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German Pages 238 Year 2005
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 982
Paternalismus und Persönlichkeitsrecht Von Kai Möller
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
KAI MÖLLER
Paternalismus und Persönlichkeitsrecht
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 982
Paternalismus und Persönlichkeitsrecht
Von
Kai Möller
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg hat diese Arbeit im Jahre 2003 / 2004 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten # 2005 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-11679-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Diese Arbeit behandelt die Frage, ob der Staat das Recht hat, dem Einzelnen Schutz auch gegen dessen Willen aufzuzwingen. Sie wurde im Wintersemester 2003/04 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg als Dissertation angenommen. Mein Doktorvater, Herr Professor Dr. Rainer Wahl, war für mich und diese Arbeit ein Glücksfall. Er hat stets die richtige Balance gefunden zwischen der Freiheit, die ein Forschender notwendig braucht, und der in manchen Situationen so wichtigen Hilfestellung durch einen erfahrenen Lehrer. Dafür danke ich ihm aufrichtig. Ferner danke ich dem Zweitgutachter, Herrn Professor Dr. Andreas Voßkuhle, für die Übernahme und zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Ich danke auch der Studienstiftung des deutschen Volkes für die Förderung durch ein Promotionsstipendium und dem Bundesministerium des Innern sowie der Johanna und Fritz Buch Gedächtnisstiftung für die Gewährung von Druckkostenzuschüssen. Herr Tobias Frische hat die Arbeit mit großem Einsatz gelesen und mir viele wertvolle Ratschläge zu ihrer Verbesserung gegeben. Herr Christian Schemmel hat die philosophischen Teile gelesen; seine fachkundigen Ratschläge finden ebenfalls an vielen Stellen dieser Arbeit ihren Niederschlag. Herzlichen Dank! Meinen Eltern möchte ich an dieser Stelle für ihre langjährige Unterstützung und ihre kontinuierliche Förderung meiner schulischen und universitären Ausbildung danken, durch die sich mein Interesse für theoretische Fragestellungen erst entwickeln konnte. Ich widme diese Arbeit dem Andenken an meine Großmutter Hildegard Stock. Sie hat meinen gesamten Werdegang mit liebevoller Anteilnahme und Unterstützung verfolgt. Ich habe sie für ihre vielfältigen geistigen Interessen, ihre Disziplin, ihre liberale und menschliche Grundhaltung und ihre Großzügigkeit bewundert. Sie starb kurz vor der Drucklegung dieser Arbeit, über deren Veröffentlichung sie sich sehr gefreut hätte. Berlin, im Juli 2004
Kai Möller
Inhaltsverzeichnis Erstes Kapitel Einleitung
11
A. Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Einführung in die Problematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Paternalismusformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Reiner und unreiner bzw. gemischter Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . 2. Direkter und indirekter Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Harter und weicher Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Paternalismus, Liberalismus und Kommunitarismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Problematik des Begriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Negative Konnotation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Konfusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Sexismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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B. Ziel I. II. III.
der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verfassungsrechtliche Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begrenzung auf die Paternalismusfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Wert einer philosophischen Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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C. Die bisherigen Stellungnahmen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zweites Kapitel Ein Recht gegen Paternalismus
31
A. Die I. II. III.
moraltheoretische Ausgangsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . John Stuart Mills Essay „Über die Freiheit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mills utilitaristischer Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtebasierte Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rechtebasierte Ansätze im Allgemeinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ein Recht gegen Paternalismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Konsequenzen für die Paternalismusdiskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
31 31 34 38 38 41 43
B. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht als Grundrecht zur Abwehr von Paternalismus I. Die Notwendigkeit eines allgemeinen Persönlichkeitsrechts . . . . . . . . . . . . 1. Persönlichkeitsschutz durch die benannten Grundrechte der Art. 2 II ff. GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
45 46 46
8
Inhaltsverzeichnis 2. Unzulänglichkeit von Art. 2 I GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 3. Befund und Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 II. Der Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts . . . . . . . . . . . . . . 55 1. Die Abgrenzung zum Freiheitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 a) Tun und Sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 b) Schutz der Voraussetzungen selbstbestimmten Handelns? . . . . . . . 62 c) Ethisch-existenzielle Selbstbestimmung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 aa) Pragmatische, ethische und moralische Handlungsorientierungen 63 bb) Handlungsorientierungen und Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . 66 cc) Weitere Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 (1) Abgrenzung zwischen starken und schwachen Präferenzentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 (2) Mehrere Handlungszwecke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 2. Fallgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 a) Schutz ethisch wichtiger Positionen; Selbstverwirklichung . . . . . . 73 b) Schutz der Voraussetzungen der Persönlichkeitsentfaltung . . . . . . . 78 aa) Innere Voraussetzungen: Selbstfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 bb) Äußere Voraussetzungen: Grundbedingungen für die Persönlichkeitsentfaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 cc) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 c) Selbstdarstellung und informationelle Selbstbestimmung . . . . . . . . 83 aa) Selbstdarstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 bb) Informationelle Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 cc) Ergebnis zu Selbstdarstellung und informationeller Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 3. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 III. Insbesondere: Recht auf Selbstmord . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 1. Schutz des Selbstmordes durch das allgemeine Freiheitsrecht . . . . . . . 91 2. Schutz des Selbstmordes durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht . 93 3. Schutz des Selbstmordes durch Art. 2 II GG? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 IV. Schutz vor Paternalismus durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht . . . . 95 1. Paternalismus und Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 2. Autonomie i. e. S. und allgemeines Freiheitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 3. Autonomie i. e. S. und allgemeines Persönlichkeitsrecht . . . . . . . . . . . . 97 4. Paternalismus und Grundrechtsprüfung; insbesondere: mehrere Eingriffszwecke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 5. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100
C. Das I. II. III.
Recht im Sinne des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hillgrubers Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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D. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106
Inhaltsverzeichnis
9
Drittes Kapitel Die Rechtfertigung von Paternalismus A. Paternalismus aufgrund von der Autonomie entgegenstehenden Verfassungsprinzipien? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die objektive Dimension der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Freiheitsmaximierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der philosophische Ansatz – Mill und Regan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Freiheitsmaximierung und Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Exkurs: Paternalismus und das gelungene Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Das Sittengesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Das Sozialstaatsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Sonderfall Selbstmord . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Die Anforderungen an Entscheidungsbildung und -inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Problemaufriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Juristische und philosophische Ansätze in der bisherigen Diskussion . . . 1. Juristische Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Zurechenbarkeit von Willensäußerungen im einfachen Recht aa) Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Zivilrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Zurechenbarkeit von Willensäußerungen im Verfassungsrecht aa) Minderjährige und Geisteskranke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Sonderfall Selbstmord . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zwischenbilanz zu den juristischen Ansätzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Philosophische Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Paternalismus und Geisteskrankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Paternalismus und Anforderungen an die individuelle Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Rationalität der Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Gerald Dworkin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) John Rawls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Jeffrie G. Murphy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Joel Feinberg: Vernünftigkeit und Freiwilligkeit . . . . . . . . . . . . cc) John Kleinig: Persönliche Integrität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zusammenfassung zu den juristischen und philosophischen Ansätzen III. Die Position des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundgesetz und Rationalität der Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Freiwilligkeit als Maßstab? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Integrität? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis
IV.
a) Integrität und objektive Werte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Integrität und allgemeines Persönlichkeitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Der zutreffende Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Einwände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Einige Leitlinien zur Zulässigkeit von Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . a) Die Gewichtung der Entscheidungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Gewichtung des Integritätsaspekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Leitlinie: Das Verhältnis von angestrebtem Ziel und drohendem Schaden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Der Einfluss von Willensmängeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Erste Schlussfolgerung: Kein moralischer Paternalismus . . . . . . . . 5. Das Problem der Erforderlichkeit: Aufklärung und Information als milderes Mittel? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Typisierung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anwendungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Sitzgurt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Schutzhelm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Selbstmord . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Peepshow und „Big Brother“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Rauchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Alkohol . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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C. Paternalismus als staatliche Pflicht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Zusammenfassende Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235
Erstes Kapitel
Einleitung Diese Arbeit beschäftigt sich mit staatlichem Paternalismus und der Frage, inwieweit dieser mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Der Begriff „Paternalismus“ ist der deutschen rechtswissenschaftlichen Diskussion noch weitgehend fremd. Es ist daher angebracht, zunächst den Rahmen der Untersuchung abzustecken, bevor die eigentlichen Fragen angegangen werden. Zunächst soll der Begriff erläutert und in die Problematik eingeführt werden. Im Anschluss wird der Blickwinkel verdeutlicht, den diese Arbeit einnehmen wird, und ein Überblick über die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und die Stellungnahmen aus der Literatur zum Thema gegeben. Auf dieser Grundlage kann dann im zweiten Kapitel mit der Untersuchung der materiellen Fragestellungen begonnen werden.
A. Paternalismus I. Einführung in die Problematik Unter Paternalismus versteht man ein Verhalten, das den Zweck hat, einem anderen Schutz aufzuzwingen, und zwar unabhängig davon, ob dieser Schutz erwünscht ist oder nicht1. Wenn sich der Staat in Bezug auf seine Bürger in dieser Weise verhält, so kann man von staatlichem Paternalismus oder, in Anlehnung an den englischen Ausdruck legal paternalism2, von rechtlichem Paternalismus oder Rechtspaternalismus3 sprechen. So kann der Staat beispielsweise das Rauchen verbieten, um die Raucher daran zu hindern, sich selbst Schaden zuzufügen. Oder er kann Autofahrern vorschreiben, Sitzgurte zu verwenden, um bei einem Unfall nicht oder weniger schwer verletzt zu werden. Schließlich kann der Staat auch intervenieren, wenn er meint, dass sich seine Bürger durch unmoralisches Verhalten selbst schädigen. So könnte der Staat bestimmte Sexualpraktiken verbieten, um den „sittlichen Verfall“ der Beteiligten zu stoppen. 1 2 3
Vgl. beispielsweise G. Dworkin, in: Sartorius (Hrsg.), Paternalism, 19 (20). s. beispielsweise Feinberg, in: Sartorius (Hrsg.), Paternalism, 3 ff. Diesen Ausdruck wählt Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht.
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1. Kap.: Einleitung
Was ist das Besondere an staatlichem Paternalismus im Vergleich zu anderen staatlichen Maßnahmen? Was rechtfertigt überhaupt eine Untersuchung wie die vorliegende – der Staat schränkt doch schließlich in vielfältiger Weise die Freiheit seiner Bürger ein? Es gibt ein Element, das staatlichen Paternalismus aus der Masse der staatlichen Freiheitsbeschränkungen heraushebt: die spezifische Zwecksetzung der Freiheitsbeschränkung. Die Menschen sehen zwar ein, dass ihre Freiheit zum Schutz Dritter oder bestimmter Gemeinschaftsgüter eingeschränkt werden darf. Das Prinzip, das schon Schulkindern beigebracht wird, nämlich, dass die eigene Freiheit dort aufhört, wo die Freiheit des anderen beginnt, stellt diesen Sachverhalt vereinfacht dar. Im Fall paternalistischer Freiheitsbeschränkung gilt dieser Satz nun aber gerade nicht: Die eigene Freiheit hört zwar auf; an der Grenze beginnt aber nicht die des anderen, sondern allem Anschein nach ist dort aus freiheitlicher Sicht nur Niemandsland. Freiheit wird also nicht maximiert, sondern bewusst unterhalb des Niveaus gehalten, das eigentlich möglich wäre. Sie wird nicht eingeschränkt, um die berechtigten Interessen anderer oder der Allgemeinheit zu schützen, sondern, weil der Einzelne angeblich nicht in der Lage ist, seine Freiheit sinnvoll zu nutzen. Das trifft den Anspruch, den viele Menschen an sich selbst haben, im Kern: selbst entscheiden zu können, welche Risiken man eingeht. Daraus lassen sich die teilweise heftigen Abwehrreaktionen erklären, die Paternalismus hervorruft: Es geht häufig gar nicht so sehr um die spezielle Verhaltensweise – Rauchen, Autofahren ohne Gurt usw. –, die vom Staat geregelt wird. Der Zwang, sich beim Autofahren anschnallen zu müssen, stellt eine vergleichsweise geringe Einschränkung dar. Wenn man das Rauchen aufgeben muss, weil es paternalistisch verboten wird, so mag das als schwerwiegender empfunden werden; im Vergleich zu anderen Belastungen, die uns der Staat zumutet – Steuerlasten oder Wehrpflicht, um nur zwei zu nennen –, wäre aber auch ein Rauchverbot eher eine Marginalie. Die Verhaltensweisen, die Gegenstand paternalistischer Gesetze sein können, sind also oft gar nicht von besonders großer Bedeutung für den Einzelnen. Vielmehr ist es die spezielle Zwecksetzung des staatlichen Eingreifens, hinter der sich eine gewisse Geringschätzung des Einzelnen zu verbergen scheint: Du, Bürger, kannst mit deiner Freiheit nicht richtig umgehen, und deshalb schreibe ich, der Staat, dir vor, was du zu tun oder lassen hast. Allerdings muss es sich nicht immer um Lappalien handeln. Der Staat kann, wie bereits angedeutet, nicht nur einschreiten, um die Gesundheit oder das Leben seiner Bürger zu schützen; er kann sich auch vermeintlich höhere Ziele setzen und anstreben, die Bürger in moralischer Hinsicht zu bessern oder zumindest vor Schlimmerem zu bewahren. Wie sieht es aus, wenn beispielsweise die Teilnahme an Sendungen wie „Big Brother“ verboten wird, um zu verhindern, dass die Teilnehmer ihre eigene Würde verletzen oder sich durch ein solches, für unmoralisch befundenes Verhalten selbst schädigen? Eine ähnliche Konstellation liegt vor, wenn Peepshows mit dem Argument verboten werden,
A. Paternalismus
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die Darstellerinnen verletzten ihre eigene Würde4. Nun mag man der Teilnahme an „Big Brother“ und Peepshows keinen allzu hohen Stellenwert für ein gelungenes Leben beimessen. Allerdings lässt der Gerechtigkeitssinn vermuten, dass das Regelungsziel „Verbesserung oder Erhaltung der moralischen Integrität“ im Prinzip wohl problematischer ist als der Schutz der Gesundheit. Man kann aber noch einen Schritt weiter gehen. Was ist, wenn der Staat befindet, dass gewisse Sexualpraktiken für die Beteiligten entwürdigend und deshalb schädlich sind und zu ihrem Schutz verboten werden sollen? Das Sexualleben ist wohl der Bereich, bei dem die Bereitschaft, sich vom Staat paternalistisch hineinreden zu lassen, am wenigsten ausgeprägt ist. Das dürfte vor allem zwei Gründe haben: Zum einen geht es hier wiederum um das Ziel der Verbesserung der Bürger in moralischer Hinsicht, das schon als problematischer im Vergleich zu einem bloßen Gesundheitsschutz charakterisiert wurde. Zum anderen aber handelt es sich bei der Sexualität um einen, allgemein gesprochen, für den Einzelnen vergleichsweise wichtigen und sensiblen Bereich. Hier sieht man den Unterschied zum Rauchen oder Autofahren ohne Gurt. Dieses zweite Argument (die relativ große Bedeutung der Sexualität) ist im Prinzip unabhängig von dem ersten (dem Regelungsziel des Staates). Wenn also der Staat in das Sexualleben seiner Bürger paternalistisch eingreift, so kann man dies unter zwei Aspekten untersuchen. Zum einen ist zu fragen, ob der Staat bei der Abwägung der beteiligten Interessen der Bedeutung des Sexuallebens den richtigen Wert beimisst. Zum anderen muss untersucht werden, ob die paternalistische Zielrichtung gerechtfertigt werden kann. Streng genommen ist nur die zweite Fragestellung Gegenstand dieser Arbeit. Allerdings erscheint es denkbar, dass die Beantwortung der zweiten Frage nicht ohne Stellungnahme zur ersten möglich ist, dass man also auf die Qualität der durch die staatliche Regelung betroffenen Verhaltensweise eingehen muss, um über die Zulässigkeit des paternalistischen Eingriffs zu entscheiden. Es ergibt sich dann folgender erster Befund: Paternalismus ist immer problematisch, selbst wenn es um an sich banale Freiheitsbeeinträchtigungen wie die Gurtpflicht geht. Dies folgt aus der beschriebenen Zielsetzung paternalistischen Verhaltens, nämlich der impliziten Aussage, dass der Betroffene unfähig sei, seine Freiheit sinnvoll zu nutzen. Aber über diesen Grundfall hinaus kann Paternalismus noch in zweifacher Sicht weiter verschärft und damit eine Rechtfertigung weiter erschwert werden: Zum einen müssen die Handlungen, die paternalistisch eingeschränkt werden, nicht immer banaler Natur sein, sondern können eine wichtige Bedeutung im Leben des Einzelnen haben. Zum anderen kann sich der Staat auch Regelungsziele wählen, die problematischer sind als der Schutz der Gesundheit, indem er etwa Einfluss auf das sittliche Wohlerge4
BVerwGE 64, 274 ff.
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hen nehmen will. Paternalismus kann also das gesamte Spektrum der Freiheit betreffen; im Prinzip macht er auch vor grundlegenden Lebensentscheidungen nicht halt. Wenn es also die spezifische Zwecksetzung ist, die eine Regelung paternalistisch macht, so stellt sich die Frage, woran man dies erkennen kann – schließlich sieht man einem Gesetz nicht an, mit welchen Hintergedanken es erlassen wurde. Mit dieser Frage verwandt ist eine andere: Was soll gelten, wenn mehrere Gesetzeszwecke zusammenkommen? So kann der Gesetzgeber beispielsweise argumentieren, ein Rauchverbot habe erstens den Zweck, die potentiellen Raucher vor ihrem eigenen Verhalten zu schützen, zweitens sollten Nichtraucher nicht ungewollt durch Zigarettenrauch belästigt werden, und drittens sei ein Rauchverbot gerechtfertigt, da die durch das Rauchen hervorgerufenen Gesundheitsschäden die Sozialkassen und damit die Allgemeinheit belasteten. Die erste Frage – woran man ein paternalistisches Gesetz erkennt – ist jedoch schon falsch gestellt. Man kann viel darüber spekulieren, was beispielsweise im Fall der Gurtpflicht die Motive des Gesetzgebers waren. Realistischerweise wird man wohl davon ausgehen können, dass der Gesetzgeber die Vermeidung von Verletzungen im Auge hatte und nicht in erster Linie den Schutz Dritter oder der Allgemeinheit. Eine solche Untersuchung würde jedoch den Punkt verfehlen, um den es geht. Entscheidend für die moralische wie auch rechtliche Beurteilung eines Gesetzes ist nicht, ob es „wesensmäßig“ paternalistisch ist. Vielmehr muss jede Freiheitsbeschränkung durch einen oder mehrere legitime Zwecke gerechtfertigt werden5. Es geht daher hier nur um die Frage, ob der Schutz des Einzelnen vor sich selbst ein legitimer Gesetzeszweck ist. Wird das verneint, so kann dieser Zweck eben nicht zur Rechtfertigung des Gesetzes herangezogen werden. Es muss dann untersucht werden, ob andere Zwecke das Gesetz rechtfertigen können. Wird die Frage dagegen bejaht, so ist ein legitimer Zweck gefunden, und es muss untersucht werden, ob dieser Zweck das Gesetz ganz oder teilweise rechtfertigt bzw. ob noch andere Zwecke einschlägig sind. Ein Beispiel: Bei der Untersuchung der Zulässigkeit eines allgemeinen Rauchverbots kommen als legitime Zwecke der Schutz der Raucher vor ihrem eigenen Verhalten, der Schutz Dritter vor den Belästigungen durch den Rauch und der Schutz der Allgemeinheit vor den Folgekosten des Rauchens in Betracht. Man kann sich theoretisch die Prüfung der Paternalismusfrage ersparen, wenn die beiden anderen Zwecke schon zur Rechtfertigung eines Rauchverbots ausreichen. Möglicherweise aber greift das zweite Argument nicht durch, weil dazu ein öffentliches Rauchverbot ausreichend wäre, und das dritte Argument scheitert daran, dass der Staat letztlich am Rauchen aufgrund der Tabaksteuer 5 Dies gilt sowohl für die philosophische als auch für die juristische Rechtfertigung; vgl. nur G. Dworkin, in: Sartorius (Hrsg.), Paternalism, 19 (20); Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 278.
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und der Entlastung der Rentenkassen durch den früheren Tod der Raucher noch verdient. Dann käme es auf die Gültigkeit des Paternalismusarguments an. Entscheidend ist also nicht der Charakter eines Gesetzes als paternalistisch oder nicht, sondern, ob sich der Staat zur (Teil-) Rechtfertigung einer Freiheitsbeschränkung auf den Regelungszweck, den einzelnen vor sich selbst zu schützen, berufen kann.
II. Paternalismusformen In der angelsächsischen Literatur haben sich einige sinnvolle Begriffsunterscheidungen herausgebildet, die hier kurz vorgestellt werden sollen. Von besonderer inhaltlicher Relevanz für die Paternalismusdiskussion ist dabei die Unterscheidung zwischen hartem und weichem Paternalismus, während die Bedeutung der anderen Unterscheidungen in erster Linie in der begrifflichen Klarheit zu sehen ist. 1. Reiner und unreiner bzw. gemischter Paternalismus Man kann einen staatlichen Akt als rein paternalistisch bezeichnen, wenn er ausschließlich paternalistischen Zwecken dient; dagegen kann man von unreinem bzw. gemischtem Paternalismus sprechen, wenn neben der paternalistischen Zielsetzung auch noch andere Zwecke eine Rolle spielen6. 2. Direkter und indirekter Paternalismus Häufig wird derjenige, dessen Freiheit eingeschränkt wird, auch derjenige sein, der geschützt werden soll, wie im Fall der Gurtpflicht: Ihr unterliegt jeder Autofahrer, und sie hat (soweit sie paternalistisch ist) den Sinn, ihn selbst zu schützen. Im hypothetischen Fall eines allgemeinen Rauchverbots richtet sich das Verbot an die potentiellen Raucher, und diese sind es auch, die vor ihrem eigenen schädlichen Verhalten geschützt werden sollen. Diese Fallgruppe kann man mit Feinberg „direkten“ Paternalismus nennen7. Wie sieht es mit Fällen aus, in denen die Freiheit des einen eingeschränkt wird, um einen Dritten zu schützen? Man könnte sich vorstellen, dass kein Rauchverbot erlassen, sondern der Verkauf von Zigaretten unterbunden wird. Das Verbot richtet sich damit an die Händler; wer zufälligerweise im Besitz 6
Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 16 m. w. N. Feinberg, Harm to Self, 9. G. Dworkin, in: Sartorius (Hrsg.), Paternalism, 19 (22) nennt diese Gruppe „reinen Paternalismus“ (pure paternalism). Diese Terminologie, die in der Sache das Gleiche bezeichnet, ist aber irreführend und wird daher hier nicht verwendet. 7
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von Zigaretten ist, darf sie rauchen (wenn nicht zusätzlich ein Rauchverbot gilt). Nun könnte man in Versuchung geraten, diese Fälle unter dem Aspekt des Schutzes Dritter einzuordnen: Die Freiheit der Zigarettenverkäufer wird eingeschränkt, um die Gesundheit der potentiellen Raucher zu schützen. Das greift aber offensichtlich zu kurz, denn die Frage drängt sich auf, warum sich denn die Menschen nicht selbst vor der Gefahr des Rauchens schützen können, indem sie einfach keine Zigaretten kaufen oder nicht rauchen. Offenbar steckt hinter einer solchen Regelung doch ein paternalistisches Motiv. Der Ansatzpunkt für den Schutz wird einfach vorverlagert; anstatt das Rauchen zu verbieten, wird der Verkauf von Zigaretten verboten. Das Motiv bleibt das gleiche: Den Einzelnen gegen seinen Willen zu schützen. Damit sind auch diese Fälle paternalistisch; der Paternalismus ist hier aber „indirekt“8. Damit verwandt ist die Unterscheidung von Paternalismus im Ein-PersonenVerhältnis und im Mehr-Personen-Verhältnis9. Normalerweise wird Paternalismus im Ein-Personen-Verhältnis direkter Paternalismus sein, wie im Beispiel der Gurtpflicht, dagegen liegt beim Zwei-Personen-Verhältnis regelmäßig indirekter Paternalismus vor, wie beim Verbot des Zigarettenverkaufs. Ausnahmen sind aber denkbar. So kann der Staat lediglich das Kaufen, nicht aber das Verkaufen von Zigaretten pönalisieren. Dann ist der Käufer (der Raucher) derjenige, der mit der Sanktion belegt wird, und er ist auch derjenige, der geschützt werden soll. Dann liegt ein Fall von direktem Paternalismus im MehrPersonen-Verhältnis vor. 3. Harter und weicher Paternalismus In der angelsächsischen Literatur wird häufig zwischen hartem Paternalismus (hard paternalism) und weichem Paternalismus (soft paternalism) unterschieden10. Harter Paternalismus bedeutet, dass der Schutz auch dem aufgedrängt werden darf, der seine Entscheidung für eine Selbstgefährdung oder -verletzung völlig freiwillig (voluntary) trifft. Vertreter des weichen Paternalismus lehnen dies ab; sie sind aber der Ansicht, dass ein Eingreifen zum Schutze des Betroffenen erlaubt sein soll, wenn dessen Entscheidung unfreiwillig ist. Die Bedeutung dieser Unterscheidung liegt darin, dass einige Autoren behaupten, zutreffenderweise sei weicher Paternalismus gar kein Fall von Paternalismus. Feinberg ist der Ansicht, weicher Paternalismus vertrage sich ganz unproblematisch mit Liberalismus. Als Beispiel bringt er den Fall eines ansonsten normalen Mannes, der zuerst mit harten Drogen experimentiert und sich anschließend mit einem Schlachtermesser die Kehle durchschneiden will. Der 8
Feinberg, ebd., 9 f.; G. Dworkin, ebd. Feinberg, ebd., 9. 10 Vgl. ebd., 12. 9
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Grund, warum ein Einschreiten gerechtfertigt sei, liege darin, dass die Entscheidung, sich umzubringen, aufgrund des Einflusses der Drogen nicht autonom getroffen worden sei; man könne insoweit gar nicht von „seiner“ Entscheidung sprechen. Deshalb seien es zwei völlig unterschiedliche Dinge, einen Mann vor Gefahren für seine Autonomie zu bewahren, und seine Autonomie durch äußeren Zwang zu unterdrücken11. Der Unterschied zeige sich auch an einem anderen Punkt: Harter Paternalismus setze in der Regel das Strafrecht ein, um unerwünschte Selbstgefährdungen oder -verletzungen zu unterbinden. Im Fall von weichem Paternalismus sei der Einsatz des Strafrecht aber gar nicht angebracht; es sei immer moralisch unvertretbar, jemanden, der sich unfreiwillig selbst gefährde, mit Strafe zu bedrohen12. Die beiden Punkte, die Feinberg anspricht, zeigen wichtige Unterschiede zwischen hartem und weichem Paternalismus auf. Dennoch rechtfertigen sie nicht, weichen Paternalismus nicht mehr als Paternalismus zu bezeichnen. Es ist insbesondere zu beachten, dass es überhaupt kein evidentes Kriterium für Freiwilligkeit gibt. Wenn sich jemand, der sich sonst völlig normal verhält, im Drogenrausch selbst töten will, so ist das sicherlich ein Fall von Unfreiwilligkeit, und es macht Sinn, zu argumentieren, man wolle durch ein Unterbinden seiner Handlungen seine Entscheidungsfähigkeit nicht verletzen, sondern sie gerade schützen. Aber was ist mit demjenigen, der sich nach einigen Gläsern Wein plötzlich töten will, ohne aber im Vollrausch zu sein, oder einem leicht Depressiven, der sich nach einer Stimmungsschwankung das Leben nehmen will? Man kann über das Recht des Staates, in diesen Fällen einzugreifen, geteilter Meinung sein; jedoch zeigen sie, dass es kein evidentes Kriterium zur Abgrenzung von freiwilligem und unfreiwilligem Verhalten gibt. Es erscheint zudem nicht ausgeschlossen, dass eine Untersuchung der möglichen Rechtfertigung von hartem Paternalismus (oder zumindest Paternalismus in Fällen, in denen der Betroffene nicht offensichtlich unfreiwillig handelt) gerade an dem Punkt der Freiwilligkeit ansetzen muss, und sehr schwierige Differenzierungen vorzunehmen sind. Dann ist es aber verfrüht, sich in diesem Stadium der begrifflichen Klärung schon auf ein bestimmtes Modell festzulegen. Denn wenn eine begriffliche Ausscheidung von weichem Paternalismus für die weitere Untersuchung Sinn machen soll, darf sie nicht auf Prämissen beruhen, die erst später eingehend zu untersuchen sind. Deshalb wird in dieser Arbeit unter dem Oberbegriff des Paternalismus sowohl harter als auch weicher Paternalismus verstanden.
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Ebd., 14. Ebd., 15.
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1. Kap.: Einleitung
III. Paternalismus, Liberalismus und Kommunitarismus Die Frage nach der Zulässigkeit von staatlichem Paternalismus lässt sich als Teilaspekt der Liberalismus-Kommunitarismus-Debatte verstehen, die im angloamerikanischen Raum seit einigen Jahrzehnten geführt wird. Es darf jedoch nicht übersehen werden, dass zwar der Begriff „Kommunitarismus“ noch recht jung ist – er wurde geprägt durch Michael Sandel und sein Buch ,Liberalism and the Limits of Justice‘ zu Beginn der 1980er Jahre –, die Fragestellungen die Menschheit jedoch häufig schon viel länger beschäftigen. Das gilt insbesondere für die Frage nach dem Verhältnis von Recht und Moral, die sich in der Debatte in verschiedenen Formen wiederfinden lässt. „Kommunitarismus“ ist – wie auch „Liberalismus“ – ein schillernder Begriff, der viele verschiedene Strömungen umfasst. Allgemein gesprochen, geht es den Kommunitaristen darum, die vom Liberalismus aufgestellten Grundsätze politischer Moral einer Revision zu unterziehen, wobei oft das Hauptwerk des modernen Liberalismus, John Rawls’ „Theorie der Gerechtigkeit“, den Ausgangsund Hauptangriffspunkt bildet13. Der vielleicht wichtigste Kritikpunkt der Kommunitaristen ist der Vorwurf, dass das liberale Insistieren auf Toleranz auch Nachteile mit sich bringe, die im Rahmen der politischen Moral Beachtung finden müssten. Allgemein gesprochen ist der Vorwurf, dass „liberal tolerance . . . undermines community because the heart of community is a shared ethical code“14. Aus diesen Kritikpunkten, die sich in der einen oder anderen Form bei den meisten Kommunitaristen wiederfinden lassen, werden dann Schlussfolgerungen für die politische Moral und insbesondere die Frage, welche Freiheitsbeschränkungen der Staat seinen Bürgern zumuten kann, gezogen. Die daraus entstehenden verschiedenen Ansätze lassen sich mit Ronald Dworkin in vier verschiedene Gruppen einteilen15. Das erste Argument16 ist ein demokratietheoretisches und setzt Gemeinschaft mit Mehrheit gleich. Dieser Ansatz ist im Rahmen dieser Arbeit nicht weiter von Bedeutung; er hat seinen Hintergrund in Besonderheiten des amerikanischen Verfassungsrechts. In dem berühmt-berüchtigten Fall Bowers hatte der Supreme Court im Jahre 1986 mit knapper Mehrheit entschieden, dass ein Gesetz, das sodomy (Analverkehr) unter Strafe stellte, verfassungsgemäß sei, und dabei unter anderem argumentiert, dass die Mehrheit ihre Version von ethi13
Mulhall/Swift, Liberals and Communitarians, 1. R. Dworkin, Sovereign Virtue, 211, wobei zu beachten ist, dass Dworkin diese Kritik nur auf den Punkt bringt, sie sich jedoch nicht zueigen macht, s. ebd. 15 Ebd., 211 ff. 16 Vgl. ebd., 211 f., 212 ff. 14
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schem Verhalten mit den Mitteln des Rechts durchsetzen dürfe. Die Frage ist an dieser Stelle nicht, ob der Staat eine Moral vertreten darf, sondern lediglich, ob es das Modell der Demokratie mit sich bringt, dass die Mehrheit, nur weil sie die Mehrheit ist, für alle verbindliche ethische Verhaltensnormen festsetzen darf. Das zweite Argument17 ist das, mit dem sich diese Arbeit beschäftigt. Paternalismus hat seine Wurzel nicht im Eigeninteresse desjenigen, der sich paternalistisch verhält; es geht nicht darum, dass durch das paternalistische Verhalten irgend jemandem außer dem, der geschützt werden soll, etwas Gutes getan wird. Es profitiert weder ein Dritter noch die Gemeinschaft als Ganzes; vielmehr soll nur dem zu Schützenden geholfen werden, sein Leben besser zu gestalten. Paternalismus beruht damit auf der Idee der Nächstenliebe. Die Gemeinschaft wird nicht nur als Mittel gesehen, einen wie auch immer gearteten Mehrheitswillen durchzusetzen, oder das eigene Wohlergehen möglichst weitgehend zu fördern, sondern als Ort, an dem jeder auch für den anderen Verantwortung übernimmt. Das dritte Argument18 setzt an dem „individualistischen Atomismus“ an, den der Liberalismus einigen seiner Kritiker zufolge mit sich bringt. Es strebt an, die Bedeutung der Gemeinschaft für das Leben des Einzelnen zu betonen. Der Einzelne sei in vielerlei Hinsicht auf die Gemeinschaft angewiesen – er brauche sie insbesondere zur Befriedigung berechtigter materieller und geistiger Bedürfnisse und eines Bedürfnisses nach Objektivität. Was die materiellen Bedürfnisse angehe, so brauche jeder Einzelne beispielsweise Sicherheit und die ökonomischen Vorteile der Arbeitsteilung; niemand könne ein adäquates Leben führen ohne gewisse Gemeinschaftsmechanismen zur Rationalisierung der Produktion oder der Bereitstellung von Polizei oder Armee. In geistiger Hinsicht brauche der Einzelne die Gemeinschaft zur Identitätsbildung. Der Einzelne könne sich, wenn er an sein eigenes Wohlergehen denke, nicht von gewissen Verbindungen zur Gemeinschaft distanzieren. Dworkin bringt zur Erklärung dieses Ansatzes das Beispiel, dass eine gläubige Katholikin gar nicht fragen könne, wie wichtig der Katholizismus für ihr Leben sei, weil der Katholizismus eine viel zu zentrale Stellung in ihrer Persönlichkeit einnehme; eine solche Frage wäre sinnlos. In der gleichen Weise wie sich unsere Katholikin mit dem Katholizismus identifiziere, laufe auch die Identifizierung der Menschen in einer moralisch homogenen Gesellschaft mit den gemeinsamen Moralvorstellungen ab. Die Gemeinschaft sei dann eine Gemeinschaft von gemeinsamen Anschauungen, die zur Identität des Einzelnen beitrügen. Wenn die Gemeinschaft dann aber Abweichungen tolerieren würde, würde die
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Vgl. ebd., 211 f., 216 ff. Vgl. ebd., 211 f., 218 ff.
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Selbstidentifikation der Menschen gestört werden. Damit verwandt ist die Argumentation, dass es ein berechtigtes Bedürfnis nach Objektivität gebe. Jede Ethik müsse einen „Anker“ haben, einen objektiven Bezugspunkt außerhalb der bloßen Überzeugungen und Ansichten des Einzelnen, und der einzig mögliche Anker seien die unbezweifelten gemeinsamen Überzeugungen der Gemeinschaft. Durch diesen dritten Ansatz wird der Akzent nun verschoben von dem Einzelnen auf die Gemeinschaft. Dieses Argument beruht im Gegensatz zum paternalistischen Ansatz auf dem Gedanken des Eigeninteresses: Paternalismus beschneidet die Freiheit des anderen, um ihn selbst zu schützen. Der Vertreter des dritten Ansatzes dagegen tut dies, um sich selbst und die anderen Mitglieder der Gemeinschaft zu schützen. Er argumentiert, dass es für seine eigene Identitätsbildung wichtig ist, dass sich der, dessen Verhalten oder dessen Moralvorstellungen abweichen, anpasst, und zwar notfalls unter Einsatz von Strafdrohung. Die vielleicht einfachste Variante dieses dritten kommunitaristischen Arguments findet man bei Lord Devlin, und gerade ihre Schlichtheit macht sehr gut den Punkt klar, um den es hier geht. Devlin reagierte mit seiner Schrift „The Enforcement of Morals“ auf den Wolfenden Report19, der in den 1950er Jahren erfolgreich die Liberalisierung der Gesetze gegen Homosexuelle in England empfohlen hatte. Seine These war, dass eine Gemeinschaft nicht überleben(!) könne, wenn sie nicht eine moralische Homogenität erlange und eine Fähigkeit zu intuitiver Entrüstung der Mitglieder20. Devlin meinte später, er habe damit nicht sagen wollen, dass die Tolerierung von Homosexualität notwendigerweise die Gemeinschaft untergraben würde. Vielmehr habe er nur den allgemeinen Punkt betonen wollen, dass eine tolerante Gesellschaft durch die Abweichler auch bedroht werden könne, und deshalb ein Prinzip, das Intoleranz von vornherein ausschließe, keine Gültigkeit haben könne21. Das vierte Argument22 geht davon aus, dass die Unterscheidung zwischen dem Leben des Einzelnen und dem der Gesellschaft, in der er lebt, unzulässig ist. Vielmehr sei der Wert eines einzelnen Lebens nur eine Reflexion des Wertes des Lebens der Gemeinschaft; das Leben des Einzelnen und das der Gesellschaft seien integriert (integrated). Der Unterschied zum dritten Argument ist, dass das dritte Argument auf dem Prinzip des Eigeninteresses beruht, also den Blick auf das Leben des Einzelnen lenkt. Dieser Ansatz nimmt jedoch das Leben der Gesellschaft als Ganzes in den Blick. Dieser unterschiedliche Akzent 19 Report of the Committee on Homosexual Offences and Prostitution: The Wolfenden Report (zitiert nach R. Dworkin, ebd., 487, Fn. 14). 20 Devlin, The Enforcement of Morals (zitiert nach R. Dworkin, Taking Rights Seriously, 242, Fn. 3). Siehe auch ebd., 242 ff. für eine Diskussion von Devlins Ansichten. 21 Devlin, in: University of Pennsylvania Law Review 110 (1962), 635 ff. (zitiert nach R. Dworkin, Sovereign Virtue, 487, Fn. 16). 22 Vgl. R. Dworkin, ebd., 212, 222 ff.
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kann an einem Beispiel verdeutlicht werden. Wenn es um gewisse, für unmoralisch befundene Sexualpraktiken geht, so würde ein Vertreter des dritten Ansatzes argumentieren, dass diese unterbunden werden könnten oder müssten, weil es für das Leben des Einzelnen wichtig sei, dass es in der Gemeinschaft gewisse gemeinsame Anschauungen über moralisches Sexualverhalten gebe. Gebe es diese nicht, so werde die Selbstidentifikation des Einzelnen gestört oder ein berechtigtes Interesse nach Objektivität vernachlässigt, was das Gelingen der Leben der Mitglieder der Gemeinschaft erschwere. Ein Vertreter des Arguments der Integration dagegen würde sagen, dass es gleichsam eine Frage der moralischen Hygiene der Gesellschaft als Ganzes sei, dass es gewisse Vorschriften zur Sexualmoral gebe; der Wert der Gesellschaft als Ganzes, und nicht nur die einzelnen Mitglieder, würde leiden, wenn es diese nicht gäbe. Der Blickpunkt liegt also im einen Fall auf dem Einzelnen und im anderen auf der Gemeinschaft. Im Rahmen dieser Arbeit ist besonderes Augenmerk auf die Abgrenzung zwischen dem zweiten Ansatz (Paternalismus) und dem dritten und vierten (Eigeninteresse und Integration) zu legen, denn hier besteht eine gewisse Verwechslungsgefahr. Der Grund liegt darin, dass sowohl Paternalismus als auch die Ansätze zu Eigeninteresse und Integration teilweise das zwangsweise Durchsetzen moralischer Regeln propagieren23. Es wurde bereits klargestellt, dass sich Paternalismus nicht in Banalitäten wie Gurtpflichten o. ä. erschöpft, sondern auch eingesetzt werden kann, um gewisse sittliche Werte zu bewahren. So kann Paternalismus ebenso wie die Ansätze zu Eigeninteresse und Integration herangezogen werden, um bestimmte Sexualformen zu untersagen. Der grundlegende Unterschied ist jedoch die Zielrichtung, mit der das geschieht. Wenn ein Paternalist in dieser Weise handelt, so will er damit den Betroffenen vor seinem eigenen Verhalten schützen. Der Paternalist könnte der Ansicht sein, dass sich diese – unmoralische – Variante sexueller Betätigung negativ auf den Charakter und die sittliche Reife des Handelnden auswirkt. Um den Handelnden vor dem sittlichen Verfall zu bewahren, unterbindet er das Verhalten. Ganz anders würden die Vertreter des Ansatzes zum Eigeninteresse oder der Integrität an das Problem herangehen. Sie würden auf die objektive Geltung gewisser Moralvorschriften pochen, und die Nachteile betonen, die bei Nichtbeachtung dieser Regeln für die anderen bzw. für die Gesellschaft erwachsen würden. Es kommt also immer entscheidend darauf an, wer derjenige ist, der geschützt werden soll. In dieser Arbeit geht es nur um die Frage, ob Paternalismus legitim ist oder nicht. Daher werden die anderen Fragen ausgeblendet, wo immer dies möglich ist, zumal sie zu komplex sind, um kurzerhand „nebenbei“ mitbehandelt zu werden24. 23 Eingehend zur Unterscheidung von „paternalism“ und „enforcement of morality“ Ten, Ratio 13 (1971), 56 (63 f.). 24 Das mag dadurch veranschaulicht werden, dass Feinberg in seinem vierbändigen Werk zu „The Moral Limits of the Criminal Law“ neben dem zweiten Band zum Pa-
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1. Kap.: Einleitung
IV. Problematik des Begriffs 1. Negative Konnotation Der Begriff „Paternalismus“ wird meistens in einem abwertenden Sinn gebraucht. Wenn man sagt, jemand verhalte sich paternalistisch, so wird das in aller Regel ein Vorwurf und kein Lob sein. Feinberg geht so weit, dass er sagt, Paternalismus sei ein Etikett, das von den Gegnern von Paternalismus erfunden sein könnte25. Insoweit ist der Begriff unglücklich gewählt, denn in dieser Arbeit geht es ja darum, Paternalismus erst einmal zu untersuchen und hinterher ein Werturteil abzugeben. Dennoch erscheint es unangebracht, den eingebürgerten Begriff aus diesem Grunde durch einen anderen zu ersetzen. 2. Konfusion Der Begriff „Paternalismus“ beruht auf einer Analogie: Der Staat verhält sich gegenüber dem Einzelnen wie ein Vater – oder allgemeiner ein Elternteil – gegenüber seinem Kind. Diese Analogie soll ausdrücken, dass der Staat den Einzelnen als unfähig ansieht, für sich selbst zu sorgen, und dieser deshalb auch gegen seinen Willen geschützt werden muss, so wie ein Elternteil sein Kind vor gewissen Gefahren schützen muss, in die sich Kinder aufgrund ihrer Unreife begeben. Wie im Eltern-Kind-Verhältnis, so kann auch bei staatlichem Paternalismus ein erzieherisches Element mitschwingen. Ziel der elterlichen Erziehung ist es, dem Kind die Fähigkeiten zu vermitteln, die Gefahren des Lebens auch ohne elterliche Bevormundung zu meistern. In Bezug auf eine bestimmte Gefahrenquelle, beispielsweise, nicht auf heiße Herdplatten zu fassen, soll bei dem Kind spätere Einsicht erzeugt werden, dass es tatsächlich schädlich ist, auf heiße Herdplatten zu fassen, und dass das elterliche Verbot richtig war. Das muss nicht immer gelingen: Wenn das Kind später als Erwachsener sein Leben in einer Weise führt, die von den elterlichen Vorstellungen über eine gute Lebensführung deutlich abweicht, wird es gewisse Einschränkungen, die es hinzunehmen hatte, vielleicht nie gutheißen oder sogar entschieden ablehnen. So kann es ein 25-Jähriger im Rückblick albern finden, dass er als 17-Jähriger samstagabends um 22 Uhr zu Hause sein musste. Oder er kann sich auch im Nachhinein über die sexuelle Prüderie seiner Eltern aufregen und diese als schädlich für seine Entwicklung begreifen. Dennoch ändert das nichts an dem Befund, dass zumindest das Ziel der elterlichen Erziehung immer die spätere Einsicht ist.
ternalismusproblem („Harm to Self“) einen weiteren (den vierten) Band dem angesprochenen Problemfeld widmet („Harmless Wrongdoing“). 25 Feinberg, Harm to Self, 4.
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Auch der Staat kann eine solche Motivation haben, er muss es aber nicht. Ein paternalistisches allgemeines Rauchverbot kann sich in dem Zweck erschöpfen, die Menschen vom Rauchen abzuhalten, und dadurch ihre Gesundheit zu schützen, unabhängig davon, ob der Einzelne diesen Schutz letztendlich begrüßen soll oder nicht. Der Staat kann allerdings auch darauf bauen, dass – nach einer gewissen Zeit – die Menschen das Rauchverbot begrüßen und dankbar dafür sind, dass sie dieser sinnlosen und schädlichen Versuchung gar nicht erst ausgesetzt waren. Hier sehen wir also einen Punkt, in dem die Analogie an ihre Grenzen stößt. Ein weiterer Punkt, an dem die Analogie nicht recht passt, ist der folgende: Eltern verhalten sich ihren Kindern gegenüber nicht nur dann paternalistisch, wenn sie diesen Schutz aufzwingen, den die Kinder nicht wollen oder dessen Notwendigkeit sie nicht erkennen. Wenn eine Mutter ihr Kind vor dem Angriff eines Hundes beschützt, so kommt sie einer elterlichen Pflicht zum Schutz ihres Kindes nach, und man kann ihr Verhalten insoweit paternalistisch nennen. Wenn der Staat seine Bürger vor den Angriffen von Hunden schützt, hat das dagegen nichts mit Paternalismus zu tun. Nicht jedes elterliche Verhalten, das man paternalistisch nennen könnte, ist auch dann paternalistisch, wenn es vom Staat ausgeführt wird. Vielmehr passt die Analogie nur dann, wenn die Eltern den natürlichen Willen ihres Kindes überspielen26. Der Begriff „Paternalismus“ bringt recht prägnant auf den Punkt, worum es geht, wenn der Staat den Einzelnen gegen seinen Willen schützt. Man muss sich nur über die Grenzen der Analogie zur elterlichen Erziehung im Klaren sein, um zu vermeiden, dass man in Bezug auf staatlichen aufgedrängten Schutz aus dem Begriff „Paternalismus“ Schlussfolgerungen über die Natur dieser Maßnahmen zieht, die bei näherer Betrachtung nicht gerechtfertigt sind. 3. Sexismus Es war natürlich zu erwarten, dass der Begriff des Paternalismus auch dem Vorwurf des Sexismus ausgesetzt werden würde. Die Gegenvorschläge reichen von „Maternalismus“ (maternalism) bis hin zu „Parentalismus“ (parentalism)27. Warum „Maternalismus“ weniger sexistisch sein soll als „Paternalismus“, erscheint nicht ganz klar. „Parentalismus“ wäre immerhin noch eine Alternative; dagegen spricht aber, dass sich im englischsprachigen Raum die Bezeichnung „paternalism“ eingebürgert hat, so dass eine Umbenennung vermutlich eher Verwirrung stiften würde. Deshalb wird es in dieser Arbeit bei dem Begriff „Paternalismus“ bleiben. 26 27
Kleinig, Paternalism, 4. Vgl. ebd., Preface m. w. N.
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1. Kap.: Einleitung
B. Ziel der Arbeit I. Verfassungsrechtliche Perspektive Staatlicher Paternalismus wird hier aus verfassungsrechtlicher Perspektive untersucht. Paternalismus ist aufgrund seiner engen Beziehung zum Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen in grundrechtlicher Sicht erst einmal suspekt. Es erscheint deshalb problematisch, die Zulässigkeit von Paternalismus in einem bestimmten Rechtsgebiet unabhängig von der verfassungsrechtlichen Ausgangslage zu untersuchen28. Ergäbe beispielsweise die verfassungsrechtliche Untersuchung, dass jede Form von hartem Paternalismus unter dem Grundgesetz unzulässig ist, so hätte dieses Ergebnis unmittelbare Bedeutung für das Strafrecht als Teil des öffentlichen Rechts und wäre über die Drittwirkung der Grundrechte auch vom Zivilrecht zu beachten. Wäre dagegen das Resultat, dass Paternalismus unter bestimmten Umständen zulässig ist, so müssten die einschränkenden Bedingungen auch vom einfachen Recht beachtet werden. Schließlich ist noch vorstellbar, dass Paternalismus in gewissem Umfang vom Grundgesetz sogar verpflichtend vorgeschrieben ist – dann müsste das einfache Recht möglicherweise sogar paternalismusfreundlich ausgelegt werden. Die verfassungsrechtlichen Grenzen von Paternalismus sind also in jedem Fall vorrangig zu untersuchen.
II. Begrenzung auf die Paternalismusfrage Diese Arbeit widmet sich der Frage, ob und inwieweit staatlicher Paternalismus mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Dagegen wird die Erörterung von Rechtfertigungsmöglichkeiten für schützende Eingriffe über die Interessen Dritter oder der Allgemeinheit weitgehend ausgeklammert. Nur dort, wo eine scharfe Trennungslinie nicht eindeutig gezogen werden kann, wird diese Problematik mitbehandelt29. Durch das hier gewählte Vorgehen wird der Schwerpunkt von der allgemeinen Erörterung, inwieweit der Staat den Einzelnen aufgrund der verschiedensten Rechtfertigungsmöglichkeiten schützen darf, auf die Legitimität eines staatlichen Regelungsziels „aufgedrängter Schutz“ verschoben und zugespitzt. Diese Frage ist in der bisherigen grundrechtsdogmatischen Diskussion zu kurz gekommen: Die einschlägigen Arbeiten sind sich zumeist schnell einig über die Unzulässigkeit von Paternalismus, und konzentrieren sich dann auf die übrigen, nichtpaternalistischen Rechtfertigungsmöglichkeiten30. Wenn jedoch gezeigt werden könnte, dass staatlicher Paternalismus im Gegensatz zu 28 Einen solchen Ansatz wählt aber Chatzikostas, Die Disponibilität des Rechtsgutes Leben in ihrer Bedeutung für die Probleme von Suizid und Euthanasie, 156 ff. 29 Dies wird etwa bei der Erörterung der Theorie der objektiven Werte der Fall sein.
B. Ziel der Arbeit
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den bisher entwickelten theoretischen Konzeptionen in gewissem Umfang zulässig ist, würde insoweit der etwas künstliche „Umweg“ über Dritt- und Allgemeinwohlinteressen überflüssig werden.
III. Der Wert einer philosophischen Betrachtung In der angelsächsischen Welt wird die Frage der moralischen Zulässigkeit von Paternalismus seit einiger Zeit kontrovers diskutiert. Diese Diskussion wird hier rezipiert und teilweise auch kritisch diskutiert. Dabei beschränkt sich die vorliegende Arbeit bewusst auf die angelsächsische Philosophie und klammert die deutsche Tradition fast völlig aus. Die Einbeziehung philosophischer Ansätze geschieht nicht in erster Linie mit dem Ziel, einen Beitrag zur philosophischen Diskussion zu leisten; vielmehr soll in dieser Arbeit nur die Position des Grundgesetzes geklärt werden. Es geht auch nicht darum, der „für das Selbstverständnis des deutschen Juristen und Rechtswissenschaftlers mit seiner traditionellen Abneigung gegen (offene) rechtspolitische Argumentation sehr attraktive[n] Position und Verführung“31 nachzugeben, im Gewande des Verfassungsrechts politische oder philosophische Diskussionen zu führen. Entscheidend ist immer, was die Verfassung sagt. Die philosophische Betrachtung ist für den Grundrechtsdogmatiker aber in zweierlei Hinsicht interessant. Zum ersten kann die Grundrechtsdogmatik durch die Philosophie Anregungen erhalten. Wenn in der Philosophie ein bestimmter Ansatz zu einem Problem vertreten wird, ist es immer denkbar, dass dieser in der Grundrechtsdogmatik eine Parallele findet, die in dieser Weise bisher noch nicht gesehen wurde. Das gilt auch für die generelle Herangehensweise an eine Fragestellung. Die Philosophie kann dabei helfen, die Frage erst einmal richtig zu stellen, so dass es dann auch einfacher ist, die richtige Antwort zu finden. Dies wird im Rahmen dieser Arbeit beispielsweise eine Rolle bei der moraltheoretischen Ausgangsposition spielen, die man bei der Erörterung von Paternalismus zu Grunde legen muss. Zum zweiten kann die Philosophie dabei helfen, Widersprüche einer bestehenden grundrechtsdogmatischen Konzeption aufzudecken. Auch die Interpretation des Grundgesetzes ist an dem Ideal der Widerspruchsfreiheit orientiert32. Insofern kann die Philosophie, sofern sie sich mit vergleichbaren Frage30 Vgl. Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes vor Selbstschädigung, 201 ff.; Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 158 ff.; Schwabe, JZ 1998, 66 (70 ff.). 31 Wahl, NVwZ 1984, 401 (407).
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1. Kap.: Einleitung
stellungen beschäftigt, dabei helfen, Ungereimtheiten einer dogmatischen Konstruktion zu beseitigen. In dieser Arbeit wird die Philosophie beispielsweise bei der Erörterung der Freiwilligkeit einer Handlung Widersprüche in der bisherigen Dogmatik aufdecken helfen. Aus den beiden genannten Gründen kann eine Einbeziehung philosophischer Diskussionen auch für rechtsdogmatische Arbeiten von großer Bedeutung sein. Wie fruchtbar dies im Einzelfall sein wird, hängt dabei von der Vergleichbarkeit der Fragestellungen ab: Es liegt auf der Hand, dass die Philosophie umso hilfreicher für den Grundrechtsdogmatiker sein wird, je ähnlicher die Strukturen sind, in denen Philosophen und Dogmatiker denken. Es wird sich herausstellen, dass gerade die moderne angelsächsische politische Philosophie zu einem großen Teil von einem so genannten rechtebasierten Ansatz ausgeht, also moralische Rechte des Einzelnen gegen den Staat annimmt. Zudem verläuft die angelsächsische Diskussion zur Zulässigkeit von Paternalismus ebenfalls häufig in Bahnen, die dieser moraltheoretischen Grundeinstellung entsprechen. Diese Parallele zum Grundgesetz kann in besonderem Maße zur Ergiebigkeit der Einbeziehung der philosophischen Diskussion beitragen. Hieraus rechtfertigt sich auch die hier vorgenommene Beschränkung auf die angelsächsische Philosophie unter Ausklammerung der kontinentaleuropäischen Tradition, zumal diese bereits von Hillgruber diskutiert wurde33.
C. Die bisherigen Stellungnahmen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der Literatur An dieser Stelle soll ein kurzer Überblick über die bisher zum Thema erschienene Rechtsprechung und Literatur gegeben werden. Dabei wird sich bereits zeigen, dass die Rechtsprechung einer ausführlichen Auseinandersetzung mit der Paternalismusfrage bisher ausgewichen ist und die Literatur sich überwiegend auf die Aspekte der Interessen Dritter und der Allgemeinheit konzentriert, die in dieser Arbeit nicht bearbeitet werden sollen. Das schafft Raum für die hier zu untersuchende Frage der Zulässigkeit von Paternalismus. Soweit sich in Rechtsprechung und Literatur Äußerungen zu dieser Problematik finden, bleibt die ausführliche Diskussion der vertretenen Ansichten dann den folgenden Kapiteln vorbehalten.
32
Vgl. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 336 ff., 344. s. dazu Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 5 ff., 27 ff. (zu philosophischen Ansätzen in den Staatstheorien der Aufklärung sowie zur Entwicklung des deutschen Staatsrechts in Bezug auf die staatliche „Bevörderung der Glückseligkeit“). 33
C. Stellungnahmen in Rechtsprechung und Literatur
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Die wenigen Stellungnahmen des Bundesverfassungsgerichts zum Problem des aufgezwungenen Schutzes sind eher beiläufig und geben für eine grundlegende Betrachtung nicht viel her. Das Gericht hat weichen Paternalismus für Geisteskranke und Minderjährige in gewissen Grenzen für zulässig erachtet. Einen ersten Hinweis gab es in BVerfGE 22, 180, wo es feststellte, dass eine Anstaltsunterbringung, die dem Schutz des Betroffenen dient, dann zulässig sei, wenn der Betroffene daran gehindert werden solle, sich selbst größeren persönlichen oder wirtschaftlichen Schaden zuzufügen, nicht jedoch, wenn es nur um die „Besserung“ des Betroffenen gehe34. In einer anderen Entscheidung wurde das Gericht etwas ausführlicher. Es ging es um die Verfassungsmäßigkeit einer Vorschrift, die die Unterbringung eines Geisteskranken in einer geschlossenen Anstalt vorsah, wenn er für sich gefährlich oder der Gefahr ernster Gesundheitsschädigung ausgesetzt war35. Das Gericht stellte zunächst fest, dass die Freiheit der Person auch dem Geisteskranken garantiert sei. Der staatliche Eingriff sei jedoch gerechtfertigt. Zwar stehe es unter dem Grundgesetz jedermann frei, Hilfe zurückzuweisen, soweit dadurch nicht Rechtsgüter anderer oder der Allgemeinheit in Mitleidenschaft gezogen würden. „Nur wenn überwiegende Belange des Gemeinwohls, wie sie mit den Schranken des Art. 2 Abs. 1 GG bestimmt sind, es zwingend gebieten, muss der Freiheitsanspruch des Einzelnen insoweit zurücktreten. Das Gewicht, das dem Freiheitsanspruch gegenüber dem Allgemeinwohl zukommt, darf aber nicht losgelöst von den tatsächlichen Möglichkeiten des Fürsorgebedürftigen bestimmt werden, sich frei zu entschließen. Bei psychischer Erkrankung wird die Fähigkeit zur Selbstbestimmung oft erheblich beeinträchtigt sein. In solchen Fällen ist dem Staat fürsorgerisches Eingreifen auch dort erlaubt, wo beim Gesunden Halt geboten ist.“36 Es ist hier nicht klar, wie das Gericht die Verbindung vom Gemeinwohl zum Schutz des Betroffenen zieht: Man mag ihm zwar insoweit folgen, dass das Freiheitsrecht des Einzelnen bei fehlender oder verminderter Fähigkeit zur Selbstbestimmung an Gewicht verliert. Jedoch ist damit noch nicht gesagt, worin das Gemeinwohlinteresse an seiner Behandlung bestehen soll. Das Bundesverfassungsgericht führt ergänzend an, dass seit jeher der Wille des Geisteskranken durch die bessere Einsicht des für ihn Verantwortlichen ersetzt werden durfte, und dass das Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes ebenfalls für eine solche Lösung spreche37. Auch der paternalistische Schutz von Kindern und Jugendlichen wird vom Gericht für zulässig gehalten, wobei dies schon deshalb nicht verwundert, weil Art. 6 II GG mit dem elterlichen Erziehungsrecht und dem Wächteramt der 34 35 36 37
BVerfGE 22, 180 (219). BVerfGE 58, 208 ff. Ebd., 225. Ebd.
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1. Kap.: Einleitung
staatlichen Gemeinschaft eine ausdrückliche Regelung bereithält. Das Bundesverfassungsgericht erkennt ein Recht von Kindern und Jugendlichen auf Entfaltung ihrer Persönlichkeit aus Art. 2 I i.V. m. 1 I GG an, betont aber: „Sie bedürfen des Schutzes und der Hilfe, um sich zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten innerhalb der sozialen Gemeinschaft zu entwickeln . . . Dieser Gesichtspunkt berechtigt den Staat, von Kindern und Jugendlichen Einflüsse fernzuhalten, welche sich auf ihre Einstellung zum Geschlechtlichen und damit auf die Entwicklung ihrer Persönlichkeit nachteilig auswirken können.“38 Des Weiteren gibt es eine Reihe von Entscheidungen, in denen das Gericht eine staatliche Befugnis zum Schutz geistig gesunder Erwachsener angenommen hat, ohne sie eingehend zu begründen. In der Schutzhelmentscheidung verwarf es die Verfassungsbeschwerde eines Motorradfahrers, der sich gegen die Schutzhelmpflicht wandte39. Es stellte knapp fest, dass ein Schutzhelm geeignet und aufgrund der mangelnden Effizienz von Aufklärung, Appellen und zivilrechtlichen Folgen auch erforderlich sei, Kopfverletzungen zu vermeiden oder deren Schwere zu vermindern, und fügte hinzu, dass der durch die Benutzung eines Schutzhelms erlangte Schutz für den Kraftfahrer mit keinen nennenswerten Nachteilen verbunden sei40. Auf die Frage, ob der mit der Vorschrift verfolgte Zweck überhaupt verfassungsgemäß sei, ging es mit keinem Wort ein. Als weitere (nichtpaternalistische) Gründe führte das Bundesverfassungsgericht zum einen an, dass es von Vorteil sei, wenn ein Kraftfahrer aufgrund seines Schutzhelms bei Bewusstsein bleibe, weil er dann leichter weiteren Schaden von anderen abwenden könne. Zum anderen verwies es auf die durch Unfälle entstehenden Kosten für die Allgemeinheit41. Auch in anderen Entscheidungen äußerte sich das Gericht nicht ausführlicher. In der zweiten Transsexuellenentscheidung erklärte das Gericht, Eingriffe in Art. 2 I GG seien dann gerechtfertigt, wenn sie den Betroffenen daran hindern sollen, sich selbst einen größeren persönlichen Schaden zuzufügen42; aus dem Kontext geht allerdings hervor, dass das Gericht hier nicht allgemein Paternalismus zulassen wollte, sondern eher einen Schutz vor Übereilung im Blick gehabt haben dürfte43. In einer weiteren Entscheidung hatte das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsmäßigkeit einer Regelung des Transplantationsgesetzes zu untersuchen, die die Entnahme von Organen, die sich nicht wieder bilden können, nur zum 38
BVerfGE 83, 130 (140). BVerfGE 59, 275 ff. In der Entscheidung zur Sitzgurtpflicht (BVerfG, NJW 1987, 180) verwies das Gericht lediglich auf die in diesem Urteil genannten Gründe. 40 Ebd., 278. 41 Ebd., 279. 42 BVerfGE 60, 123 (132). 43 Vgl. Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 74 ff. 39
C. Stellungnahmen in Rechtsprechung und Literatur
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Zweck einer Übertragung auf Verwandte, Ehegatten, Verlobte oder andere Personen, die dem Spender in besonderer persönlicher Verbundenheit offenkundig nahe stehen, erlaubt hatte. Das Gericht sah als einen rechtfertigenden Zweck den Schutz der potentiellen Organspender an. Es schrieb knapp: „Zwar bedarf der Schutz des Menschen vor sich selbst als Rechtfertigungsgrund staatlicher Maßnahmen in Ansehung der durch Art. 2 I GG verbürgten allgemeinen Handlungsfreiheit grundsätzlich seinerseits einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung. Auch selbstgefährdendes Verhalten ist Ausübung grundrechtlicher Freiheit. Das ändert aber nichts daran, dass es ein legitimes Gemeinwohlanliegen ist, Menschen davor zu bewahren, sich selbst einen größeren persönlichen Schaden zuzufügen.“44 Die Darstellung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zeigt, dass das Gericht das Paternalismusproblem bisher eher pragmatisch angegangen ist; eine tiefgehende Erörterung bleibt aus. Es kann nicht einmal festgestellt werden, ob das Gericht die Problematik von staatlichem Paternalismus überhaupt erkannt hat. Auch in der juristischen Literatur wurde die Fragestellung erst spät entdeckt. Als erster beschäftigte sich von Münch mit der Problematik. Er differenziert zwischen dem Verzicht auf ein Grundrecht selbst und dem Verzicht auf die Ausübung desselben; entscheidendes Kriterium sei hier die Endgültigkeit im Sinne einer Irreparabilität. Solange der Einzelne es noch in der Hand habe, die Gefährdung abzubrechen, liege kein endgültiger Verzicht vor und staatliches Eingreifen sei nicht gerechtfertigt45. Seit Beginn der 1990er Jahre erschienen einige ausführliche verfassungsrechtliche Abhandlungen zu dem Thema. Ihnen ist gemeinsam, dass ein aufgedrängter Schutz – mit Ausnahme der Fälle Geisteskranker und Minderjähriger – abgelehnt wird. Am einflussreichsten war Hillgrubers Dissertation zum „Schutz des Menschen vor sich selbst“, in der er dieses Ergebnis in erster Linie auf seine Interpretation des (einfachen) Gesetzesvorbehalts stützte: Ihm zufolge gilt für jeden Gesetzesvorbehalt, dass er „allgemein“ sein muss, d.h. sich nicht gegen eine bestimmte Handlung als solche richten darf. Er folgert, dass „[w]eder Unwert noch Schädlichkeit eines Handlungsinhalts“ ein Verbot rechtfertigen können46. Weitere Arbeiten wurden von Littwin und Fischer vorgelegt47. Während Littwin fragt, ob selbstschädigendes Verhalten als Verletzung der eigenen Grundrechte zu verstehen ist, untersucht Fischer die Zulässigkeit von Paterna44
BVerfG, NJW 1999, 3399 (3401). Von Münch, FS Ipsen, 113 (126 f.). Ähnlich Hohmann/Matt, JuS 1993, 370 (374). 46 Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 118 f. 47 Littwin, Grundrechtsschutz gegen sich selbst; Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes vor Selbstschädigung. 45
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1. Kap.: Einleitung
lismus aus Sicht der Menschenwürde, der objektiven Dimension der Grundrechte, der Schutzpflichttheorie und des Grundrechtsverzichts; insoweit kommt er zu dem Ergebnis, dass Paternalismus unzulässig ist48. Im Übrigen konzentriert auch er sich auf die Rechte anderer und der Allgemeinheit. Aus verfassungsrechtlicher Sicht sind noch zwei Aufsätze zu nennen. Schwabe sieht einen Schutz des Menschen nur aufgrund von Dritt- oder Allgemeininteressen für gerechtfertigt an; alles andere würde „zu einer Pervertierung der Grundrechte“ führen49. Er begründet dieses Ergebnis aber nur äußerst knapp – möglicherweise, weil es ihm evident erscheint. Doehring hält ebenfalls einen Schutz nur aufgrund der Interessen anderer für gerechtfertigt: Der einzelne Mensch habe das Recht, der eigenen Gesundheit in freier Selbstbestimmung ihren Rang im Rahmen der von ihm anerkannten personalen Werte zuzuweisen; er dürfe über seine Gesundheit verfügen50. Neben der verfassungsrechtlichen Perspektive gibt es jetzt auch eine Abhandlung aus Sicht des Zivilrechts: Enderlein beschäftigt sich mit Paternalismus im Vertragsrecht, Bürgerlichen Recht und Arbeitsrecht51. Er hält Paternalismus in gewissem Umfang für gerechtfertigt, wenn er freiheitsmaximierend wirkt52. Es ergibt sich daher folgendes Bild: Das Bundesverfassungsgericht hält Paternalismus offensichtlich für legitim, begründet dieses Ergebnis jedoch im Fall von hartem Paternalismus nicht weiter. In der Literatur wird harter Paternalismus ganz überwiegend für unzulässig gehalten; die Argumente, die hier vorgebracht werden, sind im Rahmen dieser Arbeit näher zu untersuchen. Des Weiteren ist festzustellen, dass die Diskussion in der Literatur insgesamt eine Richtung einschlägt, die sich mehr auf die Rechtfertigung von schützenden Maßnahmen aufgrund von Dritt- oder Gemeinwohlinteressen konzentriert. Dies geht – wie im Falle Schwabes gesehen – bisweilen so weit, dass teilweise die Paternalismusfrage mit dem bloßen Hinweis, hier handele es sich um eine „Pervertierung der Grundrechte“, abgetan wird. Diese Arbeit will dagegen zu der Ausgangsfrage zurückkehren und fragen, ob es nicht doch Spielräume für einen echt paternalistischen (und nicht nur auf dem Umweg über die anderen Interessen erzielbaren) Schutz gibt. Insoweit unterscheidet sich der hier gewählte Ansatz von den meisten anderen Bearbeitungen des Themas.
48 49 50 51 52
Fischer, ebd., 177 ff., 201. Schwabe, JZ 1998, 66 (70). Doehring, FS Zeidler, Band 2, 1553 (1565). Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht. Ebd., 52 ff.
Zweites Kapitel
Ein Recht gegen Paternalismus A. Die moraltheoretische Ausgangsfrage Der englische Philosoph John Stuart Mill (1806–73) hat mit seinem Essay „On Liberty“ („Über die Freiheit“) aus dem Jahr 1859 ein Werk geschaffen, das bis heute die Diskussionen der politischen Theorie bestimmt. Es gibt wohl kaum einen Beitrag zur Paternalismusproblematik im angelsächsischen Raum, der sich nicht in der einen oder anderen Weise mit Mill auseinandersetzt1; umso erstaunlicher ist es, dass in der deutschen rechtwissenschaftlichen Literatur sein Werk weitgehend ignoriert wird. Deshalb ist es angebracht, zunächst einen Überblick über Mills Essay zu geben. Im Anschluss wird in Auseinandersetzung mit Mill die Grundfrage jeder Beschäftigung mit Paternalismus herausgearbeitet werden, nämlich die nach der moraltheoretischen Grundposition. Zur Beantwortung dieser Frage wird dann das Grundgesetz befragt werden.
I. John Stuart Mills Essay „Über die Freiheit“ Mill geht es in seinem Essay um die Grenzen der Macht der Gesellschaft über das Individuum – insofern hat er dasselbe Thema wie die Grundrechte, die auch die Macht des Staates über den Einzelnen beschränken. Sein Vorschlag zur Lösung des Problems ist das berühmte harm principle: „Dies Prinzip lautet: dass der einzige Grund, aus dem die Menschheit, einzeln oder vereint, sich in die Handlungsfreiheit eines ihrer Mitglieder einzumischen befugt ist, der ist: sich selbst zu schützen. Dass der einzige Zweck, um dessentwillen man Zwang gegen den Willen eines Mitglieds einer zivilisierten Gemeinschaft rechtmäßig ausüben darf, der ist: die Schädigung anderer zu verhüten. Das eigene Wohl, sei es das physische oder das moralische, ist keine genügende Rechtfertigung . . . Über sich selbst, über seinen eigenen Körper und Geist ist der Einzelne souveräner Herrscher.“2 Dieses Prinzip soll jedoch nur für Erwachsene gelten. Kinder 1 Ein Standardwerk des modernen Liberalismus, Feinbergs vierbändiges „The Moral Limits of the Criminal Law“, orientiert sich beispielsweise an Mills „harm principle“, was durch die Benennung der Einzelbände deutlich wird: Harm to Others, Offense to Others, Harm to Self, Harmless Wrongdoing. Vgl. auch Wolf, Zeitschrift für philosophische Forschung 42 (1998), 454 ff.
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2. Kap.: Ein Recht gegen Paternalismus
und Jugendliche müssen Mill zufolge genauso vor ihren eigenen wie vor Handlungen Dritter geschützt werden. Zur Herleitung des Schädigungsprinzips muss Mill eine bestimmte Moraltheorie zugrunde legen. Er ist Utilitarist, und das schneidet ihm die Möglichkeit ab, die Herleitung über abstrakte Gerechtigkeitsprinzipien vorzunehmen3. Daher geht er einen anderen Weg und fragt, ob das Schädigungsprinzip nutzenmaximierend ist. Das bedeutet, dass er im Folgenden immer untersucht, warum der Gesamtnutzen für die Gesellschaft am größten ist, wenn sie sich an das Schädigungsprinzip hält. Er wendet sich zunächst der Meinungsfreiheit zu. Dieser Aspekt ist für die vorliegende Arbeit nicht zentral; dennoch werden hier einige grundlegende Gedanken entwickelt, die auch für die Paternalismusfrage von Bedeutung sind. Mill unterscheidet die Fälle, dass die geäußerte Meinung wahr bzw. falsch sei. In beiden Fällen sei es vorzugswürdig, die Äußerung nicht zu unterdrücken. „Denn wenn die Meinung richtig ist, so beraubt man sie der Gelegenheit, Irrtum gegen Wahrheit auszutauschen; ist sie dagegen falsch, dann verlieren sie eine fast ebenso große Wohltat: nämlich die deutlichere Wahrnehmung und den lebhafteren Eindruck des Richtigen, der durch den Widerstreit mit dem Irrtum entsteht.“4 Dies ist ein stets wiederkehrender Punkt in Mills Argumentation, der auch bei der nachfolgenden Untersuchung des Wertes der Individualität eine Rolle spielt. So wie er es für nützlich hält, dass es verschiedene Meinungen gibt, die kontinuierlich gegeneinander getestet werden, sollte es auch verschiedene konkurrierende Lebensstile geben. Was Mill in erster Linie angreift, ist die auf dem gesellschaftlichen Zwang zur Konformität beruhende Befolgung von Gewohnheitsregeln. So wie der Einzelne die Wahrheit einer Meinung nicht richtig begreifen kann, wenn er sie unkritisch übernimmt, so kann er seine Persönlichkeit nicht entwickeln, wenn er lediglich Gewohnheiten der anderen annimmt, ohne eine bewusste Wahl zu treffen. Mill möchte lebendige Spontaneität und Kreativität statt zur Erstarrung führender Anpassung. Wer die Welt für sich seine Lebensentscheidungen treffen lässt, benutzt für Mill „nichts anderes als affenhafte Nachahmungskunst“5. Aber was hat derjenige davon, der Freiheit gar nicht schätzt oder mit ihr nichts anfangen kann? Er kann von der Freiheit der anderen immer noch profitieren, indem er von ihnen lernt: Genies können nicht nur Neues einführen, sondern sie helfen auch, Altes lebendig zu erhalten – denn es besteht die Gefahr, dass auch die besten Meinungen und Praktiken zum Mechanischen degenerieren, wenn sie nicht am Leben erhalten werden. Genie kann aber nur in einer 2 3 4 5
Mill, Über die Freiheit, 16 f. Ebd., 18. Ebd., 26. Ebd., 81.
A. Die moraltheoretische Ausgangsfrage
33
Atmosphäre der Freiheit gedeihen. Deshalb ist es auch für den unoriginellen Geist wichtig, dass es Freiheit für die Originellen gibt, obwohl viele das nicht einsehen können: „Originalität ist das eine Ding, dessen Gebrauch unoriginellen Geistern unverständlich bleibt.“6 Jedoch haben nicht nur Personen von überragender Geisteskraft ein Recht darauf, ihr Leben nach ihren Vorstellungen zu gestalten. „Wenn jemand einen annehmbaren Betrag von gesundem Menschenverstand und Erfahrung besitzt, ist seine eigene Art zu leben die beste, nicht weil sie die beste an sich ist, sondern weil sie sein eigener Stil ist.“7 In der eigenen Entscheidung scheint demnach ein unabhängiger Wert zu liegen – auf diesen Punkt in Mills Argumentation wird noch zurückzukommen sein. Aus dieser Wertschätzung der Individualität des Einzelnen kann Mill dann ganz zwanglos sein harm principle ableiten, dem zufolge nur die Interessen anderer oder der Gesellschaft legitime Gründe für Freiheitsbeschränkungen darstellen. Mill nennt zwei Gründe: Zum ersten sei der Einzelne zugleich derjenige, dem an seinem Wohl am meisten liege, und er sei auch besser als alle anderen in der Lage, einzuschätzen, was gut für ihn sei8. Zum zweiten würde die Gesellschaft, wenn sie einschreite, dies in der Regel falsch tun: Es würde regelmäßig nur die Ansicht einiger Leute darüber zugrunde gelegt werden, was für andere richtig oder falsch sei. Häufig würde die Allgemeinheit mit der größten Gleichgültigkeit über das Vergnügen oder die Bequemlichkeit derer, die sie richten, hinwegsehen und nur ihre eigene Vorliebe in Betracht ziehen9. Aber, fragt Mill, ist diese Grenze wirklich überzeugend? Kann denn überhaupt das Verhalten eines Mitglied einer Gesellschaft den anderen egal sein? Es ist doch kein Mensch ein gänzlich isoliertes Wesen – werden nicht zumindest noch die ihm nahe Verbundenen von dem Schaden, den er sich selbst zufügt, betroffen? Und setzt er nicht ein schlechtes Beispiel für andere? Und was ist mit denen, die, obwohl erwachsen, zur Selbstbestimmung nicht fähig sind? Mill verteidigt sein Prinzip gegen diese hypothetischen Einwände. Zum einen seien in den Fällen, in denen jemand aufgrund von „Unmäßigkeit oder Ausschweifung“ seine finanziellen Verpflichtungen gegenüber seiner Familie oder seinen Gläubigern nicht mehr erfüllen könne, richtigerweise auch deren Interessen berührt, und damit der Weg zur Sanktionierung solchen Verhaltens eröffnet10. Wenn aber jemand nur sich selbst schädige, und die Gesellschaft nur indirekt leide, etwa dadurch, dass derjenige dann weniger Leistung für die Gesellschaft erbringen könne, so sei dies „eine Unzulänglichkeit, welche die Gemeinschaft 6
Ebd., 90. Ebd., 93. 8 Ebd., 105. 9 Ebd., 115. 10 Ebd., 112 f. 7
34
2. Kap.: Ein Recht gegen Paternalismus
um des höheren Gutes der menschlichen Freiheit willen“ auf sich nehmen könne11. Zum anderen müsse beachtet werden, dass die Gesellschaft Möglichkeiten habe, ihre Mitglieder auf den gewöhnlichen Standard rationalen Verhaltens zu bringen: Während der gesamten Zeit der Kindheit und Jugend habe die Gesellschaft absolute Macht über ihre Mitglieder. Wenn sie es dann noch nicht geschafft habe, diese zum rationalen Handeln zu erziehen, sei das ihre eigene Schuld12. Hinzu kämen weiterhin die „natürlichen Strafen“, die denen zuteil würden, die das Missgefallen oder die Verachtung der anderen erregten. Mill erläutert seinen Ansatz an Beispielen, von denen einige auch hier Beachtung verdienen. Was soll gelten, wenn jemand eine Brücke überqueren will, von der bekannt ist, dass sie unsicher ist – darf er aufgehalten werden? Wenn keine Zeit bleibt, den Betreffenden zu warnen, dann schon, und darin sei keine wirkliche Einschränkung seiner Freiheit zu sehen, „denn Freiheit besteht darin, zu tun, was man will, und der Betreffende will ja nicht ins Wasser fallen“13. Anders aber, wenn sich jemand nur einer Gefahr aussetzen wolle, deren Verwirklichung ungewiss sei. Niemand außer dem Betroffenen selbst könne die Hinlänglichkeit des Motivs beurteilen, das ihn zur Eingehung des Risikos veranlasse – zumindest dann, wenn er weder ein Kind, noch geisteskrank oder in einem Zustand von Erregung oder Geistesabwesenheit handele, der mit dem vollen Gebrauch seines Verstandes nicht vereinbar sei14. Im Fall von Giften könne eine Warnung auf dem Etikett verlangt werden, denn der Käufer könne nicht wünschen, dass ihm die giftigen Eigenschaften unbekannt bleiben sollen15. Wichtig ist schließlich noch Mills Sklavenbeispiel. Soll der Einzelne das Recht haben, sich an einen anderen als Sklave zu verkaufen, und damit seine eigene Freiheit für immer aufzugeben? Mill lehnt das ab mit dem Argument, dass es ihm darum gehe, Freiheit zu schützen. „Es ist nicht Freiheit, sich seiner Freiheit entschlagen zu dürfen.“16
II. Mills utilitaristischer Ansatz In „Über die Freiheit“ verteidigt Mill das Recht des Einzelnen, sich selbst schädigen zu können, fast bis zum Letzten. Die einzigen Einschränkungen, die er zulässt, sind die folgenden: Erstens müssen Kinder, Jugendliche und Geistes11 12 13 14 15 16
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd. Ebd., Ebd.,
113. 113. 132. 133. 141.
A. Die moraltheoretische Ausgangsfrage
35
kranke zu ihrem eigenen Besten geschützt werden. Etwas unklar ist, wie weit die oben im Zusammenhang mit dem Brückenfall zitierte Einschränkung reicht, dass die Betroffenen auch geschützt werden können, wenn sie in einem Zustand der Erregung oder Erschöpfung sind, der den vollen Gebrauch der Geisteskraft ausschließt. Und zweitens reicht Freiheit nicht so weit, dass die eigene Freiheit zerstört werden darf (Sklavenfall). Von diesen beiden Einschränkungen, auf die noch ausführlich eingegangen werden wird, einmal abgesehen, darf Verhalten, das nur den Handelnden betrifft, nicht untersagt werden. Mill ist also Antipaternalist; seine Gedanken finden aber nicht nur im Paternalismusproblem eine direkte Anwendung, sondern auch bei dem des enforcement of morality, der zwangsweisen Durchsetzung von Moral. Mill spricht sich klar gegen jede Regel aus, die ein Verhalten nur wegen seiner Unmoral verbietet. Wie oben dargelegt, kann das zwangsweise Durchsetzen von Moral durchaus paternalistischen Charakter haben; das ist dann der Fall, wenn die Zielsetzung des Ge- oder Verbots ist, dem Betroffenen zu helfen – beispielsweise ihn auf den Pfad der Tugend zurückzuführen. Häufig geht es aber nicht darum, sondern es stehen andere Motivationen im Vordergrund, wie z. B. der Schutz derjenigen, die schon der bloße Gedanke an die Abscheulichkeiten des Nachbarn leiden lässt, oder der Wille Gottes, oder die Aufrechterhaltung objektiver, die Gesellschaft zusammenhaltender Werte. Mill lehnt alle Varianten gleichermaßen ab. „Über die Freiheit“ ist damit bis heute ein herausragendes Beispiel für die Position eines Antipaternalisten. Viele der heute in der Paternalismusdebatte vertretenen Positionen sind aus der Auseinandersetzung mit Mill entstanden. So wird noch auf den Ansatz einzugehen sein, der Mills Sklavenbeispiel verallgemeinert und Paternalismus dann für gerechtfertigt hält, wenn er freiheitsmaximierend (freedom-maximizing) wirkt. Ein viel diskutierter Punkt in Mills Essay ist aber besonders geeignet, eine Schwäche in Mills Argumentation aufzuzeigen und dadurch den Weg zur richtigen Erfassung der Methodik zu bahnen, mit der man sich der Diskussion von Paternalismus in philosophischer und grundrechtsdogmatischer Hinsicht nähern muss: es handelt sich um Mills utilitaristischen Ansatz. Mill schreibt ausdrücklich, dass er Nützlichkeit für den angemessenen Maßstab in allen ethischen Fragen hält. Dementsprechend ist die Frage, ob Paternalismus zulässig ist, für ihn danach zu entscheiden, inwieweit er zum Glück der Menschen beitragen kann. Das Erstaunliche an Mills Argumentation ist nun, dass er meint, aus Nützlichkeitserwägungen heraus einen absoluten Ausschluss von Paternalismus begründen zu können. Das ist deshalb überraschend, weil gerade der Utilitarismus selten zu absoluten Ergebnissen kommt, sondern eher, auf die Umstände des Einzelfalls abstellend, Tendenzen beobachtet oder Regelvermutungen aufstellt. Wenn man Paternalismus unter dem Aspekt der Maximierung von Glück untersucht, dann könnte man zunächst einmal auf den Wert der getroffenen Ent-
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2. Kap.: Ein Recht gegen Paternalismus
scheidung abstellen. Dies ist Mills Ansatz über weite Strecken seines Essays: Es wurde dargelegt, dass seine Hauptargumente für die Ablehnung von Paternalismus zum einen waren, dass das Individuum selbst am besten in der Lage sei, zu beurteilen, was gut für es sei, und zum anderen, dass die Gesellschaft aufgrund ihrer Ignoranz kaum eine solche Beurteilung vornehmen könne. Das Problem ist allerdings, dass das für die meisten Fälle zutreffend sein mag, aber keinesfalls für alle. Man kann kaum vertreten, dass Heroinkonsum oder Autofahren ohne Gurt tatsächlich das Glück der Menschheit vermehrt. Gerade das Gegenteil ist der Fall – Heroinkonsum führt in die Abhängigkeit und zu schweren körperlichen Schäden, die sich in der Regel sehr negativ auf das Glück der Betroffenen auswirken, und wer durch einen Autounfall schwer verletzt wurde, weil er keinen Gurt angelegt hatte, dürfte hinterher unglücklicher sein als vorher. Deswegen ist ein alleiniges Abstellen auf den Wert der getroffenen Entscheidung nicht geeignet, ein absolutes Verbot von Paternalismus zu begründen. Gerald Dworkin hat dargelegt, dass sich Mill aber auch gar nicht auf dieses Argument beschränkt17; man muss allerdings genauer hinschauen, wenn man die weiteren Erwägungen erkennen will, die seine These stützen, denn er führt den Punkt nie zusammenhängend aus. Vielmehr lässt er an verschiedenen Stellen Bemerkungen einfließen, die in eine bestimmte Richtung zielen: Er schreibt, dass individuelle Spontaneität „etwas innerlich Wertvolles“ sei18. An anderer Stelle heißt es: „Aber es ist das Vorrecht und der Grundzug eines menschlichen Wesens, dass es, auf der Höhe seiner Fähigkeiten angelangt, Erfahrungen auf die ihm gemäße Art nutzt und auslegt.“19 „Die geistigen und moralischen Kräfte werden, wie die der Muskeln, nur durch den Gebrauch stark.“20 Am deutlichsten wird er, wenn er die schon zitierte Ansicht äußert, dass es nicht darauf ankomme, dass der Einzelne stets die beste Wahl treffe, sondern seine eigene. Es geht Mill also nicht nur darum, dass der Einzelne besser als die Gesellschaft in der Lage sei, Entscheidungen für sich selbst zu treffen, sondern gerade auch die Freiheit, überhaupt eine Entscheidung treffen zu können, bezieht Mill in seine utilitaristische Rechnung ein21. Das stärkt seinen Standpunkt ungemein: Denn selbst wenn der Einzelne sich falsch entscheidet, kann Intervention vom Staat falsch sein, denn immerhin trifft der Einzelne eine bewusste Wahl, und darin liegt ein absoluter Wert. Allerdings ist immer noch nicht überzeugend dargelegt, warum das einen absoluten Ausschluss von Paternalismus begründen soll. Denn wenn auch ein bestimmter Wert in einer freien Entscheidung liegt, so ist für den Utilitaristen Mill 17 18 19 20 21
G. Dworkin, in: Sartorius (Hrsg.), Paternalism, 19 (26 f.). Mill, Über die Freiheit, 79. Ebd., 80. Ebd., 81. G. Dworkin, in: Sartorius (Hrsg.), Paternalism, 19 (26 f.).
A. Die moraltheoretische Ausgangsfrage
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immer die Frage, wie viel Glück aus der Tatsache folgt, dass sich der Einzelne frei entscheiden kann. Zwar mag durch die Freiheit an sich schon das Glück der Menschen vermehrt werden; es ist aber dennoch das Unglück gegenzurechnen, in das sich der Einzelne selbst bringen kann. Wer sich entscheidet, dass es für ihn das Beste ist, Heroin zu nehmen, mag prinzipiell in der besten Lage sein, seine Bedürfnisse zu beurteilen, und zusätzlich zu seinem Glück dadurch beitragen, dass er frei entscheidet. Trotzdem ist es wahrscheinlich, dass das Unglück letztlich für ihn überwiegen wird. Wiederum scheinen Mills Argumente nur für eine Vermutung gegen die Nützlichkeit von Paternalismus zu reichen, nicht aber für ein absolutes Verbot. Mill führt, wiederum eher als Seitenaspekt, ein weiteres Argument an, das Gerald Dworkin übersieht: „Es ist leicht, sich eine ideale Gemeinschaft vorzustellen, welche die Freiheit und die Fähigkeit der Einzelnen, in allen unentschiedenen Dingen zu wählen, unangetastet lässt und von ihnen nur verlangt, Handlungsweisen zu unterlassen, die von der allgemeinen Erfahrung verurteilt werden. Aber wo ein solches Gemeinwesen finden, das sein Aufpasseramt soweit beschränkte? Und seit wann kümmert sich eine Gemeinschaft um Dinge wie allgemeine Erfahrung? In ihren Konflikten mit privatem Verhalten denkt sie selten an etwas anderes als an die Ungeheuerlichkeit, anders als sie selbst zu denken und zu empfinden . . .“22. Es scheint also, dass Mill zwar anerkennt, dass im Prinzip Paternalismus manchmal gerechtfertigt sein kann, er es aber der Gesellschaft nicht zutraut, sich auf solche Fälle, in denen die allgemeine Erfahrung für die Schädlichkeit bestimmter Handlungen spricht, zu beschränken. Vielmehr vermutet er, dass die Gesellschaft dann immer wieder dazu zurückkehren würde, anderen ihre Vorstellungen von einem guten Leben aufzuoktroyieren. Bezieht man auch diesen Aspekt noch in die Kosten-Nutzen-Rechnung ein, so kann man einen absoluten Ausschluss von Paternalismus schon eher rechtfertigen. Denn es ist nicht mehr entscheidend, ob es nicht doch irgendeinen Fall gibt, in dem Paternalismus das Glück des Individuums maximieren kann, sondern man kann darauf abstellen, dass ein generelles Verbot von Paternalismus glücksmaximierend wirkt im Vergleich zu einer beschränkten Zulassung, weil eine solche immer von der ignoranten Öffentlichkeit missbraucht werden würde. Ein solches Argument wird rule-utilitarian oder regelutilitaristisch genannt, weil es, anstatt auf den Einzelfall abzustellen, die Nützlichkeit einer allgemeinen Regel untersucht. Auch wenn man auf diese Weise das vollständige Verbot von jeglichem Paternalismus mit Mills utilitaristischem Ansatz vereinbaren kann, bleibt zweifelhaft, ob man Mills Intentionen damit adäquat erfasst hat. Die Struktur, die er 22
Mill, Über die Freiheit, 116.
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2. Kap.: Ein Recht gegen Paternalismus
seinem Essay gegeben hat, deutet eher auf ein anderes Anliegen hin: Mill zieht eine gedankliche Linie von der Wichtigkeit von Spontaneität und Individualität zu seinem Ausschluss von Paternalismus. Es geht ihm also in erster Linie nicht um eine nüchterne Kosten-Nutzen-Analyse, sondern sein Herzensanliegen ist die Betonung der Werte der Individualität und der Autonomie des Einzelnen. Die plausiblere Interpretation von Mill ist deshalb, dass er, auch wenn er dies nicht so schreibt, im Grunde gar keinen rein utilitaristischen Ansatz hat. Sowohl der Tonfall als auch der Inhalt seiner Ausführungen legen den Schluss nahe, dass es ihm nicht um die Maximierung von Nutzen geht, sondern um ein aus dem Personsein des Einzelnen folgendes Recht auf Autonomie. Die Frage, die damit in den Vordergrund der Betrachtung rücken muss, ist die nach der moraltheoretischen Grundposition. Bei der Paternalismusdiskussion prallen zwei grundverschiedene Ansätze aufeinander23: Auf der einen Seite stehen diejenigen, die moralische Frage in der einen oder anderen Weise mithilfe einer Kosten-Nutzen-Analyse entscheiden wollen, also Utilitaristen24, und auf der anderen die, die dem Individuum unabhängig von solchen Zweckerwägungen bestimmte moralische Rechte zugestehen wollen, etwa ein allgemeines Recht auf Freiheit, Selbstbestimmung oder Autonomie. Das Verständnis dieser entgegengesetzten Grundpositionen ist insbesondere im Rahmen der Paternalismusdiskussion von großer Bedeutung; deshalb soll im Folgenden ein kurzer Überblick über den Stand der Diskussion gegeben werden.
III. Rechtebasierte Ansätze 1. Rechtebasierte Ansätze im Allgemeinen Die rechtebasierten Ansätze der modernen angelsächsischen Philosophie sind aus der Auseinandersetzung mit den Unzulänglichkeiten des Utilitarismus entstanden. Besonders einflussreich waren und sind Ronald Dworkins Gedanken zu dem Thema, die hier kurz vorgestellt werden sollen. Dworkin geht von einem fundamentalen, axiomatischen Recht des Einzelnen auf equal concern and respect aus. Das bedeutet: „Government must treat those whom it governs with concern, that is, as human beings who are capable of suffering and frustration, and with respect, that is, as human beings who are capable of forming and acting on intelligent conceptions of how their lives should be lived. Government must not only treat people with concern and respect, but with equal concern 23
Brock, in: Sartorius (Hrsg.), Paternalism, 237 (237). Eine utilitaristische Rechtfertigung von Paternalismus hat der englische Richter Stephen als Gegenposition zu Mill 1873 vorgelegt. Eine Darstellung der Debatte zwischen Mill und Stephen findet sich bei Häyry, Freedom, Autonomy, and the Limits of Medical Paternalism, 96 ff. 24
A. Die moraltheoretische Ausgangsfrage
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and respect. It must not distribute goods or opportunities unequally on the ground that some citizens are entitled to more because they are worthy of more concern. It must not constrain liberty on the ground that one citizen’s conception of the good life of one group is nobler or superior to another’s.“25 Aus diesem Recht leitet Dworkin alle Einzelrechte, wie etwa das auf freie Meinungsäußerung, ab. Wie bereits angedeutet, basieren seine Gedanken auf der Unzulänglichkeit des Utilitarismus. Wenn man von einer utilitaristischen Theorie ausgeht, die auf die maximale Befriedigung von individuellen Präferenzen abzielt, dann entsteht das folgende Problem: Manche Menschen können Vorlieben haben, die sie nicht persönlich betreffen, sondern andere. Dworkin nennt dies externe Präferenzen26. So kann ein weißer Rassist Befriedigung daraus ziehen, dass die Vorlieben von Schwarzen weniger zählen als die von Weißen. Dworkin ist der Ansicht, dass es das ganze utilitaristische System, das gerade auf der gleichen Wertigkeit jedes Einzelnen beruhe, aushöhlen würde, wenn diese externen Präferenzen bei der utilitaristischen Kalkulation Gewicht bekämen27. Aber wie kann es bewerkstelligt werden, dass nur persönliche, nicht aber externe Präferenzen gewertet werden? Der normale politische Prozess ist prinzipiell darauf ausgerichtet, nutzenmaximierend zu wirken: bei einer Abstimmung im Parlament wird sich der Vorschlag durchsetzen, der der größten Zahl die größte Befriedigung verschafft. Es ist praktisch auch nicht möglich, jeden Abgeordneten zunächst ins Kreuzverhör zu nehmen und nach seinen Gründen für die Stimmabgabe zu fragen. Daher ist die einzige praktikable Möglichkeit, solche Entscheidungen, bei denen eine Vermutung besteht, dass sie auf externen Präferenzen basieren, für unzulässig zu erklären. Daher muss es für gewisse, besonders gefährdete Bereiche individuelle Rechte geben. Diese Rechte des Individuums haben also die Funktion, einen Defekt im normalen demokratischen System zu beheben, der darauf beruht, dass dieses normalerweise einem utilitaristischen Ansatz folgen wird28. Der Utilitarismus hat auf die Herausforderungen durch die rechtebasierte Philosophie reagiert. Eine Möglichkeit, Utilitarismus und Rechte zusammenzubrin25
R. Dworkin, Taking Rights Seriously, 272 f. (Hervorhebung d. Verf.). Ebd., 275. 27 Ausführlich legt R. Dworkin diesen Punkt in Kap. 9 von „Taking Rights Seriously“ dar. Zur Kritik an dieser Argumentation s. Hart, in: ders., Essays in Jurisprudence and Philosophy, 198 (208 ff.). Dworkins ausführliche Antwort findet sich bei R. Dworkin, A Matter of Principle, 365 ff. 28 R. Dworkin, Taking Rights Seriously, 277. Es ist zu beachten, dass Dworkins Ansatz, moralische Rechte aus einem Gleichheitsprinzip abzuleiten, höchst umstritten ist. Nozick etwa versteht Rechte als „side constraints upon action“, die dem Staat bestimmte Verhaltensweisen unabhängig von dem möglichen Nutzen verbieten; vgl. Nozick, Anarchy, State, and Utopia, 30 ff. Auf die verschiedenen, hochdifferenzierten Ansätze zur Herleitung von Rechten braucht hier jedoch nicht umfassend eingegangen zu werden, da in dieser Arbeit nicht die Herleitung von Rechten im Allgemeinen, sondern nur ein mögliches Recht gegen Paternalismus im Vordergrund steht. 26
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2. Kap.: Ein Recht gegen Paternalismus
gen, liegt in dem oben schon angerissenen regelutilitaristischen Ansatz. Gefragt wird also danach, ob die Existenz von Rechten nützlicher ist als deren Nichtexistenz29. Wird das bejaht, so hat man das Problem vermieden, dass der Gebrauch eines Rechts in einem Einzelfall mehr schadet als nützt, denn darauf kommt es dann gar nicht an. Es ist daher zu beachten, dass der Unterschied zwischen den beiden Ansätzen nicht darin liegt, dass Utilitaristen die Existenz von Rechten prinzipiell leugnen. Wenn Mill seiner eigenen Aussage zufolge jeglichen Paternalismus aufgrund einer utilitaristischen Kalkulation ablehnt, so würde es für ihn Sinn machen, dem Einzelnen ein Recht gegen Paternalismus zuzusprechen. Ebenso gibt es utilitaristische Begründungen für andere Rechte, zum Beispiel die Meinungsfreiheit. Eine solche Begründung für die Meinungsfreiheit würde davon ausgehen, dass es für die Allgemeinheit nutzenmaximierend ist, wenn jeder seine Meinung frei äußern darf, und deshalb jedem Einzelnen ein solches Recht zusprechen30. Wenn hier von dem Gegensatz zwischen utilitaristischen Ansätzen auf der einen Seite und rechtebasierten Ansätzen auf der anderen Seite gesprochen wird, so ist mit letzteren gemeint, dass die Existenz des Rechts gerade nicht auf Kosten-Nutzen-Erwägungen beruht. Die Vertreter des rechtebasierten Ansatzes geben sich mit diesen regelutilitaristischen Argumenten allerdings nicht zufrieden: Zum einen argumentieren sie, dass es reiner Zufall sei, wenn bei einer utilitaristischen Kalkulation herauskomme, dass die Freiheit des Einzelnen geachtet werden müsse31. Zum anderen könnten Regelutilitaristen nicht erklären, warum man auch in einem konkreten Fall, in dem ein Abweichen von der Regel größeren Nutzen bringe, die Regel befolgen müsse. Vielmehr müsse auf utilitaristischer Basis angebracht sein, die Regel grundsätzlich zu befolgen, aber Ausnahmen für den Fall zuzulassen, dass ein Nichtbefolgen ausnahmsweise höheren Nutzen bringe32. 29
Vgl. R. Dworkin, Sovereign Virtue, 135. Ein interessantes Beispiel für eine konsequenzialistische Begründung der Meinungsfreiheit findet sich bei Raz, Ethics in the Public Domain, Kap. 6. Für Raz ist die Meinungsfreiheit in erster Linie ein öffentliches Gut (public good). Er führt aus: „An important case for the importance of freedom of expression arises out of the fact that public portrayal and expression of forms of life validate the styles of life portrayed, and that censoring expression normally expresses authoritative condemnation not merely of the views or opinions censored but of the whole style of life of which they are a part.“ (Ebd., 138). Die Darstellung von bestimmten Lebensstilen steht für Raz aus drei Gründen im Zentrum des Interesses: „1. They serve to familiarize the public at large with ways of life common in certain segments of the public. 2. They serve to reassure those whose ways of life are being portrayed that they are not alone, that their problems are common problems, their experiences known to others. 3. Finally, they serve as validation of the relevant ways of life. They give them the stamp of public acceptability.“ (Ebd., 140). 31 Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, 44. 32 Scanlon, in: Waldron (Hrsg.), Theories of Rights, 137 (138); Sen, Philosophy & Public Affairs 11 (1982), 3 (9 f.). 30
A. Die moraltheoretische Ausgangsfrage
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In der philosophischen Diskussion ist der Stand also der folgende: Wenn gezeigt werden kann, dass die Existenz von Rechten nutzenmaximierend ist, können Utilitarismus und Rechte durchaus Hand in Hand gehen. Man streitet dann nicht darüber, ob es bestimmte Rechte gibt oder nicht, sondern woher sie kommen. Nach der Auffassung der Utilitaristen sind sie aufgrund von Nützlichkeitserwägungen zu begründen, während die Vertreter rechtebasierter Ansätze dies ablehnen. Der Disput besteht also weiterhin, und eine Einigung ist nicht in Sicht33. 2. Ein Recht gegen Paternalismus? Es muss beachtet werden, dass selbst mit einer Festlegung auf einen rechtebasierten Ansatz noch nichts über die Paternalismusfrage ausgesagt ist, denn die Tatsache, dass man einem rechtebasierten Ansatz folgt, besagt nicht mehr und nicht weniger, als dass es irgendwelche Rechte des Einzelnen gibt; ob ein Recht gegen Paternalismus dabei ist, ist damit noch nicht entschieden. Die Frage, die sich jemand, der einer Variante eines solchen Ansatzes folgt, dann stellen muss, ist, ob es unter seinem Ansatz auch ein Recht gegen Paternalismus gibt. Was für ein Recht könnte hier in Betracht kommen? In der philosophischen Diskussion wird teilweise implizit, teilweise explizit von einem Recht auf Autonomie ausgegangen, das ein Recht gegen Paternalismus beinhalten soll. Merkmal eines solchen Ansatzes ist, dass der Wille des Einzelnen regelmäßig anerkannt wird, außer wenn er an einem relevanten Willensmangel leidet34. Utilitaristische Argumente wie etwa, dass der Betroffene aufgrund der paternalistischen Intervention ein besseres oder glücklicheres Leben haben werde, sind dann nicht ohne Weiteres zulässig. Feinberg hat die ausführlichste Herleitung eines Rechts gegen Paternalismus vorgenommen. Er zieht eine Parallele von dem Souveränitätsrecht autonomer Staaten zu dem Recht des Einzelnen, bei „inneren“ Angelegenheiten selbst entscheiden zu können. Feinberg verzichtet darauf, dieses Recht in abstrakter Weise herzuleiten, sondern appelliert an die moralischen Gefühle und Intuitionen seiner Leser: „Demonstration of the doctrine is not possible, but the reader may find that it reasonates with something in his most fundamental moral attitudes – particularly some of the attitudes he holds towards himself.“35 33 Einen Versuch, utilitaristische und rechtebasierte Ansätze miteinander zu versöhnen, hat Raz unternommen, vgl. Raz, The Morality of Freedom, insbes. Kap. 8–13. Vgl. ferner zur gesamten Diskussion die umfangreichen Nachweise bei Halpin, Rights and Law – Analysis and Theory, 199 f., Fn. 5–8. 34 Ein Beispiel ist der Ansatz von Murphy, für den Paternalismus nur dann in Frage kommt, wenn der Betreffende eine „inkompetente“ Entscheidung getroffen hat (Murphy, ARSP 1974, 465 [467 ff.]). Auf die verschiedenen Ansätze, wie bei der Annahme eines Rechts gegen Paternalismus Interventionen dennoch gerechtfertigt werden können, wird weiter unten noch ausführlich zurückzukommen sein.
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2. Kap.: Ein Recht gegen Paternalismus
Dieses Autonomierecht umfasst dann in erster Linie das Recht des einzelnen, darüber zu entscheiden, wie er sein Leben leben möchte, insbesondere also kritische Lebensentscheidungen vorzunehmen36. Wie verhält es sich mit weniger gravierenden Entscheidungen, also zum Beispiel der Entscheidung, einen Sitzgurt zu benutzen oder ein rotes oder ein grünes Hemd zu tragen? Für Feinberg ist eine Unterscheidung zwischen „kleinen“ oder „unbedeutenden“ Eingriffen in die Autonomie des einzelnen und Eingriffen in kritische Lebensentscheidungen unzulässig: „[S]overeignty is an all or nothing concept; one is entitled to absolute control of whatever is within one’s domain however trivial it may be. In the political model, a nation’s sovereignty is equally infringed by a single foreign fishing boat in its territorial waters as by a squadron of jet fighters flying over its capital city. Both are equally violations of sovereign rights, though the one, of course, is a more serious or important infringement than the other.“37 Nach diesem Ansatz sind dann alle Entscheidungen, die ausschließlich den Handelnden selbst betreffen, geschützt. Feinberg erkennt an, dass es oft schwierig ist, eine exakte Trennlinie zu ziehen, da fast jede Handlung in irgendeiner Weise andere berührt. Er schlägt in Anlehnung an Mill vor, hier darauf abzustellen, ob die Handlung die Interessen anderer „direkt“ berührt38. Wenn das Autonomierecht des einzelnen mit dem, was für die Person gut ist bzw. ihr Glück fördert, kollidiert, setzt es sich stets durch – utilitaristische Überlegungen sind insoweit nicht zulässig. Der Staat hat nur das Recht, schützend einzugreifen, wenn der Betreffende unfreiwillig handelt. Daher hat jeder das Recht, sich selbst zu gefährden. Diese Sichtweise sei „the only view consistent with a conception of personal sovereignty, it accords uniquely with a self-
35 Feinberg, Harm to Self, 52. Enderlein wendet sich gegen diese These und argumentiert, dass vor allem in extremen Fällen massiver Selbstschädigungen ein solches Selbstverständnis nicht festgestellt werden könne (Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 37). Das ist unzutreffend. Die große Mehrzahl der Menschen wird für sich das Recht in Anspruch nehmen, über ihre eigenen Angelegenheiten selbst entscheiden zu dürfen, auch wenn es sich um massive Selbstschädigungen handelt, und Ausnahmen allenfalls für den Fall zulassen wollen, dass die Freiwilligkeit ihrer Entscheidung beeinträchtigt ist. Feinberg hat völlig recht, wenn er dem zweifelnden Leser vorhält, er solle sich doch einmal in die Rolle des paternalistisch Bevormundeten hineinversetzen und überlegen, ob er sich nicht gegen die Bevormundung wehren würde (Harm to Self, 62). Warum auch sollte der Einzelne die Entscheidungskompetenz über das, was er mit sich selbst macht, dem Staat überlassen wollen? Enderlein führt leider keinen Grund für diese merkwürdige Aussage an, mit der er Feinbergs Ansatz kurzerhand widerlegen möchte. Man könnte Feinberg allenfalls vorwerfen, dass er vorschnell von den moralischen Gefühlen des Einzelnen auf die Existenz eines entsprechenden moralischen Rechts schließt. Dass aber die in Frage stehenden moralischen Gefühle und Erwägungen gar nicht existieren, wird man schwerlich vertreten können. 36 Feinberg, ebd., 54. 37 Ebd., 55. 38 Ebd., 56.
A. Die moraltheoretische Ausgangsfrage
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conception deeply imbedded in the moral attitudes of most people and apparently presupposed in many of our moral idioms, especially when used self-defensively (,my life to live as I please,‘ ,no one else’s business,‘ etc.)“39.
IV. Konsequenzen für die Paternalismusdiskussion Aus diesen Erwägungen folgt eine erste Konsequenz für den rechtebasierten Ansatz und Paternalismus: Wer annimmt, dass der Einzelne ein moralisches Recht auf Autonomie hat, das ein Recht gegen Paternalismus einschließt, der kann Paternalismus nicht aus reinen Nützlichkeitserwägungen zulassen. Denn, wie dargelegt, beruht die ganze Idee eines moralischen Rechts entweder auf der Prämisse, dass die Kosten-Nutzen-Analyse als Begründung für moralische Aussagen abzulehnen ist, oder aber zumindest auf der Aussage, dass eine solche Kalkulation bereits bei der Begründung des Rechts selbst durchgeführt wurde. Damit ist nicht gesagt, dass Paternalismus dann stets unzulässig ist; aber er kann eben nicht mehr allein mit der Begründung gerechtfertigt werden, auf diese Weise würde das Leben des Betroffenen insgesamt verbessert werden o. ä. Mit der Festlegung auf einen bestimmten Ansatz ist die Antwort auf das Paternalismusproblem also noch nicht vorgegeben, aber doch eine bestimmte Linie der Argumentation vorgezeichnet. Für den, der ein Recht gegen Paternalismus ablehnt, stellt sich beispielsweise die Frage der Gewichtung: Wie soll er im Fall eines Rauchers beispielsweise die Freiheit, selbst entscheiden zu können, gegen die Einbuße an Gesundheit „aufrechnen“? Wer dagegen ein Recht gegen Paternalismus annimmt, muss sich fragen, was genau das Recht umfasst und ob bzw. wie es eingeschränkt werden kann. Es wäre beispielsweise denkbar, dass jemand ein Recht gegen Paternalismus anerkennt, aber gewisse gleichrangige Werte wie etwa Leben oder Freiheit mit der Autonomie des Einzelnen in Konflikt sieht40. Den Konflikt zwischen diesen beiden Ansätzen hat Brock in einem Dialog zwischen einem Paternalisten und einem Antipaternalisten anschaulich gemacht, den er einem Aufsatz vorangestellt hat41: Der Paternalist sagt: „Recent studies indicate only fifteen percent of Americans use their seat-belts. We ought to do as some European countries have done and make it illegal to drive a car without the seat-belt fastened. It’s just downright stupid not to use seatbelts.“ Der Antipaternalist antwortet: „I agree with you that it’s stupid not to use seat-belts, but people have a right to decide for themselves whether to use them, so long 39 40 41
Ebd., 61 f. Vgl. ebd., 50 f. zu einem solchen, von ihm jedoch abgelehnten Ansatz. Brock, in: Sartorius (Hrsg.), Paternalism, 237 (237).
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2. Kap.: Ein Recht gegen Paternalismus
as only they are harmed by not using them. No one else has a right to make them use seat-belts for their own good.“ Brock ist der Ansicht, dass man hinter Diskussionen darüber, ob eine bestimmte Form von Paternalismus vertretbar ist, meistens eine Meinungsverschiedenheit über die moralische Grundposition finden könne: Der Paternalist stelle in der einen oder anderen Weise auf die Maximierung von bestimmten Gütern ab, während der Antipaternalist das Recht des Individuums auf Selbstbestimmung betone. Solange dieser Konflikt nicht entschieden sei, könne man zu keiner Übereinstimmung gelangen. Es kann an dieser Stelle dahingestellt bleiben, ob Paternalismus tatsächlich, wie Brock behauptet, nur in konsequenzialistischer Weise begründet werden kann. Es geht nur darum, die Bedeutung der moraltheoretischen Grundposition für die Diskussion von Paternalismus deutlich zu machen. Die Frage nach dem Rang, den man der Autonomie des Einzelnen einräumt, ist die erste wichtige Weichenstellung, die man bei einer Erörterung von Paternalismus klären muss. Während der Philosoph jetzt in der schwierigen Lage ist, sich auf einen der beiden Ausgangspunke festlegen zu müssen – laut Brock „about as perennial and deep-seated a dispute as exists in moral philosophy“42, hat es der Rechtswissenschaftler glücklicherweise etwas einfacher: Er muss nämlich „nur“ das Grundgesetz nach dessen Standpunkt befragen. Auf den ersten Blick mag die Antwort trivial erscheinen: Es ist doch offensichtlich, dass das Grundgesetz einen rechtebasierten Ansatz verfolgt – schließlich gibt es den umfangreichen Grundrechtskatalog der Art. 1–19 GG! Ganz so einfach ist die Sache jedoch nicht: Zum einen enthält das Grundgesetz zwar eine ganze Anzahl einzelner Rechte; ob aber eines dabei ist, das vor Paternalismus schützt, ist noch nicht ausgemacht. Weder die Rechtsprechung noch die rechtswissenschaftliche Literatur haben bisher ein solches Recht entdeckt. Zum anderen muss der Begriff des Rechts in der philosophischen Diskussion nicht mit dem des Grundgesetzes deckungsgleich sein. Die Grundrechte des Grundgesetzes werden nicht schrankenlos garantiert, sondern Eingriffe sind unter bestimmten Voraussetzungen zulässig. Selbst wenn sich also ein Grundrecht gegen Paternalismus finden lässt, muss anschließend noch untersucht werden, was dieses Recht denn genau beinhaltet. Es wäre ja beispielsweise denkbar, dass unter dem Grundgesetz ein Recht gegen Paternalismus existiert, das aber dann eingeschränkt werden darf, wenn das selbstgefährdende Verhalten besonders riskant ist. In diesem Fall würde das gefundene Recht nur der besonderen Relevanz der Freiheit Rechnung tragen, indem die Selbstbestimmung in der Regel, jedoch nicht immer geschützt wird. Ein solches Grundrecht wäre dann kein Recht im Sinne der rechtebasierten Philosophie. Daraus folgt: Um zu ermitteln, ob das Grundgesetz wirklich ein Recht gegen Paternalismus enthält, das dem philosophischen Rech42
Ebd.
B. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht
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teverständnis nahekommt, muss ein Grundrecht gefunden werden, das vor Paternalismus schützt, und der Inhalt dieses Grundrechts muss eine besondere Schutzintensität aufweisen. Das ist im Folgenden zu untersuchen.
B. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht als Grundrecht zur Abwehr von Paternalismus An welchen verfassungsrechtlichen Maßstäben muss sich staatlicher Paternalismus messen lassen? Zweifellos sind zunächst das allgemeine Freiheitsrecht bzw. die Spezialgrundrechte einschlägig: Durch die Helmpflicht für Motorradfahrer wird in deren Handlungsfreiheit eingegriffen, durch ein Peepshowverbot die Handlungs- oder sogar die Berufsfreiheit der Darstellerinnen berührt und eine Zwangsernährung von Hungerstreikenden ist möglicherweise sogar als Eingriff in die Meinungsfreiheit zu werten43. Kritisch wird es bei dem grundrechtlichen Schutz des Selbstmordes – hier handelt es sich gleichsam um die Gretchenfrage der Grundrechtsdogmatik: Geht die Freiheit des Einzelnen so weit, dass er sich – um es mit dem Bundesverfassungsgericht zu sagen – die „vitale Basis“44 seiner Freiheit selbst entziehen darf? Diese Frage wird später eingehend behandelt werden. Da sich staatlicher Paternalismus durchweg in Geboten, Verboten und faktischem Zwang äußert45, erscheint eine Prüfung der genannten Grundrechte auf den ersten Blick praktikabel und ausreichend, da zumindest der subsidiäre Art. 2 I GG alle Beeinträchtigungen der Handlungsfreiheit erfasst. Die Frage, ob es darüber hinausgehend ein Grundrecht gegen Paternalismus gibt, ist in der Literatur bisher noch nicht gestellt worden. Die einschlägigen Untersuchungen haben vielmehr die Fragestellung im Zusammenhang mit der Untersuchung der Legitimität des Gesetzeszwecks behandelt46. Das ist eine bedenkliche Verkürzung der Problematik. Die Tatsache, dass das Thema in der Philosophie teilweise unter dem Aspekt von moralischen Rechten behandelt wird, ist schon ein Hinweis, der dem Grundrechtsdogmatiker zu denken geben sollte. Es erscheint durchaus denkbar, dass sich hier eine Parallele von Philosophie und Grundrechtsdogmatik zeigt. Wenn die Philosophie Paternalismus (teilweise) unter dem Aspekt von moralischen Rechten behandelt, steht deshalb die Vermutung im Raum, dass es auch im Grundgesetz ein solches Recht geben könnte. Das gilt 43 Ausführlich zu den jeweils einschlägigen Grundrechten Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes vor Selbstschädigung, 29 ff. 44 BVerfGE 39, 1 (42). 45 Schwabe, JZ 1998, 66 (68). 46 s. oben 1. Kap. C.
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2. Kap.: Ein Recht gegen Paternalismus
insbesondere, als bei der Paternalismusdiskussion der Begriff der Autonomie eine Rolle spielt, der ja auch der Grundrechtsdogmatik kein Fremdwort ist. Im Folgenden wird dargelegt werden, dass staatlicher Paternalismus am allgemeinen Persönlichkeitsrecht zu messen ist. Dabei wird so vorgegangen werden, dass zunächst die Struktur des Persönlichkeitsrechts untersucht wird. Das bereitet zum einen den Boden für die Schlussfolgerung, dass staatlicher Paternalismus das allgemeine Persönlichkeitsrecht berührt, und ermöglicht so die Erfassung der grundrechtlichen Problematik von Paternalismus in ihrer ganzen Schärfe. Zum anderen bietet die gefundene Struktur des Persönlichkeitsrechts auch dogmatische Ansatzpunkte für die weitere Untersuchung der Rechtfertigungsmöglichkeiten.
I. Die Notwendigkeit eines allgemeinen Persönlichkeitsrechts Bei einem unbefangenen Blick ins Grundgesetz erschließt sich die Existenz eines allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 I i.V. m. 1 I GG nicht ohne weiteres. Es stellen sich insbesondere zwei Fragen: Warum beschränkt man sich nicht auf die Gewährleistungen in den benannten Grundrechten der Art. 2 II ff. GG (1.) und, wenn und soweit dadurch kein befriedigendes Ergebnis erzielt wird, warum greift man nicht auf Art. 2 I GG zurück, der ausdrücklich von der Entfaltung der Persönlichkeit spricht (2.)? Erst die Beantwortung dieser Fragen gibt Aufschluss über die Struktur und die Funktion des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (3.) und ist deshalb Voraussetzung für die im Anschluss vorgenommene Bestimmung des Schutzbereichs und die Lösung des Problems, ob und inwieweit durch das Persönlichkeitsrecht ein Schutz vor staatlichem Paternalismus gewährleistet wird. 1. Persönlichkeitsschutz durch die benannten Grundrechte der Art. 2 II ff. GG Im Grundgesetz wird ein jeweils partieller Schutz der Privatsphäre durch mehrere Einzelgrundrechte erreicht47. An erster Stelle zu nennen ist hier Art. 13 GG (Unverletzlichkeit der Wohnung), der dem Einzelnen im Hinblick auf seine Menschenwürde und im Interesse seiner freien Entfaltung einen „elementaren Lebensraum“ gewährleisten soll48. Ihm soll das Recht, „in Ruhe gelassen zu werden“, sich von gesellschaftlichen Zwängen zu entlasten und sich zu entspannen, gerade in seinen Wohnräumen gesichert werden49. Dieser Schutz bezieht sich aber nur auf die räumliche Privatsphäre50. 47 48
Ausführlich Rohlf, Der grundrechtliche Schutz der Privatsphäre, 135 ff. BVerfGE 42, 212 (219).
B. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht
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Eine weitere Spezialgewährleistung findet sich in Art. 10 GG (Brief-, Postund Fernmeldegeheimnis). Man kann sich diese vereinfachend als Erweiterung des Schutzbereichs des Art. 13 GG vorstellen, indem schriftliche und fernmündliche Äußerungen auch auf dem Weg zwischen der Wohnung des Absenders und des Empfängers geschützt sind51. Durch Art. 4 GG (Glaubens- und Gewissensfreiheit) werden innere Überzeugungen des Menschen geschützt, die als „Kerninstanzen der Persönlichkeit“52 eine herausragende Bedeutung für den Einzelnen haben. Der Schutz von Ehe und Familie durch Art. 6 GG betrifft einen Bereich, der weithin mit Privatheit geradezu gleichgesetzt wird. Ehe und Familie eröffnen einen Bereich, der durch seine Abgeschlossenheit gegenüber der Gesellschaft wie auch seine Vertraulichkeit und Vertrautheit gegenüber dem Ehepartner bzw. der Familie einen idealen Raum für Privatheit bietet53. Z. T. werden auch die Kommunikationsgrundrechte der Art. 5, 8 und 9 GG zum Schutz der Privatsphäre gerechnet54. So wichtig die durch diese Grundrechte geschützten Bereiche auch sind, der Schutz bleibt dennoch lückenhaft. Wichtige Aspekte der Persönlichkeit werden nicht erfasst – hierzu gehören z. B. der Datenschutz, die sexuelle Selbstbestimmung, die persönliche Ehre und andere. 2. Unzulänglichkeit von Art. 2 I GG Warum wird bei diesem Befund nicht Art. 2 I GG, wie es sein Wortlaut nahe legt, als Gewährleistung eines allgemeinen Persönlichkeitsrechts verstanden, die in all den Fällen eingreift, die nicht von den Spezialgewährleistungen erfasst werden? Der Grund liegt in der weiten Auslegung von Art. 2 I GG durch das Bundesverfassungsgericht. aa) In der Elfes-Entscheidung ging es um die Frage, ob die Ausreisefreiheit in den Schutzbereich eines Grundrechts fällt. Das Bundesverfassungsgericht lehnte einen Schutz durch Art. 11 GG ab, der nur die innerdeutsche Freizügigkeit erfasse, und musste sich dann damit befassen, „ob unter dem Begriff der freien Entfaltung der Persönlichkeit die menschliche Handlungsfreiheit im weitesten Sinne zu verstehen sei oder ob Art. 2 Abs. 1 GG sich auf den Schutz eines Mindestmaßes dieser Handlungsfreiheit beschränke, ohne das der Mensch seine Wesensanlage als geistig-sittliche Person überhaupt nicht entfalten kann“55. Zur Lösung des Problems bedient sich das Gericht insbesondere der 49 50 51 52 53 54
BVerfGE 75, 284 (328); Rohlf, Der grundrechtliche Schutz der Privatsphäre, 152. BVerfGE 65, 1 (40). Rohlf, Der grundrechtliche Schutz der Privatsphäre, 164. Ebd., 136. Ebd., 172. Ebd., 179.
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2. Kap.: Ein Recht gegen Paternalismus
historischen und der systematischen Interpretation. In systematischer Hinsicht versucht es, den Schutzbereich des Art. 2 I GG von der Schrankenregelung her zu erschließen. Wenn das Grundgesetz mit der freien Entfaltung der Persönlichkeit nur deren Kernbereich gemeint hätte, sei es nicht verständlich, wie die Entfaltung innerhalb dieses Kernbereichs gegen das Sittengesetz, die Rechte anderer oder die verfassungsmäßige Ordnung einer freiheitlichen Demokratie verstoßen könnte. Vielmehr zeigten diese Beschränkungen, dass das Grundgesetz von einer Handlungsfreiheit im umfassenden Sinn ausgehe56. Dieses Ergebnis werde durch die historische Auslegung unterstützt. In den Beratungen zum Grundgesetz standen zwei Entwürfe nebeneinander. In der Fassung des Redaktionsausschusses wurde die Freiheit garantiert, „zu tun und zu lassen, was die Rechte anderer nicht verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt“. Die letztlich beschlossene Fassung habe demgegenüber aber keine inhaltliche Änderung darstellen sollen, vielmehr habe sich der Hauptausschuss die Auffassung des Redaktionsausschusses zueigen gemacht, dass in Art. 2 I GG die Handlungsfreiheit unter Vorbehalt jedes verfassungsmäßigen Gesetzes garantiert werden solle57. Die wichtigsten Konsequenzen dieser Rechtsprechung sind, dass der Grundrechtsschutz „lückenlos“ wird58 und jedermann im Wege der Verfassungsbeschwerde geltend machen kann, ein seine Handlungsfreiheit beschränkendes Gesetz gehöre nicht zur verfassungsmäßigen Ordnung, weil es formell oder materiell gegen einzelne Verfassungsbestimmungen verstoße59. bb) Erst im Jahr 1989 sah sich das Gericht wieder veranlasst, zur Reichweite des Schutzbereichs von Art. 2 I GG Stellung zu nehmen. Es ging um die Verfassungsbeschwerde eines Freizeitreiters, der die gerichtliche Feststellung erreichen wollte, dass er bestimmte Wege ohne Bindung an das nordrhein-westfälische Landschaftsgesetz als Reiter benutzen dürfe. Das Gericht führte aus, dass eine enge Auslegung des Art. 2 I GG zu einem Freiheitsverlust des Bürgers führen würde, „für den . . . keine zwingenden Gründe ersichtlich sind“. Zudem würde eine solche Einschränkung schwierige, in der Praxis kaum lösbare Abgrenzungsprobleme mit sich bringen60. Gegen dieses Verständnis von Art. 2 I GG wandte sich der Richter Grimm in seinem Sondervotum. Die Grundrechte schützten die Integrität, Autonomie und Kommunikation des Einzelnen in ihren grundlegenden Bezügen; wegen dieser 55
BVerfGE 6, 32 (36). Ebd. 57 Ebd., 38 ff. 58 Was allerdings nicht immer durchgehalten wird; vgl. dazu Schwarz, JZ 2000, 126 (128 ff.). 59 Pieroth, AöR 115 (1990), 33 (37 ff.); Wahl, JuS 2001, 1041 (1044). 60 BVerfGE 80, 137 (154). 56
B. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht
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fundamentalen Bedeutung für eine auf die Menschenwürde gerichtete Ordnung seien sie aus der Menge der Rechte hervorgehoben. Es sei weder historisch noch funktional der Sinn der Grundrechte, jedes erdenkliche menschliche Verhalten unter ihren besonderen Schutz zu stellen; dies führe zu einer „Banalisierung der Grundrechte“. Daher müsse das durch Art. 2 I GG geschützte Verhalten eine den übrigen Grundrechten vergleichbare Relevanz für die Persönlichkeitsentfaltung besitzen61. Auf die vom Bundesverfassungsgericht angenommenen Alternativen, Art. 2 I GG entweder als umfassende Gewährleistung der Handlungsfreiheit oder im Sinne eines Schutzes lediglich des Kerns der Persönlichkeit62 zu deuten, beschränkten sich die Auslegungsmöglichkeiten nicht63. Vielmehr sei Art. 2 I GG in dem Sinne eines allgemeinen Persönlichkeitsrechts zu verstehen, das nicht jede menschliche Betätigung schütze, sondern als Auffanggrundrecht für konstituierende Elemente der Persönlichkeit fungiere. Dabei orientiert sich Grimm an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht. Es sollen diejenigen Lebensbereiche oder Verhaltensweisen geschützt werden, deren beliebige Regulierbarkeit durch den Staat die Autonomie des Einzelnen gefährde und damit einem System Vorschub leiste, das nicht mehr beanspruchen könne, auf die Achtung der Menschenwürde gerichtet zu sein64. cc) Auffällig ist zunächst der unterschiedliche methodische Ansatz des Bundesverfassungsgerichts in der Elfes-Entscheidung und der Richtermehrheit in „Reiten im Walde“ auf der einen und Grimms auf der anderen Seite. Wie dargelegt, versucht das Bundesverfassungsgericht, in systematischer Hinsicht aus der Schrankenregelung des Art. 2 I GG Rückschlüsse zu ziehen, beruft sich auf die Entstehungsgeschichte und weist auf die praktischen Probleme hin, die eine enge Auslegung mit sich bringen würde. Die Schwäche dieses Ansatzes liegt darin, dass er kein geschlossenes Konzept erkennen lässt. Die Frage, ob das Grundgesetz den Einzelnen im Prinzip vor wirklich allen Freiheitsbeschränkungen schützt, ist aber von so grundsätzlicher Bedeutung im Gefüge des Grundgesetzes, dass es wünschenswert wäre, die gefundene Antwort durch den Rückgriff auf grundlegende Wertentscheidungen des Grundgesetzes begründen zu können. Diesen Ansatz wählt Grimm: Er tritt einen Schritt zurück und stellt zunächst die allgemeine Frage nach der Funktion der Grundrechte. Nachdem er zu dem Ergebnis gekommen ist, dass diese die Integrität, Autonomie und Kommunika61 BVerfGE 80, 164 (164 f.) (Sondervotum Grimm). Siehe auch ders., in: Karlsruher Forum 1996, 3 (18). 62 Diese sog. Persönlichkeitskerntheorie wurde insbesondere von Peters vertreten: FS Laun, 669 (673 f.); Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit in der höchstrichterlichen Rechtsprechung, 15 ff., 47 ff. 63 BVerfGE 80, 164 (166). 64 Ebd., 169.
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2. Kap.: Ein Recht gegen Paternalismus
tion des Einzelnen nur in ihren grundlegenden Bezügen schützen, kann er folgerichtig feststellen, dass nicht jedes menschliche Verhalten durch die Grundrechte erfasst werde. Ein solches Vorgehen erscheint der Problematik angemessener als der Ansatz der Richtermehrheit, denn es rückt die staatstheoretische Fragestellung nach der Funktion der Grundrechte im demokratischen, an der Menschenwürde ausgerichteten Staat in den Vordergrund der Argumentation. Freilich geht auch Grimm unausgesprochen von Prämissen aus, die einer näheren Überprüfung bedürfen. Seine Feststellung, dass es in funktionaler Sicht nicht Sinn der Grundrechte sei, jedes menschliche Verhalten zu schützen, begründet er nicht weiter – diese Aussage ist aber nicht ohne weiteres evident. Wenn er auf die historische Bedeutung hinweist, so ist ihm zwar zuzustimmen, dass bei der Erkämpfung der Grundrechte nicht das ungestörte Reiten im Walde oder Taubenfüttern im Vordergrund stand – dennoch kann sich die Funktion der Grundrechte im Laufe der Zeit verändert haben. Es ist daher angezeigt, die heutige Funktion der Grundrechte im Verhältnis Staat – Bürger näher zu beleuchten. Ausgangspunkt soll eine zunächst eher unscheinbare Formulierung der Richtermehrheit sein: „Jeder Versuch einer wertenden Einschränkung des Schutzbereichs würde danach zu einem Verlust des Freiheitsraums für den Bürger führen, . . . für den keine zwingenden Gründe ersichtlich sind.“65 Die Richtermehrheit scheint also davon auszugehen, dass die Einschränkung der Freiheit begründet werden muss. Warum, so könnte man fragen, muss nicht die Gewährung von Freiheit begründet werden? Dies ist wohl Duttges Ansatz, der eine Grundrechtskonzeption fordert, die „das fragile Gleichgewicht“ zwischen grundrechtlich geschützten Freiheiten und verfassungsrechtlich fundierten Allgemeininteressen „nicht zugunsten der Individualinteressen verschiebt“66. Ein solcher Ansatz ist jedoch verfehlt, was sich insbesondere an Art. 1 I des Herrenchiemseer Entwurfs belegen lässt, der eine auch für das Staatsverständnis des Grundgesetzes anerkannte Aussage trifft: „Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen.“67 Diese „Menschbezogenheit“ ist auch der materielle Grund für die weite Auslegung des Art. 2 I GG: Denn wenn der Staat für den Menschen da ist, so ist der Staat eben kein Wert an sich, sondern nur Mittel zum Zweck. Ihm kann daher auch keine Befugnis zur Freiheitsbeschränkung zukommen, für die er sich nicht rechtfertigen muss. Würde man Art. 2 I GG in einem engen Sinne verstehen, so gäbe es Bereiche menschlicher Freiheit, in die der Staat eingreifen könnte, ohne dass er sich dafür rechtfertigen müsste bzw. die Betroffenen sich dagegen wehren könnten. Das widerspricht aber den Grundgedanken des Art. 1 I des Herrenchiemseer Entwurfs und der Menschenwürde. Treffend formuliert 65
BVerfGE 80, 137 (154) (Hervorhebung d. Verf.). Duttge, Der Staat 1997, 281 (292 f.). 67 Zur Verankerung dieser Aussage in der Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes vgl. Stein/Frank, Staatsrecht, 247. 66
B. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht
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Alexy: „[D]er . . . Respekt vor den Entscheidungen und Lebensformen des Einzelnen . . . verlangt, dass nicht ohne hinreichenden Grund eingegriffen wird.“68 Von diesem Punkt aus lassen sich auch die übrigen Einwände entkräften. Der von Duttge geforderte Ausgleich zwischen Individual- und Allgemeininteressen lässt sich am besten auf Rechtfertigungsebene behandeln, wo sich insbesondere das Verhältnismäßigkeitsprinzip als ein flexibles Werkzeug erwiesen hat. Denn Art. 2 I GG gewährt keine schrankenlose Freiheit, sondern verlangt lediglich, dass in die Freiheit des Einzelnen nur eingegriffen wird, wenn es Gründe gibt, die dies rechtfertigen69. Auch von einer „Banalisierung der Grundrechte“70 kann nicht die Rede sein, wenn „kleine Dinge“ geschützt werden, denn es muss anerkannt werden, dass auch Handlungen wie Taubenfüttern oder Reiten im Wald als wichtig erlebt werden können71. Wenn einer Auslegung des Art. 2 I GG als allgemeiner Handlungsfreiheit Tatbestandslosigkeit72 vorgeworfen wird, so verwechselt die Kritik Tatbestandslosigkeit mit Tatbestandsoffenheit – Art. 2 I GG könnte nämlich seiner Funktion als Auffanggrundrecht gar nicht gerecht werden, wenn er das geschützte Verhalten ebenso differenziert festlegen würde wie die Spezialgrundrechte73. Der Einwand der Substanzlosigkeit74 geht ebenfalls ins Leere: In der weiten Auslegung schützt Art. 2 I GG die negative Freiheit des Einzelnen; diese ist aber ein Wert an sich75, vielleicht gar „der Wert einer freiheitlichen Staatsordnung schlechthin“76. dd) Ebenso interpretationsbedürftig wie der Schutzbereich sind die Schrankenbestimmungen des Art. 2 I GG. Was mit dem Verweis auf die verfassungsmäßige Ordnung gemeint ist, war lange umstritten. Denn der Wortlaut legt eine Beschränkung auf „elementare Verfassungsgrundsätze und Grundentscheidungen des Gesetzgebers“77 nahe; zudem kommt dieser Begriff auch in den Art. 20 III und 28 I GG vor und wird dort in ähnlicher Weise verstanden. Dennoch war spätestens mit der weiten Auslegung des Schutzbereichs durch das Bundesverfassungsgericht vorgegeben, dass auch die Schrankenregelung extensiv zu inter68 Alexy, Theorie der Grundrechte, 325, Fn. 67. Vgl. auch Hochhuth, JZ 2002, 743 (748), mit einer ähnlichen Begründung. 69 Ebd., 345 f. 70 So Grimm in seinem Sondervotum, BVerfGE 80, 164 (168). 71 Vgl. dazu auch Kube (JuS 2003, 111 [112]), der zutreffend darauf hinweist, dass eine Ausgrenzung des „Banalen“ zugleich bestimme Vorstellungen darüber voraussetzen würde, welche Inhalte einer angemessenen Persönlichkeitsentfaltung dienlich sind. 72 Grabitz, Freiheit und Verfassungsrecht, 248. 73 Schmitt Glaeser, in: HdStR VI, § 129, Rn. 21. 74 W. Schmidt, AöR 91 (1966), 42 (47). 75 Alexy, Theorie der Grundrechte, 325; Schmitt Glaeser, in: HdStR VI, § 129, Rn. 22. 76 Schmitt Glaeser, ebd. 77 Gutachten des BGH vom 28.4.1952, DVBl. 1953, 471 (471).
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2. Kap.: Ein Recht gegen Paternalismus
pretieren ist. So wird die verfassungsmäßige Ordnung im Rahmen des Art. 2 I GG als die Gesamtheit der Normen, die formell und materiell verfassungsmäßig sind, verstanden78 und diese Klausel demgemäß als einfacher Gesetzesvorbehalt interpretiert79. Die Schranken des Sittengesetzes und der Rechte anderer laufen dann leer80. 3. Befund und Folgerungen Damit ergibt sich folgender Befund: Der Schutz der Persönlichkeit wird durch die Spezialgewährleistungen nur unvollständig erreicht. Alles, was die Spezialgrundrechte nicht erfassen, wird aber durch den als allgemeine Handlungsfreiheit zu deutenden Art. 2 I GG geschützt, der somit die Funktion eines Auffanggrundrechts übernimmt. Freilich ist Art. 2 I GG in dieser weiten Auslegung nur bedingt geeignet, den hohen Stellenwert der Persönlichkeit angemessen zu erfassen – einerseits werden vom weiten Schutzbereich so verschiedene und unterschiedlich zu gewichtende Verhaltensweisen wie Taubenfüttern auf der einen und sexuelle Selbstbestimmung auf der anderen Seite erfasst, andererseits ist die weitgehende Einschränkbarkeit der Handlungsfreiheit für besonders persönlichkeitsrelevante Bereiche unangemessen. Auch die Menschenwürdegarantie hat einen Bezug zum Persönlichkeitsschutz. Jedoch ist diese Gewährleistung allein kaum geeignet, die Lücken des durch die folgenden (benannten) Grundrechte gewährten Schutzes umfassend zu schließen, denn es ist nicht möglich, alle Persönlichkeitsgefährdungen durch eine genauere Bestimmung der Menschenwürde zu erfassen. Die Menschenwürde muss als absolut geschützte Zone notwendigerweise eng gefasst sein und darf nicht zur „kleinen Münze“ (Dürig) verkommen; sie kann daher schon tatbestandlich nicht alle Gefährdungen der Privatheit erfassen. So entsteht ein „Vakuum zwischen unantastbarer Zone und beliebig einschränkbarer allgemeiner Handlungsfreiheit“81. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht hat die Aufgabe, dieses Vakuum zu füllen. Es erfasst aus der Menge der von Art. 2 I GG geschützten Positionen diejenigen, die wegen ihrer Zugehörigkeit zur engeren persönlichen Lebenssphäre eines besonderen Schutzes bedürfen. Es handelt sich beim allgemeinen Persönlichkeitsrecht also um einen Ausschnitt aus dem allgemeinen Freiheitsrecht; das Persönlichkeitsrecht ist hier lex specialis. Es hat seine Wurzel in Art. 2 I GG. 78 79 80 81
BVerfGE 6, 32 (37 f.); 90, 145 (172). Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2, Rn. 14. Ebd., Rn. 15 f. Koppernock, Das Grundrecht auf bioethische Selbstbestimmung, 35.
B. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht
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Um jedoch die Bedeutung für die engere persönliche Sphäre herauszustellen, wird die Menschenwürdegarantie des Art. 1 I GG ergänzend herangezogen. Durch die Zitierweise „Art. 2 I i.V. m. 1 I GG“ wird dies verdeutlicht: Art. 1 I GG dient als interpretationsleitendes Prinzip bei der Bestimmung des besonders geschützten Ausschnitts aus dem allgemeinen Freiheitsrecht82. Diese Konzeption des Persönlichkeitsschutzes hat den entscheidenden Vorteil, offen für neue Entwicklungen und Erkenntnisse zu sein. Denn das Persönlichkeitsrecht knüpft nicht an bestimmte, als schützenswert anerkannte Verhaltensweisen an wie die Spezialgrundrechte, sondern erfasst tatbestandlich alle Freiheitsbeschränkungen mit besonderer Relevanz für die Persönlichkeit. Diese große Offenheit bringt allerdings das Folgeproblem der Unbestimmtheit mit sich. Die Abgrenzung des Persönlichkeitsrechts von der Handlungsfreiheit kann nicht anhand äußerlicher Merkmale geschehen, sondern muss in hohem Maße wertende Aspekte einbeziehen. Die Frage, welche Aspekte menschlicher Freiheit besonders persönlichkeitsrelevant sind, ist naturgemäß nicht leicht zu beantworten, da sie in hohem Maße von persönlichen Erfahrungen und Erlebnissen bestimmt ist. Man kann ihr jedoch nicht ausweichen – dies ist der Preis, der für den Gewinn eines erhöhten Schutzes zu zahlen ist. Das Persönlichkeitsrecht schützt somit vor allen neuen oder bisher nicht als solchen erkannten Gefährdungen der engeren persönlichen Sphäre, die nicht von den Spezialgrundrechten erfasst werden; es ist ebenso wie das allgemeine Freiheitsrecht ein Auffanggrundrecht. Weitere Abgrenzungsprobleme entstehen nicht; insbesondere kann nicht von einer „Relativierung der Menschenwürdegarantie“83 die Rede sein. Möglicherweise liegt einer solchen Befürchtung die falsche Annahme zugrunde, dass das Persönlichkeitsrecht in Art. 1 I GG wurzele, dem durch eine Bezugnahme auf Art. 2 I GG gleichsam ein Gesetzesvorbehalt angehängt werde. Wie dargelegt, wurzelt das Persönlichkeitsrecht jedoch nicht in der Menschenwürde, sondern im allgemeinen Freiheitsrecht. Es stellt die Eigenständigkeit der Menschenwürdegarantie, die neben dem Persönlichkeitsrecht wie auch neben allen anderen Grundrechten anwendbar bleibt, nicht in Frage. Das Persönlichkeitsrecht ist nur vorrangig zu prüfen84; jede Verletzung der Menschenwürde ist dabei auch eine Verletzung des Persönlichkeitsrechts. Der Menschenwürdegarantie wird durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht zusätzliches Gewicht und Ausstrahlung verschafft. Denn diese kann wegen ihrer Unflexibilität keinen umfassenden Schutz der Persönlichkeitssphäre gewährleisten. Dass aber die Grundrechte im Licht 82 Dreier, in: Dreier, GG, Art. 2 I, Rn. 50; Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, 148; Jarass, NJW 1989, 857 (857); Vitzthum, JZ 1985, 201 (203). 83 Geis, JZ 1991, 112 (114); Höfling, in: Sachs, GG, Art. 1, Rn. 59; ders., JuS 95, 857 (862). 84 Höfling, in: Sachs, GG, Art. 1, Rn. 57.
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2. Kap.: Ein Recht gegen Paternalismus
der Menschenwürde auszulegen sind, sollte eine Selbstverständlichkeit und keinesfalls Ansatzpunkt für Kritik sein. Die Kritik an der Konzeption des allgemeinen Persönlichkeitsrechts kam insbesondere im Zusammenhang mit der Tagebuchentscheidung des Bundesverfassungsgerichts85 auf. Darin wurde die Verwertung privater Aufzeichnungen in einem Mordprozess für zulässig erachtet, weil das Gericht die unantastbare Intimsphäre durch die Verwertung der Tagebuchaufzeichnungen als nicht verletzt ansah. Eine Relativierung der Menschenwürdegarantie kann darin jedoch nicht gesehen werden. Man kann sich fragen, ob das Gericht bei der Bestimmung der Intimsphäre diese nicht zu eng gefasst hat; angesichts der Unantastbarkeit der Menschenwürde, bei der jeder Eingriff einer Verletzung gleichkommt, muss diese jedoch eng ausgelegt werden. Über diesen Kern hinaus bietet das allgemeine Persönlichkeitsrecht dann zwar keinen absoluten, aber doch wenigstens einen ernst zu nehmenden Schutz86. So wäre es durchaus denkbar gewesen, der Verfassungsbeschwerde stattzugeben, obwohl die Menschenwürde nicht berührt war, wenn die im Rahmen der Prüfung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts vorgenommene Abwägung zu dem Ergebnis der Unverwertbarkeit der Tagebücher geführt hätte. An den Einwänden gegen das allgemeine Persönlichkeitsrecht zeigt sich aber auch, wie wichtig die exakte Zitierweise als „Art. 2 I i.V. m. 1 I GG“ ist. In Rechtsprechung und Literatur stößt man häufig auf die Bezeichnung „Art. 1 I und 2 I GG“87. Dadurch wird die Struktur des Persönlichkeitsrechts verschleiert. Verwirrend ist es auch, wenn das Persönlichkeitsrecht in Grundrechtsdarstellungen im Rahmen der Menschenwürde behandelt wird88. Es handelt sich dabei nicht nur um Schönheitsfehler, sondern um Ungenauigkeiten bezüglich der dogmatischen Grundlagen, die sich schädlich auswirken können, wie insbesondere die oben dargestellten Befürchtungen einer Relativierung der Menschenwürde verdeutlichen. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht sorgt also auf Schutzbereichsebene für eine Heraushebung der besonders persönlichkeitsrelevanten Bereiche aus dem allgemeinen Freiheitsrecht. Damit ist aber noch nichts gewonnen, solange nicht die Schutzintensität erhöht wird. Wenn das allgemeine Persönlichkeitsrecht Bereiche mit besonderer Nähe zur Menschenwürde erfasst, so kann es nicht ebenso weitgehend einschränkbar sein wie das Freiheitsrecht. Das heißt jedoch nicht, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht wie die Menschenwürde über85
BVerfGE 80, 367 ff. Koppernock, Das Grundrecht auf bioethische Selbstbestimmung, 35. 87 Vgl. z. B. BGH NJW 1986, 2951 (2951); Geis, JZ 1991, 112 (112). 88 So bei Bleckmann, Grundrechte, 539, 557; Richter/Schuppert, Casebook Verfassungsrecht, 3. A., 79 ff.; anders jedoch jetzt Richter/Schuppert/Bumke in der 4. A., 77 ff. 86
B. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht
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haupt keinen Beschränkungen unterworfen wäre. Denn das allgemeine Persönlichkeitsrecht ist weiter gefasst als die Menschenwürde. Art. 1 I GG dient nur als Interpretationshilfe bei der Ermittlung besonders persönlichkeitsrelevanter Bereiche und ist nicht das einschlägige Abwehrrecht; dieses ist vielmehr Art. 2 I GG. Es gilt daher der einfache Gesetzesvorbehalt des Art. 2 I GG auch für das allgemeine Persönlichkeitsrecht89. Die höhere Schutzintensität ist dagegen materiell bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu berücksichtigen. Während das allgemeine Freiheitsrecht sehr weitgehend eingeschränkt werden kann, sind die Anforderungen aufgrund des Einflusses der Menschenwürde beim Persönlichkeitsrecht höher90. Ein Eingriff ist dem Bundesverfassungsgericht zufolge gerechtfertigt, wenn er „zum Schutz eines wichtigen Gemeinschaftsgutes geeignet und erforderlich ist und wenn der Schutzzweck so schwer wiegt, dass er die Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts in ihrem Ausmaß rechtfertigt“91. Teilweise fordert es eine „strikte Wahrung des Verhältnismäßigkeitsprinzips“92. Beide Aussagen sind problematisch: Die erste besagt letztlich nichts anderes als die Geltung des Verhältnismäßigkeitsprinzips, und wenn dieses nach der zweiten „strikt“ gehandhabt werden soll, ist nicht viel gewonnen, denn ein Prinzip kann nicht lasch oder strikt gehandhabt werden, sondern es gilt oder es gilt nicht93. Trotz der sprachlichen Ungenauigkeiten wird jedoch der zutreffende Gedanke des Gerichts deutlich: Eine Einschränkung des Persönlichkeitsrechts erfordert im Vergleich zum allgemeinen Freiheitsrecht gewichtigere Gründe, die der besonderen Persönlichkeitsrelevanz des beeinträchtigten Bereichs Rechnung tragen.
II. Der Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts Nachdem die Grundstrukturen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts herausgearbeitet worden sind, soll nun eine nähere Bestimmung des Schutzbereichs vorgenommen werden. Da das allgemeine Persönlichkeitsrecht ein Ausschnitt aus dem allgemeinen Freiheitsrecht ist, kommt es also darauf an, die Kriterien zu ermitteln, durch die der erhöhte Schutz des Persönlichkeitsrechts gerechtfertigt wird.
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Dreier, in: Dreier, GG, Art. 2 I, Rn. 59. Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 2, Rn. 103. 91 BVerfGE 90, 263 (271). 92 BVerfGE 32, 373 (379); 33, 367 (377); 34, 205 (209); 34, 238 (246); 35, 35 (39); 35, 202 (232). 93 Zutr. Alexy, Theorie der Grundrechte, 329; Schmitt Glaeser, in: HdStR VI, § 129, Rn. 39. 90
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2. Kap.: Ein Recht gegen Paternalismus
1. Die Abgrenzung zum Freiheitsrecht a) Tun und Sein aa) Wenn Art. 2 I GG als „allgemeine Handlungsfreiheit“ tituliert wird, so ist dies noch zu eng gegriffen. Denn Art. 2 I GG schützt nicht nur beliebige Handlungen. Vielmehr wird sein Schutzbereich nochmals erweitert, indem zusätzlich Zustände und Rechtspositionen einbezogen werden, so dass letztlich nicht nur „Tun“, sondern auch tatsächliches und rechtliches „Sein“ geschützt sind94. Zu dem geschützten „Sein“ gehört dann beispielsweise die Unbefangenheit der Kommunikation, wodurch der Einzelne vor dem unerwünschten Mithören seiner Gespräche geschützt wird, oder die Ehre, die den sozialen Geltungsanspruch schützt. Die Einbeziehung des „Seins“ in den Schutzbereich des Art. 2 I GG begründet Alexy damit, dass Eingriffe in Zustände und Rechtspositionen eines Grundrechtsträgers stets mittelbar seine Handlungsfreiheit beeinträchtigten. Beispielsweise wirkten sich die Beeinträchtigung des Zustandes der Unbefangenheit der Kommunikation durch heimliche Tonbandaufnahmen und die Beseitigung der Rechtsposition eines Personalratsmitglieds auf Handlungsmöglichkeiten des betroffenen Grundrechtsträgers aus. Unter diesem Blickwinkel habe das allgemeine Freiheitsrecht den Charakter eines sowohl unmittelbar als auch mittelbar die allgemeine Handlungsfreiheit schützenden Rechts95. Versteht man Art. 2 I GG in diesem Sinne, so ist auch die Bezeichnung „allgemeines Freiheitsrecht“ passender als die der „allgemeinen Handlungsfreiheit“, weil es eben nicht nur um den Schutz von Handlungen geht. Im Ergebnis ist der Einbeziehung von tatsächlichen und rechtlichen Zuständen zuzustimmen; es müssen allerdings einige Modifizierungen vorgenommen werden. Zum einen erscheint die Begründung zweifelhaft, derzufolge es bei der Einbeziehung von Zuständen in erster Linie um den mittelbaren Schutz der Handlungsfreiheit geht. Vielmehr ist von dem bereits skizzierten Gedanken auszugehen, dass der Grund für das weite Verständnis des Art. 2 I GG die Erkenntnis ist, dass sich der Staat für jede Freiheitsbeschränkung rechtfertigen muss. Freiheit zeigt sich aber nicht nur in der Möglichkeit, bestimmte Handlungen vornehmen oder unterlassen zu können, sondern auch in der Freiheit von Beeinträchtigungen, die sich nicht auf Handlungen beziehen. Beispielsweise gehört zu den Schutzgütern des Art. 2 I GG zunächst auch die Gesundheit96. Diese ist aber als „Zustand“ nicht deshalb geschützt, weil ihre Verletzung den Einzelnen 94
Alexy, ebd., 310; Schmitt Glaeser, ebd., Rn. 18. Alexy, ebd., 311 f. Zustimmend Schmitt Glaeser, ebd. 96 Es ist in diesem Zusammenhang unerheblich, dass die Gesundheit auch durch Art. 2 II GG geschützt wird. Denn das allgemeine Freiheitsrecht gewährleistet zunächst einmal umfassende Freiheit, unabhängig von den nachfolgenden Gewährleistungen. Daher erfasst es auch die Gesundheit. Erst im nächsten Schritt werden dann bestimmte Bereiche dem Schutz der Spezialgrundrechte unterstellt. 95
B. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht
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zum Ausführen oder Unterlassen von Handlungen zwingt, etwa einem Arztbesuch oder Verzicht auf sportliche Aktivitäten. Vielmehr ist sie geschützt, weil sie, allgemein gesagt, von so besonderer Wichtigkeit für den Menschen ist, dass schon ihre Beeinträchtigung als solche als belastend erlebt wird. Die Gesundheitsbeschädigung als solche ist also rechtfertigungsbedürftig, nicht erst die daraus resultierenden Verhaltenseinschränkungen für den Einzelnen. Verallgemeinert man diesen Gedanken, so ergibt sich, dass die geschützten Zustände als solche Freiheitspositionen beinhalten müssen, ohne dass es darauf ankommt, ob oder in welcher Weise sie sich auf Handlungsmöglichkeiten des Grundrechtsträgers auswirken. Zum anderen wird durch die pauschale Anerkennung des Schutzes von Zuständen suggeriert, dass – ebenso wie prinzipiell alle Handlungen – auch alle Zustände geschützt werden. Ein einfaches Beispiel zeigt, dass dies nicht der Fall ist. Die Tatsache, dass auf der Straße vor meinem Arbeitszimmer ein Baum steht, an dem ich mich erfreuen kann, ist für mich möglicherweise von hohem Wert. Der Zustand, dass ich Freude an diesem Baum habe, wird aber nicht von dem allgemeinen Freiheitsrecht geschützt. Würde der Baum morgen gefällt werden, so könnte ich mich aus grundrechtlicher Sicht nicht dagegen wehren. Man mag dagegen einwenden, dass dies auch folgerichtig sei. Der Baum habe schließlich nichts mit mir zu tun: Der Anblick eines Baumes sei nicht eine mir zukommende Eigenschaft wie etwa meine Gesundheit, meine Ehre o. ä. und deshalb von vornherein nicht von dem allgemeinen Freiheitsrecht erfasst. Das ist richtig; deshalb wird hier auch nicht auf den Anblick als solchen, sondern auf die durch den Anblick verursachte Freude abgestellt. Diese ist ein mir zukommender und mich möglicherweise tief berührender Zustand, im Grundsatz durchaus vergleichbar anderen Zuständen wie beispielsweise der Ehre. Meine Freude an dem Baum wird also nicht geschützt. Wäre es allerdings so, dass der Anblick des Baumes nicht nur Gefühle der Freude auslöst, sondern – aus welchen Gründen auch immer – darüber hinausgehend für meine Gesundheit wichtig ist, so wäre in diesem Fall das allgemeine Freiheitsrecht einschlägig97. Das heißt also, dass nicht jeder Zustand geschützt ist. Eine bloße Beeinträchtigung von Freude reicht nicht aus, um den Schutz der allgemeinsten und am wenigsten intensiven Gewährleistung des Art. 2 I GG auszulösen. Wird dagegen die Gesundheit beeinträchtigt, kommt das Freiheitsrecht zur Anwendung. Irgendwo dazwischen liegt die Trennlinie, die die geschützten von den ungeschützten Zuständen unterscheidet98. 97
Dieses würde dann (im nächsten Schritt) von Art. 2 II GG verdrängt werden. Dieses Beispiel ist von höherer Aktualität und praktischer Relevanz, als es im ersten Moment erscheinen mag. Wenn das Bundesverwaltungsgericht dem Staat erlaubt, „Unlustgefühle hervorrufende krasse Gegensätzlichkeiten und Widersprüche im Erscheinungsbild bebauter Gebiete abzuwehren“, um damit „letztlich einen Beitrag 98
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2. Kap.: Ein Recht gegen Paternalismus
Es ist daher zwar richtig, den Schutz des allgemeinen Freiheitsrechts auf Zustände zu erweitern. Dabei darf aber nicht davon ausgegangen werden, dass pauschal alle Zustände erfasst werden. Vielmehr ist eine gewisse Relevanz für die Persönlichkeit erforderlich. Die Einbeziehung eines Zustandes enthält daher im Gegensatz zu der einer Handlung immer schon ein wertendes Element, eine Aussage über die Schutzwürdigkeit einer bestimmten Position. bb) Der gängigen Abgrenzung des Persönlichkeitsrechts vom Freiheitsrecht liegt auch die Unterscheidung von Handlungen und Zuständen zugrunde. Die Handlungen werden danach von dem allgemeinen Freiheitsrecht geschützt, das so folgerichtig doch wieder als „Handlungsfreiheit“ tituliert werden kann. Die Zustände dagegen werden dieser Auffassung zufolge von dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht erfasst99. Sachlich das Gleiche ist gemeint, wenn Begriffspaare wie „Aktivitätsschutz/Integritätsschutz“ oder „Tun/Sein“ verwendet werden100. Auch das Bundesverfassungsgericht formuliert ähnlich: „Wie der Zusammenhang mit Art. 1 Abs. 1 GG zeigt, enthält das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Art. 2 Abs. 1 GG ein Element der ,freien Entfaltung der Persönlichkeit‘, das sich als Recht auf Respektierung des geschützten Bereichs von dem ,aktiven‘ Element dieser Entfaltung, der allgemeinen Handlungsfreiheit . . . abhebt.“101 Dieser Auffassung zufolge hat das allgemeine Persönlichkeitsrecht demnach die Aufgabe, bestimmte „Bereiche“ zu schützen. Als wichtigster dieser Bereiche und zugleich Ausgangspunkt des Persönlichkeitsschutzes wird die Privatsphäre genannt102. „Während die allgemeine Handlungsfreiheit sich in aktiver Weise entfaltet, dient das allgemeine Persönlichkeitsrecht in eher passiver oder statischer Weise der Respektierung der Privatsphäre, schützt vor dem unbefugten Eindringen in einen gewissermaßen bereits materialisierten oder gefestigten Status wie überhaupt vor Beeinträchtigungen autonomer Selbstbestimmung zum allseitigen psychischen Wohlbefinden seiner Bürger sowie zum sozialen Frieden in der Gemeinschaft“ zu leisten (BVerwG NVwZ 1991, 983 [984]), so liegt darin eine Anerkennung ästhetisch begründeter Interessen. Koppernock ist zuzustimmen, wenn er diese bis zu einem gewissen Grad Art. 2 I GG unterstellen will (Koppernock, Das Grundrecht auf bioethische Selbstbestimmung, 83). Es ist daher auch nicht abwegig, den Anblick des letzten Baumes inmitten einer Betonwüste durch das allgemeine Freiheitsrecht zu schützen. Solange es aber wie im Textbeispiel lediglich um die Freude an irgendeinem Baum geht, dürfte der Schutzbereich des Art. 2 I GG dies noch nicht erfassen. 99 Alexy, Theorie der Grundrechte, 333; Dreier, in: Dreier, GG, Art. 2 I, Rn. 16; Dürig, JR 1952, 259 (261); Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 2, Rn. 59; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 373; Schmitt Glaeser, in: HdStR, § 129, Rn. 19; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 2 I, Rn. 83. 100 Alexy, ebd. („handlungsbezogen“ – „zustandsbezogen“); Dreier, ebd. („Aktivitätsschutz“ – „Integritätsschutz“); Dürig, ebd. („Handeln“ – „Sein“); Murswiek, ebd., Rn. 62 („Verhalten“ – „Sein“); Schmitt Glaeser, ebd. („Tun“ – „Sein“). 101 BVerfGE 54, 148 (153). 102 Dreier, in: Dreier, GG, Art. 2 I, Rn. 16; Kunig, in: von Münch/Kunig, GG, Art. 2, Rn. 32.
B. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht
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und Selbstdarstellung.“103 Weitere geschützte „Bereiche“ sollen beispielsweise das Recht auf persönliche Ehre, das Verfügungsrecht über die Darstellung der eigenen Person, das Recht am eigenen Bild und am gesprochenen Wort oder das Recht, in dem selbst definierten sozialen Geltungsanspruch nicht beeinträchtigt zu werden, sein104. cc) Die Einteilung in Handlungen und Zustände oder Tun und Sein erscheint auf den ersten Blick deshalb problematisch, weil der Eindruck entstehen kann, hier würde ein materielles Abgrenzungskriterium durch ein formelles ersetzt werden. Wenn das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus dem Schutzbereich des allgemeinen Freiheitsrechts diejenigen Schutzgüter herausfiltern soll, die einen besonders hohen Menschenwürdebezug haben, so kann dieser materiellen Anforderung nicht durch die formelle Abgrenzung zwischen Tun und Sein Genüge getan werden. Ganz so einfach ist es jedoch nicht. Denn wie bereits dargelegt wurde, sind nicht alle Zustände durch das allgemeine Freiheitsrecht erfasst. Vielmehr muss in jedem Einzelfall aufgrund einer wertenden Betrachtung entschieden werden, ob ein Zustand als schutzwürdig anerkannt wird. Im Gegensatz zu der pauschalen Anerkennung jeder Handlung als schutzwürdig kann also bei Zuständen gefiltert werden. Die materielle Betrachtungsweise kommt so durch die Hintertür wieder hinein. Indem entschieden wird, ob ein bestimmter Zustand als schutzwürdig für das allgemeine Freiheitsrecht anzusehen ist, wird zugleich über seine „Hochstufung“ zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht mitentschieden. Wenn man diesen Automatismus im Hinterkopf hat, ist es auch nicht verwunderlich, dass nur solche „Zustände“ anerkannt werden, die von vergleichsweise hoher Relevanz sind. dd) Auch wenn – wie gezeigt – die Abgrenzung nicht aufgrund rein formaler Kriterien vorgenommen wird, so kann dieser Lösungsansatz dennoch nicht überzeugen. Da der Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts nicht aufgrund eines mehr oder weniger eindeutigen Wortlauts der Vorschrift ermittelt werden kann – die Tatbestandsmerkmale „Entfaltung der Persönlichkeit“ und „Würde des Menschen“ helfen aufgrund ihrer Unbestimmtheit zunächst wenig – muss zur Interpretation insbesondere auf den Sinn und Zweck der Vorschrift zurückgegriffen werden. Dies bedeutet aber in erster Linie nicht eine Last, sondern eine große Chance für die Grundrechtsinterpretation, denn sie kann sich bei der Auslegung der Vorschrift von ihrem Sinn leiten lassen, nämlich den Persönlichkeitsschutz des Einzelnen zu gewährleisten. Die große Gefahr besteht freilich darin, die Chance der tatbestandlichen Offenheit durch eine vorzeitige Festlegung auf bestimmte Aspekte zu verspielen. Genau das aber tut die hier kritisierte Auffassung, wenn sie im ersten Schritt der Interpretation die Handlungen aus dem Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ausklam103 104
Dreier, ebd. Alexy, Theorie der Grundrechte, 333 f., m. w. N. aus der Rechtsprechung.
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2. Kap.: Ein Recht gegen Paternalismus
mert. Murswiek schreibt ausdrücklich: „[Es ist beim allgemeinen Persönlichkeitsrecht] das Sein und nicht nur das Verhalten des Menschen betroffen.“105 Woher rührt diese Geringschätzung von Verhaltensweisen? Beim Persönlichkeitsschutz geht es um den Schutz der Integrität des Einzelnen. Wird die Integrität des Einzelnen als ein Zustand, ein Sein begriffen, so scheint man im nächsten Schritt dem Persönlichkeitsrecht den Schutz dieses Seins, und dem allgemeinen Freiheitsrecht damit den Schutz der verbleibenden Verhaltensweisen zuschreiben zu können. Dass die persönliche Integrität ein Zustand ist, bedeutet aber keinesfalls, dass diese vollständig durch den Schutz anderer Zustände gewährleistet werden kann. Ganz im Gegenteil: Es kann für den Integritätsschutz unabdingbar sein, sich in bestimmter Weise verhalten zu können. Wie sich der Einzelne in Bezug auf Fragen der Sexualität, der Familienplanung, der Berufswahl, um nur einige Beispiele anzudeuten, verhält, hat in der Regel größte Auswirkungen auf seine seelische Integrität. Wenn demgegenüber geäußert wird, das Persönlichkeitsrecht schütze „vor dem unbefugten Eindringen in einen gewissermaßen bereits materialisierten oder gefestigten Status“106, so scheint dem ein Persönlichkeitsverständnis zugrunde zu liegen, wonach sich ein bestimmter, einmal erreichter „Stand“ oder „Status“ der Persönlichkeitsentwicklung gleichsam konservieren und auf diese Weise „sichern“ ließe. Das Persönlichkeitsrecht darf sich aber nicht damit begnügen, das zu schützen, was bereits geschaffen wurde. Erforderlich für einen umfassenden Persönlichkeitsschutz ist vielmehr zusätzlich der Schutz vor staatlicher Beeinträchtigung der weiteren, auf dem Erlangten aufbauenden Persönlichkeitsentfaltung. Persönlichkeitsschutz als Integritätsschutz ist daher immer auch Aktivitätsschutz. Dem Ansatz von Dreier, dem zufolge „das Unterscheidungskriterium zwischen allgemeiner Handlungsfreiheit und allgemeinem Persönlichkeitsrecht nicht in der Intensität der Beeinträchtigung oder ihrer Bedeutung für die personale Identität liegt, sondern in der . . . Differenz von Aktivitäts- und Integritätsschutz“, ist daher nachhaltig zu widersprechen. Eine solche Differenz besteht nicht. Vielmehr ist Integritätsschutz ohne Aktivitätsschutz nicht zu haben. Es wäre natürlich nichts dagegen einzuwenden, die für den Integritätsschutz bedeutsamen Aspekte, Handlungen und Zustände, in zwei Gruppen einzuteilen, von denen dann die eine dem allgemeinen Freiheitsrecht zugeordnet wird und die andere dem Persönlichkeitsrecht, solange dadurch ein angemessener Persönlichkeitsschutz gelänge. Indem aber die Schutzintensität beim allgemeinen Freiheitsrecht erheblich geringer ist als beim allgemeinen Persönlichkeitsrecht, entstehen auf diese Weise Defizite im Persönlichkeitsschutz, die nicht zu rechtfertigen sind. Es ist nicht angemessen, für die seelische Integrität bedeutsame Handlungen wie das Verhalten in sexuellen oder familiären Fragen grundrechts105 106
Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 2, Rn. 62 (Hervorhebung d. Verf.). Dreier, in: Dreier, GG, Art. 2 I, Rn. 16.
B. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht
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dogmatisch mit Taubenfüttern oder Reiten im Walde gleichzusetzen. Wenn das Persönlichkeitsrecht eine höhere Schutzintensität bietet, so ist es nur naheliegend, ihm diejenigen Schutzgüter zuzuordnen, die diese Schutzintensität benötigen, und im Gegenzug diejenigen, die nur eines geringen Schutzes bedürfen, unter dem allgemeinen Freiheitsrecht zusammenzufassen. ee) Ist der erste Kritikpunkt an dem Konzept der h. M. also, dass Handlungen ohne hinreichenden Grund aus dem Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts verbannt werden, so ist der zweite Vorwurf Inkonsequenz. Denn kaum, dass Handlungen vorne ausgeschlossen wurden, kommen sie durch die Hintertür wieder herein. Dies geschieht durch die Konstruktion von „Sphären“ bzw. „Bereichen“, und zwar insbesondere über die sog. „Privatsphäre“ als einem Bereich, „in dem er [der Einzelne, d. Verf.] unbeobachtet sich selbst überlassen ist oder mit Personen seines besonderen Vertrauens ohne Rücksicht auf gesellschaftliche Verhaltenserwartungen verkehren kann“107. U. a. soll durch die Privatsphäre die Gestaltung des Geschlechtslebens108, die sexuelle Selbstbestimmung109, der Briefkontakt von Strafgefangenen mit ihren Angehörigen110 oder das Recht, sich gegen eine Elternschaft zu entscheiden111, geschützt werden. Es erscheint dann auch einleuchtend, wenn die Privatsphäre als „Handlungssphäre“ deklariert wird112. Es geht somit bei dem Privatheitsschutz auch um Aktivitätsschutz: Wer seine Sexualität in einer bestimmten Weise auslebt, handelt genauso wie die taubenfütternde Rentnerin oder der Reiter im Walde. Damit ist die Zweiteilung Tun – Sein freilich hinfällig geworden. Denn indem eine Notwendigkeit zur Schaffung von „Sphären“ erkannt wird, die Handlungen unter dem Oberbegriff eines „Zustandes“ wie dem der Privatheit zusammenfassen, wird zugleich anerkannt, dass bestimmte Handlungen in herausgehobenem Maße schutzwürdig sind. Die zunächst behauptete Relevanz der Unterscheidung von Zuständen und Handlungen, Tun und Sein oder Aktivität und Integrität besteht somit aber gerade nicht. Die wahre Unterscheidung liegt in der von Handlungen, die durch bestimmte „Sphären“ erfasst werden, und solchen, bei denen dies nicht der Fall ist. Dann müssen aber Kriterien angegeben werden, nach denen die relevanten Sphären ermittelt werden können. Im Fall der Privatheit ist zu fragen, was mit Privatheit gemeint und warum das Gemeinte besonders schützenswert ist. Schon die präzise Bestimmung des Begriffsinhalts gelingt jedoch nicht: Solange unter diesen Begriff alles vom Briefeverschicken bis zur Abtreibung subsumiert wird, erscheint er beliebig. Und zur 107 108 109 110 111 112
BVerfG, NJW 1995, 1477 (1477). Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 2 I, Rn. 69. Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2, Rn. 34. Ebd., Rn. 34, 38 m. w. N. Kunig, in: von Münch/Kunig, GG, Art. 2, Rn. 33. Ebd., Rn. 32.
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2. Kap.: Ein Recht gegen Paternalismus
Rechtfertigung der besonderen Bedeutung ist es nach dem Gesagten keinesfalls ausreichend, auf den Charakter der Privatsphäre als „Zustand“ zu verweisen. Dass zentraler Schutzgegenstand des allgemeinen Persönlichkeitsrechts die sogenannte Privatsphäre sein soll, lässt sich vor allem historisch begründen. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Entwicklung der Rechtsprechung des amerikanische Supreme Court zum right to privacy das einen Wandel vom lediglich passivisch verstandenen Schutz der Privatheit zu einem Recht auf Selbstbestimmung in fundamentalen Angelegenheiten durchlaufen hat113. Nachdem sich aber in Amerika wie in Deutschland die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass Persönlichkeitsschutz nicht automatisch mit Privatheitsschutz gleichzusetzen ist, muss diese Erkenntnis auch die Dogmatik zum Persönlichkeitsrecht beeinflussen. Damit ist nicht gesagt, dass die Privatheit nicht doch in modifizierter Form Gegenstand des Persönlichkeitsrechts bleibt; als Ausgangspunkt der Überlegungen ist sie jedoch nicht geeignet. Die Zweiteilung Handlung/Zustand hat sich damit als nicht tragfähig zur Abgrenzung des allgemeinen Freiheitsrechts vom Persönlichkeitsrecht erwiesen. Zum einen erscheint diese Aufteilung, wenn man sie wirklich strikt durchführen wollte, willkürlich, weil auch bestimmte Handlungen des erhöhten Schutzes des allgemeinen Persönlichkeitsrechts bedürfen. Zum anderen wird die Unterscheidung entgegen den erklärten Absichten nicht durchgehalten, indem auf das fragwürdige Konstrukt einer Privatsphäre ausgewichen wird. Es ist daher erforderlich, nach anderen Abgrenzungskriterien zu suchen. b) Schutz der Voraussetzungen selbstbestimmten Handelns? Enders ist der Auffassung, das allgemeine Persönlichkeitsrecht solle immer dann eingreifen, wenn nicht nur das Verhalten des Einzelnen, sondern darüber hinausgehend die Voraussetzungen selbstbestimmten Verhaltens als solche gefährdet seien. Er lehnt die Unterscheidung zwischen Aktivität und Passivität ausdrücklich ab, weil die allgemeine Handlungsfreiheit auch das (passive) Unterlassen beinhalte. Die Voraussetzungen der allgemeinen Handlungsfreiheit seien demgegenüber nicht ihr (passives) Gegenteil, sondern ihre Grundlage114. Es ist nicht viel gewonnen, wenn die Handlungen jetzt nicht mehr den Zuständen, sondern „Grundlagen“ gegenübergestellt werden. Die an der Zweiteilung Handlung/Zustand geäußerte Kritik trifft daher größtenteils auch auf diese Auffassung zu, insbesondere wird durch die erneute einseitige Zuordnung der Handlungen zum allgemeinen Freiheitsrecht die Bedeutung gerade von be113
Koppernock, Das Grundrecht auf bioethische Selbstbestimmung, 73 f. Enders, in: Mellinghoff/Trute (Hrsg.), Die Leistungsfähigkeit des Rechts, 157 (176 f.). 114
B. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht
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stimmten Handlungen etwa im Sexual- oder Berufsbereich für die seelische Integrität verkannt. Auch bleibt unklar, worin die „Grundlagen“ von Handlungen bestehen sollen. Zutreffend ist freilich, dass durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht Grundlegendes geschützt werden soll. Doch ob es beim Persönlichkeitsschutz gerade um die Grundlagen von Handlungen als solchen geht, darf bezweifelt werden. c) Ethisch-existenzielle Selbstbestimmung? Eine Abgrenzung des allgemeinen Freiheitsrechts von dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht kann nur nach materiellen Kriterien erfolgen. Ein erster Ansatzpunkt ist gewonnen, wenn man sich ins Gedächtnis ruft, dass das Persönlichkeitsrecht die Integrität in geistig-seelischer Hinsicht schützen soll. Es gilt daher, dogmatisch greifbare Kriterien dafür zu ermitteln, wann diese betroffen ist, ohne in die Unterscheidung zwischen „aktiv“ und „passiv“ oder eine ihrer Varianten zurückzufallen. Vielmehr müssen die Handlungen und Zustände herausgefiltert werden, die für die seelische Integrität eine besonders hohe Bedeutung haben. Es ist das Verdienst Koppernocks115, als erster ein grundlegend neues Konzept zur Abgrenzung des allgemeinen Freiheitsrechts von dem Persönlichkeitsrecht vorgelegt zu haben, indem er die von Habermas ausgearbeitete terminologische Differenzierung zwischen pragmatischen, ethischen und moralischen Handlungsorientierungen für die Grundrechtsdogmatik fruchtbar macht. aa) Pragmatische, ethische und moralische Handlungsorientierungen Nach Habermas geht es bei pragmatischen Handlungsorientierungen um die Frage des Zweckmäßigen, bei ethischen um die Frage des für das eigene Leben Guten und bei der moralischen um das Gerechte im Sinne der für alle verbindlichen Pflicht116. Die Frage nach einer Handlungsorientierung, also die Frage „Was soll ich tun?“, kann daher nicht beantwortet werden, bevor nicht Klarheit über die Art der Fragestellung vorliegt. Zu den pragmatischen Fragestellungen, die sich um das Zweckmäßige drehen, gehören zum Beispiel die meisten Alltagsprobleme. Bei einer Erkrankung fragt man sich, auf welche Weise man am schnellsten wieder gesund wird; bei einem Computerkauf, wo man das beste Preis-Leistungs-Verhältnis bekommt.
115 116
Koppernock, Das Grundrecht auf bioethische Selbstbestimmung, insbes. 75 ff. Habermas, in: ders., Erläuterungen zur Diskursethik, 100 (101 ff.).
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2. Kap.: Ein Recht gegen Paternalismus
Auf pragmatische Art und Weise werden aber nicht nur banale Alltagsprobleme gelöst: Sobald entschieden ist, dass sich die Berufswahl allein an den Verdienstmöglichkeiten orientieren soll, wird auch diese grundlegende und weitreichende Entscheidung zu einer pragmatischen. Die Lösung findet man, indem man die verschiedenen Alternativen vergleicht und die mit den höchsten Verdienstmöglichkeiten auswählt. Wenn man weiß, was man im Urlaub erleben will – Strand, Wandern oder Kultur – kann man die Entscheidung zwischen den in Betracht kommenden Urlaubsländern nach pragmatischen Richtlinien aussuchen. Praktische Probleme zeichnen sich also dadurch aus, dass entweder das Ziel schon festgelegt ist (Gesundwerden) und nur noch verschiedene Mittel zur Erreichung dieses Ziels untersucht werden müssen (Ruhe oder Bewegung?), oder die Präferenzen für die Entscheidung feststehen (Urlaubszweck: Wandern), und auf dieser Basis das Ziel bestimmt werden muss (Urlaubsort: Schottland statt Mallorca). Pragmatische Handlungsorientierungen kommen also dann zur Anwendung, wenn der Wille faktisch durch Wünsche und Werte schon festgelegt und für weitere Alternativen nur noch im Hinblick auf die Wahl der Mittel bzw. Ziele offen ist117. Die Auswahl zwischen den bestehenden Alternativen wird dann durch die Auswertung von Beobachtungen, Untersuchungen, Vergleichen und Abwägungen getroffen, die wir, gestützt auf empirische Informationen, unter Gesichtspunkten der Effizienz oder mithilfe anderer Entscheidungsregeln vornehmen118. Das Ergebnis der Auswahl sagt uns, was wir im Hinblick auf ein bestimmtes Problem tun sollen oder müssen, wenn wir bestimmte Werte oder Zwecke realisieren wollen; insoweit kann man von einem „relativen Sollen“ sprechen119. Bei den ethischen Handlungsorientierungen verhält es sich anders. Im Gegensatz zu den Fällen pragmatischer Handlungsorientierungen besteht hier gerade keine Klarheit über die Ziele bzw. Präferenzen. Es geht also darum, festzustellen, welche Ziele bzw. Präferenzen angesteuert werden. Habermas unterscheidet zwischen schwachen und starken Präferenzentscheidungen. Beispiele für schwache Wertungen sind die Wahl der Automarke oder der Pulloversorte. Als starke Präferenzen beschreibt er in Anlehnung an Charles Taylor „die Wertungen, die nicht nur zufällige Dispositionen und Neigungen, sondern das Selbstverständnis einer Person, die Art der Lebensführung, den Charakter berühren; sie sind mit der je eigenen Identität verwoben“120. Es geht also um das für die Person Gute. Ein Beispiel für starke Präferenzentscheidungen ist die Wahl des Lebenspartners: Eine Bindung an die falsche Person kann ein verfehltes Leben zur Folge 117 118 119 120
Ebd., 102. Ebd. Ebd., 102 f. Ebd., 103.
B. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht
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haben. Eine ähnlich gravierende Entscheidung ist die Wahl des Berufs: Wenn anders als im oben dargestellten Beispiel die Präferenz eben nicht klar und ausschließlich auf dem Aspekt der Verdienstmöglichkeiten liegt (was kaum jemals so eindeutig der Fall sein wird), sondern erst ermittelt werden muss, stellt sich die Frage wegen der weitreichenden Bedeutung für das Leben des Einzelnen in ihrer ganzen Schärfe. Was macht diese Fragen so bedeutsam? Es ist nicht nur die Dauer und Intensität, mit der man sich seinen beruflichen oder privaten Bindungen zu widmen pflegt – denn die Frage bleibt, warum Menschen solch intensive Bindungen überhaupt anstreben. Vielmehr geht es um die Frage, welches Leben man führen möchte; diese Frage wird dadurch bestimmt, wer man ist und wer man sein möchte121. Bei starken Präferenzentscheidungen geht es um die eigene Identität; diese bestimmt sich danach, als wen man sich vorfindet und auf welche Ideale hin man sich und sein Leben entwirft. Das existenzielle Selbstverständnis enthält also zwei Wertungen: die deskriptive der lebensgeschichtlichen Genese des Ich und die normative des Ich-Ideals122. Die Wahl des Berufs beispielsweise wird nicht nach objektiven, verallgemeinerbaren Kriterien vorgenommen: Nicht für jeden ist der Beruf des Pastors die richtige Wahl, nicht jeder, der die geistigen Fähigkeiten dazu hat, würde im Beruf des Steuerberaters glücklich werden. Trotzdem sind beide Berufe als solche sinnvoll. Wer sich also entscheiden muss, welche Ausbildung er aufnimmt, muss sich darüber klar werden, wer er ist und wer er sein möchte. Ähnliches gilt für die Partnerwahl, die nicht nach mehr oder weniger objektiven Maßstäben wie Intelligenz, Schönheit oder beruflicher Stellung allein vorgenommen wird – der Ausdruck, dass „die Chemie stimmen muss“, verdeutlicht dies. Ethische Fragen werden mit unbedingten Imperativen beantwortet: „Du musst einen Beruf ergreifen, in dem Du anderen Menschen helfen kannst“, „. . . in dem Du kreativ arbeiten kannst“, „. . . in dem Du Deine analytischen Fähigkeiten einsetzen kannst“. Es geht aber nicht um ein absolutes Sollen, sondern um Handlungen, die für den Betreffenden auf lange Sicht und im ganzen „gut“ sind. „Aristoteles spricht von Wegen zu einem guten und glücklichen Leben. Starke Wertungen orientieren sich an einem für mich absolut gesetzten Ziel, nämlich am höchsten Gut einer autarken, ihren Wert in sich tragenden Lebensführung.“123 Auch wenn die ethische Fragestellung ausschließlich auf den Einzelnen zentriert ist, wäre es ein Fehlschluss, anzunehmen, man könne eine Handlungsanweisung ohne Bezugnahme zur Außenwelt erlangen. Die ethische Überlegung spitzt sich für den Einzelnen auf die Frage zu, wer er ist und wer er sein möchte, es geht also um Identitätsbildung. Diese vollzieht sich aber stets in einem sozialen Kontext: „[M]eine Identität ist geprägt durch kollektive Identi121 122 123
Ebd. Ebd., 104. Ebd., 104 f.
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2. Kap.: Ein Recht gegen Paternalismus
täten, und meine Lebensgeschichte ist in übergreifende historische Lebenszusammenhänge eingelassen. Insofern berührt das Leben, das gut für mich ist, auch die Lebensformen, die uns gemeinsam sind.“124 Wieder unter einem anderen Gesichtspunkt ist die Frage „Was soll ich tun“ zu untersuchen, wenn es um die moralische Betrachtung geht. Sowohl pragmatische als auch ethische Handlungsorientierungen sind ganz ausgerichtet auf das Individuum: Bei der pragmatischen Handlungsorientierung geht es um die möglichst effiziente, „zweckmäßige“ Verwirklichung eines feststehenden Ziels, bei der ethischen um die Frage, was bezogen auf den Handelnden „gut“ ist. Die moralische Betrachtung fragt demgegenüber nicht nach dem (für den Einzelnen) Guten, sondern nach dem (für alle) Gerechten. Es geht also nicht mehr um individuelle Selbstverwirklichung, sondern es handelt sich um Gebote, die unabhängig von subjektiven Zwecken und Präferenzen, unabhängig von dem für den Einzelnen absoluten Ziel eines gelungenen Lebens zu beantworten sind. Nach Kants kategorischem Imperativ ist eine Maxime dann gerecht, wenn alle wollen können, dass sie in vergleichbaren Situationen von jedermann befolgt wird. Moralische Verbindlichkeit erlangt sie dadurch, dass sie aus der Perspektive aller Betroffenen verallgemeinerbar ist. Die Frage „Was soll ich tun?“ wird beantwortet mit Bezug auf das, was man tun soll125. Die Frage, ob man in einer bestimmten Situation einen Versicherungsbetrug begehen soll, stellt sich aus dem ethischen Blickwinkel in der Weise, ob es zu dem Selbstverständnis der Person passt, einen Betrug zu begehen, ob es also gut für die Person ist. Sie ist ganz auf den Handelnden beschränkt. In moralischer Sicht dagegen geht es um das vom Einzelnen losgelöste Problem, ob alle die Zulässigkeit von Versicherungsbetrügereien als Richtschnur ihres Handelns akzeptieren können. Dies ist die Frage nach der Gerechtigkeit der Handlung. Je nachdem, unter welchem Aspekt man sich eine Frage stellt, wird man unter Umständen verschiedene Antworten bekommen. bb) Handlungsorientierungen und Grundgesetz Diese Unterscheidung zwischen pragmatischen, ethischen und moralischen Handlungsorientierungen kann auch Klarheit in die Grundrechtsdogmatik bringen. Die Einordnung einer Handlung als vom allgemeinen Freiheitsrecht oder dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht geschützt sollte danach vorgenommen werden, ob ein ethischer oder ein pragmatischer Aspekt im Vordergrund der Handlungsmotivation steht. Diejenigen ethisch motivierten Handlungen, bei denen es um starke Präferenzentscheidungen geht, sind danach vom allgemeinen 124 125
Ebd., 106, unter Verweis auf Sandel, Liberalism and the Limits of Justice. Ebd., 108.
B. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht
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Persönlichkeitsrecht geschützt; solche, die nach pragmatischen Gesichtspunkten entschieden werden oder nur eine schwache Präferenzentscheidung erkennen lassen, werden dagegen vom allgemeinen Freiheitsrecht erfasst. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht wird damit im Kern zu einem Grundrecht auf Selbstbestimmung in grundlegenden Fragen der eigenen Lebensführung; Koppernock spricht von einem „Grundrecht auf ethisch-existenzielle Selbstbestimmung“126. Der besondere Schutz von ethisch motivierten Handlungen und ethisch fundierten Zuständen hat seine Grundlage in der Nähe des Persönlichkeitsrechts zur Menschenwürde. Ansätze zu dem hier vertretenen Verständnis findet man in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts; so heißt es in der ersten Transsexuellenentscheidung: „Art. 1 Abs. 1 GG schützt die Würde des Menschen, wie er sich in seiner Individualität selbst begreift und seiner selbst bewusst wird. Hierzu gehört, dass der Mensch über sich selbst verfügen und sein Schicksal eigenverantwortlich gestalten kann. Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG gewährleistet die freie Entfaltung der im Menschen angelegten Fähigkeiten und Kräfte.“127 Daran ist folgendes bemerkenswert: Erstens schützt die Menschenwürde die Individualität des Menschen. Damit verbietet es sich, der Rechtsordnung ein einheitliches Bild vom Menschen, seinen Bedürfnissen und dem, was für ihn gut oder schlecht ist, zugrunde zu legen – vielmehr ist anzuerkennen, dass die Menschen unterschiedlich sind. Zweitens wird der Mensch geschützt, wie er sich in seiner Individualität selbst begreift und seiner selbst bewusst wird. Der Mensch hat also das Recht, bezüglich seiner Individualität seine eigene Sicht der Dinge zugrunde zu legen. Daher darf er sein Schicksal eigenverantwortlich gestalten. Diese beiden Aspekte findet man wieder in der Frage „Wer bin ich und wer will ich sein?“. „Wer bin ich?“ beruht auf der Unterschiedlichkeit der Menschen, die den Einzelnen mit der Notwendigkeit konfrontiert, seine eigene Position erst festzustellen. „Wer will ich sein?“ betrifft den Lebensentwurf für die Zukunft. Für grundlegende Fragen des eigenen Lebens heißt das: sein Schicksal gestalten. Moralisch motivierte Handlungen fallen dagegen in den Schutzbereich der Gewissensfreiheit. Das Bundesverfassungsgericht sieht jede ernste Entscheidung als von der Gewissensfreiheit geschützt an, die sittlich begründet ist, d.h. an den Kategorien von „Gut“ und „Böse“ orientiert, und die der Einzelne in einer bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt verpflichtend innerlich er126 Koppernock, Das Grundrecht auf bioethische Selbstbestimmung, 63 ff., insbes. 75 ff. Koppernock entwickelt aus diesem Ansatz dann sein Konzept eines „Grundrechts auf bioethische Selbstbestimmung“, das die Rechte, die im Kontext der Biotechnologie von Bedeutung sind, unter einem einheitlichen Oberbegriff zusammenfassen soll. 127 BVerfGE 49, 286 (298).
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2. Kap.: Ein Recht gegen Paternalismus
fährt, so dass er gegen sie nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könnte128. Was in der Terminologie des Bundesverfassungsgerichts „Gut“ und „Böse“ ist, drückt Habermas durch „Gerecht“ bzw. „Ungerecht“ aus129. Einen Hinweis darauf, dass der Begriff der Gewissensentscheidung weitgehend deckungsgleich mit der moralischen Handlungsorientierung bei Habermas ist, findet man in der staatsrechtlichen Literatur, die mit großer Selbstverständlichkeit von selbstgesetzten „Normen“ spricht130. Denn einer „Norm“ haftet stets das über den Einzelnen hinausreichende Merkmal der Allgemeinverbindlichkeit an131. Die Allgemeinverbindlichkeit ist aber auch Kennzeichen der Moral in der Terminologie Habermas’. Wenn also bei Gewissensentscheidungen selbstgesetzte Normen eine Rolle spielen, so deutet einiges darauf hin, dass die Gewissensfreiheit moralisch fundierte Handlungen schützen soll132. Dieser Befund scheint wieder erschüttert zu werden durch die ebenso häufig anzutreffende Feststellung, gewissensrelevant sei jedes Verhalten, das die Integrität und Identität der Persönlichkeit existenziell betreffe133. Wenn das richtig wäre, müssten auch die Entscheidungen über Berufswahl, Sexualität, Ehe und Familie durch die Gewissensfreiheit geschützt werden, denn sie haben größten Einfluss auf Integrität und Identität der Persönlichkeit. Diese Entscheidungen der Gewissensfreiheit zuzuordnen ist zwar eine Überlegung, die man verfolgen kann; die genannten Autoren verstehen die Gewissensfreiheit offenbar jedoch selbst nicht in diesem Sinne134. 128
BVerfGE 12, 45 (55). „Gut“ im Sinne der Gewissensdefinition des Bundesverfassungsgerichts wird also nicht wie in der Terminologie Habermas’ als „gut für die Person“, also dem Bereich der Ethik zugehörig, verstanden, sondern als moralische Kategorie verwendet. 130 So etwa Bethge, in: HdStR VI, § 137, Rn. 11; Böckenförde, VVDStRL 28 (1970), 33 (68); Morlok, in: Dreier, GG, Art. 4, Rn. 57. 131 Um Missverständnissen vorzubeugen: Die Gewissensfreiheit schützt immer das Gewissen des Einzelnen, nicht etwa allgemeinverbindliche Moralvorstellungen. Aber der Einzelne kann sich Normen schaffen, die aus seiner Sicht allgemeinverbindlich sein sollen und sich an diesen orientieren. 132 So ausdrücklich Morlok, in: Dreier, GG, Art. 4, Rn. 57. 133 Bethge, in: HdStR VI, § 137, Rn. 11; Kokott, in: Sachs, GG, Art. 4, Rn. 73. 134 Vgl. nur die Beispiele bei Kokott, ebd., Rn. 76 ff. Über die Gründe für die verbreitete, offensichtlich zu weite Definition des Gewissens kann man nur spekulieren. Möglicherweise besteht bei den Autoren ein Vorverständnis über das, was von der Gewissensfreiheit geschützt wird, nämlich moralisch orientierte Handlungen. Bei dem Versuch, dies in eine abstrakte Definition zu gießen, wurde dann davon ausgegangen, dass die Integrität und Identität der Persönlichkeit ausschließlich durch moralische Aspekte bestimmt wird. Dies kann eine Nachwirkung von Kant sein, bei dem praktische Vernunft mit Moralität zusammenfällt, was wiederum von Habermas als Verengung der praktischen Vernunft angesehen wird. Diese sei in den drei großen philosophischen Traditionen jeweils nur unter einem Aspekt betrachtet worden: In der Tradition des Empirismus unter dem des Pragmatischen, in der Kantischen unter dem des Moralischen und in der Aristotelischen unter dem des Ethischen; vgl. Habermas, in: ders., Erläuterungen zur Diskursethik, 100 (110). 129
B. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht
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Besonders deutlich wird dies bei der Interpretation des Art. 4 III 1 GG; der Gewissensbegriff des Art. 4 III GG deckt sich dabei mit dem des Abs. 1135. Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen wird denen zugestanden, die das Töten im Krieg ausnahmslos ablehnen; eine Beschränkung nur auf bestimmte Kriege, Situationen und Waffen ist nicht ausreichend136. Durch diese enge Auslegung, die das Vorliegen einer allgemein gültigen, unbedingten Entscheidung gegen jeden Krieg verlangt, wird dem Einzelnen die Möglichkeit genommen, auch nur ansatzweise ethische Erwägungen vorzutragen. So würde das Vorbringen, der Betroffene habe Verwandte in einem Land, das möglicherweise Ziel eines deutschen Angriffs sein könnte (man denke an den Kosovokrieg), und es sei ihm persönlich nicht zuzumuten, möglicherweise an einem Krieg gegen dieses Land teilnehmen zu müssen, nach der derzeitigen Rechtsprechung im Rahmen des Art. 4 GG keine Beachtung finden. Diese Rechtsprechung ist zwar umstritten. Selbst aber bei Zugrundelegung der Gegenansicht, die auch die situationsgebundene Verweigerung als Gewissensentscheidung anerkennen will137, würde es sich in den meisten Fällen noch um moralische Fragen handeln (Darf man mit bestimmten Waffen Krieg führen? Darf man unter Verletzung des Völkerrechts Krieg führen? Darf man zur Verteidigung von Menschenrechten Krieg führen?), oder, wie in dem ersten Beispiel, um Grenzfragen zwischen Moral und Ethik. Nach derzeitiger Rechtslage werden also durch das Grundrecht auf Gewissensfreiheit moralisch orientierte Handlungen geschützt. Wie schon angedeutet wäre es aber ebenfalls möglich, den Begriff des Gewissens weit auszulegen und darunter nicht nur moralisch, sondern auch ethisch orientierte Handlungen zu erfassen. Das hätte den Vorteil, dass man sich die Mühe einer Abgrenzung zwischen dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht und der Gewissensfreiheit ersparen könnte. Außerdem steht das Grundrecht auf Gewissensfreiheit in einem engen Zusammenhang mit der Glaubensfreiheit, die als Unterfall der Gewissensfreiheit gesehen werden kann138. Sinnvolle Unterscheidungen zwischen ethischen und moralischen Handlungsorientierungen sind aber gerade im Bereich der Lebensbewältigung mithilfe von Glaubens- und Wertmaßstäben nur schwer möglich139. Letztlich können diese Vorteile jedoch nicht die Nachteile der weiten Auslegung aufwiegen: Zum einen widerspricht die Erfassung von ethisch geleiteten Handlungen doch erheblich dem natürlichen Wortsinn des Art. 4 I GG, der 135
Morlok, in: Dreier, GG, Art. 4, Rn. 142. BVerfGE 12, 45 (57); 69, 1 (23). 137 BVerfGE 69, 57 (57 ff., 85 f.) (Sondervotum Böckenförde und Mahrenholz); Eckertz, Die Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen als Grenzproblem des Rechts, 378 ff., 413; Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 4, Rn. 198; Podlech, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit und die besonderen Gewaltverhältnisse, 126 ff. 138 Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art. 4, Rn. 40. 139 Koppernock, Das Grundrecht auf bioethische Selbstbestimmung, 83. 136
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2. Kap.: Ein Recht gegen Paternalismus
mit einer weiten Auslegung seine begriffliche Klarheit zu verlieren droht. Zum anderen besteht aufgrund der Existenz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts auch keine Notwendigkeit, die strukturell von (moralisch geleiteten) Gewissensentscheidungen verschiedenen ethischen Motive durch eine weite Auslegung von Art. 4 I GG zu erfassen. Dass es in Randbereichen zu Überschneidungen kommen kann, steht dem nicht entgegen, sondern ist ein häufig zu beobachtendes und hinzunehmendes Phänomen von Begriffsbildungen. Die begriffliche Unterscheidung von moralisch und ethisch geleiteten Handlungen und die Erfassung durch zwei unterschiedliche Grundrechte ist daher gerechtfertigt140. cc) Weitere Fragen Somit ist ein Ansatzpunkt zur gegenseitigen Abgrenzung von allgemeinem Freiheitsrecht, Persönlichkeitsrecht und Gewissensfreiheit gewonnen, der es wert ist, weiter verfolgt zu werden. Beim Persönlichkeitsrecht geht es danach um starke Präferenzentscheidungen im Bereich der Ethik, also dem Gebiet, das nach dem Guten fragt, dem, was der einzelne Mensch ist und was er sein will. Die Gewissensfreiheit erfasst moralisch geleitete Handlungen, die sich an dem für alle Gerechten orientieren. Das allgemeine Freiheitsrecht dagegen schützt pragmatisch orientierte Handlungen und Zustände sowie solche, die mit nur schwachen Präferenzen verbunden sind. Es bleibt nun insbesondere zu klären, wie im Bereich ethisch motivierter Handlungen die Abgrenzung zwischen starken und schwachen Präferenzentscheidungen geschehen soll (1), und wie die Einordnung von Handlungen, bei denen sich mehrere Handlungszwecke überlagern, vorzunehmen ist (2). (1) Abgrenzung zwischen starken und schwachen Präferenzentscheidungen Ein Kriterium zur Abgrenzung von starken und schwachen Präferenzentscheidungen im Rahmen der Grundrechtsdogmatik kann der Vergleich mit anderen benannten Grundrechten ergeben. Als Grundlinie kann gelten: Ein Verhalten wird dann vom allgemeinen Persönlichkeitsrecht und nicht nur vom allgemeinen Freiheitsrecht geschützt, wenn es an Bedeutung für die Persönlichkeit den von den benannten Grundrechten geschützten Verhaltensweisen gleichkommt141. In diesem Zusammenhang kann man v. a. an eine Parallele zur Gewissensfreiheit denken, die, wie dargelegt, ebenfalls einen hohen Bezug zur Integrität der Persönlichkeit aufweist. Danach wäre das Persönlichkeitsrecht einschlägig, wenn die ethische Handlungsorientierung etwa die Präferenzstufe erreicht, die 140 141
So im Ergebnis auch ders., ebd. Vgl. BVerfGE 80, 164 (169) (Sondervotum Grimm).
B. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht
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für moralische Handlungsorientierungen erforderlich ist, um den Schutz des Art. 4 GG zu begründen. Allerdings sollte die Bedeutung dieser Richtlinie nicht überschätzt werden, da in der Sache erhebliche Unterschiede vorliegen. Das Bundesverfassungsgericht verlangt für eine Gewissensentscheidung, dass der Einzelne sie in einer bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt verpflichtend innerlich erfährt, so dass er gegen sie nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könnte142. Während aber die Moralvorstellungen der meisten Menschen zwar nicht unabänderlich sind, aber häufig doch in ihren Grundzügen feststehen (z. B. das Tötungsverbot, gewisse Regeln des Anstands usw.), so liegt es im Wesen von ethischen Entscheidungen, dass es dem Einzelnen nicht immer klar ist, wer er ist und wer er sein will; solche Einstellungen werden sich auch häufiger als Moralvorstellungen im Leben ändern. Es geht eben (auch) um den Prozess der Selbstfindung. Während moralische Regeln zumindest dem Anspruch nach für alle gelten sollen, gibt es im Bereich der ethischen Fragestellungen für verschiedene Menschen und in verschiedenen Lebensabschnitten verschiedene Antworten. Die Bedeutung einer Entscheidung für die Persönlichkeitsentwicklung liegt also nicht ausschließlich darin, dass sie sich als „richtig“ im Sinne von „endgültig“ erweist, sondern auch darin, dass sie letztlich einen Beitrag zur Selbstfindung leisten kann. Daher wird man für den Schutz durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht kaum verlangen können, dass der Einzelne eine Entscheidung „als für sich bindend und unbedingt verpflichtend innerlich erfährt“. Vielmehr muss es darauf ankommen, dass es in dem Moment der Handlung bzw. der Beeinträchtigung des geschützten Zustands zumindest möglich ist, dass die Handlung bzw. der geschützte Zustand eine in dem erforderlichen Maße identitätsstiftende Wirkung haben. Wer nur Zweifel an der moralischen Rechtfertigung eines Krieges hat, kann sich ebenso wenig auf seine Gewissensfreiheit berufen wie der, bei dem Tierversuche nur leichtes Unbehagen hervorrufen. Die Entscheidung zur Eingehung einer Partnerschaft muss aber auch dann den besonderen Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts genießen, wenn die Betroffenen sich über die letztliche Bedeutung der Bindung für ihre seelische Identität und Integrität noch kein abschließendes Urteil bilden konnten. Insoweit muss die Bedeutung des Experimentierens für die eigene Persönlichkeitsentwicklung auch grundrechtsdogmatisch ihren Niederschlag finden. Der Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ist also weiter als der der Gewissensfreiheit; Koppernocks Formulierung von „tiefgreifenden ethischen Überzeugungen“143 erscheint zu eng. Für die Frage der Abgrenzung zum allgemeinen Freiheitsrecht bleibt die Parallele zur Gewissensfreiheit aber immerhin ein Anhaltspunkt. Es erscheint nicht 142 143
BVerfGE 12, 45 (55). Koppernock, Das Grundrecht auf bioethische Selbstbestimmung, 83.
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2. Kap.: Ein Recht gegen Paternalismus
möglich, an dieser Stelle abstrakt weitere Kriterien für ausreichend „starke“ Präferenzentscheidungen festzulegen. Mit der Qualifizierung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts als einem Recht auf Achtung ethischer Präferenzentscheidungen, die für den Einzelnen etwa die Bedeutung der durch die benannten Grundrechte geschützten Rechtsgüter haben, sollte aber ein gewisser Anhaltspunkt erreicht sein, so dass die Abgrenzung im Einzelfall gelingen kann. (2) Mehrere Handlungszwecke Einer Handlung ist es nicht anzusehen, aufgrund welcher Kriterien sie ausgeführt wird. Ob pragmatische, ethische oder moralische Handlungsorientierungen vorliegen, kann nur mit Blick auf die Motive des Handelnden festgestellt werden – diese werden aber nicht immer eindeutig sein. Was man vorfindet, sind vielmehr ganze Bündel von Motiven, die sich überlagern und dem Handelnden gar nicht allesamt bewusst sein müssen. Die meisten Fälle werden trotzdem keine Probleme bereiten, weil eine bestimmte Motivation stark im Vordergrund steht – die Einordnung kann dann schon aufgrund der allgemeinen Lebenserfahrung vorgenommen werden. Wer eine Pizza kauft, wird dabei ganz schwerpunktmäßig weder ethischen noch moralischen Orientierungen folgen; wer eine Beziehung eingeht, handelt aus ethischen und der den Kriegsdienst verweigernde Pazifist aus moralischen Motiven. Problematisch aus grundrechtsdogmatischer Sicht sind die Fälle, in denen sich ethische und moralische Motive überlagern. Das wird insbesondere dann vorkommen, wenn aus Sicht des Betroffenen sowohl ethische als auch moralische Überlegungen dieselbe Handlung einfordern. Der, dessen Ehe in der Krise ist, der aber aus moralischen Gründen eine Scheidung ablehnt und aus ethischen weiterhin mit seinem Partner zusammenbleiben möchte, lässt sich bei seinem Versöhnungsversuch möglicherweise in zweifacher Hinsicht leiten. Die Entscheidung gegen gewisse Sexualpraktiken kann moralisch und ethisch begründet sein, wenn diese dem Betroffenen keine Befriedigung verschaffen und er sie aus religiösen Gründen ablehnt. Es gibt in diesen Fällen drei Lösungsmöglichkeiten: Man kann das Verhalten als durch das Persönlichkeitsrecht und die Gewissensfreiheit geschützt ansehen, man kann nach dem Schwerpunkt fragen oder stets der Gewissensfreiheit aufgrund des vorbehaltlosen und damit vermeintlich „stärkeren“ Schutzes den Vorrang geben. Der letzte Vorschlag kann als erster ausgeschlossen werden: Denn das Persönlichkeitsrecht wurde ja gerade in Anlehnung an die benannten Grundrechte konstruiert und schützt Verhaltensweisen, die an Bedeutung den von anderen Grundrechten geschützten gleichkommen. Die Schutzintensität ist somit prinzipiell vergleichbar. Damit relativiert sich das gesamte Problem: Wenn ein Verhalten als von der Gewissensfreiheit geschützt angesehen wird, so genießt es weitgehend den Schutz, den es hätte, wenn es dem Persönlichkeitsrecht zuge-
B. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht
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schlagen worden wäre. Das gleiche gilt im umgekehrten Fall. Daher sind auch die Rechtfertigungsvoraussetzungen vergleichbar. Aus diesem Grund scheint es angemessen und praktikabel, wie das Bundesverfassungsgericht in Fällen der Grundrechtskonkurrenz auf die „Meistbetroffenheit“ abzustellen144. Denn wenn die Schutzintensität zweier Grundrechte vergleichbar ist, so bietet im konkreten Fall das Grundrecht den weitergehenden Schutz, das „meistbetroffen“ ist. Die Rechtfertigung eines Eingriffs in ein nur im Randbereich einschlägiges Grundrecht wird im Vergleich stets leichter gelingen. Es ist also danach zu fragen, ob ethische oder moralische Handlungsorientierungen im Vordergrund des Verhaltens standen. Nur wo eine Gleichwertigkeit festgestellt wird, können sicherheitshalber beide Grundrechte geprüft werden. 2. Fallgruppen a) Schutz ethisch wichtiger Positionen; Selbstverwirklichung Wenn es beim allgemeinen Persönlichkeitsrecht im Kern also um den Schutz von ethisch orientierten Entscheidungen hoher Präferenz geht, um grundlegende Fragen der eigenen Lebensführung, so liegt es nahe, zunächst solche Aspekte zu behandeln, die man unter der Überschrift „Schutz ethisch wichtiger Positionen“ zusammenfassen kann. Der Begriff „Position“ wird dabei verwendet, um die Offenheit des Schutzbereichs sowohl für Handlungen als auch Zustände deutlich zu machen. Plakativer kann man auch von einem Recht auf Selbstverwirklichung sprechen. Versucht man von diesem Punkt ausgehend Fallgruppen zu bilden, so tun sich zwei weite Felder auf: der Bereich von Sexualität, Partnerschaft und Familie auf der einen und der des Berufs auf der anderen Seite. Deshalb ist der bestehende grundrechtliche Schutz von Beruf, Ehe und Familie durch Art. 6 bzw. 12 GG nicht als historisch bedingter Zufall, sondern als Anerkennung der besonderen Bedeutung dieser beiden Bereiche zu sehen145. Für den Bereich des Berufslebens bietet Art. 12 GG einen umfassenden Schutz. Art. 6 GG erfasst mit dem Schutz von Ehe und Familie einen weiteren zentralen Aspekt individueller Lebensplanung. Wenn man überlegt zu heiraten, eine Familie zu gründen und Kinder in die Welt zu setzen, so trifft man damit Weichenstellungen für sein gesamtes Leben. Wie man sich in diesen Fragen entscheidet, hängt vom eigenen Selbstverständnis ab: Möchte ich eine Familie haben oder lieber unabhängig sein? Möchte ich gerade mit dieser Person mein ganzes Leben zusammensein? Es handelt sich um ethische Fragen höchster Prä144 s. zur „Meist-Betroffenheits-Theorie“ Stern, Staatsrecht III/2, 1385 f., m. w. N. aus der Rechtsprechung. 145 Koppernock, Das Grundrecht auf bioethische Selbstbestimmung, 77.
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2. Kap.: Ein Recht gegen Paternalismus
ferenz: Wie man sich hier entscheidet, beeinflusst die seelische Integrität in besonderem Maße. Wenn die Ehe scheitert oder die Kinder auf die falsche Bahn geraten, ist der Gang zum Psychologen oder Psychiater oft der nächste Schritt. Umgekehrt ist eine intakte Familie einer der besten Garanten für seelisches Wohlbefinden. Wo Art. 6 und Art. 12 GG eingreifen, gehen diese dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht als leges speciales vor. Insbesondere im Bereich Sexualität, Partnerschaft und Familie bietet Art. 6 GG jedoch keinen umfassenden Schutz für alle das Selbstverständnis des Einzelnen in hohem Maße berührenden Fragen. Dann ist das allgemeine Persönlichkeitsrecht einschlägig. So kann es dem Selbstverständnis einer Person entsprechen, dass sie zwar nicht heiraten, aber dennoch mit einer anderen Person zusammenleben möchte. Art. 6 GG umfasst aber nur die in der entsprechenden rechtlich vorgeschriebenen Form geschlossene Ehe146. In der Entscheidung für eine nichteheliche Lebensgemeinschaft zeigt sich dann eine ethische Entscheidung mit starker Präferenz, nämlich der Wille, sich in dem für den eigenen Lebensentwurf und die seelische Integrität bedeutsamen Bereich von Partnerschaft und Beziehung für eine bestimmte Lebensform entschieden zu haben. Die Frage, ob man auch die nichteheliche Lebensgemeinschaft unter den Ehebegriff des Art. 6 GG subsumieren soll, ist damit zwar nicht beantwortet, aber doch erheblich entschärft: Denn der grundrechtliche Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts bietet, wenn nicht den gleichen, so doch einen vergleichbaren Schutz. Sachliche Unterschiede zwischen ehelicher und nichtehelicher Lebensgemeinschaft dürfen zweifelsfrei im Rahmen der Schutzintensität berücksichtigt werden; dazu gehört beispielsweise, dass bei der Entscheidung für eine Ehe die Entschlossenheit, eine für sein ganzes Leben gültige Weichenstellung getroffen zu haben, deutlicher zutage tritt als bei der Eingehung einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft. Es geht also nicht um eine pauschale Gleichstellung mit der Ehe, sondern um die grundrechtliche Anerkennung einer anderen Lebensform mit all ihren Besonderheiten. Es stellt sich allerdings die Frage, ob der Rückgriff auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht nicht deshalb unzulässig sein könnte, weil so die besondere Privilegierung der Ehe wieder relativiert würde. Anerkannt ist, dass die uneheliche Lebensgemeinschaft durch Art. 2 I GG geschützt ist; insoweit wird ein Rückgriff allgemein nicht ausgeschlossen147. Nun bietet Art. 2 I GG allerdings einen nur geringen Schutz gegen staatliche Eingriffe. Wenn man davon ausgeht, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht solche Freiheitsbetätigungen schützt, 146 Gröschner, in: Dreier, GG, Art. 6, Rn. 29; Lecheler, in: HdStR VI, § 133, Rn. 25; E. M. von Münch, in: HdVerfR, § 9, Rn. 10. 147 BVerfGE 82, 6 (16); 87, 234 (267); Zippelius, DÖV 1986, 805 (809); Zuleeg, NVwZ 1986, 800 (803); a. A. offenbar Lorenz, FS Maurer, 213 (225).
B. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht
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die einen besonders hohen Menschenwürdebezug haben, so deutet dies darauf hin, dass ein Rückgriff auf das Persönlichkeitsrecht weiterhin möglich sein muss. Es entspricht einem menschenwürdeorientierten Verständnis des Grundgesetzes, auch nichtehelichen Lebensgemeinschaften aufgrund der sich in ihnen zeigenden individuellen Lebensplanung einen Schutz zukommen zu lassen, der über den des Art. 2 I GG hinausgeht. Wenn das höchste Gut der Verfassung von seiner Wertung her einen besonderen Schutz bestimmter Verhaltensweisen nahe legt, dann kann ein niedrigeres Gut, die Ehefreiheit, nicht mittelbar zur Versagung dieses Schutzes führen. Einer menschenwürdeorientierten Auslegung ist insoweit Vorrang einzuräumen. Daher ist davon auszugehen, dass Art. 6 GG mit der Ehe die Form der Lebensgemeinschaft schützt, die durch eine besondere Dauer und Intensität gekennzeichnet ist, ohne deshalb aber anderen Lebensentwürfen die Anerkennung als solche, und damit als vom Persönlichkeitsrecht geschützt, zu versagen. Ähnliches gilt für die gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaft. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts besteht für homosexuelle Menschen keine Möglichkeit, ihren Partner zu heiraten, weil Art. 6 I GG nur für Heterosexuelle gelten soll148. Zwar gibt es inzwischen die Lebenspartnerschaft; diese ist jedoch auf Grundlage dieser Rechtsprechung nur ein einfachrechtliches Institut ohne verfassungsrechtlichen Schutz. Trotzdem zeigt sich in der Entscheidung, mit einer anderen Person, gleich welchen Geschlechts, eine Verbindung eingehen zu wollen, ein individueller Lebensentwurf, der mit einer hohen Präferenz versehen ist. Deshalb muss auch diese Verbindung einen vom allgemeinen Freiheitsrecht abgehobenen Schutz erfahren. Für die Frage, ob Art. 6 I GG in der Auslegung des Bundesverfassungsgerichts einen Rückgriff auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht ausschließt, gilt insoweit nichts anderes als für die nichteheliche Lebensgemeinschaft. Aus dieser inhaltlichen Begründung des Schutzes nichtehelicher bzw. homosexueller Lebensgemeinschaften heraus erübrigt sich auch die Frage, ob es sich bei einer solchen Verbindung um ein „aktives“ Zusammenleben (in der entsprechenden Gemeinschaft) oder eine „passive“ Sphäre (der Gemeinschaft) handelt. Entscheidend ist vielmehr die Bedeutung der gewählten Lebensform für den Lebensentwurf des Einzelnen. Ähnliches gilt für das Sexualleben. Das Bundesverfassungsgericht hat in der Sexualkundeentscheidung festgestellt, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht dem Einzelnen das Recht gibt, seine Einstellung zum Geschlechtlichen selbst zu bestimmen. Der Einzelne könne sein Verhältnis zur Sexualität einrichten und grundsätzlich selbst darüber befinden, ob, in welchen Grenzen und mit welchen Zielen er Einwirkungen Dritter auf diese Ein148 BVerfG, NJW 1993, 3058 (3058). Diese Rechtsprechung hat das Bundesverfassungsgericht auch in der Entscheidung zur eingetragenen Lebenspartnerschaft beibehalten: EuGRZ 2002, 348 (356 f.).
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2. Kap.: Ein Recht gegen Paternalismus
stellung hinnehmen wolle149. Wenn das Gericht von der eigenen „Einstellung“ zur Sexualität spricht, so bewegt es sich wieder im Handlung-Zustand-Schema: Die „Einstellung“ zur Sexualität ist ein „Zustand“ und somit vom Persönlichkeitsrecht geschützt. Dieses formale Argument kann aber die materielle Frage, warum gerade der Bereich der Einstellung zur Sexualität geschützt ist, nicht beantworten, denn offensichtlich ist der Bereich der Einstellung zu verschiedenen Musikrichtungen oder Pullovermarken nicht in derselben Weise geschützt. Zu der inhaltlichen Frage nimmt das Gericht aber nur kurz Stellung, indem es den „Intim- und Sexualbereich“ als Teil der Privatsphäre sieht150. Die Berufung auf „Sphären“ hilft jedoch, wie bereits dargelegt, nicht weiter. Vielmehr kann der Bereich der Einstellung zur Sexualität nur deshalb besonders geschützt sein, weil die Sexualität selbst eine hohe Präferenz im Leben des Einzelnen hat. Das rechtfertigt es, das Geschlechtsleben des Menschen unter den Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts zu stellen. Geschützt ist also auf der einen Seite „aktiv“ die Ausgestaltung des Geschlechtslebens, auf der anderen Seite „passiv“ die Einstellung zur Sexualität. Im weiteren Sinn gehört es auch in diesen Bereich, dass es dem Einzelnen möglich sein muss, seine Familienplanung selbst vorzunehmen. Die Entscheidung, eine Familie zu gründen, berührt die individuelle Lebensplanung wie kaum eine andere. Insbesondere für Frauen ist die Entscheidung für ein Kind häufig auch eine Entscheidung gegen den Beruf. Die Entscheidung in dieser Frage wird damit zu einer Weichenstellung für das weitere Leben. Deshalb enthält das allgemeine Persönlichkeitsrecht auch das Recht, ein Kind nicht bekommen zu wollen. Ein Recht auf Abtreibung wird von Degenhart abgelehnt. Er erkennt zwar an, dass es sich dabei um „Fragen von umfassender Bedeutung für die individuelle Existenz“ handelt. Aufgrund des eigenständigen Lebensrechts des Nasziturus aber könne ein Recht der Frau auf personale Selbstbestimmung schwerlich den Schwangerschaftsabbruch rechtfertigen; deshalb sei ein Recht auf selbstbestimmte Schwangerschaft als verfassungsrechtliche Determinante für die Abtreibungsdiskussion nicht geeignet151. Dem kann nicht zugestimmt werden: Eine Abwägung und ein Bemühen um praktische Konkordanz kann erst in Angriff genommen werden, wenn der Wert der betroffenen Rechtsgüter bestimmt ist. Daher sind zunächst Schutz und Schutzintensität bzgl. der betroffenen Rechtsgüter herauszuarbeiten, bevor sie in einen sinnvollen Ausgleich gebracht werden können. Man könnte Degenhart allenfalls so verstehen, dass eine genauere Bestimmung der Rechtsposition der betroffenen Frau sich erübrige, weil diese evidentermaßen in jedem denkbaren Fall gegenüber dem Lebensrecht des Nasziturus zurückzustehen habe; dann wäre es eine Frage der 149 150 151
BVerfGE 47, 46 (73). Ebd. Degenhart, JuS 1992, 361 (367).
B. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht
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geistigen Ökonomie, sich nicht mit ohnehin niederrangigen Rechtspositionen auseinander zu setzen. Davon kann im Fall des Schwangerschaftsabbruchs jedoch nicht die Rede sein. Denn es ist auch durch das Bundesverfassungsgericht anerkannt, dass sich das Selbstbestimmungsrecht der Frau in bestimmten Fällen gegenüber dem Lebensrecht des Nasziturus durchsetzen kann. Auch die intensive öffentliche Debatte über dieses Thema zeigt, dass eine Evidenz in keiner Richtung behauptet werden kann, sondern dass gerade das Gegenteil der Fall ist: Rechtsposition von Frau und Nasziturus müssen mit äußerster Sorgfalt festgestellt werden, bevor man ein Urteil in dieser Frage fällen kann. Ferner umfasst das Persönlichkeitsrecht die medizinisch gebotene Geschlechtsumwandlung. Das wird vom Bundesverfassungsgericht in den beiden Transsexuellenentscheidungen152 nur angedeutet. Formal ging es um die Fragen, ob aus dem Persönlichkeitsrecht ein Anspruch auf Korrektur des Geschlechtseintrags im Geburtenbuch abgeleitet werden kann und ob sich aus dem Persönlichkeitsrecht ein Anspruch auf einen dem empfundenen Geschlecht entsprechenden Vornamen ergibt. Beide Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bejaht und den entsprechenden Verfassungsbeschwerden stattgegeben, jedoch war in den Fällen die geschlechtsanpassende Operation bereits vorgenommen worden. Das Gericht referiert zunächst den Stand der Wissenschaft, wonach Versuche, Transsexuelle durch Psychotherapie oder Hormonbehandlung umzustimmen, bisher gescheitert sind und der einzige therapeutische Weg in einer geschlechtsanpassenden Operation besteht153. Es macht sich die medizinischen Erkenntnisse zueigen, indem es anerkennt, dass es Transsexuellen nicht um eine Manipulation des Geschlechts gehe. Entscheidend sei vielmehr das Problem des personalen Selbstverständnisses154, des Strebens nach Einstimmigkeit von Psyche und Physis155. Damit betreibt das Gericht einen höheren Begründungsaufwand, als für den zu entscheidenden Fall eigentlich erforderlich gewesen wäre. Denn dass jemand, der physisch – sei es auch aufgrund einer Operation, die bereits geschehen und damit unumkehrbar ist – eine Frau ist, aus dem Persönlichkeitsrecht einen Anspruch hat, auch als solche behandelt zu werden, sollte eine Selbstverständlichkeit sein. Es hätte keines Eingehens auf die Frage bedurft, ob eine Geschlechtsumwandlung medizinisch sinnvoll und geboten sein kann. Dass dies dennoch ausführlich und mit einem gewissen Pathos geschieht156, ist ein Indiz 152
BVerfGE 49, 286; 60, 123. BVerfGE 49, 286 (288). 154 Ebd., 287. 155 Ebd., 299. 156 Vgl. ebd., 299: „Der . . . Leidensdruck Transsexueller wird eindrucksvoll durch die ärztlichen Gutachten bestätigt.“ (Hervorhebung d. Verf.). 153
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2. Kap.: Ein Recht gegen Paternalismus
dafür, dass das Gericht die besondere Relevanz der Identität von physischem und gefühltem Geschlecht anerkennt und auch die medizinisch gebotene Geschlechtsanpassung selbst gegebenenfalls als vom Persönlichkeitsrecht geschützt ansehen würde157. Damit sind zentrale Bereiche des Aspekts der ethisch wichtigen Positionen angesprochen, wobei es sich von selbst versteht, dass die Aufzählung nicht abschließend sein kann. Gemeinsam ist diesen Fällen, dass der Bezug zu den Fragen „Wer bin ich?“, „Wer will ich sein?“, „Was für ein Leben will ich führen?“, also dem eigenen Lebensentwurf, offensichtlich ist. b) Schutz der Voraussetzungen der Persönlichkeitsentfaltung Nicht um den unmittelbaren, sondern um den mittelbaren Schutz der Selbstverwirklichung geht es bei den im Folgenden behandelten Aspekten des allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Der Schutz von Positionen, die auf einer starken ethischen Wertung beruhen, bildet zwar das Zentrum des Persönlichkeitsschutzes, ist aber für eine umfassende Gewährleistung noch nicht ausreichend. Hinzutreten muss die Gewährleistung der Voraussetzungen dafür, dass eine solche Persönlichkeitsentfaltung überhaupt gelingen kann. Es nützt dem Einzelnen wenig, wenn ihm zwar die rechtliche Möglichkeit zur Umsetzung seiner ethischen Überzeugungen gegeben ist, er aber aufgrund innerer oder äußerer Widrigkeiten faktisch hierzu nicht in der Lage oder wesentlich behindert ist. Diese Seite des Persönlichkeitsschutzes meint wohl auch Enders, wenn er die „Voraussetzungen selbstbestimmten Handelns“ schützen will158. Es geht dabei also um solche Positionen, die gerade nicht auf starken ethischen Wertungen beruhen, aber dennoch den Schutz des Persönlichkeitsrechts erfordern, weil sie die Voraussetzungen für ein selbstbestimmtes Leben sichern. aa) Innere Voraussetzungen: Selbstfindung Selbstverwirklichung setzt voraus, dass man ein Konzept von sich selbst hat, ein Bild, das man in seiner Lebensführung umsetzt. Deshalb ist es für einen lükkenlosen Schutz der Persönlichkeit erforderlich, nicht nur die Selbstverwirklichung als Umsetzung des von sich selbst gewonnenen Bildes zu schützen, sondern auch die Selbstfindung, also den inneren Prozess, der zum Verständnis der eigenen Persönlichkeit führt. Die Selbstfindung geschieht in erster Linie im Privaten. Daher erklärt sich der Schutz einer „Privatsphäre“. Das Bundesverfassungsgericht formuliert, dem 157 158
Im Ergebnis ebenso Degenhart, JuS 1992, 361 (367). s. dazu oben 1. b).
B. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht
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Einzelnen müsse um der freien und selbstverantwortlichen Entfaltung seiner Persönlichkeit willen ein „Innenraum“ verbleiben, in dem er sich selbst besitze und in den er sich zurückziehen könne, zu dem die Umwelt keinen Zutritt habe, in dem man in Ruhe gelassen werde und ein Recht auf Einsamkeit genieße159. Eine Methode der Selbstfindung ist das Tagebuchführen. Hier kann jeder unbeobachtet von anderen seine intimsten Gedanken zu Papier bringen, um sich so Klarheit über die eigene Person zu verschaffen. Die Erkenntnisse, die er dabei über sich selbst gewinnt, können ihm helfen, sein Leben in einer Weise zu gestalten, die mit seinem Charakter, seinen Begabungen und Stärken in Einklang steht. Er kann also ein Selbstverständnis erlangen, das ihm hilft, die sich ihm stellenden ethischen Fragen hoher Präferenz richtig zu beantworten. Das Tagebuchführen gehört daher zur Privatsphäre und wird durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht geschützt160. Während das Tagebuchführen der klassische Weg der Introspektion und Selbsterkundung ist, etablieren sich aber zunehmend auch andere Methoden. Der Weg zu einem Verständnis der eigenen Persönlichkeit kann beispielsweise über den Psychotherapeuten führen. Hier gelangt man in einen Grenzbereich von medizinisch gebotenen Behandlungen, die durch Art. 2 II GG geschützt sind, und Maßnahmen zur bloßen Förderung von Verständnis und positiver Entwicklung der eigenen Persönlichkeitsstruktur; letztere sind durch das Persönlichkeitsrecht erfasst. Hinter dem Schutz der Privatsphäre steht also der Gedanke der Selbstbesinnung und Selbstfindung, die im Alleinsein oder im Zusammensein mit besonderen Ausgewählten, wie beispielsweise einem Psychotherapeuten, stattfindet. Im Ansatz richtig ist es daher, wenn das Bundesverfassungsgericht für kasernierte Soldaten feststellt, dass sie nicht abgeschlossen wohnen und ihre Privatsphäre nur unter wesentlich erschwerten Bedingungen schützen können. Deshalb gebe es ein berechtigtes Interesse der anderen Soldaten, „sich nicht gegen ihren Willen einer sie bedrängenden Inanspruchnahme oder Beeinflussung seitens ihrer Kameraden mit deren Gedankenwelt aussetzen lassen zu müssen“161. Zutreffend erkennt das Gericht die Belastungen eines engen Zusammenlebens mit anderen Menschen, die man sich zudem nicht aussuchen kann. Zweifelhaft ist freilich die Ansicht, man könne die Privatsphäre dadurch schützen, dass man politische Diskussionen verbiete162. 159
BVerfGE 27, 1 (6). Beim Tagebuch geht es aber auch um die Aspekte der Selbstdarstellung oder der informationellen Selbstbestimmung, die weiter unten behandelt werden. Das Tagebuchschreiben wird aufgrund der Bedeutung für die Selbstfindung geschützt; der Schutz vor Veröffentlichung des Geschriebenen dagegen von der Selbstdarstellung bzw. der informationellen Selbstbestimmung erfasst. 161 BVerfGE 44, 197 (203 f.). 160
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2. Kap.: Ein Recht gegen Paternalismus
Dass der Begriff der Privatsphäre aber auch in die Irre führen kann, wird deutlich, wenn das Einwerfen von Werbematerial in den Hausbriefkasten als Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht gesehen wird. Hier liegt offensichtlich noch ein räumliches Verständnis der Privatsphäre zugrunde. Die räumliche Privatsphäre wird aber von Art. 13 GG geschützt, und wohl keiner würde auf die Idee kommen, den Einwurf von Werbung als Eingriff in das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung zu betrachten. Da auch weder ersichtlich ist, dass die Selbstfindung im Alleinsein durch den Einwurf von Werbung leiden würde, noch ansonsten Gefahren für die seelische Integrität bestehen, schützt vor Werbung allenfalls das allgemeine Freiheitsrecht des Art. 2 I GG. Gerade der Begriff der Privatsphäre birgt aufgrund seiner Unbestimmtheit die Gefahr, im Bereich des Persönlichkeitsschutzes für mehr Verwirrung als Klärung zu sorgen. Zu kurz gegriffen erscheint es, einen bestimmten Bereich als „nicht öffentlich“ und damit eben „privat“ zu deklarieren. Die Einsicht, über eine bloße Behauptung der Privatheit eines Bereichs hinaus nach inhaltlichen Gründen suchen zu müssen, führt aber zu der weiteren Erkenntnis, dass viele der Aspekte, die das Bundesverfassungsgericht ursprünglich der Privatsphäre zugeordnet hat, in Wirklichkeit zu dem noch darzustellenden Bereich der Selbstdarstellung gehören163. Denn wenn etwas „privat“ ist, ein anderer aber dennoch davon Kenntnis nimmt, so tritt der Grundrechtsträger gezwungenermaßen in eine soziale Interaktion; damit ist dann auch sein Bild in der Öffentlichkeit betroffen. Der betreffende Bereich geht dann nur deshalb keinen anderen etwas an, weil seine Offenbarung nicht in das Bild passt, das der Grundrechtsträger von sich abgegeben möchte. Ob und inwieweit ein solcher Wunsch nach Verheimlichung durch das Persönlichkeitsrecht geschützt werden muss, wird bei der Behandlung des Rechts auf Selbstdarstellung erörtert werden. An dieser Stelle genügt es festzustellen, dass der Schutz der Privatsphäre den Zweck hat, die regelmäßig im Alleinsein stattfindende Selbstfindung durch Introspektion zu gewährleisten. Um eine ganz andere Problematik geht es bei der Frage, ob der Einzelne ein Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung hat. Das Bundesverfassungsgericht bejaht dies: „Verständnis und Entfaltung der Individualität sind . . . mit der Kenntnis der für sie konstitutiven Faktoren eng verbunden. Zu diesen zählt neben anderen die Abstammung. Sie legt nicht nur die genetische Ausstattung des Einzelnen fest und prägt so seine Persönlichkeit mit. Unabhängig davon nimmt 162 Vgl. dazu Podlech, in: AK zum GG, Art. 2, Rn. 57a: „Kein Soldatengesetz schützt Soldaten in Kasernen vor Männerwitzen und anderen Störungen des Anspruchs, in Ruhe gelassen zu werden. Ausgerechnet einem Soldaten, der . . . ein unter dem Schutz des Art. 5 Abs. 1 stehendes Verhalten verwirklicht, wird der Gegenanspruch des in Ruhe-gelassen-Werdens entgegengesetzt, ohne dass eine Störung des Kameradschaftsverhätnisses behauptet oder gar nachgewiesen wäre.“ 163 Beispielsweise BVerfGE 27, 344 (350 f.); 34, 269 (283).
B. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht
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sie auch im Bewusstsein des Einzelnen eine Schlüsselstellung für Individualitätsfindung und Selbstverständnis ein. Insofern hängt der Persönlichkeitswert der Kenntnis auch nicht von dem Maß an Aufklärung ab, das die Biologie derzeit über die Erbanlagen des Menschen, die für seine Lebensgestaltung bedeutsam sein können, zu vermitteln vermag . . . [D]ie Kenntnis der Herkunft bietet dem Einzelnen unabhängig vom Ausmaß wissenschaftlicher Ergebnisse wichtige Anknüpfungspunkte für das Verständnis und die Entfaltung der eigenen Individualität. Daher umfasst das Persönlichkeitsrecht auch die Kenntnis der eigenen Abstammung.“164 Sehr klar trennt das Gericht den Einfluss der genetischen Ausstattung auf die Persönlichkeit in biologischer Sicht von der Bedeutung, die die Kenntnis der eigenen Abstammung für den Einzelnen haben kann. Indem es auf den Einfluss dieser Kenntnis auf „Individualitätsfindung und Selbstverständnis“ abstellt und feststellt, dass die Unmöglichkeit, die eigene Abstammung zu klären, den Einzelnen erheblich belasten und verunsichern kann165, erkennt es die Bedeutung der Selbstfindung für die seelische Integrität an. In dem Bereich der genetischen Ausstattung wird neuerdings nicht nur ein Recht auf Kenntnis, sondern auch ein Recht auf Nichtkenntnis der genetischen Ausstattung diskutiert166. Dieses „Recht auf Nichtwissen“ schützt davor, ungewollt mit Informationen über die eigenen Gene konfrontiert zu werden. Jeder hat das Recht, in diesem Bereich die Ungewissheit über genetische Dispositionen für bestimmte individuelle Eigenschaften und für Krankheiten zu behalten. In der Entscheidung, solche Erkenntnisse nicht mitgeteilt bekommen zu wollen, liegt dann keine Verweigerung gegenüber einer Selbstfindung (wobei auch eine solche Haltung als negative Freiheit geschützt ist – niemand kann zur Selbstfindung gezwungen werden), sondern eine bewusste Entscheidung für Nichtwissen, die durchaus mit dem eigenen Lebensentwurf, sein Schicksal eben nicht voraussehen zu wollen, in Einklang stehen kann. Die Selbstfindung ist also ähnlich vielseitig wie die Selbstverwirklichung. Es gibt keinen „Königsweg“ zum Verständnis der eigenen Persönlichkeit. Nicht alle Menschen sind an einer Selbstfindung im gleichen Maße interessiert; für einige – beispielsweise solche, die ein Elternteil nicht kennen – gewinnen Aspekte wie die Abstammung, über die andere möglicherweise kaum nachdenken, eine herausgehobene Bedeutung. Jeder hat das Recht, selbst zu entscheiden, auf welche Weise und mit welchem Einsatz er sich selbst erforschen möchte.
164 165 166
89 ff.
BVerfGE 79, 256 (268 f.); ähnlich BVerfGE 90, 263 (270 f.). BVerfGE 90, 263 (271). Ausführlich Koppernock, Das Grundrecht auf bioethische Selbstbestimmung,
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2. Kap.: Ein Recht gegen Paternalismus
bb) Äußere Voraussetzungen: Grundbedingungen für die Persönlichkeitsentfaltung Der Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts wäre lückenhaft, würde er zwar den Schutz ethisch wichtiger Positionen umfassen, nicht jedoch auch die Grundvoraussetzungen dafür gewährleisten, dass diese überhaupt gelingen können. Wo durch den Staat dem Einzelnen solche Belastungen auferlegt werden, dass er in seinen Möglichkeiten der Persönlichkeitsentfaltung erheblich eingeschränkt ist, muss daher das Persönlichkeitsrecht Schutz bieten. So verstößt es gegen das allgemeine Persönlichkeitsrecht, wenn Eltern ihre Kinder kraft ihrer elterlichen Vertretungsmacht finanziell unbegrenzt verpflichten und so mit erheblichen Schuldenlasten in die Volljährigkeit entlassen können167. Im Vordergrund steht hierbei ein neuer Aspekt: Nicht an die Qualität, sondern an die schiere Quantität der Belastung wird angeknüpft, denn die Tatsache, dass man mit gewissen finanziellen Verpflichtungen in die Volljährigkeit entlassen wird, begründet an sich noch nicht die Einschlägigkeit des allgemeinen Persönlichkeitsrechts; hier wäre an sich lediglich das allgemeine Freiheitsrecht betroffen. Bei einer gewissen Schuldenhöhe wird jedoch eine Grenze überschritten, ab der das Persönlichkeitsrecht eingreift. Dieser Punkt ist erreicht, wenn „die Grundbedingungen freier Entfaltung und Entwicklung und damit nicht nur einzelne Ausformungen allgemeiner Handlungsfreiheit, sondern die engere persönliche Lebenssphäre junger Menschen betroffen sind“168. Es liegt auf der Hand, dass Menschen resignieren und jeden Antrieb für eine eigene Lebensgestaltung verlieren können, wenn sie am Beginn ihrer Volljährigkeit bereits Schulden haben, die sie möglicherweise nie abzahlen können. Es besteht dann die Gefahr, dass sie nicht nur aus Resignation darauf verzichten, Geld zu verdienen, sondern damit verbunden auch darauf, einen ihren Interessen und Fähigkeiten entsprechenden Beruf zu ergreifen. Damit gehen ihnen nicht nur die Verdienst-, sondern auch die Entfaltungsmöglichkeiten durch den Beruf verloren, die für die Persönlichkeitsentwicklung von großer Bedeutung sind. Ebenfalls um die Grundbedingungen freier Persönlichkeitsentfaltung geht es, wenn die Resozialisierung unter das allgemeine Persönlichkeitsrecht gefasst wird. In der Lebach-Entscheidung gewann der Gedanke, dass jedem Straftäter die Möglichkeit der Wiedereingliederung in die Gesellschaft gegeben werden muss, entscheidende Bedeutung in der Abwägung zwischen dem Selbstdarstellungsrecht des Betroffenen und dem öffentlichen Interesse an Berichterstattung169. Der Grund für den Schutz der Resozialisierung ist einsichtig: Einem 167 168 169
BVerfGE 72, 155. Ebd., 171. BVerfGE 35, 202 (235 ff.).
B. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht
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Gefangenen wird durch die Inhaftierung ein guter Teil seiner Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung genommen. Deshalb ist es umso wichtiger für ihn, überhaupt eine Aussicht zu haben, wieder in Freiheit zu gelangen170, und darüber hinaus auch in sozialer Hinsicht eine erneute „Startchance“ zu bekommen, so dass er auch faktisch die Möglichkeit hat, seine Persönlichkeit in Freiheit zu entfalten. Menschen leben nicht isoliert, sondern müssen sich in der Gesellschaft zurechtfinden. Anders als bei der ebenfalls durch das Persönlichkeitsrecht geschützten Selbstdarstellung geht es hier nicht um die Möglichkeit, ein eigenes Bild von sich vermitteln zu können, sondern darum, mit dem Leben in Freiheit und dem Umgang mit anderen überhaupt klarzukommen. Daher handelt es sich ähnlich wie in dem Minderjährigenfall bei der Resozialisierung um eine Grundbedingung der Persönlichkeitsentfaltung und nicht nur um eine Ausprägung allgemeiner Freiheit, die somit unter dem Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts steht. Wie in dem Minderjährigenfall geht es um die Gewährung einer „Startchance“ beim Eintritt in einen neuen Lebensabschnitt. cc) Zwischenergebnis Ausgangspunkt des Persönlichkeitsschutzes ist damit der Schutz ethisch wichtiger Positionen bzw. der Selbstverwirklichung: Jeder Mensch soll seine eigenen Anlagen und Begabungen umsetzen können. Ergänzt wird dieser Schutz durch zwei Aspekte, die jeweils seine Effektivität garantieren sollen: Die Selbstfindung soll dem Einzelnen die „inneren“ Voraussetzungen der Selbstverwirklichung ermöglichen, indem über die Verwirklichung der selbstgesetzten Präferenzen hinaus auch der Prozess der Bildung eben dieser geschützt wird. Mit dem Schutz der Grundbedingungen freier Persönlichkeitsentfaltung dagegen werden die „äußeren“ Voraussetzungen erfasst, so dass die Persönlichkeitsentfaltung nicht an äußeren Widrigkeiten scheitert. Merkmal der geschützten Voraussetzungen ist, dass sie ihr Fundament nicht unmittelbar in einer ethischen Position des Grundrechtsträgers haben, sondern ihr Schutz nur Hilfsmittel ist, um die Persönlichkeitsentfaltung des Einzelnen zu ermöglichen. c) Selbstdarstellung und informationelle Selbstbestimmung Bei dem grundrechtlichen Schutz der Selbstdarstellung und der informationellen Selbstbestimmung geht es um die Rechte des Einzelnen, den Informationsfluss zur Gesellschaft und zum Staat zu kontrollieren. Auch wenn der Bezug zu ethischen Positionen nicht offensichtlich ist, zeigt die genauere Betrachtung, dass sich auch der Schutz des Informationsflusses in die entwickelten Kategorien einordnen lässt. 170
BVerfGE 45, 187 (245); 72, 105 (113); 86, 288 (312).
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2. Kap.: Ein Recht gegen Paternalismus
aa) Selbstdarstellung Die psychologische Wissenschaft definiert Identität als die einzigartige Persönlichkeitsstruktur, verbunden mit dem Bild, das andere von dieser Persönlichkeitsstruktur haben171. Einige Autoren verwenden anstelle von „Identität“ den Begriff des „Selbst“ und unterscheiden zwischen dem privaten bzw. persönlichen Selbst und dem öffentlichen bzw. sozialen Selbst: „Das persönliche Selbst (oder auch die persönliche Identität) bildet den lebensgeschichtlichen Zusammenhang zwischen den Erfahrungen, die ein Mensch gemacht hat. Es ist der rote Faden, der sich durch den Strom der Ereignisse hindurchzieht, und zugleich der gleichbleibende (eben identische) Brennpunkt, den sich das Individuum als Selbst konstruiert. Das soziale Selbst (die soziale Identität) entsteht aus dem Bild, das sich andere von einem selbst machen.“172 Hierbei interessiert in erster Linie die subjektive Seite dieses Bildes, nämlich, wie der Betroffene seine Wahrnehmung durch die anderen erfasst; es kommt also darauf an, wie sich das Individuum selbst durch die Brille der anderen sieht173. Die eigene Identität wird also mitbestimmt von der Wahrnehmung der eigenen Person durch andere, oder genauer: durch das Bild, das man sich von dieser Wahrnehmung macht. Damit ist die soziale Identität, soweit man sie selbst beeinflussen kann, auch Ausdruck des eigenen Selbstverständnisses und somit Ausdruck einer ethischen Position mit hoher Präferenz. Dies ist der Grund für die Einbeziehung des Schutzes der Selbstdarstellung in das allgemeine Persönlichkeitsrecht. Dieses enthält demnach das Recht, sein Bild in der Öffentlichkeit selbst zu steuern. Daraus folgt zunächst, dass der einzelne das Recht hat, nicht in der Öffentlichkeit herabgewürdigt zu werden, denn darin liegt ein besonders gravierender Eingriff in das Recht auf Selbstdarstellung. Wer davon ausgehen muss, dass das Bild, das sich die anderen von ihm machen, durch entwürdigende Äußerungen Dritter verzerrt ist, der kann seine soziale Identität nicht mehr nach den eigenen Vorstellungen steuern und wird so in der Umsetzung seiner ethischen Vorstellungen bezüglich der eigenen Identität behindert. Auch das Bundesverfassungsgericht hat im Fall Böll anerkannt, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht vor Ehrverletzungen schützt. In einem Fernsehkommentar im Zusammenhang mit der Ermordung des Präsidenten des Berliner Kammergerichts durch Terroristen war die Ansicht vertreten worden, der Schriftsteller Heinrich Böll gehöre zu denjenigen, die durch Sympathie mit den Terroristen den Boden der Gewalt gedüngt hätten. Diese These wurde belegt durch das erwiesenermaßen falsche Zitat, Böll habe den Rechtsstaat als „Misthaufen“ bezeichnet, und entstellt wie171 172 173
Oerter/Montada, Entwicklungspsychologie, 346. Ebd., 347 m. w. N. (Hervorhebung d. Verf.). Ebd.
B. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht
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dergegebene Zitate, er sehe nur „Reste verfaulender Macht, die mit rattenhafter Wut verteidigt würden“, und der Staat würde die Terroristen „in gnadenloser Jagd“ verfolgen. Zutreffend erkannte das Bundesverfassungsgericht darin eine Herabsetzung Bölls in der Öffentlichkeit und damit einen Angriff auf seine persönliche Ehre174. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht umfasst aber nicht nur den Schutz vor entwürdigenden Äußerungen. Vielmehr muss dem einzelnen die gesamte Steuerung seines Bildes in der Öffentlichkeit überlassen bleiben. Das wurde vom Bundesverfassungsgericht zunächst für solche Informationen anerkannt, die in die sog. Privatsphäre fallen. So hat das Gericht neben einem Recht am eigenen Bild auch ein Recht am gesprochenen Wort anerkannt. Danach darf jeder grundsätzlich selbst bestimmen, wer sein Wort aufnehmen soll sowie ob und vor wem seine auf einen Tonträger aufgenommene Stimme wieder abgespielt werden darf175. Das Persönlichkeitsrecht beinhaltet weiterhin das Verfügungsrecht über Darstellungen der eigenen Person: Jeder kann selbst entscheiden, ob und wieweit andere sein Lebensbild im ganzen oder bestimmte Vorgänge aus seinem Leben öffentlich darstellen dürfen176. Ferner gehört es zum Selbstdarstellungsrecht, dass Ehescheidungs-177 oder Krankenakten178 grundsätzlich vor ungewollter Einsichtnahme durch den Staat oder die Öffentlichkeit geschützt sind. Im Fall Soraya wurde ein frei erfundenes Interview mit der geschiedenen Ehefrau des Schahs von Iran, Prinzessin Soraya, veröffentlicht, in dem Vorgänge aus ihrem Privatleben berichtet wurden, als habe sie sie selbst geschildert. Das Gericht begründete die Einschlägigkeit des allgemeinen Persönlichkeitsrechts wiederum damit, dass es sich um ein unbefugtes Eindringen in den privaten Lebensbereich Sorayas gehandelt habe. Gerade an diesem Fall lässt sich gut darstellen, dass die Berufung auf die Privatsphäre für Fälle dieser Art jedoch verfehlt ist: Da das Interview erfunden war, hatte es mit Sorayas wirklichem Privatleben gar nichts zu tun. Der Schutz der privaten „Sphäre“ hat den Sinn, die Selbstfindung im Alleinsein zu ermöglichen179. Durch ein erfundenes Interview wird diese Möglichkeit aber nicht beeinträchtigt; vielmehr ist die Selbstdarstellung Sorayas in der Öffentlichkeit betroffen. Allerdings betraf ihr Wunsch, ihre Darstellung in der Öffentlichkeit kontrollieren zu können, einen besonders sensiblen Bereich, nämlich ihr Privatleben, und bekam dadurch ein besonderes Gewicht. Das ändert jedoch nichts daran, dass nicht Sorayas Privat174 BVerfGE 54, 208 (218). Für die Einordnung des Ehrschutzes bei der Selbstdarstellung auch Jarass, NJW 1989, 857 (858); Mackeprang, Ehrschutz im Verfassungsstaat, 29 f. 175 BVerfGE 34, 238 (246). 176 BVerfGE 35, 202 (220). 177 BVerfGE 27, 344 (351 f.). 178 BVerfGE 32, 373 (379). 179 s. oben b) aa).
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2. Kap.: Ein Recht gegen Paternalismus
sphäre betroffen war, sondern ihr Selbstdarstellungsrecht, und zwar in dem besonders schützenswerten Bereich des Privatlebens. Während das Bundesverfassungsgericht im Fall Soraya noch mit dem etwas schwammigen Begriff der Privatsphäre argumentieren konnte, um die Einschlägigkeit des allgemeinen Persönlichkeitsrechts zu begründen, musste es im Fall Eppler Farbe bekennen. Eppler wehrte sich gegen die Behauptung, er habe gesagt, man müsse „die Belastbarkeit der Wirtschaft prüfen“. Das Bundesverfassungsgericht untersuchte, ob das Persönlichkeitsrecht auch vor dem Unterschieben nicht getaner Äußerungen schützt. Zutreffend stellte es fest, dass es sich nicht um einen Fall von Ehrverletzung handelte, weil die in Frage stehende Behauptung an sich nichts Unehrenhaftes sei180. Das Persönlichkeitsrecht schütze vor dem Unterschieben nicht getaner Äußerungen nach den bis zum Entscheidungszeitpunkt anerkannten Fallgruppen nur, wenn „zugleich“ ein anerkanntes Schutzgut des Persönlichkeitsrechts, wie etwa im Fall Soraya die Privatsphäre, verletzt sei181. Da man also in diesem Fall mit der Privatsphäre nicht weiterkam, hatte das Gericht nur die Wahl, die Einschlägigkeit des Persönlichkeitsrechts abzulehnen oder eine neue Fallgruppe anzuerkennen. Es entschied sich für letzteren Weg und hielt es für einen „Eingriff ins allgemeine Persönlichkeitsrecht, wenn jemandem Äußerungen in den Mund gelegt werden, die er nicht getan hat und die seinen von ihm selbst definierten sozialen Geltungsanspruch beeinträchtigen“ 182. Dies folge aus dem dem Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts zugrunde liegenden Gedanken der Selbstbestimmung; der Einzelne solle ohne Beschränkung auf seine Privatsphäre183 grundsätzlich selbst entscheiden können, wie er sich Dritten oder der Öffentlichkeit gegenüber darstellen wolle, ob und inwieweit von Dritten über seine Persönlichkeit verfügt werden könne. Es könne in diesem Zusammenhang auch nur Sache der einzelnen Person sein, über das zu bestimmen, was ihren sozialen Geltungsanspruch ausmachen solle; insoweit sei der Inhalt des allgemeinen Persönlichkeitsrechts maßgeblich durch das Selbstverständnis seines Trägers geprägt184. Indem das Gericht so das Recht auf Selbstdarstellung anerkannte, verließ es den Irrweg, den es im Fall Soraya durch die unmittelbare Berufung auf eine „Privatsphäre“ betreten hatte. Entscheidender Anknüpfungspunkt bei dem Unterschieben nicht getaner Äußerungen wird so das Selbstdarstellungsrecht. Erst im zweiten Schritt kann man sich dann fragen, ob die Selbstdarstellung nur in Bezug auf bestimmte Aspekte wie beispielsweise das Privatleben oder aber umfassend geschützt sein soll. Für den umfassenden Schutz spricht insbesondere, 180 181 182 183 184
BVerfGE 54, 148 (154). Ebd., 155. Ebd. Hervorhebung d. Verf. Ebd., 155 f.
B. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht
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dass die Öffentlichkeit ihr Bild von einer bestimmten Person nicht nur über Details aus dem Privatleben dieser Person formt, sondern vielmehr aus allen erlangbaren Informationen. Daher muss auch der Schutz umfassend sein. Es geht eben nicht mehr um die Abschirmung eines bestimmten, als besonders gefährdet angesehenen Bereichs wie der Privatsphäre, sondern um den Schutz der gesamten öffentlichen Erscheinung einer Person. In bestimmten Bereichen wird ein Fluss von Informationen an die Öffentlichkeit die soziale Identität in höherem Maße beeinflussen als in anderen. Die Frage, welche Tageszeitung jemand liest oder welche Filme er bevorzugt, wird nur in geringem Maße auf das Persönlichkeitsbild Einfluss nehmen. Anders ist es mit besonders sensiblen Bereichen wie Sexualität, Beziehungen, Gesundheit und Krankheit, also solchen, die meist pauschal der „Privatsphäre“ zugeordnet werden. Jetzt wird klar, warum dies geschieht: Der Grundrechtsträger hat in diesem Bereich ein besonderes Interesse daran hat, Kontrolle darüber zu behalten, welche Informationen an die Öffentlichkeit gelangen. Dass die Berufung auf eine Privatsphäre nicht weiterhilft, zeigt auch die Erkenntnis der Relativität der Privatsphäre: Das Gespräch mit dem Arzt ist privat im Verhältnis zum beruflichen Umfeld, nicht aber zum familiären; die politische Einstellung braucht den Vermieter oder Nachbarn nichts anzugehen, obwohl sie parteiöffentlich ist185. Es geht also nicht um eine genau abgrenzbare „Privatheit“, sondern um sensible Informationen, die bereichsspezifisch von der Gesellschaft abgeschirmt werden. Der Schutz der (passiv verstandenen) „Privatsphäre“ ist daher letztlich nichts anderes als der Schutz von für die Selbstdarstellung besonders sensiblen Informationen186, also eines Ausschnitts des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, der einen gegenüber dem allgemeinen Freiheitsrecht noch einmal erhöhten Schutz genießt. Die Privatsphäre behält aber ihre eigenständige Bedeutung unter dem Aspekt der Selbstfindung im Privaten, also durch das Recht auf Regeneration im Alleinsein. Das Recht auf Selbstdarstellung beinhaltet also ein umfassendes Recht darauf, die gesamte Darstellung der eigenen Person zu steuern. Dabei geht es stets um den Informationsfluss an die Öffentlichkeit. Das Recht auf Selbstdarstellung umfasst das Recht, zu entscheiden, wer wann welche Informationen über die eigene Persönlichkeit erhält; auf Schutzbereichsebene ist es unerheblich, ob es sich um Informationen aus der „Privatsphäre“ handelt. Das Recht auf Selbstdarstellung beschränkt sich auch nicht darauf, die wahrheitsgemäße oder vollständige Information der Öffentlichkeit zu schützen, vielmehr ist es dem Belieben des Einzelnen überlassen, wie er sein Bild in der Öffentlichkeit gestalten möchte. Der Grund für den Schutz der Selbstdarstellung ist, dass das Bild in 185 186
Schlink, Der Staat 1986, 233 (242). Ähnlich Schmitt Glaeser, in: HdStR, § 129, Rn. 30.
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der Öffentlichkeit identitätsprägend und somit die Selbstdarstellung Ausdruck einer ethischen Position hoher Präferenz ist. Daher gehört die Selbstdarstellung strukturell zum Schutz ethisch wichtiger Positionen. bb) Informationelle Selbstbestimmung Das Selbstdarstellungsrecht betrifft also den Informationsfluss hin zur Gesellschaft. Unter dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung versteht man dagegen das Recht, gegenüber dem Staat keine Informationen bezüglich der eigenen Person offenbaren zu müssen. Als Bestandteil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts wurde es durch das Bundesverfassungsgericht im Volkszählungsurteil anerkannt. Durch das Volkszählungsgesetz von 1983 wurde jedem die Pflicht auferlegt, im Rahmen einer Datenerhebung bezüglich seiner eigenen Person, Wohnung, Ausbildung, seines Berufs usw. recht detailliert Auskunft zu geben. Das Bundesverfassungsgericht nahm die Beunruhigung, die das Gesetz damals in der Bevölkerung auslöste, und die Kritik von Sachverständigen zum Anlass, die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Datenschutzes umfassender zu prüfen. Es führt aus, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht gerade auch im Blick auf moderne Entwicklungen und mit ihnen verbundene neue Gefährdungen der menschlichen Persönlichkeit Bedeutung gewinnen könne. Die aus dem Gedanken der Selbstbestimmung folgende Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst zu entscheiden, wann und in welchen Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart würden, bedürfe unter den Bedingungen automatischer Datenverarbeitung in besonderem Maße des Schutzes. Dadurch, dass bei Entscheidungsprozessen nicht mehr auf manuell zusammengetragene Karteien und Akten zurückgegriffen werden müsse, sondern Einzelangaben unbegrenzt speicherbar, in Sekundenschnelle abrufbar seien und zudem mit anderen Datensammlungen zu einem ganzen Persönlichkeitsbild zusammengefügt werden könnten, hätten sich in bisher unbekannter Weise die Möglichkeiten einer Einsicht- und Einflussnahme erweitert187. Aus diesem Befund leitet das Gericht nun die besondere Gefährdung der Persönlichkeit ab: Gefährdet sei die individuelle Selbstbestimmung. Wer nicht mit hinreichender Sicherheit überschauen könne, welche ihn betreffende Informationen in bestimmten Bereichen seiner sozialen Umwelt bekannt seien, und wer das Wissen möglicher Kommunikationspartner nicht einigermaßen abzuschätzen vermöge, könne in seiner Freiheit wesentlich gehemmt werden, aus eigener Selbstbestimmung zu planen oder zu entscheiden. Wer unsicher sei, ob abweichende Verhaltensweisen jederzeit notiert und als Information dauerhaft gespei187
BVerfGE 65, 1 (41 f.).
B. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht
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chert, verwendet oder weitergegeben würden, werde versuchen, nicht durch solche Verhaltensweisen aufzufallen. Daher gewährleiste das allgemeine Persönlichkeitsrecht die Befugnis des Einzelnen, selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen188. Dieser Schutz beziehe sich gleichermaßen auf alle Daten: Aufgrund der Verarbeitungs- und Verknüpfungsmöglichkeiten gebe es unter den Bedingungen der automatischen Datenverarbeitung kein „belangloses“ Datum mehr189. Damit war also Klarheit darüber geschaffen, dass die informationelle Selbstbestimmung grundrechtlich geschützt ist. Das Bundesverfassungsgericht hatte aber nicht ein neues Grundrecht „erfunden“, wie die F.A.Z. kurz darauf titelte190. Es wurde vielmehr nur eine neue Fallgruppe des allgemeinen Persönlichkeitsrechts anerkannt. Wenn aber angesichts der Entscheidung der Eindruck entsteht, das Bundesverfassungsgericht würde Grundrechte erfinden, so deutet das darauf hin, dass dieser Auffassung eine Unklarheit über die Struktur des allgemeinen Persönlichkeitsrechts zugrunde liegt. Umso wichtiger ist es, den materiellen Grund für die Einbeziehung der informationellen Selbstbestimmung in das allgemeine Persönlichkeitsrecht herauszuarbeiten. Dabei ist es lohnend, den Unterschied zur Selbstdarstellung, die den Informationsfluss zur Gesellschaft betrifft, herauszuarbeiten. Diese hat v. a. den Sinn, den sozialen Umgang mit anderen, der für den Menschen als Gemeinschaftswesen von großer Bedeutung ist, in bestimmte selbst gewählte Bahnen zu lenken. Die Kommunikation mit dem Staat als solchem ist aber nichts, auf das Menschen zum Schutz ihrer seelischen Integrität angewiesen sind, ganz im Gegenteil: Die meisten Menschen bemühen sich, mit dem, was mit „dem Staat“ assoziiert wird – Behörden, Ämter, Polizei, Gerichte – möglichst wenig Kontakt zu bekommen. Das heißt jedoch nicht, dass die Kommunikation mit dem Staat nicht doch von Bedeutung ist; sie unterliegt nur von Seiten der Bürger anderen Zielsetzungen: Während es bei der Darstellung gegenüber der Gesellschaft darum geht, ein dem eigenen Selbstverständnis entsprechendes, möglichst positives Bild von sich selbst zu zeichnen, geht es bei der Darstellung gegenüber dem Staat darum, möglichst angepasst zu erscheinen, also kein abweichendes Verhalten an den Tag zu legen, das die Aufmerksamkeit des Staates auf einen lenken könnte. Dadurch verschafft man sich einen Freiraum, in dem man sich nicht bei jeder Handlung fragen muss, was für Schlussfolgerungen der einen beobachtende Staat daraus ziehen könnte. Insofern liegt der Schwerpunkt der informationellen Selbstbestimmung in der Sicherung und Erhaltung dieses Freiraums, um die Selbstverwirklichung nicht durch unerwünschte Einflussnahme des Staates zu behindern. Im Gegensatz zur Selbstdarstellung liegt der informa188 189 190
Ebd., 42 f. Ebd., 45. F.A.Z. vom 17.12.1983, 12 (zitiert nach Kunig, Jura 1993, 595, Fn. 2).
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tionellen Selbstbestimmung damit nicht ein ethischer Aspekt zugrunde – es ist nicht Ausdruck des Selbstverständnisses einer Person, gegenüber dem Staat unauffällig erscheinen zu wollen – sondern es geht um die Abwehr einer die Persönlichkeitsentfaltung hindernden staatlichen Beobachtung. Deshalb ist die informationelle Selbstbestimmung den äußeren Voraussetzungen der Persönlichkeitsentfaltung zuzurechnen. cc) Ergebnis zu Selbstdarstellung und informationeller Selbstbestimmung Selbstdarstellung und informationelle Selbstbestimmung sind also insofern vergleichbar, als beide den Datenfluss betreffen: Bei der Selbstdarstellung geht es um den Datenfluss vom Einzelnen zur Gesellschaft, bei der informationellen Selbstbestimmung um den zum Staat. Obwohl beide Rechte dem Einzelnen die Kontrolle über ihn betreffende Daten einräumen, ist der Schutzgrund aber ein jeweils anderer: bei der Selbstdarstellung geht es um die Verwirklichung einer ethischen Position mit hoher Präferenz, nämlich die Vermittlung des dem eigenen Selbstverständnis entsprechenden Bildes. Dieser Aspekt ist für die Identitätsbildung von herausragender Bedeutung. Deshalb ist die Selbstdarstellung strukturell der Selbstverwirklichung zuzuordnen. Bei der informationellen Selbstbestimmung dagegen ist nicht das Selbstverständnis der Person betroffen, sondern es geht um die Schaffung eines Freiraums gegenüber dem Staat, damit die Persönlichkeitsentfaltung ohne Rücksichtnahme auf einen beobachtenden Staat erfolgen kann. Die informationelle Selbstbestimmung betrifft daher die äußeren Grundbedingungen der Persönlichkeitsentfaltung. 3. Fazit Damit konnte die Struktur des allgemeinen Persönlichkeitsrechts erarbeitet werden. Die von der Rechtsprechung anerkannten Fallgruppen wurden mit einigen Erweiterungen auf der einen Seite – insbesondere im Bereich der durch das Persönlichkeitsrecht geschützten Handlungen – und mit geringfügigen Einschränkungen auf der anderen Seite, insbesondere was den Schutzumfang der Privatsphäre angeht, bestätigt. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht umfasst im Zentrum den Schutz ethisch wichtiger Positionen als das Recht, entsprechend den eigenen ethischen Entscheidungen sein Leben ausrichten zu können. Flankiert wird dieser Schutz durch die Gewährleistung der inneren und äußeren Voraussetzungen für eine Selbstverwirklichung, also dem Schutz der Selbstfindung und der äußeren Grundbedingungen. Die Kontrolle des Informationsflusses gegenüber der Gesellschaft und gegenüber dem Staat sind ebenfalls durch
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das Persönlichkeitsrecht erfasst; der Informationsfluss zur Gesellschaft wird durch den Schutz ethisch wichtiger Positionen, der zum Staat durch die äußeren Grundbedingungen der Persönlichkeitsentfaltung erfasst.
III. Insbesondere: Recht auf Selbstmord 1. Schutz des Selbstmordes durch das allgemeine Freiheitsrecht Die Frage, ob das Grundgesetz auch den Selbstmord schützt, ist seit langem umstritten. Versteht man Art. 2 I GG als allgemeines Freiheitsrecht, so scheint nichts dagegen zu sprechen, auch den Selbstmord als – letzte – Freiheitsbetätigung geschützt zu sehen191. Dem werden in der Literatur mehrere Einwände entgegengehalten. Der erste scheint auf den ersten Blick so evident zu sein, dass zumeist auch auf eine eingehende Begründung verzichtet wird: Art. 2 I GG gestatte nur die „Entfaltung“ der Persönlichkeit, nicht aber deren Zerstörung192. Wenn man Art. 2 I GG als allgemeine Handlungsfreiheit, oder präziser als allgemeines Freiheitsrecht, versteht, erfasst es freilich viele Verhaltensweisen, die zumindest langfristig eher der Zerstörung als der Entfaltung der Persönlichkeit dienen: Rauchen oder Trinken sind nur einige Beispiele. Hilfreich ist es, sich den Grund für die weite Auslegung des Art. 2 I GG wieder bewusst zu machen: Ausgangspunkt ist die Erkenntnis, dass der Staat kein Selbstzweck ist, was in der Formel „Der Staat ist für den Menschen da und nicht der Mensch für den Staat“ auf den Punkt gebracht wird. Das heißt aber auch, dass die Menschen zunächst frei sind, zu tun und zu lassen, was sie wollen. Der Staat als „Mittel zum Zweck“ kann sie nur daran hindern, wenn er legitime Gründe auf seiner Seite hat. Nichts anderes wird durch Art. 2 I GG in der weiten Auslegung ausgesagt: Die Bürger haben umfassende Freiheit, aber nur, solange nicht der Staat berechtigterweise in diese Freiheit eingreift. Ob der Staat berechtigt ist oder nicht, entscheidet sich auf der Ebene der Rechtfertigung. Dafür werden im Rahmen des Art. 2 I GG an den Staat nur geringe Anforderungen gestellt: Der Staat muss darlegen, dass die Freiheitsbeschränkung geeignet und erforderlich zur 191 So Hufen, NJW 2001, 849 (851); Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2, Rn. 7a; Kunig, in: von Münch/Kunig, GG, Art. 2, Rn. 12 ; Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 2, Rn. 211; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 2 II, Rn. 50; Sachs, Grundrechte, B 2, Rn. 81; Wagner, Selbstmord und Selbstmordverhinderung, 90 ff.; Wassermann, DRiZ 1986, 291 (293). 192 Frotscher, DVBl. 1976, 695 (702); Götz, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 109; Lorenz, in: HdStR VI, § 128, Rn. 62; Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, 51, Fn. 57; Würtenberger/Heckmann/Riggert, Polizeirecht in BadenWürttemberg, Rn. 402.
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Erreichung eines legitimerweise verfolgten Zwecks ist. Wenn der Staat also Selbstmorde verhindern will, so darf der Bürger erwarten, dass der Staat dafür einen sachlichen Grund anzugeben in der Lage ist. Findet sich ein solcher nicht, hat er kein Recht, jemanden am Selbstmord zu hindern. Findet sich dagegen ein sachlicher Grund, so ist der Eingriff des Staates gerechtfertigt. In jedem Fall steht es aber zunächst in der Freiheit des Bürgers, über die Frage der Selbsttötung zu entscheiden. Daher geht das erste Argument, das gegen eine grundrechtliche Anerkennung des Selbstmordes erhoben wird, fehl. Der zweite Einwand lautet, dass die „positive Wertentscheidung für das Leben“, die aus Art. 2 II GG folge, einen Schutz des Selbstmordes untersage193, weshalb es „gestattet“ sei, dass der Staat dem Grundrechtsinhaber die Verfügungsgewalt über das Leben abspreche194; dieses sei als Basis und Ausdruck menschlicher Existenz jeder Verfügung entzogen195. Besonders stichhaltige Argumente sind das nicht. Warum ist etwas jeder Verfügung entzogen, nur weil es Basis und Ausdruck menschlicher Existenz ist? In faktischer Hinsicht ist das eigene Leben der Verfügung schon einmal nicht entzogen – (fast) jeder hat die Möglichkeit, es zu beenden. Gemeint sein muss wohl entweder, dass der Einzelne nicht über sein eigenes Leben verfügen sollte, oder dass das Recht die faktische Verfügbarkeit des eigenen Lebens nicht durch einen grundrechtlichen Schutz aufgreifen und anerkennen sollte – in beiden Fällen fehlt jedoch weiterhin eine Begründung. Und inwieweit Art. 2 II GG eine positive Wertentscheidung über das Leben enthält, wird weiter unten noch ausführlich untersucht werden. Selbst wenn man aber eine solche positive Wertentscheidung annehmen würde, so würde das doch wohl eher dazu führen, dass ein Selbstmord unterbunden werden kann, weil der damit verbundene Eingriff in das allgemeine Freiheitsrecht aufgrund der objektiven Wertentscheidung des Art. 2 II GG gerechtfertigt wäre. Art. 2 I GG stellt die Regel auf, dass jede Beschränkung subjektiver Freiheit durch einen sachlichen Grund gerechtfertigt werden muss; naheliegenderweise wird man das auf der Ebene der Rechtfertigung untersuchen. Es ist kein Grund ersichtlich, warum dies beim Selbstmord anders sein sollte. Es gilt die allgemeine Regel: Lässt sich ein sachlicher Grund für seine Unterbindung anführen, dann kann er unterbunden werden; findet sich kein solcher Grund, dann muss er zugelassen werden. Es liegt der Verdacht nahe, dass diejenigen, die den Selbstmord pauschal auf Schutzbereichsebene ausschließen wollen, zu ihrer Auffassung neigen, weil sie befürchten müssen, dass ihre – möglicherweise religiös motivierten196 – Gründe hinterher nicht als sachlich gerecht193 BayObLG, NJW 1989, 1815 (1816); Götz, ebd.; Würtenberger, in: Achterberg/ Püttner/Würtenberger, Besonderes Verwaltungsrecht II, § 21, Rn. 182; Würtenberger/ Heckmann/Riggert, ebd. 194 Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 II, Rn. 12. 195 Lorenz, in: HdStR VI, § 128, Rn. 62. 196 Diesen Verdacht äußert auch Wassermann, DRiZ 1986, 291 (292).
B. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht
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fertigt anerkannt werden. Darauf sollte sich die Grundrechtsdogmatik nicht einlassen. Der dritte Einwand schließlich lautet, dass der Selbstmord selten oder nie Ausdruck freier Selbstbestimmung sei und deshalb kein grundrechtlich geschütztes Recht auf Selbstmord bestehen könne197. Auch dieses Argument wird weiter unten ausführlich behandelt werden. Wiederum aber gibt es nichts dafür her, den Selbstmord vom Schutzbereich des allgemeinen Freiheitsrechts auszunehmen. Denn dann dürfte sich auch ein Betrunkener oder Geisteskranker nicht auf das Freiheitsrecht berufen, sondern wäre schutzlos, weil seine Handlungen ebenfalls nicht selbstbestimmt sind. Diese Konsequenz wird aber nicht gezogen198; daraus folgt, dass solche Argumente richtigerweise allenfalls auf Rechtfertigungsebene eine Rolle spielen können. Damit wurde gezeigt, dass es zwar gewichtige Einwände gegen ein absolutes, nicht einschränkbares Recht auf Selbstmord geben mag, dass diese Einwände jedoch auf der Ebene der Rechtfertigung zu behandeln sind. Das allgemeine Freiheitsrecht schützt auch den Selbstmord; zu seiner Unterbindung muss der Staat einen sachlichen Grund anführen können. Welche Gründe hier legitim sind, wird weiter unten untersucht werden. 2. Schutz des Selbstmordes durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht Merkwürdigerweise wurde die Frage, ob der Selbstmord nicht auch durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht geschützt ist, bisher vernachlässigt. Das mag an dem Irrweg liegen, der in der Unterscheidung zwischen „Tun“ und „Sein“ zur Abgrenzung des allgemeinen Freiheitsrechts vom Persönlichkeitsrecht eingeschlagen wurde, denn dieser Unterscheidung zufolge ist ein Selbstmord als „aktive“ Handlung immer der „Handlungsfreiheit“ zuzuordnen. Begreift man das allgemeine Persönlichkeitsrecht jedoch in seinem Kern als Recht, ethische Entscheidungen mit hoher Präferenz selbstbestimmt fällen und durchführen zu können, so liegt eine Einbeziehung des Selbstmordes nahe. Zwar mag man der Ansicht sein, ein Leben sei nur dann ein gut gelebtes, wenn es mit einem natürlichen Tod endet. Jedoch wird auch die Entscheidung, sich selbst zu töten, Ausdruck einer ethischen Position sein. Beispielsweise kann der Betreffende der Auffassung sein, zu einem selbstbestimmt gelebten Leben gehöre auch ein selbstbestimmtes Ende, oder ein Schwerstkranker kann davon ausgehen, ein Ende unter von ihm als sinnlos und entwürdigend empfundenen Schmerzen entspreche weniger seinem Lebensplan als der Freitod. In solchen Fällen liegt es 197 Götz, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 109; Martens, DÖV 1976, 457 (459). 198 Vgl. dazu nur Rüfner, in: HdStR V, § 116, Rn. 27.
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auf der Hand, dass sich in der Entscheidung für den Selbstmord eine ethische Position von hoher Präferenz ausdrückt. Aber kann dies wirklich für jeden Selbstmord angenommen werden? Wie ist es mit demjenigen, der einfach aus Verzweiflung über seine Schulden oder darüber, dass ihn seine Ehefrau verlassen hat, Selbstmord begeht? Bei genauer Betrachtung zeigt sich, dass auch in diesen Fällen das allgemeine Persönlichkeitsrecht eingreift. Denn der Grund für die Selbsttötung liegt auch in diesen Fällen darin, dass der Betroffene davon ausgeht, dass der Tod besser sei, als das Leben unter den gegebenen Umständen weiterleben zu müssen; insofern manifestiert sich auch in solchen Taten eine individuelle Entscheidung über das gute, oder vielleicht besser: am wenigsten verfehlte Leben. Man mag das als unvernünftig ansehen oder vielleicht die Freiwilligkeit und Ernsthaftigkeit eines unter solchen Umständen gefassten Entschlusses anzweifeln. Wie sich solche Mängel auswirken, ist jedoch, wie dargelegt, keine Frage, die im Schutzbereich eines Grundrechts zu entscheiden ist, sondern auf Rechtfertigungsebene. Auf Schutzbereichsebene dagegen ist der Selbstmord vom allgemeinen Persönlichkeitsrecht erfasst199. 3. Schutz des Selbstmordes durch Art. 2 II GG? Teilweise wird auch vertreten, dass der Selbstmord nicht nur durch Art. 2 I GG, sondern auch durch Abs. 2, also das Recht auf Leben, geschützt sein soll200. Das erscheint deshalb problematisch, weil Abs. 2 als Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe in das Leben gemeint ist und nicht eine Freiheit, zu leben oder es eben bleiben zu lassen, schützen soll201. Die Meinung, die den Selbstmord unter Abs. 2 subsumieren will, hat jedoch insofern ein berechtigtes Anliegen, als ein Schutz des Selbstmordes nur durch das allgemeine Freiheitsrecht unzureichend wäre, da der Selbstmord dann auf einer Stufe mit Taubenfüttern oder Reiten im Walde geschützt wäre; die besondere Bedeutung einer Selbsttötung kann durch den Schutz des allgemeinen Freiheitsrechts nicht adäquat erfasst werden. Besser als Art. 2 II GG ist dafür jedoch das allgemeine Persönlichkeitsrecht geeignet, denn beim Selbstmord geht es, wie dargelegt, in erster Linie um die Umsetzung einer Entscheidung von hoher ethischer Präferenz. So kann man einen gegenüber dem allgemeinen Freiheitsrecht erhöhten Schutz des Selbstmordes erreichen, ohne die künstlich wirkende Konstruktion über das Recht auf Leben bemühen zu müssen. 199 Im Ergebnis ebenso Günzel, Das Recht auf Selbsttötung, seine Schranken und die strafrechtlichen Konsequenzen, 95 ff. Angedeutet bei Sachs, Grundrechte, B 2, Rn. 81. 200 Fink, Selbstbestimmung und Selbsttötung, 110; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 392. 201 Schwabe, JZ 1998, 66 (69).
B. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht
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IV. Schutz vor Paternalismus durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht 1. Paternalismus und Autonomie Der Begriff der Autonomie ist synonym mit dem der Selbstbestimmung. Gemeint ist die Möglichkeit und Fähigkeit des Individuums, frei dem eigenen Willen gemäß zu handeln und die Gesetze, Normen und Regeln des Handelns selbstverantwortlich zu entwerfen202. Beide Begriffe können aber in zweifacher Hinsicht verwendet werden. Insbesondere in der Rechtssprache werden sie häufig im Sinne allgemeiner Handlungsfreiheit verstanden203. Selbstbestimmung bedeutet dann, tun und lassen zu können, was man will. Es sind dann auch Handlungen eingeschlossen, die die Rechte anderer beeinträchtigen, wie beispielsweise das Musikhören in einer Lautstärke, die andere belästigt, oder auch Straftaten: Wenn man tun und lassen kann, was man will, sind eben auch Diebstähle, Betrügereien und Morde zunächst geschützt. Dieses Verständnis von Autonomie wird im Folgenden Autonomie im weiteren Sinne (i. w. S.) genannt werden. Man kann Selbstbestimmung bzw. Autonomie aber auch in einem anderen, engeren Sinne verstehen. Wenn jemand sagt: „Diese Frage kann ich autonom entscheiden“, so ist damit in der Regel gemeint, dass die Frage nur ihn selbst etwas angeht. Ob man einen Diebstahl begeht oder andere mit Lärm belästigt, kann man in diesem Sinne eben nicht „autonom“ entscheiden, weil die legitimen Interessen anderer betroffen sind. Insofern wird hier von Autonomie im engeren Sinne (i. e. S.) gesprochen. Der Ort im Rahmen einer Grundrechtsprüfung, an dem die Interessen des Staates offengelegt werden müssen, ist die der Verhältnismäßigkeitsprüfung vorgeschaltete Untersuchung des legitimen Zwecks des staatlichen Grundrechtseingriffs. Die Autonomie i. w. S., also das allgemeine Freiheitsrecht, kann auch als „allgemeine Eingriffsfreiheit“204 gekennzeichnet werden; dabei ist dieses Recht betroffen, wenn aus einem beliebigen Zweck eingegriffen wird. Die Autonomie i. e. S. kann dagegen etwas unschön auch „allgemeine Paternalismusfreiheit“ genannt werden: Sie ist stets berührt, wenn der Staat nicht aus Gründen des Allgemeinwohls oder des Schutzes Dritter, sondern zum Schutz des Betroffenen selbst eingreift.
202 203 204
Brockhaus Enzyklopädie, 20. Band, Stichwort „Selbstbestimmung“, 87 f. Beispielsweise bei Sachs, in: Sachs, GG, Rn. 43 vor Art. 1. Erichsen, in: HdStR VI, § 152, Rn. 17.
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2. Autonomie i. e. S. und allgemeines Freiheitsrecht Es soll hier gezeigt werden, dass die Autonomie im engeren Sinn vom allgemeinen Persönlichkeitsrecht geschützt wird. Da das allgemeine Persönlichkeitsrecht ein Ausschnitt aus dem allgemeinen Freiheitsrecht ist, muss dafür zuerst untersucht werden, ob das allgemeine Freiheitsrecht gegen Paternalismus schützt. Sobald dies bejaht wurde, kann die Frage untersucht werden, ob auch das Persönlichkeitsrecht einschlägig ist. Versteht man das allgemeine Freiheitsrecht als allgemeine Eingriffsfreiheit und die Autonomie i. e. S. als allgemeine Paternalismusfreiheit, so wird deutlich, dass die Autonomie i. e. S. ein Ausschnitt des allgemeinen Freiheitsrechts ist: Sie erfasst nämlich nicht den Schutz vor allen denkbaren Freiheitsbeschränkungen, sondern nur vor bestimmten, nämlich denen mit paternalistischer Tendenz. Damit ist es möglich, die Autonomie i. e. S. als eigenen Schutzgegenstand des allgemeinen Freiheitsrechts herauszustellen. Wird beispielsweise einem Bürger aus paternalistischen Motiven heraus, nämlich um eine Schädigung seines Gehörs zu vermeiden, der Besuch einer Disko untersagt, so kann man diesen Eingriff in doppelter Weise untersuchen: Zum einen wird sein Recht, in die Disko zu gehen, das durch Art. 2 I GG geschützt ist, beeinträchtigt. Zum anderen wird aber auch seine Autonomie i. e. S. berührt, also die „allgemeine Paternalismusfreiheit“, die ebenfalls durch Art. 2 I GG erfasst ist. Es drängt sich die Frage auf, ob durch diese Unterscheidung ein Erkenntnisgewinn gelungen ist. Es könnte der Eindruck entstehen, es würde auf diese Weise eine unnötige Doppelprüfung vorgenommen werden, indem derselbe staatliche Akt zweimal an Art. 2 I GG gemessen wird. Eine zweifache Prüfung macht nur dann Sinn, wenn dadurch auch zwei qualitativ unterschiedlich gelagerte Aspekte eines staatlichen Akts an der Verfassung gemessen werden können. Es wird daher zu untersuchen sein, ob eine Beeinträchtigung mit paternalistischer Zwecksetzung sich qualitativ von Beeinträchtigungen zum Schutz Dritter oder der Allgemeinheit so unterscheidet, dass es gerechtfertigt ist, diesen Aspekt besonders herauszustellen. Das wäre auf jeden Fall dann zu bejahen, wenn gezeigt werden könnte, dass die Autonomie i. e. S. Ausdruck einer ethischen Position hoher Relevanz ist, und somit nicht lediglich vom allgemeinen Freiheitsrecht, sondern auch vom allgemeinen Persönlichkeitsrecht geschützt wird. Im Beispielsfall könnte sich der Bürger, der sich einem Diskoverbot ausgesetzt sieht, in Bezug auf den Diskobesuch an sich zwar nur auf das allgemeine Freiheitsrecht berufen, da nicht ersichtlich ist, dass ein Diskobesuch eine derartige Persönlichkeitsrelevanz hätte, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht einschlägig wäre. Zusätzlich stände dem Bürger aber wegen der paternalistischen Zielrichtung dieses Eingriffs das allgemeine Persönlichkeitsrecht zur Seite. Wer nicht nur in seinem allgemeinen Freiheitsrecht, sondern beispielsweise in seiner
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Berufsausübung in paternalistischer Weise behindert wird, wäre dann unter dem Aspekt der Berufsbeeinträchtigung durch Art. 12 GG und zusätzlich unter dem der Autonomie i. e. S. durch Art. 2 I i.V. m. 1 I GG geschützt. 3. Autonomie i. e. S. und allgemeines Persönlichkeitsrecht Es ist eine allgemeine Erfahrung, dass Menschen gereizt reagieren, wenn sich andere unbefugt in ihre Angelegenheiten einmischen. Es scheint also eine Konstante menschlichen Verhaltens zu sein, Einflussnahmen auf das eigene Verhalten nur insoweit hinzunehmen, als diese durch berechtigte Interessen der Einflussnehmenden gerechtfertigt sind. Jeder kann akzeptieren, dass seine Freiheit zugunsten der Rechte anderer oder von Gemeinwohlbelangen eingeschränkt werden darf. Anders ist die Lage jedoch bei staatlichem Paternalismus: Hier besteht aus Sicht des Einzelnen kein Grund, eine Beschränkung seiner Rechte hinzunehmen; der Betroffene hat vielmehr ein Interesse daran, seine Angelegenheiten selbst zu regeln. Demnach liegt das eigentliche Problem von Paternalismus nicht darin, dass die konkret beeinträchtigten eigenen Interessen, wie beispielsweise das Rauchen, notwendigerweise besonders gewichtig oder besonders persönlichkeitsrelevant wären, sondern es geht um das abstrakte Interesse des Einzelnen, ganz allgemein Fragen, die nur ihn selbst betreffen, auch selbst entscheiden zu können205. Anders gesagt: Es geht ums Prinzip. Das Prinzip, das betroffen ist, lautet: Fragen, die nur mich selbst betreffen, entscheide ich selbst; ich fordere Autonomie (i. e. S.) ein. Diese Forderung hat keinen primär moralischen Charakter: Es geht nicht in erster Linie darum, dass man verpflichtet wäre, für sich selbst Verantwortung zu übernehmen. Vielmehr steht das „Ich“ im Vordergrund: Ich entscheide selbst. Es entspricht dem Selbstverständnis des Einzelnen, Fragen, die nur ihn betreffen, auch autonom entscheiden zu können. Wo aber das Selbstverständnis des Einzelnen betroffen ist, da geht es um ethische Entscheidungen hoher Präferenz und somit um das allgemeine Persönlichkeitsrecht. Indem dieses im Kern die Gewährleistung von Autonomie in ethischen Fragen hoher Präferenz enthält, erfasst es auch die Autonomie i. e. S. Dass der Einzelne grundsätzlich das Recht hat, ausschließlich ihn selbst betreffende Fragen auch selbst zu entscheiden, mag heute als so selbstverständlich gelten, dass es kaum noch bewusst wahrgenommen wird. Die Bedeutung dieses Rechts kann man sich aber vor Augen führen, wenn man sich ein System vorstellt, das diesen Grundsatz nicht kennt, in dem vielmehr der Staat umfassende Handlungsbefugnisse hat, um zum vermeintlich Besten der Bürger zu handeln: Man könnte sich umfassende Zwangsuntersuchungen vorstellen, auf deren Basis 205
s. oben 1. Kap. A. I.
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2. Kap.: Ein Recht gegen Paternalismus
per Verwaltungsakt Ernährungspläne zusammengestellt werden, deren Einhaltung selbstverständlich überwacht wird; auch entscheidet der Staat allein darüber, welche ärztliche Behandlung oder Operation zum Besten eines Erkrankten durchgeführt wird; vielleicht sucht eine staatliche Behörde den jeweils richtigen Ehepartner aus oder muss zumindest jeden Vorschlag eines heiratswilligen Paares aufgrund von Persönlichkeitstests genehmigen – und all dies geschieht nur zum Besten der Bürger. Es ist evident, dass dieser Staat schon aufgrund seines Verhältnisses zu den Bürgern, denen die Fähigkeit zur eigenverantwortlichen Lebensgestaltung abgesprochen und die so gleichsam entmündigt werden, nicht mehr freiheitlich zu nennen wäre. Heute sind wir von solchen Verhältnissen weit entfernt. Dass ein Recht zur Selbstbestimmung also möglicherweise wegen seiner Selbstverständlichkeit nicht bewusst wahrgenommen wird, ist einerseits erfreulich, darf jedoch andererseits nicht den Blick dafür trüben, dass die Selbstbestimmung i. e. S. Ausdruck des Selbstverständnisses des Einzelnen ist, der sein Leben an selbstgesetzten Werten ausrichten will. Es ist auch gar nicht notwendigerweise erforderlich, dass dem Einzelnen die Einstellungen, die für sein Selbstverständnis konstitutiv sind, bewusst sind. Denn das Selbstverständnis des Einzelnen wird zum großen Teil durch Sozialisation erworben, indem es durch kollektive Identitäten und übergreifende historische Zusammenhänge geprägt wird206. Die Autonomie i. e. S. gehört damit nicht etwa zu der Fallgruppe der Voraussetzungen einer Persönlichkeitsentfaltung, denn die Voraussetzungen stellen für sich genommen nur Hilfsmittel dar, damit eine Persönlichkeitsentfaltung gelingen kann, ohne aber selbst auf ethischen Positionen zu beruhen207. Die Autonomie i. e. S. beruht aber auf der ethischen Position, selbst entscheiden zu können, was den Staat nichts angeht. Wenn der Schutz der Autonomie i. e. S. aber auch nicht zu den „Voraussetzungen“ der Persönlichkeitsentfaltung zählt, so ist er doch in mancher Hinsicht grundlegend für diese. Während es bei den bisher behandelten Beispielen der ersten Fallgruppe des Persönlichkeitsrechts um konkrete Handlungen mit hoher Persönlichkeitsrelevanz ging, etwa im Zusammenhang mit Beruf oder Sexualität, ist die Autonomie i. e. S. weiter, grundlegender, denn sie schützt in Bezug auf beliebige Handlungen vor Paternalismus. In jedem Paternalismus, auch in den „kleinen“ Fällen, zeigt sich eine gewisse Geringschätzung des Staates für seine Bürger: „Sie sind nicht fähig, ihre Freiheit zu nutzen und für sich selbst zu sorgen.“ Umgekehrt kann der Bürger in jedem einzelnen Fall, in dem er seine Autonomie i. e. S. wahrnimmt, seinen Lebensentwurf als den eines freien, selbstbestimmten Menschen ein Stück weit umsetzen.
206 207
Vgl. Habermas, in: ders., Erläuterungen zur Diskursethik, 100 (105 f.). s. oben II. 2. b) cc).
B. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht
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4. Paternalismus und Grundrechtsprüfung; insbesondere: mehrere Eingriffszwecke Paternalistische Rechtsakte sind daher stets an zwei Grundrechten zu prüfen: Zum einen ist die Rechtmäßigkeit des paternalistischen Akts anhand des allgemeinen Persönlichkeitsrechts zu beurteilen. Zum anderen muss das Grundrecht geprüft werden, das durch den Rechtsakt eingeschränkt wird (dieses wird im Folgenden das „direkt“ betroffene Grundrecht genannt). Geht es also beispielsweise um ein ausschließlich paternalistisch motiviertes Rauchverbot, so muss die Zulässigkeit des paternalistischen Zwecks durch eine Prüfung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ermittelt werden. Das Rauchverbot als solches greift zudem in das allgemeine Freiheitsrecht ein und ist daher an diesem zu messen. Diese beiden Grundrechtsprüfungen stehen jedoch nicht unverbunden nebeneinander. Denn bei der Prüfung des Rauchverbots am allgemeinen Freiheitsrecht taucht im Rahmen der Schranken-Schranken die Frage nach dem legitimen Zweck des staatlichen Handelns auf. Es ist dann zu untersuchen, ob staatlicher Paternalismus ein legitimer Gesetzeszweck ist, was sich danach beurteilt, ob er gegen das Recht auf Paternalismusfreiheit verstößt. Es gibt daher zwei Aufbaumöglichkeiten: Entweder prüft man die Zulässigkeit des paternalistischen Regelungsziels zuerst. Ist dieses gerechtfertigt, liegt also kein Verstoß gegen das allgemeine Persönlichkeitsrecht vor, so kann übergegangen werden zur Prüfung des direkt betroffenen Grundrechts. Dort stellt sich dann die Frage, ob Paternalismus als Gesetzeszweck in diesem Fall zulässig ist. Diese Frage ist dann aufgrund der vorangegangenen Prüfung zu bejahen, so dass die Verhältnismäßigkeit, also Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit, untersucht werden kann. Zumindest in den Fällen, in denen das direkt betroffene Grundrecht nur das allgemeine Freiheitsrecht ist, wie etwa beim Rauchverbot, werden dann keine weiteren Probleme auftauchen: Wenn sogar der Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht gerechtfertigt werden kann, dann ist der Eingriff in das allgemeine Freiheitsrecht erst recht zu rechtfertigen. Beim Fall des paternalistischen Rauchverbots wäre also der Eingriff in das allgemeine Freiheitsrecht dann gerechtfertigt, wenn der Eingriff in das Recht auf Paternalismusfreiheit gerechtfertigt wäre. Ist dagegen der Paternalismus nicht gerechtfertigt, so liegt ein Verstoß gegen das allgemeine Persönlichkeitsrecht und, mangels eines legitimen Zwecks der Beschränkung, auch gegen das direkt betroffene Grundrecht vor. Die andere Möglichkeit ist, mit der Prüfung des direkt betroffenen Grundrechts zu beginnen. Bei der Untersuchung der Frage, ob Paternalismus als Gesetzeszweck zulässig ist, muss dann die Prüfung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts eingeschoben werden. Geht diese negativ aus, so liegt ein Verstoß
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2. Kap.: Ein Recht gegen Paternalismus
gegen das Persönlichkeitsrecht und das direkt betroffene Grundrecht vor. Geht sie dagegen positiv aus, so kann die übrige Verhältnismäßigkeit geprüft werden. In den meisten Fällen wird es so liegen, dass ein bestimmter Rechtsakt nicht nur einen Zweck verfolgt. So kann ein Rauchverbot beispielsweise zugleich den Zweck haben, die Raucher selbst vor ihrem eigenen Verhalten, Dritte vor dem Passivrauchen und die Allgemeinheit vor Folgekosten zu schützen. Eine Lautstärkenbegrenzung in Diskotheken kann zugleich den Zweck haben, die Hörfähigkeit der Diskogänger und den ungestörten Schlaf der Nachbarn zu gewährleisten. Kann sich der Betroffene auch in diesen Fällen auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht berufen? Versteht man die Autonomie i. e. S. als allgemeine Paternalismusfreiheit, so ist kein Grund ersichtlich, warum diese nicht auch einschlägig sein sollte, wenn der aufgedrängte Schutz nur eines von mehreren Zielen des Rechtsakts ist. Denn wenn ein Gesetz mehrere Zwecke verfolgt, so muss für jeden Einzelnen getrennt geprüft werden, ob er legitim ist oder nicht. Das kann durchaus Auswirkungen auf das Ergebnis der Prüfung haben. Man kann sich beispielsweise ein allgemeines Rauchverbot vorstellen, bei dem als legitime Zwecke zum einen der Schutz von Dritten, nämlich Passivrauchern, zum anderen der Schutz der Raucher vor sich selbst in Betracht kämen. Hält man den Paternalismus in diesem Fall für zulässig, so könnte unter Umständen ein allgemeines Rauchverbot gerechtfertigt werden. Lehnt man ihn dagegen ab, so könnte aufgrund des Aspekts des Schutzes der Passivraucher möglicherweise nur ein auf öffentliche Plätze beschränktes Rauchverbot Bestand haben. Dieses Beispiel illustriert die Notwendigkeit, die Gesetzeszwecke genau auseinander zu halten und ihre Legitimität als Voraussetzung für die Prüfung der eigentlichen Verhältnismäßigkeit getrennt zu untersuchen. Paternalismus ist dabei jeweils am allgemeinen Persönlichkeitsrecht zu messen, unabhängig davon, ob das Gesetz noch andere Zwecke verfolgt.
5. Fazit Jeder staatliche Paternalismus greift in das im allgemeinen Persönlichkeitsrecht enthaltene Recht auf Autonomie i. e. S. ein, also das Recht, Fragen, soweit sie ausschließlich einen selbst betreffen, auch selbst entscheiden zu können. Ein Ansatz, der Paternalismus nur im Rahmen des legitimen Gesetzeszwecks untersucht, ist daher verkürzt; er verleitet zu einem vorschnellen Entweder-Oder und hat kein Potential für möglicherweise erforderliche Differenzierungen. Anders bei einer Zuordnung zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht: Durch die Herausarbeitung der Struktur des Rechts wurde eine dogmatische Grundlage geschaffen, die auch für weitere sich im Rahmen der Erörterung stellende Probleme geeignet sein sollte.
C. Das Recht im Sinne des Grundgesetzes
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C. Das Recht im Sinne des Grundgesetzes I. Das Problem Es war herausgearbeitet worden, dass die moraltheoretische Ausgangsfrage bei der Beschäftigung mit dem Paternalismusproblem ist, ob es ein moralisches Recht gegen Paternalismus gibt (oben A.). Sodann war hergeleitet worden, dass das Grundgesetz ein Grundrecht gegen Paternalismus bereithält (oben B.). Damit ist die Frage, ob das Grundgesetz ein Recht gegen Paternalismus enthält, das einem moralischen Recht entspricht, aber noch nicht abschließend beantwortet. Denn es ist noch die Möglichkeit zu beachten, dass das Grundgesetz unter einem Recht etwas anderes versteht als die Philosophie. Man darf sich keinesfalls von der gleichlautenden Terminologie blenden lassen; vielmehr ist in materieller Hinsicht zu untersuchen, welchen Inhalt ein moralisches Recht gegen Paternalismus auf der einen Seite und ein Grundrecht im Sinne des Grundgesetzes auf der anderen Seite aufweisen. Welchen Inhalt ein philosophisches Recht gegen Paternalismus haben muss, wurde bei der Vorstellung von Feinbergs Ansatz deutlich: Ein solches Recht auf Autonomie (i. e. S.) müsste dem Einzelnen die Souveränität über sich selbst in einer mit dem Souveränitätsrecht der Staaten vergleichbaren Weise verleihen208. Es ist daher im Folgenden zu untersuchen, ob das allgemeine Persönlichkeitsrecht einen entsprechenden Inhalt aufweist, oder ob es nur einen weniger intensiven Schutz bietet. Im ersten Fall könnte geschlossen werden, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht einen Schutz vor Paternalismus enthält, der dem eines moralischen Rechts gleichkommt. Im zweiten Fall müsste dies verneint werden. Kennzeichnendes Merkmal moralischen Rechts gegen Paternalismus ist, dass eine Einmischung von Seiten des Staates nicht allein aus dem Grund gestattet sein kann, dass sich der Betroffene selbst schlecht „regiert“. Anders ausgedrückt: Ebenso wie die Souveränität eines Staates nicht verletzt werden darf, nur weil eine andere Regierung bessere Entscheidungen für das Land treffen würde, darf auch der Einzelne – unter der Voraussetzung, dass er ein moralisches Recht gegen Paternalismus hat – nicht deshalb paternalistisch bevormundet werden, weil er seine Freiheit schlecht oder verwerflich oder schädlich gebraucht. Für die juristische Betrachtung ist daher entscheidend, ob das allgemeine Persönlichkeitsrecht in diesen Fällen eingeschränkt werden kann. Auch wenn diese Frage im juristischen Sinn schon die Rechtfertigungsmöglichkeit von Eingriffen in das Recht auf Paternalismusfreiheit berührt, geht es doch materiell noch um das Problem, ob das Grundgesetz überhaupt ein „echtes“ Recht gegen Paternalismus enthält. Denn wenn sich ergeben würde, dass das allge208
s. oben A. III. 2.
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2. Kap.: Ein Recht gegen Paternalismus
meine Persönlichkeitsrecht allein aus dem Grund eingeschränkt werden kann, dass der Einzelne seine Freiheit in verwerflicher Weise gebraucht, dann entspräche das Grundrecht auf Autonomie i. e. S. gar keinem Recht im moralischen Sinn; eine – für die weitere Interpretation des Grundgesetzes möglicherweise hilfreiche – Parallele von Philosophie und Grundgesetz würde dann insoweit gerade nicht bestehen.
II. Hillgrubers Ansatz Hillgruber hat zu diesem Problem einen interessanten Ansatz entwickelt. Er untersucht Paternalismus nicht aus der Sicht des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, sondern misst ihn an den verschiedenen einschlägigen Einzelgrundrechten, insbesondere an Art. 2 I GG. Er fragt sich dann, ob sich eine allgemeine Regel aufstellen lässt, die die Frage beantwortet, ob der Schutz des Einzelnen vor sich selbst ein legitimer Gesetzeszweck ist. Zur Lösung dieser Frage untersucht er die Schrankenregelung des Art. 5 II GG, und überlegt, die Grundsätze, die das Bundesverfassungsgericht hier entwickelt hat, auf den allgemeinen Gesetzesvorbehalt des Art. 2 I GG zu übertragen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind solche Gesetze allgemein, die „,nicht eine Meinung als solche verbieten, die sich nicht gegen die Äußerung der Meinung als solche richten‘, die vielmehr ,dem Schutze eines schlechthin, ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung, zu schützenden Rechtsguts dienen‘, dem Schutze eines Gemeinschaftswerts, der gegenüber der Betätigung der Meinungsfreiheit den Vorrang hat“209. Hillgruber argumentiert, dass nicht dieser Vorbehalt, sondern die Schranke des Jugend- und Ehrschutzes die Besonderheit des Art. 5 II GG bildeten und den Gesetzesvorbehalt zu einem qualifizierten machten210. Das Erfordernis der Allgemeinheit des einschränkenden Gesetzes bestehe in Wirklichkeit für jeden Gesetzesvorbehalt und daher auch für den des Art. 2 I GG. „Auch die Handlungsfreiheit begrenzende Gesetze dürfen sich nicht gegen eine bestimmte Handlung als solche richten, sondern haben dem Schutz eines Gemeinschaftsgutes zu dienen. So wie die allgemeinen Gesetze im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG Meinungsneutralität wahren müssen, haben ,allgemeine‘ Handlungsbeschränkungen und -verbote gegenüber der Ausübung der Handlungsfreiheit neutral zu sein. Weder Unwert noch ,Schädlichkeit‘ einer Handlung berechtigen für sich genommen, dem Einzelnen ein bestimmtes Verhalten zu verbieten.“211 Wenn Hillgruber Recht hätte, wäre damit die Frage, ob das Grundgesetz ein einem moralischen Recht gegen Paternalismus gleichkommendes Grundrecht enthält, im positiven Sinn zu beantworten. Zwar hat er, wie bereits angedeutet, 209 210 211
BVerfGE 7, 198 (209 f.). Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 118. Ebd., 119.
C. Das Recht im Sinne des Grundgesetzes
103
seinen Ansatz nicht in Bezug auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht entwickelt, sondern er erörtert die gesamte Problematik unter dem Prüfungspunkt „legitimer Zweck“ im Rahmen der Rechtmäßigkeit des Verbots des betreffenden Verhaltens. Dennoch könnten seine Gedanken für den hier vertretenen Ansatz fruchtbar gemacht werden. Die These würde dann lauten, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht, also das Recht auf Freiheit in ethischen Fragen von hoher Präferenz, nicht aus dem Grund eingeschränkt werden darf, dass der Betroffene sich in diesen ethisch wichtigen Fragen „falsch“ verhält. Es wurde dargelegt, dass zu diesen ethisch wichtigen Positionen auch das Recht gehört, sein Leben frei von staatlichem Paternalismus zu gestalten. Aus Hillgrubers Ansicht würde dann folgen, dass dieses Recht nicht aus dem Grund eingeschränkt werden darf, dass der Betroffene seine Freiheit „falsch“ oder „schlecht“ gebraucht. Hillgruber ist im Ergebnis, nicht aber in der Begründung zuzustimmen. Zwar hat ist ihm zuzugeben, dass es in der Tat seltsam anmutet, wenn ein Grundrecht deshalb eingeschränkt werden kann, weil es in verwerflicher Weise gebraucht wird. Ebenso wie die Meinungen nicht unterdrückt werden dürfen, wenn sie „schädlich“ sind, liegt es nahe, dem Einzelnen nicht zuerst ein Recht auf Selbstbestimmung i. e. S. zuzusprechen, nur um es im nächsten Schritt wieder zu entziehen, wenn es nicht in dem gewünschten Sinne gebraucht wird. Allerdings ist Hillgrubers Auffassung insoweit zu bezweifeln, als er sie verallgemeinert auf alle Grundrechte anwenden möchte. Schlink hat überzeugend dargelegt, dass jeweilige Zweckverbote für jedes Grundrecht einzeln ermittelt werden müssen. Er wendet sich gegen eine von ihm beobachtete Tendenz zur „Entdifferenzierung der verschiedenen Freiheitsrechte“, die dazu führe, dass die Verschiedenheit verschiedener Grundrechte verkannt werde212. Als Beispiel bringt er den Fall, dass möglicherweise plausibel dargelegt werden könne, dass das an Hochschulabsolventen gerichtete Verbot, länger als ein Jahr am Hochschulort oder in dessen Nähe wohnen zu bleiben, geeignet und notwendig zur Erreichung einer bundesweit gleichmäßigen Versorgung mit Lehrern, Ärzten und Juristen sei. Das dabei verwandte Zweckargument, mit dem für Eingriffe etwa in den Bereich des Berufs der Argumentationslast durchaus zu genügen wäre, versage jedoch für Eingriffe in den durch Art. 11 GG geschützten Bereich der geographischen Mobilität213. Dieses Beispiel zeigt schon, dass ein Ansatz, der beansprucht, für alle Grundrechte Geltung zu haben, zwar nicht notwendigerweise falsch sein muss, aber jedenfalls dann auch für alle Grundrechte einzeln hergeleitet werden muss. Es scheint also methodisch verfehlt, wie Hillgruber für alle Grundrechte einen bestimmten Zweck pauschal auszuschließen, ohne die Besonderheiten der betroffenen Grundrechte genauer zu analysieren.
212 213
Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, 199 ff. Ebd., 200.
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2. Kap.: Ein Recht gegen Paternalismus
Anders als bei Hillgrubers Ansatz wird hier jedoch Paternalismus von vornherein nur an einem einzigen Grundrecht gemessen, nämlich dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht. Jedenfalls für diesen Fall erscheint Hillgrubers Auffassung im Ergebnis zutreffend. Jedoch muss die Begründung aus der dogmatischen Struktur des allgemeinen Persönlichkeitsrechts als einem Recht auf Selbstbestimmung in ethischen Fragen hoher Präferenz entwickelt werden. Die ethischen Grundpositionen, die der Einzelne für sein Leben entwickelt, sind in ihrer Bedeutung in etwa mit religiösen Fragen gleichzusetzen – gerade in (teilweiser) Parallele zur der der Religionsfreiheit verwandten Gewissensfreiheit wurde der Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts hier ja entwickelt214. Ebenso wie im Bereich der Religion besteht auch in den Fragen des individuellen guten Lebens eine große Meinungspluralität. Wie man sein Leben führen muss, so dass es ein gelungenes wird, das ist – ähnlich wie religiöse Fragen – zu einem großen Teil „Glaubenssache“ – und zwar nicht nur in dem Sinn, dass es keine allgemein anerkannten objektiven Kriterien für den Erfolg gibt, sondern auch und gerade, weil hier Überzeugungen, die das Fundament der eigenen Persönlichkeit betreffen, auf dem Spiel stehen. Es ist für den Bereich der Religion anerkannt, dass der Staat diese Pluralität hinnehmen muss und nicht etwa bestimmte Religionen deshalb benachteiligen darf, weil ihre Verfolgung „falsch“ oder „der Persönlichkeitsentwicklung hinderlich“ sei. Aufgrund der beschriebenen Parallele sollte dieser Schluss auch für das allgemeine Persönlichkeitsrecht gezogen werden. Die individuellen Antworten auf die Fragen, mit wem man sein Leben verbringen möchte und in welcher Weise, ob und wie man seine Sexualität auslebt, welcher Beruf den eigenen individuellen Vorstellungen vom gelungenen Leben entspricht215, aber eben auch das Recht, selbstbestimmt und ohne paternalistische Bevormundung sein Leben zu führen, sind daher ebenso wie die Frage nach der richtigen Weltanschauung in der Weise geschützt, dass der Staat nicht mit dem Mittel des Zwangs seine eigenen Vorstellungen über das, was in diesen Bereichen „richtig“ ist, durchsetzen darf. Diese Interpretation, die auf den Sinn und Zweck des allgemeinen Persönlichkeitsrechts abstellt, erscheint angemessener als Hillgrubers Versuch, eine einzige Lösung für alle Grundrechte auf einmal zu entwickeln. Im Endergebnis kommt freilich dasselbe heraus. Denn Hillgruber geht es ja auch um die Frage, ob der Staat dem Einzelnen Schutz aufzwingen darf. Nach der hier vertretenen Lösung greift der Staat dadurch immer in das Persönlichkeitsrecht des Betroffenen ein. Daher reicht es, die Frage nach dem legitimen Zweck in Bezug auf dieses zu erörtern. Bejaht man, wie hier geschehen, 214
Vgl. oben B. II. 1. c) cc) (1). Die Berufswahl ist zwar durch Art. 12 GG geschützt. Sie wird dennoch hier erwähnt, weil zuvor die Freiheit im Bereich der Sexualität und der Berufswahl als die beiden zentralen Bereiche der Selbstverwirklichung gesehen wurden. Der letztere Bereich wird dann lediglich durch den spezielleren Art. 12 GG verdrängt. 215
C. Das Recht im Sinne des Grundgesetzes
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die Unzulässigkeit des verfolgten Zwecks zur Rechtfertigung des Eingriffs, so sind damit alle Fälle von Paternalismus erfasst. Hillgruber dagegen diskutiert Paternalismus im Zusammenhang mit der Erörterung des legitimen Zwecks des (in der Regel) die Handlungsfreiheit berührenden paternalistischen Verbots, und dementsprechend muss er eine Lösung finden, die für alle Grundrechte gleichermaßen gilt. Die Tatsache, dass Hillgruber im Ergebnis zu der gleichen Lösung kommt wie der hier vertretene Ansatz, kann als weiterer Beleg dafür gelten, dass die Zusammenfassung der Problematik unter einem einzigen Grundrecht – dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht – durchaus sachangemessen ist: Auf diese Weise kann die Problematik von staatlichem Paternalismus vor dem Hintergrund der Besonderheiten des allgemeinen Persönlichkeitsrechts untersucht werden. Die Interpretation des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, die oben erarbeitet wurde, konnte hier bei der Lösung der Frage nach den legitimen Eingriffszwecken in sinnvoller Weise herangezogen werden. Die dogmatische Konstruktion, Paternalismus als Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht zu sehen, hat sich so schon ein erstes Mal inhaltlich bewährt.
III. Schlussfolgerungen Was folgt aus alldem? Es ist wichtig, sich darüber im Klaren zu sein, was das dargelegte Argument beweisen kann und wo seine Grenzen liegen. Dass die Freiheit des Einzelnen nicht einfach aus dem Grund eingeschränkt werden kann, dass er sie verwerflich benutzt, bedeutet nicht etwa, dass jede Form von Paternalismus unzulässig wäre. Es gibt Fälle, in denen Paternalismus offensichtlich zulässig ist: Man denke an die Fälle von Geisteskranken, die ohne Schutz und Pflege gar nicht zurechtkommen könnten216. Hillgrubers und der hier vertretene Ansatz schließen nur einen Paternalismus aus, der als hinreichenden Grund für ein Einschreiten allgemein den „falschen“ Freiheitsgebrauch des Einzelnen sieht. Das bedeutet nicht, dass Paternalismus nicht aus anderen Gründen gerechtfertigt sein könnte – im Fall des Geisteskranken etwa liegt es nahe, Paternalismus deshalb zuzulassen, weil der Betroffene zu einem selbstbestimmten Leben nicht in der Lage ist. Weiterhin liegt es nahe, den Einfluss von Willensmängeln o. ä. auf die Zulässigkeit von Paternalismus zu untersuchen, oder zu prüfen, ob es der Autonomie zuwiderlaufende, gleichrangige Verfassungsprinzipien gibt. All diese sehr viel differenzierteren Ansätze werden im nächsten Kapitel betrachtet werden. Sie können möglicherweise paternalistische Eingriffe in die Autonomie des Einzelnen rechtfertigen. Wenn Paternalismus aber überhaupt gerechtfertigt werden kann, dann nur unter Anerkennung eines „echten“ Auto216 Heide wirft Hillgruber vor, dass sein Ansatz widersprüchlich sei, weil er sich nicht mit der von Hillgruber ebenfalls anerkannten Legitimität des Schutzes Geisteskranker vertrage (Heide, Medizinische Zwangsbehandlung, 221). Dieser Einwand ist teilweise berechtigt, weil Hillgrubers Ausführungen insoweit unklar sind.
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2. Kap.: Ein Recht gegen Paternalismus
nomierechts des Einzelnen, das diesem gestattet, sein Leben in den Fragen, die nur ihn selbst betreffen, selbst zu gestalten.
D. Fazit Bei einer philosophischen Herangehensweise an das Problem wird deutlich, dass die Ausgangsfrage bei der Beschäftigung mit Paternalismus ist, ob der Einzelne ein moralisches Recht auf Autonomie gegen den Staat hat, das ihn vor Paternalismus schützt. Die juristische Untersuchung ergab, dass im Grundgesetz das allgemeine Persönlichkeitsrecht die Autonomie i. e. S. beinhaltet, die vor staatlichem Paternalismus schützt. Dieses Recht entspricht strukturell insofern einem „echten“ Recht im moralischen Sinn, als es nicht allein aus dem Grund eingeschränkt werden kann, dass der Grundrechtsträger seine Freiheit in einem schlechten oder verwerflichen Sinn gebraucht. Die im Folgenden zu untersuchenden Rechtfertigungsmöglichkeiten für Paternalismus müssen daher von der Existenz eines Rechts gegen Paternalismus unter dem Grundgesetz ausgehen.
Drittes Kapitel
Die Rechtfertigung von Paternalismus Das Grundgesetz schützt das Recht des Einzelnen, über Selbstgefährdungen und -verletzungen autonom zu entscheiden. Damit sind auch die Rechtfertigungsmöglichkeiten für staatlichen Paternalismus eingeschränkt. Es verbleiben nur zwei Möglichkeiten: Zum einen kann gefragt werden, ob die Autonomie des Einzelnen aufgrund von anderen, gleichrangigen Verfassungsprinzipien eingeschränkt werden kann. Zum anderen muss untersucht werden, ob und inwieweit die Entscheidung an gewissen Maßstäben wie etwa Vernünftigkeit oder Freiwilligkeit zu messen ist, um Bestand zu haben.
A. Paternalismus aufgrund von der Autonomie entgegenstehenden Verfassungsprinzipien? Schon oben, bei der Untersuchung der Frage, ob auch der Selbstmord durch das allgemeine Freiheitsrecht geschützt ist, war die Frage aufgetaucht, ob dem grundrechtlichen Schutz des Selbstmordes möglicherweise die objektive Dimension der Grundrechte im Wege steht, so wie es teilweise behauptet wird. Die Frage stellt sich aber nicht nur für den Selbstmord, sondern für die Paternalismusdiskussion insgesamt. Es ist also zu untersuchen, ob dem Einzelnen deshalb ein Schutz gegen seinen Willen aufgedrängt werden kann, weil die Verwirklichung gewisser – „objektiver“ – Prinzipien oder Werte der Verfassung diesen Schutz erfordern oder zumindest verfassungsrechtlich ermöglichen. Welche objektiven Prinzipien kommen in Betracht? Wenn es um Verhaltensweisen geht, die die eigene Gesundheit oder das Leben gefährden, so kann man an Art. 2 II GG und die in ihm enthaltenen Grundrechte auf Leben und Gesundheit denken. Möglicherweise lässt sich aus der Anerkennung eines objektiven Wertes „Leben“ oder „Gesundheit“ eine Erlaubnis an den Staat begründen, Freiheit zum Schutz dieser Güter auch gegen den Willen der Betroffenen zu schützen. Ein anderer Ansatz wäre, Freiheit als solche als objektiven Wert zu verstehen. Für den Selbstmord erscheint es doch so, dass dieser der Freiheit des Suizidenten ein für alle Mal ein Ende setzt. Wenn dargelegt werden könnte, dass es dem Grundgesetz um die Aufrechterhaltung von Freiheit als solcher geht, wäre dies möglicherweise ein Hoffnungsschimmer für den Paternalisten.
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3. Kap.: Die Rechtfertigung von Paternalismus
Und wo es um unmoralisches Verhalten geht, kann möglicherweise die Menschenwürde ins Spiel kommen. Der bekannte Fall des Peepshowverbots zeigt, dass auch die Menschenwürde schon einmal gegen ihren eigenen Träger ins Feld geführt wird – oder genauer: gegen den Willen des eigenen Trägers, denn die Befürworter einer solchen juristischen Vorgehensweise wollen ja nicht dem Betroffenen schaden, sondern dessen sittliche Integrität schützen. Schließlich ist noch auf das in Art. 2 I GG erwähnte Sittengesetz und das Sozialstaatsprinzip des Art. 20 I GG einzugehen, die möglicherweise einen aufgedrängten Schutz legitimieren können.
I. Die objektive Dimension der Grundrechte Die Untersuchung wird an dieser Stelle dadurch zu einer schwierigen Aufgabe, dass sich die Verfassung zu einer möglichen objektiven Dimension der Grundrechte nicht explizit äußert. Man kann allenfalls einige dünne Hinweise finden, die darauf hindeuten mögen, dass die Grundrechte nicht lediglich als subjektive Abwehrrechte gegen den Staat gedacht sind, sondern auch andere Wirkungsweisen haben. So fordert Art. 1 I 2 GG nicht nur die Achtung, sondern auch den Schutz der Menschenwürde durch die staatliche Gewalt. Abs. 3 stellt fest, dass die Grundrechte die drei Gewalten als unmittelbar geltendes Recht binden. Das wird teilweise als Hinweis auf die objektive Dimension der Grundrechte verstanden1. Eine solide textliche Grundlage, die schon aus sich heraus eine extensive Interpretation der Grundrechte erforderlich macht, bietet die Berufung auf Art. 1 I und III GG aber nicht. Ähnlich unklar wie die textliche Basis ist der Begriff der objektiven Dimension der Grundrechte. Alexy hat dargestellt, wie sich dies schon in der terminologischen Vielfalt ausdrückt, die in diesem Zusammenhang verwendet wird: Es kommen vor die Ausdrücke objektive Wertordnung, Wertsystem, verfassungsrechtliche Grundentscheidung, Grundrechte als objektive Normen, wertentscheidende Grundsatznorm, objektivrechtliche Wertentscheidung und viele mehr2. Das Bundesverfassungsgericht hat trotz allem schon früh neben der traditionellen abwehrrechtlichen Seite der Grundrechte eine weitere Grundrechtsdimension ausgemacht. In der Lüth-Entscheidung heißt es: „Ohne Zweifel sind die Grundrechte in erster Linie dazu bestimmt, die Freiheitssphäre des Einzelnen vor Eingriffen der öffentlichen Gewalt zu sichern; sie sind Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat . . . Ebenso richtig ist aber, dass das Grundgesetz, das keine wertneutrale Ordnung sein will, in seinem Grundrechtsabschnitt auch eine objektive Wertordnung aufgerichtet hat.“3 Betrachtet man diese letzte Aussage, 1 Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 77. Kritisch zu dieser Interpretation des Art. 1 III GG aber zu Recht Böckenförde, Staat, Verfassung, Demokratie, 160 f. 2 Alexy, Der Staat 29 (1990), 49 (51) m. w. N.
A. Paternalismus aufgrund von Verfassungsprinzipien?
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so könnte es nahe liegen, dass das Bundesverfassungsgericht Paternalismus zulassen würde. Das folgt aus dem Begriff der objektiven Wertordnung: Auf den Begriff der Werte und die damit verbundene Wertphilosophie wird noch einzugehen sein; es kann jedoch schon hier festgehalten werden, dass einem „Wert“ die Eigenschaft innewohnt, dass er im Prinzip in alle Richtungen ausstrahlt, dass er „rundum wirkt“4. Und die „Objektivität“ des Wertes bestärkt diese Vermutung: Denn wenn ein Wert objektiv gilt, dann liegt nahe, dass seine Geltungskraft eben nicht vom subjektiven Willen des Einzelnen abhängt. Daher kann man die Aussage des Bundesverfassungsgerichts bis zu dieser Stelle durchaus als paternalismusfreundlich interpretieren: Wenn beispielsweise Art. 2 II GG eine Anerkennung der Werte Leben und Gesundheit enthält, und diese Werte in alle Richtungen und objektiv wirken, dann ist auch derjenige von der Wertgeltung erfasst, der sie für sich ablehnt: Der Geltung von objektiven Werten kann eben keiner entrinnen5. Allerdings fährt das Bundesverfassungsgericht an der zitierten Stelle fort und fügt hinzu: „. . . und dass gerade hierin eine prinzipielle Verstärkung der Geltungskraft der Grundrechte zum Ausdruck kommt.“ Das ändert die Sachlage erheblich: Wenn die (und man darf hinzufügen: vorrangig subjektivrechtliche) Geltungskraft der Grundrechte verstärkt werden soll, kann das nicht dadurch gelingen, dass der subjektiven Freiheit des Einzelnen ein objektiver Wert entgegengehalten und so eine Freiheitsbeschränkung legitimiert wird. Dem Bundesverfassungsgericht ging es in der Lüth-Entscheidung auch nicht um einen Fall von Paternalismus, sondern um die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte ins Privatrecht. Im Mitbestimmungsurteil wird das Gericht deutlicher: „Nach ihrer Geschichte und ihrem heutigen Inhalt sind sie in erster Linie individuelle Rechte, Menschen- und Bürgerrechte, die den Schutz konkreter, besonders gefährdeter Bereiche menschlicher Freiheit zum Gegenstand haben. Die Funktion der Grundrechte als objektiver Prinzipien besteht in der prinzipiellen Verstärkung ihrer Geltungskraft, hat jedoch ihre Wurzel in dieser primären Bedeutung. Sie lässt sich deshalb nicht von dem eigentlichen Kern lösen und zu einem Gefüge objektiver Normen verselbständigen, in dem der ursprüngliche und bleibende Sinn der Grundrechte zurücktritt.“6 Genau dies würde aber geschehen, wenn man objektive Werte zur Rechtfertigung von Paternalismus zulässt: Grundrechte würden herangezogen werden, um Freiheitsbeschränkungen des Grundrechtsträgers selbst zu rechtfertigen. Daher kann man die Äußerungen des Bundesverfassungsgerichts wohl so interpretieren, dass es die objektive Wertordnung nicht zur Rechtfertigung von Paternalismus heranziehen würde, auch wenn sich das Gericht noch nicht ausdrücklich geäußert hat. 3 4 5 6
BVerfGE 7, 198 (204 f.). Denninger, in: AK zum GG, Rn. 29 vor Art. 1. Vgl. Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit, 73 f. BVerfGE 50, 290 (337).
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3. Kap.: Die Rechtfertigung von Paternalismus
Das Argument mit dem Wertcharakter der Grundrechte bedarf jedoch noch genauerer Analyse. Es geht auf Rudolf Smend zurück, der den Sinn des Grundrechtskatalogs (der Weimarer Verfassung) darin sah, dass „ein Kultur-, ein Wertsystem“ proklamiert wird. „Staatstheoretisch bedeutet das sachliche Integrationsabsicht, rechtstheoretisch Legitimierung der positiven Staats- und Rechtsordnung: im Namen dieses Wertesystems soll die positive Ordnung gelten, legitim sein.“7 Die Demokratie lebe von einer „von Rechts wegen bestehenden Einigkeit in sachlichen Werten der Volksgemeinschaft“8. Das Verständnis der Grundrechte als Werte – nach Böckenförde „ständige façon de parler“9 in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – hat im Schrifttum erhebliche Kritik hervorgerufen10. Freiheit werde nach dieser Theorie relativiert; ihr Gebrauch werde in wertverwirklichenden und wertgefährdenden unterteilt, Freiheit dementsprechend auf- und abgewertet11. Es bestehe die Gefahr einer „Tyrannei der Werte“12. Eine rationale Begründung für Werte oder eine Wertordnung gebe es indes nicht13. Damit würde aber eine Rechtswissenschaft, die sich auf eine solche Theorie stütze, keine rationalen Ergebnisse begründen können, sondern vielmehr die Berufung auf verfassungsrechtliche Werte lediglich als Verhüllungsformel für den eigenen interpretatorischen Dezisionismus verwenden14. Zudem entfalle mit der rationalen Nachvollziehbarkeit zugleich der Versuch einer Überzeugung15 sowie der freie Zugang zu den Gründen einer hoheitlichen Entscheidung16. Da es für eine solche Jurisprudenz keine objektive Methode gebe, sei nur ein geisteswissenschaftlich-intuitives Vorgehen möglich17. Damit sei die Tür jedoch weit geöffnet für das Einfließen aller möglichen Tageswertungen18. Das Bestre7
Smend, in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 119 (265). Ebd., 89 (93). 9 Böckenförde, NJW 1974, 1529 (1534). 10 Es wird allerdings verteidigt von Jarass, AöR 110 (1985), 363 (367 ff.). 11 Böckenförde, NJW 1974, 1529 (1534). 12 C. Schmitt, in: Säkularisation und Utopie, 37 (59). In der Sache ähnlich Denninger, JZ 1975, 545 (547). 13 Böckenförde, NJW 1974, 1529 (1534); ders., Recht, Staat, Freiheit, 85 f.; Forsthoff, in: FS C. Schmitt, 185 (209); Podlech, AöR 95 (1970), 185 (202, 206 ff.); Stern, Staatsrecht III/2, 1685. 14 Böckenförde, NJW 1974, 1529 (1534); ders., Recht, Staat, Freiheit, 87 f.; ähnlich Bettermann, in: ders., Schriften aus vier Jahrzehnten, 49 (55); vgl. auch Wahl, Der Staat 20 (1981), 485 (502) zu den Schwierigkeiten eines angenommenen „Optimierungsgebotes“. 15 Podlech, AöR 95 (1970), 185 (206). 16 Goerlich, Wertordnung und Grundgesetz, 140. 17 Böckenförde, NJW 1974, 1529 (1534); Forsthoff, in: FS C. Schmitt, 185 (209); ähnlich Schlink, EuGRZ 1984, 457 (463). 8
A. Paternalismus aufgrund von Verfassungsprinzipien?
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ben, der Verfassung zu einer größeren Gewähr zu verhelfen, werde dann gerade verfehlt19. Die Gegenkritik hält der Kritik vor, dass das Bundesverfassungsgericht sich mit seinen Äußerungen gar nicht zur Werttheorie bekennen, sondern lediglich die objektive Wirkungsweise der Grundrechte herausstellen wollte20, und daher ein Kampf gegen ein Phantom geführt werde. In der Tat ist zu beobachten, dass sich das Bundesverfassungsgericht mit der Berufung auf Werte in letzter Zeit eher zurückhält21, ohne seine inhaltlichen Ansichten zu ändern, was die Gegenkritik in ihrer Ansicht, dass der Streit nur um die Terminologie, nicht aber um die Sache geführt wird, bestärken mag. Die juristische Betrachtung darf weder an dem Disput über die Plausibilität der Wertphilosophie stehen bleiben, noch sich an Diskussionen über die passende Begriffswahl („Wert“, „Prinzip“ oder „Auftragsgehalt“22?) aufreiben, sondern hat die hinter der Werttheorie Smends stehenden Gedanken mit denen des Grundgesetzes zu vergleichen. Mit anderen Worten: Es ist zu fragen, ob der materielle Grund hinter Smends Theorie dogmatisch eine Stütze im Grundgesetz findet. Der materielle Grund für die Interpretation von Grundrechten als Werten soll darin liegen, dass die „Einigkeit in sachlichen Werten der Volksgemeinschaft“ den Integrationsvorgang zu einer Erlebnis-, Kultur- und Wertgemeinschaft bestärken soll23. Teilweise heißt es, eine Gesellschaft könne nur Bestand haben, wenn bei aller Vielfalt von Wahrheits- und Wertüberzeugungen eine Gemeinsamkeit von Grundhaltungen gegeben sei, die an allgemein anerkannten Werten orientiert sei24. Wenn man diesen Gedanken auf das Grundrecht auf Leben anwendet, kann man sich vorstellen, dass darin zum Ausdruck kommt, dass das deutsche Volk in seiner Bejahung des Wertes „Leben“ einig sein soll, dass sich diese Bejahung des Lebens in den Gesetzen, die das Leben des Einzelnen schützen, niederschlägt und dass so wiederum der Wertekonsens aufrechterhalten und gestärkt wird25. Dagegen sprechen jedoch zwei Erwägungen. Die erste 18
Böckenförde, ebd., Fn. 54. Forsthoff, in: FS C. Schmitt, 185 (209 f.). 20 Sachs, in: Sachs, GG, Rn. 66 vor Art. 1; Stern, Staatsrecht III/2, 1685. 21 Stern, ebd., m. w. N. aus der Rechtsprechung. 22 Vgl. Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Rn. 4 vor Art. 1 m. w. N. 23 Böckenförde, NJW 1974, 1529 (1533). 24 Messner, in: FS Geiger, 221 (221), der anfügt, dass dies „unbestreitbar“ sein dürfte. Ähnlich Geiger, in: Imboden (Hrsg.), Gedanke und Gestalt des demokratischen Rechtsstaates, 9 (30), für den die Grundrechte (inklusive der von ihm bejahten Werttheorie, vgl. ebd., 26 ff.) ein „Minimum an gemeinsamen Wertvorstellungen“ schaffen. 25 Legt man dieses Verständnis zugrunde, so gelangt man in einen Grenzbereich zwischen paternalistischen und nichtpaternalistischen Zielsetzungen. Einerseits könnte man argumentieren, dass, wenn es um die Aufrechterhaltung eines Wertekonsenses 19
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zweifelt die philosophische Argumentation an, während die zweite die Vereinbarkeit dieser Auffassung mit dem Grundgesetz in Frage stellt. Man kann bezweifeln, ob es überhaupt möglich ist, ein ganzes Volk zu der Bejahung eines bestimmten Wertes zu bekommen. Was das Beispiel des Wertes „Leben“ angeht, so mag dies auf den ersten Blick noch möglich erscheinen. Würde man eine Umfrage durchführen, bei der die Teilnehmer gefragt würden, ob für sie „Leben“ ein Wert sei, so würde dies vermutlich die große Mehrheit bejahen. Insoweit könnte dann tatsächlich ein Konsens festgestellt werden. Das Problem ist jedoch, dass es möglich ist, unter das Konzept „Leben“ viele verschiedene Konzeptionen26 zu subsumieren, die ganz verschiedene Inhalte haben. Diese Kontroverse wird gerade bei der Abtreibungsdebatte deutlich. Man könnte beispielsweise „Leben“ im biologischen Sinn verstehen; die Folge ist, dass selbstverständlich auch der Fötus „lebt“. Zwingend ist die biologische Betrachtungsweise aber nicht. Man könnte „Leben“ aber auch in einem philosophischen oder moralischen Sinn erfassen27. Möglicherweise ist das Ergebnis, dass der Fötus im moralischen Sinn gerade nicht lebt, oder erst ab dem 4. Monat, oder eben doch vom Zeitpunkt der Befruchtung an. Es gibt hier ganz viele verschiedene Möglichkeiten, das Konzept „Leben“ von seinem sehr abstrakten Niveau herunterzuholen und zu konkretisieren28. Ähnlich verhält es sich, wenn man den Wert „Leben“ im Hinblick auf den Selbstmord untersucht. Man kann fragen, was denn das Wertvolle am Leben ausmacht. Die Antwort könnte sein, geht, insoweit ein Gesetz gerade nicht paternalistisch ist: Nicht der Schutz des Betroffenen steht im Vordergrund; man könnte sogar sagen: um ihn geht es gar nicht, sondern nur um die anderen. Der Betroffene hat eine Einschränkung seiner Autonomie hinzunehmen, damit für die Gesellschaft insgesamt ein Wertekonsens erhalten bleibt oder gefördert werden kann. Andererseits wäre auch die Interpretation denkbar, dass es zumindest teilweise auch um Kriterien für ein gutes, gelungenes Leben gehen soll, dass also die Gemeinschaft sich dafür entscheidet, dass ein Leben erfolgreicher und gelungener ist, wenn bestimmte Werte von der Gemeinschaft vorgegeben und zwangsweise durchgesetzt werden; in diesem Fall würde eine echte paternalistische Zielsetzung vorliegen. Eine genaue Grenzziehung, inwieweit eine Argumentation mit objektiven Werten noch paternalistisch genannt werden kann, ist also schwierig. Im Folgenden wird daher auf eine genaue Abgrenzung verzichtet und allgemein untersucht werden, ob ein aufgedrängter Schutz, unabhängig von der genauen Zielsetzung, aufgrund der objektiven Dimension der Grundrechte erlaubt ist oder nicht. 26 Die Unterscheidung von Konzept (concept) und Konzeption (conception) stammt von R. Dworkin; vgl. ders., Law’s Empire, 70 ff.; Taking Rights Seriously, 134 ff. 27 Vgl. Koppernock, Das Grundrecht auf bioethische Selbstbestimmung, 114 ff., der für den Beginn des Lebens auf die Empfindungsfähigkeit abstellen möchte. 28 Bei einer rein moralischen Betrachtung des Schwangerschaftsabbruchs kann man möglicherweise hier stehenbleiben. Je nachdem, ob man den Embryo als vom Wert „Leben“ erfasst sieht oder nicht, ist Abtreibung moralisch erlaubt oder verboten. Bei einer rechtlichen Bewertung geht es jedoch um ein staatliches Verbot mit Strafandrohung, und deshalb ist zumindest noch das Persönlichkeitsrecht der Schwangeren zu beachten, denn auch deren Autonomie müsste als „Wert“ angesehen werden. Dadurch würde die Beurteilung noch schwieriger werden.
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dass es die bloße biologische Existenz ist, die ein Leben wertvoll macht. Oder aber man könnte auf die Fähigkeit zur Selbstbestimmung abstellen, die einem Leben Wert verschafft29. Wiederum gibt es viele verschiedene Konzeptionen, und diese führen zu unterschiedlichen Antworten auf die Frage, wie der Selbstmord moralisch zu beurteilen ist. Während die meisten Menschen zwar allgemein „Leben“ wertvoll finden und insoweit auf der abstrakten Ebene übereinstimmen, endet die Übereinstimmung, sobald man sich konkreteren Ebenen zuwendet. Fragen der Abtreibung oder der Sterbehilfe zeichnen sich in unserer Gesellschaft gerade dadurch aus, dass es hier keinen Konsens gibt. Deshalb kann ein Gesetz, das Abtreibungen verbietet, auch keine konsensstiftende Wirkung haben. Es geht hier nicht um die Frage, wie Abtreibung oder Sterbehilfe moralisch zu beurteilen sind, sondern nur um die These, dass es im Hinblick auf den Wert „Leben“ einen Konsens geben könne – was Abtreibung oder Selbstmord angeht, ist das nicht zu erwarten. Konsensfähig wäre allenfalls die Aussage, dass vorsätzliche Tötungen von Menschen verwerflich sind, ausgenommen der Selbsttötung, oder (für den Fall, dass man den Fötus als Menschen betrachtet) der Abtreibung und im Fall von Menschen, die ihren Selbsttötungswunsch aufgrund von Krankheit nicht mehr selbst ausführen können, ferner außer in den Fällen der Todesstrafe und der Notwehr oder sonstiger Rechtfertigung. Diese Aufzählung zeigt, dass die Argumentation mit dem „Wert Leben“ viel zu pauschal ist, um der Komplexität der Sachlage gerecht werden zu können. Und noch einmal: Das liegt nicht daran, dass einige den Wert Leben eben nicht bejahen. Dann könnte man versuchen, Überzeugungsarbeit zu leisten, um diese Menschen zu „bekehren“. Vielmehr haben sie andere Vorstellungen davon, was genau ein Leben ist oder es wertvoll macht. Da hilft aber Überzeugungsarbeit mit dem Ziel der Konsensbildung nicht weiter, denn ein solcher Konsens ist in einer Gemeinschaft, in der Meinungsfreiheit herrscht, weder erreichbar noch erstrebenswert. Es muss daher angezweifelt werden, dass der materielle Grundgedanke von Smends Theorie, dass gemeinsame Werte identitätsstiftend wirken, für den Fall der Grundrechte überhaupt tragfähig ist. Plausibler erscheint es, dass allenfalls gemeinsame konkrete Anschauungen diese Wirkung 29 Vgl. Raz, Ethics in the Public Domain, 8: „Do we not need certain things – food, warmth, health, absence of pain, etc. – for our survival and physical comfort, and is not the provision of those goods a contribution to our well-being independent to its contribution to any activity we engage in? I think not. The provision of the goods necessary for survival and physical comfort is good instrumentally, in that their absence has a disabling effect. In extremes it makes valuable activities impossible altogether, leaving the possibility of vegetative existence only . . . For these reasons these goods are instrumentally valuable. But are they intrinsically valuable? The answer seems to depend on whether there is value in vegetative existence. I believe that there is none.“ Ähnlich R. Dworkin, Freedom’s Law, 135: „No such assumption is plausible when the life in question is only the insensate life of the permanently vegetative. That kind of life is not valuable to anyone.“
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haben können. So können gläubige Katholiken ihre Gemeinschaft möglicherweise als identitätsstiftend ansehen, wenn und soweit ihre gemeinsamen Anschauungen und Glaubenssätze sie „zusammenschweißen“. In einer pluralistischen Gesellschaft kann man aber solche Gemeinsamkeiten, der sich die Gesellschaft als Ganzes verpflichtet fühlt, nicht herstellen. Der zweite Einwand gegen Smends Theorie ist gerade für die juristische Betrachtung wichtiger, denn es soll argumentiert werden, dass sein Ansatz nicht dem des Grundgesetzes entspricht. Es wäre ja denkbar, dass sich das Grundgesetz den hier als philosophisch verfehlt erkannten Ansatz Smends zueigen gemacht hat; das wäre dann vom Interpreten resiginierend hinzunehmen. Glücklicherweise ist genau das Gegenteil der Fall. Hinter dem Grundgesetz steht gerade nicht der Gedanke, dass gemeinsame Anschauungen und Werte zwingend erforderlich sind, was insbesondere von Krüger eindringlich dargelegt wurde: „Wenn daher im Zeichen solcher Grundrechte das Volk einig sein soll, dann kann diese ihre Wirkung nur darin begründet sein, dass sie eine Entscheidung der Allgemeinheit über Themata ausschließen, über die von vornherein eine Verständigung nicht erwartet werden kann und daher insbesondere eine Mehrheitsentscheidung als eine Vergewaltigung der sittlichen Persönlichkeit empfunden werden müsste. Diese Grundrechte entfalten daher ihre integrierende Wirkung dadurch, dass sie dem Bürger die Gewissheit verschaffen, eine solche Vergewaltigung nicht befürchten zu müssen, ja ganz im Gegenteil in seinen eigenen Auffassungen und Empfindungen geachtet und geschützt zu werden. Man kann auch sagen: Die Grundrechte schaffen Einigkeit durch die verfassungsmäßige Feststellung, dass man sich in den von ihnen angesprochenen Themen nicht einig werden kann, dass daher ihre Behandlung und erst recht ihre Entscheidung durch die Allgemeinheit zu unterbleiben hat und dass sich der Bürger auf dies alles so sicher soll verlassen können, wie es unter irdischen Verhältnissen überhaupt Sicherheit geben kann. Diese Gewissheit schafft das gegenseitige Vertrauen, das eine staatliche Gruppe vor allem zusammenhält . . . [Dieses Verständnis der Grundrechte erweist sich] damit als das wichtigste Staatsband.“30 Krüger scheint seine Ausführungen zwar vor dem Hintergrund der Religionsfreiheit und der „klassischen“ Grundrechte zu machen; sie können jedoch verallgemeinert werden. Denn wenn jemand nicht mehr leben will, so ist es ebenso eine „Vergewaltigung“ seiner Persönlichkeit, wenn ihm dies mit Hinblick auf einen „objektiven“ Wert versagt wird, als wenn ihm eine fremde Religion aufgezwungen wird. Und wenn jemand beschließt, trotz der damit verbundenen Gesundheitsgefahren zu rauchen oder trinken, so kann er es als Nötigung, je nach Temperament auch als Vergewaltigung empfinden, wenn ihm dies unter Hinweis auf die Werte Leben und Gesundheit verboten wird. Krügers These, 30
Krüger, Allgemeine Staatslehre, 541.
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dass es gerade die gegenseitige Toleranz ist, die das gemeinsame Band zwischen den Staatsbürgern schafft, entspricht der Position des Grundgesetzes, in dem sich einerseits keinerlei Anhaltspunkte für ein Verständnis der Grundrechte als Werte finden lassen31, aber andererseits die vielen Freiheitsgewährleistungen der Art. 1–19 gerade Krügers Interpretation stützen. Denn wenn Bürger A ein Recht auf etwas hat, bedeutet dies zugleich, dass Bürger B keine staatliche Unterstützung erwarten darf, wenn er sich über Bürger A’s Verhalten in Ausübung dieses Rechts (also beispielsweise dessen Meinungen, unsittliches Verhalten oder religiöse Praktiken) empört, die er gerne aus seinem Blickfeld entfernt hätte32. Daher ist die Empörung von Bürger B in grundrechtlicher Sicht bedeutungs- und gewichtslos33. Allgemein gesprochen: Es gibt unter dem Grundgesetz daher gerade keinen erzwingbaren Konsens durch gemeinsame Werte, sondern jeder hat das Recht, sich seine Werte selbst zu setzen. Daher ist Krüger zuzustimmen, wenn er unter dem Grundgesetz ein „gemeinsames Band“ nur in der Achtung der gegenseitigen Freiheit erblickt, nicht aber in der aufgedrängten Verfolgung bestimmter Werte. Kurz: Es geht dem Grundgesetz nicht um Einigkeit durch Konformität, sondern um Einigkeit durch gegenseitigen Respekt in Pluralität. Ein aufgezwungener Schutz aufgrund der objektiven Dimension der Grundrechte ist daher nicht möglich34; es wird darin zu Recht eine „Umkehrung der Grundrechtsidee“35 erblickt.
31 Böckenförde, NJW 1974, 1529 (1537), der außerdem feststellt, dass auch bei den Beratungen „mit keinem Wort“ von Werten oder einer Wertordnung gesprochen wurde. 32 Dies folgt nach einer Auffassung aus der sog. mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte, nach der zutreffenden Gegenauffassung allerdings unmittelbar aus Art. 1 III GG. Bürger B darf nur dann ein grundrechtlich geschütztes Gut von Bürger A beeinträchtigen, wenn er dazu durch den Staat ermächtigt wird. Der Staat wiederum darf jedoch nur verfassungsgemäße Normen für die Rechtsverhältnisse der Bürger untereinander schaffen. Eine staatliche Ermächtigung eines Privaten, ein grundrechtlich geschütztes Gut eines anderen zu beeinträchtigen, kommt aber einem Grundrechtseingriff gleich; vgl. Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, 93 ff.; Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 128 f. 33 Erstaunlicherweise ist dies nicht unbestritten. So sind Fischer und Robbers der Ansicht, es bestehe ein Schutzrecht des Einzelnen, nicht in unzumutbarer Weise mit Beeinträchtigungen seiner eigenen Wertvorstellungen konfrontiert zu werden (Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes vor Selbstschädigung, 231; Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, 223). Fischer wird konkreter und will sogar das bloße Wissen um unmoralisches Verhalten als Beeinträchtigung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts sehen (ebd., 250 f.). Dagegen zutr. Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 171 f. 34 Im Ergebnis ebenso Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes vor Selbstschädigung, 179 ff., 182; Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 228 f.; Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 134; Hollenbach, Grundrechtsschutz im Arzt-Patienten-Verhältnis, 156 f.; Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, 220 f.; Schwabe, JZ 1998, 66 (70). 35 Heide, Medizinische Zwangsbehandlung, 215; Hermes, ebd., 229.
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II. Die Menschenwürde In ähnlicher Weise wie die objektiven Werte könnte die Menschenwürde herangezogen werden, um vermeintlich unsittliches Verhalten wie beispielsweise die Darstellung des eigenen Körpers in Peepshows zu unterbinden oder Fernsehsendungen wie „Big Brother“ zu verbieten. Gerade am Beispiel von Peepshow und „Big Brother“ lässt sich das Problem gut erörtern. Im Peepshowfall36 hatte das Bundesverwaltungsgericht argumentiert, Peepshows verletzten die Menschenwürde der Darstellerinnen. Dies sei unabhängig davon, ob diese freiwillig handelten oder nicht, denn in eine Verletzung der Menschenwürde könne man nicht einwilligen. Bei der Diskussion um „Big Brother“ ging es um die Frage, ob eine Fernsehshow, die aus dem Leben in einem vollkommen videoüberwachten Haus berichtet, die Menschenwürde der – wiederum freiwillig teilnehmenden – Bewohner verletzt. In beiden Fällen wurde von einem Teil der Literatur argumentiert, dass das Kernelement der Menschenwürde die Autonomie des Einzelnen sei. Deshalb sei es undenkbar, dass jemand, der freiwillig handele, seine eigene Menschenwürde verletze37. Die Gegenauffassung war dagegen der Ansicht, dass das Prinzip der Menschenwürde einen äußeren Rahmen abstecke, den zu überschreiten dem Einzelnen nicht gestattet sei. Der Staat habe insoweit eine Pflicht, den Einzelnen vor der Aufgabe seiner Würde zu bewahren38. Sowohl im Peepshow- als auch im „Big Brother“-Fall kann man zwei Ansätze für eine Rechtfertigung eines Verbots unterscheiden. Erstens könnte ein Einschreiten gerechtfertigt sein, um die Würde der Tänzerinnen bzw. Showteilnehmer zu schützen. Zweitens ist es denkbar und wurde gerade im Zusammenhang mit „Big Brother“ diskutiert, ein Verbot damit zu begründen, dass man keine Gesellschaft wolle, in der ein solches Verhalten gang und gäbe sei39. 36
BVerwGE 64, 274. Dreier, in: Dreier, GG, Art. 1 I, Rn. 90 f.; Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, 91 f.; Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 231; Höfling, NJW 1983, 1582 (1583 f.); Huster, NJW 2000, 3477 (3477 f.); v. Olshausen, NJW 1982, 2221 (2222); Schmitt Glaeser, ZRP 2000, 395 (400) (vgl. aber ebd., 401 ff.); Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 1 I, Rn. 97; wohl auch Kunig, in: von Münch/Kunig, GG, Art. 1, Rn. 34; Sachs, Grundrechte, B1, Rn. 34. 38 Gern, NJW 1983, 1585 (1589); Hinrichs, NJW 2000, 2173 (2175); Redeker, BayVBl. 1985, 73 (77 f.). 39 In diese Richtung Schmitt Glaeser, ZRP 2000, 395 (399 ff.), der eine Verletzung der Menschenwürde der Teilnehmer bei „Big Brother“ ablehnt, jedoch der Ansicht ist, dass „Veränderungen, die die Menschenwürde als Kern des Menschenbildes betreffen“, nicht geduldet werden können. Big Brother ziele genau auf den Kern dieses Menschenbildes und sei geeignet, „die allgemeine Vorstellung von der Würde des Menschen substanziell zu verändern. Die Untergrabung des herkömmlichen Menschenbildes ist institutionell durch die lückenlose Beobachtung in einer nach außen herme37
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Dann geht es gerade nicht um die Würde oder irgendein anderes Rechtsgut der handelnden Akteure, sondern um den Schutz der Gesellschaft als Ganzes40. Dieser zweite Fall interessiert im Rahmen dieser Arbeit nicht, denn es liegt dann gar kein Fall von Paternalismus vor, sondern der einer Freiheitsbeschränkung zum Schutz der Allgemeinheit41. Das Argument der Literatur, das im Folgenden das „Rahmenargument“ genannt werden wird, soll hier näher untersucht werden. Wie hat man es sich vorzustellen, dass die Menschenwürde einen äußeren Rahmen absteckt? Hinter diesem Bild scheint folgender Gedanke zu stecken: Das Grundgesetz habe eine Vorstellung davon, welche Handlungen der Einzelne durchführen könne, ohne sich selbst zu „entwürdigen“ und welche nicht. Nur unter Aufgabe der eigenen Würde sei eben beispielsweise die Teilnahme an einer Peepshow oder an „Big Brother“ denkbar. Aber was ist der materielle Grund dafür, die Menschenwürdegarantie in dieser Weise zu interpretieren? Hinter einem solchen Verständnis muss der Gedanke stehen, dass ein in dem angesprochenen Sinne „entwürdigendes“ Verhalten die Gelungenheit des Lebens des Betreffenden beeinträchtigt: Wer sich selbst „entwürdigt“, also „würdelos“ lebt, hat ein schlechteres Leben, als der, der sich würdevoll verhält. Dann wäre ein Verbot paternalistisch motiviert: Es hätte den Zweck, dem Betreffenden ein besseres (da würdevolles) Leben aufzuzwingen42. Dagegen kann man zwei Einwände erheben. Zum einen trifft auf diese Argumentation der oben ausgearbeitete Einwand zu, dass unter dem Grundgesetz jeder das Recht hat, seine eigenen Prioritäten zu setzen. Denn ob sich jemand durch „unwürdiges“ Verhalten selbst „schädigt“, muss dem Einzelnen ebenso überlassen bleiben wie die Entscheidung, die eigenen „Werte“ Gesundheit oder Leben durch Rauchen oder Alkoholkonsum zu beschädigen. Insoweit braucht dieser Punkt hier nicht noch einmal erörtert zu werden. Zum anderen kann man argumentieren, dass diese Aussage auch inhaltlich falsch ist, weil – zumindest im Fall von Peepshow und „Big Brother“ – nicht erkennbar ist, inwieweit die Betreffenden Darsteller aufgrund ihrer Teilnahme wirklich ein schlechteres Leben haben sollten. Wenn gezeigt werden könnte, dass die Teilnahme an Peepshows oder „Big Brother“ das gelungene Leben der Teilnehmer gar nicht beeinträchtigt, so würde der materielle Grund, auf dem tisch abgeriegelten Lokalität angelegt, wird intensiv, planmäßig und systematisch betrieben . . . Gerade als Spiel dürfen solche Beobachtungen und Überwachungen nicht geduldet werden . . . Damit werden natürliche Hemmungen abgebaut und notwendige Barrieren beseitigt.“ (Hervorhebung im Original). Kritisch dazu Köhne, ZRP 2001, 435 (435 f.). 40 Erfrischend deutlich Huster, NJW 2000, 3477 (3477 f.). 41 Vgl. zu der dieser Arbeit zugrunde liegenden Abgrenzung oben 1. Kap. A. III. und B. II. 42 Ähnlich Huster, NJW 2000, 3477 (3477).
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das Rahmenargument beruht, zusammenbrechen. Es fällt auf, dass die Betroffenen, da sie freiwillig handeln, sich – subjektiv – offensichtlich in ihrer Würde nicht verletzt fühlen. Soweit sie sich falsche Vorstellungen über das machen, was sie erwartet, kann man das unter dem Aspekt von Willensmängeln diskutieren43. Wenn ihre Einwilligung aber – was jetzt einmal unterstellt werden kann – ohne solche Fehler zustande gekommen ist, scheidet dieser Aspekt aus44. Das wirft Fragen für den Paternalisten auf. Es ist doch zumindest ein Problem, wenn derjenige, der verletzt worden sein soll, dies vehement bestreitet und sich offensichtlich wohlfühlt. Dies kann man nicht mit dem pauschalen Hinweis abtun, eine Einwilligung in eine Verletzung der Menschenwürde sei nicht möglich45. Denn dieses Argument macht nur Sinn, wenn man zunächst das Rahmenargument akzeptiert. Wer dagegen der Ansicht ist, Kern der Menschenwürdegarantie sei der Schutz der Autonomie des Einzelnen, für den entfällt einleuchtenderweise mit der Einwilligung auch die Verletzung der Menschenwürde, denn dann ist die in Frage stehende Handlung gerade eine Ausübung der Autonomie. Damit bleibt aber die Frage offen, wie man sich eine Würdeverletzung einer Person vorstellen soll, die diese gar nicht bemerkt. Das Problem bei der Erörterung dieser Fragen ist, dass sich niemand in der Literatur die Mühe macht, zu erklären, worin der behauptete Nachteil für die Teilnehmer bestehen soll. So lässt sich Hinrichs ausführlich darüber aus, wie furchtbar die Situation in dem „Big Brother“-Container sei, und fordert den Leser auf, sich das Leben „noch einmal vor Augen“ zu halten: Wirklich alles sei überwacht. Millionen von Zuschauern schauten zu. Es gebe nicht einmal separierte Schlafräume. Das Ganze erinnere an Tierversuche. Den Kandidaten werde jegliche Intimsphäre genommen, die zum Menschsein unweigerlich dazugehöre. Die Kandidaten würden als bloßes Mittel zum Zweck benutzt, als Marionetten eines Gewinnspiels. Es werde die Intimsphäre der Kandidaten im wahrsten Sinne des Wortes verkauft46. Hinrichs mag mit allem, was sie sagt, Recht haben47. Die Aussagen gehen jedoch völlig an dem Punkt vorbei, um den es ihr eigentlich gehen müsste: einen möglichen Schaden für die Kandidaten darzulegen, der durch ein Verbot der Show vermieden werden soll. So wie sie argu-
43 Dies wurde bei „Big Brother“ durchaus erwogen, vgl. beispielsweise Hartwig, JZ 2000, 967 (969). 44 Die Frage, wie sich Willensmängel auswirken, wird weiter unten behandelt werden. 45 So aber Hinrichs, NJW 2000, 2173 (2175); Redeker, BayVBl. 1985, 73 (77 f.). 46 Hinrichs, NJW 2000, 2173 (2174 f.). 47 Allerdings ist ihre Darstellung einseitig. Sie blendet völlig aus, dass die Kandidaten ja nicht in den Container geprügelt werden, sondern mit der freiwilligen Teilnahme und zeitweisen Aufgabe ihrer Privatsphäre Fernziele verfolgen, dass sie zudem auch Akteure und nicht nur „Marionetten“ sind und neben RTL 2 mit der Teilnahme auch selbst ein finanzielles Interesse verfolgen.
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mentiert, bleibt alles auf der Ebene moralischer Entrüstung darüber, wie „schlimm“ und unwürdig sich andere verhalten. Da die Kritiker von „Big Brother“ selbst insoweit nichts vorbringen, was ihren Standpunkt stützen könnte, können an dieser Stelle auch nur Mutmaßungen angestellt werden. Beispielsweise könnte man argumentieren, dass die Teilnehmer an diesen Shows gewisse Sittlichkeitsmaßstäbe und damit die moralische Basis für ein gelungenes Leben verlieren. Besonders plausibel ist eine solche Argumentation nicht, zumal sie sich immer noch im Nebulösen bewegt. Es erscheint nicht möglich, hier präzise Aussagen zu machen. Vielleicht kann man die Wahrheit auch ganz einfach ausdrücken: Huster hat darauf hingewiesen, dass die Kandidaten bei „Big Brother“ sich auf den Weg gemacht hätten, das zu erreichen, was fast alle wollen: reich und berühmt zu werden. Sie seien weder Sünder wider die Menschennatur noch schutzbedürftige Opfer, sondern glückliche Kriegsgewinnler der medialen Schlacht um Einschaltquoten und die Gunst des Publikums48. Auch eine Peepshowtänzerin wird zwar in der Regel nicht reich und berühmt werden, inwieweit ihr die Teilnahme an der Show jedoch schaden soll, ist unklar – wahrscheinlicher ist, dass sie ihre Arbeit einfach als „Job“ ansieht. Damit bricht das Rahmenargument zusammen. Denn der materielle Grund, auf dem es beruht, dass nämlich die zwangsweise Durchsetzung von „würdevollem“ Verhalten das gute Leben des Betroffenen fördern soll, kann nicht einmal plausibel gemacht, geschweige denn nachgewiesen werden. So gesehen scheint es auch nicht verwunderlich, dass die Autoren, die ein Verbot der Sendung propagieren, nicht präzisieren, worin die Gefahr für die Würde der Teilnehmer genau liegen soll. Jeder Versuch einer Argumentation dieser Art ist nicht belegbar und droht in altväterliches Moralisieren abzugleiten. Es liegt daher der Verdacht nahe, dass es in Wirklichkeit gar nicht darum geht, dem Betroffenen zu helfen, sondern dass es um die zwangsweise Durchsetzung von Moral geht. Das sollte dann auch ehrlicherweise gesagt und unter diesem Gesichtspunkt diskutiert werden. Diese Erwägungen sind ausreichend, um auch allgemein einer Berufung auf die eigene Menschenwürde zur Rechtfertigung von paternalistischen Freiheitseinschränkungen den Boden zu entziehen. Die beiden Kritikpunkte sind, dass erstens unter dem Grundgesetz jeder seine eigenen Werte setzen darf und daher die Beurteilung, welches Verhalten „unwürdig“ ist, dem Einzelnen überbleiben muss. Zweitens kann der Paternalist nicht nachweisen, ja nicht einmal plausibel machen, dass er einen Schaden von dem Betroffenen abwendet.
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Huster, NJW 2000, 3477 (3478 f.).
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III. Freiheitsmaximierung Es wurde dargelegt, dass die objektive Dimension der Grundrechte keinen Paternalismus rechtfertigen kann. Der materielle Hauptgrund, der dafür angeführt wurde, war, dass die Grundrechte eine Einigkeit über bestimmte Werte nicht voraussetzen, sondern in ihnen gerade die Toleranz gegenüber abweichenden Wertvorstellungen zum Ausdruck kommt. Kann man diesem Argument entgehen, wenn man gerade die Freiheit des Einzelnen als solche schützt, und zwar auch vor der Beschädigung durch ihn selbst? Wenn das Grundgesetz Toleranz gegenüber der Freiheitsbetätigung anderer fordert, könnte es nahe liegen, den Zustand der Freiheit als Wert anzusehen und dementsprechend besonders zu schützen, damit diese überhaupt ausgeübt werden kann. Ein solches Argument hat Regan entwickelt. Es soll hier zunächst vorgestellt werden, um anschließend seine Verträglichkeit mit dem Grundgesetz zu untersuchen. 1. Der philosophische Ansatz – Mill und Regan Der Sklavenfall in Mills „Über die Freiheit“ wurde bereits kurz angesprochen: Soll der Einzelne das Recht haben, sich selbst als Sklave zu verkaufen und dadurch seine Rechte für immer und unwiderruflich aufzugeben? Für Mill ist die Sache klar: „Verkauft er sich aber als Sklave, so entsagt er seiner Freiheit und verzichtet damit auf allen künftigen Gebrauch außer diesem letzten. Er vernichtet also in seinem Fall den eigentlichen Zweck, der die Erlaubnis, über sich selbst zu verfügen, rechtfertigt. Er ist nicht mehr frei, sondern von nun ab in einer Lage, die nicht länger mehr dieselben Voraussetzungen für sich hat, als wenn er freiwillig in ihr bliebe. Das Prinzip der Freiheit kann nicht fordern, dass er die Freiheit haben sollte, nicht frei zu sein. Es ist nicht Freiheit, sich seiner Freiheit entschlagen zu dürfen.“49 Die letzten beiden Sätze sind unglücklich gewählt. Warum sollte es nicht möglich sein, sich in einer freien Entscheidung gegen die zukünftige Freiheit zu entscheiden? Darin liegt jedenfalls kein logischer Widerspruch. Darüber hinausgehend kann jemand durchaus gewichtige Gründe dafür haben, seine Freiheit für immer aufgeben zu wollen. Beispielsweise könnte man sich vorstellen, dass eine Mutter nur auf diese Weise das Geld aufbringen kann, um eine lebensrettende Operation ihres Kindes bezahlen zu können. Wird ihr diese Möglichkeit verweigert, so handelt es sich um eine echte Einschränkung von Freiheit50. 49
Mill, Über die Freiheit, 141. Regan, in: Sartorius (Hrsg.), Paternalism, 113 (117). Anders Archard, The Philosophical Quarterly 40 (1990), 453 (461 f.): Er geht davon aus, dass jeder solange Sklave sein kann, wie er mit diesem Zustand zufrieden ist. Die Frage, ob der entsprechende Vertrag gültig sei, stelle sich erst, wenn er nicht mehr Sklave sein wolle. Dann aber handele der Staat nicht paternalistisch, wenn er den Vertrag nicht anerkenne, 50
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Aber auch wenn Mill sich an der zitierten Stelle unglücklich ausdrückt, so geht das, was er eigentlich sagen will, über eine begriffliche Analyse von Freiheit hinaus. Mill schätzt Freiheit nicht nur als Möglichkeit für den Einzelnen, sich ohne Einwirkung von außen entscheiden zu können, sondern auch als Zustand. Er will vermeiden, dass der Einzelne durch seinen Freiheitsgebrauch seine Freiheit verliert. Ronald Dworkin hat einmal bemerkt, dass Mills Thesen insgesamt gesehen den Konservativen mehr gedient hätten als den Liberalen51. Was er damit gemeint haben könnte, wird im Folgenden deutlich werden: Regan hat den etwas unklaren Punkt bei Mill zum Anlass genommen, eine Möglichkeit der Paternalismusrechtfertigung zu entwickeln, die er „freedom-maximization argument“ nennt. Er erkennt an, dass es man sich freien Willens als Sklave verkaufen kann. Der Punkt, um den es Mill gehe, sei aber ein anderer: Wenn man sich als Sklave verkaufe, dann zerstöre man damit viel mehr der eigenen Freiheit, als der Staat zerstöre, wenn er solche Verträge unterbinde. Wer sich als Sklave verkaufen wolle, sei zwar in Bezug auf dieses momentane Verlangen weniger frei, wenn ihm dies untersagt werde. Auf lange Sicht hingegen sei er dagegen insgesamt gesehen „freier“. Verstehe man Freiheit in diesem Sinn, so ersetze man das deontologische Prinzip, dass in die Freiheit des Einzelnen nicht eingegriffen werden dürfe, durch das teleologische Prinzip, dass die Freiheit des Einzelnen insgesamt maximiert werden solle52. Mit diesen allgemeinen Überlegungen als Ausgangspunkt wendet sich Regan nun einem praktisch wichtigeren Problem zu. Könnte man mit dem Freiheitsmaximierungsansatz ein allgemeines Rauchverbot rechtfertigen? Ein Unterschied zu dem Sklavenfall ist, dass die Raucher ihre Freiheit nicht völlig aufgeben. Sie haben nur statistisch gesehen eine niedrigere Lebenserwartung und eine höhere Wahrscheinlichkeit, bestimmte Krankheiten zu bekommen. Kann man das als Freiheitseinbuße verstehen? Für Regan bedeutet Freiheit „abilities, capacities, and in general whatever is a precondition for any human activity. What we desire is that the largest number of people should have the widest possible range of effective choice about what to do with themselves. From this point of view, it is clear that death and injury and disease all diminish freedom.“53
sondern respektiere gerade den Wunsch des Betroffenen, nicht länger Sklave sein zu wollen. Dem kann nicht gefolgt werden: Es kann durchaus Fälle geben, in denen für den Betroffenen wichtig ist, seine Freiheit für immer aufzugeben. Im Beispielsfall der verzweifelten Mutter würde diese wohl kaum das Geld für die Operation ihres Kindes erlangen, wenn der Sklavenbesitzer sich nicht auf die Endgültigkeit der Entscheidung verlassen könnte. Archard macht es sich daher hier zu einfach. 51 R. Dworkin, Taking Rights Seriously, 259. 52 Regan, in: Sartorius (Hrsg.), Paternalism, 113 (117). 53 Ebd., 118.
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Es stellt sich nun aber die Frage, wie die Gewichtung vorgenommen werden soll: Ein Raucher könnte ja durchaus anerkennen, dass er durch das Rauchen seine Freiheit in dem von Regan verwendeten Sinn beeinträchtigt. Aber er könnte argumentieren, dass die Freiheitseinbuße durch ein Rauchverbot für ihn mehr Verlust an Freiheit bedeuten würde als das Rauchen. Es ist offensichtlich nicht einfach, den Wert dieser beiden „Freiheiten“ miteinander ins Verhältnis zu setzen. Sicherlich kann man nicht nur auf die Zahl der Handlungsmöglichkeiten abstellen, die einem durch ein Rauchverbot gesichert werden, sondern muss auch ihre Wichtigkeit einbeziehen. Dann bleibt keine andere Möglichkeit, als intuitive Urteile abzugeben. Ist das ein Nachteil dieser Theorie? Nicht für Regan: Er weist darauf hin, dass sein Ansatz sich insoweit nicht von utilitaristischen Theorien unterscheide. Viele Utilitaristen oder solche, die den Wert von Nützlichkeitserwägungen wenigstens in bestimmten Fragen bejahten, stellten auf das Nutzenmaximierungsprinzip ab, obwohl nicht immer klar sei, was das genau bedeute bzw. welche Handlungen denn nun den Gesamtnutzen maximierten54. Wir kämen ohne solche intuitiven Urteile eben nicht aus. Regan wendet seine Theorie dann noch auf drei andere Beispielsfälle an. Sollte auch Bergsteigen verboten werden? Für Regan ist die Freiheit, die Bergsteiger verlieren, wenn ihre Tätigkeit untersagt wird, viel größer als der aus einem Rauchverbot resultierende Freiheitsverlust für Raucher. Das liege daran, dass Bergsteigen eine wertvollere Tätigkeit sei als Rauchen. Zum einen sei Bergsteigen die Quelle größerer Freude als Rauchen, zum anderen sei es auch enger mit der Identität des Einzelnen verbunden. Das zeige sich schon daran, dass jemand, der sich als „Bergsteiger“ versteht, sich nicht in derselben Weise als „Raucher“ sehen würde. Auch sei Bergsteigen offensichtliche eine „Aktivität“, während dieses Wort beim Rauchen unangebracht sei55. Wie sieht es mit dem Selbstmord aus? Die meisten Menschen sind der Ansicht, dass der Selbstmord jedenfalls nicht in allen Fällen verboten werden sollte. Andererseits scheint es offensichtlich, dass es keine Handlung gibt, die mehr Freiheit zerstört als ein Suizid56. Regan führt zwei Aspekte auf, mit deren Hilfe er Freiheitsmaximierung mit der Zulässigkeit von Selbstmord vereinbaren will. Zum einen werde in den Fällen, in denen der Wunsch nach Selbstmord dauerhaft ist, die Freiheit, die durch ein Verbot des Selbstmordes geschützt werde, durch das mangelnde Interesse des Betroffenen daran und den fehlenden Antrieb, sie sinnvoll zu nutzen, entwertet. Zum anderen sei es wahrscheinlich, 54
Ebd., 119 f. Ebd., 120. 56 Archard, The Philosophical Quarterly 40 (1990), 453 (462 f.) ist dagegen der Ansicht, dass in Bezug auf den Selbstmord ein Unterschied zum Sklavenfall bestehe: Der Selbstmord bewirke nicht, dass das Individuum hinterher unfrei sei, sondern dass gar kein Individuum mehr vorhanden sei, das Freiheit ausüben könne. Im Rahmen dieser Untersuchung ist dieser Punkt jedoch nicht weiter von Bedeutung. 55
A. Paternalismus aufgrund von Verfassungsprinzipien?
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dass die betroffene Person während ihres restlichen Lebens sehr unglücklich sei57. 2. Freiheitsmaximierung und Grundgesetz Regan spricht klar aus, dass das Prinzip der Freiheitsmaximierung deutlich zu unterscheiden ist von dem traditionellen Freiheitsbegriff. Man muss sich also entscheiden, worum es einem bei der Freiheit geht: Ist es das Recht des Einzelnen, sich bei jeder neu entstehenden Situation zwischen den sich bietenden Möglichkeiten entscheiden zu können, und sei es auch eine Entscheidung, die möglicherweise die Handlungsoptionen in der Zukunft beschränkt, oder geht es um die Maximierung von wertvollen Handlungsoptionen über die gesamte Lebensdauer? Leider führt Regan nur aus, wie man eine philosophisch in sich schlüssige Position vertreten kann, wenn man sich für die zweite Alternative entscheidet. Er gibt aber keinen Hinweis darauf, warum dieser Ansatz vorzugswürdig sein soll. Dagegen meint Enderlein, der dem Freiheitsmaximierungsansatz folgt, diesen rechtfertigen zu können. Er argumentiert gegen den Einwand, dass es auch vom Autonomierecht gedeckt sei, über seine zukünftigen Freiheiten zu entscheiden. Seiner Meinung nach liegt einem solchen Einwand bereits die Annahme zugrunde, dass Freiheit zu maximieren sei: Wer so argumentiere, räume der derzeitigen Entscheidungsfreiheit Vorrang vor späterer Freiheit ein und habe sich dadurch schon auf den Maximierungsansatz eingelassen58. Das ist nach dem oben Dargelegten jedoch gerade nicht der Fall. Wer Autonomie schützt, geht stets vom Recht des Einzelnen aus, in jeder Situation Entscheidungen über seinen weiteren Lebensweg treffen zu können. Ein Ansatz, der die Autonomie des Einzelnen in den Vordergrund rückt, verträgt sich nicht mit Freiheitsmaximierung. Es entspricht dem Selbstverständnis der meisten Menschen, dass sie in freier Entscheidung gelegentlich auch längerfristige oder lebenslange Bindungen eingehen wollen. Jeder Mensch muss, wenn er durch das Leben geht, viele grundlegende Entscheidungen treffen. Die vielleicht wichtigsten Entscheidungen liegen vor, wenn es um dauerhafte persönliche Bindungen geht, wie bei der Wahl des Ehe- oder Lebenspartners oder der Frage, ob Kinder gewollt sind, und bei der Berufswahl. Durch jede wichtige Entscheidung schneidet er sich für die Zukunft gewisse Handlungsmöglichkeiten ab und eröffnet andere – eben deswegen sind diese Entscheidungen ja so wichtig. Wer eine bestimmte Frau oder einen bestimmten Mann heiratet, kann von den Millionen anderen erst einmal keinen mehr heiraten. Er lässt sich bewusst auf einen bestimmten Menschen ein. Wer 57 58
Regan, in: Sartorius (Hrsg.), Paternalism, 113 (120 f.). Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 60 f.
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3. Kap.: Die Rechtfertigung von Paternalismus
Jura studiert, kann ohne weiteres nicht mehr Arzt oder Pfarrer werden, auch er schneidet sich viele Handlungsmöglichkeiten ab. Wenn also behauptet wird, erstrebens- und bewahrenswert sei ein Zustand, in dem der Einzelne über möglichst viele wertvolle Handlungsmöglichkeiten verfügt, weil dies seine Freiheit befördere, so verfehlt das den Punkt. Freiheit bedeutet eben auch und gerade, sich wichtige und wertvolle Handlungsmöglichkeiten in freier Entscheidung abschneiden zu können. Das gilt für die wichtigen Lebensentscheidungen ebenso wie für kleinere Dinge. Wer sich autonom dafür entscheidet, den Genuss des Rauchens der Gesundheitsgefährdung vorzuziehen, der nimmt eine freie Entscheidung vor. Diese mag zwar auf lange Sicht seine Freiheit beschädigen. Aber: „Wer sicherstellen will, dass sein Schiff nie untergeht, der lässt es am besten immer im Hafen“ – dieser Satz bringt auf den Punkt, dass die Vermeidung von Risiken für die Freiheit nicht uneingeschränkte Priorität haben kann59. Regan erkennt dieses Problem durchaus, und er versucht es dadurch zu lösen, dass er intuitive Urteile über den Wert bestimmter Freiheitsausübungen abgeben will. Er muss also verschiedene Freiheitsbetätigungen bewerten, um so entscheiden zu können, wie schwer der Freiheitsverlust bei einem Verbot wiegt. Das mag philosophisch ein gangbarer Weg sein, der Standpunkt des Grundgesetzes ist es jedoch nicht. Legt man Regans Ansatz zugrunde, so kommt man, während man sich terminologisch bei der Erörterung des möglichst weitgehenden Schutzes der Freiheit aufhält, inhaltlich bei der Werttheorie wieder an, die verschiedene Formen der Freiheitsbetätigung bewerten will: Wenn man sich zukünftige Handlungsoptionen durch ein „wertloses“ Verhalten (wie das Rauchen) abschneidet, dann kann zum Schutz der Freiheit eingegriffen werden; wenn dagegen „wertvoll“ gehandelt wird (wie beim Bergsteigen), so soll dies nicht möglich sein. Es wurde jedoch dargelegt, dass eine solche Bewertung von Freiheitsbetätigung dem Grundgesetz fremd ist. Unter dem Grundgesetz ist Freiheit daher nicht als objektiver, auch gegen den Willen des Einzelnen zu maximierender Wert zu verstehen, sondern es geht um den Schutz subjektiver Freiheit60.
59 Vgl. auch Feinberg, Harm to Self, 76 f., wo sich Feinberg mit ähnlichen Argumenten wie hier gegen den Freiheitsmaximierungsansatz ausspricht. 60 Was wäre die Antwort des Grundgesetzes auf den Sklavenfall? Muss der Staat den Wunsch des Einzelnen, sich als Sklave zu verkaufen, akzeptieren, wenn er die objektive Freiheit des Betreffenden nicht schützen darf? Es gibt durchaus weitere Argumente, mit denen man ein entsprechendes Verbot begründen kann. Zum einen ist natürlich die Freiwilligkeit eines solchen Entschlusses in Frage zu stellen. Zum anderen hat der Staat ein legitimes Interesse daran, dass kein soziales Klima entsteht, in dem Einzelne totale Macht über andere haben. Nicht der Schutz des Einzelnen, der sich als Sklave verkaufen möchte, sondern der Schutz Dritter, nämlich der Gesellschaft als Ganzes, steht dann im Vordergrund. Vgl. dazu auch Feinberg, Harm to Self, 79 ff.
A. Paternalismus aufgrund von Verfassungsprinzipien?
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Der Ansatz der Freiheitsmaximierung kommt daher zur Rechtfertigung von Paternalismus nicht in Betracht.
IV. Exkurs: Paternalismus und das gelungene Leben In den vorangegangenen Abschnitten wurde dargelegt, dass weder die objektive Wertordnung noch die Menschenwürde Eingriffe in das Recht auf Paternalismusfreiheit rechtfertigen können. Die juristische Diskussion ist damit insoweit abgeschlossen. Philosophisch kann man allerdings noch einen Schritt weitergehen und fragen, inwieweit Paternalismus durch die Vermittlung bestimmter objektiver Werte in der Lage sein kann, einen Beitrag zum gelungenen Leben der Menschen zu leisten. Wenn sich dabei ergäbe, dass Paternalismus das Leben der Menschen auf diese Weise besser machen könnte, so würde dies die juristischen Ergebnisse zwar nicht widerlegen; diese sind unabhängig von der philosophischen Fragestellung ermittelt worden. Jedoch wäre es bedauerlich, wenn das Grundgesetz eine philosophisch unbefriedigende Position einnehmen würde. Wenn sich dagegen zeigen würde, dass das gelungene Leben der Menschen durch die paternalistische Durchsetzung bestimmter Werte auch nicht gefördert werden könnte, dann wäre dies eine Bestätigung, dass das Grundgesetz hier einen auch philosophisch vorzugswürdigen Weg geht. Die Rolle, die Paternalismus für das gelungene Leben spielen kann, hat Ronald Dworkin in einem wichtigen Artikel untersucht61. Allgemein geht es ihm um den Vorwurf, dass sich der Liberalismus „zu viel“ mit Gerechtigkeit und „zu wenig“ mit dem guten Leben beschäftige: „I shall argue that the most plausible philosophical ethics grounds a liberal faith, that liberal equality does not preclude or threaten or ignore the goodness of the lives people live, but rather flows from and into an attractive conception of what a good life is.“62 Einige Aspekte dieser Fragestellung führen Dworkin zu einer Erörterung der Paternalismusproblematik; insoweit soll sein Ansatz hier vorgestellt werden. Dworkin fragt sich, was ein Leben gelungen macht. Er stellt zwei verschiedene Modelle vor: Das erste ist das „impact model of ethical value“, das zweite das „challenge model of ethical value“. „The first of these models – the model of impact – holds that the value of a good life consists in its product, that is, in its consequences for the rest of the world. The second – the model of challenge – argues that the goodness of a good life lies in its inherent value as a performance.“63
61 62 63
R. Dworkin, Sovereign Virtue, Kap. 6, 237 ff. („Equality and the Good Life“). Ebd., 242. Ebd., 251.
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3. Kap.: Die Rechtfertigung von Paternalismus
Dworkin macht sich dann daran, an verschiedenen Fragen durchzuspielen, welches der beiden Modelle besser geeignet ist, unsere intuitiven Ansichten über ein gelungenes Leben zu erfassen, und er kommt immer zu dem Ergebnis, dass das challenge model die Antworten liefert, die unseren Vorstellungen über ein gelungenes Leben am nächsten kommen. Viele dieser Ausführungen sind zwar hochinteressant, aber im Rahmen dieser Arbeit nicht zentral. Wichtig ist aber die Untersuchung der Frage, inwieweit es für ein gelungenes Leben darauf ankommt, dass der Betreffende sein Leben subjektiv für gelungen hält. Intuitiv neigen wir dazu, zu sagen, dass allein aus der Tatsache, dass jemand sein Leben gut findet, noch nicht folgt, dass es auch tatsächlich gut ist – der Betreffende könnte sich irren. Das model of impact würde sogar dafür streiten, dass ethischer Wert rein objektiv zu bestimmen ist: Entscheidend ist nach diesem Modell, welche Auswirkungen das individuelle Leben auf den Rest der Welt hat. Wenn jemand beispielsweise die Armut in der Welt reduziert, dann führt er nach diesem Modell ein gutes Leben, und das unabhängig davon, ob er dieses Leben wertvoll findet. Dworkin nennt diesen Ansatz den „additive view“: Der Wert eines Lebens besteht nach dieser Ansicht einfach aus der Summe der objektiv wertvollen Verhaltensweisen. Das model of challenge dagegen sieht ein Leben eher wie ein Kunstwerk: Es kommt auf die Gelungenheit der „performance“, der Darbietung, an. So wie wir einen Künstler nicht für einen Aspekt seiner Arbeit bewundern, den er eigentlich vermeiden wollte, so sehen wir nicht in dem Teil eines Lebens einen Wert, den der Betreffende innerlich abgelehnt hat oder verachtet. Nach dem model of challenge ist daher die Überzeugung (conviction) konstitutiv für ein gutes Leben64. Daher kann man insoweit auch von dem „constitutive view“ sprechen. Mit diesen Überlegungen wendet sich Dworkin der Erörterung von Paternalismus zu. Er bezieht sich dabei ausdrücklich nur auf, wie er sagt, „kritischen“ (critical) Paternalismus, d.h. Paternalismus, der den Menschen nicht nur gegen ihren Willen, sondern gegen ihre Überzeugung aufgedrängt wird. Die Gurtpflicht hält er nicht für einen Fall von kritischem Paternalismus, weil das Vermeiden von Verletzungen etwas ist, was jeder anstrebt, auch wenn er im konkreten Fall den Gurt vielleicht nicht benutzen würde. Dagegen wäre ein Zwang zum religiösen Gebet oder ein Verbot homosexueller Handlungen ein Fall von kritischem Paternalismus, denn religiöse bzw. sexuelle Handlungen werden üblicherweise vor dem Hintergrund bestimmter Überzeugungen ausgeführt. Dworkin unterscheidet drei verschiedene Arten von kritischem Paternalismus. Unter chirurgischem Paternalismus (surgical paternalism) versteht er den Fall, dass ein bestimmtes schlechtes Verhalten eliminiert oder ein gutes implantiert wird. Ersatzpaternalismus (substitute paternalism) dagegen rechtfertigt ein Ver64
Ebd., 268.
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bot nicht durch Verweis auf die Schlechtheit oder Schädlichkeit des verbotenen Verhaltens, sondern verweist auf den positiven Wert der „Ersatzleben“, die er so ermöglicht65. Kultureller Paternalismus (cultural paternalism) schließlich zielt darauf ab, durch die Schaffung eines bestimmten kulturellen Umfeldes schlechte Handlungen aus dem Bewusstsein der Menschen zu verbannen66. Hier interessieren vor allem die ersten beiden Paternalismusformen. Wie verhalten sich das impact model und das challenge model zu chirurgischem Paternalismus? Das impact model steht Paternalismus prinzipiell nicht ablehnend gegenüber. Denn nach diesem Ansatz zählt das objektive Ergebnis – wenn Gott durch Gebete erfreut wird, dann ist es egal, mit welcher Geisteshaltung dies geschieht. Dagegen ist chirurgischer Paternalismus nach dem challenge model nicht möglich. Unfreiwilliger religiöser Gehorsam kann für einen Anhänger dieses Modells keinen Wert haben. Und selbst wenn es wahr wäre, dass das Leben eines aktiven Homosexuellen wertlos wäre, könnte dieser Defekt in seinem Leben nicht dadurch geheilt werden, dass der Betroffene nur aus Furcht vor Strafe und entgegen seinen Überzeugungen enthaltsam lebt. „On the challenge model, that is, it is the performance that counts, not mere external result, and the right motive or sense is necessary to the right performance.“67 Dworkin macht eine Einschränkung in seiner Ablehnung von chirurgischem Paternalismus: Es sei denkbar, dass Paternalismus dazu führe, dass der Betroffene ihn letztlich bejahe. Wenn der Paternalismus ausreichend kurzfristig und beschränkt sei, so dass die Entscheidungsmöglichkeiten des Betroffenen nicht signifikant beschränkt würden, dann könne er gerechtfertigt werden. Dworkin nennt das Beispiel eines Kindes, das dazu gezwungen wird, sein Musikinstrument zu üben. Es sei wahrscheinlich, dass es diesen Zwang später begrüßen und zustimmen werde, dass sein Leben dadurch verbessert worden sei; wenn dies jedoch nicht eintrete, habe es wenig für sein weiteres Leben verloren68. Die spätere Bejahung (endorsement) müsse jedoch echt (genuine) sein, „and it is not genuine when someone is hypnotized or brainwashed or frightened into conversion. Endorsement is genuine only when it is itself the agent’s performance, not the result of another person’s thoughts being piped into his brain.“69 Ein Fall von Ersatzpaternalismus liegt vor, wenn die Regierung der Ansicht ist, dass ein Leben von religiöser Hingabe Verschwendung ist, und daher reli65
Ebd., 269. Ebd., 272. 67 Ebd., 269. 68 Dies ist kein besonders glückliches Beispiel. Bei dem Musikunterricht für Kinder geht es um Erziehungsmaßnahmen, und insoweit ist Zwang sowieso unter bestimmten Umständen angebracht. Man würde aber wohl kaum zustimmen, einen 50-Jährigen für einige Jahre zum Musikunterricht zwangszuverpflichten, selbst wenn man davon ausgehen könnte, dass der Betroffene den Zwang letztlich bejahen würde. 69 R. Dworkin, Sovereign Virtue, 269. 66
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3. Kap.: Die Rechtfertigung von Paternalismus
giöse Orden verbietet. Man kann sich nun vorstellen, dass ein Mann, der sein Leben im Kloster verbracht hätte, stattdessen Politiker wird. Er ist vielleicht sehr erfolgreich und bereichert das Leben vieler Menschen. Wenn man einmal unterstellt, dass ein Leben im Kloster tatsächlich Verschwendung ist, wie beurteilen wir dann den Wert seines Lebens? Er geht vielleicht verbittert ins Grab, weil er ein anderes Leben führen musste als das, das er gerne gehabt hätte. Andererseits hat er als Politiker wertvolle Dinge getan. Dworkin schlägt den Grundsatz der Priorität ethischer Integrität (priority of ethical integrity) zur Lösung dieses Problems vor. „Someone has achieved ethical integrity, we may say, when he lives out of the conviction that his life, in its central features, is an appropriate one, that no other life he might live would be a plainly better response to the parameters of his ethical situation rightly judged . . . If we give priority to ethical integrity, we make the merger of life and conviction a parameter of ethical success, and we stipulate that a life that never achieves that kind of integrity cannot be critically better for someone to lead than a life that does.“70 Was folgt für den Mann im Beispielsfall? Man kann sich drei Möglichkeiten vorstellen. Erstens kann der Mann dem Ratschlag seiner Freunde folgen, und mit ganzem Herzen und Vertrauen in den Wert seiner Tätigkeit ein Leben in der Politik führen. Zweitens könnte er an seinem Kurs festhalten und ein Leben in religiöser Hingabe führen, und zwar wiederum mit voller Befriedigung und Vertrauen in seine Wahl. Drittens könnte er zwar dem Rat seiner Freunde folgen, aber entgegen seinen Instinkten und Überzeugungen. Er würde ein erfolgreicher Politiker werden, aber keine wirkliche Befriedigung oder Selbstbestätigung finden und deshalb seine Wahl immer bereuen. Da unterstellt wurde, dass ein Leben im Kloster Verschwendung ist, ist klar, dass die erste Möglichkeit der zweiten vorzuziehen ist. Aber ebenso klar ist für Dworkin, dass die zweite besser ist als die dritte. Zwar meinen wir weiterhin, dass sein Leben im Kloster weniger erfolgreich wäre als in der Politik. Aufgrund des Vorrangs der ethischen Integrität aber müssen wir aber anerkennen, dass ein Leben, das aus Überzeugung im Kloster gelebt wird, immer noch besser ist als eines in der Politik, das der Betreffende immer bereuen wird71. Dworkin bemüht sich also, Paternalismus nicht nur als (moralisch) ungerecht darzustellen, sondern auch als hinderlich für das Wohlergehen der Betroffenen. Seine Kernaussage ist, dass niemand ein gelungenes Leben gegen seine Überzeugungen führen kann. Daher ist auch die Reichweite seiner Ausführungen begrenzt: Er bezieht sich ausdrücklich nicht auf jede Form von Paternalismus, sondern nur solche, die dem Betroffenen fremde Überzeugungen aufzwingen.
70 71
Ebd., 270. Ebd., 271 f.
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Er selbst erwähnt den Fall der Gurtpflicht, die er nicht von seinen Ausführungen erfasst sehen will. Es bleibt aber unklar, wo hier genau die Grenze zu sehen ist – ist Rauchen eine Frage von Überzeugungen? Intuitiv mag man das ablehnen; manche Menschen sehen Rauchen aber vielleicht in enger Verbindung zu ihrem gesamten Lebensstil und betrachten es demgemäß als Frage der Überzeugung. Ist die Teilnahme bei „Big Brother“ oder in einer Peepshow eine Frage von Überzeugungen? Man könnte argumentieren, dass diese Handlungen kaum die grundlegenden Lebensauffassungen der Teilnehmer betreffen. Andererseits ist zu beachten, dass die Teilnahme an diesen Veranstaltungen durchaus bestimmte Überzeugungen über ein gutes Leben reflektieren kann. Wo systematisch das Ausleben bestimmter Auffassungen von Moral, Würde oder einem gelungenem Leben durch den Staat torpediert wird, kann der Punkt erreicht werden, an dem die ethische Integrität des Betroffenen leidet. Für die Fälle, in denen die Menschenwürde ins Feld geführt wird, also insbesondere Peepshow und „Big Brother“, kann man in Dworkins Argument eine philosophische Bestätigung der Ergebnisse der Grundgesetzinterpretation sehen: Dass ein Verbot von Peepshow und „Big Brother“ das Leben der Teilnehmer bereichert, kann allenfalls unter Zugrundelegung des additive view begründet werden, dem zufolge der Wert eines Lebens von dem Vorhandensein gewisser objektiver Elemente abhängt und die dahinter stehenden subjektiven Anschauungen unerheblich sind. Lehnt man den additive view jedoch zugunsten des constitutive view ab, so fließen bei der Bewertung eines Lebens objektive und subjektive Elemente zusammen und können durch das Konzept der ethical integrity beschrieben werden. Das liefert eine zusätzliche Begründung für die Unattraktivität des Rahmenarguments bei der Interpretation der Menschenwürde: Wenn es um das gute Leben geht, kann man nicht rein objektive Kriterien anlegen. Aus den gleichen Gründen ist auch das Konzept der objektiven Werte in philosophischer Hinsicht fragwürdig, soweit durch die Durchsetzung dieser Werte das gute Leben der Menschen verbessert werden soll. Wiederum lautet der Vorwurf, dass durch eine rein objektiv bestimmte, die Überzeugungen des Einzelnen ignorierende Betrachtungsweise die ethische Integrität des Einzelnen gefährdet wird. Dieser Punkt wird unten bei der Anwendung der Ergebnisse auf den Sonderfall des Selbstmordes noch deutlich werden, wenn die These untersucht wird, dass eine Selbstmordverhinderung aufgrund der Geltung des Wertes „Leben“ das Leben des Geretteten verbessere. Wenn man also Dworkins Gedanken zum guten Leben bejaht, so kann man darin eine philosophische Bestätigung des Ergebnisses der Grundgesetzinterpretation sehen, dass die Menschenwürde bzw. die objektive Dimension der Grundrechte nicht zur Rechtfertigung von Paternalismus herangezogen werden dürfen, und eine Entkräftung der Sorge, dass das gelungene Leben der Menschen ohne die Geltung bestimmter objektiver Prinzipien oder Werte Schaden
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3. Kap.: Die Rechtfertigung von Paternalismus
nehmen könnte. Allerdings ist, wie ausgeführt, zu beachten, dass Dworkins Argumente nur eine begrenzte Reichweite haben, da sie nur für den Fall Geltung beanspruchen können, dass es sich um Überzeugungen des Einzelnen handelt.
V. Das Sittengesetz Eine Berufung auf ein Sittengesetz im Sinne eines Moralkodexes zur Rechtfertigung einer Grundrechtsbeschränkung erscheint in einem freiheitlichen Staat etwas zwielichtig; eine solche Interpretation der Schranke des Art. 2 I GG wird heute auch fast durchgängig abgelehnt72. Das Bundesverfassungsgericht hat sich nur einmal auf diesen Weg begeben, nämlich in der Homosexuellenentscheidung aus dem Jahr 195773, und ist dabei der Problematik laut Podlech „prompt erlegen“74. Zutreffenderweise muss hier Ähnliches gelten wie bei der Erörterung der objektiven Dimension der Grundrechte bzw. der Menschenwürde: Bloße Moralvorstellungen, seien es die der Richter oder der Mehrheit der Gesellschaft, können keine Freiheitseinschränkungen legitimieren, da das Grundgesetz gerade die Tolerierung verschiedener weltanschaulicher Grundpositionen vorschreibt75. Es geht an dieser Stelle aber nicht nur um die allgemeine Frage, ob gewisse Verhaltensweisen, beispielsweise für unmoralisch befundene Sexualpraktiken, unter Berufung auf das Sittengesetz verboten werden können, sondern spezieller um die Rechtfertigung des Eingriffs in das vor Paternalismus schützende allgemeine Persönlichkeitsrecht76. Das macht die Sachlage für den Paternalisten noch schwieriger, denn er müsste darlegen, dass das Sittengesetz gerade die paternalistische Bevormundung legitimiert, mit anderen Worten: gerade die Tatsache, dass der Wille des Betroffenen überspielt wird, müsste vom Sittengesetz 72 Bleckmann, RdA 1988, 332 (333); Dreier, in: Dreier, GG, Art. 2 I, Rn. 44; Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes vor Selbstschädigung, 256 f.; Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 165 ff.; Kunig, in: von Münch/Kunig, GG, Art. 2, Rn. 28; Maurer, Staatsrecht, § 9, Rn. 55; Podlech, in: AK zum GG, Art. 2 Abs. 1, Rn. 64 ff.; im Ergebnis auch Risse, Der verfassungsrechtliche Schutz der Homosexualität, 93 ff. („praktische Bedeutungslosigkeit“); unklar Erichsen, in: HdStR, § 152, Rn. 41 f.; a. A. Isensee, in: HdStR, § 111, Rn. 115; Starck, in: FS Geiger, 259 (273), der aber seine Meinung geändert zu haben scheint; vgl. ders., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 2 I, Rn. 39. 73 BVerfGE 6, 389. 74 Podlech, in: AK zum GG, Art. 2 Abs. 1, 64. 75 s. oben I. und II. 76 Es muss daher an die Notwendigkeit der Prüfung zweier Grundrechte erinnert werden. Wenn bestimmte sexuelle Handlungen verboten werden, so liegt schon darin ein erster Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht, vgl. oben 2. Kap. B. II. 2. a). Wenn dieser Eingriff zusätzlich paternalistisch motiviert ist, so greift das allgemeine Persönlichkeitsrecht ein zweites Mal ein (oben 2. Kap. B. IV. 3. und 4.). Nur darum geht es an dieser Stelle.
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legitimiert werden. Das könnte, wenn überhaupt, allenfalls damit begründet werden, dass das Leben des paternalistisch Bevormundeten dann ein besseres wäre. Bei einer solchen Argumentation treten jedoch dieselben Schwierigkeiten auf wie bei dem Versuch, die Menschenwürde für den Zweck der Freiheitsbeschränkung heranzuziehen: Die Behauptung, jemand schädige sich selbst durch sein unmoralisches Verhalten, wird regelmäßig nicht belegbar sein, weil es – anders als beispielsweise in den Fällen der Selbstschädigung durch das Rauchen – an einem feststellbaren Schaden fehlt. Man kann zwar davon ausgehen, dass moralisches Handeln Bestandteil des guten Lebens ist, und folgern, dass unmoralisches Handeln den Wert eines Lebens beschädigt. Dass dieser Defekt dann aber durch ein Verbot der unmoralischen Handlungsweise geheilt werden könnte, folgt jedoch auch daraus noch nicht. Denn wie Dworkin dargelegt hat, müsste für eine solche Annahme der unplausible additive view zugrunde gelegt werden, dem zufolge die richtige Motivation für eine Handlung oder Unterlassung irrelevant ist und es nur auf das äußere Ergebnis ankommt. Selbst wenn also beispielsweise homosexuelles Verhalten unmoralisch wäre und den Wert des Lebens des aktiv Homosexuellen beschädigen würde, folgte nicht notwendigerweise, dass das Leben des Homosexuellen ein besseres wäre, wenn er nur aus Furcht vor Strafe seine Neigung unterdrücken würde. Daher ist nicht ersichtlich, dass ein auf dem Sittengesetz basierendes paternalistisches Verbot tatsächlich zum guten Leben des Betroffenen beitragen könnte. Es sprechen daher, wie bei der Menschenwürde77, zwei unabhängige Gründe gegen eine Berufung auf das Sittengesetz zur Rechtfertigung von Paternalismus: Zum einen ist eine solche Argumentation unter dem Grundgesetz nicht gestattet, da jeder unter dem Grundgesetz das Recht hat, seine eigenen Moralmaßstäbe festzusetzen, zum anderen ist sie auch noch unschlüssig, da eine Verbesserung des Lebens des Bevormundeten weder nachgewiesen noch plausibel gemacht werden kann.
VI. Das Sozialstaatsprinzip Kann das Sozialstaatsprinzip eine paternalistische Bevormundung legitimieren? Fischer lehnt diesen Gedanken ab, da es bei dem Sozialstaatsprinzip – wie schon die Herkunft des Wortes vom lateinischen socius nahe lege – um das Zusammenleben der Menschen in Staat und Gesellschaft gehe. Werde das Sozialstaatsprinzip im Sinne dieses Bezugs gedeutet, so biete es grundsätzlich keine Legitimation für gesetzgeberische Eingriffsakte zum Schutz des Menschen vor Selbstschädigungen78. 77 Die Parallele zur Menschenwürde sieht auch Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes vor Selbstschädigung, 256 f. 78 Ebd., 257 f.
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3. Kap.: Die Rechtfertigung von Paternalismus
Allerdings übersieht Fischer eine weitere Deutungsmöglichkeit, die dann durchaus ein Gemeinschaftselement in den Vordergrund rückt: Paternalismus kann gerade als eine noble Pflicht der Gemeinschaft gegenüber fehlgeleiteten Mitgliedern verstanden werden79. Wenn Paternalismus nicht – wie so oft insbesondere bei moralischem Paternalismus – auf Hass und Vorurteilen80, sondern auf einem tiefen Verantwortungsgefühl für das Wohl des anderen basiert, kann sich darin möglicherweise eine echte Gemeinschaftlichkeit ausdrücken. Dies gilt insbesondere, wenn und soweit die paternalistische Handlung altruistisch vorgenommen wird, denn der Betroffene schädigt ja niemanden außer sich selbst, und die Gemeinschaft wendet möglicherweise auch noch Ressourcen auf, um ihn davon abzubringen und ein besseres Leben zu haben. Folgt daraus, dass staatlicher Paternalismus zulässig ist, wenn er nur aus den richtigen Motiven heraus begangen wird? Wie dem in philosophischer Hinsicht auch sei, die Sozialstaatsklausel des Grundgesetzes wird man jedenfalls nicht in dieser Weise interpretieren können. Das Sozialstaatsgebot ist eine unbestimmte Vorschrift, die der konkreten Ausgestaltung in hohem Maße fähig und bedürftig ist81. Es ist rechtsmethodisch nicht zulässig, diesen Spielraum mit einem beliebigen, politisch oder philosophisch gewünschten Inhalt zu füllen, sondern aufgrund ihrer Unbestimmtheit muss sich die Interpretation bei Zweifelsfragen in erster Linie an den anderen Wertungen der Verfassung orientieren und darf sich hierzu nicht in Widerspruch setzen82. „Sozial“ kann ein Staat sein, der Hilfe anbietet, wenn sie benötigt und gewünscht wird. Es gibt keinen Grund, das Sozialstaatsgebot darüber hinausgehend so zu interpretieren, dass der Staat auch das Recht hat, ungewollte Hilfe aufzuzwingen, so dass dabei Grundrechte in einer ansonsten nicht zu rechtfertigenden Weise beeinträchtigt werden würden. Eine solche Interpretation würde sich in Widerspruch zum Grundrechtsteil, und zwar insbesondere zum Persönlichkeitsrecht des Art. 2 I i.V. m. 1 I GG setzen, denn diese Normen schützen, wie dargelegt, sowohl in objektiver wie in subjektiver Hinsicht die Autonomie des Menschen und das Recht, selbst über mögliche Gefährdungen der eigenen Person entscheiden zu können. Sie ist daher abzulehnen.
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Vgl. dazu oben 1. Kap. A. III. Vgl. dazu R. Dworkin, Sovereign Virtue, 268: „[S]ome states claim a right or even an obligation to make people’s lives better in the critical sense, not only against their will, that is, but against their conviction. That motive for coercion has not been of much practical importance in our time. Theocratic colonizers aim at their own salvation, not at the well-being of those they force to convert, and sexual bigots act out of hatred, not out of concern for those whose behavior they find immoral.“ 81 Schnapp, in: von Münch/Kunig, GG, Art. 20, Rn. 16; 82 Vgl. BVerfGE 35, 348 (355 f.); Kittner, in: AK zum GG, Art. 20 Abs. 1–3 IV, Rn. 27; Zacher, in: HdStR, § 25, Rn. 23 f. 80
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VII. Sonderfall Selbstmord Damit kann jetzt auch die Frage entschieden werden, ob aus der objektiven Dimension der Grundrechte oder sonstigen Verfassungsprinzipien eine Einschränkbarkeit des Rechts auf Selbstmord herzuleiten ist83. Nach den obigen Ausführungen liegt nahe, dass dies nicht möglich ist. Denn der Einzelne hat unter dem Grundgesetz gerade das Recht, selbst zu entscheiden, ob er sein Leben noch wertvoll findet oder nicht, und entsprechend seiner Ansicht zu handeln. Auch der Gedanke der Freiheitsmaximierung kann nach dem Dargelegten kein Eingreifen des Staates legitimieren, da das Grundgesetz nicht Freiheit als objektiven Wert, sondern vorrangig in subjektiver Hinsicht schützt. Sittengesetz und Sozialstaatsprinzip sind ebenfalls nicht einschlägig. Gerade am Beispiel des Selbstmordes lässt sich sehr treffend eine weitere Schwäche des Konzepts der objektiven Werte darstellen. Wer dafür streitet, dass aufgrund der objektiven Dimension der Grundrechte der Selbstmord eingeschränkt werden kann, der hat keine Möglichkeit, zwischen verschiedenen Fällen des Selbstmordes zu differenzieren. Wenn Leben ein objektiver „Wert“ ist, dann „gilt“ dieser Wert ebenso im Fall des von seiner Freundin verlassenen Studenten wie in dem des unerträglich leidenden Krebskranken im Endstadium. Wer dazu geneigt ist, zumindest im letzteren Fall den Selbstmord zuzulassen, der bekommt Probleme, wenn er ansonsten die Theorie der objektiven Werte bejaht. Denn es gibt keinen sachlichen Differenzierungsgrund, mit dem man erklären könnte, warum dem liebeskranken Studenten der Selbstmord wegen der Geltung des Wertes „Leben“ versagt werden soll, der Krebskranke dagegen möglicherweise das Recht haben soll, sein Leben zu beenden. Denn gerade aus der Eigenschaft als Wert folgt die Geltungskraft unabhängig vom Einzelfall84. Für den Fall der paternalistischen Selbstmordverhinderung ist die Sachlage ähnlich: Der Paternalist muss behaupten, das Leben des Betroffenen zu verbessern. Wenn er sich auf den objektiven Wert Leben beruft, dann folgt, dass er behaupten muss, in jedem Fall, in dem er den Selbstmord verhindert, das Leben des Geretteten zu verbessern. Das mag im Fall des Studenten plausibel erschei83
Vgl. zum Meinungsstand oben 2. Kap. B. III. 1. Vgl. Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit, 78 („abstrakt und allgemein“, „auf Totalität der Geltung gerichtet“), 88 („abstrakte und universale Geltung“). Daher ist es verwunderlich, dass in der Literatur auf einmal ohne nähere Begründung Ausnahmen von der objektiven Geltung der Grundrechte zugelassen werden, wenn das eigene Rechtsempfinden dies gerade nahe legt. Die Ergebnisse, die dabei herauskommen, lassen so manchen Schluss auf die Weltanschauungen des jeweiligen Autors zu, haben aber wenig mit einer konsequenten und widerspruchsfreien Anwendung des Konzepts der objektiven Werte gemein. Ein Beispiel: Dürig zufolge soll der „Verzicht auf das eigene Leben“ auf einmal doch wieder „rechtsbeachtlich“ sein, wenn er selbstlos zur Rettung anderer Leben erfolgt, wenn etwa die Mutter unter Lebensgefahr einen medizinisch indizierten Schwangerschaftsabbruch ablehnt, um ihr Kind zu retten (Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 II, Rn. 12). 84
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nen; bei dem Schwerstkranken liegt es näher, dass sein Leben durch die fortgesetzten Qualen und die selbstgefällige Ignoranz gegenüber dem letzten Wunsch des Kranken in gravierender Weise verschlechtert wird. Diese Unerbittlichkeit und Resistenz gegenüber den Umständen des Einzelfalls ist ein weiterer Grund, dem Konzept der objektiven Werte gegenüber sehr zurückhaltend zu sein. Um Missverständnissen vorzubeugen, ist die folgende Anmerkung zu machen. Es ist zu beachten, dass sich die Ausführungen in diesem Abschnitt nur auf den Fall beziehen, dass der Selbstmord freiwillig ausgeübt wird und die Entscheidung keine sonstigen relevanten Mängel aufweist. Zu der Frage, unter welchen Bedingungen ein Selbstmord als vom Autonomierecht geschützt akzeptiert werden muss und wann er unterbunden werden kann, wird noch Stellung genommen werden. Hier geht es dagegen nur um den Fall, dass jemand in Kenntnis aller Umstände, bei klarem Verstand, nach reiflicher Überlegung, im Einklang mit seinem Lebensplan usw. seinem Leben ein Ende setzen will. In einem solchen Fall hat er ein Recht darauf, nicht zu seinem vermeintlich Besten davon abgehalten zu werden.
VIII. Fazit Es gibt im Grundgesetz keine Verfassungsprinzipien, die geeignet sind, die Autonomie des Einzelnen gleichsam „von außen“ zu beschränken. Die Lehre von den Grundrechten als objektiven Werten kann auf das Paternalismusproblem nicht angewendet werden. Auch die Berufung auf ein Prinzip der Freiheitsmaximierung scheidet aus, ebenso wie die Menschenwürde, das Sozialstaatsprinzip und das Sittengesetz nicht zur Rechtfertigung herangezogen werden können. Diese juristischen Ergebnisse finden teilweise eine Bestätigung in der Philosophie Ronald Dworkins. Es muss in Fällen von kritischem Paternalismus, also solchem, der sich gegen gefestigte Überzeugungen wendet, verneint werden, dass durch ein Aufzwingen äußerer Werte das Leben der Betroffenen überhaupt verbessert werden kann. Vielmehr kommt es bei Fragen des guten Lebens stets auch auf die richtige Handlungsmotivation an; diese bleibt aber bei allen „objektiven“ Ansätzen stets außen vor.
B. Die Anforderungen an Entscheidungsbildung und -inhalt I. Problemaufriss Aus den Überlegungen der vorangegangenen Abschnitte folgt, dass die Autonomie des Einzelnen nicht allein aus dem Grund eingeschränkt werden darf, dass er sich schadet, und dass es auch nicht erlaubt ist, ihm objektive Werte
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aufzuzwingen. Damit sind die Rechtfertigungsmöglichkeiten für Paternalismus weiter begrenzt worden. Eine naheliegende Schlussfolgerung wäre, dass die bisher erarbeiteten Beschränkungen schon ausreichen, um jeglichem Paternalismus den Boden zu entziehen: Wenn es dem Staat verwehrt ist, das Recht gegen Paternalismus aus dem Grund einzuschränken, dass der Grundrechtsinhaber sich schadet, und wenn er auch keine objektiven Werte verfolgen darf, was bleibt dann noch? Jetzt schon den vollständigen Verzicht auf Paternalismus zu fordern, wäre jedoch voreilig. Es gibt offensichtlich Fälle im deutschen Recht, in denen Paternalismus auch ohne Berufung auf verfehlte Theorien wie die von den objektiven Werten als zulässig eingeschätzt wird. Es hat sich noch niemand gegen die paternalistische Bevormundung von Kindern und Geisteskranken gewendet – ganz im Gegenteil, ein Handeln zum Besten der Betroffenen und damit teilweise gegen ihren erklärten Willen wird allgemein als richtig angesehen. Damit stellt sich die Frage, auf welche Weise ein solches Vorgehen am besten gerechtfertigt werden kann, und ob dies die einzigen Anwendungsfälle für staatlichen Paternalismus sind. Bei den bisherigen Überlegungen ging es stets um Ansätze, die die individuellen Vorstellungen des Betroffenen außen vor ließen: Es wurde gefragt, ob er sich objektiven Werten beugen muss usw. Solche Ansätze sind unter dem Grundgesetz nicht zulässig; vielmehr verlangt das Grundgesetz Respekt vor den Wertvorstellungen des Einzelnen. Daher muss sich jetzt das Augenmerk auf die „inneren“ Anforderungen richten, die an eine Entscheidung zu stellen sind. Daher wird im Folgenden zu untersuchen sein, wie der Staat seiner Pflicht, den Einzelnen und dessen Wertvorstellungen zu respektieren, am besten nachkommen kann und welche paternalistischen Spielräume sich dabei ergeben. Es wird hier so vorgegangen werden, dass zunächst die verschiedenen Ansätze dargestellt werden, die man im deutschen Recht zu der Frage, wann eine Willensäußerung als ungültig oder nur eingeschränkt gültig betrachtet wird, finden kann. Es wird sich dabei herausstellen, dass der Ansatz, den die Staatsrechtswissenschaft bisher vertreten hat, an inneren Widersprüchen leidet und deshalb aufgegeben werden muss. Im Anschluss soll das Problem aus Sicht der Philosophen beleuchtet werden. Hier werden die wichtigsten Ansätze und ihre praktischen Konsequenzen vorgestellt werden. Ein Ansatz wird sich dabei als besonders geeignet erweisen, als Ausgangspunkt für eine widerspruchsfreie grundrechtliche Beurteilung des Paternalismusproblems zu dienen. So kann dann die Position des Grundgesetzes erarbeitet und anschließend an einigen Beispielen erläutert werden.
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II. Juristische und philosophische Ansätze in der bisherigen Diskussion 1. Juristische Ansätze a) Die Zurechenbarkeit von Willensäußerungen im einfachen Recht Im einfachen Recht stellt sich häufig das Problem, wann eine Willensäußerung in Form einer Handlung oder Erklärung dem sich Äußernden zugerechnet werden kann bzw. wann Mängel in der Willensbildung so gravierend werden, dass sie zur Nichtzurechnung der Willensäußerung führen. Im Rahmen dieser Arbeit sind insbesondere zwei Bereiche interessant: Zum einen muss untersucht werden, unter welchen Voraussetzungen eine Person überhaupt in der Lage ist, verantwortlich zu handeln; dies berührt Fragen der Schuld-, Rechts- und Deliktsfähigkeit. Zum anderen könnte es gerade für die Paternalismusuntersuchung weiterführend sein, die Voraussetzungen zu untersuchen, die das einfache Recht an die Eigenverantwortlichkeit einer Selbstverletzung oder Selbstgefährdung stellt. aa) Strafrecht Im Strafrecht stellt sich zum einen die Frage nach der Schuldfähigkeit und zum anderen die nach der Relevanz von Willensmängeln bei der Einwilligung in Rechtsgutsverletzungen bzw. der freiwilligen Selbstgefährdung. Voraussetzung für die Strafbarkeit eines Verhaltens ist die Schuldfähigkeit des Täters. Der Begriff der Schuld wird dabei häufig als Vorwerfbarkeit definiert; schuldhaft handelt demgemäß, wem seine Tat zum Vorwurf gemacht werden kann85. Die Schuldfähigkeit wird für Kinder unter 14 Jahren durch die unwiderlegliche Vermutung des § 19 StGB ausgeschlossen. Für Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren ist § 3 JGG einschlägig, dem zufolge es darauf ankommt, ob der Betreffende zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung reif genug ist, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln. Für Erwachsene bestimmt § 20 StGB, dass ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln. Der praktisch häufigste Fall ist hier die Trunkenheit. Etwa ab einer Blutalkoholkonzentration von 3% kann eine Schuldunfähigkeit nicht mehr ausgeschlossen werden86. Ist die Einsichts85
Vgl. Lenckner, in: Schönke/Schröder, StGB, Rn. 114 vor § 13 ff. m. w. N.
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und Steuerungsfähigkeit aus den in § 20 StGB aufgeführten Gründen lediglich „erheblich vermindert“, nicht aber aufgehoben, so ist gem. § 21 StGB die Strafe zu mildern. Eine Einwilligung schließt die Rechtswidrigkeit aus. Zu ihrer Gültigkeit ist nicht die zivilrechtliche Geschäftsfähigkeit erforderlich, sondern es kommt auf die konkrete Einsichts- und Urteilsfähigkeit des Verletzten an87. Sie ist ihrem Wesen nach ein durch das Selbstbestimmungsrecht legitimierter Verzicht auf Rechtsschutz mit der Folge, dass die Verbotsnorm zurücktritt88. Dieser Bezug zum Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen macht die Einwilligung für diese Arbeit interessant. Die Frage ist, wie sich Willensmängel auf die Gültigkeit der Einwilligung auswirken. Hier werden in der Strafrechtswissenschaft üblicherweise drei Fälle unterschieden. Eine Einwilligung kann unwirksam sein, wenn sie auf einem Irrtum beruht. Jedoch macht nicht jeder der Einwilligung zugrunde liegende Irrtum diese auch unwirksam. Nach h. M. kommt es darauf an, ob der Irrtum rechtsgutsbezogen ist, d.h. ob sich der Einwilligende über die Folgen, Bedeutung und Tragweite seines Tuns für das verletzte Rechtsgut im Klaren ist89. So muss der Arzt den Patienten über die Diagnose, über Art und Umfang des Eingriffs sowie seine möglichen Folgen aufklären90. Auch eine durch eine Täuschung erschlichene Einwilligung ist in der Regel unwirksam. Wiederum kommt es darauf an, ob der hervorgerufene Irrtum rechtsgutsbezogen ist oder nicht. So sei beispielsweise eine Täuschung über ein Entgelt für eine Blutspende nicht rechtsgutsbezogen und schließe die Gültigkeit der Einwilligung nicht aus91. Schließlich darf die Einwilligung nicht durch eine Drohung erlangt worden sein. Es genüge freilich nicht jede harmlose, im sozialen Zusammenleben hinzunehmende Drohung. Es müsse der Bereich erreicht sein, wo die Selbst- zur rechtlich nicht mehr tolerierbaren Fremdbestimmung werde und wo deshalb auch zum Schutz des Genötigten ein von diesem erklärter Rechtsschutzverzicht unwirksam sein müsse92. Anders als bei der Verletzung eines Rechtsgutes durch einen Dritten soll bei der Teilnahme an einer Selbstschädigung nicht nur die Rechtswidrigkeit, sondern bereits die Tatbestandsmäßigkeit entfallen. Diese Problematik wird bei86 87 88 89 90 91 92
Lackner/Kühl, StGB, § 20, Rn. 18 m. w. N. Ebd., Rn. 16 vor § 32. Lenckner, in: Schönke/Schröder, StGB, Rn. 33 vor § 32 ff. Ebd., Rn. 46 vor § 32 ff. m. w. N. Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, § 13, Rn. 77 m. w. N. Ebd., Rn. 67 f. Lenckner, in: Schönke/Schröder, StGB, Rn. 48 vor § 32 ff.
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spielsweise in Fällen der Überlassung von Rauschgift relevant. Der BGH hat hier seine Rechtsprechung revidiert: Während er in Entscheidungen vor 1984 noch davon ausging, dass die Überlassung von Rauschgift, über dessen Gefährlichkeit sich das spätere Opfer im Klaren ist, eine missbilligte Gefahrenschaffung i. S. d. § 222 StGB darstelle, misst er jetzt dem Gedanken der Selbstbestimmung mehr Gewicht bei: „Eigenverantwortlich gewollte . . . und verwirklichte Selbstgefährdungen unterfallen . . . nicht dem Tatbestand eines Verletzungs- oder Tötungsdelikts.“93 Welcher Maßstab für die Eigenverantwortlichkeit anzulegen ist, ist dabei umstritten. Eine Auffassung legt die Exkulpationsregeln der §§ 20, 35 StGB, § 3 JGG zugrunde. Die Frage ist dann, ob dem Betroffenen der Vorwurf schuldhaften Handelns erspart geblieben wäre, wenn er nicht sich, sondern einen Dritten verletzt hätte94. Die Gegenauffassung will sich dagegen an der Einwilligungslehre orientieren95; dies führt dann zu einem größeren Schutz für den sich selbst Gefährdenden. Diese Meinung wird damit begründet, dass bei einer Verfügung über das eigene Leben an die Mangelfreiheit der Willensbildung keine geringeren Anforderungen gestellt werden dürften als bei der Einwilligung in eine Körperverletzung und bei der in § 216 StGB vorausgesetzten Ernstlichkeit des Todesverlangens. Obwohl sich der BGH noch nicht eindeutig erklärt hat, scheinen Äußerungen in jüngerer Zeit dafür zu sprechen, dass er der letztgenannten Auffassung zuneigt. So bekräftigt er in einem neueren Urteil die oben dargestellte Auffassung, dass eine eigenverantwortliche Selbstgefährdung nicht tatbestandsmäßig sei, und fügt dann an: „Den festgestellten Gesamtumständen ist zu entnehmen, dass der zu Tode gekommene A nicht etwa außer Stande war, die Risiken seines Tuns sachgerecht abzuwägen oder der Verlockung zum Drogenkonsum nennenswerten Widerstand entgegenzusetzen . . . A war weder alkoholisiert noch in irgendeiner Weise erkrankt, als er das Heroin sniefte. Im Umgang mit Drogen, auch Heroin, war er nicht unerfahren, weil er in früherer Zeit Gelegenheitskonsument gewesen war. Zum Vorfallszeitpunkt war er nicht drogenabhängig. Auch hatte er die Warnung der Angekl. verstanden . . . Eine täterschaftliche Verantwortung der Angekl. für den Tod des A ergibt sich schließlich auch nicht unter dem Gesichtspunkt eines überlegenen Sachwissens, dass grundsätzlich die Zurechnung des vom Opfer selbst bewirkten Todeseintritts zu rechtfertigen vermag . . . A kannte den Warnhinweis der Angekl., es handele sich um sehr star93
BGHSt 32, 262 (263 f.). Bottke, Suizid und Strafrecht, 250 ff.; Dölling, GA 1984, 71 (78 ff.); Roxin, FS Dreher, 331 (346); Zaczyk, Strafrechtliches Unrecht und die Verantwortung des Verletzten, 43 ff.; jeweils m. w. N. 95 Eser, in: Schönke/Schröder, StGB, Rn. 36 vor § 211 ff.; Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs, 166 ff.; Geilen, JZ 1974, 145 (151); Lackner/Kühl, StGB, Rn. 13a vor § 211; Wessels/Beulke, Strafrecht Allgemeiner Teil, Rn. 539; Wessels/Hettinger, Strafrecht Besonderer Teil/1, Rn. 48; jeweils m. w. N. 94
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kes Heroin, man müsse beim Konsumieren aufpassen. Ihm war – neben dem ebenfalls als bekannt vorauszusetzenden grundsätzlichen Risiko bei Heroinkonsum – überdies zum Zeitpunkt seines Rauschgiftgenusses bekannt, dass zuvor K infolge Heroinkonsums ins Koma gefallen war und im Krankenhaus lag.“96 Das Zitat macht deutlich, dass der BGH die Frage, ob der sich selbst Gefährdende möglicherweise unfrei gehandelt hat, intensiv untersucht und unter vielen verschiedenen Aspekten beleuchtet, und es deutet an, dass er in einem Fall, in dem eine Entscheidung zwischen den beiden Auffassungen erforderlich wäre, vermutlich auf den strengen zweiten Maßstab zurückgreifen würde. Für diese Arbeit ist nicht jedes Detail, wohl aber ein besonderer Aspekt der strafrechtswissenschaftlichen Diskussion von großem Interesse, nämlich das Hauptargument der Vertreter der ersten Auffassung, die die Eigenverantwortlichkeit in Anlehnung an die Exkulpationsregeln bestimmen wollen. Sie argumentieren, dass aus diesen Vorschriften hervorgehe, bis zu welcher Grenze jeder für sein Handeln einzustehen habe97. Diese Auffassung geht also davon aus, dass es einen einheitlichen Maßstab der Verantwortlichkeit geben müsse, der dann sowohl auf die Frage, wann eine Selbstgefährdung eigenverantwortlich geschehe, als auch auf das Problem, wann eine Fremdgefährdung von dem Handelnden verantwortet werden müsse, eine Antwort bereithalte. Dieses Verständnis hat Frisch eindrucksvoll angegriffen. Für Frisch verschleiert der Rückgriff auf den Topos „Verantwortlichkeit“, dass es hier in Wahrheit um zwei ganz verschiedene Regelungen gehe. Im Fall der §§ 20, 35 StGB gehe es um die strafrechtliche Verantwortlichkeit dessen, der andere verletzt. Bei der Selbstgefährdung dagegen sei die maßgebliche Frage, wann die Auslösung des Risikos der Selbstverletzung oder Selbstgefährdung der Person im Interesse der Gütererhaltung angemessenerweise missbilligt und dementsprechend die Handlungsfreiheit der auslösenden Person bei Strafe eingeschränkt werden müsse. Dementsprechend sei die Verantwortlichkeit „nichts einfach Fertiges, Übernehmbares, an einen Vorgang naturalistisch vorfindbarer Folgenherbeiführung seitens des Opfers Anlegbares, sondern ein vor dem eben skizzierten Hintergrund sachgerecht überhaupt erst noch zu formendes Substrat.“98 Frisch zeigt also auf, dass der Begriff der Verantwortlichkeit je nach dem Regelungsbereich, in dem er gebraucht wird, einen anderen Inhalt annehmen kann. Was jemand verantworten muss, richtet sich daher gerade nicht nach einem allgemein gültigen Maßstab. Dieser Gedanke kann sich möglicherweise auch für die Grundrechtsdogmatik verwerten lassen. Es wird zu untersuchen sein, ob man nicht verschiedene Maßstäbe anlegen muss, je nachdem, in wel96
BGH NJW 2000, 2286 (2287). Dies ist insbesondere das Argument von Roxin, FS Dreher, 331 (346). 98 Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs, 167 f. (Hervorhebung im Original). 97
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3. Kap.: Die Rechtfertigung von Paternalismus
chem Zusammenhang man die Autonomie des Einzelnen untersucht. Es könnte sich ergeben, dass die Frage, wann jemand unter dem Grundgesetz prinzipiell ein Recht auf Selbstbestimmung hat, nicht deckungsgleich mit der Frage ist, wann seine Autonomie zu seinem eigenen Schutz beschränkt werden darf. Die Reichweite der Freiheiten des Einzelnen muss vor dem Hintergrund der zu regelnden Materie untersucht werden. Wenn jemand die grundsätzliche Fähigkeit zu einem selbstbestimmten Leben hat, folgt nicht notwendigerweise, dass die Willensbildung des Betreffenden auch in jeder Einzelfrage den inhaltlichen Voraussetzungen an eine autonome Entscheidung genügt. Es ist an dieser Stelle nicht beabsichtigt, schon eine bestimmte Lösung der Frage nahe zu legen. Es soll nur darauf hingewiesen werden, dass die Diskussion in der Strafrechtswissenschaft hier einen Aspekt ins Spiel bringt, der bei der Problemlösung eine Rolle spielen könnte. bb) Zivilrecht Im Zivilrecht gibt es vergleichbare Probleme wie im Strafrecht; insbesondere ist zu fragen, unter welchen Voraussetzungen der Einzelne geschäfts- bzw. deliktsfähig fähig ist und wie sich Willensmängel bei der Gültigkeit bzw. Vernichtbarkeit von Willenserklärungen und Einwilligungen bzw. bei der freiwilligen Selbstgefährdung im Rahmen deliktischer Haftung auswirken. Um eine wirksame Willenserklärung abgeben zu können, muss man geschäftsfähig sein. § 104 BGB bestimmt, dass geschäftsunfähig ist, wer nicht das siebente Lebensjahr vollendet hat, oder wer sich in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustande krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet, sofern nicht der Zustand seiner Natur nach ein vorübergehender ist. Ferner ist gem. § 105 II BGB eine Willenserklärung nichtig, die im Zustande der Bewusstlosigkeit oder vorübergehender Störung der Geistestätigkeit abgegeben wird. Die Bedeutung dieser Vorschriften liegt im Schutz der nicht voll Geschäftsfähigen; diese sollen davor geschützt werden, sich selbst zu schädigen99. Für den Bereich der deliktischen Haftung regeln §§ 827 f. BGB die Deliktsfähigkeit. Gem. § 827 S. 1 BGB ist für einen Schaden nicht verantwortlich, wer im Zustande der Bewusstlosigkeit oder in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustande krankhafter Störung der Geistestätigkeit einem anderen Schaden zufügt. § 828 I BGB bestimmt, dass Kinder unter sieben Jahren nicht deliktsfähig sind. Abs. 2 S. 1 legt fest, dass Kinder bzw. Jugendliche zwischen sieben und 18 Jahren für einen Schaden dann nicht verantwortlich sind, wenn sie bei der Begehung der schädigenden Handlung nicht die zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht besitzen. 99
Brox, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Gesetzbuchs, Rn. 223.
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Während es bei der Geschäfts- bzw. Deliktsfähigkeit – ähnlich wie bei der Schuldfähigkeit – darum geht, ob eine Person überhaupt für ihr Verhalten verantwortlich gemacht werden kann, geht es bei der Frage nach der Gültigkeit bzw. Vernichtbarkeit von Willenserklärungen und Einwilligungen um die Anforderungen an die konkrete Willensbildung. Eine Willenserklärung eines Geschäftsfähigen wird nicht durch jeden beliebigen Willensmangel ungültig gemacht. Würde jeder Fehler bei der Willensbildung zur Nichtigkeit der Willenserklärung führen, so wäre die Verkehrssicherheit gefährdet100. Daher sind Willenserklärungen in aller Regel zunächst gültig, können aber unter bestimmten Umständen durch Anfechtung vernichtet werden. Ähnlich wie bei der Einwilligung im Strafrecht wird auch hier zwischen Anfechtbarkeit aufgrund Irrtums, Täuschung oder Drohung unterschieden. Gem. § 119 I BGB berechtigen Inhalts- und Erklärungsirrtümer zur Anfechtung; in diesen Fällen handelt es sich um ein unbewusstes Abweichen von Wille und Erklärung101. Motivirrtümer sind dagegen grundsätzlich unbeachtlich; eine Ausnahme bildet der in § 119 II BGB geregelte Irrtum über solche Eigenschaften der Person oder Sache, die im Verkehr als wesentlich angesehen werden. Ein Beispiel ist, dass jemand einen Ring verkauft, den er nur für vergoldet hält, der aber in Wirklichkeit aus Gold ist102. Gem. § 123 I BGB kann derjenige, der zur Abgabe einer Willenserklärung durch arglistige Täuschung oder widerrechtlich durch Drohung bestimmt worden ist, die Erklärung anfechten. Sinn und Zweck der Vorschrift ist der Schutz der Willensfreiheit des Einzelnen103. Bei deliktischer Haftung kann die Rechtswidrigkeit, wie im Strafrecht, durch eine Einwilligung ausgeschlossen werden. Auch hier gilt, dass eine unter Drohung oder Täuschung gegebene Einwilligung unwirksam ist; eine irrtümlich gegebene Einwilligung soll aber in der Regel dennoch gültig sein; entscheidend soll es darauf ankommen, ob nach Lage der Verhältnisse der Wille in einer Art und in einem Maße beeinträchtigt ist, dass die Willensentschließung noch als Ausfluss der eigenen wahren inneren Willensbildung des Betroffenen gelten kann104. Andererseits werden hohe Anforderungen an die Mangelfreiheit des Willens gestellt, wenn es um die Einwilligung in den ärztlichen Heileingriff geht. Die ärztliche Aufklärung soll es dem Patienten ermöglichen, Art, Bedeutung, Ablauf und Folgen eines Eingriffs zwar nicht in allen Einzelheiten, aber doch in den Grundzügen zu verstehen. Der Patient ist über den ärztlichen Befund, Art, Tragweite, Dringlichkeit, voraussichtlichen Verlauf und Folgen des geplanten Eingriffs sowie über Art und konkrete Wahrscheinlichkeit der ver100 101 102 103 104
Ebd., Rn. 334. Ebd., Rn. 341. Ebd., 370. Jauernig, in: Jauernig, BGB, § 123, Rn. 1. BGH NJW 1964, 1177 (1178).
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schiedenen Risiken im Verhältnis zu den entsprechenden Heilchancen, über mögliche andere Behandlungsweisen und über die ohne den Eingriff zu erwartenden Risiken einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes zu unterrichten; auch etwaige Auswirkungen auf die berufliche und private Lebenssituation des Patienten sind mitzuberücksichtigen105. Schließlich sind noch die Fälle der freiwilligen Selbstgefährdung zu behandeln. Hierzu gibt es in der zivilrechtlichen Rechtsprechung und Literatur eine Fülle von Lösungsansätzen, von denen sich jedoch noch keiner allgemein durchgesetzt hat106. Es scheint jedoch, dass sich der BGH der oben dargelegten Auffassung der Strafrechtler annähert. Es gelte der Grundsatz, dass weder ein allgemeines Gebot bestehe, andere vor Selbstgefährdung zu bewahren, noch ein Verbot, sie zur Selbstgefährdung psychisch zu veranlassen, sofern nicht das selbstgefährdende Verhalten durch Hervorrufen einer mindestens im Ansatz billigenswerten Motivation „herausgefordert“ worden sei107. Der Hinweis im letzten Halbsatz bezieht sich dabei auf die Fälle, in denen sich jemand selbst zwar gefährdet, sich dazu aber herausgefordert sehen durfte, etwa wenn sich ein Polizist bei der Verfolgung eines Straftäters verletzt108. In den Fällen, in denen sich jemand zu einem erkennbar angetrunkenen oder übermüdeten Fahrer ins Auto setzt, soll keine haftungsausschließende Selbstgefährdung und auch keine rechtfertigende Einwilligung in eine mögliche Verletzung vorliegen; vielmehr sei der Standort des Problems in der vom BGB in § 254 getroffenen Wertung zu suchen109. Anders wieder für Verletzungen beim Mannschaftssport: Verletzungen, die ein Fußballspieler beim Austragen eines Wettkampfes durch einen anderen, sich regelkonform verhaltenden Spieler erleide, würden von jedem Teilnehmer in Kauf genommen und könnten daher keine Schadensersatzpflicht auslösen110. Auch wenn es dem BGH noch nicht abschließend gelungen ist, allgemein gültige Prinzipien für die Behandlung der Selbstgefährdung aufzustellen, zeigen die hier angesprochenen Beispiele doch die grobe Richtung auf, in die sich die Rechtsprechung bewegt: Wer sich freiwillig selbst gefährdet, wird in aller Regel keinen oder allenfalls einen gekürzten Schadensersatzanspruch gegen den unmittelbaren Verursacher einer Verletzung haben. Unklar ist jedoch, welcher Maßstab für die Beurteilung der Freiwilligkeit anzulegen ist.
105
Mertens, in: Münchener Kommentar zum BGB, Band 5, § 823, Rn. 423 m. w. N. Ausführliche Darstellung bei Hasselblatt, Die Grenzziehung zwischen verantwortlicher Fremd- und eigenverantwortlicher Selbstgefährdung im Deliktsrecht, 28 ff. 107 BGH NJW 1986, 1865 (1865). 108 Medicus, Schuldrecht I, Rn. 602. 109 BGHZ 34, 355 (363). 110 BGHZ 63, 140 (142). 106
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cc) Zwischenbilanz Damit kann eine erste Zwischenbilanz gezogen werden. Bei der Untersuchung der Regelungen im Straf- und Zivilrecht können zwei Beobachtungen gemacht werden. Erstens gibt es in beiden Rechtsgebieten zwei große Bereiche, in denen es um die Zurechenbarkeit von Willensäußerungen zu einer Person geht. Der erste Bereich umfasst die strafrechtlichen Vorschriften zur Schuldfähigkeit und die zivilrechtlichen Bestimmungen zur Geschäfts- und Deliktsfähigkeit. Hier geht es darum, ob eine Handlung, die eine straf- oder zivilrechtliche Verantwortlichkeit in der Person des Handelnden begründet, von diesem verantwortet werden muss. Der zweite Bereich beinhaltet die Vorschriften zur Gültigkeit der Einwilligung im Straf- und Zivilrecht, zur Eigenverantwortlichkeit der Selbstgefährdung in beiden Rechtsgebieten und zu den Konsequenzen eines Mangels bei der Willensbildung bei der Abgabe einer Willenserklärung. Hier geht es darum, ob der Betreffende für eine bei ihm selbst eintretende Rechtsgutsverletzung oder vertragliche Bindung einstehen muss oder ob andere möglicherweise dafür verantwortlich gemacht werden können bzw. die Vernichtung der Willenserklärung hinnehmen müssen. Im Straf- und Deliktsrecht betrifft dieser Bereich also die Frage, bei wem die (teilweise) Verantwortlichkeit für eine bestimmte Rechtsgutsverletzung liegt. Die Anforderungen, die das Recht in den beiden Bereichen für die Zurechenbarkeit der Willensäußerungen aufstellt, könnten kaum unterschiedlicher sein. Grob gesagt: Während im ersten Bereich nur sehr schwerwiegende Mängel einen Ausschluss der Zurechenbarkeit begründen können, kann im zweiten Bereich auch ein einfacher Irrtum die Ungültigkeit bzw. Mangelhaftigkeit der Willensbildung begründen. Warum begnügt man sich nicht mit einem einzigen Maßstab für beide Bereiche? Zur Beantwortung dieser Frage muss man die Grundfälle für die beiden Bereiche betrachten: Zum einen ist derjenige, der andere schädigt, nur in Ausnahmefällen exkulpiert (beispielsweise bei Geisteskrankheit). Zum anderen aber haftet der Veranlasser einer Selbstschädigung schon dann, wenn bei dem Handelnden auch nur geringe Willensmängel vorliegen (etwa ein Irrtum über die Gefährlichkeit einer Droge). Das bedeutet, dass – von den Ausnahmefällen der Schuld- bzw. Geschäftsunfähigkeit abgesehen – jeder, der eine Rechtsgutsverletzung veranlasst, die der Geschädigte nicht wirklich selbst gewollt oder in Kauf genommen hat, haftet. Auf diese Weise wird daher ein optimaler Rechtsgüterschutz erzielt, und darin dürfte der Grund für den zweifachen Maßstab liegen. Die zweite Beobachtung ist, dass es weder innerhalb des ersten noch des zweiten Bereichs einen einheitlichen Maßstab für die Zurechenbarkeit gibt; vielmehr legt jedes Rechtsgebiet seinen eigenen Maßstab fest. So ist im Strafrecht die Schuldfähigkeit von Unter-14-Jährigen durch die Vermutung des § 19
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StGB unwiderleglich ausgeschlossen, während im Zivilrecht Kinder über sieben Jahren schon beschränkt geschäftsfähig sind. Eine Willenserklärung, die an einem rechtlich relevanten Mangel leidet, ist in aller Regel nicht nichtig, sondern nur vernichtbar, wohingegen eine Einwilligung in diesem Fall ungültig ist. Und auch die Voraussetzungen für einen rechtlich relevanten Mangel sind in beiden Rechtsgebieten zwar ähnlich – es kommt auf Freiheit von Irrtum, Täuschung und Zwang an – jedoch nicht notwendigerweise gleich111. Die unterschiedlichen Voraussetzungen lassen sich durch die Besonderheiten der jeweiligen Regelungsmaterien erklären. So wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Tatsache, dass sich Irrtümer auf die Gültigkeit einer Willenserklärung in aller Regel nicht auswirken, ihren Grund in der Verkehrssicherheit hat. Dass die Regeln zur Geschäftsfähigkeit, Deliktsfähigkeit und zur Schuldfähigkeit jeweils verschieden sind, lässt sich ebenfalls unproblematisch mit den unterschiedlichen Regelungsgegenständen rechtfertigen. Andererseits könnte es jedoch naheliegen, gleiche Voraussetzungen für die Einwilligung bzw. die Voraussetzungen einer freiverantwortlichen Selbstgefährdung im Delikts- und Strafrecht anzunehmen, denn in beiden Fällen geht es um den Schutz der Rechtsgüter Leben und Gesundheit vor Eingriffen von dritter Seite. Zwingend ist dies aber nicht. Zum einen enthält das BGB noch den § 254; dadurch kann trotz einer an sich bestehenden rechtswidrigen und schuldhaften Rechtsgutsverletzung doch noch die Schadensersatzhaftung gemildert oder auch ausgeschlossen werden. Ein vergleichbares Mittel kennt das Strafrecht nicht. Zum anderen aber, und dieser Punkt ist in diesem Zusammenhang wichtiger, können andere Gesichtspunkte dazu führen, dass verschiedene Anforderungen an die Mangelfreiheit der Willensbildung gestellt werden. Beispielsweise könnte das Verständnis des Strafrechts als ultima ratio dafür sprechen, mit der Annahme einer gültigen Einwilligung etwas großzügiger zu sein als das Zivilrecht, wo es nur um die Leistung von Schadensersatz geht. Man könnte in bestimmten Konstellationen davon ausgehen, dass die Leistung von Schadensersatz ausreichend und eine zusätzliche strafrechtliche Verantwortlichkeit nicht erforderlich sei. Dieses Beispiel zeigt, dass es jedenfalls keine automatische Gleichstellung geben kann, was die Voraussetzungen für die Mangelfreiheit der Willensbildung im Zivil- und Strafrecht angeht. Diese sind unter umfassender Berücksichtigung aller Umstände entsprechend den Gegebenheiten des jeweils einschlägigen Rechtsgebietes zu ermitteln.
111 Dass keine Notwendigkeit zur Angleichung gesehen wird, wird auch dadurch unterstrichen, dass die Straf- und Zivilgerichte von der jeweils anderen Seite gar keine Kenntnis nehmen; vgl. Hasselblatt, Die Grenzziehung zwischen verantwortlicher Fremd- und eigenverantwortlicher Selbstgefährdung im Deliktsrecht, 110.
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b) Die Zurechenbarkeit von Willensäußerungen im Verfassungsrecht aa) Minderjährige und Geisteskranke Es wurde oben dargelegt, dass Paternalismus nicht mit dem Argument zugelassen werden kann, der Betroffene würde seine Freiheit „schlecht“ gebrauchen. Von diesem Grundsatz werden jedoch allgemein zwei Ausnahmen zugelassen: Bei Minderjährigen bzw. Geisteskranken soll ein aufgedrängter Schutz in gewissen Grenzen zulässig sein. Für Minderjährige wurde dabei lange Zeit auf das Konzept der Grundrechtsmündigkeit zurückgegriffen112. Diese wird begriffen als die Fähigkeit natürlicher Personen, Grundrechte selbständig ausüben zu dürfen113. Dieser Lehre zufolge ist zwar jede Person spätestens ab dem Zeitpunkt der Geburt Träger der verschiedenen Grundrechte und insofern grundrechtsfähig. Die Fähigkeit der selbständigen Grundrechtswahrnehmung soll jedoch erst ab einer bestimmten Altersgrenze oder Entwicklungsstufe gegeben sein. Diese Auffassung sieht sich verstärkt Kritik ausgesetzt. Moniert wird insbesondere, dass die Grundrechtsmündigkeit als eigenständige verfassungsrechtliche Kategorie nicht begründbar sei114. Daher könne die öffentliche Gewalt Minderjährige keinen anderen als den allgemein zulässigen oder von der Verfassung speziell im Interesse des Jugendschutzes normierten Grundrechtsbegrenzungen, wie denen der Art. 5 II, 11 II, 13 VII GG, unterwerfen115. Ferner widerspreche das Zusatzerfordernis der Grundrechtsmündigkeit der in der Verfassung angelegten Tendenz zur prinzipiellen Verstärkung der Geltungskraft der Grundrechte116. Daher sei jeder Träger eines Grundrechts dazu berechtigt, es selbständig auszuüben. Die Konsequenzen, die die erste Auffassung mit sich bringt, sind eindeutig: Wer nicht grundrechtsmündig ist – sei dies nun allgemein oder in Bezug auf bestimmte Grundrechte –, kann sich auf das in Frage stehende Recht nicht be112 Krüger, FamRZ 1956, 329 (330); Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 19 III, Rn. 16; von Münch, in: von Münch/Kunig, GG, Rn. 11, 13 vor Art. 1–19; Rüfner, HdStR V, § 116, Rn. 19, 23 ff.; Stern, Staatsrecht III/1, 1066 f. bevorzugt den Begriff der „Grundrechtswahrnehmungs- oder Grundrechtsausübungsfähigkeit“. 113 Von Mutius, Jura 1987, 272 (272). 114 Fehnemann, Die Innehabung und Wahrnehmung von Grundrechten im Kindesalter, 36; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 19, Rn. 10; Robbers, DVBl. 1987, 709 (713); Roell, Die Geltung der Grundrechte für Minderjährige, 32 ff.; Sachs, in: Sachs, GG, Rn. 52 vor Art. 1. 115 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 285; Roth, 84 f.; Sachs, ebd. 116 Hohm, NJW 1986, 3107 (3110).
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3. Kap.: Die Rechtfertigung von Paternalismus
rufen. Unklar dagegen sind die Konsequenzen der Gegenauffassung. Ist Paternalismus in Bezug auf Jugendliche nur zulässig, soweit das Grundgesetz dies ausdrücklich gestattet? Dies scheint die naheliegende Konsequenz zu sein, wenn man das Argument ernst nimmt, die Figur der Grundrechtsfähigkeit finde keine dogmatische Grundlage im Grundgesetz117. Was Jugendliche angeht, so wird dieser Ansatz in der Praxis keine allzu großen Probleme bereiten, da Art. 6 II GG mit dem elterlichen Erziehungsrecht, dem staatlichen Wächteramt und den Vorschriften der Art. 5 II, 11 II sowie 13 VII GG Mittel bereithält, die die Überspielung des unreifen Willens legitimieren118. Dennoch bleiben Zweifel bestehen. Was soll gelten, wenn es sich nicht um Minderjährige, sondern um Geisteskranke handelt? Eine dem Art. 6 II GG entsprechende Vorschrift gibt es für diesen Fall gerade nicht. Und dennoch kann das Ergebnis wohl kaum sein, dass der Geisteskranke, solange er nicht die Rechte anderer oder Gemeinschaftsinteressen verletzt, ein grundrechtlich geschütztes und nicht einschränkbares Recht hat, sich selbst zu schaden119. Unter diesem Aspekt macht die Berufung auf die Figur der Grundrechtsmündigkeit, die man dann nicht nur auf Minderjährige beschränken, sondern auch auf Geisteskranke ausdehnen müsste, schon eher Sinn120 – wie sonst will man rechtfertigen, dass die Freiheit derjenigen, die zu einem selbstbestimmten Leben aufgrund ihrer Krankheit nicht in der Lage sind, eingeschränkt werden darf? 117 In diesem Sinne Fehnemann, Die Innehabung und Wahrnehmung von Grundrechten im Kindesalter, 37; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 285; Roell, Die Geltung der Grundrechte für Minderjährige, 34. Anders Roth, der zwar die Figur der Grundrechtsmündigkeit ablehnt, aber ein davon abzugrenzendes Kriterium der Grundrechtsreife für erforderlich hält (Roth, 46 ff.). Auch soweit diese gegeben sei, könne bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit eines Eingriffs das Alter des Berechtigten eine Rolle spielen (ebd., 48). Unklar dagegen Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 19, Rn. 10; Sachs, in: Sachs, GG, Rn. 52 f. vor Art. 1, die lediglich auf die faktische Möglichkeit des Grundrechtsgebrauchs abstellen will. Auch Jugendliche können sich aber beispielsweise durch Drogenkonsum „faktisch“ selbst schädigen, und die Frage ist dann, ob dieses Verhalten vom Schutzbereich des allgemeinen Freiheitsrechts erfasst ist. Es reicht daher nicht aus, auf die Fälle zu verweisen, in denen der Betreffende noch gar nicht in der Lage ist, seine Freiheit wahrzunehmen, wie etwa das Baby, das noch keinen Verein gründen kann usw. Die problematischen Fälle sind die, in denen die faktische Möglichkeit, sich selbst zu schädigen, besteht, und die Frage ist dann, ob dieses Verhalten durch ein Grundrecht erfasst wird. 118 Die genannten Autoren verweisen in der Regel auch auf das elterliche Erziehungsrecht, vgl. Hesse, ebd.; Jarass, ebd., Rn. 11; Sachs, ebd., Rn. 53. 119 Das Bundesverfassungsgericht hat jedenfalls entschieden, dass es rechtmäßig ist, einen psychisch Kranken vor sich selbst in Schutz zu nehmen und zu seinem eigenen Wohl in einer geschlossenen Anstalt unterzubringen: BVerfGE 58, 208 (224 f.). 120 Soweit das Problem überhaupt gesehen wird, wird daher auch eine Parallele zur Grundrechtsmündigkeit gezogen; vgl. Rüfner, in: HdStR V, § 116, Rn. 27. Hillgruber spricht nicht von Grundrechtsmündigkeit, erkennt aber der Sache nach bei Geisteskranken die Notwendigkeit eines aufgedrängten Schutzes an, vgl. Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 121.
B. Die Anforderungen an Entscheidungsbildung und -inhalt
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Andererseits dürfte es zu weit gehen, wenn man dem Geisteskranken alle Rechte absprechen wollte, die er nicht in gleicher Weise wie ein geistig Gesunder wahrnehmen kann. Das verfehlt den Punkt, um den es eigentlich geht: Die Einschränkung der Freiheit des Geisteskranken kann nur insoweit legitim sein, wie sie zu seinem eigenen Schutz erfolgt und darüber hinausgehend geeignet, erforderlich und angemessen zur Erreichung dieses Ziels ist121. Dass jemand also nicht in der Lage ist, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, heißt nicht, dass er völlig rechtlos ist. Deshalb ist die Figur der Grundrechtsmündigkeit abzulehnen: Sie besitzt kein Potential, um die erforderlichen Differenzierungen und Schranken der legitimen Bevormundung zu erfassen. Das gilt für den Fall von Minderjährigen ebenso wie für Geisteskranke. Auch der Minderjährige kann alle Grundrechte von Beginn seines Lebens an selbst wahrnehmen. Wenn aber ein Fall eintritt, in dem er sich selbst schädigt, so muss der Staat das Recht haben, ihn zu seinem eigenen Besten zu schützen122. Es haben also auch Minderjährige und Geisteskranke zunächst das Recht, ihre Grundrechte selbständig wahrzunehmen; die Figur der Grundrechtsmündigkeit ist insoweit abzulehnen. Andererseits müssen die Betroffenen in gewissen Fällen hinnehmen, dass der Staat ihre Grundrechte zu ihrem eigenen Besten einschränkt. Damit wurde die erste Fallgruppe gefunden, in der staatlicher Paternalismus im Prinzip zulässig ist. Die Herleitung dieses Ergebnisses wurde hier aber so vorgenommen, dass von einem bestimmten, wohl unbestreitbaren Ergebnis ausgegangen wurde – nämlich der praktisch unbestreitbaren Notwendigkeit der Freiheitsbeschränkung Geisteskranker –, und dann gefragt wurde, auf welche Weise dieses vorgegebene Ergebnis am plausibelsten gerechtfertigt werden kann. Es stellt sich allerdings die Frage, wie die dogmatische Konstruktion aussehen soll, mit der das Ergebnis erzielt werden soll. Wenn jemand, der an einer Geisteskrankheit erkrankt, seine Grundrechte deshalb nicht verliert, so bleibt jede Handlung, die aus Anlass der Erkrankung vorgenommen wird und die Freiheit des Betroffenen beeinträchtigt, ein rechtfertigungsbedürftiger Eingriff in dessen Grundrechte. Zur Rechtfertigung ist zunächst ein legitimer Zweck erforderlich, und mit dem Schutz Dritter bzw. der Allgemeinheit kommt man hier nicht weit. Vielmehr ist es erforderlich, zumindest in Fällen der Geisteskrankheit und Minderjährigkeit als zusätzlichen legitimen Zweck den Schutz der Grundrechtsträger selbst aufzunehmen. 121
Hillgruber, ebd., 121. Ähnlich Heide, Medizinische Zwangsbehandlung, 225, der eine medizinische Zwangsbehandlung daran messen will, ob sie dem Ausgleich krankheits- oder behinderungsbedingter Defizite dient, und sie insoweit zulassen will. Durch dieses Erfordernis gelingt es Heide, staatliche Eingriffe bei medizinischer Zwangsbehandlung auf ein dann als legitim erkanntes Ziel auszurichten und die pauschale Aberkennung aller Rechte zu vermeiden. 122
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3. Kap.: Die Rechtfertigung von Paternalismus
Es wurde bereits dargelegt, dass die Frage, welchen Eingriffsmöglichkeiten ein Grundrecht unterliegt, mit Blick auf jedes einzelne Grundrecht getrennt zu untersuchen ist und pauschale Lösungen meist nicht weiterhelfen123. Die Antwort auf die Frage, wie man diesen „neuen“ legitimen Zweck begründen kann, muss daher die Besonderheiten des allgemeinen Persönlichkeitsrechts – denn dieses schützt auch den Geisteskranken und den Minderjährigen zunächst vor Paternalismus – in den Blick nehmen. Es wurde dargelegt, dass das Persönlichkeitsrecht die Aufgabe hat, die ethisch-existenzielle Selbstbestimmung des Grundrechtsträgers zu schützen. Der Wert der Selbstbestimmung liegt darin, dass der Betreffende die Möglichkeit hat, in seinen Entscheidungen seine individuelle Persönlichkeit zur Geltung zu bringen. Das erfordert aber eine geistige Leistung. Soweit jemand dazu aufgrund seiner Jugend oder einer Krankheit nicht in der Lage ist, fehlt ihm die geistige Basis, die für die Ausübung der Autonomie notwendig ist124. Auch das Bundesverfassungsgericht stellt darauf ab, dass bei psychischer Erkrankung die „Fähigkeit zur Selbstbestimmung oft erheblich beeinträchtigt sein“ wird, greift aber ergänzend auf das Sozialstaatsprinzip und den Gedanken zurück, dass „die Erkenntnis, dass es das Recht ermöglichen muss, den Willen des psychisch Kranken durch die bessere Einsicht des für ihn Verantwortlichen zu ersetzen, . . . ihren Niederschlag seit jeher in den Vorschriften des bürgerlichen Rechts betreffend die Vormundschaft über geisteskranke Personen gefunden“ habe125. Dass das Sozialstaatsprinzip zur Freiheitsbegrenzung nicht herhalten kann, wurde schon dargelegt. Auch die Tatsache, dass etwas schon immer in einer bestimmten Weise gehandhabt wurde, sagt nichts über die Legitimität der Praxis aus. Man darf davon ausgehen, dass das Bundesverfassungsgericht auch ohne Sozialstaatsprinzip und entsprechende Praxis nicht anders entschieden hätte. Daher ist der entscheidende, den Freiheitseingriff rechtfertigende Gedanke der, dass es keinen Sinn macht, Selbstbestimmung zu schützen, wenn die Fähigkeit dazu tatsächlich nicht vorhanden ist. Das bedeutet gerade kein Entweder-Oder, was den Schutz der Autonomie angeht. Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, dass der Jugendliche „mit zunehmendem Alter in immer stärkerem Maße eine eigene durch Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG geschützte Persönlichkeit“ sei126. Soweit also die Fähigkeit zur Selbstbestimmung gegeben ist, ist diese anzuerkennen 123
s. oben 2. Kap. C. II. Ähnlich, aber ohne Bezug auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 121. Vgl. auch Roths Begründung für seine Figur der Grundrechtsreife: Roth, Die Grundrechte Minderjähriger im Spannungsfeld selbständiger Grundrechtsausübung, elterlichen Erziehungsrechts und staatlicher Grundrechtsbindung, 46 f. 125 BVerfGE 58, 208 (224 f.). 126 BVerfGE 47, 46 (74). Zustimmend Engels, AöR 122 (1997), 212 (226 ff.). 124
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und eine Einschränkung nicht gestattet. Im Grundsatz ist das ebenso für Geisteskranke anzunehmen. Einschränkungen dürfen daher nur unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und der dem Persönlichkeitsrecht zugrunde liegenden Wertungen erfolgen. Daraus folgt insbesondere, dass im Zweifel auf den mutmaßlichen Willen des Betroffenen abzustellen ist127. Maßstab darf also nicht sein, was „vernünftig“ wäre oder was ein „besonnener Dritter“ tun würde, sondern es muss, um die Persönlichkeit des Betroffenen in größtmöglichem Maße zu respektieren, darauf abgestellt werden, was er selbst entscheiden würde, wenn er die dazu nötige Reife bzw. Gesundheit hätte. Deshalb kann Ziel der staatlichen Regelungen auch kein bloßer Rechtsgüterschutz sein. Jeder geistig gesunde Erwachsene hat das Recht, seine Gesundheit zu beschädigen oder sich sogar umzubringen128. Wenn also ein Geisteskranker sich selbst gefährden, verletzen oder töten will, so darf er im Grundsatz nur dann davon abgehalten werden, wenn anzunehmen ist, dass dieser Wunsch auf seiner Krankheit beruht. Ein einfaches Beispiel: Wer sein ganzes Leben lang in völlig freier Entscheidung geraucht hat, der darf als Pflegefall nicht auf einmal unter Hinweis auf seine Gesundheit davon abgehalten werden, sofern nicht anzunehmen ist, dass er seine Meinung zu den Gesundheitsgefahren des Rauchens bei fortbestehender geistiger Gesundheit geändert hätte. Denn der mutmaßliche Wille des Betroffenen geht dann dahin, dass er die Gefahren des Rauchens in Kauf nimmt. Die dogmatische Messlatte für staatlichen Paternalismus, nämlich das allgemeine Persönlichkeitsrecht, bietet also einen Hinweis darauf, warum der Schutz des Jugendlichen oder Geisteskranken vor sich selbst ein legitimer Gesetzeszweck ist. Der Grund liegt darin, dass der Schutz der Autonomie i. e. S. nur dann Sinn macht, wenn der Betreffende die notwendige Reife oder die geistigen Voraussetzungen zu ihrer Ausübung mitbringt. Damit ist jedoch noch keine Aussage darüber gemacht, ob sich die Zulässigkeit von staatlichem Paternalismus auf diese beiden Fälle beschränkt oder ob die weitere Untersuchung noch weitere Möglichkeiten zutage fördern wird. bb) Sonderfall Selbstmord In der polizeirechtlichen Literatur wird ganz ausnahmslos die Ansicht vertreten, dass Selbstmörder durch die Polizei gerettet werden dürfen bzw. müssen129. 127 So auch (für die Fälle von Bewusstlosigkeit) Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 122. 128 Jedenfalls unter der Voraussetzung, dass die Entscheidung nicht an relevanten Mängeln leidet, worauf noch einzugehen sein wird. 129 Denninger, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, E 22; Drews/ Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, 230; Frotscher, DVBl. 1976, 695 (702); Götz, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 109; Knemeyer, VVDStRL 35, 221
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3. Kap.: Die Rechtfertigung von Paternalismus
Das wird häufig recht undifferenziert durch eine „Zusammenschau“ der folgenden Argumente begründet: Erstens gebe es kein Recht auf Selbstmord, zweitens stehe der objektive Wert „Leben“ einer Duldung des Selbstmordes entgegen, und drittens werde eine Selbsttötung in der Regel nicht freiverantwortlich vorgenommen bzw. die Polizei dürfe in typisierender Weise davon ausgehen, dass ein Selbstmordversuch nicht freiverantwortlich durchgeführt worden sei130. Die ersten beiden Argumente wurden in dieser Arbeit schon behandelt und abgelehnt131. Die Zulässigkeit polizeilicher Rettungsmaßnahmen hängt damit jetzt davon ab, ob die Entscheidung zur Selbsttötung relevante Mängel aufweist oder nicht, und wie sich das Problem auswirkt, dass der Geisteszustand des Betreffenden in der aktuellen Situation häufig nicht eindeutig ermittelt werden kann. An dieser Stelle soll das letzte Problem zunächst ausgeklammert bleiben; es wird also gefragt werden, welche Anforderungen an die autonome Entscheidung des Lebensmüden zu stellen sind, ohne auf die Frage der Erkennbarkeit für die Polizei einzugehen. Soweit ein prinzipielles, durch die Wertentscheidung des Art. 2 II GG auch nicht weiter einschränkbares Recht auf Selbstmord in der staatsrechtlichen Literatur anerkannt wird, stellen die Autoren zumeist auf eine Unterscheidung zwischen einem Appellselbstmord, bei dem der Betreffende seine Umgebung lediglich auf seine verzweifelte Lage aufmerksam machen will, und einem „rationalen“ Bilanzselbstmord ab132. Hillgruber folgert dann kühn: „Diese Unterscheidung ist verfassungsrechtlich insofern bedeutsam, als derjenige, der eine Selbsttötungshandlung mit Appellfunktion vornimmt, zwar den Tod als Folge seines bewusst lebensgefährdenden Verhaltens voraussieht und in Kauf nimmt, aber nicht als Handlungsziel anstrebt, d.h. nicht unbedingt zum Freitod entschlossen ist, vielmehr in Wahrheit133 gerettet werden will. In diesem Fall stellt sich daher polizeiliches Eingreifen gar nicht als rechtfertigungsbedürftiger Eingriff dar, weil es bei der Einleitung lebensrettender Maßnahmen keinen entgegenstehenden Willen des davon Betroffenen zu überwinden gilt.“134 Die Sache scheint also ganz einfach zu sein. Im ersten Schritt wird eine Unterscheidung vorgenommen zwischen dem geäußerten und dem „wahren“ Willen des Betroffenen, und im zweiten Schritt wird der „wahre“ Wille, wenig (253 ff.); Martens, DÖV 1976, 457 (459); Mußmann, Allgemeines Polizeirecht in Baden-Württemberg, Rn. 173; Wolf/Stephan, Polizeigesetz für Baden-Württemberg, § 28, Rn. 22; Würtenberger/Heckmann/Riggert, Polizeirecht in Baden-Württemberg, Rn. 274. 130 Vgl. dazu die Nachweise zum Meinungsstand oben 2. Kap. B. III. 1. 131 s. oben 2. Kap. B. III. 1. und 3. Kap. A. VII. 132 Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 87; Dölling, NJW 1986, 1011 (1015); von Münch, FS Ipsen, 113 (122); ähnlich (Erfordernis des „völlig klaren Bewusstseins“) Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 2, Rn. 211. 133 Hervorhebung d. Verf. 134 Hillgruber, ebd., 87 f.
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überraschend schon aufgrund der Terminologie, zum maßgeblichen erklärt. Ein solches Vorgehen ist jedoch vorschnell. Zum einen ist die Figur des „wahren“ im Gegensatz zum geäußerten Willen, milde gesprochen, problematisch. Hier besteht zumindest ein Klärungsbedarf, unter welchen Voraussetzungen die Substitution vorgenommen werden darf. Wenn sich jemand – und das soll im Moment unterstellt werden: bei klarem Bewusstsein – die Pulsadern aufschneidet oder eine Überdosis Medikamente einnimmt, so scheint es nicht weit hergeholt, davon auszugehen, dass der Betroffene den eigenen Tod anstrebt. Man kann erwachsenen Menschen nicht ohne weitere Erörterung einfach unterstellen, dass bei derart gravierenden und gefährlichen Eingriffen in die eigene körperliche Integrität „alles nicht so gemeint“ sei. Auch Geilen gibt zu, dass es sich keinesfalls in der Mehrzahl der Fälle um „theatralische Selbstmorddemonstrationen“ handele, sondern vielmehr ein subjektiv durchaus ernsthafter Selbsttötungswille mit einer unterschwellig ambivalenten und deshalb die Ausführung bremsenden Handlung zusammentreffen könne135. Wenn also ein Selbstmörder gerettet wird, so liegt darin entgegen Hillgruber sehr wohl eine Handlung, die gegen seinen subjektiven und sich in der Tat manifestierenden Willen vorgenommen wird, und damit ein rechtfertigungsbedürftiger Eingriff in seine Autonomie i. e. S. Man kann die Situation noch verschärfen und sich den Fall vorstellen, dass der Lebensmüde die Hilfe der Retter wortreich ablehnt und darum bittet, in Ruhe gelassen zu werden. Wie weit soll die Überspielung des geäußerten Willens durch den „wahren“ Willen möglich sein? Wenn man auch in Fällen, in denen jemand bei vollem Bewusstsein darum bittet, in Ruhe gelassen zu werden, einen aufgezwungenen Schutz damit rechtfertigen will, man setze sich „in Wahrheit“ gar nicht über den Willen des Betreffenden hinweg, dann kann man auf die Idee der Selbstbestimmung auch gleich verzichten – alles, was dann nicht ins gewünschte Bild passt, wird übergangen durch eine Berufung auf den „wahren“ Willen. Man könnte auf diese Weise beispielsweise das ganze Arztrecht neu gestalten: Wer eine Operation ablehnt, obwohl sie medizinisch indiziert ist, der kennt seinen eigenen wahren Willen noch nicht! Eine lebenserhaltende Operation ist durchaus vergleichbar mit der Rettung eines Selbstmörders, da es in beiden Fällen um die Beseitigung einer lebensgefährdenden Situation geht. Die Figur des „wahren“ Willens ist also problematisch. Sie kann möglicherweise zwar durchaus einen richtigen Kern haben: Allgemein gesprochen könnte man sagen, dass der Entscheidung des Lebensmüden so gravierende Mängel zugrunde liegen, dass ein Einschreiten auch gegen dessen erklärten Willen gerechtfertigt ist. Dann gälte es aber, Kriterien zu entwerfen, wann ein Überspielen des Willens eines geistig gesunden Erwachsenen zu rechtfertigen ist. Dieser Aspekt führt direkt zu dem zweiten Kritikpunkt. Es stellt sich die Frage, wie sich der Ansatz verträgt mit der 135
Geilen, JZ 1974, 145 (153).
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ansonsten allgemein, insbesondere auch von Hillgruber vertretenen These, dass staatlicher Paternalismus lediglich bei Jugendlichen und Geisteskranken zulässig sein soll136. Denn, wie eben dargelegt, wird der Wille des Lebensmüden bei der Rettung regelmäßig nicht respektiert. Das könnte dieser Auffassung zufolge nur dann gerechtfertigt werden, wenn dieser geisteskrank oder minderjährig wäre. Es bestünde also Hoffnung, die Rettung von Selbstmördern ohne systematische Brüche rechtfertigen zu können, wenn dargelegt werden könnte, dass sich diese regelmäßig in einem Zustand der Unzurechnungsfähigkeit befinden. Geilen hat in der Literatur viel Unterstützung für seinen Versuch erhalten, die Ergebnisse der Suizidforschung in die rechtliche Bewertung des Selbstmordes einfließen zu lassen. Er beruft sich insbesondere auf Ringel, der zu dem Ergebnis gekommen war, dass es das Phänomen des normalpsychologischen Bilanzselbstmordes gar nicht gebe und fast jeder Selbstmord als Endpunkt einer Krankheit oder einer krankhaften Entwicklung angesehen werden müsse137. Bei der Übernahme von Erkenntnissen aus benachbarten Wissenschaften ist Vorsicht geboten. Zwar ist der Blick auf die Resultate der medizinischen, psychiatrischen und psychologischen Forschung für Juristen, die sich mit Problemen der Freiwilligkeit beschäftigen, durchaus angebracht, um ein Spekulieren mit bloßen Vermutungen oder Behauptungen zu vermeiden. Es müssen dabei jedoch mehrere Punkte beachtet werden. Erstens muss bei der Auslegung des Rechts ein Begriff nicht notwendigerweise in dem Sinne, in dem er in einer anderen Disziplin verwendet wird, interpretiert werden. Konkret gesprochen: Was für den Psychiater ein Fall einer psychischen Erkrankung ist, die die Freiwilligkeit des Handelnden beseitigt, muss für den Juristen noch lange kein Fall von Unfreiwilligkeit oder gar Schuldunfähigkeit sein138. Zweitens ist bei der Verwendung der Resultate anderer Wissenschaften zu beachten, dass ein möglichst vollständiges Bild des Forschungsstandes ermittelt wird und nicht einige wenige, gerade „passende“ Ergebnisse unter Vernachlässigung anderer oder späterer Untersuchungen in den Vordergrund gerückt werden. Zum zweiten Punkt ist zu sagen, dass die Ergebnisse Ringels in der modernen Suizidologie durchaus kritisch gesehen werden; Fink bemerkt, dass eine stärkere Zurückhaltung mit dem Begriff „krankhaft“ zu beobachten ist. Zum einen spreche die neuere Depressionsforschung den meisten ihrer Erscheinungsformen eine solche Qualität ab, so dass im Wesentlichen nur noch die Fälle manischer Depression gerade auch mit Blick auf die rechtliche Kategorienbil136
Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 121. Vgl. Geilen, JZ 1974, 145 (152) m. w. N. Zustimmend BayVerfGH NJW 1989, 1790 (1791); Dölling, NJW 1986, 1011 (1014); Knemeyer, VVDStRL 35, 221 (254 f.); Martens, DÖV 1976, 457 (459). 138 Günzel, Das Recht auf Selbsttötung, seine Schranken und die strafrechtlichen Konsequenzen, 158 ff. 137
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dung Bedeutung gewinnen sollten. Zum anderen werde der Nachweis einer selbsttötungsspezifischen Verengung der Handlungsfreiheit aus erkenntnistheoretischen Gründen angezweifelt. Es ergebe sich das Bild einer multifaktoriellen, äußerst komplexen Problemlage, die eine Monokausalität im Sinne Ringels als nicht mehr diskutierbar erscheinen lasse und auch dem Gedanken eigenverantwortlicher Handlungsgestaltung Raum geben müsse139. Es bleibt weiterhin die Frage, wie man das Problem der Freiwilligkeit juristisch in den Griff bekommen will. Häufig wird gefordert, dass der (Appell-) Selbstmord immer oder in der Regel als unfrei anzusehen sei. Es wird dabei aber nicht immer deutlich gemacht, welcher juristische Standard für „Unfreiheit“ zugrunde gelegt wird. Das ist aber eine entscheidende Frage, die noch eingehend untersucht werden wird. Eines steht jedoch fest: Mit dem in der Grundrechtsdogmatik verwendeten Begriff der „Geisteskrankheit“ kommt man nicht weiter, weil insbesondere auch bei dem sog. Appellselbstmord häufig keine Krankheit im medizinischen Sinn vorliegt. Auch wenn man die Freiverantwortlichkeit in Anlehnung an § 20 StGB bestimmt – was nahe liegen könnte, da § 20 StGB eine Ausprägung des verfassungsrechtlichen Schuldprinzips ist140 –, so führt dies dazu, dass viele Selbstmorde, und zwar auch die sog. Appellselbstmorde, als freiverantwortlich klassifiziert werden müssen, denn es mögen zwar gewisse Einschränkungen der Willensbildung vorliegen; diese erreichen jedoch nicht den Grad der Schuldunfähigkeit141. Angesichts dieses Ergebnisses ist ein Wertungswiderspruch bei der h. M. festzustellen, die einerseits betont, dass Paternalismus ausschließlich bei Minderjährigen und Geisteskranken zu rechtfertigen sei, aber andererseits zumindest die sog. Appellselbstmorde unter Hinweis auf die fehlende Freiwilligkeit verhindern möchte. Beides zusammen kann man nicht haben. Entweder muss Paternalismus in mehr als den bisher anerkannten Fällen zugelassen werden, oder man muss akzeptieren, dass der Staat bei vielen Appellselbstmorden kein Recht zum Einschreiten hat. c) Zwischenbilanz zu den juristischen Ansätzen Vergleicht man die Ansätze im Straf- und Zivilrecht auf der einen Seite und im Verfassungsrecht auf der anderen Seite, so ist auf den ersten Blick eine Diskrepanz festzustellen: Während sich das einfache Recht darauf hinbewegt, bei Selbstschädigungen einen strengen Maßstab für die Mangelfreiheit des Willens aufzustellen, wird im Verfassungsrecht – mit Ausnahme der Behandlung des 139
Fink, Selbstbestimmung und Selbsttötung, 159 f., m. w. N. Jähnke, in: Leipziger Kommentar zum StGB, § 20, Rn. 3. 141 Dölling, NJW 1986, 1011 (1014); Pohlmeier, in: Pohlmeier/Schöch/Venzlaff (Hrsg.), Suizid zwischen Medizin und Recht, 33 (37). 140
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Selbstmordes – nur gefordert, dass der Betroffene erwachsen und geistig gesund ist. Dieser Maßstab entspricht in etwa dem der Schuld- bzw. Geschäftsfähigkeit im einfachen Recht, der dort von der h. M. ausdrücklich als ungeeignet für einen angemessenen Rechtsgüterschutz qualifiziert wird. Allerdings wurde festgestellt, dass der Ansatz der Verfassungsrechtler auch nicht konsequent durchgehalten wird: Appellselbstmorde sollen verhindert werden können, auch wenn der Betroffene nicht schuldunfähig bzw. geisteskrank ist. Angesichts des offensichtlichen Wertungswiderspruches im Verfassungsrecht könnte es nahe liegen, den Ansatz des einfachen Rechts als die sachlich angemessenere Lösung auch auf das Verfassungsrecht zu übertragen; zusätzlich zur Auflösung des Wertungswiderspruchs im Verfassungsrecht wäre dann auch ein einheitlicher Standard für den Rechtsgüterschutz geschaffen. Ohne weiteres wird das allerdings aus mehreren Gründen nicht möglich sein. Denn es wurde bereits dargelegt, dass es durchaus denkbar ist, dass verschiedene Rechtsgebiete aufgrund der verschiedenen Regelungsgegenstände auch den Begriff der Freiverantwortlichkeit oder Freiwilligkeit verschieden interpretieren. Es ist zumindest nicht denknotwendig so, dass hier alle Rechtsgebiete einen einheitlichen Standard anwenden müssen. So kommt es im Strafrecht darauf an, die Mitwirkung Dritter an nicht freiverantwortlichen Selbstschädigungen zu verhindern, während es im Verfassungsrecht um die Eingriffsbefugnis des Staates geht. Weiterhin ist vorstellbar, dass der gesamte Ansatz des einfachen Rechts, der die Freiwilligkeit einer Selbstgefährdung schon bei geringen Mängeln ausschließen oder reduzieren will, inhaltlichen Zweifeln begegnet: Es ist zu fragen, ob es ein sinnvolles Konzept von Freiwilligkeit oder Eigenverantwortlichkeit ist, wenn diese bei fast jedem kleineren Willensmangel ausgeschlossen oder zumindest reduziert sein soll. Hier ist noch eine nähere Untersuchung des Konzepts der Freiwilligkeit erforderlich. Voreilige Schlüsse sollten daher nicht gezogen werden. Jedoch ist es erforderlich, eine Lösung zu entwickeln, die die bestehenden Unterschiede entweder einebnet oder rechtfertigt und den Wertungswiderspruch im Verfassungsrecht auflöst.
2. Philosophische Ansätze Unter den philosophischen Ansätzen finden sich viele, die ein (moralisches) Recht des Einzelnen auf Autonomie i. e. S. bejahen. Aus einer solchen Annahme folgt, dass sich ein geistig gesunder Erwachsener im Prinzip selbst gefährden darf. Die Frage stellt sich nun natürlich für die Philosophen nicht anders als für die Juristen, welche Kriterien man an die Bestimmung der Gültigkeit einer Willensentscheidung zur Selbstgefährdung anlegt. Es gibt hier eine Bandbreite von verschiedenen Ansätzen, die im Folgenden vorgestellt werden
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sollen. Sinnvoll ist, zunächst eine Unterscheidung vorzunehmen zwischen Anforderungen, die an den Geisteszustand der handelnden Person im allgemeinen gestellt werden, und Anforderungen an die in Frage stehende konkrete Entscheidung zur Selbstgefährdung. Zur ersten Gruppe gehört die Untersuchung des Problems, ob und wie Paternalismus bei Geisteskranken gerechtfertigt werden kann, bei der zweiten Gruppe geht es um die Auswirkung von Mängeln wie Unvernünftigkeit, Irrtümern oder Zwang auf die Zulässigkeit von Paternalismus. a) Paternalismus und Geisteskrankheit Daniel Wikler hat den Versuch unternommen, eine philosophische Begründung für die paternalistische Bevormundung von Geisteskranken zu liefern142. Die Frage, die er sich stellt, ist die folgende: Normalbegabte Erwachsene können manchmal im Auftrag des Staates Entscheidungen für leicht Zurückgebliebene (mildly retarded) fällen, ohne deren Zustimmung zu suchen. Wenn man dies damit begründet, dass die Minderbegabten geistig relativ unterlegen gegenüber den Normalbegabten sind, dann stellt sich die Frage, warum nicht auch Hochbegabte die gleichen Entscheidungen für die Normalbegabten treffen dürfen: „Our right to self-direction, however, is a right to be free from constraint from any person whether of normal, subnormal, or high intelligence. It is supposed to hold even when our decisions are poor and when others happen to know better. We are in the position, then, of using relative intellectual superiority as our rationale for regulating the retarded, while rejecting the possibility of this same rationale being imposed upon us. Unless the apparent inconsistency is resolved, we shall have to either find new foundations for our paternalistic policy towards the mildly mentally handicapped or abandon it.“143 Zur Auflösung des vermuteten Widerspruchs stellt Wikler zwei verschiedene Konzeptionen von geistiger Kompetenz vor. Die erste ist die „relativist conception“. Ihr zufolge besitzen Menschen die Fähigkeit zur Selbstbestimmung in verschiedenem Maße. Die Minderbegabten haben weniger Kompetenz als die Normalbegabten, die wiederum in geringerem Ausmaß kompetent sind als Hochbegabte. Unter diesem Modell macht es keinen Sinn, von einer absolut bestimmbaren Grenze zu sprechen, von der ab ein Mensch kompetent sei – ebenso wenig wie man davon sprechen könne, dass jemand „absolut“ intelligent oder reich sei. Vielmehr gebe es nur ein Mehr oder Weniger. Die Grenze zwischen ausreichend zur Selbstbestimmung begabt und nicht mehr ausreichend begabt kann nach diesem Modell nur in willkürlicher Weise gezogen werden; inhaltliche Kriterien, die eine solche Grenzziehung begründen könnten, gibt es nicht. Man könnte sie – wie es in den meisten Rechtssystemen der Fall ist – 142 143
Wikler, Philosophy & Public Affairs 8 (1979), 377 ff. Ebd., 380.
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irgendwo zwischen durchschnittlich begabt und unterdurchschnittlich begabt ziehen. Mit gleichem Recht könnte man aber nur die Hochbegabten als ausreichend begabt klassifizieren, denn relativ zu den Normalbegabten sind sie kompetenter, ihr Leben selbst zu gestalten. Das Gegenmodell ist die „threshold conception“. Danach ist für die Fähigkeit zur Selbstbestimmung ein bestimmtes Maß an Begabung erforderlich. Jeder, der dies mitbringt, ist in gleichem Maße zur Selbstbestimmung fähig. Wer noch deutlich begabter als erforderlich ist, ist deshalb nicht kompetenter zur Selbstbestimmung als andere: „[H]is added power is simply an unused surplus. Those lacking enough intelligence for the task will be incompetent to perform it; while those having sufficient intelligence will be equally competent however great the difference in their intellectual levels.“144 Wikler hält dieses zweite Modell für vorzugswürdig. Es könne erklären, warum eine paternalistische Bevormundung der normal Begabten durch die Hochbegabten nicht zulässig sei: Für viele Aufgaben des Lebens sei eben nur eine bestimmte Intelligenz erforderlich, und ein „Mehr“ wirke sich nicht oder nur minimal positiv aus. Insbesondere gehe es bei Paternalismus in erster Linie um die Verhinderung von Selbstschädigungen. Ein Hochbegabter könne aufgrund seiner Talente möglicherweise besser in der Lage sein, sich Vorteile zu verschaffen. Zur Vermeidung von Nachteilen jedoch sei durchschnittliche Intelligenz in der Regel ausreichend: So seien beispielsweise Genies besser als normal Begabte in der Lage, an der Börse reich zu werden; hingegen seien zur Bestimmung einer sicheren Anlagestrategie Genies und normale Personen gleich gut in der Lage145. Feinberg stimmt Wikler teilweise zu. Feinberg geht bei seiner Paternalismuserörterung von einem Recht auf Selbstbestimmung aus, das er in Analogie zu dem Souveränitätsrecht eines Staates entwickelt146. Ebenso wie ein schlecht regierter Staat behalte auch derjenige, dessen Fähigkeiten nur gerade eben über der erforderlichen Schwelle lägen, sein Recht auf Selbstbestimmung. Auch wenn er aber das gleiche Recht habe, so sei damit noch nicht gesagt, dass er auch in der Lage sei, dieses Recht faktisch in ebenso gelungener Weise auszuüben. Faktisch könne er sich möglicherweise schlecht, unweise, oder nur teilweise selbst regieren, was aber sein Recht nicht beeinflusse. Nur wenn jemand gar nicht in der Lage sei, überhaupt Entscheidungen für sich zu treffen, besitze er kein Recht auf Selbstbestimmung. „Jellyfish, magnolia trees, rocks, newborn infants, lunatics, and irrevocably comatose former ,persons‘, if granted the right to make their own decisions, would be incapable of making even ,stupid‘ 144 145 146
Ebd., 384. Ebd. s. oben 2. Kap. A. III. 2.
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choices. Being stupid, no less than being wise, is the sole prerogative of the threshold-competent.“147 Dass die relativist conception nicht richtig sein kann, folgt schon aus den untragbaren Ergebnissen, die sie produziert: Ihr zufolge wäre Paternalismus der Hochbegabten gegenüber den Normalbegabten ebenso zulässig wie Paternalismus der Normalbegabten gegenüber den Minderbegabten. Wenn man aber ein Recht auf Paternalismusfreiheit annimmt, dann kann dies eben nicht nur deshalb überspielt werden, weil andere, Begabtere, in der Lage wären, noch bessere Entscheidungen zu treffen. Insoweit ist Wikler zuzustimmen, wenn er die relativist conception ablehnt. Es kommt eben gerade nicht nur darauf an, dass im Endergebnis möglichst viele richtige Entscheidungen getroffen werden, sondern in dem Recht, seine eigene Entscheidung zu treffen, liegt ein unabhängiger Wert. Daher ist die Unterscheidung Feinbergs zwischen dem Recht auf Selbstbestimmung und der tatsächlichen Fähigkeit dazu hier weiterführend: Die Fähigkeit zur Selbstbestimmung variiert von Person zu Person, das Recht bleibt – eben aufgrund des Wertes der Selbstbestimmung – das gleiche, soweit der Betreffende überhaupt zu Entscheidungen in der Lage ist. Eine andere Frage ist dann, inwieweit eine konkrete Entscheidung zu respektieren ist, wenn sie an Mängeln leidet. Es gibt aber keinen Grund, einer Person, die in der Lage ist, eine Wahl zu treffen, das Recht auf Selbstbestimmung pauschal abzusprechen, weil ihre Fähigkeiten einen bestimmten „threshold“ nicht erreichen. Vielmehr muss das im Prinzip bei jeder Entscheidung einzeln untersucht werden, solange die Möglichkeit besteht, dass überhaupt Entscheidungen autonom gefällt werden148. Es kommt also auf die Qualität der konkreten Entscheidung der Person an, und nicht auf deren allgemeine intellektuelle Begabung149. Daher sollen im Folgenden die Anforderungen an eine Entscheidung in den Blick genommen werden.
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Feinberg, Harm to Self, 30. Eine pauschale Ermächtigung zur paternalistischen Bevormundung kann im rechtlichen Rahmen allerdings aufgrund von praktischen Notwendigkeiten erforderlich sein: Es kann nicht bei jeder relevanten Entscheidung eines Geisteskranken umfassend untersucht werden, inwieweit diese Entscheidung frei von Willensmängeln ist. Daher muss der Gesetzgeber pauschalisierende Regelungen treffen. 149 So auch Murphy, ARSP 1974, 465 (467 f.), dessen Ansatz unten noch eingehend vorgestellt werden wird. Dieses Ergebnis entspricht weitgehend dem oben bei der juristischen Erörterung gefundenen Ergebnis zur Grundrechtsmündigkeit von Geisteskranken. Auch dort wurde vertreten, dass die Grundrechtsmündigkeit als eigene Kategorie keinen Wert hat, sondern jeder einzelne paternalistische Eingriff als Eingriff in das Recht auf Paternalismusfreiheit gesondert gerechtfertigt werden muss. 148
158
3. Kap.: Die Rechtfertigung von Paternalismus
b) Paternalismus und Anforderungen an die individuelle Entscheidung In welchen Fällen darf der Staat ein angenommenes Recht des Einzelnen auf Selbstbestimmung überspielen, weil die Entscheidung des Einzelnen bestimmten Maßstäben nicht genügt? Es gibt zu diesem Problem in der angelsächsischen Philosophie ein ganzes Spektrum an Meinungen, das im Folgenden vorgestellt werden soll. Im Wesentlichen handelt es sich um drei unterschiedliche Theorien. Teilweise wird Paternalismus für zulässig gehalten, wenn der Betreffende unvernünftig handelt (dazu nachfolgend aa)); teilweise wird dies nur bei einer (näher zu bestimmenden) Unfreiwilligkeit angenommen (dazu nachfolgend bb)); und schließlich wird versucht, nicht die isolierte Entscheidung, sondern die Person als Ganzes und ihre Integrität in den Blick zu nehmen, und die Entscheidung auf die Vereinbarkeit mit ihren sonstigen Werten zu untersuchen (dazu nachfolgend cc)). aa) Rationalität der Entscheidung Gerald Dworkin, John Rawls und Jeffrie Murphy haben mit ihren Ansätzen wichtige Beiträge zur modernen Paternalismusdiskussion geliefert; zugleich sind ihre Beiträge auch zeitlich die ersten bedeutenden Analysen, die nach Mill zum Thema Paternalismus erschienen und die Diskussion in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren – etwa zeitgleich mit der von Rawls und seiner „Theorie der Gerechtigkeit“ veranlassten Wiederauferstehung der politischen Theorie – wieder zum Leben erweckten. Ihnen gemeinsam ist, dass sie ein Autonomierecht des einzelnen im Prinzip anerkennen, jedoch Paternalismus in dem Fall, dass der einzelne sich unvernünftig verhält, in gewissen Grenzen zulassen wollen. Da ihre Beiträge von der deutschen rechtswissenschaftlichen Forschung bisher noch nicht gewürdigt wurden, sollen sie an dieser Stelle trotz der ähnlichen Grundpositionen einzeln vorgestellt und rezipiert werden. (1) Gerald Dworkin Gerald Dworkin wurde mit seinem Essay „Paternalism“150 zum Pionier der modernen Paternalismusdiskussion. Für ihn kommt eine Rechtfertigung von Paternalismus nur über die gedankliche Konstruktion einer hypothetischen Zustimmung in Frage. Die Frage ist dann, unter welchen Bedingungen der Einzelne paternalistischen Maßnahmen zustimmen könnte. „I suggest that since we are all aware of our irrational propensities, deficiencies in cognitive and emotional capacities and avoidable ignorance, it is rational and prudent for us to in effect 150
G. Dworkin, in: Sartorius (Hrsg.), Paternalism, 19 ff.
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take out ,social insurance policies.‘ We may argue for and against proposed paternalistic measures in terms of what fully rational individuals would accept as forms of protection.“151 Dworkin geht also davon aus, dass viele unserer Entscheidungen in gewissem Maße irrational oder defizitär sind oder auf Unwissenheit beruhen. Dagegen können wir uns „versichern“, indem wir dem Staat das Recht einräumen, in solchen Fällen paternalistisch tätig zu werden. Diese Ermächtigung an den Staat begründet Dworkin damit, dass rationale Individuen einen solchen Schutz akzeptieren würden. Obwohl er es nicht direkt ausspricht, liegt hier Rawls’ „Theorie der Gerechtigkeit“ in der Luft: Nach Rawls kommt es darauf an, auf welche Prinzipien sich die Mitglieder einer Gesellschaft hinter dem „Schleier des Nichtwissens“ einigen würden. Was Rawls daraus über die Zulässigkeit von staatlichem Paternalismus folgert, wird unten noch dargestellt werden. Dworkin gesteht ein, dass es schwierig ist, zu entscheiden, was rationale Individuen akzeptieren würden und was nicht. Er schlägt vor, dass man von bestimmten Gütern (goods) ausgehen könne, die jeder gerne hätte, um sein eigenes Wohlergehen zu verfolgen – insbesondere Gesundheit152. Nun ergebe sich allerdings das Problem, dass Menschen es immer mit konkurrierenden Gütern zu tun hätten, so dass sogar ein hohes Gut wie Gesundheit manchmal anderen Gütern weichen müsse. Er bringt den Fall einer Person, die die gesamten statistischen Daten zur Gurtbenutzung beim Autofahren kennt, aber dennoch der Ansicht ist, dass die Unannehmlichkeit der Gurtbenutzung beim Autofahren den Sicherheitsgewinn überwiegt. In diesem Fall sei man intuitiv geneigt, das Verhalten der Person als irrational zu bewerten. Eine andere Person sehe die Notwendigkeit der Gurtbenutzung ein, schnalle sich aber trotzdem nicht an, weil sie das Ergebnis der Abwägung in ihren Handlungen schlicht ignoriere. Damit gebe es zwei unterschiedliche Situationstypen, in denen man irrational handele: Zum einen könne man seine Werte in inkorrekter Weise gewichten; zum anderen könne man im Widerspruch zu seinen tatsächlichen Präferenzen handeln153. Offensichtlich sei Paternalismus im zweiten Fall leichter zu rechtfertigen: In diesem Fall oktroyierten wir der Person gar kein von ihr abgelehntes Gut auf. Dagegen seien wir grundsätzlich vorsichtig damit, Freiheitsbeeinträchtigungen zuzustimmen, wenn es um Wertungsunterschiede gehe. Dworkin wendet sich nun drei verschiedenen Fallgruppen zu, in denen Paternalismus gerechtfertigt sein könne. In der ersten Fallgruppe154 geht es um irreversible Schäden, und zwar insbesondere um solche, die es unmöglich machen, in der Zukunft vernünftige Entscheidungen zu fällen. Dworkin erwähnt die Ent151 152 153 154
Ebd., 29. Ebd., 30. Ebd. Ebd., 31.
160
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scheidung, Drogen zu nehmen, die abhängig machen und die geistigen und körperlichen Fähigkeiten des Betreffenden zerstören. Er erklärt allerdings nicht, wie er die Irrationalität einer solchen Entscheidung nachweisen will. In der zweiten Fallgruppe155 geht es um Entscheidungen, die unter großem psychologischen oder soziologischem Druck vorgenommen werden, beispielsweise die Entscheidung, Selbstmord zu begehen, die typischerweise an einem Punkt vorgenommen werde, an dem das Individuum nicht in der Lage sei, ruhig und klar zu denken. Theoretisch könne man sich zur Vermeidung solcher Selbsttötungen eine „erzwungene Wartezeit“ oder eine „Selbstmordbehörde“, die vor der Tat konsultiert werden müsse, vorstellen. Dagegen gebe es keinen Grund für rationale Individuen, den Selbstmord völlig zu verbieten. Bei der dritten Fallgruppe156 soll es um solche Fälle gehen, in denen die Gefahr nicht ausreichend verstanden bzw. falsch eingeschätzt wurde. Dworkin bringt drei Beispielsfälle: Jemand kenne die Gefahren des Rauchens nicht. In diesem Fall sei Aufklärung angebracht. Wenn jemand die Gefahren kenne und sich wünsche, aufzuhören, aber nicht die nötige Willensstärke habe, sei Paternalismus gerechtfertigt, denn der Staat helfe dem Betroffenen nur, seine eigenen Ziele zu verfolgen. Wenn jemand schließlich die Fakten kenne, ihnen aber nicht die richtige Rolle in seiner Kalkulation zuweise – beispielsweise weil er die Gefahren, die sich erst in ferner Zukunft verwirklichen würden, psychologisch vernachlässige –, so könne Paternalismus unter Umständen gerechtfertigt sein. Es müsse allerdings beachtet werden, wie wichtig die Aktivität im Leben des Betroffenen sei: Im Fall der Gurtpflicht sei die Intervention trivial, beeinträchtige die Freude beim Autofahren überhaupt nicht und reduziere das Verletzungsrisiko erheblich. Dagegen würde ein Verbot des Bergsteigens eine Aktivität betreffen, die sowohl im Leben des Betroffenen als auch für sein Selbstverständnis eine wichtige Rolle spielen könne. Letztlich führt Dworkin noch einige Prinzipien an, die das Recht des Gesetzgebers, paternalistisch zu handeln, begrenzen sollen: Angesichts des Ausmaßes an Unwissenheit, bösem Willen und Dummheit auf Seiten des Gesetzgebers sei es angebracht, diesem die gesamte Beweislast aufzubürden. Es müsse hier gelten: „[B]etter ten men ruin themselves than one man be unjustly deprived of liberty.“157 Zum zweiten schlägt er ein „principle of the least restrictive alternative“ vor: Wenn es einen alternativen Weg gebe, bei dem Freiheit nicht eingeschränkt werde, so müsse dieser Weg gegangen werden, auch wenn er hohe Kosten und Unannehmlichkeiten bereite.
155 156 157
Ebd. Ebd., 32. Ebd., 34.
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Dworkin geht also im Prinzip davon aus, dass eine autonome Entscheidung des Individuums zu achten ist; er erkennt jedoch Ausnahme für den Fall an, dass die Entscheidung nicht rational ist. Menschen neigen dazu, auch Entscheidungen von großer Tragweite und Gefährlichkeit – wie beispielsweise die Entscheidungen, sich selbst zu töten, einen Sitzgurt nicht zu benutzen oder zu rauchen – häufig nicht wohldurchdacht zu treffen, und insofern erscheint es naheliegend, den Staat in diesen Fällen als „social insurance police“ einzusetzen und ihm die Befugnis zu geben, das Individuum zu schützen. Bei der Bewertung von Dworkins Gedanken wird insbesondere auf das Rationalitätserfordernis einzugehen sein, das von Feinberg stark angegriffen wird. Es ist also insbesondere zu untersuchen, ob der Staat Menschen zwingen darf, rational zu handeln. (2) John Rawls In der „Theorie der Gerechtigkeit“ findet man einige knappe Hinweise darauf, wie Rawls das Paternalismusproblem beurteilt. Rawls beginnt seine Erörterung folgendermaßen: „Das Problem des Paternalismus bedarf hier einiger Diskussion . . . Im Urzustand gehen die Beteiligten davon aus, dass sie später in der Gesellschaft vernünftig und zur Regelung ihrer eigenen Angelegenheiten fähig sind. Daher erkennen sie keine Pflichten gegenüber sich selbst an, denn das wäre zur Förderung ihres Wohles unnötig. Doch wenn einmal die ideale Vorstellung festgelegt ist, werden sie sich gegen die Möglichkeit sichern wollen, dass ihre Fähigkeiten unentwickelt sind und sie ihre Interessen nicht vernünftig fördern können, wie es etwa bei Kindern der Fall ist, oder dass sie wegen irgendwelcher unglücklicher Umstände nicht für ihr Wohl sorgen können, wie etwa bei schwerer Verletzung oder Geistesstörung.“158 Bis zu dieser Stelle scheinen Rawls und die oben dargestellte Position der deutschen Staatsrechtslehre übereinzustimmen: Paternalismus ist nur bei Kindern und Geisteskranken zulässig. Dann fährt Rawls jedoch fort: „Es ist auch vernünftig, dass sie sich gegen ihre eigenen vernunftwidrigen Neigungen durch Einigung auf ein Schema von Strafen schützen, das sie ausreichend motiviert, törichte Handlungen zu unterlassen, sowie auf bestimmte Auflagen, die die unglücklichen Folgen unklugen Verhaltens beseitigen sollen.“159 Etwas weiter heißt es: „Paternalistische Entscheidungen haben sich von den stabilen Bedürfnissen des Betroffenen selbst leiten zu lassen, soweit sie nicht unvernünftig sind.“160 „Paternalistische Eingriffe müssen durch das offenbare Versagen oder Fehlen der Vernunft und des Willens gerechtfertigt sein.“161 Und schließlich: 158 159 160
Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, 281. Ebd. (Hervorhebung d. Verf.). Ebd. (Hervorhebung d. Verf.).
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„Paternalistische Grundsätze dienen zum Schutz gegen unsere eigene Unvernunft.“162 Diese Passagen legen es nun nahe, dass auch geistig gesunde Erwachsene Gegenstand paternalistischer Bevormundung werden könnten, wenn sie sich unvernünftig verhalten. Es wird aber nicht ganz klar, welche Fälle Rawls hier vor Augen hat – unter „törichten Handlungen“ könnte man ja beispielsweise auch das Rauchen verstehen. Und welche Rolle spielt es, dass das Versagen der Vernunft „offenbar“ (evident) sein muss? Rawls gibt hier keine weiteren Hinweise. Kleinig vermutet, dass Rawls einen Unterschied machen will zwischen dem Fall, in dem eine Person ihr bestes Urteil abgibt und dem Fall, indem sie dies nicht tut. Im ersten Fall sei die Entscheidung der Person zu achten, auch wenn ihr bestes Urteil nicht das beste Urteil sei. Wenn dagegen Leute sorglos oder unbesonnen handelten, so würden sie nicht einmal ihrem eigenen besten Urteil entsprechend handeln; in diesem Fall sei Paternalismus gerechtfertigt163. Einen eindeutigen textlichen Beleg kann Kleinig für seine Vermutung aber auch nicht anführen. Insofern hilft weitere Spekulation über Rawls’ Gedanken nicht weiter. Der Wert seiner Ausführungen liegt in der Verdeutlichung des Grundansatzes, mithilfe dessen man Paternalismus möglicherweise rechtfertigen kann, und nicht in der konkreten Anwendung. (3) Jeffrie G. Murphy Murphy geht in seinem Aufsatz zu „Incompetence and Paternalism“164 davon aus, dass Paternalismus nur gerechtfertigt werden könne, wenn der Betreffende incompetent sei; dementsprechend untersucht er die Rechtfertigung von Paternalismus von diesem Ansatzpunkt aus. Zunächst legt er Wert darauf, dass die Inkompetenz immer nur in Bezug auf eine bestimmte Handlung einer Person festgestellt werden darf, und nicht die Person als solche für inkompetent erklärt werden sollte: „I propose to elaborate truth conditions for sentences of the form ,Jones is incompetent to make decisions of type X’. The ,type X‘ restriction is important, since it is fairly rare that people are incompetent across the board.“165 Dann legt er sein Programm dar: „In general, I shall argue, a person is to be regarded as incompetent to make decisions about X if he is ignorant, compulsive, or devoid of reason with respect to X.“166
161 162 163 164 165 166
Ebd., 282. Ebd. Kleinig, Paternalism, 66. Murphy, ARSP 1974, 465 ff. Ebd., 467. Ebd., 468 (Hervorhebungen im Original).
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Im Folgenden erläutert Murphy diese drei Punkte. Zur Unwissenheit (ignorance) bringt er das Beispiel, dass Jones an einem Buffet Essen auswählt, ohne zu wissen, dass ein Teil des Essens vergiftet ist. Dann sei Jones inkompetent, seine Wahl zu treffen. Unter Zwang (compulsion) stehe Jones, wenn er ein Baseballspiel schiedsrichtern solle, nachdem seine Tochter entführt wurde und ihm angedroht worden sei, dass sie zu Tode gefoltert werde, wenn nicht Team A gewinne. Fälle des Zwangs seien abzugrenzen von solchen, bei denen man eher von „sehr starker Verlockung“ sprechen würde, wie beispielsweise, wenn Jones als Richter ein finanzielles Interesse am Ergebnis eines Prozesses hätte. Unter „frei von Vernunft“ (devoid of reason) versteht Murphy die Fälle, in denen eine Person entweder nonrational, also ohne Wahl- oder Entscheidungsmacht – etwa weil sie im Koma liege – oder irrational sei. Das Konzept der Irrationalität unterteilt er in drei Untergruppen. Jones sei erstens irrational, wenn er an Sachen glaube, die essenziell irrational seien, die also ihrer Natur nach kein Mensch glauben könne. Für Murphy handelt es sich bei einem masochistischen Verlangen nach Schmerz um einen solchen Fall. Zweitens sei Jones irrational, wenn er systematisch falsch urteile, indem er beispielsweise systematisch Daten inkorrekt gewichte. Schließlich gebe es noch den Fall, dass Jones gar nicht verstehe, was relevant zur Bildung einer Meinung zu einem bestimmten Thema sei. Wenn Jones krank sei und, anstatt die indizierten Medikamente einzunehmen, zum örtlichen Guru gehe, der ihm seine göttlichen Visionen zur Heilung der Krankheit mitteile, liege ein solcher Fall vor. Murphys Vorschlag zum Umgang mit Paternalismus ist folgender: „When a person is incompetent in any of the ways specified above, and if his incompetence is likely to result in major and not easily reversible harm to him, then paternalistic intervention is justified provided that it is carefully specified, limited, controlled, and explicitly tailored to the kind of incompetence manifested.“167 Zur Rechtfertigung beruft sich Murphy ausdrücklich auf Rawls und dessen „Theorie der Gerechtigkeit“. Rationale Menschen würden sehen, dass gewisse ihrer Güter in Gefahr gerieten, wenn sie inkompetent im dargelegten Sinne werden würden, und sie wüssten, dass niemand eine Garantie habe, nicht inkompetent zu werden. Daher würden sie sich auf ein Prinzip einigen, dem zufolge Paternalismus in engen Grenzen zulässig wäre. Diese engen Grenzen erläutert Murphy im Folgenden näher. Zum einen müsse es sich um einen schweren Schaden handeln – Freiheit sei zu wichtig, um sie ohne klare und große Gefahr aufzugeben. Weiterhin müssten die Betroffenen im Urzustand wissen, welche Freiheitseinschränkungen ein Individuum hinnehmen müsse, nachdem es für inkompetent erklärt worden sei. Es müssten auch die Kriterien zur Bestimmung von Konzepten wie „gefährlich“ oder „inkompetent“ festgelegt werden, so dass möglichst wenig Ermessen bestehen bleibe. Die Intervention 167
Ebd., 479 (Hervorhebung im Original).
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dürfe nicht über das Erforderliche hinausgehen. Schließlich müsse beachtet werden, dass es bei der Anwendung des Prinzips immer Missbrauchsmöglichkeiten durch fehlbare und häufig auch dumme oder käufliche Menschen gebe. Wenn diese praktischen Schwierigkeiten unüberwindbar wären, könnte das dazu führen, dass die Einzelnen im Urzustand sich über ihre prima facie-Bejahung von Paternalismus aufgrund des Misstrauens in die Mechanismen zur Durchsetzung doch wieder hinwegsetzen und jeden Paternalismus ablehnen würden. Die Beweislast dafür, dass diese institutionellen Schwierigkeiten nicht auftreten würden, liege bei den Paternalisten. Murphys Aufsatz erreicht insgesamt nicht die Tiefe von G. Dworkins Beitrag. Das liegt teilweise an den unglücklichen Beispielen, die er zur Verdeutlichung seiner Ideen wählt. Die Fälle, dass sich jemand an einem Buffet mit vergiftetem Essen bedient oder nach der Entführung seiner Tochter ein Baseballspiel schiedsrichtern muss, sind nicht die, die bei der Paternalismusdebatte praktisch relevant werden. Praktisch wichtiger als Nichtwissen über die Gefahren des vergifteten Buffets ist das Nichtwissen über die Gefahren des Rauchens oder Trinkens, und statt über den erpressten Schiedsrichter wäre Murphys Ansicht über soziale Zwänge, die Menschen zum Rauchen oder Trinken treiben, interessant gewesen. Gerade über diese schwierigen Grenzfälle jedoch verliert Murphy kein Wort. Hilfreich ist jedoch sein Grundansatz zur Rechtfertigung von Paternalismus. Ähnlich wie Rawls und G. Dworkin geht er davon aus, dass Menschen manchmal irrational handeln, und sieht in der Irrationalität einer Entscheidung das Einfallstor für staatlichen Paternalismus. An diesem Punkt setzt Feinberg an. bb) Joel Feinberg: Vernünftigkeit und Freiwilligkeit Feinberg ist der Ansicht, dass in der Literatur zur Freiwilligkeit einer Entscheidung oft mehrere streng zu unterscheidende Ebenen vermischt werden. Daher setzt er an, indem er insbesondere die Begriffspaare vernünftig – unvernünftig (reasonable – unreasonable) und freiwillig – nichtfreiwillig (voluntary – nonvoluntary) analysiert168. Wann ist ein Verhalten unvernünftig (unreasonable)? Es wäre ein Fehler, nur auf das Risiko eines Schadens abzustellen: Es kann manchmal durchaus vernünftig sein, ein hohes Risiko einzugehen. Zur Beurteilung, ob ein Verhalten vernünftig ist, muss man für Feinberg erstens die Wahrscheinlichkeit eines Schadens beurteilen, zweitens die Größe des riskierten Schadens, drittens die Wahrscheinlichkeit, dass man sein Ziel, für das man das Risiko eingeht, auch erreicht, viertens den Wert oder die Wichtigkeit des Ziels und fünftens die Not168
Feinberg, Harm to Self, 101 ff.
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wendigkeit des Risikos, also die Frage, ob es eine sicherere Alternative gibt. Teilweise sind hier objektive Urteile möglich, so bei der Frage nach der Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts. Sobald es aber um bestimmte Werturteile geht, also insbesondere bei der Beurteilung des Wertes des Ziels, sind objektive Einschätzungen für Feinberg unmöglich: Der Handelnde müsse sich beispielsweise selbst fragen, wie wichtig es gerade für ihn sei, den Mount Everest zu besteigen oder auf sein Einkommen zu verzichten, um einen Roman zu schreiben. Vernünftigkeit (reasonableness) deckt sich nicht notwendigerweise mit Freiwilligkeit (voluntariness)169. Feinberg zufolge kann man sich sowohl Entscheidungen vorstellen, die vernünftig sind, aber nicht im Zustand von mehr oder weniger vollkommener Freiwilligkeit gefällt werden, als auch unvernünftige Entscheidungen, die freiwillig gefällt werden. Beispiele für nicht ganz freiwillige Handlungen, die aber durchaus vernünftig sind, sind diejenigen ungefährlichen Handlungen, die man ausführt, während man übermüdet, abgelenkt oder betrunken ist, wie Händeschütteln, ein Sandwich bestellen oder nach Hause gehen. Unvernünftige Handlungen, die aber dennoch mehr oder weniger freiwillig ausgeführt werden, könnten möglicherweise das Rauchen sein. Aber kann eine Person überhaupt freiwillig ein Risiko eingehen, das unvernünftig ist? Unvernünftige Personen weichen oft von dem ab, was Philosophen „ökonomische Rationalität“ nennen: Die „perfekt vernünftige Person“ ist etwa die folgende: „He has a set of harmonious goals; he attaches weight to them carefully and ranks them so he will know how much to sacrifice of the lower to achieve the higher when he cannot get both; he carefully selects means that are likely to maximize the realization of his ends, avoiding those that have costs so high that they will be counterproductive; he avoids impulsive decisions, and whenever possible chooses after careful deliberation; he diversifies his investments to guard against unforeseen disaster; he balances his present desires against tomorrow’s and next year’s, his youth against his middle age and old age, and treats all of his future selves equally, refusing to sacrifice one for another.“170 Eine generell unvernünftige Person weicht von diesem Modell regelmäßig ab, beispielsweise aufgrund von Charaktereigenschaften wie Reizbarkeit oder Defekten wie kurzsichtiger Maßlosigkeit. Feinberg untersucht jetzt drei Fälle171. Im ersten Fall bemerkt die Person ihren Defekt gar nicht; sie weist Tadel für ihr Verhalten zurück und bedauert nichts. Dann handelt sie für Feinberg sowohl unvernünftig als auch freiwillig. Im zweiten Fall bedauert die Person ihre Fehler im Nachhinein; sie gesteht sich also ihre eigene Unvernünftigkeit ein. Mög169 170 171
Ebd., 104 ff. Ebd., 107 f. Ebd., 108 ff.
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licherweise leidet sie an „Willensschwäche“, also einer Veranlagung, in einer Weise zu handeln, die sie selbst als unvernünftig erkennt. Es sei typischerweise nicht möglich, das Verhalten einer solchen Person als das Resultat eines inneren oder äußeren Zwangs, einer „unwiderstehlich machtvollen Leidenschaft“ oder auch nur einer besonders starken Verlockung zu erklären. Vielmehr handelt diese Person für Feinberg völlig freiwillig; sie zu vernünftigem Verhalten zu zwingen, wäre eine Verletzung ihrer Autonomie. Wohl aber sei es möglich, dass die Person in eine paternalistische Behandlung einwillige, ähnlich wie Odysseus, als er die Anweisung gab, ihn am Mast festzubinden. Im dritten Fall haben wir es mit jemandem zu tun, der bewusst von der perfekten ökonomischen Rationalität abweicht: „Hangovers are painful and set back one’s efforts, but careful niggling prudence is dull and unappealing. Better the life of spontaneity, impulse, excitement, and risk, even if it be short, and even if the future self must bear the cost.“172 Da der Lebensstil dieses „romantischen Abenteurers oder Spielers“ authentisch und echt (genuine) sei, sei es nicht möglich, ihn mit der Begründung zu bevormunden, er handele nicht freiwillig. Feinberg zitiert zustimmend Arneson: „[R]ationality in the sense of economic prudence, the efficient adaption of means to ends, is a value which we have no more reason to impose on an adult against his will for his own good than we have reason to impose any other value on paternalistic grounds.“173 Feinberg geht es also darum, dass freiwilliges Verhalten nicht notwendigerweise im Sinne einer ökonomischen Rationalität zu verstehen ist, sondern auch Verhaltensweisen davon erfasst sein können, die wir als unvernünftig ansehen. Wenn aber die Vernünftigkeit einer Entscheidung kein Maßstab für ihre Freiwilligkeit ist, wonach bestimmt sich diese dann? Feinberg stellt als Gedankenspiel sein Modell einer perfectly voluntary choice vor: Eine Entscheidung ist danach dann völlig freiwillig, wenn der Handelnde erstens „kompetent“ ist, also nicht geisteskrank usw., wenn er zweitens in keiner Weise unter dem Einfluss von Zwang steht; drittens darf er nicht aufgrund einer subtileren Manipulation seine Wahl treffen, wie etwa einer post-hypnotischen Suggestion oder „sleep-teaching“; viertens dürfen seiner Wahl kein Nichtwissen oder falsche Vorstellungen zugrunde liegen; und fünftens darf er nicht unter Umständen entscheiden, die seine Urteilskraft vorübergehend beeinträchtigen, er darf also nicht müde, nervös, aufgeregt, wütend usw. sein174. Offensichtlich gibt es kaum eine Entscheidung, die diesen hohen Ansprüchen voll gerecht wird; das Modell hat nur die Aufgabe, darzulegen, worauf es prinzipiell bei der Bestimmung der Freiwilligkeit ankommt. Als erste Annäherung an das erforderliche Ausmaß an Freiwilligkeit gibt Feinberg dann einige Faustregeln an; insbesondere gelte: Je ris172 173 174
Ebd., 109. Ebd., 110 (Hervorhebung im Original). Ebd., 113 ff.; insbes. 115.
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kanter das Verhalten sei und je unwiderruflicher der riskierte Schaden, desto größer sei der erforderliche Grad der Freiwilligkeit175. Und schließlich gelte noch eine Vermutung für die Unfreiwilligkeit eines Verhaltens (presumption of nonvoluntariness), der zufolge der Staat berechtigt sei, bei Zweifeln an der Freiwilligkeit einer Selbstgefährdung oder -schädigung diese vorübergehend zu unterbinden, um die Freiwilligkeit zu ermitteln176. Wenn beispielsweise ein Polizeibeamter jemanden sehe, der sich gerade mit einer Axt die Hand abschlagen wolle, dürfe er ihn vorübergehend daran hindern, da die Vermutung nahe liege, dass dies nicht freiwillig geschehe. All diese Prinzipien lassen möglicherweise die Vermutung aufkommen, dass Feinberg trotz seines ursprünglichen Ansatzes, der dem Recht auf Autonomie hohen Stellenwert einräumt, bereit sein könnte, im Ergebnis einiges an Paternalismus zuzulassen. Durch zwei nachfolgende Beispiele wird man jedoch eines Besseren belehrt. Feinberg wendet seinen Ansatz zunächst auf den Fall an, dass ein Laie einen Arzt um eine Verschreibung gefährlicher Drogen bittet177. Der Arzt lehnt dies mit dem Argument ab, dass die Drogen Schaden anrichten würden, und der Patient widerspricht. Wenn ein Laie mit einem Fachmann streitet, kann für Feinberg der Fachmann als kompetenter angesehen werden; bei dem Laien liege dann ein Fall von Nichtwissen oder Ignoranz vor, der Paternalismus legitimiere. Wenn der Patient dagegen auf den Einwand des Arztes antworte, dass er die Drogen wolle, um sich selbst zu schaden, dann könne man vermuten, dass die Entscheidung unfreiwillig sei, denn sie sei in so extremer und ungewöhnlicher Weise unvernünftig, dass die Vermutung nahe liege, dass sie auf einer psychologischen Beeinträchtigung beruhe. Es sei jedoch nicht ausreichend, aus der Ungewöhnlichkeit einer Entscheidung auf ihr Unfreiwilligkeit zu schließen, sondern es müssten weitere Beweise für die Unfreiwilligkeit erbracht werden. Der entscheidende Fall jedoch, der den Paternalisten von dem Antipaternalisten trenne, sei der, in dem der Patient antworte, dass es ihm egal sei, ob er Schaden nehme; dass er Freude (pleasure) jetzt wolle, die das Risiko wert sei; und dass er bereit sei, einen möglichen Preis dafür zu zahlen. Dieser Patient könne möglicherweise einen durchdachten philosophischen Hedonismus als eine seiner tiefsten Überzeugungen haben und der Staat habe kein Recht, diese Überzeugungen als ungesund oder krankhaft anzusehen. Im Übrigen komme es auf die Art der Droge an: Wenn die Droge eine sei, die dem Konsumenten nur eine Stunde Euphorie verschaffe und ihn danach qualvoll sterben lasse, greife die presumption of nonvoluntariness ein. Wenn es sich dagegen um Nikotin handele, gebe es keine Anzeichen für Unfreiwilligkeit: Viele absolut freiwillig handelnde Personen seien bereit, für den Genuss des Rauchens die 175 176 177
Ebd., 117 ff. Ebd., 124 ff. Ebd., 127 ff.
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Gefahren in Kauf zu nehmen. Was der Staat machen könne, sei, die Raucher mit den „hässlichen medizinischen Fakten“ zu konfrontieren. Ein Verbot dagegen wäre der reinste harte Paternalismus, und den lehnt Feinberg entschieden ab. Bei dem zweiten Beispiel Feinbergs geht es um Schutzhelme für Motorradfahrer178. Feinberg hält eine Schutzhelmpflicht aus paternalistischen Motiven für nicht rechtfertigbar. Zunächst sei eine solche nicht dadurch begründbar, dass man den typischen Motorradfahrer für unwissend erkläre, was die Gefahren im Straßenverkehr angehe. Soweit das der Fall sei, könne ein solcher Defekt durch einen Pflichtkurs zu den Gefahren des Straßenverkehrs geheilt werden. Die Motorradfahrer, die auch dann noch ohne Helm fahren, könne man in zwei Gruppen unterteilen: die romantischen Ideologen auf der einen Seite und die Sorglosen auf der anderen. Die Sorglosen zerfallen in zwei Unterkategorien: diejenigen, die die Risiken verstehen, aber für die die Mühen, die mit der Helmbenutzung verbunden sind, überwiegen, und diejenigen, die zugeben, sich unvernünftig zu verhalten, aber einfach nicht die Initiative aufbringen können, Helme zu tragen. In allen Fällen handelten die Betreffenden freiwillig. Auch derjenige, der einfach zu faul sei, einen Helm zu tragen, handele nur unvernünftig, nicht aber unfreiwillig: „But lest we judge too hastily that his failures must be beyond his own control and therefore somewhat less than sufficiently voluntary, each of us should remember the many diverse occasions in our lives when we quite voluntarily chose to do the convenient thing instead of something we knew at the time would be better to do, in situations where nothing prevented us from choosing the alternative except our own laziness, indifference, inertial habit, or short-term self-indulgence.“179 Die Menschen vor ihrer eigenen Tollkühnheit und ihrem Mangel an ausreichendem Vorausschauen und Disziplin zu schützen, komme nicht in Frage. „The soft paternalist, properly so-called, would argue that self-regarding irresponsibility, foolhardiness, and lack of forethought and self-discipline need be no more involuntary than any other of the character flaws for which people are blamed, and in the absence of independent corroborating evidence of cognitive or emotional impairment, their possessor has a right to act on his own unreasonable but genuine preferences and, if it comes to that, to pay the price.“180 Der einzige Grund für eine Helmpflicht, den Feinberg gelten lässt, ist der Schutz Dritter, und für Feinberg kommt hier der Schutz des anderen Unfallteilnehmers, der Familie, der Angehörigen, der traumatisierten Zeugen usw. vor dem Erleben bzw. den Folgen des Unfalls in Betracht. Ob sich dadurch eine Helmpflicht begründen lässt, hängt dann für Feinberg davon ab, wie man die
178 179 180
Ebd., 134. Ebd., 137. Ebd., 137 f.
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berechtigten Interessen dieser Dritten gegen das Freiheitsinteresse der Motorradfahrer abwägen will181. Feinberg ist der moderne Verteidiger der klassischen liberalen Position Mills; und seine Verdienste werden auch von denen anerkannt, die im Ergebnis nicht mit ihm übereinstimmen182. Das liegt daran, dass er eine liberale Position entwickelt, die klar formuliert sowie schlüssig und folgerichtig ist. Sein Hauptkritikpunkt an den anderen, paternalismusfreundlicheren Ansätzen ist, dass diese Freiwilligkeit mit Vernünftigkeit verwechseln, und er legt dar, warum man auch freiwillig etwas Unvernünftiges wählen kann. Das bringt die Vertreter der Auffassung, dass unvernünftiges Verhalten Paternalismus legitimiere, in Erklärungsnot: Wenn unvernünftiges Handeln Paternalismus legitimiert, dann folgt daraus, dass der Staat dem Einzelnen eine Pflicht zu rationalem Handeln auferlegen kann. Die Vertreter dieser Auffassung legen aber nicht dar, warum eine solche Pflicht bestehen sollte. Sie widerspräche auch, wie Feinberg zutreffend bemerkt, unserem Selbstverständnis: Jeder nimmt sich das Recht heraus, auch einmal unvernünftig zu handeln, und sieht eine solche Handlung als von seinem Selbstbestimmungsrecht gedeckt an, zumindest solange er freiwillig handelt. Der tiefere Grund für dieses intuitive Gefühl liegt darin, wie Arneson zutreffend bemerkt hat, dass in dem Zwang, vernünftig handeln zu müssen, ein fremder, von außen aufgezwungener Wert zu sehen ist. Gerade das Aufzwingen fremder, dem eigenen Selbstverständnis widersprechender Wertvorstellungen aber ist das, was in der liberalen Philosophie sonst abgelehnt wird. Daher ist Feinberg in philosophischer Hinsicht in seiner Kritik an den Verfechtern der Auffassung, unvernünftiges Verhalten könne Paternalismus legitimieren, zuzustimmen. Die Ergebnisse, die Feinbergs Theorie produziert, mögen einigen vielleicht auch willkommen sein. Gerade seine Beispiele zur Helmpflicht und zur Einnahme gefährlicher Drogen lassen dem Einzelnen viel Freiheit, und das scheint zunächst begrüßenswert. Man kann aber auch Zweifel anmelden, ob Feinberg nicht zu weit geht: Der Preis, der beispielsweise für die Freiheit von einer Helmpflicht zu zahlen ist, mag hier zu hoch erscheinen. Es ist aber schwierig, dieses Gefühl philosophisch widerspruchsfrei umzusetzen. Denn man kann nicht ohne Weiteres argumentieren, der Freiheitsverlust, der mit einer Helmpflicht einhergehe, sei so klein, dass er gegenüber dem Gewinn an Sicherheit nicht ins Gewicht falle. Feinberg bemerkt zutreffend, dass eine solche Argumentation unzulässig ist, wenn man den Einzelnen als souverän über sein Leben betrach181
Ebd., 141. Vgl. z. B. Morimura, ARSP Beiheft 30 (1991), 102 (103). Bereits Feinbergs Artikel „Paternalism“, abgedruckt in: Sartorius (Hrsg.), Paternalism, 3 ff., in dem er seine Gedanken zum ersten Mal vortrug, erregte viel Aufsehen. Hier wird jedoch die aktuellere und ausführlichere Darlegung seiner Gedanken in seinem „Harm to Self“ zugrunde gelegt. 182
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tet: dann darf eben jeder selbst entscheiden, wie viel Risiko er eingehen möchte. Seine Souveränität erstreckt sich nicht nur auf vermeintlich „wichtige“ Fragen der eigenen Existenz, sondern auf alles, was ihn betrifft – und damit auch auf triviale Fragen wie die der Benutzung eines Schutzhelms183. Solange er freiwillig handelt, kommt man an seiner Entscheidung nicht vorbei. Das ungute Gefühl, das einen angesichts dieser Schlussfolgerungen beschleichen mag184, muss aber, wenn es argumentatives Gewicht erhalten soll, philosophisch fundiert werden. Einen Vorschlag in dieser Richtung hat Kleinig vorgelegt, und dieser soll im Folgenden vorgestellt werden. cc) John Kleinig: Persönliche Integrität Kleinig hält das traditionelle liberale Menschenbild, dem zufolge jeder in der Lage ist, sein Leben in allen Aspekten stets selbst zu gestalten, für defizitär: „Our lives do not always display the cohesion and maturity of purpose that exemplifies the liberal ideal of individuality, but instead manifest a carelessness, unreflectiveness, short-sightedness, or foolishness that not only does us no credit but also represents a departure from some of our own more permanent and central commitments and dispositions.“185 Diesen Befund nutzt er nun aber nicht, um – wie es nahe liegen könnte – dann eben dem Einzelnen das Recht auf Selbstbestimmung abzusprechen und dem Staat das Recht auf gewisse Entscheidungen zum Wohl des Betroffenen einzuräumen. In dem Zitat ist schon angedeutet, dass der Einzelne, wenn er sich selbst schädigt, damit häufig im Widerspruch zu seinen eigenen Werten setzt. Es geht Kleinig also nicht um das Aufzwingen fremder Werte und Anschauungen über das, was „vernünftig“ ist, sondern darum, gewisse Schwächen bei der „Selbstverwaltung“ des Einzelnen auszugleichen. Maßstab ist dann nicht das, was der Staat für richtig hält, sondern was sich am besten in die Werte und Anschauungen des Betroffenen einfügt. Kleinigs Kernargument ist dann das folgende: „When our conduct or choices place our more permanent, stable, and central projects in jeopardy, and where what comes to expression in this conduct or these choices manifests aspects of our personality that do not rank highly in our constellation of desires, dispositions, etc., benevolent interference will constitute no violation of integrity. Indeed, if anything, it helps to preserve it. Though it acknowledges the liberal ideal of individuality, it works with a 183
Feinberg, Harm to Self, 87 ff. Es soll hier nicht angedeutet werden, dass die Ergebnisse Feinbergs nicht auch als einleuchtend, vielleicht geradezu als Bestätigung des eigenen Rechtsgefühls gesehen werden können. Aber sicherlich ist insbesondere im Schutzhelmbeispiel auch ein gewisses Unbehagen über die Ergebnisse dieses Ansatzes zumindest nachvollziehbar. 185 Kleinig, Paternalism, 67. 184
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more differentiated and less abstract conception of the self than is customary in liberal thinking.“186 Durch diese Argumentation entgeht Kleinig dem Vorwurf, er wolle die Individualität des Betroffenen durch ein Aufzwingen fremder Werte unterdrücken. Daraus, dass der Paternalist sich um das Wohlergehen des anderen sorge, folge noch nicht, dass er dessen Individualität nicht respektiere, denn der Paternalist könne eben gerade nicht seine eigenen, sondern die dauerhaften und wichtigen Projekte des anderen zum Maßstab seines Eingreifens machen. Kleinig gibt zu, dass damit zwar immer noch ein Projekt des Betroffenen zerstört werde. Allerdings reflektiere das Handeln des Paternalisten dann nur eine Spannung zwischen den Projekten des Betroffenen, die sowieso schon existiere. Weiterhin müsse der paternalistische Eingriff auch die relative Wichtigkeit der Projekte des Betroffenen berücksichtigen. Wenn diese beiden Punkte beachtet würden, gelte: „There is, therefore, no violation of integrity or life-plans. The paternalist is neither determining what ends are constitutive of the other’s good nor ranking those ends, but giving them effect in the face of certain character failings. Although the person interfered with can be held responsible for such failings, preventing them from having their worst effects does not violate that person’s integrity. The paternalism here is not moralistic. No alien values are imported.“187 Gleichwohl gehe der Paternalist ein „moralisches Risiko“ ein, weshalb es einen besonderen Rechtfertigungsbedarf gebe. Paternalismus sei kein Ersatz für Überzeugung und Erziehung, sondern eine „strategy of last resort“188. Aber wie verhält sich Kleinigs Auffassung zu dem Respekt vor dem Recht auf Selbstbestimmung des Bevormundeten? Man könnte dem Paternalisten vorwerfen, dass er eine berechtigte Sorge um andere mit einem Respekt vor deren Souveränität bezüglich der eigenen Angelegenheiten verwechsele: Macht der Respekt vor dem Recht des anderen nicht Paternalismus in der Kleinig’schen Variante unmöglich? Die Antwort hängt natürlich davon ab, was genau man an dem anderen respektiert. Kleinig fragt: „For what is it that one respects when one respects the individuality of an other? Is it any and every free choice, or is it those free choices that manifest the other’s established and valued concerns – the other’s integrity? It is not to voluntary choices as such that liberalism is committed, but to the persons who express themselves in their choices. Where choices having marginal significance to a person’s settled life-plans and values threaten serious disruption to their realization, we do not violate their integrity in interfering with them. This, admittedly, is a risky business, for, as we have already observed, people are generally better placed to know what accords with their own conception of good and their voluntary choices provide strong evi186 187 188
Ebd., 68. Ebd., 69. Ebd., 70.
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dence that what they are doing will further it. Nevertheless, the evidence is not decisive, and risking unjustifiable offense may be called for. Relationships without risk are likely to be relationships without moral depth.“189 Kleinig führt dann noch vier Prinzipien ein, die die Zulässigkeit von Paternalismus begrenzen sollen190. Erstens sei die am wenigsten einschneidende Alternative zu bevorzugen; dies entspricht in der Sache der Erforderlichkeit. Zweitens seien solche paternalistischen Maßnahmen zu bevorzugen, die mit der Konzeption des Betroffenen vom guten Leben am ehesten übereinstimmen. Für Kleinig ist der entscheidende Punkt, der Paternalismus in gewissen Grenzen rechtfertigt, dass Maßstab die bereits existierenden Ziele, Projekte und Lebenspläne des Betroffenen sein müssen; er lehnt daher moralischen Paternalismus ab, da sich dieser gerade gegen fundamentale Überzeugungen wendet. Paternalismus sollte sich dagegen eher auf den Schutz von „welfare interests“, also von Gütern wie Leben oder Gesundheit konzentrieren. Je mangelhafter die Entscheidung zur Selbstgefährdung des Betroffenen, je größer der mögliche Schaden, je höher das Risiko und je schwieriger der Schaden zu reparieren, desto eher sei Paternalismus gerechtfertigt. Drittens seien effektivere Maßnahmen weniger effektiven vorzuziehen. Viertens müssen die sozialen Folgen paternalistischer Maßnahmen in Betracht gezogen werden. So koste beispielsweise das Durchsetzen paternalistischer Vorschriften Geld; solche Faktoren müssten beachtet werden. Kleinigs Ansatz vereint theoretische Raffinesse mit intuitiv einleuchtenden praktischen Ergebnissen. So liegt es beispielsweise nahe, dass man mit Kleinigs Theorie eine Sitzgurt- oder Helmpflicht viel leichter paternalistisch rechtfertigen kann als mit Feinbergs Ansatz. Es sind aber nicht die sinnvollen Ergebnisse, die der Theorie ihr Gewicht verleihen, sondern in erster Linie hat sich Kleinig in theoretischer Hinsicht um die Paternalismus- und auch Liberalismusdiskussion insgesamt verdient gemacht. Traditionell schien man bei der Paternalismusfrage nur zwei Alternativen zu haben: Entweder man akzeptierte die Entscheidungen des Einzelnen, oder aber man zwängte ihn in ein Schema von Werten, die er nicht teilte. Es lag bei dieser Auswahl von Alternativen dann nahe, dass ein Liberaler den ersten Weg wählen musste. Kleinigs Verdienst ist es, den Gegensatz aufgehoben und die Vorteile beider Auffassungen in seinem neuen Ansatz zu vereint zu haben. Dies gelingt ihm, indem er die Ausgangsthese des Liberalen, nämlich dass jede Entscheidung des Einzelnen seine individuelle Persönlichkeit widerspiegelt, anzweifelt. Vereinfacht ausgedrückt, kann man seine These so darstellen: Eine Entscheidung, die sich nicht mit den übrigen Werten, Vorstellungen und Lebensplänen des Betreffenden verträgt, reflektiert dessen Persönlichkeit oder Individualität auch nicht in hohem Maße. 189 190
Ebd., 72 f. Ebd., 74 ff.
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Was Kleinig hier entwickelt, ist eine feinsinnige Version des Arguments, das oben, bei der Diskussion von Hillgrubers Auffassung zur Selbstmordverhinderung, skeptisch betrachtet wurde191: Hillgruber hatte argumentiert, dass der Appellselbstmörder sich gar nicht „wirklich“ töten wolle. Dieser Ansatz war zurückgewiesen worden, weil er nicht näher präzisiert, wie man den „wirklichen“ Willen ermitteln soll, und wie sich dieser Ansatz zu dem von Hillgruber und anderen ansonsten vertretenen Prinzip verhält, dass außer in Fällen der Geisteskrankheit oder Minderjährigkeit Paternalismus stets unzulässig sein soll. Ohne Kleinigs Gedanken jetzt in umfassender Weise auf die Problematik des Appellselbstmordes anwenden zu wollen, könnte eine Rechtfertigung für ein Einschreiten darin gesehen werden, dass die Selbstmordhandlung nicht die gefestigten Vorstellungen und Werte des Betreffenden widerspiegelt, sondern aus einer momentanen Verzweiflungssituation heraus geschehen ist. Insoweit könnte man dann auch von einem die Rettung ermöglichenden „wirklichen Willen“ des Betreffenden sprechen, obwohl diese Redeweise unglücklich und irreführend ist: Dem Retter geht es nicht um irgendeinen Willen des Betroffenen, sondern um die Interpretation von dessen höherrangigen Werten und Vorstellungen, und aus dem Widerspruch von Handlung und höherrangigen Anschauungen legitimiert sich die Rettungshandlung. Anders gesagt: Der Retter beruft sich nicht auf etwas „Fertiges“, das er bei dem Suizidenten vorfindet, sondern er selbst ermittelt erst durch einen Interpretationsvorgang etwas, von dem er sich dann leiten lassen kann. Der vermeintliche „wirkliche Wille“ ist ein Gedankenprodukt des Retters, nicht des Suizidenten. Ob man Kleinigs Ansatz in philosophischer Hinsicht folgt, entscheidet sich danach, ob man seine entscheidende Weichenstellung akzeptiert, nämlich, dass es unter einem liberalen Ansatz denkbar ist, dass der Staat eine erwachsene und gesunde Person unter Umständen besser respektiert, wenn er sie zu etwas zwingt, das sie ablehnt, als wenn er sich nicht einmischt. Philosophisch gesehen handelt es sich um die Frage, worum es dem Liberalismus seiner plausibelsten Interpretation zufolge hauptsächlich geht: Respektiert man eine Person durch Respekt vor den freiwilligen Entscheidungen dieser Person, oder geht es um etwas Umfassenderes, das die Werte, Vorstellungen, Lebenspläne des Betroffenen in einer umfassenden Interpretationsleistung mit einbezieht, inklusive aller Klippen und Gefahren, die dann dabei zusätzlich auftauchen? Juristisch wird es dann um die plausibelste Grundgesetzinterpretation gehen und die Art von Respekt vor dem Einzelnen, die das Grundgesetz dem Staat abverlangt. Die erwähnten Klippen und Gefahren von Kleinigs Ansatz sind darin zu sehen, dass der Weg über die Integrität, wie er selbst sagt, ein „moralisches Risiko“ beinhaltet. Es ist sicherlich weniger missbrauchs- und fehleranfällig, wenn der Staat einfach jede Entscheidung des Einzelnen hinnimmt. Die Inter191
s. oben 1. b) bb).
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pretation, wie sich eine Entscheidung zu anderen Werten des Betreffenden verhält, ist dagegen schwierig. Vielleicht ist das stärkste Argument gegen Kleinigs Auffassung, dass hier aufgrund der Missbrauchsmöglichkeiten eine gesunde Skepsis gegenüber dem Staat angebracht ist. Man könnte sich vorstellen, dass das Integritätsargument beispielsweise in der folgenden Weise missbraucht werden könnte: „Wenn wir Umfragen durchführen, stellen wir fest, dass praktisch jeder der Ansicht ist, dass moralisches Verhalten ein hoher Wert ist. Wenn sich also jemand in einer Einzelfrage unmoralisch verhält, verstößt er damit gegen einen eigenen höherrangigen Wert. Wir sollten den Menschen paternalistisch helfen, sich nicht unmoralisch zu verhalten, und unmoralische Verhaltensweisen paternalistisch verbieten. Dann kann jeder ein besseres Leben haben, entsprechend seiner eigenen Vorstellung, dass moralisches Verhalten ein hohes Gut ist. Als erstes sollten wir homosexuelle Aktivitäten verbieten, denn Homosexualität ist eindeutig unmoralisch.“ Eine solche Argumentation enthält natürlich viele Fehler. Einer davon ist, dass es sich mit dem Wert „Moral“ ähnlich wie mit anderen Werten verhält: Es wurde dargelegt, dass beispielsweise eine Bejahung des Wertes Leben zu vielen verschiedenen Schlussfolgerungen führen kann, je nachdem, was genau in Bezug auf Leben als wertvoll angesehen wird. Ähnlich verhält es sich mit dem Wert Moral. Der Paternalist müsste also genauer sagen, welche Verhaltensweisen er meint. Wenn auch möglicherweise ein Konsens besteht, dass moralisches Verhalten wertvoll ist, so endet der Konsens bei der Beurteilung der Frage, ob homosexuelles Verhalten moralisch ist. Bei richtiger Betrachtungsweise ist es dem Staat also auf Basis des Integritätsansatzes gerade nicht möglich, in kontroversen Fragen eine bestimmte Moralanschauung paternalistisch mit den Mitteln des Strafrechts durchzusetzen. Realistischerweise könnte man vielleicht eher befürchten, dass der Staat bzw. diejenigen, die die Entscheidungen fällen, ihre eigenen Anschauungen über das, was vernünftig ist, anderen aufzwingen wollen. Statt ehrlich zu sagen: „Wir finden Rauchen dumm und sinnlos, und es sollte daher verboten werden“, könnte nach außen argumentiert werden, dass Rauchen gegen den eigenen höherrangigen Wert der Gesundheit verstoße. Es bestünde die Gefahr, dass so im Gewande der Integrität letztlich doch diskriminiert würde. Kleinig weiß um diese Gefahren. Er sieht seinen Ansatz als einen mit größeren Risiken, aber auch größeren Chancen, und ist der Ansicht, dass die Chancen die Risiken überwiegen. Die Risiken will er zudem dadurch minimieren, dass er Paternalismus nur in Bezug auf welfare interests zulassen will. Moralischer Paternalismus, der naturgemäß immer besonders suspekt ist, wird dadurch ausgeschlossen. Ob Kleinigs Ansatz letztlich nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis überzeugt, muss dann davon abhängen, ob die Chancen die Risiken wirk-
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lich überwiegen. Man kann sich zur Beurteilung dieser Frage einmal vorstellen, dass die eben dargestellten Gefahren nicht bestünden. Der Staat wäre in der Lage, die für das Integritätsargument erforderliche Interpretation der Werte, Ziele und Lebenspläne des Einzelnen durchzuführen, und er würde sich auch nur von diesen sachlichen Erwägungen leiten lassen. In diesem Fall stellt sich ein weiteres Problem: In einer freien Entscheidung ist ein eigener Wert zu sehen, der unabhängig von dem Wert des Gewählten besteht192. Dem liegt der Gedanke zugrunde, den auch schon Mill in ähnlicher Weise formuliert hat, wenn er schreibt, dass es auf die eigene Art zu leben ankomme, auch wenn dies nicht die absolut beste sei193. Kleinig erkennt auch diesen Einwand. Er argumentiert, dass, selbst wenn er zuträfe, er nicht mehr bedeute, als dass der Wert einer freien Entscheidung berücksichtigt werden müsse194. Das bedeute jedoch nicht, dass es ausschließlich darauf ankomme, vielmehr müsse der Integritätsaspekt daneben zum Tragen kommen. Ansonsten würde man behaupten, dass prinzipiell ausschließlich von Bedeutung sei, dass man sich frei entscheide, es aber auf den Inhalt der Entscheidung gar nicht ankomme, selbst wenn dieser die eigenen Werte und Pläne der Person aus Nachlässigkeit oder Gedankenlosigkeit gefährde. Hier kommt dann der schon angesprochene Punkt zum Tragen, dass es Kleinig zufolge dem Liberalismus nicht ausschließlich um des Respekt vor Entscheidungen, sondern um Respekt vor der ganzen Person gehen müsse. Wenn man neben dem Missbrauchsaspekt auch noch diesen Punkt beiseite lässt, erscheint Kleinigs Ansatz allerdings tatsächlich vorzugswürdig gegenüber dem klassischen liberalen Verständnis. Denn es ist ihm darin zuzustimmen, dass eine Entscheidung, die mit eigenen Werten in Widerspruch steht und beispielsweise aus Nachlässigkeit, Stress oder Unbedachtheit gefällt wird, gerade nicht die Persönlichkeit des Handelnden reflektiert und deswegen auch nicht respektiert werden muss. Es ist eben ein fundamentaler Unterschied, ob jemand bevormundet wird, indem ihm von außen fremde Werte aufgezwungen werden, die er nicht teilt, oder ob der Eingriff stattfindet, weil er im Begriff 192 Wolf, Studia Philosophica 49 (1990), 49 (59). Teilweise wird dies verneint. Für Raz liegt nur in einer wertvollen (valuable) Wahl ein eigener Wert; autonom wertlose Wahlen zu treffen, hält er dagegen auch für wertlos. Daraus folgert er aber nicht, dass dann der Staat wertlose Entscheidungen unterbinden sollte, denn: „The means used, coercive interference, violates the autonomy of its victims. First, it violates the condition of independence and expresses a relation of domination and an attitude of disrespect for the coerced individual. Second, coercion by criminal penalties is a global and indiscriminate invasion of autonomy.“ (The Morality of Freedom, 418). Im Ergebnis folgt daher auch für Raz nichts anderes: Gegen einen paternalistischen Eingriff spricht für ihn dann zwar nicht, dass der Wert einer freien Entscheidung missachtet wird, sondern die darin liegende Verletzung der Autonomie des Betroffenen. 193 Mill, Über die Freiheit, 93. 194 Das übersieht anscheinend Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 34 f., der Kleinig Inkonsequenz vorwirft.
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ist, seine eigenen Vorstellungen und Lebenspläne durch Unbedachtheiten zu torpedieren. Es ergibt sich damit für die philosophische Betrachtung von Kleinigs Integritätsargument der folgende Befund: Kleinigs Ansatz ist im Prinzip eine attraktive Neuinterpretation der liberalen Grundthese, dass die individuelle Persönlichkeit jedes einzelnen Menschen zu respektieren ist. Die Schlussfolgerungen, die er für die Zulässigkeit von staatlichem Paternalismus ableitet, stoßen nur auf zwei Bedenken: Zum einen stellt sich die Frage, inwieweit der Ansatz praktischen Bedenken begegnet, weil sich der Staat bewusst oder unbewusst über die zulässigen Grenzen hinwegsetzen könnte. Zum anderen muss beachtet werden, dass in gewissem Maße gegen ein ausschließliches Abstellen auf die Integrität des Einzelnen die Überlegung spricht, dass in einer freien Entscheidung ein von dem Inhalt der gewählten Alternative unabhängiger Wert liegt.
3. Zusammenfassung zu den juristischen und philosophischen Ansätzen Die Untersuchung der juristischen Ansätze zum Thema Paternalismus ergab, dass das Bild innerhalb der zum Verfassungsrecht vertretenen Ansätze nicht widerspruchsfrei ist. Insbesondere wurde ein Widerspruch zwischen dem generellen Ausschluss von Paternalismus außer im Fall von Minderjährigkeit und Geisteskrankheit auf der einen Seite und der Möglichkeit, Appellselbstmorde zu verhindern, auf der anderen Seite aufgedeckt. Es wurde ferner festgestellt, dass es unangemessen ist, bei der Beurteilung der Frage, ob Paternalismus legitim ist, ausschließlich an den allgemeinen Geisteszustand der Person anzuknüpfen, sondern es wurde für vorzugswürdig erachtet, jede einzelne Entscheidung an einem noch näher zu bestimmenden Standard zu messen. Dieser letzte Befund wurde durch den Blick in die politische Philosophie bestätigt. Auch dort geht man ganz überwiegend davon aus, dass die Frage nach der moralischen Zulässigkeit von Paternalismus durch eine Untersuchung der konkreten Entscheidung des Betroffenen ermittelt werden muss. Für die Frage, welcher Standard anzulegen ist, wurden drei verschiedene Ausgangspunkte vorgestellt. Die erste Ansicht geht davon aus, dass eine irrationale Entscheidung paternalistisch überspielt werden darf; die zweite Ansicht ist enger und hält dies nur bei unfreiwilligen Entscheidungen für möglich. Die dritte Ansicht schließlich will als Maßstab nicht die Entscheidung, sondern die Integrität der Person verwenden. Im Folgenden wird zu untersuchen sein, welche Position das Grundgesetz einnimmt. Die philosophischen Positionen sollen dabei als Denkanstöße fungieren, die Ideen liefern, die Bandbreite möglicher Lösungsansätze verdeutlichen
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und dabei helfen können, Widersprüche, wie sie derzeit noch in der Verfassungsdogmatik bestehen, zu vermeiden.
III. Die Position des Grundgesetzes 1. Grundgesetz und Rationalität der Entscheidung Ist Paternalismus unter dem Grundgesetz zulässig, wenn und weil sich der Betroffene unvernünftig verhält? Es wurde oben bei der philosophischen Diskussion des Problems dargelegt, dass ein Rationalitätserfordernis der Sache nach ein Aufzwingen eines äußeren Wertes darstellt, denn man kann sich durchaus freiwillig unvernünftig verhalten. Damit liegt es für die grundrechtsdogmatische Betrachtung nahe, ein Rationalitätserfordernis als unzulässigen „objektiven Wert“ einzuordnen. Es wurde bereits dargelegt, dass eine Einschränkung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aufgrund von objektiven Werten nicht in Betracht kommt. Allerdings wurde die Herleitung dieses Ergebnisses vor dem Hintergrund von Werten wie Leben oder Freiheit vorgenommen; deshalb soll hier untersucht werden, ob sie auch für einen Wert „Rationalität“ tragfähig ist. Bei der Untersuchung der Lehre von den objektiven Werten war festgestellt worden, dass diese auf dem Gedanken beruht, dass ein gewisser Wertekonsens für das Bestehen einer Gesellschaft von herausragender Bedeutung sei. Dieser Ansatz wurde mit zwei Argumenten abgelehnt: Zum einen wurde argumentiert, dass zwar noch Einigkeit über die Existenz eines Wertes bestehen könne, dass dem jedoch häufig unterschiedliche Vorstellungen über das, was konkret darunter zu verstehen sei, zugrunde lägen. Dieser Einwand trifft auch für einen angenommenen Wert Rationalität zu: Es ist zwar schon fraglich, ob sich überhaupt ein Konsens feststellen lassen könnte, dass rationales Handeln wertvoll ist. Selbst wenn das der Fall wäre, würde sich der Konsens jedoch kaum auf jede Einzelfrage erstrecken. Ist Rauchen unvernünftig? Wie ist es mit gefährlichen Sportarten wie Bergsteigen oder Skifahren? Feinberg hat dargelegt, dass die Frage, ob ein Verhalten unvernünftig ist, teilweise von subjektiven Wertungen abhängt, nämlich der Frage, wie wichtig einem das mit der Handlung verfolgte Ziel ist. Daher mag dem einen vernünftig erscheinen, was der andere für ein untragbares Risiko hält. Der Einwand, der gegen die Theorie der objektiven Werte ins Feld geführt worden war, nämlich dass es in vielen Einzelfragen gerade keinen Konsens geben wird, trifft also voll und ganz auch auf einen Wert Rationalität zu. Darüber hinaus wäre auch fragwürdig, wie man es sich vorzustellen hat, dass ein objektiver Wert Rationalität eine gemeinschaftsstiftende, die Gesellschaft zusammenhaltende Funktion entfalten soll. Bei einem Wert Leben, der ja ansonsten bevorzugt in diesem Zusammenhang bemüht wird, stehen vermutlich religiöse Gefühle im Hintergrund, und über religiöse Empfindungen lässt sich naturgemäß – unter denjenigen, die sie teilen – ein gemeinschaftsstif-
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tendes Band aufbauen. Bei einem Wert Rationalität dagegen will einem nicht so recht warm ums Herz werden; ihm haftet eher die Konnotation einer kalten, unmenschlichen Effizienz an. Zum anderen war argumentiert worden, dass die Grundrechte gerade keine Konformität vorschreiben, sondern einen Konsens nur in der Achtung der gegenseitigen Freiheit fordern. Auch dieses Argument trifft auf den hier zu beurteilenden Fall zu. Ebenso wie es im Grundgesetz keinen Anhaltspunkt für einen Paternalismus rechtfertigenden objektiven Wert Leben oder Freiheit gibt, fehlt ein solcher auch für ein allgemein gültiges Rationalitätserfordernis. Auch hier fordert das Grundgesetz also den Respekt der Vernünftigen vor den Unvernünftigen, und es fordert gerade keine Konformität in vernünftigem Verhalten. Paternalismus kann daher nicht mit dem Argument gerechtfertigt werden, der Betroffene verhalte sich unvernünftig. Es muss nach anderen Rechtfertigungsmöglichkeiten gesucht werden. 2. Freiwilligkeit als Maßstab? Wenn man auf die Freiwilligkeit einer Handlung abstellt, dann ist Paternalismus nur in sehr wenigen Fällen zulässig, denn Willensmängel schließen, wie von Feinberg überzeugend dargelegt, normalerweise die Freiwilligkeit nicht aus. So handelt beispielsweise derjenige, der aus Nachlässigkeit seinen Sitzgurt nicht benutzt, völlig freiwillig, und seine Entscheidung ist als autonom anzusehen. Auch derjenige, der sich selbst tötet, wird häufig freiwillig handeln: Er mag zwar unter dem Einfluss momentaner Verzweiflung stehen – dies beseitigt jedoch in der Regel nicht die Freiwilligkeit der Selbsttötung. Feinbergs Ergebnisse sollten im Übrigen auch den Vertretern des Straf- und Zivilrechts zu denken geben. Es war beobachtet worden, dass der Trend im einfachen Recht dahin geht, dass schon bei geringen Willensmängeln die Freiwilligkeit bzw. Eigenverantwortlichkeit einer Selbstgefährdung verneint wird. Dieses Verständnis von Freiwilligkeit lässt sich zumindest in philosophischer Sicht schwer rechtfertigen. Wenn man davon ausgeht, dass das Grundgesetz in der liberalen Tradition Respekt vor freiwilligen Entscheidungen fordert, ohne eine Integritätskomponente zu berücksichtigen, kommt man an Feinbergs Schlussfolgerungen kaum vorbei – aus paternalistischen Gründen kann dann weder eine Helmpflicht noch eine Rettung des Appellselbstmörders gerechtfertigt werden. Es ist auch nicht möglich, mit Hillgruber Paternalismus bei geistig gesunden Erwachsenen in allen Fällen mit Ausnahme des Selbstmordes für unzulässig zu erklären195. Die Alternativen sind hier eindeutig: Entweder muss auch die freiwillige Entschei195
s. oben II. 1. b) bb).
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dung des Selbstmörders respektiert werden, oder man muss sich ein anderes theoretisches Modell suchen, das dem Grundgesetz besser entspricht. Als Zwischenergebnis ist daher festzuhalten, dass Paternalismus bei geistig gesunden Erwachsenen weitgehend unzulässig sein muss, wenn man auf die Freiwilligkeit einer Entscheidung abstellt. Ob dies wirklich die Position des Grundgesetzes ist, wird im Folgenden untersucht werden. 3. Integrität? Ein Ansatz, der Paternalismus in relativ weitgehendem Umfang erlaubt, ist der Integritätsansatz. Daher ist zu untersuchen, ob sich hierzu eine Parallele im Grundgesetz findet. Wäre das der Fall, gäbe es eine Möglichkeit, Paternalismus in gewissem Umfang zu rechtfertigen. a) Integrität und objektive Werte Auf den ersten Blick könnte man vermuten, dass für den Integritätsansatz nichts anderes gelten kann als für das Rationalitätserfordernis: Wenn der Staat nicht das Recht hat, den Einzelnen zu rationalem Handeln zu zwingen, warum sollte er dann das Recht haben, ihn zu integritätskonformem Verhalten zu zwingen? Läge darin nicht lediglich ein weiterer Versuch, ihm objektive Werte aufzuoktroyieren? Ein solcher Schluss wäre jedoch voreilig. Es bestehen inhaltlich entscheidende Unterschiede zwischen den verschiedenen Varianten der Werttheorie der Grundrechte und dem Integritätsansatz. Insbesondere haben die Werttheorie und die Integritätslösung verschiedene Anknüpfungspunkte. Bei der Werttheorie geht es stets darum, dass gerade nicht der Grundrechtsträger, sondern ein anderer – die Gesellschaft über ihre Moralvorstellungen, das Grundgesetz selbst über die in ihm festgeschriebenen „objektiven Werte“ – vorgibt, was Maßstab der Wertverwirklichung sein soll. Gerade dies war oben, bei der Diskussion der Theorie von den objektiven Werten, der Haupteinwand gegen diese Theorie gewesen: sie zwängt den Einzelnen in ein von ihm nicht geteiltes Wertesystem hinein. Wie bereits dargelegt, verhält es sich bei dem Integritätsansatz aber genau anders herum: Hier werden die Anschauungen des Grundrechtsträgers selbst zum Maßstab staatlichen Handelns gemacht. Die Entscheidungsfreiheit wird zwar eingeschränkt, aber nicht zum Schutz objektiver Werte, sondern der eigenen subjektiven Prioritäten. Somit hat der Staat nach diesem Ansatz gar keine Möglichkeit, irgendwelche Werte vorzugeben, sondern er kann nur dienend zur Förderung der Werte, die er bei dem Einzelnen schon vorfindet, tätig werden. Wenn man also überhaupt in diesem Zusammenhang von einer Werttheorie reden will, so muss es eine „subjektive“ Werttheorie sein. Damit entfallen aber
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schon viele Einwände, die gegen die objektive Werttheorie eben aufgrund ihres objektiven Ansatzes vorgebracht werden. Zur Verdeutlichung soll das folgende Beispiel dienen: Wenn jemand seinen Sitzgurt nicht benutzt, würde der Vertreter des Rationalitätsansatzes argumentieren, dass es unvernünftig sei, den Gurt nicht zu benutzen: Die Gefahr stehe in keinem Verhältnis zum Gewinn an Annehmlichkeit usw. Der Einwand des Betroffenen, er nehme diese Wertung aber anders vor und wolle das Risiko eingehen, ist dann bedeutungslos; er wird in das Werteschema eines anderen hineingezwängt. Der Integritätsvertreter dagegen würde untersuchen, ob die Tatsache, dass sich der Betroffene nicht angeschnallt hat, gegen dessen eigene Werte, Lebenspläne usw. verstößt. Wenn der Betroffene sich nur aus Nachlässigkeit nicht anschnallt, ansonsten aber durchaus lebensfroh ist, vielleicht noch eine Familie hat und für ihn Gesundheit ein hohes Gut ist, kann der Integritätsvertreter schließen, dass die Entscheidung, sich nicht anzuschnallen, die Persönlichkeit des Handelnden gar nicht oder in geringem Maße widerspiegelt, weil sie sich in Widerspruch setzt zu seinen sonstigen Werten. Indem er so argumentiert, zwingt er dem Einzelnen keinen äußeren Wert auf, wenn er ihn zum Anschnallen zwingt. Er hilft ihm vielmehr, seine eigenen Werte zu verwirklichen. Aber liegt nicht auch in der Bindung an die eigenen, „subjektiven“ Werte eine Vergewaltigung der Persönlichkeit? Hier muss man vorsichtig sein. Einem solchen Einwand mag die Befürchtung zugrunde liegen, dass der Betroffene vom Staat daran gehindert werden könnte, sich in bewusster, gewollter Entscheidung über seine eigenen Werte hinwegzusetzen. Eine solche Gefahr besteht indes nicht: Man darf sich den Integritätsansatz nicht wie eine Zwangsjacke vorstellen, aus der es kein Entrinnen gibt. Jeder hat natürlich das Recht, seine Prioritäten jederzeit neu zu setzen. Wer zunächst ein braver Familienvater war, dessen Nachlässigkeit beim Anschnallen vom Staat paternalistisch „korrigiert“ werden durfte, kann seine Ziele ändern und auf einmal ein wilder Abenteurer werden, der das Risiko sucht und beim Fahren ohne Gurt findet. Dann ist natürlich ein staatliches Eingreifen aus paternalistischen Gründen nicht mehr gestattet. Die Befürchtung, dass der Integritätsansatz den Einzelnen bei seinen Lebensexperimenten einengen könnte, ist daher unzutreffend. Wenn sich jemand seiner eigenen Integrität zuwider verhält, so geschieht dies grundsätzlich nicht aufgrund einer überlegten Grundsatzentscheidung, sondern vielmehr aufgrund von Nachlässigkeit, Bequemlichkeit oder Ignoranz. Daher wäre bei einer Berücksichtigung der Integrität auch keine Vergewaltigung oder Einengung der Persönlichkeit zu befürchten. Die Einwände, die gegen die objektive Werttheorie der Grundrechte aufgrund ihrer objektiven Zielrichtung vorgetragen wurden, sind nicht anwendbar auf den Integritätsansatz und können diesen daher auch nicht beschädigen. Damit ist herausgestellt, dass die Sachlage bei der Integritätslösung eine andere ist als bei den objektiven Werten; wie sich das Grundgesetz zu diesem Ansatz verhält, muss auf andere Weise ermittelt werden.
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b) Integrität und allgemeines Persönlichkeitsrecht aa) Der zutreffende Ansatz Der zutreffende Weg zu einer Beurteilung des Integritätsansatzes führt über das allgemeine Persönlichkeitsrecht. Es wurde dargelegt, dass das Persönlichkeitsrecht gegen jeden Paternalismus schützt. Damit schützt es in jedem Fall zunächst einmal die Freiheit der Entscheidung, unabhängig davon, ob diese die eigene Integrität verletzt oder nicht. Insoweit besteht aber noch kein Widerspruch zum Ansatz Kleinigs, denn auch dieser sieht, dass die Freiheit, eine eigene Wahl zu treffen, einen unabhängigen Wert darstellt. Für den Grundrechtsdogmatiker stellt sich die Frage, ob der Schutz der Integrität des Einzelnen eine Schranke des Rechts auf Paternalismusfreiheit darstellt. Wenn das bejaht werden könnte, wäre Paternalismus in gewissen Grenzen zulässig: Jeder Paternalismus würde zwar weiterhin das allgemeine Persönlichkeitsrecht berühren, jedoch käme als legitimer Zweck der Schutz der Integrität des Einzelnen in Betracht; dieser paternalistische Eingriff müsste dann geeignet, erforderlich und angemessen sein. Es wurde bereits dargelegt, dass bei der Untersuchung der Frage, welche Zwecke legitim sind, stets auf das betroffene Grundrecht abzustellen ist. Das bedeutet für den vorliegenden Fall, dass zu untersuchen ist, wie sich der Zweck Integritätsschutz mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht verträgt. In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts findet man nur dünne Hinweise. Paradigmatisch sind etwa die folgenden Formulierungen: „Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und die Menschenwürde sichern jedem Einzelnen einen autonomen Bereich privater Lebensgestaltung, in dem er seine Individualität entwickeln und wahren kann.“196 „Art. 1 Abs. 1 GG schützt die Würde des Menschen, wie er sich in seiner Individualität selbst begreift und seiner selbst bewusst wird. Hierzu gehört, dass der Mensch über sich selbst verfügen und sein Schicksal eigenverantwortlich gestalten kann. Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG gewährleistet die freie Entfaltung der im Menschen angelegten Fähigkeiten und Kräfte.“197 Diese Formulierungen zeigen jeweils die doppelte Zielsetzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts: Zum einen spricht das Bundesverfassungsgericht von einem „autonomen“ Bereich privater Lebensgestaltung und einem Recht, sein Schicksal „eigenverantwortlich“ zu gestalten. Insoweit deutet das auf ein Verständnis des allgemeinen Persönlichkeitsrechts hin, das den Autonomieaspekt in den Vordergrund rückt. Zum anderen jedoch hat diese Freiheitsgewährleistung einen bestimmten Sinn: es
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BVerfGE 79, 256 (268); 90, 263 (270). BVerfGE 49, 286 (298).
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soll die „Individualität“ entwickelt und gewahrt werden; die „im Menschen angelegten Fähigkeiten und Kräfte“ sollen sich entfalten können. Das deckt sich mit dem hier vertretenen Verständnis des allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Es hatte sich die Frage gestellt, nach welchen Kriterien aus der umfassenden Gewährleistung des allgemeinen Freiheitsrechts bestimmte Freiheitsbetätigungen ausgesondert und dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht zugeordnet werden sollten. Die Antwort war, dass die Freiheitsbetätigungen, die direkt oder indirekt für die Selbstverwirklichung des Einzelnen von besonderer Bedeutung sind, erhöhten Schutz genießen198. Der materielle Grund für den erhöhten Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts liegt also in der Ermöglichung der Selbstverwirklichung. Es soll dem Einzelnen die Möglichkeit gegeben werden, seine zentralen Lebensprojekte durchführen zu können. In der Sache bedeutet dies nichts anderes als den Schutz seiner Integrität. Zwar deutet der Begriff der Selbstverwirklichung mehr auf ein aktives und der der Integrität mehr auf ein passives Element hin. Es wurde jedoch dargelegt, dass dieser Unterschied in Wirklichkeit nicht besteht: Integritätsschutz ist immer auch Aktivitätsschutz, und zur Ermöglichung der Selbstverwirklichung gehört auch der Schutz bestimmter „Zustände“199. Sowohl bei der Selbstverwirklichung als auch bei der Integrität geht es um die individuellen Lebenspläne des Betroffenen. Man kann beide Begriffe im hier interessierenden Zusammenhang gleichsetzen. Dann folgt, dass die Freiheitsgewährleistung zum Ziel den Integritätsschutz des Einzelnen hat. Dieser Ansatz, der den Integritätsschutz mithilfe des Schutzes der Entscheidungsfreiheit gewährleisten will, hat seine Verdienste. Er funktioniert insbesondere solange, wie zwischen autonomer Entscheidung und persönlicher Integrität kein Widerspruch besteht. Beispielsweise kann man so in überzeugender Weise begründen, warum es unzulässig ist, den Einzelnen in ihm fremde Moralanschauungen hineinzuzwingen: Dies würde den Integritäts- oder Selbstverwirklichungsaspekt verletzen, denn es geht insoweit um den Menschen, wie er sich „in seiner Individualität selbst bewusst wird“, und nicht darum, wie andere ihn gerne hätten. Das Abstellen auf die freie Entscheidung liefert also solange befriedigende Ergebnisse, wie man vermeiden will, anderen fremde Wertsysteme aufzuzwingen. Man gerät jedoch in einen unauflösbaren Widerspruch, wenn man davon ausgeht, dass das Persönlichkeitsrecht das Ziel hat, die Integrität des Einzelnen zu schützen, sich aber als Mittel dafür ausschließlich der Achtung der Entscheidungsfreiheit bedient. Was soll gelten, wenn jemand das Leben liebt, eine intakte Familie hat, glänzende Karriereaussichten, und dann aus purer Nachlässig198 199
s. oben 2. Kap. B. II. 1. c) bb). s. oben 2. Kap. B. II. 1. a).
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keit seinen Sitzgurt nicht benutzt, so dass er all das, was ihm am Herzen liegt, entgegen seinen eigenen Prioritäten gefährdet? Wäre es wirklich eine Verletzung seines Rechts, „sein Schicksal eigenverantwortlich zu gestalten“, „seine Individualität [zu] entwickeln und wahren“, wenn man ihn paternalistisch zur Benutzung des Sitzgurtes zwingen würde? Plausibler ist in diesem Fall doch, dass er, wenn er sein Schicksal seinen eigenen Vorstellungen entsprechend gestalten möchte, den Sitzgurt zu benutzen hat. Der Fehler des Ansatzes, der Autonomie und Integrität verbinden will, liegt darin, dass das Mittel, nämlich der Schutz der Autonomie, zur Erreichung des Ziels, also der Bewahrung der Integrität, in diesem Fall gänzlich ungeeignet ist. Daher ist auch ein dogmatischer Ansatz, der beide unkritisch als Einheit sieht, nicht vorzugswürdig. Der Ausweg aus dieser Sackgasse liegt darin, zwar weiterhin die Entscheidungsfreiheit als Ausgangspunkt des allgemeinen Persönlichkeitsrechts zu achten, jedoch der Integrität des Einzelnen im Rahmen der Verhältnismäßigkeit einen gewissen, noch näher zu bestimmenden Rang einzuräumen. In diesem Sinne wird im Folgenden von Entscheidungsaspekt oder -komponente bzw. Integritätsaspekt oder -komponente gesprochen werden: Ausgangspunkt des grundrechtlichen Schutzes ist die Entscheidungskomponente des allgemeinen Persönlichkeitsrechts; die Integritätskomponente dagegen wird im Rahmen der Verhältnismäßigkeit als legitimer Zweck der Freiheitsbeschränkung berücksichtigt.
bb) Einwände Ein solcher Lösungsansatz, dem zufolge die Integritätskomponente zur Beschränkung der Entscheidungskomponente herangezogen werden kann, mag Widerspruch provozieren. Im Folgenden sollen daher die zwei naheliegenden Einwände untersucht werden, die man gegen eine Berücksichtigung der Integrität des Einzelnen im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung vorbringen könnte. aaa) Der erste hypothetische Einwand ist der folgende: Wenn man die Integrität des Einzelnen gegen dessen Entscheidungsfreiheit ins Feld führt, dann wendet man in unzulässiger Weise die objektive Seite des Persönlichkeitsrechts gegen die subjektive Freiheitsgewährleistung. Zur Erläuterung dieses Einwandes muss man differenzieren: Dass der Integritätseinwand keine Ausprägung der Theorie der objektiven Werte ist, wurde bereits dargelegt. Dies wurde damit begründet, dass die Integritätslösung nicht auf objektive, sondern auf die subjektiven Werte des Betroffenen abstellt. Wenn es dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht aber um den Schutz der Selbstverwirklichung des Einzelnen und damit um dessen Integrität oder subjektive Werte geht, dann kann man sagen, dass das, worum es dem Persönlichkeitsrecht objektiv geht, eben die subjektiven Werte des Rechtsinhabers sind. Wenn jetzt die grundrechtliche Entscheidungsfreiheit zum Schutz der Integrität eingeschränkt
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wird, dann wird die objektive Seite des Persönlichkeitsrechts gegen die subjektive Freiheitsgewährleistung gewendet. Die Frage ist, ob dies zulässig ist. Zweifel könnten sich daraus ergeben, dass dann im Ergebnis doch wieder – wie bei der objektiven Werttheorie200 – nicht beliebige Freiheit, sondern Freiheit zur „Verwirklichung der in den Grundrechten ausgedrückten Werte“ geschützt werden würde, auch wenn es sich bei den Werten um die eigenen des Grundrechtsinhabers handelt. Insoweit könnte man davon sprechen, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht in der hier vorgestellten Interpretation diejenige Freiheit schützt, die die eigene Integrität befördert, jedoch nicht solche, die dieser zuwiderläuft, und daraus eine unzulässige Beschränkung der grundrechtlichen Freiheit herleiten. Ein solcher Einwand wäre jedoch nicht überzeugend. Insbesondere erscheint die grundrechtsdogmatische Einordnung verfehlt. Es sollte nicht davon gesprochen werden, dass eine allgemein unzulässige Wendung der objektiven Grundrechtsdimension gegen die subjektive Freiheitsgewährleistung vorgenommen wird. Vielmehr handelt es sich lediglich um eine teleologische Auslegung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts und nicht eine Anwendung einer bestimmten allgemeinen Grundrechtstheorie. Es wurde dargelegt, dass sich die Frage, ob die Integrität des Einzelnen ein legitimer Eingriffsgrund ist, nach dem Sinn und Zweck des allgemeinen Persönlichkeitsrechts richtet. Da es diesem im Kern um den Schutz der Integrität des Einzelnen geht, wurde diese Frage bejaht. Eine solche teleologische Interpretation sollte im Prinzip für den Grundrechtsinterpreten nichts Neues sein. Wer insoweit Zweifel hat, der sei erinnert an die Herleitung der Legitimität paternalistischer Bevormundung Geisteskranker: Diese Einschränkung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts wurde so begründet, dass der Sinn und Zweck des allgemeinen Persönlichkeitsrechts in der Ermöglichung der Entfaltung oder Selbstverwirklichung des Einzelnen zu sehen ist, und dass dieser Zweck bei Geisteskranken durch eine Gewährleistung von Entscheidungsfreiheit nicht erreicht werden kann201. Sie kann nur auf die Weise begründet werden, dass man die Freiheitsgewährleistung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts unter teleologischen Gesichtspunkten beschränkt. Daran zeigt sich aber, dass es verfehlt wäre, jede Beschränkung der grundrechtlichen Freiheit aufgrund von solchen teleologischen Erwägungen als verfehlt zu brandmarken. Ganz im Gegenteil: Wenn feststeht, dass die Gewährleistung von Freiheit das mit dem Schutz der Freiheit angestrebte Ziel nicht zu fördern vermag, sondern sogar zu zerstören droht, dann ist eine teleologische Beschränkung geradezu geboten. Ebenso wie man die Persönlichkeitsentfaltung von Geisteskranken nicht dadurch fördert, dass man sie sich selbst überlässt, hilft man möglicherweise (das wird noch näher zu untersuchen sein) einem Menschen nicht da200 201
Vgl. Böckenförde, NJW 1974, 1529 (1533). Vgl. BVerfGE 58, 208 (224 ff.) und oben II. 1. b) aa).
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durch bei seiner Selbstverwirklichung, dass man ihm gestattet, ohne Gurt Auto zu fahren. Solche Widersprüche muss die Grundrechtsdogmatik auflösen und darf sich nicht hinter ein angebliches Verbot, dem Grundrechtsinhaber das Ziel seiner Freiheitsausübung vorzuschreiben, zurückziehen. Damit ergibt sich folgendes Bild: Wenn der Gesetzgeber die Integrität des Einzelnen bei der Beschränkung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts berücksichtigen darf, dann ist darin keine verbotene Beschränkung der grundrechtlichen Freiheit auf „erwünschte“ Betätigungen zu erblicken. Vielmehr folgt die hier vertretene Lösung aus der Notwendigkeit, andernfalls auftretende Wertungswidersprüche durch eine teleologische Interpretation des Persönlichkeitsrechts zu vermeiden. Dies ist nichts anderes als das, was bei der Beschränkung der Rechte Geisteskranker auch getan und dort unproblematisch akzeptiert wird. bbb) Es gibt einen zweiten denkbaren Einwand, der gegen die hier vertretene Konzeption vorgebracht werden könnte. Es wurde oben bei der Vorstellung der Gedanken Kleinigs darauf hingewiesen, dass sein Ansatz mit zwei Problemen behaftet ist: Zum einen musste die Frage geklärt werden, wie es sich auswirkt, dass in einer freien Entscheidung ein unabhängiger Wert zu sehen ist. Die Antwort des Grundgesetzes ist, dass der Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts bei der freien Entscheidung ansetzt und diesen Aspekt somit mitberücksichtigt. Zum anderen stellte sich das Problem, wie die Missbrauchsgefahr von Kleinigs Ansatz zu beurteilen ist. Kleinig selbst hatte diesen als moralisch riskant beschrieben. Es ist also zu untersuchen, ob das Grundgesetz nicht deshalb dem Integritätsansatz skeptisch gegenübersteht, weil die Missbrauchsgefahren zu groß sind. Auch dieser denkbare Einwand greift jedoch letztlich nicht durch. Denn das Grundgesetz hält eine Instanz bereit, die, abgehoben von den Tagesstimmungen im politischen Geschäft202, geradezu prädestiniert ist, die befürchteten Missbrauchsfälle aufzudecken und zu verhindern: Jeder, der sich durch ein paternalistisches Gesetz in seiner Freiheit verletzt fühlt, kann dagegen bis vor das Bundesverfassungsgericht ziehen. Es gibt keinen Grund, anzunehmen, dass das Bundesverfassungsgericht der zugegebenermaßen schwierigen Interpretationsleistung nicht gewachsen wäre, die zur Feststellung dessen erforderlich ist, was nach den hier vertretenen Grundsätzen an Paternalismus zulässig ist. 202 Damit soll nicht geleugnet werden, dass das Bundesverfassungsgericht in einem gewissen Sinn auch eine politische Rolle einnimmt, was teilweise zu Kritik aus der Literatur führt wie jüngst bei Rüthers, JZ 2002, 365, der der Auffassung ist, beide Senate fühlten sich offenbar als „,ständige Ausschüsse zur Fortschreibung der Verfassung‘“ (ebd., 368). Bei aller Kritik dürfte aber dennoch Einigkeit bestehen, dass die Richter einen weitaus gelasseneren Blick auf aktuelle Stimmungen werfen als beispielsweise Politiker, die um ihre Wiederwahl fürchten müssen; nur darum geht es an dieser Stelle.
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Kleinig hat einen philosophischen, und keinen juristischen Ansatz entwickelt. In seinem Modell unterliegt die Legislative nur moralischen, nicht aber verfassungsrechtlichen Bindungen. Daher ist die Missbrauchsgefahr dort viel größer, denn wenn sich der Gesetzgeber in Kleinigs System über die moralischen Grenzen hinwegsetzt, gibt es keine Kontrollinstanz, die eine solche Entscheidung wieder korrigieren könnte. Unter dem Grundgesetz ist also die „Absicherung“ dagegen, dass mit der prinzipiellen Zulässigkeit von Paternalismus Missbrauch getrieben wird, noch wesentlich umfangreicher. Auch der zweite Einwand gegen den hier vertretenen Ansatz greift daher nicht durch. Damit wurde die Grundposition, die das Grundgesetz zu Paternalismus einnimmt, erarbeitet. Im Folgenden muss es darum gehen, das allgemeine Prinzip, dass Paternalismus zum Schutz der Integrität des Einzelnen begrenzt zulässig ist, zu konkretisieren. Dafür sollen zunächst einige Leitlinien ausgearbeitet werden. 4. Einige Leitlinien zur Zulässigkeit von Paternalismus Wenn es darum geht, Leitlinien für die Zulässigkeit von Paternalismus unter dem Grundgesetz auszuarbeiten, so hat dies unter Zugrundelegung der erarbeiteten dogmatischen Strukturen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts zu geschehen. Es bietet sich an, die beiden Komponenten, die bei der Untersuchung in den Vordergrund getreten sind, zum Ausgangspunkt zu nehmen: die Entscheidungskomponente und die Integritätskomponente. Daher wird im Folgenden zunächst herausgearbeitet werden, unter welchen Umständen die Entscheidungskomponente des allgemeinen Persönlichkeitsrechts mehr Gewicht erhält; dies führt dann zu einer entsprechend erhöhten Rechtfertigungslast für den Paternalisten. Im Anschluss wird untersucht werden, nach welchen Maßstäben die Integritätskomponente zu bewerten ist; dies hat dann ebenfalls Einfluss auf die Abwägung. a) Die Gewichtung der Entscheidungsfreiheit Das Recht, sich frei von paternalistischer Bevormundung entscheiden zu können, ist vom allgemeinen Persönlichkeitsrecht geschützt und bildet den Ausgangspunkt jeder Beurteilung eines paternalistischen Eingriffs. Daher stellt sich die Frage, ob es hier einen für alle Verhaltensweisen gleich intensiven Schutz gibt oder ob sich dieser abstufen lässt. Es wurde herausgearbeitet, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht ethische Entscheidungen von höher Präferenz schützt; es geht also im Kern um die Selbstverwirklichung des Einzelnen203. Daraus folgt, dass auch der Schutz vor 203
s. oben 2. Kap. B. II. 2. a).
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Paternalismus an Intensität gewinnen muss, je größer die Persönlichkeitsrelevanz des unterbundenen Verhaltens in grundrechtlicher Sicht ist. Beispielsweise ist das Recht, sich in sexuellen Fragen autonom entscheiden zu können, unter diesem Gesichtspunkt bedeutender als das Recht, ohne Gurt Auto fahren zu dürfen; dies kommt auch darin zum Ausdruck, dass ersteres durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht, letzteres dagegen nur durch die allgemeine Handlungsfreiheit geschützt wird. Daher ist das Recht, sich in sexuellen Fragen ohne paternalistische Einmischung entscheiden zu können, auch höher zu bewerten als das Recht, sich beim Autofahren freiwillig selbst gefährden zu können. Das Recht auf Paternalismusfreiheit erhält also umso höheres Gewicht, je bedeutender das in Frage stehende Verhalten für die Selbstverwirklichung ist. b) Die Gewichtung des Integritätsaspekts Allgemein gilt hier, dass Paternalismus umso eher zulässig ist, je mehr sich der Betroffene durch seine Entscheidung in Widerspruch zu seiner eigenen Integrität setzt. Entscheidend kommt es letztlich auf die Relation zwischen verfolgtem Ziel und Schadensrisiko an. Als zusätzliches Indiz für eine integritätswidrige Entscheidung können Willensmängel fungieren. aa) Leitlinie: Das Verhältnis von angestrebtem Ziel und drohendem Schaden Es wurde dargelegt, dass die Bedeutung des Integritätsaspektes in der Vermeidung von Situationen liegt, in denen der Einzelne seine Lebenspläne aufgrund von Unbedachtheiten torpediert. Es geht also in erster Linie um den unerwünschten Schaden, den der Einzelne sich zuzufügen droht. Daher kann vermutet werden, dass der Staat umso eher eingreifen darf, je größer der drohende Schaden ist. In Bezug auf die Größe des drohenden Schadens kann noch einmal differenziert werden zwischen der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts und der Größe des Schadens im Fall des Schadenseintritts. Es ist jedoch zu beachten, dass das Schadensrisiko nur ein Indiz darstellt: Für sich genommen, besagt die Tatsache, dass sich der Grundrechtsträger einer Gefahr aussetzt, noch nicht viel. Es kann durchaus integritätskonform sein, mit einem hohen Ziel vor Augen auch viel aufs Spiel zu setzen. Es ist also stets auch zu untersuchen, welche Absichten der Betroffene mit seiner Entscheidung verfolgt; je nach Relevanz der Ziele seines Verhaltens für ihn selbst ist dann eine Aussage über die Integritätskomponente möglich. Die Leitlinie lautet also: Je gravierender das Missverhältnis zwischen dem Wert des angestrebten Ziels, gemessen an den Maßstäben des Grundrechtsträgers, und Größe und Wahrscheinlichkeit des drohenden Schadens, desto eher ist Paternalismus zulässig.
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Bei der Bestimmung dessen, was als Schaden zu zählen hat, ist auf die Wertvorstellungen des Betroffenen abzustellen; dies folgt daraus, dass sich das Eingreifen des Staates aus der Sorge um die Integrität des Betroffenen rechtfertigt. In der Regel liegt hier kein Problem: Gesundheitsbeeinträchtigungen werden auch von den Betroffenen als Nachteil oder Belastung erlebt. Ein überzeugter Raucher mag zwar die Risiken seines Handelns in Kauf nehmen; die Krankheiten, die er sich durch das Rauchen zuzieht, wünscht aber auch er zu vermeiden. Nur zwei Fälle können hier zweifelhaft sein: Zum einen muss die Frage, ob der selbst gewollte Tod einen Schaden darstellt, untersucht werden. Des Weiteren wird zu untersuchen sein, ob man von einem Schaden sprechen kann, wenn sich jemand in Widerspruch zu seinen eigenen Moralvorstellungen verhält. Diese beiden Aspekte werden weiter unten behandelt werden. bb) Der Einfluss von Willensmängeln Es ist zweifelhaft, ob jemals ein Mensch eine Entscheidung getroffen hat, die im Feinbergschen Sinn fully voluntary war. Es kann also sicherlich nicht verlangt werden, dass die Entscheidung des Einzelnen unter keinem Willensmangel irgendeiner Art leidet. Aber dennoch gilt, dass die Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Einzelne sich integritätswidrig verhält, mit der Größe des Willensmangels steigt. Wer ausgeschlafen, entspannt und nach reiflicher Überlegung eine Entscheidung trifft, ist weniger gefährdet als derjenige, der sich im Zustand großer Übermüdung und unter Zeitdruck entscheiden muss. Aber hier liegt nur ein Indiz vor: Viele Entscheidungen, die Menschen unter schlechten Bedingungen treffen müssen, sind ohne Fehl und Tadel. Der Umgang mit Stresssituationen gehört zu den Herausforderungen des Lebens, die jeder irgendwann einmal meistern muss; schon von daher wäre ein Ansatz verfehlt, der in solchen Momenten automatisch dem Staat die Verantwortung überträgt. Aber unbestreitbar steigt unter den beschriebenen Umständen das Risiko einer den eigenen Interessen zuwiderlaufenden Fehlentscheidung, und aus der daraus folgenden Gefahr für die Integrität des Einzelnen rechtfertigt sich die Möglichkeit eines paternalistischen Eingriffs. Entscheidend ist letztlich also, wie sich die Entscheidung des Betroffenen zu seiner Integrität verhält. Die Frage nach den Willensmängeln kann aber einen Hinweis für die Beurteilung dieser Frage geben. Vielleicht liegt ihr Wert eher in dem Ausschluss von Paternalismus bei bestimmten Konstellationen: Wenn sich jemand eine Entscheidung lange und gründlich überlegt hat, müssen die Rechtfertigungslasten für den Staat steigen, wenn er dennoch paternalistisch eingreifen will, denn es besteht dann eine Vermutung, dass der Betroffene sich nicht integritätswidrig verhält.
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c) Erste Schlussfolgerung: Kein moralischer Paternalismus Bei der Beurteilung von moralischem Paternalismus ist an dieser Stelle eine Unterscheidung vorzunehmen. Man kann unter moralischem Paternalismus einerseits einen staatlichen Eingriff verstehen, der im Interesse des Betroffenen diesem moralische Verhaltensweisen aufzwingt, die dieser aufgrund seiner anderen Moralvorstellungen ablehnt. Ein solcher Fall läge vor, wenn der Staat einem überzeugten Homosexuellen sexuelle Aktivitäten mit Menschen des gleichen Geschlechts aus moralischen Gründen untersagen würde. Dass diese Form von moralischem Paternalismus unzulässig ist, wurde bereits dargelegt204. Andererseits kann man sich vorstellen, dass der Staat unter Berufung auf das Integritätsargument den Einzelnen daran hindern möchte, sich in Widerspruch zu seinen eigenen Moralvorstellungen zu setzen. Unter dem Integritätsansatz ist jedoch auch diese Form von moralischem Paternalismus abzulehnen. Das folgt zum einen daraus, dass der Einzelne ein hohes Interesse daran hat, sich in moralischen Fragen autonom entscheiden zu können. Die Entscheidungskomponente des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ist daher vergleichsweise hoch zu bewerten205. Zum anderen steht in diesen Situationen auf der Seite der Integrität nur ein geringer oder gar kein Schaden. Es fällt ohnehin sehr schwer, sich ein halbwegs lebensnahes Beispiel für diese Form von Paternalismus vorzustellen. Man kann sich ausmalen, dass der Staat den papsttreuen Katholiken davor bewahren will, seinen homosexuellen Phantasien nachzugeben – eine Konstellation, die niemals praktisch relevant werden wird, jedoch geeignet ist, zu zeigen, warum der Staat dieses Recht nicht hat: Gerade in Moralfragen muss es letztlich dem Einzelnen überlassen bleiben, sich autonom entscheiden zu können. Die Gefahr, die in einem Verstoß gegen selbstgesetzte Moralvorschriften liegt, ist allenfalls eine seelische Belastung, und der Staat sollte sich nicht einbilden, dass es erstrebenswert sei, die Bürger vor Situationen zu schützen, in denen ihre Moralvorstellungen mit der Realität konfrontiert werden206. Ganz im Gegenteil: Auch die eige204
s. oben A. V. Es wurde dargelegt, dass die Entscheidungskomponente umso mehr Bedeutung erlangt, je wichtiger das in Frage stehende Verhalten für die Selbstverwirklichung ist. Man könnte einwenden, dass die Entscheidung über einen moralischen Standpunkt nun gerade nicht als ethische und damit zur Selbstverwirklichung zählende Frage zu rechnen ist, sondern zur Gewissensfreiheit gehört. Das würde jedoch den Punkt verfehlen, um den es hier geht: Die Abgrenzung von moralischen und ethischen Handlungsorientierungen hat den Sinn, eine angemessene Zuordnung zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht bzw. der Gewissensfreiheit zu ermöglichen. Auch aus persönlichkeitsrechtlicher Sicht hat aber der Einzelne ein hohes Interesse daran, sich entsprechend seinen eigenen Moralvorstellungen verhalten zu können (vgl. dazu auch oben 2. Kap. B. II. 1. c) bb) am Ende). 206 Interessante Gedanken zu der Tendenz, dem Staat die Verpflichtung zur Vermeidung von Schmerz und Anstrengung aufzubürden, finden sich bei Raz, Ethics in the 205
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nen Moralvorstellungen werden stets aufs Neue überdacht; dabei müssen schwierige Abwägungen vorgenommen und widerstreitende Prinzipien in Ausgleich gebracht werden207. Diese geistige Leistung kann einem der Staat nicht abnehmen. 5. Das Problem der Erforderlichkeit: Aufklärung und Information als milderes Mittel? Der Eingriff in das Recht auf Paternalismusfreiheit kann nur dann gerechtfertigt werden, wenn er zum Schutz der Integrität des Betroffenen auch erforderlich ist. Ein naheliegender Einwand lautet nun: Warum sollte der Staat das Recht haben, jemanden mit der Begründung, er handele seinen eigenen Prioritäten zuwider, von seinem selbstgefährdenden Tun abzubringen, wenn er ihn stattdessen einfach über den selbstgefährdenden Charakter seines Verhaltens informieren könnte? Grundsätzlich sind natürlich Information und Aufklärung vorzugswürdig gegenüber staatlichem Zwang. So ist es angebracht, in dem bereits angesprochenen Brückenfall denjenigen, der die gefährliche Brücke überqueren möchte, zunächst auf die Gefahr aufmerksam zu machen, anstatt ihn mit roher Gewalt an seinem Vorhaben zu hindern. Ebenso sollte derjenige, der eine giftige Flüssigkeit in dem Glauben, es handele sich um ein harmloses Getränk, zu sich nimmt, zunächst gewarnt werden. Jedoch zeigen diese beiden Beispielsfälle schon ein Problem, das insbesondere staatlichen Paternalismus betrifft: Dem Staat ist es nicht möglich, überall Polizisten aufzustellen, die Autofahrer über die Risiken des Autofahrens ohne Gurt oder Raucher über die Risiken des Tabakkonsums aufklären. In einigen Fällen kann dieses Problem ansatzweise Public Domain, 19: „[S]ome contemporary cultures dedicate much effort to the elimination or minimization of pain and suffering. This has a devastatingly flattening effect on human life, not only eliminating much which is of value in our culture, but also making the generation of deeply rewarding forms of life, relationships, and activities impossible. It is to be hoped that this trend will be reversed.“ Der Punkt, um den es Raz geht, ist, dass die Vermeidung von Schmerz zwar etwas ist, das alle anstreben, dass aber Schmerz als „konstruktives Element einer wertvollen Aktivität“ wertvoll ist. Dazu kann man auch das Ringen mit dem eigenen Über-Ich zählen. 207 Vgl. Feinberg, Harm to Self, 37: „Consider the great diversity of moral controversies that require us to take moral stands, however tentatively. What is our judgment about abortion?, mercy killing?, preferential treatment for the unjustly disadvantaged?, sexual equality?, contraception?, „free love?“, public school prayer sessions?, capital punishment for murderers?, redistribution of wealth through steeply graduated income taxes?, painful experimentation on animals? Even the most thoroughly autonomous person will be constantly balancing and juggling his judgments on these questions, attempting to make them fit with his governing principles and cohere with one another, with no awkward tensions or disharmonies among them. [. . .] In any event, the morally authentic person doesn’t simply lay down his law; rather he reflects, and balances, and compromises.“
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behoben werden. Dafür bieten sich zwei Wege an: Zum einen kann die Erlaubnis, sich in einer bestimmten, selbstgefährdenden Weise verhalten zu dürfen, an die ausreichende Kenntnis der Gefahren oder die Teilnahme an einer Aufklärungsveranstaltung geknüpft werden. Anstatt eine Sitzgurt- oder Helmpflicht vorzuschreiben, könnte im Rahmen der Ausbildung eine entsprechende Belehrung vorgeschrieben werden, möglicherweise auch unter Einsatz von Videomaterialien, die die drohenden Verletzungen bei Verzicht auf Helm oder Gurt zeigen, um einen ausreichenden Eindruck zu erzielen. Zum anderen können staatlicherseits Warnhinweise vorgeschrieben werden, wie dies etwa bei den Warnhinweisen auf Zigarettenpackungen der Fall ist. In manchen Fällen sind diese Methoden jedoch zwecklos. Im Fall des Selbstmordes beispielsweise ist es dem Staat kaum möglich, den Suizidenten in der kritischen Phase noch zu erreichen. Dann bleibt als einziges Mittel die Rettung des Betroffenen, wenn rechtzeitig Hilfe herbeigeholt wird. Aber auch an der Effizienz der vorgestellten Aufklärungsmethoden sind Zweifel angebracht. Aufklärung beseitigt regelmäßig Unfreiwilligkeit: Wer darüber aufgeklärt ist, dass Sitzgurte Verletzungen vermeiden helfen, und seinen Gurt trotzdem nicht benutzt, der handelt im Feinberg’schen Sinn freiwillig bei seiner Selbstgefährdung. Deshalb wäre für Feinberg eine paternalistisch begründete Sitzgurtpflicht ausgeschlossen208. Hier geht es jedoch nicht primär um Freiwilligkeit, sondern um Integrität. Während Gründe wie Nachlässigkeit, Müdigkeit oder sozialer Druck zwar nicht die Freiwilligkeit einer Entscheidung beseitigen, können sie doch dazu beitragen, dass die Entscheidung der eigenen Integrität zuwiderläuft. Wer also seinen Sitzgurt aus Nachlässigkeit nicht benutzt, kann damit trotz seiner Kenntnis der Gefahren die eigenen Lebenspläne torpedieren. Es ist ja gerade der entscheidende Punkt des Integritätsansatzes, dass er nicht primär auf die Freiwilligkeit einer Entscheidung abstellt. Damit soll die wichtige Rolle, die Aufklärung bei der Vermeidung von Selbstschädigungen spielt, nicht klein geredet werden. Es ist jedoch dem Ansatz entgegenzutreten, der meint, Aufklärung sei ein Wundermittel gegen jede Notwendigkeit von Paternalismus. Dies ist nicht der Fall. Aufklärung ist wünschenswert, um dem Einzelnen eine freie Entscheidung über die Risiken, denen er sich aussetzen möchte, zu ermöglichen. Es ist auch vorstellbar, dass es Fälle gibt, in denen Paternalismus gerade deshalb nicht zulässig ist, weil Aufklärung dieselbe Aufgabe, nämlich den Schutz der Integrität des Betroffenen, in ausreichendem Maße erfüllt. Alles, was hier gezeigt werden soll, ist, dass Aufklärung nicht jeden Paternalismus illegitim macht, denn auch der Aufgeklärte kann sich durch Unbedachtheiten in Widerspruch zu seiner eigenen Integrität setzen. Es kann daher keine allgemeine Regel zu der Frage, ob Aufklärung Paternalismus 208 Feinberg äußert sich allerdings nur zur Parallelproblematik der Schutzhelme: Harm to Self, 134 ff.
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überflüssig macht, aufgestellt werden; vielmehr muss diese Frage für jeden Einzelfall getrennt untersucht werden. 6. Typisierung? Die meisten Philosophen untersuchen das Paternalismusproblem stets nur auf den Einzelfall bezogen: Gefragt wird, welche Voraussetzungen bei dem Einzelnen vorliegen müssen, damit eine staatliche Intervention gerechtfertigt ist. Der Staat ist in einer weniger komfortablen Position, denn er muss allgemein gültige Gesetze produzieren. Was soll beispielsweise im Fall der Gurtpflicht gelten, wenn festgestellt werden würde, dass diese zwar für die meisten paternalistisch gerechtfertigt werden könnte, es jedoch einige gäbe, die im Folgenden „Abenteurer“ genannt werden sollen, für die das Fahren ohne Gurt eine Form der Selbstverwirklichung wäre? Wäre die ganze Gurtpflicht dann verfassungswidrig, wenn sie nicht durch andere Aspekte wie etwa Allgemeinwohlaspekte gerechtfertigt werden könnte, oder müssen sich die wenigen Abenteurer dem Schutzbedürfnis der Mehrheit fügen? An dieser Stelle wird der strategische Vorteil deutlich, den derjenige besitzt, der sich nicht auf unterschiedliche, „subjektive“ Wertvorstellungen einlässt, sondern auf der Basis „objektiver“ Werte argumentiert: Wenn ein Wert objektiv gilt, dann ist eben auch der Abenteurer erfasst und muss sich dem Wert fügen, auch wenn er ihn für sich ablehnt. Der Anhänger eines objektiven Wertes Leben oder Gesundheit könnte daher eine Gurtpflicht ganz unproblematisch rechtfertigen, da er sich mit den individuellen Lebensplänen der Einzelnen nicht beschäftigen muss. Die Berufung auf die Integrität macht dagegen an dieser Stelle alles etwas komplizierter. Andererseits ist dies keine Situation, die dem Verfassungsrechtler gänzlich neu sein dürfte: Auch im Fall von Minderjährigen wurde dargelegt, dass diese sich mit zunehmender Reife in höherem Maße auf ihr allgemeines Persönlichkeitsrecht berufen dürfen; ähnliches gilt für Geisteskranke je nach ihrem geistigen Zustand. Auch hier muss der Verfassungsrechtler überlegen, wie er das Problem löst, dass mancher 17-Jährige vielleicht schon reifer ist als ein anderer mit 21. Man könnte auf die Idee kommen, zur Lösung des Problems auf die Befugnis des Gesetzgebers zur Typisierung zurückzugreifen, wie sie vom Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung anerkannt wird. Eine Typisierung soll im Prinzip zulässig sein, wenn sie sich am idealtypischen Fall orientiert209. Härtefälle im atypischen Bereich sind dem Bundesverfassungsgericht zufolge irrelevant, wenn die entstehenden Ungerechtigkeiten nur eine verhältnismäßig kleine Zahl von Personen betreffen und der Verstoß gegen den Gleichheitssatz nicht 209
BVerfGE 27, 142 (150).
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sehr intensiv ist210. Dabei darf die Fehlerquote wohl nicht über 10% liegen211. Unter Zugrundelegung dieser Grundsätze könnte man dann zu dem Ergebnis kommen, dass der Gesetzgeber sich auch bei der Beurteilung der Zulässigkeit einer paternalistischen Maßnahme von dem idealtypischen Fall leiten lassen muss. In Bezug auf die Zulässigkeit einer Gurtpflicht müsste demgemäß untersucht werden, ob der idealtypische Bürger seine Lebenspläne, Werte und Prioritäten so ausgerichtet hat, dass eine Nichtbenutzung des Sitzgurtes integritätswidrig wäre. Zumindest im Rahmen der Paternalismusbeurteilung ist ein Rückgriff auf den Gedanken der Typisierung jedoch nicht angebracht, da die Problematik über die klassischen dogmatischen Instrumente besser und präziser erfasst werden kann. Ausgangspunkt der Lösung müssen wiederum die Grundrechte der betroffenen Abenteurer sein. Wenn sich paternalistische Maßnahmen für diese nach den dargelegten Grundsätzen nicht rechtfertigen lassen, dann sollte dieser Befund nicht durch die angebliche Notwendigkeit der Typisierung überspielt werden. Vielmehr ist als Zwischenergebnis festzuhalten, dass das entsprechende Gesetz dann für diese Betroffenen paternalistisch nicht zu rechtfertigen ist. Es kommt dann aber noch die Rechtfertigung über die Interessen Dritter bzw. der Allgemeinheit in Betracht. Der Grund, der eine Rechtfertigung des paternalistischen Eingriffs für die Mehrheit erlaubt, ist die Sorge des Staates um deren Integrität. Dann kann man aber auf dem Wege eines Erst-Recht-Schlusses Folgendes ableiten: Wenn die Integrität des Einzelnen es sogar erlaubt, dessen eigene (Entscheidungs-) Freiheit einzuschränken, dann muss sie es erst recht ermöglichen, die Freiheit Dritter zu beschränken. Dieser Gedanke soll an dem Beispiel des Sitzgurtes verdeutlicht werden: Wenn der Staat legitimerweise der Mehrheit die Benutzung eines Sitzgurtes paternalistisch vorschreiben darf, dann liegt in dem Schutz der Integrität der Betroffenen ein Rechtsgut, mit dem der Staat den Eingriff in das im allgemeinen Persönlichkeitsrecht enthaltene Recht auf Paternalismusfreiheit rechtfertigen kann. Für die Abenteurer dagegen lässt sich Paternalismus nicht rechtfertigen; in Betracht kommt aber die Integrität der Mehrheit als Anknüpfungspunkt. Das Grundrecht, das im Fall der Abenteurer betroffen ist, ist also nicht das allgemeine Persönlichkeitsrecht, sondern nur das allgemeine Freiheitsrecht: Für sie liegt gar kein Fall von Paternalismus vor, sondern es wird nur ihr Recht aus Art. 2 I GG auf Autofahren ohne Gurt eingeschränkt. Der legitime Zweck, der für diese Freiheitsbeschränkung in Betracht kommt, ist der Schutz der Integrität der anderen. Kein Abenteurer kann sich daher beschweren, dass er paternalistisch bevormundet wird: Seine Freiheitseinschränkung wird ausschließlich über die Interessen der Mehrheit gerechtfertigt212. 210 211
BVerfGE 63, 119 (128); 87, 234 (255); 100, 59 (90). BVerwGE 68, 36 (41); BVerwG, NVwZ 1987, 231 (232).
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3. Kap.: Die Rechtfertigung von Paternalismus
Wenn hier von der „Mehrheit“ die Rede ist, so soll damit keine Mindestquote angedeutet werden. Welcher Prozentsatz der Bevölkerung erforderlich ist, lässt sich nicht abstrakt festlegen. Ausgangspunkt zur Beurteilung dieser Frage müssen die auf dem Spiel stehenden Interessen sein: Im Fall des Sitzgurtes beispielsweise steht auf der einen Seite eine Gefahr für Leib und Leben derjenigen, deren Integrität einen paternalistischen Eingriff rechtfertigen würde. Auf der anderen Seite steht das Interesse der Abenteurer am Fahren ohne Gurt. Da dieses Interesse relativ gering zu beurteilen ist und auch nur durch das allgemeine Freiheitsrecht geschützt wird, erscheint es plausibel, dass die Rechtfertigung der Gurtpflicht sogar dann gelingen würde, wenn die Abenteurer in der Mehrheit wären: Ihr Interesse am Fahren ohne Gurt wiegt viel geringer als das Interesse an körperlicher Integrität der anderen. Für den Schutz von hohen Rechtsgütern wie Leben oder Gesundheit bei einigen muss es möglich sein, vielen anderen eine als gering zu bewertende Freiheitsbeeinträchtigung zuzumuten. In dieser Flexibilität, die den Wert der betroffenen Rechtsgüter in den Blick nimmt, liegt ein weiterer Vorteil gegenüber dem recht starren Typisierungsdenken. Es ist daher nicht erforderlich, dass ein paternalistisch motiviertes Gesetz in Bezug auf jeden Einzelnen paternalistisch rechtfertigbar ist. Vielmehr genügt es, wenn dies in Bezug auf einen Teil der Betroffenen der Fall ist, sofern die so geschützte Integrität die Freiheitsbeschränkungen der anderen rechtfertigt.
IV. Anwendungen Praktikable und vernünftige Ergebnisse sind nicht der schlechteste Hinweis auf die Qualität einer theoretischen Konzeption. Insbesondere wenn ein Ansatz mit einer bisher noch weitgehend unbezweifelten Grundthese des Liberalismus wie auch der Grundgesetzinterpretation bricht, nämlich, dass Respekt vor einer Person gleichbedeutend mit Respekt vor den Entscheidungen dieser Person ist, mag schon diese Tatsache Widerspruch provozieren. Deshalb ist es unerlässlich, neben der theoretischen Fundierung die Praktikabilität der hier vertretenen Lösung zu untersuchen. Die Beispiele, die hier gewählt werden, sind zum einen die „klassischen“ Fälle, anhand derer man paternalistische Eingriffsbefugnisse des Staates diskutieren kann und die im Rahmen dieser Arbeit bereits mehrfach angesprochen wurden; zum anderen sind sie auch besonders gut geeignet, Umfang und Grenzen der Legitimität von staatlichem Paternalismus zu verdeutlichen. Zunächst werden die einfachsten Fälle, nämlich die Gurt- und die Schutzhelmpflicht, behandelt werden. Im Anschluss geht es um das Problem des Selbstmordes, das besondere Beachtung verdient, da die Grundrechtsdogmatik an einer theoretisch fundierten und widerspruchsfreien Lösung dieser Frage bis212
Vgl. oben 1. Kap. A. I.
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her gescheitert war. Sodann wird kurz auf die Fälle der Peepshow und „Big Brother“ eingegangen. Abschließend werden die Fälle des Rauchens und Alkoholkonsums behandelt werden, an denen die Grenzen der Zulässigkeit von Paternalismus besonders sorgfältig ausgelotet werden müssen, und die aus diesem Grund auch zur Verdeutlichung besonders geeignet sind. 1. Sitzgurt Es gehört heute zum Allgemeinwissen, dass das Tragen eines Sitzgurtes hilft, Quantität und Qualität von Verletzungen bei Unfällen zu vermindern213. Nach der Einführung der Gurtpflicht im Jahre 1976 ging die Zahl der Verletzten und Verkehrstoten in erheblichem Maße zurück214. Heute ist die Benutzung des Sitzgurtes so selbstverständlich, dass es schwer fällt, sich die Aufregung zu erklären, die mit der Einführung der Gurtpflicht verbunden war und die auch ihren Niederschlag im rechtswissenschaftlichen Schrifttum fand. So wurde beispielsweise ganz ohne Ironie behauptet, die Entscheidung, ob man einen Sitzgurt benutzen wolle, gehöre in den „letzten Bereich menschlicher Freiheit“, sie sei eine „höchstpersönliche Entscheidung, die wohl zu den Letzten Dingen im Sinne der Theologie“ zu rechnen sei215. Die Meinungen in der Literatur zur materiellen Verfassungsmäßigkeit der Gurtpflicht waren geteilt: Die Verteidiger der Gurtpflicht argumentierten, der Staat sei aus Art. 2 II GG berechtigt und verpflichtet, Leben zu schützen216. Vorschriften, die den Einzelnen vor sich selbst schützten, seien seit langem zu einem so festen und nützlichen Bestandteil unseres Arbeits- und Wirtschaftslebens geworden, dass die Auslegung des Grundgesetzes an diesem Zustand nicht mehr vorübergehen könne, zumal er offensichtlich der gemeinsamen Rechtsauffassung aller Beteiligten entspreche217. Andere Autoren betonten dagegen, der Schutz des Menschen vor sich selbst sei in einem freiheitlichen System nicht zu rechtfertigen; eine Gurtpflicht könne daher nur durch die Interessen Dritter bzw. der Allgemeinheit gerechtfertigt werden218; es sei vor der Gefahr einer Bevormundung des Bürgers durch die „Hypertrophien des Ordnungswidrigkeitenrechts“ zu warnen219. Teilweise wurde gegen eine Gurtpflicht auch ins Feld geführt, dass die Sitzgurtbenutzung in einigen Fällen die Verletzungen verschlimmern könne und dass der Staat dem Bürger aus diesem Grund eine Sitzgurtpflicht nicht aufbürden dürfe220. 213
Vgl. nur Köhnke, Windschutzscheibenverletzungen – Rückgang nach Gurtpflicht? Dehner/Jahn, JuS 1988, 30 (33). Vgl. zu den statistischen Daten ferner die Nachweise bei Knippel, NJW 1977, 939 (939). 215 Streicher, NJW 1977, 282 (283). 216 Dehner/Jahn, JuS 1988, 30 (34). 217 v. Brunn, DAR 1974, 141 (143). 218 Lisken, NJW 1985, 3053 (3054 f.). 219 Seebode, JR 1986, 265 (269). 214
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Das Bundesverfassungsgericht verschwendete nicht viele Gedanken auf die Gurtpflicht221. In einem Nichtannahmebeschluss verwies es zur Beantwortung der Frage, ob das allgemeine Freiheitsrecht verletzt sei, kurzerhand auf die Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit der Schutzhelmpflicht. Dort hatte es argumentiert, dass eine Helmpflicht erstens die Kraftradfahrer schütze, ohne sie nennenswert zu belasten. Zweitens seien die Interessen Dritter berührt, weil auf der Hand liege, dass in vielen Fällen weiterer Schaden abgewendet werden könne, wenn ein Unfallbeteiligter bei Bewusstsein bleibe. Drittens hätten Unfälle weitreichende Folgen für die Allgemeinheit, beispielsweise durch den Einsatz der Rettungsdienste, ärztliche Versorgung, Rehabilitationsmaßnahmen und Versorgung von Invaliden222. In dieser Arbeit geht es nur um den Aspekt des aufgedrängten Schutzes. Zu der Frage, ob ein solcher im Fall des Sitzgurtes gerechtfertigt ist, findet man jedoch weder in der Rechtsprechung noch der Wissenschaft Tiefgehendes. Wenn das Bundesverfassungsgericht in der Schutzhelmentscheidung argumentiert, das Gesetz sei unter anderem deshalb gerechtfertigt, weil es die Kraftfahrer schütze, ohne sie nennenswert zu belasten, so hilft das nicht weiter: Eine solche Aussage könnte allenfalls dann zutreffen, wenn man einer Variante der Theorie von den objektiven Werten folgt – dann kann die Autonomie des Einzelnen aufgrund des Wertes Leben überspielt werden. Dieser Weg wurde jedoch hier schon verworfen223. Der Verweis v. Brunns auf die schon lange bestehende Praxis, der zufolge ein aufgedrängter Schutz schon immer als legitim angesehen wurde, mag eine gewisse Indizwirkung dafür entfalten, dass es sich die Gegner der Gurtpflicht etwas zu einfach machen; eine inhaltliche Rechtfertigung kann aber der Verweis auf eine Praxis oder einen angeblich bestehenden Konsens auch nicht liefern. Andererseits bleibt aber auch die Argumentation der Gegner der Gurtpflicht an der Oberfläche. Sie werden zwar nicht müde zu betonen, dass sich der Staat aus diesen „letzten Dingen“ herauszuhalten habe; zu der sich aber doch aufdrängenden Frage, wie sich denn die alltägliche Praxis der Nachlässig- und Vergesslichkeit zu dem Ideal des selbstbestimmten Lebens verhält, dringt hier keiner durch. Einzig Knippel sieht ansatzweise die Problematik, wenn er schreibt, dass die Entscheidung über die Gurtbenutzung erfahrungsgemäß durch die Überlegung „Mich wird es schon nicht treffen“ bestimmt wird224. 220 Jagusch, NJW 1977, 940 (940); Streicher, NJW 1977, 282 (283 f.). Dagegen Knippel, NJW 1977, 939 (939 f.). 221 BVerfG, NJW 1987, 180. 222 BVerfGE 59, 275 (278 f.). 223 s. oben A. I. 224 Knippel, NJW 1977, 939 (940). Inzwischen hat auch Singer, JZ 1995, 1133 (1140), in Bezug auf das Fahren ohne Gurt Zweifel angemeldet: Es sei die „psychologisch bedingte Unfähigkeit vieler Verkehrsteilnehmer, abstrakte, in einer gewissen
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Wer der Ansicht ist, dass unter dem Grundgesetz Paternalismus nur dann zulässig ist, wenn die Entscheidung zur Selbstgefährdung unfreiwillig erfolgt, der kann eine Gurtpflicht paternalistisch nicht begründen. Wenn jemand über die Gefahren des Fahrens ohne Gurt aufgeklärt wurde und er den Gurt trotzdem nicht benutzt, dann handelt er freiwillig und ist für sein Tun verantwortlich. Das gilt ebenso in dem Fall, dass er als „romantischer Abenteurer“ die Gefahr sucht, wie auch dann, wenn er aus Sorglosigkeit oder Initiativlosigkeit auf das Anschnallen verzichtet225. Wer Paternalismus nur im Fall von unfreiwilligen Entscheidungen befürwortet, für den ist die Gurtpflicht nur in nichtpaternalistischer Weise, also beispielsweise über die Interessen anderer möglicher Unfallteilnehmer oder der Allgemeinheit rechtfertigbar. Das mag ein gangbarer Weg sein; man muss sich aber die Künstlichkeit dieses Vorgehens vor Augen führen. Es spricht einiges dafür, dass der Gesetzgeber in erster Linie – wenn auch möglicherweise nicht ausschließlich – die Gesundheit der Autofahrer schützen will. Das ist dann ein unzulässiges Motiv, wenn es beispielsweise der religiösen Überzeugung entspringt, das Leben sei heilig und müsse auch gegen den Willen und die Überzeugung der Betroffenen in jedem Fall geschützt werden. Es ist aber auch denkbar und gerade im Fall der Gurtpflicht plausibel, dass sich der Gesetzgeber um die Integrität der Betroffenen sorgt. Das Recht auf Paternalismusfreiheit geht jedoch zunächst von dem Recht aus, Entscheidungen auch zur Selbstgefährdung und -schädigung frei treffen zu können. Daher ist auch das Recht, unangeschnallt Auto zu fahren, geschützt. Es wurde dargelegt, dass dieser Schutz umso intensiver ist, je wichtiger das in Frage stehende Verhalten für den Einzelnen ist. Ob man Auto mit oder ohne Gurt fährt, ist eine Frage, der man gerade noch eine gewisse Relevanz für den Einzelnen zubilligen kann; eine echte Einschränkung auf dem Weg zum gelungenen Leben kann man hierin aber wohl kaum sehen. Daher ist die Bedeutung der Entscheidungskomponente als vergleichsweise gering zu bewerten. Wie verhält es sich mit der Integritätskomponente? Es ist hilfreich, den Blick einmal vorläufig abzuwenden von den wenigen, für die die Gurtbenutzung tatsächlich eine Belästigung darstellt, die den so erlangten Schutz überwiegt. Dies ist nicht der Normalfall: Die meisten Menschen dürften weder bewusste oder unbewusste Selbsttötungs- oder -verletzungsgedanken beim Autofahren haben, noch durch das Fahren ohne Gurt ihre romantische Ader ausleben bzw. einen besonderen „Kick“ erlangen wollen. Knippel schreibt, dass bereits 1974 bei einer Umfrage 90% der Befragten Gurte für ein sinnvolles Rückhaltesystem hielten226. Wenn diese Menschen ihren Sitzgurt nicht benutzen, so hat das einfach Selbstüberschätzung für steuerbar gehaltene Gefahren richtig einschätzen zu können“, die ein Eingreifen legitimiere. 225 Vgl. dazu oben II. 2. b) bb) die Darlegung der Ansicht Feinbergs zur Helmpflicht, die auch auf den Fall der Gurtpflicht angewendet werden kann.
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den Grund, dass sie es vergessen, dass sie die Gefahren im entscheidenden Zeitpunkt bagatellisieren oder dass sie sich eine andere Ausrede zurechtlegen, warum es gerade nicht nötig ist, sich anzuschnallen. Sie setzen sich also aus Nachlässigkeit in Widerspruch zu dem, was sie selbst in einer ruhigen Stunde als angemessen für sich erachten würden. In dieser Nachlässigkeit, nicht in anderen Motiven, liegt der Grund für ihre Selbstgefährdung. Daher spricht die Integritätskomponente für die Zulässigkeit einer staatlichen Gurtpflicht. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung ist also die Integrität derjenigen Betroffenen, die keine romantischen Abenteurer und dergleichen sind, ein legitimer Zweck zur Beschränkung des Rechts gegen Paternalismus. Es ist auch geeignet, diesen Zweck zu erfüllen. Es stellt sich die Frage, ob es auch erforderlich ist. Denkbar wäre, dass weniger einschneidende Mittel genügen, insbesondere eine Aufklärung der Autofahrer über die Gefahren des Fahrens ohne Gurt. Die Gurtpflicht wurde jedoch gerade deshalb eingeführt, weil sich erwiesen hatte, dass Aufklärung nicht ausgereicht hatte, um zufriedenstellende Verhaltensänderungen herbeizuführen. Daher ist eine Gurtpflicht auch erforderlich. Bei der Prüfung der Angemessenheit ist zu untersuchen, ob der Schutz der Integrität der Betroffenen außer Verhältnis zu ihrem Recht auf Entscheidungsfreiheit steht. Es wurde dargelegt, dass das Interesse des Einzelnen, ohne Gurt fahren zu dürfen, nur vergleichsweise geringe Bedeutung hat. Dagegen stehen auf der anderen Seite Gefahren für seine Integrität, die gravierend sind. Aus der geringen Persönlichkeitsrelevanz des Gurtanlegens und der hohen Gefahr eines integritätswidrigen Schadens folgt, dass keine Unangemessenheit vorliegt. Ein Indiz dafür, dass diese Abwägung zutreffend ist, kann auch darin gesehen werden, dass die Diskussion über Sitzgurte heute weitgehend verstummt ist. Das legt den Schluss nahe, dass die meisten Menschen in einer ruhigen Stunde nicht nur die Notwendigkeit von Sitzgurten bejahen, sondern auch die Sitzgurtpflicht gutheißen und als ein Mittel begrüßen, das ihren ureigensten Interessen dient, ohne sie in nennenswerter Weise einzuschränken. Wenn dies zutrifft, dann stand hinter den Diskussionen um die Einführung der Sitzgurtpflicht vielleicht weniger die Sorge um den Bestand des freiheitlichen Systems: Möglicherweise ging es bei den Aufgeregtheiten der damaligen Zeit eher um die Unwilligkeit, eine einmal angenommene Gewohnheit zu ändern, die dann in philosophische oder juristische Form gegossen wurde. Die hier vertretene Lösung ignoriert jedoch nicht, dass es Menschen geben mag, deren Persönlichkeit tatsächlich so ausgeprägt ist, dass in ihrem individuellen Fall eine paternalistische Gurtpflicht nicht zu rechtfertigen wäre. Nach den oben entwickelten Grundsätzen können diese jedoch auf die Interessen der 226
Knippel, NJW 1977, 939 (939).
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anderen verwiesen werden. Sie müssen die Gurtpflicht hinnehmen, damit die Integrität der anderen geschützt werden kann227. 2. Schutzhelm Die Schutzhelmentscheidung des Bundesverfassungsgerichts war bereits oben vorgestellt worden; in der Sitzgurtentscheidung verwies das Gericht dann pauschal auf die Gründe in der Helmpflichtentscheidung228. Die Gleichbehandlung der beiden Bereiche ist durchaus angemessen. Gewisse Unterschiede mögen zwar insoweit bestehen, als das Motorradfahren ohne Helm in höherem Maße Ausdruck eines bestimmten „Lebensgefühls“ sein kann, als das Autofahren ohne Gurt; auch ist das Tragen eines Helmes wohl störender als das Anlegen eines Gurtes. Letztlich rechtfertigen diese Unterschiede aber keine unterschiedliche Bewertung. Es steht eine große Gefahr für die körperliche Unversehrtheit auf der einen Seite einer letztlich doch als vergleichsweise gering zu bewertenden Entscheidungsfreiheit gegenüber. Wenn auch der Anteil derer, für die das Motorradfahren ohne Helm Ausdruck ihres Lebensstils und damit von herausgehobener Bedeutung ist, etwas größer sein mag als beim Autofahren ohne Gurt, so müssen sich diese dennoch fügen, um den Schutz der übrigen Motorradfahrer zu ermöglichen. 3. Selbstmord Die Widersprüchlichkeit der bisherigen Auffassungen zur Zulässigkeit von Paternalismus unter dem Grundgesetz war gerade an der Behandlung der Selbstmordproblematik am deutlichsten hervorgetreten: Einerseits soll jeder Paternalismus, ausgenommen in den Fällen von Minderjährigkeit oder Geisteskrankheit, unzulässig sein; andererseits wird aber die Rettung zumindest der Appellselbstmörder mit dem Argument zugelassen, diese wollten sich nicht „wirklich“ umbringen. Daher ist es geboten, zu untersuchen, ob der hier vertretene Ansatz den Widerspruch auflösen kann. Das Recht, ohne paternalistische Bevormundung über die Beendigung seines Lebens entscheiden zu können, wird vom allgemeinen Persönlichkeitsrecht geschützt. Da die Entscheidung über den Selbstmord eine von hoher ethischer Präferenz ist229, ist auch das Recht, sich in dieser Frage ohne paternalistische Einmischung entscheiden zu können, vergleichsweise intensiv geschützt und bildet so eine hohe Barriere für jede Zulässigkeit von Paternalismus. Diese 227 228 229
s. oben III. 6. BVerfG, NJW 1987, 180 (180). s. oben 2. Kap. B. III. 2.
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könnte nur durch eine entsprechend gravierende Verletzung der eigenen Integrität überwunden werden. Es war dargelegt worden, dass der typische Fall, in dem die Berufung auf die Integrität des Betroffenen Paternalismus legitimieren kann, der ist, in dem der Einzelne seine Lebenspläne durch Unbedachtheiten torpediert. In vielen Fällen trifft dieser Gedanke auch auf den Selbstmord zu: Es handelt sich oft um „Kurzschlussreaktionen“, beispielsweise wenn sich ein junger Mann in den Kopf schießt, nachdem ihn seine Freundin verlassen hat230. Hier überwiegen die Impulsivität und Unreflektiertheit der Beschlussfassung231. In diesen Fällen spricht das Integritätsargument eindeutig für eine Rettung der Betroffenen. Häufig ist die Sachlage jedoch eine andere: Gerade ein Appellselbstmord wird dann nicht aus Unbedachtheit ausgeführt, sondern eher aus Verzweiflung, und der Entschluss zur Tat kann möglicherweise schon lange gereift sein – man denke an vereinsamte alte Menschen, die aus Verzweiflung beschließen, ihrem Leben ein Ende zu setzen232. Zudem handelt es sich dann viel deutlicher als in den Kurzschlussfällen gerade nicht um die Torpedierung, sondern um die Umsetzung eines „Lebensplanes“. Dies mag in Bezug auf den Selbstmord merkwürdig klingen. Jedoch liegt in der Selbsttötung auch die Aussage, dass das eigene Leben jetzt zu Ende gehen soll; insofern kann man von einem Lebensplan sprechen. Eben aus diesem Grund war dem Selbstmord ja auch der erhöhte Schutz durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht, und nicht nur der des allgemeinen Freiheitsrechts, zugebilligt worden. Aus diesen beiden Gründen liegt in einem Appellselbstmord häufig zumindest nicht der klassische Fall eines Paternalismus legitimierenden Verhaltens. Wenn man einen Appellselbstmord also als integritätswidrig ansehen möchte, muss man mehr in die Tiefe der Persönlichkeit des Suizidenten gehen. Es ist dann nicht ausreichend, die konkrete Handlung als widersprüchlich in Bezug auf die eigenen Lebenspläne anzusehen, wie dies beim Autofahren ohne Gurt möglich war. Vielmehr ist zu untersuchen, ob der Lebensplan selbst, also die Überzeugung, das Leben solle beendet werden, in Widerspruch zu noch tieferen Überzeugungen und Ansichten des Betroffenen steht. Ausgangspunkt für die Beurteilung dieser Frage muss der drohende Schaden für den Betroffenen sein. Es stellt sich daher die bereits angedeutete Frage, ob der Tod des Suizidenten ein Schaden im hier verwendeten Begriffssinn ist. Man könnte argumentieren, dass der Betroffene auf sein Leben ja freiwillig verzichtet habe und insoweit kein Schaden vorliege. Andererseits ist für das Integritätsargument nicht notwendigerweise der natürliche Wille des Betroffenen maßgeblich. Richtigerweise ist zu unterscheiden: Wer sich das Leben nehmen will, weil sein ganzes Welt230 231 232
Dölling, NJW 1986, 1011 (1014). Geilen, JZ 1974, 145 (152) m. w. N. Dölling, NJW 1986, 1011 (1014).
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bild so aussieht, dass das Leben ohnehin sinnlos und wertlos ist, für den ist auch der Verlust des Lebens kein Schaden. In der Mehrzahl der Fälle sind die Suizidenten jedoch nicht mit dem Leben an sich, sondern nur mit ihrer eigenen Situation unzufrieden und finden diese unerträglich. Sie ziehen den Tod einem Leben unter den gegebenen Umständen vor, würden aber unter anderen Umständen durchaus leben wollen. Insofern kann man davon sprechen, dass auch sie den Tod als Schaden begreifen. Zur Ermittlung der Integritätskomponente ist gemäß der dargestellten Leitlinie der drohende Schaden zu dem Wert des angestrebten Ziels ins Verhältnis zu setzen. Der Wert des angestrebten Ziels bemisst sich erneut nach den Maßstäben des Betroffenen. Die Ausführungen zum Tod als Schaden finden auch hier eine Anwendung: Wenn das Weltbild des Suizidenten so ist, dass er unter veränderten Rahmenbedingungen weiterleben wollen würde, dann entspricht das angestrebte Ziel, der Tod, nur dann seinen Prioritäten, wenn keine Aussicht besteht, dass sich die Rahmenbedingungen ändern. Mit anderen Worten: Wenn der Staat sich nicht nur dafür einsetzen würde, dass das Leben des Betroffenen gerettet wird, sondern auch dafür Sorge tragen würde, dass der Betroffene es nach der Rettung wieder als lebenswert empfindet, dann wäre das mit der Tat verfolgte Ziel, nämlich sich selbst zu töten, auch nach den Maßstäben des Betroffenen selbst gar nicht erstrebenswert. Nach seinen eigenen Maßstäben wäre dann eine Rettung dem Tod vorzuziehen. Wenn es heißt, dass der Betroffene unter anderen „Umständen“ leben wolle und dass der Staat sich darum kümmern solle, dass der Suizident das Leben wieder als lebenswert empfindet, dann darf dies nicht missverstanden werden: Es geht hier nicht um eine Gesellschaftskritik o. ä. Erforderlich ist vielmehr in erster Linie eine entsprechende medizinische oder psychologische Betreuung. Das Therapieziel besteht darin, dem Patienten wieder zu einer nichtsuizidalen psychischen Verfassung zu verhelfen und ihm konstruktivere Weisen der Stressbewältigung und der Problemlösung zu vermitteln233. Es wäre jedoch nicht nur zynisch, sondern auch eine Verletzung der Integrität des Betroffenen, einen alten Menschen, der an seiner Einsamkeit leidet und sich deshalb das Leben nehmen will, zunächst zu retten und dann ohne weitere Hilfestellung wieder seiner Einsamkeit zu überlassen. Der Integritätsansatz macht also die Legitimität der Rettung auch von den begleitenden Maßnahmen abhängig234. In der Praxis wurde die Beobachtung gemacht, dass viele Menschen über ihre Rettung Dankbarkeit empfinden und in der Regel gute Aussichten bestehen, den Suizidenten endgültig für das Leben zurückzugewinnen235. Das spricht dafür, dass in vielen Fällen geeignete Maßnahmen ergriffen worden sind, auch wenn in der psycho233 234 235
Comer, Klinische Psychologie, 387 f. So auch Kleinig, Paternalism, 103. Dölling, NJW 1986, 1011 (1014) m. w. N.
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logischen Literatur teilweise eine zu hohe Quote von Fällen, in denen gar keine fachgerechte Betreuung stattfindet, beklagt wird236. Die Integritätskomponente spricht also in Fällen des Appellsuizids für eine Rettung des Betroffenen. Die Frage ist jedoch, ob dies ausreichend ist, um die hohe Hürde der Entscheidungskomponente des Rechts gegen Paternalismus zu überwinden. Eine Rettung des Suizidenten ist geeignet und erforderlich zum Schutz seiner Integrität; insbesondere kommen naturgemäß keine milderen Mittel wie etwa Aufklärung o. ä. in Betracht. Bei der Angemessenheit stehen sich Entscheidungs- und Integritätsaspekt gegenüber. Die Entscheidungskomponente erlangt besonders großes Gewicht aufgrund der Wichtigkeit der Entscheidung, die Integritätskomponente aufgrund der hohen Wahrscheinlichkeit oder gar Sicherheit des größtmöglichen Schadens. In Anbetracht der Größe des integritätswidrigen Schadens erscheint es gerechtfertigt, die Befugnis des Betroffenen, über sein Leben freiwillig zu verfügen, in diesen Fällen einzuschränken. Ähnlich wie in dem Fall der Gurtpflicht kann als Indiz für die Richtigkeit dieser Abwägung die Beobachtung herangezogen werden, dass die meisten Geretteten für die Rettung dankbar sind und keinen erneuten Suizidversuch unternehmen. Das deutet an, dass sie selbst – wenn auch im Nachhinein – anerkennen, dass der paternalistische Eingriff gerechtfertigt war und ihren eigenen Interessen in legitimer Weise diente. Gelegentlich hört man in der Diskussion auch den Hinweis, für ein Eingreifen des Staates spreche auch, dass dem Geretteten stets die Möglichkeit verbleibe, seinen Versuch zu wiederholen; niemand könne letztlich an einem solchen Schritt gehindert werden237. Bei diesem Argument ist zu differenzieren: Zum einen gibt es die Fälle, in denen der Betroffene seinen Selbstmordversuch im Einklang mit seinen eigenen Werten durchführt; dies ist denkbar etwa bei einem Schwerkranken, der sich unnötiges Leiden ersparen möchte. Wo eindeutig ein solcher Fall vorliegt, kann eine Rettung nicht damit begründet werden, der Betroffene könne sich ja hinterher erneut versuchen, das Leben zu nehmen – eine solche Argumentation wäre geradezu zynisch. Bei Appellselbstmorden dagegen ist anzustreben, dass sich der Suizident später nicht noch einmal versucht, das Leben zu nehmen. Gewicht hat das Argument daher nur in dem Fall, dass es unklar ist, ob ein Appell- oder ein Bilanzselbstmord vorliegt. In diesen Fällen kann das oben entwickelte Prinzip zum Tragen kommen, dass diejenigen, bei denen die Voraussetzungen für einen paternalistischen Eingriff nicht vorliegen, Maßnahmen zu ihrem Schutz wegen des Integritätsschutzes der anderen ertragen müssen. Wer also einen Selbstmord verübt, bei dem für die Retter un236 Comer, Klinische Psychologie, 387, zitiert aus Quellen, denen zufolge in einem Helsinkier Allgemeinkrankenhaus 46% der wegen eines Suizidversuchs behandelten Personen keine psychologische Beratung erhielten. 237 Götz, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 109.
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klar ist, ob paternalistisches Eingreifen gerechtfertigt ist, darf legitimerweise gerettet werden. Denn selbst wenn sein Selbstmord ein Bilanzselbstmord ist, muss er sich auf die Integrität der anderen Suizidenten verweisen lassen. Wenn es für den Staat nur die Möglichkeit gibt, in unklaren Fällen entweder alle oder keinen zu retten, kann die Entscheidung, alle zu retten, mit der Integrität der Appellselbstmörder begründet werden, die ansonsten sterben würden. Dieses Ergebnis kann dann damit weiter untermauert werden, dass die Belastung für den geretteten Bilanzselbstmörder nicht unzumutbar ist, da er einen erneuten Selbstmordversuch unternehmen kann. Dadurch muss er zwar durch die erneuten psychischen Belastungen eines Selbstmordversuches gehen, hat jedoch immerhin die tatsächliche Möglichkeit, seinen Plan umzusetzen238. In keinem Fall kann dagegen eine Rettung von Suizidenten gerechtfertigt werden, bei denen eindeutig ein Bilanzselbstmord vorliegt239. Dies wird beispielsweise bei Schwerkranken anzunehmen sein, für die das Leben eine Qual ohne Aussicht auf Besserung ist. Wenn sie zu dem Schluss kommen, dass der Tod die bessere Alternative zu einem Leben unter den gegebenen, nicht änderbaren Umständen sei, so erlaubt der Integritätsansatz kein Eingreifen240. 4. Peepshow und „Big Brother“ Es wurde dargelegt, dass moralischer Paternalismus unter dem Grundgesetz nicht in Betracht kommt. Auch Peepshow- oder „Big Brother“-Verbote zum Schutz der Darstellerinnen oder Teilnehmer können daher nicht gerechtfertigt werden. Es ist schon äußerst zweifelhaft, ob man insoweit überhaupt ein integritätswidriges Verhalten der Betroffenen feststellen könnte; auch ein relevanter Schaden ist nicht ersichtlich241. In Verbindung mit dem hohen Wert des Rechts, sich in moralischen Fragen selbst entscheiden zu können, folgt daraus das Verbot von staatlichem Paternalismus in diesen Fällen. Das sollte den Gegner der genannten Veranstaltungen nicht verunsichern. Es scheint, dass das Beunruhigende an Peepshows und „Big Brother“ nicht der Schaden für die wenigen Teilnehmer an solchen Vergnügungen ist. Vielmehr ist die plausiblere Interpretation, dass es den Kritikern um ein bestimmtes gesellschaftliches Klima geht, also um die Auswirkungen solcher Aktivitäten auf die Gesellschaft als Ganzes. Dann ist aber der paternalistische Bereich verlassen. 238
In diesem Sinne Dölling, NJW 1996, 1011 (1015). So auch Dölling, ebd. 240 Ganz im Gegenteil: Die Sorge um die Integrität des Betroffenen legt in diesem Fall nahe, ihm bei der Umsetzung seines Suizids sogar zu helfen, wenn er es allein nicht mehr ausführen kann. Dabei entstehen dann jedoch neue Probleme, die im Rahmen der Diskussion um den § 216 StGB diskutiert werden, etwa die Frage, wie ein Missbrauch verhindert werden kann. Darauf ist hier nicht einzugehen. 241 s. oben 3. Kap. A. II. und B. III. 4. c). 239
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Das Problem sollte unter dem Aspekt untersucht werden, ob bzw. inwieweit die Grundrechte oder das Grundgesetz dem Gesetzgeber die Möglichkeit einräumen, gesellschaftlichen Entwicklungen, die für schädlich gehalten werden, vorzubeugen, oder ob dies nicht möglich ist – etwa weil dies der Preis ist, den man für die Freiheitsgewährleistungen der Grundrechte zu zahlen hat. 5. Rauchen In Deutschland raucht über ein Viertel (26.7%) der Bevölkerung im Alter ab 10 Jahren. Von diesen rauchen 76.1% durchschnittlich zwischen 5 und 20 Zigaretten; 16.2% rauchen zwischen 20 und 40 Zigaretten, und 1.3% mehr als 40 Zigaretten242. Zigaretten sind damit das neben Alkohol am meisten verbreitete Suchtmittel243. Die Gesundheitsschäden, die durch das Rauchen verursacht werden, sind vielfältig. Zu ihnen gehören kognitive Leistungseinbußen, Wundheilungsstörungen und Infektionsrisiken, Magen- und Zwölffingerdarmgeschwüre, schnellere Alterung der Haut, Rückenschmerzen, Minderung der Sehkraft, Auswirkungen auf den weiblichen Hormonhaushalt, Potenzstörungen, Atemwegs- und Krebserkrankungen244. In Deutschland sterben jedes Jahr etwa 110.000 Menschen an tabakbedingten Krankheiten245. Jeder Raucher verliert im Schnitt 8 Jahre seines Lebens. 75% aller chronisch-obstruktiven Lungenerkrankungen, 35% aller kardiovaskulären Todesfälle, 40–45% aller Krebstodesfälle und 90–95% aller Lungenkarzinome im Alter zwischen 35 und 69 Jahren werden durch das Rauchen verursacht. Das relative Risiko für einen Herzinfarkt steigt auf das drei- bis vierfache des Nichtrauchers246. Diese Gesundheitsschäden könnten als Indiz dafür verstanden werden, dass das Rauchen den eigenen Wertvorstellungen der Raucher zuwiderläuft: Die meisten Menschen würden sich nicht ohne einen überzeugenden Grund den dargestellten erheblichen Gefahren aussetzen wollen. Jedoch ist die Größe des drohenden Schadens nur ein Indiz für die Integritätswidrigkeit des gefährlichen Verhaltens. Ein weiteres Indiz ist der Grad der Freiwilligkeit des Verhaltens. Es ist also zu fragen, warum Menschen rauchen und unter welchen Umständen sie diese Entscheidung treffen. Die Motivation, mit dem Rauchen zu beginnen, entsteht in den meisten Fällen in der Adoleszenz. Es können dabei unterschiedliche Gründe im Vorder242 Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie, Frauen und Gesundheit (Hrsg.), Rauchen, 17. 243 Ebd., 7. 244 Ebd., 53 ff. 245 Ebd., 7. 246 Batra, Tabakabhängigkeit, 7 f.
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grund stehen, etwa die Provokation gegen elterliche und gesellschaftliche Normen und Werte, die bewusste Verletzung der elterlichen Kontrollvorstellungen, die demonstrative Vorwegnahme des Erwachsenenverhaltens, die Suche nach bewusstseinserweiternden Erfahrungen, der Gewinn von schneller Entspannung und Genuss, die Erschließung von Zugang zu Freundesgruppen, die Zugehörigkeit zu subkulturellen Lebensstilen, die Ablenkung von schulischem Leistungsversagen, psychischen Problemen oder mangelndem Selbstbewusstsein247. Der frühe Beginn des Rauchens zwischen dem 14. und 16. Lebensjahr führt zu einem deutlich erhöhten Risiko, innerhalb kürzester Zeit regelmäßig zu rauchen und zum abhängigen Raucher zu werden248. Wer dagegen bis zu seinem 20. Lebensjahr nicht raucht, fängt es danach nur noch sehr selten an249. Das Bild zeigt, dass sowohl die Entscheidung, mit dem Rauchen zu beginnen, als auch die spätere Entscheidung, das Rauchens fortzusetzen, häufig an Willensmängeln leiden, ohne deshalb notwendigerweise unfreiwillig zu sein. Während die Urteilskraft bei Kindern und Jugendlichen ohnehin noch nicht ausreichend ausgebildet ist, kommen hier die für diese Altersklasse typischen sozialen Zwänge durch peer groups, die Auflehnung gegen Verbote und der Wunsch, „erwachsen“ zu sein, hinzu; insoweit sind von der Freiwilligkeit des Verhaltens weitere Abstriche zu machen. Wenn die Jugendlichen als Erwachsene weiterrauchen, so geschieht dies aus Gewöhnung und Abhängigkeit. Diese Mängel bezüglich der Freiwilligkeit der Entscheidung zum Rauchen können somit neben dem erheblichen Schadensrisiko als zweiter Hinweis für einen Verstoß der Raucher gegen ihre eigene Integrität gewertet werden. Es war jedoch dargelegt worden, dass diese beiden Aspekte nur Indizcharakter haben. Entscheidend ist nicht nur der Schaden, sondern in erster Linie das Verhältnis von Schaden zu Nutzen, beurteilt nach den Vorstellungen der Raucher. Es sei hier noch einmal auf die Ausgangsposition des Integritätsansatzes verwiesen: Es geht nicht darum, zu entscheiden, ob Rauchen „objektiv“ vernünftig oder unvernünftig ist, sondern darum, ob die Entscheidung für das Rauchen bei Zugrundlegen der subjektiven Wertvorstellungen der Betroffenen verständlich ist. Jeder hat das Recht, den mit dem Rauchen verbundenen Genuss für sich selbst als so hoch einzuschätzen, dass er die Gesundheitsgefahren in Kauf nimmt. Die Frage ist bloß, ob die Raucher diese Abwägung wirklich so vornehmen, oder ob es nicht die plausiblere Interpretation ist, dass sie wissen, dass das Rauchen ihnen viel mehr schadet als nützt, aber aus den verschiedensten Gründen (Unreife, soziale Zwänge, Abhängigkeit) nicht vom Rauchen loskommen. 247 Haustein, Tabakabhängigkeit, 366. Ausführlich zum Einfluss des familiären und außerfamiliären Umfeldes vgl. Niederberger, Rauchen als sozial erlerntes Verhalten, 78 ff. Ausführlich zur Rauchmotivation vgl. ebd., 127 ff. 248 Batra, Tabakabhängigkeit, 16. 249 Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie, Frauen und Gesundheit (Hrsg.), Rauchen, 20.
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3. Kap.: Die Rechtfertigung von Paternalismus
Jugendliche Raucher sind sich der Gesundheitsgefahren des Rauchens durchaus bewusst. Sie rechtfertigen ihr Verhalten entweder damit, dass der Nutzen des Rauchens höher angesetzt wird als die gesundheitlichen Risiken, oder versuchen das Risiko durch die Vorstellung zu bagatellisieren, geringe Mengen oder „leichte“ Zigaretten bedeuteten auch eine geringere Gefährdung. Jedoch gelingt es einem beträchtlichen Teil der jugendlichen Raucher nicht, den Widerspruch aufzulösen. Immerhin 20% der jugendlichen Raucher sind über die Gesundheitsgefahren des Rauchens sehr beunruhigt. 44% begründen das Weiterrauchen damit, nicht wieder aufhören zu können250. Für erwachsene Raucher wird geschätzt, dass 20–30% entwöhnungswillig und weitere 25–40% ambivalent bezüglich des Entwöhnungswunsches sind. Die Gründe hierfür sind die erheblichen Gesundheitsrisiken, ein Verantwortungsbewusstsein gegenüber Kindern und Jugendlichen, das Gefühl der Abhängigkeit, eine Schwangerschaft oder finanzielle Aspekte. Die Entwöhnung gelingt jedoch häufig auch nach mehreren Versuchen nicht, so dass den Rauchern eine professionelle Raucherentwöhnungsbehandlung empfohlen werden muss251. Diese Zahlen legen zumindest für einen erheblichen Teil der Raucher die Vermutung nahe, dass sie die Gesundheitsgefahren des Rauchens erkennen und den Widerspruch zu ihrem eigenen Verhalten nicht aufzulösen in der Lage sind, so dass als Erklärungsversuche offen die eigene Abhängigkeit eingeräumt wird. Das spricht zumindest für diese Gruppe der Raucher eine deutliche Sprache: Man muss gar keine komplizierten Interpretationen der Werte der Betroffenen anstellen, um zu dem Ergebnis zu kommen, dass diese Raucher sich entgegen ihren eigenen Wertvorstellungen verhalten – sie räumen es selbst ein. Es stellt sich jedoch ein Problem, wenn man auf diese Weise versucht, die Beurteilung des Rauchens unter dem Gesichtspunkt der Integrität vorzunehmen: Rauchen ist eine Verhaltensweise, die in einen sozialen Kontext eingebunden ist. Es ist sehr schwierig, das Rauchen als eine isolierte Verhaltensweise zu betrachten und zu bewerten, ohne dabei die übrigen Lebensumstände der Raucher mit in den Blick zu nehmen. Kleinig weist darauf hin, dass gerade bei armen Menschen der in den letzten Jahren zu beobachtende Rückgang des Rauchens noch nicht „angekommen“ ist. Er bietet als eine mögliche Erklärung an, dass die zusätzlichen gesunden Jahre, die man durch den Verzicht auf das Rauchen gewinnt, wenig zu bieten haben, wenn man arm ist. Für solche Leute sei die Antwort auf ihre Probleme nicht in paternalistischer Regulierung, sondern in der Verbesserung ihrer Lebensumstände zu suchen252. Dieses Argument zeigt die angesprochene generelle Schwierigkeit bei dem Argumentieren mit der Integrität des Einzelnen auf: Rauchen ist für viele Menschen ein Bestandteil ihres 250 251 252
Ebd., 31 f. Batra, Tabakabhängigkeit, 28. Kleinig, Paternalism, 110.
B. Die Anforderungen an Entscheidungsbildung und -inhalt
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Lebens geworden, dessen wirkliche Bedeutung nur schwer einzuschätzen ist. Es ist weder gesagt, dass der Einzelne intellektuell genau erfasst, warum er raucht und welche Bedeutung diese Gewohnheit tatsächlich für ihn hat, noch dass der Staat eine genaue Einschätzung abzugeben in der Lage ist. Die Situation ist beispielsweise anders im Sitzgurtproblem: Bei der Benutzung von Sitzgurten ist es kaum denkbar, dass der Einzelne damit in ihm nicht bewusster Weise einen großen Beitrag zu seiner Lebensphilosophie leistet; die Frage der Sitzgurtbenutzung ist fast vollständig abtrennbar von allen anderen Aspekten seines Lebens. Beim Rauchen ist dies nicht notwendigerweise der Fall: Beispielsweise hat Rauchen eine soziale Komponente, wenn man bei der „Zigarettenpause“ zusammensteht oder -sitzt und sich unterhält. Auch zu manchen Freizeitbeschäftigungen wie etwa Kartenspielen gehört Rauchen für viele Menschen dazu. Daher muss der Staat in Bezug auf das Rauchen viel vorsichtiger mit einem paternalistischen Eingreifen sein als etwa im Fall der Sitzgurtpflicht. Das soll nicht heißen, dass ein Eingreifen grundsätzlich nicht rechtfertigbar wäre; nur sind die genannten Aspekte zu beachten. Das Bild, das sich bei der Betrachtung der Rauchgewohnheiten ergibt, ist geprägt davon, dass während der Adoleszenz das Rauchen erlernt wird. Daher erscheint es für paternalistische Maßnahmen am besten geeignet, an dieser Stelle anzusetzen. Dass Jugendliche aufgrund ihrer Unreife paternalistisch davor geschützt werden dürfen, eine extrem schädliche Gewohnheit anzunehmen, ist offensichtlich. Die Bestrebungen sollten sich daher darauf konzentrieren, Jugendliche vom Rauchen abzuhalten. Das geschieht zum einen durch eine konsequente Suchtprävention, die möglichst schon im Kindergartenalter anzusetzen hat253, zum anderen dadurch, dass Jugendlichen der Zugang zu Zigaretten so schwer wie möglich gemacht wird. Hierfür bieten sich eine Reihe von paternalistischen Maßnahmen an. Zum einen ist kein Grund ersichtlich, warum das Alter, ab dem Jugendliche Zigaretten legal erwerben dürfen, nicht auf 18 Jahre hochgesetzt werden sollte. Wenn man berücksichtigt, dass nur etwa 5% aller Raucher mit ihrem Verhalten nach dem 20. Lebensjahr beginnen254, erscheint auch eine Heraufsetzung der Altersgrenze auf 20 oder 21 Jahre als vertretbar255. Diese Vorschriften sollten konsequent umgesetzt werden. Ein erster Schritt wäre das Verbot von Zigarettenautomaten, da diese den leichtesten Zugang zu Zigaretten ermöglichen256. Ein weiteres Mittel wäre die Bestrafung 253 Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie, Frauen und Gesundheit (Hrsg.), Rauchen, 89 ff. Die herausragende Bedeutung der Prävention wird von allen Studien zum Thema betont; vgl. ferner Haustein, Tabakabhängigkeit, 363 ff. m. w. N. 254 Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie, Frauen und Gesundheit (Hrsg.), ebd., 20. 255 Allerdings ist nicht auszuschließen, dass eine solche Ausnahme von der Volljährigkeitsregelung kontraproduktiv wäre. Zumindest müssten die dabei entstehenden Probleme in die Abwägung einbezogen werden.
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3. Kap.: Die Rechtfertigung von Paternalismus
von Händlern, die gegen die Vorschriften verstoßen. Sinnvoll wäre ein abgestuftes System von Warnungen und Geldstrafen bis zum Entzug der Lizenz257. Falls diese Maßnahmen den gewünschten Erfolg nicht bewirken, wäre auch an eine gravierende Verteuerung von Zigaretten zu denken, damit diese für Minderjährige einfach zu teuer werden. In einer Verteuerung kann auch ein weiterer Anreiz an andere Raucher gesehen werden, den Wert, den dieses Verhalten für sie hat, kritisch zu überdenken. Es erscheint möglich, dass diese Maßnahmen den gewünschten Erfolg bereits bewirken können. Sie können durch die Notwendigkeit des paternalistischen Schutzes der Jugendlichen allein gerechtfertigt werden. Es unterliegt keinem Zweifel, dass für den Staat das Wohlergehen und die gesunde Entwicklung seiner Jugend von herausragendem Interesse sein müssen. Daher wären auch die genannten Maßnahmen gerechtfertigt. Sie haben den Vorteil, dass sie kein absolutes Verbot aussprechen, sondern nur den Jugendlichen in einer Phase, in der sie besonders gefährdet sind, den gefährlichen Einstieg in die Nikotinsucht unmöglich machen bzw. erschweren. Dieses Ergebnis lässt lediglich die Frage offen, was mit denjenigen Rauchern geschehen soll, die bereits an das Rauchen gewöhnt sind. Wenn man annimmt, dass der Staat sofort handelt und die hier empfohlenen Maßnahmen umsetzt: Was soll mit all denen geschehen, die bereits über 20 sind und deshalb von den Maßnahmen nicht mehr betroffen sind? Es ist zu beachten, dass diejenigen, die die Gewohnheit des Rauchens angenommen haben, ihr Leben in einer bestimmten Weise organisiert und darauf ausgerichtet haben. Es greift hier wiederum der bereits vorgestellte Gedanke ein: Aufgrund der beschriebenen vielschichtigen und undurchsichtigen Motivationslage ist ein Rauchverbot hier wohl nicht zu begründen258. Wer sich auf die täglichen Zigarettenpausen mit den Kollegen oder den wöchentlichen Skatabend in der verqualmten Eckkneipe freut, der wird in seiner Freizeitgestaltung erheblich behindert, wenn diese Aktivitäten in Zukunft nur noch tabakfrei erlaubt sind. Vielmehr ist in Bezug auf diese Menschen, wie schon dargelegt, an eine Verteuerung der Zigarettenpreise zu denken – dadurch wird das Rauchen nicht unmöglich gemacht, aber ein Anreiz zum Überdenken der Praxis gegeben. Im Übrigen ist der Staat auf das Mittel der Aufklärung und Information über die Gefahren zu verweisen. 256
Vgl. zur Effizienz dieser Methode Haustein, Tabakabhängigkeit, 382 m. w. N. Haustein, ebd. erwähnt die Erfolge, aber auch die Schwierigkeiten bei der Umsetzung, die mit einem solchen Vorgehen bei Untersuchungen in den USA beobachtet wurden. Danach ist insbesondere eine Einhaltung des Verbots durch die Händler schwer zu erreichen. 258 Dann bleibt allerdings noch die hier nicht behandelte Frage, inwieweit die Interessen Dritter bzw. der Allgemeinheit Einschränkungen legitimieren können. Vgl. zu entsprechenden Schutzpflichten zugunsten der Nichtraucher Faber, DVBl. 1998, 745 (747 ff.). 257
B. Die Anforderungen an Entscheidungsbildung und -inhalt
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6. Alkohol Der Pro-Kopf-Konsum an Alkohol in Deutschland liegt etwa bei 10 l pro Person und Jahr, was dem Alkoholgehalt von ca. 280 l Bier oder 180 l Wein entspricht. Damit nimmt Deutschland einen Platz in der Spitzengruppe sämtlicher Länder der Welt ein259. Als schädlicher Alkoholgebrauch wird eine Reinalkoholmenge von 20 g reinen Alkohols pro Tag bei Frauen und 40 g bei Männern definiert260. In Deutschland haben etwa 10.3% der Bevölkerung über 18 Jahren einen riskanten Konsum, weitere 2.9% sogar einen gefährlichen (40–80 bzw. 60–120 g Alkohol pro Tag). Weitere 0.9% sind Hochkonsumenten (mehr als 80 bzw. 120 g Alkohol pro Tag)261. Bei diesen Zahlen fallen Männer ungefähr dreimal so stark ins Gewicht wie Frauen. Die Zahl der Alkoholiker wird auf 2.5 Mio. geschätzt, wobei diese Zahl teilweise auch für zu niedrig gehalten wird262. Chronischer Alkoholkonsum schädigt nahezu jedes Organ des menschlichen Körpers. Von herausragender Bedeutung sind dabei die Schädigung des zentralen und peripheren Nervensystems, der Leber, des Pankreas, des Gastrointestinaltraktes, des Herzens, der Muskulatur und des Knochens263. Die Mortalität von Alkoholikern ist hoch. 1993 wurde die Zahl der alkoholassoziierten Todesfälle in Deutschland auf ca. 33.000 geschätzt264. Die häufigste durch Alkoholmissbrauch hervorgerufene Todesursache ist die alkoholische Leberzirrhose, an der in Deutschland jährlich ca. 15–20.000 Menschen sterben265. Anders als beim Rauchen führt der mäßige Alkoholkonsum nicht in die Sucht. Insofern kann man auch nicht sagen, dass jeder, der Alkohol konsumiert, sich selbst schädigt. Wenn man unter einem paternalistischen Blickwinkel ein generelles Alkoholverbot als die schärfste denkbare Maßnahme diskutiert, muss man sich somit im Klaren sein, dass ein solches allenfalls im Interesse der ca. 14% der Bevölkerung über 18 Jahren, die eine schädliche Menge Alkohol kon259 Hüllinghorst, in: Singer/Teyssen (Hrsg.), Alkohol und Alkoholfolgekrankheiten, 32 (33). 260 Ebd., 38. 261 Bundesministerium für Gesundheit (Hrsg.), Alkoholkonsum und alkoholbezogene Störungen in Deutschland, 48 ff., 147 f. 262 Feuerlein, in: Singer/Teyssen (Hrsg.), Alkohol und Alkoholfolgekrankheiten, 40 (47). 263 Seitz/Lieber/Simanowski (Hrsg.), Handbuch Alkohol, Alkoholismus, alkoholbedingte Organschäden, IX. Ausführlich Korsten/Wilson, in: Ammerman/Ott/Tarter (Hrsg.), Prevention and Societal Impact of Drug and Alcohol Abuse, 65 ff. 264 Feuerlein, in: Singer/Teyssen (Hrsg.), Alkohol und Alkoholfolgekrankheiten, 40 (50 f.). 265 Ausführlich zu den durch Alkohol hervorgerufenen Leberschäden Bode, in: Seitz/Lieber/Simanowski (Hrsg.), Handbuch Alkohol, Alkoholismus, alkoholbedingte Organschäden, 275 ff.
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3. Kap.: Die Rechtfertigung von Paternalismus
sumieren, gerechtfertigt werden könnte. Die anderen, die nur unschädliche Mengen konsumieren, müssten ihre Freiheitseinbuße im Interesse der Minderheit hinnehmen. Das soll nicht heißen, dass ein solcher Weg ausgeschlossen sein muss: Allein die Tatsache, dass es 2.5 Mio. Alkoholiker in Deutschland gibt, sollte zum Nachdenken anregen, ob es nicht angebracht wäre, dass die anderen gewisse Einbußen in ihrer Lebensqualität hinnehmen, um diejenigen, die alkoholkrank sind bzw. es bei Verfügbarkeit von Alkohol werden würden, zu schützen. Alles, was hier gezeigt werden soll, ist, dass die Ausgangslage eine andere ist als beim Rauchen. Welche Voraussetzungen begünstigen die Entstehung von Alkoholismus? Leider sind hier keine vergleichsweise einfachen Antworten, so wie sie beim Rauchen festgestellt worden waren, zu finden. Die Entstehung von Alkoholismus ist ein hochkomplexer Prozess, bei dem viele Faktoren eine Rolle spielen, die im Sinne eines Netzwerkes interagierend zusammenwirken. Die drei Hauptfaktoren, die dabei eine Rolle spielen, sind erstens der Drogencharakter des Alkohols, zweitens das soziale Umfeld des Betreffenden, insbesondere die Familie und die Arbeitsumgebung, und drittens das Individuum in seiner psychophysischen Gesamtheit, also unter Berücksichtigung der genetischen Faktoren und der psychischen Entwicklung266. Während bei Rauchen eine gerade Linie von den ersten Versuchen im Jugendalter in die Abhängigkeit führt, ist die Lage beim Alkoholmissbrauch komplizierter. Allerdings kommt es bei frühem Beginn des Alkoholmissbrauchs, im Vergleich zum späteren Beginn, wesentlich rascher zur Entwicklung von Alkoholabhängigkeit267. Den meisten Alkoholmissbrauch findet man in den mittleren Altersgruppen; der durchschnittliche Beginn der Alkoholabhängigkeit liegt im Alter von 30 Jahren268. Es kann hier davon ausgegangen werden, dass ein übermäßiger Alkoholkonsum aufgrund der Gesundheitsgefahren in der Regel integritätswidrig ist. Natürlich mag es Menschen geben, die die Gefährdung für den Genuss in Kauf nehmen; dies dürfte aber – ähnlich wie bei denen, für die die Sitzgurtbenutzung zu lästig ist, um den Schutz zu rechtfertigen – eher die Ausnahme sein. Am plausibelsten dürfte es sein, dass die Betroffenen ihr langsames Abgleiten in den Alkoholismus nicht bemerken oder nicht mehr die Initiative aufbringen, etwas zu ändern. Des Weiteren sind die Fälle zu beachten, für die das Leben ohne Alkohol nicht zu ertragen ist. Hier gilt Ähnliches wie beim Selbstmord: Angebracht ist in solchen Fällen eine psychologische Betreuung, die in Deutschland auch erhältlich ist.
266 Feuerlein, in: Seitz/Lieber/Simanowski (Hrsg.), Handbuch Alkohol, Alkoholismus, alkoholbedingte Organschäden, 54 (60 ff.). 267 Ders., in: Singer/Teyssen (Hrsg.), Alkohol und Alkoholfolgekrankheiten, 40 (42). 268 Ebd., 47.
B. Die Anforderungen an Entscheidungsbildung und -inhalt
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Aus dieser Integritätswidrigkeit der Entscheidungen von etwa 14% der Bevölkerung, übermäßig Alkohol zu konsumieren, sollte aber nicht die Zulässigkeit eines generellen Alkoholverbotes geschlossen werden, da ein solches die Interessen der übrigen übermäßig beeinträchtigen würde: Noch stärker als beim Rauchen ist beim Alkoholkonsum der „soziale“ Aspekt zu beachten. Die Funktionen des Alkoholkonsums liegen vor allem in der Spannungsminderung, der Angstlösung und der Erleichterung sozialer Kontakte. Alkoholkonsum ist oft in einen gesellschaftlichen Rahmen eingebunden269. Dieser Aspekt spricht beim Alkohol in noch stärkerem Maße als beim Rauchen gegen ein vollständiges Verbot, denn dadurch würden für den weit überwiegenden Teil der Bevölkerung, der Alkohol in nicht schädlichem Ausmaß konsumiert, diese sozialen Aspekte erheblich erschwert werden. Man muss kein Alkoholiker sein, um die stimmungsfördernde Wirkung von Alkohol bei vielen sozialen Anlässen zu schätzen. Wenn auf einmal jede Form von geselligen Zusammenkünften ohne Alkohol stattfinden müssten, so würde dies eine erhebliche Beschränkung des sozialen Lebens vieler Menschen darstellen. Daher ist vorrangig nicht an ein Alkoholverbot, sondern an andere Maßnahmen zu denken. In der Fachliteratur herrscht Einigkeit darüber, dass der Alkoholkonsum in Deutschland insgesamt viel zu hoch ist270. Hüllinghorst zufolge sollte ein gesellschaftlicher Konsens gefördert werden, dass es wichtig ist, den Trinkbeginn hinauszuschieben, Missbrauchsverhalten vorzubeugen und den Konsum alkoholischer Getränke insgesamt zu reduzieren271. Als politische Maßnahmen empfiehlt er eine Reihe von konsumsenkenden Maßnahmen, wie eine Preiserhöhung durch zweckgebundene Abgaben für Prävention und Behandlung, Einschränkungen der Verfügbarkeit, beispielsweise durch Mindestabgabealter, Verkauf nur in lizenzierten Geschäften sowie die Herabsetzung der Promillegrenzen im Straßenverkehr272. Was die Preiserhöhungen und die Abgabe in lizenzierten Geschäften angeht, so sind diese Maßnahmen durchaus Erfolg versprechend. Es gibt Korrelationen zum einen zwischen dem Gesamtalkoholkonsum einer Gesellschaft und den auftretenden Gesundheitsschäden273 und zum anderen zwischen den Kosten des Alkohols und dem Gesamtkonsum274. In vielen Studien ergab sich sogar, dass der Einfluss von hohen Preisen auf das Trinkverhalten am größten bei starken 269
Ebd., 42 f. Hüllinghorst, in: Singer/Teyssen (Hrsg.), Alkohol und Alkoholfolgekrankheiten, 32 (39). 271 Feuerlein, in: Seitz/Lieber/Simanowski (Hrsg.), Handbuch Alkohol, Alkoholismus, alkoholbedingte Organschäden, 624 (627). 272 Hüllinghorst, in: Singer/Teyssen (Hrsg.), Alkohol und Alkoholfolgekrankheiten, 32 (39). 273 Ebd., 32; ders., in: Seitz/Lieber/Simanowski (Hrsg.), Handbuch Alkohol, Alkoholismus, alkoholbedingte Organschäden, 1 (1 f.). 270
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3. Kap.: Die Rechtfertigung von Paternalismus
Trinkern war275. Daher erscheint dieses Mittel besonders geeignet, auf der einen Seite die mäßigen Alkoholkonsumenten in ihren Aktivitäten nicht übermäßig einzuschränken, auf der anderen Seite aber einen wirksamen Schutz der Integrität der Gefährdeten zu gewährleisten. Des Weiteren darf der Staat darauf hinwirken, dass der Trinkbeginn möglichst weit nach hinten verschoben wird, da der paternalistische Schutz von Jugendlichen vor Gefährdungen zulässig ist. Das kann dadurch geschehen, dass einerseits versucht wird, den entsprechenden Schutzgesetzen zu größerer Wirksamkeit zu verhelfen, und dass andererseits durch Aufklärung und Prävention ein öffentliches Bewusstsein für die Problematik geschaffen wird276. Hilfreich können hier massenkommunikative Kampagnen und personalkommunikative, suchtpräventive Maßnahmen sein, wie etwa Arbeit mit den Eltern im Kindergarten und der Schule277 oder Suchtprävention mit Schulklassen oder in der offenen Jugendarbeit278. 7. Fazit Der hier vertretene Ansatz führt damit in der Praxis zu Lösungen, denen nichts Anrüchiges anhaftet. Niemand wird in seinen zentralen Projekten behindert, und niemand wird in ein Wertesystem hineingezwängt, das er nicht teilt. Was erreicht wird, ist ein größerer Schutz der Menschen, der für einen relativ kleinen Preis erkauft wird, nämlich den begrenzten Einsatz von Zwang in den Fällen, in denen sich der Einzelne aus Nachlässigkeit in Widerspruch zu seinen eigenen Werten setzt. Im Ergebnis ist unter dem Grundgesetz staatlicher Paternalismus nur in eng umgrenzten Fällen erlaubt. Zulässig sind Vorschriften, die den Einzelnen zwingen, bei gefährlichen Aktivitäten wie Auto- oder Motorradfahren gewisse Sicherheitsstandards zu beachten. Zulässig ist auch die Rettung von Appellselbstmördern. In Bereichen dagegen, in denen die gefährlichen Verhaltensweisen in einem bestimmten sozialen Kontext stattfinden, aus dem sie nicht ohne Weiteres herausgelöst werden können, wird eine Rechtfertigung von Totalverboten regelmäßig nicht gelingen. Deshalb wird der Staat hier darauf verwiesen, stattdessen andere, weniger einschneidende Maßnahmen durchzuführen. So kann er beim Rauchen höhere, auch über die Volljährigkeit hinausgehende Altersgrenzen fest274 Feuerlein, in: Singer/Teyssen (Hrsg.), Alkohol und Alkoholfolgekrankheiten, 40 (45); Österberg, in: Heather/Peters/Stockwell (Hrsg.), International Handbook of Alcohol Dependence and Problems, 685 (694 f.). 275 Österberg, ebd. 276 Vgl. dazu Boots/Midford, in: Heather/Peters/Stockwell (Hrsg.), International Handbook of Alcohol Dependence and Problems, 805 ff. 277 Vgl. dazu Midford, in: Heather/Peters/Stockwell (Hrsg.), International Handbook of Alcohol Dependence and Problems, 785 ff. 278 Hüllinghorst, in: Seitz/Lieber/Simanowski (Hrsg.), Handbuch Alkohol, Alkoholismus, alkoholbedingte Organschäden, 624 (627).
C. Paternalismus als staatliche Pflicht?
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setzen und deren Einhaltung streng überwachen, oder beim Alkohol den Verkauf auf wenige lizenzierte Geschäfte beschränken. Ebenfalls zulässig sind drastische Preiserhöhungen. Gänzlich unzulässig ist dagegen moralischer Paternalismus in seinen verschiedenen Spielarten.
C. Paternalismus als staatliche Pflicht? Bisher war die Frage untersucht worden, ob der Staat das Recht hat, paternalistisch tätig zu werden. Das Bundesverfassungsgericht hat jedoch die Grundrechte nicht nur als Abwehrrechte gegen den Staat interpretiert, sondern ihnen auch einen Schutzpflichtaspekt entnommen. Daher soll zum Abschluss dieser Arbeit noch die Frage untersucht werden, ob der Staat möglicherweise nicht nur berechtigt, sondern in gewissem Umfang sogar verpflichtet ist, die Menschen paternalistisch zu schützen. Die Schutzpflichtendoktrin wurde vom Bundesverfassungsgericht in mehreren grundlegenden Entscheidungen entwickelt, deren wichtigste hier kurz genannt werden sollen279. An erster Stelle steht die Entscheidung zur Abtreibungsproblematik aus dem Jahre 1975, in der das Gericht unter Berufung auf Art. 2 II 1 und Art. 1 I GG eine Pflicht des Staates, den Nasziturus vor seiner Mutter zu schützen, konstatierte280. Dieser Ansatz wurde dann in weiteren Urteilen fortentwickelt: Im Schleyer-Urteil erkennt das Bundesverfassungsgericht eine staatliche Schutzpflicht für das Leben einer von Terroristen entführten Geisel an, schrieb jedoch den staatlichen Organen kein bestimmtes Verhalten vor281. Zum Problem der friedlichen Nutzung der Kernenergie durch Private stellte das Bundesverfassungsgericht fest, die entsprechenden rechtlichen Regelungen seien so auszugestalten, dass die Gefahr von Grundrechtverletzungen eingedämmt bleibe282. In der Fluglärmentscheidung wurde die Schutzpflicht auch auf die Pflicht zur Bekämpfung von gesundheitsgefährdenden Auswirkungen des Fluglärms erstreckt283. Schließlich stellte das Gericht noch eine Pflicht zum Schutz deutscher Staatsangehöriger im Ausland fest284. Die Begründungen, die das Bundesverfassungsgericht für die Existenz von Schutzpflichten angab, verschoben sich im Laufe der Zeit. Während zunächst 279
Vgl. Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 43 ff. BVerfGE 39, 1 (36 ff., 41 ff.). Im Jahre 1993 folgte dann das zweite Abtreibungsurteil (BVerfGE 88, 203), das den Ansatz des ersten Urteils in der Sache bestätigte, jedoch dem Gesetzgeber ein weiteres Ermessen zubilligte. S. dazu etwa Hermes/ Walther, NJW 1993, 2337. 281 BVerfGE 46, 160 (164). 282 BVerfGE 49, 89 (140 ff.). 283 BVerfGE 56, 54 (78). 284 BVerfGE 55, 349 (364). 280
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3. Kap.: Die Rechtfertigung von Paternalismus
noch von dem Wertecharakter der Grundrechte und der Vorschrift des Art. 1 I GG die Rede war285, rekurriert das Gericht in den neueren Entscheidungen, wohl unter dem Eindruck der Kritik an der Werttheorie286, eher auf den objektivrechtlichen Gehalt der Grundrechte287. In der Literatur wurde derweil versucht, die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu systematisieren. Ungeachtet aller Unterschiede im Detail ergibt sich dann folgendes Bild288: Zum Tatbestand der Schutzpflicht gehört, dass von einem Dritten eine Gefahr für ein grundrechtlich geschütztes Gut ausgeht. Die Rechtsfolge ist dann, dass der Staat die Gefahr abzuwehren hat: Er muss die Freiheit des Dritten beschränken, um das Opfer zu schützen289. Hierbei sind gewisse einschränkende Prinzipien zu beachten; insbesondere steht dem Staat hinsichtlich seiner Aufgabenerfüllung ein Ermessen zu. Schon bei dieser ersten Erfassung der Struktur der Schutzpflicht wird deutlich, dass sie sich nicht ohne wesentliche Modifizierungen auf den hier zu untersuchenden Fall übertragen lassen wird. Insbesondere liegt bei staatlichem Paternalismus kein Dreiecksverhältnis vor, sondern Störer und Opfer sind personenidentisch. Diese Tatsache reicht aber für sich genommen nicht aus, um die Unanwendbarkeit der Schutzpflicht auf die Paternalismusproblematik zu begründen, denn sie spiegelt lediglich eine Besonderheit des paternalistischen Grundrechtseingriffs wider: So wie der Staat in diesem Fall nicht zum Schutz Dritter oder der Allgemeinheit eingreift, so schützt er bei der Ausübung seiner Schutzverpflichtung den Betroffenen nicht vor Dritten, sondern vor sich selbst. Es liegt auf der Hand, dass derjenige, der Paternalismus allgemein ablehnt, erst recht keine staatliche Pflicht zum aufgedrängten Schutz annehmen kann290. Die
285
Vgl. etwa BVerfGE 39, 1 (41). s. oben A. I. 287 Vgl. Isensee, in: HdStR V, § 111, Rn. 80; Stern, Staatsrecht III/1, 942 f.; jeweils m. w. N. Zu den Auffassungen in der Literatur s. Klein, NJW 1989, 1633 (1635 f.). 288 Vgl. Isensee, ebd., Rn. 88 ff.; Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 36 ff. 289 Das Prinzip lautet also „Schutz durch Eingriff“; vgl. dazu den gleichnamigen Aufsatz von Wahl/Masing, JZ 1990, 553 (556). 290 Deutlich unterscheidend Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 228 ff. Dagegen lesen sich Isensees Ausführungen, in denen er die Selbstgefährdung von der Schutzpflicht ausnehmen will, teilweise eher als Ablehnung des staatlichen Rechts zum Einschreiten. Beim Selbstmord soll dann allerdings auf einmal nicht nur das Recht, sondern die Pflicht zum Eingreifen bestehen, weil der Staat die unverzichtbare Menschenwürde des Betroffenen im Rahmen seiner „Grundrechtsfürsorge“ zu wahren habe. Das habe aber „[m]it der grundrechtlichen Schutzpflicht . . . nichts gemeinsam“ (Isensee, in: HdStR V, § 111, Rn. 114 f.). Leider wird aber aus den Ausführungen Isensees nicht deutlich, wo der Unterschied zwischen einer Pflicht zur Grundrechtsfürsorge und einer Pflicht zum Grundrechtsschutz liegen soll, und warum diese Unterscheidung so beachtliche Konsequenzen in der rechtlichen Beurteilung mit sich bringen soll. 286
C. Paternalismus als staatliche Pflicht?
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Möglichkeit einer grundrechtlichen Schutzpflicht ist aber grundsätzlich eröffnet, wenn man eine Befugnis des Staates zu paternalistischem Schutz annimmt. Die Vorstellung, dass das Grundgesetz in seinem Grundrechtsteil den Staat zu einem paternalistischen Verhalten verpflichten sollte, mag abwegig erscheinen. Bevor man jedoch voreilige Aussagen über die Unmöglichkeit einer solchen Schutzpflicht macht, sollte man sich einmal die Fälle vor Augen führen, in denen eine solche nicht sehr fernliegend ist: die Fälle Minderjähriger und Geisteskranker. Isensee erwähnt das ausdrücklich in Art. 6 II 2 GG geregelte staatliche Wächteramt über die Ausübung des elterlichen Erziehungsrechts291. Hier scheint zwar auf den ersten Blick eine Dreieckskonstellation vorzuliegen: Im Interesse des Kindes wird das Elternrecht eingeschränkt. Es ist jedoch zu beachten, dass auch die Kinder selbst Grundrechtsträger sind; jede staatliche Maßnahme, die sie in ihrer Freiheit beeinträchtigt, greift daher auch in ihr allgemeines Persönlichkeitsrecht ein292. Man darf wenig Zweifel daran haben, dass das Bundesverfassungsgericht auch dann keine Skrupel gehabt hätte, eine staatliche Pflicht zum (auch paternalistischen) Schutz der Minderjährigen zu konstruieren, wenn es nicht die ausdrückliche Vorschrift des Art. 6 II 2 GG vorgefunden hätte. Eine solche Pflicht lässt sich mit der Notwendigkeit des Schutzes und der Förderung der gesunden Entwicklung der Minderjährigen begründen – es kann nicht angehen, Minderjährige, die keine Eltern oder Verwandten haben oder deren Erziehungsberechtigte versagen, einfach sich selbst zu überlassen293. Ähnlich verhält es sich bei Geisteskranken: Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts muss der Staat Mitbürgern, die wegen körperlicher oder geistiger Gebrechen an ihrer persönlichen oder sozialen Entfaltung gehindert und außerstande sind, sich selbst zu unterhalten, soziale Hilfe gewähren. „Die staatliche Gemeinschaft muss ihnen jedenfalls die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein sichern und sich darüber hinaus bemühen, sie soweit möglich in die Gesellschaft einzugliedern, ihre angemessene Betreuung in der Familie oder durch Dritte zu fördern sowie die notwendigen Pflegeeinrichtungen zu schaffen.“294 Es dürfte kein Zweifel bestehen, dass bei geistig Behinderten, die die Fähigkeit zur Selbstbestimmung nicht oder nicht in ausreichendem Maße besitzen, damit auch paternalistische Maßnahmen zu den Pflichten des Staates gehören. 291
Isensee, ebd., Rn. 78. s. oben B. II. 1. b) aa). 293 Das heißt natürlich nicht, dass der Wille Minderjähriger keine Beachtung finden soll, ganz im Gegenteil: Es wurde bereits dargelegt, dass dem Entscheidungsrecht der Minderjährigen mit zunehmender Reife auch größere Bedeutung beizumessen ist (s. oben B. II. 1. b) aa)). Nur kann der Wille Minderjähriger nicht alleiniger Maßstab sein. Vgl. zum Ganzen auch OLG Bamberg, FamRZ 1989, 890 (891) m. w. N. aus der Rechtsprechung. 294 BVerfGE 40, 121 (133); zur Befugnis zur paternalistischen Bevormundung Geisteskranker vgl. auch BVerfGE 58, 208 (224 ff.) und oben B. II. 1. b) aa). 292
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3. Kap.: Die Rechtfertigung von Paternalismus
Diese beiden Beispiele ersetzen keine dogmatische Herleitung einer paternalistischen Schutzpflicht, können aber die Problematik aufzeigen, die aus einer vollständigen Ablehnung einer solchen folgen würde. Der Gedanke, der in diesen Fällen die Bejahung einer Schutzpflicht nahe legt, ist, dass der Staat eine Verantwortung zumindest für die Menschen hat, die sich selbst nicht helfen können, weil sie entweder – wie im Fall von Minderjährigen – die nötige Reife noch nicht erlangt haben oder – wie bei Geisteskranken – die geistigen Voraussetzungen für ein selbstbestimmtes Leben einfach nicht mitbringen. Wenn das allgemeine Persönlichkeitsrecht dem Einzelnen aus Respekt vor seiner Persönlichkeit gewährt wird, dann ist es nur folgerichtig, dieses Recht dann durch eine entsprechende Schutzpflicht zu verstärken, wenn auf andere Weise seine Persönlichkeit nicht respektiert werden kann – man respektiert Geisteskranke nicht dadurch, dass man sie ihrem Schicksal überlässt, sondern durch Fürsorge und Pflege. Hier zeigt sich wiederum die Notwendigkeit, das allgemeine Persönlichkeitsrecht teleologisch auszulegen und auch einzuschränken295. Wer die Möglichkeit ablehnt, das allgemeine Persönlichkeitsrecht nach seinem Sinn und Zweck zu deuten und zu beschränken, der kann nicht einmal erklären, warum der Staat auch nur befugt sein soll, für Geisteskranke zu sorgen. Wer aber die teleologische Methode akzeptiert, für den liegt es nahe, dann nicht nur eine staatliche Befugnis, sondern auch eine Schutzpflicht anzunehmen. Denn wenn sich das Grundgesetz in Art. 2 I i.V. m. Art. 1 I um die Persönlichkeit des Einzelnen sorgt, dann kann es nicht angehen, die Entscheidung über das „Ob“ der Betreuung der Legislative zu überlassen. Ein effektiver Schutz wird nur erlangt, wenn das Grundgesetz selbst die angemessene Maßnahmen zum Schutz der Betroffenen einfordert. Damit ist eine Schutzpflicht zumindest für die Fälle hergeleitet, in denen die Betroffenen selbst nicht in der Lage sind, für sich zu sorgen; dies betrifft vor allem die Fälle von Geisteskranken und Minderjährigen, wobei im letzteren Fall die Spezialvorschrift des Art. 6 II 2 GG eingreift. Wie sieht es in den anderen Fällen aus? Muss der Staat paternalistisch Gurtpflichten erlassen oder Suizide verhindern? Diese Fälle zeichnen sich dadurch aus, dass sich die Betroffenen zwar integritätswidrig verhalten, aber ihnen ihre Entscheidungen durchaus als freiwillig zuzurechnen sind296. Es sprechen dann zwei Erwägungen gegen eine staatliche Schutzpflicht: Zum ersten ist auch für die klassische Schutzpflicht im Dreiecksverhältnis anerkannt, dass sie nur subsidiär eingreift, wenn dem Betroffenen Selbsthilfe nicht möglich oder zumutbar ist297. Wer aber seinen Sitzgurt nicht benutzt, der handelt freiwillig, und insoweit ist ihm für sein Verhalten, sofern es integritätswidrig ist, auch ein Vorwurf zu machen. Den Staat in die 295
s. dazu oben III. 3. b) bb). s. oben II. 2. b) bb) und III. 2. 297 Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 245 f.; Isensee, in: HdStR V, § 111, Rn. 90, 142 f.; ähnlich Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 92. 296
C. Paternalismus als staatliche Pflicht?
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Pflicht zu nehmen, integritätswidriges Verhalten seiner Bürger zu unterbinden, würde in den Fällen zu weit gehen, wo es die Betroffenen selbst sind, die sich durch vorwerfbares Verhalten in Probleme bringen – der Staat hat durch das Grundgesetz nicht die Aufgabe zugewiesen bekommen, den „Aufpasser“ über die Bürger zu geben, sondern das Grundgesetz stellt in seinen Mittelpunkt die Eigenverantwortlichkeit der Menschen. Wenn der Staat die Möglichkeit hat, in den Fällen, wo der Einzelne seine Lebenspläne durch Unbedachtheiten gefährdet, schützend einzugreifen, so sollte das als legitime Option des besorgten Staates, und nicht als Ausfluss einer umfassenden Pflicht zur Förderung des Wohlergehens der Bürger verstanden werden. Mit diesem Gedanken verwandt ist der zweite Einwand. Im Rahmen der Schutzpflichtenlehre ist der Staat normalerweise nur zum „Ob“ des Schutzes verpflichtet, nicht aber zum „Wie“, solange der Schutz effektiv ist298. Teilweise wird auch von einer Verhältnismäßigkeitsprüfung299 oder einem Untermaßverbot300 gesprochen, der Einschätzungs- und Ermessensspielraum des Gesetzgebers betont301 oder nur eine Evidenzkontrolle gefordert302. Bei dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht geht es um den Schutz der Persönlichkeit des Einzelnen. Dieses Ziel wird durch den Schutz zweier Komponenten erreicht, nämlich der Entscheidungskomponente und der Integritätskomponente. Da das Grundgesetz von der Freiheit der Entscheidung ausgeht und diese als Abwehrrecht schützt, muss die Grundrechtsinterpretation zwar festlegen, wie intensiv der Gesetzgeber die Entscheidungsfreiheit beschränken darf; es gibt aber keinen Grund, auch das Gewicht der Integritätskomponente verfassungsrechtlich zu zementieren, solange im Ergebnis ein ausreichender Persönlichkeitsschutz gewährleistet ist303. Der Gesetzgeber muss entscheiden, ob er ein gesellschaftliches 298
Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 261. Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, 110. 300 BVerfGE 88, 203 (254); Holoubek, Grundrechtliche Gewährleistungspflichten, 277 ff., der diesem allerdings neben dem Übermaßverbot keine eigenständige dogmatische Bedeutung beimisst; Ipsen, Staatsrecht II, Rn. 93; Isensee, in: HdStR V, § 111, Rn. 90; Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 215 ff.; zweifelnd Dreier, in: Dreier, GG, Rn. 64 vor Art. 1; ablehnend Bumke, Der Grundrechtsvorbehalt, 78 f.; Denninger, FS Mahrenholz, 561 (566 f.); Hain, DVBl. 1993, 982 (982 ff.). Kritisch zur Anwendung des Prinzips im Abtreibungsfall Hermes/Walther, NJW 1993, 2337 (2339 f.). 301 BVerfGE 79, 174 (201 f.); Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Rn. 30 vor Art. 1 und Art. 2, Rn. 71; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 92; Pietrzak, JuS 1994, 748 (752); Sachs, in: Sachs, GG, Art. 2, Rn. 30; Stern, Staatsrecht III/1, 950 f.; Wahl/Masing, JZ 1990, 553 (558). 302 BVerfGE 56, 54 (81); Hesse, FS Mahrenholz, 541 (553 ff.). 303 Wie dargelegt, fehlt es an einem solchen ausreichenden Schutz, wenn es der Gesetzgeber unterlässt, Geisteskranke zu ihrem eigenen Besten schützen. Denn bei Geisteskranken tritt aufgrund ihrer Verfassung die Entscheidungskomponente so weit in den Hintergrund, dass staatlicher Respekt vor Entscheidungen nicht mehr zum Persönlichkeitsschutz ausreicht. 299
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3. Kap.: Die Rechtfertigung von Paternalismus
Klima schaffen möchte, das mehr auf Eigenständigkeit und Eigenverantwortung setzt und deshalb dem Einzelnen in jedem Fall zumutet, die Konsequenzen seiner freiwilligen Handlungen zu tragen, oder ob er ein Modell favorisiert, in dem die Gemeinschaft in gewissem Umfang auch paternalistisch Verantwortung für das Wohlergehen des Einzelnen übernimmt. Dem grundrechtlichen Auftrag, die Persönlichkeit und Persönlichkeitsentwicklung des Einzelnen zu schützen, kann der Gesetzgeber auf beiden Wegen nachkommen; insofern hat ihm das Verfassungsrecht keine Vorgaben zu machen.
Zusammenfassende Thesen 1. Unter staatlichem Paternalismus versteht man ein Verhalten des Staates, das den Zweck hat, dem Einzelnen Schutz aufzuzwingen, und zwar unabhängig davon, ob dieser Schutz erwünscht ist oder nicht. Die Frage an das Verfassungsrecht ist, inwieweit ein solcher aufgedrängter Schutz mit dem Grundgesetz vereinbar ist. 2. In der Philosophie ist der Essay „Über die Freiheit“ von John Stuart Mill aus dem Jahr 1859 grundlegend für die Paternalismusdiskussion geworden. Mill meint, auf utilitaristischer Basis einen fast vollständigen Ausschluss von Paternalismus begründen zu können. Die genaue Betrachtung von Mills Gedanken zeigt jedoch, dass er seinen utilitaristischen Ansatz nicht konsequent durchhält. Vielmehr deutet sich bei ihm schon der erst in den letzten Jahrzehnten ins Zentrum der Diskussion gerückte Konflikt zwischen dem rechtebasierten und dem utilitaristischen Denken an. Als moralisches Recht gegen den Staat, das vor Paternalismus schützt, kommt ein Recht auf Autonomie in Betracht. Der bekannteste Befürworter eines solchen Rechts ist Feinberg, der es in Analogie zum Souveränitätsrecht der Staaten entwickelt. 3. Diese philosophische Ausgangslage führt zu der Frage, ob es im Grundgesetz ein Recht gegen Paternalismus gibt. In Betracht kommt hier das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 I i.V. m. 1 I GG. 4. Entscheidende Weichenstellung für die Bestimmung des Schutzbereichs des Persönlichkeitsrechts ist die Abgrenzung zum allgemeinen Freiheitsrecht. Eine Abgrenzung in dem Sinne, dass das Persönlichkeitsrecht das „Sein“ im Gegensatz zum „Tun“ schützen soll, ist abzulehnen. Vielmehr ist davon auszugehen, dass das Persönlichkeitsrecht im Kern ethische Positionen von hoher Präferenz schützt; man kann auch von dem Schutz der Selbstverwirklichung sprechen. Das bedeutet, dass der Einzelne das Recht hat, Fragen, die sein gutes Leben in herausgehobenem Maße betreffen, selbst zu entscheiden. Hierzu gehören in erster Linie der Bereich der Sexualität und des Berufs, wobei beide teilweise durch die spezielleren Art. 6 bzw. 12 GG geregelt werden, und der Schutz der Selbstdarstellung. Flankiert wird dieser Schutz durch den Schutz der inneren und äußeren Voraussetzungen der Selbstverwirklichung. Die inneren Voraussetzungen erfassen die Selbstfindung, also den inneren Prozess, der zum Verständnis der eigenen Persönlichkeit führt. Dazu gehört beispielsweise das Vorhandensein eines privaten Rückzugsraums. Die äußeren Voraussetzungen der Persönlichkeitsentfaltung sind betroffen, wenn dem Einzelnen durch den
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Zusammenfassende Thesen
Staat solche Belastungen auferlegt werden, dass er in seinen Möglichkeiten der Persönlichkeitsentfaltung erheblich eingeschränkt ist. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn Minderjährige hochverschuldet in die Volljährigkeit entlassen werden; auch das informationelle Selbstbestimmungsrecht gehört in diesen Bereich. 5. Der Selbstmord wird nicht nur durch das allgemeine Freiheitsrecht, sondern auch durch das Persönlichkeitsrecht geschützt. Das folgt daraus, dass in der Entscheidung, sein Leben zu beenden, eine ethische Aussage von höchster Präferenz liegt, nämlich, dass das eigene Leben jetzt zu Ende gehen soll. 6. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht schützt auch vor staatlichem Paternalismus. Es beinhaltet die Autonomie im engeren Sinne, also das Recht, über alle Belange, soweit sie ausschließlich einen selbst betreffen, auch selbst entscheiden zu können. Die Autonomie i. e. S. hat ihre Wurzeln im Selbstverständnis des Einzelnen, der den Anspruch an sich stellt, sein Leben eigenverantwortlich zu führen. Daher drückt sich in ihr eine ethische Position von hoher Präferenz aus; sie gehört strukturell zur Selbstverwirklichung. 7. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht schützt die Autonomie i. e. S. insoweit absolut, als eine Einschränkung nicht im Rahmen der Verhältnismäßigkeit unter Berufung auf den so erzielten Schutz gerechtfertigt werden kann. Das Argument, dass der Einzelne seine Freiheit „falsch“ nutze, ist unter dem Grundgesetz nicht zulässig. Das Grundrecht auf Autonomie i. e. S. entspricht daher in seiner Struktur einem moralischen Recht gegen Paternalismus. 8. Der Eingriff in die Autonomie i. e. S. kann nicht durch ein Verständnis der Grundrechte als objektive Werte gerechtfertigt werden. Das liegt zum einen an der materiellen Widersprüchlichkeit eines solchen Ansatzes, der von der Notwendigkeit eines „einigenden Bandes durch gemeinsame Werte“ ausgeht. Solche gemeinsamen Anschauungen sind zumindest in Bezug auf konkrete moralische Fragen in einer pluralistischen Gesellschaft weder erreichbar noch erstrebenswert. Zum anderen liegt dem Grundgesetz kein solches Verständnis der Grundrechte zugrunde; es geht dem Grundgesetz nicht um Einigkeit durch Konformität, sondern um Einigkeit durch gegenseitigen Respekt in Pluralität. 9. Aus ähnlichen Gründen ist auch eine Berufung auf die Menschenwürde zur Rechtfertigung von paternalistischen Eingriffen etwa durch Peepshow- oder „Big Brother“-Verbote nicht möglich. Hier wird zudem nicht einmal ein relevanter Schaden für die Betroffenen nachgewiesen. Auch der Gedanke der Freiheitsmaximierung kann nicht zur Rechtfertigung von Paternalismus herangezogen werden, weil darauf die gegen die objektive Werttheorie vorgebrachten Einwände ebenfalls zutreffen. Ähnliches gilt für das Sittengesetz. Das Sozialstaatsprinzip kann nicht herangezogen werden, weil es als unbestimmter Rechtsbegriff nicht in einer Weise ausgelegt werden darf, die den übrigen Wertungen der Verfassung widerspricht.
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10. Diese juristischen Ergebnisse finden teilweise eine Bestätigung in der Philosophie Ronald Dworkins. Es muss in Fällen von kritischem Paternalismus, also solchem, der sich gegen gefestigte Überzeugungen wendet, verneint werden, dass durch ein Aufzwingen äußerer Werte das Leben der Betroffenen überhaupt verbessert werden kann. Vielmehr kommt es bei Fragen des guten Lebens stets auch auf die richtige Handlungsmotivation an; diese bleibt aber bei allen „objektiven“ Ansätzen stets außen vor. 11. Im Straf- und Zivilrecht finden sich jeweils zwei große Bereiche zur Zurechnung von Willensäußerungen zu einer Person. Zum einen geht es bei der Schuld-, Geschäfts- und Deliktsfähigkeit darum, unter welchen Voraussetzungen jemand überhaupt verantwortlich handeln kann; zum anderen um die Frage, welche Anforderungen an die Eigenverantwortlichkeit einer Selbstschädigung zu stellen sind. Es lässt sich beobachten, dass tendenziell für den ersten Bereich nur sehr niedrige Anforderungen gestellt werden, dagegen im zweiten Bereich schon geringe Willensmängel die Eigenverantwortlichkeit ausschließen sollen. 12. In der Verfassungsrechtslehre gibt es zu dieser Zweiteilung keine Parallele; vielmehr wird angenommen, dass Eigenverantwortlichkeit in allen Fällen mit Ausnahme von Minderjährigen und Geisteskranken gegeben ist. Dieser Ansatz steht aber im Widerspruch zu der einhelligen Annahme, so genannte Appellselbstmörder dürften gerettet werden, da sie ihren Tod nicht „wirklich“ wollten. Der Schutz der Geisteskranken kann dagegen dadurch gerechtfertigt werden, dass der Schutz der Autonomie nur dann überhaupt Sinn macht, wenn eine tatsächliche Fähigkeit zur Selbstbestimmung tatsächlich vorhanden ist. 13. In der politischen Philosophie gibt es im Wesentlichen drei Ansätze, Paternalismus auf Basis eines angenommenen Rechts auf Autonomie zu rechtfertigen. Der erste, vertreten von G. Dworkin, Rawls und Murphy, stellt darauf ab, ob die selbstgefährdende Handlung vernünftig ist. Feinberg hält Eingreifen nur bei unfreiwilligen Gefährdungen für gerechtfertigt, wobei er überzeugend darlegt, dass insbesondere in den Fällen, in denen sich der Betroffene aus Nachlässigkeit selbst gefährdet, stets volle Freiwilligkeit anzunehmen ist. Kleinig will die Entscheidung zur Selbstgefährdung an der Integrität des Betroffenen messen, also fragen, ob diese gegen die eigenen Werte und Lebenspläne des Betroffenen verstößt. 14. Kleinigs Integritätsansatz bricht mit der These, dass der Respekt vor einer Person stets mit der Achtung der Entscheidungen dieser Person gleichzusetzen ist. In philosophischer Hinsicht ist dies eine attraktive Neuinterpretation der liberalen Grundaussage, dass die Individualität des Einzelnen zu achten ist. Es stellen sich jedoch zwei Probleme. Zum einen muss berücksichtigt werden, dass in einer freien Entscheidung ein von dem Inhalt der Entscheidung unabhängiger Wert liegt. Zum anderen erfordert der Integritätsansatz von dem Gesetzgeber
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eine schwierige Interpretationsleistung; man könnte daher einwenden, dass dieser Ansatz zu große Missbrauchsrisiken berge. 15. Ein Rationalitätserfordernis lässt sich unter dem Grundgesetz nicht rechtfertigen, da ein solches dem Aufzwingen eines äußeren Wertes gleichkommt. Dagegen kann ein Eingriff in die Autonomie i. e. S. durch den Schutz der Integrität des Betroffenen gerechtfertigt werden, da der Maßstab hier nicht fremde, sondern die eigenen Werte des Betroffenen sind. Ein solcher Ansatz wendet auch nicht in unzulässiger Weise den objektiven Grundrechtsgehalt des allgemeinen Persönlichkeitsrechts gegen die subjektive Freiheitsgewährleistung, sondern nimmt nur eine teleologische Begrenzung des Entscheidungsschutzes vor, wie sie in anderem Zusammenhang – etwa beim Schutz Geisteskranker – unproblematisch akzeptiert wird. 16. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeit ist abzuwägen zwischen dem Recht des Betroffenen, selbst über die Gefährdung entscheiden zu können, und dem legitimen Interesse des Staates, die Integrität des Betroffenen zu schützen. Dabei gewinnt der Entscheidungsaspekt eine umso größere Bedeutung, je wichtiger das in Frage stehende Verhalten für die Selbstverwirklichung ist. Der Integritätsaspekt gewinnt an Gewicht, je größer das Missverhältnis zwischen den Werten und Lebensplänen des Betroffenen und dem drohenden Schaden ist. 17. Das Problem, dass in einer freien Entscheidung ein unabhängiger Wert liegt, wird bei dieser Lösung dadurch berücksichtigt, dass der Entscheidungsaspekt als Ausgangspunkt des grundrechtlichen Schutzes im Zentrum der Abwägung steht. Die als problematisch angesehene Missbrauchsgefahr kann in Kauf genommen werden, da das Bundesverfassungsgericht als neutrale Instanz den Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts vor möglichen exzessiven paternalistischen Aktivitäten des Gesetzgebers gewährleistet. 18. Im Ergebnis sind unter dem Grundgesetz paternalistische Vorschriften zulässig, die den Einzelnen zwingen, bei gefährlichen Aktivitäten wie Auto- oder Motorradfahren gewisse Sicherheitsstandards zu beachten. Dagegen können trotz der erheblichen Gesundheitsgefahren allgemeine Rauch- oder Alkoholverbote nicht paternalistisch gerechtfertigt werden, wohl aber weniger einschneidende Maßnahmen wie Altersgrenzen, Verteuerungen oder die Abgabe in lizenzierten Geschäften. Die Rettung von Appellselbstmördern ist zulässig. Nicht statthaft ist dagegen moralischer Paternalismus, der das Ziel hat, die Betroffenen in sittlicher Hinsicht zu bessern. 19. Eine staatliche Pflicht, paternalistisch zu handeln, gibt es unter dem Grundgesetz nur in den Fällen, in denen die Betroffenen zu einem selbstbestimmten Leben nicht in der Lage sind, also insbesondere bei Minderjährigen und Geisteskranken. In allen anderen Fällen ist es die Aufgabe des Gesetzgebers, darüber zu entscheiden, inwieweit er von seinem Recht zu paternalistischer Gesetzgebung Gebrauch machen will.
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Sachverzeichnis Abenteurer 166, 180, 192 ff., 197 f. Abstammung 80 f. Abtreibung 61, 76, 112 f. Additive view 126, 129 Alkohol 117, 209 ff. Appellselbstmord 150, 153 f., 176, 199 ff. Aufklärung 28, 141, 160, 190 f., 198, 202, 208, 212 Ausreisefreiheit 47 Autonomie – im engeren Sinne (i. e. S.) 95 ff., 100 ff., 106, 154 – im weiteren Sinne (i. w. S.) 95 Berufsfreiheit 45 Big Brother 12 f., 116 ff., 203 Bilanzselbstmord 150, 152, 202 f. Brückenfall 35, 190 Challenge model of ethical value 125 ff. Deliktsfähigkeit 136, 140 f., 143 f. Ehe 47, 68, 72 ff., 123 Ehre 47, 56 f., 59, 85 Eigenverantwortlichkeit 67, 98, 136, 138 f., 143, 153 f., 178, 181, 183, 217 Einwilligung 116, 118, 136 ff., 140 ff. Elfes-Entscheidung 47, 49 Enforcement of morality 20, 35 Entscheidungskomponente 183, 186, 189, 197, 202, 217 Equal concern and respect 38 f. Erziehung 22 f., 171 Erziehungsrecht 27, 146, 215
Ethisch-existenzielle Selbstbestimmung 63, 67, 148 Externe Präferenzen 39 Familie 47, 68, 73 f., 168, 180, 182, 210, 215 Freiheit der Person 27 Freiheitsmaximierung 120 f., 123 ff. Freiwilligkeit 17, 26, 94, 107, 142, 152 ff., 158, 164 ff., 178 f., 191, 204 f. Freizügigkeit 47 Geisteskranke 27, 29, 34 f., 93, 105, 135, 145, 153, 155 ff., 161, 184 f., 192, 215 f. Geschlechtsumwandlung 77 Gewissensfreiheit 47, 67 ff., 104 Glaubensfreiheit 47, 69 Grundrechtsmündigkeit 145 ff. Gurtpflicht 13 ff., 126, 129, 160, 191 f., 194 ff., 202, 207, 216 Handlungsorientierungen – ethische 63 f., 66, 69 f., 72 f. – moralische 63, 66, 68 f., 71 ff. – pragmatische 63 f., 72 Harm principle 31, 33 Hochbegabte 155 ff. Impact model of ethical value 125 ff. Individualität 32 f., 38, 67, 80 f., 171 f., 181 ff. Informationelle Selbstbestimmung 83, 88 ff. Integritätskomponente 178, 183, 186 f., 197 f., 201 f., 217
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Sachverzeichnis
Integritätsschutz 58, 181, 202 – und Aktivitätsschutz 60, 182 Interessen Dritter bzw. der Allgemeinheit 12, 24 ff., 30, 33, 42, 50, 95, 97, 146, 169, 193, 195 ff., 211 Intimsphäre 54, 118 Jugendliche 27 f., 32, 34, 136, 140, 146, 148 f., 152, 205 ff., 212 Kinder 22 f., 27 f., 32, 34, 135 f., 140, 144, 161, 205, 215 Kommunikationsgrundrechte 47 Konzept – Konzeption 112 Lebach-Entscheidung 82 Leben, Recht auf 94, 111 Lebensgemeinschaft – gleichgeschlechtliche 75 – nichteheliche 74 f. Lebenspartnerschaft 75 Legal paternalism 11 Liberalismus 16, 18 f., 125, 172 f., 175, 194 Lüth-Entscheidung 108 f. Maternalismus 23 Mehrere Gesetzeszwecke 14 Meinungsfreiheit 32, 40, 45, 102, 113 Meistbetroffenheit 73 Menschenwürde 30, 46, 49 ff., 59, 67, 75, 108, 116 ff., 129 ff., 181 – als interpretationsleitendes Prinzip 53 Minderbegabte 155 ff. Minderjährige 27, 29, 83, 145 ff., 192, 208, 215 f. Missbrauchsmöglichkeiten 164, 174 Moralische Rechte 26, 38, 43 ff., 101 ff. Moralkodex 130 Moralvorschriften 21, 189 Nichtwissen, Recht auf 81 Normalbegabte 155 ff.
Notwehr 113 Nutzenmaximierung 122 Objektive Dimension der Grundrechte 108 ff., 129 Parentalismus 23 Paternalismus – direkter 15 f. – Ersatz- 126 f. – gemischter 15 – harter 16 f. – im Ein-Personen-Verhältnis 16 – im Mehr-Personen-Verhältnis 16 – indirekter 15 f. – kritischer 126 – kultureller 127 – moralischer 174, 189, 203 – Rechts- 11 – reiner 15 – unreiner 15 – weicher 16 f. Paternalismusformen 15 Paternalismusfreiheit, allgemeine 95 f., 100 Peepshow 12 f., 45, 116 ff., 129, 203 Perfectly voluntary choice 166 Persönlichkeitsentfaltung 49, 60, 78, 82 f., 98, 184 Präferenzentscheidungen – schwache 64, 67, 70 – starke 64 ff., 70, 72 Presumption of nonvoluntariness 167 Priorität ethischer Integrität 128 Privatsphäre 46 f., 58 f., 61 f., 76, 78 ff., 85 ff. Rahmenargument 116 ff. Rauchverbot 12, 14 ff., 23, 99 f., 121 f., 208 Rechtebasierter Ansatz 26, 38 ff., 43 f. Rechtsgüterschutz 143, 149, 154 Rechtspaternalismus 11
Sachverzeichnis Regelutilitarismus 37, 40 Reiten im Walde 49 ff. Relativist conception 155, 157 Resozialisierung 82 Right to privacy 62 Schadensrisiko 187, 205 Schädigungsprinzip 32 Schleier des Nichtwissens 159 Schleyer-Urteil 213 Schuldfähigkeit 136, 141, 143 f. Schutzhelmentscheidung 28, 196, 199 Schutzpflicht 213 ff. Selbstdarstellung 59, 80, 82 ff. Selbstfindung 71, 78 ff., 85, 87 Selbstverletzung 136, 139 Selbstverwirklichung 73, 78, 90, 182 ff., 187, 192 Sexismus 23 Sexualität 13, 60 f., 68, 73 ff., 87, 98, 104 Sexualleben 13, 75 Sexualmoral 21 Sittengesetz 48, 52, 130 f. Sklavenfall/-beispiel 34 f., 120 f. Soraya-Entscheidung 85 f. Souveränitätsrecht 41, 101, 156 Sozialstaatsprinzip 27, 131 f., 148 Tagebuchentscheidung 54 Tagebuchführen 79
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Taubenfüttern 50 ff., 61, 94 Teleologische Interpretation 184 f., 216 Theorie der Gerechtigkeit 18, 158 f., 161, 163 Threshold conception 156 Toleranz 18, 20, 115, 120 Transsexuellenentscheidung 28, 67, 77 Typisierung 192 ff. Unbefangenheit der Kommunikation 56 Untermaßverbot 217 Urzustand 161, 163 f. Utilitarismus 32, 34 ff., 122 Verfassungsmäßige Ordnung 48, 51 f. Verhältnismäßigkeitsprinzip 51, 55, 95, 149 Vernünftigkeit 158 f., 161 f., 164 ff., 170, 174, 177 f. Wahrer Wille 150 f., 173 Wertphilosophie 109, 111 Werttheorie 111, 124, 179 f., 184, 214 Widerspruchsfreiheit 25 Willensmängel 105, 118, 136 f., 140, 143, 178, 188, 205 Wolfenden Report 20 Zwangsernährung 45 Zweckverbote 103