgt werden kann1018. Die ideelle Rechtsgutsauffassung wird insofern der Zielsetzung und Funktion des Strafrechts nicht gerecht, und könnte darüber hinaus zum Zweck der Einschleichung bedenklicher Rechtsgüter in die geltende Rechtsordnung missbraucht werden1019. Vorzugswürdig erscheint deswegen ein von der sozialen Wirklichkeit nicht abgehobenes Rechtsgutsverständnis, welches die Schutzgüter als kausalzugängliche Größen der realen Welt begreift, denn erst aus einem derartigen, realitätsbezogenen Konzept lassen sich rationale, die gesetzgeberische Willkür eingrenzende inhaltliche Merkmale der Rechtsgüter konkretisieren, und nur unter diesem Blickpunkt kann die Schutzfunktion des Strafrechts überhaupt Sinn und gesellschaftliche Relevanz erlangen.
IV. Feststellungen Das Rechtsgut gilt heute nach fast einhelliger Meinung zugleich als zentrale Gestalt und eigentlicher Legitimationsgrund des modernen Strafrechts. Die Entstehung und Entfaltung dieses Konzepts zu seiner gegenwärtigen Form stellen das Ergebnis eines längeren und oft mit Hindernissen verbundenen Entwicklungsprozesses im Rahmen der Strafrechtswissenschaft dar, welchem das Anliegen einer zuverlässigen Konkretisierung des materiellen Kerns jeder strafbaren Handlung und insbesondere einer Eingrenzung der gesetzgeberischen Willkür bei der Aufstellung von neuen Tatbeständen zu Grunde lag. Diese Aufgabenstellung erfüllt heute das Rechtsgut durch seine systemtranszendente Funktion, welche den Gesetzgeber bei der Ausübung seiner Tätigkeit zur Be1015
Siehe Roxin, Claus, Strafrecht AT, S. 34, Rn. 67. Vgl. Amelung, Knut, a.a.O. (Fn. 998), S. 176; Anastasopoulou, Ioanna, a.a.O. (Fn. 986), S. 26 a. E. 1017 Vgl. Hefendehl, Roland, a.a.O. (Fn. 981), S. 29 a. E.; Anastasopoulou, Ioanna, a.a.O. (Fn. 986), S. 26 a. E. 1018 Siehe statt Vieler Wohlers, Wolfgang, a.a.O. (Fn. 972), S. 227. Deswegen ist die Heranziehung von Argumenten moralischen Rangs, um der Zielsetzung der paternalistischen Doktrin den Anschein der Legitimität zu verleihen, durchaus verfehlt (siehe diesb. Kapitel F. I. 3. – 4.). 1019 Siehe auch Anastasopoulou (a.a.O., Fn. 986), S. 25 a. E. f., welche zusätzliche strafrechtsdogmatische Argumente gegen eine ideelle Rechtsgutsauffassung anführt. 1016
206
E. Rechtsgutskonzept und seine Bedeutung für die Strafgesetzgebung
rücksichtigung der Grundsatzentscheidungen der Werteordnung des geltenden, auf den Respekt vor Eigenwert und Autonomie des Einzelnen gerichteten Grundgesetzes auffordert und ihm dadurch einen festen normativen Rahmen für die Gestaltung seines Willens vorschreibt. Darüber hinaus muss der Gesetzgeber nach verbreiteter Ansicht bei der Konkretisierung derjenigen individuellen oder kollektiven Belange, welche zu Rechtsgütern und folglich auch zum Gegenstand des strafrechtlichen Schutzes erhoben werden sollen, immer sich vor Augen halten, dass die Rechtsgüter keine rein ideellen, unverletzlichen Gebilde, sondern reale, kausal zugängliche empirische Größen darstellen, welche aus diesem Grund stets gedanklich fassbar, realitätsnah und abgrenzungsscharf formuliert werden müssen. Das Rechtsgutskonzept stellt sich also im Rahmen der heutigen Strafrechtswissenschaft als ein wichtiges methodologisches Werkzeug zum Zweck der Festlegung der Legitimität sowohl vorhandener als auch neu zu schaffender Tatbestände dar und fungiert insofern als der dogmatische Maßstab, an welchem sich die Entscheidungen des Gesetzgebers innerhalb eines liberal konzipierten Staates im Ergebnis messen lassen müssen. Aus diesen Gründen spielt der Rechtsgutsbegriff, wie noch zu zeigen ist, eine maßgebende Rolle, sowohl bei der Beurteilung der Frage, inwieweit die paternalistische Förderung des Eigenwohls einer Person zum tauglichen Objekt des strafrechtlichen Schutzes erhoben werden darf, als auch bei der kritischen Würdigung des legitimen Charakters all derjenigen „Belange“ und „Interessen“, welche die paternalistischen Normen – wie schon anfangs angedeutet1020 – oft als „Vorwand“ zur Verdeckung ihrer wahren Zielsetzung, nämlich des Schutzes des Menschen vor sich selbst, verwenden.
1020
Siehe Kapitel A. I. und insb. A. III.
F. Die Beurteilung der paternalistischen Doktrin im Lichte des liberalen Staates Die bisherige historische, philosophische und rechtliche Analyse des Werdegangs des modernen, demokratischen Staates hat eindeutig die liberale und vor allem anthropozentrische Orientierung der geltenden Rechtsordnung gezeigt. Das mit Würde und Rechten versehene, rationale Individuum steht heute im Mittelpunkt des Gemeinwesens, welches durch seine Institutionen für die Bewahrung der Belange und die ungehinderte Förderung der mannigfaltigen Interessen seiner Bürger zu sorgen hat. Vor einem derartigen, freiheitlich geprägten Hintergrund kommt dem Strafrecht als dem schärfsten Mittel im öffentlichen Instrumentarium die fundamentale Rolle zu, alle Gegebenheiten und Zwecksetzungen zu schützen, welche für die freie Entfaltung des Einzelnen, die Verwirklichung seiner von der Rechtsordnung garantierten Grundrechte sowie das Funktionieren eines auf dieser Zielvorstellung aufbauenden gesellschaftlichen und staatlichen Systems notwendig sind1021. In diesem Rahmen erscheint also die in den letzten Jahrzehnten steigernde Tendenz des Gesetzgebers, Tatbestände zu schaffen, welche entweder implizit oder sogar offensichtlich dem Zweck verfolgen, den Einzelnen vor sich selbst zu schützen, als ein äußerst problematisches Phänomen, welches zu den Grundzügen der heutigen, auf dem Respekt des Eigenwertes und der Autonomie des Einzelnen gerichteten Rechtsordnung im Gegensatz steht. Beurteilungsversuche der paternalistischen Doktrin können allerdings aufgrund der unterschiedlichen Zwecksetzung und gesellschaftlichen Funktion ihrer zwei fundamentalen Ausprägungen im Strafrecht, nämlich des harten und weichen Paternalismus, nicht einheitlich vorgenommen werden, weswegen im Folgenden die Frage ihrer Zulässigkeit jeweils gesondert zu behandeln ist.
I. Die Unvertretbarkeit des harten strafrechtlichen Paternalismus Der hart paternalistische Ansatz im Strafrecht, nämlich die Bewahrung selbst eines mündigen Individuums vor den Folgen seiner freiwillig getroffenen Entscheidungen durch die Knüpfung einer Sanktion an sein entsprechendes Verhalten, stellt sowohl in seiner direkten als auch in seiner indirekten Erscheinungsvariante die harscheste und invasivste Form dieser Doktrin dar. Die dogmatische Grundposition des 1021
Siehe Roxin, Claus, Strafrecht AT, S. 16, Rn. 7.
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F. Beurteilung der paternalistischen Doktrin im Lichte des liberalen Staates
harten Paternalismus, genauso wie die von ihm zur Verdeckung seiner wahren Zielsetzung oft herangezogenen Argumente können im Rahmen des heutigen Strafrechts keinen legitimen Platz für sich beanspruchen, denn sie geraten, wie anschließend zu zeigen ist, mit einer Reihe von fundamentalen Erkenntnissen der Strafrechtswissenschaft sowie mit der heutigen Zwecksetzung und Funktion des Strafrechts innerhalb der modernen Gesellschaft in offensichtlichen Widerspruch.
1. Die Wertordnung des Grundgesetzes als normativer Maßstab der Strafgesetzgebung Die Schaffung eines festen Systems von Straftatbeständen, welches durch seine Funktion die notwendigen Bedingungen für die individuelle Entwicklung der Bürger sowie die Sicherstellung des dafür benötigten sozialen Raums vor rechtswidrigen Beeinträchtigungen garantiert, wird heute zu Recht als eine der wichtigsten Voraussetzungen für das Fortbestehen jedes liberal geprägten Staates betrachtet. Die mannigfaltigen Anforderungen und die zugestandene Komplexität dieser Aufgabenstellung, welche die Berücksichtigung vieler unterschiedlicher Faktoren auf verschiedenen Ebenen erfordert, setzt jedoch letztlich voraus, dass der zur Realisierung dieser Zwecksetzung ermächtigte parlamentarische Gesetzgeber über eine weite Einschätzungs- und Entscheidungsprärogative verfügt1022, welche ihm die zur Erfüllung seines Auftrags unentbehrliche normative Möglichkeit gewährt, nach eigenem Ermessen zu beurteilen, was zum Gegenstand strafrechtlichen Schutzes grundsätzlich erhoben werden sollte1023. Diese Freiheit ist allerdings, wie die Entfaltung des Strafrechts und seines Dogmas in der neueren Zeit deutlich gezeigt hat1024, nicht unbegrenzt. Der legislative Wille hat in dieser Hinsicht heute bei der Konkretisierung derjenigen Interessen, Belange und Zwecksetzungen, welche als „Rechtsgüter“ im Rahmen des heutigen Staates strafrechtlich zu bewahren sind, nach systemtranszendentem Verständnis1025 die prinzipiellen Gebote des Systems einer der Strafgesetzgebung vorverlagerten Wertordnung, derjenigen des geltenden Grundgesetzes, zu beachten, deren axiologischer Gehalt nach verbreiteter Meinung innerhalb der Strafrechtswissenschaft1026 für die Strafgesetzgebung den obersten Maßstab konstituiert. Diese Wertordnung positioniert ihrerseits den Menschen und seine Belange im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses und erblickt sowohl in seiner innewohnenden Würde als auch in ihrem entsprechenden Korrelat, nämlich denjenigen der persönli1022
Vgl. dazu statt Vieler Appel, Ivo, Verfassung und Strafe, S. 182; Murmann, Uwe, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, S. 275 m.w.N. 1023 Ebd. S. 182; Vogel, Joachim, Strafrechtsgüter und Rechtsgüterschutz durch Strafrecht im Spiegel der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: StV 1996, S. 112 (unter c). 1024 Siehe Kapitel E. I. und insb. E. 2. 1025 Dazu Kapitel E. 2. 1026 Siehe Kapitel E. 2., insb. Fn. 991.
I. Die Unvertretbarkeit des harten strafrechtlichen Paternalismus
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chen Autonomie, die tragenden Konstitutionsprinzipien des modernen Staates, welche in dieser Hinsicht einen besonderen Stellenwert erlangen. Die Schaffung von Tatbeständen, welche entweder explizit oder unter dem „Vorwand“ diffuser Belange der Allgemeinheit, der Erhaltung der geltenden Moral oder sonstiger strafrechtsdogmatisch unzulässiger Zwecksetzungen1027 die Einschränkung der Selbstbestimmung durch die strafbewehrte Auferlegung des Schutzes mündiger Individuen vor den Folgen ihrer freiwillig getroffenen Entscheidungen fördern, konstituiert insofern eine eindeutige Missachtung der eigentlichen Fundamente der heutigen liberalen Rechtsordnung, und stellt ein Vorgehen dar, welches jeder rechtlichen und rationalen Begründbarkeit entzogen ist: Der harte strafrechtliche Paternalismus erweist sich also als eine inhärent problematische Doktrin, welche aufgrund ihrer unberechtigten Kollision mit grundlegenden Werten der geltenden Rechtsordnung keinen normativen Platz im heutigen Staat für sich beanspruchen kann. 2. Die Ausscheidung reiner Abstraktionen aus dem Schutzfeld des Strafrechts Die vom harten strafrechtlichen Paternalismus häufig angewandte Strategie, sein wahres Anliegen durch die Heranziehung weiterer, „unbedenklicher“ Zielsetzungen zu verschleiern, macht es für jeden systematischen Versuch, diese Doktrin dogmatisch zu dekonstruieren, erforderlich, sich nicht nur mit der Aufdeckung der inhärenten Unvereinbarkeit des harten Paternalismus mit den fundamentalen Entscheidungen der für das Strafrecht und seine Funktion richtungsweisenden Wertordnung des geltenden Grundgesetzes zu befassen, sondern auch den strafrechtlich unzulässigen Charakter der vagen überindividuellen Belange und sonstiger Abstrakta aufzuzeigen, mit deren Hilfe die paternalistische Doktrin oft ihrer Zwecksetzung den Anschein der Legitimität zu verleihen versucht: Kennzeichnend ist in diesem Sinne der Fall des Betäubungsmittelgesetzes, in dessen Rahmen das Anliegen, mündige Bürger vor ihren freiwilligen Entscheidungen zu bewahren, vom Paternalismus durch die Aufstellung des kollektiven „Rechtsguts“ der Volksgesundheit kaschiert wird1028 ; bei der Lebendspende von Organen wird dasselbe Ergebnis durch die generelle Heranziehung von „legitimen Gründen des Allgemeinwohls“ erzielt1029, während schließlich bei der Konstellation der aktiven Sterbehilfe zum gleichen Zweck der vage Appell an ein bestehendes „allgemeines Gesellschaftsinteresse“ an der Erhaltung des individuellen Lebens formuliert wird1030. 1027 Zur kritischen Betrachtung dieser vom Paternalismus oft herangezogenen Kategorien siehe unten unter 2. – 4. 1028 Siehe dazu Kapitel A. III. 1. 1029 Näheres in Kapitel A. III. 3. 1030 Siehe Kapitel A. III. 2. Des Weiteren ist auch beim Fall des § 228 StGB ganz abstrakt von der Notwendigkeit der Abwendung von „gemeinschaftsschädlichen Eingriffen“ die Rede (siehe Kapitel A. III. 5.).
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F. Beurteilung der paternalistischen Doktrin im Lichte des liberalen Staates
Die paternalistische Doktrin verkennt allerdings durch den Rekurs auf derartige „Wertkonstrukte“ die Tatsache, dass die Rechtsgüter als bewahrter materieller Kern jedes Tatbestands und zugleich als Legitimationsgrundlage des Strafrechts reale Größen der empirischen Welt konstituieren, welche insofern gedanklich fassbar, realitätsnah und abgrenzungsscharf formuliert werden müssen. Die aufgeführten „Begrifflichkeiten“ stellen stattdessen Gebilde höchster Allgemeinheit dar, welche besonders vag und großflächig konzipiert1031 und daher auch jeder beliebigen Interpretation offen sind1032. Deswegen weisen sie keinen konkreten schutzwürdigen Gehalt auf1033, bleiben rational weitgehend unbegründbar1034 und können letztlich nicht zum Gegenstand des strafrechtlichen Schutzes erhoben werden1035. Die vom Paternalismus zur „Kaschierung“ seines wahren Anliegens aufgeführten Abstraktionen können also im modernen liberalen Staat keinen legitimen Platz für sich beanspruchen. Sie stellen in ihrer Gesamtheit vage, und insofern für ihre Erhebung zu Rechtsgütern auch ungeeignete Zielsetzungen dar, welche das Strafrecht unzulässigerweise zum bloßen Instrument der Bewahrung von Generalisierungen umwandeln, und deren Schaffung keinem logisch fassbaren Zweck, sondern ausschließlich den beliebigen Vorstellungen des legislativen Willens zu dienen bestimmt ist. Der Einsatz des Strafrechts soll allerdings innerhalb des heutigen liberal geprägten Staates stets auf die Bewahrung konkreter Belange des Einzelnen und eines am Menschen orientierten sozialen Systems gerichtet sein, nicht jedoch auf Durchsetzung legislativer Willkür. Die im Interesse der Förderung der individuellen Wohlfahrt geschaffenen „Scheingüter“ sind also im Ergebnis aus dem strafrechtlichen Schutzfeld auszu1031 Vgl. Hassemer, Winfried, Symbolisches Strafrecht und Rechtsgüterschutz in: NStZ 1989, S. 557; ebd., Rauschgiftbekämpfung durch Rauschgift?, in: JuS 1992, S. 113; Anastasopoulou, Ioanna, Deliktstypen zum Schutz kollektiver Rechtsgüter, S. 270. 1032 Vgl. Hassemer, Winfried, Rauschgiftbekämpfung durch Rauschgift?, in: JuS 1992, S. 113; Köhler, Michael, Freiheitliches Rechtsprinzip und Betäubungsmittelstrafrecht, in: ZStW 104 (1992), S. 28; Hörnle, Tatjana, Grob anstössiges Verhalten, S. 88; Bauer, Christine, Heroinfreigabe, S. 57. 1033 Vgl. Anastasopoulou, Ioanna, a.a.O. (Fn. 1031), S. 270 f.; Klimpel, Paul, Bevormundung oder Freiheitsschutz?, S. 189; Köhler, Michael, a.a.O. (Fn. 1031), S. 27 a. E. f. 1034 Vgl. Köhler, Michael, Rechtsgut, Tatbestandsstruktur und Rechtswidrigkeitszusammenhang, in: MDR 1992, S. 739. 1035 Die Kritik richtet sich im Rahmen der Theorie hauptsächlich gegen den unzulässigen Charakter des Schutzgutes „Volksgesundheit“. Dieselben Argumente sind allerdings auch für die Diskussion zur Lebendspende von Organen und zur aktiven Sterbehilfe ebenfalls einschlägig. Bezüglich des Schutzgutes „Volksgesundheit“ wird des Weiteren innerhalb der Literatur auch oft der Einwand erhoben, dass dieses „kollektive Rechtsgut“ keine eigene Substanz hat, da es eigentlich nichts anderes als die summenmäßige Anhäufung der Gesundheit der einzelnen Gesellschaftsmitglieder darstellt; vgl. dazu Anastasopoulou, Ioanna, a.a.O. (Fn. 1031), S. 270; Köhler, Michael, a.a.O. (Fn. 1034), S. 739; Hörnle, Tatjana, a.a.O. (Fn. 1032), S. 88; Schünemann, Bernd, Das Rechtsgüterschutzprinzip als Fluchtpunkt der verfassungsrechtlichen Grenzen der Straftatbestände und ihrer Interpretation, in: Die Rechtsgutstheorie, S. 146; Wohlers, Wolfgang, Deliktstypen des Präventionsstrafrechts – zur Dogmatik „moderner“ Gefährdungsdelikte, S. 191. Zur Kritik des „Rechtsguts“ Volksgesundheit siehe auch Roxin, Claus, Strafrecht AT, S. 28, Rn. 46 und S. 34 f. (unter h).
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scheiden und dadurch wird der paternalistischen Doktrin einer ihrer wichtigsten argumentativen Topoi entzogen, mit dessen Hilfe sie ihre Präsenz in der geltenden Rechtsordnung bis heute zu rechtfertigen vermochte1036. 3. Die Unzulässigkeit der Auferlegung der geltenden Moral durch das Strafrecht Eine weitere Methode, welche der harte strafrechtliche Paternalismus zur Vermeidung der gegen ihn erhobenen Kritik oft einsetzt, besteht in der Verschleierung seiner eigentlichen Zielsetzung durch den Vorwand des „Schutzes der geltenden Moral“. Diese Vorgehensweise lässt sich charakteristisch im Fall des § 228 StGB veranschaulichen, in dessen Rahmen die paternalistisch motivierte Eingrenzung der Einwilligungsfreiheit in erster Linie durch den vagen Appell an die „Notwendigkeit“ der Bewahrung der „sozialethischen Wertvorstellungen“ der heutigen Gesellschaft kaschiert wird1037. Die paternalistische Doktrin verkennt allerdings dabei wiederum, dass die Aufgabe des modernen Strafrechts ausschließlich im Schutz von Rechtsgütern besteht, worunter nach überwiegender Ansicht etwas Reales und nicht substanzlose ideelle Werte verstanden werden sollten1038. Die geltende Moral lässt sich dagegen als ein Zusammenschluss von Regeln rein sittlicher Natur auffassen, welche lediglich auf die ethische Vervollkommnung der Menschen abzielen. Dem Anliegen dieser Moral fehlt in Anbetracht ihres nur mittelbaren Bezugs auf die soziale Wirklichkeit eine wesentliche Eigenschaft für ihre Qualifizierung zu einem Rechtsgut, weshalb sie letztlich nicht zum schutzwürdigen Teil der auf die Erhaltung der realen Interessen der Menschen gerichteten Strafrechtsordnung erhoben werden kann. Für diese Auffassung spricht darüber hinaus auch die Tatsache, dass die Moral, als verletzungsunanfälliger, entmaterialisierter Begriff, jedem kausalen Zugang durch das Täterverhalten entzogen ist, was ihre Bewahrung durch das schärfste Mittel im staatlichen Instrumentarium überflüssig macht1039. Des Weiteren zählt die Ansicht, dass die ethische Verwerflichkeit eines Verhaltens generell nicht im Stande ist, eine Strafdrohung zu rechtfertigen, zu den gesicherten
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Auch der Versuch, den harten strafrechtlichen Paternalismus im Fall des § 216 StGB mit Hilfe des „Dammbrucharguments“ zu rechtfertigen, muss den hier formulierten Richtlinien zufolge scheitern; denn die bloße „Befürchtung“, dass im Fall der rechtlichen Billigung der aktiven Sterbehilfe eine kaum mehr aufzuhaltende, „Lawine“ angebahnt wird, kann legitimerweise nicht zu einem Rechtsgut, und insofern auch nicht zum Gegenstand des strafrechtlichen Schutzes, erhoben werden. Kritisch auch Murmann, Uwe, a.a.O. (Fn. 1022), S. 280 f. m.w.N. 1037 Siehe dazu Kapitel A. III. 5. 1038 Vgl. Wohlers, Wolfgang, a.a.O. (Fn. 1035), S. 227; siehe auch Kapitel E. 3. 1039 Vgl. Roxin, Claus, Strafrecht AT, S. 34, Rn. 67; Hefendehl, Roland, Kollektive Rechtsgüter im Strafrecht, S. 29 a. E.; Anastasopoulou, Ioanna, a.a.O. (Fn. 1031), S. 26 a. E.
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F. Beurteilung der paternalistischen Doktrin im Lichte des liberalen Staates
Grundlagen der neueren Strafrechtswissenschaft1040. Der moderne, liberal geprägte Staat darf in dieser Hinsicht seine Zwangsgewalt zum Zweck der Durchsetzung einer transzendenten Normenordnung nicht anwenden und ist darüber hinaus positiv verpflichtet, bei der Schaffung von strafrechtlichen Tatbeständen sich auf rein weltliche und reale Zielsetzungen zu beschränken1041. Die Befolgung eines Systems sittlicher Regeln erweist sich in diesem Sinne als ein Anliegen, welches ausschließlich der Prärogative des mündigen Bürgers obliegt, während die Rolle der öffentlichen Gewalt dabei lediglich darin bestehen kann, den für die Entfaltung der individuellen ethischen Vorstellungen notwendigen freien Raum zu garantieren1042: Eine von diesem Konzept abweichende Ansicht würde den Prinzipien der heutigen, auf dem Respekt vor dem individuellen Willen beruhenden Rechtsordnung praktisch widersprechen1043 und würde darüber hinaus auch jedes Mitglied der Gesellschaft letztlich dazu zwingen, die ethischen Vorstellungen der jeweiligen Mehrheit zu teilen1044, ein Zustand, der sich mit Verhältnissen früherer, längst überwundener Zeiten identifizieren lässt. Der inhärent problematische Charakter der Einbeziehung von moralischen Erwägungen in das Strafrecht wird schließlich auch von der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichthofs zum § 228 StGB thematisiert1045. Das Gericht hat in dieser Hinsicht im Rahmen von zwei Entscheidungen, welche die Beurteilung der Wirksamkeit einer Einwilligungserklärung zur Fremdinjektion von Drogen im ersten Fall1046 und zur Durchführung abweichender Sexualpraktiken im zweiten Fall1047 zum Gegenstand hatten, in Abkehr von seiner bisherigen Position zu Recht eingesehen, dass sein überkommenes Abstellen auf die bloße Unsittlichkeit des Tatzwecks und der damit verbundenen Beweggründe der Beteiligten nicht stichhaltig war1048, und hat 1040 Vgl. statt Vieler Roxin, Claus, a.a.O. (Fn. 1039), S. 19, Rn. 17; Amelung, Knut, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft, S. 320 en fin; Marx, Michael, Zur Definition des Begriffs ,Rechtsgut, S. 84 m.w.N.; Sternberg-Lieben, Detlev, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, S. 362; Schünemann (Das Rechtsgüterschutzprinzip als Fluchtpunkt der verfassungsrechtlichen Grenzen der Straftatbestände und ihrer Interpretation, in: Die Rechtsgutstheorie, S. 144) bemerkt zutreffend, dass moralische Anschauungen aufgrund ihrer kennzeichnenden Wandelbarkeit ungeeignet sind, als sichere Basis für die Schaffung von strafrechtlichen Tatbeständen zu fungieren. 1041 Vgl. dazu insb. Hefendehl, Roland, a.a.O. (Fn. 1039), S. 51, Amelung, Knut, a.a.O. (Fn. 1040), S. 320; Sternberg-Lieben, Detlev, a.a.O. (Fn. 1040), S. 362 m.w.N. 1042 Siehe dazu Marx, Michael, a.a.O. (Fn. 1040), S. 84 a. E. f. m.w.N. 1043 Vgl. Hefendehl, Roland, a.a.O. (Fn. 1039), S. 52. 1044 Vgl. Murmann, Uwe, a.a.O. (Fn. 1022), S. 304. 1045 Siehe dazu BGHSt. 49 (Urteil v. 11. 12. 2003), S. 34 f. (auch abgedruckt in: NJW 2004, S. 1054 f.) sowie BGHSt. 49 (Urteil v. 26. 5. 2004), S. 166 f. (auch abgedruckt in: NJW 2004, S. 2458 f.). 1046 BGHSt. 49 (Urteil v. 11. 12. 2003), S. 34 f. 1047 BGHSt. 49 (Urteil v. 26. 5. 2004), S. 166 f. 1048 Vgl. dazu BGHSt. 49 (Urteil v. 11. 12. 2003), S. 42 f.; BGHSt. 49 (Urteil v. 26. 5. 2004), S. 170 f.
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deswegen in einer nahezu revolutionären Neuorientierung seiner Stellung darauf gewiesen, dass jede einschlägige Erwägung auf der Basis der Intensität und der konkreten Gefährlichkeit des Handlungserfolgs für den Disponierenden geschehen muss1049. Der Einsatz von objektiven Maßstäben bei der richterlichen Würdigung derartiger Konstellationen gestattet auf normativer Ebene eindeutig festzustellen, dass ethische Wertvorstellungen generell ungeeignet sind, als Grundlage für strafrechtliche Erwägungen zu fungieren, und akzentuiert die Einsicht, dass das Strafrecht als Mittel der Erhaltung der wesentlichen Belange des Menschen sich nicht auf die Moral beziehen soll. Die Bewahrung ethischer Gebote durch die Auferlegung von Sanktionen erweist sich insofern als ein Anliegen, welches sich mit der Orientierung und Funktion des modernen Strafrechts schwer vereinbaren lässt. Die Moral wird sowohl auf dem Niveau der Dogmatik als auch auf der Ebene der Rechtsanwendung mit Bedenken konfrontiert und lässt sich generell mit älteren Konzeptionen über das eigentliche Ziel und die Grenzen der staatlichen Zwangsgewalt verbinden. Die hart paternalistische Doktrin kann unter diesem Blickpunkt in der geltenden Ethik kein stichhaltiges Argument zur Rechtfertigung ihrer Normen finden, und verliert in dieser Hinsicht einen weiteren Stutzpunkt beim Versuch, ihre Existenz im Rahmen des heutigen Strafrechts rational zu begründen. 4. Die Ausgrenzung des Tabuschutzes aus dem Interessenbereich des modernen Strafrechts Die letzte Fassade, hinter welcher der harte strafrechtliche Paternalismus seine Zwecksetzung häufig zu verbergen sucht, bildet die angebliche Bewahrung von im Bewusstsein der Bevölkerung fest angesiedelten Wertvorstellungen, welche in ihrer Gesamtheit die „Tabus“ eines gesellschaftlichen Raums konstituieren. In diesem Sinne wird die gesetzgeberische Ablehnung der aktiven Sterbehilfe im § 216 StGB unter anderem durch die ratio berechtigt, dass dieses Verbot auch der Bewahrung des in der Volksanschauung tief verwurzelten Prinzips der „Unzugänglichkeit des fremden Lebens“ dient1050. In ähnlicher Hinsicht sollen die Bestimmungen des § 228 StGB neben der Erhaltung streng moralischer Werte und anderer Belange auch den Schutz von „fest verankerten Kulturnormen und sozialen Gesinnungswerten“ zum Ziel haben1051; und letztlich lässt sich der Grund für das Verbot des Inzests gemäß § 173 StGB, wie die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
1049 Siehe BGHSt. 49 (Urteil v. 11. 12. 2003), S. 42; BGHSt. 49 (Urteil v. 26. 5. 2004), S. 171 (unter b); Wessels, Johannes/Beulke, Werner, Strafrecht AT, S. 132, Rn. 377; Paeffgen, Hans-Ullrich, § 228 StGB, in: Nomos Kommentar, S. 4014, Rn. 41; Rönnau, Thomas, Vor. § 32 StGB, in: Leipziger Kommentar, S. 184, Rn. 190. Für eine ausführliche Analyse beider Entscheidungen siehe Roxin, Claus, Strafrecht AT, S. 566, Rn. 62 f. 1050 Siehe dazu Kapitel A. III. 1051 Siehe diesb. Kapitel A. III. 5.
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jüngst1052 eindeutig belegt hat, auch in die Erhaltung von kulturhistorisch gefestigten Volksüberzeugungen und eines in der Gesellschaft längst vorhandenen Unrechtsbewusstseins bezüglich derartiger abweichender Verhaltensweisen lokalisieren1053. Gegen derartige Überlegungen lässt sich jedoch stichhaltig einwenden, dass der Aufbau oder die Bewahrung eines gesellschaftlichen Konsenses über bloßer „Wertschätzungen“ und sonstiger „Überlieferungen“ nicht das unmittelbare Ziel einer Strafnorm im Rahmen des heutigen, auf den Vernunftsprinzipien des geltenden Grundgesetzes beruhenden Staates konstituieren kann1054 ; Zwecksetzungen dieser Art sind nämlich nach dem modernen Rechtsverständnis nicht in der Lage, einen ausreichenden Grund für die Legitimation einer Strafandrohung per se darzustellen1055. Die Heranziehung solcher Vorstellungen zur Eingrenzung der individuellen Freiheit würde darüber hinaus auch einen eindeutigen dogmatischen Rückschritt zu einem früheren, von den aktuellen Verhältnissen weit entfernten Reflexions- und Wissensniveau bedeuten1056, welches als Basis für die Ableitung der Aufgaben der heutigen Strafgesetzgebung nicht geeignet ist1057. Schließlich arbeiten Tabunormen mit Sinnund Sanktionsstrategien, welche mit den grundlegenden Geboten des geltenden rechtlichen Systems generell nicht im Einklang stehen1058, und können im Endeffekt aufgrund ihrer Beschaffenheit den Anforderungen an die Zweckrationalität1059 des legislativen Willens ebenfalls nicht genügen. Der Schutz von kulturhistorisch begründeten gesellschaftlichen Überzeugungen und sonstigen überlieferten Anschauungen kann also mit den Mitteln des modernen Strafrechts nicht legitimerweise verfolgt werden; denn Tabus – als gegen bestimmte „verächtliche“ Verhaltensweisen gerichtete soziale Verbote – und strafrechtliche 1052
Siehe BVerfG Beschl. v. 26. 2. 2008 (Geschwisterbeischlaf), in: BVerfGE 120, 224 f. (auch abgedruckt in: NJW 2008, S. 1137 f.). 1053 Vgl. BVerfGE 120, 224 (248, unter dd), auch in: NJW 2008, S. 1140, Rn. 50. 1054 Siehe die abweichende Meinung Hassemers zum BVerfG Beschl. v. 26. 2. 2008 in: BVerfGE 120, 224 (264), abgedruckt auch in: NJW 2008, S. 1144, Rn. 100. 1055 Vgl. Noltenius, Bettina, Grenzenloser Spielraum des Gesetzgebers im Strafrecht?, in: ZJS 2009, S. 19. 1056 Vgl. Hörnle, Tatjana, Das Verbot des Geschwisterinzests – Verfassungsrechtliche Bestätigung und verfassungsrechtliche Kritik, in: NJW 2008, S. 2088. 1057 Vgl. Roxin, Claus, Zur Strafbarkeit des Geschwisterinzests, in: StV 2009, S. 548 (unter 2); Hassemer, Winfried, BVerfGE 120, 224, (257 a. E. f.), abgedruckt auch in: NJW 2008, S. 1143, Rn. 81. 1058 Siehe Zabel, Benno, Die Grenzen des Tabuschutzes im Strafrecht, in: JR 2008, S. 457 (unter IV). 1059 Siehe Hörnle, Tatjana, Grob anstössiges Verhalten, S. 109 a. E. f.; Kindhäuser, Ulrich, Strafe, Strafrechtsgut und Rechtsgüterschutz, in: Modernes Strafrecht und ultima-ratio-Prinzip, S. 35: „Normen, die […] nur mit Blick auf ihre kollektive Nützlichkeit begründbar sind, können in ihrer Geltung nicht durch Strafe gesichert werden“; Zabel, Benno, a.a.O. (Fn. 1058), S. 457 (unter IV). Zabel bemerkt des Weiteren am gleichen Ort zutreffend, dass die einst für den Bestand und die Struktur einer Gesellschaft stabilisierende Funktion der Tabus heute durch andere, effektivere Mechanismen ersetzt worden ist.
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Tatbestände – als an der Bewahrung von Rechtsgütern orientierte rechtliche Regelungen – wirken letztendlich auf unterschiedlichen Sanktionsebenen1060 und sind insofern auf normativem Niveau zur Erfüllung heterogener Zwecksetzungen bestimmt. Die Ausgrenzung des Tabuschutzes aus dem Interessenbereich des heutigen Strafrechts lässt also der hart paternalistischen Doktrin im Endeffekt keinen weiteren „plausiblen“ Vorwand zur Verdeckung ihres wahren Anliegens: Der strafrechtliche Schutz mündiger Individuen vor ihren freiwillig getroffenen Entscheidungen erweist sich mithin definitiv als eine Zielsetzung, welche vor dem Hintergrund des heutigen, auf die Erhaltung der grundgesetzlich verankerten Interessen des Einzelnen gerichteten Strafrechtssystems nicht überzeugend vertreten werden kann, und die hart paternalistisch geprägten strafrechtlichen Tatbestände lassen sich ihrerseits in ihrer Gesamtheit letztlich als ein unzulässiger Versuch der legislativen Willkür begreifen, objektive Wohlfahrtspläne dem Leben vollverantwortlicher Bürger durch das schärfste Mittel im staatlichen Instrumentarium aufzuerlegen.
5. Der subsidiäre Charakter des Strafrechts – Der verfehlte Einsatz der Strafe im Fall des harten Paternalismus Zu Lasten der hart paternalistischen Doktrin lassen sich schließlich außer Argumenten, welche normativ dem Gebiet der Strafrechtsdogmatik zuzuordnen sind, auch Einwände geltend machen, die eine eher pragmatische Dimension aufweisen, und dem Bereich einer sinnvollen und vor allem rationalen Kriminalpolitik zu entnehmen sind. In diesem Sinne werden gegen den Einsatz des Strafrechts zum Schutz mündiger Individuen vor deren eigenen Entscheidungen oft Beanstandungen vorgebracht, welche entweder in einem derartigen Eingriff eine allzu harte und letztendlich für das Fortbestehen des friedlichen und geordneten Zusammenlebens unnötige Reaktion des Staates erkennen oder generell die Zweckmäßigkeit der Auferlegung einer Strafe für Verhaltensweisen in Frage stellen, deren gefährdende oder schädigende Auswirkungen als ausschließlichen Adressaten die über ihre eigenen Belange freiwillig verfügende Person selbst haben. Das Mittel des Strafrechts stellt unwiderleglich eins der härtesten und invasivsten Instrumente dar, welche dem Staat zur Erfüllung seiner Zielsetzung zur Verfügung stehen. Seine Wirkung beruht nämlich auf einer existenzverletzenden und in die persönliche Freiheit des Einzelnen tief einschneidenden öffentlichen Intervention, welche sowohl die soziale Position als auch die Person des Betroffenen selbst nachhaltig schädigt und erhebliche Folgen für sein weiteres Leben haben kann1061. Aus diesem Grund sollte auch die öffentliche Gewalt zur Regelung von im Rahmen der Gesell1060
Siehe Zabel, Benno, a.a.O. (Fn. 1058), S. 457 (unter IV) m.w.N. Vgl. Roxin, Claus, Sinn und Grenzen staatlicher Strafe, in: JuS 1966, S. 382 (unter 1); ders., Zur Entwicklung der Kriminalpolitik seit den Alternativ-Entwürfen, in: JA 1980, S. 547 (unter 2); Baumann, Jürgen/Weber, Ulrich/Mitsch, Wolfgang, Strafrecht AT, S. 15, Rn. 19. 1061
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schaft entstehenden Konflikten nicht gleich durch die Verhängung strafrechtlicher Sanktionen über unerwünschte Verhaltensweisen reagieren, sondern zunächst alle anderen zur Verfügung stehenden, milderen Alternativen des bürgerlichen und öffentlichen Rechts in Anspruch nehmen, welche eine befriedigende Lösung der Problemlage versprechen1062. Das Strafrecht dürfte also nur dann zum Einsatz kommen, wenn die individuelle Freiheitsbeschränkung für die Erhaltung des friedlichen Miteinanders und die Abwendung größerer gesellschaftlicher Schäden tatsächlich unverzichtbar ist1063. Der in dieser Hinsicht subsidiäre Charakter der staatlichen Strafbefugnis stellt einen bestehenden Grundsatz des modernen Staatsverständnisses dar, welcher auf verfassungsrechtlicher Ebene dem Verhältnismäßigkeitsprinzip entspricht1064. Die Aufstellung hart paternalistischer Strafnormen, mit deren Hilfe unternommen wird, vollverantwortliche Individuen von bestimmten selbstbetreffenden, aber vom gesetzgeberischen Willen für unerwünscht betrachteten, Verhaltensweisen abzuhalten, konstituiert dagegen eine eindeutige Missachtung des beschriebenen Grundsatzes über die eigentliche Rolle und Zwecksetzung des modernen Strafrechts. Bei näherer Betrachtung erweist sich nämlich der Einsatz des schärfsten Mittels im staatlichen Instrumentarium etwa im Fall des Eigenkonsums von Betäubungsmitteln als eine redundante Überreaktion des Staates auf ein Verhalten, dessen problematische Aspekte effektiver mit den milderen Mitteln der Sozialpolitik zu behandeln wären. Ähnliches gilt auch für die Konstellation der aktiven Sterbehilfe, wo die Einschaltung eines Mechanismus zur Prüfung der Schwere der Lage und der Ernsthaftigkeit des Todeswunsches des Sterbewilligen einerseits, begleitet durch ein höheres Maß an gesellschaftlicher Unterstützung betroffener Personen andererseits viel mehr zu leisten verspricht als die bloße Pönalisierung dieses Verhaltens zur schlichten Vermeidung seiner „dornigen Dimensionen“. Und schließlich wäre es auch im Fall der Lebendspende von Organen sinnvoller und dem Anliegen des auf ein Transplantat wartenden Patienten angemessener, eine Kontrollinstanz zur praktischen Feststellung des altruistischen Willens eines dem Empfänger nicht nahestehenden Spenders einzuführen, als diese Alternative und den mit ihr verbundenen Problemkomplex durch die Auferlegung einer strafrechtlichen Sanktion einfach aus dem Diskussionsfeld zu entfernen.
1062 Vgl. Roxin, Claus, a.a.O. (Fn. 1061 – JuS 1966), S. 382 (unter 1); ders., a.a.O. (Fn. 1061 – JA 1980), S. 547 (unter 2); ders., Strafrecht AT, S. 45, Rn. 97; Vogel, Joachim, Strafrechtsgüter und Rechtsgüterschutz durch Strafrecht im Spiegel der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: StV 1996, S. 110; Jakobs, Günther, Strafrecht AT, S. 48, Rn. 26; Baumann, Jürgen/Weber, Ulrich/Mitsch, Wolfgang, Strafrecht AT, S. 15, Rn. 19. 1063 Baumann, Jürgen/Weber, Ulrich/Mitsch, Wolfgang, Strafrecht AT, S. 16, Rn. 19 a. E.; Hohmann, Ralf/Matt, Holger, Ist die Strafbarkeit der Selbstschädigung verfassungswidrig?, in: JuS 1993, S. 373 (unter 3); Roxin, Claus, a.a.O. (Fn. 1061 – JA 1980), S. 547 (unter 2); Wessels, Johannes/Beulke, Werner, Strafrecht AT, S. 3, Rn. 9. 1064 Roxin, Claus, Strafrecht AT, S. 45, Rn. 98; Jakobs, Günther, Strafrecht AT, S. 49, Rn. 27.
II. Die Zulässigkeit des weichen strafrechtlichen Paternalismus
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Die Umsetzung der Gebote der hart paternalistischen Doktrin führt insofern in einer Vielzahl von Situationen häufig zu einer kriminalpolitisch unnötigen Anwendung von strengen staatlichen Maßnahmen, wo mildere Instrumente der gesellschaftlichen Regelung und Kontrolle für die Auseinandersetzung mit den eventuellen Problempunkten, die sich aus der freien Ausübung der persönlichen Autonomie freier Individuen ergeben, sowohl besser geeignet als auch weniger eingreifend wären. Hieraus wird ersichtlich, dass das Strafrecht im paternalistischen Verständnis zu einem bloßen Werkzeug herabgesetzt ist, mit dessen Hilfe die jeweiligen Zielsetzungen des legislatorischen Willens verfolgt werden können. Das insofern berechtigte Misstrauen gegen den harten Paternalismus wird letztlich auch durch die Tatsache verstärkt, dass diese Doktrin das Wesen und die eigentliche Funktion der staatlichen Strafe im Rahmen der heutigen Rechtsordnung deutlich verkennt. Die Auferlegung einer strafrechtlichen Sanktion konstituiert, wie bereits erwähnt, nach dem heutigen Verständnis eine in die Freiheit des Einzelnen tief eingreifende Intervention, auf deren Basis ein Tadel, und damit auch ein sozialethisches Unwerturteil, an ein menschliches Tun oder Unterlassen geknüpft wird, das fremde Rechtsgüter nachteilig beeinträchtigt1065. Die Inanspruchnahme eines derart harten Mittels vermag nun zwar für die Regelung des sozialen Zusammenlebens im Endeffekt unentbehrlich sein, führt aber im Fall seines Einsatzes für paternalistische Zwecksetzungen schließlich zu contraintuitiven Ergebnissen: Denn wenn als Ziel der paternalistischen Doktrin der eigentliche Schutz des Menschen vor sich selbst und die gleichzeitige Förderung seiner allgemeinen Wohlfahrt erfasst werden soll, dann lässt es sich rational nicht erklären, wie eben dieser Zweck durch eine belastende und gravierende Bestrafung überhaupt erreicht werden kann1066. Hinzu kommt dann als letzter Punkt auch der Gedanke, dass die vom harten Paternalismus verfolgte Taktik der Knüpfung eines Tadels an selbstverfügendes Verhalten sich kaum mit einem Strafrechtssystem vereinbaren lässt, welches von seinen theoretischen Grundlagen her gesehen, streng auf den Schutz von Rechtsgütern anderer oder der Gesellschaft als Ganzer, nicht jedoch auf die Erfüllung eines sozialen Wohlfahrtsprogramms ausgerichtet ist1067.
II. Die Zulässigkeit des weichen strafrechtlichen Paternalismus Der weich paternalistische Ansatz dient im Rahmen des Strafrechts einer ganz anderen Zielsetzung, als vollverantwortliche Individuen zu bevormunden, und ist insofern vom harten strafrechtlichen Paternalismus streng zu unterscheiden. Die Einschränkung der Freiheit des Einzelnen, über eigene Belange zu verfügen, erfolgt näm1065 Vgl. Hirsch, Andrew v., Direkter Paternalismus: Sollten Selbstschädigungen bestraft werden?, in: Paternalismus und Recht, S. 241 m.w.N. 1066 Ebd. S. 240 a. E. f. m.w.N. 1067 Ebd. S. 242.
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F. Beurteilung der paternalistischen Doktrin im Lichte des liberalen Staates
lich nach Maßgabe der weich paternalistischen Doktrin nicht zur Auferlegung der willkürlichen Wohlfahrtsvorstellungen des legislativen Willens, sondern lediglich, um entweder den Einzelnen vor den benachteiligenden Folgen einer von ihm nicht freiwillig, und infolgedessen nicht substantiell autonom getroffenen Entscheidung zu bewahren, oder wenn ein kurzfristiges Einschreiten des Staates unbedingt erforderlich ist, um den autonomen Charakter des individuellen Verhaltens festzustellen1068. Ist dagegen die in Frage stehende Handlung als freiwillig einzustufen, dann hat der Staat nach Maßgabe des weichen Paternalismus sich zurückzuziehen und dem Einzelnen bei seinem Unternehmen keine weiteren Hindernisse in den Weg zu legen. Charakteristische Beispiele weich paternalistischer Strafgesetzgebung stellen im heutigen Strafrecht die Regelungen des § 40 Abs. 1 S. 3 Buchstaben a – c i.V.m. § 40 Abs. 2 des Arzneimittelgesetzes1069 sowie die Bestimmungen des § 8 Abs. 1 S. 1 des Transplantationsgesetzes1070 dar. Die weiche Form des staatlichen Paternalismus entspricht normativ dem Grundsatz, dass eine bevormundende öffentliche Intervention in die Sphäre des Einzelnen dann zulässig sei, wenn dieser nicht im Stande ist, seine eigenen Angelegenheiten autonom zu bestimmen1071. Dann lässt sich nämlich in seinem Verhalten der Konkretisierungsakt eines authentischen Lebensplans nicht mehr widerspiegeln und deswegen kann es gegenüber dem Staat auch keinen Achtungsanspruch haben1072. Diese Position, welche mit dem grundgesetzlich verbrieften Selbstbestimmungsrecht des Menschen im völligen Einklang steht, hat in der neueren Zeit ihren Weg auch in der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts gefunden1073, welches die Notwendigkeit eingesehen hat, unmündige Bürger vor ungewollten Verletzungen ihrer Interessen staatlich zu bewahren. Wann allerdings das Individuum nicht im Stande ist, freiwillig – und insofern auch autonom – über sein Leben zu entscheiden, stellt eine äußerst komplexe Frage dar1074, deren Antwort, wie die Mehrheit der weich paternalistischen Regelungen im Rahmen des modernen Strafrechts deutlich belegen, im Wesentlichen mit der Prüfung der Erfüllung der Voraussetzungen einer wirksamen Einwilligung eng verbunden ist. Unter der Vielzahl der einschlägigen Kriterien, die jedoch im Rahmen dieser Untersuchung 1068 Vgl. statt Vieler Fateh-Moghadam, Bijan, Die Einwilligung in die Lebendorganspende, S. 29; ebd., Grenzen des weichen Paternalismus, in: Grenzen des Paternalismus, S. 27 (unter 2.1). 1069 Siehe diesb. Kapitel A. III. 4. 1070 Näheres dazu Kapitel A. III. 3. 1071 Siehe dazu Klimpel, Paul K., Bevormundung oder Freiheitsschutz?, S. 27; SternbergLieben, Detlev, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, S. 45; Hillgruber, Christian, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, S. 121. 1072 Vgl. Papageorgiou, Konstantinos, Schaden und Strafe, S. 225. 1073 Siehe beispielsweise BVerfG Urteil v. 18. 7. 1967, in: BVerfGE 22, 180 (219); BVerfG Beschl. v. 7. 10. 1981, in: BVerfGE 58, 208 f. (225). Siehe dazu auch Möller, Kai, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, S. 27. 1074 Siehe dazu auch Kapitel C. III.
II. Die Zulässigkeit des weichen strafrechtlichen Paternalismus
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in ihrer Gesamtheit weder benannt noch analytisch dargestellt werden könnten1075, ist vor allem das Vorhandensein der so genannten natürlichen Einsichtsfähigkeit zu erwähnen, welche heute überwiegend als das Vermögen des Disponierenden aufgefasst wird, nach seiner geistigen und sittlichen Reife das Wesen, die Bedeutung und die Tragweite seiner Entscheidungen zu erkennen und entsprechend zu beurteilen1076. Ob diese Entscheidung aus objektiver Hinsicht vernünftig erscheint, spielt zum Zweck der Feststellung der Einsichtsfähigkeit grundsätzlich1077 keine Rolle1078. Des Weiteren darf die Äußerung des Disponierenden keine wesentlichen „Willensmängel“ aufweisen1079 : In dieser Hinsicht darf das betroffene Individuum bei der Bildung seiner Meinung von keinen rechtsgutsbezogenen Fehlvorstellungen beeinflusst werden, das heißt von keinen eigenen oder durch eine fremde Täuschungshandlung hervorgerufenen Irrtümern missgeleitet werden, die sich auf den Bestand des preisgegebenen Rechtsgutes beziehen1080. Einen Willensmangel generiert darüber hinaus auch der Einsatz von Drohungen oder generell von Zwang, dessen Intensitätsgrad allerdings mehr als unerheblich sein muss1081. Letztlich ist insbesondere darauf zu achten, dass der Disponierende sich nicht in einem temporären oder dauerhaften Zustand der Bewusstseinsstörung befindet, denn in einem derartigen Fall ist die Freiwilligkeit seiner Entscheidung in den meisten Fällen auszuschließen1082. Sind also diese Voraussetzungen erfüllt, dann ist nach dem weich paternalistischen Ansatz ein Verhalten als ausreichend autonom einzustufen und die entsprechende Entscheidung des Einzelnen zur Disposition seiner eigenen Belange seitens des Staates ohnehin zu respektieren; jede weitere Einmischung in den individuellen Lebensplan wird als unzulässig betrachtet und konstituiert einen inakzeptablen Übergang zum Bereich des harten Paternalismus. Dem weichen strafrechtlichen Paternalismus 1075
Dazu ausführlich Neyen, Werner, Die Einwilligungsfähigkeit im Strafrecht; Rönnau, Thomas, Willensmängel bei der Einwilligung im Strafrecht; Roxin, Claus, Strafrecht AT, S. 540 f. 580 f. 1076 Vgl. statt Vieler Wessels, Johannes/Beulke, Werner, Strafrecht AT, S. 131, Rn. 373; Fateh-Moghadam, Bijan, Die Einwilligung in die Lebendorganspende, S. 185 (unter I); Roxin, Claus, Strafrecht AT, S. 542, Rn. 6; Rönnau, Thomas, Vor. zu § 32 StGB, in: Leipziger Kommentar, S. 186, Rn. 193. 1077 Siehe Kapitel C. III. 3. 1078 Vgl. statt Vieler Fateh-Moghadam, Bijan, Die Einwilligung in die Lebendorganspende, S. 185 (unter A. 1); Rönnau, Thomas, Vor. zu § 32 StGB, in: Leipziger Kommentar, S. 188, Rn. 194 a. E. 1079 Siehe Rönnau, Thomas, a.a.O. (Fn. 1076), S. 191, Rn. 198. 1080 Murmann, Uwe, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, S. 450 f.; Rönnau, Thomas, a.a.O. (Fn. 1076), S. 192, Rn. 198; Möller, Kai, a.a.O. (Fn. 1073), S. 137. Ausführlich zur Kategorie der Fehlvorstellungen Roxin, Claus, Strafrecht AT, S. 580 f. 587 f. Fehlvorstellungen über Motivgründe und Begleitumstände der Entscheidung sind unbeachtlich; siehe dazu Rönnau, Thomas, a.a.O. (Fn. 1076), S. 192, Rn. 198; Wessels, Johannes/Beulke, Werner, Strafrecht AT, S. 132, Rn. 376a. 1081 Siehe Möller, Kai, a.a.O. (Fn. 1073), S. 137 a. E.; Roxin, Claus, Strafrecht AT, S. 588, Rn. 113; Murmann, Uwe, a.a.O. (Fn. 1080), S. 453 a. E. 1082 Vgl. statt Vieler Papageorgiou, Konstantinos, Schaden und Strafe, S. 225.
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F. Beurteilung der paternalistischen Doktrin im Lichte des liberalen Staates
liegt also der Respekt des freien Willens des Individuums zu Grunde und steht insofern mit den Grundzügen der heutigen liberalen Rechtsordnung im völligen Einklang1083. Sein Wirken beschränkt sich auf die Kontrolle der Freiwilligkeit des menschlichen Verhaltens und dient dem Zweck, Beeinträchtigungen der individuellen Interessen zu vermeiden, welche ansonsten auch der Betroffene selbst vermeiden würde, wenn er nur in der Lage wäre, frei über sich selbst zu entscheiden. Aus den erwähnten Gründen ist also diese Art des Paternalismus als zulässig anzusehen1084 und lässt sich als Konzept reibungslos in das moderne Strafrecht eingliedern.
1083 1084
Vgl. Seher, Gerhard, Liberalismus und Strafe, S. 127 a. E. Ebd. S. 127 a. E.; Papageorgiou, Konstantinos, a.a.O. (Fn. 1082), S. 225.
G. Zusammenfassende Betrachtung und Schlussgedanken 1. Der Mensch befindet sich im Laufe seines Lebens in einem ständigen Selbsterkennungs- und Entfaltungsverfahren, auf dessen Basis die eigentlichen Zielsetzungen, die verschiedenen Präferenzen und die allgemeinen Rahmenbedingungen seines Daseins im Wesentlichen entworfen werden. Treibende Kraft und zugleich unentbehrliche Voraussetzung dieses gesamten Prozesses stellt die Fähigkeit des Einzelnen zum rationalen Denken dar, genauer das aus ihr hervorgehende Vermögen der Person zur Selbstbestimmung. Die persönliche Autonomie konstituiert eine der fundamentalen Eigenschaften des Menschen als Wesen, und bildet eine wichtige Grundlage des individuellen Daseins und des persönlichen Wohlstands. Das geltende, von den Zügen der liberalen Tradition geprägte Grundgesetz positioniert den Einzelnen und seine Belange im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses und erblickt im Wert der Autonomie, welcher zugleich als konstitutiver Bestandteil und äußere Erscheinungsform der jedem Menschen innewohnende Würde zu betrachten ist, eins der tragenden Prinzipien der heutigen Rechtsordnung. Vordringliche Pflicht der öffentlichen Gewalt ist es daher, sich schützend und fördernd vor das Selbstbestimmungsrecht des Individuums zu stellen und die gesamte staatliche Tätigkeit in entsprechender Weise an diesem grundlegenden Belang auszurichten. Die effektive Zusammenschluss von mehreren Individuen in einem freiheitlichdemokratischen Staat, die Vereinbarung von deren kontrastierenden Interessen, und schließlich die Realisierung der eigentlichen Ziele dieser Gemeinschaft wären allerdings ohne eine regulatorische Eingrenzung der Geltung der verfassungsrechtlich garantierten Rechte der einzelnen Bürger nie möglich. Diese Tatsache, welche das Staatsverständnis schon seit dem Zeitpunkt der Entstehung der ersten demokratischen Staatsstrukturen begleitet, prägt auch das heutige Grundgesetz, welches in diesem Sinne die Einschränkung des Rechts des Einzelnen auf freie Gestaltung seines eigenen Daseins hauptsächlich dann für zulässig erklärt, wenn durch das individuelle Verhalten die verfassungsmäßige Ordnung oder die Rechte anderer verletzt werden. Selbst in einem liberal geprägten Staat ist also die Verfolgung der eigenen Zielsetzungen durch feste, unumgängliche Grenzen eingehegt, die sich auf den Respekt vor dem Mitmenschen und auf ein am gedeihlichen Zusammenleben orientierten Gemeinwesen unmittelbar beziehen. In den letzten Jahrzehnten wird allerdings die steigende Tendenz des Gesetzgebers beobachtet, Regelungen zu erlassen, welche die individuelle Freiheit
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G. Zusammenfassende Betrachtung und Schlussgedanken
durch den Einsatz des Strafrechts begrenzen, um entweder den Handelnden vor den schädlichen, seine Wohlfahrtsbasis beeinträchtigenden Folgen seines selbstbezogenen und insofern die Interessen anderer nicht tangierenden Verhaltens zu bewahren oder um mittels dieser Intervention schlechthin die Förderung des Glücks ihres Adressaten zu erzielen, und zwar unabhängig davon, ob diese aktive Einmischung in die privaten Angelegenheiten letztlich seitens des Betroffenen erwünscht ist, oder nicht. Diese unzulässige Art öffentlicher Kontrolle, welche im Wesentlichen darauf abzielt, den Menschen vor sich selbst zu schützen, wird als staatlicher Paternalismus bezeichnet, und als Problempunkt im Rahmen der Theorie zunehmend thematisiert. Die Wurzeln dieses Phänomens lassen sich historisch auf die absolutistischen Staatsstrukturen des mitteleuropäischen Raums der Neuzeit zurückführen, wo der paternalistische Ansatz als ein hartes Instrument der strengen sozialen Steuerung und der zwangsweisen Durchsetzung des staatlichen Willens fungiert hat. Das moderne Strafrecht, welches sich als das invasivste und härteste Mittel im öffentlichen Instrumentarium zur Bewahrung des reibungslosen gesellschaftlichen Zusammenlebens begreifen lässt, ist allerdings im Rahmen des heutigen liberalen Staates an den Respekt und die Förderung des Menschen und seiner verfassungsrechtlich garantierten Rechte positiv gebunden. Unter diesem Blickpunkt hat der Gesetzgeber bei der Konkretisierung derjenigen Werte, Zustände oder Zwecksetzungen, welche den schutzwürdigen Gegenstand von strafrechtlichen Tatbeständen konstituieren sollen, nach systemkritischem Verständnis die Vorgaben der liberalen, den Eigenwert und die Autonomie des Einzelnen respektierenden Wertordnung des geltenden Grundgesetzes als feste Richtschnur seines Ermessens sich vor Augen zu halten und keine Entscheidungen zu treffen, welche unberechtigt, wie im Fall der paternalistischen Doktrin, den Grundlagen des heutigen Rechtssystems widersprechen. Die paternalistisch geprägten Strafnormen stellen insofern – mit der Ausnahme derjenigen, welche von den Zügen der weichen Paternalismusvariante geprägt sind – eine Irregularität in der heutigen Rechtsordnung dar und sind insgesamt als Überbleibsel einer längst vergangenen Rechtskultur zu betrachten, da sie sowohl den inhärenten Wert als auch das Recht jeder Person zur freien Entfaltung des individuellen Daseins ausschließlich auf den Zweck der Vervollkommnung der Menschen einzugrenzen bestrebt sind. Diese unzulässige Zielsetzung versucht die paternalistische Doktrin oft durch die Heranziehung anderer, unbedenklicher Gesetzeszwecke zu kaschieren, um die gegen sie erhobene Kritik auf geschickte Art und Weise zu umgehen. Dieses Unternehmen erweist sich allerdings im Ergebnis als vergeblich, denn die vom Paternalismus vorgebrachten Zwecksetzungen geraten in ihrer Gesamtheit mit einer Mehrzahl von fundamentalen Erkenntnissen und dogmatischen Grundpositionen der modernen Strafrechtswissenschaft in direkten Widerspruch, wodurch letztlich der unzulässige Charakter der staatlichen Bevormundung vollverantwortlicher Individuen durch das Mittel des Strafrechts endgültig bestätigt wird.
G. Zusammenfassende Betrachtung und Schlussgedanken
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2. Die Absicherung der eigenen Person gegen die mannigfaltigen Gefahrenquellen des alltäglichen Lebens sowie das Anliegen der möglichst effektiven Kontrolle der dem Individuum zugehörigen Umgebung gehören zu den ältesten Interessen des Menschen. Solange diese fundamentalen Bedürfnisse unbefriedigt bleiben, ist es für den Einzelnen schwierig, sich höhere Ziele im Leben zu setzen und diese im Ergebnis auch zu realisieren. Die Bildung der staatlichen Gemeinschaft hat zur Erfüllung dieser Zwecksetzungen entscheidend beigetragen und gewährt einen verhältnismäßig abgeschirmten Rahmen, innerhalb dessen jede Person sich grundsätzlich sicher fühlen kann. Die vielfältigen modernen gesetzlichen Regelungen beziehen sich in entsprechendem Sinne unmittelbar auf die reibungslose Regelung des sozialen Zusammenlebens und versuchen die Rahmenbedingungen eines möglichst behüteten und gefahrenfreien sozialen Raums unversehrt zu erhalten. Die paternalistischen Normen lassen sich also vor diesem Hintergrund zumindest bis zu einem gewissen Punkt rational erklären. Sie sind das Ergebnis eines staatlichen Räsonnements, welches durch die Einführung von harten Vorschriften den möglichst umfassenden Schutz der Gesellschaft sichern will. Der Gesetzgeber versucht dadurch Verhaltensweisen in den Griff zu bekommen, welche nach seinen (potentiell willkürlichen) Vorstellungen (und trotz des rein selbstbezogenen Charakters dieser Handlungen) die Stabilität und folglich auch die Sicherheit der gesamten Gesellschaft zu entkräften drohen. Aufgrund dieser Gefahr muss der individuelle Wille nach dem paternalistischen Verständnis dem Interesse des größeren Wohls weichen, selbst bei Angelegenheiten, welche den Interessenkreis Dritter nicht tangieren. Noch größer jedoch als das Bedürfnis nach umfassender Sicherheit ist das dem Menschen zu unterstellende Anliegen des Respekts vor seinem prinzipiellen Recht, sein Leben auf der Basis seiner eigenen Vorstellungen zu steuern. Dem Individuum muss nämlich die Freiheit gewährt werden, seine eigenen Entscheidungen zu treffen, seine Ziele selbst im Leben zu setzen und letztendlich auch seine eigenen Fehler zu begehen, welche zukünftig als wertvolle Erfahrungsbasis für jedes weitere Unternehmen fungieren werden. Den Einzelnen gegen diesen Entfaltungsprozess durch staatliche Bevormundung abzuschirmen bedeutet, dem Menschen den Sinngehalt seiner Existenz abzusprechen: Denn ohne Autonomie wird das Individuum zum bloßen Objekt des Ermessens anderer. Der Wesensgehalt des Individuums lässt sich also vorwiegend in seinem freien Willen lokalisieren sowie in seinem entsprechenden Vermögen, eine Wahl zu treffen. Die größten Werke des menschlichen Geistes und die härtesten Kämpfe im Laufe der Geschichte beziehen sich auf die Absicherung der Möglichkeit zum freien Wort sowie auf die Bewahrung des Rechts jeder Person zur eigenverantwortlichen Bestimmung über ihr eigenes Leben. Die paternalistische Auferlegung des Schutzes des Menschen vor seinen persönlichen, die Sphäre Dritter nicht tangierenden Präferenzen ist insofern verfehlt. Der Einzelne muss stets als Subjekt
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G. Zusammenfassende Betrachtung und Schlussgedanken
und nie als eine lenkbare Einheit in den Händen der öffentlichen Gewalt behandelt werden. Deswegen ist es angezeigt, nicht durch paternalistische Regelungen, sondern stattdessen durch umfassende Aufklärung und durch die Errichtung geeigneter Kontrollmechanismen die Menschen vor eventuell nicht in Betracht gezogenen Folgen ihrer selbstbetreffenden Verfügungen zu bewahren. Wird aber eine Wahl freiwillig getroffen, dann hat der Staat den Willen des Individuums zu respektieren, und sich von jeder weiteren Einmischung in dessen private Angelegenheiten zurückzuziehen. Der Ausschluss bestimmter Zielsetzungen oder gar Lebenspläne lediglich aufgrund ihres objektiven Gefährlichkeitsgrads ist innerhalb des heutigen, liberalen, auf den Respekt vor dem Eigenwert und der Autonomie des Einzelnen beruhenden Staates nicht vertretbar. Der Einsatz des staatlichen Paternalismus als Instrument der Bewahrung der Bürger vor den Folgen ihrer selbstbetreffenden und die Rechten Dritter nicht tangierenden Entscheidungen kann keine zulässige Option sein; die Antwort zur effektiven Abschirmung der Menschen in derartigen Konstellationen liegt nämlich allein in der Schaffung informierter und dadurch auch verantwortlicher Individuen.
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Sachwortverzeichnis Allgemeine Handlungsfreiheit 170 Allgemeines Persönlichkeitsrecht 171 Arzneimittelgesetz 39 – Ethikkommission 40 f. – Klinische Prüfung – Heilversuch 41 – Humanexperiment 40 – Moralische Kriterien 41 – Risiko-Nutzen-Abwägung 40 f. Autonomie 99 f. Autonomie als bewusste Lebensführung 115 Autonomie als idealer Zustand 103 Autonomie als negative und positive Freiheitskonzeption 109 Autonomiekonzeptionen – Deskriptives und askriptives Autonomiekonzept 111 – Liberale Autonomiekonzeption 119 – Moralische-persönliche Konzeption 100 Autonomieschranken 172 f. Betäubungsmittelgesetz 24 f. – Einschränkung der Eigenverantwortung 28 f. – Schutzzweck 26 f. – Volksgesundheit 26 f. Deutsche Bundesakte
– Freiheitsmaximierung 151 – Persönliche Integrität 149 – Vernünftigkeit einer Entscheidung Kantische Autonomie 80 Kategorischer Imperativ 79 Märzrevolution 159 Menschenbildformel 167 Menschenwürde 162 f. Millsches Freiheitsprinzip (harm principle) 91
Naturrecht 51 – Angeborene Rechte (jura connata) 53 – Aufgeklärter Absolutismus 63 – Gesellschaftsvertrag 58 – Glückseligkeit / Wohlfahrtspolitik 64 – „Gute policey“ 68, 70 – Libertas civilis 70 – Menschenrechtskataloge / Menschenrechte 74 f. – Natürliche Freiheit (libertas naturalis) 53 – Naturzustand (status naturalis) 52 – Staatliche Vergemeinschaftung (status civilis) 58 – Vollkommenheitsprinzip 63
158 Objektformel
Einwilligung / Gute-Sitten-Klausel 43 f. – Kollektivistische Interessen 45 – Sozialer Frieden 44 – Sozialethische Wertvorstellungen 44 – Verletzung der guten Sitten 44 – Wirksamkeitsvoraussetzungen 218 f. – Zukunftsinteressen 44 Freiwilligkeit 137 – Ausschließungsfaktoren 137 – Festlegung der Freiwilligkeit 151
146
165
Paternalismus – Begriff 18 – Erscheinungsformen – aktiver–passiver 21 – harter–weicher 22, 217 – indirekter–direkter 21 – reiner–unreiner 22 – Historische Spuren 63 f. – Kritik 188 f. Paulskirchenverfassung 159
238
Sachwortverzeichnis
Rechtsgut – Bedeutung 176 – Bedeutung des Grundgesetzes für das Rechtsgut 201, 208 f. – Binding 188 – Birnbaum 184 – Cesare Beccaria 180 – Constitutio Criminalis Carolina 177 – Enzyklopädisten 178 – Feuerbach 182 – Gemäßigt positivistische Schule 184 – Ideelles Rechtsgutkonzept – reales Rechtsgutskonzept 202 – Karl-Ferdinand Hommel 180 – Rechtsgutverletzung 190 – Sozialschaden 180 – systemimmanente – systemtranszendente Funktion 199 f. – Verletzung subjektiver Rechte (Rechtsverletzung) 183
– Verletzung von Gütern – v. Liszt 191
185
Tötung auf Verlangen / Sterbehilfe 31 f. – Allgemeinwohlargument 34 – Formen der Sterbehilfe 32 – „Future-Self“ Argument 35 – Tabuargument 35 – Unverzichtbarkeit des Rechtsguts Leben 33 – Wohlfahrtsargument 34 Transplantationsgesetz 37 – Allgemeinwohlargument 38 f. Verfassung des Deutschen Reiches (Bismarcksche Verfassung) 159 Weimarer Verfassung
160