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German Pages 334 Year 1982
Strafrechtliche Abhandlungen Neue Folge · Band 45
Strafrechtlicher Gewaltbegriff und Staatsgewalt Von
Rainer Keller
Duncker & Humblot · Berlin
RAINER
KELLER
Strafrechtlicher Gewaltbegriff und Staatsgewalt
Strafrechtliche Abhandlungen • Neue Folge Herausgegeben von Dr. Eberhard Schmidhäuser ord. Professor der Rechte an der Universität Hamburg
in Zusammenarbeit mit den Strafrechtslehrern der deutschen Universitäten
Band 45
Strafrechtlicher Gewaltbegriff und Staatsgewalt
Von Dr. Bainer Keller
DUNCKER
&
HUMBLOT
/
BERLIN
Zur Aufnahme i n die Reihe empfohlen von Prof. Dr. Rolf-Peter Calliess, Hannover
Alle Rechte vorbehalten © 1982 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1982 bei Buchdruckerei Bruno Luck, Berlin 65 Printed in GermanyISBN 3 428 05112 2
Vorbemerkung Diese Arbeit habe ich i m Frühjahr 1980 abgeschlossen. Der Fachbereich Rechtswissenschaften der Universität Hannover hat sie als Dissertation angenommen. Spätere Veröffentlichungen wurden soweit möglich berücksichtigt. Die Herren Prof. Calliess und Prof. Haffke haben die Arbeit durch Anregung und K r i t i k gefördert. Herr Prof. Schmidhäuser hat sie i n die Reihe der strafrechtlichen Abhandlungen aufgenommen. Die Theodor und Helene Klüber Stiftung für Frieden und Lebenshilfe hat den Druck großzügig unterstützt. Ihnen allen danke ich. Hannover i m Januar 1982 Rainer Keller
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung
13
1. Erste Eingrenzung
13
2. Z u r Verbindlichkeit des Redens v o n Gewalt i m Straf recht . . .
14
3. Rechtliche u n d tatsächliche Relevanz des Begriffs strafbarer Gewalt
18
II. Arten der Gewalt
20
1. Prämissen
20
2. Verletzungsgewalt
21
3. Verletzungsgewalt u n d vermittelte Verkehrsformen
24
4. Instrumentelle u n d expressive Verletzungsgewalt
26
5. Strukturelle Gewalt; soziale und politische Bestimmung
27
6. Zwangsausübung
30
7. Staatliche Monopolisierung von Zwang u n d Freiheit?
31
III. Schutz und Wahrung von Freiheit durch Strafrecht 1 Verhältnis von Gewaltbegriff u n d Rechtsgut Freiheit i m Strafrecht .......
34
34
8
Inhaltsverzeichnis 2. Das Rechtsgut Freiheit i n herkömmlicher Sicht
35
a) Rechtgut u n d Freiheitsschutztatbestände 36 — b) E n t w i c k lung des Rechtsguts 38 — c) Negative Freiheit 41 — d) Positive Freiheit 41 — e) Relativierte Freiheit 45 — f) Neubestimmung des Verhältnisses von Gewalt u n d Freiheit 47 — g) Zusammenfassung 48 — h) Normative I m p l i k a t i o n e n des Freiheitsbegriffs i m Strafrecht 48 3. Z u einigen sozialen Zusammenhängen von äußerer Willensfreiheit
49
a) Das Wollen 49 — b) A r b e i t 50 —! c) Verkehrsformen: Sprache 51 — d) Freiheit u n d normierte Verkehrsformen 52 — e) Distanz, Annäherung, Regelverletzung 54 — f) Z w i schenergebnis 55 — g) Verkehrsformen: Tausch 55 — h) V e r einzelung, Zweckrationalität, Zerfall menschlicher Verkehrsformen 56 — i) Vereinzelung u n d Herrschaft 56 — k) Résumé 59 4. Zusammenhänge von Freiheit i n Straftatbeständen
60
a) Die Fragestellung: Freiheit als Substanzbegriff oder als Sammelbegriff 60 — b) Sexualdelikte 60 — c) Kindesentziehung 61 — d) Freiheitsberaubung 62 — e) Delikte i m p o l i t i schen System 62 — f) Raub 63 — g) Erpressung 67 — h) Zwischenergebnis 68 — i) Nötigung 69 — k) Freiheit als Sammelbegriff u n d funktionsdifferente Bestimmung des Gewaltbegriffs? 82 — 1) Zusammenfassung 84
IV. Entwicklung und bisherige Bestimmungen des Gewaltbegriffs . . . 1. Z u r historischen Entwicklung der Gewaltstraf barkeit
87 87
a) Einheit von Gewalt u n d Freiheit 88 — b) Gewalt u n d F r e i heit i m M i t t e l a l t e r 88 — c) Landfriedensordnungen 91 — d) Mögliche Funktionen des weiten Gewaltverbots 92 — e) Das crimen vis i m Absolutismus 96 — f) Bürgerliche H e r r schaft 100 2. Gewalt als K r a f t e n t f a l t u n g
103
a) Darstellung des Begriffs 103 — b) Wechsel der Gewaltbegriffe i n der Rechtsprechung 105 — c) K r i t i k der Unbestimmtheit des Begriffs 107 — d) Schutz der öffentlichen Sicherheit als Erklärung? 108 3. Gewalt als E i n w i r k u n g auf den Körper a) Darstellung des Begriffs 110 — b) K r i t i k der Rechtsprechung 115 — c) K r i t i k der L i t e r a t u r 116 — d) Das Berührungsverbot als E r k l ä r u n g des Begriffs? 122
110
Inhaltsverzeichnis 4. Dualismus von tatbestandlichem Gewaltbegriff u n d Hechtsgut Freiheit
124
a) Methodendualismus 126 — b) Dualismus von K r i m i n a l p o l i t i k u n d formaler Rechtsstaatlichkeit 129 — c) Verfassungsrechtliche Probleme des Dualismus 131 5. Bindings Gewaltbegriff 6. Monistische Konzeption von Gewaltbegriff schutz
135 und
Freiheits137
a) Naturalismus, Teleologie u n d Erfolgsorientierung 137 — b) K r i t i k des Vorrangs der Teleologie 143 — c) K r i t i k des Vorrangs des Erfolges 152 7. Gewalt als Zwangsausübung
155
a) Rechtsprechung 155 — b) L i t e r a t u r 160 — c) Sozialadäquater Freiheitsschutz 163 — d) Sozialadäquanz, Generalprävention, Konformismus 165 8. Freiheit als objektiver W e r t
166
a) Z u r Bedeutung von objektiven Werten 167 — b) Objektive Werte i m Strafrecht 170 — c) Methodische Probleme, A b l ö sung der Freiheit von historischer u n d sozialer W i r k l i c h keit 171 — d) Entsubjektivierung der Freiheit 175 — e) A u f lösung demokratischer Verfahren u n d Kompetenzen 178 — f) Auflösung des Gewaltmonopols u n d D i s k r i m i n i e r u n g 179 — g) Alternative zur Wertorientierung 182 — h) Fazit 183 9. Die Forderung nach materieller Gerechtigkeit
183
a) Selektivität 184 — b) Mehrdeutigkeit 184 — c) Soziale Gerechtigkeit 185 — d) Legalität u n d Gerechtigkeit 186 — e) Positivismus 187 — f) Vereinzelung 188 — g) Folgenorientierung 188 10. Soziale Zusammenhänge der Ausweitung des Gewaltbegriffs
192
a) Interventionismus 193 — b) Latenz der Strafgewalt 197 — c) Gefahrenkontrolle 199 11. Pragmatische Erwägungen a) M i l d e r u n g durch Anerkennung des Verbotsirrtums? 203 — b) Vergleich m i t Fahrlässigkeit u n d Unterlassung 204 — c) Vergleich m i t anderen Rechtsgebieten 206
203
10
Inhaltsverzeichnis 12. Vorschläge zur Einschränkung des weiten Gewaltbegriffs . . . a) Freiheitsschutz, Sozialadäquanz, Interesse (Haffkes satz) 207 — b) Andere Ansätze 212
207
An-
13. Zusammenfassung der K r i t i k
V. Bestimmung des Gewaltbegriffs 1. L e i t l i n i e n der Bestimmung
212
214 214
a) Reflexiver Freiheitsschutz 214 — b) Gewalt u n d Zwang 216 — c) Soziale Bedeutung der Gewalthandlung 217 — d) Fazit 220
2. Verletzungsgewalt
220
a) Gewalt u n d K o m m u n i k a t i o n (Calliess' Ansatz) 221 — b) Problematische Legitimation der Strafe 223 — c) Verletzung u n d Gefahr 225 — d) Die soziale Bedeutung der Verletzungshandlung 226 —< e) Gegenwärtige Gefahr 229 — f) Weitere Bestimmungen der Gefahr 231 — g) Einwände gegen die E i n beziehung der Gefahr 233 — h) Scheingefahr als Gewalt? 235
3. Können andere Beeinträchtigungen als Gewalt bewertet w e r den?
242
4. Eigentumsbeeinträchtigungen u n d Gewalt gegen eine Person
243
a) Z u m Sprachgebrauch 244 — b) Argumentation aus §§ 249 ff. 244 — c) Z u r Bestimmung der Gewalt gegen eine Person 246 — d) Systematische Probleme 248 — e) Fazit 249 5. Gewalt als Freiheitsberaubung u n d Gewalt gegen eine Person
249
a) Z u r sozialen Bedeutung der Freiheitsberaubung 249 — b) Gewalt gegen eine Person u n d Freiheitsberaubung 252 — c) Weitere Gründe f ü r die Einbeziehung 255 — d) Eingrenzungen 256
6. Gewalt durch Unterlassen?
257
7. Definition der Gewalt
261
Inhaltsverzeichnis
VI. Einzelprobleme des Gewaltbegriffs
11 262
1. Betäubung, E i n w i l l i g u n g u n d Probleme der Sexualdelikte
262
2. Gewalt gegen D r i t t e u n d Probleme der politischen Delikte ..
265
a) Rechtsprechung u n d L i t e r a t u r 265 — b) Eigene Lösung 267 — c) Besonderheiten der politischen Delikte 271 3. Straßenverkehrsdelikte
280
a) Gefährdungsvorsatz 280 — b) Gefahrkonstellationen 282 4. Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte
284
a) Der weite Gewaltbegriff bei § 113 284 — b) Der Gewaltbegriff der h. M. bei § 113 286 — c) Eigene Lösung 289 5. Gefangenenmeuterei
290
a) Reichweite des § 121 290 — b) Zusammenrottung 292 — c) Strafbarkeit der Selbstbefreiung? 294 — d) Anstaltsinterne Gewaltnötigung (ohne Ausbruchstendenz) 298 — e) Weiter Gewaltbegriff u n d Strafvollzug 299 — f) Zusammenfassung 299 6. Gewalttätigkeit
300
a) Gewalt u n d Gewalttätigkeit 300 — b) Rechtsprechung u n d L i t e r a t u r 301 — c) öffentliche Sicherheit als vorrangiges Rechtsgut? 304 — d) Bestimmung des Begriffs der Gewalttätigkeit 309
VII. Strafrechtlicher Gewaltbegriff und Staatsgewalt — Zusammenfassung
317
Literaturverzeichnis
320
I . Einleitung 1. Erste Eingrenzung Wenn einer den anderen verprügelt, ist das Gewalt. Aber auch, ohne ihn anzufassen, kann er ihn i n seiner Gewalt haben. Eine Idee, eine Ideologie oder die Verhältnisse können Gewalt über die Menschen erlangen, wenn die Menschen die Gewalt über sich selber verloren haben. Der Bereich dessen, was als Gewalt bezeichnet wird, hat zwei Zentren, die körperliche Aggression und das Machtverhältnis. Juristisch sind dafür die Bezeichnungen aktuelle, dynamische, personale Gewalt einerseits und andererseits statische, strukturelle, konstitutionalisierte Gewalt, Gewaltverhältnis gebräuchlich. Wenn ein Mensch einen anderen tötet oder verletzt, so w i r d das i m Strafrecht i n speziellen Tatbeständen erfaßt, die nicht den Terminus Gewalt enthalten, sondern genauere Bezeichnungen, wie »töten4, ,an der Gesundheit beschädigen 4 ,,körperlich mißhandeln'. Ob der strafrechtliche Terminus ,Gewalt' das gleiche meint oder mehr oder etwas ganz anderes, soll hier untersucht werden. Vorab ist klar: Die nach dem StGB strafbare Gewalt muß ein menschliches Verhalten, eine Tat sein, denn nur darauf beziehen sich die Straftatbestände. Nicht gemeint sein kann also „der stumme Zwang der Verhältnisse" (K.Marx), „the invisible hand" (Adam Smith); das Gewaltverhältnis ohne personalen Gewalthaber ist nicht strafbare Gewalt. Personale Gewaltverhältnisse jedoch, i n denen Menschen über andere Macht haben, sind i m StGB als ,Gewalt' erwähnt, z. B. die „Staatsgewalt", die „Gewalt- und Willkürherrschaft", die „Gewalt" von Fürsorgepersonen über die von ihnen Abhängigen 1 . Ohne als solche bezeichnet zu werden, sind auch noch andere personale Gewaltverhältnisse i m StGB thematisiert 2 . Z u bestimmen, was dabei i m einzelnen gemeint ist, ist nicht Ziel der vorliegenden Untersuchung. Erledigt ist damit das Problem der Gewaltverhältnisse freilich nicht, denn wer einen strafrechtlichen Begriff bestimmt, w i r k t allemal an einem Gewaltverhältnis mit. Was i n den verbleibenden sehr zahlreichen Gewaltstraftatbeständen gemeint ist, kommt i n allen sozialen Bereichen vor, vom Hochverrat 1
§§ 92, 223 b StGB. Z. B. §§ 170 b, 170 d, 174 ff., 176. §§ ohne Gesetzesangabe sind solche des StGB. 8
14
I. Einleitung
über Vergewaltigung und Raub bis zur Straßenverkehrsnötigung. Nach der tatbestandlichen Handlungsbeschreibung muß dabei Gewalt sich darauf richten, jemanden zu einem bestimmten Verhalten zu zwingen, i h n zu nötigen. Nur als Zwangsmittel ist »Gewalt4 i n diesen Vorschriften erwähnt. Sie muß m i t Zwang also i n irgendein Verhältnis gebracht werden; d. h. sie muß von Zwang auch unterschieden werden. Allerdings tendieren Strafrechtsprechung und Literatur dahin, Gewalt m i t Zwang annähernd zu identifizieren. Auch dann muß es sich aber um eine konkrete Zwangsausübung handeln. Die bloße Zwangsmöglichkeit, d. h. die Macht, das Gewaltverhältnis, genügt nicht 3 . 2. Zur Verbindlichkeit des Redens von Gewalt im Strafrecht Sozialwissenschaftliche Untersuchungen zum Thema Gewalt beziehen sich je nach dem Erkenntnisinteresse der Einzeldisziplin primär auf jeweils eines der beiden Bedeutungszentren des Wortes Gewalt. So war die frühere psychologische Aggressionsforschung vor allem an der dynamischen Gewalt des einzelnen, die Politologie vor allem an der institutionellen oder strukturellen Gewalt orientiert 1 . Die Friedensforschung beschäftigt sich m i t beiden Varianten. Dynamische, personale Gewalt und strukturelle Gewalt zusammenfassend w i r d hier Gewalt bestimmt als Beschränkung der aktuellen Selbstrealisierungsmöglichkeiten des Menschen2, letztlich als vermeidbarer Widerspruch zwischen einzelnem und Gesellschaft. Danach ist sehr vieles Gewalt. Neuere Definitionen des Begriffs Gewalt i m Strafrecht kommen der i n der Friedensforschung gefundenen Bestimmung nahe; sie bestimmen wie gesagt Gewalt i m wesentlichen als Zwangsausübung. Diese Nähe des strafrechtlichen zum sozialwissenschaftlichen Begriff ist erstaunlich, denn i m Strafrecht hat das Reden von Gewalt eine besondere Verbindlichkeit: die Strafe. M i t i h r ist ein Gewaltverhältnis hergestellt, das als physischer Zugriff aktualisiert wird, wenn der Verurteilte sich nicht fügt. I m Strafrecht ein Geschehen als Gewalt bezeichnen, kann bedeuten, es m i t Gewalt zu ahnden, unter Umständen m i t lebenslanger Freiheitsstrafe (§ 81). I n allen Gewaltstraftatbeständen ist Freiheitsstrafe angedroht. Die sozialwissenschaftliche Erkenntnis von Gewalt ist meist geleitet von dem Interesse, Gewalt zu beseitigen oder doch zu verringern, durch psychologische, organisatorische, sozialpolitische oder ähnliche Maß3 Das ist unbestritten. Vgl. die Differenzierung der Zwangsmittel »Abhängigkeitsverhältnis' u n d »Gewalt' i n § 108. 1 Kritisch zu dieser Arbeitsteilung K l . Horn, Gewalt u n d Aggression, S. 33. 2 Vgl. Galtung, Gewalt, Frieden, Friedensforschung, S. 57.
2. Z u r Verbindlichkeit des Redens von Gewalt i m Straf recht
15
nahmen 3 . Die strafrechtliche Erkenntnis von Gewalt ist orientiert an deren Zurückdrängung durch Strafgewalt. Deutlich w i r d das davon abweichende sozialwissenschaftliche Erkenntnisinteresse formuliert von Hacker: „Probleme, die nur m i t Gewalt gelöst werden können, müssen neu gestellt werden 4 ." Zwar können auch sozial wissenschaftliche Untersuchungen der Gewalt letztlich auf Beseitigung der Gewalt durch Gew a l t hinauslaufen 5 ; der Zusammenhang von Erkennen, Definieren und Handeln ist hier jedoch wesentlich lockerer als i m Strafrecht. Wer i n Anwendung des Strafrechts Gewalt definiert, hat wirkliche Definitionsgewalt. — Wenn dennoch auch das Strafrecht Gewalt aufheben soll, so darf der Strafjurist Gewalt nicht „bekämpfen", nicht durch Gewalt ersetzen. Vielmehr muß er sein eigenes Mittel, die Strafgewalt und die Funktionen und Bedingungen ihrer Anwendung, also das Recht im gesellschaftlichen Zusammenhang reflektieren, u m so die alternativenlose Unmittelbarkeit der Gewalt zu ersetzen durch ein anderes. I m Strafrecht versucht man, dem Problem i n zwei Schritten gerecht zu werden. Zunächst w i r d ungeachtet der Strafbarkeit ein sehr weiter tatsächlicher Bereich — neuerdings fast jede Zwangsausübung — als Gewalt erfaßt. Anschließend w i r d positiv festgestellt, welcher Zwang als M i t t e l zu Zwecken verwerflich ist oder besonders intensiv w i r k t 6 und deshalb rechtswidrig ist und der Reaktion der Strafgewalt bedarf. Durch die recht ungenauen Kriterien der Verwerflichkeit und Intensität entsteht „ f ü r jedermann ein strafrechtliches Interpretationsrisiko" 7 . U m privaten Zwang zu verhindern, w i r d die Drohung m i t der staatlichen Strafgewalt verallgemeinert. Man traut den Bürgern anscheinend kaum zu, dauerhaft vernünftig zusammenzuleben und Probleme gewaltlos zu regeln, aber zur Vernunft der Strafgewalt hat man grenzenloses Vertrauen. Ob damit der Zusammenhang von privater Gewalt und Strafgewalt hinreichend reflektiert ist, läßt sich bezweifeln. Immerhin ist i m Grundgesetz von Demokratie die Rede, damit w i r d der Vernunft der Bürger einiges zugetraut. Die Bestimmung strafrechtlicher Tatbestände ist orientiert an Zielen. Es sollen bestimmte ,Güter 4 geschützt werden. Der weite, die Strafgewalt entgrenzende Begriff privater Gewalt ist orientiert an einzelnen Subjekten, deren jedes, gerade w e i l es zunächst einzelnes ist, vorab das 8 Bei der Friedensforschung ist dieses Interesse i m Namen fixiert. Z u r Aggressionsforschung: Hacker, Aggression, Die Brutalisierung der modernen Welt, S. 15; vgl. auch Werbik, Theorie der Gewalt, S. 6. 4 A.a.O. 5 Vgl. Dencik, Plädoyer f ü r eine revolutionäre Konfliktforschung, S. 247 ff. • Z u m T e i l werden auch andere Generalklauseln, Güterabwägungen eingeführt, dazu später. 7 Wolf gang Naucke, Generalklauseln, S. 16.
16
I. Einleitung
»Gut4 der Freiheit besitzt. Sie zu schützen, soll das Ziel der Bestrafung von Gewalt sein. Diese Freiheit ist, wie man sagt, das Rechtsgut, welches geschützt werden soll und welches methodisch die Bestimmung des Gewaltbegriffs leitet, bzw. seine Unbestimmtheit legitimiert. Die Freiheit ist hier ein quasi naturgegebener Stoff, den die einzelnen als solche besitzen: Wille. Vom vereinzelten Willen aus ist es m i t Sicherheit nicht mehr möglich, Gewalt von anderen zwischenmenschlichen Beziehungen qualitativ zu unterscheiden. Der Wille ist immer beeinträchtigt. Wer einen anderen verprügelt, verübt danach ebenso Gewalt wie der Pazifist, der sich vor einen Panzer setzt, u m dessen Fahrer zum Halten zu veranlassen 8 . Unter dem Aspekt des vereinzelten Willens zerfallen alle Besonderheiten des zwischenmenschlichen Verkehrs, alles w i r d kausaler Zwang. Unterschiede sind nur quantitativ noch möglich. Bestimmte Grenzen der Strafgewalt sind so nicht zu gewinnen. Unter dem Aspekt der Vereinzelung ist es auch konsequent die Strafgewalt über die ganze Gesellschaft zu verhängen, denn der vereinzelte Wille ist regressiv. Die Willenssubjekte sind i n ihrer Vereinzelung hilflos oder aggressiv, können ein erträgliches Zusammenleben prinzipiell nicht organisieren. U m klarzustellen, was ,verwerflich' ist, muß stets die Strafgewalt i n Reserve stehen, wenn es nur vereinzelte Willenssubjekte gibt. Eine alternative Bestimmung der Gewalt müßte akzeptieren, daß Strafrecht sich nicht auf ,die Freiheit' unmittelbar beziehen darf, denn Freiheit ist Sache derer, die frei sein sollen. W i r d ihr Schutz dem Staat anvertraut, so sind die Bürger nicht mehr frei, denn der Staat bestimmt, was-Freiheit ist: „Schutz ist das Urphänomen von Herrschaft 9." Die Strafgewalt kann Rahmenbedingungen der Freiheit wahren. Deren erste ist die verbindliche Eingrenzung der Strafgewalt. Wer meint, hier werde Unterschiedenes — Freiheit zwischen den Bürgern und Freiheit vom Staat — unzulässig vermischt 10 , mag bedenken, daß die Vermischung der beiden Freiheiten gerade von der i m Strafrecht h. M. vorgegeben ist, indem ,die Freiheit 4 zwischen den Bürgern global dem Staat zur Bestimmung anvertraut wird 1 1 . Dann aber ist es angemessen, die beiden Freiheiten gemeinsam zu betrachten und zu fragen, was von der Freiheit bleibt, wenn der Staat sie qua Strafe definiert. Es ist zu berücksich8
Schönke / Schröder / Eser, Rn 10 vor § 234. Horkheimer, Vernunft u n d Selbsterhaltung, S. 98; Adorno, Negative D i a lektik, S. 213. 10 Meyer / Allfeld, Lehrbuch, S. 435 F n 2. 9
11 Das w a r nicht immer so. I n den älteren Verfassungskonzeptionen waren i n der Tat die beiden Freiheiten getrennt: Was zwischen den Bürgern mater i e l l geschah, ging den Staat nichts an. E r kontrollierte n u r die äußere Legalität ihrer Handlungen (vgl. Kant, Metaphysik der Sitten, Werkausgabe, Bd. V I I I , S. 243) u n d wahrte dadurch ihre Freiheit v o m S t a a t
2. Z u r Verbindlichkeit des Redens von Gewalt i m Straf recht
17
tigen der Konformitätsdruck, der von entgrenzter Strafgewalt ausgehen kann. Der moderne staatliche Ermittlungs- und Überwachungsapparat orientiert sich an den weiten Generalklauseln, nicht an dem, was Richter nach umfassender Güterabwägung als noch rechtmäßig anerkennen. Die modernen Ermittlungen und Überwachungen, die Latenz der Strafgew a l t haben eigenes Gewicht und können die Ausübung demokratischer Grundrechte gefährden. — Weiter w i r d hinsichtlich der Bedeutung der Gewalt zu berücksichtigen sein, daß sie nach dem StGB i n allen gesellschaftlichen Bereichen als Freiheitsbeeinträchtigung relevant ist. Es müßte sich also u m eine für Freiheit überall grundsätzlich untragbare Verhaltensweise handeln. Das ist nicht der Zwang. Der ist vielmehr gegenwärtig gesellschaftlich normal, und es dürfte nicht sinnvoll sein, Strafrecht an Sozialutopien zu orientieren. I n allen gesellschaftlichen Bereichen untragbar ist körperlich verletzende Gewalt. Sie zurückzudrängen ist eine Rahmenbedingung von bürgerlicher Freiheit. Das bedarf freilich noch der Erläuterung. Berücksichtigt man die Entwicklung der gesamten Rechtsordnung und ihren politischen Zusammenhang, so w i r k t die Konzeption der h. M. „zeitgemäßer". Daß der Staat nicht n u r als ausgegrenzter Rahmenbedingungen der Gesellschaft sichert, sondern koordinierend, korrigierend, planend i n den gesellschaftlichen Prozeß einbezogen ist, u m zu stabilisieren, Gerechtigkeit zu verwirklichen, daß die strikte Geltung präzisen Rechts aufgelöst w i r d bei staatlichen Interventionen, all dies sind Erscheinungen, die eine ähnliche Entwicklung i m Strafrecht als normal erscheinen lassen 12 . Auch die Fixierung auf den vereinzelten Willen als zentrales Rechtsgut und die nivellierende Erweiterung des Gewaltbegriffs zur Zwangswirkung gewinnen i m Hinblick auf die gesellschaftliche Entwicklung einige Plausibilität. Die Formalisierung der Beziehungen zwischen den Individuen, der Verlust von erkennbarem und gestaltbarem Sinn i m gesellschaftlichen Verkehr führen zur Vereinzelung und werden ersetzt durch zunehmende Orientierung an isolierten Werten 13 . Gleichzeitig w i r d jeder einzelne i n seiner materiellen Versorgung zunehmend auf das Funktionieren des ganzen angewiesen; seine Existenz w i r d perfekt gesellschaftlich vermittelt. I n seinen Bedürfnissen w i r d er erfaßt und tendenziell angepaßt, sein Individualismus kann antizipiert und präformiert werden. Das ist der strukturelle Druck der Vergesellschaftung, die sich gleichzeitig m i t der Vereinzelung vollzieht 1 4 . n
Ähnliches konstatiert resignierend Naucke, a.a.O. Vgl. Habermas, Legitimationsprobleme, S. 130; Luhmann, Rechtssoziologie 1, S. 133: „ A l s strukturiertes System sinnhaft aufeinander bezogener Handlungen schließt das soziale System den konkreten Menschen nicht ein, sondern aus." 13
2 Keller
18
I. Einleitung
Der mittelbare Zwang des allgemeinen gegenüber dem einzelnen kommt i n seiner permanenten existenziellen Bedeutung den Einzelfällen physischer Übergriffe durchaus gleich. Auch kann die Masse der einzelnen i n ihrer Lebensführung auf Dauer wesentlich schwerer getroffen werden durch nichtphysische Störungen, etwa des Wirtschaftsoder Verkehrssystems als durch einzelne physische Eingriffe. Diese Verflechtungen legen es nahe, Gewalt nivellierend als Zwang zu begreifen. Vereinzelung und Vergesellschaftung der Individuen, Verschmelzung von Staat und Gesellschaft, Auflösung des strikten und präzisen Rechts, das dürften die Zusammenhänge sein, aus denen der ,moderne 4 weite Gewaltbegriff erklärbar ist. Es besteht jedoch kein Anlaß, solche Entwicklungen ohne weiteres normativ zu akzeptieren und sie strafrechtlich noch zu verstärken. Auch wenn die Verschmelzung von Staat und Gesellschaft i n anderen Rechtsbereichen akzeptabel ist, muß diese innige Verbindung nicht notwendig durch latente Strafen gegen einzelne besiegelt werden. 3. Rechtliche und tatsächliche Relevanz des Begriffs strafbarer Gewalt Was das StGB als Gewalt bezeichnet, kommt i n allen sozialen Bereichen vor. Die speziellen Gewaltstraftatbestände betreffen den politisch-staatlichen Bereich (z. B. Hochverrat, Widerstand, Gefangenenmeuterei, Aussageerpressung i m Amt), die Sexualsphäre (z. B. Vergewaltigung, Menschenhandel), die Probleme sozialer und räumlicher Bindung (z. B. Verschleppung, Kindesentziehung, Luftpiraterie), den Bereich des Eigentums- und Vermögensverkehrs (z. B. Raub, Erpressung); schließlich w i r d nach dem allgemeinen Nötigungstatbestand allenthalben der gewaltsame Zwang pönalisiert. Faktisch dürfte ein Schwerpunkt strafbarer Nötigung i m Straßenverkehr liegen. Auch i m Zusammenhang m i t Demonstrationen w i r d der Tatbestand relevant. Nötigung ist fakultativ m i t Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren bedroht. I n den Spezialtatbeständen sind bei Völkermord und Hochverrat lebenslange Freiheitsstrafen angedroht. A l l das sagt fast nichts über die tatsächliche Bedeutung des Terminus Gewalt. Aus den Statistiken kann man etwas z. B. über die Raubverurteilungen entnehmen. Welche Bedeutung dabei diese oder jene mögliche (extensive oder restriktive) Auslegung des Wortes Gewalt gehabt hätte, ist nicht zu ermitteln. Hinzuweisen ist noch auf die Wortzusammensetzung ,Gewalttätigkeit', die erwähnt ist u. a. bei Widerstand, Gefangenenmeuterei, Haus- und Landfriedensbruch. M i t Gewalt soll Gewalttätigkeit nichts zu t u n haben, weil sie sich nicht auf Zwang richtet. »Gewalt' ist Tatbestandsmerkmal 14 Vgl. Adorno, Negative Dialektik, S. 271 f., 273, 277; Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, Bd. 1, S. X L V I I ff.
3. Rechtliche u n d tatsächliche Relevanz des Begriffs
19
auch i n verwaltungsrechtlichen Gesetzen, z. B. § 8 UZwG, § 95 StVollzG. Dort ist auch eine Legaldefinition gegeben. Sie ist jedoch für den strafrechtlichen Begriff irrelevant, denn sie steht i n anderem Verwendungszusammenhang. Sie bestimmt ein Verhalten, das unter bestimmten zusätzlichen Bedingungen bestimmten Personen (Amtsträgern) m i t besonderer Zuständigkeit erlaubt ist. Der strafrechtliche Begriff erfaßt ein allen verbotenes Verhalten von Bürgern. Beamte dürfen i m Dienst überhaupt nur handeln aufgrund von Gesetzen. § 8 U Z w G begründet ihr Handeln. Die Bürger bedürfen solcher Begründungen nicht für ihr Handeln. Der strafrechtliche Gewaltbegriff begrenzt i h r Handeln. Nach allem ist ziemlich offen, was strafbare Gewalt ist. Bei weitester Auslegung kann jede alltägliche Zwangsausübung gemeint sein. Zudem w i r d durch die Bestimmung des Gewaltbegriffs das Gewaltverhältnis der Strafdrohung konstituiert, und dieses w i r d um so problematischer, je weiter der Begriff strafbarer Gewalt ausgedehnt wird. Es dürfte nützlich sein, die verschiedenen Arten von Gewalt genauer zu betrachten.
I I . Arten der Gewalt 1. Prämissen I m Bereich dessen, was als Gewalt bezeichnet wird, kann man vieles differenzieren und definieren. I m Vorangegangenen w a r schon von einigen Gewaltarten die Rede. Es lassen sich aber nach Form, Ursprung, Richtung, Erfolg, Intensitätsgrad, Gefährlichkeit usw. noch viele andere Unterscheidungen treffen 1 . A l l solche differenzierten Erwägungen werden ein Stück weit transzendiert von einer Gewaltform; sie ragt über die scheinbare Variabilität der Definitionen und Zuschreibungen hinaus, tangiert deren Prämissen. Auch wer sich ganz der These verschrieben hat, es sei alles eine Frage sozialer Bewertung und Definition, müßte das erkennen, wenn er von seinem K r i t i k e r einen Schlag über den Schädel erhält, sofern er danach noch lebt und bei Sinnen ist. Gewiß greifen auch andere Gewaltformen die Voraussetzungen von wissenschaftlicher Erkenntnis, oder allgemeiner: von Kommunikation an. Wenn der Theoretiker aus seiner Anstellung vertrieben wird, wenn er gezwungen ist, Handarbeit zu leisten, so w i r d i h m das Theoretisieren erschwert; auch die Kommunikation w i r d dann eine andere. Keine Gewaltform aber bringt die latente Hinfälligkeit des intellektuellen und kommunikativ vermittelten Umgangs m i t den Fakten so schlagartig, so unmittelbar und einprägsam zur Evidenz wie konkrete Aggression gegen den Körper anderer Menschen2. Sie soll hier Verletzungsgewalt genannt werden. Der Theoretiker w i r d das einsehen. Aber davon abgesehen ist das Befördern der Erkenntnis einer allgemeinen gesellschaftlichen Wahrheit für die Verletzungsgewalt nicht typisch. Es kommt ihr nicht notwendig darauf an, daß irgendetwas als richtig oder wahr anerkannt werde, allenfalls sie selber, die Gewalt über Menschen. Sie soll möglicherweise anerkannt werden als Macht, nicht als wahrheitsgemäß oder gerecht. Sie ist nicht angewiesen auf Legitimation durch Beziehung auf Verhältnisse außerhalb ihrer selbst. Diese Gewalt schafft selbst Legitimation, indem sie andere Menschen existentiell bedroht, falls sie sich nicht beugen 3 . 1 Vgl. Galtung, Gewalt, Frieden und Friedensforschung; ders., Der besondere Beitrag der Friedensforschung zum Studium der Gewalt: Typologien. * „Die F o r m des Einschlags einer Sprengbombe ist einprägsam. Sie enthält eine Verkürzung." Alexander Kluge, Neue Geschichten, S. 9. 3 Frantz Fanon, Die Verdammten dieser Erde, S. 34, 38, 64.
2. Verletzungsgewalt
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Die Verletzungsgewalt durchbricht m i t ihrer physisch-aggressiven Unmittelbarkeit Definitionen und Bewertungen, deren Anerkennung auf Kommunikation, auf vermittelten Verkehrsformen beruht. Sie kann neue Definitionen und Bewertungen durchsetzen. Sie kann Ausgangspunkt oder Stütze struktureller Gewalt sein. Daß Verletzungsgewalt Prämisse von Definitionen und Bewertungen sein kann, demonstriert der Staat, der kraft seines Gewaltmonopols definiert, was Recht und Unrecht ist. Freilich, je näher diese Rechtssätze der Wahrheit und Gerechtigkeit kommen, anders ausgedrückt: je größer die Chance ist, daß sie kraft allgemeiner vernünftiger Einsicht befolgt werden, desto weniger w i r d staatliche Verletzungsgewalt notwendig sein, um die Definition von Recht und Unrecht zu realisieren. Auch dürfte die Staatsgewalt auf Dauer nie ganz ohne Bezug auf Wahrheit und Gerechtigkeit auskommen. Das w i r d zuweilen i n Revolutionen oder sozialem Druck spürbar. Man kann vermutlich nicht unbegrenzt ungleiches als gleich und gleiches als ungleich bestimmen. Gewalt wäre demnach nicht die einzige Prämisse sozialer Bewertungen: „Was rechtens sei? — darum kommt man nicht herum", meint Ernst Bloch 4 . 2. Verletzungsgewalt Die konkret aktuelle Verletzungsgewalt ist mehr als unmißverständlich. Der Schlag auf den Kopf ist mehr als eindeutig. Das unterscheidet die Verletzungsgewalt vom Zwang. Wer einem anderen den Weg versperrt, setzt an die Stelle von deutbaren Äußerungen (Verboten, Warnungen) die unüberwindliche Faktizität etwa einer Barrikade. Sie zwingt den anderen, macht i h n zum Objekt, läßt i h n aber bestehen als anderen. Der Schlag auf den Kopf schafft mehr als eindeutige, zwingende Faktizität. Er stellt das Opfer auch i n seinem Bestehen als anderer Mensch noch i n Frage. Er negiert das Opfer i n seiner Existenz. Dazu muß nicht das biologische Substrat, der dingliche Körper ganz oder teilweise beschädigt werden. Die soziale Bedeutung der Unversehrtheit des Körpers reicht weiter. Auch die »körperliche Mißhandlung', der Schlag, der die Gesundheit nicht beeinträchtigt, stellt das Opfer i n seinem Bestand i n Frage. Darin steckt ein Element sozialer Bewertung. Gänzlich ohne sie läßt sich auch die Verletzungsgewalt nicht fassen. Ist diese Bewertung variabel? Ist also die Bedeutung von Verletzungsgewalt entgegen der oben vorgestellten These doch beliebigen Bewertungen, Definitionen unterworfen? — Daß der Körper der Menschen nicht mißhandelt werde, ist eine Stufe der zivilisatorischen Entwicklung. Der einzelne Mensch w i r d m i t der Unversehrtheit seines Körpers als anderer respek4
Naturrecht u n d menschliche Würde, S. 11.
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tiert, als einer, der sich selber gehört. I m Vertrauen auf diesen Respekt steckt ein Mindestelement von Freiheit. Den Zusammenhang hat Jean Amery beschrieben: „ M i t dem ersten Schlag aber bricht dieses Weltvertrauen zusammen. Der andere, gegen den ich physisch i n der Welt b i n und m i t dem ich nur so lange sein kann, wie er meine Hautoberfläche als Grenze nicht tangiert, zwingt m i r m i t dem Schlag seine eigene Körperlichkeit auf. Er ist an m i r und vernichtet mich damit. Es ist wie eine Vergewaltigung, ein Sexualakt ohne das Einverständnis des einen der beiden Partner. Freilich, sofern eine auch nur minimale Aussicht auf erfolgreiche Gegenwehr besteht, kommt ein Mechanismus i n Bewegung, i n dessen Verlauf ich die Grenzverletzung durch den anderen begradigen kann. Ich expandiere mich i n der Not-Wehr meinerseits, objektiviere meine eigene Körperlichkeit, stelle das Vertrauen i n meinen Weiterbestand wieder her 1 ." Bevor auf das hier angesprochene Problem der Notwehr eingegangen wird, sei noch auf andere Beispiele hingewiesen, i n welchen die Bedeutung des Respekts vor der körperlichen Unversehrtheit erkennbar wird. Die alten Gewaltverhältnisse, i n welchen Verletzungsgewalt des Herrn gegen Knechte, Sklaven, Frauen, Kinder zugelassen war, waren zugleich Eigentumsverhältnisse. Die Unterworfenen gehörten nicht sich selber, sie waren nicht als andere vom Herrn zu respektieren. Er konnte m i t ihnen nach Belieben verfahren. Durch die zugelassene physische Gewalt gegen die Unterworfenen konnte der Herr sich diese gleichsam — und i n archaischen Verhältnissen tatsächlich — einverleiben®. Elemente dieses Zusammenhangs sind noch heute sichtbar i n der elterlichen Gewalt und i m Züchtigungsrecht gegenüber Kindern. Dieses läßt rechtlich zwar ,nur' Mißhandlungen zu, objektiv gesellschaftlich realisiert es sich aber i n der Tötung von mehreren hundert Kindern und vielen tausend schweren Gesundheitsschädigungen pro Jahr 3 . Hier w i r d unübersehbar, daß zwischen dem Nichtrespektieren der Körperlichkeit anderer Menschen und der Gefährdung von deren existentiellem Bestand ein w i r k licher Zusammenhang besteht. Der Zusammenhang von Mißhandlung, Verletzung und Tötung ist nicht bloß variable Deutung, sondern (im Wortsinn:) Wirklichkeit, die spürbar wird, wo die körperliche Mißhandlung normal ist. I n ihr steckt objektiv ein Element von Drohung m i t Negation des anderen 4 . Erinnert sei hier auch an die nationalsozialistischen Konzentrationslager. Dort korrespondierte der jederzeit freigegebenen Züchtigung der Gefangenen deren massenhafte Tötung. I n den K Z hatte auch die letzte Stufe der Verletzungsgewalt, das archaische 1 f s 4
Jenseits von Schuld u n d Sühne, S. 52. Canetti, Masse u n d Macht, S. 323 f., 347 ff. Wolff, Kindesmißhandlungen u n d ihre Ursachen. Canetti, Masse, S. 347 ff.
2. Verletzungsgewalt
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Einverleiben des Unterworfenen noch Wirklichkeit. Die Leichen wurden vom Herrenvolk verwertet. Es eignete sich die anderen Menschen w i r k lich physisch an. Wer einem anderen körperliche Gewalt antut, drängt i h m die eigene Körperlichkeit auf. Das Opfer w i r d der Not seines eigenen Körpers ausgesetzt, die sich i m Schmerz des Geschlagenwerdens geltend macht. Die Beziehung zwischen den Menschen w i r d prinzipiell reduziert aufs bloß Körperliche. Der verursachte Schmerz ist keine M i t teilung. Er ist einfach da und ist Leiden. I m Schmerz ist der Schläger i m Opfer körperlich anwesend. Das Opfer ist reduziert auf das Schmerzgefühl von seinem Körper. „Der Schmerz war, der er war. Darüber hinaus ist nichts zu sagen. Gefühlsqualitäten sind so unvergleichbar wie unbeschreibbar. Sie markieren die Grenze sprachlichen Mitteilungsvermögens. Wer seinen Körperschmerz mitteilen wollte, wäre darauf gestellt, i h n zuzufügen und damit selbst zum Folterknecht zu werden 5 ." A u f diese Ebene der ,Mitteilung' ist die Beziehung zwischen Schläger und Opfer reduziert. I n der Notwehr gegen Gewalt überträgt der Geschlagene die Not seines eigenen Körpers auf den des Schlägers. Nochmals Jean Amery: „Ich schlug i n offener Revolte den Vorarbeiter Juszek meinerseits ins Gesicht: meine Würde saß als Faustschlag an seinem Kiefer . . . Ich war, schmerzhaft verprügelt m i t m i r zufrieden. Aber nicht etwa wegen des Mutes und der Ehre, nur w e i l ich gut begriffen hatte, daß es Lebenslagen gibt, i n denen der Körper unser ganzes Ich und unser ganzes Schicksal ist. . . . Mein Körper w a r meine physischmetaphysische Würde 6 ." Was hier m i t der „physisch-metaphysischen Würde" gemeint ist, läßt sich, wie schon angedeutet, am Gewaltverhältnis zeigen. Es w i r d i n seiner rohen ursprünglichen Form realisiert in der Reduktion des Unterworfenen auf die Not seines Körpers. Das ist die intensivste Darstellung der Macht des Herrn und der Erniedrigung des Knechts. Die Monopolisierung der Staatsgewalt entwickelte sich historisch i m physischen Kampf einzelner Gewalthaber. Der Sieger war Herr über die Körper der Unterlegenen; die vom Sieger monopolisierte Gewalt, die Staatsgewalt wurde noch bis ins 19. Jahrhundert dementsprechend dargestellt: die Körper der Unterworfenen wurden mißhandelt, gemartert, verletzt, zerstückelt. „Jede einigermaßen ernsthafte Strafe mußte etwas von einer peinlichen Strafe an sich haben 7 ." I m Zufügen von Schmerzen, i m Schlagen, Foltern, Martern demonstrierte der Staat, noch personifiziert i m König, inkarniert in dessen Körper, seine Macht über die Menschen. 6
Am£ry, S. 59. « S. 143 f. 7 Foucault, Überwadien u n d Strafen, S. 45. Feuerbach hatte sich noch dafür ausgesprochen, Hochverräter zum Richtplatz zu schleifen u n d nach der E n t hauptung vierteilen zu lassen (Critik des KleinschrodLschen Entwurfes, T e i l 3, S. 185 ff.).
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Sie gehörten ihm, hatten keine soziale Eigenständigkeit. Bezeichnend ist i n diesem Zusammenhang auch die i n § 301 des BayrStGB von 1813 dem Hochverräter zugedachte Strafe: Er „soll enthauptet, und vor der Hinrichtung m i t einer Tafel auf Brust und Rücken, welche die A u f schrift »Hochverräter* führt, . . . eine halbe Stunde vor dem Scharfrichtersknechte ausgestellt werden. A u f seinem Grab w i r d eine Schandsäule errichtet. Seine Familie soll ihren Namen verändern". — d. h. physische und soziale Negation gehören zusammen. Erst m i t der Entfaltung der bürgerlichen Gesellschaft wurden peinliche Strafen und Folter zurückgedrängt. Die rechtliche Freistellung des Körpers, die rechtliche Beschränkung der Strafen auf Einsperrung, der justiziellen Ermittlungen auf Verhöre stand i m Zusammenhang der Freisetzung von Individuen. Die rechtliche Garantie, daß i m Verkehr der Menschen von Seiten einzelner und vom Staat Verletzungsgewalt i n der Regel nicht zu erwarten ist, ist eine Bedingung für jenes „Weltvertrauen", i n welchem sich etwas wie soziale Identität oder Würde entfalten kann. Signifikant ist i n diesem Zusammenhang, daß die Bedeutung des englischen Wortes ,violation' neben der Verletzungsgewalt auch die Schändung umfaßt. Darin ist die soziale Bedeutung von Gewalt reflektiert?. Gegenwärtig steckt i n der Verletzungsgewalt ein Stück „Verwilderung der Gesellschaft" (P. Brückner), ein Element der Regression auf primitive Lebensformen, i n welchen der Gewaltverzicht nur auf eine begrenzte Gruppe von Menschen, etwa die eigene Sippe oder den Stamm erstreckt war. Gewalt war zulässig gegenüber denen, die nicht dazu gehörten, die nicht vorab als gleiche Menschen anerkannt waren®. 3. Verletzungsgewalt und vermittelte Verkehrsformen Verletzungsgewalt stellt zivilisierte, vermittelte Verkehrsformen prinzipiell i n Frage, indem sie die körperliche Unversehrtheit und damit die Respektierung des Betroffenen als eines anderen Menschen durchbricht, i h n i n seiner Existenz negiert. Das unterscheidet sie vom Zwang, welcher zwar u. U. ebenfalls vermittelte Verkehrsformen durchbricht, ohne jedoch den anderen i n seinem existentiellen Bestehen anzugreifen. Zwang ist zugleich Konstituens von Zivilisation. Es w i r d noch zu zeigen sein, daß sich gegenwärtig nur i n Zusammenhang m i t Zwang vermittelte Verkehrsformen entfalten können. Deshalb ist Zwang unter gegebenen Bedingungen prinzipiell normal. 8 Dementsprechend w u r d e die NS-Ideologie v o n der Herrenrasse realisiert i n der Erniedrigung der „Minderwertigen" zu bloßen Körpern (Am£ry, S. 10 ff., 18 ff., 25 f., 39 f.). 9 Brückner, Z u r Sozialpsychologie des Kapitalismus, S. 80.
3. Verletzungsgewalt u n d vermittelte Verkehrsformen
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Die These von der Durchbrechung vermittelter Verkehrsformen bedarf noch der Erläuterung. Verletzungsgewalt könnte i n diesem Kontext als das gänzlich Regellose erscheinen, als Chaos, denn das, was sie durchbricht, die vermittelte Verkehrsform, ist regelgeleitet. Eine solche Gegenüberstellung wäre jedoch ungenau. Die wichtigsten Formen des vermittelten Umgangs m i t Menschen und Dingen sind Sprache und Tausch1. Miteinander sprechend beziehen sich die Menschen auf Gegenstände, ohne sie unmittelbar zu erfassen, anzugreifen, zu bewegen. Was faktisch zu geschehen habe, w i r d symbolisch i n den Zeichen der Sprache vereinbart. Solcher sozialer Verkehr ist möglich, weil die Regeln der Sprache als Vermittlungsform sozial vorgegeben sind und von den Beteiligten reproduziert werden können. Gleiches gilt für den Tausch; hier w i r d der unmittelbare Zugriff auf die Sache, die Wegnahme suspendiert zugunsten der Vereinbarung, welche i n den sozial vorgeformten Regeln des Tausches vollzogen wird. Der sprachlich vermittelte Verkehr ist jedoch selten gänzlich regelgeleitet. Wo die Sprache nicht völlig formal erstarrt ist, steckt i n jeder Kommunikation ein Stück kreativer Erneuerung der Sprache. Ihre Offenheit für solche normalen Regelwidrigkeiten, für die Besonderheiten der einzelnen, macht gerade die Menschlichkeit der Sprache aus. Andererseits kann hinsichtlich der Verletzungsgewalt nicht gesagt werden, sie stehe völlig jenseits von Regeln. Gerade wo sie besonders verbreitet ist, ist i h r Einsatz mehr oder weniger vorgeformt. Das gilt für die Fehdegewalt des Mittelalters ebenso wie für die Notwehr. Auch die i n modernen Kriegen freigesetzte Verletzungsgewalt w i r d wenigstens dem Anspruch nach noch von den Regeln des Kriegsrechts eingefaßt. Die Gewalt i n der Familie, i n Subkulturen, i n hierarchischen oder kolonialen Verhältnissen folgt oft bestimmten Ritualen, die auf Dressur, Gruppenkonsistenz, Ausgrenzung oder Erniedrigung zielen können. Regellosigkeit ist also nicht das Kriterium, welches die Verletzungsgewalt prinzipiell von vermittelten Verkehrsformen unterscheidet. Es sind vielmehr andere Regeln, welche (möglicherweise) durch Gewalt institutionalisiert und reproduziert werden; Regeln eines primitiven sozialen Verkehrs, i n welchem die Existenz der Menschen aktuell und unmittelbar auf dem Spiel steht. Das bedeutet umgekehrt: es sind nicht ,die' Regeln des sozialen Verkehrs an sich, die von Gewalt durchbrochen werden, sondern historisch und sozial spezifische Verkehrsformen. Das zeigt die schon erwähnte Zulässigkeit der Gewalt gegenüber Kindern. Auch dürften bei den gesellschaftlichen Schichten und Klassen die vermittelten Verkehrsformen unterschiedlich ausgeprägt sein. Davon abgesehen kann nicht einmal für den begrenzten europäischen Bereich gesagt werden, daß vermittelte Verkehrsformen und Gewaltverzicht 1
Einzelheiten dazu unten, S. 51 ff., 55 ff.
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I I . A r t e n der Gewalt
generell gelten. Hier wurden allein i m letzten Weltkrieg fünfzig M i l lionen Menschen getötet. Nachzutragen bleibt, daß die hier vertretene Bewertung der Verletzungsgewalt auch bezogen ist auf „sozialadäquate" Verletzungen, wie sie massenhaft etwa der Straßenverkehr m i t sich bringt. Es mag sein, daß die Zulassung solcher Gewalt gegenwärtig mehr Vor- als Nachteile bringt. Das widerlegt aber nicht das Urteil, daß unsere Entwicklung aus der Barbarei nicht vollendet ist. Das ist eine Bewertung. Ohne normative Positionen ist soziale Gestaltung nicht möglich. Bisher wurde die Verletzungsgewalt von der Seite ihrer Erscheinung und Wirkung her bestimmt. Das dabei angenommene Verhältnis — Gewalt als Durchbrechung vermittelter Verkehrsformen — trägt auch zur genetischen Bestimmung der Gewalt etwas bei. Auch dazu soll vorerst nur ein Uberblick gegeben werden 2 . Die erwähnten vermittelten Verkehrsformen sind für den einzelnen Formen der möglichen Teilnahme am gesellschaftlichen Leben. Abstrakt betrachtet ermöglichen sie Freiheit: Die Vermitteltheit des Umgangs mit Menschen und Dingen, die Suspendierung des bloß faktischen Zugriffs eröffnet i m intersubjektiven Verkehr den Beteiligten Alternativen, schafft Raum und Zeit — Distanz für Reflexion. I n der Vermittlungsform der Sprache können Menschen aufeinander eingehen und zugleich Distanz wahren, können sich und andere identifizieren, sich orientieren und erkennen und dadurch wiederum Freiheit gewinnen. I m wechselseitigen Sich-Identifizieren werden die einzelnen i n ihrer je konkreten Gestalt durch die anderen vermittelt; „ n u r durch die anderen habe ich mich" (H. P. Dreitzel). Darin steckt die Möglichkeit von Freiheit i n sozialem Handeln, i n und durch Intersubjektivität. I n den Vermittlungsformen können Individuen gebildet werden, Menschen, die i m Hinblick auf die divergenten Anforderungen der Umwelt ein Reflexionspotential wahren, ohne zu vereinzeln. Die Vermittlungsformen ermöglichen Deutungsschemata für die Bewältigung individueller und gesellschaftlicher Probleme. 4. Instrumentelle und expressive Verletzungsgewalt Das Vorangegangene ist eine abstrakte Betrachtungsweise. Konkret können die vermittelten Verkehrsformen primär restriktiv wirken. Wenn i m wirtschaftlichen Bereich die dem einzelnen zur Verfügung stehenden Geldmittel weit hinter den gesellschaftlich produzierten Möglichkeiten zurückbleiben, so kann die Tauschform, welche durch Geld zu erschließen wäre, Restriktion sein. Es liegt nahe, sie zu durchbrechen, um Geld oder Waren zu erlangen. Die Gewalt w i r d dann instrumentell eingesetzt. Sie hat für den, der sie anwendet, keine spezifische Bedeutung. Sie ist funktional äquivalentes M i t t e l wie Geld. 1
Einzelheiten unten I I I . 3. i).
5. Strukturelle Gewalt; soziale u n d politische Bestimmung
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Wo die sprachlichen Möglichkeiten der einzelnen beschränkt sind, wo Kommunikation unterdrückt wird, wächst die Chance, daß die isolierten einzelnen sich unvermittelt, d. h. gewaltsam ausdrücken. Gewalt hat dann expressive Bedeutung. I n diesem Zusammenhang ist die Gefahr relevant, die von der Versachlichung und Erstarrung der Verkehrsformen ausgeht. Wenn der sachliche Tausch zur dominierenden Verkehrsform wird, so lassen sich die Besonderheiten der Menschen tendenziell nur noch i n verschiedenen Waren und i n quantitativen Differenzen ausdrücken. Die qualitative Besonderheit eines Menschen w i r d der Tauschform subsumiert 1 . Wenn Sprache i n Konventionen und zweckrationalen Formen erstarrt, nicht mehr gestaltbar ist, w i r d sie den Menschen fremd. Was sich i n Sprache verständigt, sind dann nicht mehr die Menschen selber. Die Menschen vereinzeln. Hinzu kommt das Problem der Differenzierung der Gesellschaft i n Teilbereiche, etwa Produktion, Warenverteilung, Sozialisation. I n diesen Bereichen werden spezifische Verkehrsformen ausgebildet und verfestigt zu Rollen. U m i m Betrieb, i m Konsumbereich,, i n der Familie handeln zu können, muß der einzelne die vorgegebenen Rollen mehr oder weniger strikt reproduzieren. Wo die Rollen besonders rigide A n forderungen stellen und i n ihrer Unterschiedlichkeit schwer zu vereinbaren sind, kann das Einhalten vermittelter Verkehrsformen zur A u f lösung des Individuums führen. Die i m Betrieb geforderte Leistung und Durchsetzungsbereitschaft ist u. U. kaum zu vereinbaren m i t der Forderung personaler Zuwendung i n der Familie. Es kann die Vermittlungsfähigkeit des einzelnen i n den übermächtigen und unbeherrschbaren Strukturen der Gesellschaft zusammenbrechen 2 . Die Verhältnisse der Menschen können sich gegenüber den Menschen verselbständigen und sie sich unterwerfen: strukturelle Gewalt. Ein identisches Subjekt dieser Gewalt ist nicht faßbar. Aktuelle Verletzungsgewalt als Durchbrechung des Dschungels der normativen Vermittlungsformen ist gewiß nicht die einzig mögliche Reaktion darauf. Die Gewalt kann auch nach innen gewendet werden und zu pathologischer Fragmentierung des einzelnen führen. 5. Strukturelle Gewalt; soziale und politische Bestimmung Davon war i m Vorangegangenen schon die Rede. Strukturelle Gewalt läßt sich sozial (a) und politisch (b) bestimmen. a) Einmal kann man sie wie dargestellt verstehen als subjektlose Gewalt sozialer Strukturen, die sich von den Menschen abgelöst und sich 1 Der dominierende Tausch k a n n die „Schematisierung der Lebensführung" erzwingen, M. Weber, Wirtschaft u n d Gesellschaft, S. 439. 2 K l . Horn, Die gesellschaftliche Produktion von Gewalt, S. 328 ff.
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die Menschen unterworfen haben. Den Menschen werden ihre Verhältnisse zum unbegriffenen gefährlichen Schicksal: „the invisible hand" (Adam Smith), „der stumme Zwang der Verhältnisse" (K. Marx). I n diesen Zusammenhang gehört auch Johan Galtungs 1 Bestimmung der strukturellen Gewalt, die allerdings von einem schon immer bestehenden Gegensatz zwischen dem einzelnen und den Verhältnissen auszugehen scheint. Strukturelle Gewalt liegt demnach vor, wenn die Menschen i n ihrer Selbstverwirklichung durch die Verhältnisse ungerecht bzw. mehr als historisch unvermeidbar beschränkt werden 2 . Demnach wäre etwa der Zwang 3 , i n einem Lohnverhältnis unter dem Direktionsrecht des Unternehmers Arbeit zu leisten, strukturelle Gewalt, wenn dieser Zwang vermeidbar ist. Gleiches wäre i m Konsumbereich anzunehmen, wenn das dort einschlägige Medium der Selbstverwirklichung, das Geld, ungerecht verteilt ist. Die Gewalt steckt dann i n den Strukturen der kapitalistischen Wirtschaft, des Eigentumsverkehrs etc. 4 . Verletzungsgewalt w i r d durch solche Strukturen anscheinend nicht beseitigt. Sie kann vielmehr wie gezeigt durch die Strukturen hervorgerufen werden und provoziert dann Gegen-Verletzungsgewalt zur Stützung der Strukturen. b) I m Vorangegangenen wurde Verletzungsgewalt als soziale bestimmt, w o sie i n den Verkehrsformen der Menschen — der Sprache, dem Tausch — situiert ist. Strukturelle Gewalt läßt sich auch als politische bestimmen. Sie ist dann nicht primär Bedingung von Verletzungsgewalt, sondern deren Weiterentwicklung und Verallgemeinerung. So erklärt Max Weber 5 den Staat aus dem Monopol physischer Gewalt. Gewaltsamkeit ist demnach das entscheidende M i t t e l der Politik 8 , verkörpert i n M i l i t ä r und Polizei. Nach diesem klassischen politischen Verständnis hat die strukturelle Gewalt handelnde Subjekte. Das unterscheidet sie vom sozialen „stummen Zwang der Verhältnisse". Die politische strukturelle Gewalt t r i t t gegebenenfalls i n Erscheinung durch 1
Gewalt, Frieden, Friedensforschung, S. 62 ff. Diese Bestimmung scheint zusätzliche Präzision u n d P r a k t i k a b i l i t ä t zu bringen. Es ist jedoch nicht einzusehen, w a r u m unvermeidbare Restriktionen nicht Gewalt sein sollen. Die Herausbildung des modernen Staates etwa w a r m i t einer Masse von Tötungen und Leiden verbunden. Sollte diese Staatsbildung „unvermeidbar" gewesen sein, so wären die genannten Leiden keine Gewalt. Die Feststellung von Gewalt sollte nicht positivistisch gekoppelt w e r den an die je aktuellen Möglichkeiten ihrer Vermeidung. I m übrigen dürfte das K r i t e r i u m der Vermeidbarkeit angesichts der Verflochtenheit politischer Entscheidungen nicht sehr ergiebig sein. 3 Z u m folgenden M. Weber, Wirtschaft u n d Gesellschaft, S. 439 f. 4 Z u r A k k u m u l a t i o n von Verfügungsgewalt über Menschen durch A k k u mulation v o n Verfügungsgewalt über Güter vgl. Popitz, Prozesse der Machtbindung, S. 38. 5 Wirtschaft u n d Gesellschaft, S. 29 f., 516 ff., 821 ff. 6 M. Weber, P o l i t i k als Beruf, S. 506 f., 509, 511. 552 ff., 556 f. 2
5. Strukturelle Gewalt; soziale u n d politische Bestimmung
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konkrete Aktionen von M i l i t ä r und Polizei, d. h. durch konkrete Verletzungsgewalt 7 . Freilich, i n der Hegel ist auch i m politischen Bereich die Verletzungsgewalt strukturiert. Sie ist eingebunden i n Institutionen, t r i t t nicht dauernd i n Erscheinung, ist weitgehend rechtlich vermittelt. Verletzungsgewalt ist latent i n den politischen Institutionen 8 . Sie gewährleistet politische Macht. Das ist wichtig für die Bestimmung der strafbaren Gewalt und deren Verhältnis zur staatlichen Strafgewalt und soll deshalb genauer betrachtet werden. Wenn einem Menschen fremde Körperlichkeit schmerzhaft aufgedrängt wird, so hat das nicht nur physische Folgen, sondern auch symbolische Bedeutung für andere Situationen. „ I n der unmittelbaren Interaktion des physischen Kampfes werden die jeweilige Lage der Kämpf er* ihre Ziele und Aussichten, das, was sie vermeiden, und das, was sie vermeiden könnten, ihr Leben und i h r Tod, kurz: ihre Identität symbolisiert und laufend sinnhaft verarbeitet 9 ." Der „Machtwert" der physischen Gewalt beruht auch auf der Symbolwirkung, die sie entfaltet und deren allgemeine soziale Verbreitung ritualisiert werden kann. Die „Generalisierung der Gewalt als Symbol" ermöglicht deshalb dem Gewalthaber weitgehend (nicht gänzlich) auf die Anwendung von Verletzungsgewalt zu verzichten und eben damit Macht zu erlangen. So können die Organe des Staates, der die Verletzungsgewalt sich vorbehalten hat, i n der Regel Gehorsam von den Bürgern erwarten. Einzelne konkrete Gewaltmaßnahmen werden nicht überflüssig. Meist sind sie jedoch vermittelt durch die Strukturen des staatlichen Handelns, vor allem das Recht. Zuweilen werden sie abgesichert durch die bloße Darstellung überlegener physischer Staatsgewalt 10 . Die demonstrative Machtentfaltung ist jedoch selten, denn i h r symbolischer Effekt nützt sich leicht ab. c) I m Vergleich zur Verletzungsgewalt, die unvermittelt die körperliche Existenz des Opfers i n Frage stellt, sind folgende Besonderheiten der strukturellen Gewalt hervorzuheben: Die Gewalt der Strukturen mag auf Dauer unentrinnbar auf die einzelnen wirken, i n der konkreten Situation ist sie nicht alternativenlos. Wo die strukturelle Gewalt rechtlich geformt ist, gewährt sie den Unterworfenen noch immer eine zu7 Z u r Unterscheidung von sozialer u n d politischer struktureller Gewalt vgl. M a r x : „ Z w e i A r t e n von Gewalt haben w i r also v o r uns, einerseits die Gewalt des Eigentums, d. h. der Eigentümer, andererseits die politische Gewalt der Staatsmacht." (Die moralisierende K r i t i k , S. 337.) Die soziale strukturelle Gew a l t w i r d hier allerdings beschränkt auf ,die Eigentümer'. 8 Dazu u n d zum folgenden: Benjamin, K r i t i k der Gewalt, insbes. S. 45 f., 48 ff.; Luhmann, Rechtssoziologie 1, S. 108 f. 9 Luhmann, a.a.O. 19 Diese Schauseite der Macht w i r d etwa gezeigt i n müitärischen Paraden oder — moderner — i n aufwendigen bundesweiten Fahndungsaktionen, deren Erfolglosigkeit vorab feststeht.
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mindest formale Chance der Gleichbehandlung und der Gestaltung der Situation 1 1 . I m Rahmen der strukturellen Gewalt hängt das Handeln der Individuen quasi an langer Leine. Weil der Eingriff — von rechtlich geordneten Verhältnissen abgesehen — nicht konkret und bestimmt i n Erscheinung t r i t t , w i r k t diese Gewalt nachhaltig prägend auf die Konstitution von Individuen. I n der aufgezwungenen Situation der Konkurrenz zwischen den Menschen etwa werden spezifische aggressive Verhaltensorientierungen gefördert. Wenn die latente Gewalt manifestiert wird, dann oft nicht als Eingriff von außen, sondern — wiederum vermittelt — durch das Individuum selber. Es fällt aus den Strukturen heraus, die seine Identität bedrohen und zugleich stützen, es vereinzelt, gerät i n hilflose Isolation, oder es verstrickt sich i n den Strukturen. Darauf wurde oben schon hingewiesen. — Von pathologischen Entwicklungen abgesehen ist die Selbstverstrickung der Individuen i n Verfahren 1 2 ein zentrales Medium struktureller Gewalt. Durch die „Absorption von Widerstand" w i r d der Einsatz physischer Gewalt weitgehend überflüssig. Sie muß nicht mehr dauernd präsent sein i m öffentlichen Verkehr. Sie kann sich zurückziehen hinter die Mauern von Kasernen und Gefängnissen. Das Verdrängen und Verstecken der physischen Gewalt ist nach Luhmann eine wichtige Funktion der geordneten Verfahren 13 , denn die offene Verletzungsgewalt kann delegitimierend wirken auf die Herrschaft derer, die sie ausüben 14 : indem sie die Betroffenen zu bloßen Körpern reduziert, gefährdet die Verletzungsgewalt jenes Mindestmaß an Reflexionsspielraum, welches Voraussetzung der Anerkennung von Herrschaft ist 1 5 . 6. Zwangsausübung Auch den konkreten von einer Person gegen eine andere ausgeübten Zwang kann man als Gewalt bezeichnen. Für das vorliegende strafrechtliche Problem ist die Unterscheidung von der Verletzungsgewalt wichtig: Wenn der Terminus Gewalt i m Sinn des Straf rechts generell die Zwangsausübung umfaßt, so führt das zu einer enormen Ausweitung der Strafdrohungen. Die Zwangsmaßnahme steht zwischen Verletzungs- und struktureller Gewalt. Sie geht von einer konkreten Person aus, ist konkrete Ausübung von Macht, und insofern von der strukturellen Gewalt unterschieden. Sie greift den Betroffenen nicht notwendig i n seiner physi11
Kirchheimer, Legalität u n d Legitimität, S. 7 f. Dazu Luhmann, Legitimation durch Verfahren, S. 93 ff. Luhmann, Rechtssoziologie 1, S. 112 ff. 14 Luhmann, Grundrechte, S. 142; ders., Rechtssoziologie 2, S. 262; Papcke, Progressive Gewalt, S. 26; vgl. auch Welzel, Straf recht, S. 6. 15 Luhmann, Rechtssoziologie 1, S. 108: Die durch Gewalt erzwungene Handlung weist keinerlei Eigenständigkeit auf. Vgl. auch Canetti, Masse u n d Macht, S. 349. 12
13
7. Staatliche Monopolisierung von Zwang u n d Freiheit?
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sehen Existenz an. Wenn er auch Objekt des Zwanges ist, bleibt er doch i n seinem Bestand unangetastet. Deshalb hat die Zwangsmaßnahme eine erheblich andere soziale Bedeutung als die Verletzungsgewalt. Das ist schon auf der Ebene der Erfahrung relevant. Zwar ist wie erwähnt auch die Erfahrung von Verletzungsgewalt partiell i n soziale Deutungsschemata und Strukturen eingespannt. Der Zwang ist von ihnen jedoch i n viel stärkerem Maß abhängig. Zwang etwa i m Straßenverkehr läßt sich nur erfahren aufgrund der besonderen variablen Einrichtungen und Regeln dieses Verkehrs. Ein Unternehmer kann den Streik von Arbeitern nur als Zwang erfahren, kann überhaupt nur Unternehmer sein aufgrund der wirtschaftlichen Regelungen, die ihm ein Recht auf die Arbeitskraft der Streikenden gewähren. Auch diese Regeln sind variabel. Man müßte nicht die zivilisatorische Entwicklung auf ein primitiveres Niveau zurücknehmen, u m die Grenzen von Zwang und Freiheit i n dieser Gesellschaft zu verschieben. Wenn und soweit aber die Verletzungsgewalt nicht mehr als solche wahrgenommen und verpönt wird, führt das zur „Verwilderung der Gesellschaft" (P. Brückner), wie sich an den Beispielen der jüngeren Vergangenheit erkennen läßt. Andere Bestimmungen des Zwanges als die gegebenen sind i n den meisten gesellschaftlichen Bereichen ohne solch tiefgreifende Folgen möglich. Die unterschiedliche Bedeutung von Verletzungsgewalt und Zwang kommt i n der englischen Sprache stärker zum Ausdruck als i n der deutschen. Es gibt i m Englischen keinen Terminus, der wie das deutsche Wort ,Gewalt' Verletzungsgewalt und Zwang nivellierend übergreift. Verletzungsgewalt ist ,violation', damit zusammenhängend ,violence', was Gewalttätigkeit, physische Aggressivität meint. Davon getrennt heißt Zwang ,force'. Wer Zwang gegen Menschen einsetzt, hat bestimmte Zwecke, die er m i t den Betroffenen verfolgt. Verletzungsgewalt, auch wo sie zur Erzwingung eingesetzt wird, geht über die Zweckverwirklichung hinaus. Sie stellt den Betroffenen nicht nur i n den Dienst fremder Zwecke, sie stellt i h n vielmehr auch i n seiner Existenz i n Frage. Von da geht ihre spezifische soziale Bedeutung aus, die soziale „Generalisierung als Symbol", die der Zwangsmaßnahme nicht immanent ist. Diese erschöpft sich i m Erreichen des einzelnen Zweckes. Sie hat daher seltener gefährliche soziale Bedeutung. 7. Staatliche Monopolisierung von Zwang und Freiheit? Zwang zwischen den Menschen ist i n den gegenwärtigen Gesellschaften normal. Er ist nach Max Weber 1 eines der Konstituentien des Kapitalismus. A u f dem M a r k t stehen die Bürger als Besitzer von Waren 1
Wirtschaft u n d Gesellschaft, S. 439 f.
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oder Arbeitskraft i n Konkurrenz u m Verkaufschancen. Sie sind frei, aber vermittelt durch den Markt ist i h r gegenseitiges Verhältnis bestimmt vom Zwang. Der freie Arbeiter ist gezwungen, m i t einem Besitzer von Produktionsmitteln ein Vertragsverhältnis einzugehen: coactus voluit. Die wirtschaftlichen Koalitionen werden gebildet, u m Zwangsmacht zu entfalten und Freiheit gegen andere durchzusetzen. Rechtliches Korrelat dieser Normalität des Zwangs zwischen den einzelnen® und ihrer konträren Freiheiten ist die Garantie der Vertragsfreiheit und die rechtliche Beschränkung und Bindung der Staatsgewalt, also eine zumindest formale Sicherung von Freiheit. W i r d der Zwang gegen einzelne und nicht nur die Verletzungsgewalt beim Staat monopolisiert, so führt das zum autoritären Verwaltungsstaat 3 ; d. h. die Freiheit der Bürger w i r d staatlich definiert und die Rechtsstaatlichkeit ist dahin. Diese Tendenz ist angelegt i n der Ausdehnung des strafrechtlichen Gewaltbegriffs auf Zwangsausübung ohne präzise nähere Bestimmimg. Natürlich kann und soll dabei nicht jeder Zwang pönalisiert werden; aber der Strafjustiz ist umfassend vorbehalten, die (Zwangs-)Verhältnisse der Bürger und damit ihre Freiheit zu kontrollieren und evtl. zu kriminalisieren. Andernfalls könnte präzise bestimmt werden, welcher Zwang allein strafbar sei. Daß das nicht geschieht, ist nicht nur aus dogmatisch-konstruktiven Schwierigkeiten zu erklären. Wenn man global ,die Freiheit 4 dem Staat zum Schutz und zur Definition anvertraut, so ist die rechtsstaatliche Freiheit prinzipiell vergeben. Der Staat ist dann stets präsent i m Handeln der Bürger. Er ist stets stiller Teilhaber ihrer Freiheit. Darin steckt mehr als ein erweiterter Rechtsgüterschutz. Damit wendet sich das Strafrecht nicht nur graduell, sondern prinzipiell ab von der Bindung der Strafgewalt. Denn diese impliziert eine garantiert staatsfreie Sphäre bürgerlichen Handelns, i n welcher es Freiheit und Zwang gibt. Z u erwähnen ist i n diesem Zusammenhang der A E StGB 4 , i n welchem „Gewalt" m i t „Zwangsmittel" identifiziert wird. Es heißt dort: „Gewalt ist grundsätzlich verpönt . . . i n der modernen Gesellschaft muß der Einsatz von Zwangsmitteln grundsätzlich das Monopol des Staates sein 5 ." — erstaunliche Thesen. Man muß i n Max Webers Schriften nicht 2
Dazu auch Rammstedt, Grenzen der Gewalt, S. 80. Weber, Wirtschaft, S. 440. 4 A E StGB § 116, Begr. S. 65. 6 Ebenso Fezer, G A 1976, 353 (359). Nach § 116 Abs. 3 A E StGB soll allerdings allen Bürgern freigestellt sein, die Straftaten anderer m i t Gewalt (gemeint ist w o h l Zwang) zu verhindern; Begründung: der deliktische W i l l e bedürfe keines Schutzes (Begr. S. 67). Was diese (anfechtbare) These m i t der zuvor postulierten W a h r u n g des staatlichen Zwangsmonopols zu t u n haben soll, ist schwer nachzuvollziehen. Kritisch zu § 116 Abs. 3 A E : Haffke Z S t W 84, 44 f. F n 32; Fezer, S. 360 F n 37. 3
7. Staatliche Monopolisierung von Z w a n g u n d Freiheit?
33
lange suchen8, um festzustellen, daß allgemeines Kennzeichen moderner Staaten gerade nicht das Monopol der Zwangsmittel ist, daß solches Monopol wie gesagt nur einen speziellen Staatstyp auszeichnet: den autoritären Verwaltungsstaat. Kennzeichen aller modernen Staaten ist das Monopol physischer Gewalt , welche nicht m i t Zwangsausübung identisch ist. Das hat Niklas Luhmann 7 deutlich herausgearbeitet, und diese Erkenntnisse werden auch selten bestritten. Die Monopolisierung der Zwangsmittel beim Staat bedeutete, daß tendenziell die Beziehungen zwischen den Menschen verstaatlicht werden. Die Beziehungen sind aber das soziale Leben der Menschen. Sie zu verstaatlichen heißt, die Menschen m i t dem Staat zu identifizieren. Dem Grundgesetz entspricht solche Monopolisierung des Zwanges und der Freiheit nicht, denn dort sind Grundrechte der einzelnen gegen den Staat und die rechtliche Bindung der Staatsgewalt statuiert. Der Staat ist damit begrenzt. Er ist nicht identisch m i t den Bürgern und ihrer Freiheit. Der autoritäre Verwaltungsstaat ist ausgeschlossen. Ausgeschlossen ist deshalb auch die Monopolisierung der Zwangsausübung. Das ist relevant nicht erst beim Problem des unbestimmten Gewaltbegriffs. Schon der Ansatz — die latente Monopolisierung der Zwangsausübung, der staatliche Schutz ,der Freiheit' — verfehlt die Verfassung, weil er eine Identifikation von Bürger und Staat unterstellt. I m Rechtsstaat bleiben Freiheit und Zwang prinzipiell Sache der Bürger. Dieser Ausgangspunkt mag i m Hinblick auf das Sozialstaatspostulat modifiziert werden. Ob er aber gerade i m Strafrecht aufgegeben werden sollte, läßt sich bezweifeln. Denn Strafen richten sich unmittelbarer als alle anderen staatlichen Maßnahmen gegen einzelne. I n dieser Beziehung dürfte die zumindest formale Chance der Gleichbehandlung und Teilhabe noch immer vorzuziehen sein gegenüber der Verstaatlichung von Zwang und Freiheit. Daß die These von der Identifikation der Bürger m i t dem Staat nicht nur theoretisch ist, zeigt die Entwicklung des „modernen" strafrechtlichen Freiheitsschutzes. Seine Höhepunkte fielen zusammen m i t Überlagerungen der demokratischen Grundrechte. Die erste prinzipielle Öffnung des Gewaltbegriffs traf 1955 das Streikrecht, die zweite 1969 das Demonstrationsrecht. Gerade die politischen, für die Demokratie konstitutiven Freiheiten wurden damit verunsichert. 6 7
Z. B. P o l i t i k als Beruf. Rechtssoziologie 1, S. 108.
3 Keller
I I I . Schutz und Wahrung von Freiheit durch Strafrecht 1. Verhältnis von Gewaltbegriff und Rechtsgut Freiheit im Strafrecht Daß Gewalt annähernd als Zwangsausübung zu bestimmen sei, w i r d dogmatisch begründet m i t der These, durch das Gewaltverbot solle Freiheit geschützt werden. Der strafrechtliche Terminus Gewalt betrifft menschliches Verhalten, welches auf Zwang, d. h. Freiheitsbeeinträchtigung gerichtet ist. § 240 lautet u. a.: „Wer einen anderen . . . m i t Gewalt . . . zu einer H a n d l u n g . . . n ö t i g t . . . . " Es gehört zu den Selbstverständlichkeiten, daß die kriminelle Bedeutung dieses Delikts allein beim Erfolg liegt, d. h. bei der Freiheitsbeeinträchtigung. Welche spezifische kriminelle Bedeutung die Handlung, die Gewalt haben könnte, w i r d heute fast nirgends erklärt 1 . Andernfalls nämlich könnte man nicht behaupten, das Rechtsgut, welches durch die Bestrafung der Gewaltnötigung (§ 240) geschützt werden soll, sei ,die äußere Willensfreiheit' ohne jede Modifikation. Eben dies ist aber die These der „ganz h. M.". Von hier aus sind zwei typische Konstellationen von Gewaltbegriff und Rechtsgut Freiheit möglich 2 . a) Alle i m StGB aufgeführten M i t t e l der strafbaren Freiheitsbeeinträchtigung werden zusammen betrachtet. Unter dem teleologischen Postulat des Freiheitsschutzes muß ihre Pönalisierung zusammen einen lückenlosen Schutz der Freiheit gegen erhebliche Beeinträchtigungen gewährleisten. D. h. es müssen alle Formen intensiver Freiheitsbeeinträchtigung erfaßt werden. Dies vorausgesetzt kann, was Gewalt ist, negativ bestimmt werden als dasjenige Zwangsmittel, welches nicht i n anderen Zwangsmittelpönalisierungen erfaßt ist. K l a r formuliert dies Binding: „ F ü r die Gewalt bleibt also nur, was nicht Drohung ist, aber auch Alles zur Nötigung Taugliche, das die Drohungseigenschaft nicht besitzt 3 ." Der Gewaltbegriff ist hier Teil eines umfassenden dogmatisch definierten Systems von Sanktionen, das festungsartig rund u m die individuelle Freiheit als Zentrum angelegt ist. Man kann diese Bestimmung der Gewalt als monistisch bezeichnen, weil sie allein aus dem Prinzip des Freiheitsschutzes entwickelt ist. Der Gesetzeswortlaut hat 1 2 3
Anders Calliess, Gewaltbegriff, S. 13 ff. Die folgende Gegenüberstellung ist vorläufig u n d idealtypisch. Lehrbuch, S. 83.
2. Das Rechtsgut Freiheit i n herkömmlicher Sicht
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hier dienende Funktion. Er rationalisiert den Rechtsgüterschutz, indem er Überschneidungen vermeidet und Regelmäßigkeit der Sanktionierung gewährleistet. Diese am Rechtsgut orientierte Bestimmung formulierte der Bundesgerichtshof 4 , als er begründete, warum politischer Streik strafbare Gewalt sei: Z u r Lähmung der Regierung „ w a r die Anwendung von Körperkraft . . . weder das erforderliche noch das geeignete Mittel. Vorstellungen solcher A r t gehören der Vergangenheit an; die Gegenwart kennt andere, nicht minder wirksame Methoden des gewaltsamen Umsturzes. Eine Auslegung, die für den Begriff Gewalt i. S. des § 80 StGB körperliche Kraftentfaltung fordert, würde also die praktische Bedeutung der Vorschrift weitgehend entwerten." Die praktische Bedeutung des § 80 StGB ist der Schutz der freien Handlungsmöglichkeit der Regierung, i h m dient die Bestimmimg des Streiks als Gewalt. b) Eine dualistische Bestimmung entsteht, wenn dem Gesetzeswortlaut ein vom Rechtsgüterschutz unabhängiger Stellenwert beigemessen und angenommen wird, das Wort Gewalt umfasse nicht alle Freiheitsbeeinträchtigungen, die nicht schon als Drohung pönalisiert sind. I n diesem Sinn stellte das Reichsgericht 5 fest, daß „das Gesetz nicht allgemein die Freiheit schützt, vielmehr nur die Beeinflussung durch Gewalt und ganz bestimmte schwere Formen der seelischen Einwirkung unter Strafe stellt". Es w i r d dann angenommen, Gewalt liege nur vor, wenn Zwang durch primär körperliches Handeln bewirkt werde. Der Gewaltbegriff gerät damit i n Widerspruch zum teleologischen Postulat des Freiheitsschutzes. Das besondere dieser Konzeption ist, daß nicht erklärt wird, wo die kriminalpolitische Bedeutung des primär körperlichen Handelns liegt, warum gerade solches Handeln Gewalt und strafbar sein soll. Es fehlt dafür eine positive Begründung. Es w i r d allenfalls auf die angebliche historische Bedeutung des Gesetzeswortlauts verwiesen. Teleologisches Rechtsgut ist auch nach dieser Konzeption allein die Freiheit. Daraus ergibt sich der Dualismus: das Rechtsgut verlangt umfassenden Schutz, die rechtsstaatliche Gesetzesbindung versagt ihn. Die Rechtsstaatlichkeit ist hier, des kriminalpolitischen Sinnes beraubt, i n prekärer Lage. I m weiteren Gang dieser Untersuchung muß also vor dem Gewaltbegriff zunächst das Rechtsgut Freiheit untersucht werden. 2. Das Rechtsgut Freiheit in herkömmlicher Sicht Die herkömmlichen Erörterungen der zu schützenden Freiheit lassen sich i n zwei Aussagen zusammen fassen: Freiheit ist „lediglich etwas Negatives: Die Abwesenheit alles Hindernden und Hemmenden, . . . des 4 5
3*
B G H S t 8, 103. RGSt 64, 113 (117).
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I I I . Schutz u n d Wahrung von Freiheit durch Strafrecht
Zwanges, der Notwendigkeit" 1 ; und: Freiheit ist etwas Positives, nämlich Willensbetätigung und Fähigkeit der Willensbildung 2 . Es ist problematisch, inwieweit diese Freiheit unmittelbar Rechtsgut des Strafrechts sein kann. Die erwähnte Fassung des Freiheitsbegriffs ist äußerst weit. Das führt bekanntlich dazu, daß die Bestimmtheit der freiheitsschützenden Tatbestände aufgelöst wird. Weiter ist evident und unbestritten, daß Zwang i n der Gesellschaft normal ist und keineswegs regelmäßig, sondern nur ausnahmsweise kriminell sein kann. Die unmittelbare Orientierung des Strafrechts an der Ungezwungenheit des W i l lens ist unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen Orientierung an einem pathologischen Fall: „Der Nicht-Determinierte wäre kein Freier, sondern, wenn er überhaupt möglich wäre, ein gemeingefährlicher Narr. Er wäre die völlig unverantwortliche, völlig unberechenbare Faselei, er wäre kein Schöpfer, sondern — genau umgekehrt — ein vollkommenes A b b i l d des Chaos 3 ." Es erscheint zweifelhaft, ob ein solcher Fall sinnvollerweise Rechtsgut, d. h. „Richtungspunkt" der „Auslegung und Erkenntnis" 4 des Straf rechts sein kann, auch wenn er später durch andere Kriterien — etwa: Freiheit i m Rahmen der Gesetze — relativiert wird. Möglicherweise fungiert die Einführung eines derart pathologischen Freiheitsbegriffs weniger als Freiheitsschutz, denn als Freisetzung von Definitionsmöglichkeiten der Rechtsprechung. I m übrigen sind die beiden Fassungen der Freiheit auch je für sich genommen problematisch. Die Negative ist als Bezeichnung eines Rechtsguts schon logisch zweifelhaft. Daran ändert die Orientierung am positiven Willen wenig, denn auch diese individualpsychologische Kategorie blendet die gesellschaftlichen Zusammenhänge der Freiheit aus. a) Rechtsgut und Freiheitsschutztatbestände Rechtsgut ist nach h. M. ein Interesse, das wegen seiner besonderen Bedeutung als Sozialwert anerkannt wird 5 . Die Rechtsüberzeugung führt bei einzelnen Rechtsgütern zur Bildung von Sollenssätzen, die von den Bürgern ein Verhalten fordern, das auf Wahrung der Rechtsgüter gerichtet ist. Einzelne dieser Normen werden i n Tatbeständen positiviert und m i t Strafen sanktioniert. Rechtsgüter sind „Richtungspunkte" der „Auslegung und damit Erkenntnis" der Straftatbestände 6 . 1 Rosenfeld, V D B V, 388 f.; Frank, Strafgesetzbuch, S. 462; RGSt 48, 346 (348 ff.). 2 Frank, a.a.O.; Binding, Lehrbuch, S. 80; RGSt 48, 348 ff. 3 Bloch, Naturrecht u n d menschliche Würde, S. 177. 4 Maurach / Zipf, Strafrecht A T T b 1, § 19 I I . 5 Z u m folgenden vgl. Maurach / Zipf, Straf recht A T , S. 277 ff.; Jescheck, Lehrbuch, S. 205. 6 Maurach / Zipf, S. 282.
2. Das Rechtsgut Freiheit i n herkömmlicher Sicht
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Freiheit wurde oft gefaßt als Abwesenheit von Zwang gegen das äußere Verhalten einer Person, als „Verneinung einer Beeinträchtigung" 7 . Dies ist eine negative, formale Bestimmung. Was Freiheit posit i v ist, sollte offen — eben frei — bleiben. Es werden jedoch i m Hinblick auf das positive Recht Differenzierungen getroffen. Eine besondere A r t der Freiheit w i r d erfaßt als positiver status libertatis 8 . Er soll angegriffen sein durch Menschenraub und Sklavenhandel. Auch Verschleppung, politische Verdächtigung 9 und Kindesentziehung 10 werden i n diesem Zusammenhang genannt. Offensichtlich werden bei diesen Besonderungen positive gesellschaftliche Beziehungen berücksichtigt, die Freiheit erst konstituieren. Darauf soll es aber nicht ankommen beim umfassenden Rechtsgut Freiheit. Diese Freiheit soll unabhängig von gesellschaftlichen Zusammenhängen dem isolierten Individuum gegeben sein 11 . Als Spezialfreiheiten werden i m übrigen noch genannt die Freiheit der Ortswahl, die Hausfreiheit 12 , die Freiheit der sexuellen Selbstbestimmung. Die außergesellschaftliche umfassende Freiheit soll vor allem durch § 240 geschützt werden, aber auch durch diejenigen Tatbestände (§§ 249 ff.), i n denen die Freiheitsverletzung Mittel zum Zweck ist. I n der Tat ist i n der Formulierung des § 240 eine gesellschaftliche Einbindung der Freiheit nicht ohne weiteres erkennbar. Der Tatbestand w i r d daher als lex generalis bezeichnet 13 , die gegenüber allen Verletzungen der persönlichen Freiheit als Auffangtatbestand fungiert. U m die umfassende negative Freiheit des Individuums zu präzisieren, w i r d auch sie wieder i n Arten differenziert. Dabei w i r d an die Stufen der Objektivation der Freiheit angeknüpft. Negative Freiheit äußert sich durch ein Positives, den Willen. Bis zum willensgemäßen Verhalten kann unterschieden werden: Willensbildung, Willensentschließung und Willensbetätigung. W i r d die Willensbildung oder Betätigung verhindert, so soll vis absoluta vorliegen; vis compulsiva dagegen, wenn die W i l lensentschließung beeinträchtigt, wenn ein Motiv oktroyiert wird. Wenn die Bestimmung der Freiheit derart an den positiven Willen gekoppelt wird, liegt die Frage nahe, warum überhaupt die Freiheit und nicht der Wille das Rechtsgut sein soll, das die Strafe begründet. Nach Maurach / 7
RGSt 48, 346 (348). Binding, Lehrbuch, S. 82; ders., Normen I I , S. 1015. 9 Mäurach / Schroeder, StR B T T b 1, S. 119. 10 Welzel, Lehrbuch § 42 I V ; Mäurach / Schroeder, S. 116; Schönke / Schröder / Eser, § 235 Rn. 1. 11 Maurach / Schroeder, S. 118 f. 12 Nach Schönke / Schröder / Lenckner, § 123 Rn. 1 ist das Rechtsgut des § 123 der persönlichen Freiheit verwandt. 13 Welzel, Lehrbuch, S. 324, 328; Rosenfeld, S. 394; Maurach / Schroeder, S. 123, 133. 8
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I I I . Schutz u n d W a h r u n g von Freiheit durch Strafrecht
Schroeder besteht zwischen Willen und Freiheit ein kategorialer Unterschied: Der Wille ist nur das Handlungs- oder Angriffsobjekt 1 4 , an dem sich die verbrecherische Handlung tatbestandsgemäß vollzieht. Die Freiheit dagegen ist ein materielles Interesse oder Wert jenseits des Tatbestandes 15 . b) Entwicklung
des Rechtsguts
Das umfassende Rechtsgut unmittelbar gegebener Freiheit, das jenseits gesellschaftlich strukturierter und bestimmter Beziehungen steht, wurde beim Inkrafttreten des RStGB nicht sofort anerkannt. Vielmehr ist es Ergebnis von Entwicklungen, die die Freiheit zunächst i n verschiedener Weise relativierten. Obwohl schon Grolman 1 6 neben der W i l lensbetätigung auch die Willensentschließung als Angriffsobjekt der Freiheitsdelikte anerkannt hatte, setzte sich dies doch erst langsam durch. Noch Hälschner 17 , v. Liszt 1 8 , Olshausen 19 , wollten nur die Angriffe auf die Willensbetätigung pönalisieren. Damit war nicht gemeint, daß vis compulsiva straflos sein sollte, denn dies hätte dem Gesetz selbst eindeutig widersprochen, welches auch Drohung pönalisiert. Wohl aber sollte die Strafbarkeit der Freiheitsbeinträchtigung i n der Person des Genötigten einen auf Betätigung gerichteten Willen voraussetzen 20 . Bezeichnend für diese Zurückhaltung ist auch Olshausens Hinweis, was persönliche Freiheit i m Sinne der Uberschrift des 18. Abschnitts positiv sei, lasse „sich nicht i m allgemeinen (an)geben, sondern nur aus der Erläuterung der einzelnen Delikte selbst gewinnen" 2 1 . Damit war ein monistisches System des Freiheitsschutzes, das aus einem Tatbestand zu entwickeln wäre, abgelehnt. Freiheit w a r nur Sammelbegriff, nicht identisches Rechtsgut. Wichtig für die weitere Entwicklung war, daß bei den genannten Autoren Freiheit — wenn auch relativiert — nur beim Individuum situiert wurde. A l l e i n i n i h m realisierte sich der Wert Freiheit, nicht i n seiner Verflechtung mit der gesellschaftlichen Umwelt. Dies war Ausgangspunkt für die Entwicklung der Vorstellung, Freiheit sei ein dem einzelnen vor allen gesellschaftlichen Zusammenhängen gegebenes Gut. Diese Freiheit des Individuums verlangte Ausgrenzung der gesellschaftlichen Umwelt. Sie manifestierte — und das war das Entscheidende — einen dualistischen Gegensatz zwischen einzelnem und Um14 15 16 17 18 19 20 21
S. 123. B i n d i n g vollzog die Trennung von Rechts gut u n d Angriffsobjekt nicht. Grundsätze, S. 220. Das gemeine deutsche Straf recht, 2. Bd., S. 118. Lehrbuch, S. 335. § 240 A n m . 3. Olshausen, a.a.O. A n m . 1 v o r § 234.
2. Das Rechtsgut Freiheit i n herkömmlicher Sicht
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weit. Dieser Dualismus schlug sich auch i n der Interpretation des Gesetzes nieder. Die tendenziell unendlich expandierende Freiheit wurde umzäunt durch das Recht; i m Strafrecht fand ihre Durchsetzung Grenzen u. a. i m Gewaltbegriff, welcher den Freiheitsschutz begrenzte. Rechtsgut Freiheit und gesetzlicher Tatbestand gerieten i n Gegensatz, denn die tatbestandliche Grenze war dem Rechtsgut äußerlich. Rechtsgut war nicht etwa eine sich i n gewaltlosen gesellschaftlichen Beziehungen entfaltende Freiheit, sondern die von der Gesellschaft gelöste identische Freiheit des einzelnen. Diese Entwicklung dürfte zusammenhängen m i t einer Variante der Rechtsgutslehre 22 . Rechtsgut ist danach ein Zweck, ein materiales Interesse des einzelnen, der Gemeinschaft oder des Staates und existiert vor dem Recht. Das Rechtsgut w i r d zwar erst durch die Positivierung strafrechtlich relevant. Es geht aber nicht i m Gesetz auf. Z. T. w i r d angenommen, es leite dessen Auslegung. Insofern ist das Rechtsgut teleologisches Prinzip. Das Gesetz ist aber nicht positives Konstituens des Zweckes, sondern sein Gegenprinzip; i n seiner Begrenztheit dient es dem Schutz des einzelnen vor dem Subjekt des Zweckes, d. i. der Leviathan, die staatliche Strafgewalt, welche das Rechtsgut durchsetzt. Das Rechtsgut schlägt sich als Wert i m Gesetz nieder, w i r d dort rechtlich kanalisiert, hat dort aber nicht seinen Ursprung, sondern seine Grenze. Das Rechtsgut ist Zweck und deshalb nicht Recht. Dieses ist Negation des Zweckes, ist also formal. Die Universalisierung des Freiheitsschutzes wurde entscheidend gefördert durch Binding, obwohl er selbst noch einen für heutige Verhältnisse restriktiven Ansatz hatte. Binding stellte ins Zentrum seiner Bestimmungen den Willen, nicht die Freiheit 2 3 . Nur aus Gründen der Konvention — „es ist nicht genau, aber üblich" 3 4 — bezeichnete er die Verletzungen des Willens als Delikte gegen die Freiheit. Der Sache nach war Rechtsgut der Wille, und Rechtsgutsverletzung war die kausale Erfolg der tatbestandsmäßigen Handlung. Innerhalb des Willens differenzierte er i n bis heute anerkannter Weise zwischen Willensbildung, Willensentschließung und Willensbetätigung. Alle drei Stufen sollten entgegen den Meinungen Hälschners, von Liszts und Olshausens strafrechtlich geschützt werden 25 . 22 Dazu Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 82 ff., 87 ff.; Roxin, K r i m i n a l p o l i t i k , S. 1 ff. 23 Lehrbuch, S. 80 ff.; Normen I I , S. 1015. 24 Lehrbuch, S. 81; vgl. auch S. 80 „ . . . es entsteht . . . eine Anzahl v o n Del i k t e n gegen den W i l l e n als solchen. Sie heißen einerseits zu eng, andererseits mißverständlich, w e i l doppeldeutig, Delikte gegen die Freiheit." 25 Z w a r schreibt Binding, Lehrbuch, S. 88, Nötigung richte sich gegen die Willensbetätigung, dabei ist jedoch offensichtlich eine Zusammenfassung der drei Stufen gemeint.
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I I I . Schutz u n d Wahrung von Freiheit durch Strafrecht
Binding situiert die durch Strafrecht zu schützende Freiheit zwar ebenfalls außerhalb des Gesetzes. Sie w i r d als Rechtsgut konstituiert aber erst durch den Gesetzgeber. Sein Imperativ, ausgedrückt i m Willen der Norm 218 , befiehlt die Wahrung des Gutes Freiheit. Der Wille des Gesetzgebers ist frei und nicht an naturrechtsähnliche vorgegebene soziale Werte gebunden 27 ; es gibt keinen Unterschied zwischen Angriffsobjekt (Wille) und Rechtsgut (Freiheit) 28 . Auch das Rechtsgut Freiheit ist daher kein Wert, der gegen den Gesetzestext geltend zu machen wäre, wenn auch die Beschränktheit des Gesetzes von Binding mehrfach beklagt wird. Der Dualismus von Rechtsgut und Tatbestand ist hier nicht programmiert. Da allerdings das Gesetz auf einen vorgehenden Willen der Norm bezogen wird, ist hier das unvermittelte Vordringen der Teleologie noch mehr angelegt als i m dualistischen Konzept. Bindings Interpretation des Gewaltbegriffs stellt denn auch das Zweckmoment des Freiheitsschutzes rigide ins Zentrum und verneint die eigenständige Bestimmung des Gewaltbegriffs; denn diese würde eine Reflexion des Rechts und der Gewalt als besondere Mittel, als Vermittlungen des staatlichen und des individuellen Zweckes implizieren. Es müßten gesellschaftliche Bedingungen der Freiheit und nicht nur die immanente Rationalität des gesetzgeberischen Willens berücksichtigt werden. Z w i schen den von Binding angenommenen naturalistischen Fixpunkten, dem Willen des Gesetzgebers bzw. der Norm und dem Willen des einzelnen 29 , wurde die Bedeutung von gesellschaftlichen Beziehungen für die Freiheit und die Bedeutung des Rechts als Form solcher Beziehungen ausgeblendet 30 . I m Horizont des Willens sind die einzelnen einander und dem Gesetzgeber Objekte von Zwang und Bestimmung. Bindings Ansatz einer monistisch um das Rechtsgut zentrierten Bestimmung des Gewaltbegriffs wurde erst i n einigen neueren Urteilen und explizit von Knodel wiederaufgenommen 31 . Er verband das naturrechtlich vorpositive Rechtsgut des Dualismus m i t Bindings konsequenter Unterwerfung des Gesetzestextes unter den Zweck und gelangte so zu der umfassendsten Konzeption des Freiheitsschutzes, die er m i t der „objektiven Wertordnung des Grundgesetzes" legitimierte 3 2 . 2,6 So die Formulierung i m Lehrbuch i m Abschnitt über die „Verbrechen w i d e r W i l l e n u n d Freiheit" (S. 80). 27 Dazu Bindings Rechtsgutslehre, i n : Normen I, S. 338 ff. 28 Dazu Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 82, 102 f. 29 I m Lehrbuch, S. 80, stellt B i n d i n g mehrere Willensträger exemplarisch nebeneinander: die Norm, die Behörden, die Bürger; alle sind Willensträger. 30 Vgl. Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 79. 31 Der Begriff der Gewalt. 32 Allerdings u n t e r w i r f t Knodel (Begriff, S. 8) auch das Grundgesetz noch einer höheren Ordnung; i n i h m schlägt sich der Wert Freiheit n u r nieder.
2. Das Rechtsgut Freiheit i n herkömmlicher Sicht
c) Negative
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Freiheit
Die negative Fassung der Freiheit wurde vor allem von Rosenfeld i n den Vordergrund gestellt. Zustimmend zitiert er Göring: „ . . . die positive Fassung des Freiheitsbegriffs (ist) definitiv aus der Wissenschaft zu beseitigen 33 ." Die Freiheit negativ, d. h. inhaltlich überhaupt nicht zu bestimmen, scheint der Sache adäquat. Denn jede positive Bestimmung, zumal die strafrechtliche, würde sie begrenzen, würde Unfreiheit setzen 34 . Freiheit scheint hier konsequent nicht als gegebenes und somit bestimmbares Sein, sondern als Möglichkeit verstanden zu werden. Freiheit wäre demnach die „Möglichkeit, angstlos anders zu sein" (Th. W. Adorno). Ihre negative Fassung i m juristischen Bereich würde ein Verbot der Definition der individuellen Zukunft beinhalten. — Die negative, d. h. nicht bestimmte Freiheit, kann aber die Funktionen, die einem Rechtsgut — schon dem Wortlaut nach ein Positives — i m Strafrecht zugedacht werden, nicht erfüllen. Einmal w e i l ein Negativum nicht zureichende causa für ein unmittelbar Positives, die staatliche Strafgewalt, sein kann; damit entfällt die Strafbegründung. Weiter kann ein Unbestimmtes auch nicht sinnvoll Zweck des Strafrechtsschutzes sein. W i r d die unbestimmte Freiheit zum Zweck, so muß ihre unendliche Weite staatlich verendlicht, Freiheit definiert werden 35 . Ein Unbestimmtes kann auch nicht „Richtungspunkt" der „Auslegung und Erkenntnis" von Tatbeständen sein. Vor allem aber kann die ungebrochene individuelle Negation der Umwelt i n der Gesellschaft nicht unbegrenzt rechtlich geschützt werden. d) Positive Freiheit Da die negative Freiheit nicht Rechtsgut sein kann, geht die h. M. zur positiven über. Sie radikalisiert die Vorstellung des Los-Seins von Strukturen und spricht diese Freiheit von der gesellschaftlichen Umwelt den Individuen vorab zu 36 . Sie erscheinen unter dem Aspekt dieser Freiheit als ursprünglich und prinzipiell einzelne. Positivität erhält diese Ausgrenzung durch den Hinweis auf den psychologischen Willen des einzelnen. Der Wille w i r d als gegebene Identität vorgestellt und verbunden m i t der Freiheit als werthaftem Sein. Dabei w i r d Freiheit zur Substanz und i n der Gesellschaft zum Freiraum. Offensichtlich kann Freiheit auch i n dieser Version nie gänzlich durch Strafrecht realisiert 33 V D B V S. 389; die positive Ausnahme, die Rosenfeld anerkennt (s. o. S. 37) gehört nicht i n den vorliegenden Zusammenhang. 34 Adorno, Negative Dialektik, S. 229; zur Bedeutung der negativen Freiheit auch Franz Neumann, Z u m Begriff der politischen Freiheit, S. 78 f. 35 Luhmann, Zweckbegriff, S. 18 ff. 36 Maurach / Schroeder, StR B T T b 1, S. 118: „ . . . persönliche Freiheit, diejenige Sphäre, die dem Menschen ohne Rücksicht auf seine Stellung i n der Sozialordnung eigen ist." Vgl. auch RGSt 48, 346 (348).
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I I I . Schutz u n d Wahrung von Freiheit durch Strafrecht
werden. Sie w i r d i m Ergebnis immer relativiert. Eben diese Relativierungen sind jedoch äußerst problematisch, und der theoretische Kern der Problematik ist noch immer die Vorstellung einer — wie auch immer relativierten — substantialischen Freiheit. Es lohnt sich, deren Entwicklung genauer nachzuzeichnen. Begrifflich lassen sich die Unzulänglichkeiten der negativen Freiheit gegenüber den Erfordernissen des Rechtsguts ohne weiteres beheben. Der Sache nach umfaßt die negative Freiheit nicht nichts, sondern eine qualitativ und quantitativ unbestimmte Vielzahl von positiven Möglichkeiten des Individuums. Sie werden realisiert, wenn das Individuum w i l l . Wenn der Wille beeinträchtigt ist, so ist auch die individuelle Freiheit betroffen. Der Wille ist Organ der Freiheit, ist ihr konstitutiver Teil. Die entgegenstehende Annahme, der Wille sei nur Angriffsobjekt der Freiheitsdelikte, ist nicht durchzuhalten, denn allein anhand des Willens kann der Freiheitsschutz systematisch gefaßt werden. Auch diejenigen Autoren, die den Willen nicht dem Rechtsgut zuordnen, bestimmen die Reichweite des Freiheitsschutzes anhand der von Binding entwickelten Differenzierungen, womit i m Ergebnis der Wille zum zentralen K r i t e r i u m wird. Der Wille für sich ist allerdings kaum geeignet, die legitimatorische Funktion eines Rechtsguts zu erfüllen, das als materieller Wert Strafgewalt begründen soll. Nur Binding, der das Rechtsgut seinerseits auf den Willen des Gesetzgebers bezog, begnügte sich m i t der Ungezwungenheit des Willens als Rechtsgut. Andere Autoren und vor allem das Reichsgericht 37 , die eine überpositive Legitimation suchten, verbanden den Willen m i t Freiheit und erklärten die Macht der Selbstbestimmung zum Rechtsgut. I n der Argumentation des Reichsgerichts werden negative Freiheit und Willen i n ein Ergänzungsverhältnis i m Sinn von außen und innen gebracht: was gegenüber der Umwelt als Ausgrenzung, als negierende Freiheit sich zeigt, hat sein inneres Movens i m Willen, einem Positiven. Beides, Äußeres und Inneres, Negatives und Positives zusammen, bilden das Rechtsgut: „die natürliche Macht zur Selbstbeherrschung und Selbstbestimmung des Menschen über sein eigenes Sein und Tun 3 8 ." Und um die Positivität dieses Wertes noch zu beschweren, legt das Reichsgericht i h m noch ein positives Idealsubstrat zugrunde: das „innere geistige Sein des Menschen". Ähnlich konzipieren Maurach / Schroeder 39 das Rechtsgut Freiheit: Psychologisch, i m Inneren liegt ihr der Wille zugrunde, der sich nach außen gegenüber der Gesellschaft als negatives Streben äußert. Zusammengefaßt ergibt sich als „Wesen der 37 38 39
RGSt 48, 346 ff. RGSt 48, 348. StR B T T b 1, S. 117.
2. Das Rechtsgut Freiheit i n herkömmlicher Sicht
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Freiheit die Entfaltung der individuellen Persönlichkeit". Ist die Freiheit ein vorgegebener Wert, so bedeutet das Innen/Außen-Modell, in dem sie dargestellt wird, daß Freiheit Substanzcharakter erhält. Sie w i r d quasi zu einer dem einzelnen vor allen gesellschaftlichen Verflechtungen gegebenen Sache, die zugleich er selber ist, sein inneres geistiges Sein. Nach dieser Vorstellung von Freiheit hat der einzelne unmittelbar sich selbst, ist unmittelbar m i t sich identisch. I n der Terminologie des Reichsgerichts: das innere geistige Sein steuert über das wählende Wollen das äußere Sein des Individuums. Die gesellschaftlichen Normen sind Grenze dieser Steuerung, nicht Vermittlung von Innen und Außen 40 . Die Substantialisierung der Freiheit ist folgenreich. Die Substanz kann nur mehr oder weniger beeinträchtigt oder gewahrt werden. Andere Differenzierungen des sozialen Kontakts sind i m Hinblick auf die Substanz prinzipiell nicht möglich. Hier liegt ein Ansatzpunkt für die tendenzielle Entqualifizierung des Begriffs physischer Gewalt zur bloßen Kausalität. Die Substanz läßt die qualitative Unterscheidung auf der Verhaltensebene, die Erkenntnis, wie die Beeinträchtigung erfolgt, nicht zu. Festgestellt werden kann nur der Erfolg — Freiheitsbeeinträchtigung — und allenfalls deren quantitativ unterschiedliche Intensität 4 1 . Das dingliche Verhältnis des Individuums zu sich selbst hat einprägsam das Reichsgericht beschrieben: „Die Macht der Selbstbeherrschung . . . ist eine Fähigkeit des inneren geistigen Seins des Menschen und das Wirken dieses Seins ist das Wollen, ein rein innerlicher seelischer (psychischer) Vorgang. Die Beherrschung und Bestimmung über Sein und T u n nämlich übt der Mensch aus, vermöge der bezeichneten ihm innewohnenden geistigen Kraft, von sich aus m i t Bewußtsein, die Erregung bestimmter Nerven entweder herbeizuführen oder zu unterlassen oder eine eingeleitete Erregung zu hemmen, und so sein Handeln zu bestimmen. Die Erregung oder Nichterregung jener Nerven aber stellt sich dabei als das Ergebnis einer vorausgegangenen Wahl dar, und nur die gewählte Erregung der Nerven zur Auslösung einer Handlung ist die gewollte. . . . Diese Willensbeherrschung und Selbstbestimmung w i r d beeinträchtigt und an ihre Stelle die Herrschaft des Zwingenden gesetzt nicht nur, wenn die einzelnen Glieder oder gar der ganze Körper gehindert wird, dem vom Gezwungenen ausgehenden Versuche der seelischen Reizungen nachzugeben und so seinem Willen zu gehorchen, oder wenn diese Reizungen durch eine vom Zwingenden herrührende mechanische 40 Z u r K r i t i k des Innen/Außen-Schemas der Freiheit: Adorno, Negative Dialektik, S. 219 f., 225 f. 41 So soll nach B G H S t 23, 46 die Gewalt nach der Intensität des Zwangs bestimmt werden.
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I I I . Schutz u n d Wahrung von Freiheit durch Strafrecht
oder chemische Einwirkung, nicht durch eine vom Gezwungenen erfolgte seelische Reizung hervorgerufen werden (vis absoluta), sondern auch, wenn die vom Gezwungenen bewirkte Reizung und Handlung die Folge einer Wahlentscheidung ist, die nicht der Gezwungene, sondern der Zwingende herbeigeführt hat, oder wenn überhaupt jede Wahlentscheidung des Gezwungenen vom Zwingenden unmöglich gemacht w i r d (vis compulsiva). . . . gerade i n der Tätigkeit des Wählens zwischen den beiden Möglichkeiten der Reizung oder Nichtreizung der für die bestimmte Handlung i n Betracht kommenden Nervenbahnen (ist) das Wesen derjenigen eigenartigen Äußerungen menschlichen Geistes begriffen . . . , die als Wollen bezeichnet w i r d . . . 4 2 . " Das Individuum verfährt hier m i t sich selber wie ein Marionettenspieler. Freiheit w i r d zum biologischen Vorgang reduziert und gleichzeitig i n die rein geistige Sphäre erhoben. Das unvermittelte Nebeneinander von Naturalismus und Idealismus führt zur Ausblendung der konkreten Umweltzusammenhänge des Individuums. Die Konkretion, die Freiheit durch ihre Verknüpfung m i t der Neurologie erhält, ist scheinbar. Daß der Wille selbst, frei oder unfrei, schon eine Synthese aus psychischen Impulsen ist, die i m Hinblick auf Umwelt gebildet w i r d 4 3 , daß Identität gegen Vergesellschaftung nur behauptet werden kann aufgrund von Identifikation m i t gesellschaftlichen Rollen, daß Freiheit i n der beständigen praktischen Auseinandersetzung des einzelnen, d. h. Hingabe an und Distanzierung von Umwelt erfahren werden könnte, daß Freiheit also nicht gegen, sondern durch Gesellschaft hindurch realisiert werden könnte, dies w i r d nicht berücksichtigt, wo Freiheit unmittelbar an den Willen als ein identisches Ding geknüpft und selbst zur abstrakten Substanz verfestigt wird. Wenn die Freiheit so rigide wie dargestellt aus dem Inneren des Individuums abgeleitet wird, so gerät sie i n die Nähe des Problems der Willensfreiheit, und es liegt die Annahme nahe, diese Freiheit setze das Bestehen der Willensfreiheit voraus 44 , oder die Willensfreiheit sei überhaupt das Rechtsgut der Freiheitsschutztatbestände 45 . Diese Verknüpfung von Rechtsgut Freiheit und Willensfreiheit ist jedoch nach der Konzeption der h. M. nicht notwendig. Denn relevant ist für sie nicht, daß i m Inneren Freiheit herrscht, sondern nur, daß der äußeren Freiheit ein identisches inneres Substrat zugrundeliegt. Diese Identität aber w i r d nicht nur vom Indeterminismus angenommen, sondern ebenso vom 42
RGSt 48, 346 (348 f.). Dieses U r t e i l w i r d als grundlegend zitiert von Blei, StR I I , S. 63; Knödel, Gewaltbegriff, S. 10; Schönke / Schröder / Eser, § 240 Rn 1. 43 Adorno, Negative Dialektik, S. 238 f. 44 Darauf deuten die Formulierungen i n RGSt 48, 348 hin. 45 So i n der T a t Bruck, Verbrechen gegen die Willensfreiheit, S. 4; dagegen die h. M., vgl. Binding, Normen I I , S. 1015 f. F n 2; Olshausen, A n m . 1 v o r § 234; Rosenfeld, V D B V S. 388; Knodel, Der Begriff, S. 7.
2. Das Rechtsgut Freiheit i n herkömmlicher Sicht
45
Determinismus. Indem jener dem Individuum einen von Umwelt unabhängigen Willen zuschreibt, ist er geleitet von der Annahme der gegebenen Identität des einzelnen. Der Determinismus betrachtet das Individuum als immer schon festgelegtes Produkt seiner Vergangenheit, ebenso also als ein Identisches ohne Zukunft 4 6 . M i t der Metapher von der Substanz ist die Bedeutung des Freiheitsbegriffs der h. M. nicht hinreichend erfaßt. Das Innere dieser Freiheit ist verbunden m i t einem nicht dinglichen Sein, das als Geistiges auf objektive Möglichkeiten gerichtet ist. Das freie Individuum ist quasi sein eigenes instrumentum vocale 47 . Die Möglichkeiten, auf die das Individuum reflektieren kann, sind begrifflich nicht zu fassen. So weit gespannt und unbestimmt das geistige positive Substrat also ist, so weit geht die Negation der Umwelt. Die totale Freiheit des einzelnen I n d i v i duums wäre totale Negation der Umwelt und zugleich Auflösung des Individuums i n der Umwelt. Selbstverständlich w i r d diese Konsequenz i m Strafrecht nicht gezogen. Sie ist aber der theoretische Angelpunkt der herkömmlichen strafrechtlichen Freiheitskonzeption. Psychologisch könnte man die Orientierung an totaler Negation der Umwelt und an Auflösung des Individuums als mythisches Streben des Individuums nach Erlösung von der Gesellschaft verstehen. Insofern erscheint dieser Freiheitsbegriff inspiriert von der Philosophie Schopenhauers und Nietzsches, wonach alles Leben Leiden ist, aus dem es keine andere Rettung gibt als — so Schopenhauer — die Verneinung des Willens zum Leben i n der Umwelt, Aufhebung der Individuation 4 * oder — so vor allem Nietzsche — Unterwerfung der Umwelt durch den einzelnen, Verabsolutierung des Willens. e) Relativierte
Freiheit
Da einerseits die Substantialisierung der Freiheit nicht zur präziseren Bestimmung dieses Rechtsguts führt, da andererseits offensichtlich nicht jeder Zwang kriminalisiert werden kann, müssen außerhalb des Rechtsguts Kriterien gefunden werden, die den Freiheitsschutz begrenzen. Drei Typen der Begrenzung lassen sich unterscheiden: zunächst der i m Ansatz eigenständig gefaßte Gewaltbegriff; sodann bei weitgehender Auflösung des Gewaltbegriffs die Generalklausel des § 240 Absatz 2 als 46 Kierkegaard, Philosophische Brocken, S. 67 f.; Adorno, Negative D i a l e k tik, S. 214 f., 237. 47 Römisch-rechtliche Bezeichnung f ü r Sklaven. 48 Schopenhauer, Die Welt als W i l l e u n d Vorstellung, 1. Bd., S. 230 f., 233, 319 ff. I n der strafrechtlichen L i t e r a t u r n i m m t Rosenfeld ausführlich auf Schopenhauer Bezug (VDB V S. 388 f.). I h m folgend Maurach / Schroeder, Strafrecht B T T b 1, S. 116 f.; Knodel, S. 6 f. Allerdings w i r d nicht Schopenhauers ,Wille u n d Vorstellung' zitiert, sondern seine Preisschrift über Willensfreiheit.
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I I I . Schutz u n d Wahrung von Freiheit durch Strafrecht
Unterscheidung von rechtmäßiger und rechtswidriger Gewalt; und schließlich die Formulierung des Gewaltbegriffs selbst als Generalklausel. Die erste Version herrschte lange Zeit vor. Das Reichsgericht und zeitweise auch der Bundesgerichtshof bestimmten Gewalt als Kraftentfaltung und/oder Körpereinwirkung. N u r gegen derartige Angriffe wurde Freiheit geschützt. Allerdings war das Rechtsgut Freiheit diesen Gewaltbegriffen gegenüber nicht wirkungslos. Einerseits führte es zur tendenziellen Auflösung ihrer Bestimmtheit. Andererseits kam es zur Wirkung i m Wechsel der Gewaltbegriffe, den die Rechtsprechung mehrfach vollzog. Dabei wurde i m allgemeinen die tatsächliche Bewertung der Freiheit und der Gewalt nicht aufgedeckt. A u f die Einzelheiten w i r d noch einzugehen sein 49 . Die zweite Form der Begrenzung des Freiheitsschutzes, die Verwerflichkeitsklausel, w i r d von der Rechtsprechung öfter bei Freiheitsverletzung durch Drohung, seltener bei solchen durch Gewalt angewendet 50 . Einige Autoren 5 1 stellen generell ab auf die Verwerflichkeitsklausel. I m Unterschied zur ersten Begrenzungsversion findet die Bewertung der Freiheit und der sie beeinträchtigenden Handlung hier offener statt. Kriterien sind Sozialwidrigkeit oder Sittenwidrigkeit der Handlung (Mittel) i n bezug auf die Freiheitsbeeinträchtigung (Zweck). Das Verfahren ist wegen der Offenheit rationaler. Dies gilt auch für die dritte Form der Begrenzung des Freiheitsschutzes. Hier w i r d das Rechtsgut zwar wieder wie i n der ersten Version durch den Gewaltbegriff relativiert. Dieser ist jedoch nicht mehr m i t bestimmten Kriterien wie Körperlichkeit am Verfahren orientiert, sondern zur Generalklausel aufgelöst. Gewalt soll z. B. diejenige Freiheitsbeeinträchtigung sein, die intensiv w i r k t 5 2 , die die Wahrnehmung „substantiell eigener", „sozial normaler" Interessen überschreitet 53 oder die eine rechtlich garantierte Verhaltensalternative abschneidet 54 , was auf eine Abwägung der Rechtsphären i m Einzelfall hinausläuft 55 . Der Methode nach ähnelt diese Begrenzungsweise daher der zweiten. Beide Male w i r d m i t Generalklauseln gearbeitet, die man zusammenfassen kann unter den Begriff ,Sozialadäquanz'. Freiheit w i r d nun als relative bezeichnet 56 , relativ zum 49
s. u. I V . 4. a), 7. c), 9. g). Z. B. B G H S t 17, 328. 51 Knodel, Der Begriff, S. 64 ff.; Maurach / Schroeder, Strafrecht B T T b 1, S. 130; Schönke/Schröder/Eser, § 240 R n 15 ff.; S K - H o r n , § 240 Rn 3, 36 ff.; Eilsberger, JuS 1970, 167. 52 B G H S t 23, 46 (50). 53 Haffke, ZStW 84, 57. 54 v. Heintschel-Heinegg, S. 236; Jakobs, Festschrift f ü r Peters, S. 69 ff., insbes. S. 77 ff. 55 v. Heintschel-Heinegg, S. 219, 223, 250 ff. 56 Maurach / Schroeder, S. 116 ff.; Knodel, Begriff, S. 7; ähnlich Roxin, Jus 1964, 374. 50
2. Das Rechtsgut Freiheit i n herkömmlicher Sicht
47
gesellschaftlichen Adäquaten, Normalen. Wichtig ist dabei, wie das Normale jeweils eingeschätzt w i r d ; ein liberaler Richter w i r d eventuell mehr Freiheitsbeeinträchtigungen als normal und hinzunehmend bezeichnen als ein konservativer 57 . Gegebenenfalls korreliert in dieser Konzeption der Erhabenheit des enormen Wertes in der Praxis ein Relativismus zum faktisch Normalen, welches allerdings nicht voraussehbar, nur i m Einzelfall erfahrbar ist. Das ist Konsequenz der A n nahme einer substantialischen, identischen Freiheit. „ W i r d Freiheit positiv, als Gegebenes . . . inmitten von Gegebenem eingesetzt, so w i r d sie unmittelbar zum Unfreien . . . Gesellschaftlicher Nachdruck auf Freiheit als einem Existenten koaliert sich m i t ungeminderter Unterdrükkung5®." Prinzipiell steckt i n dieser Konzeption des Freiheitsschutzes folgende Hierarchie: der gesetzliche Tatbestand w i r d dem Wert Freiheit untergeordnet und der Wert Freiheit dem gesellschaftlich Normalen. Der Schutz der transzendentalen Freiheit, die noch über dem Grundgesetz schwebt 59 , nähert sich einer polizeilichen Generalklausel 60 . f) Neubestimmung
des Verhältnisses von Gewalt und Freiheit
K r i t i k am theoretischen Ausgangspunkt der h. M. und eine prinzipielle Alternative hat R.-P. Calliess vorgetragen 61 . Wenn herkömmlich i m Strafrecht Freiheit als vorstaatliches, natürliches Recht, als Gegebenheit jenseits sozialer Strukturen vorgestellt werde und der Gewaltbegriff zum Schutz solcher Freiheit aufgelöst, neutralisiert, strukturellnormalem Verhalten angeglichen werde, so sei damit das strafrechtstheoretisch angemessene Verhältnis von Gewalt und Freiheit verkehrt. Nach Calliess muß Freiheit i n den Straftatbeständen „stets als Problem der Struktur, Gewalt dagegen als ein weitgehend strukturabhängiges und daher die Freiheit gefährdendes Element" bestimmt werden 62 . Wegen dieser Gefährlichkeit auch sei Gewalt staatlich monopolisiert. Strafrecht dürfe sich nicht orientieren an Freiheit als einer Identität jenseits sozialer Strukturen. Z u schützen sei vielmehr Freiheit i n verschiedenen konkreten Strukturen, die i n den einzelnen Straftatbeständen thematisiert seien. Gewalt demgegenüber sei einheitlich zu bestimmen als ein Geschehen, das die Strukturen prinzipiell durchbreche. Freiheit als solche ist danach kein Rechtsgut. Der umfassende § 240 steht 57
Lenckner, JuS 1968, 251. Adorno, Negative Dialektik, S. 229. 50 Vgl. Knodel, Der Begriff, S. 8. 60 Bei Haffke (S. 71) u n d v. Heintschel-Heinegg (S. 236) w i r d der Umfang der Generalklausel allerdings erheblich eingeschränkt. 61 Begriff der Gewalt, S. 7 ff., 13 f., 17. 62 Zustimmend v. Heintschel-Heinegg, S. 220 f. 58
48
I I I . Schutz u n d Wahrung von Freiheit durch Strafrecht
nach Calliess dieser Annahme nicht entgegen, denn auch er sei praktisch nicht auf eine identische Freiheit, sondern auf je zu aktualisierende Strukturen bezogen. Dieser neue Ansatz bedeutet dogmatisch, daß die Bestimmung des Gewaltbegriffs nicht am enormen Rechtsgut Freiheit orientiert und der Begriff nicht aufgelöst, sondern als regelmäßig strafbares Verhalten bestimmt werden kann. g) Zusammenjassung Sieht man von Calliess' Ansatz zunächst ab, so ist festzuhalten: aa) Die Entwicklung des Rechtsguts Freiheit führt von der Vorstellung der Freiheit als vorgesellschaftlicher Gegebenheit, die sich allen gesellschaftlichen und damit auch rechtlichen Zusammenhängen entziehen möchte, ihnen feindlich (dualistisch) gegenübersteht, zu einer weitgehenden Vergesellschaftung der Freiheit, einer Vergesellschaftung, die Freiheit dem Normalen einseitig zu subsumieren droht. Die Konstante dieser Entwicklung ist, daß Gesellschaft als identische vorgegeben ist. Einmal ist sie das Ärgernis, das um der Freiheit willen am besten zu beseitigen wäre. A m Ende ist sie die übergreifende Struktur, der der einzelne ausgeliefert w i r d ; die Verhältnisse, deren er nicht mächtig ist, weisen i h m einen begrenzten Freiraum zu. bb) Festzuhalten ist weiter: die enorme Erweiterung der richterlichen Entscheidungskompetenz, die am Ende der Entwicklung des Freiheitsschutzes steht, ist nur vordergründig aus dogmatischen Schwierigkeiten zu erklären. Die Entgrenzung der Strafgewalt ist inhaltlich begründet, w e i l Freiheit als Vereinzelung bestimmt wird. Damit w i r d zur Leitlinie des Strafrechts, daß die Menschen, weil vereinzelt, zu vernünftigem gesellschaftlichem Zusammenleben grundsätzlich nicht fähig sind. Rechtsstaatlichkeit der Strafgewalt wäre hier gefährlich. Die Vereinzelten müssen von oben m i t umfassender Kompetenz zusammen- und i n Ordnung gehalten werden. Ihre Möglichkeit, vernünftig zusammenzuleben, ist vorab aus dem Freiheitsbegriff ausgeblendet worden. Der bloße Wille ist regressiv 63 . Die daraus entwickelte Freiheitsvorstellung ist extrem ungesellschaftlich: Freiheit ist danach gewaltsam oder hilflos. Wenn das Strafrecht an solcher A r t von Freiheit sich orientiert, so legitimiert es die unbegrenzte Ausdehnung der Strafgewalt. h) Normative
Implikationen
des Freiheitsbegriffs
im Straf recht
Wie Freiheit zu bestimmen sei, ist, wenn man das Problem isoliert betrachtet, ungewiß. Die Verfassung enthält aber Normen. I h r Aussagegehalt ist durch Wirklichkeit nicht grundsätzlich zu widerlegen. Sie sagen etwas über ein Sollen, welches das Sein transzendiert. Wenn i n 63
Marcuse, T r i e b s t r u k t u r u n d Gesellschaft, S. 195 f.
3. Soziale Zusammenhänge von äußerer Willensfreiheit
49
der Verfassung von Demokratie die Hede ist und von Rechtsstaatlichkeit, so w i r d damit normativ angenommen, unterstellt, daß Demokratie und Rechtsstaatlichkeit möglich seien. Gegebenenfalls muß die W i r k lichkeit entsprechend geändert werden. Demokratie, d.h. Volksherrschaft, unterstellt, daß die einzelnen nicht prinzipiell unvernünftig, nicht prinzipiell gewalttätig oder hilflos sind; andernfalls wäre Volksherrschaft nicht sinnvoll, wie Hobbes gezeigt hat. M i t dem Demokratiegebot ist unterstellt, daß den einzelnen i n der Regel die Fähigkeit zu vernünftigem Zusammenleben zuzutrauen ist. Dem Strafrecht ist es nicht gestattet, vorab vom Gegenteil auszugehen. Dadurch w i r d die Wahrnehmung der Wirklichkeit nicht suspendiert. Normen zielen auf V e r w i r k lichung. Z u fragen ist, welches die Ansatzpunkte dafür i m Gegebenen sind. 3. Zu einigen sozialen Zusammenhängen von äußerer Willensfreiheit a) Das Wollen Das Wollen, herkömmlich als Substanz der Freiheit vorgestellt, das »Wollen1 ist sprachlich ein Hilfsverb wie das ,Sollen' 1 . Es nimmt an der Erschließung der Wirklichkeit weniger teil als Vollverben, wie »laufen 4, schreiben'. Der Terminus »wollen4 dient nur dazu, die Modalität eines Geschehens zu bestimmen. Für sich genommen ist diese Modalität leer und die diesbezügliche Freiheitsvorstellung ist leer. Praktische Freiheit w i r d real immer i n sozialen Zusammenhängen wie ,ein Haus bauen', ,eine Reise machen', ,eine Regierung wählen'. Auch das Nichtstun ist nicht ohne diverse soziale Vorkehrungen möglich, die seine Qualität erst ausmachen. Gunther A r z t 2 hat das als „Banalitäten" bezeichnet, zu Recht. Wenn er aber danach einen Gewaltbegriff bildet, ohne inhaltlich zu begründen, warum gerade das von i h m Bezeichnete Gewalt sein soll 8 , so spricht das dafür, die „Banalitäten" etwas genauer zu betrachten. Denn das Gewaltverbot gehört sozial und nach den tatbestandlichen Handlungsbeschreibungen zu den Zusammenhängen der Freiheit . I m folgenden geht es nicht darum, die Bedeutung des Willens wegzudiskutieren oder dieses K r i t e r i u m zu ersetzen. Das Wollen hat einen Stellenwert sowohl für das wirkliche soziale Handeln als auch sprachlich als auch nach den Gewaltstraftatbeständen. Der Wille ist Objekt des gewaltsamen Zwanges. Es hat sich aber i n der vorangegangenen 1
Darauf weist Welzel, Lehrbuch, S. 66, hin. Strafrecht B T L H 1, S. 183. 3 Inhaltliche Begründung soll heißen E r k l ä r u n g des positiven sozialen Zweckes einer bestimmten Pönalisierung. Ohne solchen Bezug k o m m t Gesetzeskonkretisierung nicht mehr aus. Strafgesetze können dauerhaft nicht bloß als Begrenzung der Strafgewalt interpretiert werden. 2
4 Keller
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I I I . Schutz u n d Wahrung von Freiheit durch Strafrecht
Darstellung gezeigt, daß der Wille für sich ungeeignet ist, die rechtsstaatliche Konkretisierung der Gewaltstraftatbestände zu leiten. Deshalb soll i m folgenden diese Beschränkung auf den Willen ein Stück weit aufgegeben werden. Ein solcher Versuch, über das naturalistisch verstandene Rechtsgut hinauszugehen, ist i m übrigen i n der Entwicklung der Rechtsgutslehre angelegt. Hans Welzel 4 und die i h m folgende Lehre berücksichtigen m i t dem Handlungsunwert die sozialen Zusammenhänge der Rechtsgüter. Auch indem das Rechtsgut als sozialer Wert abgesetzt w i r d vom einzelnen Angriffsobjekt der Straftat, können jene Zusammenhänge reflektiert werden 5 . Die sozialen Zusammenhänge der äußeren Willensfreiheit können i m folgenden allerdings nur idealtypisch erörtert werden 6 . b) Arbeit Ein wichtiger Zusammenhang von Freiheit ist Arbeit 7 . Sie ist zwar nicht notwendig soziale Handlung 8 , wohl aber Voraussetzung sozialer Handlungen. A n der Arbeit lassen sich Grundzusammenhänge von individueller Freiheit und Umwelt erkennen. Arbeit hängt zusammen m i t Freiheit nicht nur, weil die jeweils gegebenen Verhaltensalternativen (Freiheiten) allemal bearbeitet sind, sondern auch, weil durch A r beit Freiheit verwirklicht werden kann. — Arbeit unterliegt i n zweifacher Hinsicht der Notwendigkeit: einmal, weil sie meist geleistet w i r d aus dem Zwang, die Existenz zu reproduzieren. Zum anderen, weil der Arbeitende, indem er Werkzeuge benutzt und Objekte gestaltet, den Gesetzen folgen muß, denen seine M i t t e l und Objekte unterliegen. Das ist beim Umgang m i t körperlich festen Werkzeugen und Stoffen evident 9 . Arbeit als instrumenteile Tätigkeit verlangt eine Suspendierung der unmittelbaren Triebbefriedigung. Der Arbeitende muß sich ein Stück weit selbst zum Ding machen, um Dinge für sich als Werkzeuge einsetzen zu können 10 . Das Werkzeug vermittelt zwischen dem Menschen und dem Gegenstand seiner Arbeit. Zugleich ragt die Arbeit über die Notwendigkeit hinaus: Zunächst, soweit sie Zeit zur freien Entfaltung gewährt; sodann, soweit die geschaffenen Produkte die Entfaltungsmöglichkeiten und — als Werkzeuge — die Möglichkeiten zu neuer (intensiverer, leichterer etc.) produktiver Tätigkeit erweitern. 4
Das Deutsche Strafrecht, § 1 1 . Stratenwerth, Strafrecht, Rn 204. 6 Das folgende ist orientiert an G. W. F. Hegel, Jenaer Realphilosophie, S. 197 ff.; zur »Arbeit 4 auch Markovic, D i a l e k t i k der Praxis, S. 26 ff. 7 I n seinem Lehrbuch (S. 1 f.) beginnt Welzel die Darstellung des sozialen Handlungswerts bzw. -unwerts m i t dem Beispiel der Arbeit. 8 M. Weber, Wirtschaft u n d Gesellschaft, S. 11. 9 Wer m i t Sprache umgeht, muß sich deren Gesetzen unterwerfen. 10 Hegel, Realpilosophie, S. 214. 5
3. Soziale Zusammenhänge von äußerer Willensfreiheit
51
Freiheit ist das Korrelat der Instrumentalisierung der Natur durch das Individuum, welches sich planvoll ihren Gesetzen unterwirft und sie begreift. Arbeit bringt Freiheit dadurch, daß sie nicht unmittelbar zugreift, sondern vermittelt sich dem Objekt nähert. „Hier t r i t t der Trieb ganz aus der Arbeit zurück. Er läßt die Natur sich abreiben, sieht ruhig zu und regiert nur m i t leichter Mühe das Ganze: List. Die breite Seite der Gewalt w i r d von der Spitze der List angegriffen 11 ." Der A r beitende hat u m so mehr Erfolg, je genauer (listiger) er sich auf die Besonderheit des Objekts einläßt. I n den entwickelten Vermittlungsweisen, den Werkzeugen und differenzierten Fertigkeiten der Arbeiter i m Umgang m i t verschiedenen Stoffen steckt die Möglichkeit von Freiheit. „ I n dem Werkzeuge . . . besitze ich die Möglichkeit, den Inhalt als einen allgemeinen. Darum ist das Werkzeug, Mittel vortrefflicher als der Zweck der Begierde, der einzelner ist; es umfaßt alle jene Einzelheiten 12 ." Das gilt nicht nur für »Werkzeuge 4, sondern wie gesagt generell für die sozial entwickelten Vermittlungsweisen, die Fertigkeiten der Arbeiter i m Umgang m i t zu bearbeitenden Stoffen. Der Zusammenhang von Freiheit und vermitteltem Handeln ist festzuhalten, er betrifft nicht nur die Arbeit. Festzuhalten ist auch jenes Zugleich von Sich-Angleichen ans Objekt und Distanz vom Objekt, welches i n der Arbeit impliziert ist. Das Maß und die Qualität der Freiheit, die die Arbeit den Individuen gewährt, hängen ab von der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit. Das führt zu einem anderen Komplex der Zusammenhänge von Freiheit: den Formen des Verkehrs der Individuen. Die wichtigsten sind Sprache und Tausch. c) Verkehrsformen:
Sprache
13
Der sprachliche Verkehr kann als symbolische Interaktion gekennzeichnet werden; symbolisch, weil der Gegenstand des Verhaltens der beteiligten Individuen nicht unmittelbar berührt, sondern vermittelt durch Worte und die ihnen vorab beigelegte Symbolwirkung bezeichnet wird. Besprechen zwei Personen, wie ein gegebenes Problem zu lösen sei, so ist damit die einseitige Durchsetzung einer der beiden Lösungskonzeptionen suspendiert. Symbolische Vermittlung ist allerdings nur möglich, wenn sie zwischen Individuen stattfindet, deren eines den Gegenstand symbolisch bezeichnen kann i n der Erwartung, daß das andere die Verweisung vom Symbol auf den Gegenstand versteht, und 11
A.a.O. S. 199. A.a.O.', s! 198; vgl. auch S. 214. Z u m folgenden: Habermas, A r b e i t u n d Interaktion, i n : Technik u n d Wissenschaft als »Ideologie', S. 9 ff.; ders., Z u r Logik der Sozialwissenschaften, S. 251 ff.; ders., Der Universalitätsanspruch der Hermeneutik, i n : K u l t u r u n d K r i t i k , S. 264 ff. 12
13
4*
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I I I . Schutz u n d W a h r u n g von Freiheit durch Strafrecht
wenn das andere erwartet, daß das eine durch das Symbol auf den Gegenstand verweisen w i l l . Jeder der Beteiligten erkennt i n der symbolischen Vermittlung den anderen als gleich erwartendes Subjekt an 14 . Symbolische Interaktion beinhaltet ein intersubjektives Vorverständigtsein, daß sprachliche Verständigung möglich sei. Sie ist bezogen auf die Geltung der Regeln der Sprache, die als Möglichkeiten den Beteiligten vorgegeben und ihnen nicht unbegrenzt unterworfen sind. Die mögliche Verbindlichkeit der Worte ergibt sich daraus, daß ihnen als Zeichen für bestimmte Tatsachen gesellschaftlich Bedeutimg zuerkannt wird. Indem das Individuum zu anderen spricht, vergesellschaftet es sich ein Stück weit. Seine sprachliche Äußerung ist immer schon gesellschaftlich strukturiert. Die Sprache als Vermittlung zwischen den Individuen und zwischen ihnen und ihren Themen entlastet die Individuen von physischem Handeln bei der Erkenntnis und Lösung von Problemen. Sie ermöglicht die Bildung von Deutungsschemata, die Erfahrung zugleich erweitern und präjudizieren und die Voraussetzung der bewußten Gestaltung sind 15 . Wenn vom Teilnehmer einer Interaktion stets eine bestimmte Disposition erwartet wird, so bedeutet dies, daß sein Gegenüber eine bestimmte Vorstellung von ihm hat und ihn m i t dieser ein Stück weit zur Deckung bringt. Indem sie i n Interaktion miteinander treten, definieren die Teilnehmer sich gegenseitig als bestimmte; sie identifizieren einander als gleiche Subjekte. Das bedeutet aber auch, daß sie sich gegenseitig i n vorgegebene Kategorien fassen und gleichzeitig sich als bestimmte einzelne voneinander unterscheiden 16 . I m sprachlichen Verkehr findet eine soziale Indentifikation der einzelnen statt. Sie ist nicht auf Sprache beschränkt. M i t unterschiedlicher Rigidität ist jedes soziale Verhalten des einzelnen i n ein Netz von normativen Interpretationen verflochten. M i t dem zusammenfassenden Terminus ,Verkehrsform 4 sollen hier die Formen des Verkehrs zwischen Individuen bezeichnet werden, durch die sich die Individuen zur Struktur der Gesellschaft vermitteln. d) Freiheit
und normierte
Verkehrsformen
Wie soll i n Interaktionen Freiheit verwirklicht werden, wenn diese Interaktionen zugleich sozial normiert sind und wenn als Konstituens der Interaktion die Beteiligten sich gegenseitig identifizieren, d. h. festlegen? — Entscheidend ist die Qualität der den Einzelnen vorgegebenen Handlungsregeln. Es kommt darauf an, ob Handlungsregeln als Normen 14 Habermas, Erkenntnis u n d Interesse, S. 117; ders., Legitimationsprobleme, S. 21; ders., Universalitätsanspruch, S. 284. 15 Habermas, Universalitätsanspruch, S. 268. 16 Ders., Erkenntnis und Interesse, S. 117.
3. Soziale Zusammenhänge von äußerer Willensfreiheit
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zu begreifen sind oder als Determinationen. I n der Norm ist die reflexive Distanz als Möglichkeit enthalten. Die Determination unterwirft sich den Betroffenen irreflexiv. Die erwähnte Spezifik von Normen ist Konstituens von Freiheit 1 7 . Bezogen auf die einzelnen Menschen, die sich durch normierte Interaktion zueinander vermitteln, bedeutet dies: die Beteiligten gehen i n der Interaktion nie ganz auf. Es bleibt eine Differenz von Gemeintem und Verstandenem. Freiheit w i r d gewahrt, wenn diese Differenz respektiert wird, denn sie ist Bedingung des reflexiven Umgangs m i t den Normen der Interaktion. Die Individuen folgen den Normen, sind aber nicht durch sie determiniert, sondern können ihrerseits die Normen gestalten. Die Normen der Interaktion sind dann Bedingung sozialen Verkehrs und zugleich Bedingung des AndersSeins der Individuen. Die Differenz von Gemeintem und Verstandenem, die nie vollständige Identität der interagierenden Menschen m i t der Interaktion werden dabei nicht nur als Mangel der Interaktion aufgefaßt, sondern zugleich als ihr menschliches Movens. Wo die Differenz anerkannt wird, können Menschen schöpferisch m i t Sprache und anderen Normen der Interaktion umgehen. Habermas 18 hat dies als „gebrochene Intersubjektivität" bezeichnet. Er und Krappmann haben die Bedingungen von Freiheit durch Interaktion präzisiert 19 . Die Handlungsregeln müssen diskutabel sein; es muß zulässig sein, eine Differenz zwischen Hegeln und realen Bedürfnissen als Konflikt geltend zu machen. Weiter müssen die Regeln interpretierbar sein; d. h. der regeiförmig handelnde Einzelne muß sich darin zugleich als besonderes Individuum objektivieren können; die von den Individuen reproduzierten Regeln werden dadurch beständig modifiziert. I n das gesellschaftlich Geltende und Tradierte geht ihre Individualität ein. Jede Interaktion ist ein Stück Abweichung. Voraussetzung ist schließlich, daß die Regeln nicht ungebrochen internalisiert werden müssen; es muß Distanz möglich sein, die es den Individuen gestattet, die vorgegebenen Regeln reflexiv anzuwenden, sie nicht nachvollziehen»zu müssen. Die Anerkennung von Handlungnormen und das Freiheitspostulat stehen nicht i n dualistischem Widerspruch. I n beiden zusammen steckt vielmehr der Entwurf von individueller Freiheit durch die anderen, durch die Gesellschaft. „Daß ich mich nur durch die anderen habe" (H. P. Dreitzel), ist hier als Bedingung von Freiheit reflektiert. Die einzelnen Bedingungen, wie sie hier dargestellt wurden, sind natürlich Idealbedingungen von Freiheit durch Gesellschaft. Sie müssen aber als Bezugsrahmen präsent gehalten werden, wenn Restriktionen 17
Dazu Kant, K r i t i k der praktischen Vernunft, S. 138 ff. Z u r L o g i k der Sozialwissenschaften, S. 260; Sozialisation, S. 126. 19 Krappmann, Soziologische Dimensionen der Identität, S. 132 ff.; Habermas, Sozialisation, S. 124 ff. 18
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I I I . Schutz u n d Wahrung von Freiheit durch Strafrecht
als solche überhaupt wahrgenommen werden sollen. Entwicklungen wie die Formalisierung und Standardisierung der Sprache, die Reduktion des menschlichen Verkehrs auf den Austausch von Quantitäten (Geld, Waren) erweisen sich vor dem gegebenen Bezugsrahmen als Freiheitsbeschränkungen, genauer: Beschränkungen der m i t und durch andere Menschen zu realisierenden Freiheit. Zugleich hat Freiheit i n diesem Bezugsrahmen von Interaktion auch eine demokratische Dimension. Wenn die Individuen die Normen der Interaktionen, i n denen sie m i t einander verkehren, nicht deterministisch reproduzieren müssen, sondern reflexiv anwenden und beständig modifizieren können, so w i r d zugleich der gesellschaftliche Zusammenhalt gestaltet. Denn dieser ist konstituiert durch bestimmte Verkehrsformen. Sie bestimmen die je konkrete Gestalt der Gesellschaft. Die Form des Tausches von Arbeitskraft und Geld z. B. ist ein wesentliches Element der gegebenen Gesellschaftsstruktur. Juristisch sind die dargestellten Bedingungen von Freiheit durch soziales Handeln nie gänzlich zu realisieren, weil Recht Gewalt ist und spätestens durch Urteile Dialoge gewaltsam abgebrochen werden. Dennoch sind auch i m Recht die erwähnten Bedingungen reflektiert 20 . So gehört zur Freiheit i m Bereich des Tauschs von Arbeitskraft und Geld das Recht der kollektiven Arbeitsverweigerung. I m Streik werden die Bedingungen des Tauschs und eventuell auch der Tausch selber i n Frage gestellt 21 . Ein anderes Beispiel bietet die Demonstrationsfreiheit. Sie durchbricht die eingelebten Verkehrsformen und stellt damit die Legitimation der i n ihnen eingelassenen Werte zur Diskussion 22 . Auch Elemente des Rechtsstaatsprinzips gehören i n diesen Zusammenhang. Die Bestimmtheit der formellen staatlichen Normen erlaubt den Individuen, sie zu befolgen, ohne sich m i t ihrem Zweck zu identifizieren. Sie erfassen die Adressaten nicht total, sondern i n Teilbereichen ihres äußeren Verhaltens (Tatstrafrecht). Die rechtsstaatlichen Normen lassen die Möglichkeit der Distanz. Nicht so die unbestimmten, diffusen Normen. Zu ihnen kann der einzelne nicht sein Verhältnis bestimmen. Sie umfassen i h n potentiell gänzlich 23 . Gegenüber der bestimmten Norm kann sich der einzelne als Besonderer, als von der Norm unterschiedener, als Individuum bestimmen. e) Distanz, Annäherung,
Regelverletzung
Dem, der ihrer mächtig ist, gewähren die Interaktionsformen die Möglichkeit, sich m i t anderen zu identifizieren, sich ihnen zu nähern. Zugleich implizieren sie die Erfahrung, daß man selbst i m Verhältnis 20 Vor allem wäre insofern der Strafprozeß zu betrachten; dazu Haft, Der Schulddialog. 21 Dazu Benjamin, K r i t i k der Gewalt, S. 46 ff. 22 Dazu Habermas, Protestbewegung, S. 14 ff., 188 ff. 23 Dazu Frankenberger, K r i t J 1977, 353 (355 f.).
3. Soziale Zusammenhänge von äußerer Willensfreiheit
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zum anderen ein Besonderer ist. Diese paradoxe Gleichzeitigkeit von Vereinigung und Distanz, von Auflösung und Besonderung ermöglicht Reflexion. Das Verhältnis zu anderen kann bestimmt werden; es w i r d dem Individuum nicht einseitig aufgezwungen, sondern i n einem interaktiven Prozeß der wechselseitigen Interpretation gestaltet. Das Reflexions- und Gestaltungspotential ist wichtig i m Verhältnis zu Regelverletzungen. Wenn eingelebte Interaktionsformen einseitig überschritten werden, so kann dieser Abweichung begegnet werden. Das bedeutet zunächst, daß Form und Sinn der Handlung differenziert bestimmt werden können. Es bedeutet weiter, daß die Interaktionsmedien entwickelt und geöffnet werden können, u m derart die Regelverletzung von ihrem kommunikativen Anspruch her zu beantworten. Die Möglichkeit, Regelverletzungen konstruktiv zu verarbeiten, ist normal. Sie w i r d i m alltäglichen Gespräch permanent realisiert. Die Regelverletzung ist konstitutiv für jedes nicht formalisierte Gespräch. Die Intention des Sprechers geht nicht voll i n die vorgegebene Sprache ein. Er interpretiert sie sprechend i n einer bestimmten, von der überkommenen Sprachbedeutung abweichenden Weise5*4. Der Sprecher ist nicht nur auf die Regeln der Sprache angewiesen. Sie werden auch von ihm gestaltet. Gleiches gilt für den Verstehenden. f) Zwischenergebnis Das bisher dargestellte läßt sich i n der These zusammenfassen, Freiheit werde dadurch hergestellt und entfaltet, daß der einzelne sich einläßt auf gegebene Strukturen. N u r indem er mit anderen interagiert, hat er Freiheit, nicht indem er sich i n einem Freiraum ausgrenzt. Für den strafrechtlichen Schutz der Freiheit wäre daraus zu schließen, daß Freiheit nicht als ein dem einzelnen gegebenes Gut zu schützen ist, daß vielmehr bestimmte Tätigkeiten, i n denen soziale Freiheit gefährdet wird, unterdrückt werden und dadurch andere Verkehrsformen freigestellt werden. Dabei würde gleichzeitig vermieden, daß Freiheit als Gegebenheit hoheitlich definiert wird. — M i t dem Aufweis der Strukturen und Prozesse, i n denen Freiheit hervorgebracht wird, ist die Theorie vom gegebenen Rechtsgut Freiheit jedoch nicht gleichsam widerlegt. Es gibt Aspekte der Verkehrsformen, die für dieses Rechtsgut sprechen. g) Verkehrsformen:
Tausch
Bietet ein Warenbesitzer auf dem Markt anderen seine Sachen an, so signalisiert er damit, daß er Sachen der anderen erwerben w i l l . Das impliziert Elemente sprachlicher Verständigung. Der Tauschinteressent M Habermas, L o g i k der Sozialwissenschaften, S. 291; Krappmann, Identität, S. 121 f., 128 f.
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stellt den unmittelbaren Zugriff auf die Sache des anderen zurück i n der Erwartung, daß sie tauschbar ist. Er identifiziert seinen potentiellen Partner als Warenbesitzer. Das funktioniert aufgrund der vorgegebenen gesellschaftlichen Institutionalisierung des Warenverkehrs. Er ermöglicht gesellschaftliche Arbeitsteilung und damit eine Steigerung der Güterproduktion und Konsummöglichkeiten. M i t der Anerkennung des Geldes als Tauschmittel werden diese Effekte noch verstärkt und durch die Abstraktheit des Geldes die Tauschmöglichkeiten erweitert. Auch hier erweist sich die Strukturierung des Verkehrs der Individuen i n Form der symbolischen Interaktion, d. h. die Vergesellschaftung und soziale Identifikation als Medium von Freiheit. Von der Sprache ist der Tausch dadurch unterschieden, daß die Interaktion hier vorab auf ein Ding beschränkt ist. Die Beteiligten kommen als Personen nicht ins Spiel, sondern werden nur als Besitzer der Ware anerkannt. Ist i n der Sprache die Verständigung, d. h. die wechselseitige Anerkennung und Integration theoretisch unbegrenzt, so muß der Tauschinteressent die Person des Partners prinzipiell ausblenden, wenn er nicht das Ziel seiner Tätigkeit — vorteilhaft zu tauschen — aufgeben w i l l . Max Weber 85 weist darauf hin, daß der Tausch historisch zunächst nur zwischen getrennten Sippen und Stämmen praktiziert wurde und zwar prinzipiell averbal. Innerhalb der personal gebundenen Gruppen war er ausgeschlossen. Allerdings kann der Tauschinteressent i n d i v i duelle Schwächen seines Partners bei verbalen Verhandlungen berücksichtigen. Damit w i r d aber nur noch deutlicher, daß die Tauschpartner einander Objekte sind. Die Tauschakte sind strategisch orientiert und schließen die i n der Sprache enthaltenen Möglichkeiten kommunikativer Integration aus. Dementsprechend kann Tausch als aliud der Sprache qualifiziert werden. Max Weber2® bezeichnet i h n als die unpersönlichste Beziehung zwischen den Menschen. h) Vereinzelung, Zweckrationalität, Zerfall menschlicher Verkehrsformen Die Tauschform legt es nahe, Freiheit als gegebenes Gut zu begreifen. Die i m Rahmen des Tausches gegebenen Verhaltensalternativen sind quantifizierbar i n Geld. Diese Freiheit ist Besitz. Schon John Locke meinte, Leben und Freiheit der Menschen seien ihr Eigentum 2 7 . Zwar w i r d dieser verdinglichte Freiheitsbesitz realisiert i n sozialem Kontakt, aber wie gesagt i n der unpersönlichsten Form. Die Menschen sind getrennt. Die Vereinzelung ist ein Konstituens von Freiheit unter dem 25 26 27
Wirtschaft u n d Gesellschaft, S. 383. A.a.O., S. 382. Stratenwerth, Recht u n d Gewalt, S. 84 f.
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Aspekt der Tauschform. Freiheit w i r d hier begriffen als optimale Ausgrenzung der anderen vom Eigenen. Alle qualitativen Differenzierungen der Verkehrsformen, ihre Menschlichkeit regrediert aufs Quantitative und den vereinzelten Zweck. I h n optimal zu realisieren, d. h. die anderen soweit als möglich zu Objekten zu machen, ist Freiheit. I h r geht es nicht um menschliche Verständigung, nicht um gesellschaftliche Vernunft 2 8 . Die Menschen sind i m Kontext der Tauschform austauschbar. Freiheit ist, was sich einer herausnehmen kann, sein Freiraum. Unter dem Aspekt der blanken Zweckrationalität ist die h. M. zum Verhältnis von Gewalt und Zwang i m Strafrecht verständlich. Obwohl § 240 Gewalt als besonderes Tatbestandsmerkmal neben dem bezweckten Zwang enthält, w i r d der Gewaltbegriff als Verkehrsform von der h. M. entqualifiziert, so daß er sich von normalen, zivilisierten Verkehrsformen nicht unterscheidet und aufgeht i n dem bezweckten Zwang 2 9 . Wer einen Menschen zwecks Nötigung m i t einer geladenen entsicherten Pistole bedroht 80 , verübt dann ebenso Gewalt wie der Demonstrant, der sich vor die Tötungsmaschine eines 48 t-Panzers setzt 31 . Zwischen beiden Verhaltensweisen bestehen einige menschlich-zivilisatorische Unterschiede. Sie sind aber nicht mehr verständlich 32 , wenn man die Verhaltensweisen nur unter dem Aspekt des Zwecks betrachtet, selbst wenn i m Gesetz nicht nur von diesem Zweck, sondern — davon unterschieden — auch von Gewalt die Rede ist. Die Differenzierung von mehr oder weniger zivilisierten Verkehrsformen erscheint irrational. Der Zweck nivelliert sie. Ob zwecks Nötigung Dritter ein K i n d oder ein Hund verprügelt wird, ist gleich: „Einen sinnvollen Grund für die unterschiedliche Behandlung beider Fälle gibt es nicht 3 8 ." Das BayObLG 8 4 stellt das Verhalten einer Frau, die vergewaltigt wurde und Hilfe suchend auf der Straße h i n und her geht, um Fahrzeuge anzuhalten, einer Straßenbarrikade gleich und bewertet es als Gewalt, auch wenn die Fahrer nicht gefährdet wurden, und fügt konsequent hinzu, die Fahrzeugführer hät88 Dazu u n d zum folgenden Horkheimer, Vernunft als Selbsterhaltung; ders., Z u r K r i t i k der instrumentellen Vernunft. K r i t . zur Neutralisierung des Gewaltbegriffs auch Calliess, Der Begriff, S. 6 f., 9. 30 B G H S t 23, 126. 31 Schönke / Schröder / Eser, Rn 10 v o r § 234. 32 Vgl. Knodel (Der Begriff, S. 46 ff.) zur Gleichstellung von Gewalt gegen Menschen u n d Sachen. Haffke (ZStW 84, 58 F n 92) konstatiert, es habe noch niemand erklären können, w a r u m es bei den Freiheitsdelikten auf K ö r p e r lichkeit ankommen soll. Allerdings hat auch noch niemand aus dem positiven Strafrecht begründen können, w a r u m bei den Gewaltdelikten die Handlungsf o r m (Gewalt) m i t dem Erfolg (Zwang) i n eins gesetzt werden muß. 33 84
Knodel, Der Begriff, S. 53 f. N J W 1953, 1723 = BayObLGSt 1953, 145 ff.
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ten die Frau überfahren dürfen 85 . Für den vereinzelten Zweck des Fahrers ist es i n der Tat gleich, ob er durch eine Barrikade oder durch den Körper eines lebendigen Menschen i n seinem Fortkommen behindert wird. Und wenn derart jenseits des Zweckes alles gleich wird, so kann man nur noch nach Recht und Unrecht der Behinderung unterscheiden. So wie der Berechtigte die Barrikade hätte durchbrechen dürfen, ebenso hätte er die Frau überfahren dürfen. Aber i m Gesetz ist nicht nur vom Zwangszweck, sondern auch von Gewalt die Rede, von einer spezifischen Form der Zweckverfolgung. i) Vereinzelung
und Herrschaft
Allerdings dürfte eine Gesellschaft, i n welcher der Verkehr der einzelnen nur noch der Rationalität vereinzelter Zwecke folgt, nicht dauerhaft zusammenhalten. Nach Hobbes w i r d daher eine mächtige, übergreifende, lenkende Staatsgewalt nötig, die — frei von Bindungen — die drohende Anarchie der Vereinzelten ordnet und von oben die Werte verordnet, die die Bürger zu verwirklichen haben 36 . Das ist die Kehrseite der Hypertrophie der vereinzelten Zweckrationalität. Auch das zeigt sich ansatzweise i n der Entwicklung des strafrechtlichen Freiheitsschutzes. Wo er und die Zweckrationalität am weitesten ausgedehnt werden, da werden zugleich umfassende Generalklauseln eingeführt. Jenseits rechtsstaatlicher Bindung bewertet der Staat, was „verwerflich" ist i m Verhalten der Bürger und kriminalisiert die Wertverfehlung. Der hier angenommene Zusammenhang von Freiheit als Vereinzelung und expandierender Herrschaft läßt sich genauer zeigen. Dabei ist allerdings nicht nur die Tauschform zu berücksichtigen, die die Interaktion auf Sachen und die Menschen auf getrennte Besitzer von Sachen (Rechtsgüter, Freiräume) reduziert 37 . Relevant ist auch, was oben i m Zusammenhang der Entstehungsbedingungen von Gewalt und der strukturellen Gewalt ausgeführt wurde 3 8 . Auch die symbolisch vermittelten Verkehrsformen können unter der dominierenden Tauschform i n Formalität erstarren, so daß menschliche Individualität nicht mehr sozial vermittelt werden kann und die Menschen vereinzeln. Die wider33 Allerdings w u r d e n i m konkreten F a l l Mopedfahrer angehalten, die durch das Verhalten der Frau selbst an Leib u n d Leben gefährdet wurden. N u r dieser Umstand, auf den Schäfer ( L K § 240 Rn 17) hinweist, hätte die Annahme von Gewalt begründen können. Das B a y O b L G berücksichtigte i h n jedoch nicht. Es stellte allein darauf ab, daß mittels des Körpers der Frau ein mechanisches Hindernis geschaffen wurde u n d deshalb Gewalt vorliege. 36 Preuß, Legalität u n d Pluralismus, S. 17 ff., 72 ff., 84 ff. 37 Vgl. Stratenwerth, a.a.O. 38 s. o. S. 26 ff.; K l . Horn, Die gesellschaftliche Produktion von Gewalt, S. 328 ff.
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sprüchlichen Anforderungen der sozialen Rollen können die Vermittlungsfähigkeit der einzelnen überschreiten, so daß sie sich i n sich selber zurückziehen und Freiheit m i t Privatismus identisch oder jenseits der legalen Vermittlungsformen als Gewalt realisiert wird 3 9 . Die Menschen sind dann der Verkehrsformen nicht mehr Herr, können sie nicht mehr reflexiv befolgen und gestalten, sich nicht mehr verständigen. Freiheit als Vereinzelung meint subjektiv nicht vermitteltes Nebeneinanderleben der Individuen. Diese introvertierte Freiheit ist zugleich Konfliktpotential. Wenn die Vereinzelten der Vermittlungsformen nicht mehr mächtig sind, so ist auch ihre Möglichkeit, Regelverletzungen differenzierend zu interpretieren und interaktiv auf sie einzugehen, beschränkt. Regelverletzungen, die i n einem Mindestmaß zu jeder menschlichen Kommunikation gehören, werden tendenziell ununterscheidbar als Bedrohung erfahren. Die Annahme liegt nahe, daß der entqualifizierte Gewaltbegriff, der annähernd jede Zwangsausübung als Gewalt definiert und latent kriminalisiert, hier seinen sozialen Bezug hat. I m unvermittelten Nebeneinander der Menschen bleibt kein Reflexionspotential, i n welchem sich jenes Zugleich von Annäherung und Distanz und damit die differenzierende Erkenntnis und Gestaltung der Situation entfalten könnte. Regelverletzungen erscheinen undifferenziert als gefährlich und erzeugen Angst. Daraus entsteht ein Bedürfnis nach umfassender sichernder Herrschaft. Es w i r d eskaliert dadurch, daß die Vereinzelung, die das Schutzbedürfnis gegen Regelverletzungen steigert, zugleich auch das wirkliche Entstehen von Regelverletzungen, die Durchbrechung der erstarrten Verkehrsformen fördert und so wieder Angst und das Bedürfnis nach starker, beweglicher Staatsgewalt vorantreibt. Der weite Gewaltbegriff, der die Kriminalisierung von rechtsstaatlichen Grenzen entbindet und gegen die verschiedensten Regelwidrigkeiten ein umfassendes, mächtiges staatliches Drohpotential freisetzt 40 , kommt diesem Bedürfnis entgegen.
k) Résumé Aus der Betrachtung der sozialen Zusammenhänge der Freiheit läßt sich nicht entnehmen, wie Freiheit durch Strafrecht ,richtig 4 zu schützen sei. Wohl aber haben einige Anhaltspunkte ergeben, daß der weite Gewaltbegriff die Gesellschaft davon entlastet, strukturelle Probleme zu lösen. Er scheint die Vereinzelung der Menschen und die damit zusam39 Dazu u n d zum folgenden Franz Neumann, Angst u n d Politik, S. 187 ff., 204; K l . Horn, Über den Zusammenhang von Angst und politischer Apathie. 40 Der weite Gewaltbegriff ist nicht n u r bei § 240 relevant. Er begründet bei § 81 lebenslange u n d bei der Vorbereitung eines hochverräterrischen U n t e r nehmens zehn Jahre Freiheitsstrafe.
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menhängenden sozialen Probleme zu verschärfen, so daß die Überlagerung weiter gesellschaftlicher Bereiche m i t latenter Strafgewalt letztlich i m Sinn einer sich selbst erfüllenden Prophetie begründet erscheint. Wenn dem so ist, dann ist die oben angedeutete Form des Freiheitsschutzes angemessener. Das Strafrecht müßte sich orientieren auf spezifische soziale Bereiche und die dort speziell gefährlichen Verkehrsformen. Unmittelbarkeit, Zwang wären nicht generell zu pönalisieren, sie gehören i n einem Mindestmaß zu jedem sozialen Verkehr. Das Strafrecht müßte verbindlich bestimmt werden, so daß seine Normen Freiheit ermöglichen. Wo eine Verhaltensweise i n allen sozialen Bereichen pönalisiert wird, müßte sie bestimmt werden als i n allen sozialen Bereichen prinzipiell untragbare Verhaltensweise 41 . Das ist nicht der Zwang. I m folgenden soll die Bedeutung der Freiheit i n den einzelnen einschlägigen Straftatbeständen untersucht werden. 4. Zusammenhänge von Freiheit in Straftatbeständen
Freiheit
a) Die Fragestellung: als Substanzbegriff oder als Sammelbegriff
Die folgende Untersuchung des Rechtsguts Freiheit setzt nicht bei § 240 an, der angeblich der Grund- und Auffangtatbestand des Freiheitsschutzes ist. Würde sie dort ansetzen, so wäre die mögliche K r i t i k am Rechtsgut Freiheit schon halb verschenkt. Denn das Rechtsgut Freiheit ist ein Oberbegriff, der über das Besondere der Tatbestände gestülpt wird. Aus i h m w i r d die Auslegung der besonderen Tatbestände deduziert. Eine Infragestellung muß umgekehrt verfahren, also von unten, vom Besonderen her die Bedeutung des Freiheitsschutzes zu klären suchen. Die Frage, die zu klären ist, lautet: Ist nach dem Gesetz ein identisches Rechtsgut Freiheit als Substanzbegriff möglich, oder ist Freiheit stets i n verschiedene soziale Teilbereiche und deren besondere Verkehrsformen eingelassen, so daß Freiheit rechtlich nur als Sammelbegriff relevant wäre 1 . Letzteres würde der oben referierten These von R.-P. Calliess entsprechen; danach ist Freiheit für das Straf recht kein identisches Rechtsgut, sondern nur i n verschiedenen sozialen Strukturen relevant 2 . b) Sexualdelikte Würde bei den Sexualdelikten die Freiheit als isolierte Fähigkeit des Individuums verstanden, so wäre die höchste Form sexueller Freiheit 41
Calliess, Der Begriff, S. 9 f., 13 f. Z u r Unterscheidung von Substanz- u n d Sammelbegriff vgl. Preuß, Legalität u n d Pluralismus, S. 23 f. 2 Der Begriff, S. 7 ff. u. o. S. 47. 1
4. Zusammenhänge von Freiheit i n Straftatbeständen
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die Vergewaltigung anderer; und durch das Recht würden i h r nur äußere Schranken auferlegt. Diese Vorstellung von sexueller Freiheit mag i n früheren Konzeptionen und Praktiken der Ehe Realität gehabt haben, und ihre Nachwirkungen sind noch i n der Beschränkung der §§ 177 ff. auf Vergewaltigung außerhalb der Ehe zu erkennen 8 . Daß diese Vorstellung von sexueller Freiheit aber als Rechtsgut nicht zu akzeptieren ist, bedarf keiner Begründung. Sexuelle Freiheit ist nicht allein Rechtsgut einzelner Partner des Sexualverkehrs, sondern realisiert sich i n der Ungezwungenheit ihrer Beziehung . Diese ist qualitativ unterschieden von anderen Beziehungen, etwa der des Eigentumsverkehrs. Sie ist nicht Objektivation einer vorgegebenen allgemeinen Freiheit, sondern w i r d i n der Intimität der Individuen hergestellt. N u r wenn Freiheit auf den isolierten einzelnen zusammengezogen wird, kann die sexuelle Freiheit als Unterart eines Rechtsguts vorgegebener individueller Freiheit verstanden werden. Die Annahme einer qualitativ besonderen sexuellen Freiheit, d. h. der Einheit von Freiheit und Sexualität, ist für das Strafrecht folgenreich. Das zeigt sich, wenn man als Kontrast die alternativen Konzepte betrachtet. Früher wurde z. T. angenommen, die §§ 177 ff. bzw. die ihnen zeitlich vorangegangenen Tatbestände schützten je gesondert einerseits ,die Freiheit', andererseits die Geschlechtsehre der Frau oder auch die Sittlichkeit 4 . Durch diese Trennung wurde das zweite Rechtsgut dem Verkehr der Individuen, auch der Frau, entzogen, wurde ihnen unvermittelt vorgeordnet als statischer Wert. Dieser wurde der Prostituierten abgesprochen. Sie hatte i h n verspielt, „ v e r w i r k t " (Roxin). Reste solcher Differenzierung finden sich noch i n neueren Urteilen des Bundesgerichtshofes 5 . Auch daß Vergewaltigung i n der Ehe nicht strafbar ist, paßt i n diesen „veredelten" (Binding) Zusammenhang von Verdinglichung: Der Ehemann hat einen Anspruch auf die Geschlechtsehre seiner Frau. c) Kindesentziehung Der Beziehungsaspekt der Freiheit ist relevant auch beim Delikt der Kindesentziehung, § 235. Früher sah man darin eine Beeinträchtigung der Freiheit der Eltern, die über Kinder wie über sich selbst sollten verfügen können 6 . Die Familie ist aber kein ausgegrenztes Sondergut der 3 Kritisch dazu Maurach / Schroeder, Strafrecht B T Tb 1, S. 150 f.; Schapira, K r i t J 1977, 231. 4 Binding, Lehrbuch, S. 89, 194, 200; Knodel, Der Begriff, S. 5 f., 162; B G H M D R 1973, 555. Gegen die Trennung: Maurach, N J W 1961, 1051; Schroeder, Der Schutz von Staat u n d Verfassung, S. 318; Jäger, Sittlichkeitsdelikte, S. 43 f.; Simson / Geerds, Straftaten gegen die Person, S. 368 f. 5 B G H a.a.O.; B G H S t 21, 181; kritisch Roxin, N J W 1967, 1287 f.; Schröder, JR 1967, 226; Schönke / Schröder / Eser, § 237 Rn 3. Z u dem von B G H S t 21, 181 und Maurach / Schroeder, S. 155 geltend gemachten A r g u m e n t des Einverständnisses s. u. S. 180, 263.
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Eltern. Die Kinder sind m i t h i n der Bestimmung der Eltern nicht wie Eigentum unterworfen. Die Familie w i r d geschützt als Bedingung der Bildung von Identität und Freiheit i n den besonderen Beziehungen von Eltern und Kindern. d) Freiheitsberaubung Der Tatbestand der Freiheitsberaubung soll nach h. M. die Fortbewegungsfreiheit schützen. Konkret war und ist diese schon immer gesellschaftlich vermittelt und definiert 7 . Das ist evident bei der familialen Erziehung. Auch i m Bereich der Ausbildung, der Landesverteidigung usw. werden die einzelnen an bestimmte Orte fixiert 8. I m Ergebnis ist also die Fortbewegungsfreiheit nicht gegen die Einsperrung abgegrenzt, sondern beide sind i n sozialen Beziehungen gegenseitig verschränkt. Maurach / Schroeder treffen dies m i t dem Hinweis, „ K e r n der Sache" sei die „rechtswidrige Gefangenhaltung" 9 . Der Beziehungsaspekt der Gefangenhaltung zeigt sich i n der Freiheitsstrafe. Sie t r i f f t den Gefangenen nicht als isolierten einzelnen, sondern sie reißt i h n aus sozialen Beziehungen. Darin steckt ihre Problematik. e) Delikte im politischen System Daß es i n den politischen Tatbeständen, §§ 81 f., 105 f., 107, 108, 113 unmittelbar u m das Rechtsgut individueller Freiheit gehe, w i r d selten behauptet 10 . Vielmehr koppeln manche Autoren diese Tatbestände gänzlich vom Individuum ab und nehmen hier quasi dessen aliud, den Staat 11 oder den Staatswillen 1 2 als Schutzgut an. So stellen etwa Maurach/ Schroeder 13 der persönlichen Freiheit, „die jedem Menschen ohne Rück6 Marezoll, Das gemeine deutsche Criminalrecht, 2. Aufl., S. 399; anders Maurach / Schroeder, S. 119. 7 Freiheitsberaubung w u r d e i m gemeinen Recht w i e die Nötigung dem crimen vis zugeordnet (Binding, Lehrbuch, S. 96; v. Liszt, Lehrbuch, S. 338). Sie w a r Verletzung des öffentlichen, staatlichen Friedens. Die Fortbewegungsfreiheit w a r also verstaatlicht. Der A n g r i f f auf sie verletzte das umfassende staatliche Gewaltmonopol. Zugleich w a r es aber auch die Staatsbildung, die die Entfaltung von tatsächlichen Fortbewegungsmöglichkeiten u n d die A u f lösung von lokalen Hörigkeiten förderte. 8 „Denn ebenso wie die Nötigung gehört die Freiheitsberaubung wegen der ,Relativität' des Freiheitsbegriffs . . . zu denjenigen Tatbeständen, bei denen die rechtmäßigen Verwirklichungen bei weitem überwiegen, während die rechtswidrigen . . . durchaus zu den Ausnahmen gehören." (Maurach / Schroeder, StR, B T T b 1, S. 136). A r z t (StR B T L H 1, S 179 f.) meint, deshalb solle z. T. die Verwerflichkeitsklausel (§ 240 Abs. 2) angewendet werden. 9 S. 134; vgl. auch Binding, Lehrbuch, S. 96; Rosenfeld, V D B V, 392. 10 So aber Knodel, der Begriff der Gewalt, S. 5 f., 162. 11 So die Überschrift zu den §§ 80 ff. i n Welzels Lehrbuch, S. 480. 12 So zu § 113 Schönke / Schröder / Eser, R n 3. 13 Straf recht B T T b 1, S. 118.
4. Zusammenhänge von Freiheit i n Straftatbeständen
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sieht auf seine Stellung i n der Sozialordnung eigen ist", die Stellung der Abgeordneten und Wähler gegenüber, die „bei Ausübung ihrer Tätigkeit als Träger staatlicher Funktionen" handelten. — „Der Staat" und die verfassungsmäßige Ordnung sind Teilbereiche sozialer Beziehungen, wie die Familie, das Ausbildungssystem oder die Wirtschaft. Die Verfassung fixiert Verkehrsformen, „ i n denen sich die Gesellschaft zur Lösung bestimmter Probleme organisiert und grundgesetzlich verfaßt hat" 1 4 . I n diesen Verkehrsformen kann sich Freiheit durch Teilhabe des Individuums realisieren. Die Formen der Teilhabe sind nicht abschließend positiv fixiert 1 5 ; durch sie kann das politische System geändert werden. „Der Staat" w i r d legitim konstituiert erst durch das gesellschaftliche Recht; außerhalb dessen hat er grundsätzlich keinen anzuerkennenden Bestand 16 . Nach diesem Verständnis ist Widerstand (§ 113) zulässig gegen rechtswidrige Maßnahmen von Vollstreckungsbeamten. Derartige Maßnahmen muß der einzelne nicht unter Anerkennung eines dem Recht vorgängigen substantialischen Staatswillens hinnehmen 17 . f) Raub Bei den §§ 240, 249 ff. soll nach h. M. durch das Gewaltverbot undifferenziert die äußere Willensfreiheit geschützt werden. I n den §§ 249, 252, 255 deutet aber schon der Zusatz ,gegen eine Person 4 darauf hin, daß Gewalt hier nicht allein unter dem Gesichtspunkt des Rechtsguts Freiheit zu bestimmen ist, denn dieses w i r d durch jede zwingende Gewalt beeinträchtigt. U m die Besonderheit der zwingenden Gewalt gegen Personen zu bestimmen, müßte also auf Gesichtspunkte jenseits der Freiheit rekurriert werden, wenn die Bestimmung inhaltlich erklärt werden soll. Aber auch wenn man von diesem Problem zunächst absieht, bleibt die Konzeption der h. M. fraglich. Durch den Raubtatbestand soll nach h. M. primär das Eigentum 1 8 geschützt werden, aber „auch die persönliche Freiheit" 1 9 . Deren Verletzung w i r d verstanden als M i t t e l zum Zweck des Eigentumsdelikts. Es soll beim Raub erstens die Freiheit als solche verletzt sein, die sich von Eigentum und Gewahrsam abhebt und den Raub i n eine Reihe m i t der 14 Calliess, Theorie der Strafe, S. 49 ff.; Bäumlin, Rechtsstaat, Sp. 2043 f., 2046 ff. 15 Fezer (JZ 1974, 601) weist darauf hin, daß nach BVerfGE 20, 56 (58) die politische Willensbildung nicht beschränkt ist auf Wahlen u n d A b s t i m m u n gen. Sie ist n u r negativ bestimmt durch Unterdrückung bestimmter Einflußformen. 16 Bäumlin, a.a.O.; ähnlich Hesse, Festschrift für Smend, S. 71, 88 ff. 17 Die Frage des Rechtswidrigkeitsbegriffs bei § 113 Abs. 3 ist damit nicht präjudiziert; s. u. S. 287 ff. 18 Nach h. M. auch Gewahrsam, vgl. Maurach / Schroeder, StR B T T b 1, S. 278, 325; Welzel, Lehrbuch, S. 347; anders Schönke / Schröder / Eser, § 242 Rn 1. 19 Schönke / Schröder / Eser, § 249 Rn 1.
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Freiheitsverletzung der Nötigung stellt; und zweitens soll diese Freiheitsverletzung den Raub vom Diebstahl qualitativ unterscheiden. Diese Konzeption wäre i n Frage gestellt, wenn sich zeigen ließe, daß erstens beim Raub wiederum nicht ,die Freiheit', sondern eine bestimmte, strukturierte Beziehung beeinträchtigt ist und daß zweitens diese spezifische Freiheit beim Diebstahl prinzipiell ebenso verletzt ist wie beim Raub. Trennung von Eigentum und Freiheit W i r d einer Frau die Tasche, die sie, ohne gezielten Widerstand zu leisten, i n der Hand trägt, entrissen, so meint Knödel 2 0 , hier liege ausschließlich ein A n g r i f f auf das Eigentum vor; es fehle „jede Beeinträchtigung der persönlichen Freiheit". — Freiheit ist nach h. M. Wille; aber „der Widerspruch m i t dem Willen von Behörden, Beamten, Privaten haftet einer großen Anzahl von Deliktsarten . . . an. So den hauptsächlichsten Verbrechen wider die Person nicht minder als denen wider das Vermögen (Tötung, K V , Beleidigung, Diebstahl, Unterschlagung ...) . . . Wieweit dies zutrifft, zeigt die Lehre von der wirksamen E i n w i l l i gung i n die Verletzung . . . I n allen diesen Fällen ist der verletzte Wille auf die Erhaltung außerhalb i h m liegender Rechtsgüter gerichtet; er hat sich — u m m i t Hegel zu reden — i n sie hineingelegt.. ." Ä 1 . Der Wille ist nicht nur darauf gerichtet, einen Zustand zu wahren, d. h. andere von der Sache auszuschließen, sondern auch darauf, m i t der Sache (willentlich) zu verfahren. Dieser Verfügungswille steht für die strafrechtliche Tatbestandsbildung sogar i m Vordergrund; er begrenzt den Schutz des Zustandes. Wenn nach § 242 Eigentum nicht umfassend, sondern nur gegen Wegnahme geschützt ist, bedeutet dies, daß das Eigentum nicht unmittelbar als Zustand erhalten werden soll, sondern nur bestimmte Formen des Umgangs m i t dem Eigentum 2 2 . Den Zusammenhang der beiden Freiheiten bestätigt § 903 BGB: „Der Eigentümer einer Sache kann (wenn er w i l l , R. K.) . . . m i t der Sache nach Belieben verfahren und andere von jeder Einwirkung ausschließen." I m Hinblick auf den Willen des Eigentümers, über die Sache zu verfügen und andere auszuschließen, kann also der Diebstahl ebenso als Freiheitsverletzung bezeichnet werden wie der Raub. Die verletzte Freiheit realisiert sich i n Beziehungen, i m sozial und rechtlich strukturierten Eigentumsverkehr, nicht i m bloßen Haben jenseits des gesellschaftlichen Prozesses. — Ist beim Raub eine zusätzliche Freiheit betroffen? 20
J Z 1963, 702 f. Binding, Lehrbuch, S. 80; vgl. auch ders., Normen I, S. 333 f., 360; Stratenwerth, Strafrecht, R n 364. 22 Der Schutz des Zustandes ist andererseits nicht irrelevant: wo die Sache dem Gewahrsamsinhaber rechtlich nicht zusteht, ist die Durchbrechung der Verkehrsform durch den Berechtigten nach h. M. nicht strafbar (BGHSt 17, 89; Fezer, G A 1976, 356; RGSt 64, 210; Arzt, Festschrift f ü r Welzel, S. 834, 838). 21
4. Zusammenhänge von Freiheit i n Straftatbeständen
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Zur Klärung der Frage können zwei Beispiele dienen: 1. A , ein älterer, körperlich wenig gewandter Mann, hat seine Tragetasche wenige Schritte neben sich gestellt. B t r i t t hinzu, nimmt schnell die Tasche auf und eilt davon. A hatte das Vorgehen des B erkannt, aber wegen seiner Schwerfälligkeit konnte er weder die Tasche noch B fassen. 2. A , noch hinreichend reaktionsschnell, nimmt angesichts der erkennbar bedrohlichen Annäherung B's die Tasche auf, umklammert sie fest m i t den Armen und läßt auch nicht los, als B daran zu zerren beginnt. Schließlich gelingt es dem B aber doch, m i t einem kräftigen Ruck dem A die Tasche zu entreißen. I m ersten Beispiel liegt Diebstahl vor, i m zweiten nach h. M. Raub 23 . Welche Freiheit des A ist i m zweiten Fall beeinträchtigt, die nicht auch i m ersten betroffen wäre? Die Freiheit von der (mittelbaren) Körpereinwirkung kann hier unbeachtet bleiben. Sie ist nicht das, was nach h. M. die Spezifik des Raubes ausmacht. Wurde A i m zweiten Fall genötigt, „die Wegnahme zu dulden" 24 ? A konnte die Tasche verteidigen, und er hat sie verteidigt; er mußte die Wegnahme nicht passiv hinnehmen. Beeinträchtigt w a r nicht die Möglichkeit, durch körperliches Handeln andere von der Sache auszuschließen, sondern der Erfolg dieses Verteidigungshandelns: die Freiheit, über die Sache zu verfügen. Diese aber ist, wie gesagt, auch beim Diebstahl betroffen. Freilich kann A nach dem Entreißen die Sache nicht mehr verteidigen, andere nicht mehr davon ausschließen. Aber auch das ist beim Diebstahl ebenso. Dem A wurden i m zweiten Fall die Arme ein Stück weit aufgebogen. Dadurch wurde seine Willenbetätigung mehr beeinträchtigt als i m Diebstahlsfall. Es wurde der körperlich aktive Widerstand des A überwunden. Aber kann diese beeinträchtigte Freiheit von der allgemeinen Eigentumsfreiheit abgelöst werden und die besondere Bewertung des Raubes begründen? Ist nicht vielmehr der Raub vom Diebstahl durch die Form der Beeinträchtigung unterschieden, welche als Erfolg bei Raub wie Diebstahl das gleiche t r i f f t : die Eigentumsfreiheit? Die körperliche Freiheitsbetätigung des A i m zweiten Fall richtete sich darauf, andere, hier den B, von der Sache auszuschließen. Diese Freiheit ist auch bei jedem Diebstahl beeinträchtigt, nur i n anderer Form. Jeder Diebstahl w i r d dadurch bewirkt, daß der Täter den Gewahrsam des Berechtigten bricht. Der Gewahrsam ist ein Herrschaftsverhältnis, welches andere von der Sache ausschließt. I n diesem Herrschaftsverhältnis 23 Schönke / Schröder / Eser, § 249 Rn 4; B G H bei Dallinger, M D R 1975, 22, 543; B G H S t 18, 329; Knodel, J Z 1963, 701 ff. 24 Das soll K r i t e r i u m des Raubes sein nach Schönke / Schröder / Eser, § 249 Rn 1.
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w i r d die Eigentümerfreiheit realisiert, und zwar u. U. durchaus tätig. Der Bruch solchen Gewahrsams ist Freiheitsbeeinträchtigung, und diese Freiheitsbeeinträchtigung ist Mittel der Begründung neuen Gewahrsams. I m zweiten geschilderten Fall ist keine andere als die auch beim gewöhnlichen Gewahrsamsbruch des Diebstahls beeinträchtigte Freiheit verletzt. Die These der h. M., beim Raub sei die Freiheitsbeeinträchtigung Mittel der Eigentumsverletzung, gilt ebenso für den Diebstahl. Die Beeinträchtigung ,der Freiheit' könnte demnach nicht das sein, was den Raub vom Diebstahl unterscheidet. Es bleibt allerdings ein Unterschied: beim Raub w i r d die Betätigung der Eigentumsfreiheit i n actu* 5 beeinträchtigt. Aber auch das ist wie beim Diebstahl eine spezifische, an das Sacheigentum gebundene Freiheit. Kann man sie gleichwohl beim Raub, um i h n als Freiheitsdelikt zu bewerten, vom Eigentum ablösen? — I m Hinblick auf die allgemeinen Befugnisse des Eigentümers — er darf jeden m i t Körperkraft ausschließen — ist solche Absonderung schwer erklärbar. N i m m t man dementsprechend an, die Ausschlußbetätigung des Eigentümers könne nicht abgelöst werden und nicht Grund besonderer Bewertung werden, so muß die Differenz zwischen Diebstahl und Raub nicht i m ,ob' der Freiheitsbeeinträchtigung, sondern i m ,wie', i n der Form der Freiheitsbeeinträchtigung situiert werden. A l l e i n dies w i r d auch dem Gesetz gerecht. Selbst wenn man nämlich den allgemeinen Gewaltbegriff m i t der h. M. als Zwang, d. h. Freiheitsbeeinträchtigung bestimmte, so müßte man die Gewalt beim Raub doch anders bestimmen und erklären. Denn beim Raub ist Gewalt gegen eine Person erforderlich. Diese Modifikation des allgemeinen, bloß freiheitsorientierten Gewaltbegriffs der h. M. ist nur bestimmbar als Qualifikation der A r t und Weise der Freiheitsbeeinträchtigung, d. h. ihrer Form. Und diese Formbestimmung muß sinnvoll getroffen werden. Es muß geklärt werden, warum es gerade auf die (zu konkretisierende) Form ankommen soll. Wer das Besondere des Raubes i n der Freiheitsbeeinträchtigung sieht, kann die spezifische Form der Raubgewalt, kann das Gesetz nicht erklären. Einwilligung und Rechtsgutsbeeinträchtigung Daß die Freiheitsbeeinträchtigung zu jeder Rechtsguts Verletzung gehört und deshalb von dieser nicht, wie die h. M. bei der Differenzierung von Raub und Diebstahl behauptet, abgelöst werden kann, findet Bestätigung i n der neueren Lehre von der Einwilligung des Verletzten. A u f den Zusammenhang hat schon Binding hingewiesen 26 . Die Beantwortung der diversen Einzelfragen der nur teilweise positivierten Ein25 26
Oder präventiv, vgl. Knodel, J Z 1963, 701 ff. Lehrbuch, S. 80.
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w i l l i g u n g hängt ab vom sachlichen Grund der strafrechtlichen Anerkennung der Einwilligung. Die neueren Untersuchungen zu diesem sachlichen Grund (nicht die Folgerungen für die Einwilligung) sind auch für das vorliegende Problem bedeutsam. Stratenwerth 2 7 nimmt an, Rechtsgüter bestünden „niemals allein aus ihrem körperlichen Substrat", sondern umschlössen „stets auch die Beziehung auf den Einzelnen oder die Allgemeinheit, u m derentwillen sie geschützt" würden, und diese Beziehung könne „durch die Einwilligung verändert werden". „Materielles Substrat und Verfügungsmöglichkeiten" dürften nicht i n getrennte Rechtsgüter zerlegt werden. M i t der Einwilligung entfalle der „geistige" Teil des zu schützenden einheitlichen Rechtsgutes, die Beeinträchtigung bloß des materiellen Substrats sei „kein Unrecht". Der Ausgangspunkt dieser i n ähnlicher Weise auch von anderen Autoren vertretenen Argumentation 2 8 bestätigt die hier vorgetragene These, daß i n jeder Eigentumsverletzung gleichzeitig die Verfügungsfreiheit beeinträchtigt sei. Von dieser neuen Einwilligungslehre aus kommt denn auch Fezer zu dem Schluß, daß bei den sogenannten Freiheitsschutztatbeständen — und dazu gehört § 249 — „der Gegenstand des geschützten Rechtsguts und die Freiheit des Rechtsgutsinhabers, darüber zu verfügen, nicht getrennt werden" könnten. Wenn man dieser Lehre 2 9 folgt, so dürfte das die hier zur Freiheitsbeeinträchtigung bei § 249 vertretenen Lösung bestätigen. Weitere Klärung mag die Untersuchung des § 240 bringen. g) Erpressung Ähnlich problematisch wie beim Raub ist es bei den Erpressungstatbeständen, die Freiheitsbeeinträchtigung von der Vermögensschädigung i m Sinne von M i t t e l und Zweck zu trennen. Betroffen ist und geschützt w i r d auch hier die sich i n den rechtlich strukturierten Formen des Vermögensverkehrs realisierende Freiheit. W i r d m i t Gewalt eine Vermögensverfügung erzwungen, so w i r d zwar nicht wie beim Raub die Verfügungsfreiheit i n ihrer Betätigungsform beeinträchtigt; die äußere Form des erpreßten Verhaltens entspricht den Regeln des Vermögensverkehrs: Vermögensverfügung. I h r fehlt jedoch die Motivation. Die abgenötigte Betätigungsform ist bei der Erpressung nicht Objektivation von Freiheit. Auch die freie Motivation gehört, wie § 123 BGB zeigt, i n gewissem Umfang zum Vermögensverkehr. Auch hier geht es nicht um ,die' Freiheit, sondern um die sich i n den rechtlichen Strukturen des Vermögensverkehrs äußernde Freiheit. Anders wäre das bekannte Konnexitätserfordernis bei der Auslegung des § 253 Abs. 2 nicht verständ27
Strafrecht, Rn 204, 359. SK-Rudolphi, Rn 39 vor §32; Rudolphi, ZStW 86, 87; Arzt, Willensmängel, S. 42; Fezer, JZ 1974, 599 (604). 29 Anders Schönke / Schröder / Lenckner, Rn 33 vor § 32. 28
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lieh. Danach hat der Vermögensinhaber solche Freiheitsbeschränkungen hinzunehmen, die den Regeln des Vermögensverkehrs entsprechen, die „sozialadäquat" sind 30 . Das aber bedeutet, daß das, was schützenswerte Freiheit ist, nicht unabhängig bestimmt wird, sondern eben dem Bezugsobjekt der Freiheit, dem Vermögen i m sozialen Zusammenhang, entnommen wird. Schließlich ist auch hier auf eine Parallelität der Einwilligungsdogmatik hinzuweisen, die Behandlung der täuschungsbedingten Mängel der Einwilligung. N u n betrifft zwar die Täuschung nicht die hier relevante aktuelle Entscheidungsfreiheit 31 , wohl aber deren Motivation. Die Abhängigkeit des Getäuschten von der Information des Täuschenden nutzt dieser einseitig aus. I n einem weiteren, strukturellen Sinn liegt auch hier eine Freiheitsbeeinträchtigung vor, so daß ein Vergleich m i t dem vorliegenden Problem nicht ausgeschlossen ist. Wenn die Einwilligung des Verletzten auf Fehlvorstellungen beruht, so soll sie nur dann unwirksam sein, wenn die Fehlvorstellung sich eng auf A r t und Umfang der Rechtsgutsverletzung selbst bezieht 32 . Wenn dagegen der Einwilligende sich etwa über Vorteile irrt, die er für die Preisgabe des Rechtsguts zu erwarten hat, so soll dies die Wirksamkeit der Einwilligung nicht tangieren. Das aber bedeutet, daß nur diejenige Unfreiheit berücksichtigt wird, die sich unmittelbar auf das Bezugsobjekt des Willens bezieht, und umgekehrt, daß das, was zu schützende Freiheit ist, nicht unabhängig bestimmt wird, sondern aus dem unmittelbaren sozialen Zusammenhang des Bezugsobjekts, hier des Vermögens, entnommen wird. h) Zwischenergebnis Die bisher untersuchten Tatbestände erfassen nach herkömmlicher Auffassung Freiheitsverletzungen. Es zeigte sich jedoch, daß Freiheit i n diesen Tatbeständen i m Zusammenhang recht heteronomer Beziehungen geschützt wird. Ob von ihnen Freiheit als identisches Rechtsgut abgelöst werden kann, ist zweifelhaft, denn sie ist konstitutiver Teil der zahlreichen Besonderheiten, ist selbst nichts Identisches. ,Die Freiheit' ist Sammelbegriff, nicht Substanzbegriff. Z u untersuchen ist nun § 240. I n i h m hat sich nach h. M. das identische Rechtsgut Freiheit i n umfassendster Weise „niedergeschlagen" 33 . Die Vorschrift w i r d daher als lex generalis der speziellen Freiheitsschutztatbestände angesehen. Von i h r aus soll der Gewaltbegriff bestimmt und auf die Spezialtatbestände übertragen werden, was allerdings bei 30
Arzt, Festschrift f ü r Welzel, S. 835. List ist nach h. M. nicht Freiheitsverletzung, vgl. Knödel, Der Begriff der Gewalt, S. 21 f. A . A.: Bohnert, G A 78, 362. 32 Schönke / Schröder / Lenckner, Rn 50 vor § 32; SK-Samson, R n 43 v o r § 32; Arzt, Willensmängel, S. 30. 33 Knodel, Der Begriff, S. 8. 31
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§ 17734 und § 11335 nicht bruchlos gelingt und auch bei §§ 249, 252, 255 wie gezeigt zu Problemen führt, zumindest wegen des Zusatzes »gegen eine Person 4. i) Nötigung Der Tatbestand der Nötigung ist dreigliedrig. Er umfaßt objektiv zunächst Gewalt oder Drohung m i t einem empfindlichen Übel seitens des Täters, sodann eine Notlage des Betroffenen und schließlich dessen Handlung, Duldung oder Unterlassung 36 . Subjektiv sind Gewalt oder Drohung M i t t e l des Täters, u m — als ersten Erfolg — eine Notsituation herbeizuführen, die so gelagert ist, daß sie den Betroffenen veranlaßt — als weiteren Erfolg —, sich entsprechend dem Willen des Täters zu verhalten. I n der Notsituation ist der Betroffene i n seiner Freiheit beschränkt. Wenn die Nötigung verboten wird, so ist damit auch diese Freiheit geschützt. Sie ist jedoch i n zwei Richtungen relativiert: hinsichtlich der Nötigungsmittel und hinsichtlich des abgenötigten Verhaltens. Doppelte Relativierung der Freiheit Zunächst zu den Nötigungsmitteln: Geschützt w i r d die Freiheit nur gegen Gewalt und schwere Drohung. Anderen Bindungen und E i n w i r kungen bleibt sie ausgesetzt. Es geht, könnte man sagen, nur darum, sich unvergewaltigt und frei von schweren Drohungen i n den gesellschaftlichen Bindungen zu verhalten. Es geht um eine von vornherein gesellschaftlich gebundene Freiheit. Diese Relativierung der Freiheit auf Seiten der Nötigungsmittel ist übrigens keine Besonderheit des § 240. Sie ist ebenso bei §§ 242, 249 und den anderen bisher erörterten Tatbeständen vorhanden, denn auch dort sind nur bestimmte Angriffsformen auf die Eigentumsfreiheit, Sexualfreiheit etc. verboten. Allerdings ist bei diesen Tatbeständen auch die andere Relativierung der Freiheit — hinsichtlich des abgenötigten Verhaltens — inhaltlich spezifiziert als Eigentums-, Sexualsphäre etc. Prinzipiell ist die Freiheit bei § 240 auch i n dieser zweiten Richtung (hinsichtlich des abgenötigten Verhaltens) relativiert 3 7 . Allerdings erscheint das belanglos, denn es ist i n § 240 ganz unspezifisch von Handlung, Duldung oder Unterlassung die Rede, woraus sich relativierende Kriterien nicht ableiten lassen. Praktisch aber sind auch diese Einbindungen der Freiheit relevant. Sie sind die Voraussetzungen, u m überhaupt so etwas wie Freiheit zu ver34
Schönke / Schröder / Eser, § 177 Rn 4; Knodel, Der Begriff, S. 160 f. Schönke / Schröder / Eser, § 113 Rn 42. 38 Vgl. H i l l , Der subsidiäre Charakter der Nötigung, S. 4 ff.; Schmidhäuser, Straf recht B T 11/48 f. 37 Calliess, Der Begriff, S. 8 ff. 85
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wirklichen und Freiheitsbeeinträchtigung zu erkennen. Das bedrängende Auffahren i m Straßenverkehr kann als Freiheitsbeeinträchtigung nur entstehen und wahrgenommen werden i m Zusammenhang der tatsächlichen Einrichtungen und normativen Regelungen des Straßenverkehrs, die dem Verkehrsteilnehmer Fahrmöglichkeiten gewähren. Der Streik kann als Beschränkung bestimmter Unternehmerfreiheiten nur erfahren werden i m Zusammenhang der wirtschaftlichen Gegebenheiten, die dem Unternehmer ein Recht auf die Leistung der Arbeiter geben. Und so einfache Vorgänge, wie das physisch erzwungene Verdrängen eines Menschen von seinem Sitzplatz i n einer Gastwirtschaft, können als Freiheitsbeeinträchtigung nur i m Rahmen der entwickelten zivilisierten Umfangsformen erkannt werden. Das sind selbstverständliche Prämissen der rechtlichen Entscheidung. Dennoch zeigen sich darin die strukturell gleichen Einbindungen der Freiheit, genauer: Freiheiten, wie diejenigen, auf die bei den bisher erörterten Tatbeständen hingewiesen wurde. Und obwohl diese Einbindungen bei § 240 nicht spezifiziert sind, werden sie neuerdings problematisiert; und zwar immer dann, wenn die begrifflichen Fixierungen der anderen, zuerst genannten Einbindungen der Freiheit (hinsichtlich der Nötigungsmittel) z. B. das Gewaltverbot aufgelöst werden. Dann muß auf die sozialen Verflechtungen und Bewertungen der betroffenen Freiheit unvermittelt rekurriert werden. Das heißt, es muß auf seiten des abgenötigten Verhaltens die Freiheit begrenzt werden, obwohl der gesetzliche Tatbestand dafür keine spezifischen Anhaltspunkte enthält. Die Einbindungen der Freiheit werden dann ohne rechtliche Vermittlung zur Entscheidung gestellt. Moderne Fassungen dieses Durchgriffs sind die verschiedenen Generalklauseln, die neuerdings dem Gewaltbegriff beigegeben werden. Sie führen z. B. zur Bewertung der Zweck/Mittel-Relation, zur informellen sozialen Einschätzung der betroffenen Freiheit, zur Abwägung der widerstreitenden Freiheiten, was nur i m Zusammenhang gesellschaftlicher Vermittlungsformen und Prioritätsentscheidungen möglich ist. Darauf w i r d noch einzugehen sein. Vorläufig genügt es festzuhalten, daß auch hinsichtlich des abgenötigten Verhaltens Freiheit relativiert ist, wenn auch § 240 darauf nur global hinweist. I m dreigliedrigen Aufbau des § 240 — Gewalt/Drohung, Beschränkung der äußeren Willensfreiheit, abgenötigtes Verhalten — konzentriert die h. M. das die Interpretation leitende Werturteil zunächst allein auf die äußere Willensfreiheit, also den (ersten) Handlungserfolgf. Das bedeutet praktisch, daß am Schutz des Rechtsguts Freiheit die Bestimmung der anderen Elemente des Tatbestandes orientiert wird. Das abgenötigte Verhalten ist von dieser Bestimmung allerdings nicht betroffen, denn die Bedeutung der Worte „zu seiner Handlung, Duldung oder Unterlassung" ist formal. Sie umfaßt praktisch jedes menschliche Verhalten,
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und sie w i r d von der Interpretation i m allgemeinen auch nicht abstrakt präzisiert 38 . — Anders die Bestimmung der Handlungsmittel. Die Bedeutung der Termini „ m i t Gewalt oder durch Drohung m i t einem empfindlichen Übel" umfaßt nicht ohne weiteres jedes menschliche Verhalten. M i t diesen Worten sind qualitativ besondere Verhaltensformen und ihre inhaltliche Bestimmung zumindest thematisiert. Auch die Bestimmung der Handlungsmittel gerät jedoch relativ weit, wenn sie am Schutz des Rechtsguts Freiheit orientiert w i r d ; denn ein Rechtsgut w i r d dadurch perfekt geschützt, daß umfassend die Mittel seiner Verletzung pönalisiert werden. So löst die Orientierung am Rechtsgut Freiheit den Gewaltbegriff tendenziell auf. Identische, substantialische Freiheit I n der vorrangigen Gewichtung der Freiheit als dem alleinigen Rechtsgut des § 240, dem die anderen Elemente des Tatbestandes teleologisch nachgeordnet werden, ist die These impliziert, Freiheit sei ein Gut , das dem Einzelnen vor allen gesellschaftlichen Zusammenhängen zukommt. Ausgeschlossen ist damit jene andere Vorstellung von Freiheit, die diese vorab i n Gesellschaft integriert begreift. Denn solche Berücksichtigung der realen Zusammenhänge von Freiheit würde voraussetzen, daß der Wert Freiheit schon im begrifflichen Ansatz relativ gefaßt wird , z. B. i m Kontext bestimmter Verhaltensformen wie Gewalt und Gewaltlosigkeit. Danach könnte nicht die äußere Willensfreiheit das alleinige Rechtsgut des § 240 sein. Der Gewaltbegriff könnte nicht ohne weiteres unter Berufung auf das Rechtsgut Freiheit aufgelöst werden. N u n w i r d auch nach h. M. die zu schützende Freiheit i m Ergebnis immer relativiert. Ungebrochen läßt sich „die Abwesenheit alles Hemmenden und Hindernden" offensichtlich niemals durchsetzen. Als solche bleibt ,die Freiheit' immer Wert jenseits der Realität. Wirksam w i r d der von der h. M. angenommene Wert jedoch i n der spezifischen A r t der Relativierung. Er ist für die Interpretation des Gesetzes leitend, wenn auch nicht unbegrenzt. Die Interpretation w i r d durch ihn von Anfang an i n Richtung auf ein gegebenes identisches Individuum orientiert, und die Relativierungen seines Schutzes werden erst i n einem zweiten Schritt, quasi von außen, an das gegebene Individuum herangetragen. Der identische Wert der außergesellschaftlichen Freiheit führt die Interpretation — und das ist entscheidend — zunächst einmal weg von den im Gesetz genannten Handlungsmitteln. Erst nachdem deren generelle Bestim38 Dennoch w i r d das abgenötigte Verhalten bei der F i x i e r u n g des Freiheitsschutzes berücksichtigt, jedoch nicht durch generelle Bestimmungen, sondern durch kasuistische Erwägungen i m Rahmen der erwähnten Generalklauseln. Diese kasuistische Bewertung des abgenötigten Verhaltens t r i t t i n der Praxis des § 240 u m so mehr i n den Vordergrund, je mehr die Bestimmung der Handlungsmittel aufgelöst w i r d unter der Losung Freiheitsschutz.
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mungen aufgegeben sind, werden kasuistisch Abstriche vom Wert Freiheit gemacht. Dies läßt sich an den beiden wichtigsten Arten der Relativierung der Freiheit zeigen. I n den älteren Interpretationen des § 240 w i r d die Durchsetzung des Rechtsguts Freiheit relativiert, indem der Gewaltbegriff i m Ansatz unabhängig von diesem Rechtsgut bestimmt wird. Gewalt w i r d zunächst nicht vom Erfolg (Zwang) her bestimmt, sondern als besonderes Verfahren — Kraftentfaltung und/oder Körpereinwirkung — begriffen 39 . Diese Kriterien sind dem unmittelbaren Freiheitsschutz heteronom. Körperlichkeit des Zwanges ist, wie seit Binding 4 0 kritisch betont wird, nicht unmittelbar indiziell für intensive Freiheitsbeeinträchtigungen. Die Körperlichkeitskriterien relativieren den Freiheitsschutz. Geschützt w i r d nicht die Freiheit insgesamt, sondern — so könnte man das Konzept dieser Relativierungen zusammenfassen — diejenigen Beziehungen, Relationen, die frei von physischen Implikationen sind. Sich frei von physischen Beeinflussungen anderer i n der Gesellschaft zu bewegen, dies könnte der Bezugsrahmen dieser Interpretationen sein. Wenn nun aber betont wird, Schutzgut sei allein und ungebrochen die äußere Willensfreiheit, so gerät der Beziehungsaspekt, d. h. der Sinn des besonderen Gewalthandlungsbegriffs aus dem Blick. Die ursprüngliche Relativität der i n § 240 erfaßten Freiheit w i r d negiert. Freiheit w i r d quasi verdinglicht zum Gut, das man immer schon besitzt. I h r Besitzer, das Individuum, w i r d m i t der Zuschreibung solcher Freiheit als ursprünglich beziehungslos manifestiert. Als freies ist das Individuum per se einzelnes. Das einzelne und sein identisches Gut können nur kausal mehr oder weniger intensiv verletzt werden. Qualifikationen dieser Beeinträchtigung sind unter dem Aspekt des unmittelbaren Freiheitsschutzes nicht möglich, nur Quantifizierungen. Deshalb verliert der zunächst eigenständig bestimmte Gewaltbegriff durch das Rechtsgut Freiheit die Legitimation. Der Sinn seiner Eigenständigkeit ist i n der Wirklichkeit nicht mehr erfahrbar; die Reflexion von besonderen gesellschaftlichen Beziehungen ist verstellt, wenn allein die verdinglichte Freiheit als sinnhafte Verbindung von Gesetzestext und gesellschaftlicher Wirklichkeit anerkannt wird. Der eigenständige Gewaltbegriff regrediert tendenziell zur bloßen Kausalität. Seine Besonderheit ist nur durch die Bestimmung einzelner Elemente der Kausalkette zwischen Zwangssubjekt und Zwangswirkung zu kennzeichnen. Die so bestimmten Elemente ihrerseits tendieren aber wieder zu bloßen Quantifizierungen allgemeiner Kausalelemente und können daher Differenzierungen kaum fassen. Z u legitimieren ist dieser Gewaltbegriff nur noch traditional 4 1 oder nega39
Z. B. RGSt 56, 87; 64, 113; B G H S t 1, 145. Lehrbuch, S. 82. RGSt 3,179; 56, 87; Arzt, Strafrecht B T L H 1, S. 187 ff.; Hoffmeister, Diss., S. 95 ff. 40
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t i v 4 2 , eine schwache Position gegenüber der konsistenten Rationalität des Freiheitsschutzes. Soweit der Gewaltbegriff noch als eigenständiger anerkannt wird, stellt sich seine Konkretisierung i m Einzelfall dar als Lavieren zwischen der evidenten Rechtsgutslogik und letztlich unerklärbarem Festhalten an Tradition. Die rechtsstaatliche Eingrenzung der Kriminalpolitik ist hier defensiv und ohne inhaltliche Begründung. Daß es irgendwo eine Grenze geben muß, scheint ihre Losung zu sein. Welche inhaltlichen Erwägungen tatsächlich der Grenzziehung i m jeweiligen Einzelfall zugrunde lagen, bleibt verdeckt. Daß faktisch Freiheit nur i n Beziehungen erkannt und bewertet werden kann und wie die Beziehungen jeweils eingeschätzt werden, w i r d durch den Dualismus von Rechtsgut Freiheit und formalem Gewaltbegriff verschleiert. Die Freiheit als alleiniges Rechtsgut des § 240 hat hier also die Funktion, die Bestimmung der Mittel: den Gewaltbegriff tendenziell aufzulösen durch Entqualifizierung zur Kausalität, und weiter, die tatsächliche Bewertung der bei dieser Ausweitung der Kriminalisierung zur Entscheidung stehenden Beziehungen zu verdecken. Die zweite A r t der Relativierung des Freiheitsschutzes entsteht aus der ersten. Soweit die älteren, physisch orientierten Gewaltbegriffe als äußere Begrenzung des Freiheitsschutzes aufgelöst sind, muß die Strafbarkeit anderweitig begrenzt werden. Den Rahmen hierfür bieten die erwähnten Generalklauseln. I n ihnen werden das Verfahren der Freiheitsbeeinträchtigung und/oder die sozialen Zusammenhänge der Freiheit berücksichtigt, und zwar offen und vor allem ohne Vermittlung durch zu bestimmende Gesetzestexte. Ist damit die legitimatorische Vorstellung einer vorgesellschaftlichen Freiheit des einzelnen obsolet geworden? Ist i n dieser Konzeption das Rechtsgut der identischen Freiheit irrelevant? — Die umfassende staatliche Definition individueller Freiheit, die m i t den generalklauselartigen Gewaltbegriffen eröffnet wird, scheint dafür zu sprechen. Das Rechtsgut Freiheit ist jedoch gerade als Legitimation dieser Auflösung restriktiver Begriffe zu Generalklauseln relevant. Daß der Gewaltbegriff nicht präzis als Verfahren zu bestimmen sei, ist nur m i t der Notwendigkeit des Freiheitsschutzes zu begründen. Zwar kann man diesen nun wieder restringieren und etwa die Verfolgung „substantiell-eigener Interessen" als „sozial-normale" Beeinträchtigung anderer Freiheit vom Strafrechtsschutz ausnehmen; präzise Bestimmungen jedoch sind damit nicht getroffen. Sie könnten Gewalt nur als Verfahren erfassen. Generalklauseln, wie denen der Sozialadäquanz, liegt das Primat des Rechtsguts Freiheit zugrunde. Dies bestätigt auch die gesellschaftliche Funktion von Generalklauseln. Sie kompensieren fehlenden gesellschaft42 A l s Abgrenzung zur Drohung, RGSt 64, 116; ausführlich Geilen, J Z 1970, 521 (526 ff.); ders., Festschrift f ü r Mayer, S. 445 ff. (456 ff.).
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liehen Zusammenhalt, sie sollen Folgeprobleme gesellschaftlicher Partikularisierung regeln. Herkömmliche präzise Normen sichern Randbedingungen des gesellschaftlichen Verkehrs. Sie setzen voraus, daß gesellschaftliche Probleme primär i m gesellschaftlichen, d. h. gewaltlosen Verkehr gelöst werden. Sie gehen von der integrierenden und legitimierenden K r a f t der gesellschaftlichen Beziehungen aus. Wo diese entfällt, eröffnen die Generalklauseln die unmittelbare staatliche Steuerung, Kontrolle und Zweckverfolgung. Gleichzeitig können derartige staatliche Interventionen aber auch den gesellschaftlichen Verkehr davon entlasten, sich selbst gewaltlos zu legitimieren, die einzelnen zu integrieren und i m Eingehen auf das abweichende Besondere sich zu entwickeln. Wenn nun der Freiheitsschutz i n Generalklauseln aufgelöst, wenn die individuelle Freiheit umfassend hoheitlich definiert wird, so liegt dem die Annahme zugrunde, die Individuen könnten prinzipiell nicht gewaltlos zusammenleben, die Integration durch gesellschaftliche Beziehungen bleibe aus, die Individuen seien grundsätzlich vereinzelt und insofern frei. Diese Freiheit i m Sinne von Vereinzelung legitimiert unmittelbare und flexible staatliche Definition und Koordination der Freiheit. Sie legitimiert die Auflösung präziser verfahrensorientierter Kriterien, an die die Staatsgewalt zu binden wäre. Vorläufig ist also festzuhalten: Die herkömmlichen Interpretationen des § 240 sind geleitet von der Annahme, Freiheit sei ein identisches werthaftes Gut, das dem einzelnen vor allen gesellschaftlichen Zusammenhängen gegeben ist. Dieser Wert w i r d umgesetzt durch die teleologische Orientierung der Bestimmung der Nötigungsmittel am vorrangigen Rechtsgut Freiheit. Das letztere ist Ansatzpunkt für die folgende K r i t i k . — Es soll nämlich das Rechtsgut Freiheit noch nicht vorab als normgelöster Wert akzeptiert werden, der per se den gesamten Tatbestand determiniert und der nur i n Kategorien jenseits des Tatbestandes zu kritisieren wäre. Geprüft werden soll vielmehr, inwieweit dieses Rechtsgut aus dem Tatbestand selber zu entwickeln ist. Diese Prüfung muß aber ansetzen bei den Objektivationen des Wertes ,Freiheit 4 i m Tatbestand des § 240. Z u fragen ist also, ob die Orientierung der Bestimmung des Nötigungsmittels ,Gewalt' am Schutz der äußeren Willensfreiheit durch die methodische Unterordnung des Mittels unter den Erfolg der Nötigung eine dem Text des § 240 angemessene Interpretation ist. Rangverhältnis von Gewalthandlung und Nötigungserfolg Daß die Interpretation eines i m Tatbestand genannten Mittels teleologisch ausgerichtet werden müsse am tatbestandlich bezeichneten Erfolg, ist kein strafrechtlicher Grundsatz 43 . Dennoch w i r d es bei § 240 ohne weiteres angenommen. Knodel etwa schließt aus der Anerkennung 43
Dazu u. I V . 6. c).
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des Rechtsguts Freiheit, die gesetzlich genannten Mittel des Angriffs auf dasselbe seien „genügend weit auszulegen, um einen ausreichenden Schutz" dieses Rechtsguts zu gewährleisten 44 . Die M i t t e l werden also dem Erfolg nachgeordnet. Der Bundesgerichtshof zieht daraus die Konsequenz, indem er Gewalt als bloße Quantifizierung der Freiheitsbeeinträchtigung — „intensiver Zwang" — faßt 45 . Die älteren Gewaltbegriffe waren i m Ausgangspunkt noch unabhängig vom unmittelbaren Schutz des Rechtsguts Freiheit; Kraftentfaltung und Körpereinwirkung sind nicht indiziell für intensiven Zwang. Freilich wurde auch bei diesen Bestimmungen die instrumentelle Komponente schon immer angefügt, und für die konkretisierende Auslegung wurde allein das Rechtsgut Freiheit als K r i t e r i u m angenommen. Wenn man nicht vorab akzeptiert, daß i m dreigliedrigen Aufbau der Nötigung der relevante Unwert allein i n der Freiheitsbeeinträchtigung steckt, die die anderen Tatbestandselemente determiniert, so müßte der Vorrang des Rechtsguts Freiheit aus diesen anderen Tatbestandsmerkmalen, hier also dem Terminus »Gewalt' oder dem systematischen Zusammenhang begründet werden. Es muß festgestellt werden, ob nach dem Tatbestand des § 240 oder sonstigen Tatbeständen Gewalt per se nur als Zwangsmittel zu bestimmen ist und damit schon i m Ansatz auf Freiheitsschutz hin orientiert ist. Die umgangssprachliche Bedeutung des Wortes ,Gewalt' umfaßt sowohl instrumentelle Verhaltensweisen — Zwang — als auch nicht instrumen teile, wie etwa Körperverletzung. Es ist i n der außer juristischen Sprache auch durchaus gebräuchlich, m i t dem Wort ,Gewalt' nur K ö r perverletzungen zu erfassen und diese Bedeutung vom nicht verletzenden — ,gewaltlosen' — Zwang zu unterscheiden. I n der Friedens- und Konfliktforschung etwa werden Blockade, Sit-in, Boykott als gewaltlose Aktionen klassifiziert, weil und soweit sie nicht verletzten 46 . Auch die systematische Notwendigkeit, die Bedeutung des Wortes ,Gewalt' von der des Wortes »Gewalttätigkeit' abzusetzen, muß nicht dazu führen, Gewalt unter dem Gesichtspunkt des Zwanges zu bestimmen. Bei grammatischer Interpretation könnte die unterschiedliche Bedeutung dieser Worte etwa i m Bereich verschiedener Ausführungsgrade oder Arten: z. B. dynamisch/statisch, Tun/Unterlassen, Aggressivitätsgrad liegen. Das ausschließlich instrumentale Verständnis der Gewalt als Zwangsmittel ist aus der Alternative »Gewalttätigkeit' also nicht e contrario zu erschließen 47 . 44
Der Begriff der Gewalt, S. 9, ausführlich S. 63 ff. B G H S t 23, 46 (50). 46 Hacker, Aggression, S. 15, 80; Flechtheim, Gewalt u n d ,Gewaltlosigkeit', S. 372; vgl. auch Habermas, Protestbewegung, S. 137 f., 152. 47 Knodel (Der Begriff, S. 174) meint, w e i l instrumentelle Gewalt nach dem Gesetz stets m i t instrumenteller Drohung verbunden sei, Gewalttätigkeit dagegen nie, müsse Gewalt instrumenteil verstanden werden, Gewalttätigkeit 45
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Die Gesetzgebungsgeschichte48 enthält keine eindeutigen Antworten auf die vorliegende Frage. Einerseits dürfte nicht zu bestreiten sein, daß § 240 dem Schutz der Freiheit dienen sollte. Der Schutz der Freiheit i. S. eines Rechtsguts, das auch die Bestimmung der Handlungsmittel determiniert, ist daraus jedoch keinesfalls zu entnehmen. Vielmehr wurde es bei der Entstehung des RStGB durchaus noch nicht als Widerspruch angesehen, den Gewaltbegriff unabhängig von dem zu bestimmen, was heute als Rechtsgut Freiheit bezeichnet wird. Die Nötigungstatbestände der Partikularstrafgesetzbücher, die ebenfalls Freiheitsschutz intendierten, erwähnten z. T. ausdrücklich die Körperlichkeit der Gewalt, also ein dem Freiheitsschutz heteronomes Kriterium. Die Motive sind insofern zwar unklar. Es ist ihnen jedoch nicht zu entnehmen, daß vom Körperlichkeitskriterium abgesehen werden sollte, daß also auch der Gewaltbegriff dem Freiheitsschutz unterworfen werden sollte 49 . — Das bei Knodel 5 0 angedeutete Argument schließlich, die Bedeutung des Wortes Gewalt sei per se ungewiß, folglich müsse sie durch das Rechtsgut Freiheit quasi aufgefüllt werden, läßt sich umkehren: Die Bedeutung der Freiheit ist ungewiß, folglich muß sie mittels eines engen Gewaltbegriffs strukturiert werden 51 . Z u erörtern ist noch das systematische Verhältnis von Gewalt und Drohung 52. I n der tatbestandlichen Handlung sind sie beide M i t t e l der Freiheitsbeeinträchtigung. Daraus könnte man entnehmen, es gehe u m einen umfassenden, lückenlosen Freiheitsschutz gegen intensivere Eingriffe 53 . Gewalt sei m i t h i n — wie auch immer — an die Drohung anzuschließen, so daß zwischen beiden keine Lücke bleibt. ,Gewalt 4 würde dann primär als Zwangsmittel zu verstehen und zu bestimmen sein und erst i n diesem Rahmen von der Drohung abzugrenzen sein. — Dabei würde jedoch unterstellt, was nachzuweisen wäre, daß die Freiheitsbeeinträchtigung der primär relevante Unwert ist, dem die Bestimmung dagegen nicht. Solche Auslegung findet i m Gesetz keine Stütze mehr, da nach §125 auch Gewalttätigkeit m i t Drohung verbunden ist. 48 I m Hinblick auf die Darstellung u n d Interpretation der Gesetzgebungsgeschichte i n Rechtsprechung (RGSt 3, 179 [180 f.]) u n d L i t e r a t u r (Knodel, Der Begriff, S. 39 ff.; Hoffmeister, Diss., S. 95 ff.; Hälschner, Das gemeine deutsche Strafredit, 2. Bd. S. 121 A n m . 4) w i r d hier nicht nochmals darauf eingegangen. Das folgende beschränkt sich auf das Unstreitige. Z u r Entwicklung des Begriffs der vis vgl. Glaser, Abhandlungen, S. 25 ff.; Wächter, Neues Archiv des Criminalrechts, 11. Bd. (1830), S. 635 ff.; u n d unten I V . 1. e), f). 49 Eine solche Deutung der Motive w i r d auch nirgends behauptet. S t r i t t i g ist nur, ob nach ihnen das Körperlichkeitskriterium zwingend beizubehalten ist. 50 Der Begriff, S. 9. 51 So argumentierte z. B. noch Rosenfeld, V D B V, 394. 62 Darauf hat u. a. Knodel, Der Begriff, S. 54 ff., 59, 77 ff. abgestellt. 53 So insbesondere Knodel, Der Begriff, S. 9; A r z t (Strafrecht L H 1, S. 190) dagegen w i l l Lücken i n K a u f nehmen.
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der M i t t e l durch ihre lückenlose Koordination zu folgen habe. Die Lücke des Freiheitsschutzes, die zwischen Gewalt und Drohung entstehen kann, wenn sie unabhängig vom Freiheitsschutz bestimmt werden, müßte bei der Interpretation nur dann vorrangig berücksichtigt werden, wenn der Freiheitsschutz teleologisch dominant wäre. U m dies zu belegen, könnte man weiter darauf hinweisen, daß der Terminus Drohung i m Gesetz sehr unbestimmt gefaßt ist, was auf eine gesetzliche Intention zu umfassendem, primär relevantem Freiheitsschutz hindeute. — Selbst wenn das richtig wäre 5 4 , so würde es doch nicht dazu nötigen, die Gewalt schon i m Ansatz nur als Zwangsmittel zu verstehen und zu bestimmen. Möglich wäre auch, die Gewalt unabhängig von der Zwangswirkung zu bestimmen und erst i n einem zweiten Schritt die Drohung unter dem Zwangsaspekt zu bestimmen als das umfassende, mindere Zwangsmittel 5 5 . Dabei w i r d allerdings unterstellt, daß die M i t t e l Gewalt und Drohung i n einem jeweils unterschiedlichen Verhältnis zur Freiheitsbeeinträchtigung stehen können. Das ist jedoch nicht abwegig. Gesetzgebungsgeschichtlich war es allein das M i t t e l der Drohung, dessen Pönalisierung i m Hinblick auf umfassenderen Freiheitsschutz ausgeweitet wurde 5 6 , während zugleich die Rechtsprechung des Reichsgerichts noch an einem eigenständigen verhaltensorientierten Gewaltbegriff festhielt. A l l e i n auf das M i t t e l der Drohung bezieht sich denn auch nach neueren Erkenntnissen die relativierende Verwerflichkeitsklausel 57 . I m übrigen haben Gerd Geilen u. a. 58 gezeigt, daß Gewalt und Drohung nach der Systematik des Gesetzes bei § 240 nicht als Korrespondenzbegriffe bestimmt werden können, denn es gibt mehrere verschiedene Drohungsarten. Wenn der Gewaltbegriff an die i n § 240 relevante Drohung angeschlossen und verallgemeinert würde, so führte das zu Überschneidungen und Nivellierungen der anderen Drohungsarten, an welche i n anderen Vorschriften (§§ 81, 82, 105, 107, 108, 113) andere Rechtsfolgen geknüpft sind. Aus den bisherigen Erwägungen ist nicht zu entnehmen, das Wort »Gewalt4 bezeichne nur ein Zwangsmittel und das Gewaltverbot sei nur als Ausdruck des Freiheitsschutzes zu verstehen. Es bleibt ein für die teleologische Interpretation relevanter Zusammenhang: Gewalt ist i n allen Tatbeständen, i n denen sie genannt wird, auf Zwang gerichtet. Das Verhalten also, das m i t dem Terminus ,Gewalt 4 bezeichnet wird, ist als solches nur strafwürdig, wenn es zwingend w i r k t . Daraus könnte man schließen, die Freiheitsbeeinträchtigung konstituiere die Straf54
Dagegen Arzt, a.a.O. Möglichkeiten zur Erweiterung des Drohungsbegriffs zeigt Jakobs, Festschrift f ü r Peters, S. 84 f. 56 Vgl. auch Geilen, Festschrift f ü r H. Mayer, S. 465. 57 Dazu eingehend Haffke, ZStW 84, 37; vgl. auch B G H S t 23, 46 (54 f.). 58 Geilen, Festschrift f ü r Mayer, S. 459 f.; Haffke, ZStW 84, 66. 55
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Würdigkeit der Gewalt; und weiter: Der Freiheitsschutz konstituiere den Zweck der Gewaltpönalisierung. Damit wäre der positiv-rechtliche Zusammenhang von Gewalt und Zwang jedoch überinterpretiert. Wenn Gewalt nur strafbar ist, soweit sie auf Zwang gerichtet ist, so bedeutet das noch nicht, daß das m i t dem Wort ,Gewalt' bezeichnete Verhalten strafrechtlich irrelevant sein müsse, wo es nicht auf Zwang gerichtet ist. Es liegt z. B. systematisch und grammatisch nahe, Gewalt als erweiterte Form von Körperverletzung zu verstehen 59 . Gewalt umfaßte dann K ö r perverletzung und solche Modifikationen derselben, welche geeignet sind, Zwang zu erzeugen. M i t einiger Gewißheit kann aus dem gesetzlichen Zusammenhang von Gewalt und Zwang nur abgeleitet werden, daß Gewalt ein Verhalten bezeichnet, welches geeignet ist, Zwang zu erzeugen und dessen Unwert geringer ist als der Unwert anderer Verhaltensweisen, die m i t gleicher Strafe bedroht sind wie die Nötigung. Jeder weitergehende aus dem gesetzlichen Zusammenhang von Gewalt und Zwang gezogene Schluß unterstellt, daß der Unwert eines dieser beiden Elemente größer und dominierend sei gegenüber dem des anderen; das läßt sich aber aus dem Gesetz nicht belegen. Insbesondere die Annahme, der Unwert der Gewalt ergebe sich nur aus ihrer Zwangswirkung, ist unbegründet. Fazit: Wenn i m Tatbestand ein Verhalten als M i t t e l des Täters zu Zwecken erfaßt w i r d und nicht schon per se pönalisiert wird, bedeutet dies noch nicht, daß die Bewertung des Mittels bei der Interpretation am Zweck orientiert sein müsse 60 . M i t dem gleichen Recht könnte man sagen, die Bewertung des Zweckes müsse dem M i t t e l untergeordnet werden. Z u berücksichtigen ist auch, daß der systematischen Orientierung der Gewalt am Zwang eine umgekehrte entgegensteht. Wie Gewalt nur pönalisiert ist, wenn sie auf Zwang gerichtet ist, so ist Zwang nur verboten, wenn er m i t Gewalt und bestimmten anderen Mitteln herbeigeführt wird, d. h. Freiheit ist nur geschützt gegen bestimmte Formen ihrer Beeinträchtigung 61 . Bleibt man i m Rahmen des kodifizierten StGB, 59
Vgl. RGSt 45, 156. Ebenso Gunther Arzt, Z u m Zweck u n d M i t t e l der Nötigung. I n : Festschrift f ü r Welzel 1974, S. 823 ff., 828 ff., der daraus allerdings nicht den Schluß zieht, daß die eigenständige Bedeutung des Mittels i n die Bestimmung des Gewaltbegriffs eingehen u n d somit rechtsstaatlich f i x i e r t werden müsse. A r z t w i l l die Mittelbewertung vielmehr i n der Generalklausel des § 240 I I belassen. Wenn diese allerdings, w i e Haffke (ZStW 84, 37 ff.) zeigt, bezüglich Gew a l t nicht anwendbar ist, so müßte Arzts Ansatz zur F i x i e r u n g eines Gewaltbegriffs führen. I n seine diesbezügliche Darstellung hat er jedoch die Zweck/ Mittel-Überlegungen nicht eingeführt. 61 Aus der Tatsache, daß Freiheit gegen mehrere Verletzungsmittel, nicht n u r gegen Gewalt geschützt ist, läßt sich der Vorrang der Freiheit nicht entnehmen, denn w i e die Seite der M i t t e l vielfältig ist, so ist die Seite der geschützten Zwangsobjekte heteronom. Verletzt ist nie ,die Freiheit', sondern eine jeweils spezifische Freiheit. Darauf w i r d noch eingegangen. 60
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so ist schutzwürdig gar nicht die Freiheit, sondern nur die Freiheit von Gewalt, qualifizierter Drohung etc. Freiheit kann demnach nicht Bezugsrahmen der Bestimmung der Gewalt sein, denn ihre Schutzbedürftigkeit ist erst durch die Bestimmung der Gewalt konstituiert. Der Unwert des Zwanges, der die Angriffsmittel dominieren sollte, ist seinerseits wieder abhängig von dem der Angriffsmittel. Der Unwert des Handlungsmittels Gewalt bleibt demnach nicht hinter dem des Nötigungserfolges zurück; dem Tatbestand ist ein Vorrang des Freiheitsschutzes vor dem Gewaltverbot nicht zu entnehmen. Dies verfehlen die herkömmlichen Erklärungen des systematischen Zusammenhangs von Gewalt und Freiheit i n § 240. Sie erkennen zwar, daß Freiheit nicht umfassend geschützt ist, aber, so nimmt etwa Knodel 6 2 an, sie sei gegen besonders intensive Beeinträchtigungen geschützt, und als eine solche sei Gewalt zu begreifen. Das Handlungsmittel Gewalt w i r d daher als Unterart des Zwanges bestimmt. Implizit ist damit eine eigenständige Bestimmung der Gewalt, eine qualitative Besonderheit des Handlungsmittels ausgeschlossen. Denn das Verfahren ist beliebig. Entscheidend ist nur der Erfolg, die Intensität des Zwanges. Es dominiert der Zwang und das Rechtsgut Freiheit. Die Gewalt ist nur eine unselbständige Modifikation ihres Schutzes. Für eine solche Erfolgsorientierung der Interpretation ist i m Tatbestand des § 240 wie erwähnt keine Bestätigung zu finden. Zusammenfassend ergibt sich: Nach dem Tatbestand ist Gewalt nicht vorab als Zwangsmittel zu verstehen. Ihre Bestimmung ist nicht am Rechtsgut Freiheit zu orientieren. Der Unwert der Gewalt ist i m Verhältnis zum Wert der Freiheit eigenständig, diesem nicht nachgeordnet. Außerrechtliche Relativierung Gegen den Vorrang des Freiheitsschutzes vor dem Gewaltbegriff spricht auch die Struktur der i n § 240 geschützten Freiheit. Oben wurde gezeigt, daß Freiheit sich nur entfalten und nur wahrgenommen werden kann i n sozialen Strukturen 6 3 . Der Straßenverkehr, der Wirtschaftsverkehr, der Arbeitsbereich, die formellen und informellen Regeln des zwischenmenschlichen Umgangs produzieren und bestimmen individuelle Freiheiten i n ihrer konkreten Gestalt. N u r i m Zusammenhang dieser strukturierten sozialen Bereiche kann Freiheit als Wert erfahren werden, wie einer Person eine Sache als Eigentum nur zustehen kann i m Zusammenhang der Regeln des Warenverkehrs. Die Heteronomie dieser Zusammenhänge w i r d i n der Praxis des § 240 sichtbar gerade dann, wenn das Rechtsgut der prätendierten abstrakten Freiheit konsequent gegen andere Relativierungen wie den Gewaltbegriff geltend 62 63
Der Begriff, S. 9. Z u m folgenden vgl. Calliess, Gewaltbegriff, S. 8 ff.
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gemacht wird. U m die Strafbarkeit anderweitig zu begrenzen, müssen dann nämlich i n umfangreichen kasuistischen Erwägungen die sozialen Zusammenhänge jeweils besonders bewertet werden. Formaler Rahmen dieser Wertungen sind die Generalklauseln, die die mehr oder weniger flexible Anpassung des abstrakten Freiheitsschutzes an die Differenziertheit der Gesellschaft oder deren Steuerung ermöglichen. Die hoheitliche Definition und Steuerung der individuellen Freiheit zu legitimieren ist die Funktion des Rechtsguts Freiheit. Die umfassende kasuistische Abwägung gesellschaftlicher Zusammenhänge der Freiheit ist rechtsstaatlich problematisch. Ungeachtet dessen zeigt sie jedoch, daß sich die Heteronomie der Wirklichkeit gerade da durchsetzt, wo es am meisten u m die identische Freiheit zu gehen scheint, daß die originäre Einbindung der Freiheit i n verschiedene soziale Zusammenhänge nicht aufzulösen ist. Faktisch also ist § 240 i n gleicher Weise auf Freiheit bezogen wie die anderen angeblich spezielleren Freiheitsschutztatbestände, nämlich auf die i n verschiedenen sozialen Strukturen angelegten individuellen Möglichkeiten. Wenn bei den anderen Freiheitsschutztatbeständen eine identische Freiheit, an der die Bestimmung des Verletzungsmittels Gewalt zu orientieren wäre, nicht gegeben ist, so gilt dies auch hier. Das Gewaltverbot ist vielmehr ein Konstituens der verschiedenen sozialen Bereiche, i n denen sich Freiheit entfalten kann, es ermöglicht ihre Differenziertheit. Freiheit ist in der Gesellschaft kein übergreifendes identisches und rechtlich faßbares Gut, sondern unendliche Differenziertheit Gewalt dagegen ist eine gefährliche übergreifende Verhaltensweise; als solche ist sie eigenständig zu bestimmen, d. h. nicht einem gegebenen Gut ,Freiheit' untergeordnet. I h r Verbot ist Bedingung der Möglichkeit von Freiheit. Rechtsgut Freiheit versus legale Freiheit Weil Freiheit kein einheitlicher Wert ist, sondern von höchst unterschiedlichem Wert bzw. Unwert sein kann, liegt den neueren Interpretationen des § 240 ein Widerspruch zugrunde: Sie nehmen an, der Gewaltbegriff müsse aufgelöst, ein Stück Rechtsstaatlichkeit müsse preisgegeben werden u m des Schutzes der Freiheit willen; demnach müßte es sich bei der Freiheit um einen recht hohen Wert handeln. — Hier ist zunächst darauf hinzuweisen, daß es gar nicht i n allen Fällen, i n denen der Gewaltbegriff ausgeweitet wird, um Freiheit geht: die Blockade des Zugführers i m Laepplefall traf der Sache nach nicht dessen Freiheit, sondern seine Diensterfüllung 64 . Ist diese auch so hoch zu bewerten wie ,die' Freiheit? — Aber auch wenn man davon absieht, kann man nicht generell annehmen, die Freiheit habe einen hohen Wert. Das anerken64
A u f die Freiheit der Fahrgäste ist der B G H nicht eingegangen.
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nen die Vertreter des aufgelösten Gewaltbegriffs auch selber: sie führen Generalklauseln ein, i n denen die erheblichen wertmäßigen Differenzen der konkreten Freiheiten berücksichtigt werden können. Wenn es diese Differenzen aber gibt, wenn Freiheit oft gar nicht schutzbedürftig ist, so gibt es keinen bestimmten Grund für die Preisgabe der Rechtsstaatlichkeit. Ein Unbestimmbares kann logisch nicht causa sein. Die Rechtsstaatlichkeit, d. h. die legale Freiheit der Bürger, w i r d zugunsten eines Unbestimmbaren preisgegeben. Hier könnte man einwenden, es gehe u m den Wert »Freiheit 4, nicht u m die Freiheit der konkret handelnden Menschen. Gegen solche Begründung ließe sich allerdings nichts mehr vorbringen. Das liegt i n der „ N a t u r " der Werte. Wenn sie von den konkreten Menschen abgehoben sind, so läßt sich rational gegen sie nicht argumentieren 65 . Man kann nur wieder Werte dagegen setzen. Als abstractum läßt sich der Wert Freiheit immer behaupten, auch wenn konkret seine Umsetzung zur obrigkeitsstaatlichen Einordnung und Rekrutierung der Menschen führt. Darauf w i r d noch einzugehen sein. Schließlich könnte man den Vorrang des Wertes Freiheit noch m i t folgender Erwägung begründen: auch wenn der Schutz der absehbaren konkreten Freiheiten, w e i l unbestimmt, nicht die Preisgabe der Rechtsstaatlichkeit begründe, so müsse man sich doch für besonders „schurkische" Notfälle Eingriffsmöglichkeiten vorbehalten 66 . Darin wäre die These impliziert, die Wirklichkeit dürfe dem Strafrecht keinesfalls davonlaufen, dürfe nicht aus der strafrechtlichen Kontrolle geraten. Solche Argumentation mag polizeistaatlicher Logik entsprechen, nicht dem Rechtsstaat; denn m i t solchem Notstandsvorbehalt ließe sich prinzipiell jede rechtliche Bindung des Staates negieren. Solche Notstandsargumentation läge außerhalb des Bezugsrahmens von positivem Recht überhaupt. Es bleibt das oft vorgebrachte Argument, die Ausweitung des Gewaltbegriffs zum Schutz der Freiheit sei begründet i n materieller Gerechtigkeit 6 7 ; auch darauf w i r d später einzugehen sein 68 . I m theoretischen Ausgangspunkt dieser Entwicklung stand bei Knodel eine enorme Berufung auf den Wert »Freiheit 4. Inzwischen scheint der Wert sich von den konkreten Menschen und dem positiven Recht gänzlich abgehoben, ins Unfaßbare abstrahiert zu haben. Was konkret bleibt, ist „natürliches Rechtsgefühl 44 6 9 der Richter. Das Recht, welches legale 65
Denninger, J Z 1975, 545 (546). I n diese Richtung weist die Begründung (S. 63) zu § 116 A E StGB zur Ablehnung des Enumerationsprinzips bei den Drohungsmitteln. 67 Schönke / Schröder / Eser, Rn 12 vor § 234. Materielle Gerechtigkeit w i r d auch geltend gemacht i n A E StGB Begr. S. 63 zu § 116; Schünemann MSchrK r i m 1970, 259 f.; Hansen, Nötigungsunrecht, S. 60; resignierend auch Naucke, Generalklauseln, S. 15 ff. 68 s. u. I V . 9. 69 B G H S t 2, 195 f. 66
6 Keller
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Freiheit garantieren sollte, ist aufgegeben. Kriminalisiert werden unerwünschte Verhaltensweisen, eine polizeistaatliche Tendenz. — Diese Formulierung mag erlaubt sein angesichts einer Konzeption, die getragen ist vom Pathos der Freiheit, eines Wertes, so hoch, daß er noch über dem Grundgesetz schwebt, sich i n diesem nur „niederschlägt" 70 , einer Konzeption also, die wohl den Himmel mittels Strafgewalt auf die Erde holen w i l l . k) Freiheit als Sammelbegriff und funktionsdifferente Bestimmung des Gewaltbegriffs? ,Die Freiheit 4 ist stets i n heterogene Beziehungen eingelassen. Sie ist nichts Identisches. Sie kann nicht „Richtungspunkt" der Auslegung des Gewaltbegriffs sein. Z u erwägen ist aber, ob die i n den Sondertatbeständen (z. B. §§ 177, 249) geschützten Freiheiten die Bestimmung eines jeweils besonderen Gewaltbegriffs leiten könnten. Damit wäre ein allgemeiner Gewaltbegriff abgelehnt. Fezer 71 hat dahingehende Forderungen erhoben. Auch Maurachs Untersuchung des § 17772 führt letztlich zu diesem Ergebnis, denn der Gewaltbegriff soll bei § 177 an der besonderen sexuellen Freiheit orientiert werden. Schließlich tendiert dahin auch die h. M., wenn sie den weiten Gewaltbegriff i n Einzeltatbeständen einschränkt. Sollte der einheitliche Gewaltbegriff aufgegeben werden 73 ? Ein Mindestmaß an Konstanz i m Verständnis von Worten ist Voraussetzung, wenn Sprache die Menschen verbinden, wenn ein Gesetz sozial verstanden werden und nicht nur technokratisches Instrument sein soll. Die Konstanz ist auch Voraussetzung der sogenannten teleologischen Auslegung. Wenn Worte hie und da beliebig gedeutet werden können, werden die Sprache und das Gesetz der sozialen Verbindlichkeit entmächtigt. Die Kontrollmöglichkeit w i r d vermindert, wenn Vergleiche vorab unerheblich sind. Es herrscht das unverbindliche Meinen, welches Verbindlichkeit allein aus der Macht erhält. Andererseits dürfte angesichts der Differenziertheit der Gesellschaft eine „funktionsdifferente Auslegung" 7 4 nicht ganz auszuschließen sein. Fr. Müller hat Kriterien dafür angegeben: Nicht entscheidend kann für die Differenzierung sein die teleologische Auslegung, welche als separate oder gar vorrangige für eine rationale Methodik nicht akzeptabel ist 7 5 . Entscheidend ist vielmehr der systematische Zusammenhang des Wortes i m Gesetzestext, die „Funktion . . . , die der Begriff innerhalb der jeweiligen Norm zu erfül70
Knödel, Der Begriff, S. 8. JZ 1974, 604. N J W 1961, 1051 f. 73 Z u m Problem einheitlicher Auslegung i m Straf recht: Stratenwerth, ZStW 1976, 669 (672 f.). 74 Dazu Fr. Müller, Methodik, S. 157 ff. 75 Ders., Methodik, S. 160 ff., 163 ff. Einzelheiten unten I V . 6. b). 71
72
4. Zusammenhänge von Freiheit i n Straftatbeständen
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len hat" 7 6 . Solche Funktionsdifferenzen können etwa bestehen, wenn derselbe Terminus einmal i m Kontext eines Verbotstatbestandes, das andere Mal i m Kontext eines Erlaubnistatbestandes steht; oder einmal i m Kontext der Begrenzung bürgerlicher Freiheit, das andere Mal i m Kontext der Begründung und Bestimmung staatlicher Exekutivverfahren steht; einmal zu einer Handlungsbestimmung, das andere Mal zu einer Erfolgsbestimmung gehört. Die beiden erstgenannten Funktionsdifferenzen bestehen zwischen dem Gewaltbegriff i n den Straftatbeständen einerseits und dem Gewaltbegriff i n den § 758 ZPO, § 8 UZwG, § 95 StVollzG andererseits. Die zuletzt genannte Differenz könnte i m StGB bestehen zwischen dem Begriff der Gewalt (er erfaßt eine Handlung, deren Erfolg Zwang ist) und dem Begriff der Gewalttätigkeit (er erfaßt nach Calliess 77 einen Erfolg: Körperverletzung). Wichtig ist, daß die différente Auslegung eines Wortes nicht begründet w i r d aus der Differenz von Substanzialien, Werten, Werthöhen, Rechtsgütern, Zwecken, sondern aus bestimmten Funktionen. Wenn dasselbe Wort i n verschiedenen Vorschriften stets das Verfahren staatlicher Exekutivorgane bei der Vollstreckung von Anordnugen bezeichnet, so hat es allemal dieselbe Funktion, und eine différente Auslegung ist nicht begründet. A u f die Gewichtigkeit der Anordnung und der durch die Vollstreckung beeinträchtigten Güter kommt es i. d. R. nicht mehr an. Der Terminus ,Gewalt' bezeichnet i m StGB stets ein Handeln, dessen Erfolg Zwang ist. Hat er deshalb stets dieselbe Funktion? Das könnte man bezweifeln; die durch Zwang beeinträchtigte Freiheit ist, wie gesagt, nichts Identisches. Folglich wäre die Bestimmung der Gewalt funktional zu den Sonderfreiheiten i n den Sondertatbeständen zu differenzieren. — Dem steht zunächst entgegen, daß i n § 240 die Sonderfreiheiten ganz unbestimmt sind, die abstrakt allgemeine Unterscheidung diesbezüglicher Funktionen also nicht möglich ist. Es besteht kein Grund, angesichts dieser Unbestimmtheit der Freiheit auch den Gewaltbegriff unbestimmt zu machen. Er ist bei § 240 zu bestimmen i n einer Funktion zu allen möglichen Freiheiten. Er bezeichnet bei § 240 eine Verhaltensweise, die für Freiheit generell, i n allen Sonderbereichen untragbar ist. Er betrifft bei § 240 einen eigenständigen Unwert, der nicht i m Zwang aufgeht. Er strukturiert Freiheit: sie ist nicht hoheitlich zu verteilendes und zu verschiebendes dingliches Gut, sondern i n gewaltlosen Beziehungen von Bürgern zu verwirklichen. Kann man den Gewaltbegriff davon getrennt bestimmen, wo es um gesetzlich spezifizierte, besondere und gewichtigere Freiheiten geht wie Sexualität, Eigentum? Dann müßte gezeigt werden, daß bei diesen Sonderfreiheiten die soeben dargestellte Funktionsbestimmung verfehlt ist. 76 77
6*
BVerfG 6, 32 (38) zit. nach Müller, Methodik, S. 157. Gewaltbegriff, S. 32.
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Sie t r i f f t jedoch wie gesagt für alle Sonderfreiheiten zu und steht zu ihnen i n einem sinnvollen Verhältnis. Wenn Gewalt als generell gefährliche, Differenzierungen übergreifende Verhaltensweise bestimmt wird, so ist darin die Einheitlichkeit des gesetzlichen Gewaltbegriffs reflektiert und als sinnvoll erwiesen. Es besteht kein Anlaß, Differenzierungen einzuführen. I m übrigen sind die qualitativen Differenzen der Sonderfreiheiten i n Teilbereichen gesetzlich schon dadurch berücksichtigt, daß neben der Gewalt jeweils funktionsspezifisch verschiedene Verhaltensformen pönalisiert sind; bei der Eigentumsfreiheit Wegnahme und Täuschung, bei der Sexualfreiheit der Mißbrauch Widerstandsunfähiger, außerdem diverse Drohungsarten etc. Schließlich ist das unterschiedliche Gewicht der Sonderfreiheiten i n unterschiedlichen Strafdrohungen berücksichtigt. Das allenthalben gleichlautende Wort »Gewalt4 bezeichnet demnach eine allenthalben untragbare Verhaltensweise. I) Zusammenfassung I n der 20. Auflage des Kommentars Schönke / Schröder meint A l b i n Eser 78 , die bisher vorgeschlagenen Einschränkungen des weiten Gewaltbegriffs führten zu „zufälligen Lücken"; „methodengerechter" sei es, strafbares und straffreies Verhalten i m Rahmen der Generalklausel des § 240 Abs. 2 zu unterscheiden. Auch der hier angelegte Gewaltbegriff w i r d „Lücken" lassen. Ob sie „zufällig" sind, kann beurteilen, wer die Notwendigkeit kennt. Nach Eser ist das offenbar der Schutz der Freiheit, welcher fordert, Gewalt und Zwang, obwohl i n § 240 Abs. 1 unterschieden, i n eins zu setzen. Die Methoden, m i t denen die enorme, den Tatbestand nivellierende Durchschlagskraft des Wertes ,Freiheit' ermittelt wird, sind schwer erkennbar. Zuvor betont Eser, Freiheit sei schon immer relativiert, und überhaupt erst i m sozialen Kontext erlange sie Bedeutung 70 . Wenn es derart relativ um die Freiheit bestellt ist, wie kommt es dann methodengerecht zustande, daß die Handlungsbestimmung der Gewalt vollständig 8 0 i n der Zwangswirkung, d. h. i m Schutz der Freiheit aufgelöst wird? Hat die Freiheit also doch einen sehr hohen (also identischen, nicht relativen) Wert? Wie ist der methodengerecht, d. h. aus dem Gesetz zu begründen? Oder geht es nicht u m die Freiheit, sondern einfach u m die Wahrung des „sozialen Kontextes" durch eine Generalklausel? Das wäre ein Etikett der polizeilichen Generalklausel, m i t Strafen verstärkt. — Ist jener soziale Kontext der Freiheit nicht i n tatbestandlichen Handlungsbegriffen (Gewaltverbot) thematisiert und dort rechtsstaatlich zu bestimmen? Oder gibt es oberhalb der rationalen 78 79 80
Rn. 10 vor § 234. Rn. 2. Bis zur strafbaren Drohung.
4. Zusammenhänge v o n Freiheit i n Straftatbeständen
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Methoden und der Freiheit der konkreten Menschen i m sozialen Kontext noch einen Wert »Freiheit 4, der, obgleich unbestimmbar, doch die Rechtsstaatlichkeit verdrängt? Gewalt definiert Eser als Zwangswirkung durch gegenwärtige Ubelzufügung 81 . Wenn auch sehr formal entspricht das noch der gesetzlichen Differenzierung zwischen Gewaltmittel (Übelszufügung) und Nötigungserfolg (Zwang). Konkret bejaht Eser dann Gewalt, wenn jemandem der Weg versperrt w i r d 8 2 ; wo aber liegt hier die Übelszufügung, welche Zwang bewirken soll? Gemeint ist also: Gewalt ist nicht Zwangs mittel, sondern ist Zwang, und daß i m Gesetz vielfach Gewalt als M i t t e l vom Zwangserfolg unterschieden ist, wäre wohl „zufällig". Welche Methode, wenn nicht eine aufgesetzte Teleologie, kann das begründen? Die Bestimmung eines vom Zwang unterschiedenen Gewaltmittels würde oft zu den gerügten „Lücken" führen. Könnte nicht die Interpretation dazu übergehen, das Gesetz so zu verstehen, daß seine Differenzierungen sinnvoll sind? Dann müßte zuerst das Dogma vom Schutz der Freiheit aufgegeben werden. Die gerügten Lücken sollen klaffen zwischen der Pönalisierung von Gewalt und Drohung. Nun ist der Drohungsbegriff des § 240 i n seiner Vagheit verfassungsrechtlich zumindest zweifelhaft. Man kann i h n als bloße Unterart der Freiheitsbeeinträchtigung verstehen. Das ist aber allein wegen seiner unqualifizierten Vagheit möglich. Aufgrund eines verfassungsrechtlich zweifelhaften Umstandes also kann man den Drohungsbegriff allein i m Horizont des Freiheitsschutzes bestimmen. Man muß das nicht, man kann i h n auch restriktiv interpretieren. Jedenfalls ist es eine eigenartige Methode, die von der verfassungsrechtlich zweifelhaften Weite des Drohungsbegriffs auf den Gewaltbegriff weiterschließt und diesen nun auch noch i n ebenso fragwürdiger Weise auflöst. Das ist eine der zentralen Begründungen des weiten »modernen 4 Gewaltbegriffs: w e i l Drohung nur i m Horizont des Freiheitsschutzes bewertet wird, könne dies auch bei der Gewalt nicht anders sein, auch wenn dadurch die anderen i m Gesetz genannten Drohungsarten nivelliert werden. Eine verfassungsrechtlich fragliche Generalklausel darf nicht allein kommen. — Man könnte auch umgekehrt verfahren und den Drohungsbegriff restriktiv interpretieren 83 , ihn etwa auf gefährliche Drohung eingrenzen. I m Grundgesetz 84 und i m E 62 85 wurde dieser Begriff schon für sinnvoll erachtet. 81
Rn. 6, 9. Rn. 13 f. 83 Die „Lücke" bei Gefahr läßt sich schließen, s. u. V. 2. d), e). 84 A r t . 143 GG i n der ursprünglichen Fassung von 1949; dazu L K - W i l l m s (9. Aufl.) Rn 13 vor § 80. 85 § 170. Z u r Definition i n § 11 vgl. Stratenwerth, Z S t W 76, 688 f. 82
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I I I . Schutz u n d Wahrung von Freiheit durch Strafrecht
Strafrecht soll Rechtsgüter vor schweren Beeinträchtigungen schützen; dieser verbreiteten These folgt die h. M., wenn sie das Verbot von Gewalt und Drohung allein i m Horizont des Freiheitsschutzes zu einer Rundum-Verteidigung gegen intensive Beeinträchtigungen ausweitet. Die These ist jedoch ungenau. Rechtsgüterschutz richtet sich nicht allein nach der Intensität, sondern auch nach der Form der Beeinträchtigungshandlung. Verkehrsformen haben eigenständige Bedeutung. Sie konstituieren die konkret historische Gestalt der Gesellschaft sowie die Teilbereiche der Gesellschaft. I m Ergebnis anerkennt dies auch die h. M. beim Rechtsgut Freiheit. Es w i r d gegen verwerfliche (sozial inadäquate, sittenwidrige, schikanöse) Beeinträchtigungen geschützt, was m i t Intensität nicht identisch ist und entsprechend den sozialen Teilbereichen differenziert wird. I n der Verwerflichkeitsklausel werden die von Eser angesprochenen sozialen Einbindungen der Freiheit reflektiert. Nochmals: Warum werden sie nicht i n die abstrakt allgemeine Bestimmung des Tatbestandsmerkmals ,Gewalt' (und evtl. Drohung) eingebracht? Das „kann nicht" sein, betont Roxin 8 6 . Die Freiheitsbeeinträchtigungen seien so sehr Teil jedes gesellschaftlichen Verkehrs und so vielgestaltig, daß sie nicht präzisiert werden könnten. Auch hier w i r d wieder unterstellt, daß es vorab um ,die Freiheit' gehe, die i n ihrer ganzen Allgegenwart, Vielgestaltigkeit und Dynamik dem Strafrecht nicht davonlaufen dürfe. Solche Vorstellungen gehören ins Polizeirecht. Die Polizei hat i m Rahmen der polizeilichen Generalklauseln umfassend Sicherheit und Ordnung i n der vielgestaltig sich wandelnden Gesellschaft zu wahren. Für das Strafrecht sind derartige Modelle der Sozialkontrolle ausgeschlossen durch das Rechtsstaatsprinzip. Nach dieser Verfassungsnorm muß es i m Strafrecht u m etwas anderes gehen als um umfassende Kontrolle ,der Freiheit'. Rechtsstaatlich können nur allgemeine, bestimmte Rahmenbedingungen gewahrt werden. Das ist nicht „zufällig".
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JuS 1964, 373 (374).
I V . Entwicklung und bisherige Bestimmungen des Gewaltbegriffs Bisher wurde der „Richtungspunkt" betrachtet, an dem die h. M. die Bestimmung des Gewaltbegriffs orientiert. Nun soll die Auslegung des Wortes »Gewalt4 selber untersucht werden. Es ist nützlich, zunächst die historische Entwicklung der Gewaltstrafbarkeit zu betrachten. Freilich können dabei nur die wichtigsten Stadien berücksichtigt werden. 1. Zur historischen Entwicklung der Gewaltstrafbarkeit Das deutsche Wort ,Gewalt 4 umfaßt heute die Verfügungsmacht 1 ebenso wie den brachialen Angriff 2 . Ursprünglich stand die erste Bedeutung i m Vordergrund. Die Wurzel des Wortes Gewalt ist das indogermanische val-, das i m lateinischen ,valere 4 und deutschen ,walten 4 noch erkennbar ist und ,stark sein 4 , ,herrschen', ,verfügen 4 bedeutete 3 . I m germanischen Sprachgebrauch bezeichnete Gewalt eine Qualität der Freien, deren Freiheit m i t der Verfügung über den eigenen Körper grundsätzlich auch den körperlichen Angriff gegen andere umfaßte. Dieser wurde rechtlich relevant erst, wenn besondere Umstände, etwa Hinterhältigkeit, vorlagen 4 . Die Brachialgewalt w a r nichts rechtlich Unzulässiges, sondern rechtsfrei, weil i n der Verfügungsgewalt der Freien eingeschlossen5. Allerdings hatte der Angreifer m i t der zulässigen Rache des Opfers oder seines Sippengenossen, gegebenenfalls auch m i t der Fehde der ganzen Sippe zu rechnen 6 . Die historische Differenz zwischen hinterlistiger Gewalt, die schon früh rechtlich verboten war, und rechtsfreier offener Gewalt w i r k t noch heute nach i n der These, Mord sei ein gegenüber Totschlag selbständiger Tatbestand 7 . 1
Vgl. Schlüsselgewalt, Staatsgewalt, Hausgewalt, elterliche Gewalt. Helmke, S. 1; Knodel, Der Begriff, S. 2 ff. 3 Röttgers, Andeutungen zu einer Geschichte, S. 157 ff. 4 Vgl. Eberhard Schmidt, Einführung i n die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, § 35. 5 Eb. Schmidt, E i n f ü h r u n g § 5; vgl. auch Röttgers (S. 159), der darauf h i n weist, daß das lateinische W o r t vis, wo es ein Verfügungsrecht bezeichnete, zuweilen m i t Gewalt übersetzt wurde. 6 Eb. Schmidt, E i n f ü h r u n g § 3 ff. 7 Vgl. Welzel, Das Deutsche Strafrecht, S. 280. Bezeichnend ist auch, daß i m mittelalterlichen Recht der heimliche Diebstahl ein schimpflicheres D e l i k t w a r als der physisch gewaltsame Raub (Welzel, S. 339). 2
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I V . E n t w i c k l u n g u n d bisherige Bestimmungen des Gewaltbegriffs
a) Einheit von Gewalt und Freiheit Freiheit, Recht und physische Gewalt bilden i n der vormittelalterlichen germanischen Zeit und abgeschwächt i m Mittelalter i m wesentlichen eine Einheit. Dabei bedeutete Freiheit keineswegs völlige Autonomie des einzelnen. Vielmehr war die Freiheit der Freien durchaus auf gesellschaftliche Bindungen, insbesondere Familie, Sippe und i m Mittelalter zunehmend vorgeordnete Herrschaft, bezogen8. Der Freiheitsstatus aber, den der einzelne und/oder die Genossenschaft, der er eingegliedert war, innehatten, wurde autonom realisiert. Waffen zu tragen w a r eines der wichtigsten Zeichen der Freiheit 9 . Recht und Freiheit hingen ab von dieser physisch gewaltsamen Darstellung und nicht von einer staatlichen Instanz 10 . Wenn der Brachialangriff nicht rechtswidrig war, so bedeutete das natürlich nicht, daß i n der archaischen und frühmittelalterlichen Gesellschaft beständig Gewalt und W i l l k ü r geherrscht hätten und die Menschen ihr Leben nicht primär durch Arbeit erhalten hätten, sondern nur, daß die Entscheidung über Recht nicht von vornherein bei einer überlegenen Machtinstanz monopolisiert war. Erst als es i n den Landfriedensgesetzen einem überlegenen Gewalthaber gelungen war, den anderen Gewalt und Gegengewalt zu verbieten und die Freien als Rechtssubjekte zu definieren, traten die beiden Bedeutungsvarianten des Wortes Gewalt — Verfügungsgewalt und Brachialgewalt — auseinander. Bevor diese Monopolisierung der Gewalt beim Staat erörtert wird, soll noch der ursprüngliche Zusammenhang von Gewalt, Freiheit und Recht genauer betrachtet werden. b) Gewalt und Freiheit im Mittelalter Gewaltsame Fehde und Rache als Reaktionsformen auf Gewalt weisen darauf hin, daß diese nicht nur Instrument zum Bekämpfen, zum Erlangen oder Beseitigen von Menschen oder Sachen ist, sondern auch eine symbolische Bedeutung hat, die das physische Geschehen begleitet und zur Entscheidung stellt 1 1 . Das wurde schon erörtert. I n ihrer symbolischen Wirkung ist Gewalt bezogen auf Recht und Freiheit. Der physische Angriff stellt die soziale Anerkennung der Freiheit des Angegriffenen i n Frage. Die physisch gewaltsame Rache demonstriert, daß an der Freiheit als Recht festgehalten wird. Das ist noch heute i n der Auslegung der Notwehrregelung präsent: Das Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen 12 . Dem Angegriffenen w i r d die Flucht nicht zugemutet, 8
Dazu Breuer, Leviathan 1977, 53 (58, 60, 68). Dilcher, H R G I. Bd., Sp. 1229 ff. 10 M a x Weber, Wirtschaft u n d Gesellschaft, S. 517. 11 Benjamin, Z u r K r i t i k der Gewalt, S. 50 f. u n d passim; Luhmann, Rechtssoziologie 1, S. 108; vgl. auch Canetti, Macht u n d Überleben, S. 25 ff.; ders., Masse u n d Macht, S. 287 f. 9
1. Z u r historischen E n t w i c k l u n g der Gewaltstrafbarkeit
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wo die Gewalt gegenwärtig ist. Wo i m Mittelalter noch Fehde und Rache vorherrschende und generell anerkannte Reaktionsformen waren, w a r die allgemeine Selbsthilfe der einzelnen Freien Konstituens der rechtlichen Verfassung der gesamten Gesellschaft, war das Recht nicht von physischer Gewalt zu unterscheiden und die Freiheit nicht ohne das unvermittelte sinnliche Ausleben denkbar. Erst i n einem langen Prozeß der Zivilisation setzte sich die Differenzierung der Person i n Geist und Sinnlichkeit, die Verdrängung der unmittelbar physischen Interaktion aus dem gesellschaftlichen Verkehr durch 13 und eröffnete andere, vermittelte Formen der Freiheit. I m Widerstand der mittelalterlichen Freien gegen das Verbot der gewaltsamen Selbsthilfe zeigte sich, daß die Unterdrückung physischer Gewalt gleichbedeutend war m i t Erniedrigung und Unfreiheit. Das Gesagte gilt nicht für Frauen und Knechte. Ihnen waren Fehde und Rache nicht erlaubt. Wurden sie verletzt, so reagierte ihr Herr, der auch die Befugnis, ihre Verstöße gegen die familien- oder sippeninterne Ordnung zu ahnden, monopolisiert hatte. I m patriarchalischen Verhältnis des gewalthabenden Freien zu dem i h m unterworfenen Unfreien, i m Knechtsstrafrecht entwickelten sich Vorformen des späteren mittelalterlichen Strafrechts 14 . Die symbolische, das Recht beweisende Wirkung der physischen Gew a l t zeigt sich nicht nur i n der Ausbreitung von Fehde und Rache i m Mittelalter, sondern auch i n ihrer verfahrensmäßigen Eindämmung. Weil sie Recht bewiesen, konnten sie rechtlich geformt werden. Die historisch weiterentwickelte Fehde mußte schriftlich angesagt werden, war fristgebunden und schloß bestimmte Gewaltformen aus 16 . Z. T. wurde sie verdrängt durch die Möglichkeit, den gewaltsamen Kampf vor Gericht auszutragen. Der Ausgang des Kampfes wurde auf Gott bezogen 16 . Dessen Urteil hatte sich i n der obsiegenden physischen Gew a l t gezeigt. Die Gewalt wurde auf die Symbolebene verlagert und i n der Institution des Eides 17 . Der Kampf u m das Recht fand hier mittels magischer Gewalt statt. Er blieb Kampf. Wer den Eid leistete, setzte seine Person und möglichst noch verbündete Eideshelfer gegen den Feind ein. Und oft folgte auf den Einsatz der magischen Gewalt noch der der physischen Gewalt 1 8 . 12
Roxin, K r i m i n a l p o l i t i k , S. 26. Dazu Elias, Der Prozeß der Zivilisation, Bd. 1, S. 65 ff., 230 ff., 263 ff. 14 Eb. Schmidt, E i n f ü h r u n g § 9 f.; Ekkehard Kaufmann, HRG, I I . Bd., Sp. 1464; anders z. T. M. Weber, Wirtschaft u n d Gesellschaft, S. 392 f. 15 Eb. Schmidt, Einführung § 35; zu den Formen der Rache: a.a.O., § 38. 16 Ders., §§ 29, 65; Luhmann, Rechtssoziologie 1, S. 112, 135 ff.; Erler, HRG, I. Bd., Sp. 1769 ff.; His, Straf recht des deutschen Mittelalters, Band 1, S. 17. 17 M. Weber, S.220, 391, 447, 469; Luhmann, Rechtssoziologie 1, S. 112, 153. 18 Erler, Sp. 1770. 13
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I V . Entwicklung u n d bisherige Bestimmungen des Gewaltbegriffs
Die Einheit von Freiheit und Recht einerseits und physischer Gewalt andererseits wurde i m Mittelalter durch soziale Verschiebungen aufgelöst. Der Terminus »Freiheit' hängt ethymologisch zusammen m i t geschützt, geschont 19 . Die Möglichkeit, sich m i t physischer Gewalt selbst zu schützen und gleichzeitig den eigenen Lebensunterhalt zu sichern, war i m Mittelalter zunehmend unterschiedlich verteilt. Die freien Bauern waren zunehmend hilflos der Gewalt der Feudalherren ausgeliefert. Die Freiheit physischer Gewalt, die Rechtswahrung durch Fehde konnte dann faktisch nur noch von Feudalherren realisiert werden auf Kosten der bäuerlichen Bevölkerung 20 . Diese erfuhr die Gewalt i n Zeiten der Feudalanarchie weniger symbolisch generalisiert, als physisch i n grausamen Heimsuchungen, i n Raubzügen plündernder und mordender Ritter und ihres marodierenden Gefolges 21 . Für die Kriegerkaste bedeutete Gewalt Freiheit, derart, daß die Lust an der Zerstörung, am Niedermetzeln von Menschen, frei ausgelebt wurde 2 2 . U m vor dem Zugriff einzelner Gewalthaber verschont zu werden, unterwarfen sich ihnen die Unterlegenen. Sie erhielten damit gleichzeitig Schutz gegen andere konkurrierende Gewalthaber 23 . Die neue Form der Freiheit, die durch Obrigkeiten geschützte Freiheit des einzelnen, war daher eng verbunden m i t seinem Beherrschtwerden 24 . Die Freiheit wurde integriert i n Herrschaftsverbände, Genossenschaften, Stände. I n ihnen wurde die Stellung des Freien juristisch definiert. Freiheit als Rechtsstellung w a r „der angemessene Lebensspielraum i m Rahmen des ordo der christlichen Welt" 2 5 . Wo diese Hierarchien sich durchsetzten, konzentrierte sich die Gewalt an der Spitze. Während des gesamten Mittelalters versuchten die höheren Feudalherren m i t wechselndem Erfolg, die zeitweise frei fluktuierende Gewalt des ihnen unterworfenen niedrigen Adels, seines Gefolges und sozial depravierter Personen zu monopolisieren. Die Befriedungsregelungen wendeten sich zunächst nicht unmittelbar gegen Fehde und Rache, sondern statuierten Formen, i n denen die Gewalt das Recht beweisen konnte. Sie knüpften dabei wie erwähnt an die Möglichkeit der symbolischen Generalisierung, d. h. des partiellen Verzichts auf Gewaltanwendung an. Grundsätzlich gegen die Gewalt der Freien wendeten sich seit dem 11. Jahrhundert die Landfriedensordnungen. Ihnen vermittelnd 19
Dilcher, Sp. 1229; RGSt 48, 348. Mottek, Wirtschaftsgeschichte Deutschlands, Bd. I, S. 84, 124; His, Bd. 1, S. 2, 11. 21 Mottek, Wirtschaftsgeschichte, S. 84; Ekkehard Kaufmann, H R G I I , Sp. 1455, 1461. 22 Elias, Bd. 2, S. 266 f. 23 Mottek, a.a.O.; Ekkehard Kaufmann, a.a.O. 24 Horkheimer, Vernunft als Selbsterhaltung, S. 98. 23 Dilcher, Sp. 1230. 20
1. Z u r historischen Entwicklung der Gewaltstrafbarkeit
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vorausgegangen waren die Verkündungen von Gottesfrieden 26 , d. h. Verbote, zu bestimmten Zeiten (Ostern, Advent, Gottesdienste, Begräbnisse) oder an bestimmten Orten (Kirchen, Klöster, Friedhöfe) oder gegen bestimmte Personen (Priester) Gewalt zu üben. Auch nicht organisatorisch zur Kirche gehörende, besonders gefährdete Personen (Frauen, Kaufleute) wurden geschützt. Denn die Gottesfriedensbewegung wurde von der Kirche i m Verbund mit denjenigen getragen, die an der Entwicklung der Geldwirtschaft und der Erweiterung der Märkte interessiert waren. Dieses Interesse an Vergesellschaftung aber wurde empfindlich gestört, wo viele einzelne ihr partikulares Interesse unmittelbar physisch, d. h. ohne Vermittlung durch gesellschaftliche Verkehrsformen (vor allem den Markt) realisieren konnten 27 . — I n Deutschland verband sich bald auch die weltliche Obrigkeit der Gottesfriedensbewegung und übernahm sie. Seit Ende des 11. Jahrhunderts wurden Landfrieden statuiert. c) Landfriedensordnungen Die Landfriedensgesetze 20 bezogen sich, abgesehen von den vom Gottesfrieden übernommenen Regelungen, hauptsächlich auf gewaltsame Selbsthilfe, Diebstahl bzw. Raub und Wegelagerei® 9. Daneben regelten sie noch wirtschaftliche und soziale Fragen 30 . Diebstahl und Raub standen kodifikatorisch zunächst i m Vordergrund, weil i m Rahmen von Fehdeaktionen viel geplündert wurde — wenn dies nicht überhaupt ihr Motiv war — und zudem die ausgeplünderten, depravierten Menschen ihrerseits fremdes Eigentum angriffen und dadurch zu erneuter Fehde Anlaß gaben. Die Fehdegewalt selber aber war schwerer einzudämmen als ihre Begleitumstände. Die Verfolgung der Wegelagerei betraf die infolge von Fehdezügen marodierenden Söldner der Fehdeführer. Später wurde das Gewaltverbot explizit zum Zentrum der Landfriedensordnung, oft begleitet von dem Verbot, Waffen zu tragen und von Strafverschärfungen für Gewalt m i t Waffen. Die Durchsetzung der Landfriedensordnungen bis zum Ende des M i t telalters läßt sich, wenn man von Rückschlägen absieht, beschreiben als 28 Dazu Achter, HRG, I. Bd., Sp. 1762; Luhmann, Rechtssoziologie 1, S. 196; Eberhard Schmidt, Einführung § 36; Ekkehard Kaufmann, HRG, I. Bd. Sp. 1099; His, Bd. 1, S. 2 ff. Z u r Bedeutung der Kirche f ü r reichseinheitliches Recht u n d V e r w a l t u n g vgl. M. Weber, Wirtschaft u n d Gesellschaft, S. 519; Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 71 ff. 27 Dazu M. Weber, a.a.O. 28 Z u m folgenden His, Bd. 1, S. 6 ff.; Holzhauser, HRG, I I . Bd., Sp. 1466 ff.; Ekkehard Kaufmann, HRG, I I . Bd., Sp. 1451 ff. 29 Z u r Zurückdrängung der Fehde gibt einen Überblick Krey, N J W 1979, 704. 30 Holzhauer, H R G I I , Sp. 1479; i n einem F a l l regelten die Landfriedensordnungen auch den Kleiderluxus, His, Bd. 1, S. 16.
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eine schrittweise Aneignung der physischen Gewalt niedriger Stände durch immer höhere. Zunächst gelang es niedrigen Feudalherren, die anderen i n einem relativ begrenzten Gebiet lebenden Freien zu unterwerfen und zu befrieden, wobei oft freiwillige Unterwerfung und Schutzbedürfnis mitwirkten. Die siegreichen Feudalherren ihrerseits trugen untereinander ihre Konflikte weiterhin gewaltsam aus, bis es auf dieser Ebene wiederum einem von ihnen oder einem ständisch höheren gelang, sie zu unterwerfen und damit ein größeres Territorium zu befrieden. Dessen Herr aber durfte weiterhin gegen andere Gewalt anwenden. A m Beginn der Neuzeit w a r die Fehde nur noch zwischen Reichsständen m i t relativ großen Territorien zulässig und nahm schließlich die Form des Krieges zwischen Völkerrechtssubjekten an 31 . I n diesem Prozeß der schrittweisen sozialen Höherverlagerung der legalen Gewalt 3 2 wurden die neuzeitlichen Staaten gebildet. Gleichzeitig traten nun zwei Gewaltbegriffe auseinander. Die Verfügungsgewalt als strukturierte Verwaltung hebt sich ab von der an Personen gebundenen physischen Gewalt und stellt sich ihr entgegen. Und die Verfügungsgewalt über kleinere Personengruppen bzw. dieser über sich selbst w i r d angeeignet durch weiter übergreifende Verfügungsgewalten. Das, was sich nach innen als strukturierte Verfügungsgewalt darstellt, w i r d jedoch gleichzeitig nach außen wirksam als aggressiv-physische Gewalt gegen andere Subjekte legaler Herrschaft: Krieg, Aufrüstung, Blockbildung etc. — Der Prozeß der Monopolisierung der Gewalt beim Staat und der Auflösung ständischer Gewalt reicht allerdings weit über das Mittelalter hinaus. Erst 1927 w a r er i m ostelbischen Preußen abgeschlossen33. Das elterliche Züchtigungsrecht widersteht ihm bis heute. d) Mögliche Funktionen
des weiten Gewaltverbots
Da der heute gebräuchliche strafrechtliche Gewaltbegriff letztlich aus den Landfriedensordnungen stammt, ist es sinnvoll, deren Funktionen genauer zu untersuchen. Freilich kann es sich dabei u m nicht mehr als ungefähre Hypothesen handeln. Herrschaftssicherung Wo i n einem Territorium die Bewohner physische Gewalt haben, muß der Regierende damit rechnen, daß sie sich gegen i h n wendet 34 . Auch 31
Holzhauer, H R G I I , Sp. 1481. Ders., Sp. 1474 ff.; vgl. dazu auch Elias, Prozeß der Zivilisation, Bd. 2, S. 123 ff. 33 Noch nach 1871 gab es gutsherrliche Polizeirechte u n d Gerichtsbarkeit i n Hannover, Mecklenburg u n d dem ostelbischen Preußen; Mitteis / Lieberich, Deutsche Rechtsgeschichte, Kap. 45 I I 3. Die administrative Gutsherrschaft w u r d e erst 1927 endgültig beseitigt; Hans Rosenberg, Die Pseudodemokratisier u n g der Rittergutsbesitzerklasse, S. 293. 84 M. Weber, Wirtschaft u n d Gesellschaft, S. 518; Elias, a.a.O. 32
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zerstört die frei fluktuierende Gewalt die materiellen Voraussetzungen seiner Herrschaft und gefährdet wegen ihrer Tendenz zur symbolischen Generalisierung die Anerkennung seiner Regierungsgewalt als überlegene. Diesen Gefahren gegenüber sichern die Landfriedensordnungen die Herrschaft i n verschiedener Weise. Einmal w i r d die Gewaltanwendung selber, die Fehde und die Selbsthilfe pönalisiert. Daneben werden aber auch umfassend die Vorbereitungen und Anlässe pönalisiert, die zur Gewalt führen könnten: Waffentragen, „heimliches Zusammenschlüpfen", Rottieren, unnütze Worte, aufrührerische Reden, Pfahlsicherung und Herrschaftsverhältnisse der Städte i n unterworfenen Gebieten, Pfandnahme, Landzwang. I n diesem Zusammenhang stehen auch die zahlreichen Strafdrohungen für wirtschaftliche Vergehen, wie Wucher, Münz- und Zolldelikte, Kleiderluxus. Wenn alle diese Verstöße als Landfriedensbruch pönalisiert wurden, so bedeutet Frieden dabei u. a. Unterdrückung aller offenen sozialen Spannungen i m jeweiligen Territorium, weil sie physische Gewalt freisetzen könnten, die die Herrschaft gefährden würde. Diese präventiven, weit über das Verbot physischer Gewalt hinausgehenden Strafdrohungen sind erklärbar aus dem Entwicklungsstand der mittelalterlichen Gesellschaft. Sie war noch nicht soweit differenziert, daß die konfliktträchtige Anmaßung von Ansprüchen ohne weiteres i n justiziellen Verfahren abgewickelt werden konnte. Die brachiale Durchsetzung lag noch relativ nahe. Zwar gab es zur Zeit der Landfriedensordnungen schon einen Waren- und Geldverkehr, und dessen Träger förderten wie erwähnt die Befriedung. Aber da die Masse der Bevölkerung daran nicht teil hatte, stellte sie ein Potential physisch gewaltsamer Konflikte dar. I m übrigen dürften die weitgehenden präventiven Strafdrohungen auch damit zusammenhängen, daß durch rigide Befriedung im Inneren alle Kräfte zusammengefaßt und formiert werden sollten, um nach außen eine aggressive Politik betreiben zu können 35. Disziplinierung I n diesem Zusammenhang liegt eine weitere mögliche Erklärung für die umfassenden Strafdrohungen der Landfriedensordnungen nahe®6: Der Versuch rationale Disziplin herzustellen; d. h. planvoll eingeschulte, widerspruchslose Ausführung von Befehlen und das unablässige Eingestelltsein vieler Menschen auf diesen Zweck. Solche Verhaltensorientierung w i r d i m Territorialstaat benötigt, u m ein großes Heer zusammenhalten zu können, um durch einen rationalen Verwaltungsapparat das Territorium beherrschen zu können und schließlich, u m die w i r t schaftliche Produktion zu entfalten (Arbeitsdisziplin, Mechanisierung 35 36
Vgl. M. Weber, a.a.O.; His, Bd. 1, S. 16. Z u m folgenden M. Weber, Wirtschaft u n d Gesellschaft, S. 681 ff.
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des Verhaltens). Die rationale Disziplin greift aber auch auf die sonstige Lebensführung der unterworfenen Menschen über. Zweckorientierung, Sparsamkeit, Selbstdisziplin, Triebsuspendierung, Gewissenhaftigkeit, Sachlichkeit treten als Verhaltensnormen i m rationalen Territorialstaat an die Stelle von physischer Spontaneität, Irrationalität, Verschwendung, sinnlich unmittelbarem Sichausleben der Menschen. Die umfassenden Strafdrohungen der Landfriedensordnungen für Wucher, Luxus, Landzwang, unnützes, aufrührerisches Reden, Selbsthilfe, Waffentragen usw. dürften m i t zu erklären sein aus der Tendenz zur Disziplinierung der Bevölkerung, aus der Erziehung zu rationalem, zweckorientiertem Verhalten. Befriedung des Landes bedeutet i n diesem Kontext: Zentralisierung, Disziplin, Massengehorsam, Selbstzwang, Rationalität 3 7 . Allerdings dürften diese Ziele erst i m Absolutismus umfassende soziale Bedeutung erlangt haben. Für die Annahme aber, das Gewaltverbot der Landfriedensordnungen habe die individuelle Freiheit als eine dem einzelnen gegebene Macht schützen sollen, besteht wenig Grund. So wurde z. B. die Einsperrung, also i m heutigen Sinn ein prototypischer Fall von „Freiheitsberaubung", damals meist i n Verbindung m i t dem Verbot der gewaltsamen Selbsthilfe pönalisiert 38 . Diese verbotene Selbsthilfe aber war gerade Konstituens des Freien gewesen, der Gewalt hatte. Die Freien wurden durch die Gewaltverbote annähernd zu Knechten herabgedrückt. Landfriedensbruch wurde mit peinlichen Strafen geahndet, die vorher nur gegen Knechte und crimen maiestatis angewendet w u r den. Der Inquisitionsprozeß und das Offizialprinzip wurden gefördert 39 . Der Herr verwaltete sein befriedetes Territorium wie der frühere Freie seinen Hausstand. Zusammengefaßt ist der Zweck des Gewaltverbots i n den Landfriedensordnungen die Perfektionierung von Landesherrschaft dadurch, daß die physische Selbsthilfegewalt der Freien beseitigt w i r d und daß umfassend präventiv alle Handlungen unterdrückt werden, die Anlaß zur Gewalt sein oder die anderweitig die herrschaftliche Formierung der Gesellschaft stören könnten. Historisch wurde Gewalt zum rechtlich verbotenen Verhalten, wo Menschen einem überlegenem Gewalthaber unterworfen wurden. Dieser bestimmte zunächst, was verbotene Gewalt ist i m Interesse der Stabilisierung seiner Herrschaft. Aus der Perspektive dieses Herrschaftsinteresses lag das Zentrum des Begriffs verbotener Gewalt nicht dort , wo Menschen physisch verletzt wurden , sondern dort , wo einzelne unterworfene Menschen Macht über andere symbolisch darstellten, sich an37 Z u staatlicher Disziplinierung u n d Selbstzwang i m Bereich der Sexualität und der Aggressivität: Elias, Prozeß der Zivilisation, Bd. 1, S. 230 ff., 263 ff., Bd. 2, S. 312 ff. 38 His, a.a.O., ders., Bd. 2, S. 141 f. 39 Holzhäuser, H R G I I , Sp. 1467, 1470, 1475.
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maßten oder erlangten. Denn durch dieses instrumenteile Handeln entstanden innerhalb des befriedeten Bereichs Disziplinlosigkeit und neue Machtkonstellationen, die die Herrschaft gefährdeten. Die Körperverletzung und Tötung anderer ist für die Stabilisierung dieser Herrschaft nur mittelbar relevant, insofern sie weitere Gewalt und Unfrieden veranlaßt. Hier ist die strafrechtliche Trennung des Begriffs der instrumentellen Gewalt von dem der kausalen Körperverletzung und Tötung und die Entstehung des zwischen beiden Seiten stehenden Begriffs der Gewalttätigkeit angelegt. Zugleich ist das Strafrecht des Absolutismus begründet, welches Gewalt innerhalb einer Generalklausel als eine Form der Störung der öffentlichen Sicherheit ahndete. Entwicklung der Zivilisation Gerade weil i n der rigiden Monopolisierung der Gewalt die Naturfreiheit der einzelnen unterdrückt wurde, steckt i n ihr ein Ansatz von gesellschaftlichem Fortschritt. Dafür steht zunächst die Entfaltung der Wirtschaft. Sie hatte die territoriale Herrschaft eines Gewalthabers ermöglicht und wurde zugleich durch die Erweiterung der Territorien vorangetrieben. — Weil die Unmittelbarkeit der physischen A k t i o n nicht mehr intermittierte, wurde die gegenseitige Vermittlung der partikularen Interessen verstärkt. Sie mußten jetzt auf dem Umweg über reziproke Medien wie Tausch und Sprache realisiert werden. Praktisch wurde dies einerseits i n der Vermehrung des Geldverkehrs und des Fernhandels, zum anderen i n der Entfaltung der Kommunikation (Buchdruck) und der Wissenschaft. Der Zwang, Interessen nicht mehr unvermittelt selbst, sondern auf dem Umweg über gesellschaftlich vorstrukturierte Formen zu verwirklichen 4 0 , führte i n der nachmittelalterlichen Entwicklung zur Integration der ständisch zersplitterten Gesellschaft 41 . Die Integration ermöglichte wirtschaftlich sinnvolle Arbeitsteilung und damit Erweiterung der Produktion. Hinzu kam, daß die Verdrängung der physischen Gewalt aus dem Verkehr der einzelnen die Differenzierung von Intellekt und Sinnlichkeit förderte. Die Reziprozität vermittelter Verkehrsformen verlangt Triebsuspendierung und setzt damit das Individuum als ein durch die anderen auf sich selbst reflektierendes frei, was i m Humanismus der frühen Neuzeit zum Ausdruck kam. I m Absolutismus blieben zunächst der entstandene Staat und die Gesellschaft noch relativ w i l l k ü r l i c h verwaltetes Eigentum des Fürsten. Die monopolisierte Gewalt w a r noch wenig rechtlich rational vermittelt. Sie blieb als die geronnene Gewalt des Siegers i m Verkehr der Unterworfenen physisch gegenwärtig. Immerhin förderten die Gewaltverbote 40 41
Vgl. Luhmann, Soziologische Aufklärung, Bd. 2, S. 181. Eckart Kehr, Z u r Genesis der preußischen Bürokratie, S. 37.
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des Mittelalters die Institutionalisierung der Gewalt nicht nur i n Form von Exekutivverwaltungen, sondern auch von Justizbehörden. Das Reichskammergericht wurde 1495 i m Hinblick auf den Zusammenhang von Fehdeverbot und Justizgewährung reorganisiert. e) Das crimen vis im Absolutismus A m enorm ausgeweiteten Gewaltverbot der Landfriedensordnungen änderte sich während des Absolutismus wenig. Die Carolina enthielt i n A r t . 127 ff. Strafdrohungen gegen Aufruhr, Landzwang und Fehde. Umfassendere Pönalisierungen wurden praktiziert, mußten aber nicht positiviert werden, da die Gesetze über Landfriedensbruch anwendbar blieben 42 , auch als später Partikulargesetze erlassen wurden. Wichtiger w a r die rationalisierende Zusammenfassung der vielen Einzelfälle des Landfriedensbruchs unter das crimen vis. Diesen Rückgriff auf das römische Recht vollzog die von der Rezeption beeinflußte gemeinrechtliche Wissenschaft. Das crimen vis w a r i m ersten vorchristlichen Jahrhundert i m Zusammenhang politischer Unruhen erlassen worden. Es hatte sich gegen einzelne rechtswidrige Selbsthilfemaßnahmen gerichtet und entsprach schon i n seinen politischen Zielen 4 3 — Wahrung der bestehenden Herrschaft durch Sicherung des Gewaltmonopols und verbunden damit der öffentlichen Ordnung — den Landfriedensordnungen. Bis zu Justinians Regierungszeit w a r es zu einem umfassenden Tatbestand erweitert worden 4 4 , der am Ende des 16. Jahrhunderts von Andreas Gail und später von Benedict Carpzov ins deutsche gemeine Recht übernommen wurde 4 5 . Die vielen verschiedenen Einzeltatbestände der Landfriedensordnungen, die nun i m crimen vis zusammengefaßt wurden, pönalisierten soziales Handeln unter i m wesentlichen drei Aspekten: Selbsthilfe, die allgemein als Zwang bezeichnet wurde, Darstellung physischer Gewalt, insbesondere durch Waffentragen und Zusammenrottungen und schließlich Störung von Institutionen, insbesondere Gottesdienst, Burgfrieden, Hausfrieden, Begräbnis 46 . Diese Gliederung bedeutet nicht, daß entsprechende präzise Tatbestände formuliert worden wären. Neu ist aber, daß die i n vielen Einzelgesetzen kasuistisch verstreuten Tatbestände nun unter einem synthetischen Begriff — crimen vis — erfaßt und damit auch explizit auf einen einheitlichen Strafgrund bezogen wurden: öffentliche Sicherheit und Frieden. Aus der Synthese konnte die sich entwickelnde Jurisprudenz die Besonderheiten der Einzeltat42
Mittermaier, N. I I I zu § 399 des Feuerbachschen Lehrbuches. Hälschner, Das preußische Strafrecht, S. 173 f. Z u r Weite des crimen vis: Glaser, Abhandlungen, S. 24, 36. 45 Schaffstein (Festschrift f ü r Richard Lange, S. 986 f.) weist auf die dabei vermittelnden italienischen Lehren von Julius Clarus u n d Tiberius Decianus h i n ; vgl. auch Eb. Schmidt, Einführung § 132 ff. 46 Glaser, Abhandlungen, S. 26 f. 43
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bestände deduzierend darstellen, i n ihrer Bedeutung für das Ganze erkennen 47 und damit zur Rationalisierung der absolutistischen Herrschaft, zur Bildung des rationalen Staates beitragen. Während des Absolutismus allerdings brachte die Bearbeitung des crimen vis kaum einen Fortschritt i n Richtung auf rechtliche Bestimmtheit der Strafgewalt und politische Freiheit der Bürger 4 8 . Das crimen vis w a r bezogen auf öffentliche Sicherheit und Frieden i n einem hoheitlich autoritär bestimmten Sinn. Andernfalls hätte zur öffentlichen Sicherheit zunächst die Eingrenzung der absolutistischen Strafgewalt gehören müssen. Der enorme Auffangtatbestand des crimen vis wurde nie i n allgemeingültiger Weise auf der Ebene von Handlungen definiert. Zwar bemühten sich die Autoren des gemeinen Rechts, den enormen Tatbestand zu differenzieren und zu rationalisieren. Es wurde vorgeschlagen, die Aufruhr- und Massendelikte i n einem Sondertatbestand, wie die Carolina (Art. 129) i h n vorsah, zu erfassen. Auch die aus der Gottesfriedensbewegung übernommenen Strafdrohungen bei Störung des Begräbnisses und der Totenruhe sollten speziell beurteilt werden. Durchsetzen konnten sich diese Ansätze nicht. Auch die alte Unterscheidung zwischen vis privata und vis publica führte kaum zu einer die Freiheit der Bürger achtenden Rationalisierung der Strafgewalt 49 . Für beide war arbiträre, d. h. unbestimmte Strafe angedroht. Nicht einmal die Kriterien ,Zwang oder Drohung' und »körperliche Gewalt 4 wurden als Tatbestandsbestimmungen grundsätzlich akzeptiert 50 . Ungehörigkeiten, A u f fälligkeiten, Abweichungen i n den verschiedensten sozialen Bereichen konnten die Strafe des crimen vis hervorrufen. Begriffliche Unbegrenztheit der Strafgewalt zusammen m i t ihrer inhaltlichen Orientierung an Unliebsamkeiten i n praktisch allen sozialen Bereichen machen den autoritär hoheitlichen Charakter von Strafgewalt aus. Wenn diese beiden Umstände zusammentreffen, schützt Strafrecht nicht die Bürger und ihr Zusammenleben, sondern es bevormundet sie, erzieht sie m i t Gewalt, diszipliniert sie. Der Tatbestand des crimen vis konnte i m Rahmen der Kabinettsjustiz gemäß den herrschaftlichen Bedürfnissen nach Steuerung der Untertanen eingesetzt werden, »öffentliche Sicherheit und Frieden* beim crimen vis sind also nicht wesentlich unterschieden von der Bedeutung des Friedens i n den Landfriedensordnungen: Stabilisierung zentraler Herrschaft, Disziplin, Selbstzwang, Gehorsam der Untertanen. I m übrigen ist diese Orientierung des crimen vis zu sehen i m Zusammenhang der enormen Ausdehnung der absolutistischen Polizeigewalt 47 48 49 50
Dazu Eb. Schmidt, a.a.O., Schaffstein, Lange-Festschrift, S. 986 ff. Schaffstein, Lange-Festschrift, S. 988 f. Ders., S. 989 f., 996.
7 Keller
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Von ihr war das Strafrecht noch nicht getrennt 51 . Erst dem Aufklärer Feuerbach gelang eine konzise Unterscheidung m i t dem K r i t e r i u m der Rechtsverletzung für das Strafrecht 52 . Das crimen vis enthält keine solche Verletzung; „Bios die Form der Handlung macht sie (das crimen vis) zu einem Verbrechen" i m gemeinen Strafrecht 53 . I m crimen vis werden polizeiliche Aufgaben m i t strafrechtlichen M i t t e l n verfolgt. Insofern ist es ein für den Absolutismus typischer Tatbestand. I n der damaligen Situation zielten Polizeirecht wie Straf recht auf hoheitliche Lenkung der Vergesellschaftung. Der aufgeklärt absolutistische Staat war gerichtet auf rationale Gestaltung der Gesellschaft 54 . Die einzelnen sollten von oben zu friedlichen, gewerbetreibenden Mitgliedern der Gesellschaft erzogen und entsprechend verwaltet werden 55 . Der Staat näherte sich dem, was heute als autoritärer Wohlfahrtsstaat bezeichnet wird 5 0 . Dessen conditio sine qua non w a r und ist die Sicherung der staatlichen Herrschaft und Autorität durch möglichst vorbehaltlose Wahrung von öffentlicher Ruhe und Frieden. Dem diente das crimen vis. Der sekundären Bedeutung der einzelnen Bürger als Opfer von vis entsprach die Vernachlässigung ihrer politischen Freiheit gegenüber der die vis sanktionierenden Strafgewalt. Zum crimen vis gehörten auch und vor allem Zwangsmaßnahmen zwischen den Bürgern 5 7 , die heute i m Nötigungstatbestand erfaßt sind. Auch der Zwang wurde nicht um der Freiheit der betroffenen einzelnen, sondern um des öffentlichen Friedens w i l l e n pönalisiert. Feuerbachs Feststellung, „Bios die Form der Handlung macht sie zu einem Verbrechen", gilt auch hier. Das ist festzuhalten. Wenn i n der folgenden Strafrechtsentwicklung beim Zwang der öffentliche Friede als Strafgrund ersetzt wurde durch die Individualfreiheit, so ist zu fragen, ob damit mehr als ein legitimatorisches Etikett vertauscht wurde. A u f schlußreich ist hier Feuerbachs Stellungnahme. Als er i m Jahr 1801 sein Lehrbuch des peinlichen Rechts veröffentlichte, stand die Transformation des crimen vis zur Nötigung, d. h. Freiheitsbeeinträchtigung schon zur Debatte 58 . Die Hinwendung zum Schutz der Individualfreiheit hätte 61 Dazu Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 22 f.; Blank, V e r w a l t u n g u n d V e r waltungswissenschaft, S. 370 ff.; vgl. auch die K r i t i k Feuerbachs, Lehrbuch § 22 A n m . b; Eb. Schmidt, § 169. 52 Lehrbuch, § 21 f. 53 Lehrbuch, § 400. 54 F ü r diese Orientierung w a r das rationale Naturrecht relevant. 55 Die Polizeivorschriften gingen dabei bis i n persönliche Einzelheiten: V e r bot der Verschwendung, Kleiderordnug, moralische Vervollkommnung; vgl. Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 23. 56 Blank, V e r w a l t u n g u n d Verwaltungswissenschaft, a.a.O. 57 Glaser, Abhandlungen, S. 24; Schaff stein, Lange-Festschrift, S. 989 ff.; einschränkend v. Wächter, Neues Archiv des Criminalrechts, Bd. 11 (1933), 636. 58 Grolman hatte sie 1798 i n seinen ,Grundzügen der Criminalwissenschaft', § 336, vertreten; seit 1806 auch Tittmann, Beiträge zur Lehre von den Verbrechen gegen die Freiheit.
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also nahegelegen, denn nach Feuerbach sollten alle Verbrechen aus Rechtsverletzungen erklärt werden. Statt des »formellen vagen' crimen vis hätte Feuerbach also die Nötigung als Verletzung der Freiheit einführen können, insbesondere da er auch i n anderer Hinsicht keineswegs konservativ am überkommenen gemeinrechtlichen Bestand festhielt. Dennoch übernahm Feuerbach nie die Nötigung und damit die Beeinträchtigung der äußeren Willensfreiheit als Strafgrund 5 9 . Sah er i n der Beeinträchtigung der äußeren Willensfreiheit ein bloßes Relikt gemeinrechtlichen Denkens, das i m neuen, an Rechtsverletzungen orientierten Strafrecht keine konsistente Begründung und keinen Platz hatte? Dafür spricht die Tatsache, daß Feuerbach i n das neue Bayrische Strafgesetzbuch von 1813 den Straftatbestand der Nötigung nicht aufnahm. Daß ein Aufklärer wie Feuerbach, der i m übrigen die Bürgerfreiheit ins Zentrum seines Strafrechtssystems stellte, die bloße Verletzung der Willensfreiheit für nicht strafwürdig hielt, sollte hinsichtlich der verbreiteten These, die Nötigung sei ein aufklärerischer Fortschritt i m Schutz der Freiheit 6 0 , zu denken geben. Interessant ist schließlich die Behandlung der vis corporalis, die i m römischen und gemeinen Recht oft i m Vordergrund stand 61 , die lange Zeit auch den Gewaltbegriff des StGB bestimmte und zuweilen noch heute als K r i t e r i u m herangezogen wird 6 2 . Auch diese Qualifikation des crimen vis war nur bezogen auf den öffentlichen Frieden i m Obrigkeitsstaat. Die Schau, die von der Entfaltung von Körperkraft ausgeht, kann zur öffentlichen Beunruhigung beitragen. Insbesondere kann sie die soziale Geltung des staatlichen Gewaltmonopols i n Frage stellen 63 . Ein Bezug auf individuelle Rechtsgüter wie Körperintegrität ist darin jedoch nicht vorhanden. Auch dies bestätigt Feuerbach, der das crimen vis auf vis corporalis beschränkte 64 und zugleich feststellte, durch diese Form der vis werde kein Recht verletzt. Es handele sich u m ein f o r m e l les vages Verbrechen 4 . Fazit: Die Ausübung von körperlichem Zwang wurde pönalisiert, weil dadurch Ruhe und Disziplin der Untertanen gestört wurden, w e i l herrschaftsgefährdende Gewalt provoziert und Machtzentren gebildet wurden, die sich der Hierarchie entzogen. Nicht die Interessen freier Bürger waren leitend, sondern die Sicherheit des Obrigkeitsstaates. 59 Bis zur letzten (11.) von i h m herausgegebenen A u f l . 1831. Kritisch dazu Mittermaiers Noten zu §§ 161, 388 i n der 12. A u f l . 60 Schaffstein, Lange-Festschrift, S. 996; Maurach-Schroeder, StR B T T b 1, S. 122; v. Liszt, Lehrbuch, S. 339; Hansen, Nötigungsunrecht, S. 28. 61 Glaser, S. 26, 28; v. Wächter, a.a.O. 62 B G H S t 16, 341; 18, 134 f.; B G H G A 1974, 219; Lackner, § 240 A n m . 3; Arzt, Strafrecht B T L H 1, S. 190; Stöcker, J Z 1969, 396. 63 Vgl. Feuerbach, Lehrbuch, § 400. 64 Die i n § 399 erwähnte .psychologische Gewalt' meint n u r Drohung.
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f) Bürgerliche Herrschaft Seit dem Aufstieg des Bürgertums am Ende des 18. Jahrhunderts wurde das Gewaltverbot neu gefaßt. 1794 bestimmte das Preußische A l l gemeine Landrecht 65 unter der Überschrift „ V o n den Beleidigungen der Freiheit" i n § 1077 I I 20: „Wer außer i n diesen Fällen (§§ 1075, 1076) und außer seinem Amte einen Menschen, der seines Verstandes mächtig ist, m i t Gewalt festhält, einsperrt, oder wider seinen Willen etwas zu t u n nötigt, hat, wenn auch keine i n den folgenden Gesetzen bestimmten erschwerenden Umstände eintreten, dennoch eine Gefängnis-, Zuchthaus- oder Festungsstrafe von 14 Tagen bis zu sechs Monaten verwirklicht." Das ist der erste Nötigungstatbestand 66 . Andere früher unter dem crimen vis pönalisierten Verhaltensweisen wurden i m A L R i n Sondertatbeständen erfaßt. I m folgenden 19. Jahrhundert überführten die Strafgesetzbücher zahlreicher anderer Partikularstaaten das Gewaltverbot des crimen vis i n ähnlicher Weise i n Nötigungs- und Sondertatbestände. Das RStGB, das diese kodifikatorische Entwicklung vorläufig abschloß, enthielt und enthält heute noch hinsichtlich Form und Strafgrund der Gewalt weitgehend die gleichen Probleme wie das Allgemeine Landrecht 67 . Wissenschaftlich i n neuer Weise bearbeitet wurden das Gewaltverbot und damit zugleich die vom A L R gestellten Probleme zuerst durch Grolman 6 8 und Tittmann 6 9 . Beide gingen davon aus, Strafgrund des Gewaltverbots i m Nötigungstatbestand bzw. i m crimen vis sei die Beinträchtigung der Freiheit und nicht wie bisher angenommen, die Störung der öffentlichen Sicherheit und des Friedens. Dem ,Strafgrund' wurde damals noch nicht eine so umfassende Bedeutung beigelegt wie heute dem ,Rechtsgut4 eines Straftatbestandes, wohl aber war der Strafgrund Richtpunkt der systematischen Zuordnung und Auslegung des Strafgesetzes. M i t der These vom Strafgrund Freiheit w a r der Grund gelegt für die bis heute herrschende Meinung, das Gewaltverbot des Nötigungstatbestandes beinhalte den allgemeinsten Freiheitsschutztatbestand des Strafrechts. Gewaltverbote anderer Tatbestände zielten auf einen spezielleren Freiheitsschutz. Die Einführung der Freiheit als Strafgrund der Gewalt w i r d noch immer gepriesen als Ausdruck und Errungenschaft der Aufklärung. Dem freien Individuum sei damit i m Strafrecht der Weg gebahnt worden. 66 Schon 1787 w u r d e n i n der Josephina Freiheitsdelikte statuiert (Rosenfeld, V D B V, 397). 66 Hansen, Nötigungsunrecht, S. 28; Rosenfeld, V D B V, 397. Wieso Schaffstein (Lange-Festschrift, S. 996, 998) annimmt, das A L R enthalte keinen N ö t i gungstatbestand, ist nicht ersichtlich. 67 Hansen, S. 27. 68 Grundsätze der Criminalrechtswissenschaft, § 366, Giessen 1798; ausführlicher i n 2. A u f l . § 230. 69 Handbuch der Strafrechtswissenschaft, §§ 229 ff.
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Das crimen vis erscheint demgegenüber quasi als Vorgeschichte und irrelevant für die neue, nicht an obrigkeitlicher Sicherheit, sondern an Freiheit orientierte Entwicklung 7 0 . Zunächst ist zu fragen, wo hinsichtlich Umfang und Richtung der Strafgewalt der Fortschritt gegenüber dem Gewaltverbot des Absolutismus sich realisiert. Auffällig ist immerhin, daß ,die Freiheit* des absolutistischen Herrschers des Staates, die sich i n öffentlicher Sicherheit realisierte, ersetzt wurde durch ,die Freiheit' der einzelnen Bürger, die aber wiederum dem Staat zur Durchsetzung anvertraut war. Bemerkenswert ist auch, daß schon um die Mitte des 19. Jahrhunderts Marezoll 7 1 und Köstlin 7 2 konstatierten, der Unterschied der freiheitsorientierten Nötigung gegenüber dem (absolutistischen) crimen vis sei gering 78 . Wäre dies richtig, so erschiene das gepriesene Rechtsgut Freiheit i n einem eigentümlichen Licht, nämlich als konstitutionalistische Modifikation des Absolutismus. I m Freiheitsschutz steckte ein Stück Obrigkeitsstaat. Auch wäre von hier aus erklärbar, warum etwa Frankreich, wo Aufklärung erstmals politisch praktisch wurde, sich die Segnungen eines Auffangtatbestandes zum staatlichen Schutz der Freiheit entgehen ließ 74 . Auch daß gerade Feuerbach bei der Kodifikation des bayrischen StGB, i n welchem er die extremsten Forderungen der Aufklärung erfüllte 7 5 , auf den freiheitsschützenden Nötigungstatbestand verzichtete, wäre verständlich. Die Erfindung des Rechtsguts Freiheit sollte auch nicht m i t dem A u f klärer Montesquieu i n Zusammenhang gebracht werden 76 . Dessen vorrangiges aufklärerisches Anliegen war die Begrenzung und Rationalisierung der Staatsgewalt. Es lag i h m ziemlich fern, ,die Freiheit' der Bürger m i t der Freiheit des Souveräns i n eins zu setzen durch staatlichen Schutz der Freiheit der Bürger. Sein System der Strafgesetze ist entwickelt aus dem Zweck des Freiheitsschutzes 77 . Aber er differenzierte dabei penibel nach A r t e n und Graden der Freiheitsbeeinträchtigung und zielte entsprechend den sozialen Zusammenhängen der Freiheit jeweils auf besondere Tatbestände. Daß global ,die Freiheit' der Bürger dem Staat anzuvertrauen sei, findet bei Montesquieu keinen Anhaltspunkt. Dadurch würde auch seine gesamte Konzeption auf den Kopf 70 Schaffstein, a.a.O., S. 996; Maurach / Schroeder, StR B T T b 1, S. 122; Blei, StR I I § 18 I ; v. Liszt, Lehrbuch, S. 339; Hansen, a.a.O. 71 Das gemeine deutsche Criminalrecht (1. Aufl.), S. 232. 72 Abhandlungen, S. 426 f. 73 U n d Mittermaier konstatierte 1840 i n N. 6 zu § 399 des Feuerbachschen Lehrbuches, daß der Tatbestand der Nötigung das Fehlen des crimen vis „meist ersetzt". 74 Maurach / Schroeder, Straf recht B T T b 1, S. 122; Blei, Straf recht I I , § 18 I. 75 Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 35. 76 So aber Hansen, Nötigungsunrecht, S. 28. 77 De l'Esprit des lois, X I 2., 9.; X I I 2., 4. ff. I n : Montesquieu, Œuvres complètes, S. 557, 559 f., 598 ff.
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gestellt, wonach die Weisheit dem Staat vor allem gebietet, die Strafgewalt präzise zu begrenzen, also ,die Freiheit' den Bürgern zu belassen 78 . A u f die Vernunft der Bürger und nicht auf obrigkeitsstaatliche, diffuse Auffangstrafdrohungen zu vertrauen, das bedeutete zur Zeit Montesquieus Aufklärung. Eindeutig führte die Anerkennung des Strafgrundes Freiheit zu rechtsstaatlichen Verbesserungen, insofern sie eine Auflösung des i m crimen vis zusammengefaßten Konglomerats von Delikten ermöglichte. Die bloßen Störungen von bestimmten Räumen und Veranstaltungen (Hausfrieden, Kirche, Gottesdienst, Totenruhe) — der dritte Teilbereich des crimen vis also — konnten gesondert erfaßt oder aus dem Strafrecht gestrichen werden. Der zweite Teilbereich des crimen vis, die demonstrative Gewalt durch Waffentragen und Zusammenrottung, konnte ebenfalls i n speziellen Tatbeständen des Landfriedensbruchs pönalisiert werden. Der erste Teilbereich, die instrumentelle Gewalt der Selbsthilfe, wurde, wie erwähnt, unter dem Aspekt der Freiheitsbeeinträchtigung erfaßt und z. T. zusätzlich noch unter dem Aspekt der Verletzung des staatlichen Gewaltmonopols 70 als „Staatsverbrechen". Die nötigende Gewalt wurde zwar ihrerseits nochmals aufgefächert i n Raub, Erpressung, Notzucht etc. I n den meisten neueren Systemen und Kodifikationen wurde daneben aber ein umfassender Tatbestand der Freiheitsbeeinträchtigung durch Gewalt, meist Nötigung genannt, statuiert. Der Strafgrund Freiheit ist weit. So wie jede Regung i n der Gesellschaft die öffentliche Sicherheit und den Frieden i m Sinn der Herrschaftsstabilität stören kann, so beeinträchtigt praktisch jede Regung auch irgendeine individuelle Freiheit, sofern diese abstrakt als unendliche Vielfalt individueller Möglichkeiten verstanden wird. Der Nötigungstatbestand w i r d also — obwohl nur aus einem Teil des crimen vis entwickelt — sich zu einem ähnlichen Auffangtatbestand wie dieses entwickeln, wenn nicht die zu schützende Freiheit eng gefaßt oder der Gewaltbegriff von der Freiheit unabhängig präzisiert wird. K. v. Grolman und C. A. Tittmann haben das i n verschiedener Weise versucht. Die Probleme, die damit entstanden, gleichen i m Ansatz denen, die auch heute noch diskutiert werden. Die mit Grolman und Tittmann beginnende Entwicklung ist bestimmt von jener ambivalenten Vorstellung von Freiheit, die oben dargestellt wurde. Wenn Freiheit als vorgesellschaftliches Gut behauptet wird, das man immer schon besitzt, so w i r d die Bedeutung zivilisierter sozialer Verkehrsformen unerklärbar. Waru m Gewalt eine körperliche A k t i o n sein soll, w i r d denn auch weder bei Grolmann noch bei Tittmann begründet. Die Auflösung des Gewalt78
Dazu auch Denninger, J Z 1975, 545 f. Z u r Strafbarkeit der Selbsthilfe i m 19. Jahrhundert vgl. Mittermaier, N. I I zu § 186 des Feuerbachschen Lehrbuchs, 79
2. Gewalt als K r a f t e n t f a l t u n g
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begriffs ist theoretisch schon bei ihnen angelegt, und durch den Schutz der beziehungslosen Freiheit ist die Expansion der Strafgewalt legitimiert. Gefördert w i r d die Vorstellung von Freiheit als Vereinzelung vermutlich auch durch den mit dem bürgerlichen Freiheitspathos zugleich sich entfaltenden Kapitalismus und die Warenwirtschaft. Der sachliche Tausch w i r d die dominierende Verkehrsform, die alle anderen qualitativ besonderen menschlichen Beziehungen sich anzugleichen tendiert. Unter dem Aspekt des Tausches besteht die Gesellschaft aus einer Ansammlung von Gütern und Güterbesitzern. Die Reduktion des Strafrechts auf Güterschutz ist Teil dieser Entwicklung 8 0 . — Noch strikt gegen die Vorstellung von Freiheit als vereinzeltes vorgesellschaftliches ,Gut' war die Konzeption Feuerbachs gerichtet; was dem Menschen „das Dasein gibt, macht i h n zugleich zum Bürger einer Genossenschaft" 81 . Daß die Freiheit als solche den gesellschaftlichen Zusammenhängen vorgegeben und staatlich umfassend zu schützen sei, ist von hier aus nicht zu begründen. Zwar lehnte noch 1847 Marezoll 8 2 einen umfassenden Freiheitsschutztatbestand ab. Die allgemeine Entwicklung folgte aber der von Grolman und Tittmann eingeschlagenen Linie. Rosenfeld hat die Entwicklung dargestellt 83 . Darauf kann hier verwiesen werden. 2. Gewalt als Kraftentfaltung a) Darstellung
des Begriffs
1
Das Reichsgericht bestimmte Gewalt u.a. als Anwendung körperlicher K r a f t zur Beseitigung eines tatsächlich geleisteten oder bestimmt erwarteten von vornherein durch Körperkraft zu unterdrückenden Widerstandes. Dieser Begriff ist laut Binding abstrahiert aus dem B i l d der primitiven Uberwindung eines Menschen durch einen anderen i m unmittelbar aggressiven Kampf 2 . Dementsprechend wollte z. B. v. Liszt nur bei erheblichem Kraftaufwand und erheblichem Widerstand Gewalt 80
Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 71. Zit. nach Bloch, Naturrecht, S. 108. 82 Das gemeine deutsche Criminalrecht, 2. Aufl., S. 402. 83 V D B V, 395 ff. 1 RGSt 27, 405; 56, 88; 58, 99; 64, 115; 69, 330; 73, 344; 77, 81; RG J W 1938, 789, 2784; ebenso Niese, S. 26; Wanjeck, G A 27 (1879), 196; Heilborn, Z W t W 18 (1898), 186 f.; Meyer-Allfeld, Lehrbuch, S.436f.; Hälschner, GS 35 (1883), 2; Olshausen, § 240 A n m . 4; H i l l , S. 5; v. Liszt / Schmidt, Lehrbuch, S. 521; N i e t hammer, Lehrbuch, S. 223; v. Schwarze, Sächs. Gerichtszeitung X I V , 43; K o h l rausch/Lange, §52 I I ; neuerdings auch B G H NStZ 1981, 218 u. Beschl. v. 8. 10. 1981 — 3 StR 449/450/80, dazu s. u. S. 158 ff. 2 Lehrbuch, S. 82. Vgl. auch die Konkretisierung des abstrakten Begriffs i n RGSt 56, 87 (88 f.): „ K a m p f " , „Offene Überwindung", „ U n m i t t e l b a r " . 81
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I V . E n t w i c k l u n g u n d bisherige Bestimmungen des Gewaltbegriffs
annehmen 3 . Auch wurde zum Teil nur die körpereigene K r a f t berücksichtigt. Die Rechtsprechung ließ sich auf solche Präzisierungen aber nie dauerhaft festlegen. Wo i n der Kausalkette von der verursachenden Tätigkeit bis zur Wirkung die Kraftentfaltung gegeben sein muß, so daß Gewalt angenommen werden kann, bzw. wo das Fehlen von Kraftentfaltung die Annahme von Gewalt nicht ausschließt, blieb ebenso unklar, wie das notwendige Mindestmaß der gewaltindizierenden Kraft. Auch wurde von der umgangssprachlichen Bedeutung des Wortpaares Kraft/Widerstand abstrahiert und ggf. die Bewegung als Widerstand und das Statische als K r a f t bezeichnet. Beispiele: Körpereigene K r a f t ist nicht erforderlich, wenn zusätzlich erhebliche äußere mechanische K r a f t (z. B. durch Schußwaffen) 4 i n Gang gesetzt worden war, die die körpereigene K r a f t ersetzte 5 . Daran fehlt es nach Reichsgericht beim Vergiften, Betäuben, Hypnotisieren. Die bei diesen Vorgängen aufgewendete minimale (körpereigene) K r a f t soll für die Annahme von Gewalt nicht ausreichen 6 . Demgegenüber wurde das Drehen eines Schlüssels, durch das eine Person eingeschlossen wurde, schon als Gewalttat qualifiziert 7 . Hier begnügte sich das Gericht ausdrücklich m i t minimaler Kraftentfaltung. Später vermied das Reichsgericht dieses Problem, indem es i n ähnlichen Fällen anders begründete: Auch die Türen und Mauern, die den Bewegungen des Eingeschlossenen widerstehen, seien „passive" Kraftentfaltung, die die Willensbetätigung behinderten. Deshalb liege hier Gewalt vor 8 , ebenso wie beim Verbarrikadieren eines Weges9, beim Querstellen eines Fahrrades 16 . Indem also das Gericht das mechanische Beharren als K r a f t anerkannte und das Kraftentfaltungsmerkmal an einer späteren Stelle der Kausalkette zwischen Ursache und W i r k u n g situierte, konnte es wieder erhebliche mechanische K r a f t feststellen. Als passive gewaltwirkende K r a f t sollte schließlich auch der menschliche Körper genügen. Zunächst stellte das Reichsgericht fest, mehrere Menschen, die sich auf einem Weg zusammengedrängt hatten, um dadurch andere am Passieren zu hindern, übten Gewalt aus. I n Weiterentwicklung dieser Rechtsprechung entschied das Bayerische Oberste Landesgericht: Wer auf der Straße vor einem Kfz hin- und hergeht und dieses 3 Lehrbuch, S. 347. Auch der Gewaltbegriff von G. Arzt, StR, B T L H 1, S. 190 enthält dieses K r i t e r i u m . 4 RGSt 60, 157 f., w o allerdings auf die Nervenerregung beim Opfer abgestellt w i r d . 5 RGSt 69, 327 (330); 73, 343 (344 f.); RG G A 37, 158 (159). 6 So insbes. RGSt 64, 113 (118); vgl. auch RGSt 56, 87 (88 ff.); 58, 98 f. 7 RGSt 13, 49 (51); vgl. auch B G H (s. o. F n 1). 8 RGSt 27, 405; 69, 330; 73, 343 (344). 9 B G H S t 18, 133 (134 f.). 10 RG H R R 1942 Nr. 193.
2. Gewalt als Kraftentfaltung
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zum Halten zwingt, bildet ein mechanisches Hindernis und handelt gewaltsam 11 . Das K r i t e r i u m der mechanischen K r a f t wurde i n diesen Fällen des Blockierens, Versperrens und Behinderns gänzlich vom Nötigenden zum Genötigten verlagert, denn nur, wenn dieser aktiv wird, kann das Beharren als mechanische K r a f t überhaupt wirksam werden. Deshalb hob das Reichsgericht i n der Begründung zusätzlich hervor, daß der Genötigte das Verhalten des Nötigers „als (mechanischen) Zwang empfunden" habe. Die rechtsstaatliche Praktikabilität des Merkmals „mechanische K r a f t " w i r d durch diese Psychologisierung i n Frage gestellt. Noch heute w i r d das K r i t e r i u m Kraftentfaltung herangezogen zur Abgrenzung des Handtaschenraubes vom Diebstahl 12 . Die i n der Literatur oft erörterte Unterscheidung zwischen absolut und kompulsiv wirkendem Zwang ist für diesen Gewaltbegriff von geringer Bedeutung, denn die mechanische K r a f t bzw. das mechanische Hindernis können sowohl die Willensbildung und Betätigung ausschließen (vis absoluta) als auch die Willensentschließung beeinflussen (vis compulsiva). Wer einen anderen bewußtlos schlägt, um i h m dann sein Geld zu nehmen, wer i h m das Geld, das er gegen Wegnahme verwahrt, entreißt (vis absoluta), wendet ebenso K r a f t an, wie der, der einen anderen prügelt, bis dieser sich entschließt, dem Angreifer das Geld zu überlassen (vis compulsiva). Eine andere Frage ist, wie von diesem Begriff aus die Gewalt abgegrenzt werden kann von einer Drohung, bei der ebenfalls K r a f t entfaltet wird. Eine solche Abgrenzung ist notwendig, denn nach dem Gesetz sind die Rechtsfolgen von Gewalt und Drohung unterschieden; deshalb müssen auch ihre Rechtsfolgevoraussetzungen unterschieden werden. Wo die Abgrenzung zur Entscheidung stand — i m wesentlichen bei Sachentziehung und psychophysischer Beeinträchtigung —, zog das Reichsgericht außerhalb des mechanischen Gewaltbegriffs liegende Kriterien heran 18 . b) Wechsel der Gewaltbegriffe
in der Rechtsprechung
aa) Der Grenzbereich zwischen Gewalt und Drohung wurde problematisch i m Fall eines Fährmanns, der einem beförderten Bauern einen Sack Hirse vom Wagen nahm, um i h n zur Zahlung des Fährgeldes zu veranlassen 14 ; ebenso i m Fall eines Arbeiters, der dem Betriebsinhaber ein Pferd wegnahm, u m i h n zu einer Lohnvorauszahlung zu zwingen 145 . 11
B a y O b L G St 53, 145 (146 f.). B G H bei Dallinger, M D R 1975, 22, 543; anders B G H S t 18, 329; G A 1974, 219 f.; vgl. auch B G H (s. o. F n 1). 13 Dazu Müller-Dietz, G A 1974, 33 (44). 14 RGSt 3,179. 15 R G G A 56 (1909), 222. 12
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Das Reichsgericht lehnte beide Male Gewalt ab, nicht weil die Kraftentfaltung unerheblich war, sondern weil nicht auf den Körper des Genötigten eingewirkt worden war. Die Gewalt sei hier „ausschließlich gegen die Sache" gerichtet gewesen. Der Genötigte sei nur seelisch beeinflußt worden. Es handele sich um eine Drohung m i t Fortsetzung des Übels, dessen Zufügung schon begonnen habe („faktische Drohung"). M i t dieser Argumentation löste sich das Gericht vom Kraftentfaltungskriterium und zog die Definition der Gewalt als Körpereinwirkung heran. Es glaubte sich zu dieser Korrektur durch den Willen des Gesetzgebers verpflichtet. Damit ist der Wechsel der Argumentation jedoch nicht hinreichend erklärt, denn i n anderen Entscheidungen ließ das Gericht den angeblichen Willen des historischen Gesetzgebers unbeachtet. Zum Beispiel beim Blockieren eines Weges kann von Körpereinwirkung keine Rede sein 18 ; und daß Gewalt gegen die Person vorliege, könnte man hier ebenso bestreiten wie bei der Wegnahme von Sachen. Auch Geilens diesbezügliche Ausführungen 17 begründen dies nicht. Sie weisen nur darauf hin, daß die körperliche Bewegungsfreiheit eingeschränkt wurde durch mechanische Hindernisse i n der Umwelt. Das Reichsgericht nahm bei der Blockade Gewalt an, weil mechanischer Zwang ausgeübt bzw. empfunden wurde. Diese Erwägung hätte auch i n den zuvor genannten Fällen der Sachentziehung zur Annahme von Gewalt führen können. Der Bauer ebenso wie der Betriebsinhaber w u r den mechanisch an bestimmten physischen Handlungen gehindert 18 . Außerdem wurde K r a f t entfaltet. Das aber bedeutet, daß das Reichsgericht kasuistisch die Gewaltbegriffe wechselte. bb) Kasuistisch verfuhr das Reichsgericht auch i n den sog. Schreckschußfällen 19 . I m ersten wurde m i t scharfer Munition knapp an dem zu Nötigenden vorbeigeschossen. Das Reichsgericht begründete die A n nahme von Gewalt mit der verursachten Nervenerregung, die physisch lähmend gewirkt habe, also wiederum m i t Körpereinwirkung. I m Ergebnis dieser Entscheidung liegt noch kein Widerspruch zur überkommenen Bestimmung der Gewalt; deren Anwendung hätte, da mechanische Kraft entfaltet worden war, zum gleichen Ergebnis geführt 20 . I n einer weiteren Entscheidung bejahte das Gericht Gewalt bei Schreckschüssen m i t Platzpatronen wiederum unter Hinweis auf die psychophysische Einwirkung. Hier hätte die mechanische Bestimmung zur A b lehnung von Gewalt führen müssen, wie z. B. i m Fall der chemischen Betäubung. Auch hier also wechselte das Gericht kasuistisch zu einem anderen Gewaltbegriff. 16 17 18 19 20
Knodel, Der Begriff, S. 45. Festschrift f ü r Mayer, S. 460 f. Jakobs, Festschrift f ü r H. Peters, S. 77 F n 33. RGSt 60, 157 (158); 66, 353 (355 f.). Darauf weist Geilen, a.a.O. S. 449 F n 19 hin.
2. Gewalt als Kraftentfaltung
c) Kritik
der Unbestimmtheit
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des Begriffs
Unter dem Aspekt der rechtsstaatlichen Präzision ist bei dem hier erörterten Gewaltbegriff entscheidend, welches Maß (Erheblichkeit) der Kraftentfaltung gefordert wird. Bleibt dies unbestimmt 2 1 , genügt also schon die unerhebliche Kraftentfaltung, so unterscheidet sich Gewalt nicht von anderen menschlichen Handlungen, denen stets ein M i n i m u m an Körperkraft zugrunde liegt. Gewalt w i r d dann zum Scheinkriterium und die Selektion dessen, was strafbar sein soll, folgt unkontrolliert anderen Erwägungen. Die Rechtsprechung des Reichsgerichts hatte, soweit bekannt, eine solche Verdünnung des Begriffs auf minimale mechanische Veränderungen nicht dauerhaft vollzogen 22 . Dennoch ist der Hinweis darauf nicht überflüssig, w i e die neue Rechtsprechung der unteren Instanzen zeigt. So verurteilte das Schöffengericht Berlin-Tiergarten einen Studenten, der Lehrveranstaltungen gestört hatte, u. a. mit der folgenden Begründung: „Die Entfaltung von Stimmgewalt ist ein akustisches M i t t e l körperlicher Gewaltanwendung i n Form von störender Gegenwart und erfüllt den herkömmlichen Begriff der Entfaltung körperlicher Gewalt 2 3 ." Das Kammergericht 2 4 verurteilte Studenten wegen Gewaltnötigung, w e i l sie „einen Hochschullehrer durch dauerndes und lautstarkes Reden zum Abbruch einer Lehrveranstaltung" gezwungen hatten. Die ,Kraftentfaltung 4 fungiert i n derartigen Entscheidungen als bloßer Formalismus, der andere Strafbarkeitserwägungen verdeckt. Soll Gewalt hingegen durch ein überdurchschnittliches (erhebliches) Maß an Kraftentfaltung gekennzeichnet sein, so ist schwer zu fixieren, was überdurchschnittlich ist, angesichts der Tatsache, daß die dingliche Umwelt weitgehend aus „passiven Kräften" von beträchtlicher Stärke gebildet ist. Aber auch die Relation von K r a f t und Widerstand ist für eine mechanische Bestimmung problematisch 25 . Freilich ist solche inzwischen i n der Literatur sehr verbreitete K r i t i k an der Unbestimmtheit des Kriteriums ,Kraftentfaltung 4 unzulänglich. I m Strafrecht gibt es zahlreiche ähnlich unbestimmte Tatbestandsinterpretationen. So w i r d etwa neuerdings bei § 223 die Erheblichkeit 21 Z . B . Hälschner, GS 35 (1883), 2; Heilborn, ZStW 18, 187; B G H G A 1974, 219; B G H S t 18, 329. 22 RGSt 13, 49 (51) blieb vereinzelt m i t der These, schon die beim Drehen eines Schlüssels aufgewendete K r a f t indiziere Gewalt; vgl. oben I V . 2. a. 23 Zit. nach F U - I n f o (Informationsblatt der Freien Universität Berlin) 15/76. Der Student wurde zu 60 Tagessätzen zu je 10 D M verurteilt. 24 JR 1979, 162 (163) m i t weiteren Nachweisen; ähnlich L G B e r l i n Wissenschaftsrecht 1974, 255 f. 25 Vgl. v. Schwarze, Sächs. Ger.Zeitung X V I (1872), 33 (45 f.); v. HeintschelHeinegg, Gewalt, 5. 55 f.
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der Beeinträchtigung zunehmend relevant. Ein Stück weit sind Texte immer unbestimmt. Sie tragen ihre Bedeutung nicht i n sich. Ratlosigkeit entsteht, wo nicht i n einem Mindestmaß Konsens über den möglichen sozialen Sinn, den Bezugsrahmen des Textverständnisses vorhanden ist. Problematisch wird daher die Unbestimmtheit dieses Gewaltbegriffs, weil der soziale Sinn des Kriteriums ,Kraftentfaltung' unklar i s t Es w i r d meist traditionell begründet. Offen bleibt, warum es gerade auf Körperlichkeit des Zwanges ankommen soll, wenn doch allein die Freiheit geschützt werden soll, die auch ohne erhebliche Körperkraft beeinträchtigt werden kann. I n dieser sozialen Sinnlosigkeit ist die teleologische Auflösung dieses Gewaltbegriffs angelegt. Läßt sich eine Erklärung für das K r i t e r i u m ,Kraftentfaltung' quasi nachschieben?
d) Schutz der öffentlichen
Sicherheit als Erklärung?
Die K r i t i k e r dieses Gewaltbegriffs unterstellen seit Binding 2 6 , es gehe u m die Typisierung intensiver Freiheitsbeeinträchtigungen und konstatieren zutreffend, daß der Typus ,Kraftentfaltung' dem Schutz der äußeren Willensfreiheit nicht mehr gerecht wird, weil diese heute durch subtilere M i t t e l ausgeschaltet werden kann. Deshalb soll nach Binding das Kraftentfaltungskriterium aufgegeben werden. Die unterstellte Prämisse verfehlt jedoch, wie oben gezeigt wurde, den historischen Sinn des Körperlichkeitskriteriums. Die vis corporalis wurde pönalisiert, w e i l sie als Handlungsform die öffentliche Sicherheit gefährdete, denn Kraftentfaltung durch Private symbolisierte außerstaatliche Macht. Dieser ursprüngliche Sinn wurde von der Rechtsprechung des Reichsgerichts noch festgehalten i n der Differenzierung zwischen mechanischem und chemischem Zwang. Letzterer macht weniger Schau. I n RGSt 56, 87 (88 ff.) w i r d der spektakuläre offene Kampf als Prototyp der Gewalt vorgestellt 27 . Wenn nach Helmke 2 8 Gewalt die Überwindung von Widerstand mittels Kraftaufwendung ist, so könnte dieses spezifische M i t t e l i m Zusammenhang der öffentlichen Sicherheit erklärt werden, weil Kraftentfaltung die Nötigung deutlich objektiviert, sie öffentlich macht. Es entspricht der ahistorischen Erfolgsorientierung Bindings und seiner Nachfolger, daß sie diese ursprünglich eigenständige Bedeutung der Handlungsform verkennen". K a n n die Bestimmung der Gewalt als Kraftentfaltung heute noch aus der Gefährdung öffentlicher Sicherheit begründet werden? Ähnliche M
Lehrbuch, S. 82; Knodel, Der Begriff, S. 35. Ebenso Heilborn, ZStW 18, 187. 28 Der Begriff, S. 1. 29 Z u r ahistorischen Sicht Bindings auch Schaff stein, Festschrift f ü r Richard Lange, S. 995 F n 29. 27
2. Gewalt als Kraftentfaltung
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Ansätze werden neuerdings vorgeschlagen. Ohne daraus einen bestimmten Gewaltbegriff abzuleiten, erwägt Fezer 30 , die Nötigungstatbestände nicht mehr aus dem Rechtsgut Freiheit, sondern aus dem Schutz der öffentlichen Sicherheit zu erklären und zu bestimmen. I m Ergebnis nähern sich dem K r i t e r i u m ,öffentliche Sicherheit 4 auch die Autoren, die bei § 240 Abs. 2 auf die Gefährdung der Friedensordnung abstellen wollen 3 1 oder auf die Gefährdung des staatlichen Rechtsdurchsetzungsmonopols 32 . Darauf w i r d später einzugehen sein. Hier geht es nur u m die Bestimmung der Gewalt als Kraftentfaltung. Ist heute noch die öffentliche Sicherheit durch Kraftentfaltung — oder allgemeiner: durch mechanischen Zwang — derart gefährdet, daß dadurch der für sich genommen straflose Zwang zum kriminellen Delikt werden kann? — Zunächst kann man dies m i t normativen Erwägungen beantworten: Die öffentliche Sicherheit ist ein recht abstraktes Rechtsgut, wenn man sie überhaupt als solches akzeptiert 33 . Wann sie beeinträchtigt ist, kann nur schwer kontrolliert werden. Deshalb ist fraglich, ob sie für sich schon Strafbarkeit begründen kann. I m StGB hat sie nur einen relativen Stellenwert. Ihre Gefährdung w i r d nur berücksichtigt, wo gleichzeitig eine Gefährdung solcher konkreterer Rechtsgüter absehbar ist, die für sich schon strafrechtlich geschützt sind, wie Leben, K ö r perintegrität, Fortbewegungsfreiheit 34 . Die §§ 125 ff. enthalten zwar eigenständige Strafdrohungen i m Hinblick auf die Gefährdung öffentlicher Sicherheit; es ist dabei aber stets ein Bezug auf Rechtsgüter vorausgesetzt, deren Verletzung als solche schon Strafbarkeit begründet. N u r als Qualifikation oder Vorverlagerung der allgemeinen Strafbarkeit ist die Gefährdung öffentlicher Sicherheit relevant. Der allgemeine Zwang ist aber für sich nicht strafbar. Andere Strafrechtsgüter werden durch das mechanische Handeln nicht gefährdet. Nach der Systematik des StGB dürfte die öffentliche Sicherheit die Pönalisierung des mechanischen Zwangs also nicht begründen. Auch tatsächlich dürfte heute das allgemeine Sicherheitsgefühl kaum mehr spezifisch beeinträchtigt werden durch bloße Kraftentfaltung ohne gleichzeitige speziellere Gefährdungen. Das Sicherheitsgefühl dürfte gegenüber subtileren Veränderungen der Sozialstruktur empfindlicher sein. 80
JR 1976, 95; ders. G A 1976, 359 f. Roxin, JuS 1964, 377 f.; Schünemann, M S c h r K r i m 1970, 65; A E StGB § 116, Begr. S. 63, 65. 21
32
Arzt, Festschrift f ü r Welzel, S. 823, 835 ff.; k r i t . Fezer, G A 1976, 357 ff. K r i t i s c h zu überindividuellen Rechtsgütern: M. M a r x , Z u r Definition des Begriffs ,Rechtsgut', S. 79 ff. 34 s. u. S. 305 ff., 310 f. 33
110
I V . E n t w i c k l u n g u n d bisherige Bestimmungen des Gewaltbegriffs
3. Gewalt als Einwirkung auf den Körper a) Darstellung
des Begriffs
Das Reichsgericht hielt zumindest formal immer an der mechanischen Bestimmung der Gewalt fest. Narkose, Vergiftung und Hypnose bewertete es ausdrücklich nicht als Gewalt 1 . Auch nachdem 1935 das Analogieverbot aufgehoben worden war, bestrafte es die Narkose nicht als Gewalt, sondern wie Gewalt 2 , weil andernfalls eine dem ,gesunden Volksempfinden' entsprechende Ahndung nicht möglich sei. Es hielt also auch i n dieser Zeit am herkömmlichen Gewaltbegriff fest und nahm nur einen analogen Fall an. Als 1946/49 das Analogieverbot wieder i n K r a f t trat, ging der Bundesgerichtshof nicht hinter den erreichten kriminalpolitischen Entwicklungsstand zurück. I m Wege der Auslegung erfaßte er, was für das Reichsgericht Analogie war 3 und erweiterte den Gewaltbegriff so, daß zumindest Narkose und Vergiftung als Gewalt bestraft werden konnten 4 . Der neue Begriff erfaßte als Gewalt jede „körperliche Handlung, (die) die Ursache dafür setzt, daß der wirkliche oder erwartete Widerstand des Angegriffenen durch ein unmittelbar auf dessen Körper einwirkendes M i t t e l gebrochen oder verhindert wird, gleichviel, ob der Täter dazu größere oder nur geringere Körperkraft braucht" 5 . Der Bundesgerichtshof wandte sich damit ab vom K r i t e r i u m (erheblicher) mechanischer Kraft. I n der Kausalkette zwischen ursächlichem Täterverhalten und bewirkter Widerstandsüberwindung beim Opfer w i r d das die Gewalt bestimmende K r i t e r i u m damit vom M i t t e l des Angreifers auf den Körper des Angegriffenen, also zur Wirkung verschoben. Zur Begründung dieser Änderung beruft sich der Bundesgerichtshof auf Sinn und Zweck des Gesetzes. Pönalisiert werden müsse „die den Widerstand brechende Wirkung". Deshalb müsse Gewalt „vom Opfer her" bestimmt werden. Positive Begründung ist also das Rechts1
RGSt 56, 87 (88 f.); 58, 98 f.; 64, 113, (115 f.). RGSt 72, 349 (351 f.). 3 Z u r Methodik: Priester, Z u m Analogieverbot, S. 174ff. (176f.); Baumann, M D R 1958, 394 (395). 4 BGHSt 1, 145 (146). 5 B G H a.a.O. S. 147. I n der L i t e r a t u r w i r d dieser Begriff vertreten u. a. von Geerds, Einzelner u n d Strafgewalt, S. 31 (zu §105); Frank, §240 A n m . I I 1; Däubler, Studien, S. 100; Simson / Geerds, Straftaten gegen die Person, S. 257 F n 173; Welzel, Deutsches Strafrecht, S. 325; Heinemann / Posser, N J W 1959, 122; Krey, JuS 1974, 421; Sieberg, Gewalt, S. 10, 27; Blei, N J W 1954, 586; ders., Strafrecht I I , S. 66; Geilen, Parlamentsnötigung, S. 92, 101; Hoffmeister, Diss. S. 135 ff.; Niese, Streik, S. 26; Olshausen, §240 A n m . 4; Busse, Nötigimg, S. 101 f. Schmidhäuser, Strafrecht B T 4/4, 15; Franke, JuS 1980, 891 f.; Giehring, Demonstration, S. 525 ff. Auch i n der Begründung zum E 1962 w i r d v o r ausgesetzt, daß Gewalt gegen Einzelne immer auf deren Körper w i r k e n müsse (Begr. S. 121). 2
3. Gewalt als E i n w i r k u n g auf den Körper
111
gut, die beeinträchtigte Freiheit des Opfers. Nicht begründet sind damit i n negativer Hinsicht die Grenzen dieses Gewaltbegriffs, d. h. warum nur solche Widerstandsüberwindungen Gewalt sein sollen, die auf den Körper des Angegriffenen wirken, und nicht solche, die etwa auf sein Sacheigentum einwirken und i h n dadurch zum Nachgeben motivieren. Das Reichsgericht, das den neuen Gewaltbegriff schon teilweise herangezogen hatte, hatte die Beschränkung der Gewalt auf Körpereinwirkungen m i t der Entstehungsgeschichte des RStGB, den Motiven zum StGB des Norddeutschen Bundes und den Partikularstrafgesetzbüchern begründet 8 . Krey macht weiter geltend, das K r i t e r i u m Körpereinwirkung entspreche dem allgemeinen Sprachgebrauch 7 . Das K r i t e r i u m soll erforderlich sein, u m die auch von diesem Begriff erfaßte kompulsive Gewalt von der Drohung abzugrenzen 8 . Eine gegenwärtige nur psychische Einwirkung etwa sei auch bei der Drohung gegeben. Ohne das K r i t e r i u m der körperlichen Einwirkung müsse bei Drohungsfällen wegen Gewalt bestraft werden. Das aber wäre i n der Tat nicht zulässig, weil nach dem Gesetz Gewalt und Drohung i n den Rechtsfolgen unterschieden sind und also auch i n den Rechtsfolgevoraussetzungen differenziert werden müssen. Der auf Körpereinwirkung bezogene Gewaltbegriff erfaßt alle Fälle der Verletzung der Körperintegrität des Angegriffenen, u. a. also auch Nervenschock, Betäubung, Nichtgewähren von Nahrung, was beim früheren Gewaltbegriff zweifelhaft war; aber außer der Körperverletzung i. S. der §§ 223 ff. auch die Wegnahme oder Zerstörung von technischen Körperersatzteilen 9 . — Dieser Teilbereich, der als unmittelbare Gewalt (i. S. der Körpereinwirkung) bezeichnet w i r d 1 0 , wurde dadurch ausgedehnt, daß die Rechtsprechung seit RGSt 60, 157 als Gewalt ansieht auch das Verursachen „starker Nervenerregung" beim Angegriffenen, durch „die sein ganzes körperliches Befinden und damit auch die Freiheit seiner Willensentschließung oder Willensbetätigung i n hohem Maße" beeinflußt werden. Derart wurde argumentiert bei Schreckschüssen, die — erfolglos — den Angegriffenen zum Freilassen eines Dritten veranlassen sollten, bei dichtem Auffahren auf der Autobahn, das den Vorausfahrenden zum Freigeben der Fahrbahn bewegen sollte, beim Vorhalten einer entsicherten scharfen Pistole, was die Bedrohte zur Herausgabe von Geld veranlassen sollte. 6
Z u r Auseinandersetzung m i t der Gesetzgebungsgeschichte s. o. S. 76 F n 48. JuS 1974, 421; auch RGSt 56, 87 (88). 8 RGSt 64, 113 (116f.); Geilen, Festschrift f ü r Mayer, S.460ff.; vgl. auch RG G A 56, 222; RG JW 1930, 3403. 9 Sieberg, Die Gewalt, S. 23. 10 Z u r Unterscheidung unmittelbare/mittelbare K ö r p e r e i n w i r k u n g vgl. Busse, Nötigung, S. 102, 104; B l e i J A 70 StR S. 24. 7
112
I V . E n t w i c k l u n g u n d bisherige Bestimmungen des Gewaltbegriffs
I n der Berücksichtigung von Nervenreaktionen steckt die Möglichkeit einer totalen Auflösung des Gewaltbegriffs 11 . I n dem bekannten Fall einer einstündigen Sitzblockade vor Straßenbahnen nahm der Bundesgerichtshof 12 Gewalt an, u. a. w e i l dadurch bei den Straßenbahnfahrern ein psychisch determinierter Prozeß von erheblichem Gewicht i n Lauf gesetzt wurde. Das heißt, als Gewalt indizierende Nervenerregung und Körpereinwirkung kann schon die Verursachung von Hirnströmen, wie sie jede intensive intellektuelle Tätigkeit begleiten, genügen. Die Rechtsprechung stellte daher i n wichtigen Entscheidungen auch nicht fest, ob eine Körpereinwirkung tatsächlich vorlag, sondern ob die Einwirkung „als" körperlicher Zwang „empfunden " wurde 1 3 . K r i t e r i u m ist also nicht die Körpereinwirkung, sondern die (innere) Körperwirkung. Der diese subjektivierende, neurologisch orientierte Erweiterung des Gewaltbegriffs leitende Gesichtspunkt ist stets die erstrebte Zwangswirkung bzw. der Freiheitsschutz gewesen. I n der Literatur stehen auch Autoren, die den Ausgangspunkt der Rechtsprechung — Gewalt ist Körpereinwirkung — teilen, dieser Entwicklung kritisch gegenüber. Blei schlägt vor, nach der Erheblichkeit der Nervenbelastung, also quantitativ zu differenzieren 14 . Busse weist diesem Ansatz gegenüber auf die praktischen Abgrenzungsschwierigkeiten und die Abhängigkeit von der individuellen nervlichen Belastbarkeit des Opfers hin 1 5 . Geilen w i r f t der Rechtsprechung vor, sie löse das für eine Begrenzung des Gewaltbegriffs wichtige Merkmal der Körperlichkeit auf und setze letztlich Gewalt m i t Zwangseinwirkung gleich 16 . Auch er erkennt an, daß äußere Einwirkungen auch ohne mechanischen Kontakt die Physis beeinflussen und insofern Körpereinwirkung sein können. I m Ergebnis geht es i h m wie der Rechtsprechung und Blei nicht u m K ö r pereinwirkung, sondern darum, ob eine Übelszufügung i m Körper Wirkungen, Körpereffekte erzeugt 17 . Als Übelszufügung bezeichnet er auch Schreckschüsse. I m übrigen sei aber zu unterscheiden: Werde durch 11 Blei, J A 1970 StR S. 21. Früher (NJW 1954, 583 [586]) hatte B l e i den Standpunkt der Rechtsprechung vertreten. 12 B G H S t 23, 46. 13 RGSt 60, 157 (158); B G H S t 1, 145 (146); B G H S t 23, 126 (128), dort w i r d zusätzlich eine „gewisse" — nicht erhebliche — K r a f t e n t f a l t u n g gefordert; kritisch dazu Blei, J A 1970 StR S. 22 u. Geilen, JZ 1970, 526. A u f das Empfinden stellt auch Geilen (Festschrift für Mayer, S. 464) ab. I n B G H S t 8, 104 f. w i r d bezüglich Hochverrat auf das ,Empfinden u n d Fühlen' der Regierungsmitglieder abgestellt. Z u »Kraftentfaltung' u. »Empfinden 1 des Genötigten auch B G H NStZ 1981 u. Besch! v. 8. 10. 1981 — 3 StR 449/450/80; dazu s.u. S. 158 ff. 14 Blei, J A 1970 StR S. 21. 15 S. 112 A n m . 86. 16 Festschrift f ü r Mayer, S. 464; ähnlich Krey, JuS 1974, 421 f.; S K - R u d o l phi, § 105 R n 6; Schmidhäuser, StR B T 4/15. 17 Geilen, J Z 1970, 527 f.
3. Gewalt als E i n w i r k u n g auf den Körper
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die äußere Einwirkung primär der Intellekt beeinflußt, indem etwa durch Androhung eines künftigen Übels zur ursprünglichen Motivation des Opfers die Gegenmotivation, das Übel zu vermeiden, geweckt werde, so liege eine Drohung vor. Wenn hingegen der Umwelteinfluß als schon aktuelles Übel w i r k e und die Motivation des Opfers zerstöre, etwa, w e i l es durch Prügel „zermürbt" werde, so liege eine Körper(ein)wirkung vor 1 8 . Ob dabei noch zusätzlich weitere Übel angedroht werden, soll irrelevant sein. Entscheidend soll also sein, ob der Umwelteinfluß nur auf künftige Möglichkeiten verweist, zu denen sich das Opfer noch w i l l kürlich verhalten kann, oder ob er als Übel einen „eigenen Stellenwert", eine die Körpernerven aktuell treffende Wirkung hat. N u r dann kann Gewalt i m Sinne der vis compulsiva gegeben sein. Zusätzlich weist Geilen 1 9 darauf hin, daß nicht jedes zugefügte Übel, das Körperwirkung hat und m i t einer Drohung verbunden ist, Gewalt sei. Diese liege vielmehr erst dann vor, wenn „ m i t der Fortsetzung bzw. Wiederholung desjenigen Übels gedroht wird, das i m Wege der vis compulsiva den Betroffenen bereits zugefügt worden ist. . . . Das Exempel, das statuiert wird, muß m i t dem Inhalt der Drohungsankündigung identisch oder jedenfalls wesensverwandt sein: z. B. Ankündigung weiterer (oder noch stärkerer) Prügel, wenn der Betroffene nicht w i l l f ä h r i g ist!" A l s weiteres Beispiel nennt er Schreckschüsse m i t scharfer Munition. Die Identität oder „Wesensverwandtschaft" zwischen zugefügtem und angedrohtem Übel soll fehlen bei dichtem Auffahren auf der Autobahn. Ähnlich differenziert Busse 20 . Bei bedrängendem Auffahren sei i n der Regel nicht Gewalt, sondern Drohung gegeben. Selbst wenn das Opfer verprügelt werde, u m es zum Nachgeben zu zwingen, hätten die gegenwärtigen Schläge (hier weicht er von Geilen ab) psychologisch nur die Funktion, die Angst vor drohenden zusätzlichen Schlägen zu unterstreichen; anders könne es nur sein, wenn das Opfer völlig „mürbe", „windelweich" geschlagen, oder durch dichtes Auffahren etwa i n bewußtlose Panik versetzt werde und daher ohne Motivation nachgebe 21 . Der Gewaltbegriff ist hier also graduell enger gefaßt als bei Geilen. Die vis compulsiva w i r d fast immer als Drohung erfaßt. I m übrigen ist dieser Ansatz bemerkenswert, w e i l hier die konsequente Verlagerung der Differenzierung i n die Individualpsychologie dazu führt, es i n der Regel nicht als Gewalt anzusehen, wenn ein Mensch den anderen verprügelt 2 2 . A l l e genannten Ansätze können kaum die Situation einer objektiven Gefahr erfassen, die der Täter, nachdem er sie geschaffen hat, nicht 18 19 20 21 22
J Z 1970, 525, 528. a.a.O., S. 525 f. Nötigung, S. 115 ff. S. 118,120. Diese Konzeption nähert sich der Bindings; dazu s. u. I V . 5.
8 Keller
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I V . E n t w i c k l u n g u n d bisherige Bestimmungen des Gewaltbegriffs
mehr steuern kann, deren Motivationswirkung er aber ausnutzt: Zur Drohung fehlt die Steuerungsmöglichkeit, zur Gewalt die Körperwirkung, es sei denn, der Genötigte w i r d (völlig) zermürbt. Als mittelbare Gewalt werden Aktionen bezeichnet, die sich immittelbar nicht gegen den Genötigten, sondern gegen Dritte oder gegen Sachen richten oder vermittelt über Sachen gegen den Genötigten. Wenn etwa ein K i n d verprügelt wird, um dessen Mutter zu nötigen, so soll der Tatbestand der Gewaltnötigung erfüllt sein, wie wenn unmittelbar auf den Körper der Mutter eingewirkt worden wäre 2 3 . Hierher gehört auch der vom Reichsgericht 24 entschiedene Fall: einem Kutscher wurden die Zügel entrissen; er konnte nicht weiterfahren. Der i m Wagen sitzende Herr soll gewaltsam zum Dableiben genötigt worden sein. Das Reichsgericht situierte die Gewalt hier i m Entreißen der Zügel; Blei 2 5 situiert sie i m Festhalten des Herrn am Ort: auf den Herrn sei mittelbar physisch eingewirkt worden. — Auch wenn der Eigentümer einer Mietwohnung i n dieser Türen und Fenster aushängt, Strom oder Wasser absperrt, u m den Mieter zum Ausziehen zu veranlassen, wurde (mittelbare) Gewalt angenommen, weil der Mieter die Folgen dieser A k t i o n körperlich empfand, z. B. der Witterung ausgesetzt war 2 6 . Schließlich soll Gewalt i n Form mittelbarer Körpereinwirkung auch vorliegen beim Ein- und Aussperren durch Verschließen von Türen, beim Versperren eines Weges durch eine Menschenmenge, beim „Reservieren" einer Parklücke durch Fußgänger oder beim beharrlichen Linksfahren, um auf der Autobahn das Überholen zu verhindern 2 7 . I n all diesen Fällen w i r d eine körperlich empfundene Wirkung angenommen 28 . Einwirkung auf den Körper w i r d hier nicht mehr verlangt. Busse 29 versucht, die Verbindung zu diesem K r i t e r i u m zu wahren, indem er i n derartigen Fällen Gewalt nur annimmt, wenn auf eine aktuelle Körperbewegung „eingewirkt" wird. Anders entscheidet die Rechtsprechung, wenn eine Sache weggenommen wurde, um deren Eigentümer zu pflichtgemäßer Zahlung zu veranlassen. Hier soll es an einer — wenn auch mittelbaren — Körpereinw i r k u n g fehlen; gegeben sei eine „faktische Drohung" 3 0 . 23 Welzel, Deutsches Straf recht, §43 I 1 a; ähnlich BayObLGSt 1951, 525; dazu Blei, J A StR 1970, 39. Anders Schmidhäuser, B T 4/15. 24 RGSt 17, 82 f. 25 A.a.O. 26 RGSt 7, 269 (271); 9, 58 (59); 20, 354 (355); 61, 157; O L G Karlsruhe M D R 1959, 233; O L G Danzig L Z 1928, 922; anders O L G Neustadt M D R 1957, 309; B a y O b L G N J W 1959, 496. 27 B G H S t 18, 133 (134); RGSt 13, 49 (51); 27, 405f.; 45, 153 (157); B a y O b L G N J W 1953, 1723; N J W 1963, 823 f.; Busse, Nötigung, S. 106, 119; RG D J Z 1923, 371; RG H R R 1942, 193; B G H S t 18, 389. 28 Kritisch Blei, J A 1970 StR 23; Schmidhäuser, B T 4/15. 29 S. 103 f. 30 RGSt 3, 179 (180); G A 56 (1909), 222; Busse, S. 116ff.
3. Gewalt als E i n w i r k u n g auf den Körper
b) Kritik
115
der Rechtsprechung
Das K r i t e r i u m der Körpereinwirkung rückt die Gewalt begrifflich i n die Nähe des Körperverletzungstatbestandes. Wenn bei der Bestimmung der Gewalt als Kraftentfaltung kritisiert wurde, sie nivelliere das Geschehen zwischen Nötiger und Genötigtem zur bloßen Kausalität, so scheint dem hier Rechnung getragen zu sein. Das je Besondere des Verhältnisses von Verursachung und Erfolg ( = Freiheitsbeeinträchtigung) scheint berücksichtigt zu werden. Denn zwischen Handlung und Freiheitsbeeinträchtigung w i r d ein Zwischenerfolg, die Körpereinwirkung, zum K r i t e r i u m der Gewalt gemacht. Sie betrifft hier nicht nur eine quantitativ bestimmte Unterart des Zwanges, sondern ein dem Zwang heteronomes Element 31 . Körpereinwirkung ist — so scheint es — nicht indiziell für die Intensität des Zwanges. Daß die Spezifik von Verkehrsformen i n diesem Ansatz berücksichtigt wird, zeigt sich gerade i n den Differenzierungen, die von den konsequenten Vertretern des Freiheitsschutzes am meisten kritisiert werden: W i r d einem Eigentümer seine Sache weggenommen, um i h n zu einer bestimmten Handlung zu veranlassen, so liegt nach diesem Ansatz mangels Körpereinwirkung keine Gewalt vor; w i r d zum gleichen Zweck ein Mensch verprügelt, so liegt Gewalt vor. Knodel, der diese Unterscheidung kritisiert 3 2 , postuliert eine Gleichstellung von Mensch und Sache unter dem Aspekt eines instrumenteilen, allein am subjektiv bezweckten Erfolg orientierten Gewaltverständnisses. Dem steht die Bestimmung der Gewalt als Körpereinwirkung entgegen. Allerdings w i r d auch bei dieser Bestimmung nicht angegeben, welchen sozialen Sinn sie hat. Vor allem w i r d die Besonderheit von Verkehrsformen nicht bestimmt. Die entsprechenden Differenzierungen erscheinen gleichsam als Nebeneffekte. Die Tendenz zur Nivellierung besteht daher auch hier, weil das Körpereinwirkungskriterium unter den Einfluß des Freiheitsschutzes gerät. Das K r i t e r i u m der Körpereinwirkung soll zur Abgrenzung der kompulsiven Gewalt von der Drohung geeignet und erforderlich sein. Wenn die Rechtsprechung den Körper nicht nur i n seinem substantiellen Bestand, sondern auch i n seinem nervlich gesteuerten Funktionieren berücksichtigt, so kann von einer Trennschärfe des Kriteriums keine Rede mehr sein, denn jedes „äußere" Geschehen, jede Drohung kann irgendwelche Veränderungen i m „Inneren", d. h. Nervenreaktionen verursachen. Betrachtet man das Individuum als Körper, d. h. isoliert, so lassen sich die von i h m reflektierten Umweltreize nicht qualitativ, sondern nur quantitativ je nach nervlicher Belastung differenzieren. Es treten hier die prinzipiell gleichen Probleme auf wie beim mechanischen Ge31 32
8*
Das betont neuerdings Rudolphi, SK § 105 Rn. 5. Der Begriff, S. 50 ff.
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I V . E n t w i c k l u n g u n d bisherige Bestimmungen des Gewaltbegriffs
waltbegriff des Reichsgerichts, denn auch die psychophysische Definition blendet gesellschaftliche Zusammenhänge aus, die allein eine qualitative Differenzierung der natürlichen Gegebenheiten ermöglicht. Wenn die Rechtsprechung Drohungen, die den Bedrohten nervlich beunruhigen, was genau genommen stets der Fall ist, weitgehend als Gewalt bestraft, so verkennt sie, daß nach dem Gesetz zwischen Drohung und Gewalt prinzipiell zu unterscheiden ist. Geilen hat daher recht, wenn er ihr vorwirft, sie dehne den Gewaltbegriff unkontrollierbar aus und nivelliere die gesetzlich abgestuften Sanktionen zwischen Gewalt und Drohung auf das Niveau der ersteren. Der beibehaltene Hinweis auf die Körperlichkeit kann zur Farce werden, wie die Formel von dem „psychisch determinierten Prozeß von erheblichem Gewicht" 8 3 zeigt. Auch der Rückzug von der Körpereinwirkung über die innerkörperliche Wirkung zum ,Empfinden als körperlich' zeigt, daß die entscheidenden K r i terien psychologisierend und metaphorisch i n die einzelnen hinein verlagert werden. c) Kritik
der Literatur
Die Kriterien, die Geilen zusätzlich einführt, u m die gesetzmäßige Unterscheidung von Gewalt und Drohung i n der Realität fixieren zu können, scheinen den abstrakt quantitativen Begriff der Rechtsprechung durch Konkretion zu begrenzen. Die Zermürbung des Betroffenen, der besondere Erlebnischarakter, den die beginnende Ausführung, das „statuierte Exempel" der Drohung verleiht, die Frage nach physischer Zwangswirkung und Motivation der intellektuellen Voraussicht, all diese Begriffe erfassen den Bedrohten nicht nur i n seiner nervlichen Betroffenheit, sondern als motiviertes Subjekt, das die Umwelt differenziert wahrnimmt. Dennoch ist zweifelhaft, ob sie zur Bestimmung der Gewalt hinreichen. Schreckschüsse, dichtes Auffahren auf der Autobahn, Bedrohen m i t einer Schußwaffe, Bedrängen eines Fußgängers m i t einem Kfz, Verprügeln und die verbale Ankündigung derartiger „Übel" werden als Gewalt oder Bedrohung unterschieden, erst auf der Ebene ihrer freiheitsbeschränkenden Wirkung. Dort aber erweisen sich Geilens K r i t e rien als unscharf. A l l e genannten Geschehnisse, auch die Ankündigung von Übeln, selbst das bloße Einreden auf einen anderen, können schon per se den einzelnen „zermürben". Niemals kann allein eine Beeinflussung der intellektuellen Kalkulation angenommen werden. Wenn einer 33 BGHSt 23, 46 (54). Nach K G v. 22. 11. 76 — (4/1 a) Ss 121/77 (84/77) — k a n n auch die nüchterne Wahrnehmung einer Behinderung (lautes Singen) „Nervenerregung" sein u n d die Annahme von Gewalt begründen; vgl. auch L G B e r l i n Wissenschaftsrecht 1974, 255 f. u. B G H Beschl. v. 8. 10. 1981 — 3 StR 449/450/80, dazu s. u. S. 158 ff.
3. Gewalt als E i n w i r k u n g auf den Körper
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Frau, u m sie zur Herausgabe von Geld zu veranlassen, plötzlich ein Gewehr vorgehalten und schußbereit auf sie gerichtet wird, und dies, wie Geilen zugesteht, sehr starke Affekte auslöst, so ist es zu pauschal, anzunehmen, für die Willensbildung der Frau sei der Affekt sekundär, dominant sei die Vorstellung des noch ausstehenden Übels; dies werde intellektuell , also unbeeinflußt vom Affekt, kalkulierend m i t dem Wunsch, das Geld zu behalten, abgewogen. Der beschriebene Einsatz einer Schußwaffe und die hergestellte intersubjektive Situation aktueller Lebensgefahr sind i n zivilisierten Gesellschaften der Kalkulation m i t Geldsummen nicht komensurabel. Ähnliche Schwierigkeiten entstehen i n den Fällen des lebensgefährdenden Einsatzes eines Kfz durch dichtes Auffahren bei hoher Geschwindigkeit oder gegen Fußgänger. Dem Wunsch des Betroffenen, nicht nachzugeben, steht hier nicht nur eine kalkulierbare Bedrohung durch das künftige Vorgehen des Angreifers gegenüber. Vielmehr soll u. U. der kalkulierende Intellekt des Opfers i n der Situation der existentiellen Gefahr negiert werden. Natürlich kann es sein, daß der Betroffene „die Nerven behält". Wenn aber der Angreifer, und auf dessen Perspektive soll es nach Geilen ankommen, die Situation äußerster Lebensgefahr aufrechterhält, so spekuliert er gerade nicht auf eine andere Kalkulation des Opfers, sondern darauf, daß dieses die Situation, das konkret aktuelle „Übel" nicht mehr aushält. — Damit soll nicht behauptet werden, daß i n diesen Fällen stets Gewalt gegeben sei, oder daß Geilens Konzeption deshalb falsch sei, weil sie — worauf er selbst hinweist 3 4 — i m Freiheitsschutz eine Lücke läßt 3 5 . Hier geht es umgekehrt darum, zu zeigen, daß der Gewaltbegriff als soziales Problem nicht bestimmt werden kann i m Horizont der Individualpsychologie. Die Kategorien Geilens zur Bestimmung der Wirkung der Gewalt sind ebenso auf den einzelnen zentriert wie die des Bundesgerichtshofes. Interessant ist es auch zu vergleichen, wie Geilen die Gefährdung einerseits und andererseits das Wegeversperren bewertet. Wenn der Nötiger eine Verletzungsgefahr geschaffen hat, die als solche schon motivierend w i r k t , ohne daß der Nötiger noch den E i n t r i t t der Verletzung steuern kann (Beispiel: dichtes Auffahren auf der Autobahn), so ist eine Drohung nicht gegeben, weil der Eintritt des Übels nicht vom Drohenden abhängt. Für die Gewalt fehlt es nach Geilen an der Körper(ein)wirkung. Wenn Geilen hier darauf insistiert, es gebe Lücken des Freiheitsschutzes zwischen Gewalt und Drohung 3 6 , so werden diese beiden Beeinflussungsmittel offenbar nicht nur als besonders intensive 34
Festschrift f ü r Mayer, S.464; JZ 1970, 527 f. So argumentieren Knodel (Der Begriff, S. 52 ff.) u n d Schönke / Schröder / Eser (Rn 11 vor § 234). 8 « J Z 1970, 527 f.; i h m folgend Krey, JuS 1974, 418, 421 f. 35
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I V . Entwicklung und bisherige Bestimmungen des Gewaltbegriffs
Formen des Freiheitsschutzes verstanden, denn dann müßte die Lücke zu schließen sein; die Bedeutung des Wortes Gewalt stände der Einbeziehung der Gefährdungsnötigung nicht entgegen. Wenn Geilen, obwohl er i m Hinblick auf den Freiheitsschutz ein Strafbarkeitsbedürfnis anerkennt, Gewalt enger bestimmt (als physische Wirkung), so hat dieses M i t t e l offenbar einen eigenen, nicht i m Horizont der Freiheitsbeeinträchtigung erfaßbaren Sinn. Welches ist der soziale Sinn des Verbots der Gewalt als physische Körperwirkung? — Die Unterdrückung physischer Aggression kann es nicht sein, denn dann könnte auch die Schaffung einer Verletzungsgefahr darunter fallen. Geilens Konzeption scheint hier auf eine A r t leichte Körperverletzung bezogen zu sein, die fehlt, wenn nur gefährdet wird. Es ginge bei der Gewaltpönalisierung also um den Schutz der Körperintegrität. Aus diesem, dem Freiheitsschutz heteronomen Gesichtspunkt, wären die »Lücken4 i m Freiheitsschutz verständlich. Damit verträgt sich aber nicht, daß Geilen i m Fall des Wegeversperrens den Wortlaut der eigenen Definition überschreitet und Gewalt bejaht, obwohl beim Wegeversperren die Körperintegrität auch nicht entfernt tangiert ist und nicht einmal eine innerkörperliche Wirkung vorliegt. Diese erweiterte Gewaltbestimmung scheint wieder nur aus dem teleologischen Zusammenhang des Freiheitsschutzes verständlich. Die Unklarheit über den sozialen Sinn des besonderen Gewaltbegriffs und über das m i t dem Wort ,Körperwirkung' Gemeinte, trägt zur Bestimmtheit und Praktikabilität des Begriffs nicht bei. Das gilt auch für die Konzeption Volker Kreys 3 7 . Die Forderung, Gew a l t müsse i m Unterschied zur Drohung physisch wirken, begründet er ohne weiteres m i t dem allgemeinen Sprachgebrauch — ein wohl bestreitbarer Ausgangspunkt, wenn man bedenkt, was jenseits der Drohung alles als Gewalt bezeichnet werden kann, und wie weniges andererseits dem Terminus ,Gewalt' noch unterfällt, wenn man ihn auf das beschränkt, was alle Bürger darunter verstehen; das gewaltlose Beibringen von Betäubungsmitteln würde nicht i n diesen von allen geteilten Bereich fallen 38 . Es würde also nicht einmal jede Körpereinwirkung erfaßt. Der von Krey geltend gemachte Sprachgebrauch ist jedenfalls kein sicherer Ausgangspunkt. U m das K r i t e r i u m physischer Zwangswirkung strikt zu wahren, müssen nach Krey auch Lücken i m Freiheitsschutz i n Kauf genommen werden. Gefährdungsnötigung soll nicht Gewalt sein. Die strikte Orientierung am genannten K r i t e r i u m hindert Krey aber andererseits nicht, beim Sit-in auf Straßenbahnschienen Gewalt zu bejahen 39 . Hier werde 37
JuS 1974, 418 (421 ff.). Baumann, M D R 1958, 394 (395 f.). Dazu auch Lüderssen, Festschrift f ü r R. Lange, S. 1029. 39 JuS 1974, 424. 38
3. Gewalt als E i n w i r k u n g auf den Körper
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physisch vermittelter Zwang ausgeübt, und zwar gegen den vom Sit-in genötigten Zugführer. Zwar ist tatsächlich physisch bedroht hier gerade nicht der genötigte Zugführer, sondern der auf der Straße sitzende Nötiger. Und gezwungen ist der Zugführer eben nicht physisch, sondern sozial-normativ durch das Gebot der Zivilisation, Menschen möglichst nicht physisch totzufahren. Das physische Element, das i n diesem Fall eine Rolle spielt, w i r d durch den sozialen Zwang vermieden. Krey meint i m Anschluß an Eb. Schmidt 40 , der Genötigte sei gezwungen, durch physisches Handeln die ,lebende Barriere 4 (die Sitzstreikenden) wegzutragen. I n dieser Folgenerwägung stecken einige fragwürdige Selektionen: Einmal ist es neu, die Strafbarkeit von Handlungen (Zwangsausübung) durch diejenigen Umstände zu erklären, die eintreten, wenn der strafbegründende Erfolg beseitigt wird. Seinem Anspruch nach wollte Krey nur den „physisch vermittelten Zwang" und nicht die physisch vermittelte Zwangsbeseitigung erfassen. — Zum zweiten werden gewöhnlich Sitzstreikende von der Polizei o. a. Hilfspersonen und nicht von den durch Zwang betroffenen Zugführern, Autofahrern usw. weggetragen. Die Genötigten sind also nicht gezwungen, physisch zu handeln 41 . Sie wären es nicht einmal, wenn sie nicht warten könnten. Die Genötigten können weiterfahren. Was sie davon abhält, ist nur das soziale Gebot der Rücksichtnahme. Und die Polizisten o. a. Helfer, die die ,lebende Barriere' wegtragen, sind auch nicht physisch gezwungen zum Handeln, sondern, wenn überhaupt, rechtlich. — Fazit: Eine Interpretation, die i n solchem Fall physisch vermittelten Zwang annimmt, vergewaltigt die Sprache oder stellt die Wirklichkeit auf den Kopf (die Differenz von Sozial-normativem und physischer Faktizität). Tatsächlich ist der Zwang gegen den Genötigten sozial-normativ, und physisch werden die Nötiger bedroht 42 . Wenn das Strafrecht öfter derart m i t der Sprache verführe, wie es von Krey und Eb. Schmidt vorgeschlagen wird, so könnte es sich selber i n Schwierigkeiten bringen. Denn außerhalb solchen strafrechtlichen Sprachgebrauchs erfahren die Menschen zuweilen recht wirklich, wer gegen wen physisch wirksam geworden ist. Das Recht und überhaupt der soziale Zusammenhalt sind noch immer auf eine Sprache angewiesen, die Wirklichkeit erfaßt 43 . Z u r Begründung aller selektiven Vorgriffe bei der Bestimmung des Wortes ,physisch' verweist Krey auf „rechtspolitische", „normative Er40
J Z 1969, 395 (396); ähnlich B G H (s.o. F n 33). Z w a r soll nach h. M. bei der Nötigung auch Gewalt gegen D r i t t e genügen; damit sind aber andere Fälle gemeint als der Sitzstreik: Fälle, i n denen der Nötiger gegen D r i t t e vorgeht u n d dadurch den Genötigten unter Druck setzt. 42 B l e i (JA 1970 StR S. 23) bezeichnet die Annahme von physischer N ö t i gung i n solchen Fällen als „bemerkenswert". Das O L G K ö l n (NJW 1979, 2057) stellt fest, der Fußgänger erleide mehr Gewalt, als er ausübe. 43 Vgl. Baumann, M D R 1958, 394 ff. 41
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I V . E n t w i c k l u n g u n d bisherige Bestimmungen des Gewaltbegriffs
wägungen", die „nicht ausgeklammert werden können". A u f die entscheidende Frage, welchen Inhalts diese Erwägungen seien, geht er nur andeutungsweise i n einer Fußnote ein, wiederum m i t fragwürdig selektierten Folgeerwägungen 44 . Abgesehen davon ist schwer einsehbar, warum bei Gefährdungsnötigung keine — wie auch immer — normativen Erwägungen einsetzen dürfen. Immerhin ist dabei der Genötigte u. U. erheblichen Verletzungen hilflos ausgesetzt. Nicht erkennbar ist, welche Erwägungen überhaupt dem angeblichen Sprachgebrauch, von dem Kreys Lösungen ausgehen, zugrunde liegen. Die Notwendigkeit, Gewalt negativ von Drohung abzugrenzen, ersetzt keine inhaltliche Erklärung dessen, was strafbare Gewalt sein soll. Interessant ist auch die Argumentation Rudolphis 45 , der Gewalt als Körpereinwirkung bestimmt. Er betont zunächst den wichtigen Ausgangspunkt, daß Freiheit nicht umfassend geschützt werde. Pönalisiert würden nur bestimmte M i t t e l der Freiheitsbeeinträchtigung. Die Teleologie des Freiheitsschutzes sei begrenzt. Bei der Blockade soll ebenfalls Gewalt vorliegen, denn hier komme es nur deshalb nicht zur Körpereinwirkung, weil der Blockierte vorher anhält. Was ist der Sinn des Körpereinwirkungskriteriums, wenn es so weitläufige Analogien zuläßt? Immerhin liegt es bei der Blockade gänzlich i n der Hand des unbedrohten Genötigten, ob und wie es zu einer Körpereinwirkung kommt. Auch hier ist zu fragen, w a r u m dann Gewalt abgelehnt w i r d bei Gefährdungsnötigung 46 , bei der doch der m i t der Schußwaffe oder dem Kfz Bedrohte massiven Körperverletzungen oder der Tötung hilflos ausgeliefert wäre. Schließlich zur Argumentation Busses47. Angesichts der Schwierigkeiten, das Ein-, Aus- und Versperren als Gewalt zu bewerten, schlägt er eine differenzierende Lösung vor. Es soll (nur) ein Teil der Beeinträchtigungen der Bewegungsfreiheit Körpereinwirkung sein. Zur Begründung der (teilweisen) Gleichsetzung weist er zunächst darauf hin, daß i m allgemeinen eine Körpereinwirkung angenommen werde, wenn „der Körper als Ganzes i n eine andere Lage versetzt" wird. Schon das ist zweifelhaft. I n den zitierten Beispielsfällen — ein Pferd w i r d veranlaßt, m i t dem Reiter durchzugehen, ein Fahrer fährt m i t dem Auto an, während ein anderer noch auf dem Trittbrett steht — könnte auch nur eine drohende Körpereinwirkung i. S. von Gefährdung angenommen werden. Busse meint weiter, „ganz entsprechend" wie das Versetzen des Körpers i n eine andere Lage sei der „umgekehrte Fall" zu bewerten, i n welchem jemand i n einer aktuellen erkennbaren Bewegung 44 45 46 47
Dazu unten S. 191 f. SK § 105 R n 5 ff. R n 6. Nötigung, S. 103 f.
3. Gewalt als E i n w i r k u n g auf den Körper
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behindert wird. U m trotz der tatsächlichen Gegenläufigkeit der A k t i o nen i n beiden Fällen eine sprachliche Entsprechung herzustellen, rekurriert er auf die Freiheit, die i n beiden Fällen eingeschränkt wird. Die Freiheitsbeschränkung ist Grundlage seiner Gleichungen: Körpereinwirkung = Versetzen des Körpers i n eine andere Lage = Behinderung i n einer aktuellen erkennbaren Bewegung. Kurz: Die aktuelle Bewegung gehört „ganz entsprechend" zum Körperbestand; w i r d sie etwa durch eine gezielte Blockade behindert, so w i r d auf den Körper eingewirkt. Nicht derart zum Körper gehört — und hier bleibt Busse hinter der h. M. zurück — die künftige, nur geplante oder erwartete Bewegung. Wenn etwa ein Gelände hoheitlich durch Gitter abgesperrt w i r d oder wenn ein Mensch eingesperrt wird, soll keine Körpereinwirkung vorliegen, sondern bloß „ein Faktor, der die Entscheidung über die Bewegung motiviert". Diese Differenzierung ist Schein. Eine Bewegungsfreiheitsbeschränkung liegt auch i m zweiten Fall vor, deshalb könnte i n ebenso zweifelhafter Weise wie i m ersten auch i m zweiten die Identifikation m i t der Körpereinwirkung hergestellt werden. — Warum Gew a l t überhaupt körperlich wirken müsse, begründet auch Busse nicht positiv 4 8 . Wenn er einerseits beim Wegeversperren Körpereinwirkung und Gewalt bejaht, andererseits, wenn jemand motivierend verprügelt wird, also eine höchst intensive Körpereinwirkung vorliegt, dies i n der Hegel nicht als Gewalt, sondern als Drohung bewertet 49 , so dürfte eine inhaltliche Erklärung des Kriteriums der Körpereinwirkung auch schwerfallen. Der von E. Schmidhäuser 50 neuerdings vertretene Gewaltbegriff entspricht zwar i n der Formulierung den bisher erwähnten. Neu ist er, weil hier erstmals die Formulierung ernst genommen w i r d 5 1 : Ein- und Aussperren, Wegeversperren sind mangels Körpereinwirkung nicht Gewalt; ebensowenig das Verursachen von innerkörperlichen W i r k u n gen; auch nicht das Unterlassen, weil „der Zielunwert die Handlung voraussetzt". Schmidhäuser faßt konsequent Gewalt als besonderes, von der Freiheitsbeeinträchtigung unterschiedenes, rechtsstaatlich zu bestimmendes Mittel. Deshalb läßt sich die Bestimmung des Mittels auch nicht 48 Er verweist (S. 113) auf die Ausweitung des Strafrechts, die andernfalls entstünde; ähnlich Hoffmeister, Diss. S. 100 ff. 40 Ä h n l i c h differenziert B i n d i n g (Lehrbuch, S. 80 ff.). Er stellt aber offen allein auf den Freiheitsschutz ab, u n d allein unter diesem Aspekt ist die Differenzierung konsequent. H ä l t m a n aber zugleich am Körpereinwirkungsk r i t e r i u m fest, so regrediert das W o r t zum manipulierbaren Formalismus. 50 Strafrecht, B T 4/4, 13 ff. 51 Dies g i l t auch von der eingehenden Untersuchung H. Giehrings, Demonstration, S. 525 f. Sie erschien nach Abschluß der vorliegenden Untersuchung u n d k a n n daher n u r p u n k t u e l l berücksichtigt werden. I m Ansatz ähnelt sie der vorliegenden Untersuchung, indem sie die Gewalt als M i t t e l bestimmt u n d nach dessen materieller Bedeutung fragt (S. 522 ff.).
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unmittelbar aus dem Schutz des Rechtsguts Freiheit erklären. Die Bestimmung des Mittels orientiert sich nicht an der Intensität der Freiheitsbeeinträchtigung. I m Bereich der vis absoluta w i r d z. B. nicht die Freiheitsberaubung als Gewalt bewertet 52 , wohl aber schon das „Wegschieben der Hand eines fast Bewußtlosen" (dies soll sogar die verschärfte Form der raubenden Gewalt gegen eine Person erfüllen) 53 , ebenso das Wegstoßen des zu Nötigenden vom Weg. Wenn auch hier die gegebene Definition gewahrt wird, legen die Beispiele doch die Frage nahe, welches der sachliche Grund (das Telos) gerade dieser Definition sei. Es soll der Gefährdungsunwert sein; die Gefährdung liegt i n der Stärke der Gewalt 5 4 , d. h. der Körpereinwirkung. Liegt also der Unwert der Gewalt i m Umfeld der Körperverletzung? Daß das Wegschieben der Hand die Körperintegrität mehr gefährdet (und deshalb die Annahme von Gewalt gegen Personen begründet) als etwa die akute Gefährdung eines Menschen durch bedrängendes Auffahren i m Straßenverkehr (was auch nicht einfache Gewalt sein soll), ist kaum anzunehmen. Die Gefährdung der Körperintegrität dürfte also nicht der sachliche Grund der Definition sein. — Der Gefährdungsunwert soll sich ergeben aus der objektiven Handlungstendenz zur Verletzung des Rechtsguts 55 , d. i. hier die Freiheit. Aber auch von daher läßt sich nicht erklären, warum das Wegschieben der Hand, nicht aber Freiheitsberaubung strafbare vis absoluta sein soll 58 . Fazit: Der spezifische Zweck der präzisen und konsequenten Eingrenzung der Gewalt ist schwer nachzuvollziehen. Das führt zu einer weiteren Frage. d) Das Berührungsverbot
als Erklärung
des Begriffs?
Abschließend soll auch beim Körpereinwirkungsbegriff geprüft werden, ob sich irgendwelche inhaltlichen Begründungen quasi nachschieben lassen. I m Umfeld der Körperverletzung dürften sie nicht liegen; eine Verletzungsgefahr w i r d nicht gefordert und ist auch i n vielen Fällen, die dem Körpereinwirkungsbegriff subsumiert werden — etwa beim Abdrängen, beim Festhalten, beim Einschließen — nicht vorhanden. Andererseits w i r d dort, wo eine konkrete Verletzungsgefahr vorliegt, nicht notwendig Gewalt angenommen. I n einer anderen Richtung freilich könnte eine Verbindung zwischen der Gewalt i. S. von Körpereinwirkung und der Körperverletzung hergestellt werden. Körperein52 A l s Drohung k a n n die Freiheitsberaubung bewertet werden nur bei vis compulsiva. 53 B T 8/50. 54 B T 4/14. 55 Ders. Strafrecht A T 8/31. 56 Die K ö r p e r e i n w i r k u n g ist nicht indiziell f ü r die Intensität der Freiheitsbeeinträchtigung; Binding, Lb. S. 82; Knodel, Gewaltbegriff, S. 35.
3. Gewalt als E i n w i r k u n g auf den Körper
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Wirkung könnte verstanden werden als eine andere A r t der Beeinträchtigung der Körperintegrität , sofern man Integrität i n einem weiteren Sinn versteht als Unberührtheit 5 7 . Es ginge demnach bei diesem Gewaltbegriff darum, unerlaubte Körperberührung zu verhindern 68. I n vergangenen Zeiten hatte das Berührungsverbot erhebliche soziale Bedeutung. Es w a r Teil der Vorstufen sprachlicher Kommunikation. Wo Sprache noch weniger ausdifferenziert und verbreitet war, w a r der Verkehr der Menschen mehr durch Gesten vermittelt. Rituale der Bewegung, Berührung und Berührungsvermeidung hatten Zeichenfunktion, wo heute die Sprache bedeutsamer ist. Die Frage der Berührung war daher eng i n soziale Normen eingebunden. Wenn etwa i m Mittelalter außerhalb der Regeln der Verheiratung ein Mann eine Frau am Finger berührte, konnte er bestraft werden 59 . Wichtig war vermutlich auch, daß dort, wo Berührungen verboten waren, die Menschen zu sprachlicher Verständigung gezwungen waren, das Berührungsverbot also die Benutzung und Entwicklung der Sprache förderte. Die Bedeutung der Berührung und des Berührungsverbots ging zurück, wo die Sprache ausgebildet und als primäres Kommunikationsmedium einigermaßen gesichert war. Bedeutungslos sind die Berührung und das Berührungsverbot sicher auch heute noch nicht. Es wäre aber wohl ein kultureller Rückfall, wenn das Berührungsverbot m i t (Straf-)GewaZt als Reaktion sanktioniert würde 6 0 . Zuletzt wohl i m 19. Jahrhundert gab es soziale Milieus, i n denen unerlaubte Körperberührungen konventionell Gewaltreaktionen auslösten. Das waren klassenspezifische Relikte des Feudalismus 61 . Es waren monströse, gewalttätige Figuren, die auf unerlaubte Berührungen m i t Duellforderungen reagierten. Wo noch heute zuweilen die unerlaubte Berührung Gewaltreaktionen auslöst, da zeigt das, daß die Formen sprachlicher Vermittlung den Menschen erstarrt oder entfremdet sind — kein Zustand, der durch Strafrecht verstärkt werden sollte. Sollte schließlich auch für die Bestimmung der Gewalt als Körpereinw i r k u n g wieder die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit als Begrün57
Vgl. Wimmer, N J W 1962, 613 f.; ähnlich Welzel, G A 1962, 257 (267 f.); B G H S t 16, 271. 58 So neuerdings Giehring, S. 525. 59 Noch heute ist die Berührung relevant bei den Sexualdelikten (Maurach / Schroeder, Straf recht B T T b 1 S. 147). Freilich muß eine sexuelle H a n d l u n g von einiger Erheblichkeit hinzukommen. 60 Elias Canetti (Masse u n d Macht, S. 11 f.) betont das Berührungstabu. Gerade i h m dürfte es jedoch fern liegen, das Tabu m i t (Straf-)Gewalt zu sanktionieren. 61 Deren Nachklang wurde 1969 m i t den §§ 201 ff. a. F. beseitigt. Vgl. auch BGHSt 4, 24 (27 ff.).
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dung herangezogen werden, so dürften auch hier die Einwände entgegenstehen, die oben gegen solche Begründung des Kraftentfaltungskriteriums geltend gemacht wurden. Nach H. Giehring 6 2 , der wohl erstmals eine inhaltliche Begründung des Körpereinwirkungskriteriums dargestellt hat, lösen unerlaubte Körperberührungen Angst und Friedensstörungen aus. Das kann der Fall sein, läßt sich m. E. aber nicht verallgemeinern. Zuweilen gehört es vielmehr zur Konvention, sich auch unaufgefordert anzufassen, u m „Entfremdung", Angst und Feindschaft nicht aufkommen zu lassen oder aufzulockern. Die Berührung könnte gegenwärtig also gerade das Gegenteil der von Giehring angenommenen Wirkung haben. Zwar läßt sich auch das nicht verallgemeinern (bei der „gut gemeinten" Berührung w i r d oft Einverständnis vermutet werden). Gleichwohl dürften die W i r kungen von bloßen Körperberührungen zu wenig typisch gefährlich sein, als daß sie als Strafbarkeitsvoraussetzung anerkannt werden könnten. Als materiell begründete Strafbarkeitsvoraussetzung könnte die Körperbehinderung m. E. nur fungieren, wenn sie m i t Aggressivität verbunden wäre. Das ist aber ein schwer operationalisierbares Kriterium. Man könnte aber Körperberührung und Aggressivität zusammenfassen i n dem K r i t e r i u m „körperliche Mißhandlung". Das läge wohl i n der Konsequenz von Giehrings Ansatz. Er lehnt es jedoch ab. Nach allem dürfte auch m i t dem K r i t e r i u m der Körpereinwirkung die Kriminalisierung kaum plausibel zu bestimmen sein. Bezeichnend ist insofern die Lösung G. Arzts* 3 . Er hält zwar an den Kriterien K r a f t entfaltung und Körpereinwirkung fest, traut der damit postulierten Restriktion aber wohl wenig sozialen Sinn zu und verweist auf den „flexiblen" § 240 Abs. 2. 4. Dualismus von tatbestandlichem Gewaltbegriff und Rechtsgut Freiheit Die Problematik der beiden bisher behandelten Bestimmungen der strafbaren Gewalt ist begründet i m theoretischen Verhältnis von tatbestandlichem Gewaltbegriff und Rechtsgut Freiheit. I n beiden Konzeptionen w i r d dem Rechtsgut ein Gewaltbegriff entgegengestellt, der i m Ansatz eigenständig gefaßt ist. Eigenständig sind die an den Kriterien von Kraftentfaltung und/oder Körpereinwirkung, also am Verfahren und nicht am Erfolg der Freiheitsbeeinträchtigung orientierten Gewaltbegriffe. Das Besondere dieser Konzeptionen ist nicht, daß überhaupt Freiheitsschutz als Zweck des § 240 anerkannt w i r d — dieser Zweck w i r d durch das Gesetz selber bestätigt —, sondern daß daneben dem « A.a.O. 63 Strafrecht B T L H 1, S. 190.
4. Dualismus v o n Tätbestand u n d Rechtsgut
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eigenständigen Gewaltbegriff der erklärende Bezug zur sozialen W i r k lichkeit fehlt, wenn man von einigen neuen Begriffsbildungen absieht 1 . Es gibt historische Erklärungen 2 . Der Gewaltbegriff w i r d wie erwähnt auch negativ begründet aus der Notwendigkeit, Gewalt irgendwie von Drohung abzugrenzen. Einen aktuellen positiven sozialen Sinn hat die Orientierung der Gewalt an der Physis nach diesen Konzeptionen nicht. Daß durch das Verbot physischer Gewalt Freiheit i n bestimmten Beziehungen geschützt, das Rechtsgut Freiheit sozial strukturiert werden könnte, w i r d nicht reflektiert. Die Freiheit w i r d als einziges identisches Rechtsgut des § 240 anerkannt; und diesem extrem weiten inhaltlichen Zweck steht heteronom die bloße Form, bar der inhaltlichen Fundierung gegenüber. Daran ändert sich auch nichts, wenn man das, was die bisher erörterten Gewaltbegriffe erfassen, der Kategorie ,Handlungsunwert 4 zuordnet. Damit w i r d zwar die Bestimmung eines besonderen positiven Rechtsguts des Gewaltverbots obsolet. Die Kategorie ,Handlungsunwert' ersetzt aber keine inhaltliche Erklärung und Begründung, sondern verlangt sie. E i n Handlungsunwert, von dem nicht klar ist, wo der Unwert steckt, ist keiner. Bei den bisher erörterten Gewaltbegriffen ist der materielle Handlungsunwert i n der Erfolgsorientierung verloren gegangen. Die praktische Problematik, die sich daraus ergibt, wurde gezeigt. Unter dem Vorrang des evident zweckrationalen Rechtsguts gerät der entgegenstehende formale Gewaltbegriff i n die Gefahr der Auflösung: Er w i r d tendenziell zur bloßen physischen Kausalität reduziert und verliert damit an Trennschärfe; er w i r d subjektiviert, i n die Psyche oder das Nervenkostüm der Betroffenen hineinverlagert. Die objektive soziale Seite der Gewalt gerät aus dem Blick, und die Rechtsanwendung w i r d unberechenbar. — Das ist eine Tendenz. Solange und soweit der Gewaltbegriff noch nicht aufgelöst ist, stellt sich seine Konkretisierung dar als Kompromiß i m jeweiligen Einzelfall zwischen Rechtsgut Freiheit und tradierter Gewaltdefinition. Der Tatbestand ist äußere Umgrenzung des kriminalpolitisch bezweckten Freiheitsschutzes. Warum diese Grenze gerade an physischen Kriterien orientiert ist, die postulierte Auslegung des Gesetzes also, ist unerklärbar. Der kriminalpolitische Sinn, das Rechtsgut Freiheit, liegt außerhalb des Gesetzes, steht i h m entgegen. 1
I n den dargestellten Konzeptionen Schmidhäusers u. Giehrings ist eine Bestimmung des speziellen Gewaltunwerts angelegt. I m folgenden w i r d davon abgesehen, denn die beiden Schriften sind nach Abschluß der vorliegenden Untersuchung erschienen. 2 RGSt 3, 179 (180 f.); 56, 87 (88); neuerdings Hoffmeister, Diss., S.95; dagegen Knodel, Der Begriff, S. 41 f.; Kreys (JuS 1974, 421) Argumentation aus dem angeblichen Sprachgebrauch ist angesichts der evidenten Vieldeutigkeit des Wortes ,Gewalt' nicht überzeugend. Z u r historischen Auslegung des RG ausführlich: Müller-Dietz, G A 1974, 33 (41 ff.).
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Das Gesetz hat nur defensive Bedeutung. Kriminalpolitik und rechtsstaatliches Gesetz sind getrennt und dualistisch gegeneinander gestellt. Daß die identische Freiheit als solche geschützt werden soll, und daß dieses Rechtsgut vom gesetzlichen Tatbestand gelöst ist, ist Korrelat der Inhaltslosigkeit des gesetzlichen Gewaltbegriffs. Das zeigt sich etwa i n früheren Äußerungen Maurachs 3 . Er postuliert einerseits i m Interesse des Freiheitsschutzes eine Ausdehnung des Gewaltbegriffs. Andererseits konstatiert er unvermittelt, der Gewaltbegriff bedürfe der Einschränkung. Das restriktive K r i t e r i u m aber begründet er nicht inhaltlich 4 . Ähnlich unvermittelt setzt Blei dem zunächst anerkannten Freiheitsschutz entgegen, der Gewaltbegriff könne „ohne das Merkmal einer körperlichen Einwirkung nicht gedacht werden" und verzichtet ausdrücklich auf eine Begründung 5 . Beide Autoren stellen dem expandierenden Freiheitsschutz den Gewaltbegriff, also den gesetzlichen Tatbestand, dualistisch entgegen. Die Vorstellung eines vom Tatbestand gelösten Rechtsguts liegt auch zugrunde, wenn fast alle Monographien (im Interesse der K r i t i k auch die vorliegende) über den Gewaltbegriff nicht mit den gesetzlichen Tatbeständen, sondern m i t dem Rechtsgut Freiheit beginnen, wenn die Systematisierung der Tatbestände um das Rechtsgut Freiheit zentriert ist und gegen die Spezifik der Tatbestände durchgesetzt wird, wenn innerhalb der Tatbestände regelmäßig der § 240 i m Zentrum steht, wenn schließlich innerhalb des § 240 wie gezeigt der gesamte mehrgliedrige Tatbestand ausschließlich unter dem Aspekt des Handlungserfolges, der Freiheitsbeeinträchtigung interpretiert wird. — Wenn das Interesse von Rechtsstaatlichkeit ist, beim einzelnen zu beginnen, das Besondere zu suchen, die Differenziertheit zu achten und dafür und daraus eine komplexe Systematik zu bilden, so scheint Rechtsstaatlichkeit hier auf den Kopf gestellt, auf die Form reduziert zu sein 6 . a) Methodendualismus I n den erwähnten Konzeptionen begründet der prätendierte Zweck des Gesetzes nicht das, was dem Gesetz tatsächlich als Bedeutung zugesprochen wird, er begründet nicht die Bestimmung der physischen Ge3
Strafrecht, BT, 3. Aufl., S. 102 f. Konsequenterweise hat Maurach das K r i t e r i u m seit der 4. Aufl. des B T seines Lehrbuchs aufgegeben (BT, 4. Aufl., S. 108 ff.). 5 N J W 1954, 583 (586). B e i m damaligen Diskussionsstand w a r dieser Verzicht verständlich. Aber auch nachdem inzwischen Rechtspr. u n d Teile der Lehre auf das Körperlichkeitskriterium verzichtet haben, wurde von dessen Vertretern wie dargelegt keine positive E r k l ä r u n g gegeben. 6 A u f den Zusammenhang dieser Erscheinungen m i t dem Positivismus weist R o x i n ( K r i m i n a l p o l i t i k u n d Strafrechtssystem, S. 1—14) h i n ; dazu auch B ä u m l i n (Rechtsstaat, Sp. 2043 f., 2046 ff.). Das Interesse an möglichst w e i t gehender Differenzierung betont Haft (Der Schulddialog, S. 53 ff.) ; er begründet es m i t kommunikationstheoretischen Erwägungen. 4
4. Dualismus v o n T t b e s t a n d u n d Rechtsgut
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walt. I m methodischen Zusammenhang bedeutet die vom Tatbestand gelöste Position des Rechtsguts Freiheit, daß dieses Rechtsgut nicht den Sinn des Gesetzes erklärt. Darin steckt zugleich die These, die Bestimmung der Gewalt als physische sei ohne teleologische Erwägungen möglich. Das ist nach dem gegenwärtigen Stand der Methodologie unhaltbar. Schon die Wahrnehmung von Wirklichkeit ist i n sozialen Sinnzusammenhängen vorstrukturiert. Begriffsbildung und Konkretisierung sind ohne Wertung und ohne Bezug auf Vorverständnisse von sozialer Realität unmöglich. Insbesondere der Auswahl der Methodenelemente liegen Wertungen zugrunde. Der positivistische Rückzug auf die bloße grammatische oder historische Auslegung verschleiert die dem Gewaltbegriff zugrunde liegenden Wertungen, entzieht sie der rationalen Kontrolle. Das ist Folge der Annahme eines dualistisch dem physischen Gewaltbegriff entgegengestellten Rechtsguts Freiheit. Die faktische Unausweichlichkeit der sinnorientierten Konstruktion beim Konkretisieren des Gewaltbegriffs läßt sich zeigen an der vom Reichsgericht betonten historischen Interpretation. Ist i n einem Fall problematisch, ob Gewalt vorliegt, so besagt die Berufung auf den W i l len des historischen Gesetzgebers wenig. Auch wenn er gewollt haben sollte, daß nur physische Gewalt bestraft werde, w i r d i n der Regel gerade problematisch sein, ob i m konkreten Fall die Gewalt physisch ist. Denn, daß die Körperverletzung Gewalt ist, w i r d selten bestritten und bedarf keiner historischen Begründung. Ob aber etwa die Wegnahme von Sachen, das Errichten von Hindernissen, das bedrängende Auffahren i m Straßenverkehr oder Schreckschüsse i n Nötigungsabsicht physische Gewalt sind oder nicht, ist nach dem Willen des Gesetzgebers nicht zu entscheiden. I n Wahrheit hat hier „der Gesetzgeber" nichts „gewollt", sondern allenfalls Anhaltspunkte für konstruktive sinnorientierte Entscheidungen gegeben. I n diesen Fällen sich auf den Willen des Gesetzgebers zurückzuziehen, hieße, „etwas nachvollziehen zu wollen, was nicht real präexistent ist 7 ." Die Unsicherheit der Orientierung am subjektiven historischen Gesetzgeberwillen zeigt sich i n den unterschiedlichen Urteilen des Reichsgerichts zur Nötigung durch Betäubung 8 und durch Schreckschüsse m i t 7 Hesse, Grundzüge, §2 I I 2. „ A l s subjektiver W i l l e des Gesetzgebers könnte allenfalls angenommen werden, daß die N o r m angesichts eines bestimmten zu entscheidenden Falles m i t den M i t t e l n rechtsstaatlicher Method i k normative Anhaltspunkte u n d damit Elemente ihres normativen Gehalts tatsächlich zur Verfügung stellt. . . . Gerade dann aber w ü r d e sich zeigen, daß ein solcher „ W i l l e " der Sache nach nichts weiter ist, als eine entbehrliche, verwirrende u n d i m übrigen rechtswissenschaftlich überholte Metapher f ü r den zu konkretisierenden Gehalt der Vorschrift." (Fr. Müller, Juristische Methodik, S. 128 f.). 8 RGSt 56, 87.
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Platzpatronen 9 . Die Differenz der Fälle ist auf der Ebene der jeweils herangezogenen physischen Gewaltbegriffe nicht zu fassen. Die mechanische Kraftentfaltung ist i n beiden Fällen minimal, was nicht nur bei der Betäubung zur Verneinung von Gewalt hätte führen müssen. Das K r i t e r i u m der Körpereinwirkung dagegen hätte bei der Betäubung noch eher als bei den Schreckschüssen zur Bejahung von Gewalt führen müssen. Wieso bei der Betäubung auf Kraftentfaltung abgestellt und Gew a l t verneint wurde, bei Schreckschüssen auf körperlich empfundenen Zwang abgestellt und Gewalt bejaht wurde, ist den Urteilen nicht zu entnehmen. Öer bloße Rekurs auf das historisch begründete Merkmal physischer Gewalt führt nicht zu präzisen und kontrollierbaren Ergebnissen. Er läßt sehr unterschiedlichen sinnorientierten Bewertungen Raum. Die Differenz zwischen der Beurteilung von Betäubung und der von Schreckschüssen kann auch nicht i n unterschiedlicher Intensität der Freiheitsbeeinträchtigung begründet sein, denn die Betäubung w i r k t absolut zwingend. Die unterschiedliche Beurteilung der beiden Fälle dürfte geleitet gewesen sein von einer bestimmten Vorstellung von Gewalt und dem Sinn ihres Verbots, einer Vorstellung, die aber unter dem allgemeinen Verweis auf die Körperlichkeit der Gewalt verdeckt wurde: Schreckschüsse sind offene spektakuläre Angriffe, die Betäubung dagegen w i r d i n der Regel heimlich, m i t List herbeigeführt. Das listige Vorgehen erkennt den Anspruch der Gesellschaft auf vermittelte Verkehrsformen noch ein Stück weit an und versucht, i h n zu umgehen. Es w i r d eher i n seinen Wirkungen als i n der Form seiner Verursachung wahrgenommen. Die Rechtsprechung scheint i n der Offenheit des A n griffs m i t Schüssen eine intensivere Auflehnung gegen die gesellschaftliche Ordnung zu sehen. Weitere Beispiele für das Schwanken zwischen dem teleologischen Prinzip des Rechtsguts Freiheit und dem formalen Tatbestand zeigt die Rechtsprechung des Reichsgerichts zum Einschließen und Versperren eines Weges, welche als physische Gewalt qualifiziert wurden. A u f die Kraftentfaltung, die erste Version des physischen Gewaltbegriffs, wurde dabei nur einmal abgestellt und auch dort nur unter anderm 10 , zu Recht, denn die beim Einschließen aufgewendete K r a f t ist so minimal, daß eine Gewaltbestimmung, die sich allein damit begnügte, aufgelöst wäre. Primär stützte sich das Reichsgericht hier auf die zweite Version des physischen Gewaltbegriffs: beim Einschließen und Wege versperren werde „indirekt" 1 1 , „mittelbar" 1 2 auf den Körper eingewirkt. Daß dies dem herkömmlichen Verständnis des Wortes ,Körpereinwirkung' wider9
RGSt 66, 335; vgl. auch RGSt 60, 157 (158). RGSt 13, 49 (50 f.). 11 RG a.a.O. 12 RGSt 60, 157 (158). (Weitere Nachweise bei Blei, J A 1970 StR 23.)
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spricht, bedarf keiner Erläuterung 1 3 . Man müßte den Körper m i t seiner statisch gedachten Umwelt identifizieren, u m hier eine indirekte, m i t telbare Einwirkung zu bejahen. Hinter den Worten »indirekt 4 , »mittelbar 4 steckt hier der Versuch, körperfremde Zwänge zu pönalisieren, ohne doch das K r i t e r i u m Körperlichkeit aufzugeben. Die Worte i n d i rekt 4 , »mittelbar 4 , die i n dieser Version alles umfassen können, verschleiern die Unmöglichkeit, den physischen Gewaltbegriff und das Rechtsgut Freiheit i n ein rationales, rechtsstaatlich bestimmtes Verhältnis zu bringen. Das zeigte auch die obige K r i t i k 1 4 der neueren Darstellungen dieses Begriffs. Fazit: Neben dem physischen Gewaltbegriff führt das Rechtsgut Freiheit zur Verschleierung der entscheidungsrelevanten Gründe und tendenziell zur Auflösung des Gewaltbegriffs, w e i l dessen kriminalpolitischer Sinn unfaßbar ist. Zur Begründung dieses Gewaltbegriffs verweist man i n der Literatur auf die Folgen, die bei einem Verzicht auf das Körperlichkeitskriterium eintreten würden. Daß es irgendwo eine Grenze geben muß, scheint das Prinzip zu sein. Das genügt aber offensichtlich nicht. b) Dualismus von Kriminalpolitik und formaler Rechtsstaatlichkeit Wenn neben dem Rechtsgut Freiheit ein eigenständiger Sinn der Gew a l t und des Gewaltverbots nicht anerkannt wird, so bedeutet dies, daß die qualitativ besonderen Beziehungen, i n denen die konkrete Freiheit der einzelnen konstituiert wird, ausgeblendet werden. Freiheit wird ontologisiert. Sie w i r d zum Gut, das man vor allen gesellschaftlichen Zusammenhängen schon immer besitzt. Das freie Individuum erscheint als ursprünglich beziehungslos. Potentiell jede Bewegung der Umwelt beeinträchtigt diese verdinglichte Freiheit eines einzelnen. Seine Freiheit verlangt daher prinzipiell Unterwerfung der Umwelt. A n sich könnte sie für den jeweiligen einzelnen am besten realisiert werden i m Unrechtsstaat; das Recht ist i h r äußerlich wie die Gesellschaft. Der Schutz dieser Freiheit manifestiert einen dualistischen Gegensatz des einzelnen zur Umwelt, denn die Freiheit ist i h m als vorgesellschaftlicher Wert gegeben. Diese Implikationen des Rechtsguts Freiheit bestimmen auch die Stellung des Staates, denn i h m ist der Schutz der Freiheit übertragen. Die negative, gegen Gesellschaft und Recht gerichtete Tendenz der individualistischen Freiheit wird zum Merkmal des Staates. Die totale Unterwerfung der Gesellschaft durch den Staat könnte theoretisch m i t diesem Rechtsgut legitimiert werden. Der Rechtsgüterschutz 13 14
Dazu Knodel, Der Begriff, S. 44. ObenS. 117 f.
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und damit der Staat sind nicht durch das Recht konstituiert, sondern durch sein Gegenprinzip, den Zweck. M i t seinem immanent unbegrenzten Zweck erscheint der Staat als Leviathan, der nur von außen durch das Recht umzäunt und von der Gesellschaft ausgegrenzt wird 1 5 . Das Recht, die Bestimmung des tatbestandlichen Gewaltbegriffs, hat nur defensive Bedeutung. Die Trennung von Rechtsgüterschutz und Rechtsstaatlichkeit und dam i t auch den formalen und letztlich hilflosen, weil nur begrenzenden Rechtsstaatsbegriff hat Claus Roxin kritisiert: „Rechtliche Gebundenheit und kriminalpolitische Zweckmäßigkeit dürfen einander nicht widersprechen, sondern müssen zu einer Synthese gebracht werden . . , 1 6 ." Das bedeutet auch: Kriminalpolitik muß originär rechtsstaatlich bestimmt sein, denn der Staat und seine Zwecke sind nur als legal konstituierte anzuerkennen. Es gibt keine rechtsfreien Innenräume des Staates; nicht nur die Auswirkungen , die Erfolge i m Einzelfall, sondern das gesamte Verfahren staatlicher Tätigkeit muß rechtlich konstituiert und methodenklar kontrollierbar sein 17 . Die Annahme eines außerrechtlichen Rechtsguts Freiheit ist von diesem Standpunkt aus ebenso fragwürdig wie die Interpretation von Gesetzen gegen ihren kriminalpolitischen Sinn. Wenn das Verfahren der Konkretisierung des Gewaltbegriffs i n der dualistischen Konzeption mangels Methodenklarheit nicht rational zu kontrollieren ist, so erscheint das als Ausdruck eines rechtsfreien Innenraums des Staates, der sich m i t dem Rechtsgut Freiheit die Gesetzesinterpretation als arcanum imperii vorbehält. Gegen Roxins Thesen hat sich Günther Stratenwerth 1 8 gewendet: „ K r i m i n a l p o l i t i k hat es m i t nichts anderem als den zur Verbrechensbekämpfung notwendigen Reaktionen zu tun. Der nullum-crimen-Satz erfüllt daher keine spezifisch kriminalpolitische Funktion, sondern kann etwa bei der Verfolgung paralegaler, erfahrungsgemäß i n echte K r i m i nalität umschlagender Verhaltensweisen nur hinderlich sein. Bei der Auslegung von Straftatbeständen geht es i m übrigen nicht nur u m die Gesetzesbestimmtheit, sondern i n erster Linie u m ein sinnvolles, i n sich »stimmiges1 Gefüge sozialer Normen 1 9 ." Stratenwerth insistiert hier auf dem oben dargestellten Dualismus von Rechtsstaatlichkeit und K r i m i 15
Vgl. v. Liszt, Lehrbuch S. 1 F n 1, 260. K r i m i n a l p o l i t i k u n d Strafrechtssystem, S. 10. R o x i n hat die Konsequenz dieser These i m materiellen Strafrecht vor allem i n Richtung auf eine k r i m i nalpolitische („teleologische") Orientierung des positivistisch rechtsstaatlichen Verbrechenssystems ausgeführt. Sie ist aber — wie R o x i n (S. 15) zeigt — ebenso i n der Gegenrichtung bedeutsam. 17 Z u m Aspekt des Verfahrens Fr. Müller, Recht — Sprache — Gewalt, S. 16 f., 20 ff. 18 M S c h r K r i m 1972, 196 (197). 19 I n ähnliche Richtung geht die K r i t i k von Z i p f ZStW 1977, 706 (710). 16
4. Dualismus v o n Tatbestand u n d Rechtsgut
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nalpolitik. Seine objektivierende Formulierung („Funktion", „kann . . . nur hinderlich sein") deutet darauf hin, daß er annimmt, eine konstruktive Verknüpfung beider Prinzipien sei faktisch unmöglich; dadurch entgeht er der Frage nach dem verfassungsmäßig gebotenen Verhältnis von Kriminalpolitik und Rechtsstaatlichkeit 20 . Besonders zugespitzt w i r d der Dualismus durch die von Stratenwerth offenbar angenommene Möglichkeit, strafrechtliche Reaktionen, denen der nullum-crimenSatz „hinderlich" ist, könnten kriminalpolitisch »notwendig4 sein. Darin steckt die ganze Gefahr der dualistischen Konzeption: das Einführen diffuser Strafbarkeitsbedürfnisse und unvermittelter normativer Erwägungen gegen tatbestandliche Begriffe, die zugleich formalistisch entleert wurden, deren sozialer Sinn nicht ermittelt wurde, die Unterwerfung des positiven Rechts unter Zwecke, anstatt das positive Recht i n all seiner Differenziertheit sinn- und zweckvoll zu interpretieren. Die Auseinandersetzimg m i t dem dualistischen Konzept wäre primär theoretisch, solange, wie auch immer begründet, am eigenständigen restriktiven Gewaltbegriff effektiv festgehalten würde. I n diesem Konzept steckt jedoch die Anerkennung eines übergreifenden, vom Recht gelösten ,Rechtsgutes4. Die Auflösung des Gewaltbegriffs, die inzwischen realisiert worden ist, ist daher i n diesem Konzept schon angelegt. Wegen dieser aktuellen Relevanz ist es angebracht, das dualistische Konzept auch verfassungsrechtlich genauer zu betrachten. c) Verfassungsrechtliche
Probleme des Dualismus
I m Grundgesetz ist das Rechtsstaatsprinzip verbunden m i t dem Demokratieprinzip und dem Sozialstaatsprinzip. Statuiert ist daher nicht Rechtsstaatlichkeit an sich, sondern der „demokratische und soziale Rechtsstaat44 (Art. 28 Abs. 1 GG). Demokratie und Sozialstaat stehen einer prinzipiellen Trennung von Staat und Gesellschaft entgegen 21 . Damit w i r d das formale, nur umgrenzende Rechtsstaatsverständnis, das auf dieser Trennung beruht, fragwürdig. Demokratie ist nicht bloß eine 20 Allerdings gelangt Stratenwerth zu seiner These v o m faktisch notwendigen Dualismus durch eine spezifische Verengung der Begriffe. Z u r K r i m i n a l p o l i t i k sollen nicht die „Wertentscheidungen" gehören, die „nach bestimmten Ordnungsprinzipien u n d Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten" i n die Dogmatikbegriffe eingehen. U n d zum „nullum-crimen-Satz" soll nicht die strafrechtliche Systematik gehören. — v. Liszt hat die Frage nach dem Rechtsgut der Strafgesetze — i m Sinne Stratenwerths nach dem Wert — ins Z e n t r u m der K r i m i n a l p o l i t i k gestellt (Lehrbuch, 21./22. Aufl., S. 2). Stratenwerths diesbezügliche Unterscheidung ist eine Variante des Dualismus v o n K r i m i n a l p o l i t i k u n d Rechtsstaatlichkeit. Auch hier soll es u m einerseits das k r i m i n a l p o l i tisch zweckmäßige, andererseits das rechtsstaatlich — d. h. zweckunabhängig — zulässige M i t t e l gehen. 21 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, § 1 I I ; Bäumlin, Rechtsstaat, Sp. 2047 f.
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Methode der Legitimation vorgegebener Herrschaft 22 . „Das demokratische Prinzip ist das Leitprinzip der Ordnung des politischen Prozesses , i n dem staatliche Gewalt geschaffen und i n dem staatliche Gewalt w i r k sam wird." M i t diesem Satz Konrad Hesses23 ist zunächst ein substantialischer, der Gesellschaft vorgegebener Staat negiert. Der Staat w i r d vielmehr i n dem demokratischen Verfahren der Gesellschaft erst konstituiert. Er ist ein abhängiges Teilsystem* 4 , ein Stück gesellschaftlicher Selbstorganisation 25 . Rechtsstaatlichkeit steht nicht i m Gegensatz zu solchen Verfahren, sondern ist i n mehrfacher Hinsicht ihre Bedingung. A u f diese Bedingungen hinzuweisen, dürfte i m Zusammenhang des Rechtsguts Freiheit nicht überflüssig sein, denn i n der großzügigen teleologischen Expansion dieses Rechtsguts wurden diese Bedingungen möglicherweise verschüttet, setzte sich der substantialische Staat gegen das positive Recht, d. h. gegen die Bedingungen von Demokratie durch. Demokratisches Recht und vorrechtlicher Freiheitsschutz Das positive Recht ist die vorrangige Objektivation demokratischer Willensbildung, deshalb verstößt jede strafrechtliche Konstruktion, die nicht allein darauf gerichtet ist, das Gesetz zu erklären, gegen das Demokratieprinzip. W i r d also zunächst anerkannt, daß der strafrechtliche Terminus ,Gewalt' physisches Handeln bedeutet, zugleich aber die weitere Auslegung an einem Telos orientiert, das — wie das Rechtsgut Freiheit — der zuvor anerkannten Bedeutung des Gesetzestextes nicht entspricht, so verfehlt die Annahme dieses Telos die Verfassung. Ausblendung demokratischer Vielfalt Bürgerliche Demokratie ist nach ihrer historischen Konzeption angewiesen auf den freien Konsens von Individuen, d. h. von einzelnen, die nicht vereinheitlicht sind, sondern gerade i m Abweichenden, Besonderen ihre Identität bilden und aus dieser Freiheit der Individualität heraus sich zu vernünftigen Regeln der Gemeinschaft zusammenfinden 28 . „ U n terschiedlichkeit und Gegensätzlichkeit der Meinungen, Interessen, W i l lensrichtungen und Bestrebungen und damit (die) Existenz von Konflikten innerhalb des Volkes" sind Grundvoraussetzungen der Demo22
Bäumlin, Demokratie, Sp. 362 ff. Hesse, Grundzüge, § 5 I, ebenso § 1 I I (Hervorhebungen i m Z i t a t von m i r , R. K ) . I n ähnlicher Richtung Rudolf Smend: „Demokratie als K e r n s t r u k t u r der Verfassung" (Festschrift f ü r A . A r n d t , S. 460). 24 Ä h n l i c h Luhmann, Grundrechte als Institution, S. 30 ff. 25 Hesse, Grundzüge, § 1 I I ; zum historischen Zusammenhang: Habermas, Naturrecht u n d Revolution, S. 90 ff., 97, 110, 116 f., 120 ff. 28 Habermas, Strukturwandel, S. 161 ff. 23
4. Dualismus v o n T t b e s t a n d u n d Rechtsgut
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kratie 2 7 . Der Zusammenhang von Freiheit, gesellschaftlicher Vielfalt und Abweichung ist i n den Grundrechten der Verfassung anerkannt. K r i t i k und Abweichung sind Konstituentien von Demokratie. I n der Vielfalt hat sie ihr Thema 28 . Jedoch nicht nur die i n den Grundrechten besonders genannten Freiheiten, sondern generell die rechtsstaatlich gesicherte Freiheit ist Konstituens von Demokratie, die aus der Vielfalt sich zusammensetzt. Wenn i m dualistischen Ansatz ein Rechtsgut, das die Unterdrückung legaler gesellschaftlicher Vielfalt, Gegensätzlichkeit und Spannung legitimiert und ein bloß formal umgrenzendes Recht gegeneinander gestellt werden, so ist dies m i t dem Erklärungsmuster Schutz des einzelnen oder kriminalpolitischer Wille der Allgemeinheit nicht hinreichend zu fassen. Es w i r d nicht nur latent das Freiheitsrecht des einzelnen zugunsten der Allgemeinheit beeinträchtigt. Vielmehr w i r d m i t der Individualfreiheit zugleich die demokratische Legitimation der gesellschaftlichen Kriminalpolitik in Frage gestellt. Gegen diese K r i t i k könnte man einwenden, sie gehe von Fiktionen, nämlich vom Individuum und der Freiheit seines Handelns i n der Gesellschaft aus. I n neueren theoretischen Ansätzen werden deshalb die Grundrechte nicht als Freiheitsgarantien gegebener Individuen verstanden, sondern als Definition von Handlungssphären, Systemen oder Kommunikationsfeldern 29 . I n ihnen kann sich Freiheit entfalten, w e i l und soweit sie qua Gesetz jeweils gegeneinander relativ indifferent gestellt sind 80 . M i t dieser Version von Rechtsstaatlichkeit, die die Differenzierung der Gesellschaft anerkennt und wichtige Handlungssphären weitgehend indifferent voneinander stellt, enthält das Grundgesetz ein konsequentes Gegenprogramm zum Polizei- und Wohlfahrtsstaat, zum anstaltlich organisierten Staat, zur totalen Institution. Das Rechtsgut Freiheit nun übergreift alle gesellschaftlichen Differenzierungen. W i r d sein Schutz als Aufgabe dem „Subsystem" des Staates zugewiesen, so ist damit die Möglichkeit der Totalisierung der anderen gesellschaftlichen Bereiche durch „den Staat", ihre Entdifferenzierung und Simplifizierung angelegt. Auch unter diesem Aspekt zeigt sich 27 Hesse, Grundzüge, § 5 1; vgl. auch § 1 I I , § 6 I ; ders. Festschrift für R. Smend, S. 91 f.; Bäumlin, Rechtsstaat, Sp. 2051. 28 Die konstitutive Bedeutung der Grundrechte f ü r die Demokratie w i r d i n der Meinungsfreiheit besonders deutlich u n d v o m Bundesverfassungsgericht (E 7, 298, 308) bestätigt, danach ist die Möglichkeit von K r i t i k , d. h. von Abweichung das bewegende Element des demokratischen Prozesses. Ohne sie fehlte den staatlichen Entscheidungen die demokratische Legitimation. 29 Luhmann, Grundrechte als Institution, S. 53 ff., 186 ff.; Podlech, G r u n d rechte u n d Staat, S. 342 ff.; Ridder, Die soziale Ordnung des Grundgesetzes, S. 77 ff.; Calliess, Theorie der Strafe, S. 127; Leibfried K r i t J 1975, 171 f. 30 Die Handlungssphären oder Systeme werden verstanden als Ausdiffe-
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die Fragwürdigkeit der dualistischen Konzeption, w e i l es bei der Rechtsstaatlichkeit nicht nur u m die Freiheit des einzelnen geht, sondern u m die Verfassung der Gesellschaft insgesamt und damit auch um die demokratische Legitimation von Kriminalpolitik. Zwar w i r d auch i m Rahmen der herkömmlichen Rechtsgutslehre die Möglichkeit von „wechselnden Zeitströmungen" anerkannt, die zum „Wertverfall" führen könnten 3 1 , dennoch sollen nach dieser Lehre m i t jedem Gesetz jenseits seines Regelungsbereiches gegebene Werte präsumiert werden. Die Legitimation, die derart m i t dem transpositiven Wert ,Freiheit* für das positive Gesetz prätendiert wird, ist i n einer Demokratie aber nie gegeben. Für ein demokratisches Verständnis der Rechtsstaatlichkeit ist es ein Problem der offenen gesellschaftlichen Entwicklung, ob Werte anerkannt werden 32 . Dieser Offenheit darf das Strafrecht i n der Demokratie nicht m i t einer latenten statischen Gesamtordnung entgegenstehen. Die Offenheit muß schon i m strafrechtlichen Ansatz Programm sein. D.h.: Strafdrohungen müssen rechtsstaatlich darauf festgelegt sein, nur Rahmenbedingungen der gesellschaftlichen Entwicklung zu wahren; also nicht die Werte als gegebene, sondern reflexiv die Bedingungen der gesellschaftlichen Herstellung und Änderung von Werten zu wahren. Der Dualismus ist i n unnötiger Weise statisch. Der immanent unbegrenzte Rechtsgüterschutz tendiert dazu, die ganze Gesellschaft zu überlagern als starre Rechtsgüterordnung. Änderung ist unter diesem Aspekt prinzipiell unerwünscht: ,Verfair. A n sich sollte das Strafrecht alles festhalten. Ausblendung demokratischer Entwicklung Wenn gemäß dem dualistischen Konzept die rechtsstaatlich geschützte Freiheit des abweichenden einzelnen den kriminalpolitischen Bedürfnissen der Allgemeinheit entgegensteht, so ist sie offenbar m i t dem, was kriminalpolitisch sein soll, nicht vereinbar. Ein Verhalten nicht zu sanktionieren, ist demnach nicht Kriminalpolitik, schützt Rechtsgüter nicht, sondern gibt sie preis 33 . — Auch wenn man annimmt, daß das aktuell renzierung des gesellschaftlichen Gesamtsystems. Durch Ausdifferenzierung u n d durch ihre rechtliche F i x i e r u n g ermöglicht die Gesellschaft Freiheit. Die staatliche Organisation ist eine der ausdifferenzierten Sphären; andere sind z. B. der Wirtschaftsverkehr, die kirchliche Ordnung, die Privatsphäre. I n d i f ferenz bedeutet hier, daß etwa außerhalb der kirchl. Ordnung das religiöse Bekenntnis nicht Anlaß v o n Benachteiligung sein darf (Art. 3, Abs. 3 GG). Eine ähnliche Regelung enthält A r t . 33, Abs. 2, 3 GG (dazu Leibfried a.a.O.). Auch das weitgehende Verbot der strafprozessualen V e r w e r t u n g von T o n band u. Tagebuchaufzeichnungen zeigt die Relevanz der Ausdifferenzireung von Handlungssphären. — Einzelheiten dazu unten I V . 8. g). 31 Maurach / Zipf, Strafrecht A T T b 1, S. 279. 32 Böckenförde, Festschrift f ü r A . A r n d t , S. 73 ff.; Hesse, Grundzüge, § 1 I I , I I I 2, § 6 I.
5. Bindings Gewaltbegriff
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so sei, so steht damit noch nicht fest, daß es bei dieser Unvereinbarkeit bleiben müsse. Es können sich die Schutzbedürfnisse und Abweichungstoleranzen der Allgemeinheit ändern, und es können die Dispositionen einzelner zu Abweichungen sich so verringern, daß Strafdrohungen überflüssig werden. Unter diesem Aspekt kann das rechtsstaatliche Nicht-Sanktionieren durchaus selbst kriminalpolitische Bedeutung haben: gesellschaftliche Öffnung und Sozialpolitik i n Gang zu setzen, u m die Abweichung ertragbar zu machen, ihre Ursachen zu beseitigen und die einzelnen m i t dem allgemeinen i n ein gewaltloses Verhältnis zu bringen. Wenn jedoch vorab jenseits des Gesetzes ein statischer k r i m i nalpolitischer Soll-Zustand i m Gegensatz zur Individualfreiheit angenommen wird, so sind die gezeigten Entwicklungsmöglichkeiten ausgeblendet. Das bedeutet umgekehrt: ohne die Perspektive der offenen gesellschaftlichen und individuellen Entwicklung erscheint die individuelle Abweichung als unaufhebbar belastender Gegensatz zur Allgemeinheit. Auch für eine demokratisch orientierte Rechtsstaatlichkeit sind Spannungen zwischen Schutzbedürfnissen der Allgemeinheit und Individualfreiheit nicht zu ignorieren, weil Recht letztlich zur Entscheidung führen muß. Sie werden jedoch nicht als m i t dem Gesetz schon endgültig entschieden betrachtet. Sie sind vielmehr beständiges und offenes Problem und positives Movens der gesellschaftlichen Entwicklung. Sie werden durch die Rechtsstaatlichkeit zum Thema von Demokratie 84 . Die Verbindung von demokratischer Willensbildung und rechtsstaatlicher Freiheit ist orientiert an der Entwicklung der Gesellschaft. Sie soll auf die besonderen einzelnen h i n offengehalten werden 85 . 5. Bindings Gewaltbegriff Binding bestimmte Gewalt als vis absoluta 1 : „jede Einwirkung, welche den Angegriffenen der Fähigkeit der Willensbildung oder der W i l lensbetätigung beraubt." Vis compulsiva ist nach Binding immer nur Drohung. Gegen diese Unterscheidung w i r d eingewandt, sie sei kaum m i t dem Gesetz zu vereinbaren 2 . Wenn das motivierende Verprügeln oder sonstige motivierende Körperverletzungen nicht Gewalt seien, so könnten darauf die §§ 81, 82, 105, 107, 113 nicht angewandt werden, weil 33
So Stratenwerth, M S c h r K r i m 1972, 197. Bäumlin, Demokratie, Sp. 368; Hesse, a.a.O. 35 Bäumlin, Rechtsstaat, Sp. 2051. 1 Lehrbuch, S. 83; ebenso ders. Normen I I S. 1015, 1017; ähnlich Hälschner, Das gemeine deutsche Strafrecht, l . B d . , S. 119 f.; Rosenfeld V D B V, S. 394; Winkler, S. 6, 12; v. Wächter, GS 27, 162. 2 Z u m folgenden Knodel, Der Begriff, S. 31 f.; Geilen, J Z 1970, 521 (525). 34
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dort nur Gewalt und Drohung m i t Gewalt pönalisiert sind. Auch Erpressung könnte, sofern man nicht dem B G H folgt 3 , nicht durch Gewalt begangen werden. Vor allem sei es psychologisch und sprachlich unangemessen, es nicht als Gewalt zu bewerten, wenn jemand so lange geprügelt wird, bis er sich fügt. Ein weiterer Einwand ist hinzuzufügen: Binding bestimmt nicht, was Gewalt ist. Er bestimmt Wirkungen der Gewalt: Aufhebung der Fähigkeit zur Willensbildung oder Willensbetätigung. Das sind Arten der Freiheitsbeeinträchtigung. Die Gewalt ist nach dem Gesetz aber Mittel der Freiheitsbeeinträchtigung. Natürlich ist nichts dagegen einzuwenden, wenn Handlungen von ihren Wirkungen her bestimmt werden. Das ist i n einem Mindestmaß unvermeidlich. Wichtig ist aber, welche und wie genau Wirkungen bestimmt werden, i n wieviel Einzelobjektivationen die Handlung durch den Betrachter zerlegt wird. Nach § 240 ist die Wirkung der Gewalt eine Nötigung, d.h. eine Freiheitsbeschränkung. Aber nicht alles, was Freiheitsbeschränkungen bewirkt, ist Gewalt. Bei den dualistischen Gewaltbegriffen wurde deshalb für die Gewalt vor der Nötigung eine besondere Objektivation fixiert: Kraftentfaltung bzw. Körpereinwirkung. Binding spezifiziert die Gewalt dadurch, daß er einen Teil der Freiheitsbeschränkungen hervorhebt und zum K r i t e r i u m der Gewalt erklärt. Gewalt liegt dann vor, wenn bestimmte Nötigungswirkungen eintreten. Das ist fraglich, w e i l damit ein Tatbestandsmerkmal, Gewalt, mit einem anderen, Nötigung, zusammenfällt Zwar w i r d Gewalt nicht kongruent gestellt zur Nötigung, aber ihre kritische Objektivation liegt innerhalb der Nötigung. Nach dem Gesetz ist Gewalt ein Mittel, das auf die Nötigung als etwas jenseits ihrer Liegendes gerichtet ist. Zeitlich situiert auch Binding Gewalt nicht innerhalb der Nötigung: „Einwirkung, w e l c h e . . b e s t i m m t e Nötigungen bewirkt. Aber das, was, wie das Gesetz es vorschreibt, die Gewalt von anderen M i t t e l n unterscheidet, liegt bei Binding innerhalb der Nötigung: Gew a l t ist „jede", d. h. eine unbestimmte „Einwirkung, welche" bestimmte Nötigungsarten (vis absoluta) bewirkt. Das Begreifen und Bestimmen von Wirklichkeit ist immer ein Stück weit selektiv. Hervorgehoben w i r d das Wesentliche. Für Binding ist die Gewalt als Mittel unwesentlich. Er widmet i h r n u r eine formelhafte Bestimmung: „jede Einwirkung". Er setzt sie zwar nicht m i t dem Nötigungserfolg gleich, er macht sie aber von einem qualitativ besonderen M i t t e l zu einer Unterart des Nötigungserfolges. Er nivelliert die spezifische soziale Bedeutung des Gewaltmittels. Sein Nötigungsverständnis ist kausal erfolgsorientiert. Er vernachlässigt die Differenzierung des gesetzlichen Tatbestandes in Mittel und Zweck bzw. Erfolg, in Gewalt 3
Wonach auch vis absoluta den Erpressungstatbestand erfüllt.
6. Monistische Konzeption v o n Gewaltbegriff u n d Freiheitsschutz
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und Nötigung . Er vereinfacht, nivelliert das Gesetz. Dies und nicht Bindungs Gewaltbegriff hat sehr nachhaltige Wirkungen i n der Entwicklung von Rechtsprechung und Literatur. Deshalb sollen die Zusammenhänge genauer betrachtet werden. 6. Monistische Konzeption von Gewaltbegriff und Freiheitsschutz a) Naturalismus , Teleologie und Erfolgsorientierung Auch für Binding gibt es jenseits des positiv-rechtlichen Gewaltbegriffs das außergesetzliche Schutzgut Freiheit. Z u m Rechtsgut w i r d Freiheit aber erst durch die Positivierung der Norm, die Freiheitsbeeinträchtigungen verbietet. I n der Auswahl der Rechtsgüter ist der Gesetzgeber frei und dieser Vorrang des Gesetzgebers w i r d bei Bindung nicht durch einen Bezug auf vorpositive Rechtsgüter relativiert. I m Zentrum steht das, was an Freiheitsschutz positiviert ist. Damit ist zweierlei gewonnen: 1. ist die alle gesetzlichen Begrenzungen sprengende Expansion von Rechtsgütern theoretisch gebannt; 2. können die Gesetze selber sinnvoll, d. h. gemäß ihrer begrenzten positiven sozialen Bedeutung interpretiert werden. Sie haben nämlich für Binding nicht nur negative, die Staatsgewalt ausgrenzende Funktion; für Binding gibt es einen positiven „ W i l len der Norm" 1 . Obwohl demnach das Rechtsgut Freiheit i n den begrenzten Rahmen der Gesetze hineingeholt ist 8 , unterwirft auch Binding die Bestimmung des Gewaltbegriffs dem Rechtsgut Freiheit. Er vollzieht diese Unterordnung sogar noch rigider als die Vertreter der dualistischen Konzeption, die den Gewaltbegriff i m Ansatz noch eigenständig bestimmen, weshalb Bindings Ansatz hier als monistisch bezeichnet wird. — Welches sind die allgemeinen Regeln, nach denen Bindung zu seiner Konzeption des Freiheitsschutzes kommt? Teleologie und Erfolgsorientierung Binding gibt für seinen Gewaltbegriff zwei Begründungen. Die erste kombiniert systematische und teleologische Momente: „Der Gewalt als Nötigungsmittel w i r d die Drohung entgegengesetzt, beiden zusammen öfter die List." Da Binding annimmt, daß List nicht Nötigung sein 1 Lehrbuch, S. 80. Diese Formulierung erfaßt das, was B i n d i n g i m H a n d buch des Strafrechts (S. 454 ff.) als W i l l e n der N o r m bezeichnet. K r i t i s c h dazu: Esser, Vorverständnis, S. 36 ff.; Fr. Müller, Juristische Methodik, S. 27 f., 30 ff., 65, 128 ff.; Dubischar, Vorstudium, S. 59, 62 f., 221 f. Z u m Verhältnis von Gesetzgeberwillen u n d N o r m w i l l e n bei B i n d i n g vgl. Hassemer, Theorie u n d Soziologie des Verbrechens, S. 48 f. 2 Das dürfte i n Bindings Konzept auch damit zusammenhängen, daß er generell ein v o m Angriffsobjekt abgehobenes Rechtsgut nicht anerkennt; dazu Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 82, 102 f.
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könne, fährt er fort: „ F ü r die Gewalt bleibt also nur, was nicht Drohung ist, aber auch Alles zur Nötigung Taugliche, das die Drohungseigenschaft nicht besitzt." Nötigung ist nach Bindung Freiheitsbeeinträchtigung. Zum Schutz der Freiheit werden die M i t t e l ihrer Beeinträchtigung pönalisiert. Ihre Pönalisierung w i r d zu einem relativ geschlossenen Schutzsystem verbunden. Teleologisches Zentrum dieses Systems ist das Rechtsgut Freiheit. Binding geht aus vom Primat der Teleologie. Deutlicher t r i t t das i n der zweiten Begründung hervor, wonach „das Zweckmoment . . . verlangt, daß Alles, was w i r k t wie die überlegene physische Gewalt, auch unter der Gewalt begriffen werde". Hier überschreitet Binding entsprechend seiner Lehre von der objektiven Auslegung 3 den herkömmlichen physischen Gewaltbegriff unter Berufung auf den Freiheitsschutz. Zwar scheint er als Maßgröße noch den alten Gewaltbegriff — „ w i e die überlegene physische Gewalt" — also ein Element historischer Auslegung beizubehalten. Tatsächlich handelt es sich hier jedoch nur u m eine Illustration seines eigenen teleologisch begründeten Gewaltbegriffs und nicht u m eine Relativierung. Denn der historische Begriff physischer Gewalt erfaßte zu Bindings Zeit auch vis compulsiva, also mehr als Bindings Gewaltbegriff (vis absoluta); darauf weist Binding an anderer Stelle selber hin 4 . Die „überlegene physische Gewalt" hat also keinen eigenen methodischen Stellenwert. Zusammengefaßt bedeutet Freiheitsschutz als teleologisches Prinzip hier: was nicht Gewalt, d. h. vis absoluta ist und dennoch die Freiheit beeinträchtigt, w i r d der Drohung zugeschlagen. Beide werden fugenlos verbunden zu einer festungsartigen ,Rundum-Verteidigung' 5 der Freiheit. Prämisse dieser Konzeption ist das Primat der Teleologie. Binding setzt vorab den Freiheitsschutz als einheitlichen Zweck fest und richtet danach die Definition der M i t t e l aus, die nach dem Gesetz die Freiheit beeinträchtigen. Er subsumiert quasi die gesetzlich thematisierten Verhaltensweisen unter das Telos des Freiheitsschutzes. M i t der Feststellung, die Teleologie habe Vorrang i n Bindings Konzeption, soll nicht behauptet werden, i n anderen Konzeptionen, insbesondere der hier vertretenen, seien teleologische Erwägungen ausgespart. Gemeint ist nur, daß bei Binding die Bestimmung der gesetzlich thematisierten Verhaltensweisen einem vorab gesetzten Telos nachgeordnet wird, und daß die grammatische, systematische, historische Auslegung nur Hilfsmittel der Teleologie sind. Noch eine andere Regel konstituiert Bindings Freiheitsschutzmodell. Das Primat der Teleologie erklärt noch nicht, warum gerade der Frei3 4 5
Handbuch, S. 454 ff. Lehrbuch, S. 82 f. F n 2; S. 83 F n 2. So Denninger (JZ 1975, 546) zum Schutz der Werte.
6. Monistische Konzeption von Gewaltbegriff u n d Freiheitsschutz
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heitsschutz Telos der Gewaltpönalisierung sein soll. Hinzu kommt eine bestimmte Bewertung der einzelnen Merkmale der Gewaltstraftatbestände: Gewalt w i r d allein wegen ihres tatbestandlichen Erfolges, d. h. wegen der Freiheitsbeeinträchtigung als strafwürdig bewertet. Erst i n Verbindung mit dieser ausschließlich auf den Erfolg der tatbestandlichen Handlung fixierten Bewertung kann schlüssig gesagt werden, daß Telos der Gewaltpönalisierung die Verhinderung des die Freiheit beeinträchtigenden Erfolges, also Freiheitsschutz sei. Die Erfolgsfixierung ist i n Bindings Gewaltbegriff evident; alle Qualifikationen der Gewalt als Verfahren, etwa ihre Körperlichkeit, sind ausgeblendet. Vorläufig ist also festzustellen, daß Bindings monistisches Freiheitsschutzkonzept hinsichtlich der Methoden basiert auf dem Vorrang der Teleologie und hinsichtlich der Handlungsbewertung auf dem Vorrang des tatbestandlichen Erfolges 8 . Die beiden Präferenzregeln hat Binding ausdrücklich aus demselben Ansatzpunkt entwickelt: dem Willen 7. I n der Tat bestehen strukturelle Ähnlichkeiten zwischen Teleologie und Erfolgsorientierung; beide präferieren die Unmittelbarkeit: wie die Fixierung auf den Erfolg vom spezifischen vermittelnden Verfahren (z. B. Körperlichkeit, Aggressivität, Passivität) des Täters absieht, so verdrängt der Vorrang der Teleologie die vermittelnden Verfahren der Textinterpretation. Teleologie w i l l unmittelbare Sinnerkenntnis 8 . Darauf w i r d noch einzugehen sein. Der Wille als Bezugsrahmen A u f eine weitere Besonderheit der Binding'schen Konzeption ist noch hinzuweisen, die dem Vorrang der Teleologie zu widersprechen scheint. Binding bestimmt Gewalt nur als vis absoluta; vis compulsiva soll stets Drohung sein. Drohung ist aber i m StGB insgesamt weniger pönalisiert als Gewalt, und zu Bindings Zeit war der Bereich ihrer Pönalisierung noch geringer. Bindings K r i t i k e r hingegen, die einen aufgelockerten physischen Gewaltbegriff vertraten, konnten auch Teile der vis compulsiva als Gewalt erfassen und damit das Schutzgut Freiheit effektiver sichern. I m Vergleich dazu scheint die Binding'sche Beschränkung der Gewalt auf vis absoluta der möglichen Teleologie des Freiheitsschutzes zu widersprechen. 6 I n seinen allgemeinen Ausführungen zur Methodik (Handbuch, S. 450 ff., 463 ff.) hat B i n d i n g den Vorrang der Teleologie nicht postuliert. Hier geht es aber n u r u m sein Freiheitsschutzkonzept, welches ohne die vorgängige, ausschließliche F i x i e r u n g auf den Schutz des Willens nicht erklärbar ist. Freilich ist das P r i m a t der Teleologie n u r die methodische Seite der erfolgsorientierten Handlungsbewertung. 7 Lehrbuch, S. 80. 8 Jescheck, Lehrbuch, § 17 I V .
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Erklärbar ist die Beschränkung auf vis absoluta zunächst aus der zweiten Komponente des monistischen Freiheitsschutzkonzepts, wonach die Gewalthandlung allein i m Hinblick auf deren Erfolg, die Freiheitsbeeinträchtigung bewertet wird. Da nun die Bestimmung einer Handlung auf Bewertung angewiesen ist, kann die Bestimmung der Gewalt allein an diesem K r i t e r i u m des Erfolges, d. h. der Freiheitsbeeinträchtigung orientiert werden. Freiheit ist nach h. M. äußere Willensfreiheit. Der äußere Wille, der durch Gewalt ausschließlich beeinträchtigt wird, muß also Anknüpfungspunkt für die bewertende Bestimmung der Gew a l t (und der Drohung) sein. Er w i r d Bezugsrahmen der Gewaltbestimmung. Gesichtspunkte außerhalb des Erfolges ( = Willensbeeinträchtigung) sind ausgeblendet. Wenn der äußere Wille Bezugsrahmen der Gewaltbestimmung ist, so kann diese nur getroffen werden anhand des Stufenschemas der Willensäußerung: Willensbildung, -entschließung, -betätigung, Die erste und dritte Stufe werden durch vis absoluta, die zweite w i r d durch vis compulsiva beeinträchtigt 9 . Vis absoluta, die intensivere Beeinträchtigung, ist Gewalt; vis compulsiva, die nur Motive oktroyiert, ist Drohung. Sollte, wie Bindings K r i t i k e r fordern, Freiheit teleologisch weitergehend geschützt werden, sollte also das Tatbestandsmerkmal ,Gewalt 4 mehr Verhaltensweisen erfassen als vis absoluta, nämlich auch Teile der vis compulsiva, so müßte auf der Tatbestandsebene auf Kriterien außerhalb des Bezugsrahmens der Willensbeeinträchtigung rekuriert werden. Bindings K r i t i k e r ziehen denn auch die Körperlichkeit der Gewalt oder ähnliches heran, u m innerhalb des Bereiches der vis compulsiva Gewalt von Drohung zu unterscheiden. Damit ist jedoch erstens die Willensbeeinträchtigung als Bezugsrahmen aufgegeben, zweitens die Handlungsbewertung nicht mehr allein am tatbestandlichen Erfolg orientiert, drittens die wertende Tatbestandsauslegung vom Rechtsgut, das allein am Erfolg orientiert ist, gelöst und dadurch viertens ein außergesetzliches dualistisches Rechtsgut anerkannt. Die von Binding postulierte strikte Orientierung der Tatbestandsbewertung am Handlungserfolg ( = Willensbeeinträchtigung) dagegen begrenzt die Teleologie des Willensschutzes. Dies ist kein Widerspruch der Binding'schen Theorie. Vorrang der Teleologie und Orientierung am tatbestandlichen Erfolg sind nämlich nur Teilaspekte der monistischen Freiheitsschutzkonzeption. Nach dieser ist das Rechtsgut Freiheit erst durch das Gesetz konstituiert. Das Gesetz aber ist herkömmlicherweise gekennzeichnet durch abstrakte Bestimmtheit. Der teleologische Schutz des Rechtsguts Freiheit ist also nur i m Rahmen eines abstrakt bestimm9 Ansatzweise ist diese Differenzierung schon bei Feuerbach, Lehrbuch, §267 getroffen.
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ten Tatbestandes möglich. Dies ist die rechtsstaatliche, relativ restriktive Seite der Binding'schen Konzeption. Extensiv w i r k t sie durch die radikale Erfolgsorientierung der Tatbestandsbewertung. Alles, was das Rechtsgut, d. h. den Willen beeinträchtigt, w i r d als Gewalt oder Drohung wahrgenommen. Das ,wie', die Qualität der Handlung, ist ausgeblendet. Die Wahrnehmung folgt dem Strafzweck und nichts anderem. Das Rechtsgut w i r d gleichsam zum Vorverständnis. Auch dies ist eine Konsequenz der monistischen Konzeption. Einerseits w i r d das Rechtsgut Freiheit rechtsstaatlich an das Gesetz geknüpft, andererseits geht es selbst i n den gesetzlichen Tatbestand ein, formt und reduziert ihn auf den bloßen kausalen Handlungserfolg. Dies letztere wurde i n der weiteren Entwicklung nach Binding aufgenommen und förderte die extensive Kriminalisierung. I n diesem Zusammenhang ist noch auf ein Element i n Bindings Argumentation hinzuweisen. Daß Gewalt nur vis absoluta und daß jede Drohung vis compulsiva sei, diese oft kritisierte Annahme leitet Binding nicht nur aus der Erfolgsorientierung und der Teleologie ab. Er gibt eine zusätzliche Begründung, nämlich die psychologische Wirkung der vis compulsiva i n den strittigen Fällen. Wenn etwa der Nötigende das Opfer verprügele, bis es die gewünschte Handlung vornehme, so sei dieser Erfolg nicht unmittelbar durch die Schläge erreicht worden, sondern durch die Angst des Opfers vor weiteren Schlägen. Die verabreichten Schläge seien nur eine besonders deutliche Manifestation der A n k ü n d i gung, ggf. weiterzuschlagen. Die Handlung sei dem Opfer also nicht durch Gewalt, sondern durch (faktische) Drohung abgenötigt worden 1 0 . Die hier angenommene psychologische Wirkung von Schlägen beim Genötigten ist mehrfach bestritten worden 1 1 . Auch wenn sie zuträfe, wäre die Richtigkeit der Auslegung des Gesetzes noch nicht belegt. Es ist nämlich durchaus zweifelhaft, ob die Grenze zwischen Gewalt und Drohung allein i n der Psychologie des Opfers zu situieren ist. K r i t e r i u m könnte auch die Qualität der intersubjektiven Situation sein. Darauf weist Frank h i n m i t der bekannten Formulierung, es sei nach den A n schauungen des täglichen Lebens etwas anderes, „ob ich jemandem Prügel nur i n Aussicht stelle, oder ob ich sie ihn wirklich schmecken lasse" 12 . Hier w i r d nicht nur die Richtigkeit der Deutung der Opferpsychologie bestritten, sondern überhaupt der (psychologische) Bezugsrahmen k r i t i siert und dagegen die soziale Bewertung der intersubjektiven Situation geltend gemacht. Genaugenommen sind damit zwei Probleme von Bindings Konzeption angesprochen. Zunächst die Methodik: 10 11 12
Binding, Lehrbuch, S. 84. Vgl. Knodel, Der Begriff, S. 32 f. V D B V I , 20.
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Sprachregelung Wenn jemand verprügelt wird, bis er sich fügt (vis compulsiva), so w i r d dies jeder Nicht-Jurist ohne Zögern als Gewalt bezeichnen und nicht als Drohung, wie Binding es tut. Binding fordert eine vom allgemeinen Sprachgebrauch abgehobene strafrechtliche Sprachregelung. Er löst die Sprache des Strafrechts aus dem sozialen Kontext und verfügt über sie eigenmächtig strafrechtlich. Das ist freilich nur eine Konsequenz des Primats der Teleologie. Denn, wenn die Sprache bestimmten Zwekken des Strafrechts dienstbar gemacht wird, so entfernt sie sich vom sozialen Zusammenhang, i n welchem diese Zwecke m i t dem Wort »Gewalt* nicht ohne weiteres verbunden sind. Durch die Trennung entsteht, was gegenwärtig als technokratische „Sprachregelung" bezeichnet wird, die sich an Insider richtet. Binding hatte das i n seiner allgemeinen Methodik schon zum Programm erhoben: die grammatische Auslegung sollte sich nur auf den juristischen Sprachgebrauch, nicht auf den allgemein-sozialen beziehen 13 , denn Adressat des Gesetzes seien primär die Richter, nicht die sonstigen Bürger. Konsequenterweise befürwortete er auch die Analogie i m Strafrecht 14 . — Bei Binding führte das zweckhafte Verfügen über die Sprache zu einer Einschränkung der Gewaltstrafbarkeit 15 . Das ist aber nicht zwingend, wie die neuere Entwicklung des strafrechtlichen Gewaltbegriffs zeigt. Wenn sich ein bloßer Mensch ungeschützt vor die Tötungsmaschine eines Panzers setzt, u m ihn zu blockieren, so kann der Strafjurist zwecks Freiheitsschutz sagen, der Mensch habe Gewalt gegen den Panzerfahrer angewendet 16 . Daß solche Bezeichnung und Bewertung einem Laien widersinnig erscheint, braucht den Strafrechtler nicht zu kümmern. A l s Teleologe ist er vom allgemeinen Sprachgebrauch nicht betroffen. Naturalismus Das zweite Problem, auf das Franks These i n Bindings Konzept hinweist, betrifft nochmals den inhaltlichen Bezugspunkt der Teleologie: Die apodiktisch behauptete Wahrheit der Gewalt und der Freiheit findet Binding 1 7 allein i m Willen des einzelnen, der aus allen sozialen Zusammenhängen gelöst ist. Die besondere Qualität von intersubjektiven Beziehungen, die i n sozialen Bewertungen reflektiert wird, bleibt unberücksichtigt. Bindings Ansatz kann als naturalistisch bezeichnet werden. Daß soziale Probleme allein i m Horizont von Physis und Psyche zu 13 14 15 16 17
Handbuch des Strafrechts, 1. Bd., S. 463 ff., vgl. auch S. 456 F n 7. Lehrbuch, 1. Bd., S. 21 f. A u f vis absoluta; ähnlich Busse, Nötigung, S. 115 ff. Schönke / Schröder / Eser, R n 10 v o r § 234. Lehrbuch, S. 83 F n 2.
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lösen seien und daß dabei die Ausblendung sozialer Deutungen allein zur Wahrheit führe, dies sind Annahmen des wissenschaftlichen Naturalismus, wie er i m 19. Jahrhundert entwickelt wurde. Zum Ausdruck kommt der Naturalismus hier i n der Teleologie und der Erfolgsorientierung. Beide Prinzipien sind Teil der einheitlichen Konzeption Bindings, die zentriert ist u m den Willen. Den „Willen der Norm" und den „ W i l len von Privaten" stellt er nebeneinander als das, wogegen das Verbrechen sich auflehnt 18 . Teleologie (Willen der Norm) und Erfolgsorientierung (Willen von Privaten als ausschließliches Rechtsgut) sind charakterisiert durch Unmittelbarkeit. Sie sehen ab von den umweghaften Verfahren. Beide Male werden Zwecke unvermittelt durchgesetzt. Die Menschen erscheinen naturalistisch als vereinzelte Träger eines Willens. b) Kritik
des Vorrangs der Teleologie
I m folgenden geht es nicht u m Bindings Beiträge zur strafrechtlichen Methodik i m allgemeinen 19 , sondern nur u m die Uberprüfung seiner Auslegung des Terminus »Gewalt4, welche durch den Vorrang der Teleologie gekennzeichnet ist; denn dieser Ansatz begründete die weitere Entwicklung. Das Problem soll i m folgenden zunächst i m Horizont der ,canones' diskutiert werden. Die moderne Methodenlehre hat zwar gezeigt, daß die canones nur begrenzte Bedeutung haben. Sie kann aber nicht auf sie verzichten, solange sie sich auf Texte bezieht. Das hat Fr. Müller gezeigt 20 . Weitere, hermeneutische Gesichtspunkte werden später einbezogen. Manche mögen die Problematisierung des Vorrangs der Teleologie für gewollt halten, weil selbstverständlich die Teleologie nachgeordnet sei. Das ist aber nicht selbstverständlich. Insbesondere bei der Bestimmung des Gewaltbegriffs w i r d betont, auf die Spezifikation der Gewalt als Mittel könne es nicht ankommen, weil der Terminus »Gewalt4 teleologisch auszulegen sei. A l l e i n die teleologische, die M i t t e l nivellierende Auslegung sei ,modern' 21 . Implizit w i r d der Vorrang der Teleologie jedesmal unterstellt, wenn das Rechtsgut Freiheit gegen enge Bestimmungen der M i t t e l seiner Beeinträchtigung geltend gemacht wird 2 2 . Eine Auseinandersetzung m i t dem Vorrang der Teleologie ist also angemessen. 18
Lehrbuch, S. 80. Handbuch des Strafrechts, S. 450 ff., insbes. 454 ff., 463 ff. 20 Juristische Methodik, S. 146, 166 ff.; nachdrücklich auch Esser, JZ 1975, 555 ff. 21 Maurach / Schroeder, StR BT, S. 125 f. 22 Exemplarisch Knodel, Der Begriff der Gewalt, S. 47 ff., 63, 67 f., 71 und passim. 19
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Ist die teleologische Auslegung als besondere überhaupt akzeptabel? v. Heintschel-Heinegg etwa sucht den Gewaltbegriff zunächst i m Weg der grammatischen, systematischen und historischen Auslegung zu bestimmen 23 . Da dies ergebnislos bleibt, folgert er, nun müsse der Gewaltbegriff „anhand normativer Kriterien" bestimmt werden, d. h. teleologisch 24 . Darin steckt die Prämisse, grammatische, systematische, historische Auslegungen seien frei von normativen Kriterien', frei von Teleologie denkbar. — Hier w i r d das Gegenteil angenommen und gefolgert, daß teleologische Auslegung als solche überflüssig ist und die Vorstellung einer gesonderten, gar vorrangigen Kategorie ,Teleologie' ein rechtsstaatlich fragwürdiger Reflex des Positivismus ist 2 5 . Darstellung des Prinzips Der „Zweck des Strafrechtssatzes zur Zeit seiner Anwendung", das Telos also, ist erstes, entscheidendes, vorrangiges Auslegungsmittel 26 . Diese These faßt eine i m Strafrecht (mit Modifikationen) verbreitete Meinung zusammen 27 . Was ist gemeint m i t dem Zweck und seinem Vorrang? — Jede Interpretationsweise impliziert die Reflexion auf Zwecke. Auch die Bedeutung eines einzelnen Wortes ist i n soziale Zwecke eingespannt 28 . Das meinen Maurach / Zipf jedoch nicht m i t dem Zweck des Strafrechtssatzes", der das „entscheidende Instrument" der Auslegung sein soll; denn sie setzen ihn ausdrücklich ab vom Wortsinn, von der ebenfalls zweckbezogenen Systematik und von der historisch nach Zwecken fragenden Auslegung. Deutlich unterscheidet auch Jescheck29 einerseits die grammatische Auslegung, die versucht, „den Sinn des Gesetzes aus dem Sprachsinn zu erschließen", und andererseits die teleologische, die bemüht ist, „unmittelbar den Sinn zu erkennen, der einer Vorschrift innewohnt . . . Die Krone der Auslegungsverfahren gebührt der teleologischen Methode, weil nur sie unmittelbar auf das eigentliche Ziel aller Auslegung zusteuert, die Zweck- und Wertgesichtspunkte herauszuarbeiten, aus denen der maßgebliche Gesetzessinn letztlich bindend zu erschließen ist". Gegenüber dieser aufs Eigentliche drängenden Unmittelbarkeit sind die anderen Methoden nachgeordnet, „ i m Grunde nur besondere Wege, auf denen man sich der Sinndeutung nähern fcann" 30. 23
Diss., S. 159 ff. S. 195 f. 25 Gesetzespositivismus u n d Berufung auf Werte u n d Teleologien sind keine Gegensätze, vgl. Fr. Müller, Methodik, S. 58 ff. 2 « Maurach / Zipf, Strafrecht A T T b 1, S. 121, 124, 127. 27 Jescheck, Lehrbuch, § 17 I V 1 b; Welzel, Deutsches Straf recht § 5 I I 2; L K - T r ö n d l e , § 1 R n 41; w o h l auch SK-Schreiber, § 1 R n 23; Maurach / Schnieder, a.a.O.; Wessels, Straf recht A T § 2 I I . 28 Engisch, Einführung, S. 78 f., 217 f. 29 Lehrbuch, § 17 I V 1 b. 24
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Zwar bestehen nach Maurach / Zipf „keinerlei Bedenken, die vorstehend genannten (grammatischen, systematischen, historischen; R. K.) Auslegungsmittel ergänzend und präzisierend heranzuziehen" 81 , aber gegenüber der Teleologie sind „grammatische und sytsematische Interpretation . . . letztrangige Methoden .. ." 82. Nicht eindeutig sind die Stellungnahmen zu der Frage, ob der teleologisch ermittelte Zweck identisch sei m i t dem durch die anderen Auslegungen ermittelten Zweck. Wenn aber der Wortsinn korrigierbar ist 8 3 durch den teleologisch ermittelten Zweck, so muß er von i h m unterschieden sein. Zugleich soll das Telos aber der richtige Wortsinn sein 84 . Hier dürfte als Vermittlung das zitierte Wort „eigentlich" bedeutsam sein . . . Oft erhält die Teleologie die Funktion, angebliche Bedeutungswidersprüche oder Unklarheiten, für die die canones keine Kriterien bieten sollen, zu entscheiden. Gegenstand des teleologisch ermittelten Zweckes sollen u. a. sein: Gerechtigkeit, Verhältnismäßigkeit, Schuld, „Sinn des Straf rechts i m Allgemeinen" und vor allem Rechtsgüter 38 . Der Vorrang des Zweckes hat bei den einzelnen Autoren unterschiedliche Reichweite. Maurach / Zipf stellen alle anderen Auslegungsarten dahinter zurück 36 . Jescheck u. a. 87 wollen die Teleologie durch den „noch möglichen Wortsinn" begrenzen. Damit w i r d auf das abstrakte Wort („noch möglich") abgestellt, das aus den jeweiligen Sinnzusammenhängen gelöst ist 8 8 . Derjenige Wortsinn hingegen, der etwa i n Verbindung m i t systematischer und historischer Auslegung als entscheidungsträchtig ermittelt worden ist, kann durch Teleologie korrigiert werden. Das aber bedeutet, daß sich teleologische Auslegung gegen eine Auslegung, die das Ergebnis grammatischer, systematischer und historischer Argumentation (und damit keineswegs sinn- und zweckentleerter Formalismen) sein könnte, durchsetzen kann. Darin zeigt sich der Vorrang der Unmittelbarkeit. Daß von dieser Position aus die monistische Konzeption Bindings nicht zu kritisieren ist, dürfte klar sein. 30
Hervorhebungen i m Z i t a t von mir, R. K . S. 127; ähnlich Eser, StR I Nr. 1 A 14, S. 22. 32 Maurach, N J W 1961, 1050. 33 Maurach / Zipf, S. 125 ff. 34 Jescheck, Lb. § 17 I V 4; Maurach / Zipf, a.a.O. 35 Vgl. Maurach / Zipf , S. 127; Schönke / Schröder / Eser, § 1 Rn 56; Jescheck, Lb. § 17 I V 1; Schmidhäuser, Strafrecht A T 5/34 ff. 36 S. 121, 126 f.; ebenso w o h l Welzel, Lb. § 5 I I 2. 37 Jescheck, Lehrbuch § 17 I V 5; SK-Schreiber, § 1 Rn 24; Schönke / Schröder / Eser, § 1 R n 48, 62 f. 38 Dazu kritisch Baumann (StR § 13 I 3; M D R 1958, 394 ff.), der stattdessen auf die „natürliche Wortbedeutung" abstellt u n d damit zutreffend den sprachlichen u n d sozialen Sinn- u n d Verständniszusammenhang schon bei der W o r t auslegung zur Geltung b r i n g t ; ebenso Priester, Z u m Analogieverbot, S. 161. 31
10 Keller
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I n Rechtsprechung und Literatur gibt es Stellungnahmen, die der Teleologie einen geringeren Stellenwert einräumen. Z u nennen sind zunächst H. Mayer 3 9 und W. Naucke 40 . I n der Rechtsprechung w i r d oft die Teleologie ohne Präferenz neben den anderen Auslegungsarten aufgeführt 41 . Wenn damit gemeint wäre, daß diese eventuell zurücktreten sollen, so entstehen latent die gleichen Probleme wie beim prinzipiellen Vorrang der Teleologie. Bezüglich der Relativierung des Vorrangs der Teleologie ist noch hinzuweisen auf Baumann 42 , der die Ermittlung des Telos an die anderen Auslegungsarten binden w i l l . Ähnlich betont Eser 43 , die teleologische Auslegung sei n u r verbunden m i t den anderen möglich. Blei 4 4 weist darauf hin, daß es einen feststehenden Gesetzesinhalt, der teleologisch unmittelbar anzusteuern wäre, nicht gibt. Mögliche Begründungen des Vorrangs Drei Begründungen für den Vorrang der Teleologie sind denkbar: — Dem Gesetzestext liegt ein feststehender Inhalt zugrunde; folglich kommt es nur darauf an, daß man ihn erkennt und verwirklicht, auf das Ergebnis also und nicht auf das Verfahren, wie man i h n bestimmt. Die Regeln der textorientierten Interpretation sind also zweitrangig. — Oder die vom Gegenteil ausgehende, modernere Begründung: — Aus dem Gesetzestext sind überhaupt keine inhaltlich relevanten Schlüsse zu ziehen. Die richtige Auslegung ist nicht zu bestimmen. Alles ist letztlich W i l l k ü r bzw. Kriminalpolitik. Ehrlicherweise ist also die nicht textorientierte Teleologie als notwendig und vorrangig anzuerkennen. — Oder die Kombination dieser beiden Begründungen: — Ein Inhalt des Gesetzestextes mag gegeben (oder bestimmbar) sein. Er muß jedoch korrigiert werden, um kriminalpolitisch angemessene Ergebnisse zu erzielen; Teleologie als Korrektiv. 39
Strafrecht A T (1967), S. 36. Z u r Lehre v o m strafbaren Betrug, S. 189; ders., Festschrift für Engisch, S. 274 ff. Naucke u n d H. Mayer orientieren sich allerdings p r i m ä r am subjektiven Gesetzeswillen. Das ist aber nicht die notwendige Konsequenz, wenn man die Teleologie als gesonderte Methode ablehnt. Objektive Auslegung k a n n sich am gegenwärtigen Wortsinn, an Systematik u n d (auch) an der Gesetzgebungsgeschichte orientieren. Das impliziert allemal teleologische E r w ä gungen. Deshalb muß Teleologie aber nicht abgesondert u n d vorrangig w e r den; Fr. Müller, Methodik, S. 128 f., 160 ff.; ähnlich Schönke / Schröder / Eser, § 1 R n 52. Z u r K r i t i k subjektiver Auslegung s. a. oben I V . 4. a). 41 Z. B. RGSt 62, 372 f.; B G H S t 4, 308 ff.; 12, 172. 42 Strafrecht § 13 I 3 a, d. 43 Schönke / Schröder / Eser, § 1 Rn 48 ff., 52 unter Hinweis auf Fr. Müller. 44 Strafrecht I § 9 I V . 40
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T e l e o l o g i e u n d feststehender Gesetzesinhalt
Wenn dem Gesetzestext ein schon bestimmter Inhalt zugrunde liegt, so ist allein dieser wichtig. A u f etwas anderes darf es dann gar nicht ankommen, denn der Inhalt ist ja das Recht. Schon i n diesem Ausgangspunkt ist die Vernachlässigung des Verfahrens angelegt. Wenn der I n halt gegeben ist, so ist schon von der Sache her zweitrangig, wie er ermittelt wird. Allenfalls ist noch zu fordern, daß man des Inhalts möglichst umweglos habhaft werden müsse (Vorrang der unmittelbaren Teleologie). K o m m t hinzu die normative Komponente, daß sich das Recht allein i m Inhalt, i m Erfolg der Interpretation realisiert, so bedeutet dies: Wenn das, was Recht ist, immer schon feststeht, so wäre es eine Relativierung des Rechts, wenn dem Verfahren seiner Erkenntnis irgendein eigener Stellenwert beigemessen würde, es gar auf Texte und ihre Interpretation festgelegt würde. Man kann sich dieser herkömmlichen M i t t e l zwar bedienen, sie ,benutzen', muß es aber nicht, wenn man anders — teleologisch — schneller zum Ziel kommt. Maurachs und Jeschecks Position wäre bestätigt. Zutreffend ist die dieser Argumentation zugrunde liegende analytische Unterscheidung von Norm und Normtext, anders ausgedrückt: von Recht und Gesetzestext 45 . Der Text ist nicht Recht. Er ist Zeichen und verweist auf Recht. Problematisch ist die Annahme, das Recht stehe schon fest, es sei ein bestimmter Wille des Gesetzes vorgegeben. Daß dies eine Fiktion ist, wurde i n der neueren methodologischen Literatur vielfach nachgewiesen 46 . Gerade die Zeichenhaftigkeit der Gesetzestexte macht sie vieldeutig. Andere, eindeutige Indizien für Recht als Texte sind aber nicht vorhanden. Der Entscheidende muß also die richtige Deutung erst erarbeiten. Damit w i r d relevant, wie er sie erarbeitet. Neben dem Erfolg w i r d zumindest gleich bedeutsam das Verfahren der Auslegung 47 . Die erste Begründung ist also nicht haltbar. Nachzutragen ist, daß die Vorstellung eines eindeutig vorgegebenen Inhalts des Gesetzes, der nur nachzuvollziehen ist, besonders nahegelegt ist durch die Vorstellung, der Gesetzesinhalt sei Wille, Befehl. Der „ W i l l e der Norm" ist autoritative Äußerung. Er verlangt Unterwerfung. Daß seine Bedeutung vom Adressaten erst einmal erarbeitet werden muß, was Konstruktion und nicht Unterwerfung verlangt, ist i m Willensmodell kaum berücksichtigt. Es wurde daher als archaisch bezeichnet 48 . 45
Fr. Müller, Methodik, S. 125 f. F ü r das Straf recht: Hassemer, Tatbestand u n d Typus, S. 86 f.; auch Blei, Strafrecht I § 9 I V ; allgemein: Müller, Methodik, S. 125 ff. u n d passim; ders., Recht-Sprache-Gewalt. 47 Das betont besonders Hassemer, Tatbestand, S. 99, 135 ff. 48 Dubischar, Vorstudium, S. 59, 62 f., 121 f.; kritisch auch Esser, Vorverständnis, S. 36 ff.; Hesse, Grundzüge § 2 I I 2; Fr. Müller, Methodik, S. 27, 31, 58 f., 128 ff. 46
10*
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Teleologie und Offenheit des Gesetzes Wenn aus dem Gesetzeswortlaut, aus dem Zusammenhang des Gesetzes, aus der Gesetzgebungsgeschichte überhaupt keine inhaltlich bedeutsamen Schlüsse zu ziehen wären, dann wäre die getroffene Entscheidung i n der Tat W i l l k ü r und methodenklar als teleologisch zu bezeichnen. Dann wäre Teleologie die vorrangige, genauer: einzig mögliche Auslegungsweise. Die Prämisse ist aber fraglich. — Grammatische, systematische und historische Auslegung knüpfen an Texte an, die beiden ersteren an Normtexte. Wenn sich auch bei manchen Texten (z. B. »Verteidigung der Rechtsordnung*) sehr wenig bestimmte Bedeutung ermitteln läßt, so sind doch bei aller Unabgeschlossenheit der Konkretisierung nicht alle Texte unbestimmt 4 9 . Das Gegenteil kann nur behaupten, wer sich aus allen gesellschaftlichen und historischen Zusammenhängen gelöst vorstellt. Das ist eine Robinsonade oder einfach Widerw i l l e gegen den Vorrang des Gesetzes und die Begrenztheit strafrechtlicher Praxis 5 0 . Ist die Bedeutung des einzelnen Wortes (wie ,Gewalt*) noch relativ offen, so läßt sie sich i m Zusammenhang des Gesetzes und anderer Gesetzestexte konkretisieren. Das Grundgesetz enthält einen Fundus von Präferenzregeln. Hinzu kommen nicht-normative Texte der Gesetzgebungsgeschichte usw. — Natürlich liegen, wenn man an Texten anknüpft, soziale Zwecke zugrunde, die historisch wandelbar sind. Da aber Gesetze auf ihre Konkretisierung verweisen, verweisen sie auf die Begrenzungen i n ihrer sozialen und historischen Bedingtheit 5 1 . Aus der Tatsache, daß das Verständnis aller Texte, an denen sich die Auslegung orientieren kann, teleologische Elemente enthält, zu schließen, es sei die ganze textorientierte Auslegung willkürlich, wäre ein positivistisches Mißverständnis; denn es würde unterstellt, eine Textauslegung solle je übergeschichtlich richtig sein. Wer sich auf dem Weg über die zahlreichen textlichen Bezüge der Entscheidung nähert, macht Umwege 52 . Er sucht Bestätigung und läßt sich i n Frage stellen. Er geht ein aufs Allgemeine, auf die Objektivität. Erst durch sie — vermittelt — kommt er zu seiner Entscheidung. Das umweghafte Verfahren öffnet sie für kritische Teilhabe. Die subjektive Entscheidung ist anhand des auf Gesetzestexte bezogenen Verfahrens kontrollierbar auf ihre objektive Richtigkeit. Deshalb ist das Verfahren 49 Dazu ausführlich Fr. Müller, Methodik, S. 150 ff., 202 ff.; ders., RechtSprache-Gewalt, S. 39 f.; Priester, Analogieverbot, S. 163; Baumann, M D R 1958, 394 ff. 50 Es löste w o h l keine kriminalpolitische Katastrophe aus, als das R G (E 29, 111) beim „Elektrizitätsdiebstahl" bescheiden dem Gesetzgeber die Entscheidung überließ; w o h l aber w u r d e dadurch die Rechtsprechung i n Grenzen gehalten. 51 Baumann, M D R 1958, 396. 62 Vgl. Luhmann, Soziologische A u f k l ä r u n g 2, S. 181.
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der Gesetzeskonkretisierung für die gesellschaftliche Umwelt wichtig. Darin hat sie die subjektive Entscheidung als allgemeine 63 . Die Teleologie verhält sich anders zu Texten. Sie sind ihr Auslöser 64 für »Eigentliches' und Unmittelbarkeiten, für die Orientierung an Universalien wie Gerechtigkeit, Bedürfnisse der Gegenwart, Sinn des Strafrechts i m allgemeinen, Rechtsgut. Der weite Gewaltbegriff ist ein M u sterprodukt solcher Teleologie; er ist orientiert an dem gänzlich unspezifischen »Wert* der äußeren Willensfreiheit (von der zugegeben wird, daß sie meist gar nicht schutzwürdig ist), an alles nivellierenden ,kriminalpolitischen Bedürfnissen', an Modernität. Die Teleologie w i r k t als Sammelbecken unvermittelt subjektiver Wertungen und Abwägungen 55 . Diese können nicht mehr unter Berufung auf Gesetzestexte kritisiert werden, wenn Teleologie als legitime eigenständige Kategorie neben oder vor der textorientierten Auslegung anerkannt ist. Auch i n die grammatische, systematische und historische Auslegung sind selbstverständlich subjektive Wertungen eingebunden, aber eben gebunden, d. h. sie können prinzipiell auf ihre Textangemessenheit geprüft werden. Wenn aber die Teleologie als separate Auslegungsweise anerkannt wird, so verabschiedet sich der Interpret seinerseits vom Gesetzestext. Die subjektive Implikation der Auslegung ist dann zumindest partiell freigesetzt. Die normgelösten subjektiven Wertungen des Entscheidenden unter dem Schutzschild der gesonderten vorrangigen Teleologie sind der Teilhabe und Kontrolle weitergehend entzogen als die auf Normtexte bezogenen Erwägungen, denn ihnen gegenüber können Normtexte geltend gemacht werden 5 6 . Gewiß w i r d auch der teleologisch Entscheidende seine Entscheidung begründen und damit der Kontrolle öffnen. Aber er ist dazu nicht i n der präzisen Weise gezwungen wie bei textbezogener Auslegung. Denn der Bezugsrahmen seiner teleologischen Begründung — z.B. äußere Willensfreiheit, Gerechtigkeit, Strafbedürfnis — ist sehr weit, die möglichen Argumente sind dementsprechend relativ beliebig 57 . Ihre Kontrolle ist daher schwieriger. Der Bezug auf Gesetzestexte w i r k t rationalisierend, weil er die zu behandelnden Themen begrenzt. Die Weite der teleologischen Bezugsrahmen verleitet den Entscheidenden zum Rückzug auf bloß subjektives Meinen, das dann um so massiver als objektiv richtig vorgestellt werden muß. Es ist durchaus konsequent, wenn auf das Ziel „unmittelbar" zugesteuert wird, dieses als „das eigentliche" zu 53
Vgl. Hegel, Realphilosophie, S. 198; ders., L o g i k I I , S. 436 ff., 453. Vgl. Maurach / Zipf, S. 127. 55 Fr. Müller, Methodik, S. 162 f. 56 Ähnliches konstatiert Denninger zur Berufung auf Werte: Immunisierung gegen K r i t i k (JZ 1975, 546). 57 So Luhmann, Rechtssystem, S. 35 ff., zur Folgenorientierung. 54
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IV. E n t w i c k l u n g u n d bisherige Bestimmungen des Gewaltbegriffs
bezeichnen und es für dreifach verbindlich zu erklären: „ . . . der maßgebliche Gesetzessinn letztlich bindend zu erschließen ist 6 8 ." Je mehr sich die Interpretation der Textkontrolle entzieht und bloß subjektives Meinen wird, u m so massiver und tautologischer muß sie dann als objektiv richtig vorgestellt werden 59 . Fazit: Teleologie als von textorientierter Auslegung abgelöste Me thode ist nicht nötig. Sie vernachlässigt die rechtsstaatliche Gesetzesbindung und Methodenklarheit, insbesondere, wo sie gegen textorientierte Auslegung geltend gemacht wird. I n den oben referierten Thesen vom Vorrang der Teleologie w i r d nicht erklärt, wie überhaupt der Gesetzeszweck ermittelt werden soll 60 . — Durch Textinterpretation offenbar nicht 6 1 , denn sonst könnte Teleologie nicht gegen textorientierte Auslegung geltend gemacht werden. Möglicherweise ist m i t dem Telos jenseits des Textes das Vorverständnis des Intrepreten gemeint. Läßt sich unter diesem Aspekt der Vorrang der Teleologie begründen? — Es geht u m das i n der Hermeneutik thematisierte Spannungsverhältnis von Text und Vorverständnis. Die Hermeneutik betont die Vieldeutigkeit des Textes und die daraus folgende Notwendigkeit der Konkretisierung durch den Interpreten. Seine Subjektivität und damit auch sein Telos werden i n den Prozeß der Konkretisierung einbezogen. Spricht das für den Vorrang der Teleologie? — Das Vorverständnis des Interpreten ist movens der Textkonkretisierung. Der Text w i r d i n Erwartung eines bestimmten vorgefaßten Sinnes gelesen. Aber: Der hermeneutische Interpret ist seinerseits angewiesen auf den Text. Seine Konkretisierung bezieht sich auf den Text. Vorverständnis ist nicht Vorurteil , wie Josef Esser 62 , teleologischen Erwägungen generell nicht abgeneigt, hervorhebt. Die cánones sind „unentbehrliches Handwerkszeug" 68 . Vor allem: das Vorverständnis erweist sich da58
Jescheck, Lehrbuch § 17 I V 1 b. Wenn sie besonders w e i t gespannt w i r d , bedarf allerdings gerade diese als o b j e k t i v richtig vorgestellte Teleologie nochmals einer personalen Sanktion, wie eine Episode aus dem Laepple-Prozeß zeigt (Eilsberger, JuS 1970, 165; Ridder, ZRP 1969, 218 F n 2). Dort soll der Präsident des entscheidenden BGH-Senats sich veranlaßt gesehen haben, v o r Verkündung des Urteils i n einer Vorrede zu erklären, der Senat denke nicht daran, ein Sonderrecht f ü r Demonstranten u n d Studenten zu schaffen. I m folgenden U r t e i l führte der Senat dann die Teleologie des Freiheitsschutzes, sein eigenes Richterrecht also, zu einem neuen Höhepunkt. U n d Eb. Schmidt (JZ 1969, 396) akklamierte einem ähnlichen U r t e i l dafür, daß es sich „nicht aufgehalten" habe m i t begrifflichen Analysen des Gewaltbegriffs, i m m e r h i n dem M e r k m a l eines allgemeinen gesetzlichen Tatbestandes, keines Sondergesetzes. 80 Vgl. Schünemann, Unterlassungsdelikte, S. 366. 61 So aber Baumann (Strafrecht § 13 I 3 a, d), der allerdings die Teleologie auch nicht für vorrangig hält. 62 JZ 75, 555 ff. « Esser, a.a.O.; Fr. Müller, Methodik, S. 146, 166 ff. 59
6. Monistische Konzeption von Gewaltbegriff u n d Freiheitsschutz
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durch als hermeneutisch angemessen, daß es sich seinerseits vom Text nicht abschließt, sich nicht gegen ihn stellt, sondern i m Verstehensprozeß sich durch den Text beständig modifizieren läßt. Das Textverständnis bleibt zwar von der vorgreifenden Bewegung des Vorverständnisses dauerhaft bestimmt 6 4 . Sein Erkenntnisinteresse ist aber die ,Entfaltung* des Textes 65 und nicht ein Telos jenseits des Textes. Eine Teleologie, die eine ganze Gruppe von Bedeutungsvarianten des Gesetzestextes — die Gewalt als spezifisches M i t t e l — rundweg ausblendet und die Differenziertheit des Gesetzes rigide auf den Erfolg h i n nivelliert, hat m i t dem hermeneutischen Vorverständnis wenig zu tun 6 6 . Teleologie, Kriminalpolitik, verfassungsrechtliche K r i t i k Der Inhalt des Gesetzes mag gegeben oder — wie auch immer — bestimmbar sein; das, so könnte man annehmen, genügt noch nicht. Es müssen auch kriminalpolitisch angemessene Ergebnisse erzielt werden, die — wie oft gesagt w i r d — der Gerechtigkeit und dem Sinn des Strafrechts i m allgemeinen entsprechen 67 . Vor allem beim Gewaltbegriff sollen »unbefriedigende*, »unmögliche*, ,als unerträglich empfundene' usw. Ergebnisse vermieden werden 68 . Solche Erwägungen wären dann i n der Sondersparte der Teleologie unterzubringen, die zudem Vorrang haben müßte, u m die textorientierte Auslegung ggf. zu korrigieren. Solche Korrektur ist jedoch unzulässig. I n der Bundesrepublik ist das Strafrecht i n Normtexten kodifiziert 6 9 . I n einer Gesellschaft m i t kodifiziertem Recht, das i n bestimmten Verfahren festgelegt, beschlossen, ausgefertigt und verkündet wird, ergibt sich aus der Sache selbst, daß die am Normtext orientierte Konkretisierung, also die grammatische und die systematische, i m Zweifel Vorrang vor den anderen Elementen der Konkretisierung haben. Der Vorrang ergibt sich nicht aus irgendwelchen Substantialien des Textes, sondern aus der Funktion von Texten als einzigen Direktiven des Rechts , aus dem Gebot der Gesetzesbindung und der Methodenklarheit. Das hat Fr. Müller für das Verfassungsrecht formuliert. Es gilt erst recht für das 64
Simon, Die Unabhängigkeit des Richters, S. 75. Z u m Terminus »entfalten 4 Hassemer, Tatbestand, S. 108 ff., 135 ff., 160 ff. 66 Vgl. Hassemers Forderung, alle Verständnismöglichkeiten auszuschöpfen, Tatbestand, S. 135 ff.; Fr. Müller, Methodik, S. 136 f.; ders., Normstruktur, S. 184 ff.; ähnlich Esser, Vorverständnis, S. 131, 133; topische Argumentation zum Gewaltbegriff bringt Lüderssen, Festschrift f ü r R. Lange, S. 1026 ff. 67 Maurach / Zipf, Strafrecht A T T b 1, S. 127; Schmidhäuser, Straf recht 5/ 33 ff.; zum Gewaltbegriff: Maurach / Schroeder, Strafrecht B T T b 1, S. 125 f.; Schönke / Schröder / Eser, Rn 12 v o r § 234. « Knodel, Der Begriff, S. 31, 47 ff. 69 Z u m folgenden Fr. Müller, Methodik, S. 148 f., 162 f., 202 f.
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I V . E n t w i c k l u n g u n d bisherige Bestimmungen des Gewaltbegriffs
Strafrecht, i n welchem die Gesetzesbindung besondere Bedeutung hat (Art. 103 GG). Die Thesen von der Hilfsfunktion und der Letztrangigkeit der grammatischen und systematischen Auslegung sind also fragwürdig. Auch ist, wo sich Recht durch grammatische und systematische Auslegung ermitteln läßt, kein Raum für Teleologie, sofern man darunter Erwägungen neben der textorientierten Auslegung versteht 70 . Da bei der K r i t i k des Rechtsguts Freiheit festgestellt wurde, daß nach den einschlägigen Tatbeständen die Gewalt neben dem Freiheitsschutz eigenständig zu bestimmen ist, gibt es keinen Anlaß, sie teleologisch am Freiheitsschutz zu orientieren. c) Kritik
des Vorrangs des Erfolges
Sieht man von diesen methodischen Einwänden ab, so bleibt zu fragen, ob es jenseits der positiven Straftatbestände Gründe für oder gegen die Orientierung der Gewalt am Erfolg gibt. Dieser Orientierung liegt die Annahme zugrunde, allein der Erfolg sei sozial gefährlich oder schädlich. Die spezifische A r t der das Rechtsgut verletzenden Handlung, Gewalt, sei für sich irrelevant. J. Baumann und H. Frosch 71 erklärten 1970, wenn es hinsichtlich Gewalt auf die A r t des ausgeübten Druckes und nicht allein auf die Stärke (Erfolg) ankommen sollte, so sei das der „Bankrott unseres Rechtsgüterschutzes". Die gesamte Auflösung des Gewaltbegriffs ist aus solcher Erfolgsorientierung zu erklären. B. Schünemann 72 meint, „der Zweck des Strafgesetzes (bestehe) keineswegs allein i n einem umfassenden Rechtsgüterschutz, sondern vielmehr i n einem komplizierten Gespinst aus dem Schutzinteresse des Opfers, dem Freiheitsinteresse des Täters und dem Präventions- und Rechtssicherheitsinteresse der A l l g e m e i n h e i t . . . Da der vom Gesetzgeber m i t seinen Tatbestandsbeschreibungen intendierte Handlungsunwert durch eine Betrachtung vom geschützten Rechtsgut her nicht erfaßt werden" könne, müsse „dringend davor gewarnt werden, die haftungsbeschränkend w i r kenden Deliktsschilderungen m i t Hilfe einer teleologischen Auslegung allein vom geschützten Rechtsgut her aus den Angeln zu heben". Solches führe zu „ständiger Ausweitung des Strafbarkeitsbereiches". Als „ M u sterbeispiel" der teleologischen Vernachlässigung des Handlungsunwerts nennt Schünemann den Gewaltbegriff 7 8 . Die i n der Erfolgsorientierung enthaltene Vereinfachung der gesetzlichen Handlungsbewertung und der Voraussetzungen der Strafe kann 70 Fr. Müller, a.a.O.; ähnlich Schünemann, Unterlassungsdelikte, S. 256 ff., 364 ff. (zum Gewaltbegriff: S. 365 F n 27); Baumann, M D R 1958, 394 (395 f.). 71 J Z 1970, 113 (116). 72 Unterlassungsdelikte, S. 365; vgl. auch ders. i n Festschrift f ü r P. Bockelmann, S. 131. 73 Ähnlich: Ebert, J A 1979, 278 f.; Giehring, Demonstration, S. 522.
6. Monistische Konzeption von Gewaltbegriff u n d Freiheitsschutz
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i m Hinblick auf das Verhältnis von Zweck und M i t t e l untersucht werden. Dabei fällt auf, daß die erfolgsorientierte Bewertung der Handlung durch das Strafrecht derjenigen ähnelt, die der einzelne Täter seiner Handlung zugrunde legte. Sie ist individualistisch und vernachlässigt komplexe Zusammenhänge. I n der Perspektive des Räubers etwa, der sich mittels Körperverletzung ein Schmuckstück beschafft oder des Vergewaltigers, der m i t physischer Gewalt den Geschlechtsverkehr erzwingt, ist Gewalt ein M i t t e l unter anderen, funktional äquivalent dem Geld oder der erfolgreichen Werbung u m die Frau. Da er diese M i t t e l nicht hat, ,benutzt 4 er die Gewalt. Er stellt die eigenständige Bedeutung der Körperverletzung hinter den Erfolg zurück. Gewalt ist i h m quasi ein verfügbarer Stoff, der eingesetzt w i r d wie legale Stoffe. Die strafrechtliche Bewertung bezieht sich i m allgemeinen auf Mittel 7 4 . Sie hebt die Körperverletzung aus der individuellen Zweck/MittelRelation der Menschen heraus. Das Strafrecht hält i m allgemeinen die Täter an ihren M i t t e l n fest. Es bewertet als besonderen Erfolg, was der Täter als Nebenfolge seines Mittels vernachlässigte. Die erfolgsorientierte Bewertung nun folgt der Tendenz des Täters ein Stück weit. Für Binding ist die kompulsiv wirkende Körperverletzung nicht Gewalt. Die erfolgsorientierte Bewertung vernachlässigt die spezifische Bedeutung des Mittels, den besonderen Zwischenerfolg. Sie setzt dem Zweck des Täters einen Gegenzweck entgegen, der aber prinzipiell auf der Ebene des Täterzwecks liegt: Freiheitsschutz versus FreiheitsVerletzung. Die erfolgsorientierte Bewertung bleibt auf der Ebene individualistischer, bloß strategischer Handlungsbewertung. Wie für den Täter ist für Binding die Gewalt nur Zwangsmittel 7 5 . I n der Soziologie w i r d darauf hingewiesen, daß die besondere Bewertung von Handlungsmitteln Kennzeichen komplexer zivilisierter Gesellschaft ist. Je mehr eine Gesellschaft verflochten, je mehr die Existenz der einzelnen gesellschaftlich vermittelt ist, desto weiter können die Nebenerfolge einer Handlung reichen, die dem einzelnen nur M i t t e l zu seinem individuellen Zweck ist. Je mehr zugleich eine Gesellschaft i n relativ eigenständige Bereiche differenziert ist, desto gefährlicher können die Nebenerfolge für diese differenzierte Struktur insgesamt werden 76 . Niklas Luhmann zieht daraus weitreichende Konsequenzen 77 . Die 74 Arzt, Z u m Zweck u n d M i t t e l der Nötigung, Festschrift f ü r Welzel, S. 823, 824 ff. Z u m rechtsphilosophischen Zusammenhang: W. Benjamin, Z u r K r i t i k der Gewalt, S. 43 ff. 75 Z u m Zusammenhang solcher Vorstellung von Recht m i t Darwinismus u n d naturrechtlich begründeter Gewalt vgl. W. Benjamin, S. 42 f. 78 Luhmann, Soziologische A u f k l ä r u n g 1, S. 103, 107 f.; vgl. auch Habermas, Analytische Wissenschaftstheorie u n d Dialektik, i n : Adorno u. a. (Hg.), Positivismusstreit, S. 186 ff.; Adorno, ebd., S. 138 f. (zur Wertfreiheit des »Mittels' Wissenschaft).
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I V . E n t w i c k l u n g u n d bisherige Bestimmungen des Gewaltbegriffs
soziologische Betrachtung des menschlichen Handelns soll »abgekoppelt4 werden vom Selbstverständnis der handelnden Menschen. Wenn die Menschen ihr Handeln i m Verhältnis von M i t t e l n zu Zwecken bestimmen und zwischen beiden noch eine qualitative Differenz und eine Spannung zwischen dem Allgemeinen (Mittel) und dem einzelnen (Zweck) reflektieren, so soll das Handeln soziologisch als Bewirken von Wirkungen erfaßt werden. Dementsprechend fordert Otthein Rammstedt, Gewalt sei allein von ihren kausalen Wirkungen (gemeint ist Körperverletzung) her zu bestimmen 78 . Ob dem zu folgen ist, mag hier dahingestellt bleiben 79 . Festzuhalten bleibt, daß die M i t t e l eine eigenständige Relevanz haben, die i m Erfolg nicht aufgeht und die für das rechtsstaatlich begrenzte Strafrecht i m Vordergrund stehen sollte. Auch die rechtsstaatliche Gesetzeskonkretisierung, die zunächst bei den Einzelheiten des Wortlauts ansetzt und nicht bei teleologischen Leitformeln und Oberbegriffen, ist Ausdruck der Achtung der Differenziertheit der Gesellschaft. Wenn sie durch den strafrechtlichen Eingriff möglichst wenig vereinfacht werden soll, so muß jedes Einzelelement des Tatbestandes auf seine besondere soziale Bedeutung, auf eine Besonderheit der Gesellschaft h i n bestimmt werden. I n diesem Sinn fordert Fr. Müller 8 0 , das Gesetz sei als „sachgeprägtes Ordnungsmodell" zu verstehen und nicht vorab als „Wille". Gegen den erfolgsorientierten Freiheitsschutz ist also einzuwenden nicht nur, daß er die individuelle Handlung grundlos vereinfacht, sondern auch, daß er gesellschaftliche Differenzierungen, auf welche die differenzierten tatbestandlichen Handlungsbeschreibungen bezogen sind, nivelliert. Weitere Einwände gegen die ausschließliche Fixierung auf den einzelnen Willen wurden oben bei der K r i t i k des Rechtsguts Freiheit vorgetragen 81 . Der Wille als ausschließlicher Bezugsrahmen stellt die Gesellschaft als Ansammlung vereinzelter Willenssubjekte vor. Von hier aus sind Delinquenz und gewaltsame Reaktion auf Dauer gestellt. Wenn Menschen naturalistisch als vereinzelte Willenssubjekte begriffen werden, so ist ihre Lernfähigkeit, die auf gesellschaftlichen Verkehr angewiesen ist, ausgeblendet. Der Wille ist ein Verhalten, das grundsätzlich darauf verzichtet zu lernen 82 . Derart reduziert sind die einzelnen prinzi77
Zweckbegriff u n d Systemrationalität, S. 18 ff., 24 ff. Gewalt u n d Hierarchie, S. 132 f. 79 Denn eine solche rein kausale Bewertung der Gewalt steht i m Strafrecht nicht zur Debatte. Gemäß ihren tatbestandlichen Zusammenhängen muß Gew a l t auch als M i t t e l zu Zwecken bewertet werden; dazu unten V. 1. b), c). 80 Methodik, S. 121. 81 Siehe oben I I I . 2. c), d); 3. 82 Deutsch, Politische Kybernetik, S. 328, vgl. auch S. 162 ff. 78
7. Gewalt als Zwangsausübung
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piell aggressiv oder hilflos. Strafrechtliche Sozialkontrolle muß möglichst unbegrenzt sein. Natürlich ist dieses Gesellschaftsmodell i n der monistischen Konzeption nicht ausgeführt; es liegt ihr aber zugrunde, und m i t der naturalistisch vorgegebenen Freiheit legitimiert es die Strafgewalt als unproblematisch. Daß das nicht nur theoretische Spekulation ist, zeigt die tatsächliche Expansion der Gewaltkriminalisierung, die auf den natürlichen Willen fixiert ist. 7. Gewalt als Zwangsausübung a) Rechtsprechung I n der dritten und vorläufig letzten Stufe seiner Ausweitung w i r d der Umfang des Gewaltbegriffs annähernd identisch m i t Zwangsausübung. Diese neueste Entwicklung ist inzwischen so oft beschrieben und k r i t i siert worden, daß hier eine kursorische Erörterung genügt. Die K r i t i k w i r d sich danach ausführlicher auf die Begründung der Ausweitung konzentrieren. 1954 hatte der Bundesgerichtshof i n zwei Entscheidungen 1 den Massenstreik als Gewalt bewertet, dabei freilich die herkömmlichen K r i t e rien noch nicht ganz aufgegeben. Der Massenstreik lähme den gesamten öffentlichen Verkehr und könne daher mindestens wie eine körperliche Einwirkung „empfunden werden" 2 . Dem i n BGHSt 1, 145 (147) entwikkelten K r i t e r i u m widmet das Gericht hier immerhin noch eine psychologisierende Analogie 3 . 1955 ging der Bundesgerichtshof 4 — es ging u m das gleiche politische Programm — darüber hinaus und bewertete den Massenstreik als gewaltsamen Hochverrat u. a. m i t folgender Begründung: „Das Ziel der geplanten Aktionen w a r . . . die Ausschaltung der Bundesregierung und des Bundestages i n seiner durch die Wahlen gegebenen Zusammensetzung. Es sollte also auf diese Verfassungsorgane i n einer Weise eingewirkt werden, die ihre weitere Tätigkeit unmöglich machte. Dazu war die Anwendung von Körperkraft i n irgendeiner Form gegen ihre Mitglieder weder das erforderliche noch das geeignete Mittel. Vorstellungen solcher A r t gehören einer vergangenen Zeit an; die Gegenwart kennt andere und nicht minder wirksame Methoden des gewaltsamen Umsturzes. Eine Auslegung, die für den Begriff der Gewalt i m Sinne des § 80 StGB körperliche Kraftentfaltung fordert, würde also die praktische Bedeutung der Vorschrift weitgehend entwerten. Entscheidend kann nur die Zwangs Wirkung sein. Diese Auffassung steht m i t der Entwicklung i m Einklang, die der Begriff der Gewalt allgemein i n 1 2 3 4
Die Justiz 1954, 431; B G H S t 6, 336 (340). B G H S t 6, 340. Ratz, Methodik, S. 25 f. B G H S t 8, 102 (103).
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I V . E n t w i c k l u n g u n d bisherige Bestimmungen des Gewaltbegriffs
Schrifttum und Rechtsprechung genommen hat (z.B. BGHSt 1, 145)5." Die letzte Bemerkung zur Kontinuität m i t der Rechtsprechung t r i f f t zu hinsichtlich des Merkmals Kraftentfaltung, welches i n der Tat schon durch BGHSt 1, 145 aufgegeben worden war. Dort w a r aber stattdessen eine unmittelbare Körpereinwirkung gefordert worden. Daran fehlt es beim Streik. Indem sie dennoch Gewalt bejahte, w a r die Streikentscheidung neu und hielt sich nur scheinbar i m Rahmen der Präjudizien®. Sie stellt genau genommen nur noch auf Zwangswirkung ab. A l l e formalen Bestimmungen der Gewalt sind aufgegeben. Die „praktische Bedeutung" des § 80 a. F. liegt nach dem Verständnis des Bundesgerichtshofs allein i n der Handlungsfreiheit der Verfassungsorgane. Zugunsten dieses Telos werden nicht nur Vorstellungen aus „vergangenen Zeiten" beiseite geschoben, sondern auch ein Merkmal des gesetzlichen Tatbestandes 7 . Denn nach § 80 a. F. war nicht Zwang gegen die Verfassungsorgane strafbar — dieser ist vielmehr i m politischen Leben normal und i n der Regel legal — sondern Gewalt, eine besondere Form des Zwanges. Auch ist das vom B G H nivellierte K r i t e r i u m »Gewalt4 für die Hochverratsregelung nicht marginal. Es hat eine lange Geschichte, w a r immer wieder Gegenstand gesetzgeberischer Überlegungen und wurde gleichw o h l beibehalten 8 . Erst durch die Änderungs-VO von 1934 wurde auch der Zwang i n § 81 a. F. einbezogen9. Aber die Erweiterung wurde 1949 gerade nicht i n die neue Hochverrats Vorschrift (Art. 143 GG) aufgenommen. Es wurde i m neuen Recht also wieder Gewalt (und Drohung) zum K r i t e r i u m des Hochverrats. Das vom Zwang unterschiedene Gewaltkriterium war also gerade nicht »veraltet 4. Z u beachten ist ein weiteres. Daß der politische Umsturz auch durch „andere Methoden" herbeigeführt werden kann, als sie i m Hochverratsparagraphen pönalisiert sind, hatten vor dem B G H schon die Gesetzgeber erkannt. Deshalb hatten sie 1951 nicht das Gewaltkriterium beim Hochverrat gestrichen, sondern neben dem Hochverrat speziell die Staatsgefährdung (§§ 88 ff. a. F.) pönalisiert. Diese Tatbestände waren bewußt auf die „modernen Methoden" zugeschnitten, wie auch der B G H 1 0 kurz vorher erkannt hatte. Diese Spezialtatbestände wären anzuwenden gewesen. Es wäre der § 90 a. F. zu prüfen gewesen, wo aus5
Ähnliche Betonung der Z w a n g s w i r k u n g schon i n RGSt 13, 50. • Ratz, a.a.O., S. 46 ff. 7 K l u g , Demonstrationsfreiheit, S. 31; ders., Prot. S. 187; Ratz, a.a.O., S. 21 ff., 62 ff. 8 Vgl. F.-C. Schroeder, Der Schutz von Staat und Verfassung, S. 39, 63, 68 ff., 96, 102 f., 107, 120, 137, 158, 170 f., 442 ff. 9 R G B l I , 341; Schroeder, S. 158. 10 BGHSt 7, 226.
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drücklich der Streik aufgeführt war 1 1 . — Gegenwärtig bewerten der BGH 1 2 und weitgehend auch die Literatur 1 3 den Streik als Gewalt. Das Gewalt letztlich Zwang ist, w i r d bestätigt durch die bekannte Entscheidung zur Kölner Straßenbahnblockade (Laepple-Urteil) 14 . Ihre allgemeine Bedeutung liegt nicht i n der Bewertung des Wegeversperrens als Gewalt; das hatten schon das RG 1 6 und das BayObLG 1 8 angenommen und dabei auf das K r i t e r i u m ,physischer Zwang" abgestellt. Das neue am Laepple-Urteil ist, wie Schäfer 17 ausführlich gezeigt hat, die Begründung, die das Wegeversperren und noch vieles andere als Gewalt zu bewerten ermöglicht. Gewalt ist danach das In-Lauf-Setzen eines „psychisch determinierten" Prozesses bei anderen Menschen dadurch, daß ihnen erhebliche Nachteile angedroht werden 18 . Der Straßenbahnführer muß halten, w e i l er sonst einen Totschlag beginge. Das „muß" ist das „letztlich entscheidende" K r i t e r i u m der Gewalt i n dieser Konzeption. Etwas müssen ist Zwang, Nötigung. Was die Gewalt davon abheben sollte, ist der Entscheidung nicht zu entnehmen. Das Tatbestandsmerkmal ,Gewalt* ist annähernd negiert 19 . Die Rechtsprechung hat sich dem B G H inzwischen angeschlossen20. Z u unterscheiden ist nach dem B G H nur noch nach der Intensität des Zwanges. Ist diese gering — die Maßstäbe bleiben dabei vage — so liegt keine Gewalt vor. Diese Restriktion hätte man auch aus dem allgemeinen Bagatellprinzip entnehmen können. Des Gewaltbegriffs bedarf es dafür nicht. M i t dem Laepple-Urteil sind wiederum, und nun explizit auch über § 81 hinaus, alle Bestimmungen der Gewalt als einer spezifischen Form des Verkehrs zwischen Menschen aufgegeben. Alles konzentriert sich zunächst auf den rein kausalen Erfolg. Differenzen sind 11 Vgl. Geilen, Parlamentsnötigung, S. 76 f.; Abendroth, Arbeiterklasse, S. 101. 12 B G H S t 23, 46 (50). 13 Z. B. SK-Horn, § 240 Rn 14, 48; Schönke / Schröder / Eser, R n 11 v o r § 234, § 240 Rn 26; Dreher / Tröndle, § 81 Rn 8; Schönke / Schröder / Stree, § 81 R n 4; Knodel, Der Begriff, S. 122; Maurach / Schroeder, Strafrecht B T T b 1, S. 127; anders: Geilen, Festschrift f ü r Mayer, S. 448; Blei, J A 1970, 142; Niese, Streik u n d Straf recht, S. 26; differenzierend SK-Rudolphi, § 105 Rn 10. 14 B G H S t 23, 46; ähnlich O L G Celle N J W 1970, 206 (207). 15 RGSt 45, 153; RG H R R 42 Nr. 193. 16 N J W 1963, 1261; N J W 1969, 63, 1127; auch O L G Stuttgart N J W 1969, 1543. 17 L K § 240 Rn 16—20, 29. 18 B G H S t 23, 46 (54). 19 Klug, Demonstrationsfreiheit, S. 30 f.; Ratz, Methodik, S. 36f.; auch nach Schönke / Schröder / Eser, Rn 7 v o r § 234 ist letztlich allein die Z w a n g s w i r k u n g entscheidend. 20 L G B e r l i n Wissenschaftsrecht 1974, 255 f. (zustimmend Mertins, G A 1980, 62); O L G K ö l n N J W 1979, 2056; O L G H a m m VRS 80 (Bd. 59), 426 f.; B a y O b L G VRS 81 (Bd. 60), 188 (zur Straßenblockade); K G JR 1979, 163; K G Urt. v. 1. 2. 1978 — (4/1 a) Ss 121/77 (84/77) m. w . Nachw.
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nur noch auf quantitativer Ebene (mehr oder weniger Zwangsintensität) möglich. Allerdings w i r d m i t diesem Verweis aufs Quantitative — hier von K r i t e r i u m zu reden, wäre euphemistisch — die Spezifik der Verkehrsformen nicht irrelevant. Ihre Bewertung w i r d verdeckt und unkontrollierbar 2 1 . Nachzutragen bleibt, daß die wichtigsten Schübe der Expansion des Gewaltbegriffs i m Kontext politischer Spannung und Mobilisierung standen. Das schlägt sich i n der Methode nieder. Das konsequente Beiseiteschieben alter Vorstellungen über Gewalt, die unvermittelte Teleologie, die gegen positivrechtliche Differenzierungen durchschlägt, diese methodischen Neuerungen waren objektiv Elemente von politischem Kampf. Darauf w i r d noch einzugehen sein. Neuerdings hat der B G H 2 2 i m Anschluß an die Rechtsprechung des Kammergerichts (s. o. Fn. 20) Gewaltnötigung angenommen, wo Studenten durch L ä r m (Geschrei, Gebrüll, Pfeifen) Dozenten dazu brachten, ihre Vorlesungen abzubrechen. Daß diese Nötigungen ärgerlich und rechtswidrig waren, begründet noch nicht, daß das Geschrei strafbare Gewalt war. I m übrigen reicht solche Erweiterung des Gewaltbegriffs über die Situation der Vorlesungsstörung hinaus. I n der Begründung betont der B G H zunächst, der Gewaltbegriff dürfe nicht gelöst werden von den Kriterien ,Einwirkung m i t Kraftaufwand' und ,als körperlich empfundener Zwang' 2 2 a . Was der B G H dann jedoch m i t diesen Formulierungen erfaßt, zeigt, daß sie praktisch die Strafbarkeit wenig begrenzen und die vom Laepple-Urteil eingeschlagene L i n i e kaum ändern. Der Kraftaufwand muß nicht erheblich sein; BGHSt 23, 46 ff. (SichHinsetzen ist Gewalt) w i r d bestätigt: die für das Lärmen aufgewendete K r a f t reicht aus für Gewalt. Praktisch nähert sich damit das Merkmal ,Kraftaufwand' einem Scheinkriterium, wie schon Knodel voraussagte. Immerhin w i r d durch dieses Merkmal fraglich, inwieweit Streik und sonstige Unterlassungen noch als Gewalt bewertet werden können 2215 . Das zusätzliche K r i t e r i u m ,als körperlich empfundener Zwang' ist problematisch, w e i l damit nicht mehr bestimmt wird, was Gewalt i m sozialen Zusammenhang ist, sondern das zufällige subjektive Empfinden 21 Die quantitative Entscheidung ist nämlich nicht ohne (verdeckten) Durchgriff auf die soziale Bewertung der spezifischen Form des Zwanges möglich; dazu unten c). Die Intensität u n d „Wucht" des Massenstreiks erläutert L K Willms, § 81 R n 19. 23 Beschl. v. 8. 10. 1981 — 3 StR 449/450/80. Der Beschluß erging nach A b schluß der vorliegenden A r b e i t u n d w a r bei Drucklegung noch nicht veröffentlicht. 22a Ebenso B G H NStZ 1981, 218. 22 *> Vgl. B G H NStZ 1981, 218 zur Streikentscheidung B G H S t 8, 102 ff. Allerdings w i r d die Entscheidung B G H S t 23, 46 (50), die die Gewaltqualität des Streiks f ü r möglich hielt, i n den beiden neuen Entscheidungen des B G H ausdrücklich bestätigt.
7. Gewalt als Zwangsübung
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(unterschiedliche nervliche Auswirkungen etc.) zur vagen Orientierung wird. G. Geilen 23 hat auf die darin steckende Rechtsunsicherheit und auf die Gefahr der Auflösung des Gewaltbegriffs hingewiesen. Seine Befürchtung w i r d durch die neue Entscheidung des B G H übertroffen. Diese verzichtet nämlich ganz darauf, irgendwelche nervlichen oder sonst körperlichen Wirkungen des Lärms bei den Genötigten festzustellen. Daß sie irgendwie nervlich besonders tangiert waren, ist für die Gewaltnötigung also nicht erforderlich. Damit geht diese Entscheidung hinaus über die i n den SchreckschußFällen (RGSt 60, 158; 66, 355) und i n BGHSt 23, 126 ff. bezeichnete Grenze der Gewalt. Dort hatte der Täter eine durchgeladene, entsicherte Schußwaffe aus nächster Entfernung gegen eine Frau gerichtet; für diese war die Situation wegen der Todesdrohung äußerst gespannt; m i t Grund konnte der B G H i n diesem speziellen Fall annehmen, die Genötigte sei i n starke seelische Erregung versetzt und es seien i h r gesamtes körperliches Befinden und damit auch die Voraussetzungen ihrer Freiheit erheblich beeinflußt worden. I n der Entscheidimg zur Vorlesungsstörung nun w i r d nach — auch geringsten — nervlichen Erregungen der Genötigten nicht gefragt. Warum gleichwohl angenommen wird, der Zwang sei von ihnen „als körperlich empfunden" worden, ist der Entscheidung nicht sicher zu entnehmen. Jedenfalls kann nicht als selbstverständlich unterstellt werden, die Dozenten seien durch den L ä r m so stark erregt gewesen, daß i h r gesamtes körperliches Befinden und dadurch auch die körperlichen Voraussetzungen ihrer Freiheit erheblich beeinflußt worden seien. Ohne weitere Feststellungen könnte — wenn überhaupt — allenfalls aufgrund der Situation eine leicht gesteigerte Nervosität unterstellt werden. Wenn dies aber schon ausreichen sollte, u n d wenn zusätzlich unterstellt werden sollte, dadurch seien die körperlichen Voraussetzungen der Freiheit der Dozenten erheblich beeinflußt worden, so würde auch das K r i t e r i u m ,als körperlich empfundener Zwang* zum Scheinkriterium, denn enervierende Situationen sind normal. Dem B G H scheint es aber gar nicht anzukommen auf das Merkmal der nervlichen Betroffenheit; er erwähnt sie nicht einmal, sondern stellt stattdessen darauf ab, daß die Genötigten dem L ä r m „nicht oder nur m i t erheblicher Kraftentfaltung begegnen" konnten 2 3 3 . Dieser Hinweis scheint eine Parallele zu den Fällen des Einsperrens und Wegversperrens anzudeuten; dort kann der Genötigte die i h m entgegengestellten Kräfte nicht oder nur unter erheblichem eigenem Kraftaufwand über23 23a
J Z 1970, 521 (522, 526 ff.). I m Anschluß an K r e y JuS 1974, 418 (422); dazu oben S. 118 f.
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winden und kann sich deshalb nicht fortbewegen, wie er w i l l . Die genötigten Dozenten waren jedoch weder i n ihrer Bewegungsfreiheit noch i n ihrer sonstigen Handlungsfreiheit derart eingeschränkt; sie konnten weggehen, bleiben, reden. Es kamen nur ihre Worte nicht bei den A n gesprochenen an wegen des Lärmes. A l l e i n der Erfolg ihrer Handlungen war vereitelt. Insofern konnten sie i n der Tat ,der Einwirkung nicht begegnen'; ihre Worte blieben erfolglos, unverständlich. Dies als K r i t e r i u m der Gewalt verallgemeinert bedeutet: Gewalt liegt vor, wenn durch averbale Störungen der äußere Erfolg der Handlung des Genötigten vereitelt wird . Wenn die Bedeutung der Formulierung ,als körperlich empfundener Zwang' derart ausgeweitet wird, so bezeichnet sie kaum etwas anderes als den »psychisch determinierten Prozeß' der nach BGHSt 23, 46 ff. Gewalt indizieren soll: Die Dozenten erkannten, daß sie mit ihren Worten dem L ä r m unterlegen waren, daher brachen sie die Veranstaltungen ab. Gewaltnötigung läge demnach auch vor, z. B. wenn ein Telefonanruf beim Angerufenen technisch gestört und der Anrufer dadurch zum A u f geben veranlaßt würde; ähnlich beim Fernsehempfang, bei Störungen der Briefzustellung, der Informations- und Befehlsübermittlung i n Organisationen, generell bei averbalen äußeren Kommunikationsstörungen; darüber hinausgehend z. B. auch bei Sachentziehung m i t Nötigungswirkung. Die für derartige Probleme sachbezogenen Sabotagedelikte würden durch § 240 überlagert. Wenn Gerichtsverhandlungen durch Lärm gestört und infolgedessen unterbrochen werden, so würden die dafür speziell vorgesehenen Maßnahmen gemäß §§ 177 ff. GVG durch § 240 nivelliert, denn es läge stets Gewaltnötigung vor. A u f die diesbezügliche eingehende K r i t i k Geilens 2815 kann hier verwiesen werden. I m übrigen könnte m i t der Entscheidung zur Vorlesungsstörung die Grenze des A r t . 103 Abs. 2 GG überschritten sein. Nicht-Juristen werden es wohl schwer nachvollziehen können, daß ein nicht besonders enervierendes Geschrei als Gewalt bezeichnet wird. b) Literatur Der i n den zitierten Entscheidungen entwickelte Gewaltbegriff w i r d seit längerer Zeit i n den Kommentaren Dreher / Tröndle 2 4 und Schönke / Schröder 25 vertreten, ferner von Maurauch / Schroeder 26 , Eser 27 und i m 23
t> Festschrift f. Mayer S. 445 (461 f.). § 240 Rn 3 f. 25 Rn 7 ff. vor § 234. 28 Straf recht B T T b 1, S. 124; Maurach, J Z 1970, 70. 27 Strafrecht I V , S. 92 ff. (allerdings zweifelnd). M
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wesentlichen auch von Horn u. a. 28 . Die ausführlichste Begründung hat Knodel 2 9 gegeben. Seine Konzeption ist strikt am Rechtsgut Freiheit orientiert. Sie vereinigt Elemente des dualistischen und des monistischen Freiheitsschutzes. Einerseits nimmt Knodel Bindings rigide Orientierung am Willen des Genötigten auf, indem er fast alle Bestimmungen der Gewalt als spezifische Form der Freiheitsbeeinträchtigung verwirft. Die Verkehrsformen zwischen den Menschen treten zurück. Richtpunkt der Begriffsbildung ist das vereinzelte Willenssubjekt — auch i n der Methode der Gesetzeskonkretisierung: sie ist strikt teleologisch erfolgsorientiert. Der Schutzzweck verdrängt alle (dualistischen) Begrenzungen. Andererseits lehnt Knodel m i t den Vertretern der dualistischen Konzeption die restriktiven Elemente i n Bindings Ansatz, die psychologisch begründete Beschränkung auf vis absoluta, ab. Sein Gewaltbegriff umfaßt auch Teile der vis compulsiva 80 . Bei der vis absoluta führt Knodel entsprechend dem besonderen Wert der Freiheit eine zusätzliche Erweiterung ein. Nach Binding betraf die vis absoluta nur die Fähigkeit, „seinen Körper seinem Willen zu bestimmten Zwecken dienstbar zu machen" 31 . Nach Knodel soll nun nicht nur diese Bewegungsfreiheit geschützt werden, sondern auch die allgemeine Handlungsfreiheit. Auch wenn jemandem das Fahrzeug, m i t dem er fahren wollte, weggenommen oder unbrauchbar gemacht wird, soll nach Knodel Gewalt vorliegen 32 . Nach den früheren Bestimmungen der vis absoluta wäre das nur anzunehmen gewesen, wenn der Weg versperrt wurde. Allerdings ist zuzugeben, daß die Übergänge fließend sind. Denn, wem die Fahrstraße versperrt wird, der kann evtl. zu Fuß weitergehen 33 . N i m m t man Knödels Definition der vis absoluta — Unmöglichmachen der Willensbetätigung — ernst, so ist stets Gewalt anzunehmen, wenn jemandem irgendwo eine Handlung absichtlich durchkreuzt w i r d 3 4 , 28 S K - H o r n , § 240 Rn 9 ff., 23 ff. (eingeschränkt auf unmittelbare vis absoluta); Eb. Schmidt, J Z 1969, 395 (396); Wessels, Strafrecht B T 1, S. 43 meint, der neue Gewaltbegriff erziele weitgehend befriedigende Ergebnisse. Der E 1962 hält eine Ausweitung des Gewaltbegriffs über die K ö r p e r e i n w i r k u n g hinaus dort für möglich, w o nicht Einzelne, sondern z. B. der Staat betroffen sind (Begr. S. 121). Eine solche Erweiterung speziell beim A n g r i f f auf den Staat w a r schon von B i n d i n g (Lehrbuch, 2. Bd., S. 439 f.) vorgeschlagen w o r den. 29 Der Begriff, insbes. S. 58 ff. 30 A.a.O., S. 77 ff. Die Definition des Gewaltbegriffs findet sich auf S. 59. 31 Lehrbuch, S. 81 (darauf hat Geilen [Festschriff f ü r Mayer, S. 461] hingewiesen); dementsprechend sah B i n d i n g i n § 239 n u r einen Spezialtatbestand des § 240 (a.a.O., S. 96). 32 Begriff, S. 96 ff. 33 Vgl. auch Jakobs, Festschrift f ü r Peters, S. 77 F n 33. 34 Geilen, Festschrift f ü r Mayer, S. 460 f. Z u den Einschränkungsversuchen Knödels: Geilen, a.a.O., S. 73, 86; Haffke, ZStW 84, 48 f.
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Keller
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wenn der Straßenbahnführer zwar sich noch fortbewegen, aber eben nicht mehr seine Fahrgäste transportieren kann, wenn der Hochschullehrer beliebig handeln kann, nur wegen des Lärms seine Hörer nicht mehr erreichen kann usw. Da der ökonomische und politische Bereich dieser Gesellschaft konstituiert sind durch häufiges Unmöglichmachen der Willensbetätigung, was zugleich vieles möglich macht, stünden sie nach Knodel weitgehend unter Strafdrohung 35 . (Die Verwerflichkeitsklausel würde die Strafdrohung auch nur z. T. eingrenzen, denn sie birgt ein Interpretationsrisiko.) Die differenzierten Sanktionen des GWB w ü r den obsolet. Das ist, wie Geilen zeigt, nur ein Beispiel für viele Nivellierungen und Uberlagerungen. I n Knödels Konzeption steckt die Tendenz, sachbezogene spezielle Regelungen gesellschaftlicher Teilbereiche durch diffuse Strafdrohungen zu nivellieren 3 6 , eine Tendenz zur Totalisierung der Strafdrohung. Das zeigt sich auch i m Bereich der vis compulsiva, wo Knodel die Gewalt definiert als „gegenwärtige Zufügung empfindlicher Übel", durch die dem zu Nötigenden „die Freiheit der Willensentschließung genommen w i r d " . Die Definition ist entwickelt anhand eines Vergleichs der Nötigungsmittel bei § 240. Geilen 37 und Haffke 3 8 haben gezeigt, daß dadurch die Differenzierung von Drohungen in anderen Vorschriften des StGB nivelliert wird 3 9 . I m übrigen sind auch von dieser Definition wieder weite Bereiche gesellschaftlichen Lebens erfaßt, weil die motivierende gegenwärtige Zufügung empfindlicher Übel ebenso konstitutiv für das soziale Leben ist wie das Unmöglichmachen von Handlungen. Else Koffka 4 0 hat darauf hingewiesen, daß die Sanktionen des UWG, wiederu m eine besondere Regelung, weitgehend nivelliert würden zur Nötigungsstrafe. Diese Expansion des Gewaltbegriffs muß und kann nicht dazu führen, daß weite Bereiche gesellschaftlichen Lebens faktisch kriminalisiert werden. Knodel verweist auf die flexible Verwerflichkeitsklausel des § 240 Abs. 2 als Korrektiv 4 1 . Auch hat er bei vis compulsiva das Korrekt i v ,empfindlich' eingebaut. Zusätzlich könnte man § 153 StPO heranziehen 42 . Problematisch ist die über weite gesellschaftliche Bereiche verhängte unbestimmte Latenz der Kriminalisierung, die als solche schon 35
Vgl. das von Haffke (S. 52 f.) gebildete Beispiel. Geilen, Festschrift f ü r Mayer, S. 461 f. 37 S. 456 f., 459 f., 463 ff. 38 S. 66. 39 H o r n (SK § 240 Rn 15) macht das zum Programm. Weitere Probleme der Knodelschen Begriffsbildung zeigt Haffke, S. 64 f. 40 JR 1964, 39. 41 Das allerdings nicht i n allen Gewaltstraftatbeständen enthalten ist. 42 Darauf weist Schäfer ( L K § 240 Rn 43) hin. 36
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eine Totalisierung des Strafrechts enthält, denn indem sie besondere Regelungen für besondere soziale Bereiche nivelliert, w i r d unter dem Aspekt des Straf rechts die Gesellschaft latent vereinheitlicht. Sinn der rechtsstaatlich differenzierten Regelungen ist aber die bestimmte A n erkennung von gesellschaftlicher Besonderheit. Gerade i n der relativen Trennung von Handlungssphären können die einzelnen Freiheit realisieren. Das für die einzelnen aus der Unbestimmtheit der Strafbarkeitsvoraussetzungen entstehende Risiko ist nur eine Konkretisierung der Totalisierungstendenz auf der gesellschaftlichen Ebene. Die Zweckrationalität ist i n dieser Konzeption auf ihrem Höhepunkt, methodisch wie inhaltlich. Methodisch hat die Teleologie das Primat. Inhaltlich w i r d die qualitative Spezifik zwischenmenschlicher Verkehrsformen ebenso radikal nivelliert — Gewalt ist nicht unterschieden von normalem Verhalten — wie die vermittelte Verkehrsform der Rechtsstaatlichkeit zwischen Staat und Bürger. Freilich zeigen sich hier auch die Grenzen des Programms der Zweckrationalität. Eine Gesellschaft von Vereinzelten, die nur ihren einzelnen Zwecken folgen, hält nicht zusammen. Eine Moral ist notwendig. Daß diese freilich i m gesellschaftlichen Verkehr der Individuen hergestellt werden könnte, ist i m Konzept der Zweckrationalität nicht vorgesehen. Denn der vereinzelte Wille ist regressiv. Unter diesem Aspekt ist vernünftiges Zusammenleben undenkbar. Was moralisch und was verwerflich ist, w i r d ggf. hoheitlich, kasuistisch bestimmt. c) Sozialadäquater
Freiheitsschutz
Die vorangegangene Darstellung w i r d der neuen Entwicklung allerdings nicht gerecht. Immerhin wendet sie sich ab vom naturalistischen isolierten Willen. Er ist nicht mehr das zentrale Entscheidungskriterium. Durch die Auflösung des herkömmlichen Begriffs physischer Gewalt w i r d die Frage der objektiven Zurechnung verschoben von der Feststellung der Körperlichkeit der Gewalt zu Generalklauseln wie Verwerflichkeit, Sittenwidrigkeit, Sozialwidrigkeit des Verhältnisses von M i t t e l und Zweck 43 , Intensität des Zwanges 44 , Wahrnehmung sozial normaler Interessen 45 , Abschneiden einer rechtlich garantierten Verhaltens43 B G H S t 17, 328; 18, 389; Arzt, Festschrift f ü r Welzel, S. 834 ff.; ders., Strafrecht B T L H 1, S. 191 ff.; LK-Schäfer, § 240 Rn 59; SK-Horn, § 240 Rn 3, 36 ff., 40; Schönke/ Schröder /Eser, § 240 Rn 15 ff.; Eser, Strafrecht I I I , S. 140 ff.; D r e h e r / T r ö n d l e , § 240 Rn 8; Knodel, Begriff der Gewalt, S. 66f.; M a u r a c h / Schroeder, S. 130; Krey, JuS 1974, 423; Busse, Nötigung, S. 144; Lackner, § 240 A n m . 6 a; Kohlrausch / Lange, § 240 A n m . I ; Eilsberger, JuS 1970, 167; Ratz, Methodik, S. 38 ff. 44 B G H S t 23, 46 (50, 54); B G H L M Nr. 6 zu § 81. 45 Haffke, ZStW 84, 58 f.
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alternative, wobei das rechtlich Garantierte durch Güterabwägung i m Einzelfall zu erkennen sein soll 46 . Gemeinsam ist solchen Klauseln, daß Freiheit nun programmatisch i n sozialen Zusammenhängen bewertet und geschützt wird. Es geht u m die soziale Adäquanz von Gewalt und Freiheit 4 7 . I m einzelnen ist vieles streitig, insbesondere hinsichtlich der Bedeutung der wichtigsten Sozialadäquanzklausel des § 240 Abs. 2 48 . Darauf kann i m Zusammenhang des vorliegenden Themas nicht eingegangen werden. Betritten w i r d auch, daß § 240 Abs. 2 bei Gewalt anwendbar sei. Gewalt soll die Rechtswidrigkeit stets indizieren. Aber auch die das annehmen 49 , können (sofern sie nicht Gewalt wie früher verhaltensorientiert bestimmen 50 ) die Einführung einer flexiblen Sozialadäquanzklausel nicht vermeiden 51 . Sie w i r d dann i n den Gewaltbegriff hineinverlagert, was bei einigen Lösungen zu einer Einschränkung der Gewaltstrafbarkeit führt. Der Bundesgerichtshof folgt dem weiten m o dernen 4 Gewaltbegriff und i m Ergebnis auch der Zweck/Mittel-Relation des § 240 Abs. 2 oder ähnlichen Gesichtspunkten 52 . Zwar hat er i n der Entscheidung BGHSt 23, 46 (54 f.) der Gewalt eine unrechtsindizierende Bedeutung zuerkannt, § 240 Abs. 2 insoweit also abgelehnt. Aber das stattdessen herangezogene quantitative K r i t e r i u m der Intensität des Zwanges 53 dürfte sich kaum ohne Ergänzung zur Eingrenzung des strafbaren Zwanges eignen. Denn welche Intensität den Zwang zur Gew a l t macht, kann nicht rein quantitativ bestimmt werden. Die entscheidende Zwangsintensität etwa bei Behinderungen zwischen Autofahrern kann nicht ohne Rücksicht auf das i m Straßenverkehr Normale festgestellt werden. Und die beim Streik nach B G H entscheidende Zwangsintensitent muß nach ganz anderen Standards bestimmt werden als beim Zwang i m Straßenverkehr. Das quantitative K r i t e r i u m des B G H verweist also seinerseits wieder auf die Einschätzung der qualitativen 46
v. Heintschel-Heinegg, S. 236, 219. Lenckner, JuS 1968, 254; Zipf, ZStW 82, 653; Maurach / Schroeder, a.a.O., 129; Janknecht, G A 1969, 33 (36 ff.); Arzt, a.a.O., S. 835; ders., Strafrecht BT, a.a.O., S. 191; Roxin, JuS 1964, 373, 375. Die Bezeichnung Sozialadäquanz paßt nicht, wenn man m i t Welzel (Lehrbuch, S. 326) § 240 Abs. 2 der Rechtswidrigkeit zuordnet u n d die Sozialadäquanz dem Tatbestand (Welzel, a.a.O., S. 57), Die Gesellschaftsbezogenheit des Rechtsguts Freiheit betonen auch Eser (Wahrnehmung berechtigter Interessen, S. 46 f.), K r e y (JuS 1975, 421), Tiedemann (JZ 1969, 721), Schmidhäuser (Strafrecht 9/38). Nach Eser (a.a.O., S. 47) und Tiedemann soll daher bei § 240 der § 193 anwendbar sein; ablehnend Krey, a.a.O., S. 422; ähnlich Schmidhäuser, a.a.O. 48 Vgl. Hansen, Nötigungsunrecht; Arzt, Festschrift f ü r Welzel, S. 823 ff. 49 B G H S t 23, 46, 54 f.; Haffke, ZStW 84, 43, 47, 55ff.; Calliess, Begriff der Gewalt, S. 14 f.; v. Heintschel-Heinegg, S. 232 f. 50 Calliess, S. 32. 51 Vgl. Haffke, a.a.O.: ,sozialnormale Interessen'; v. Heintschel-Heinegg, a.a.O. 52 B G H S t 18, 389 (392 f.). 63 Vgl. auch B G H L M Nr. 6 zu § 81. 47
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sozialen Zusammenhänge der Freiheit 5 4 . Das quantitative K r i t e r i u m hat allenfalls die Funktion, dies zu verdecken. Faktisch geht es auch hier um Sozialadäquanz. Repräsentativ für die h. M. 5 5 dürfte also derjenige Typ sozialadäquaten Freiheitsschutzes sein, der sich ergibt aus dem weiten Gewaltbegriff i n Verbindung m i t der Verwerflichkeitsklausel des § 240 Abs. 2. Davon soll i m folgenden ausgegangen werden. Die Sozialadäquanzbewertung bezieht sich dabei auf die sozialen Zusammenhänge der jeweiligen konkreten Gewaltart, der Beeinflussung der Willensfreiheit und evtl. des abgenötigten Verhaltens sowie auf die Relation des jeweiligen Mittels zum Zweck 56 . Jedenfalls müssen die Nötigungshandlung und die Freiheit des Genötigten bewertet werden nach den informellen Normen des Handelns i n den verschiedenen sozialen Handlungsfeldern. Geschützt w i r d also nicht mehr — und darauf kommt es an — ein Freiraum als quasi exterritoriale Zone i n der Gesellschaft, sondern Freiheit, die sich i n der Intersubjektivität des sozialen Handelns verwirklichen soll und zwar i n all denjenigen Handlungsformen, die nicht verboten sind. Wenn einzelne Handlungsformen verböten sind 57 , so sind andere zugleich freigestellt. Ihnen bleiben die Individuen »ausgesetzt'. A u f derartige Handlungen müssen sie sich ggf. einlassen. D . h . schutzwürdige Freiheit soll sich i m gesellschaftlichen Verkehr, nicht i n Ausgrenzung realisieren. Sie ist „immer i n Funktion" 5 8 . Der isolierte Wille ist nicht mehr wie bei Binding das allein entscheidende Kriterium. Die strafrechtliche Bewertung kann auf die Bedingungen des gesellschaftlichen Zusammenhalts Rücksicht nehmen. Das ist das Neue und Sozialadäquate dieser Konzeption. d) Sozialadäquanz , Generalprävention , Konformismus Genügt die Konzeption der Sozialadäquanz ihrem eigenen Anspruch? Wenn sie Freiheit schützen soll, dann wie gesagt, diejenige Freiheit, die i n nichtpönalisierten, i n legalen sozialen Handlungen verwirklicht wird. Die Konzeption verzichtet aber auf eine rechtsstaatlich präzise Bestimmung der strafbaren und der straffreien Handlungen. Auch über den nachträglich für straffrei und legal erklärten Handlungen schwebt i n actu latente Strafgewalt. Gibt es Freiheit unter latenter Strafgewalt? 54
So auch Hansen, Nötigungsunrecht, S. 157 ff. Eser, Straf recht I I I , S. 139, 141; Schönke / Schröder / Eser, § 240 Rn 24 c; Dreher / Tröndle, § 240 Rn 8 weisen darauf hin, daß die A n w e n d u n g des § 240 Abs. 2 wegen der Weite des Gewaltbegriffs u. U. unausweichlich ist; Krey, JuS 1975, 421 f.; Tiedemann, JZ 1969, 723. 56 Z u r engen u n d weiten Zweck/Mittel-Relation Arzt, Festschrift f ü r W e l zel, S. 826 ff., 828 ff. 57 Das betont besonders Arzt, a.a.O., S. 834 ff. 68 Welzel, ZStW 58, 491 (514); ders., Lehrbuch § 10 I V ; Roxin, JuS 1964, 374. 55
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Erdrückt nicht das unkalkulierbare Bestrafungsrisiko die Freiheit? Vorab kann hier außer Betracht bleiben, ob etwa den Bürgern die mögliche Bestrafung ein bloß äußerliches „soziales Risiko" sei. Solche Indifferenz der Bürger gegenüber dem Strafrecht spräche nicht für dessen soziale Angemessenheit 59 . Strafrecht hat i m Rechtsstaat diejenige Freiheit zu schützen, die i m Bewußtsein ihrer Legalität ausgeübt wird. Dann aber liegt die Annahme nahe, daß latente Strafgewalt die Individuen einschüchtert, i h r Handeln zum Konformismus drängt. Das entspricht auch dem generalpräventiven Zweck der Strafdrohungen. Sie sollen u. a. den Bürgern die Lust an kriminellen Handlungen nehmen. Sind sie damit erfolgreich, so werden sie, wo nicht klar ist, was kriminell und verboten ist, die Bürger auch von denjenigen Handlungen abhalten, die möglicherweise verboten sind. Allerdings ist es nicht Gesetzestreue, die dann! aufgedrängt wird, w e i l kein präzises Gesetz vorhanden ist, sondern optimale Anpassung an alle diejenigen eingelebten Verhaltensmuster , von denen man sicher sein kann , daß sie nicht pönalisiert werden* 0, also Konformismus, das Gegenteil von Freiheit 6 1 . Ob der sozialadäquate Freiheitsschutz solche Tendenzen fördert, ist eine u. a. empirische Frage, die hier kaum beantwortet werden kann. Sie kann aber ein Stück weit geklärt werden, wenn die leitenden theoretischen Annahmen dieses Konzepts genauer untersucht werden. Zunächst einmal liegen der neuen Gewaltstrafbarkeit die Annahmen zugrunde, die schon i m Zusammenhang des Dualismus und des Monismus diskutiert wurden. Sie vereinigt beide. Knodel hat eine neue Begründung hinzugefügt. 8. Freiheit als objektiver Wert Das Strafrecht soll die i m Grundgesetz fixierten Werte schützen — das ist eine verbreitete Meinung 1 . Träfe sie zu, so könnte darin eine weitere Begründung des Rechtsguts Freiheit stecken: Die Verfassung 59
Maurach / Zipf, Strafrecht A T T b 1, S. 29. Z u r Voraussehbarkeit folgenorientierter Entscheidungen: Luhmann, Rechtssystem, S. 35. 61 Die konformierende W i r k u n g der Generalprävention hat eindringlich u n d affirmativ Carl Schmitt dargestellt i n : Der Leviathan i n der Staatsrechtslehre des Thomas Hobbes, S. 115 ff. 1 Zipf, K r i m i n a l p o l i t i k , S. 68; Knodel, Der Begriff, S. 8, 71; differenzierter: Sax, Grundrechte III/2, S. 910 ff.; Schönke / Schröder / Eser, Rn 23 vor § 1; anscheinend auch Eilsberger, JuS 1970, 321 (322); v. Heintschel-Heinegg, Diss., S. 211; von verfassungsrechtlicher Seite: B V e r f G J Z 1975, 209 (zu § 218); Kriele, ebd., S. 222; Maunz / D ü r i g / Herzog, A r t . 2 A n m . 21 ff.; ausführlich: Häberle, Wesensgehaltsgarantie, S. 25 ff.; zurückhaltend Tiedemann, Tatbestandsfunktionen, S. 25 ff., 28 ff.; Engisch, Einführung, S. 192 f.; ablehnend: Sondervotum zu B V e r f G J Z 1975, 209, ebd. S. 215; Calliess, Theorie, S. 127 f.; Denninger, J Z 1975, 547; K ü h l , G A 1977, 356 ff.; Schünemann, Unterlassungsdelikte, S. 40; Busse, Nötigung, S. 59 f.; s. a. unten S. 169 F n 14, S. 170 Fn. 17. 60
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schützt i n A r t . 2 Abs. 1 und 2 S. 2 GG die individuelle Freiheit 2 . Die Verfassung statuiert eine „objektive Wertordnung" 3 , die sich in allen Gesetzen ,niederschlägt' und bei deren Auslegung zu beachten ist. Folglich, so könnte man meinen, ist beim strafrechtlichen Gewaltbegriff der Verfassungswert ,Freiheit 4 als Rechtsgut einzusetzen. Knodel 4 hat m i t dieser Argumentation die Erweiterung der Gewaltkriminalisierung begründet. a) Zur Bedeutung von objektiven Werten Die Berufung auf den objektiven Wert der Freiheit hat einige Plausibilität. Das Grundgesetz enthält Normen, die schwer oder gar nicht zu ändern sein sollen. Offenbar sind sie besonders wichtig, und zumindest hinsichtlich der Freiheit dürfte darüber auch ein ungefährer Konsens bestehen. Es liegt nahe, sie gründlich allenthalben durchzusetzen, also auch mittels Strafgewalt unmittelbar die Freiheit als ein Grundrecht zwischen den Bürgern zu schützen. Das ist der K e r n der o b j e k tiven Werte': Sie funktionieren die ursprünglich gegen den Staat gerichteten Grundrechte um, so daß sie auch zwischen den Bürgern gelten und nun durch den Staat zu schützen sind. Die bestimmte Relation Staat/ Bürger w i r d nivelliert, der objektive Wert setzt sich auch i n der gesellschaftlichen Sphäre durch und begründet Staatsgewalt. Kurz: die Grundrechte i. S. von objektiven Werten begründen Strafgewalt gegen Bürger. Bevor derart der strafrechtliche Freiheitsschutz verfassungsrechtliche Sanktion erhält, sollen die damit zusammenhängenden Fragen vorgestellt werden: Sind Grundrechte auch für die Beziehungen der Bürger untereinander relevant? Können Grundrechte Strafgewalt begründen und nicht nur begrenzen? Kann der grundrechtliche Wert ,Freiheit' auch dort m i t Strafgewalt durchgesetzt werden, wo das positive Strafrecht keine Begründung enthält? Ist das richterliche Urteil, das wegen der Unbestimmtheit des Wertes ,Freiheit' nun kaum gebunden ist, eine ausreichende Legitimation der Strafbarkeit i n der Demokratie? — Generell ist zu berücksichtigen: Wenn ,die Freiheit' der einzelnen zum objektiven Wert und global der Strafgewalt zum Schutz und Definition anvertraut w i r d — diese Übertragung ist m i t dem Terminus ,objektiver Wert' gemeint — so steckt darin die Tendenz zur Identifikation der Bürger m i t dem Staat. So unbestimmt notwendigerweise die Freiheit 2
Es wäre nicht n u r A r t . 2 Abs. 2 S. 2 heranzuziehen, da dieser n u r die körperliche Bewegungsfreiheit schützt (Maunz / D ü r i g / Herzog, A r t . 2 Abs. 2 Rn 50, A r t . 104 Rn 5). U m die weite Version des Rechtsguts Freiheit zu stützen, müßte auch A r t . 2 Abs. 1 herangezogen werden. 3 BVerfGE 7, 198 (204 f.), ständige Rechtsprechung; vgl. BVerfGE 35, 79 (114). 4 A.a.O.; k r i t . Busse, S. 59 f.
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der Bürger ist, so grenzenlos ist dann auch die Strafgewalt. Zugespitzt formuliert: Die Freiheit der Bürger w i r d via objektiver Wert auch die Freiheit der Strafgewalt. Die Einführung von Werten ist nicht hinreichend zu fassen i n der alten Alternative: Rechtssicherheit oder Individualgerechtigkeit. Zwar hat, wer Werte geltend macht, i m Einzelfall mehr Entscheidungsspielraum, weil das bestimmte Gesetz aufgelöst wird. Das geschieht aber unter Berufung auf eine höhere Ordnung, die Wertordnung. Sie weitet zugleich die richterliche Entscheidungskompetenz und die latente Rechtsgewalt enorm aus. Dem gesellschaftlichen Verkehr der Individuen w i r d eine latente materiale Ordnung vorangestellt. Die begrenzten Gesetze sind primär an menschlichem Verhalten orientiert. Der materiale gesellschaftliche Zusammenhalt ist nur mittelbar i h r Thema. Den Bürgern bleibt der Wertkonsens überlassen. Durch Werte w i r d dieses Verhältnis umgekehrt: Die präzise allgemeingültige Bestimmung gewaltsamen Verhaltens w i r d obsolet gemacht durch den objektiven Wert der Freiheit und als Umsetzung dieses Wertes w i r d dann kasuistisch bestimmt das verwerfliche Verhalten. I n dieser Bestimmung manifestiert sich die den Bürgern von der Justiz vorweggenommene materiale Ordnung, die ihnen nach den herkömmlichen verhaltensorientierten Gesetzen überlassen bleibt. Hinter der vorgeblichen Individualgerechtigkeit der Wertorientierung steckt die latente Entsubjektivierung der Bürg er freiheil?. Die Berücksichtigung von grundgesetzlichen Werten geht auch nicht auf i n der Frage nach der Einwirkung des höherrangigen Verfassungsrechts auf die einfachen Strafgesetze*. Daß es generell diese Einwirkung gibt, folgt aus A r t . 1, 20 GG und dem Prinzip der Einheit der Rechtsordnung 7 . Daraus ist freilich nichts zu entnehmen über den Inhalt des (die Rechtsprechung bindenden) höherrangigen Verfassungsrechts selber. Man muß also unterscheiden: aa) Die Gebote der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und der Organisationsteil der Verfassung regeln das Verfahren der Gesetzgebung und die Form der Gesetze, nicht unmittelbar deren materialen Inhalt. Diese Regeln sind dem Strafrecht vorrangig®. Es muß ihnen ggf. durch verfassungskonforme Auslegung angepaßt werden. 5
Böckenförde, Festschrift für A r n d t , S. 74. Dazu Tiedemann, Tatbestandsfunktionen, S. 25 ff. 7 Hesse, Grundzüge, § 1 I I I 1, 2; § 2 I V 1; § 10 I ; s. a. Tiedemann, a.a.O. 8 Vgl. Rudolphi (Festschrift f ü r Honig, S. 158 f.), der (nur) i m Rechtsstaatsprinzip eine verfassungsrechtliche Wertentscheidung sieht. 6
8. Freiheit als objektiver W e r t
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bb) Die Grundrechte i n ihrer ursprünglichen Bedeutung begrenzen die Staatsgewalt und damit auch die Strafgewalt 9 . Als solche sind sie dem Straf recht vorrangig. Sie garantieren insofern den Bürgern Freiheiten und Teilhabechancen, statuieren aber nicht unmittelbar eine materiale Strafrechtsordnung. cc) Das ändert sich, wenn Grundrechte zu objektiven Werten werden. Dann begründen sie Strafgesetze inhaltlich, wie das BVerfG zu § 218 festgestellt hat 1 0 . Sie können dann u. U. auch Strafgesetze auflösen bzw. deren extensive Auslegung legitimieren 1 1 . U m eine derartige verfassungskonforme Auslegung handelt es sich hier. Sie kann darauf hinauslaufen, daß die Strafgesetzgebung und Strafrechtsanwendung nicht an demokratische Entscheidungen gebunden ist, vielmehr eine transzendentale Wertordnung nachvollzieht. Die These von der objektiven Wertordnung der Grundrechte wurde — bis vor kurzem — vertreten vom BVerfG 1 2 . Daß Grundrechte als objektive Werte Strafen begründen können, hat außer dem BVerfG u. a. Dürig 1 3 angenommen. Von einem institutionalistischen Ansatz her w i r d diese These nachdrücklich und umfassend auch von Häberle 14 vertreten. Danach gehört die Strafrechtspflicht und die Bestrafung zum Wesensgehalt der grundrechtlichen Freiheit selber. Durch die Bestrafung w i r d der Dieb zum rechten Eigentümer erzogen 15 . I n der Bestrafung realisiert sich sein unmittelbares Individualinteresse. Das — objektive — Individualinteresse ist sittlich an Staat und Recht gebunden. Diese sittliche Einheit von Einzelnem und Allgemeinem w i r d i m Strafrecht am Einzelnen vollzogen 16 . Die Verfassungsrechtslehre lehnt die 9 Das ist bekanntlich relevant geworden v. a. i m Strafverfahrens- u. Sanktionenrecht. Vgl. B G H S t 19, 325 (330), wo allerdings die Grundrechte zu obj e k t i v e n Werten stilisiert werden. Das w a r f ü r das Ergebnis ebenso unnötig wie i m L ü t h - U r t e i l (BVerfGE 7, 198 ff.), wie z. B. Ridder (Die soziale Ordnung, S. 79 f., s. a. S. 76 ff.) zeigt. 10 J Z 1975, 209; i m Ansatz zustimmend Kriele, ebd. S. 222; ablehnend das Sondervotum, ebd. S. 215. 11 Z u r Auslegung einfacher Gesetze BVerfGE 7, 198 (ständige Rechtspr.). 12 J Z 1975, 209; auch BVerfGE 28, 261; 39, 41. Maunz / D ü r i g / Herzog, A r t . 1 Abs. 1 A n m . 5 ff.; Maunz, Deutsches Staatsrecht § 9 I I 5. Die BVerfG-Rechtspr. scheint sich neuerdings von der Wertordnung abzuwenden; seit E 50, 290 erscheint die Formulierung nicht mehr. 13 Maunz / D ü r i g / Herzog, A r t . 2 A n m . 21 ff. I m Verfassungstext ist das n u r i n A r t . 26 Abs. 1 S. 2 GG vorgesehen. 14 Wesensgehaltsgarantie, S. 25 ff.; k r i t . dazu Denninger, J Z 1975, 547; T i e demann, Tatbestandsfunktionen, S. 30 f. F n 19. S t r i k t gegen eine Strafbegründung durch Grundrechte auch Klose, ZStW 86, 33 (64); ähnlich Busse, S. 59 f. 15 Häberle, a.a.O., S. 26 unter Bezug auf Welzel. 16 Die Selbstbegünstigung, die Flucht v o r der Straf justiz, das Leugnen i m Strafverfahren könnten von hier aus drakonisch bestraft werden. Entzieht sich doch damit der einzelne i n besonders frecher Weise seiner sittlichen Bestimmung, sich auf Staat u n d Recht zuzuordnen.
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I V . E n t w i c k l u n g u n d bisherige Bestimmungen des Gewaltbegriffs
Umfunktionierung der Grundrechte zu objektiven Werten überwiegend ab 17 . b) Objektive
Werte im Straf recht
Auch wenn Grundrechte objektive Werte sein sollten, ist über das Ausmaß von deren E i n w i r k i m g auf die einfachen Gesetze noch nicht entschieden. Das BVerfG hat den Wortlaut der einfachen Gesetze und den objektiven Willen des Gesetzgebers als Grenze gesetzt 18 . I m einzelnen ist vieles streitig 1 9 . Das Problem kann hier zurückgestellt werden, denn einmal ist die Vorfrage offen, ob Grundrechte objektive Werte sind, und zum zweiten ist die Vorstellung von objektiven Werten i m Strafrecht auch ohne den Rückgriff auf die Grundrechte möglich und verbreitet. U m objektive, vom Verhalten der Individuen abgelöste Werte geht es immer dann, wenn verhaltensgebundene Straftatbestände aufgelöst werden zugunsten des Schutzes von Universalien wie ,die Freiheit'. Denn deren Schutz realisiert sich i n einer universalen Regelungskompetenz der Justiz und kann darauf hinauslaufen, daß dem konkreten gesellschaftlichen Verkehr der Individuen Werte vorgeordnet werden, die nach den verhaltensgebundenen Tatbeständen dem Verkehr der Individuen überlassen sind. Daß der Wert ,Freiheit 4 zu schützen sei, ist aus dem Gesetz nicht zu begründen, ist vielmehr Ergebnis einer aufgesetzten Teleologie. Damit wird, wie oben gezeigt, unterstellt, 17 M i t unterschiedlicher Akzenturierung: Fr. Müller, Methodik, S. 48; B ö k kenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit, S. 60, 249; ders., Festschrift f ü r A r n d t , S. 72 ff.; Denninger, J Z 1975, 546 ff.; ders., Staatsrecht 1, S. 12, 26, 117; Forsthoff, Die U m b i l d u n g des Verfassungsgesetzes, S. 130 ff.; Goerlich, Wertordn u n g u n d Grundgesetz, S. 136 ff.; Hesse, Grundzüge, § 9 I I 3, I I I ; Podlech, Grundrechte u n d Staat, i n : Der Staat 1970, 348 ff.; Preuß, Legalität und Pluralismus, S. 17 ff. u n d passim; Luhmann, Grundrechte, S. 43 ff., 213 ff. 18 BVerfGE 2, 398. 19 Vgl. Fr. Müller, Methodik, S. 72 ff.; Hesse, Grundzüge § 2 I V ; Engisch, Einführung, S. 83 f., 165, 192 f., Anm. 82 b, 212 a. — Die Probleme von teleologisch ausgeweitetem Freiheitsschutz u n d wertorientierter verfassungskonformer Auslegung dürften parallel liegen. So gesteht Jescheck (Lehrbuch, S. 123) der Teleologie Vorrang bis zum noch möglichen Wortlaut zu u n d w i l l i n diesem Rahmen der Teleologie die „Wertentscheidungen" der Verfassung berücksichtigen. U n d Z i p f sieht i m Grundgesetz eine Wertordnung ( K r i m i n a l politik, S. 68), die das Strafrecht leitet, zugleich gibt er der Teleologie den Vorrang gegenüber den am T e x t des (einfachen) Gesetzes orientierten Methoden (Maurach / Zipf , Strafrecht A T T b 1, S. 126 f.). Bei Knodel ist der Konnex von Teleologie u n d Wertorientierung evident. Demgegenüber wollen Fr. M ü l ler und Engisch, die der verfassungskonformen Auslegung u n d den o b j e k t i ven Werten ablehnend bzw. skeptisch gegenüberstehen, die verfassungskonforme Auslegung überhaupt n u r i m Rahmen der systematischen zulassen. Dadurch ist sie eng an den T e x t des einfachen Gesetzes gebunden u n d die K o m petenz der Legislative ist gewahrt. Fazit: Von dem theoretischen Ansatz her, der s t r i k t teleologisch am Rechtsgut Freiheit orientiert ist, k a n n man sich auch auf die objektiven Werte der Verfassung berufen. Wenn man den Ansatz bestreitet, fehlt auch den Werten der Boden.
8. Freiheit als objektiver Wert
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das vielgestaltige, dynamische gesellschaftliche Leben dürfe insgesamt dem Straf recht keinesfalls aus der Kontrolle geraten. Diese enorme Regelungskompetenz bezüglich Freiheit ist gestützt auf eine Abstraktion: die Freiheit an sich, der Wert soll geschützt werden. (Die konkrete Freiheit ist nichts Identisches und wie gezeigt als Telos der Tatbestandsauflösung ungeeignet.) Die folgende Untersuchung berücksichtigt die K r i t i k , die i m Verfassungsrecht an der Wertorientierung geübt wurde. Gewiß könnte man die Auflösung des Rechtsguts Freiheit ins Abstrakte auch i m Kontext der Entwicklung der Rechtsgutslehre vom Naturalismus zur Vergeistigung diskutieren 20 . Hier w i r d der verfassungsrechtliche Bezugsrahmen gewählt, nicht nur wegen der von Knodel (recht kursorisch) vorgetragenen verfassungsrechtlichen Begründung der Abstraktion, sondern auch, weil aus dem Verfassungsrecht neue Gesichtspunkte der K r i t i k sich ergeben könnten 21 . c) Methodische Probleme, Ablösung der Freiheit von historischer und sozialer Wirklichkeit Die Umfunktionierung der Grundrechte zu objektiven Werten hat außer i n A r t . 1 GG i n keinem Grundrechtstext einen Anhaltspunkt. Viele K r i t i k e r der grundrechtlichen Werte machen daher methodische Mängel geltend. Goerlich und Podlech meinen, der Wert fungiere als Surrogat richterlicher Begründungspflicht 22 . I n gerichtlichen Kontroversen bedeute die Berufung auf Werte „Abbruch der Kommunikation". Sie ist nach Luhmann „Verschönerung der Argumentation". Diese K r i t i k richtet sich nicht gegen richterliche Wertungen, nicht gegen den Prozeß des Wertens. Niemand bestreitet, daß es zum täglichen Brot der Juristen gehört, unbestimmte Begriffe durch Wertung zu konkretisieren. Der K r i t i k geht es vielmehr darum, gerade die Wertungen offen zu halten. Wertungen sind Teil des Prozesses der Kontretisierung von Normen. Wertend bringt der Konkretisierende sein subjektives Urteil i n den Prozeß der Annäherung von Norm und wahrgenommener W i r k lichkeit ein. Er stellt sein Urteil auf die Objekte, Norm und Wirklichkeit ein und läßt seine subjektive Wertung i n der Wechselbeziehung zum Objektiven soweit als möglich modifizieren. Durch Werte w i r d die zu entwickelnde Wechselbeziehung zum Stillstand gebracht. Wer einen Wert geltend macht, behauptet eine objek20
Dazu ausführlich Amelung, Rechtsgüterschutz. Die verfassungsrechtliche K r i t i k der objektiven Werte rezipiert f ü r das Strafrecht andeutungsweise K ü h l , G A 1977, 353 (356 ff.). 22 Goerlich, S. 140 ff.; Podlech, Werte u n d Wertungen, ARSP 1970, 185 ff. (201 ff., 207 f.); ders., Grundrechte u n d Staat, S. 348 ff. Podlech f ü h r t präferenztheoretische Erwägungen ein. 21
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I V . E n t w i c k l u n g u n d bisherige Bestimmungen des Gewaltbegriffs
tive, jenseits von Norm und Wirklichkeit vorgegebene statische Größe, die beiden übergestülpt wird. Die Orientierung an Werten nivelliert Differenzierungen der Normen. Sie schaltet die kritische Frage nach dem Realitätsbezug der Wertung aus 23 . „Denn das Spezifische des Wertes liegt eben darin, daß er statt eines Seins nur eine Geltung hat5*4." Werte müssen erfolgreich behauptet werden, müssen ,abgenommen' werden aus welchen Gründen auch immer. Sie können prinzipiell nicht überprüft werden. Das Behaupten von Werten macht die Immunisierung gegen rationale K r i t i k zum Programm. „Werte können nur wiederum durch Werte relativiert werden 2 6 ." Diese K r i t i k betrifft die Einführung von Werten als Prämissen der Rechtsanwendung. Wo mehrere Werte kollidieren, müssen sie abgewogen werden; das erfordert Argumentation und Diskussion. Manche weitläufigen Erörterungen werden durch die expansiven Werte überhaupt erst provoziert und aufgebläht. Die Entscheidung BGHSt 23, 46 hätte kürzer ausfallen können, wenn der B G H statt ,der Freiheit' einen präzisen verhaltensorientierten Gewaltbegriff zugrunde gelegt hätte2®. Es w i r d also nicht endgültig Wirklichkeit ausgeblendet durch Werte, wohl aber w i r d der Bezugsrahmen der Entscheidungen diffus und unkontrollierbar. Differenzierungen werden unter dem Oberbegriff des Wertes nivelliert Die Bedeutsamkeit dieser K r i t i k für strafrechtliche objektive Werte läßt sich anhand der Argumentation Knödels zeigen. Er faßt all die höchst unterschiedlichen Arten der Willensbetätigung i n den verschiedensten sozialen Bereichen unter den Begriff »Freiheit' zusammen und stellt dann fest, der Wert dieser Freiheit sei heute höher anzusetzen als vor 100 Jahren 27 . Eine begrifflichere, von der sozialen Realität weiter entfernte juristische Argumentation läßt sich unterhalb des Wertehimmels kaum denken. Gewiß werden einzelne der von § 240 erfaßten Freiheiten heute höher bewertet als früher. Dies jedoch ohne jegliche Differenzierung von der Hypnose über das bedrängende Auffahren auf der Autobahn bis zum politischen Streik zu behaupten, ist absurd. W i r d die Freiheit des Fabrikanten heute höher bewertet? Seine Freiheit gegen23
Denninger, J Z 1975, 546; auch Hesse, Grundzüge § 9 I I 3, I I I . Carl Schmitt zit. nach Denninger, a.a.O. 25 Denninger, a.a.O.; vgl. auch Böckenförde, Festschrift f ü r A r n d t , S. 74; Podlech, Grundrechte u n d Staat, S. 348 ff. 26 Vgl. auch die bei Tiedemann (JZ 1969, 717 ff.) dargestellte Rechtsprechung. Signifikant f ü r die Unsicherheit ist, w i e die Güterabwägung bei Tiedemann (S. 719, 721 ff.) einerseits u n d Schweiger (JZ 1970, 214) andererseits ausfällt. 27 Knodel, Der Begriff, S. 71; vgl. auch S. 6 ff., 66 ff. Vor 100 Jahren t r a t das StGB i n K r a f t , i n welchem Gewalt u n d Z w a n g unterschieden waren (und sind). D a m i t setzt sich Knodel auseinander. 24
8. Freiheit als objektiver W e r t
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über den Arbeitnehmern (vgl. Arbeitsrecht)? Gegenüber anderen Wettbewerbern, gegenüber den Abnehmern und Lieferanten (vgl. UWG, GWB, AbzG)? W i r d die Freiheit der Verkehrsteilnehmer heute höher bewertet als vor 100 Jahren? Wie steht es m i t der Freiheit i m Vermögensverkehr heute und früher? W i r d die Freiheit der Eltern gegenüber ihren Kindern, der Ehemänner gegenüber ihren Ehefrauen heute höher bewertet? Die Schwierigkeiten, diese Fragen zu beantworten, und die Unterschiedlichkeit der darin enthaltenen Probleme zeigen, wie sehr die Wirklichkeit vergewaltigt w i r d m i t der These, ,die Freiheit 4 werde heute höher bewertet als früher. I n Knödels Argumentation zeigt sich, daß abstrakte Werte wegführen von der Wirklichkeit und vom Handeln konkreter Menschen 29. Das ist der theoretische Zusammenhang der A u f lösung eines Gewaltbegriffs, der an bestimmten menschlichen Handlungen zu orientieren wäre. Darin steckt die tendenzielle Nivellierung alles menschlichen Handelns auf das Niveau der Kausalität. Kraß w i r d der Abschied von der Wirklichkeit, wenn Knodel die Ausdehnung des gesamten Gewaltbegriffs auf den Wert der persönlichen Freiheit stützt, also auch die Ausdehnung etwa i m Bereich des § 81 und des § 240. Demnach würde Hochverrat bestraft, weil er die persönliche Freiheit der Regierungsmitglieder beeinträchtigt, die Straßenbahnblockade, weil sie die persönliche Freiheit des Zugführers stört usw. Auch die wertefreundlichsten Verfassungsrechtler haben die Tätigkeit der Regierung noch nicht unter den Schutz des A r t . 2 GG gestellt. Es gibt einen Organisationsteil der Verfassung. Der Absolutismus ist verabschiedet. I n den Zusammenhang der Ausblendung von Wirklichkeit zugunsten abstrakter Werte gehört auch Knödels 29 These, auf den Weg beständiger Höherbewertung der persönlichen Freiheit sei 1943 m i t der Ausweitung des Drohungstatbestandes ein „Markstein" gesetzt worden. Sicher sind diverse Regelungen aus der NS-Zeit weiterhin akzeptabel. Die Ausweitung des § 240 wurde i m übrigen schon vor 1933 vorgeschlagen 30 . Es ist aber fraglich, ob 1943 gerade diejenigen materialen Prinzipien fundiert wurden, die heute das Strafrecht weitgehend überlagern sollen. Welch ein Gespenst von materialer Freiheit muß es gewesen sein, das auf dem Höhepunkt des verbrecherischen Unrechtsstaates seine Marksteine hat. Knodel meint, es sei eben diejenige Freiheit, die heute i m Grundgesetz 28
Böckenförde, Festschrift für A r n d t , S. 74. Der Begriff, S. 71. 30 Z u bezweifeln ist allerdings, ob der § 240 Abs. 2 unter rechtsstaatlichen, demokratischen Verhältnissen i n seiner vagen Fassung von einem Parlament verabschiedet worden wäre. A l s die Vorschrift nach 1945 bis auf Formulierungsänderungen übernommen wurde, w a r sie schon eine kriminalpolitisch komfortable Gegebenheit. Z u derartigen Übernahmen vgl. Wieacker, P r i v a t rechtsgeschichte, S. 533 F n 72, S. 605 F n 80. 29
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I V . Entwicklung u n d bisherige Bestimmungen des Gewaltbegriffs
geschützt wird. Das Grundgesetz war als Gegenprogramm zum Faschismus konzipiert 3 1 . Der Wertehimmel kann auch diese Wirklichkeit vergessen machen 32 . Dann ist es auch nicht mehr erstaunlich, wenn ein anderer „Markstein" des Freiheitsschutzes darin gefunden wird, daß der Streik den Straftatbeständen subsumiert und damit die Ausübung dieses Grundrechts latent strafbar wird. Das Grundgesetz wollte das Streikrecht verfassungsmäßig garantieren 33 . Freilich, auch dieser „ M a r k stein" des Freiheitsschutzes zulasten der Grundrechte war schon i n den autoritären Monarchien des 19. Jahrhunderts und i n der NS-Zeit vorbereitet worden* 4 . Schwer zu folgen ist Knodel auch bei der Abwägung der Werte. ,Die Freiheit 4 , deren hoher Wert nur durch radikale Ausblendung der W i r k lichkeit behauptet werden konnte, soll zulasten der Gesetzesbindung der Strafgewalt durchgesetzt werden 35 . Was das eigentlich sei, was die weitgehende Suspendierung der Rechtsstaatlichkeit legitimiert, kann nicht ermittelt, nicht kontrolliert werden, denn was ,die Freiheit 4 ist, ist ja höchst ungewiß — immerhin, sie ist ein so hoher Wert, daß die Rechtsstaatlichkeit, obgleich ebenfalls grundgesetzlich garantiert, zurückstehen muß. I m Rahmen solcher Methode könnte man nun nur behaupten, die Rechtsstaatlichkeit sei ein noch höherer Wert usw. Nachdem Freiheit derart zu einem Wert, quasi zu einem Ding jenseits der Wirklichkeit stilisiert wurde, muß sie abgewogen werden m i t anderen privaten Freiheitswerten, die m i t der geschützten kollidieren. Bei solcher Güterabwägung 36 kann dann ausführlich diskutiert werden, welches Gewicht den einzelnen Werten abstrakt und konkret zukommen soll. I m Verfassungsrecht hat das BVerfG die Abwägung verfeinert durch seine Wechselwirkungskonzeption 37 , die zu komplizierten Verschränkungen führt. Die Strafgerichte müssen ebenso verfahren 38 . Zwar kann dabei die Wirklichkeit umfassend eingebracht werden. Es 31 Ridder, DöV 1963, 321 ff.; Copie, Grundgesetz u n d politisches Strafrecht, S. 1 ff., 6 f. 32 Von ihren individuellen Initiatoren w a r übrigens auch die Werterenaissance nach 1945 ursprünglich antifaschistisch intendiert; Wieacker, P r i v a t rechtsgeschichte, S. 603 ff. 33 v. Mangoldt / Klein, A r t . 9 A n m . V I I 1. 34 Abendroth, Arbeiterklasse, S. 104 ff.; F. C. Schroeder, Schutz von Staat u n d Verfassung, S. 153, 203; RGSt 21, 114 (117 ff.), wo allerdings nicht Gewalt sondern Drohung angenommen wurde. 35 E x p l i z i t wendet sich Knodel zwar n u r gegen den subjektiv historischen Gesetzgeberwillen. Faktisch geht er aber darüber hinaus (Der Begriff, S. 68 f.). 36 Kritisch Hesse, Grundzüge § 2 I I I 2 b bb. 37 Grundlegend BVerfGE 7, 198, 208. 38 Wie kompliziert u n d schwer voraussehbar solche Grundrechtsabwägung i m Demonstrationsstrafrecht werden kann, zeigt Giehring, Demonstration, S. 528 ff., 544 ff.; vgl. auch Tiedemann, JZ 1969, 717 (719, 721 ff.).
8. Freiheit als objektiver W e r t
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sollte jedoch die Prämisse solcher Argumentation nicht übersehen werden: Die sorgfältig abgewogenen Werte wurden z. T. durch eine methodisch fragwürdige Verdinglichung der Wirklichkeit gebildet, nämlich durch Ablösung von tatbestandlichen Handlungsbeschreibungen. Dementsprechend tendieren die Werte auch dazu, sich vom Handeln konkreter Menschen abzulösen. d) Entsubjektivierung
der Freiheit
Ein Beispiel solcher an abstrakten Grundrechtswerten orientierten Auslegung des Strafrechts gibt Schäfer 39 zu der Frage, ob auch solche Menschen Opfer einer vollendeten Freiheitsberaubung sein können, die zur Tatzeit keinen Fortbewegungswillen haben können. Beispiel: Von 20.00 bis 23.00 Uhr liegt jemand sinnlos betrunken i n seinem Zimmer; von 21.00 bis 21.30 Uhr hat ein anderer das Zimmer abgeschlossen. Wessen Grundrecht ist hier verletzt (unterstellt die Grundrechte gälten zwischen Privaten)? — Schäfer bejaht vollendete Freiheitsberaubung 40 m i t dem Hinweis auf das Rechtsgut der A r t . 2 Abs. 2, A r t . 104 GG; sie legten „eine weitreichende Auslegung" des § 239 i m dargestellten Fall „nahe". Offensichtlich geht es hier aber nicht u m die Grundrechte konkreter Menschen, denn deren Freiheit ist hier nicht betroffen, sondern um Grundrechte i. S. objektiver Werte, die von den konkreten Menschen abgelöst sind. Allenfalls könnte man das Freiheitsgrundrecht des Einschließers hier thematisieren, welches durch das strafrechtliche Verbot und den Vollzug der entsprechenden Strafe betroffen wäre und zwar von Seiten des Staats, also i n dem Verhältnis, welches die Grundrechte ursprünglich regeln. Aber darauf geht Schäfer nicht ein, wie übrigens auch Knodel i n seiner gesamten Werteargumentation sich nicht auf die Freiheit des Nötigers bezieht 41 . Sieht man davon ab, so läßt sich von der Werteebene aus Schäfers Interpretation allerdings begründen: Man kann behaupten, zwar sei nicht der Betrunkene, wohl aber sei der objektive Wert betroffen, der des Schutzes bedürfe. Oder man entnimmt aus dem gegenüber dem positiven Recht vorrangigen Wert die Legitimation dafür, den § 239 von einem Verletzungsdelikt umzufunktionieren zu einer A r t abstrakten Gefährdungsdelikts, eine bekanntlich nicht unproblematische Rechtsfigur, die allemal ein Element hoheitlicher Disziplinierung enthält. Das mag aufgrund demokratischer Willensbildung zulässig sein i n den Grenzen von Rechtsstaatlichkeit und Grundrechten, aber diese sind Grenzen. Die demokratische Begründung für Schäfers 39
L K § 239 Rn 12. Anders S K - H o r n , § 239 R n 3. 41 Dagegen v. Heintschel-Heinegg, Diss. S. 125 i m Anschluß an Jakobs, Festschrift f ü r Peters, S. 69 f., 75 ff. 40
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I V . E n t w i c k l u n g u n d bisherige Bestimmungen des Gewaltbegriffs
Deutung des § 239 ist fraglich 42 . Wenn stattdessen ein Grundrecht herangezogen wird, so regrediert das Grundrecht zum bloßen Disziplinierungsinstitut, welches der Gesellschaft und den einzelnen vorgeordnet ist. Tendenziell werden die Menschen durch solche Umfunktionierung ihrer grundrechtlichen und demokratischen Freiheit enteignet. Die Umfunktionierung der Grundrechte, für die Schäfers Argumentation nur ein Beispiel ist, findet i n der Verfassung keinen Anhaltspunkt. Die Grundrechte stehen nach ihrer Textfassung den konkreten Menschen zu, gehen von ihnen aus 43 . Die Umfunktionierung verschleiert vordemokratische Herrschaft. Sie verfehlt die Verfassung, nach welcher Herrschaft allein vom Volk ausgeht. I m säkularisierten Staat brauchen sich die Menschen nicht vor transzendentalen Werten zu legitimieren 4 4 . I m Bereich der Gewaltdelikte bietet ein Beispiel für vordemokratische Herrschaftslegitimation die Streikentscheidung des BGH. I n ihr löst der B G H die Handlungsdeskription des § 81 auf zugunsten des Schutzes der Verfassung 45 . — Die abstrakt bestimmte Normierung von Handlungen als erlaubt oder verboten betrifft jeweils Formen des Verkehrs zwischen den Menschen. Die Meinungsfreiheit betrifft den kommunikativen Verkehr, das Diebstahlsverbot die Formen des Eigentumsverkehrs. Ob die Inhalte, die i n solchem Verkehr hergestellt werden, die öffentliche Meinung oder die Eigentumsverteilung, von den Bürgern als erhaltens-,wert' anerkannt werden, ist eine von der Regelung des Verkehrs zu unterscheidende Frage, ein Problem der gesellschaftlichen Entwicklung 4 6 . Wenn dem so ist, so können Werte für sich staatliche Eingriffe nicht begründen 47 . I m Hochverratstatbestand werden bestimmte Handlungsformen (u. a. Gewalt) verboten. Die verfassungsmäßige Ordnung und darin eingeschlossen die Handlungsfähigkeit der Bundesregierung sind n u r Tatbestandsmerkmale unter anderen. Als solche bleiben sie abhängig vom Konsens der Bürger. Erst aus dem Zusammenhang ihres Handelns bestehen der Staat, die Verfassung, die Regierung 48 . Von unten werden 42
Vgl. SK-Horn, § 239 R n 3; Meyer-Gerhards, JuS 74, 570. Wie fragwürdig es ist, aus Grundrechten eine Begründung u n d nicht n u r Begrenzung staatlicher Strafen abzuleiten, liegt bei dem von Schäfer geltend gemachten A r t . 104 GG besonders offen. M a n muß diesen T e x t geradezu auf den K o p f stellen, w e n n er zur Begründung von Strafen gegen Private dienen soll. Kritisch zur Umfunktionierung der Grundrechte Denninger, J Z 1975, 547. 44 Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit, S. 60. 45 B G H S t 8, 102 (103): „Entscheidend k a n n n u r die Zwangswirkung sein." 46 . . . der Rechtsstaat baut darauf, daß diese Regelung sich von selbst herstellt, aus der moralischen Substanz der einzelnen u n d der Homogenität der Gesellschaft." (Böckenförde, Festschrift f ü r A r n d t , S. 75.) 47 E i n gutes Beispiel f ü r die Unterscheidung gibt Preuß, Legalität u n d P l u ralismus, S. 24. 48
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sie reproduziert 49 . Der B G H hingegen hat die verfassungsmäßige Handlungsfähigkeit der Regierung unmittelbar zur Norm gemacht und als Wert vorgegeben, zum einen, indem er die Auslegung des handlungsorientierten Tatbestandsmerkmals »Gewalt4 am Wert der Handlungsunfähigkeit der Regierung ausrichtete und vor allem, indem er das handlungsorientierte Tatbestandsmerkmal annähernd auflöste zugunsten der Rundum-Verteidigung des Zustandes. Die Verfassung, die Handlungsunfähigkeit der Regierung werden damit substantialisiert 50 . Die Menschen werden rekrutiert 5 1 . Sie dienen den Werten. Die Arbeiter müssen vertragsgemäß arbeiten nicht nur, u m zu leben, sondern auch, um die Handlungsfähigkeit der Regierung zu erhalten. Dieser Freiheitswert hat sie hinterrücks gleichsam verbeamtet 52 . Die Gesellschaft w i r d durch solche Rechtsanwendung entdifferenziert. Nach dem Rechtsstaatsprinzip, welches Begrenzungen i n der Gesellschaft zu wahren gebietet, sind Bürger nicht m i t dem Staat identisch. Es besteht vielmehr ein problematisches SpannungsVerhältnis: Der „freiheitliche säkularisierte Staat" lebt von Voraussetzungen, „die er nicht selbst garantieren kann" 5 3 . Einen Auffangtatbestand zum staatlichen Schutz der Freiheit zu bilden und damit den Bürgern die zentralen Werte ihres Zusammenlebens vorzugeben, bedeutet, sie für prinzipiell unvernünftig zu halten. Eine grundsätzlich pessimistische Vorstellung von freien Menschen liegt dem zugrunde 54 . Es ist nicht einzusehen, warum überhaupt Freiheit ein Grundrecht ist und warum Demokratie, also Herrschaft der einzelnen über sich selbst vermittelt durch die anderen, grundgesetzlich festgeschrieben ist, wenn die materialen Prinzipien des sozialen Zustandes durch die Justiz vorgeordnet werden. 48
Preuß, a.a.O. U n d zwar nicht n u r durch Wahlen, sondern durch alle Ausübungen b ü r gerlicher, insbesondere grundrechtlich geschützter Freiheiten; vgl. BVerfGE 20, 56 (58); Hesse, Grundzüge, § 3 I I 2 b. 50 „ V o m Prinzip der Demokratie her ist nicht der Staat wie ein . . . auffindbarer Stoff . . ( A . A r n d t zit. nach Böckenförde, Festschrift f ü r A r n d t , S. 76 F n 84); auch Hesse, Festgabe f ü r Smend, S. 71, 88. 51 Z u r Rekrutierung durch Werte: Böckenförde, Festschrift f ü r A r n d t , S. 73 f.; Denninger, JZ 1975, 547. 52 Allerdings muß bei § 81 nach h. M. Absicht vorliegen. Die Rechtsprechung der fünfziger Jahre zum politischen Straf recht zeigt aber, w i e w e i t der A b sichtsbegriff ggf. aufgelöst werden kann. Bei den Staatsgefährdungsdelikten sollte nach B G H S t 9, 142 (146) dolus directus genügen; ebenso B G H S t 10, 164 (169 ff.). Weitere Nachweise bei Copic, Grundgesetz u n d politisches Straf recht, S. 210. Kritisch zur Absicht als zentralem Begrenzungskriterium der allgemeinen Gewaltstrafbarkeit auch Geilen, Festschrift f ü r Mayer, S. 445 (461 F n 68); Arzt, Festschrift für Welzel, S. 823 (827 f., 831). 53 Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit, S. 60. 54 „Welche Selbstgewißheit hat ein Volk, w e n n es glaubt, die sog. G r u n d werte seiner Lebensordnung u n d seiner politischen Ordnungsform m i t Rechtszwang unantastbar festlegen zu müssen . . . ? " (Böckenförde, Festschrift f ü r A r n d t , S. 75.) 49
12 Keller
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I V . E n t w i c k l u n g u n d bisherige Bestimmungen des Gewaltbegriffs
e) Auflösung
demokratischer
Verfahren
und Kompetenzen
Die Annahme eines Wertes »Freiheit 4, der die tatbestandlichen Handlungsbeschreibungen auflöst, erweitert die Entscheidungskompetenz der Gerichte 55 . Z u Ende gedacht, könnte unter Berufung auf die grundgesetzlichen Werte jede positive, parlamentarisch gesetzte Rechtsordnung aufgelöst werden 56 . Von strafrechtlicher Seite hat das besonders Eb. Schmidt kritisiert 5 7 . Den Gerichten ist es überlassen, die latent die ganze Gesellschaft überlagernden Werte gegeneinander kasuistisch abzugrenzen. Offensichtlich entsteht hier die Frage nach der Gewaltenteilung und der demokratischen Legitimation der gerichtlichen Kompetenz. Die kasuistischen Güterabwägungen werden legitimiert durch Werte, zu denen sich die Justiz „bekennt". Demnach müßten diese Werte der demokratischen Willensbildung vorgeordnet sein, wenn die Kompetenz der Justiz an die Stelle der parlamentarischen Gesetzgebung treten soll. I n der Verfassung ist dieses Problem angesprochen. Der parlamentarischen Gesetzgebung vorgeordnet sind gemäß A r t . 79 Abs. 3 GG außer einigen föderalistischen Prinzipien nur die Grundsätze der A r t . 1 und 20 GG, mehr nicht. I n A r t . 20 Abs. 2 GG ist die Gewaltenteilung fixiert, also eben diejenige Ordnung, die durch die wertorientierte Kompetenzausweitung der Justiz i n Frage gestellt wird. Das Problem ist nicht zu lösen m i t dem Hinweis, wo die Strafjustiz unter Berufung auf Werte Tatbestände wie den der Gewaltnötigung aufgelöst hat, da hätten dies die Gesetzgeber i n ihren Willen inzwischen aufgenommen, hätten die Kompetenzverschiebung nachträglich gebilligt. Die Gesetzgeber dürfen sich der Kompetenz, die ihnen nach dem Grundgesetz zukommt, nicht begeben. Dementsprechend darf die Justiz die Gesetzgeber nicht dadurch entlasten, daß sie politische Probleme verrechtlicht, so daß sie sich den politischen Instanzen nicht mehr stellen. Verrechtlichung bedeutet Ausblendung von Alternativen durch vorstrukturierte Entscheidungsmuster. Verrechtlichung entlastet von Denken und Verantwortung. Die vorstrukturierten Entscheidungsmuster darf die Justiz nicht erfinden. Wo sie fehlen, ist die Zukunft offen 58 . Die gesellschaftlichen Probleme müssen dann von den politischen Instanzen thematisiert und i n sachgemäß geordneten Verfahren entschieden werden 59 . M i t dieser Kompetenz der Legislative ist die Offenheit der Zukunft vorausgesetzt. Die wertorientierte Justiz hingegen fingiert die Existenz einer quasi natürlichen oder göttlichen Ordnung, die sie schein55 56 57 58 59
Hesse, Grundzüge § 12 I 10. Ridder, Die soziale Ordnung, S. 93; Denninger, Staatsrecht 2, S. 152. J Z 1968, 681 (682 ff.); JR 1968, 321 ff.; J Z 53, 321 ff.; D R i Z 1969, 82. Hesse, Grundzüge § 1 I I I 2 a. Hesse, a.a.O. § 1 I I I 2 b, § 13 I 2.
8. Freiheit als objektiver Wert
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bar nur noch nachvollzieht und i n die Zukunft verlängert. Solche Konzepte sind durch den säkularisierten Staat verabschiedet. Gegen universalistische Naturrechtskonzepte m i t ihren Gefahren unkontrollierbarer Herrschaft wurde die Gewaltenteilung eingeführt 60 . Es ist eine vordemokratische Vorstellung, wenn die Verfassung als vollziehbare inhaltliche Ordnung verstanden wird, die der Gesellschaft vorgegeben ist 6 1 . I n der Demokratie ist sie zu verstehen als Ordnung des politischen Prozesses, der durch bestimmte Teilhaberechte und Formen determiniert ist. Die Offenheit dieses Prozesses w i r d durch die objektiven Werte, auch wo sie nicht auf die Grundrechte gestützt sind, i n Frage gestellt 62 . Gewiß ist Gewaltenteilung mehr als nur negative Herrschaftsbegrenzung. Für ein bloß restriktives Verständnis der Gewaltenteilung bietet die Verfassung auch wenig Anhaltspunkte 6 3 . Das gilt auch für das Konzept der Machtbalance durch Teilung. Die Gewaltenteilung zeigt sich i m Organisationsteil der Verfassung zunächst einmal als funktionale Differenzierung und Verfahrensregelung für die Ausübung der Staatsgewalt. Damit ist sie für die Demokratie bedeutsam. Die komplizierten Verfahren der Wahlen und der Gesetzgebung sollen gewährleisten, daß die Gestaltung der Zukunft einigermaßen rational und demokratisch geschieht. Die wertorientierte Justiz entzieht diesen Verfahren die Themen, indem sie sie kompetenzwidrig verrechtlicht und ggf. durch Gew a l t entscheidet. Die Werte nivellieren die demokratische und rechtsstaatliche Differenzierung des Staates 64 . Das hat praktische Folgen: Wenn Preiserhöhungen sozialen Gegendruck hervorrufen, so braucht man sich damit nicht weiter zu beschäftigen, wenn die am Wert der Freiheit orientierte Justiz diese Sache entscheidet, d. h. nicht nur eventuelle Verstöße gegen die Straßenverkehrsregeln oder andere spezifische Verkehrsformen ahndet, sondern umfassend den sozialen Druck auf seine soziale, moralische, sittliche o. ä. Verwerflichkeit überprüft und sanktioniert. Das ist eine unzulässige Entpolitisierung des Problems, die die Erstarrung der politischen Strukturen fördert. f) Auflösung des Gewaltmonopols
und Diskriminierung
Die Dynamik der Werte führt zur Nivellierung der Grenzen rechtsstaatlich gesonderter Bereiche 65 . Auch der Sonderbereich des staatlichen 60
Luhmann, Grundrechte, S. 183 F n 31. Hesse, Grundzüge § 1 I I I 2, § 13 I, § 5 I I 4, § 12 I 10; Calliess, Theorie, S. 132. 82 Luhmann, Rechtssystem, S. 47 f. 63 Dazu u n d zum folgenden Hesse, Grundzüge, § 13. 64 „ D a r i n liegt freilich der Ausgriff i n eine neue Totalität." (Böckenförde, Festschrift für A r n d t , S. 72.) 61
12*
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I V . E n t w i c k l u n g u n d bisherige Bestimmungen des Gewaltbegriffs
Gewaltmonopols könnte davon betroffen sein. Wenn der Staat Werte usurpiert, die i n den nicht staatlichen Handlungssphären zu v e r w i r k lichen sind, so w i r d die Differenzierung der staatlichen und bürgerlichen Sphäre aufgelöst. Die geforderte Identifikation der Bürger m i t den Werten ist zugleich Identifikation m i t dem Staat 66 . Und wer werthaft m i t dem Staat identisch ist, der kann auch die Gewalt des Staates anwenden, u m die Werte zu wahren. Das ist keine bloß theoretische Zuspitzung. Aus dem Kontext der Werte, d. h. der moralischen Identifikation und der moralischen Diskriminierung begründete der BGH 6 7 , daß die Anwendung nötigender Verletzungsgewalt jenseits des Selbsthilferechts gegen eine zahlungsunwillige Prostituierte gerechtfertigt sei. Es w i r d nicht abgestellt auf die Legalität, sondern auf „das Rechtsempfinden des Volkes", dem die Wut des geprellten, gewalttätigen Freiers verständlich sei (Identifikation) gegen das „üble Verhalten" der Prostituierten (Diskriminierung). Die Verfeindung zwischen den B ü r gern ist hier gefördert 68 . Das fügt sich i n die Logik der Werte. Sie übergreifen gesellschaftliche und ,legalistische' Differenzierungen der Gesellschaft. Sie erfassen die Person und würdigen oder diskriminieren sie 69 . Ansätze solcher Diskriminierung finden sich auch i n neueren Entscheidungen 70 . Allerdings hat der B G H nur die Nötigung gerechtfertigt, anscheinend nicht die tateinheitliche Körperverletzung. Dennoch ist es bedenklich, daß der „erhöhte Grad sittlicher Mißbilligung", der laut B G H die strafbare Nötigung ausmacht, noch keineswegs immer erreicht ist, wenn brutale Verletzungsgewalt eingesetzt w i r d und damit der soziale M i n destbestand der Menschen und das staatliche Gewaltmonopol angegriffen werden. Wenn solche unzivilisierte private Gewalt noch von der sittlichen Wertordnung des B G H gedeckt ist, so bestätigt das die These, daß Werte zur Auflösung des rechtsstaatlichen Gewaltmonopols tendieren 71 . 65
Böckenförde, Festschrift f ü r A r n d t , S. 72 ff. « 6 Böckenförde, a.a.O.; Preuß, Legalität, S. 23 ff., 27; ders., Leviathan 1977, 450 ff. 67 B G H S t 17, 328 (331 f.). 68 Darauf weist R o x i n (JuS 1964, 378) hin. 69 Böckenförde, a.a.O., S. 73 ff.; Preuß, Internalisierung, S. 267 ff. 70 B G H M D R 73, 555: Bei Vergewaltigung von Prostituierten ist die Schuld erheblich geringer. B G H S t 21, 188: Die Prostiturierte ist als solche m i t dem Geschlechtsverkehr bedingt einverstanden, daher § 237 nicht anwendbar; d. h. der Prostituierten w i r d ihre Prostitution durch den B G H zum Schicksal gemacht, auch w e n n sie nicht einverstanden sein sollte; k r i t . Roxin N J W 67, 1286 f.; Schröder, JR 67, 226; B G H M D R 71, 895. 71 Ähnliches wäre gegen § 116 Abs. 3 A E StGB u n d Roxins Güterabwägungsprinzip (JuS 1964, 376) einzuwenden. K r i t . zum A E auch Haffke (ZStW 84, 44 F n 32) u n d Fezer (GA 1976, 360 F n 37).
8. Freiheit als objektiver Wert
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Auch andere Konsequenzen dieser Konzeption sollten bedacht werden. Entsprechend der personalen Orientierung der Werte w i r d die Rechtswidrigkeit der Nötigung von der subjektiven Zielsetzung des Nötigers her bestimmt, und diese w i r d an den Maßstäben des Sittengesetzes, des Rechtsempfindens des Volkes' gemessen72. Das erste bedeutet: Wer m i t Zwang eine vermeintliche Straftat zu verhindern sucht, handelt rechtmäßig 73; das sogenannte Irrtumsprivileg der Behörden, das i n einer differenzierten Gesellschaft für die besonderen staatlichen Aufgaben funktional sein mag, w i r d verallgemeinert. Die Bürger erhalten Polizeifunktionen. Der Verfassungsstaat, d.h. der bestimmt gefaßte Staat, w i r d nivelliert. Das zweite bedeutet: Wer gegen ein vermeintliches „grob sittenwidriges", „übles Verhalten" anderer Bürger Zwang anwendet, handelt rechtmäßig 74 ; man darf sich dagegen nicht wehren. Die Prostituierte muß also auch die Zwangsmaßnahmen desjenigen Freiers hinnehmen, den sie tatsächlich gar nicht „übel" behandelt hat, der das aber meint. Das Rechtsempfinden des Volkes erhält Polizeibefugnisse. Die gesellschaftliche Sphäre, die durchlässig sein sollte, dadurch, daß die staatlichen Exekutivbefugnisse ausdifferenziert sind, verdichtet sich zum Zwangsregiment der sittlich Denkenden. Nähme man diese Konzeption auch i m politischen Bereich ernst, so müßte freilich auch der gewaltsame Widerstand derer, die anderen Wertvorstellungen anhängen, irgendwie legitimiert werden 75 . Die Monopolisierung der Gewalt beim Staat und die Beseitigung des Widerstandsrechts waren nach der bürgerlichen Verfassungstheorie begründet i n der Wertfreiheit des Staates 76 . N u r wenn die Werte der (gewaltlosen) Auseinandersetzung der Bürger überlassen sind, ist das Gewaltmonopol des säkularisierten Staates legitim. Wenn aber die rechtsstaatlich ausdifferenzierte Gesellschaft sich zur Wertordnung der gemeinsam Empfindenden vereinheitlicht, so müßte der Widerstand von Dissidenten zumindest respektiert werden, etwa durch Wiedereinführung der tadelsfreien Sanktionen des feudalen Ständestaates, Festungshaft oder Einschließung 77 . 72
Schönke / Schröder / Eser, § 240 R n 19, 24. Schönke / Schröder / Eser, § 240 Rn 24; k r i t . dazu Arzt, Festschrift f ü r Welzel, S. 328 ff. 74 U. a. nach Schönke / Schröder / Eser, a.a.O. Rn 19, Welzel (Deutsches Strafrecht, S. 327) sollen grob sittenwidrige Handlungen gewaltsam verhindert werden dürfen; k r i t . dazu Haffke, ZStW 84, 44 F n 22. 75 Dahingehende Forderungen bei Hannover K r i t J 1968, 51 ff. 76 Kirchheimer, Politische Herrschaft, S. 9; Preuß, Leviathan 1977, 451; zur Moralfreiheit der staatlichen Legalitätswahrung auch Kant, Metaphysik der Sitten, S. 234. 77 Die als Relikte noch bis 1969 erhalten blieben i n §§ 201 ff. StGB und § 11 W S t G B ; dazu Stratenwerth, Strafrecht Rn 556; vgl. auch B G H S t 4, 24 (27 ff.). 73
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I V . E n t w i c k l u n g u n d bisherige Bestimmungen des Gewaltbegriffs
g) Alternative
zur Wertorientierung
Gegen die vorangegangene K r i t i k könnte man einwenden, sie reduziere die Verfassung auf eine formale Verfahrensordnung. — Gewiß steckt auch i n der gesetzlichen Festlegung von Verkehrsformen ansatzweise ein inhaltliches Programm. Indem die Grundrechte einzelne Handlungsformen der Individuen von staatlicher Steuerung freistellen, organisieren sie i n bestimmter Weise Teilbereiche der Gesellschaft 78 . Auch Strafgesetze lassen sich derart als Absicherung von bestimmten Handlungsfeldern verstehen. Insoweit ist die Freiheit der Individuen tatsächlich inhaltlich programmiert 7 9 . Entscheidend ist, daß die Teilbereiche (wie Sozialisation, Ausbildung, Produktion, Warenverkehr) reflexiv geregelt sind. Materiale Prinzipien dürfen nicht als feststehende einseitig vorgegeben werden; sie können aus dem Verkehr der einzelnen entstehen. Reflexive Institutionalisierungen knüpfen an Verhaltensformen an; sie legen Rahmenbedingungen der Bildung von Konsens fest. Wichtig ist weiter, daß die institutionalisierten Handlungsfelder untereinander relativ indifferent sind 80 . Die Bedeutung dieser Trennung w i r d neuerdings i n der Verfassungsrechtslehre und Soziologie hervorgehoben. Danach darf etwa außerhalb der kirchlichen Sphäre das religiöse Bekenntnis nicht Anlaß von Benachteiligung sein. I n der Amtssphäre dürfen das private Verhalten und allgemein-politische Meinungsäußerungen grundsätzlich nicht berücksichtigt werden. Die Grundrechte sind danach nicht nur Individualrechte; sie konstituieren die Verfassung der Gesellschaft als differenziertes Gebilde. Gerade i n der relativen Trennung der sozialen Handlungssphären ist den Bürgern ein Stück Freiheit gewährleistet. Das weitgehende Verbot der Verwertung von 78 Vgl. Habermas, Strukturwandel, S. 105 f.; ausführlich Luhmann, Grundrechte, S. 53 ff., 186 ff.; ähnlich: Hesse, Grundzüge, § 9 I I 3 b; Ridder, Die soziale Ordnung, S. 77 f. Strafrechtliche Ansätze: Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 313, 369 f.; Calliess, Theorie der Strafe, S. 130 ff.; Rudolphi, Festschrift f ü r Honig, S. 151 ff. Z u r Methodik: Fr. Müller, Methodik, S. 117 ff. (Orientierung am Normbereich); ders., Recht-Sprache-Gewalt, S. 38 ff. 79 Das ist nicht Widerspruch, sondern Konsequenz des Rechtsstaatsprinzips, welches nie n u r formale Regelung war. Historisch w a r sein Ausgangspunkt die Vorstellung von gebildeten Bürgern, die i n der Gesellschaft frei über sich u n d i h r Eigentum verfügen u n d i n diesem sozialen Austausch vernünftige Regeln des Zusammenlebens bilden (Böckenförde, Festschrift für A r n d t , S. 53 ff.; Habermas, Strukturwandel, S. 101 ff.). Da nicht davon ausgegangen werden kann, daß Freiheit u n d Eigentum unmittelbar gegeben sind, entspricht es dem Sozialstaatsprinzip, weitere Teilbereiche zu institutionalisieren, i n denen gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht w i r d (Habermas, Identität, S. 66). 80 Z u m folgenden Luhmann, a.a.O.; ders., Rechtssoziologie 2, S. 127 ff.; Podlech, Grundrechte u n d Staat, S. 343 ff.; Calliess, Theorie, S. 130 ff.; L e i b fried, K r i t J 1975, 171 f.
9. Die Forderung nach materieller Gerechtigkeit
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Tonband- und Tagebuchaufzeichnungen i m Strafprozeß wahrt individuelle Freiheit, indem es die Differenzierung der Gesellschaft berücksichtigt. Das Grundgesetz w i r d hier verstanden als Gegenprogramm zum anstaltlich organisierten Staat und zur totalen Institution. Auch der Staatsapparat muß danach als eine besondere, d. h. relativ eingegrenzte Sphäre verstanden werden, die i m Organisationsteil des GG geregelt ist und die anderen Sphären nicht diffus überlagert, denn damit wäre der Staat totalisiert. Die staatlichen Aufgaben müssen daher einigermaßen bestimmt gefaßt sein. Weiter müssen die Regeln des staatlichen Handelns möglichst so interpretiert werden, daß sie die Besonderheiten der jeweiligen betroffenen bürgerlichen Handlungssphäre reflektieren. h) Fazit Daß der Wert ,Freiheit' als Strafrechtsgut diese soziale Verfassung der Gesellschaft verfehlt und nicht nur Individualfreiheit gefährdet, ist nach allem evident. Die auf den Wert »Freiheit' orientierten justiziellen Entscheidungen sind von den Kompetenzregeln der Verfassung gelöst. Der Wert »Freiheit' tendiert zur Nivellierung rechtsstaatlicher Differenzierung der Gesellschaft. I m objektiven Wert steckt die Tendenz zur Entsubjektivierung der Freiheit. Den Bürgern werden latent die Regeln ihres Zusammenlebens vorgegeben ohne demokratische Legitimation 8 1 . Die Ausgangsfrage dieses Abschnitts kann also bejaht werden: Daß die Bürger zur Anpassung an die eingelebten Verhaltensmuster gedrängt werden, ist kein Nebeneffekt, sondern Programm, wo Freiheit zum objektiven Wert wird. Praktisch w i r d damit gewiß nicht Konformismus i m Sinn von Vereinheitlichung erstrebt. Daß sich jemand „etwas herausnehmen" kann, daß man sich egoistisch verhält, ist funktional, wo Freiheit als Beziehungslosigkeit vorgestellt wird. Die Gefahr, von hoheitlicher Definition überlagert zu werden, t r i f f t vor allem die Möglichkeit prinzipiellen Protests: das für das objektive Ganze dysfunktionale Verhalten. Bevor darauf genauer eingegangen wird, sind noch einige normative Erwägungen zu berücksichtigen. 9. Die Forderung nach materieller Gerechtigkeit Von den Befürwortern der Generalklausel bei der Nötigung w i r d zuweilen ein Gewinn an materieller Gerechtigkeit geltend gemacht, der 81 Daß das gegenwärtig eine allgemeine Tendenz ist, w i r d oft konstatiert; z. B. Wieacker, Das Sozialmodell der klassischen Privatgesetzbücher, S. 39 ff.; Maus, Die Basis als Überbau, S. 486 f.; Franz L. Neumann, Der Funktionswandel des Gesetzes, S. 31 ff.; Habermas, S t r u k t u r w a n d e l der Öffentlichkeit, S. 211 ff., 263 ff.
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I V . Entwicklung u n d bisherige Bestimmungen des Gewaltbegriffs
den Verlust an Rechtssicherheit aufwiege, den die Auflösung bestimmter bindender Gesetze m i t sich bringe 1 . I m Kommentar Schönke / Schröder 2 w i r d auf eine „Fülle einschlägiger Urteile" verwiesen, welche den Gewaltbegriff ausweiten und „deren materielle Gerechtigkeit kaum bestritten werden kann". — Aber was sind die Gerechtigkeitsmaßstäbe? a) Selektivität Selbst wenn man die einschlägigen Urteile, nach welchen Maßstäben i m weiten Feld materieller Gerechtigkeit auch immer für akzeptabel hält, so gilt das doch nur punktuell. Wo liegen die Gründe für das Aufgeben allgemeiner, bestimmter Regeln? Gehört Rechtssicherheit nicht zur Gerechtigkeit? Wenn nicht, was befugt dann die Strafjustiz jährlich ca. 20 000 Menschen wegen Eigentumsdelikten einsperren zu lassen, ohne nach materieller Gerechtigkeit der Eigentumsordnung oder der Eigentumsverhältnisse der Täter genauer zu fragen? Oder u m i m Bereich der Nötigung zu bleiben: Wenn mächtige Wirtschaftsgruppen, u m ihren Profiit zu mehren, die Sozialgesetzgebung durch Parteienfinanzierung und diverse Pressionen behindern können, wenn sie die Preise ohne Not erhöhen, massenweise Arbeitskräfte „freisetzen" können und straflos bleiben, ist es dann materiell gerecht, den wegen Nötigung zu bestrafen, der für eine halbe Stunde das falsch geparkte Kfz eines M i t bürgers einschließt? Die Probleme, die die Straf justiz zu berücksichtigen hätte, wenn sie konsequent u m der materiellen Gerechtigkeit w i l l e n die Tatbestände ausweitete, wären kaum zu fassen 3. Warum muß die materielle Gerechtigkeit ausgerechnet selektiv bei Gewaltnötigung zur Geltung kommen 4 ? b) Mehrdeutigkeit Die Berufung auf materielle Gerechtigkeit ist gefährlich. Sie kann erheblichen Unfrieden stiften, wenn die, die es angeht, sie geltend machen. Die Befürworter der Generalklausel setzen denn auch (so als sei es dasselbe) daneben ,die soziale Friedensordnung', ,das allgemeine 1 A E StGB Begr. zu § 116, S. 63; Schünemann* M S c h r K r i m 1970, 259 f.; H a n sen, Nötigungsunrecht, S. 60; auch Naucke gesteht den Generalklauseln (resignierend) ein Plus an materieller Gerechtigkeit zu (Generalklauseln, S. 15 ff.). 2 Schönke / Schröder / Eser, Rn 12 v o r § 234. 3 Dazu Luhmann, Rechtssystem, S. 24 ff., 31 ff. 4 § 240 Abs. 2 erzwingt das nicht, denn erstens gilt er nicht notwendig f ü r die Gewaltnötigung u n d zweitens ist er evtl., gerade w e i l er die Legalität zugunsten vager Gerechtigkeit aufgibt, verfassungswidrig; vgl. H. Mayer, Strafrecht A T (1967), S. 35; ders., Die gesetzliche Bestimmtheit der Straftatbestände. Materialien zur Strafrechtsreform, 1. Bd., S. 269 ff.; Stratenwerth, Strafrecht A T E n 368; Hirsch, ZStW 74 (1962), 123.
9. Die Forderung nach materieller Gerechtigkeit
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Gerechtigkeitsgefühl', die keinen schlimmen Schaden nehmen dürften 5 . Darin steckt allerdings ein wesentliches Zurückweichen vom naturrechtlichen Pathos materieller Gerechtigkeit, welches am Beginn des gleichen Satzes vorgebracht wurde. Der eingelebte soziale Frieden ist oft annähernd das Gegenteil von materieller Gerechtigkeit. Nähme man diese ernst, so wäre es oft schlecht bestellt um jenen Frieden und u m die eingelebten Gerechtigkeitsgefühle, die sich an diversen gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten nicht stören. Wenn man die soziale Friedensordnung aber als Bezugsrahmen akzeptiert, so geht es schlicht um das friedlich Eingelebte, welches die Gegebenheiten hinnimmt. Das Faktische w i r d dann normativ. Die schillernde Berufung auf höchste vorrechtliche Ziele legitimiert dann praktisch einen Relativismus zum normal Eingelebten. c) Soziale Gerechtigkeit Nach der Verfassung kann die Gerechtigkeit nicht mehr ganz unbefangen geltend gemacht werden i m Sinne ewiger oder eingelebter Prinzipien. Die transzendentale Gerechtigkeit ist i m Grundgesetz ein Stück weit politisch-sozial konkretisiert worden. Es geht nicht mehr einfach um objektive Prinzipien. Es gibt das Sozialstaatspostulat. Damit erhält die Bestimmung der Gerechtigkeit eine Tendenz. Wenn man also schon die Handlungsbestimmungen der positiven Strafgesetze auflöst, so müßte verfassungsgemäß die Gerechtigkeit zuerst i m Hinblick auf das Sozialstaatspostulat konkretisiert werden. Dafür spricht auch eine andere Überlegung. Wenn das Rechtsgut Freiheit i m Verkehr der Bürger als grundrechtlicher Wert geschützt werden soll, so w i r d unterstellt, die Grundrechte w i r k t e n auch zwischen den Bürgern. Inwieweit das akzeptabel ist, ist i m Verfassungsrecht umstritten. Kaum bestritten w i r d aber, daß die sogenannte D r i t t w i r k u n g einsetzt „gegen die Ausübung wirtschaftlicher und sozialer Macht" 6 . Diese konkrete sozialstaatliche Richtung müßte also berücksichtigt werden, wenn man sich auf Werte beruft; d. h. § 240 müßte i m Rahmen des Abs. 2 zumindest als Abwehr wirtschaftlicher und sozialer Übermacht konkretisiert werden. I n den einschlägigen Untersuchungen findet sich davon wenig. Die strafrechtliche Gerechtigkeit scheint auch noch über den Konkretisierungen der Verfassung zu schweben. — Hier soll die Frage nach der Sozialstaatlichkeit nicht weiter verfolgt werden. Es ist nämlich schon problematisch, ob das Insistieren auf präzisen strafrechtlichen Handlungsbestimmungen angemessen berücksichtigt wird, wenn 5 A E StGB a.a.O.; diese Argumente werden zwar n u r f ü r die Drohungsnötigung geltend gemacht, sachlich decken sie aber ebenso die Generalklausel bei der Gewaltnötigung. 6 Hesse, Grundzüge § 11 I I .
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I V . E n t w i c k l u n g u n d bisherige Bestimmungen des Gewaltbegriffs
man es auf Rechtssicherheit reduziert und damit der materiellen Gerechtigkeit gegenüber als formal abwertet. d) Legalität und Gerechtigkeit Es soll kurz der Anspruch vergegenwärtigt werden, der ursprünglich m i t dem Prinzip der Legalität verbunden war und keineswegs i n »Rechtssicherheit 4 aufging. — Historisch sollte die strikte Allgemeingültigkeit bestimmter Gesetze verbunden m i t demokratischer Gesetzgebung gewährleisten, daß die Freiheit der einzelnen nur so beschränkt wird, wie es für das gesellschaftliche Zusammenleben aller erforderlich ist. Es herrschen dann nicht einseitig Menschen über andere Menschen, sondern die Menschen vermittelt durch die Gesellschaft über sich selber, weil den anderen nur die Beschränkungen auferlegt werden, die man auch selber zu tragen bereit ist. Diese Beschränkungen sind gesellschaftlich vernünftig (man kann auch sagen gerecht) und daher einsehbar. Man kann ihnen aus Freiheit gehorchen 7. — Wenn heute die allgemeine Legalität selbstverständlich reduziert w i r d auf formale Rechtssicherheit, so zeigt das, daß die Reflexion auf die Herstellung gesamtgesellschaftlicher Vernunft verschüttet ist. Auch das dürfte ein Teil der hier mehrfach konstatierten Vereinzelung der Individuen, ihrer Reduktion zu bloßen Willenssubjekten sein. I n deren Verkehr kommt gesamtgesellschaftliche Vernunft nicht mehr vor, nur noch Sicherheit, Berechenbarkeit 8 . I n der ursprünglich prätendierten Zueinanderordnung von Allgemeingültigkeit der Gesetze und materieller Gerechtigkeit ist vorausgesetzt ein Mindestmaß an Gleichheit derer, die Gesetze geben und ihnen zugleich unterworfen sind 9 . Fehlt diese Voraussetzung, so werden die allgemeingültigen Gesetze problematisch. Wo ein Teil der Bevölkerung eigentumslos ist, t r i f f t das Diebstahlsverbot nicht alle materiell gleich. Der Schluß, deshalb sei für die Benachteiligten das Gesetz nicht vernünftig, ist aber zu kurz. Unvernünftig ist der gesellschaftliche Sachverhalt, der das allgemeine Gesetz problematisch macht. Das allgemeine Gesetz statuiert den Idealzustand der bürgerlichen Gesellschaft, i n welchem alle frei sind und vernünftigen Regeln folgen können. Hinter diesem Ideal der Vernunft bleibt die Wirklichkeit zurück 10. Solange das 7 Nach K a n t ( K r i t i k der praktischen Vernunft, S. 135 ff.; Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 49 ff., 84 ff.) ist die Allgemeinheit der Gesetze eine Bedingung von M o r a l i t ä t u n d Sittlichkeit. Allerdings unterscheidet er s t r i k t zwischen äußerer Legalität, Sittlichkeit und Moralität. Die Allgemeinheit der Gesetze ist aber Voraussetzung der letzteren. 8 Vgl. Horkheimer, V e r n u n f t u n d Selbsterhaltung. 9 Nach K a n t Gleichheit i. S. von ökonomischer Unabhängigkeit. Vorausgesetzt waren gebildete Besitzbürger; vgl. Metaphysik der Sitten, § 46. 10 Das ist das idealistische Programm. Sozial hatte das allgemeingültige
9. Die Forderung nach materieller Gerechtigkeit
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allgemeine Gesetz vorhanden ist, steht die Gesellschaft, wenn sie nicht dauerhaft eine vermeidbare Zwangsordnung sein soll, unter dem A n spruch, Gleichheit zu verwirklichen, sich auf das Vernunftideal hinzuentwickeln. Sie kann i h m genügen, indem sie, vereinfacht gesagt, die materielle Ungleichheit beseitigt oder das allgemeine Gesetz, welches Ungleiches gleich behandelt, allgemein zurücknimmt. Die Allgemeinheit des Gesetzes hält die Ungleichheit problematisch. Der Anspruch, materielle Gerechtigkeit durch gesellschaftliche Entscheidung zu verwirklichen, w i r d ein Stück weit gefährdet, wenn die Forderung nach Allgemeingültigkeit der Gesetze aufgegeben wird. I n der Allgemeingültigkeit von Gesetzen w i r d eine Differenz zwischen Sein und Sollen festgehalten, eine über das gesellschaftlich Gegebene hinausweisende Perspektive. Sie kann durch noch so ,vertretbare', ,faire' Einzelfallentscheidungen i m Rahmen von Generalklauseln nicht kompensiert werden. e) Positivismus Die Auflösung des allgemeingültigen Gesetzes zugunsten kasuistischer Einzelfallentscheidungen mag der Gerechtigkeit dienen, oft jedoch nur der Fallgerechtigkeit m i t der Folge, daß Probleme der gesamtgesellschaftlichen Gerechtigkeit nicht angegangen werden müssen. I n der pragmatischen Einzelfallentscheidung steckt die Gefahr des Positivismus 11 . Wo gegenüber der Wirklichkeit der Anspruch des gesellschaftlichen Sollens entfällt, kann die Wirklichkeit selber normativ werden. Gesellschaftliche Probleme können durch punktuelle Interventionen zu Lasten oder zugunsten einzelner klein gehalten werden, u m den Frieden zu wahren. Die allgemeinen Gesetze verlangen gesamtgesellschaftliche Entscheidung und Entwicklung. Wie weit das aus dem Blick geraten kann, zeigt eine Argumentation Uwe Hansens 12 zu § 240 Abs. 2: Obwohl diese Vorschrift dem nullapoena-Grundsatz an sich nicht ganz entspricht, sei sie verfassungsmäßig, denn der erwähnte Verfassungsgrundsatz könne „nichts Unmögliches fordern", und m i t Rechtsstaatlichkeit müsse tendenziell auch individualisierende, materielle Gerechtigkeit verwirklicht werden. — Zunächst wäre hier wieder zu fragen, warum überhaupt das i n Formen der LegaGesetz eine begrenzte Bedeutung; die partikularen Interessen des aufsteigenden Besitzbürgertums an rationalen Formen vor allem des Warenverkehrs gegen die Interventionen des staatlich herrschenden Feudaladels durchzusetzen (Wieacker, Das Sozialmodell, S. 16 ff.). Insofern w a r das Gleichheitsund Vernunftideal Ideologie. Beim W o r t genommen transzendiert es jedoch seinen begrenzten Interessenhorizont u n d umfaßt auch die, die nicht gemeint waren (Fr. Müller, Recht-Sprache-Gewalt, S. 29; vgl. auch Adorno, Negative Dialektik, S. 148, 233; Habermas, Strukturwandel, S. 110 f.). 11 Vgl. Maus, Die Basis als Überbau, S. 486 f. 12 Nötigungsunrecht, S. 58 ff.
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lität „Unmögliche" gleichwohl durch Strafgewalt zu verwirklichen sei, und welches die Maßstäbe sind. Daß materielle Gerechtigkeit auch durch gewaltlose gesellschaftliche Entwicklung und/oder sachbezogene, spezielle demokratische Gesetzgebung verwirktlicht werden könnte und daß diese gesamtgesellschaftliche Entwicklung gerade durch das Insistieren auf dem nulla-poena-Grundsatz gefördert werden könnte und sollte, ist hier etwas „Unmögliches". Materielle Gerechtigkeit w i r d nur noch auf der Ebene unmittelbarer Strafgewalt reflektiert. Zugunsten punktueller Intervention ist die gesamtgesellschaftliche Entwicklung und Entscheidung ausgeblendet. f) Vereinzelung M i t den allgemeingültigen Gesetzen w i r d nicht nur das aufklärerische Gleichheitspostulat i n seiner ambivalenten, idealistischen Version i n Frage gestellt. Es w i r d überhaupt die Möglichkeit und der Zwang, Zusammenhänge zu begreifen, zu kommunizieren gemindert 13 . Wenn es nur noch einzelnes, eines neben dem anderen, gibt, wenn nicht mehr das, was gesamtgesellschaftlich werden soll, mitreflektiert werden muß, w e i l allgemeingültige präzise Interpretationen obsolet sind, dann liegt es nahe, nur noch die unendliche Vielfalt zu verwalten 1 4 . Wenn man sich einen unbestimmten Begriff von strafbarer Gewalt macht, der latent alles umfaßt und nichts begreift, dann ist es konsequent, wenn die Gesetzeskommentare der Wirklichkeit nacheilen und tendenziell nur noch registrieren, was nach der Rechtsprechung alles strafbar ist und was nicht. Die Entscheidung aufgrund allgemeingültiger Gesetze weist noch immer über sich hinaus 15 . Sie stellt die Regeln des Allgemeinen i m Einzelfall dar und steht, wenn sie nicht blanke Gewalt sein soll, vor dem Problem , die i n den bestimmten Gesetzen statuierten Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens für die einzelnen als vernünftig zu erweisen. g) Folgenorientierung Rechtsprechung und Lehre zur Gewaltkriminalisierung sind folgenorientiert. Schon die Vernachlässigung der Handlungsbestimmung (Gewalt) zugunsten des Erfolges (Freiheitsbeeinträchtigung) ist ein Element 13 Vgl. Adorno, Negative Dialektik, S. 147 ff.; ders., K r i t i k . Kleine Schriften zur Gesellschaft, S. 150: „Denn Denken hat das Moment des Allgemeinen. Was t r i f t i g gedacht wurde, muß woanders, von anderen gedacht werden. 14 Maus, S. 486 f. Z u r Partikularisierung auch Luhmann, Rechtssystem, S. 28. Z u deren sozialgeschichtlichem Zusammenhang: Wieacker, Sozialmodell, S. 30. Das Allgemeine kann auch bei Einzelfallentscheidungen mitreflektiert w e r den, aber diese Reflexion ist schwer kontrollierbar, es fehlt i h r auch die über den Einzelfall hinausreichende Verbindlichkeit abstrakt allgemeiner Begriffe. 15 So zur Rechtsstaatlichkeit Fr. Müller, Recht-Sprache-Gewalt, S. 29.
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solcher Orientierung, wie überhaupt das Arbeiten m i t der Teleologie als separater Methode 16 . Problematisch ist die Auswahl der relevanten Folgen, wo die von Binding entwickelten abstrakten, bestimmten Kriterien der Folgenkontrolle (Art der Willensbeeinträchtigung als alleiniges K r i terium der Gewalt) aufgegeben sind. Schönke / Schröder / Eser 17 rekurrieren hier auf die Absicht des Nötigers. Das ist bestritten 18 . Das subjektive Selektionskriterium ist m i t allen bekannten Imponderabilien behaftet 19 i n tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht (Abgrenzung: direkter Vorsatz — Absicht — Motiv) 2 0 . Die Folgenorientierung weitet den Bezugsrahmen strafrechtlicher Entscheidung i n schwer kontrollierbarer Weise aus, z. T. tendiert sie zum Gesinnungsstrafrecht, worauf Arzt hinweist 2 1 . Sie kann auch die Rationalität des Strafverfahrens gefährden, wie die Demonstrantenprozesse der sechziger Jahre zeigten. Wenn man i m Rahmen des § 240 Abs. 2 oder des weiten Gewaltbegriffs umfangreiche Güterabwägungen durchführt, so w i r d es schwierig, die Beeinträchtigung der geltend gemachten Güter, Werte, Grundrechte etc. zu beweisen: Wann besteht i n der Bevölkerung ein „erhebliches Informationsdefizit"? Wann ist ein Verleger „Meinungsdiktator" 2 2 ? Wann verspricht „das Halten von Reden keine demokratische W i r k u n g mehr"? Wann sind „ i n den Gesetzgebungskörperschaften berechtigte Belange nicht durchzusetzen" 28 ? Welche Dauer einer Blockade genügt „fürs erste" 24 ? Wann ist ein M i t t e l „generell ungeeignet", die Öffentlichkeit aufzurütteln 25 ? etc. Das Beweisrecht kann durch solche Themen leicht überlastet werden 2 6 . Luhmann meint, die Folgenorientierung überschreite die Grenzen richterlicher Reflexionskapazität i m Einzelfall 27 . Aber nicht nur deshalb sollte auf begrenzten Zusammenhängen insistiert werden. I n den bestimmten verhaltensorientierten Tatbeständen w i r d die Differenziert16
Luhmann, Rechtssystem, S. 33, 45. § 240 Rn 27; ebenso Knodel, Der Begriff, S. 83 ff. 18 Vgl. Dreher / Tröndle, § 240 Rn 12; Lackner, § 240 A n m . 5. 19 Arzt, Festschrift f ü r Welzel, S. 827 f., 831; Geilen, Festschrift für H. Mayer, S. 461 F n 68. 20 Die Ausweitung des Absichtskriteriums bei politischen Tatbeständen zeigt v. Bünneck, Politische Justiz, S. 85 ff. 21 Welzel-Festschrift, S. 828. 22 G. Schultz, M D R 1969, 110 f.; L G Hannover 2 Ms 60/68 berichtet von T i e demann, J Z 1969, 717. 23 Vgl. A G Bremen K r i t J 1968, 80 f. 24 L G K ö l n JZ 1969, 83. 25 Schönke / Schröder / Eser, § 240 R n 24 d, e, f. 26 A G Bremen K r i t J 1968, 80f.: M i t Worten allein sind berechtigte Belange nicht durchzusetzen, „ w i e die Erfahrung l e h r t " ! 27 Rechtssystem, S. 35 ff., 39. 17
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I V . E n t w i c k l u n g u n d bisherige Bestimmungen des Gewaltbegriffs
heit der Gesellschaft berücksichtigt, die nicht justiziell überlagert werden sollte. Folgenerwägungen können unbegrenzt durch Folgenerwägungen relativiert werden. Die Politisierung der Freiheitsschutztatbestände, die m i t den folgenorientierten Demonstrationsentscheidungen einherging, ist ein Beleg dieser Gefahr. Es w i r d zwar für die Beurteilung von Demonstrationen eine recht strikte Folgenkontrolle vorgeschlagen: Es soll nicht ankommen auf die Sache, für die demonstriert wird 2 8 . Aber i n der Straf rechtslehre w i r d das relativiert: es soll „nicht allein" auf das Fernziel ankommen 29 . Diese Öffnung w i r d sich praktisch auch kaum vermeiden lassen 30 . Rechtsprechung und Lehre stellen i m Ergebnis denn auch weitreichende Folgenerwägungen an 3 1 ; außer den i m Zusammenhang des prozeßrechtlichen Problems schon Genannten: das Maß des amtlichen Fehlverhaltens, gegen welches die Demonstranten die Öffentlichkeit aufzurütteln bezwecken 32 , die Erfolgsaussichten des Demonstrationsmittels zum Zweck 33 , die Bedeutsamkeit des Zweckes für die von der Demonstration betroffenen Bürger 3 4 , die Beziehung dieser Bürger zum Zweck der Demonstration, ihre Möglichkeit, den angeprangerten Mißstand abzustellen 35 , das Verständnis der betroffenen Bürger, die Zahl der Verständnisvollen, die Meinungsäußerungsmöglichkeiten von Nichtjournalisten, die Qualität der blockierten Zeitung 3 8 . — Solche Erwägungen anzustellen ist konsequent 37 , wenn man schon m i t der h. M. den Gewaltbegriff erfolgsorientiert bestimmt. Umfassende Folgenorientierung w i r d schließlich zum Programm, wenn man m i t A l b i n Eser die Wahrnehmung berechtigter Interessen als allgemeinen Rechtfertigungsgrund anerkennt 38 . Denn damit w i r d ein Gestaltungsrecht eingeführt, dessen Betätigung auf künftige Veränderungen gerichtet ist 3 9 . Zwar muß auch i m Rahmen der herkömm28
423. 29
Maunz / D ü r i g / Herzog, GG, A r t . 8 A n m . 4, 44; auch Tiedemann, JZ 1969,
Schönke / Schröder / Eser, § 240 Rn 24 d, e. Luhmann, a.a.O. 31 Vgl. Tiedemann, J Z 1969, 721. 32 L G K ö l n JZ 1969, 82. Dieses U r t e i l hat zwar der B G H aufgehoben, jedoch nicht ohne selbst Folgenerwägungen anzustellen. 33 Schönke / Schröder / Eser, § 240 Rn 24 d, e. 34 L G K ö l n J Z 1969, 82. 35 Schönke / Schröder / Eser, § 240 Rn 24 d, e. 36 A G Esslingen JZ 1968, 800 f. 37 Arzt, Strafrecht L H 1, S. 195; ders., Festschrift f ü r Welzel, S. 837 f. 38 Eser, Wahrnehmung berechtigter Interessen, S. 15 ff., 54 ff.; i h m folgend Tiedemann, J Z 1969, 721; Krey, JuS 1974, 423 f. w i l l die Wahrnehmung berechtigter Interessen i m Rahmen des § 240 Abs. 2 berücksichtigen. 39 Eser, Wahrnehmung, S. 51, 54 ff., 67; speziell zu Demonstrationen: Tiedemann, JZ 1969, 721; ähnliche Ansätze bei A G Bremen K r i t J 1968, 78 ff.; A G F r a n k f u r t J Z 1968, 200 ff.; die defensive F u n k t i o n von Grundrechten betont A G F r a n k f u r t K r i t J 1968, 183. 30
9. Die Forderung nach materieller Gerechtigkeit
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liehen Rechtfertigungsgründe nach Folgen gefragt werden 40 . Dabei geht es aber primär u m die Erhaltung gegebener Güter 4 1 . Die Angriffe und Gefahren müssen schon als gegenwärtige Bedrohung des Bestehenden bestimmbar sein. Beim Gestaltungsrecht des § 193 ist die Folgenorientierung der Entscheidung weiter. Das Problematische der Folgenorientierung zeigt sich etwa, wenn der Bundesgerichtshof meint, ein Anspruch der Bürger oder ihrer Organisationen auf Gehör „kann auch gar nicht wünschbar sein", w e i l dadurch die Tätigkeit der Verwaltung „ i n ganz unerträglicher Weise erschwert und . . . zum Nachteil des Ganzen behindert würde" 4 2 . Inzwischen sieht man das anders 43 . Die Partizipation der Bürger an Verwaltungsentscheidungen w i r d gefördert. Die apodiktisch erregte Folgeneinschätzung des B G H (,kann gar nicht 4 , ,ganz unerträglich') ging wohl etwas daneben. Inzwischen w i r d erkannt, daß die Demokratie durch die Macht der Verwaltung i n Frage gestellt wird 4 4 . Auch i n diesem Zusammenhang hätte man die Demonstrationen sehen können. — Ob das Demonstrationsrecht, das das L G K ö l n zulassen wollte, hinausliefe „auf eine Legalisierung eines von militanten Minderheiten ausgeübten Terrors", wie der B G H meint 4 5 , läßt sich bezweifeln. Auch sollte man bei der Aufregung über diese Minderheiten die feinen und groben Pressionen nicht vergessen, die andere etablierte Minderheiten selbstverständlich legal auf Parlamente und Bürger ausüben. Die Folgenbewertung des B G H ist selektiv. Und wenn schon Terrorismus prognostiziert wird, wäre zu erwägen, ob nicht gerade die apodiktisch abweisende Behandlung der Demonstrationen der sechziger Jahre den Terror der letzten Jahre befördert hat. Volker K r e y 4 6 relativiert Folgen durch Folgen. Die Forderung der Fluglotsen nach Verbesserung der Flugsicherheit verliere „entschieden an Gewicht", weil sie „ m i t Geldfragen" gekoppelt sei. N u n sind die Flugsicherheit, die Krankenversorgung usw. allemal bei Industrie und Staat m i t Geldfragen gekoppelt. W i r d die Kopplung amoralisch, wenn Arbeitnehmer sie geltend machen? Interessante Folgenerwägungen bringt Schäfer 47 . Bei der Beurteilung von Demonstrationen sei nicht nur an Studenten zu denken. Wenn anarchistische Gewalttäter oder Rockerbanden sich ähnlich verhielten 40
Zielinski, Handlungs- u n d Erfolgsunwert, S. 237 ff. Eser, Wahrnehmung, S. 51, 67. 42 B G H S t 23, 55. 43 Hesse, Grundzüge § 9 I I 3 c; vgl. auch Ratz, Methodik, S. 92 ff. 44 Dazu Brohm, W D S t R L 30 (1972), 245 ff. 45 Vgl. auch Eser, Strafrecht I I I , S. 135. 4 « JuS 1974, 424. 47 L K § 240 Rn 30, 90. 41
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I V . Entwicklung u n d bisherige Bestimmungen des Gewaltbegriffs
oder wenn Brandstifter, u m das Löschen des Feuers zu verhindern, sich vor Feuerwehrautos auf die Straße setzten, so müsse Strafrecht eingreifen können. Die Vorstellung, Brandstifter könnten sich vor Feuerwehrautos setzen, erfordert einige Kraft. Wenn das Strafrecht für alle Fälle, die man sich ausdenken kann, bereit stehen soll, so kann man m i t derartigen, jeweils ausgedachten Folgenerwägungen jedes bestimmte Recht aufgeben zugunsten der polizeilichen Generalklausel. Diese ist offen für unvorhergesehene Eventualfälle; und die Polizei kann hier auch das Entscheidende tun, nämlich eine aktuelle Gefahr aktuell verhindern. Sanktionen sind aufgrund des Straßenverkehrsrechts möglich und sachgemäß48. Nach Schäfers Folgenerwägung scheinen soziale Probleme nur durch Strafrecht zu bewältigen zu sein. Außerdem wären bei der Feuerwehrblockade die §§ 211 ff., 223 ff., 303, 306 ff. anwendbar. Die Orientierung an Folgen von Entscheidungen lebt von der Erkenntnis, daß alles m i t allem zusammenhängt, alles fließt und durcheinander vermittelt ist. Das gilt aber auch für die kasuistisch Entscheidenden selber. Wenn die tatbestandliche Begrenzung fehlt, bringt die enorme Menge zu berücksichtigender Informationen notwendigerweise andere Vermittlungen, die „Medien", vermehrt zur Geltung. Sie vermitteln den Verständnishorizont der jeweils kasuistisch Entscheidenden. Die Gefahr, daß das sozial Eingelebte i n diesen, die Individuen übergreifenden Vermittlungen erstarrt und i m Urteil der Richter sich reproduziert, ist nach allem nicht auszuschließen. Die Probleme des prinzipiellen Protestes und des sozialen Druckes fallen oft zusammen m i t Situationen allgemeiner politischer Spannung. Dabei tendiert die Gesellschaft dazu, sich zu polarisieren. Die Neigung, Probleme zu vereinfachen, zu verschieben, zu personalisieren, wächst. Das Strafrecht m i t seinen spezifischen moralischen und personalen Implikationen ist solchen Tendenzen besonders ausgesetzt, und wo die begrenzenden K r i t e rien fehlen, kann der Konformitätsdruck durch eine erregte Strafjustiz weitergegeben werden. 10. Soziale Zusammenhänge der Ausweitung des Gewaltbegriffs Die Ausweitung des strafrechtlichen Gewaltbegriffs macht die Strafgewalt nicht gänzlich unberechenbar. Sie w i r d nicht zum terroristischen Instrument, welches jede Freiheit ausschließt. I m normalen bürgerlichen Leben ist der Eingriff der Strafgewalt kaum zu gewärtigen. Die soziale Problematik liegt an anderer Stelle. M i t der Ausweitung des Gewaltbegriffs zur Generalklausel entsteht ein relativ frei handhabbares I n strument zur punktuellen Regulierung gesellschaftlicher Konflikte zu 48
L a u t m a n n / Thoss, K r i m J 1976, 129.
10. Soziale Zusammenhänge der Ausweitung des Gewaltbegriffs
193
Lasten einzelner. Diese Möglichkeit des Interventionismus ist nicht nur theoretisch geblieben. a) Interventionismus Der Interventionismus war der soziale Ausgangspunkt des modernen Gewaltbegriffs . Seine Ausweitung wurde entscheidend vorangetrieben i n Situationen gesellschaftlicher Spannung und Verfeindung. Streiks, die heute als Gewalt bewertet werden, waren i m 19. Jahrhundert zuweilen i n Sondergesetzen kriminalisiert worden 1 . Daß Massen- und Generalstreiks Gewalt i. S. der Hochverratstatbestände seien, wurde erstmals 1933 von der NS-Regierung i n der Verordnung gegen Verrat am deutschen Volk und hochverräterische Umtriebe dekretiert 2 . Die Verordnung war Bestandteil der beginnenden Totalisierung des Staates. Der erste grundsätzliche justizielle Expansionsschub des Gewaltbegriffs nach 1945, das Hochverratsurteil des B G H von 1955, w a r m i t seiner Bewertung des Streiks als Gewalt und m i t der ausschließlichen Orientierung auf die Zwangswirkung ohne Vorbild 3 . Es stand i m Kontext des kalten Krieges, des Kampfes gegen den Kommunismus. Die K P D wurde bald darauf verboten 4 . Schon 1954 hatte der B G H i n einem Hochverratsverfahren die Gewaltstrafbarkeit dem Polizeirecht angenähert: wer Unruhen und Störungen der öffentlichen Sicherheit i n Umsturzabsicht ins Werk setzt, handelt gewaltsam 5 . Schon darin ist die Tendenz zu interventionistischer Konfliktsteuerung angelegt. Die allgemeine Mobilisierung und die erschreckende Instrumentalisierung des politischen Strafrechts jener Zeit sind inzwischen dokumentiert 6 . Das Kampfklima schlägt sich i n der Methode des Hochverratsurteils nieder. Das rigide Beiseiteschieben von Vorstellungen über Gewalt, die „einer vergangenen Zeit" angehören, die gradlinige Zweckverfolgung, welche die hindernisreichen Umwege über positivrechtliche Differenzierungen (Hochverrat—Staatsgefährdung) meidet und die Spezifik von Tatbestandsmerkmalen (Gewalt—Zwang) nivelliert, das waren nicht nur bes1
Abendroth, Arbeiterklasse, S. 104 ff. F. C. Schroeder, Schutz v o n Staat u n d Verfassung, S. 150 ff., 203. 8 B G H S t 8, 102; ähnlich schon BGHSt 6, 336 (340); kritisch H e i n e m a n n / Posser, N J W 1959, 121 (122); Abendroth a.a.O., S. 100 ff.; Schroeder, S. 203 m. w. N.; Geilen, Parlamentsnötigung, S. 87 ff. I n RGSt 21, 119 w a r Streik als Drohungserpressung bewertet worden. — Z w a r wurde der Gewaltbegriff auch schon i n B G H S t 1, 145 ausgeweitet; aber er wurde noch immer ansatzweise eigenständig bestimmt (Körpereinwirkung). Erst B G H S t 8, 102 stellt „ a l l e i n " auf die Z w a n g s w i r k u n g ab. 4 Kirchheimer (Politische Justiz, S. 233 ff.) zeigt, w i e sehr der K P D - V e r b o t s antrag u n d das Verbotsverfahren, m a l gemächlich, m a l forciert, eingespannt waren i n die Bonner T a k t i k des k a l t e n Krieges. 5 B G H N J W 1955, 110 (111) zu § 81. 6 v. Brünneck, Politische Justiz. 2
13 Keller
194
I V . E n t w i c k l u n g u n d bisherige Bestimmungen des Gewaltbegriffs
sere methodische Einsichten, sondern objektiv auch Elemente des Kampfes, i n welchem das Strafrecht instrumentalisiert wurde für Zwecke. Auch i n der Sprachform des Hochverratsurteils zeigt sich ein Machtgebaren, welches über die Usancen des Urteilsstils hinausgeht. Die differenzierende Frage etwa, ob politischer Streik, w e i l er, wie der B G H erkennt, eine moderne („andere") Methode des Umsturzes sein kann, nach den speziell für Streik vorgesehenen modernen Staatsgefährdungstatbeständen zu bewerten wäre 7 , unterläuft der B G H m i t einer vorgeblichen Beschreibung und technischen Erwägung: „Dazu (um die Verfassungsorgane stillzulegen, R. K.) w a r die Anwendung von Körperkraft i n irgendeiner Form gegen ihre Mitglieder weder das erforderliche noch das geeignete Mittel. Vorstellungen solcher A r t gehören einer vergangenen Zeit an; die Gegenwart kennt andere und nicht minder wirksame Methoden des gewaltsamen Umsturzes" — so als trügen die gegenwärtigen Umsturzmethoden das Merkmal ,gewaltsam' schon auf der Stirn, als sei hier juristische Bewertung obsolet. Eine komplexe juristische Frage w i r d damit ausgeblendet 8 . Allerdings schiebt der B G H noch eine andere Instanz vor: „die Gegenwart". Zwar hatten kurz zuvor noch die Gesetzgeber den Streik i n den erwähnten Spezialregelungen außerhalb der scharfen Gewalttatbestände erfaßt, anders aber „die Gegenwart". Sie ist nicht etwa vielfältig und unsicher i n ihren Benennugen. Laut B G H ist die Gegenwart eindeutig, undurchdringlich: sie kennt die Gewalt. Wer also etwas anderes meint, u. a. die Angeklagten und ihre Verteidiger, gehört nicht zur „Gegenwart". Gegenüber solcher Definitionsmacht ist die andere „Auslegung", m i t der sich der B G H danach auseinandersetzt, schon präjudiziert: sie „entwertet" die Vorschrift. Sie erscheint vorab als Restriktion gegenüber der selbstverständlichen, eindeutigen „Gegenwart". Nicht der BGH, der die Bedeutung des Wortes ,Gewalt' soeben auf annähernd N u l l reduzierte, trägt die Begründungslast für die Ausweitung, sondern die, die m i t einem Wort noch einen spezifischen Inhalt verbinden, müssen das begründen. Z u r Globalthese von der Entwertung der Hochverratsvorschrift wäre i m übrigen zu prüfen, welcher Umsturz der letzten Jahrzehnte ohne mindestens drohende körperliche Gewalt auskam 8 . F ü r die Ausweitung 7
Abendroth, Arbeiterklasse, S. 109 ff. Siehe oben S. 156. 9 Gegenstand des Verfahrens w a r ein K P D - P r o g r a m m der Wiedervereinigung, welches eine A n s a m m l u n g realitätsblinder Thesen u n d doktrinärer Phrasen enthielt u n d i n einem hohlen Revolutionspathos dazu aufforderte, u. a. durch Generalstreik das „Adenauer-Regime" „hinwegzufegen". Die K P D w a r damals eine bedeutungslose Partei. Z u 5 Jahren Zuchthaus wegen V o r bereitung eines hochverräterischen Unternehmens wurde einer der Propagandisten des Programms v e r u r t e i l t ; dazu v. Brünneck, Politische Justiz, S. 93 f., 280 f.; Abendroth, Arbeiterklasse, S. 91; Copic, Politisches Straf recht, S. 12. 8
10. Soziale Zusammenhänge der Ausweitung des Gewaltbegriffs
195
des Hochverratstatbestandes auf Streik sind auch andere Erklärungen möglich als die Sorge um die praktische Bedeutung dieser Vorschrift beim Schutz der Verfassung 10 . Das Wiedervereinigungsprogramm, auf das sich das Hochverratsurteil von 1955 bezog, hatte den B G H schon 1954 i n einer Entscheidung beschäftigt 11 . I n dieser hatte der B G H angenommen, das Programm ziele deshalb auf Gewalt, w e i l bei seiner Durchführung vermutlich Menschen getötet würden. I m folgenden Jahr 1955 nun stützte der B G H die Annahme der Gewalt nicht mehr auf die möglichen Menschenopfer, sondern auf den i m Programm geforderten Generalstreik. Diese neue Begründung, die nun Streiks m i t Strafe bedrohte, wäre nach der vorangegangenen Entscheidung nicht nötig gewesen 12 . v. Brünneck 13 schließt daraus, die i n casu unnötige Wendung der Gewaltkriminalisierung gegen Streiks habe jenseits der Urteilsbegründung objektiv die Funktion einer präventiven Warnung gehabt, politische Streiks zu unterlassen. Z u solchen Streiks bzw. Drohungen war es damals nämlich mehrfach i n den Auseinandersetzungen um die Montanmitbestimmung und das Betriebsverfassungsgesetz gekommen. Sie hatten oft die Gerichte beschäftigt 14 und die Bundesregierung i n A u f regung versetzt. Berücksichtigt man, i n welchem Ausmaß die politische Justiz jener Zeit kämpferisch ausgerichtet war, so ist die Annahme einer sozialpolitischen Warnung des B G H nicht abwegig. Auch hier läge demnach ein Element interventionistischer Konfliktsteuerung durch latente Strafgewalt. Zwar nicht i m Fall BGHSt 8, 102, wohl aber i n ähnlichen Fällen könnte gefragt werden nach der strafrechtlichen Haftung der streikenden Arbeiter selber wegen des Unterlassens der Arbeit. Ob eine Garantenpflicht der Arbeiter aus dem Arbeitsvertrag abzuleiten ist 1 5 , ob A r 10 Kirchheimer (a.a.O.) zeigt, daß die Sorge u m die Verfassung auch nicht leitend w a r beim A n t r a g auf Verbot der K P D u n d bei der Prozeßführung. 11 B G H S t 6, 336 (340). 12 Die neue Begründung diente auch nicht zur Vermeidung von Beweisschwierigkeiten hinsichtlich des Vorsatzes bezüglich der Menschenopfer. Der Vorsatz bezüglich der Menschenopfer w a r schon i m F a l l B G H S t 6, 336 (340) zweifelhaft gewesen, gleichwohl v o m B G H bejaht worden; vgl. Abendroth, a.a.O., S. 88, 104. 13 S. 95 f. 14 I m Zusammenhang des Zeitungsstreiks von 1952 hielten es L A G F r a n k f u r t R d A 1953, 195 (199), L A G Freiburg N J W 1953, 1278 (1279) f ü r möglich, daß politischer Streik Parlamentsnötigung sei. Das L A G Bayern (zit. bei Niese, Streik, S. 11, 26) bezeichnete den Streik als Gewalt. Auch mehrere Strafgerichte bewerteten damals Streik als Gewalt, Nachweise bei Geräts u. a., Staat ohne Recht, S. 302 f., 441 f. Angesichts der Anzahl der Entscheidungen (hinzu kommen die erwähnten BGH-Urteile) u n d des erneuten Hinweises auf den Gewaltcharakter des Streiks i n B G H S t 23, 50 ist die Strafbarkeit des Streiks auch nicht n u r ein „theoretisches Problem" (Schünemann, M S c h r K r i m 1970, 262). 15 Ablehnend Haffke, ZStW 84, 54.
13*
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beiter gar eine Garantenpflicht für die Handlungsfähigkeit der Bundesregierung haben, wenn es u m § 81 geht, ist nicht zweifelsfrei. Nach dem Hochverratsurteil des B G H ist das alles für die künftige Beurteilung von Streiks gleichgültig, denn „jeder Streik stellt eine aktive Kraftentfaltung dar und ist auch als solche gedacht" 16 . Ohne weiteres werden damit die Arbeiter per Strafdrohung zur Arbeit rekrutiert, als ginge es u m Wehrdienst. Das schlichte D i k t u m vom Streik als Kraftentfaltung ist aus dem Kampfvokabular der Gewerkschaften entnommen und mag i m Kontext arbeitskämpferischer Agitation auch angemessen sein, nicht aber für die Begründung strafrechtlicher Zurechnung 17 . Für diese ist es i m übrigen auch irrelevant, ob die Unterlassenden i h r Verhalten als A k t i v i t ä t „gedacht" haben. I n der Situation wirklicher oder vermeintlicher Bedrohung w i r d das Strafrecht mobilisiert. Es ist nicht mehr beschränkt auf die allgemeingültige Unterdrückung bestimmter Verkehrsformen; Gewalt i. S. von Zwangsausübung soll und kann nicht generell unterdrückt werden. Es entsteht also eine flexible Generalklausel, die die opportune K o n f l i k t steuerung i n politischen Krisen ermöglicht. Das ist auch i n anderen rechtsstaatlich organisierten Gesellschaften nicht ausgeschlossen18. I n der Krise w i r d allemal die Substanz verteidigt, und die Wahrung der Verkehrsformen zwischen den Bürgern und i m Verhältnis Bürger/Staat t r i t t zurück. Dieser politische Befund macht die Tatsache aber nicht normativ akzeptabel. Es gibt keinen Grund, die gesellschaftlichen und staatlichen Instanzen vorab von strafgewaltloser Bewältigung sozialer Konflikte prinzipiell zu entlasten. Der nächste Expansionsschub des Gewaltbegriffs erfolgte i n der nächsten vermeintlichen Krise. Durch die studentischen Proteste der sechziger Jahre wurden die eingelebten Werte der Nachkriegsgesellschaft radikal i n Frage gestellt. Der B G H reagierte i m Laepple-Urteil wiederum m i t radikaler Teleologie. Nachdem zunächst das Streikrecht, ein Grundrecht auf Konflikt, der latenten Kriminalisierung unterworfen worden war, wurde nun die Generalklausel ,Gewalt' i m Rahmen des § 240 verallgemeinert. Das Demonstrationsrecht, ein weiteres Grundrecht auf Konflikt, wurde latent kriminalisiert. Das Wegeversperren konnte zwar schon nach der Reichsgerichtsjudikatur als Gewalt pönalisiert werden. Durch die neue Begründung des B G H wurden die staatlichen Eingriffsmöglichkeiten aber erweitert auf viele andere Demonstrationshandlungen. Erweitert wurde damit die Möglichkeit, Konflikte zu entpolitisieren. Inzwischen zeitigt der Gewaltbegriff des Laepple16 17 18
B G H S t 8, 104; abl. Geilen, Parlamentsnötigung, S. 96 ff. Knodel, Der Begriff, S. 120. Vgl. schon M. Weber, Wirtschaft u n d Gesellschaft, S. 868.
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Urteils (Iniaufsetzen eines psychischen Prozesses) bei den Untergerichten Folgen. M i t formelhaften Begründüngen geraten störende Zwischenrufe, Zwischenfragen, unsachgemäßes Diskussionsverlangen, Ablenken eines Hochschullehrers und seiner Hörer durch eine Wandzeitung und Verursachen von Unruhe u. ä. konflikthafte Verhaltensweisen i n den Bereich der Gewaltstrafbarkeit 1 9 . Die zahlreichen lesenswerten Urteile werden selten bekannt. Ihre Lektüre zeigt, daß Gewalt w i r k l i c h alles sein kann, was nötigend wirkt , daß der Gewaltbegriff sich der polizeilichen Generalklausel nähert. Auch außerhalb des Spektakulären, i m Straßenverkehr 20 , fungiert die Gewaltstrafdrohung als bewegliches Instrument, u m Rüpeleien zu ahnden, Strafbarkeitsbedürfnisse zu befriedigen und die politischen Instanzen von prinzipiellen Entscheidungen zu entlasten. Warum überläßt man der Rechtsprechung diese problematische Kompetenz umfassender Konfliktsteuerung 21 ? Warum wurde keine der bisher vorgeschlagenen, ihrerseits noch recht flexiblen Präzisierungen kodifiziert oder von der Rechtsprechung übernommen? Gefragt w i r d damit nicht nach dem Grund der faktischen Gewaltkriminalisierung. Sie dürfte durch die neuere Entwicklung nicht erheblich ausgedehnt worden sein. Unter gegebenen Verhältnissen dürfte das Maß dessen, was wirklich bestraft werden kann, begrenzt sein. Problematisch ist die Ausdehnung der möglichen Kriminalisierung über weite gesellschaftliche Bereiche und die Ungebundenheit der Kriminalisierung. b) Latenz der Strafgewalt Denn gerade im Verzicht auf den faktischen Einsatz einer umfassend möglichen (Straf-)Gewalt entsteht Macht 22. Das Bewußtsein der Betroffenen davon, was die überlegene Gewalt alles bewirken könnte, macht die sozial konformierende W i r k u n g der Gewalt aus, nicht so sehr die faktisch vollzogene Gewalt. Die enorme Latenz der Gewaltstrafbarkeit bedarf also der Erklärung. Bevor mögliche Erklärungen untersucht werden, soll kurz die Bedeutung der Latenz der Strafen belegt werden.
19 K G JR 1979, 162 (163); L G Berlin, Wissenschaftsrecht 1974, S. 55 f. (zust. Mertins, G A 80, 62); K G v. 1. 2. 78, (4 [1 a]) Ss 121/77 (84/77) m. w . N.; zahlreiche Nachweise i n Rote Robe 1975, 216 ff.; Schöffengericht Tiergarten zit. i n F U - I n f o 15/76; B G H Beschl. v. 8. 10. 1981 — 3 StR 449/450/80 —- dazu s.u. S. 158 ff. 20 Dazu unten, S. 205. 21 Der angebliche Zuwachs an Gerechtigkeit genügt als Begründung nicht. E r ist w i e gesagt derart zweifelhaft, daß m a n sich damit nicht zufrieden geben sollte. 22 Luhmann, Rechtssoziologie 1, S. 108 ff.; vgl. auch Steinert / Treiber, K r i m J 1978, 94 f., 100 f.
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Daß die Latenz der Strafdrohung eigenständige Wirkung haben kann und daß die These von der Machtakkumulation nicht nur spekulativ ist, zeigt die politische Justiz der fünfziger und sechziger Jahre. Sie hatte ihren effektiven Schwerpunkt nicht i n den Sanktionen, die letztlich gegen die Kommunisten verhängt wurden, sondern i n den Ermittlungsverfahren und Verhaftungen. 125 000 Verfahren, die gegen eine politisch bedeutungslose Organisation geführt wurden 2 3 , waren geeignet, Feinde zu identifizieren, die außenpolitische Polarisierung voranzutreiben und die Opposition auf systemkonformem Kurs zu halten. So ist die Lage heute nicht. Immerhin w i r d auch gegenwärtig die Latenz der lebenslangen Freiheitsstrafe über § 81 erweitert, i n § 83 die Vorbereitung der ohnehin schon diffusen Gewalt noch pönalisiert, zum Ganzen i n § 83 a ein flexibler Korrektivstrafrahmen eröffnet: Straflosigkeit bis lebenslang. Durch die Flexibilität der Strafen w i r d die Einsatzmöglichkeit der Tatbestände erweitert. — Die politischen Gewaltstraftatbestände werden selten eingesetzt, entscheidend ist ihre Latenz. I m übrigen bietet jenseits des explizit Politischen auch der Allzwecktatbestand des § 240 einen flexiblen Strafrahmen: 10 Mark bis 5 Jahre. Auch damit w i r d die Anpassung an viele, höchst verschiedene Situationen ermöglicht und die umfassende Verwendbarkeit des Tatbestandes erweitert. Vor allem aber sollte berücksichitgt werden, daß auch i m unübersehbaren Einsatzbereich der Nötigung, i n welchem sich die alltägliche Unberechenbarkeit der Menschen entfaltet, die polizeilichen Kontrollen und Ermittlungen problematisch werden können. Der Ermittlungs- und Uberwachungsapparat wurde m i t elektronischer Datenverarbeitung beachtlich ausgeweitet und ist schwer kontrollierbar* 4 . Sein Zugriff richtet sich nicht nach dem, was Richter i m Urteil letztlich als nicht mehr sozialadäquate Gewalt bewerten, sondern nach grobgerasterten Rahmentatbeständen. Deren Ausweitung auf die alltäglichen Spontaneitäten und unberechenbaren Konflikte der Menschen w i r d durch Generalklauseln wie den weiten Gewaltbegriff gefördert. Die Ermittlung, Uberwachung und Datensammlung ist heute Entfaltung von Staatsgewalt m i t eigenem Gewicht. Dadurch können die Bürger eingeschüchtert werden. Deshalb ist es ein Problem der Demokratie, wenn die Grundrechte durch latente Gewaltstrafbarkeit überlagert werden. Die Ausweitung latenter Strafbarkeit findet nicht nur i m Bereich der nötigenden Gewalt statt. Parallel wurde der Begriff der Gewalttätigkeit ausgeweitet. Die §§ 88 a, 130 a betreffen das kommunikative Vorfeld u. a. der Gewalttätigkeit. Durch diese Tatbestände und durch § 90 a wer23 Diese Z a h l der Verfahren n i m m t v. Brünneck a n (Politische Justiz, S. 242). Nach F. C. Schroeder handelt es sich u m einen „Exzess der Strafgerichtsbarkeit' c (Schutz von Staat u n d Verfassung, S. 216). 24 Dazu Steinmüller, Kursbuch 56, 169 ff.
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den gewaltlose politische Auseinandersetzungen präventiv kriminalisiert. Auch die Bedeutung dieser Tatbestände liegt nicht i n den wenigen wirklichen Verurteilungen und Strafen, sondern i n der durch sie erweiterten Latenz von Gewalt: der großen Zahl von Ermittlungsverfahren, Durchsuchungen und Überwachungen, vor allem i n der präventiven, diffusen Zensur, die private Instanzen (Verleger und die Schreiber selber) zur Vermeidung von Strafverfahren betreiben 26 . Auch das Schießen auf Menschenmengen w i r d der Polizei durch den weiten Gewaltbegriff näher gelegt, denn die »Gewalttat' begründet es26. Wenn also aus einer Menschenmenge heraus Sachen weggenommen oder umgeworfen werden oder wenn eine Menschenmenge feindselig vorrückt, so darf als ultima ratio auf die Menge geschossen werden gemäß dem weiten Gewaltbegriff. Auch hier geht es weniger u m die z. Z. seltenen Fälle des Schießens auf Menschenmengen als u m die generelle Senkung der Hemmschwelle, w e i l es mehr zulässige Schießmöglichkeiten gibt. c) Gefahrkontrolle Die politische und soziale Funktion dieser latenten Strafgewalt kann hier nicht zureichend bestimmt werden. Verschiedene Erklärungsansätze sind zu berücksichtigen. Zunächst dürfte wichtig sein, daß, wie schon angedeutet, durch die enorme Latenz der Gewalt Macht gebildet wird, die einzelnen eingeordnet werden und die Gesellschaft von oben konsolidiert wird 2 7 . Diese Erklärung entspräche auch dem Programm der objektiven Werte. Freilich bleibt offen, i n wessen Interesse solche Machtbildung sich vollziehen sollte. Auch dürfte die Machtbildung nicht i n allen Bereichen der Gewaltstrafbarkeit relevant sein, nicht etwa i m Straßenverkehr. Differenzierungen sind notwendig. Beobachter des Strafrechts, die sich m i t seiner Latenz beschäftigen, meinen, darin realisiere sich eine disziplinierende Wirkung 2 8 . Für den Straßenverkehr und für Bereiche, i n denen Spontaneität und Konflikte den „normalen 25 Bemerkenswert ist die bei S K - H o r n § 240 Rn 14, 48 vorgesehene Latenz der Strafbarkeit i m Arbeitsbereich. Jeder arbeitsrechtlich rechtswidrige Streik soll auch strafbar sein. Daß die arbeitsrechtliche Rechtswidrigkeit ein präzises K r i t e r i u m sei, davon k a n n keine Rede sein. M i t der diffizilen Frage nach der Rechtmäßigkeit eines Streiks wären danach i m m e r zugleich die Strafdrohung, das Strafverfahren etc. präsent. Ob das dem Grundrecht des A r t . 9 Abs. 3 GG gerecht w i r d , läßt sich bezweifeln. Immerhin, der soziale Frieden w i r d durch die umfassend latente Strafgewalt überlagert u n d gesichert. 26 Z . B . § 10 U Z w G (Bund); G r o m m e k / H e r r g e s e l l , Unmittelbarer Zwang, IX/11 S. 84. 27 Vgl. Carl Schmitt (Der Leviathan, S. 115 ff.), der die wunderbare V e r einheitlichung des Willens u n d des Geistes der verschiedenen Menschen durch die strafrechtliche Generalprävention preist. Z u r konsolidierenden Machtdemonstration durch politische Justiz vgl. Copic, Politische Justiz, S. 4. 28 Steinert / Treiber, S. 100 f.
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Ablauf" gefährden, könnte das zutreffen. Und daß i n der Geschichte der Gewaltstrafbarkeit solche Disziplinierung relevant war, wurde oben gezeigt. Betrachtet man, um den politischen Stellenwert zu bestimmen, die Diskussion der Beteiligten, so fällt auf, daß die Unbestimmtheit der Gewalttatbestände immer wieder als problematisch bezeichnet wird, gleichwohl kein Präzisierungsvorschlag akzeptiert wird. Schäfer 29 sieht i n der Auflösung des Gewaltbegriffs „eine gewisse Zwangsläufigkeit". Das ist richtig, wenn man vom Rechtsgut Freiheit ausgeht, aber dieser Ausgangspunkt ist nicht notwendig. Wenn die Auflösung gleichwohl als zwangsläufig empfunden wird, so scheinen ihre Bedingungen sehr tief zu liegen. Möglicherweise steckt darin ein Streben nach Lückenlosigkeit der Strafdrohungen und die Vorstellung permanenter Gefahren durch Konflikte. Es steht ja m i t dem Polizei- und Ordnungswidrigkeitenrecht ein Arsenal von weniger gewaltsamen Konfliktbewältigungsmitteln zur Verfügung. Wenn man sich dennoch nicht darauf festlegt, nur i n einem bestimmten Teil des jetzt von der Generalklausel überlagerten weiten gesellschaftlichen Bereichs Strafgewalt einzusetzen, so könnte damit zugleich unterstellt sein, die Entwicklung der Gesellschaft sei generell sehr gefährlich. Man könne den einzelnen i m weiten Bereich der Nötigung prinzipiell nicht zutrauen, vernünftig zusammenzuleben, man hat aber grenzenloses Vertrauen zur Strafgewalt. Die hoheitliche Gewalt hat das Primat bei der Sicherung des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Dieter Senghaas 30 hat politische Strategien untersucht, die darauf gerichtet sind, dem Gegner ein lückenloses Gewaltpotential entgegenzustellen. Er weist darauf hin, daß solche „Drohpolitik" Angst, Feindschaft und Aggressivität fördert. Die umfassende Latenz der Gewalt setzt sich i n den Individuen fest. Das Drohpotential entwickelt eine besondere Dynamik, denn durch latente oder wirkliche Gewalt sind Probleme selten w i r k l i c h zu lösen. Es entstehen also immer neue, durch das vorhandene Gewaltpotential nicht zu bewältigende Gefahren, angesichts deren dann jeweils wieder „katastrophale Lücken" i m eigenen Drohpotential moniert werden, so daß Drohpolitik sich stets selbst destabilisiert und, u m sich zu konsolidieren, wieder erweitert werden muß. I n diesem Zusammenhang ist die Chance kommunikativer, dauerhafter Problembewältigung gering. Senghaas' Analyse betrifft primär die Außenpolitik. Aber auch die als zwangsläufig vorgestellte Eskalation des Gewaltbegriffs dürfte nicht frei sein von der Dynamik der Drohpolitik. Anstelle äußerer Gegner 29
L K § 240 Rn 24. Abschreckung u n d Frieden, S. 104 f.; ders., Aggressivität u n d Gewalt. Thesen zur Abschreckungspolitik, S. 128 ff. 30
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bezieht sie sich auf das Zusammenleben der einzelnen. Es w i r d als prinzipiell gefährlich vorgestellt. Dementsprechend hält man umfassend Interventionsinstrumente bereit, u m möglichst jeden K o n f l i k t gegebenenfalls m i t Gewalt niederhalten zu können. Das Strafrecht fungiert dann wie das Polizeirecht als Gefahrenkontrolle. So war es, wie die Untersuchung des crimen vis zeigte, auch schon i m Absolutismus eingestellt. Auch daß Strafrecht, und speziell die Gewaltstrafbarkeit, als Disziplinierungsinstrument fungiert, ist schon aus dem Absolutismus bekannt 31 , i n welchem das unberechenbare, unvernünftige Volk von oben zur Raison gebracht werden mußte 32 . Daß ein solches Verständnis zugrunde liegt, ist auch keine böswillige Unterstellung. Daß die Menschen prinzipiell gefährlich sind, ist i n der Konzeption des ,modernen' Freiheitsschutzes schon deutlich angelegt: Wenn Freiheit der blanke, beziehungslose Wille ist, so ist sie regressiv. Vernünftiges Zusammenleben kann man nur i n entwickelten Formen des sozialen Verkehrs lernen. Wenn man diese vorab ausblendet, so ist Freiheit gefährlich. Es ist also auch inhaltlich m i t dem so hoch gehaltenen Rechtsgut Freiheit zugleich die umfassende latente Gefahr und deren umfassende Kontrolle legitimiert. Das ist nicht nur theoretische Rekonstruktion: Erstens werden, wie ich oben zu zeigen versucht habe, gegenwärtig tatsächlich die Verkehrsformen der Menschen versachlicht und nivelliert. Es besteht die Gefahr der Erstarrung der Vermittlungsmöglichkeiten. Möglicherweise werden die Vereinzelten dann tatsächlich gefährlich oder hilflos und bedürfen hoheitlicher Konformation. Man kann ihnen Konflikte und aufreizende Reden nicht mehr ohne weiteres zumuten. Zweitens ist nicht zu übersehen, daß auch die Verhältnisse der Menschen tatsächlich recht gefährlich, d. h. unbeherrschbar geworden sind. Wenn man den Straßenverkehr i n der gegebenen Form einrichtet m i t der Verdinglichung der Beziehungen, die darin steckt, und m i t den entsprechenden massenhaften Todesfolgen, so ist das Zusammenleben hier w i r k l i c h gefährlich, und eine umfassende Möglichkeit zur Kontrolle und gewaltsamen Disziplinierung der vereinzelten Willenssubjekte erscheint angemessen. Wenn man sich auf eine riskante A r t der Energieversorgung einrichtet, so dürfte die umfassende Überwachung und effektive Interventionsmöglichkeit lebensnotwendig werden. Die solchen Entwicklungen korrespondierende Umbildung des Strafrechts zum Instrument der Gefahrenkontrolle zeigt sich i n der Entgegnung Schäfers 33 auf die K r i t i k am ausgeweiteten Gewaltbegriff; zu31
Siehe oben I V . 1. d), e); Steinert / Treiber, S. 94 ff. A u f Parallelen zwischen dem aufgeklärt absolutistischen Wohlfahrtsstaat u n d der gegenwärtigen Situation verweist Habermas, Strukturwandel, S. 233 ff. 33 L K § 240 R n 43. 82
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nächst verweist er auf den flexiblen § 240 Abs. 2, dann auf § 153 StPO; damit soll die „Inflationierung des Straf rechts" eingedämmt werden. Wenn dies die neue Form der Kriminalisierung ist5*4, so w i r d die enorme Latenz der Strafgewalt akzeptiert. Je nach „öffentlichem Interesse" w i r d dann i m Einzelfall Strafe eingesetzt. Für alle Fälle stehen Reservestrafen bereit. Das Strafrecht bezieht sich hier nicht mehr auf Taten von Individuen; es enthält keine Tatbestände mehr, es sagt nicht mehr, welche Beschränkungen der Individuen im gesellschaftlichen Zusammenleben vernünftig sind. Das Strafrecht akkumuliert eine enorme Gewaltdrohung zur Beherrschung der Gefahren, die von den unberechenbaren Menschen ausgehen können. Sie werden im Strafrecht nicht mehr akzeptiert als Subjekte von Taten, sondern als Objekte der Kontrolle. Daß das eine relevante Tendenz ist, zeigt die neue Reaktionsweise auf die Bagatelleigentumskriminalität. Angesichts des sozialen Problems werden allgemeingültige Regeln aufgelöst. Unterhalb des allgemeinen Gesetzes werden Möglichkeiten der Milderung und Verwaltungsentlastung eröffnet. Parallel dazu w i r d das allgemeine Drohpotential erweitert: Die Mundraubstrafdrohung w i r d rückfallträchtig und auf 5 Jahre erhöht, und die allgemeine Diebstahlsstrafe w i r d auf bis zu 10 Jahre erweitert. Die Bagatellkriminalität kann über §§ 153 f. StPO als eine K o n j u n k t u r per Runderlaß staatlich gesteuert werden, wie der normale Ablauf es jeweils erfordert. I m Hinblick auf solche Entwicklungen ist nicht abwegig, was Michel Foucault feststellt: Das allgemeine Gesetz ist „den neuen Machtverfahren völlig fremd, die nicht m i t dem Recht, sondern m i t der Technik arbeiten, nicht m i t dem Gesetz, sondern m i t der Normalisierung, nicht m i t der Strafe, sondern m i t der Kontrolle" 8 5 . Auch wenn die bei der Umbildung des Strafrechts unterstellte Gefahr ein Stück weit real ist, so muß sie doch nicht normativ reproduziert und sanktioniert werden. Das Rechtsstaatsprinzip steht solchem Konzept entgegen. Indem es die Strafen an bestimmte Gesetze bindet und durch das Legalitätsprinzip gewährleistet, daß nur solche Strafdrohungen statuiert werden, die auch generell realisiert werden können, begrenzt es die Strafgewalt auf ein gesamtgesellschaftlich vernünftiges Maß™. Dam i t ist andererseits die Annahme permanenter, unbeherrschbarer Ge34 Daß der Hinweis auf § 153 StPO eine relevante Tendenz erfaßt, zeigt die Ausbreitung des Opportunitätsprinzips i n anderen Bereichen des Strafrechts. 35 Foucault, Sexualität u n d Wahrheit, S. 110 f. Vgl. auch A r t h u r Kaufmann, Schuld u n d Strafe, S. 241. — Tendenzen zur Ausweitung der Befugnisse der Polizei zu umfassender Sozialkontrolle zeigt Groth, K r i t J 1979, 182 ff. m. w . Nachweisen. 36 Diese R ü c k w i r k u n g des Legalitätsprinzips w i r d übersehen, w e n n m a n es n u r als Garantie der formalen Gleichheit erklärt.
11. Pragmatische Erwägungen
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fahren als Bezugsrahmen des Strafrechts ausgeschlossen. Die Unberechenbarkeit, die Spontaneität der Menschen ist nach dem Hechtsstaatsprinzip etwas Positives. Es gibt keine Norm und keine Notwendigkeit, davon abzugehen. 11. Pragmatische Erwägungen a) Milderung
durch Anerkennung
des Verbotsirrtums?
Werden die freiheitsbedrohenden Wirkungen der latenten Gewaltstrafbarkeit beseitigt, wenn das ,Interpretationsrisiko' der Bürger vermindert w i r d durch die Berücksichtigung des Verbotsirrtums 1 ? Dieses Instrument w i r d für das Demonstrationsstrafrecht empfohlen 2 . Nach h. M. kann ein Verbotsirrtum schon dann abgelehnt werden, wenn der Bürger sein Verhalten für möglicherweise verboten hält 3 . Eben dies ist aber eine der problematischen Situationen, i n denen die latente Strafgewalt zur Freiheitsbeeinträchtigung wird. Z w a r kann der Bürger sich darauf berufen, er habe trotz Ungewißheit letztlich auf die Erlaubtheit seines Verhaltens vertraut 4 . Aber es bleibt die Frage der Vermeidbarkeit. Immerhin könnte man dem Bürger noch zugute halten, es sei unzumutbar, bei unbehebbaren Zweifeln über die Verbotenheit stets das freie Handeln zu unterlassen, insbesondere, wenn es u m die Ausübung eines Grundrechts geht 5 . Die Rechtsprechung hat solche Unzumutbarkeit bisher nicht berücksichtigt. — Wie auch derartige Erwägungen ausgehen, generell bringt die Anerkennung des Verbotsirrtums keinen Zuwachs an Bestimmtheit 6 . Sie mildert das Risiko des Bürgers, wenn überhaupt, graduell 7 . I m übrigen setzt sich auch i n der Behandlung des Verbotsirrtums noch die die Bürger rekrutierende Wertordnung durch: Nach BGHSt 2, 194 (208 f.) t r i f f t den rechtsblinden Überzeugungstäter eine „Lebensführungsschuld". D. h. die Beurteilung greift über die Tat hinaus und erfaßt die ganze Person; das ist die Logik der Wertordnung. Dem Bürger w i r d vorgeworfen, daß er „an die Stelle der Wertordnung der Gemeinschaft seine eigene setzt", daß er „die A n 1
Dazu Naucke, Generalklauseln, S. 23 ff. Tiedemann, J Z 1969, 717 (724, 726). 3 Schönke / Schröder / Cramer, § 17 Rn 7; SK-Rudolphi, § 17 R n 12. 4 Rudolphi, a.a.O. 5 A.a.O., R n 13. 6 Vgl. die unterschiedliche Bewertung der Rechtswidrigkeit u n d des V e r botsirrtums durch B G H S t 23, 46 (54 ff., 58); L G K ö l n J Z 1969, 83; Eser, Strafrecht I I I , S. 145 i m Laepple-Fall; vgl. auch Tiedemann, J Z 1969, 724. 7 Der B G H (a.a.O.) unterstellt ohne weiteres, der Bürger hätte einen V e r botsirrtum vermeiden können, dem auch die K a m m e r eines L G erlegen w a r (Eilsberger, JuS 1970, 169; vgl. auch Tiedemann, a.a.O.). 2
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sprechbarkeit durch sittliche Werte" eingebüßt hat 8 . Was der »sozialadäquaten' Expansion des Strafrechts zugrunde liegt, beherrscht auch ihre punktuelle Eingrenzung: existentielle Werte anstelle von Legalität. Auch wenn man, wie Tiedemann fordert, den Verbotsirrtum großzügiger als bisher anerkennte, so dürfte m i t dieser Milderungsstrategie kaum die Auflösung der Rechtsstaatlichkeit zu legitimieren sein. Durch die umfassende Anerkennung des Verbotsirrtums würde den Bürgern nicht objektiv Freiheit zuerkannt, die durch die Legalbindung der Strafgewalt gewahrt werden soll. Denn, was Freiheit objektiv ist, das einseitig kasuistisch zu bestimmen, bliebe der Justiz vorbehalten. Zugestanden würde den Bürgern durch solches Milderungsprogramm vielmehr, daß sie straflos nicht auf der Höhe der justiziellen Werterkenntnis sind, daß also die objektive Freiheit nicht w i r k l i c h ihre Freiheit ist. Es würde nicht anerkannt, daß mündige Bürger Freiheit haben; i m Gegenteil: es würde von den Instanzen der abgehobenen Werterkenntnis umfassend für die rückständigen Bürger ein Spielraum des Irrtums zugestanden. Es würde programmatisch die Illusion von Freiheit gewahrt. Eine Frage der gesellschaftlichen Verfassung würde m i t psychologischen Zugeständnissen beantwortet. b) Vergleich mit Fahrlässigkeit
und Unterlassung
U m die bisherige K r i t i k zu entkräften, könnte man darauf hinweisen, ähnlich unbestimmte Strafdrohungen und Durchgriffe aufs Sozialnormale wie beim weiten Gewaltbegriff seien i m sonstigen Strafrecht längst anerkannt 9 : bei Fahrlässigkeit (Sorgfaltspflichten) und Unterlassung (Garantenpflichten). — Aber eine Verfassungswidrigkeit würde nicht dadurch akzeptabel, daß sie öfter vorkäme. Davon abgesehen bestehen wesentliche Unterschiede. Der Durchgriff aufs Sozialnormale ist bei Fahrlässigkeit und Unterlassung weniger fragwürdig. I n beiden Bereichen werden die Pflichten zwar jeweils vom Richter erst konkretisiert; aber sie haben i n jedem Einzelfall einen recht bestimmten A n knüpfungspunkt, den Erfolg als ein faßbares, generell schädliches Ereignis. Es gibt i m deutschen Strafrecht keine Fahrlässigkeit ohne Erfolg 10 . Von diesem Punkt aus kann die Bestimmung der Verhaltenspflichten jeweils kontrolliert werden. A r m i n Kaufmann 1 1 hat mehrfach darauf hingewiesen, daß ohne den Erfolg die Fahrlässigkeitsdelikte 8
K r i t i s c h dazu Stratenwerth, Strafrecht Rn 560. Darauf weist Niese, Streik, S. 22 F n 15, h i n gegen H. Mayer, Die gesetzliche Bestimmtheit, S. 276. 10 Auch die konkrete Gefahr ist ein Erfolg, A r m i n Kaufmann, Zeitschr. f. Rechtsvergl. 1964, 41; S K - H o r n , Rn 4 vor § 306. 11 Zeitschr. f. Rechtsvergl. 1964, 54; ders., J Z 1971, 575 u n d Festschrift f ü r Welzel, S. 393 (413 f.). 9
11. Pragmatische Erwägungen
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rechtsstaatlich untragbar wären, es sei denn, die Sorgfaltspflichten w ü r den positiv-rechtlich fixiert. Die richterliche Rechtsschöpfung hat i m Erfolg einen bestimmten, auch sozial einprägsamen Fixpunkt. Er fehlt bei der Bestimmung der Sozialadäquanz der Nötigung. Zwar gibt es auch hier einen Erfolg, nach h. M. die Freiheitsbeeinträchtigung. Er ist aber für sich neutral, w e i l i. d. R. sozial-normal. Von diesem Punkt aus sind Verhaltenspflichten weit weniger rational zu bestimmen, als etwa von einer Tötung oder Körperverletzung aus die Handlungs- und Sorgfaltspflichten zu bestimmen sind 12 . Die richterliche Wertung ist hier kaum noch an eine causa zurückgebunden. Daß anhand der Freiheitsbeeinträchtigung als Erfolg Verhaltenspflichten kaum zu konkretisieren sind, läßt sich beispielhaft zeigen an dem Vorschlag Volker Busses18 zur Konkretisierung des § 240 Abs. 2. Danach soll die Verwerflichkeit durch „Transponierung" des Unrechts anderer Rechtsgutsbeeinträchtigungen oder Gefährdungen (insbes. §§ 315 b, c) i n die Nötigung bestimmt werden. Das aber bedeutet, daß die erfolgte Freiheitsbeeinträchtigung als rechtsstaatlicher Anknüpfungspunkt der Verhaltensbewertung untauglich ist und aufgegeben w i r d 1 4 . Bestätigungen dafür finden sich auch i n der übrigen Literatur und i n der Rechtsprechung zur Verkehrsnötigung. Was verwerflich ist, soll u. a. bestimmt werden unter dem Aspekt der durch die Nötigungshandlung verursachten Verletzung oder Gefährdung von Leben, Leib oder Eigentum 1 5 . Damit könnte die Sozialadäquanz partiell präzisiert werden. Aber auch das ist zweifelhaft, denn die Praxis legt sich nicht fest, weder auf die positiv-rechtlich differenzierten Gefährdungstatbestände 16 noch überhaupt auf bestimmte Rechtsgüter jenseits des Freiheitsschutzes. Sie bezieht z. B. auch Rüpeleien ein 17 , orientiert sich zuweilen an der schikanösen A r t des Fahrens 18 , an den „sozial unerträglichen" Nötigungszwecken 19 , an „egoistischen und verwerflichen Motiven" 2 0 . Welche Be12 Vgl. R o x i n (JuS 1964, 375 f.): Die Auslegung des § 226a stellt andere Probleme als die des § 240 Abs. 2, w e i l bei Körperverletzung das tatbestandliche Handeln leicht faßbar ist, bei der Nötigung dagegen n u r unter Rekurs auf materielle Gerechtigkeit. 13 Nötigung, S. 57 ff., 178 ff. 14 Kritisch dazu Hansen, Nötigungsunrecht, S. 198 f. 15 B G H S t 19, 263 f.; Schönke / Schröder / Eser, § 240 Rn 20; O L G Saarbrükken VRS 17, 25; O L G H a m m VRS 22, 50; BayObLGSt 1961, 228; O L G H a m m N J W 1970, 2074 (2075); O L G Stuttgart N J W 1966, 745 m. k r i t . A n m . Bockelmann; O L G Hamburg N J W 1968, 662 f. m. A n m . Rasehorn, N J W 1968, 1246; dazu auch Berz, JuS 1969, 367 ff. (368, 370); B G H N J W 1963, 1269. 16 So ausdrücklich Schönke / Schröder / Eser, a.a.O. 17 B a y O b L G N J W 1970, 1803; k r i t . dazu Hansen, S. 205. 18 B G H S t 18, 389; k r i t . dazu Roxin, JuS 1964, 373 (378). 19 O L G Celle N J W 1959, 1597; ähnlich B G H N J W 1963, 1269; O L G H a m m VRS 1979, 347 ff.
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einträchtigungen jenseits des Rechtsguts Freiheit die Verwerflichkeit ausmachen, w i r d also recht freihändig bestimmt. K l a r ist aber, daß der Erfolg der Freiheitsbeeinträchtigung nicht wie der Erfolg bei den Fahrlässigkeits- und Unterlassungsdelikten als rechtsstaatlicher Fixpunkt taugt 2 1 . A r m i n Kaufmanns Bedenken gelten der Sache nach auch hier. Die Gefahr für die Rechtsstaatlichkeit, die i n der rechtlichen Unerheblichkeit des Erfolges steckt, realisiert sich i n der ungebundenen Transponierung anderweitigen Unrechts und i n der Erfindung neuer, z. T. subj e k t i vis tischer, moralisierender Unrechtskriterien. Aus methodischer Sicht bestätigt dies F. Haft 2 2 . Er weist darauf hin, daß die rechtsstaatliche Gesetzeskonkretisierung gefährdet ist, wenn unklar ist, worum es geht (das „Rechtsgut", der zu verhindernde Erfolg, der Kontext). c) Vergleich mit anderen Rechtsgebieten Gegenüber der K r i t i k am strafrechtlichen Interventionismus könnte man auf das Z i v i l - und das öffentliche Recht verweisen. Dort ist die Auflösung allgemeingültiger bestimmter Gesetze, die zweckrationale hoheitliche Steuerung gesellschaftlicher Entwicklungen normal. W i r t schaftliches Gleichgewicht, Chancengleichheit u. ä. sozialstaatliche Ziele können offensichtlich nicht ohne staatliche Interventionen realisiert werden. Was i n diesen Bereichen akzeptabel sein mag, muß aber nicht für das Straf recht gelten: Das Straf recht mobilisiert unmittelbare Gew a l t gegen einzelne. Die gewaltsame Beziehung ist die einfachste und auswegloseste. Wo die Strafgewalt diffus ausgebreitet ist, kann sie die Erstarrung des gesellschaftlich Normalen fördern. Durch Strafen werden die einzelnen nicht nur äußerlich wie i m Polizeirecht ,in ihre Schranken verwiesen'. Das Strafrecht ist schuldorientiert, das Polizeirecht nicht. Durch Strafen w i r d über die aktuelle Repression und Restitution hinaus eine Zusatzsanktion gegen die Person verhängt. Der gesellschaftliche K o n f l i k t w i r d durch die Strafe i n den Täter hineinverlagert. Er muß den gesellschaftlichen K o n f l i k t austragen, indem er die Strafe verbüßt. Die Gesellschaft w i r d programmatisch 20
O L G Celle Nds. Rechtspfl. 1962, 68. Das g i l t n u r bedingt f ü r die Konzeption von Jakobs (Festschrift f ü r Peters, S. 75 ff.; ähnlich S K - H o r n , § 240 R n 40 ff.; v. Heintschel-Heinegg, S. 217 ff.). Er konkretisiert die Verwerflichkeit s t r i k t auf der Ebene »rechtlich garantierte Freiheit'. Freilich lassen sich auch dabei kasuistische Güterabwägungen nicht vermeiden, w e i l die rechtlichen Garantien (Grundrechte) kollidieren (vgl. v. Heintschel-Heinegg, S. 223). I m übrigen w i r d auch durch diesen Ansatz nicht begründet, w a r u m Gewalt allein unter dem Aspekt des Freiheitsschutzes zu bestimmen sei. 22 JuS 1975, 477 (483 f.). Das Kontextelement w i r d dort allerdings überbewertet. 21
12. Vorschläge zur Einschränkung des weiten Gewaltbegriffs
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entlastet. Nicht nur wegen der Belastung des Täters, sondern auch wegen der radikalen, nicht nur theoretischen Entlastung der Gesellschaft von Problemen, sollte gesellschaftlich, d. h. allgemeingültig bestimmt sein, was bestraft werden soll. I n allgemeinen, bestimmten, bindenden Gesetzen ist jenes Mindestmaß an gesellschaftlicher Vernunft und Gleichbehandlung gesichert, welches eine Voraussetzung von Freiheit ist. 12. Vorschläge zur Einschränkung des weiten Gewaltbegriffs Z u erörtern sind noch einige Begriffsbildungen, die i m Ansatz dem weiten Gewaltbegriff ähneln, jedoch restriktiver ausgestaltet sind. a) Freiheitsschutz,
Sozialadäquanz, Interesse (Haffkes
Ansatz)
Regel und Ausnahme B. Haffkes Begriffsbildung 1 zielt auf rechtsstaatliche Bestimmtheit. Er setzt an bei dem problematischen Zusammenhang der Einführung der Verwerflichkeitsklausel einerseits und andererseits der Auflösung des Gewaltbegriffs. Das ist ein allgemein relevantes Problem, denn m i t dieser Korrelation w i r d das rechtsstaatliche Regel/Ausnahme-Verhältnis aufgelöst 2 . Auch jenseits des Gewaltbegriffs führt die Erfindung immer neuer und umfangreicher Ausnahmetatbestände zuweilen zur Ausweitung der Strafdrohungen, wie die Reform der Mundraubbestrafung zeigt. Die Einführung flexibler Ausnahmeregelungen macht die erweiterte Latenz der Strafgewalt möglich. Haffke zeigt anhand der Gesetzgebungsgeschichte, daß die Verwerflichkeitsklausel des § 240 nicht als Korrektiv der Gewaltnötigung gedacht war. Wo sie wegen der Ausweitung des Gewaltbegriffs dennoch angewendet werden muß, meldet er verfassungsrechtliche Bedenken an. U m die Verwerflichkeitsklausel bei Gewalt obsolet zu machen, bildet er einen relativ engen Gewaltbegriff, der die Rechtswidrigkeit indiziert. Das Ziel, einen Tatbestand zu bilden, der die Rechtswidrigkeit indiziert, bedeutet, nur solche Verhaltensweisen zu pönalisieren, die überall grundsätzlich nicht hingenommen werden können 3 . Das Strafrecht w i r d damit beschränkt auf die Wahrung von Randbedingungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Das ist allerdings nur gesichert, wenn der Tatbestand selber hinreichend bestimmt ist. Auch für die 1
ZStW 84 (1972), 37 ff.; die Gewaltdefinition findet sich auf S. 71. Z u r Bedeutung des Regel/Ausnahme-Schemas vgl. Lühmann, system, S. 32 ff. 3 Ä h n l i c h A E StGB Begr. zu § 116 S. 65. 2
Rechts-
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I V . E n t w i c k l u n g u n d bisherige Bestimmungen des Gewaltbegriffs
Betroffenen bringt es wenig, wenn die Unbestimmtheit der Verwerflichkeitsklausel nur umformuliert und verlagert w i r d i n den Tatbestand 4 , jedenfalls wenn man die unbestimmte, höchst normative Klausel (nach Haffke geht es u m „sozial-normale", „substantiell-eigene Interessen") i m Tatbestand als „gesamttatbewertendes Merkmal" behandelt 6 . Sozialadäquanz Hinsichtlich der vis absoluta entwickelt Haffke den Gewaltbegriff wie die anderen neueren Begriffsbildungen aus dem Rechtsgut Freiheit. Da jedoch Freiheitsbeschränkungen i m sozialen Leben normal sind, also keinesfalls das Unrecht indizieren können, setzt er hinsichtlich des Umfangs des Rechtsguts ein soziales Korrektiv ein. Geschützt werden nur „sozial-normale, substantiell-eigene Interessen" 6 . Wer i n Verfolgung derartiger legitimer Eigeninteressen Interessen anderer beeinträchtigt, verletzt das Rechtsgut Freiheit nicht (und wendet also auch keine Gew a l t an). Ähnlich meint Jakobs, es dürfe nur die dem Genötigten rechtlich zustehende Freiheit geschützt werden 7 . Auch dabei w i r d die zu schützende Freiheit schon i m theoretischen Ansatz i n (beschränkende) Regeln des Zusammenlebens eingefügt. U. Hansen 8 und E. Horn 9 folgen ebenfalls dieser Erkenntnis 1 0 . Haffke bestimmt das Rechtsgut Freiheit nicht strikt anhand der übrigen Legalordnung, sondern nach Regeln der Sozialadäquanz 11 . Das k r i t i siert Jakobs: „ A l l e unterhalb der Rechtsordnung angesiedelten Ordnungen zur Verteilung von Freiheit können nur vorbehaltlich gleichgerichteter Regelungen der Rechtsordnung Freiheit als Rechtsgut konstituieren." Dieser Einwand t r i f f t nicht zu, weil es hier eben gerade u m die Bestimmung dessen geht, was die Rechtsordnung (der Rechtsbegriff »Gewalt') regelt. Recht kann man nicht unbegrenzt durch Recht bestimmen. A l l e Rechtsbegriffe können nur konkretisiert werden i n bezug auf die „unterhalb" ihrer „angesiedelte" soziale Realität. Treffend ist Jakobs' Einwand insofern, als Haffke die soziale Wirklichkeit recht un4
K r i t i s c h dazu auch S K - H o r n , § 240 Rn 3. Jescheck, Lehrbuch, S. 196, 198; Schönke / Schröder / Eser, § 240 R n 28. « S. 58 f. 7 Festschrift f ü r Peters, S. 69, 75 ff. 8 Allerdings auf der Ebene der Verwerflichkeitsklausel, Nötigungsunrecht, S. 154 ff. 9 S K § 240 R n 3. 10 Anders der Ansatz v o n A r z t (Festschrift f ü r Welzel, S. 823, 834 ff.) u n d Fezer (GA 76, 353 [357 ff.]). 11 Der Schuldner, der den Gerichtsvollzieher aussperrt, handelt zwar rechtswidrig, verfolgt aber substanziell-eigene Interessen (Haffke, S. 60), also keine Gewalt. 5
12. Vorschläge zur Einschränkung des weiten Gewaltbegriffs
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kontrollierbar i n seine Bestimmung der Legalität hineinnimmt. Er bildet wenig präzise, allgemeingültige Regeln: Was ist beim Widerstand gegen Gerichtsvollzieher, bei verkehrsbehindernden Demonstrationen noch originär-eigenes, sozial-normales Interesse? Wenn bei betrieblichen Auseinandersetzungen der Unternehmer einem Arbeiter den Z u t r i t t zum Betrieb versperrt, v e r w i r k l i c h t er sein sozial-normales Interesse? Oder ist vielleicht das Interesse des Arbeiters an seinem Arbeitsplatz ein originär-eigenes? Gerade i n Situationen sozialen Konflikts werden Haffkes Kriterien unbestimmt und lassen die Überlagerung von Grundrechtsbetätigungen durch Strafgewalt zu. Allerdings ist dieser Einwand hier weniger gewichtig als gegenüber Knödels Konzeption, weil Haffke den Umfang der strafbaren vis absoluta relativ eng begrenzt 12 und erst i n diesem Rahmen das Sozialadäquanz-Kriter i u m einbringt. Kausale Bestimmung der Freiheitsbeeinträchtigung Auch gegenüber Haffkes Konzeption ist jedoch einzuwenden, daß die Gewalt nicht hinreichend als spezifisches Mittel der Freiheitsbeeinträchtigung erfaßt wird. Sein Gewaltbegriff steht hinsichtlich der vis absoluta i n der Tradition Bindings. Die strafbare Gewalt w i r d i m Ergebnis fast ausschließlich unter dem Aspekt der kausalen Beeinträchtigung der Freiheit, also des Rechtsguts bestimmt. Erst vom Erfolg aus setzen Haffkes restriktive Bestimmungen der Gewalt ein. Das K r i t e r i u m »Angriff' ist nur scheinbar eine eigenständige Verhaltensbestimmung. Haffke expliziert es fast ausschließlich als kausalen Eingriff i n fremde Freiheitssphären. Das Zusatzkriterium ,aktiv' ist nicht abgeleitet. Wo es relevant werden sollte, w i r d nicht dargestellt. Gegen diesen kausal erfolgsorientierten Ansatz ist prinzipiell das gleiche einzuwenden wie gegen den Bindings. Er nivelliert die Differenzierungen des gesetzlichen Tatbestands und damit auch die Spezifik verschiedener sozialer Verkehrsformen. Definition der Freiheit A n der Sozialadäquanz orientiert Haffke seinen Gewaltbegriff, w e i l nicht jede rechtswidrige vis absoluta Gewalt sein soll. Der Gewaltbegriff soll eingegrenzt werden, so daß er — und das ist der festzuhaltende Ansatz i n dieser Konzeption — die Rechtswidrigkeit indizieren kann. Es sollen Verhaltensweisen unterdrückt werden, die i n der Regel überall untragbar sind. K a n n aber überhaupt vom Rechtsgut Freiheit her eine solche Allgemeinheit erreicht werden? K a n n der Umfang des Rechtsguts Freiheit überhaupt i n allgemeingültiger Weise bestimmt werden? 12
Vgl. die Restriktionen, S. 62 f.
14 Keller
210
I V . E n t w i c k l u n g u n d bisherige Bestimmungen des Gewaltbegriffs
Freiheit ist als solche das Besondere. I n allen sozialen Bereichen ist sie höchst unterschiedlich formell und informell ausgestaltet und „verteilt". Wer Freiheit unmittelbar bestimmen w i l l , gerät unausweichlich ins weite Feld der Abwägung von Interessen, Gütern usw., die i n jedem Einzelfall anders zu bewerten sind. I m unmittelbar definierenden Zugriff auf Freiheit ist nichts Allgemeingültiges zu fassen. Die unmittelbare Definition unterstellt, Freiheit sei ein gegebenes Gut, ein Besitz, der sich definieren läßt. Davon gehen i m Ansatz Haffke und Jakobs aus 13 . W i r d aber Freiheit als Gegebenes inmitten von Gegebenem bestimmt, so w i r d sie zur Unfreiheit 1 4 . Dem allgemeinen Recht entspricht es, ein Stück weit an der Sache, am Inhaltlichen programmatisch vorbeizugehen (Luhmann), das Eigentliche der Freiheit den Bürgern zu überlassen, Freiheit reflexiv zu bestimmen. Das wäre zu erreichen, wenn nicht der Umfang der Freiheit, sondern die Mittel ihrer Beeinträchtigung bestimmt würden. Freiheit und Interesse Dazu führt auch eine andere bei Haffkes Konzeption ansetzende Uberlegung. Betätigung von Freiheit ist für i h n Betätigung von Interessen 15 . Da nun Freiheit i. S. von Interesse immer schon durch andere Interessen eingeschränkt ist, sind gesellschaftlich die Interessen der verschiedenen einzelnen offenbar i m Widerstreit. Wenn i n dieser Gesellschaft tiefgreifende Interessengegensätze vorhanden sind, so sind Zivil-, Arbeits- und öffentliches Recht, welche die Grenzen zwischen den Interessen setzen, immer kompromißhaft. Die Grenzen des Streikrechts, des Demonstrationsrechts, des Rechts am Arbeitsplatz, des Hausrechts sind Beispiele dafür. Die Kompromisse sollten nicht zur Harmonie ideologisiert werden 16 . Es sollte der Vorbehalt des weiterbestehenden, nicht erfüllten Interesses respektiert werden. Damit w i r d die Offenheit der Gesellschaft gewahrt. Das Straf recht nun zielt auf moralische Diskriminierung, jedenfalls bewirkt es derartige Diskriminierung. Deshalb sollte Strafrecht nicht zur Wahrung von Interessenkompromissen eingesetzt werden. Haffke versucht, das zu berücksichtigen z. B. i m Gerichtsvollzieherfall 17 : das Aussperren des Gerichtsvollziehers ist zwar rechtswidrig, soll aber nicht 13 Nach Jakobs (S. 78, 80) w i r d Freiheit »verschoben' u n d »verteilt'; demnach handelt es sich u m einen dinglichen Stoff. 14 Adorno, Negative Dialektik, S. 229. 15 Das ist sicher nicht das letzte, was über Freiheit zu sagen wäre, w o h l aber zeitgemäß. 16 Abendroth, A u R 1959, 261 (263 ff.); Habermas, Strukturwandel, S. 347 f. 17 ZStW 84, 60 f.
12. Vorschläge zur Einschränkung des weiten Gewaltbegriffs
211
strafbare Gewalt sein. Das Interesse an der eigenen räumlichen Persönlichkeitssphäre bleibt vorbehalten und w i r d anerkannt, auch dort, wo es zivilrechtlich rechtswidrig ist. — Indessen scheint solcher Respekt nicht ganz sicher zu sein: Das Rechtsgut des § 113 fordert nach Haffke möglicherweise „einen erweiterten Gewaltbegriff" 1 8 . Die Gewaltstrafbarkeit von Streiks soll anscheinend am Arbeitsrecht orientiert werden 19 . Wenn man jedoch den Gedanken des Respektierens vorbehaltener, nicht erfüllter Interessen ernst nimmt, so darf das Strafrecht i n diesem Bereich nicht an das kompromißhafte Demonstrations- oder Streikrecht geknüpft werden. Die strafrechtliche Ideologisierung der Kompromisse könnte vermieden werden, wenn der Gewaltbegriff jenseits der Interessenabgrenzungen situiert würde, wie gesagt auf der Ebene der Mittel. Das ,wie' der Interessenverfolgung wäre allein strafrechtlich zu sanktionieren. Zivil-, Arbeits- und Polizeirecht ziehen Grenzen zwischen Freiheitszonen. Sie statuieren primär Zustandsordnungen, wie z. B. die polizeiliche Störerhaftung (kein Verschuldenskriterium) zeigt. Wenn auch i m Wirtschaftsrecht Tendenzen zur Verhaltensordnung wirksam sind 20 , so sind diese Rechtsbereiche doch noch weit mehr am Erfolg orientiert als das Strafrecht. Dieses sollte primär als Verhaltensordnung verstanden werden 21 . Neben der Sozialadäquanz führt Haffke bei der vis absoluta noch eine andere Begrenzung ein. Das Vernichten eines Handlungsmittels soll nicht Gewalt sein, nur das Schaffen eines unüberwindlichen Widerstandes 22 . Die von Knodel einbezogene allgemeine Handlungsfreiheit soll also nicht geschützt werden. Jakobs 23 hat darauf hingewiesen, daß diese Unterscheidung unter dem Aspekt der Wirkung auf die Willensbetätigung, dem ja auch Haffke folgt, unsicher ist: „Jeder Widerstand kann i n das Fehlen der M i t t e l zu seiner Uberwindung umgedeutet werden — und umgekehrt." Die Wirkung bleibt gleich. Möglich wäre eine Unterscheidung, wenn noch weitergehend die Begleitumstände der Nötigungswirkung, wiederum also die M i t t e l berücksichtigt würden. I m Bereich der vis compulsiva orientiert Haffke den Gewaltbegriff an spezifischen Mitteln. Das deckt sich i m Ansatz m i t der hier vertretenen Konzeption. 18
S. 61 F n 99. S. 71 F n 135; ebenso S K - H o r n , § 240 Rn 14, 48. 20 Wiethölter, K r i t J 1970, 121 (129 ff.) m. w . N. 21 Roxin, Z S t W 74, 515 (529 f.); Kirchhof, Notwehr u n d Nothilfe aus öffentlich-rechtlicher Sicht, S. 70 f. 22 S. 62 f. 23 S. 77 Fn. 33. 19
14*
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I V . E n t w i c k l u n g u n d bisherige Bestimmungen des Gewaltbegriffs
b) Andere Ansätze Der Gewaltbegriff B. v. Heintschel-Heineggs 24 ist ähnlich aufgebaut 25 wie der Haffkes. Die dazu vorgebrachten Einwände gelten i m Prinzip auch hier. Hinsichtlich des §240 stellt v. Heintschel-Heinegg fest, es handle sich u m ein „reines Verbot der Mittel". Er setzt jedoch das Gewaltmittel und die Freiheitsbeeinträchtigung bei der vis absoluta i n eins. Nach § 240 ist aber die Gewalt ihrerseits M i t t e l der Freiheitsbeeinträchtigung (,mit G e w a l t . . . nötigt'). Da er dies nivelliert, muß auch er, um Gewalt zu bestimmen, die Freiheit unmittelbar definieren. Dabei soll auf die „rechtlich garantierte Freiheit a abgestellt werden 2 6 . Aber auch damit läßt sich nichts Allgemeines bestimmen, wie v. Heintschel-Heinegg selbst feststellt 27 : „Es liegt i n der Natur der Sache", d. h. der Freiheit, „daß keine generelle Aussage darüber getroffen werden kann, welcher rechtliche Freiheitsraum dem einzelnen garantiert ist. Die dem Opfer garantierte Freiheit kann nur konkret für den zur Entscheidung stehenden Fall bestimmt werden." Deutlich w i r d hier Freiheit als gegebenes Gut („Freiheitsraum") vorgestellt, und die unausweichliche Kollision dieser Substantialien schließt allgemeingültige Bestimmungen aus. Die Begriffsbildungen von Jakobs 28 und Horn 2 9 enthalten ähnliche Probleme, da auch sie Gewalt objektiv nur als kausale Beeinträchtigung der Freiheit bestimmen und auf den (oft kasuistisch zu erkennenden) rechtlich garantierten Freiraum abstellen, der als ein dinglicher Stoff „verteilt" wird: 13. Zusammenfassung der Kritik a) Dem StGB ist kein Anhaltspunkt dafür zu entnehmen, daß das Tatbestandsmerkmal »Gewalt4 teleologisch dem Schutz der äußeren Willensfreiheit unterzuordnen wäre. Gewalt und Freiheitsbeeinträchtigung sind entsprechend ihrer tatbestandlichen Zueinanderordnung als M i t t e l und Zweck bzw. Handlung und Erfolg zu bestimmen. Der Zweck bzw. Erfolg der Gewalt hat keinen Vorrang. Gewalt ist nicht nur kausal als Bewirken einer Freiheitsbeeinträchtigung zu bestimmen. Sie ist eine besondere Handlung. b) Den kausalen Erfolg, ,die Freiheit' ins Zentrum der Begriffsbestimmung zu stellen, bedeutet, den Gewaltbegriff i n rechtsstaatlich fragwürdiger Weise unbestimmbar zu machen. 24 25 241 27 28 29
Definitionen i n Diss., S. 236. S. 217 ff. Dies anstelle von Haffkes Sozialadäquanz-Kriterium. S. 223. S. 77 ff. SK § 240 R n 2 ff.
13. Zusammenfassung der K r i t i k
213
c) Durch die Auflösung des Gewaltbegriffs zugunsten der Zwangsw i r k u n g w i r d nicht nur unzulässig die tatbestandliche Differenzierung zwischen Gewalt und Nötigung nivelliert. Tendenziell werden auch andere strafrechtliche und soziale Differenzierungen nivelliert bzw. durch latente Strafgewalt überlagert. d) Daß die Bedeutung des Rechtsguts Freiheit begrenzt ist, zeigt auch eine verfassungsrechtliche Analyse. ,Die Freiheit' der Bürger darf nicht global zum Strafrechtsgut und dem Staat anvertraut werden. Sie ist kein justiziell zu verwaltender Wert. Andernfalls würde qua Freiheit die Justiz ihrer rechtsstaatlich und demokratisch begrenzten Kompetenzen entbunden und die prinzipielle Offenheit des gesellschaftlichen Prozesses i n Frage gestellt. Die Gesellschaft könnte interventionistisch von gewaltloser Konfliktbewältigung entlastet werden. e) Freiheit ist strafrechtlich reflexiv zu schützen durch Pönalisierung der besonderen Gewalthandlung.
Y. Bestimmung des Gewaltbegriffs 1. Leitlinien der Bestimmung a) Reflexiver
Freiheitsschutz
Das Zweckprogramm 1 des Strafrechts schützt Freiheit nicht unmittelbar, es definiert sie nicht. Es beläßt sie den Bürgern und wahrt deren Möglichkeit von Freiheit. Der strafrechtliche Freiheitsschutz muß in seinem programmatischen Ansatz ein Stück weit vorbeigehen an dem, was Freiheit für die Bürger konkret inhaltlich ist. Die Freiheit ist dem Staat grundsätzlich entzogen, nicht nur, weil er technisch die Bürger nie ganz subsumieren kann, sondern auch, w e i l er sich darauf nicht richten darf. Deshalb muß der strafrechtliche Freiheitsschutz sich schon i m A n satz an etwas qualitativ anderem orientieren als der (mehr oder weniger weit gefaßten) Freiheit der Bürger. Freiheit w i r d hervorgebracht und realisiert i n Formen des sozialen Verkehrs. Möglichkeiten von Freiheit zu schützen, bedeutet, die für die Entfaltung von Freiheit untragbaren Verhaltensweisen zu verhindern. Nicht der Zwang als solcher ist mehr oder weniger vollständig zu pönalisieren; das ,wie', die Qualität des Zwanges muß zusätzliches K r i t e r i u m der Strafbarkeit sein. Wo die äußere Willensfreiheit Tatbestandsmerkmal ist, w i r d deren strafrechtlicher Schutz daher schon i m Ansatz durch ein dem naturalistischen Willen heteronomes Element modifiziert: Die Bestimmung von Verhaltensweisen, i n denen der Wille nicht beeinträchtigt werden darf. Als eine solche Verhaltensweise ist Gewalt zu bestimmen. Rechtsgut ist die Freiheit i n Verkehrsformen. Wahrung der Möglichkeit von Freiheit bedeutet weiter Bestimmtheit der Strafgewalt. — Das reflexive Zweckprogramm des Strafrechts muß auf sich selber reflektieren, seine eigenen Wirkungsmodalitäten schon i m Ansatz berücksichtigen. Die zu schützende Freiheit ist i n allen gesellschaftlichen Bereichen relevant. Würde die Strafgewalt global an ,der Freiheit' orientiert, so wäre sie über weite gesellschaftliche Bereiche als Bedrohung vieler einzelner verhängt. Die Differenzierung der Gesellschaft i n Teilbereiche, deren Trennung den einzelnen Freiheit gewährt, würde i n Frage gestellt. Die diffus ausgebreitete Strafdrohung 1 Z u m folgenden Luhmann, Soziologische A u f k l ä r u n g 1, S. 92 ff.; ders., Rechtssoziologie 2, S. 213 ff., 217 ff.; Habermas, Komplexe Gesellschaften, S. 66 ff.; Calliess, Theorie der Strafe, S. 17 ff.; Denninger, J Z 1975, 545, 549 f.
1. L e i t l i n i e n der Bestimmung
215
tendiert zur Vereinfachung der Gesellschaft und ihrer Probleme. Sie ermöglicht opportunistische gewaltsame Interventionen zu Lasten einzelner anstelle von struktureller Änderung und Öffnung der Gesellschaft. Sie gefährdet die Normdistanz und fördert den Konformismus 2 . Deshalb ist Rechtsstaatlichkeit Konstituens von Rechtsgüterschutz i n der Demokratie. Strafgesetze sind meist bezogen auf Teilbereiche sozialen Handelns, die §§ 174 ff. auf den Sexualverkehr, die §§ 242 ff. auf den Eigentumsverkehr, die §§ 123, 201 f. auf die Privatsphäre 3 usw. Die Bestimmung der Tatbestandsmerkmale reflektiert dann die Bedingungen (Verkehrsformen) der Freiheit i m jeweiligen speziellen sozialen Handlungsfeld. Der strafrechtliche Gewaltbegriff nun w i r d i n allen sozialen Bereichen bedeutsam. Schon die speziellen Gewaltstraftatbestände sind i n vielen verschiedenen Bereichen verstreut. I n § 240 fehlt jede Begrenzung auf besondere soziale Handlungsfelder. Ein Gewaltbegriff, der nicht i n Kasuistik zerfließen soll, muß demnach eine Verhaltensweise erfassen, die i n allen sozialen Bereichen untragbar ist, eine übergreifende, universell gefährliche Verhaltensweise, die Freiheit grundsätzlich i n Frage stellt 4 . Das ist nicht der Zwang. Er kann i n vielen Fällen schädlich sein, ist es aber nicht regelmäßig 5 . Zwang ist vielmehr konstitutiv für diese Gesellschaft 6 . Wann er jeweils normal ist und wann gefährlich, ist so differenziert zu entscheiden, wie seine Kehrseite, die Freiheit, sozial differenziert ist. Zwang wie Freiheit sind also solche generellen Bestimmungen entzogen. Ein latentes staatliches Monopol der Zwangsausübung, wie der A E StGB es postuliert, würde zum autoritären Verwaltungsstaat führen, was dem Grundgesetz widerspricht 7 . Auch deshalb sollte der rechtsstaatlich bestimmte Gewaltbegriff nicht am Zwang orientiert werden. Indem der Gewaltbegriff vom Zwang abgekoppelt und auf generell untragbare Verkehrsformen beschränkt wird, können Verhaltensweisen straflos bleiben, die evtl. der Pönalisierung bedürfen 8 . Das ist eine Frage der Strafgesetzgebung 9 . 2
Frankenberger, K r i t J 1977, 355 f. Die ihrerseits wieder Ausgangspunkt gesellschaftlichen Handelns ist, was sich u. a. zeigt, w e n n der Verdächtige keinen festen Wohnsitz hat u n d deshalb gemäß § 112 StPO Fluchtgefahr angenommen w i r d , oder w e n n i n autoritären Regimes regelmäßig die Unverletzlichkeit der Wohnung eingeschränkt w i r d , u m das politische Handeln der Bürger zu kontrollieren. 4 Calliess, Der Begriff, S. 13 f. 5 Dazu Haffke, Z S t W 84, 58 ff.; Jakobs, Festschrift f ü r Peters, S. 75 ff.; v. Heintschel-Heinegg, Diss. S. 124 f., 218 ff. 6 Baumann, Strafrecht § 19 I I I 2 a. 7 Siehe oben S. 32 f. 8 Vgl. Fezer, J Z 1974, 601, 603; SK-Rudolphi, § 105 Rn 5. 9 Dazu Fezer, a.a.O. u n d G A 1976, 360. 3
216
V. Bestimmung des Gewaltbegriffs
b) Gewalt und Zwang Es liegt nahe, bei der Bestimmung der generell untragbaren Verhaltensweise, welche Gewalt ist, die schon i m StGB pönalisierten Verhaltensweisen als Orientierung heranzuziehen. Es sind jedoch Modifikationen nötig, die sich aus dem Verhältnis der Gewalt zum Zwang ergeben. Gewalt ist wertungsmäßig vom Nötigungserfolg zunächst getrennt zu bestimmen. Aber beide sind verbunden durch die tatbestandliche Verhaltensdefinition. Gewalt ist eine Handlung, Zwang ist ihr Erfolg. I n der Gewalt, so könnte man sagen, steckt der Handlungsunwert, i m Zwang der Erfolgsunwert. I n der Konsequenz einer solchen Zueinanderordnung von Gewalt und Zwang als Handlungs- und Erfolgsunwert, wäre dann anzunehmen, daß beide zusammengefaßt werden i m Schutz des Rechtsguts ,Freiheit i n Verkehrsformen'. Allerdings ist diese Bezeichnung ungenau, w e i l die zu schützende Freiheit i n den verschiedenen Verkehrsformen und Handlungsfeldern nichts Identisches ist. Weitreichende Schlüsse können aus diesem Rechtsgut kaum gezogen werden. E i n inhaltlicher Zusammenhang zwischen Gewalthandlung und Nötigungserfolg w i r d jedoch bei allen Gewaltnötigungen wirksam: der Bezug der Handlung als Mittel zum Zwangserfolg. I n diesem Punkt muß die zunächst unabhängige Bestimmung der Gewalt i m Hinblick auf Zwang modifiziert werden. Hier w i r d das Gewalt und Zwang übergreifende Rechtsgut für die Bestimmung der Gewalt wirksam. U n d i n diesem Punkt unterscheidet sich die Gewalt von anderen generell untragbaren Handlungen, die für sich schon i n den sonstigen Straftatbeständen pönalisiert sind. A n diesen Tatbeständen kann der Gewaltbegriff zwar zunächst orientiert werden. Er muß dann aber modifiziert werden. Der instrumentelle Bezug der Gewalt auf Zwang läßt sich genauer bestimmen. Er bewirkt, daß einzelne Aspekte der zunächst unabhängig vom Zwang bestimmten Verhaltensweise zurücktreten oder betont werden müssen, je nach ihrer Bedeutung für die Zwangswirkung. Der instrumentelle Bezug der Gewalt auf Zwang ist freilich nicht wie herkömmlich allein unter dem individuellen Aspekt der Überwältigung des einzelnen Willens bedeutsam, denn das übergreifende Rechtsgut betrifft ebenfalls nicht nur den einzelnen Willen, sondern Willen i n sozialen Verkehrsformen. Auch die sepzifische Zwangswirkung der Gewalt ist daher zu bestimmen i m Hinblick auf die generellen sozialen Bedingungen von Freiheit, genauer: die Bedingungen von Freiheiten in allen sozialen Handlungsfeldern.
1. L e i t l i n i e n der Bestimmung
c) Soziale Bedeutung der
217
Gewalthandlung
Dies bestätigt auch eine andere Überlegung: Gewalt soll bestimmt werden als generell untragbare Verhaltensweisen. I n einem ausgebauten Strafrecht wie dem unseren sind solche Verhaltensweisen i n den Grundzügen immer schon für sich pönalisiert. Wenn sie nun noch als instrumentelle Gewalt bewertet werden, so scheint ihr instrumenteller Einsatz zunächst zu einer Zusatzsanktionierung zu führen. Das muß einen zusätzlichen Grund haben. Angenommen Gewalt wäre als Körperverletzung zu bestimmen, so macht es für den einzelnen Sacheigentümer keinen Unterschied, ob der Angreifer i h n zum Zweck der Wegnahme der Sache verprügelt oder bei Gelegenheit der Wegnahme. Dennoch ist i m Gesetz für den ersten Fall, i n welchem Gewalt instrumenteil angewendet wurde, der besondere Raubtatbestand m i t erhöhter Strafdrohung gebildet. Wenn Gewalt speziell als instrumentelles Verhalten pönalisiert wird, so muß darin nach der Konzeption des Gesetzes ein besonderer Unwert stecken. Insofern kommen verschiedene Erklärungen i n Betracht: man könnte annehmen, instrumentelle Gewalt werde als besonders verwerflich bewertet wegen der dahinter stehenden Kalkulation des Täters, der Gew a l t m i t Bedacht einsetzt. Diese Erklärung könnte die notwendige nähere, modifizierende Bestimmung des Gewaltbegriffes beeinflussen; man könnte daraus schließen, daß Gewalt stets absichtlich eingesetzt werden müsse zu Nötigungszwecken, daß es dem Täter also auf die Verwirklichung der Gewalt ankommen müsse 10 . — Die subjektivierende Erklärung erweist sich jedoch als wenig plausibel, wenn man die beiden erwähnten Fälle (Gewalt zum Zweck und bei Gelegenheit der Wegnahme) vergleicht. Warum soll nicht eher die Gesinnung, die sich i m zweiten Fall realisierte, besonders verwerflich sein? Einen Menschen bei Gelegenheit der Wegnahme ohne Grund auch noch zu verprügeln, könnte von besonderer Niedertracht zeugen; es werden (zweckimmanent) unnötige Leiden zugefügt. Jedenfalls enthält die subjektivierende Erklärung einige Imponderabilien. Das w i r k t sich auch bei ihren Folgerungen aus: die Bedeutung des Absichtskriteriums bezüglich des Gewaltmittels ist rechtlich und tatsächlich schwer zu bestimmen, wie Haffke 1 1 gezeigt hat. Rechtsstaatlich angemessener ist es, eine Erklärung der besonderen Pönalisierung instrumenteller Gewalt auf der objektiven Seite des Geschehens zu suchen. Wer Gewalt instrumentell gegen Menschen einsetzt, 10 So Geilen, J Z 1970, 523 (528); Knodel, Gewaltbegriff, S. 89 f.; anders Schönke / Schröder / Eser, § 240 R n 27; Calliess, Gewaltbegriff, S. 32; Haffke, Z S t W 84 (1972), 71. 11 S. 48 f., 51, 53; ähnlich Arzt, Festschrift f ü r Welzel, S. 831 f.
218
V. Bestimmung des Gewaltbegriffs
begründet Macht über Menschen, denn die Gewalt gibt i h m die Möglichkeit, seine Zwecke dadurch zu verwirklichen, daß er m i t anderen Menschen einseitig verfährt. I n der Spanne von gewaltsamem M i t t e l und Zweck entsteht ein Gewaltverhältnis. Das ist auf objektiver Seite das Spezifikum des Einsatzes der Gewalt als Mittel zu Zwecken. Das Gewaltverhältnis entsteht nicht, wo Gewalt expressiv ausgeübt wird, ohne den Zweck der Abnötigung eines bestimmten Verhaltens anderer Menschen. Die Bedeutung des Gewaltverhältnisses beschränkt sich nicht immer auf die der bloßen Beeinflussung der Willensbetätigung einzelner Menschen. Wenn sie auf Verletzungsgewalt gestützt sind, sind Gewaltverhältnisse sozial besonders bedeutsam, weil sie das allgemeine staatliche Gewaltverhältnis prinzipiell i n Frage stellen. Angegriffen w i r d damit eine Bedingung von Freiheit i n allen sozialen Bereichen: die zumindest formale Chance aller Bürger zur Teilnahme am gewaltlos vermittelten sozialen Verkehr; denn dieser beruht nach herkömmlicher Staatstheorie u. a. darauf, daß die Macht, Zwecke m i t physischer Gewalt durchzusetzen, beim Staat monopolisiert und rechtlich geordnet ist 12 . Der Einsatz von Gewalt seitens Privater als M i t t e l zum Zweck der Beeinflussung von Menschen kann also eine spezifische soziale Bedeutung haben. Und wenn Gewalt speziell und ausschließlich als Nötigungsmittel pönalisiert ist, so dürfte dieser soziale Aspekt zugrunde liegen. Er ist also bei der näheren Bestimmung dessen, was strafbare Gewalt ist, zu berücksichtigen. Diese Bestimmung muß nicht die i m übrigen Strafrecht vorgegebenen Definitionen übernehmen. Sie w i r d sie u. U. modifizieren i m Hinblick auf die besondere soziale Relevanz der Gewalt. Wenn derart die Bestimmung der Gewalt entsprechend der tatbestandlichen Verhaltensbeschreibung dem Nötigungserfolg zugeordnet wird, so fügt sie sich i n die Kategorie des tatbezogenen Handlungsunwerts 13, denn Gewalt ist eine A r t und Weise, i n welcher der Nötigungserfolg bewirkt wird. Nicht nur die quantitativ mehr oder weniger große Intensität oder Gefährlichkeit der Rechtsgutsbeeinträchtigung, sondern auch deren qualitativ besondere A r t und Weise können den Handlungsunwert bestimmen. Das zeigt die Bewertung der sozialen Adäquanz. Sie richtet sich nach den je verschiedenen Maßstäben der sozialen Handlungsfelder, i n denen das Rechtsgut eingespannt ist. Die sozialadäquaten Risiken für das Rechtsgut Leben etwa werden i m Bereich des Straßenverkehrs anders bestimmt als i m Bereich der Produk12
S. 83.
W. Benjamin, K r i t i k der Gewalt, S. 45; Stratenwerth, Recht u n d Gewalt,
13 So die Bezeichnung v o n Jescheck, Lb. S. 191; als solchen Handlungsunw e r t bezeichnet Jescheck bei § 253 den Zwang, also den ersten T e i l eines zweiaktigen Delikts. Gewalt w i r d dem Handlungsunwert zugeordnet von Schmidhäuser, B T 4/14 (vgl. auch A T 8/87 ff.); Schünemann, Unterlassung, S. 365; ähnlich Stratenwerth, Strafrecht A T Rn 225 f., 1035.
1. L e i t l i n i e n der Bestimmung
219
tion, der Krankenversorgung etc. Daß jeweils andere Maßstäbe gelten, bedeutet: die soziale Adäquanz bzw. Inadäquanz muß die Besonderheiten der verschiedenen sozialen Bereiche, i n welchen das einzelne Rechtsgut relevant wird, berücksichtigen. Das bringt Gesichtspunkte i n die Bestimmung der sozialen Adäquanz, die jenseits eines quantitativen Maßstabs liegen. Durch die Bestimmung des sozial inadäquaten Handlungswerts kann die kausale Rechtsgutsbeeinträchtigung qualitativ modifiziert werden. Es w i r d dann die A r t und Weise, das Verfahren der Rechtsgutsbeeinträchtigung bestimmt und zwar i m Hinblick auf die Besonderheiten des jeweiligen sozialen Handlungsfeldes 14 . Wenn also Gewalt als besonderes Verfahren der Freiheitsbeeinträchtigung bestimmt wird, so ist dies eine Frage des Handlungsunwerts. Freilich w i r d m i t Gewalt ein Verfahren bestimmt, das i n allen Handlungsfeldern untragbar ist. Daß die A r t und Weise der Zweckverfolgung zwischen Menschen besondere soziale Bedeutung haben kann, wurde i m Zusammenhang der Verkehrsformen gezeigt. Indem die Individuen i n den sozial gegebenen Formen verkehren, vergesellschaften sie sich zugleich. I h r konformer Verkehr bestätigt die soziale Struktur. Die Durchbrechung der gegebenen Verkehrsformen hat deshalb ebenfalls soziale Bedeutung, die i n bestimmten Fällen i n den Tatbeständen negativ bewertet wird 1 5 . Auch dabei kommt es u. a. auf die A r t und Weise der Erfolgsbewirkung an, und diese kann speziell soziale Bedeutung haben, wie u. a. von den verhaltensgebundenen Delikten und generell von der Sozialadäquanz bekannt ist 1 6 . Auch m i t seiner sozialen Relevanz fügt sich der Gewaltbegriff zum tatbezogenen Handlungsunwert 1 7 . Wenn Gewalt ein besonderes Verfahren ist, dessen Erfolg die Nötigung ist, so muß die Gewalt als solche keinen Erfolg haben 18 . Daraus lassen sich Schlüsse ziehen für die nähere Bestimmung der Gewalt. 14
Vgl. § 315 c. Nach Calliess (Theorie, S. 130 ff.; Begriff der Gewalt, S. 15 f.) hat Strafrecht daher nicht einzelne dingliche Rechtsgüter, sondern „strategisch zentrale Kommunikationsmechanismen i n sozialen Systemen" zu schützen. 16 Vgl. z. B. die K r i t e r i e n des § 315 c Abs. 1 Nr. 2. Z u den verhaltensgebundenen Delikten vgl. Herzberg, Unterlassung, S. 60 ff., 70, 72, 74, 142. 17 Das unter diesem Begriff Erfaßte ist zu unterscheiden von dem, was u. a. A r m . K a u f m a n n (Welzel-Festschr., S. 393 ff.) u n d D. Zielinski (Handlungsu n d Erfolgsunwert, S. 128 ff. u. passim) als personalen Handlungsunwert bestimmen; dieser ist täterbezogen. E r k o m m t einer H a n d l u n g zu von ihrer subjektiven Gerichtetheit auf die Verletzung eines Rechtsgutsobjektes. Er realisiert sich i m beendeten, o b j e k t i v untauglichen Versuch. Dieser ist aber etwas anderes als die Verwirklichung eines objektiven modalen Tatbestandsmerkmals w i e Gewalt. Deren tatbezogener sozialer Handlungsunwert dürfte nach Zielinski zur sozialen Inadäquanz gehören. 18 Vgl. Stratenwerth, A T Rn 200 f.; zum Gewaltbegriff neuerdings ebenso Giehring, Demonstration, S. 526. 15
220
V. Bestimmung des Gewaltbegriffs
Wäre etwa zunächst auf die Körperverletzung einzelner Menschen abzustellen, w e i l dies eine generell untragbare Verhaltensweise ist, so müßte zur näheren Bestimmung berücksichtigt werden, daß Gewalt speziell i m Hinblick auf ihren (sozialen) Handlungsunwert zu bestimmen ist. Der Verletzungserfolg bei einzelnen braucht also noch nicht eingetreten zu sein, wenn die Verletzungshandlung schon eine Nötigungsw i r k u n g entfaltet, die derjenigen der faktischen Verletzung i n sozialer Hinsicht entspricht. Z u bemerken bleibt, daß Gewalt hier nicht wie das crimen vis als bloße Störung des öffentlichen Friedens bewertet w i r d unabhängig von Beeinträchtigungen einzelner Menschen 19 . Denn die Freiheitsbeeinträchtigung einzelner kommt hinzu. Vor allem sind die generell untragbaren Verhaltensweisen, die i m Zentrum der strafbaren Gewalt stehen, A n griffe gegen einzelne. Darauf beruht die negative soziale W i r k u n g der Gewalt. Aus der Betonimg des sozialen Handlungsunwerts der Gewalt bei deren näherer Bestimmung folgt nur, daß auf die Realisierung der Wirkung gegen einzelne i m einzelnen Fall verzichtet werden kann, wenn die generellen Bedingungen der Individualfreiheit wie gezeigt betroffen sind. d) Fazit aa) Gewalt ist nicht als Zwang, sondern zunächst davon unabhängig als generell untragbare Verhaltensweise zu bestimmen. Es liegt nahe, bei dieser ersten Eingrenzung die §§ 211 ff., 223 ff. heranzuziehen. Hinzu kommen Modifikationen: bb) Gewalt ist als M i t t e l zum Zweck der Freiheitsbeeinträchtigung zu bestimmen. Dadurch können einzelne Aspekte der genannten Verhaltensweisen besonders hervor-, andere mehr zurücktreten. Es kann sein, daß Erfolge dieser Verhaltensweisen, die bei ihrer sonstigen Pönalisierung relevant sind, unter dem Aspekt der Gewalt irrelevant werden, weil deren instrumentelle W i r k u n g darauf nicht angewiesen ist. cc) Die instrumentelle Relevanz der Gewalt ist näher zu bestimmen unter dem Aspekt der besonderen sozialen W i r k u n g der Gewalt: Es geht weniger u m die Beeinträchtigung der äußeren Willensfreiheit einzelner, als u m die allgemeinen Bedingungen von Freiheit. 2. Verletzungsgewalt Unter den generell untragbaren Verhaltensweisen, die Gewalt sein können, stehen i m Vordergrund die Angriffe auf das Leben und die Körperintegrität anderer Menschen (im folgenden: Verletzungsgewalt). 19
Z u derartigen Delikten vgl. Roxin, Täterschaft, S. 412 ff.
2. Verletzungsgewalt
221
I n diesem Bereich bestimmt U. K l u g 1 die Gewalt als mechanisch-physische Beeinflussung, welche aktiv, intensiv und aggressiv w i r k t . Diese Definition geht nicht auf i n den herkömmlichen Kriterien der K r a f t entfaltung und Körpereinwirkung. Denn diese wurden wie gezeigt sehr formal und weit verstanden. K l u g betont dagegen die Attribute ,aktiv, intensiv, aggressiv', was die Gewalt i n die Nähe der Verletzung bringt. Auch die Begriffsbestimmung von S. Ott dürfte hierher gehören; Gew a l t soll ein aggressives Verhalten sein, welches sich mechanisch-physischer M i t t e l bedient 2 . Schließlich ist i n diesem Zusammenhang G. Stratenwerth zu erwähnen, dessen Ausführungen zwar keine Gewaltdefinition enthalten, aber doch deutlich dahin tendieren, Gewalt als unmittelbaren körperlich-aggressiven A n g r i f f zu bestimmen 8 . a) Gewalt und Kommunikation
(Calliess' Ansatz)
Weitaus genauer und erstmals m i t eingehender Begründung hat R.-P. Calliess Gewalt i n diesem Bereich bestimmt als aktuelle Körperverletzung und Bedrohung m i t Körperverletzung, als eine primär auf aggressiv-physischer Vermittlung beruhende Interaktionssituation 4 . Diese Definition ist Teil einer strafrechtstheoretischen Konzeption, die Calliess an anderer Stelle ausführlich dargestellt 5 und nun auf den Gewaltbegriff h i n konkretisiert hat. Sie ist aus einem kommunikationstheoretischen und funktionalistischen Ansatz entwickelt. Von diesem aus hat Calliess seinen Gewaltbegriff auch i m rechtssoziologischen Zusammenhang bestimmt 6 und generell das Verhältnis von Gewalt und Recht untersucht 7 . — „Jede gesellschaftliche wie rechtliche Ordnung besteht aus Netzen von Interaktions- und Kommunikationsstrukturen, die zu Sinnzusammenhängen intersubjektiv verknüpft als soziale Systeme begriffen werden können. Das Strafgesetzbuch setzt diese sozialen Systeme voraus und benutzt sie als systematische Ordnungsgesichtspunkte, die man herkömmlich und ungenau (...) als Rechtsgüter bezeichnet 8 ." Von hier aus lassen sich die wichtigsten Positionen des Calliess'schen Konzepts erläutern. Menschliches Handeln w i r d durch das Straf recht nicht als außergesellschaftliches Geschehen erfaßt; Freiheit ist also für das Strafrecht, das sie schützen und regeln soll, keine ontologische Wesensbestimmung, kein vorgesellschaftliches substanziali1
Demonstrationsfreiheit, S. 29; Protokolle, S. 187, 194 f. N J W 1969, 2023 f.; anders noch ders., N J W 1969, 457. 3 Recht u n d Gewalt, S. 91 f., 96. 4 Begriff der Gewalt, S. 32 f. 5 Theorie der Strafe, insbes. S. 15 ff., 97 ff. « Festschrift für Schelsky, S. 49 ff. 7 Gewalt u n d Recht, S. 50 ff. 8 Begriff der Gewalt, S. 15.
2
222
V. Bestimmung des Gewaltbegriffs
sches Gut, das als solches die Auslegung der Tatbestände leiten und die Auflösung von Handlungsdefinitionen wie Gewalt begründen könnte. Das wurde schon oben dargestellt 9 . I n ähnlicher Weise hat K . Amelung 1 0 den Rechtsgutsbegriff kritisiert. Die vorliegende Untersuchung könnte einiges zur Bestätigung und Konkretisierung dieser Ansätze beigetragen haben. Weiter ergibt sich von dem zitierten Ausgangspunkt her, daß auch Straftaten als Interaktionen zu begreifen sind, daß also nicht nur die Verursachung des Täters und die Wirkung beim Opfer, sondern auch das ihr Verhältnis bestimmende Element zu berücksichtigen ist, die Interaktion, „die Situation". Daher bestimmt Calliess Gewalt als Interaktion. Straftaten sollen nach Callies dadurch gekennzeichnet sein, daß i n ihnen die Reziprozität der geregelten Sozialbeziehungen i n Frage gestellt werde. Die Gewalt habe ihre Besonderheit darin, daß sie prinzipiell jede Strukturiertheit von Sozialbeziehungen i n Frage stellt, weil sie die physische Aggression enthält. Sie sei damit frei von den Bindungen an Interaktionsmechanismen, sei universell verwendbar und deshalb besonders gefährlich und i m Zusammenhang komplexer Industriegesellschaften ebenso dysfunktional wie die Vorstellung substanzialischer Rechtsgüter 11 . Die vorliegende Untersuchung folgt i n der Begründimg ähnlichen Ansätzen und ist i n Teilen an die Calliess'sche Untersuchung angelehnt. Auch vorliegend w i r d die Verletzungsgewalt ins Zentrum des Gewaltbegriffs gestellt. Die Auseinandersetzung m i t Calliess' Begriffsbildung w i r d sich daher später auf Einzelfragen beziehen. Immerhin ist zur theoretischen Begründung vorab anzumerken, daß Calliess den kommunikativen Aspekt der Sozialbeziehungen eventuell unangemessen verselbständigt, ablöst von dinglichen Substraten, auf die sie jedoch ebenso angewiesen sind wie auf Arbeit, d. h. materielle Produktion. Die Ablösung vom Materiellen ist angelegt etwa i n dem Satz 12 : „ . . . für die Bestimmung des Sinns einer sozialen Situation ist es ohne Bedeutung, ob eine Verletzung . . . tatsächlich stattgefunden hat oder nicht", und deshalb soll es auch irrelevant sein, ob sie überhaupt stattfinden konnte 1 3 . Folglich soll auch die Bedrohung m i t einer Pistolenattrappe Gewalt sein. Definitionen sind jedoch nicht beliebig. Das zeigt sich u. U. i n der Widerständigkeit der Objekte und gerade auch i n der w i r k lichen physischen Aggression. Definitionen müssen sich ein Stück weit am Materiellen orientieren, wenn sie nicht belanglos werden sollen. — 9
Siehe oben I I I . 2. f). Rechtsgüterschutz u n d Schutz der Gesellschaft. 11 Calliess, Begriff, S. 12, 14, 17. 12 S. 31. 13 S. 21, 31.
10
223
2. Verletzungsgewalt
Auch könnte man die kommunikativen Beziehungen i m Hinblick auf die Substrate differenzieren. Die Organisation der gesellschaftlichen Arbeit als Tausch von Ware und menschlicher Arbeitskraft impliziert eine Verdinglichimg, welche den Schein, die ganze Gesellschaft bestehe aus Gütern, gerade fördert. Generell gilt dies, wie gezeigt, von der Warentauschbeziehung 14 . Die Ausbreitung des Rechtsgutsdenkens wäre also der „modernen Industriegesellschaft" und bestimmten Arten der Interaktion keineswegs dysfunktional. Die infolge der Expansion der Rechtsgüter einsetzende kasuistische Subsumtion, Bewertung und Steuerung menschlicher Beziehungen, die Ausweitung latenter Strafgewalt könnten ebenfalls gerade der modernen Industriegesellschaft funktional sein. Aufgabe der Rechtsstaatlichkeit könnte es demgegenüber sein, u. a. dysfunktionale Interaktionen straffrei zu halten. — Möglicherweise werden die Begriffe ,Kommunikation' und ,Funktion' zuweilen selektiv eingesetzt. Auch der „Systemzusammenhang der gesetzlichen Tatbestände", i n welchem Calliess eine Bestätigung seines Ansatzes findet, scheint einzelne Tatbestände zu vernachlässigen. Darauf w i r d später einzugehen sein. I m Ansatz jedenfalls sind die Calliess'sche und die vorher aufgeführten Definitionen akzeptabel 15 . Die Verletzungsgewalt erfüllt alle oben aufgestellten Kriterien des Gewaltbegriffs. Sie greift die Existenz von Menschen an, sie tendiert regressiv zu primitiven Verkehrsformen, zur „Verwilderimg der Gesellschaft" (P. Brückner). Sie ist i n allen sozialen Bereichen untragbar. Zweierlei ist aber anzumerken: Die These von der sozialen Untragbarkeit der Verletzungsgewalt ist entweder normativ oder selektiv. Wie sich i n Kriegen und i m Straßenverkehr zeigt, ist Verletzungsgewalt massenhaft tragbar 10 . Damit hängt zusammen, daß die These von der sozialen Untragbarkeit der Verletzungsgewalt keine materielle Legitimation für das Strafen abgibt. b) Problematische
Legitimation
der Strafe
Denn die Verletzungsgewalt w i r d zumindest teilweise produziert durch strukturelle Gewalt. Diese aber steckt in den normalen und legalen Verkehrsformen 17 , die durch Strafrecht nicht prinzipiell angegriffen werden 14
Siehe oben I I I . 3. g), h), i). Schwer einzusehen ist allerdings, w a r u m Tötung nach Calliess nicht Gew a l t sein soll, denn das, was er zur körperverletzenden Gewalt ausführt, gilt erst recht für die Tötung. Keine Aggression ist derart „alternativenlos" w i e sie. N u r w e n n man Gewalt auf vis compulsiva beschränkte — was z. Z. niemand fordert — gehörte die Tötung nicht dazu. Die Tötung macht Widerstand absolut unmöglich (wie z. B. auch die Narkose). Z u Recht w i r d sie daher von der h. M. (Schönke / Schröder / Eser, § 249 R n 4; L K - B a l d u s , § 249 Rn 5; Schmidhäuser, StR B T 8/50) z. B. beim Raub als Gewalt bewertet. 16 Vgl. Eser, Festschrift f ü r die Tübinger Juristenfakultät, S. 377 ff. 15
224
V. Bestimmung des Gewaltbegriffs
können. Allerdings könnten i m Rahmen des weiten Gewaltbegriffs diverse Formen sozialen Drucks, z. B. i m Bereich der Wohnungsmiete, pönalisiert werden. Die damit verbundene Auflösung des Straf rechts ist jedoch wie gezeigt nicht akzeptabel. Gleichwohl speziell die Verletzungsgewalt zu pönalisieren, ist auch problematisch, weil diese Gewalt dort, wo sie strukturell bedingt ist, vermutlich mehr i n der Unterschicht stattfindet und deren Sozialisierungschancen durch die Kriminalisierung noch vermindert werden. Insofern steckt i n der Pönalisierung der Verletzungsgewalt — und speziell deren Pönalisierung w i r d durch den hier vorgeschlagenen Gewaltbegriff noch verstärkt — ein Element sozialer Diskriminierung benachteiligter Gruppen der Bevölkerung 1 8 . Spricht das gegen die Verpönung der Verletzungsgewalt? Historisch war die Unterdrückung der Verletzungsgewalt auch teil der Befreiung der Menschen aus Sklaverei, Leibeigenschaft, Hörigkeit. Das freie Arbeitsverhältnis und die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft wurden durch die Unterdrückung der unmittelbaren Gewaltverhältnisse gefördert 19 . Das w a r eine entscheidende Brechung der Herrschaft von Menschen über Menschen 20 . A n die Stelle der alten personalen Gewaltverhältnisse traten die rechtsförmige Gewalt des Staates und die strukturelle Gewalt des Eigentums und der vermittelten Verkehrsformen. Daß diese nicht als bloße „Verkleidungen" der Verletzungsgewalt gleich negativ zu bewerten sind, wurde oben ausgeführt. I m übrigen dürfte allgemein nachvollziehbar sein, daß die Erwartung und das Vertrauen darauf, daß man von anderen physisch geschont wird, nicht aufgeht i n irgendwelchen Herrschaftsinteressen. I m Verbot der Verletzungsgewalt w i r d die Erwartung zur formellen Norm. Wenn die Norm von einem Teil der Bevölkerung aus sozialstrukturellen Gründen nur bedingt eingehalten wird, so muß nicht die Norm aufgegeben werden. Es könnten auch die strukturellen Möglichkeiten dafür geöffnet werden, daß die Norm prinzipiell von allen eingehalten werden kann, so daß alle nicht nur der repressiven Seite der Zivilisation, sondern auch der emanzipativen Seite teilhaftig werden.
17
Siehe oben I I . 4., 5.; I I I . 3. g), h), i). Das ist nicht neu. A m historischen Beginn der Staatsbildung w a r die Unterdrückung der Verletzungsgewalt ein Instrument, u m gezielt die U n t e r worfenen niederzuhalten, zu disziplinieren u n d damit die partikularen I n t e r essen der Herrschenden durchzusetzen. A b e r was sich aus partikularen I n t e r essen entwickelte, k a n n i n der Geschichte seine F u n k t i o n ändern, sich als objektive S t r u k t u r v o m partikularen Interesse lösen; siehe oben I V . 1. d). 19 Siehe oben S. 95 f. 20 Das übersehen L a u t m a n n / Thoss, K r i m J 1976, 120 (124 ff.); k r i t . Keller, K r i m J 1977, 213 (215 ff.). 18
2. Verletzungsgewalt
c) Verletzung
225
und Gefahr
Verletzungsgewalt, d. h. Körperverletzung und erst recht Tötung sind Gewalt i. S. des StGB. Möglicherweise sind zur Erfüllung der oben aufgestellten Kriterien des Gewaltbegriffs aber nicht alle Merkmale vollendeter Körperverletzung oder Tötung erforderlich. Nach K l u g 2 1 und O t t 2 2 kann auch das aggressive Handeln, also u. a. der Angriff auf die Körperintegrität als Gewalt bewertet werden. Allerdings ist »Aggressivität' ein recht unscharfes K r i t e r i u m der Strafbarkeit 2 3 . Calliess 24 , dessen Gewaltbegriff besonders auf diese Frage bezogen ist, sieht die gegenwärtige Gefahr der Körperverletzung als Gewalt an: „Das Vorhalten einer Pistole, das Zufahren auf Fußgänger oder Polizeibeamte und das zu dichte Auffahren auf der Autobahn m i t einem Kraftfahrzeug" schaffen Gefahren, die der faktisch vollzogenen Verletzungsgewalt gleichgestellt werden sollen, „ w e i l infolge der Unübersehbarkeit wie auch der Eigengesetzlichkeit der" i n dieser Situation „ausgelösten Mechanismen nicht mehr vom Täter allein kontrolliert werden kann, ob es zur Verletzung kommt oder nicht". Durch die Einbeziehung der Gefahr (als vis compulsiva) i n den Gewaltbegriff versucht Calliess ein zentrales Problem der bisherigen Begriffsbildung zu lösen. Die gegenwärtige Verletzungsgefahr kann nicht als Drohung pönalisiert werden, weil sie nicht vom Täter zu steuern ist 2 5 . Ihre Bewertung als Gewalt andererseits wurde vom herkömmlichen Gewaltbegriff her abgelehnt, w e i l es an der Körpereinwirkung fehle 26 . Der Bundesgerichtshof allerdings hat, indem er das Körperlichkeitskriterium naturalistisch verdünnte, i n der Nervenerregung beim Opfer eine hinreichende Körperwirkung gefunden 27 . Die Zwangswirkungslehre hat keine Schwierigkeiten m i t der Einbeziehung: auch die Gefahr kann ein gegenwärtiges, kompulsiv wirkendes Übel sein 28 . Dam i t w i r d allerdings die bei vis compulsiva wichtige Grenze zur Drohung und auch sonst der Gewaltbegriff aufgelöst 29 . Calliess leitet die Einbeziehung der gegenwärtigen Gefahr aus der sozialen „Situation" zwischen Verursachung des Täters und Wirkung beim Opfer ab. Auch bei gegenwärtig nur drohender Verletzungsgewalt sei die Situation zwi21 22 23 24 25 26 27 28 29
Demonstrationsfreiheit, S. 29. N J W 1969, 2023 f. v. Heintschel-Heinegg, S. 95 ff. S. 31 ff. Vgl. Geilen, Festschrift für Mayer, S. 464; ders., JZ 1970, S. 527 f. Geilen, a.a.O. B G H S t 23, 126 f. Schönke / Schröder / Eser, R n 12 vor § 234. Busse, Nötigung, S. 113.
15 Keller
226
V. Bestimmung des Gewaltbegriffs
sehen Täter und Opfer primär physisch bestimmt. — Ist die Einbeziehung der drohenden Verletzungsgewalt, insbesondere der Gefahr akzeptabel nach dem oben entwickelten Konzept der Begriffsbildung? d) Die soziale Bedeutung der Verletzungshandlung Gewalt ist nur als Instrument strafbar, nur wo sie Zwangszwecke erreicht oder zu erreichen sucht. Das hebt sie von anderen regelmäßig strafbaren Verhaltensweisen wie Körperverletzung ab, obgleich sie i m Ausgangspunkt selbst eine solche Verhaltensweise ist. Der Zwangserfolg ist Grund dafür, daß die ohnehin schon strafbare Verhaltensweise der Körperverletzung zusätzlich noch als Gewalt pönalisiert wird. Der Zwangserfolg modifiziert seinerseits die Bewertung und Bestimmung dieser Verhaltensweise. Die Körperverletzung w i r d unter dem Aspekt der Gewalt relativiert. Sie verliert partiell ihre eigenständige Bedeutung. Die Gewichtung verschiebt sich ein Stück weit zum zweiten Teil der Gewaltnötigung, dem Zwangserfolg. I m Rahmen der Gewaltnötigung liegt i m Zwang der relevante Erfolgsunwert. Die Verletzungsgewalt müßte demnach nur Handlung sein, ohne notwendig eigenständigen Erfolg 3 0 . Das bedeutet freilich nicht, daß Gewalt keinen eigenen Unwert hätte, rein formal zu bestimmen und letztlich i m Zwangserfolg aufzulösen wäre wie i n der Entwicklung des herkömmlichen Gewaltbegriffs. Gewalt hat als Handlung eine eigene spezifische Bedeutung, die zu bestimmen ist und zu einem inhaltlich relevanten Gewaltbegriff führt. Nur der Erfolgsunwert t r i t t bei der Gewalt zurück. Ist also der Körperverletzungserfolg unter dem Aspekt der Gewalt verzichtbar? Gewalt muß geeignet sein, gerade Zwangserfolge zu erzielen. Frank 3 1 hat darauf hingewiesen, daß eine vollendete Körperverletzung wesentlich mehr motiviere als die nur angedrohte. Demnach dürfte unter dem Gesichtspunkt der instrumentellen Wirkung das eine dem anderen nicht gleichgestellt werden. Aber die instrumenteile Wirkung ist nicht nur i m Hinblick auf die individuelle Zwangswirkung zu bewerten, sondern auch und besonders i n sozialer Hinsicht. Es kommt darauf an, ob durch die zu Zwangszwecken eingesetzte gegenwärtige Verletzungsdrohung der soziale Zusammenhang, die sozialen Bedingungen von Freiheit ebenso oder ähnlich gefährdet werden. Verletzungsgewalt ist i n sozialen Deutungszusammenhängen relevant. Sie bewirkt nicht nur Verletzung, sie bedeutet auch Negation der Betroffenen als andere, vom Gewalttäter unterschiedene Menschen. Die Betroffenen werden i n ihrem physischen und damit zugleich i n ihrem sozialen Bestand angegriffen. I n der sozialen Bedeutungskomponente der Verletzungsgewalt steckt ihr „Macht30 31
So bezgl. Gewalttätigkeit Heilborn, Z S t W 18, 188 f. Allerdings i n anderem Zusammenhang, V D B V I , S. 20.
2. Verletzungsgewalt
227
wert" 3 2 . Die „Symbolwirkung" der Gewalt kann sozial ausgebreitet werden, ohne immer auch Verletzungen faktisch zuzufügen. Sie w i r k t auch ohne Vollzug i n anderen Situationen. Der Gewalttätige kann auf die Verletzung weitgehend verzichten. Gerade durch den Verzicht erlangt er Macht So ohne weiteres wie durch Verletzungsgewalt kann Macht durch keine andere Verkehrsform erlangt werden. A l l e anderen Verkehrsformen machen dem Machtinteressenten mehr Umstände. Das ist evident etwa bei der Akkumulation wirtschaftlicher Macht. Verletzungsgewalt ist nahezu universell verwendbar, weitgehend unabhängig von Strukturen, Zeiten, Objekten. Sie setzt nur überlegene K r a f t voraus, jedoch wie gesagt nicht immer faktische Verletzung. Die Verletzungsgewalt enthält die Möglichkeit, auf die Verletzung zu verzichten, und gerade i m Verzicht auf die faktische Verletzung realisiert sich Macht. Diese Macht ist individuell und vor allem sozial gefährlich. Individuell verschafft sie konkrete Einflußmöglichkeiten auf den Betroffenen: Zwang. Zwar ist diese individuelle Zwangswirkung bei bloß drohender Verletzungsgewalt geringer als bei vollzogener Gewalt. Diesem Minus steht aber die besondere soziale Gefährlichkeit gegenüber. Sozial ist die gerade i n drohender Verletzungsgewalt enthaltene Macht gefährlich, weil sie die Durchsetzung und Anerkennung des staatlich organisierten Monopols physisch begründeter Macht i n Frage stellt und weil sie die vermittelnden allgemeinen sozialen Verkehrsformen, die den einzelnen eine zumindest formale Chance der gleichen Teilhabe am allgemeinen sozialen Verkehr gewähren, durchbricht: sie stellt ein besonderes unmittelbares Gewaltverhältnis her. Ein solches kann allein die drohende Verletzungsgewalt, nicht die faktisch vollzogene herstellen, deshalb ist sozial die drohende Verletzungsgewalt gefährlicher. Auch ohne Verletzungserfolg kann also die Verletzungsgewalt den Kriterien des Gewaltbegriffs genügen. Bestätigung und Konkretisierung dieser Bewertung der sozialen Relevanz von aggressiven, auf Verletzungen vorerst nur gerichteten Handlungen findet sich i n der Regelung der Notwehr. Sich gemäß § 32 wehren darf auch, wer nur gegenwärtig angegriffen, noch nicht verletzt ist. Gegen die noch nicht faktische, nur drohende Gewalt darf der Notwehrer faktische Verletzungsgewalt einsetzen. Das Gesetz programmiert eine Gewalteskalation. Das könnte noch erklärt werden allein aus der Intention, individuelle Rechtsgüter zu retten. Auch i m Notstand, der allein auf die Rettung einzelner Rechtsgüter bezogen ist, darf präventiv eingegriffen werden. Aber die faktische Notwehrgewalt darf eingesetzt werden, auch wenn der Angegriffene unter Vermeidung von faktischer (Gegen-)Gewalt dem Angriff ausweichen könnte 3 3 , sich also gewaltlos 32 33
15*
Z u m folgenden s. o. S. 28 f. A u f die bekannten Ausnahmen ist hier nicht einzugehen.
228
V. Bestimmung des Gewaltbegriffs
retten könnte. Flucht w i r d i h m erspart, u m den Preis der faktischen Gewalt. Das Gesetz nimmt faktische Gewalt i n Kauf zur Rettung der sozialen Geltung des Rechts und des Angegriffenen 84 . Offenbar w i r d hier berücksichtigt, daß die rechtswidrige Gewalt, schon wenn sie nur droht, auch soziale, schädliche Relevanz hat. Und diese w i r d als so gewichtig eingeschätzt, daß sie die schädliche Relevanz faktischer GegenGewalt überwiegt. Ohne die soziale Komponente ist es nicht zu erklären, daß, auch wenn der Angegriffene ausweichen könnte, die Eskalation von drohender Gewalt zu w i r k l i c h verletzender Gewalt gesetzlich programmiert ist. Die Notwehrregelung zeigt, daß drohende Verletzungsgewalt im Hinblick auf ihre soziale Relevanz der faktischen Gewalt u. U. gleichgestellt werden kann. Das gilt auch für die Bedrohung m i t einer Verletzungsgefahr, bei der der Nötiger, nachdem er sie eingesetzt hat, den E i n t r i t t der Verletzung nicht mehr perfekt steuern kann (z. B. Vorhalten einer nicht beherrschten Waffe; dichtes Auffahren auf der Autobahn). Auch hier sind alle genannten Voraussetzungen der Gleichstellung erfüllt. Allerdings ist die Gleichstellung nicht bei jeder noch so vagen Verletzungsdrohung angemessen. Es sind Eingrenzungen nötig, auch w e i l i m Gesetz die Drohung anders geregelt ist als die Gewalt. Von dem allgemeinen Begriff der Drohung muß die als Gewalt zu bewertende Drohung abgegrenzt werden.
34 Nach h. M. (z. B. Roxin, K r i m i n a l p o l i t i k , S. 26 ff.) ist durch den A n g r i f f das objektive Recht i n seiner Geltung i n Frage gestellt u n d w i r d v o m N o t wehrer verteidigt. Diese These stützt das ganze Notwehrrecht, also auch seine Schärfe gegenüber A n g r i f f e n z. B. auf Eigentum jeder A r t , lebensnotwendiges Konsumeigentum ebenso w i e Grundeigentum, wie Produktionsmitteleigentum, w i e massenhaft akkumuliertes Eigentum an knappen begehrten Waren, welches Herrschaftsfunktion hat (Popitz, Prozesse der Machtbildung, S. 23 ff., 26, 28). Es ist aber verfassungsrechtlich nicht einzusehen, w a r u m i n einem Rechtsstaat m i t Gewaltmonopol die einzelnen zu gewalttätigen Verteidigern der objektiven Rechtsordnung werden sollen (so aber, sehr deutlich Schmidhäuser, Strafrecht A T S. 340 ff.). D a r i n steckt eine N i v e l l i e r u n g besonderer sozialer Handlungssphären, eine Identifikation von einzelnem u n d Staatsapparat, was dem Prinzip rechtsstaatlicher Differenzierung widerspricht (dazu oben I V . 8. g); kritisch auch Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 373). Angemessener dürfte die Annahme sein, daß der Angegriffene (nur) seine eigene soizale Geltung (seine Identität) verteidigen darf, u n d zwar dasjenige Maß an sozialer Geltung, das jedem Menschen i n dieser Gesellschaft als M i n i m u m zukommt ungeachtet aller sozialen Differenzierungen. Dieses Mindestmaß sozialer Geltung beruht auf der Achtung der Körperintegrität anderer. Wer einen anderen Menschen körperlich angreift, negiert i h n i n seinem sozialen Bestand (s. o. I I . 2.). N u r bei Angriffen auf die Körperintegrität ist danach die Schärfe des Notwehrrechts begründet; kritisch zur Notwehr bei A n g r i f f e n auf Eigentum auch Krey, J Z 1979, 702 ff.; H. Mayer, Strafrecht, A T (1967), S. 97. Die soziale Geltung des einzelnen als G r u n d der scharfen N o t w e h r betont auch Jescheck, Lehrbuch, S. 270, 285.
2. Verletzungsgewalt
e) Gegenwärtige
229
Gefahr
Wann ist die soziale W i r k u n g von drohender Verletzungsgewalt so erheblich, daß sie der vollzogenen Gewalt gleichgestellt werden kann? Dafür ist ein Vergleich von Notstand und Notwehr aufschlußreich. Beide Regelungen enthalten hinsichtlich der Verletzungsgefahr bzw. des Angriffs das K r i t e r i u m gegenwärtig'. Es hat aber i n den beiden Vorschriften eine jeweils andere Bedeutung. Der Notstand betrifft Gefahren auch natürlichen Ursprungs. Er befugt den Bedrohten nur zu den Maßnahmen, die zur Rettung eines Rechtsguts als einzelnes erforderlich sind. Flucht w i r d ggf. zugemutet. I n der Notstandssituation sind auf der Seite des Bedrohten wenig normativ-soziale Elemente wie soziale Anerkennung oder Rechtsgeltung i n Frage gestellt. Zwar ist bei der Abwägung der Notstandshandlung auch deren „sozialethischer Sinn . . . i m Rahmen der Gesamtrechtsordnung" zu berücksichtigen 35 . I m Mittelpunkt steht jedoch der natürliche Bestand eines einzelnen Rechtsguts. Andererseits — und darauf kommt es hier an — ergibt sich aus der Orientierung des Notstands primär auf die Rettung einzelner Rechtsgüter, daß Notstandsmaßnahmen zeitlich schon dann zulässig sind, wenn weiteres Abwarten das Schadensrisiko erheblich steigern würde. Schon längere Zeit vor der Schädigung selbst kann also gemäß §§ 34, 35 eine Gefahr »gegenwärtig' sein 38 , weil es eben u m die zweckvolle, konsequente Rettung dieses Rechtsguts und nicht „ums Ganze" geht. Die Notwehr hingegen bezieht sich ausschließlich auf Angriffe von Menschen, d. h. Aggressionen 37 . Die Notwehr befugt den Bedrohten zu schärferen Gegenmaßnahmen, denn der Bedrohte verteidigt nicht nur ein Rechtsgut als einzelnes. Es stehen angesichts der Aggression auch die normativ-sozialen Zusammenhänge des Rechtsguts auf dem Spiel. Für die Notwehr genügt also nicht das Risiko erheblicher Individualschäden. Dieses Risiko macht den A n g r i f f noch nicht gegenwärtig i. S. des § 32. Wann sind zusätzlich zum einzelnen Rechtsgut auch dessen normativsoziale Zusammenhänge, seine Geltung angegriffen? Soziale Geltung bedarf eines Mindestmaßes an Distanz zwischen den Menschen; soziale Geltung realisiert sich i n den symbolisch vermittelten Formen des Verkehrs der Menschen. Indem sie vermittelt miteinander verkehren, er35 Lackner, § 34 A n m . 2 e; k r i t . zur eigenständigen Bedeutung der Angemessenheitsklausel Schönke / Schröder / Lenckner, § 34 R n 2, 46. 36 Schönke / Schröder / Lenckner, § 34 R n 17. 37 Vgl. zur Einschränkung des Notwehrrechts bei schuldlosen „ A n g r i f f e n " Schönke / Schröder / Lenckner, § 32 R n 3, 52; weitergehend SK-Samson § 32 R n 14.
230
V. Bestimmung des Gewaltbegriffs
kennen die Menschen sich gegenseitig an als jeweils andere i m sozialen Zusammenhang. Vermittelt miteinander zu verkehren, setzt ein M i n i m u m an zeitlicher und räumlicher Distanz voraus, i n welcher sich die Menschen noch einigermaßen angstlos und frei annähern und i h r Verhältnis bestimmen, sich anerkennen können, d. h. Geltung finden können. N u n kann gewiß der soziale Bestand, die Geltung einer Person (oder die Geltung des Rechts) u . U . schon durch entfernte Ansätze rechtswidriger Handlungen irgendwie tangiert werden. Es geht um typisierende Unterscheidungen. Solange nur künftige Verletzungen angedroht werden, die i n einer anderen, späteren Situation verwirklicht werden sollen, bleibt i n der offenen Zeitspanne und der situativen Differenz i n der Regel noch Raum für Reflexion und vermittelndes Verfahren. Die Beteiligten können die gegenwärtige Situation und sich selber noch kontrollieren, Güter, Interessen, Rettungsmöglichkeiten abwägen usw., was daher auch für die von § 32 unterschiedene Situation des § 34 vorgeschrieben ist. Jedenfalls sind bei künftigen Gefahren bis zur Verletzung noch einige Vermittlungsschritte. Die soziale Geltung des Angegriffenen (bzw. des Rechts) ist typischerweise erst i n der distanzlosen, unmittelbaren Konfrontation m i t der Verletzung erschüttert 38 . Erst wenn der A n g r i f f ohne weitere Vermittlungsschritte zur faktischen Verletzung werden kann, sind zugleich jene Vermittlungsformen prinzipiell i n Frage gestellt, die den sozialen Verkehr und die soziale Geltung des Betroffenen konstituieren. Durch die unvermittelt gegenwärtige Aggression w i r d der Betroffene aus den sozialen Zusammenhängen herausgerissen und als bloßes, vereinzeltes Opfer definiert 39 . Die Verletzungsgewalt entfaltet ihre sozial einprägsame Wirkung, wenn sie zum Schlag ausholt. Wenn die Distanz entfällt, ist die Gewalt evident. Die Situation ist »schlagartig 4 umdefiniert. Die sozialen Zusammenhänge des Betroffenen werden hinfällig. Es dominieren die Körperlichkeit und die Angst 4 0 . Z u Recht nimmt daher Lenckner 41 an, daß die scharfe Notwehr, die die soziale Geltung verteidigt, erst 38 „Dem Feind einen Abstand aufzuzwingen, das ist w o h l der größte T r i u m p f , der sich erreichen läßt." (Franz Kafka) 39 Z u r distanzlosen Gegenwart der Gewalt vgl. Canetti, Masse u n d Macht, S. 323 f., 347 ff. 40 Angst v o r der distanzlosen Gegenwart der Gewalt u n d Angst infolge der Trennung von sozialen Zusammenhängen. Nach S. Freud entsteht Angst, w e n n die Distanz zwischen Drohendem u n d Bedrohtem verringert w i r d (Angst, angustiae, Enge). Zugleich w i r d i n der Angst die leidvolle Trennung von der Geborgenheit erlebt; Freud, Studienausgabe, Bd. I S. 393, 517 f., 522 f.; Bd. V I S. 275 ff., 302 ff. 41 Schönke / Schröder / Lenckner, § 32 Rn 14, 16 f.; Schaffstein, Festschrift f. Bruns, S. 92 f.
2. Verletzungsgewalt
231
zulässig ist, der Angriff i. S. des § 32 also erst gegenwärtig' ist, wenn er unmittelbar, d. h. i n der gegebenen Situation i n Verletzung umschlagen kann 4 2 . Fazit: die soziale Bedeutung eines Angriffs, die die Schärfe der Notwehr begründet, insbesondere die faktische Verletzungsgewalt auslöst, ist erst prinzipiell relevant, wenn die Verletzung i n der gegebenen Situation bevorsteht. Diese Bewertung ist auf die Bewertung der drohenden Verletzungsgewalt i. S. des allgemeinen Gewaltbegriffs übertragbar, weil auch dabei die spezifische soziale Wirkung von Aggressionen zentrales Kriter i u m ist. Wie der situativ gegenwärtige Angriff faktische Verletzungen auslöst um seiner sozialen Bedeutung willen, so kann u m dieser Bedeutung willen die situativ gegenwärtige Verletzungsdrohung der faktischen Verletzung gleichgestellt werden 43 . I m übrigen ist auch hinsichtlich der Gegenwärtigkeit die Verletzungsgefahr wieder ebenso zu behandeln wie die gesteuerte Verletzungsdrohung. Die Parallele zur Notwehr t r i f f t auch für die Gefahr zu, denn relevant ist hier nur die vorsätzlich 44 i n Gang gesetzte Gefahr, die auch von § 32 als Angriff erfaßt wird. f) Weitere Bestimmungen
der Gefahr
Der Terminus ,Gefahr' w i r d i m folgenden als Oberbegriff zur gesteuerten Drohung und zur einmal eingesetzten, dann vom Täter nicht mehr beherrschten Gefahr verwendet 45 . Das bedeutet: erfaßt werden sowohl die Voraussetzungen dafür geschaffen hat. Diese A r t der Gefahr ist 42 Suppert (Studien, S. 356 ff., 381 ff.), Welzel (Strafrecht, S. 87), Samson (SK § 32 R n 10) u. a. nehmen allerdings an, Notwehr sei schon immer bei drohender Verschlechterung der Verteidigungschancen zulässig. Sie soll auf „ n o t wehrähnliche Lagen" vorverlagert u n d damit dem Notstand angenähert w e r den. Aber w e n n Notwehr mehr Reaktion zuläßt als Notstand, so müssen i h r mehr Anlässe zugrunde liegen (wie erwähnt): der individuelle u n d der soziale. Dieser aber ist erst später gegeben (Schönke / Schröder / Lenckner, § 32 R n 14, 16 f.). Das bestätigt letztlich auch Suppert. Wenn er (S. 381 ff.) dort, wo v o r der ,Gegenwärtigkeit' des Angriffs Präventivnotwehr zugelassen sein soll, auch die zulässigen Verteidigungsmaßnahmen einschränkt (Ausweichpflicht, Proportionalität), so entspricht das i n der Sache der hier vertretenen Position. 43 Der Terminus ,gegenwärtig' ist auch i n §§ 177 f., 249, 252, 255 erwähnt. Die h. M. orientiert dessen Auslegung an § 34, nicht an § 32 (Schönke / Schröd e r / E s e r , § 249 R n 5; Rn 20 v o r § 234; Schönke / Schröder / Lenckner, § 177 Rn 6, § 178 Rn 3; Dreher / Tröndle, § 177 R n 4, § 178 Rn 8, § 255 R n 1; Preisendanz, § 249 A n m . 3). Der B G H hat dementsprechend bei § 255 eine Gefahr als gegenwärtig bewertet, die erst am nächsten Tag realisiert werden sollte (BGH M D R 1957, 691; zustimmend L K - B a l d u s , § 249 R n 7, zweifelnd S K Samson, § 249 R n 14). Nach der hier vertretenen Konzeption ist das f r a g w ü r dig. Das W o r t »gegenwärtig' müßte an die Auslegung des § 32 gekoppelt w e r den, so auch Lackner, § 249 A n m . 2 b. 44 Siehe unten V I . 3. a). 45 Das folgt dem Sprachgebraudi des § 34.
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V. Bestimmung des Gewaltbegriffs
etwa die ernstgemeinte Drohung, einen anderen auf der Stelle (,gegenwärtig') zu verprügeln, falls er sich nicht füge, als auch das bedrängend dichte Auffahren auf der Autobahn bei hoher Geschwindigkeit. I m ersten Fall ergibt sich die Gefahr daraus, daß der Täter eine Verletzung gezielt herbeiführen könnte, i m zweiten daraus, daß er Verletzungen, die er nicht anzielt, nicht mehr verhindern könnte, nachdem er gegenwärtig, wenn sie, wie der Bundesgerichtshof 46 zur verwerflichen Verkehrsnötigung sagt, jederzeit i n eine Verletzimg umschlagen kann. Der Begriff ,konkrete Gefahr' ist hier nicht sinnvoll 4 7 . Er betrifft nichtbeherrschte Gefahren, bei denen das Ausbleiben der Verletzung nur vom Zufall abhängt, nicht erklärbar ist 4 8 . Daß das i m ersten Fall nicht angenommen werden kann, ist evident 49 . I m zweiten Fall mag eine konkrete Gefahr vorgelegen haben, solange der Bedrängte nicht ausgewichen ist. Aber das ist nicht wesentlich für das, was eine nötigende Gefahr ausmacht und als Gewalt zu bewerten ist. Der Begriff der konkreten Gefahr steht i n anderen Funktionszusammenhängen als der hier relevante Gefahrbegriff. Für die objektive Seite der nötigenden Gefahr kommt es nicht entscheidend darauf an, ob der Nötiger den Kausalverlauf beherrschte oder nicht, sondern auf die objektive Situation zwischen Nötiger und Genötigtem. I n i h r muß die Verletzung unvermittelt bevorstehen. Eher als m i t der konkreten Gefahr ist die nötigende Gefahr vergleichbar m i t der Gefahr bei den Notrechten und wie gezeigt speziell m i t dem A n g r i f f i. S. des § 32. I m übrigen bezeichnet der Gewaltbegriff so, wie er hier verstanden wird, ein Verfahren m i t Handlungsunwert. Die als Gewalt zu bestimmende Gefahr muß daher nicht notwendig einen Erfolgsunwert wie die konkrete Gefahr enthalten. Die beiden Gefahrkonstellationen des ersten und zweiten Falles zusammenfassend kann Gewalt i. S. der gegenwärtigen Gefahr bestimmt werden als die vom Täter geschaffene Möglichkeit einer Verletzung i n der gegenwärtigen Situation ohne weitere Vermittlungsschritte. Zur objektiven Bestimmung der Gefahr könnte weiter die „Wahrscheinlichkeit eines schädigenden Ereignisses" erforderlich sein, wie nach h. M. bei § 34 50 . Damit würde die Frage nach dem Wahrscheinlichkeitsgrad relevant. Sie verfehlte jedoch die Situation der Nötigung. I n der Nötigung ist das Eintreten der Verletzung immer dann hinreichend wahrscheinlich, wenn es so, wie der Täter es ggf. w i l l , gegenwärtig möglich 4
* B G H S t 19, 268. So zur Verwerflichkeit auch B G H S t 19, 268; O L G K ö l n VRS 1979, 396; O L G H a m m VRS 1979, 350. Busse, Nötigung, S. 178 ff., hingegen zieht zur Bestimmung der Verwerflichkeit die konkreten Gefährdungsdelikte heran. 48 S K - H o r n , R n 5 ff. vor § 306. 49 Z u r Möglichkeit der Eskalation s. o. S. 239 f. 50 Schönke / Schröder / Lenckner, § 34 R n 12. 47
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2. Verletzungsgewalt
ist und der Bedrohte sich aufgrund dessen dem Willen des Täters fügt 5 1 und damit die Gefahr vermeidet 52 . g) Einwände gegen die Einbeziehung
der Gefahr
Der hier vorgeschlagene Gewaltbegriff greift i n den Bereich über, der von der älteren Lehre als Drohung bezeichnet wird. W i r d damit „die Grenze zur Drohimg verwischt"? Das haben vor allem Geilen 53 und Busse 54 gegen ähnliche Ausweitungen des Gewaltbegriffs durch den Bundesgerichtshof 55 und die neuere Lehre 5 6 eingewendet. Daß inhaltlich nach der hier vertretenen Konzeption eine Differenz zwischen Gewalt und Drohung besteht, wurde oben darzustellen versucht. Die Unterscheidung ist wertend und typisierend bezogen auf die soziale Situation: das Verhältnis zwischen Täter und Opfer. Sie geht nicht auf i n individualpsychologischen Imponderabilien (Nervenerregung) der Beteiligten, an denen sich die Rechtsprechung orientiert. Die Rationalität des naturalistischen Kriteriums ,Nervenerregung 4 ist Schein 57 . Nähme man es ernst, so könnte die Nervenerregung von Fall zu Fall auch bei entferntesten Drohungen gegeben sein und bei gegenwärtiger Lebensgefahr fehlen. Sie ist selten zuverlässig zu ermitteln 5 8 . Solche Probleme enthält der hier vorgeschlagene Ansatz nicht, w e i l er nicht naturalistisch am einzelnen, sondern normativ am sozialen Verhältnis zwischen Täter und Opfer ansetzt. Die gegenwärtige Verletzungsgefahr ist wie bei § 32 relativ leicht einzugrenzen. Weiter hat Geilen 59 geltend gemacht, die Drohung m i t gegenwärtiger Verletzungsgefahr sei i n §§ 249, 252, 255 schon erfaßt, und zwar außerhalb des Gewaltbegriffs. I n der vorliegenden Konzeption bleibt aber für die zweite Begehungsalternative der genannten Tatbestände ein 51
Dazu auch S K - H o r n , § 240 R n 10. Solche Relativität der Wahrscheinlichkeit ist genaugenommen auch bei § 34 relevant: Je schwerer der Notstandseingriff wiegt, desto größer muß die Wahrscheinlichkeit eines Schadens sein; Schönke / Schröder / Lenckner, § 34 Rn 15. 53 Festschrift f ü r Mayer, S. 456 ff.; ders., J Z 1970, 521 (528). 54 Nötigung, S. 110 ff.; auch: Haffke, ZStW 84, 66; Arzt, Strafrecht B T L H 1 S. 190 ff.; Schmidhäuser, Strafrecht B T 4/15. 55 B G H S t 23, 126. 56 Knodel, Der Begriff, S. 54 ff., 59, 77 ff.; Schönke / Schröder / Eser, R n 10 ff. vor § 234. 57 „Amateurpsychologie" (Jakobs, Festschrift f ü r Peters, S. 77). I l l u s t r a t i v : K G v. 1. 2. 78, (4/1 a) Ss 121/77 (84/77) u n d die i n Rote Robe 1975, 216 ff. zitierten Entscheidungen. I n der Rechtsprechung des K G scheint die Nervenerregung als Beweisregel bestimmten Berufsgruppen präsumiert zu werden. Vgl. auch L G Berlin, Wissenschaftsrecht 1974, 256. 58 Geilen, JZ 1970, 522, 526 ff.; Busse, Nötigung, S. 111. « S. 526. 52
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V. Bestimmung des Gewaltbegriffs
besonderer Anwendungsbereich: die nicht ganz seltene gegenwärtige Scheindrohung 60 . I m übrigen ist i n den meisten Tatbeständen neben der Gewalt die allgemeine Drohung strafbar, die einen erheblich weiteren Anwendungsbereich hat, der von Gewalt nicht berührt wird. Daß es zu Überschneidungen kommt, verstößt nicht gegen die „lex scripta", wie Geilen meint. Weitreichende Überschneidungen sind andernorts i m Straf recht selbstverständlich akzeptiert: z. B. zwischen Gesundheitsbeschädigung und körperlicher Mißhandlung, zwischen den beiden Tatbeständen des § 266, zwischen den Nötigungsmitteln des § 108, zwischen Gewalt und Gewalt gegen eine Person bei §§ 253, 255 etc. Der hier vorgeschlagene Gewaltbegriff erfaßt einen anderen Aspekt als die Drohung. Diese betrifft die Ankündigung eines Übels, das der Täter i n der Hand zu haben vorgibt Bei der Gewalt geht es (neben der Verletzung) um die gegenwärtige wirkliche Gefährdung des Opfers, die vom Täter nicht notwendig beherrscht sein muß. Daß ein Geschehen u. U. beide Aspekte enthalten kann, spricht nicht gegen die hier angenommene Unterscheidung. I m übrigen sollte beachtet werden, daß der ältere Gewaltbegriff (Körpereinwirkung) der Sache nach einen wesentlich weiteren Ausgriff i n den Bereich künftiger Übel enthält als der hier vorgeschlagene. Als Körpereinwirkung soll nämlich auch das Wegversperren gelten, w e i l es infolge dessen künftig zu Körperberührungen kommen kann, die von dem, der nicht vorher anhält, möglicherweise als unangenehm erfahren werden können 61 . I m Vergleich zu einer Konstruktion, die derart weit i n die ungewisse Zukunft ausgreift, bringt der hier vorgeschlagene Begriff eine deutliche Restriktion. Es geht u m gegenwärtige, wirkliche, vom Opfer nicht beherrschte Gefahren der Körperverletzung oder Tötung. I n solchen Fällen dürfte eine Pönalisierung auch noch angemessener sein als bei Körperberührungen wie dem Wegschieben der Hand 6 2 . Daß die Bewertung der gegenwärtigen Gefahr als Gewalt i m systematischen Zusammenhang des Gesetzes begründet ist, wurde oben versucht zu zeigen. Auch die Bedeutung des Wortes ,Gewalt 4 dürfte dieser Lösung nicht entgegenstehen; der unmittelbare A n g r i f f auf den Körper anderer Menschen (d. h. gegenwärtige Gefahr) w i r d auch i n der Alltagssprache als Gewalt bezeichnet. Bei Nicht-Juristen dürfte eine solche Bewertung wohl auch mehr Verständnis finden als die These, das Wegschieben der Hand, das Versperren des Weges seien Körperwirkungen und deshalb Gewalt. 60 81 62
Dazu der folgende Abschnitt. SK-Rudolphi, § 105 Rn 5; Giehring, Demonstration, S. 525 f. B G H S t 16, 341.
2. Verletzungsgewalt
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Gegen Knödels Ausweitung des Gewaltbegriffs w i r d zu Recht eingewandt, sie nivelliere die Differenzierungen der Drohung i m StGB: Drohung m i t Gewalt, Drohung m i t gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben, Drohung m i t einem empfindlichen Übel. Der hier vorgeschlagene Ansatz führt nicht zur Nivellierung. Gewalt ist etwas anderes als Drohung m i t Gewalt, welche Scheingefahren und vor allem künftige A n griffe umfaßt und sich damit auch von der Bedrohung m i t gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben unterscheidet. Die Drohung m i t empfindlichen Übeln ist ohnehin weiter. h) Scheingefahr als Gewalt? Liegt Gewalt vor, wenn eine gegenwärtige Verletzungsgefahr vom Täter zwecks Nötigung (nur) vorgespiegelt wird? — Nach Calliess 63 wendet Gewalt an, auch wer i n Nötigungsabsicht eine Schreckschußpistole einsetzt, folglich auch, wer einen anderen m i t einer Pistolenimitation aus Gummi bedroht, auch wer Prügel androht, ohne wirklich zuschlagen zu wollen. Die Einbeziehung der Scheingefahr ist konsequent, wenn man m i t Calliess zwischen Gewalt und Drohung i. S. des § 240 allein nach dem K r i t e r i u m gegenwärtig/künftig unterscheidet 64 . Die Drohung umfaßt nämlich nach h. M. auch vorgespiegelte Gefahren, d. h. Scheingefahren. Wenn nun die Drohung u. a. i m Bereich der Scheingefahren beschränkt w i r d auf die k ü n f t i g (scheinbar) zu realisierenden Gefahren, so ist es kaum zu umgehen, gegenwärtig drohende Scheingefahren der Gewalt zu subsumieren. Die gegenwärtige Scheingefahr dürfte nicht straflos sein, wenn die i. d. R. weniger schwerwiegende künftige Scheingefahr strafbar ist (als Drohung). Konsequenterweise sieht Calliess 66 denn auch i n der Formulierung des § 249 — „ m i t Gewalt gegen eine Person oder unter Anwendung von Drohungen m i t gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben" — nur eine Explikation seines Gewaltbegriffs; die „Drohung m i t gegenwärtiger Gefahr . . . " , die auch Scheingefahren umfaßt, geht gänzlich i n diesem Gewaltbegriff auf. Diese Konzeption führt zu beachtlichen Erweiterungen der Strafbarkeit insbesondere bei Diebstahl, Raub und Erpressung: Wenn zur Gewalt auch die bedrohliche Scheingefahr gehört, so müssen zu den Waffen als M i t t e l n der Gewalt und der Drohung m i t Gewalt (§§ 244 Abs. 1 Nr. 2, 250 Abs. 1 Nr. 2) auch die Scheinwaffen gehören 66 6 7 . Das entspricht auch 63 Der Begriff der Gewalt, S. 21, 31. « S. 22. 85 S. 34, 36. 66 Das hat der B G H (BGHSt 24, 339; N J W 1976, 248; G A 76, 56 f.) auch angenommen, die L i t e r a t u r hat es abgelehnt; vgl. Blei, J A 1972, 574; ders., J A 1974, 233 ff.; Schönke/ Schröder/Eser, § 244 R n 14; ders., § 250 Rn 16 f.; Tröndle, G A 1973, 328; Geüen, J Z 1970, 527; SK-Samson, § 244 R n 9 ff. 67 Z w a r ist i n § 250 Abs. 1 Nr. 2 m i t »Gewalt' offensichtlich n u r Gewalt
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V. Bestimmung des Gewaltbegriffs
Calliess' sonstiger Konzeption: Die Angriffsmodalitäten des § 249 Abs. 1 — Körperverletzung, Bedrohung m i t Körperverletzungsgefahr und m i t Scheingefahr — sollen ihrem Sinn nach gänzlich gleichbewertet werden, denn „ f ü r die Bestimmung des Sinnes einer sozialen Situation ist es ohne Belang, ob eine Verletzung von körperlicher Integrität tatsächlich stattgefunden hat oder nicht" 6 8 — auch wenn sie nicht stattfinden konnte und sollte. Wenn derart Gefahr und Scheingefahr gleichgestellt werden, so ist nicht ersichtlich, warum bei den Waffen als Mitteln der Gewalt Schein und Wirklichkeit unterschieden werden sollte. Das heißt praktisch: Der an der Kasse entdeckte Ladendieb, der die Kassiererin m i t einer Gummipistole einschüchtert, ist m i t mindestens 5 Jahren Freiheitsstrafe zu bestrafen. Der Einsatz von Scheinwaffen ist nicht immer harmlos, wie jüngst einige Flugzeugentführungen gezeigt haben. Das soll hier nicht bestritten werden. Z u bestreiten ist auch nicht, daß Scheingefährdungen strafbar sein können. Nur, ob Schein- und Realgefahr gleichgestellt, identifiziert werden können, ist hier zu prüfen. Das muß noch nicht wegen einiger spektakulärer Fälle bejaht werden. Gewiß können aus Scheingefahren wirkliche Verletzungsgefahren entstehen (insofern ist die Bezeichnung ,Scheingefahr' nicht ganz korrekt); das sind jedoch zunächst einmal ungewisse Fernwirkungen, die eventuell entstehen, wenn eine zunächst nur scheinbar gefährliche Situation eskaliert. Darauf ist später einzugehen. I m übrigen ist für die besonders heikle Situation der Flugzeugentführung die Scheingefahr schon i n § 316 c erfaßt. Schein und Wirklichkeit der Verletzungsgefahr Begründen ließe sich die Bewertung der Scheingefahr als Gewalt unter dem Aspekt der Freiheit des Genötigten. Aber das ist — gerade nach Calliess — nicht das entscheidende K r i t e r i u m des Gewaltbegriffs. Weiter könnte man darauf abstellen, wie der erfolgreich Genötigte die Situation der Scheingefahr erfahren hat: als ebenso latente Vergewaltigung wie der durch wirkliche Verletzungsgefahr Bedrohte. Aber diese Gleichstellung von Wirklichkeit und Schein ist bezogen auf eine dreigegen eine Person gemeint u n d die bestimmt Calliess als faktisch vollzogene, nicht als Scheingefahr einer Körperverletzung (S. 34). I n Calliess' Konzeption k a n n diese Begrenzung der »Gewalt gegen eine Person' aber nicht als E i n grenzung des Wortes »Gewalt' i n § 250 Abs. 1 Nr. 2 fungieren. Denn es wäre unverständlich, w e n n i n § 250 Abs. 1 Nr. 2 n u r die faktisch vollzogene K ö r p e r verletzung u n d die Drohung m i t künftiger Körperverletzung erfaßt wäre, nicht aber die Bedrohung m i t gegenwärtiger Körperverletzung. I n der Auslegung des wortgleichen § 244 Abs. 1 Nr. 2 erfaßt Calliess denn auch unter ,Gewalt' die Bedrohung m i t gegenwärtiger (Schein-)Gefahr (S. 35). Folglich müssen zu den Waffen i. S. der §§ 244, 250 auch die Scheinwaffen gehören. 68 Begriff, S. 31.
2. Verletzungsgewalt
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fach beschränkte Perspektive, die subjektive Erfahrung desjenigen Bedrohten, der die Situation nicht durchschaut und sich der Nötigung fügt. A l l e i n dies ist das tertium comparationis. Dem kann man die Perspektive des Nötigers gegenüberstellen: Wer sich etwa von einem anderen Geld dadurch verschafft, daß er i h m eine Pistolenattrappe bedrohlich vorhält, der bricht nicht das Verletzungsverbot, sondern er achtet es gerade. Seine Tat bringt i n ihrer Objektivität das Verletzungsverbot i n außerordentlich intensiver Weise zum Ausdruck. Die objektive Harmlosigkeit des Mittels zeigt, daß der Täter das Verletzungsverbot besonders beachtet hat. Er hat trotz seines egoistischen Zieles sich auf unschädliche M i t t e l beschränkt, sich auf den Schein verlassen. Er hat u m das Verletzungsverbot zu achten, das mögliche Scheitern seiner ganzen A k t i o n i n Kauf genommen. Das Verletzungsverbot stand i h m als Norm deutlich vor Augen, und er respektierte es. Wer von vornherein auf Verletzung verzichtet, hält sich an die Minimalregeln zivilisierten Zusammenlebens, er achtet immerhin die Integrität des anderen. Das ist anders bei demjenigen, der ernsthaft droht, wirklich gefährliche M i t t e l einsetzt. Er hat den Entschluß zu verletzen, das Gewaltverbot zu brechen und nur äußere Umstände, die Fügsamkeit des Genötigten, lassen i h n davon Abstand nehmen. Schein- und Realgefahr sind also objektiv und subjektiv auf der Seite des Täters unterschieden. Man muß nicht der Lehre vom personalen Handlungsunwert folgen, u m zu erkennen, daß nach dem Gesetz bei der Zurechnung (z. B. von Vorsatz, Fahrlässigkeit, Versuch) nicht vernachlässigt werden darf, was der Täter wirklich (und nicht nur vorgeblich) wollte und konnte. Hinzu kommt ein weiteres. Jenseits der individuellen Täter- und Opferperspektive ist die soziale Bewertung und Definition des Geschehenen relevant. Das ist aber nicht notwendig die Definition, die sich allein i n der „Situation" zwischen Täter und Opfer herstellt. Der Richter judiziert nicht einfach danach, was der Täter gewollt oder was das Opfer verstanden hat. Er bewertet und definiert das Geschehen nach dem allgemeinen Gesetz und bringt damit eine dritte, soziale Perspektive zur Geltung* 9 . Folglich muß sich die strafrechtliche soziale Bewertung und Definition der Situation nicht, wie Calliess unterstellt, der Perspektive von Täter und/oder Opfer anschließen. Die strafrechtliche Bewertung bringt davon u. U. abweichende Gesichtspunkte zur Geltung. Verletzungsgewalt ist nach dem hier entwickelten Konzept ausgehend von der wirklichen Verletzung zu bestimmen und zu modifizieren unter dem Aspekt der gefährlichen sozialen W i r k u n g von Verletzungshandlungen. Es sind also über die Täter- und Opferperspektive hinausge09 Das hat Calliess i n Theorie der Strafe, S. 15 ff. als ein Grundelement des ganzen Strafrechts herausgestellt.
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V. Bestimmung des Gewaltbegriffs
hende Generalisierungen erforderlich. Bei der Bewertung der Scheingefahr ist die Möglichkeit nicht auszuschließen, daß der Bedrohte den »Anschein4 der Gefahr durchschaut, oder daß er von der Ernsthaftigkeit der Gefahr nicht ganz überzeugt ist und es darauf ankommen läßt, oder daß er flieht oder vor Schreck nichts t u t . . . jedesmal bleibt er unverletzt und der Schein fällt i n sich zusammen. Das kann der Wirklichkeit nicht passieren. Gewiß kann man darüber streiten, ob die genannten Möglichkeiten der gewaltlosen Auflösung des Scheins mehr oder weniger wahrscheinlich sind. Dahinter steht aber ein prinzipieller Unterschied, der für die soziale Bedeutung der Gewalt, so wie sie hier bestimmt wurde, relevant ist. Die körperliche Verletzungsgewalt durchbricht den symbolisch vermittelten Verkehr der Menschen miteinander. Das ist ihr wichtigstes Kriterium. Es fehlt bei der Scheingefahr. Weil sie selbst nur auf Symbolen beruht, kann sie jederzeit durchbrochen werden. Sie ist prinzipiell ebenso hinfällig, wie es der normale, symbolisch vermittelte Verkehr der Menschen gegenüber Gewalt ist. Durch die Identifikation von Schein- und Realgewalt würde der symbolische Aspekt der Gewalt verselbständigt und verabsolutiert. Gewalt ist aber ohne die wenigstens latente wirkliche körperliche Überwältigung ein sich schnell verschleißendes Symbol und deshalb sozial wesentlich weniger gefährlich als wirkliche Gewalt. Scheingefahr kann keine dauerhaften sozialen W i r kungen entfalten. Sie hat nicht wie die Verletzungsgewalt jene brutale (im Wortsinn:) Wirklichkeit, die sich gradlinig und schnell durchsetzt. Sie taugt nicht zur Durchsetzung neuer Regeln. Hier könnte man einwenden, wenn wirkliche Gewalt sozial verbreitet sei, dann habe die Scheingefahr generell eine der wirklichen Gewalt ähnliche Wirkung. Es ist jedoch problematisch, ob eine derart verschärfte soziale Lage bei der Auslegung einfach unterstellt werden kann. I n anderen Bereichen des Strafrechts ist das nicht der Fall. Zwar w i r d die Gleichstellung von Versuch und Vollendung diskutiert und ist z. T. auch kodifiziert. Dabei ist aber immerhin eine subjektive Beziehung zur wirklichen Verletzung und, abgesehen vom untauglichen Versuch, auch eine objektive Gefährdung als Grundlage der Zurechnung vorhanden. Bei der scheinbaren Körpergefährdung w i r d ein Gewaltsymbol vom Betroffenen als w i r k l i c h drohende Gewalt bewertet. Bewertungen und Definitionen sind nicht irrelevant. Das bedeutet aber nicht, daß die strafrechtliche und allgemein die soziale Bewertung und Definition ungebunden wären. Das Verhältnis von Definition und Wirklichkeit ist nicht willkürlich. Die gegenteilige idealistische Vorstellung w i r d nirgends so schlagartig „widerlegt" wie i m Feld der physischen Gewalt.
2. Verletzungsgewalt
Werden Tötungen und Körperverletzungen um- oder wegdefiniert, so führt das auf die Dauer zu individuellen und sozialen Schwierigkeiten, und die Ablösung der sozialen Definition von der Wirklichkeit zeitigt Folgen, erweist sich als nicht beliebig 70 . Das gilt auch, wenn umgekehrt neben der wirklichen physischen Aggression noch vieles andere als Gewalt definiert w i r d und die wirklichen Differenzen verwischt werden. Denn dann können Bürger beliebige Zumutungen als Gewalt definieren, um den physisch aggressiven Widerstand dagegen zu legitimieren; oder staatliche Instanzen können unliebsame Abweichungen als Gewalt definieren, u m sie zu kriminalisieren. Das ist selbstverständlich i n Calliess' Definition nicht angelegt. Die Beispiele können aber zeigen, daß die Definition der Verletzungsgewalt nicht folgenlos von der wirklichen physischen Aggression abgelöst werden kann 7 1 , daß es folglich nichts m i t Naturalismus zu t u n hat, wenn an einem Bezug der Definition zur physischen Wirklichkeit festgehalten w i r d — u. U. auch gegen die Definition der beteiligten einzelnen. Wenn i m Strafrecht die wirkliche physische Aggression i m Zentrum des Gewaltbegriffs steht, weil solches Verhalten m i t seiner kruden „Natürlichkeit" vermittelte Verkehrsformen, Sprache, Definitionen durchbricht 72 , so kann i m Rahmen der notwendigen sozialen Bewertung nur solches Verhalten als Gewalt definiert werden, welches ähnlich w i r k t . Die Scheingefährdung, d. h. die bloße willkürliche Definition der Gewalt, w i r k t nicht ähnlich. Sie ist vielmehr als bloße Definition das aliud von wirklicher physischer Gewalt. Sie ist daher auch wie gezeigt sozial wesentlich weniger gefährlich als diese. Wenn es das erste K r i t e r i u m der Gewalt ist, Kommunikation zu durchbrechen, so kann Gewalt nicht selbst bloße Definition sein. Gefahr der Eskalation Allerdings kann die Situation der Scheingefahr dem Drohenden aus der Kontrolle geraten: der scheinbar Bedrohte kann zum gewaltsamen Gegenangriff übergehen. Diese Gefahr fällt jedoch strafrechtlich nicht ins Gewicht, weil sie den Täter selber trifft. Das Recht hat i h n nicht m i t Strafen vom Risiko mittelbarer Selbstschädigung abzuhalten. Außerdem ist auch offen, ob das Geschehen überhaupt i n dieses Risiko läuft. Deshalb und weil i n der Situation der Scheingefahr noch nichts Schädigendes geschehen ist, kann als Bestätigung für Calliess' Konzeption auch nicht § 227 herangezogen werden. Danach w i r d zwar u. U. auch bestraft, wer durch die Schlägerei selbst geschädigt wurde 7 3 , aber es muß objek70
Siehe oben I I . 1. L u h m a n n spricht hier von symbiotischen Mechanismen (Symbiotische Mechanismen, S. 108 f., 112, 120 ff.). 72 So Calliess, Begriff der Gewalt, S. 13 ff. 73 L K - H i r s c h , § 227 R n 19. 71
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V. Bestimmung des Gewaltbegriffs
tiv schon eine Schlägerei und/oder zumindest eine schwere Verletzung (§ 224) stattgefunden haben. Das ist eine rechtsstaatliche Zurechnungsgrundlage der Pönalisierung der Gefahr. I n weiterer Eskalation kann die Scheingefahr zur Realgefahr werden: Durch den eventuellen Gegenangriff des Bedrohten kann der Drohende provoziert werden, nun seinerseits w i r k l i c h Verletzungsgewalt anzuwenden. Das erst wäre die strafrechtlich relevante Schädigung. Ihre Verwirklichung steht unter vielen noch nicht eingetretenen Voraussetzungen 74 . Das macht es problematisch, die Scheingefahr m i t der oben erörterten Realgefahr gleich zu bewerten. Dem Täter würde die Möglichkeit einer Folge (Verletzung des Bedrohten) zugerechnet, von der feststeht, daß er sie — jedenfalls abstrakt — vermeiden wollte und daß er sie — wenn es konkret darauf angekommen wäre — auch hätte vermeiden können: es ist nicht sicher, ob auf den Gegenschlag des Bedrohten h i n der Täter etwa die Harmlosigkeit seines Angriffs klargestellt und damit die Spannung aufgelöst hätte. Unklar ist auch, ob er nach dem Schlag des Bedrohten selbst überhaupt noch physisch und psychisch fähig gewesen wäre, nun seinerseits gegen den Bedrohten wirklich aggressiv zu werden und ob er das dann auch gewollt hätte — zunächst jedenfalls wollte er Verletzungen vermeiden. Deshalb hätte diesem skrupulösen Täter wohl die Flucht als Alternative der Gewalt nähergelegen 76 . Weniger spekulativ ist die zuerst erörterte Situation der Realgefahr: Zwar sind auch dort bis zur Verletzung noch Voraussetzungen offen, aber der Täter ist von Anfang an fähig und entschlossen, i n der gegebenen Situation einen anderen Menschen w i r k l i c h zu verletzen. Das ist eine rechtsstaatlich sicherere Zurechnungsgrundlage als die der Scheingefahr 76 . Scheingefahr sollte also nicht m i t Realgefahr gleichgestellt werden 7 7 . Wenn allein die subjektive Perspektive des erfolgreich Genötigten zum K r i t e r i u m der Gewalt würde, so würde Gewalt wie die allgemeine Drohung, die ebenfalls keine wirkliche Gefahr voraussetzt, zu einem kommunikativen Delikt. Denn die Situation der Scheingefahr, die Gew a l t sein soll, ist nicht, wie Calliess 78 meint, primär physisch bestimmt, sondern durch ein Wissensgefälle, durch Täuschung und Angst. Der objektive K e r n der Gewalt, die wirkliche Verletzung, die bei der gegen74
Vgl. dazu auch Blei, J A 74, 235. Vgl. H o r n (Konkrete Gefährdungsdelikte, S. 178 f.) zur Situation dessen, der sich bedroht wähnt. 76 Z u r Nichtzurechnung eines noch nicht gefaßten Entschlusses auch S K Rudolphi, § 22 R n 6. 77 Das bedeutet zugleich, daß aus dem Verhältnis des § 249 zu § 250 Abs. 1 Nr. 2 zu entnehmen ist, daß Waffen objektiv Verletzungswaffen sein müssen. 78 Begriff, S. 33. 75
2. Verletzungsgewalt
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wärtigen Realgefahr immerhin i n der Situation latent und gewollt ist und jederzeit umschlagen kann, wäre aufgegeben, wenn Scheingefahr Gewalt wäre. Systematische Probleme Schließlich sprechen seit dem 4. Strafrechtsreformgesetz gegen Calliess' Konzept auch die §§ 177, 178. Dort ist die erste Begehungsalternative undifferenziert Gewalt 4 , wozu nach Calliess auch die Bedrohung m i t gegenwärtiger Scheingefahr für Leib und Leben gehört. Eben das ist aber i n §§ 177, 178 als zusätzliche Begehungsalternative erfaßt. Die Tatbestände enthielten also eine Verdoppelung. U m dies zu vermeiden könnte man, wie Calliess bei § 249 (Gewalt gegen eine Person) vorschlägt 79 , bei §§ 177, 178 das Tatbestandsmerkmal ,Gewalt 4 auf faktisch vollzogene Verletzungsgewalt beschränken. Damit würde jedoch der einheitliche Gewaltbegriff 8 0 i n einem praktisch relevanten Bereich aufgegeben. Außerdem würde damit nivelliert, was nach dem Gesetz zu unterscheiden ist: gewaltsame Eigentumsbeeinträchtigungen sind weniper pönalisiert (nur bei Gewalt gegen eine Person) als Beeinträchtigungen der weiblichen Sexualität (bei Gewalt). Allerdings nivelliert auch die h. M. diesen gesetzlichen Unterschied, indem sie den Gewaltbegriff bei §§ 177, 178 auf das Niveau von § 249 zurücknimmt 8 1 . Die vorangegangene Argumentation richtete sich nur gegen die Gleichstellung von scheinbarer und wirklicher Verletzungsgefahr. Möglich bleibt, die scheinbare Verletzungsgefahr unter einem sachlich anderen Aspekt als Gewalt zu bewerten. Der Gewaltbegriff muß nicht auf den Bereich der Verletzungsgewalt beschränkt werden. Nach allem kann das K r i t e r i u m »gegenwärtig/künftig 4 bei Verletzungsgefahr nicht allein relevant sein für die Unterscheidung von Gew a l t und Drohung. Erstere betrifft zwar nur gegenwärtige Verletzungsgefahren, aber nicht alle, nicht die Scheingefahren 82 . Die Drohung dürfte gegenüber der Gewalt ihre Spezifik primär i m Bereich kommunikativ begründeter Macht haben 83 . Dazu gehören auch die Herrschaft aufgrund von Täuschung und Verängstigung vor scheinbar gegenwärtig drohenden Schäden. Auch an der Differenz der gesetzlichen Termini ,Bedro79 80 81
390 f.
S. 26 f. Den v. a. Calliess, S. 8 ff., 18 f., 22, fordert. Schönke / Schröder / Lenckner, §177 R n 4. Vgl. auch B G H NStZ 1981,
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I. E. ebenso S K - H o r n , § 240 Rn 9. Anders w e n n m a n m i t B i n d i n g (Lehrbuch, S. 83) Gewalt auf vis absoluta beschränkt. Denn dann ist das motivierende Prügeln als Drohung zu bewerten; ähnlich Busse, Nötigung, S. 118. 83
16 Keller
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V. Bestimmung des Gewaltbegriffs
hung' und ,Drohung 484 dürfte der Unterschied zwischen »gegenwärtig' und »künftig' nicht festzumachen sein. Die §§ 177 f. pönalisieren als »Drohung m i t gegenwärtiger Gefahr 4 , was i n §§ 249, 255 als Bedrohung bezeichnet wird. Weitreichende Schlüsse dürften sich aus der Differenz der Worte also nicht ziehen lassen. 3. Können andere Beeinträchtigungen als Gewalt bewertet werden? Wer einem anderen das Auto kaputt macht oder wegnimmt, nötigt ihn u. U. dazu, eine Fahrt zu unterlassen 1 . Daß die Freiheit vor Nötigungen zu schützen sei, begründet auch hier noch nicht, daß Eigentumsbeeinträchtigungen Gewalt sein müßten. Gewalt ist gesondert zu bestimmen, und zwar, wie oben dargestellt, als generell untragbare Verhaltensweise. Diebstahl und Sachbeschädigung sind generell verboten. Sie indizieren die Rechtswidrigkeit wie i m übrigen die meisten Tatbestände des StGB. Wenn dies das K r i t e r i u m der Gewalt wäre, könnte man alle geschlossenen4 Tatbestände i n den Gewaltbegriff aufnehmen. Der Gewalttatbestand verlangt jedoch mehr als Indikation der Rechtswidrigkeit. Durch die Gewaltpönalisierung werden nicht undifferenziert sämtliche i. d. R. rechtswidrigen Verhaltensweisen doppelt sanktioniert. M i t solcher Auslegung würde dem Gewalttatbestand jede qualitative Eigenständigkeit abgesprochen 2. Wäre das gewollt, so hätten die Gesetzgeber anstelle des Terminus »Gewalt4 eine technische Verweisungsformulierung ähnlich wie früher bei der Drohung eingesetzt, etwa: ,durch ein Verbrechen oder Vergehen nötigen 4 . Wenn statt dessen von Gewalt die Rede ist, so muß damit eine gegenüber den anderen strafbaren Handlungen qualitativ abgehobene Verhaltensweise gemeint sein. Zur Bestimmung der generell untragbaren Verhaltensweise sind daher neben den i n anderen Tatbeständen des StGB vorgegebenen Gesichtspunkten eigenständige, materielle Kriterien heranzuziehen. Wenn nötigende Gew a l t i n allen differenzierten sozialen Bereichen strafbar ist, so muß es sich u m eine übergreifende, universell verwendbare, die sozialen Differenzierungen grundsätzlich gefährdende Verhaltensweise handeln. Die hier vorgeschlagene Begriffsbildung führt auch nicht zu einer bloßen Verdoppelung der Tötungs- und Körperverletzungstatbestände 3 . S4
Darauf stellt Calliess ab, Begriff, S. 22 f., 34 f. Oder das bekannte Schulbeispiel: U m einen Kunstsammler zu Geldleistungen zu veranlassen, zerschneidet der Erpresser ein B i l d des Sammlers nach dem anderen, bis dieser sich fügt — Sachbeschädigung als vis compulsiva. 2 Ähnlich Hansen, Nötigungsunrecht, S. 198. 1
4. Eigentumsbeeinträchtigungen u n d Gewalt gegen eine Person
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Der Gewaltbegriff betrifft eine von Tötung und Körperverletzung qual i t a t i v abgehobene Verhaltensweise, deren Unwert primär beim Handlungsaspekt liegt, so daß auch die gegenwärtige Verletzungsgefahr zur Gewalt gehört. Gegen die hier vorgeschlagene Lösung spricht auch nicht, was U. Hansen gegen den Ansatz V. Busses einwendet: er nivelliere die spezifische Bedeutung des Nötigungsunrechts, weil die Bestimmung der verwerflichen Verhaltensweisen gänzlich davon abgekoppelt sei. Die spezifische Bedeutung des Nötigungsunrechts w i r d vorliegend i n der besonderen, (auch) sozialen W i r k u n g des instrumentellen Zwangsaspekts der Gewalt — Gefährdung der Bedingungen von äußerer Willensfreiheit i n allen sozialen Bereichen — berücksichtigt. — Zurück zur Frage, ob Eigentumsbeeinträchtigungen i n den Gewaltbegriff einbezogen werden müssen: 4. Eigentumsbeeinträchtigungen und Gewalt gegen eine Person Daß Eigentumsbeeinträchtigungen übergreifende, universell verwendbare, die sozialen Differenzierungen grundsätzlich gefährdende Verhaltensweisen seien, ist kaum anzunehmen. Sie gehen nicht an den existentiellen Bestand der Menschen. Sie betreffen nur einen Teilbereich ihres Handelns. Dieser Teilbereich ist zudem relativ variabel. Man könnte seine zentralen Elemente auflösen (Art. 15 GG), ohne den zivilisatorischen Entwicklungsstand zurückzudrehen. Gibt es andere Gründe für die Bewertung der Eigentumsbeeinträchtigungen als Gewalt? Die Frage war schon i m Hinblick auf das crimen vis umstritten 1 . Nachdem das RStGB i n K r a f t getreten war, verneinte das Reichsgericht Gewalt bei Wegnahme von Sachen zwecks Nötigung 2 . Gewalt könne nur vorliegen, wenn die Sacheinwirkung körperliche Folgen bei Menschen habe 3 . Frank 4 und Wanjeck 5 lehnten diese Eingrenzung ab. Die h. M. hielt aber daran fest, solange sie Gewalt noch von Zwangswirkung getrennt bestimmte. — Zunächst zum allgemeinen Sprachgebrauch, auf den sich Haffke 8 beruft.
3 Das wendet Hansen (Nötigungsunrecht, S. 198) gegen Busses Bestimmung der Verwerflichkeit ein. 1 Wächter, Neues Archiv f ü r Criminalrecht, 11. Bd., S. 335 ff.; Glaser, A b handlungen, S. 25 ff. 2 RGSt 3, 179 ff. 3 RGSt 9, 58 (59 f.); 27, 405. 4 § 240 A n m . I I 1. 5 G A 27 (1879), 198 f. (allerdings n u r bei Sachzerstörung). 6 ZStW 84, 67; allerdings n u r bei vis compulsiva. Z u r vis absoluta durch Eigentumsbeeinträchtigung vgl. S. 48 f., 53, 67 f.
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V. Bestimmung des Gewaltbegriffs
a) Zum Sprachgebrauch Dieser ist hinsichtlich der Bedeutung des Wortes »Gewalt4 schwankend 7 . Zuweilen w i r d heute außer den von Haffke genannten Aktionen noch vieles mehr als Gewalt bezeichnet, dessen generelle Pönalisierung gleichwohl nicht i n Frage kommt. Andererseits w i r d etwa i n Teilen der Friedensforschung die Sachbeschädigung als gewaltlose, weil nicht verletzende A k t i o n bezeichnet 8 . Vor allem aber ist der herrschende strafrechtliche Sprachgebrauch unsicher: bei § 113 Abs. 1, § 177 Abs. 1 soll m i t Gewalt nicht die Sacheinwirkung gemeint sein 9 . Bei § 244 Abs. 1 Nr. 2, § 250 Abs. 2 ist dies ohnehin klar. Bezeichnend ist auch die schwankende Bedeutung des dem Gewaltbegriff verwandten Terminus ,Gewalttätigkeit 4 . Auch für i h n könnte man wie bei der Gewalt die These aufstellen, auch der A n g r i f f auf Sachen gehöre dazu. Unbezweifelbar hat Gewalttätigkeit diese Bedeutung aber nur i n §§ 124, 125 Abs. 1 Nr. 1. I n § 113 Abs. 2 Nr. 2 umfaßt sie eindeutig nicht Angriffe auf Sachen10. I n § 121 Abs. 3, § 125 Abs. 1 Nr. 2 und § 125 a ist ihre Bedeutung fragwürdig 1 1 . b) Argumentation
aus §§ 249 ff.
I n § 249 ist der Terminus ,Gewalt 4 m i t dem Zusatz ,gegen eine Person 4 versehen. Daraus könnte man schließen, i n den anderen Tatbeständen, i n denen jener Zusatz fehlt, sei auch Gewalt gegen Sachen pönalisiert 12 . Diesem Schluß läßt sich ein anderer entgegenstellen: Die i n § 249 ausgeschlossene Alternative — „Gewalt 4 4 gegen Sachen — ist i n § 243 Abs. 1 Nr. 1, 2 erfaßt. Dort ist sie nicht als Gewalt bezeichnet und auch systematisch i n anderem Zusammenhang erfaßt (Diebstahl). Folglich ist die sogenannte Gewalt gegen Sachen nicht »Gewalt4 i. S. des StGB. Dem könnte man entgegenhalten, § 243 betreffe nur Gewalt i m Kontext der Eigentumsdelikte. Aber diese Einschränkung müßte dann auch für § 249 gelten. Aus § 249 scheinen sich keine generalisierbaren Schlüsse zu erge7
Vgl. Haffke, S. 55. Vgl. Flechtheim, Gewalt u n d „Gewaltlosigkeit". I n : Soziologisches W ö r t e r buch, S. 369 ff. (372); vgl. auch Habermas, Protestbewegung, S. 137 f., 152. Auch w e n n man diesen Sprachgebrauch f ü r schlecht hält, ist es doch ein Sprachgebrauch, u n d es besteht k e i n Anlaß, i h n unbeachtet zu lassen, w e i l er zu strafrechtlichem Denken quer liegt. 9 L K - v . Bubnoff (10. Aufl.), § 113 Rn 14; Schönke / Schröder / Eser, § 113 Rn 42, R n 19 v o r § 234; Schönke / Schröder / Lenckner, § 177 R n 4. 10 L K - v . Bubnoff (10. Aufl.), § 113 Rn 57, 59; Schönke / Schröder / Eser, § 113 Rn 67. 11 Vgl. einerseits Blei, Strafrecht I I § 75 2 b); Schönke / Schröder / Cramer (18. Aufl.), § 125 Rn 20; andererseits Schönke / Schröder / Lenckner (19. Aufl.), § 125 R n 21; L K - v . Bubnoff (10. Aufl.), § 125 Rn 28. 12 Haffke, S. 67 F n 121. 8
4. Eigentumsbeeinträchtigungen u n d Gewalt gegen eine Person
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ben. Immerhin ergibt sich eine Vermutung aus §§ 244 Abs. 1 Nr. 2, 250 Abs. 1 Nr. 2. Dort ist ohne einschränkenden Zusatz von Gewalt die Hede; gemeint ist aber zweifellos nur solche gegen eine Person. Wenn sie i n relativ neuen Gesetzen schlicht als Gewalt bezeichnet wird, so scheint der Zusatz »gegen eine Person' i n § 249 keinen besonderen Stellenwert zu haben. Zwingend ist dieser Schluß freilich nicht. Ein stärkeres Indiz für die Strafbarkeit von Gewalt, die nicht gegen Personen gerichtet ist, könnte aus §§ 253, 255 entnommen werden 13 . Diese stehen i m Verhältnis von Grundtatbestand und Qualifikation. Die räuberische Erpressung ist m i t höherer Strafe bedroht als die einfache. Folglich müssen beide auf der Ebene der kriminellen Handlung unterschieden werden. Das ist einmal möglich, indem man hinsichtlich der Drohung differenziert. § 253 pönalisiert Drohungen m i t empfindlichen Übeln, § 255 Bedrohung m i t gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben. Wenn hinsichtlich der Drohungshandlung eine Unterscheidung getroffen wurde, so ist eine weitere Unterscheidung hinsichtlich der Gewalt nicht mehr logisch notwendig. Kollmann u. a. 14 hielten sie denn auch für überflüssig i m Hinblick auf eine angebliche Nachlässigkeit der Gesetzgeber, die nur versehentlich i n § 253 die Gewalt als M i t t e l aufgeführt hätten 16 . Diese Annahme dürfte dem Gesetz allerdings kaum gerecht werden. Wenn man schon eine derart subjektiv-historische Interpretation akzeptiert, so dürfte — konsequent subjektiv-historisch — anzunehmen sein, daß eine Auslegung, die, wie die h. M. über Jahrzehnte die Worte ,gegen eine Person' nicht ignoriert, vom Gesetzgeber gewollt ist1®. I m übrigen enthält die subjektivierende Spekulation auf einen niemals geäußerten 17 Gesetzgeberwillen auch zuviele Imponderabilien und ist verfassungsrechtlich fragwürdig 1 8 . Es ist also davon auszugehen, daß die Worte ,gegen eine Person' nicht nur deklaratorische Bedeutung haben, sondern einen spezifischen Teilbereich der allgemeinen Gewalt bezeichnen 19 . Deshalb muß eine Unterscheidung hinsichtlich des materiellen Unwerts der Gewalthandlungen 13 Olshausen, § 253 A n m . 22; Oppenhoff, § 253 Nr. 2 (allerdings ohne K o n sequenzen f ü r den allgemeinen Gewaltbegriff); Wanjeck, G A 27 (1879), 199; Haffke, a.a.O. 14 Kollmann, Erpressung, S. 48 f.; ähnlich Binding, Lb. S. 377 F n 4; 380 F n 4; v. Wächter, GS 27, 170 ff.; eingehende K r i t i k bei Knodel, Der Begriff, S. 149 ff. 15 Noch 1943 soll die Berichtigung des Verhältnisses des § 253 zu § 255 durch ein Redaktionsversehen unterblieben sein; so Maurach / Schroeder, Strafrecht B T § 45 I A , die daraus allerdings zu Recht keine Konsequenzen bezüglich des Gewaltbegriffs ziehen. 18 So auch v. Heintschel-Heinegg, S. 170. 17 Vgl. v. Wächter, a.a.O.; Kollmann, a.a.O. 18 Siehe oben I V . 4. a). 19 So auch Knodel, Begriff, S. 149 ff.
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V. Bestimmung des Gewaltbegriffs
i n beiden Tatbeständen getroffen werden. A u f den ersten Blick erscheint das einfach: I n § 253 könnte m i t der einfachen Gewalt auch solche gegen Sachen gemeint sein, i m Unterschied zur Gewalt gegen eine Person gemäß § 255. Folglich scheint der allgemeine Gewaltbegriff auch nötigende Eigentumsbeeinträchtigungen zu umfassen 20 . Diese Argumentation ist schlüssig, wenn die sogenannte „Gewalt" gegen Sachen die einzig mögliche Alternative der ,Gewalt gegen eine Person 4 i. S. des § 255 ist. Das ist aber nicht der Fall. Ebenso wie Sachbeschädigung können etwa auch das Wegeversperren oder der Streik als Gewalt bezeichnet werden 21 , obgleich sie einerseits sich nicht gegen Sachen richten, andererseits nicht unter § 255 fallen. Die herkömmliche Auslegung der Formel ,Gewalt gegen eine Person 4 i n §§ 249, 255 als gegen den Körper gerichtete Gewalt deckt nicht alle Fälle ab, die herkömmlich als Gewalt bezeichnet werden können und dennoch nicht ,Gewalt 4 gegen Sachen sind. Die Strafbarkeit von Eigentumsbeeinträchtigungen als Gewalt ist dem Verhältnis § 253/§ 255 also nicht zu entnehmen. Knodel 2 2 u. a. ziehen denn auch aus diesem Verhältnis zunächst nur den Schluß, es müsse m i t dem allgemeinen Gewaltbegriff auch solche Gewalt erfaßt sein, die sich nicht — i m Sinne des § 255 — gegen eine Person richtet. U m welche A r t von Gewalt es sich dabei handelt, hängt dann davon ab, wie die Gewalt gegen Personen bei § 255 und wie der allgemeine Gewaltbegriff bestimmt werden. Für sich genommen sind die Worte ,gegen eine Person 4 wenig aussagekräftig, denn i n einem weiteren Sinn richtet sich jeder Zwang gegen Personen 23 . Sind die bisher vorgeschlagenen Eingrenzungen der Gewalt gegen eine Person akzeptabel? c) Zur Bestimmung
der Gewalt gegen eine Person
Diejenigen, die Gewalt als Körpereinwirkung bestimmten, haben für die besondere ,Gewalt gegen eine Person 4 oft eine unmittelbare Körpereinwirkung oder Körperberührung verlangt 2 4 . Diese Differenzierung enthält die Probleme, die ihrem Kontext, dem allgemeinen Gewaltbegriff, zugrundeliegen. Es ist schwer erklärbar, welche soziale Besonderheit m i t diesem Begriff der unmittelbaren Körpereinwirkung erfaßt werden soll. I m einzelnen wurde der Ansatz mehrfach kritisiert 2 5 . Er w i r d heute angesichts der Ausweitung des allgemeinen Gewaltbegriffs 20
Haffke, S. 67. Haffke, S. 60, 71 F n 135. 22 Der Begriff, S. 92; vgl. auch S. 43. 23 Knodel, Begriff, S. 93. 24 Hälschner, Gemeines Strafrecht, 2. Bd., S. 379 f.; v. Liszt, Lehrbuch, S. 336, 430; Winkler, Der Begriff der Gewalt, S. 52; Sieberg, Die Gewalt, S. 49. 25 Knodel, Der Begriff, S. 92 ff., 153 ff.; v. Heintschel-Heinegg, S. 86 ff. 21
4. Eigentumsbeeinträchtigungen u n d Gewalt gegen eine Person
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kaum noch vertreten. Bei Blei 2 6 , der am herkömmlichen Gewaltbegriff festhält, ist ein Unterschied zwischen der allgemeinen Körpereinwirkung und der Gewalt gegen eine Person kaum noch begrifflich präzise faßbar. A u f die eingehende K r i t i k von Knodel kann hier verwiesen werden. — Schmidhäuser hat die Unterscheidung der beiden Gewaltarten gänzlich aufgegeben 27 . Sie sind jedoch i m Gesetz zur Differenzierung zusammenhängender Tatbestände aufgeführt (§§ 253, 255). Daß nach Schmidhäuser einfache Erpressung nicht m i t Gewalt begangen werden kann, obwohl dies i m Gesetz vorgesehen ist, spricht gegen seine Lösung 28 . Knodel 2 0 und die Vertreter der Zwangswirkungslehre haben die genannten Schwierigkeiten nicht, da ihr allgemeiner Gewaltbegriff von der Körpereinwirkung gelöst ist. Sie können dieses K r i t e r i u m daher bei der ,Gewalt gegen eine Person' einführen und es wörtlich nehmen. Das bringt Klarheit auf der begrifflichen Ebene, führt aber zu Schwierigkeiten bei der Konkretisierung. Bei der Handtaschenentwendung ist nach Knodel objektiv immer Gewalt gegen eine Person (Körpereinwirkung) und damit Raub gegeben, auch wenn die Tasche nur entrissen wurde. Eingrenzende Bestimmungen t r i f f t Knodel auf der subjektiven Ebene der Absicht, und dafür soll die Kraftentfaltung Indiz sein. Das bringt Unsicherheit i n die Rechtsanwendung 30 . Außerdem ist es fragwürdig, Diebstahl und Raub i m wesentlichen anhand subjektiver K r i t e rien (Absichten) zu differenzieren, wenn das Gesetz ein recht objektives Unterscheidungskriterium angibt: die Gewalt. Diese Tendenz zur Subjektivierung ist nicht zufällig i n Knödels Konzeption. Sie ist schon i n der Weite des allgemeinen Gewaltbegriffs angelegt, und liegt auch Knödels Konzeption des Körpereinwirkungskriteriums zugrunde. Der räuberische Erpresser soll deshalb schwerer bestraft werden als der einfache Erpresser, w e i l er nicht davor zurückschreckt, auf den Körper anderer Menschen einzuwirken 3 1 , also wegen verwerflicher Gesinnung. Auch beim ausgeweiteten allgemeinen Gewaltbegriff treten subjektive Kriterien ins Zentrum der Bestimmung 32 . Solche Verlagerung ins Subjektive ist unausweichlich, wo die Objektivität von Verkehrsformen unqualifiziert auf bloß kausale Erfolge alltäglicher A r t — Freiheitsbeeinträchtigung, Körpereinwirkung — reduziert wird. 26
Strafrecht I I , § 18 I I I 2 a, § 57 I I . Strafrecht B T 8/48, 40; 11/49, 54. 28 Dazu Knodel, Begriff, S. 149. 29 J Z 1963, 701 (702 f.); ders., Der Begriff, S. 148 ff. (157); k r i t . SK-Samson, § 249 R n 12. 30 Dazu Knodel selber, JZ 1963, 703; Busse, Nötigung, S. 109. 31 Der Begriff, S. 156 f. 32 Begriff, S. 83 ff.; zustimmend Jakobs, Festschrift f ü r Peters, S. 78 F n 35; k r i t . Geilen, Festschrift f ü r Mayer, S. 461 F n 68; Haffke, ZStW 84, 51. 27
248
V. Bestimmung des Gewaltbegriffs
Schließlich sei noch auf eine Besonderheit i n Knödels Bestimmung der Gewalt gegen eine Person hingewiesen. Beim allgemeinen Gewaltbegriff kritisiert Knodel das K r i t e r i u m ,Körpereinwirkung' ausführlich und vehement 33 , und zwar nicht nur, w e i l die früher h. M. dieses K r i t e r i u m inkonsequent anwendete, sondern, w e i l das Körpereinwirkungskriter i u m für sich schon ,unerträglich', ,durchaus unbefriedigend', ,sinnlos', ,unverständlich', »unhaltbar', ,absurd' wirke, „jeder inneren Rechtfertigung entbehre" 34 . Dieses K r i t e r i u m soll nun zur Abgrenzung der §§ 249, 253, 255 tauglich sein. Das ist bemerkenswert, insbesondere da Knodel i n eben dieser Kehrtwendung seines eigenen Ansatzes eine deutliche Bestätigung desselben sieht 35 und v. Heintschel-Heinegg 36 ihn gerade i n dieser Wendung „methodisch einwandfrei" findet. d) Systematische Probleme Knodel und die anderen Vertreter der Zwangswirkungslehre beziehen Eigentumsbeeinträchtigungen i n den Gewaltbegriff ein, indem sie diesen Begriff sehr w e i t fassen. Das führt zu Inkonsistenzen, denn der auf Eigentumsbeeinträchtigungen ausgedehnte Gewaltbegriff muß dann an anderen Stellen wieder zurückgenommen werden. Bei § 113 Abs. 1 soll m i t , G e w a l t ' nicht diejenige gegen Sachen gemeint sein; ebenso bei § 177 Abs. I 3 7 . Da die Ausdehnung auf Eigentumsbeeinträchtigungen i m rein instrumentellen Verständnis der Gewalt begründet ist, muß der allgemeine Gewaltbegriff auch gänzlich abgetrennt werden von der Bedeutung des Wortes »Gewalt' i n Verbindung m i t ,Tätigkeit' (§§ 113 Abs. 2, 121 Abs. 3, 124 ff.), denn der Gewalttätigkeit fehlt der instrumentelle Bezug. — Selbst, wenn man also annähme, durch die Ausdehnung des Gewaltbegriffs auf Eigentumsbeeinträchtigungen werde die Differenz zwischen § 253 und § 255 angemessen erfaßt, so müßte dies doch m i t erheblichen Friktionen an anderer Stelle erkauft werden. Warum diese zu vernachlässigen sein sollten ist nicht einzusehen. Ebenso wie aus §§ 253, 255 könnte man den allgemeinen Gewaltbegriff aus §§ 113, 121, 124 ff., 177 und dem Zusammenhang m i t Gewalttätigkeit entwickeln 9 8 , 33
Begriff, S. 42 ff., wo es u m die K r i t i k des älteren Gewaltbegriffs geht. Begriff, S. 48 f., 54, 102, 110. 35 Begriff, S. 157. 36 S. 173. 37 Schönke / Schröder / Eser, § 113 R n 42; Schönke / Schröder / Lenckner, §177 Rn 4; Knodel, Der Begriff, S. 165 ff.; Lackner, § 113 A n m . 4 a, § 177 A n m . 4 a; L K - v . Bubnoff (10. Aufl.), § 113 R n 14; a . A . zu § 113: S K - H o r n , Rn 13. 38 Von § 113 aus hat K l u g i m erstinstanzlichen Verfahren des LaeppleProzesses einen allgemeinen Gewaltbegriff entwickelt, der auch die G e w a l t tätigkeit umfaßte; vgl. L G K ö l n J Z 1969, 80 (81). I n Prot. V I S. 184, 216 hat K l u g die Gleichstellung v o n Gewalt u n d Gewalttätigkeit vorgeschlagen; ähnlich Calliess, Der Gewaltbegriff, S. 19 f. 34
5. Gewalt als Freiheitsberaubung u n d Gewalt gegen eine Person
249
um primär dort eine verallgemeinerungsfähige Lösung zu erreichen. N i m m t man hinzu, daß die Bedeutung der Worte »gegen eine Person' wie gezeigt vieldeutig ist, so ist vollends fragwürdig, w a r u m von hier aus ein allgemeiner, darüber hinausgehender Gewaltbegriff begründet werden sollte, der dann an anderer Stelle wieder zurückgenommen werden muß. e) Fazit Für die Gewaltqualität der nötigenden Eigentumsbeeinträchtigung läßt sich weder aus dem allgemeinen Sprachgebrauch noch aus §§ 249, 253, 255 etwas entnehmen. I n bezug auf den Ausgangspunkt dieses A b schnitts ist zu beachten: Wenn der auch auf Eigentumsbeeinträchtigungen erstreckte Gewaltbegriff nach h. M. i n verschiedenen besonderen Tatbeständen wieder zurückgenommen werden muß, so zeigt das, daß Eigentumsbeeinträchtigungen nicht derart in allen sozialen Bereichen gefährlich sind , wie dies oben für den allgemeinen Gewaltbegriff vor ausgesetzt wurde . Die Inkonsistenzen der h. M. bestätigen, was oben zur begrenzten Bedeutung der Eigentumsbeeinträchtigungen gesagt wurde. Neuerdings w i r d deren Qualifikation als Gewalt auch abgelehnt von Calliess 39 und v. Heintschel-Heinegg 40 , der auf Parallelen i m britischen und schwedischen Recht hinweist. 5. Gewalt als Freiheitsberaubung und Gewalt gegen eine Person Der Bewertung der Freiheitsberaubung als Gewalt stehen nicht ohne weiteres die Einwände entgegen, die oben gegen die Orientierung der Gewalt am Rechtsgut Freiheit vorgebracht wurden. Sie bezogen sich auf die Auflösung des eigenständigen Gewaltmittels i m tatbestandlichen Zweck der Gewalt, der jenseits ihrer liegt; sie bezogen sich also auf die Auflösung der Gewalt i n der allgemeinen Freiheitsbeeinträchtigung. Davon zu unterscheiden ist der instrumenteile Einsatz der spezifischen Freiheitsberaubung. Sie ist der A r t nach von der allgemeinen Freiheitsbeeinträchtigung unterschieden. Sie indiziert die Rechtswidrigkeit 1 . a) Zur sozialen Bedeutung der Freiheitsberaubung Freiheitsberaubung ist zwar i. d. R. rechtswidrig, ob sie jedoch i n allen sozialen Bereichen die Bedingungen von Freiheit durch soziales 39
Gewaltbegriff, S. 36 f. S. 214 f. 1 Haffke (ZStW 84, 67) u. v. Heintschel-Heinegg (S. 213 f.) subsumieren sie daher der Gewalt. 40
250
V. Bestimmung des Gewaltbegriffs
Handeln prinzipiell i n Frage stellt, läßt sich bezweifeln. Die meisten tatsächlichen Freiheitsberaubungen sind z. Z. gerechtfertigt 2 , also sozial nicht untragbar. Einschränkungen der Fortbewegungsfreiheit sind i n dieser Gesellschaft weitgehend Bedingungen von Freiheit durch soziales Handeln, wie oben dargestellt wurde 3 . Freiheitsberaubung greift den einzelnen nicht i n seinem sozialen Mindestbestand an. Er w i r d körperlich geschont. Die Freiheitsberaubung bleibt i h m äußerlich. Sie ist die zivilisierte Alternative der Verletzungsgewalt, wie die Entwicklung des Strafvollzuges von den peinlichen zu den Freiheitsstrafen i m Gefolge der bürgerlichen Herrschaft zeigt. Die peinlichen Strafen zielten auf soziale Negation des Betroffenen. Die Freiheitsstrafen nehmen i h m ein bestimmtes Quantum Zeit und Raum als Abgeltung der Tat. Die Fortbewegungsfreiheit ist i m Rahmen der Vergeltung ein Tauschmedium. Sie läßt — dem Anspruch nach — die Person unberührt. Die Freiheitsberaubung hat daher auch als rechtswidrige typischerweise weniger einschneidende Bedeutung als die Verletzungsgewalt. Das w i r k t sich auch i n den tatsächlichen deliktischen Handlungszusammenhängen aus. Als M i t t e l zu Nötigungszwecken ist die kurze Freiheitsberaubung verbreitet 4 , gerade w e i l sie den Betroffenen körperlich schont. Die soziale und individuelle Bedeutung der kurzen Freiheitsberaubung ist dabei oft kaum zu unterscheiden von der bloßen (gewaltlosen) vis absoluta. Ob einem Reiselustigen etwa i n den fünf Minuten, i n denen sein Zug abfährt, der Zugang zum Bahnsteig versperrt w i r d oder ob i n den entscheidenden Minuten die Wartehalle, i n der er sich aufhält, abgeschlossen wird, ist annähernd gleichgültig. Wenn nach der vorliegenden Untersuchung die unqualifizierte vis absoluta nicht Gew a l t ist, so kann es oft unangemessen sein, Freiheitsberaubung als Gew a l t zu bewerten. Ihre soziale Bedeutung kann i n die bloße Nötigung fließend übergehen. Dann t r i t t ein, was gegen die Bewertung der vis absoluta als Gewalt eingewandt wurde: die Spezifik des Gewaltmittels w i r d i m Nötigungszweck aufgelöst. Für den Reiselustigen dürfte i n beiden genannten Fällen allein der Erfolg, daß er nicht zum Bahnsteig und zum Zug kommt, entscheidend sein. Das sind Grenzfälle. Sie dürften jedoch nicht ganz selten auftreten, w e i l die Rechtsprechung schon bei recht kurzfristigen Freiheitsberaubungen den Tatbestand bejaht 6 . Andererseits spricht für die Einbeziehung der Freiheitsberaubung i n den Gewaltbegriff, daß durch sie i n vielen Fällen ein unmittelbares Gewaltverhältnis des Nötigers über den Eingesperrten hergestellt wird. 2 3 4 5
Maurach / Schroeder, Strafrecht B T T b 1 S. 136. I I I . 4. d). Vgl. Arzt, Strafrecht B T L H 1 S. 179 f. Nachweise bei LK-Schäfer, § 239 R n 21.
5. Gewalt als Freiheitsberaubung u n d Gewalt gegen eine Person
251
Das ähnelt dem durch drohende Verletzungsgewalt hergestellten Verhältnis. Der Eingesperrte wird, wenn die Freiheitsberaubung länger dauert, von sozialen Beziehungen weitgehend abgeschnitten. Dem A n spruch nach ist die Möglichkeit der Freiheitsberaubung weitgehend (nicht vollständig) beim Staat monopolisiert und rechtlich geordnet. Sie ist das schärfste der normalen staatlichen Machtmittel gegen einzelne 6 . Das macht, neben der individuellen Wirkung, die Freiheitsberaubung für die soziale Organisation gefährlich. Schließlich ist auch der Unterschied der Freiheitsberaubung zur Verletzungsgewalt noch zu erläutern. Erstere ist, wo sie vorkommt, oft gerechtfertigt. Aber wenn man aus dieser allgemeinen Bewertung der Freiheitsberaubung Schlüsse auf ihre Bewertung i m Rahmen der Gewaltstrafbarkeit zöge, so wäre andererseits auch bei der Verletzungsgewalt nicht zu übersehen, daß sie i m allgemeinen oft gerechtfertigt und sozial akzeptiert ist. Der Straßenverkehr verursacht massenhaft Tötungen; obwohl das absehbar ist, w i r d der Verkehr weiter betrieben. Auch wenn die einzelnen Tötungen individuell nicht gerechtfertigt werden, werden sie doch insgesamt als soziale Folge permanent hingenommen. I n sozialen Bereichen wie Gesundheitsfürsorge, Umweltschutz etc. könnten viele derzeit als sozialadäquat bewertete Körperverletzungen und Lebensverkürzungen vermieden werden, wenn man sich entschlösse, diese Bereiche anders zu organisieren und zu finanzieren. Wenn diese Realität nicht ausgeblendet werden soll, ist zuzugeben, daß die Ausgangsthese, Verletzungsgewalt sei generell untragbar, von verbreiteter Bewertung dieser Gewalt normativ abweicht. Ähnlich könnte man auch die Bewertung der Freiheitsberaubung als Gewalt begründen. Gewiß ist dabei festzuhalten, daß Verletzungsgewalt individuell und sozial gefährlicher ist als Freiheitsberaubung. Verletzungsgewalt muß daher i m Zentrum dessen stehen, was als strafbare Gewalt bewertet wird. Sie ist das Minimum. Die Schädlichkeit der Freiheitsberaubung ist aber nicht derart weniger gewichtig, daß anzunehmen wäre, nur die Verletzungsgewalt könne als Gewalt bewertet werden. Daß Freiheitsberaubung ähnlich zu bewerten ist wie Verletzungsgewalt, w i r d schließlich durch die neuere Rechtsentwicklung bestätigt: I n § 35 wurde neben Leib und Leben die persönliche Freiheit i. S. des § 239, und nur diese, einbezogen, w e i l die persönliche Freiheit „einen ähnlich hohen Rang genießt wie Leib und Leben" 7 , weil sie eine m i t diesen „vergleichbare existenzielle Bedeutung " hatf. Diese gesetzliche Bewertung der Freiheitsberaubung ist zu berücksichtigen.
8 7 8
Vgl. z. B. §§ 51, 161 a StPO. E 1962, Begr. zu § 40, S. 161. Schönke / Schröder / Lenckner, § 35 Rn 11.
252
V. Bestimmung des Gewaltbegriffs
Nach allem ergibt sich: Die Einbeziehung der Freiheitsberaubung i n den Gewaltbegriff ist nach dessen allgemeinen Kriterien — generell untragbare Verhaltensweise — möglich. Sie ist nicht ebenso notwendig wie die der Verletzungsgewalt. Ihre soziale Bedeutung schließt die Einbeziehung aber nicht aus. Gewiß kann man diese allgemein wertenden Erwägungen bestreiten. Weiteren Aufschluß kann eine genauere Berücksichtigung des Gesetzes geben. Dieses ist letztlich entscheidend. Es geht vorliegend nicht darum, allgemein und eindeutig den „gerechten" Gewaltbegriff zu ergründen, sondern nur darum, denkbare Wertungen zu finden, die es ermöglichen, das positive Recht zu verstehen und zu konkretisieren 9 . b) Gewalt gegen eine Person und Freiheitsberaubung Nach der Systematik des Gesetzes kann der Gewaltbegriff nicht beliebig eingeengt werden. Er muß, wie gezeigt, mindestens Verletzungsgewalt umfassen. Aus der gesetzlichen Systematik ergibt sich aber noch eine weitere Direktive hinsichtlich des Mindestumfangs des Gewaltbegriffs: Er muß so weit gefaßt sein, daß innerhalb des Bereichs der allgemeinen Gewalt gemäß §§ 249, 252, 255 noch der Sonderbereich der Gewalt gegen eine Person bestimmt werden kann. Was als Gewalt zu bewerten ist, ist also auch durch die Notwendigkeit dieser internen Differenzierung des Gewaltbegriffs i n einem M i n i m u m festgelegt. Darauf ist i m folgenden einzugehen. Wenn nach der Eigentumsbeeinträchtigung auch die Freiheitsberaubung nicht Gewalt wäre 1 0 , bliebe als solche nur die Verletzungsgewalt. Innerhalb deren ist aber die Bestimmung des erwähnten engeren Sonderbereichs kaum mehr angemessen möglich. Freilich könnte man, wie Calliess 11 vorschlägt, die Gewalt gegen eine Person als faktisch vollzogene Verletzungsgewalt bestimmen. Der damit ausgegrenzte Bereich von Verletzungsgewalt (Bedrohung m i t gegenwärtiger Gefahr) würde dann aber i n der zweiten Begehungsalternative der §§ 249, 255 erhalten bleiben. D. h. i m Ergebnis wäre Raub durch einfache Gewalt zu begehen. Dann ist aber schwer erklärbar, warum i n § 249 die umständliche Formulierung ,mit Gewalt gegen eine Person oder unter Anwendung von Drohungen m i t gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben' auftaucht, die nach Calliess den ganzen Bereich der Gewalt nur explizieren soll. I n § 253 würde dieser Bereich 9
Vgl. oben S. 127, 145 ff., 149 ff. Die Freiheitsberaubung i n den Gewaltbegriff einzubeziehen, liegt näher als die Einbeziehung der Eigentumsbeeinträchtigungen, w e i l diese weniger schwer wiegen. 11 Gewaltbegriff, S. 34f., 36f. Ähnliche Lösungen vertraten: Kohlrausch/ Lange, 42. Aufl., § 253 I I , § 255 I ; Welzel, Lehrbuch, 6. Aufl., S. 309; L K (8. A u f lage) — Jagusch, § 253 A n m . 2 a; Maurach, Strafrecht B T (3. Aufl.), S. 262 f., 267; grundlegend v. Wächter, GS 27 (1875), 170 ff., 173. 10
5. Gewalt als Freiheitsberaubung u n d Gewalt gegen eine Person
253
dann wieder einfach m i t »Gewalt4 bezeichnet, i n §§ 252, 255 — fast gänzlich — wieder m i t der umständlichen Formulierung umschrieben. (Bei § 255 soll die Bedrohimg m i t gegenwärtiger Leibesgefahr nach Calliess nur drohende Krankheit oder organische Schädigungen umfassen 12 .) Schließlich wäre bei §§ 177, 178 n. F. der ganze Gewaltbereich wieder m i t einer anderen umständlichen Formulierung erfaßt; der Gesetzestext würde als Tautologie gedeutet und der Unterschied zu § 249 würde nivelliert. Wenn aber der Schutz des Eigentums vor Gewalt nur bei Tötung, Körperverletzung und Bedrohung m i t derartigen Delikten einsetzt, so muß der Schutz der weiblichen Sexualität nach dem Gesetz weiterreichen. Sieht man zunächst von den Sexualdelikten ab, so deutet bei §§ 249 ff. die gesetzliche Formulierung eher darauf hin, daß Raub und räuberische Erpressung gleichgestellt werden sollen und dementsprechend die einfache Erpressung Gewalthandlungen erfaßt, die nicht i m Raubtatbestand erfaßt sind. Die einfache Erpressung hat demnach keine Parallelen auf der Seite des Raubes 13 ; bzw. sie t r i t t nach der Rechtsprechung an die Stelle des nicht pönalisierten „kleinen Raubes". Bei Calliess' Lösung bleibt für das Tatbestandsmerkmal ,Gewalt' i n § 253 nur ein minimaler Anwendungsbereich — Bedrohung m i t gegenwärtiger Gefahr leichter Körperverletzung —, so daß zweifelhaft ist, warum das Wort ,Gewalt 4 i n § 253 eingefügt ist. Die von Calliess vorgeschlagene Unterscheidung zwischen einer Bedrohung, deren Realisierung „zu Krankheit oder organischer Schädigung führen kann" und einer Bedrohung, die nur zu minderen Körperverletzungen führen kann, dürfte auch i n der Praxis objektiv und subj e k t i v schwer durchzuführen sein; denn die gegenüber der Körperverletzung enger zu bestimmende „Krankheit" muß noch nicht eingetreten sein 14 . Von der Unterscheidung hinge aber die beachtliche Strafrahmendifferenz zwischen § 253 und § 255 ab. I m übrigen ist auch nicht einzusehen, warum bei der räuberischen Erpressung die Strafbarkeit der Handlungsmittel i m Verhältnis zum Raub zurückgenommen werden sollte (auf Bedrohung m i t möglicher Krankheit). Denn i n den tatsächlichen Fallkonstellationen liegen Raub und räuberische Erpressung eng beieinander, so daß die i m Gesetz vorgesehene Gleichbewertung sinnvoll erscheint 15 . Fazit: Innerhalb des Bereichs der Verletzungsgewalt läßt 12 Ähnliche Differenzierungen bei Wanjeck (GA 27 [1879], 200) hinsichtlich Gewalt an der Person. 13 Z u r E r k l ä r u n g dieser Bewertung vgl. SK-Samson, Rn 7 ff. vor § 249. 14 Der Begriff »Krankheit' müßte w o h l auch anders bestimmt werden als i n §§ 174 a, 218 b, 221, 223 b. 15 Blei, Straf recht I I § 64 I 2 a; Maurach / Schroeder, Straf recht B T T b 1 S. 392 f.
254
V. Bestimmung des Gewaltbegriffs
sich ein engerer Sonderbereich der Gewalt gegen eine Person kaum bestimmen. Die Differenzierung der §§ 253, 255 kann auch nicht aus gesetzgebungsgeschichtlichen Gründen vernachlässigt werden. Daß diese Differenzierung aus einem Redaktionsversehen der Gesetzgeber entstanden sei 16 , ist erstens zweifelhaft, und zweitens gegenwärtig nicht mehr erheblich. Für das Versehen gibt es keine Belege i n den Materialien. Man sollte auch nicht den Gesetzgebern, die nun seit langem an der Differenzierung festhalten „völlige Gedankenlosigkeit unterstellen" 1 7 . Deshalb ist es auch nicht angemessen, die Berücksichtigung der Systematik der §§ 249, 253, 255 als „begriffsjuristisch" abzulehnen 18 , wenn der Gewaltbegriff zugleich aus dem „Systemzusammenhang" des Gesetzes begründet werden soll. Es gibt keine anderen Direktiven für Recht als Texte und der Gesetzestext hat Vorrang. Damit ist Teleologisches nicht ausgeschlossen19. Es sollte aber nicht das Gesetz einem vorgefaßten Gewaltbegriff untergeordnet werden. Eine Gesetzeskonkretisierung, die innerhalb eines begrenzten Gesetzesabschnitts verschiedene Formulierungen der Gewalt (§ 249 — § 253) inhaltlich nivelliert und gleiche Formulierungen der Gewalt (§ 249 — § 255) inhaltlich differenziert und die die Aufzählung der verschiedenen Handlungsmittel i n §§ 177 f. als reine Wiederholung desselben bestimmt, w i r d der Gesetzesbindung kaum gerecht. Den vorliegend angenommenen methodischen Grenzen der Teleologie entspricht solches Vorgehen nicht. Teleologie dient dazu, das positive Gesetz m i t all seinen Differenzierungen zu erklären. Die Differenzierungen i n praktisch wichtigen Tatbeständen weisen auf den Mindestumfang des Gewaltbegriffs hin. Da seine Beschränkung auf Verletzungsgewalt sich m i t den Differenzierungen nicht vereinbaren läßt, kann sie nicht richtig sein. Der Gewaltbegriff muß mehr, also auch die Freiheitsberaubung umfassen. Diesen Umfang des Begriffs kann man aus allgemeinen Erwägungen für zu weit und mißglückt halten. Die Gesetzesbindung läßt eine Einengung aber nicht zu 20 . Wenn die Freiheitsberaubung i n den Gewaltbegriff einbezogen wird, so kann i n der Differenz zwischen dieser und der Verletzungsgewalt die ,Gewalt gegen eine Person 4 angemessen fixiert werden. Sie ist Ver16 17 18 19
202 f.
Calliess, Begriff, S. 37. Knodel, Gewaltbegriff, S. 149 ff. Calliess, a.a.O. Siehe oben S. 127, 145 ff., 149 ff.; Fr. Müller, Methodik, S. 148 f., 162 f.,
20 Daß der Gewaltbegriff zwei verschiedene „Handlungsperspektiven" u m faßt, verstößt nicht gegen das Gebot der Tatbestandsbestimmtheit, w i e Calliess (S. 29) meint. Tatbestände müssen K r i t e r i e n enthalten, die die K o m petenz der Justiz bestimmen. Daß sie verschiedene Handlungsarten umfassen, ist, sofern diese hinreichend typisiert sind, nicht ausgeschlossen. So umfaßt etwa der Terminus »nötigen' vis absoluta u n d vis compulsiva.
5. Gewalt als Freiheitsberaubung u n d Gewalt gegen eine Person
255
letzungsgewalt. Auch der Umgangssprache liegt es nahe, Verletzungsgewalt, die sich aggressiv gegen den Körper der Menschen richtet, u m dieser besonderen Aggressivität w i l l e n als Gewalt gegen eine Person zu bewerten und Freiheitsberaubung, die den Körper schont, als nicht i n diesem engeren Sinn gegen eine Person gerichtete Gewalt zu bezeichnen. Die Worte ,gegen eine Person 4 sind wie erwähnt inhaltlich nicht sehr festgelegt, w e i l jeder Zwang sich irgendwie gegen eine Person richtet. Daß die hier vorgeschlagene Definition der ,Gewalt gegen eine Person 4 auch der Entwicklung des preußischen Strafrechts seit dem A L R entspricht, hat Winkler ausführlich gezeigt 21 . c) Weitere Gründe für die Einbeziehung Es dürfte also die Freiheitsberaubung i n den Gewaltbegriff einzubeziehen sein. Damit w i r d auch ein Teilbereich der oben diskutierten nötigenden Scheingefahr berücksichtigt, denn die Freiheitsberaubung ist auch durch vorgespiegelte Gefahren („auf andere Weise44) möglich. Es scheint auch angemessener, die Scheingefahr i n diesem Rahmen zu erfassen. Denn durch die gleichzeitige Freiheitsberaubung w i r d der scheinbar Bedrohte nicht nur eingeschüchtert und zum Ausweichen veranlaßt, sondern ist zugleich i n der räumlichen Bedrängnis den Verfügungen des Täters ausgeliefert. Vorteilhaft ist die hier vorgeschlagene Lösung auch i m Hinblick auf §§ 177, 178. Dort sieht sich die h. M. veranlaßt, den Gewaltbegriff einzuschränken auf »Gewalt gegen eine Person 4, wozu auch nötigende Freiheitsberaubung gehören soll 22 . Diese aber soll auch bei § 249 den Tatbestand erfüllen 2 3 . Damit w i r d nivelliert, daß die Eigentumsfreiheit nach dem Gesetz weniger geschützt ist als die Sexualität der Frau. Nach der Rechtsprechung, die den „kleinen Raub 44 gemäß § 253 pönalisiert, setzt der Eigentumsschutz sogar noch früher ein (bei Gewalt) als der der sexuellen Freiheit (bei Gewalt gegen eine Person). I n der hier vorgeschlagenen Konzeption ist eine inkonsequente Restriktion des Gewaltbegriffs bei §§ 177, 178 nicht nötig. Auch w i r d die erwähnte Differenzierung berücksichtigt, denn Freiheitsberaubung ist Gewalt i. S. des § 177, aber nicht Gewalt gegen eine Person i. S. des § 249. Schließlich kann durch diese Fassung des Gewaltbegriffs auch die Wegnahme von Körperersatzteilen als Gewalt bewertet und zugleich von der Wegnahme sonstiger Handlungsmittel sinnvoll unterschieden 21
Der Begriff der Gewalt, S. 50 f. L K - M ö s l , § 177 Rn 3; Schönke / Schröder / Lenckner, § 177 Rn 4; B G H G A 1965, 57; G A 1981, 168 f.; L G Saarbrücken NStZ 1981, 222. Differenzierend B G H NStZ 1981, 390 f. 23 Schönke / Schröder / Eser, § 249 Rn 4. 22
256
V. Bestimmung des Gewaltbegriffs
werden 24 . W i r d zwecks Nötigung einem Gehbehinderten der Rollstuhl, einem schwer Sehbehinderten die Brille weggenommen, so ist das Gewalt, weil diese Personen ihrer Fortbewegungsfreiheit beraubt werden 25 . W i r d hingegen einem Unbehinderten sein Auto weggenommen, so ist er nicht i n der Fortbewegungsfreiheit betroffen — er kann gehen — also keine Gewalt. d) Eingrenzungen aa) Freiheitsberaubung zwecks Nötigung zu einem (über die Duldung der Freiheitsberaubung selber hinausgehenden) Verhalten ist also Gew a l t ; nicht jedoch bei § 234. Wenn bei diesem Delikt Freiheitsberaubung Gewalt wäre, so wäre fast jedes Sich-Bemächtigen schon Gewalt 2 6 . Die Spezifik der M i t t e l i n § 234 (List, Drohung, Gewalt) liefe leer. Deshalb kann Gewalt hier nicht Freiheitsberaubung sein. Daraus ist jedoch nicht zu schließen, daß auch der allgemeine Gewaltbegriff nicht Freiheitsberaubung umfassen könne. Denn § 234 ist ein veralteter, gegenwärtig so gut wie bedeutungsloser Tatbestand 27 . Es wäre nicht angemessen, aus i h m weitreichende Schlüsse zu ziehen. bb) Das am Beginn dieses Abschnitts dargestellte Problem der Nivellierung des Unterschieds von Freiheitsberaubungsgewalt einerseits und unqualifizierter (gewaltloser) vis absoluta andererseits bleibt allerdings bestehen. Es kann ein Stück weit behoben werden, indem diejenigen nötigenden Freiheitsberaubungen ausgegrenzt werden, die praktisch keine über die bloße vis absoluta hinausreichende Relevanz haben. Eigenständige Relevanz hat die Freiheitsberaubung bei der vis absoluta, wenn sie nicht nur als Verhinderung einer bestimmten Handlung (Nötigung), sondern auch als Beschränkung der allgemeinen Fortbewegungsfreiheit erfahren wird. Die Abgrenzung zwischen beiden Fällen läßt sich nicht abstrakt präzise formulieren. Regelmäßig w i r d eine Freiheitsberaubung von wenigen Minuten, die die Rechtsprechung schon unter den § 239 subsumiert 28 , kein über die bloße vis absoluta hinausreichendes Gewicht haben. Z u fordern ist daher für die Gewaltnötigung eine Freiheitsberaubung von erheblicher Dauer 29. Eine rechtsstaatlich 24 Calliess (Gewaltbegriff, S. 39) erweitert bei Wegnahme v o n Körperersatzteilen seinen allgemeinen Gewaltbegriff. Die ältere Lehre n i m m t eine K ö r p e r e i n w i r k u n g an; Sieberg, Gewalt, S. 23; k r i t . Knodel, Der Begriff, S. 46 ff. Nach Haffke, ZStW 84, 62 w i r d durch Wegnahme v o n Körperersatzteilen ein u n überwindlicher Widerstand geschaffen, nicht so bei Wegnahme etwa eines Kfz. 25 Schönke / Schröder / Eser, § 239 Rn 4; Maurach / Schroeder, Straf recht B T Tb 1 S. 134. Z u r Entziehung von Hilfspersonen s. u. S. 271. 26 Nicht gegenüber Kleinstkindern, Schönke / Schröder / Eser, § 239 a R n 8. 27 Maurach / Schroeder, a.a.O., S. 134. 28 RGSt 7, 260; B G H N J W 1967, 941. 29 Ä h n l i c h § 116 Abs. 1 A E StGB, Begr. S. 65.
6. Gewalt durch Unterlassen?
257
befriedigende, theoretisch konsistente Lösung ist das nicht. Sie kann jedoch nicht vermieden werden, w e i l anderenfalls, wie dargelegt, wichtige gesetzliche Differenzierungen i n kaum vertretbarer Weise nivelliert würden. — Welche Dauer der Freiheitsberaubung erheblich ist, ist nur unter dem Aspekt der Einschränkung der Fortbewegungsfreiheit zu bestimmen. Der Zweck des Nötigers, die abgenötigte Handlung, ist dabei nicht zu berücksichtigen 80 . Denn auch hier ist der Gewaltbegriff unabhängig vom beabsichtigten Erfolg der Nötigung zu bestimmen; das folgt aus dem oben entwickelten Konzept des Gewaltbegriffs. cc) I n die nötigende Verletzungsgewalt wurde auch die gegenwärtig drohende Verletzung einbezogen. Eine solche erweiternde Modifikation kommt bei der freiheitsberaubenden Gewalt nicht i n Frage. Sie bewirkt eine prinzipielle Verschärfung der Situation typischerweise erst, wenn sie vollzogen wird. Die Androhung der Freiheitsberaubung hat die genannten Wirkungen nur, wenn sie m i t Verletzungsdrohungen verbunden ist. 6. Gewalt durch Unterlassen? Da die Nötigungstatbestände keine echten Unterlassungstatbestände sind, kann ein Unterlassen ihnen nur nach den Regeln der unechten Unterlassungsdelikte subsumiert werden. Das wäre abgesehen von der Garantenpflicht jedenfalls dann unproblematisch, wenn der Unwert des tatbestandlichen Verhaltens primär beim Erfolg läge 1 . Beim Erfolg könnte dann die Bildung des Unterlassungstatbestandes, die Bestimmung der strafbegründenden Erfolgsabwendungspflichten anknüpfen. Die Nötigung ist jedoch nur strafbar, wenn sie durch besondere M i t t e l herbeigeführt wird. Sie ist kein reines Erfolgs- oder Bewirkungsdelikt, wie Herzberg meint 2 . Wegen der Besonderheit der M i t t e l liegt also noch nicht Gewaltnötigung durch Unterlassen vor, wenn ein bezüglich Freiheit Garantenpflichtiger jemanden i n eine Zwangslage geraten läßt, u m ihn dadurch zu weiterem Verhalten zu nötigen 3 . Die bloße Nötigung durch Unterlassen ist nicht strafbar. Das bedeutet noch nicht, daß die
30
Anders SK-Horn, § 240 Rn 49 zum Bagatellprinzip bei § 240. Schünemann, Unterlassungsdelikte, S. 279 f., 371 ff. 2 Die Unterlassung, S. 150 ff.; anders Stratenwerth, Straf recht A T Rn 225, 1035. Es ist schwer verständlich, w a r u m Herzberg, der i m übrigen v i e l auf die Verhaltensgebundenheit abstellt, gar die Garantenpflicht dafür preisgibt (S. 68 ff.), bei der Gewalt sich umstandslos dem reinen Erfolgsdogma anschließt. Demgegenüber k o m m t Schünemann durch eine methodische U n t e r suchung der Unterlassungsdelikte zur K r i t i k der Teleologie (S. 255 ff., 364 ff.), die i m Erfolgsdogma steckt, u n d konsequent zur K r i t i k auch jenes »modernen 4 teleologischen Gewaltbegriffs, der sich i m Zwangserfolg auflöst (S. 365 F n 27). 8 So aber Herzberg, S. 152; Sch. / Sch. / Eser (20. Aufl.) R n 20 vor § 234. 1
17 Keller
258
V. Bestimmung des Gewaltbegriffs
Gewalt selbst nicht durch Unterlassen begangen werden könne 4 , sondern vorerst nur, daß die eventuelle Garantenpflicht hinsichtlich des Nötigungserfolges nicht die Annahme von Gewalt begründen kann. Der Gewaltbegriff wurde hier aus Tötung, Körperverletzung und Freiheitsberaubung abgeleitet. Diese Delikte können durch Unterlassen begangen werden. Aber das muß nicht für die Gewalt gelten. Sie ist eine Modifikation dieser Tatbestände. Sie ist instrumentell und m i t besonderer sozialer W i r k u n g auf Zwang gerichtet. I m Hinblick darauf könnte die Nötigungsgewalt als Begehungs- oder verhaltensgebundenes Delikt 5 zu bestimmen sein. Während die überwiegende Meinung unter den allgemeinen Voraussetzungen Gewalt durch Unterlassen für möglich hält 6 , nehmen einige Autoren an, sie müsse aktiv, aggressiv, tätig sein 7 . Wer m i t der älteren Lehre Gewalt als Körperkraftentfaltung bestimmt, muß ohnehin das Unterlassen ausschließen. Das Reichsgericht? hatte denn auch Zweifel an der Möglichkeit des Unterlassens bei Gewalt. Nach Schmidhäuser 9 ist das Unterlassen ebenfalls ausgeschlossen, weil Gewalt „eine besondere Begehungsweise" der Freiheitsbeeinträchtigung ist. Wenn nach Grünwald beim Absichtsdelikt der Kausalverlauf immer aktiv gesteuert werden muß 1 0 und wenn nach h. M. 1 1 Gewaltnötigung ein Absichtsdelikt ist, so kann sie nicht durch Unterlassen verwirklicht werden. Auch aus der übrigen Lehre vom Unterlassungsdelikt ergeben sich Zweifel hinsichtlich der Gleichstellung des Unterlassens m i t der tätigen Gewalt, denn diese ist eine Modalität des Erfolgs (Freiheitsbeeinträchtigung), und für die Modalitäten sind besondere aus den einzelnen Tatbeständen des Besonderen Teils zu gewinnende Gleichstellungskriterien relevant 12 . Schließlich ist darauf hinzuweisen, daß jedenfalls die Drohung, auch die hier der Gewalt subsumierte Bedrohung m i t gegenwärtiger Verlet4 So w i e nach h. M. beim Betrug die Täuschung durch Unterlassen begangen werden kann, w e n n eine Aufklärungspflicht besteht. Schönke / Schröder / Cramer, § 263 Rn 18; SK-Samson, § 263 Rn 40 ff.; anders Herzberg, S. 74 f.; vgl. auch Schünemann, Unterlassung, S. 369. 5 Dazu Herzberg, S. 60 ff. 8 U. a.: Schönke / Schröder / Eser, Rn 15 v o r § 234; LK-Schäfer, § 240 Rn 42 f.; B a y O b L G N J W 1963, 1261; Baumann / Frosch, J Z 1970, 113, 115 f. 7 Calliess, Gewaltbegriff, S. 32 f.; K l u g , Demonstrationsfreiheit, S. 29; Ott, N J W 1969, 2023 f.; Haffke, Z S t W 84, 58, 60 (zur vis absoluta). B G H NStZ 1981, 218 fordert ebenfalls Kraftentfaltung. 8 RGSt 64, 116. 9 Strafrecht A T 16/68, B T 4/17. 10 Festschrift für Mayer, S. 281 (289 ff.); anders Schünemann, Unterlassung, S. 377; SK-Rudolphi, Rn 27 vor § 13; Herzberg, S. 226 f.; SK-Samson, § 263 Rn 42. 11 Schönke / Schröder / Eser, § 240 Rn 27; Haffke, S 49. 12 Z u r Modalitätenäquivalenz: SK-Rudolphi, § 13 Rn 18; Schünemann, U n terlassung, S. 371 f.; Jescheck, Lehrbuch, § 49 V ; Roxin, Täterschaft, S. 477 ff.
6. Gewalt durch Unterlassen?
259
zungsgefahr, „ein menschliches Verhalten m i t Aussagegehalt" fordert 1 3 , durch reines Unterlassen also nicht zu verwirklichen ist. Der Erfolgsunwert der Gewalt liegt außerhalb ihrer, bei der Nötigung. Diese ist zwar tatbestandliche Folge der Gewalt, aber nicht i m Sinne bloß kausaler Bewirkung. Nicht jede Gewalt bewirkt Nötigung und nicht jede Nötigung ist durch Gewalt bewirkt. Gewalt und Nötigung sind qualitativ als je besonderes Verfahren und besonderer Erfolg unterschieden. Wegen der qualitativen Unterschiedenheit kann beim Nötigungserfolg die Transformation des Gewalttatbestandes zum Unterlassungstatbestand nicht anknüpfen. Weil der Erfolgsunwert der Gewalt bei der Nötigung liegt, ist die Gewalt primär durch den Handlungsunwert bestimmt. Ob die Gewalt einen spezifischen, von der Nötigung unterschiedenen Erfolg herbeiführt, ist irrelevant. Da ein solcher Erfolg wie oben ausgeführt der Gewalt nicht wesentlich ist, kann auch er nicht Anknüpfungspunkt der Transformation der Gewalt zum Unterlassungsdelikt sein. Muß Gewalt deshalb stets aktives T u n sein? Das wäre nur anzunehmen, wenn die Gewalthandlung selber notwendig ,naturalistisch' als Körperbewegung zu bestimmen wäre. Das ist jedoch nicht sicher 14 . Nach § 13 Abs. 1 und der neueren Lehre von den Unterlassungsdelikten 15 können die Modalitäten der Erfolgsherbeiführung durch Unterlassen verwirklicht werden, wenn dies dem T u n „entspricht". Das Entsprechen hängt ab von Wortlaut und Sinn des jeweiligen modalen Tatbestandsmerkmals. Bedeutet »Gewalt' notwendig Körperbewegung oder kann das, was das Wort meint, auch i n einem »konkludenten Unterlassen' gefunden werden 16 ? Oder ist etwa der modifizierende Stellenwert der Gewalt gegenüber dem Erfolg (Nötigung) so gering, daß es letztlich allein auf die Garantenpflicht hinsichtlich der Erfolgsverhinderung ankommt 1 7 ? Das letztere kann nach allem verneint werden. Nötigung für sich ist normal. Der bloße Nötigungserfolg trägt wenig zum Unwert des Gesamtdelikts bei. A u f die Bestimmung der Tatmodalität kann daher nicht verzichtet werden. Z u r ersten Frage: Umfaßt die Bedeutung des Wortes »Gewalt' i m sprachlichen Kontext auch ein Unterlassen i n einem näher zu bestimmenden sozialen Kontext? Es kommt darauf an, ob Gewalt auch ohne physische A k t i v i t ä t sich als Vermittlung von Sinn und Bedeutung, wie gesetzlich vorausgesetzt, 13
Herzberg, S. 150. Z u den hinsichtlich T u n u n d Unterlassen neutralen Verhaltensbeschreibungen vgl. Schöne, Unterlassene Erfolgsabwendung, S. 175 ff. 15 Herzberg, S. 68 ff.; Schünemann, Unterlassung, S. 368 ff. 16 Schünemann, S. 368; ähnlich Herzberg, S. 81 f. 17 Das n i m m t Schünemann (S. 371) bei Brandstiftung an. 14
n*
260
V. Bestimmung des Gewaltbegriffs
realisieren kann 1 8 . Gewalt geht nicht i m physischen Vorgang der Körperverletzung auf. Sie wird, wie oben festgestellt, i n Deutungszusammenhängen relevant. Die Gleichstellung eines konkludenten Unterlassens scheint demnach nicht ausgeschlossen zu sein. Hinzu kommt, daß ein Spezifikum der Gewalt wie gesagt die Herstellung eines unmittelbaren physischen Gewaltverhältnisses ist. Entsprechend könnte man nun annehmen, Unterlassen sei dann Gewalt, wenn es etwa i m Zusammenhang eines physischen Abhängigkeitsverhältnisses nötigend wirke. Die Garantenregeln wären also doch auch hier heranzuziehen. Gewalt könnte bejaht werden, wenn etwa eine Krankenschwester den Kranken so lange körperlich verkommen läßt, bis er sie zur Erbin einsetzt 19 . Politische Bedeutung erhält die Frage, wenn Arbeiter streiken und dadurch die Versorgung der Bevölkerung lückenhaft wird 2 0 . Die Ansprüche der Menschen an körperliches Wohlbefinden sind gegenwärtig recht hoch und empfindlich; ihre Erfüllung ist gänzlich sozial verflochten m i t dem beständigen Funktionieren des Ganzen. Eine Arbeitseinstellung dürfte deshalb sehr schnell irgendwo i n den Bereich nötigender Körperverletzung durch Unterlassen geraten. Oben wurde gezeigt, daß das Herstellen eines physischen Gewaltverhältnisses nötigende Gewalt sein kann. Dabei ging es um die Herstellung eines neuen Gewaltverhältnisses. Die Hervorhebungen bezeichnen das sozial Gefährliche dieser Gewaltart. Sie durchbricht soziale Strukturen und die i n ihnen entwickelten Verkehrsformen. Sie begründet neue Verhältnisse und Verkehrsformen. Sie greift ein und stellt das staatliche Gewaltmonopol i n Frage, indem sie offen ein eigenes behauptet. Die Unterlassung hingegen greift nicht i n die Verhältnisse ein, sondern benutzt und mißbraucht sie. Die Unterlassung w i r k t nur aufgrund von Strukturen, ist auf sie angewiesen. Die Unterlassung erfüllt nicht die Kriterien, die oben für die Bestimmung strafbarer Gewalt entwickelt wurden. Es fehlt ihr jene enorme Unabhängigkeit von Strukturen und leichte universelle Verwendbarkeit gegen Strukturen, die die soziale Gefährlichkeit der Gewalt ausmachen. Die Unterlassung ist das aliud dessen, was nach obiger Darstellung Gewalt konstituiert. Die strafbare Unterlassung ist schon i m Ansatz auf Strukturen angewiesen. U m jemanden, der nichts getan hat, dies als Straftat zuzurechnen, müssen erst einmal die strukturellen Differenzierungen der Gesellschaft genau entfaltet werden. Erst aufgrund der i n den strukturellen Differenzierungen begründeten Garantenstellung kann ein strafbares Unterlassen erkannt werden. 18 19 20
Vgl. Herzberg, S. 70, 82; Schünemann, S. 368. Beispiel von Blei, N J W 1954, 585. SK-Rudolphi, § 81 Rn 6, § 105 Rn 10; Dreher / Tröndle, § 81 Rn 8.
7. Definition der Gewalt
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Die Unterlassung kommt nicht destruktiv von außen. Sie ist interner Mißbrauch gegebener Strukturen. Sie bestätigt und vertieft zunächst einmal den Bestand der sozialen Strukturen, indem sie sich die Strukturen zunutze macht. Die Spezifik der Gewalt aber steckt, wie oben gezeigt, i m unvermittelt aggressiven Eingriff i n Strukturen. Was also zur ,Konkludenz', zum ,Aussagegehalt' der Gewalt gehört, ist (neben Verletzung oder Freiheitsberaubung auch) die A k t i v i t ä t . Natürlich gibt es, wie auch sonst i m Grenzbereich von T u n und Unterlassen, Fälle, i n denen das Aktivitätskriterium wenig spezifische soziale Relevanz erfaßt 21 . Die Problematik von Grenzfällen tangiert aber nicht die prinzipielle Unterscheidung. 7. Definition der Gewalt Strafbare Gewalt ist die Tätigkeit, die einen anderen tötet, körperlich verletzt, für eine erhebliche Zeit der Fortbewegungsfreiheit beraubt oder i n die gegenwärtige wirkliche Gefahr des Todes oder der Körperverletzung bringt.
21
Vgl. Herzberg, S. 152.
V I . Einzelprobleme des Gewaltbegriffs 1. Betäubung, Einwilligung und Probleme der Sexualdelikte Die Sexualdelikte wurden hier schon mehrfach angesprochen. Z u erörtern bleiben einige rechtliche Randprobleme. Wenn eine Frau m i t chemischen M i t t e l n oder Alkohol betäubt wird, u m m i t ihr i m willenlosen Zustand geschlechtlich zu verkehren, so ist das Gewaltnötigung. Es kommt nicht darauf an, ob das Betäubungsmittel seinerseits m i t Gewalt beigebracht wurde. Die Betäubung ist Körperverletzung und Freiheitsberaubung 1 . Sie w i r d herbeigeführt, u m Widerstand auszuschließen. Es liegt Gewalt vor; ebenso, wenn jemand zwecks Nötigung längere Zeit hypnotisiert wird, denn Hypnose ist Freiheitsberaubung 2 . Rechtsprobleme können entstehen, wenn etwa die Frau m i t der Betäubung einverstanden war. Nach h. M. 3 soll dann das Tatbestandsmerkmal »Gewalt' ausgeschlossen sein. Das ist vom Standpunkt der h. M. aus konsequent: wenn Gewalt ein Angriff auf die äußere Willensfreiheit ist, so kann gegen den, der eingewilligt hat, nicht Gewalt angewendet worden sein 4 . Es liegt ein tatbestandsausschließendes Einverständnis vor. Dabei steht die tatsächliche Seite, die mangelnde Willenswidrigkeit des Verhaltens, i m Vordergrund. A u f Verstandesreife und Täuschung dessen, der einverstanden ist, soll es nicht ankommen 5 . Maurach und Schroeder gehen teleologisch einen Schritt weiter und kommen bei § 177 zum gegenteiligen Ergebnis 6 . Die Beeinträchtigung der allgemeinen Willensfreiheit durch Gewalt soll bei § 177 irrelevant sein. Die Vorschrift schütze speziell und ausschließlich die sexuelle Freiheit. I n deren Beeinträchtigung hat die Frau nicht eingewilligt (nur i n die Betäubung), folglich soll § 177 auch bei konsentierter Betäubung gegeben sein. — Dieser Ansatz hat auch restriktive Konsequenzen. Die §§ 177 ff., 237 sollen nicht anwendbar sein, wenn die Vergewaltigte zum 1
L K - H i r s c h , § 223 Rn 13; LK-Schäfer, § 239 R n 18. LK-Schäfer, § 239 Rn 18. 3 Jescheck, Lehrbuch, S. 300; Dreher / Tröndle, § 177 Rn 3; Schönke / Schröder / Lenckner, § 177 Rn 5; Knodel, Der Begriff, S. 90 f.; B G H M D R (Dallinger) 1959, 589. 4 Vgl. Wessels, Straf recht A T § 9 I 1. 5 Knodel, Begriff, S. 91. * Maurach, N J W 1961, 1050 ff.; Maurach / Schroeder, Strafrecht B T T b 1. S. 156; vgl. auch Schroeder, Schutz von Staat u n d Verfassung, S. 318 f. 2
1. Betäubung, E i n w i l l i g u n g u n d Probleme der Sexualdelikte
263
Geschlechtsverkehr bereit war, diesen aber von Bedingungen abhängig gemacht hatte 7 . Da sehr viele Frauen den Geschlechtsverkehr von Ort und Zeit und davon abhängig machen, daß der potentielle Partner besondere Zuwendung zeigt, dürfte diese Restriktion der Sexualdelikte kaum so gemeint sein, wie sie formuliert wird. Gemeint sind primär die Prostituierten („insbesondere Zahlung eines Entgelts"). Ihnen kommt demnach der Schutz der §§ 177 ff., 237 kaum noch zu, auch wenn sie vergewaltigt werden. Sie sind ,an sich' zum Geschlechtsverkehr bereit und haben den Strafrechtsschutz, wie Roxin sagt, „ v e r w i r k t " . Nach der hier vertretenen Konzeption ist die Gewaltnötigung nicht nur, wie die h. M. annimmt, A n g r i f f auf die äußere Willensfreiheit, und die §§ 177 ff. schützen nicht, wie Maurach / Schroeder annehmen, die sexuelle Freiheit an sich. Jeweils ist auch das Spezifische der Gewalt zu berücksichtigen: Angriff auf Körperintegrität oder Fortbewegungsfreiheit. Die konkreten Verkehrsformen kennzeichnen die Vergewaltigung. Geschützt w i r d die Freiheit des Sexualverkehrs. Wenn also die betroffene Frau ,an sich' zum Geschlechtsverkehr bereit war, nicht aber unter den vom Täter einseitig durchgesetzten Bedingungen, so ist die genannte Freiheit betroffen, und wenn die Bedingungen m i t Gewalt diktiert w u r den, so liegt eine Vergewaltigung vor. Die Sexualfreiheit kann nicht als ein ,an sich' von den Bedingungen und Formen, die beide Partner w ü n schen, abgelöst werden. Daraus folgt andererseits: wenn die Frau i n die Gewaltanwendung (Betäubung) eingewilligt hat, so ist die i n § 177 pönalisierte Verkehrsform Gewalt (zumindest) gerechtfertigt. Eine strafbare Vergewaltigung liegt nicht vor. Nutzt der Täter die Widerstandsunfähigkeit der Frau aus, die infolge der konsentierten Betäubung entsteht, so ist das eine besondere, von der Gewalt unterschiedene Situation. Diese Form der Durchsetzung des Geschlechtsverkehrs ist weniger brutal als die Gewaltnötigung; sie ist strafbar, ist aber i n einem gesonderten Tatbestand erfaßt (§ 179)8. Offen bleibt, wie zu entscheiden ist, wenn der Täter die Einwilligung der Frau i n die Betäubung erschlichen hat i n der Absicht, die entstandene Widerstandsunfähigkeit zum Geschlechtsverkehr zu nutzen. Nach h. M. ist die Einwilligung bei § 177 immer tatbestandsausschließend, d. h. Einverständnis, so daß es auf Irrtum, Täuschung, mangelnde Verstan7 I n B G H S t 21, 188 w u r d e dies zwar n u r f ü r die zu hohe Strafdrohung des § 236 a. F. angenommen. Maurach / Schroeder, S. 155 haben den Ansatz jedoch verallgemeinert; k r i t . Schönke / Schröder / Eser, § 237 Rn 3; Schönke / Schröder / Lenckner, R n 31 vor § 32; Schröder, JR 1967, 226; Roxin, N J W 1967, 1286 f.; u n d oben S. 180 F n 70. 8 Z u Problemen des herkömmlichen Gewaltbegriffs bei §§ 179, 237: B G H S t 25, 237; Geilen, J Z 74, 541; Meyer-Gerhards, JuS 74, 568.
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V I . Einzelprobleme des Gewaltbegriffs
desreife der Frau nicht ankommt. Das ist wie gesagt konsequent, wenn man Gewaltnötigung als Delikt gegen die allgemeine Willensfreiheit versteht. Nach dem hier vertretenen Ansatz ist Gewalt i m Zusammenhang von Körperintegrität und Fortbewegungsfreiheit zu bestimmen. I n diesem Zusammenhang und nicht unter dem Aspekt der Willensfreiheit sind daher auch der systematische Standort, die Voraussetzungen und Folgen der Einwilligung i n Gewalt zu bestimmen. Die Bedeutung der Einwilligung und des Einverständnisses ist umstritten 9 . Eine Stellungnahme zu dieser umfangreichen Problematik gehört nicht i n den Zusammenhang der vorliegenden Untersuchung. Soviel kann aber gesagt werden: Wenn die Einwilligung i n eine Körperverletzung nach h. M. nicht den diesbezüglichen Tatbestand ausschließt, so gilt das auch für die Verletzungsgewalt. Auch Irrtum, Täuschung, mangelnde Verstandesreife des Einwilligenden müssen wie bei § 223 beurteilt werden. Ob bei der freiheitsberaubenden Gewalt anders zu entscheiden ist, hängt von der Bedeutung der Einwilligung i m Rahmen des § 239 ab. Nachzutragen bleibt, daß die Beurteilung von Irrtum, Täuschung und mangelnder Verstandesreife des Einwilligenden nicht präjudiziert ist durch das, was oben (S. 175 ff.) zum Rechtsgut Freiheit und zu den ,objektiven Werten' gesagt wurde. Auch wenn man etwa die durch Täuschung erschlichene Einwilligung i n eine Gewaltanwendung für unwirksam hält, bedeutet dies nicht, daß die Körperintegrität ein der Verfügungsbefugnis des Einwilligenden entzogener objektiver Wert wäre. Es w i r d dann nur die Verfügungsfreiheit des Einwilligenden i n weiterem Bezugsrahmen berücksichtigt. Es w i r d nicht nur seine Erklärung, sondern auch deren Zusammenhänge berücksichtigt. Schließlich ist darauf hinzuweisen, daß Gewalt i. S. des § 177 auch vorliegt, wenn eine Frau eingesperrt oder sonst ihrer Bewegungsfreiheit beraubt wird, um sie unter Ausnutzung dieser Lage zum Geschlechtsverkehr zu bringen. Der B G H scheint neuerdings i n derartigen Fällen nicht Gewalt anzunehmen 10 . Das entspricht der verbreiteten These, der allgemeine Gewaltbegriff müsse bei den §§ 177 f. eingeschränkt werden 11 . Sie ist vom Gesetz nicht gedeckt. Nach §§ 177 f. ist nicht wie bei den Eigentums- und Vermögensdelikten (§§ 249, 252, 255) nur G e w a l t gegen eine Person' strafbar, sondern jede Gewalt. Die Sexualität der Frau ist nach dem Gesetz mehr gegen Gewalt geschützt als das Eigentum.
9 Dazu Jescheck, Lehrbuch, S. 298 ff.; Maurach / Zipf, Straf recht A T T b 1 S. 235 ff.; Stratenwerth, Strafrecht Rn 357 ff.; Arzt, Willensmängel. 10 B G H NStZ 1981, 390 f. 11 Schönke / Schröder / Lenckner § 177 R n 4; Knodel, Der Begriff, S. 161 f.
2. Gewalt gegen D r i t t e u n d Probleme der politischen Delikte
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2. Gewalt gegen Dritte und Probleme der politischen Delikte Von den politischen Delikten war hier schon mehrfach die Rede. Bevor einige Sonderfragen nachgetragen werden (unten c), soll zunächst das allgemeine Problem der sog. Gewalt gegen Dritte erörtert werden. Beispiele für dieses Problem sind bekannt: (1.) Der Nötiger sperrt einen Chauffeur ein, u m den fahruntüchtigen Autobesitzer an einer Ausfahrt zu hindern 1 . (2.) Der Nötiger verprügelt ein K i n d vor den Augen der Mutter, bis sie zum Geschlechtsverkehr bereit ist. — Gegen den Chauffeur wurde Gewalt angewendet. Er wurde auch genötigt, die Fahrt zu unterlassen. Auch der Autobesitzer und die Mutter wurden genötigt. Wurde gegen sie auch nötigende Gewalt angewendet? Liegt Gewaltnötigung vor, wenn Vergewaltigter und Genötigter nicht identisch sind? a) Rechtsprechung und Literatur Die Fragen werden, wie sich zeigen wird, oft für die verschiedenen Gewalttatbestände unterschiedlich beantwortet. Dennoch lassen sich einige grundsätzliche Positionen ausmachen. A m einfachsten ist die Lösung für den modernen weiten Gewaltbegriff. Das Problem ist danach weitgehend obsolet. Dieser Gewaltbegriff ist so umfassend, daß Knodel annehmen kann, Vergewaltigter und Genötigter müßten identisch sein 2 , ohne daß dadurch größere Restriktionen entstehen. Der Autobesitzer w i r d absolut gezwungen; der Mutter w i r d ein empfindliches Übel zugefügt. Also richtet sich gegen die Genötigten zugleich Gewalt. Wenn das M i t t e l annähernd i m Erfolg aufgeht, so ist es konsequent, bedeutet aber auch nicht viel, zu fordern, der vom Gewaltmittel Betroffene und der vom Nötigungserfolg Betroffene müßten identisch sein. So hat denn auch der BGH 8 beim politischen Streik „sich nicht damit aufgehalten" (Eb. Schmidt), zu unterscheiden zwischen Gewalt gegen Unternehmer und Bevölkerung (unterstellt Streik sei Gewalt) und Nötigung gegen die Regierung. Vielmehr: die Regierung sollte genötigt werden, und das w a r i m Hinblick auf das Telos des § 81 das Entscheidende, also Gewalt. Auch bezüglich der Nötigung der Stadtverwaltung i m Laepple-Fall wurde die Differenzierung nicht angesprochen. Da dies nur eine Konsequenz der Identifikation von Gewalt und Zwang ist, muß nicht nochmals darauf eingegangen werden. 1
Ä h n l i c h RGSt 17, 82 (83). Knodel, Der Begriff, S. 108, 110 ff. Bei Schönke / Schröder / Eser, Rn 16 v o r § 234 w i r d zwar betont, Gewalt könne auch gegen D r i t t e entfaltet werden; die entscheidenden K r i t e r i e n des Gewaltbegriffs werden aber beim Genötigten festgestellt. Vgl. auch LK-Schäfer, § 240 Rn 33. 3 BGHSt 8, 102. 2
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V I . Einzelprobleme des Gewaltbegriffs
Probleme haben naturgemäß die differenzierten Begriffsbildungen m i t gehemmter Teleologie, die noch zwischen M i t t e l und Zweck unterscheiden. aa) Nach Sieberg 4 u. a.5 ist i m zweiten Fall die Mutter nicht gewaltsam genötigt worden, weil auf sie nicht körperlich eingewirkt wurde. Gewalt ist hiernach zwar ein von der Nötigung unterschiedenes Mittel (Körpereinwirkung), dieses muß aber gegen ein bestimmtes Objekt, den Genötigten wirken. Vergewaltigter und Genötigter müssen also identisch sein. I n beiden oben dargestellten Fällen läge keine Gewaltnötigung vor. Diese Lösung ist als Eingrenzung des Raubtatbestandes allgemein anerkannt®. Wenn gesagt wird, Vergewaltigter und Genötigter müßten beim Raub nur nach der Vorstellung des Täters identisch sein 7 , so entspricht das dem allgemeinen Nötigungsbegriff: es genügt, wenn ein erwarteter Widerstand unmöglich gemacht wird. bb) Die Alternative dazu lautet: Für die Gewalt ist nicht die Wirkung auf einen bestimmten Menschen, den Genötigten, relevant, sondern das Auftreten, die W i r k u n g auf irgendeinen Menschen8. Die Gewalthandlung steht also für sich. Sie ist auch hinsichtlich ihres Objekts vom Nötigungserfolg getrennt. I n beiden Fällen wäre Gewaltnötigung zu bejahen 9 . Diese Position w i r d insbesondere i m Zusammenhang der politischen Tatbestände (§§ 81, 105) vertreten: bei einer Gewaltnötigung gegen die Regierung müsse die Körpereinwirkung sich nicht gegen die Regierungsmitglieder richten. Es genüge, wenn sie sich zwecks Regierungsnötigung gegen Bürger richte 10 . cc) Vermittelnd ist die Annahme, die Gewalt müsse sich immer gegen den Genötigten richten; gleich zu bewerten sei es aber, wenn sie sich gegen Sympathiepersonen richte, die dem Genötigten persönlich eng verbunden sind 11 . Demnach wäre Gewalt nur i m zweiten Fall zu beja4
S. 45, 50. Winkler, Der Begriff der Gewalt, S. 36 ff.; v. Heintschel-Heinegg, S. 292 ff. Z u § 177 ebenso RGSt 64, 113 (117); D r e h e r / T r ö n d l e , § 177 Rn 3; M a u r a c h / Schroeder, Straf recht B T T b 1, S. 155; Schmidhäuser, StR B T 4/15. 6 Vgl. L K - B a l d u s , § 249 R n 3 ff.; Blei, Strafrecht I I § 57 2. 7 L K a.a.O.; Eser, N J W 1965, 378; B l e i a.a.O. 8 Helmke, S. 21. 9 Helmke, S. 21; RGSt 17, 83; Lackner, § 240 A n m . 3 b; Hoffmeister, S. 160 ff.; Wanjeck, G A 27, 196 f.; zu § 177 ebenso Schönke / Schröder/ Lenckner, § 177 R n 4. 10 SK-Rudolphi, § 81 Rn 6, § 105 R n 12; Dreher / Tröndle, § 81 R n 8, § 105 R n 4. 11 Dreher / Tröndle, § 240 R n 4; Calliess, Gewaltbegriff, S. 40; Welzel, Deutsches Strafrecht, § 43 I 1 a; zu § 177: B G H M D R 1966, 893; Lackner, § 177 A n m . 4 a; vgl. auch B a y O b L G J Z 1952, 237; dazu Blei, J A 1970, 141. B G H G A 1961, 82 (83) n i m m t Nötigung an bei Drohung gegen Dritte, insbes. Sympathiepersonen. I n R G Rspr. 3, 317 bezog sich die pönalisierte Drohung nicht auf Sympathiepersonen. 5
2. Gewalt gegen D r i t t e u n d Probleme der politischen Delikte
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hen. — Interessant ist die Differenzierung Bleis. Er geht zwar ebenfalls von der Position cc) aus, nimmt aber bei § 105 die Position bb) ein 1 2 ; zusammengefaßt könnte das bedeuten: die nötigende Gewalt kann sich gegen Sympathie- und solche Personen richten, die i n den rechtlichen Schutz- und Verantwortungsbereich des Genötigten gehören 13 . Das könnten bei Verfassungsorganen die Bürger sein. b) Eigene
Lösung
Vis absoluta Zunächst zum ersten Fall, i n welchem vis absoluta angewendet wurde. Da nach der hier vertretenen Konzeption die Gewalthandlung vom Nötigungserfolg gesondert zu bestimmen ist, liegt es nahe, Gewaltnötigung gegen den Autobesitzer zu bejahen (entsprechend der Position a bb): es wurde Gewalt angewendet (Einsperren des Chauffeurs) und genötigt (Verhindern der Ausfahrt des Besitzers). Der Handlungsunwert der Gewalt, so scheint es, ist gegeben. Ablehnen könnte man die Gewaltnötigung dann durch Restriktionen auf der Seite des Nötigungserfolges: wenn dort ein „unüberwindlicher Widerstand" erforderlich ist 1 4 , so fehlte es an dieser Nötigungsintensität beim Autobesitzer. Auch nach der hier vertretenen Konzeption des Gewaltbegriffs kann jedoch Gewaltnötigung gegen den Autobesitzer abgelehnt werden. (1) Das zeigt ein Vergleich: Hätte der Täter einen Autobesitzer, der selbst fahren wollte, eingesperrt, u m i h n von einer Reise abzuhalten, so läge zweifellos nur eine Gewaltnötigung vor. Würde aber i m oben dargestellten Chauffeur-/Autobesitzer-Fall Gewaltnötigung gegen den Autobesitzer bejaht, so müßte doch zugleich noch Gewaltnötigung gegen den Chauffeur angenommen werden, also insgesamt zwei Gewaltnötigungen. Was jedoch die beiden Fälle unterscheidet, ist nicht die Gewalthandlung — es liegt i n beiden Fällen nur eine vor —, sondern nur die Nötigung: i m Chauffeur-/Autobesitzer-Fall w i r k t e die Gewaltnötigung des Chauffeurs weiter als (zusätzliche) reine Nötigung des Autobesitzers. Etwas anderes anzunehmen, würde bedeuten, die Gewalt gegen den Chauffeur so zu bewerten, als sei sie dem Autobesitzer selber angetan worden. Diesem war aber nichts Gewaltspezifisches spürbar. Er wurde auch nicht gewaltspezifisch gefährdet. Die erwähnte Gleichbewertung wäre eine aufgesetzte Identifikation der Menschen, für die es wenig Gründe gibt. Es entspricht vielmehr der allgemeinen sozialen Bewertung, daß ein Mensch sich nicht ohne weiteres m i t anderen identi12 13 14
J A 1970,141 u n d Strafrecht I I § 100 I. Vgl. Blei, J A 1975, 93 zur Drohimg. Haffke, ZStW 84, 54, 62 f.; ähnlich Geilen, Festschrift f ü r Mayer, S. 460 f.
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V I . Einzelprobleme des Gewaltbegriffs
fiziert und die Gewalt, die Dritten angetan wird, wesentlich anders einschätzt als die, die i h n selber trifft. Auch wenn man hinsichtlich der Dritten differenzierte zwischen Fremden und Sympathiepersonen des Genötigten (Beispiel: der Bruder des Autobesitzers wollte ihn chauffieren und w i r d eingesperrt), wäre das für die Bedeutung der vis absoluta gegen den Autobesitzer irrelevant. Denn solche besonderen Sozialbezüge des Autobesitzers könnten nur über dessen Motivation bedeutsam werden. Der absolute Zwang ist aber reine Faktizität; er w i r k t physisch 15 und schaltet die Motivation des Genötigten und damit auch dessen besondere Sozialbezüge aus dem Nötigungsgeschehen aus. Fazit: Das spezifische Gewaltelement i n der Nötigung des Chauffeurs w i r k t nicht über diesen hinaus. Die darauf folgende Nötigung des Autobesitzers ist gewaltlos. Verglichen m i t der Gewaltnötigung des Selbstfahrers kommt i m Chauffeur-/Autobesitzer-Fall also nichts als eine unqualifizierte Nötigung hinzu. Es besteht kein Anlaß, deshalb eine zusätzliche Gewaltnötigung anzunehmen. Das spezifisch Gewaltsame der Nötigung w i r d rechtlich schon m i t der Gewaltnötigung des Chauffeurs abgegolten. A n dieser Einschätzung änderte sich auch nichts, wenn der Täter den Chauffeur, u m ihn vom Chauffieren abzuhalten, erschlagen hätte. Auch i n der Tötung kann eine Gewaltnötigung enthalten sein. Der Tatbestand der Gewaltnötigung w i r d bei vis absoluta also nicht erfüllt durch die sogenannte Gewalt gegen Dritte. (2) Dagegen könnte man einwenden, Gewalt müsse die Nötigung nicht derart qualifizieren, daß sie sich beim Genötigten auswirkt; das Auftreten sei entscheidend. Damit wäre die soziale Bedeutung der Gewalt angesprochen, die i n der Tat zu berücksichtigen ist. Es dürfte aber auch die soziale Bedeutung der Gewalt schon i n der Pönalisierung desjenigen Nötigungsverhältnisses abgegolten sein, i n welchem ihre Wirkgrundlage, die Einsperrung, sich realisierte. Die soziale Bedeutung der Gewalt ist i n der Nötigung des Autobesitzers nicht mehr rechtlich relevant. Wer dem nicht folgt und annimmt, die soziale Bedeutung der Gewalt gegen den Chauffeur sei auch bei der Nötigung des Autobesitzers relevant, der muß eine gänzlich unwirkliche A r t von sozialer Bedeutung als Strafbegründung akzeptieren. Denn die spezifische Wirklichkeit der Gewalt ist, wie gesagt, gegenüber dem Autobesitzer nicht mehr relevant. Der angeblichen sozialen Bedeutung der Gewalt fehlte also jegliche gewaltspezifische Wirklichkeit. K a n n aber die bloße soziale Äußerung als Gewalt pönalisiert werden? Hat die reine Form ohne zusätzliche Gefahr eine rechtlich relevante Bedeutung? Das zu bejahen, wäre konsequent i m Zusammenhang der älteren Gewaltbegriffe. Denn sie waren 15
Knodel, Der Begriff, S. 14 ff.
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auf die bloße Form abgestellt (Kraftentfaltung, Körpereinwirkung), ohne daß irgendein materieller Unwert bestimmt worden wäre. Allenfalls eine schwer faßbare Gefährdung der öffentlichen Ordnung war unausgesprochene Begründung. Diese Konzeption braucht hier nicht nochmals kritisiert zu werden. Fazit: Gewalt ist nicht nur einseitige Äußerung, sondern Verkehrsform: es kommt nicht nur darauf an, wie der Täter nötigt, sondern auch darauf, wie der zu Nötigende genötigt wird. Vis compulsiva Das Gesagte gilt grundsätzlich auch für die vis compulsiva. Auch hier kommt es m i t darauf an, wie der zu Nötigende genötigt wird. I m oben dargestellten zweiten Fall (Mutter/Kind) reicht also nicht die bloße Gewalt gegen Dritte (das Kind). Allerdings muß die Begründung wegen der Besonderheit der vis compulsiva (das K i n d wurde nicht genötigt wie der Chauffeur) an einem anderen Punkt ansetzen: Gewalt ist als solche nur strafbar i n Verbindung m i t der Nötigung. Daß sie die Nötigung qualifiziert, ist ein Konstituens der strafbaren Gewalt. Gewalt umfaßt u. a. Körperverletzung und Freiheitsberaubung, die für sich schon strafbar sind. Ihre zusätzliche Pönalisierung unter dem Aspekt der Gewalt ist nur sinnvoll, wo diese Verhaltensweisen eine Nötigung qualifizieren, wo sie ein Zwangsverhältnis zwischen zwei Menschen zum Gewaltverhältnis verschärfen. Die i m Mutter/Kind-Fall gegen das K i n d eingesetzte Verletzungsgewalt w i r d für sich genommen schon i n § 223 abschließend pönalisiert und bedarf als solche keiner zusätzlichen Sanktion. Wenn das Verhalten des Täters noch zusätzlich als Gewaltnötigung (§ 177) der Mutter bestraft werden soll, so ist das folglich noch nicht begründet m i t der Feststellung, daß das K i n d zwecks Nötigung verprügelt wurde. Das bloße Auftreten der Gewalt gegenüber der Mutter ist auch hier keine zureichende Strafbegründung. Die Annahme einer Gewaltnötigung gegen die Mutter wäre erst angemessen, wenn der vom Verprügeln des Kindes ausgehende kompulsive Zwang gegen die Mutter so verschärft wäre, daß er zugleich als Gewalt gegen die Mutter selber zu bewerten wäre. Solches Weiterwirken ist bei der vis absoluta wie gezeigt nicht anzunehmen. Bei der vis compulsiva ist es möglich, denn diese w i r k t , anders als die vis absoluta, über die Motivation des Genötigten. Sie oktroyiert Motive und erzeugt einen Widerstreit der Motive 1 6 . I m Rahmen der Motivation können die Sozialbezüge des Genötigten, eine eventuelle besondere Bindung zu dem Dritten, dem die Gewalt unmittelbar angetan wird, zur Geltung kommen. Der Täter i m Mutter/Kind-Fall benutzt w
Knodel, Der Begriff, S. 12 ff.
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V I . Einzelprobleme des Gewaltbegriffs
die Sozialbezüge gezielt. Die Bezüge zu Dritten und ihr Erleiden der Gewalt können i n der vis compulsiva spezifisch wirken. Das spezifische Gewaltelement kann weiter wirken. Ob der Täter eine Sache zerstört oder das K i n d verprügelt, kann für die Motivation der Mutter unterschiedliche Relevanz haben. Das bedeutet nun nicht, daß die dem Dritten (Kind) angetane Gewalt den Tatbestand der Gewaltnötigimg gegen die Mutter erfüllt. Das ist wie gesagt ausgeschlossen. Wohl aber könnte die dem K i n d angetane Gewalt i n einer der Gewalt vergleichbaren Weise gegen die Mutter weiterwirken, so daß die Mutter durch gegen sie selbst wirkende Gewalt genötigt wäre. Gewalt, so wie sie hier definiert wurde, t r i f f t die Mutter nicht. Zur Debatte steht also eine Modifikation des Gewaltbegriffs i m Hinblick auf ein neues Problem. Die zu erwägende Modifikation müßte sich aber i m Rahmen der Konzeption halten, die zur Definition des Gewaltbegriffs führte. — Wer durch Gewalt gegen Dritte kompulsiv genötigt wird, w i r d nicht verletzt; aber das schließt, wie oben zur Gefährdung gezeigt, nicht aus, anzunehmen, er sei vergewaltigt worden. Entscheidend ist auch nicht seine eventuelle Nervenerregung o. ä., sondern die Situation. Sie ist wertend und typisierend zu bestimmen. Der Genötigte muß der Gewalt unvermittelt konfrontiert sein. Die Gewalt muß gegenwärtig sein. Die räumliche und zeitliche Distanz zur Verletzung muß so verringert sein, daß der Reflexionsspielraum entscheidend eingeengt ist. Wenn fremden Menschen gegenwärtig Gewalt angetan wird, so mag das mancher intensiv mitfühlen. Daß er es annähernd wie der Betroffene erfährt, dürfte selten sein und läßt sich keinesfalls verallgemeinern. Es gibt auch keine Gründe, solche Identifikation wertend zu unterstellen. I n der Regel bleibt dem Genötigten ein Reflexionsspielraum, wenn es anderen ,ans Leder 4 geht. Näher liegt die Identifikation bei Sympathiepersonen. Wenn das K i n d verprügelt wird, so kann dadurch die Nötigungssituation für seine anwesende Mutter erheblich verschärft sein. I n engen personalen Beziehungen kann die emotionale und z.T. auch physische Bindung dominieren. Solche Beziehungen können i n besonderem Maß unvermittelt sein, d. h. nicht beschränkt auf symbolische und sachliche Vermittlung. Der gewaltsame Angriff, der den Partner einer solchen Beziehung trifft, kann dann vom anderen nicht m i t der Distanziertheit alltäglicher Beziehungen ertragen werden. Eine Identifikation würde auch der sozialen Bewertung nicht widersprechen, wie § 35 StGB zeigt. Gleichwohl ist fraglich, ob die Gewalt für den nicht von ihr Bedrohten diejenige Unmittelbarkeit erreichen kann, die dem Selbstbedrohtwerden entspricht. I n Einzelfällen mag das zutreffen. Verallgemeinern läßt es sich m. E. auch bei Sympathiepersonen nicht. Die Identifikation ist auch nach der sozialen Bewertung nicht notwendig. Angemessener dürfte die Gewalt gegen Sympathiepersonen der Drohung zu
2. Gewalt gegen D r i t t e u n d Probleme der politischen Delikte
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subsumieren sein. Sie erfaßt auch gegenwärtig drohende Gewalt gegen Dritte. Kein Problem der »Gewalt gegen Dritte' liegt i n folgendem Fall vor: einem behinderten Menschen, der sich nur m i t Hilfe anderer fortbewegen kann, w i r d zwecks Nötigung die Hilfsperson entzogen. Das ist Gew a l t i n Form der Freiheitsberaubung auch dann, wenn gegen die Hilfsperson nur gewaltloser Zwang eingesetzt wurde. Es liegt Begehen durch Unterlassen vor. Der Nötiger hat (durch aktives Tun) die Hilfsbemühungen eines Dritten zur Aufhebung einer Freiheitsberaubung verhindert 17 . Ob die Hilfsperson zur A k t i v i t ä t verpflichtet war, ist für die Beurteilung des Nötigerverhaltens gleichgültig. c) Besonderheiten
der politischen
Delikte
Bei diesen Delikten bedarf der i m Vorangegangenen entwickelte Grundsatz, daß bei Gewaltnötigung der Gewaltbetroffene und der Genötigte identisch sein müssen, der Modifikation. Allerdings nicht, w e i l i m politisch-staatlichen Bereich die Freiheit besonders dringlich zu schützen wäre. Eher i m Gegenteil, weil dieser Bereich ein rechtlich verfaßtes Konstrukt ist und mehr als andere auf geordnete Verfahren angewiesen ist. Diese Besonderheit muß auch nicht mittels intensiver Teleologie zur Geltung gebracht werden. Nach ihrem Wortlaut pönalisieren die §§ 81, 82, 105 die Nötigung von Institutionen wie „die Regierung", „ein Gesetzgebungsorgan" etc. Schutz von Institutionen Diese Besonderheit w i r d deutlich, wenn man den § 105 m i t § 106 Abs. 1 Nr. 2 vergleicht. W i r d i m letzteren die Gewaltnötigung der einzelnen Mitglieder von Verfassungsorganen erfaßt, so ist i m ersteren — jedenfalls nach der Formulierung des Gesetzes — die Gewaltnötigung des Verfassungsorgans selber pönalisiert 18 , welches hier als Institution bezeichnet werden soll. Wenn Gewalt stets als Verletzungsgewalt oder Freiheitsberaubung einzelne Personen betrifft, so ist in § 105 die Weiterw i r k u n g der Nötigung auf eine Institution erfaßt, gegen die sich Gewalt nicht richten kann. Das Verhältnis des von der Gewalt und des von der Nötigung Betroffenen muß hier neu bestimmt werden. Gleiches gilt für § 81, 82. Der Bestand und die verfassungsmäßige Ordnung der Bundesrepublik und der Länder sind institutionelle Einheiten, die als solche nicht von Gewalt betroffen werden können. Auch die Instanzen, die den staatlichen Bestand und die Verfassung rechtsverbindlich wahren 17 Jescheck, Lehrbuch, S. 489 f., 521; SK-Rudolphi, Rn 48 vor § 13; Schönke / Schröder / Cramer, § 25 Rn 39. 18 Schönke / Schröder / Eser, § 105 R n 2.
272
V I . Einzelprobleme des Gewaltbegriffs
oder verändern könnten, sind wiederum Institutionen wie Bundestag, Bundesrat, Regierung etc. Die Formulierung ,Nötigung einer Institution' ist verkürzt. Institutionen bestehen aus Menschen. Diese sind als einzelne Amtsträger für ihre Tätigkeit verantwortlich und z. T. wählbar (vgl. A r t . 38, 65 GG). Wenn Institutionen genötigt werden, so werden Menschen genötigt zu einem Verhalten (z. B. einem Beschluß), welches der Institution (z. B. Bundestag) zugerechnet wird. Nicht nur die Gewalt, auch die Nötigung kann nur Menschen treffen 19 . Sie w i r d der Institution aber zugerechnet. Daraus ergibt sich eine Erweiterung der Strafbarkeit der Gewaltnötigung, was bei Kollegialorganen leicht erkennbar ist: Wenn einem Mitglied andauernd Gewalt angetan w i r d und dadurch andere genötigt werden zu einem der Institution zuzurechnenden Verhalten, so w i r d dies als Gewaltnötigung des Kollegialorgans pönalisiert. Solche Pönalisierung geht hinaus über die oben entwickelten Grundsätze zur „Gewalt gegen Dritte", denn der Gewaltbetroffene und die Genötigten sind nicht personal identisch. Besonderheit politischer Institutionen K a n n diese Erweiterung auf die allgemeine Gewaltnötigung übertragen werden oder handelt es sich u m eine Besonderheit der politischen Delikte? Dann müßte die Besonderheit erklärt werden. Bei § 105 kommt es nicht darauf an, die Mitglieder der Institution generell von gewaltsamen Beeinflussungen freizuhalten, denn es muß von der Nötigung ihre institutionelle Befugnis betroffen sein. Eine speziell normierte Rolle (nicht die Freiheit) soll vor Gewaltnötigung bewahrt werden. Es geht bei § 105 aber auch nicht speziell darum, von den einzelnen institutionell handelnden Mitgliedern Gewalt fernzuhalten, denn § 105 ist wie gezeigt auch dann erfüllt, wenn das einzelne Mitglied nur von Nötigung, nicht von Gewalt betroffen ist. Zugleich aber muß die Gew a l t die Institution irgendwie tangieren; § 105 setzt voraus, daß etwa der Bundestag m i t Gewalt genötigt wird. Faßt man dies zusammen, so geht es darum, die Befugnis der Institution, die institutionelle Rolle als solche, vor Gewaltnötigung zu bewahren. Die verdinglichende Bezeichnung ist i n der Sache begründet. Es geht u m die Differenzierung der Gesellschaft i n Teilbereiche des Handelns, die oben dargestellt wurde. Von den jeweiligen Menschen als personale Einheiten ist ihre institutionelle Rolle normativ abgehoben. A m t bzw. Mandat und Person sind getrennt. Die Trennung ist i m staatlichen Bereich wichtig. Das A m t , Mandat, kurz: die institutionelle Rolle w i r d 19 Daher hat B G H S t 8, 104 f. auf die Nötigung der Regierungsmitglieder abgestellt.
2. Gewalt gegen D r i t t e u n d Probleme der politischen Delikte
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dann gut ausgeübt, wenn der Rolleninhaber dabei von seiner Person weitgehend absieht. Die Rolle ist auch inhaltlich besonders normiert (und nicht frei); die Abgeordneten sollen die Grundrechte der Bürger wahren, bei der Gesetzgebung A r t . 3 GG beachten, wozu sie als Private nicht verpflichtet sind; die Minister sollen das Gemeinwohl fördern etc. Gerade wegen dieser besonderen Normiertheit der Rolle, wegen ihrer Verpflichtung aufs soziale Ganze ist sie von der Person des Rolleninhabers abgehoben und rechtlich verselbständigt. Sie kann selbst Objekt der Gewaltnötigung sein. Ihre relative Trennung von den Menschen ist das Schützenswerte. E i n besonderes soziales Handlungsfeld soll i n seiner Verschiedenheit von anderen gewahrt werden. Und es gehört zur Spezifik dieses Handlungsfeldes, daß i n i h m unpersönlich, d.h. unter Absehung von individuellen Interessen agiert wird. Daher kann es für das Problem der Gewaltnötigung i n diesem Bereich nicht auf die personale Identität von Gewaltbetroffenen und Genötigten ankommen. Solche Identitäten sind unter dem Aspekt der institutionellen Rolle unbeachtliche Zufälle. Ob er selber von Gewalt betroffen ist oder ein anderer oder ein Angehöriger, muß für den Minister etwa i n seiner institutionellen Rolle unbeachtlich sein. Läßt sich diese A r t des Institutionenschutzes verallgemeinern außerhalb des politisch-staatlichen Bereichs? Nicht nur i n diesem Bereich nehmen die Menschen besondere Rollen wahr. Es gibt auch spezifisch normierte familiäre, wirtschaftliche u. a. Handlungsfelder, die zuweilen als Institutionen bezeichnet werden. Der hier dargestellte strafrechtliche Institutionenschutz gegen Gewaltnötigung läßt sich darauf jedoch nicht übertragen 20 . Er ist auf die Eigenheiten des politisch-staatlichen Bereiches bezogen und begründet. Die strikte rechtliche Trennung von institutioneller Rolle und Person, die weitgehende formale Normierimg der institutionellen Rolle und des Verkehrs der Mitglieder der Institution sind der Familie gerade nicht eigen. Sie ist zwar auch rechtlich normiert, ihre Funktion beruht aber primär auf informellen, personalen Bindungen. Der Verkehr der Familienmitglieder ist nicht primär formalrechtlich vermittelt. Es dominiert eher die menschliche Emotionalität. Die Familienangelegenheiten können und müssen daher nicht wie die Befugnisse der Verfassungsorgane von den Menschen abgelöst und zu einem eigenständigen Rechtsgut ausgestaltet werden. Die Ergebnisse wären auch wenig plausibel: I m Mutter/Kind-Fall wäre dann eine Gewaltnötigung der Mutter durch Verprügeln des K i n 20 Ansätze zur Erweiterung des Strafrechts auf Institutionenschutz finden sich bei §§185 ff.; Kollektiv-„Persönlichkeiten" sollen beleidigungsfähig sein; dazu A r t h u r Kaufmann, Schuld u n d Strafe, S. 237 ff.; k l a r ist dies wiederum n u r f ü r den staatlichen Bereich, vgl. § 194 Abs. 3, 4; dazu SK-Rudolphi, Rn 9 vor § 185.
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des anzunehmen, wenn der der Mutter abgenötigte Geschlechtsverkehr zu den Familienangelegenheiten gehörte; denn die institutionelle Nötigung ist an der Beeinflussung der institutionellen Befugnisse, K o m petenzen orientiert. Es wäre also zwischen verheirateten und unverheirateten Müttern zu unterscheiden, was dem Problem w o h l nicht gerecht würde. Wenn überhaupt i n diesem Fall Gewaltnötigung der Mutter angenommen werden sollte, dann w o h l deshalb, weil die Mutter die Gewalt gegen das K i n d ähnlich wie gegen sich selbst gerichtet empfindet. D. h. die familiäre Bindung der Personen würde vorausgesetzt und nicht als von den Personen institutionell abgelöste Bindung geschützt. Auch bei den Garantenpflichten aufgrund familiärer Bindung w i r d diese Bindung vorausgesetzt und nicht als eigenständiges Rechtsgut geschützt. Der Verkehr i m wirtschaftlichen Bereich ist zwar mehr formalisiert und dem politisch-staatlichen ähnlicher. Er ist diesem jedoch nicht gleichzustellen. Die Trennung zwischen institutioneller Rolle und persönlichen Interessen ist bei Verfassungsorganen, die aufs soziale Ganze bezogen sind, wesentlich krasser als bei profitorientierten Wirtschaftsunternehmen. Außerdem sind auf die Wahrung der Rollentrennung bei einem Verfassungsorgan i. d. R. sehr viele Menschen angewiesen, was bei Wirtschaftsunternehmen weniger der Fall ist. Der Schutz von Institutionen bleibt also auf den politisch-staatlichen Bereich beschränkt, für den er gesetzlich vorgesehen ist. Innerhalb des politisch-staatlichen Bereichs kann er übertragen werden auf § 106 Abs. 1 Nr. 1 und § 107. I m letzteren geht es um institutionelle Vorgänge. Die zu §§ 81, 82, 105 gegebene Begründung der Erweiterung t r i f f t auch hier zu. § 106 Abs. 1 Nr. 1 betrifft zwar die Nötigung eines einzelnen, des Bundespräsidenten; er ist jedoch ebenso wie die Kollegialorgane des § 105 Institution. Diese setzt nicht notwendig ein Kollegium voraus. I n der institutionellen Rolle kann der Bundespräsident staatsrechtlich verbindliche Entscheidungen treffen. Relevant ist diese Übertragung des Institutionenschutzes auf den Bundespräsidenten freilich nur, wenn die Institution auch genötigt werden kann durch Gewalt gegen NichtMitglieder; dazu sogleich. Nicht zu übertragen ist der Institutionenschutz auf § 106 Abs. 1 Nr. 2 und § 108, denn bezüglich dieser Nötigungen ist die institutionelle W i r k u n g schon i n § 105 und § 107 erfaßt. Die von Gewalt betroffenen Personen Z u klären ist, gegen welche Personen Gewalt angewendet worden sein muß, wenn die Tatbestände institutioneller Nötigung erfüllt sein sollen. Nach h. M. kann Gewalt gegen jeden Bürger den Tatbestand
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erfüllen, so daß ein Streik (d. i. nach h. M. Gewalt), der die Versorgung der Bevölkerung beeinträchtigt, Hochverrat oder Parlamentsnötigung sein kann 2 1 . Demgegenüber meint Sax 22 , die Gewalt müsse sich „ u n m i t telbar" gegen das zu nötigende Verfassungsorgan richten, d. h. w o h l gegen dessen Mitglieder. Schwalm 23 w i l l auch Gewalt gegen Sympathiepersonen der Amtsträger einbeziehen. Für die enge Lösung von Sax spricht nicht der Vergleich des § 105 m i t § 106. Wenn auch i n § 106 nur die Mitglieder von Verfassungsorganen gegen Gewaltnötigung geschützt sind, so bedeutet das nicht, daß die Nötigung der Verfassungsorgane selber nach § 105 nur durch Gewalt gegen ihre Mitglieder i. S. des § 106 möglich sei. Sax hat für die enge Lösung einen Vergleich zwischen § 81 und § 88 (bzw. § 80 a. F. und § 90 a. F.) geltend gemacht 24 . Da i n § 88 die hochverräterische Beeinträchtigung von Bürgern, die nicht Mitglieder der Regierung sind (u. a. also Gewalt gegen Dritte), pönalisiert ist, könnte man schließen, daß Gewalt gegen Dritte bei §§ 81, 82 und auch bei § 105 nicht mehr berücksichtigt werden kann. Das Vorstadium des Hochverrats, welches die Gewalt gegen Bürger ist, ist, so könnte man annehmen, i n § 88 schon abschließend geregelt und i n § 81 (und entsprechend i n § 105) nicht zu berücksichtigen. — Der § 88 umfaßt jedoch primär abstrakte Gefährdungen der Bürger i n hochverräterischer Absicht. Wenn bei §§ 81, 82 Gewalt gegen Bürger berücksichtigt würde, so wären damit faktische Verletzungen, Freiheitsberaubungen und gegenwärtige Verletzungsgefahren bei mindestens versuchtem Hochverrat erfaßt, also ein Bereich, der von § 88 nicht spezifisch berücksichtigt wird. Auch § 88 spricht also nicht für die enge Lösung. Für die weite Lösung könnte man A r t . 20 Abs. 4 GG geltend machen. Wenn gegen Angriffe auf die verfassungsmäßige Ordnung alle Bürger und nicht nur die zuständigen Organe Widerstand leisten dürfen, so könnte man daraus entnehmen, daß auch hinsichtlich der Betroffenheit von gewaltsamen Angriffen auf die Verfassung jeder Bürger m i t den staatlichen Organen gleichzustellen sei. A r t . 20 Abs. 4 GG betrifft jedoch nur Extremsituationen. Die Vorschrift läßt die Verteidigung der Verfassung durch rechtlich nicht zuständige Bürger nur „als äußerstes und letztes M i t t e l " zu, wenn keine andere Abhilfe möglich und der A n g r i f f
21 Blei, Strafrecht I I , S. 343; SK-Rudolphi, § 81 Rn 6, § 105 Rn 12; Schönke/ Schröder / Stree, § 81 Rn 4; Schönke / Schröder / Eser, § 105 Rn 8; Geilen, Parlamentsnötigung, S. 84 ff., der allerdings die Gewaltqualität von Streiks negiert. 22 N J W 1953, 368 (370). 23 L K § 105 Rn 9. 24 K r i t . Geilen, Parlamentsnötigung, S. 84 ff.
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V I . Einzelprobleme des Gewaltbegriffs
offenkundig ist 25 . Die Vorschrift ist „so restriktiv wie möglich" zu interpretieren 26 . Sie rechtfertigt es nicht, bei politischen Delikten vorab die Auflösung rechtsstaatlicher Kompetenzen zu unterstellen. Die Bestimmung des relevanten Personenkreises der „Dritten", gegen die Gewalt i. S. der §§ 81, 82, 105 angewendet werden kann, muß bei der Besonderheit der Tatbestände ansetzen. Die §§ 81, 82, 105 betreffen Nötigungen von Verfassungsorganen. Diese sind als Institutionen rechtlich genau definiert. Sie haben gesamtgesellschaftliche Legislativ-, Exekutiv« und Judikativfunktionen. A n der rechtlichen Reichweite dieser Institutionen muß die Bestimmung des relevanten Personenkreises ansetzen. Jedenfalls gehören zu den tatbestandsrelevanten Opfern von Gewalt die Personen, aus denen die Institution rechtlich besteht und von denen sie kraft Zuständigkeit erhalten wird. Das sind bei § 105 die Mitglieder der Verfassungsorgane sowie die zum Schutz der Funktionsfähigkeit rechtlich zuständigen Personen (Beamte der Polizei und des Bundesgrenzschutzes). Bei § 81 sind es die Mitglieder derjenigen Institutionen, die zur verfahrensmäßig geordneten Wahrung oder Änderung des Bestandes und der verfassungsmäßigen Ordnung der Bundesrepub l i k zuständig sind, sowie die zum Schutz der genannten Institutionen zuständigen Personen. Entsprechendes gilt für § 82. Ist der Kreis noch zu erweitern?
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Die vis compulsiva w i r k t über die Motivation des Genötigten. Sie kann dessen Sozialbezüge ausnutzen. Die Bundesregierung und der Bundestag müssen auf das Wohl der Bürger Rücksicht nehmen. Dieser Sozialbezug gehört zu ihren Kompetenzen. Wenn Bürger entführt und eingesperrt werden, bis Regierung oder Parlament sich den Forderungen der Gewalttäter fügen, so kann diese „Gewalt gegen Dritte" Einfluß auf die Entscheidung der Verfassungsorgane erlangen. Wenn bei der allgemeinen Gewaltnötigung für die vis compulsiva gefordert wurde, die Gewalt müsse unvermittelt personale Nötigungswirkung hervorrufen, so kann das nicht gefordert werden, wo die Nötigung sich gegen Institutionen richtet. Denn sie sind nicht Personen, sondern rechtlich vermittelte Einheiten. Daß die Institution eigenständige Bedeutung hat und nicht m i t ihrem Mitgliederbestand gleichgesetzt werden kann, mag ein Beispiel zeigen: Gewalttäter entführen einen Bundestagsabgeordneten, sperren i h n ein und mißhandeln ihn, bis der Bundestag sich ihnen fügt und i n bestimm25
Hesse, Grundzüge, § 23 V I , § 1 I I I 3. Denn sie birgt allemal die Gefahr, „daß sie dazu benutzt w i r d , rechtswidrige A k t i o n e n m i t dem Schein rechtsstaatlicher Legalität zu umgeben u n d damit einen inneren Notstand auszulösen oder zu verschärfen, gegen dessen Gefahren sie nach den Vorstellungen ihrer Schöpfer gerade sichern sollte." (Hesse, Grundzüge, § 23 VI.) 26
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ter Weise seine Befugnisse ausübt; hier ist § 105 erfüllt. Haben sich die Täter statt des Abgeordneten einen privaten Bürger i n gleicher Weise gegriffen und den gleichen Nötigungserfolg erzielt, so müßte § 105 abgelehnt werden, wenn die Institution ,Bundestag 4 m i t dem personalen Bestand ihrer Mitglieder identisch wäre. Wie sollte aber die gemäß § 105 strengere Ahndung des ersten Falles begründet werden 27 ? Daß i m ersten Fall der Abgeordnete, weil entführt, an der Entscheidung des Parlaments nicht m i t w i r k e n konnte, w i r d durch § 106 erfaßt; dies ist nicht das Spezifikum des § 105. Daß § 105 allein i m ersten Fall anzuwenden sei, könnte begründet werden m i t der These, i n einer Abgeordnetenperson sei die Gesellschaft verkörpert. Einer republikanischen Verfassung ist solche Vorstellung nicht sehr angemessen28. I m übrigen dürfte auch die personale Repräsentation, wenn überhaupt, i n § 106 erfaßt sein. I m zweiten Fall ist daher ebenso wie i m ersten § 105 zu bejahen. Das bedeutet zugleich, daß die Institution nicht i m Mitgliederbestand aufgeht. Sie kann genötigt, nicht aber vergewaltigt werden. Bei kompulsiver Gewaltanwendung sind nach allem die §§ 81, 82, 105 schon dann erfüllt, wenn die Gewalt sich gegen Personen richtet, die i n den Verantwortungsbereich der genötigten Institution fallen. I n den Verantwortungsbereich der Bundesregierung, des Bundestages, des Bundesrates und der Bundesversammlung gehören alle Bürger 2 9 . Anders ist das bei den Landtagen und Verfassungsgerichten. Gleichwohl wird, auch wenn diese genötigt werden, die Gewalt gegen jeden Bundesbürger den Tatbestand erfüllen können, denn § 105 erfaßt auch Nötigungen zu rechtswidriger Ausübung der Befugnisse, also auch zu Maßnahmen, die von prinzipiell unzulässigen Erwägungen getragen sind. Es bleibt das Problem der vis absoluta. Praktisch dürfte sich dabei die Gewalt meist gegen die Mitglieder der Institution richten oder gegen Polizeibeamte u. ä., die die Funktionsfähigkeit der Institution zu schützen haben. Dann sind die §§ 81, 82, 105 zweifellos erfüllt. Denkbar ist aber auch, daß die Institution absolut genötigt w i r d durch Gewalt gegen Personen außerhalb der Institution. Beispiele: 1. Die Chauffeure der drei Abgeordneten, deren Stimmen für eine parlamentarische Mehrheitsbildung erforderlich sind, werden eingesperrt, so daß die Anreise der Abgeordneten sich verzögert und die Mehrheit nicht zustande kommt. 2. Die Abgeordneten selber werden eingesperrt m i t dem gleichen Erfolg. — I m zweiten Fall ist § 105 erfüllt. Gegen eine andere Be27 Oft w i r d auch § 239 b erfüllt sein. Der § 105 ist jedoch weiter u n d bei § 81 ist auch die Strafdrohung höher als bei § 239 b. 28 Schroeder, Schutz von Staat u n d Verfassung, S. 453 ff. 29 Allerdings muß sich das abgenötigte Verhalten i m Rahmen der Befugnis halten (Dreher / Tröndle, § 105 R n 3), welche bei der Bundesversammlung sehr eng ist.
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wertung des ersten Falles sprechen die Argumente, die oben gegen die Differenzierung bei der vis compulsiva geltend gemacht wurden. Fazit: Bei Nötigungen gemäß §§ 81, 82, 105 sowie § 106 Abs. 1 Nr. 1, § 107 kann sich die Gewalt gegen jeden Bürger richten. Besonderer Gewaltbegriff bei politischen Delikten? Wenn bei diesen Delikten das Problem der Gewalt gegen Dritte besonders behandelt wird, so könnte auch der Gewaltbegriff selber abweichend von der allgemeinen Bestimmung definiert werden. Zunächst zum Hochverrat: Hier hatte schon Binding einen weitgehenden Verzicht auf das Gewaltkriterium vorgeschlagen 80 . Es sollte als »rechtswidrig' interpretiert werden. Nach dem E 62 sollte der Gewaltbegriff bei A n griffen auf den Staat entsprechend der bisherigen Rechtsprechung gefaßt werden 81 , also gemäß BGHSt 8, 102 i m wesentlichen als Zwangswirkung. — Was gegen eine Erweiterung des Gewaltbegriffs i n Richtung Zwang spricht, wurde z. T. schon erwähnt 8 2 . Die Orientierung am bloßen Zwang, die bezüglich des Hochverrats 1934 statuiert worden war, wurde 1949 durch das Grundgesetz zurückgenommen. Die verbreitete K r i t i k , das Gewaltkriterium sei beim Hochverrat veraltet, ist durch die Staatsgefährdungstatbestände ein Stück weit berücksichtigt worden 8 8 . Außerdem ist zweifelhaft, ob das K r i t e r i u m physischer Gewalt tatsächlich die „modernen Umsturzmethoden" so sehr verfehlt. Es ist w o h l kein Umsturz und kein Putsch der letzten Jahrzehnte ohne mindestens drohende Verletzungsgewalt und Freiheitsberaubung ausgekommen. Dies scheint noch immer die gefährlichste Umsturzmethode zu sein. Binding wollte, indem er das Gewaltkriterium weitgehend auflöste, auch das Unternehmen eines „Hochverrats von oben" pönalisieren, der ohne Verhaftungen und drohenden Waffeneinsatz gegen Bürger allein durch Intrigen der Regierenden erfolgt 84 . I n einer Demokratie dürfte solcher Fall jedoch nicht justiziell, sondern politisch zu bewältigen sein, durch das Parlament und die demokratisch aktiven Bürger, die die Regierung zur Verantwortung ziehen können 85 . Die Demokratie sollte nicht durch Justiz ersetzt werden. 80
Lehrbuch, S. 439 f. Begr. zu § 11 Abs. 2, § 361, S. 121, 551 f. 32 Siehe oben S. 155 ff., 173 ff., 176 ff. 88 Geilen, Parlamentsnötigung, S. 105 f. 84 Lehrbuch, S. 428, 437 f., 4401; änhlich Schroeder, Schutz von Staat u n d Verfassung, S. 445. 85 Copic, Politisches Strafrecht, S. 222. Daß die demokratische K o n t r o l l e durch den Staatsstreich gerade ausgeschaltet werden soll (Schroeder, Schutz, S. 445), ist das Problem vieler Hochverratsfälle; sie können meist n u r bestraft werden, wenn sie scheitern. 81
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Der juristischen Auslegung ist es i m übrigen unangemessen, einen Tatbestand, der zwischen Verfahren und Erfolg unterscheidet, allein vom Erfolg her zu bestimmen und so den Schutz des Bestandes (des Staates, der Verfassung) zu verabsolutieren. Wenn Gewalt neben dem Nötigungsobjekt (Staatsbestand) als besonderes Verfahren, als Verkehrsform zwischen den Bürgern, bestimmt wird, so folgt diese Bestimmung nicht ohne weiteres den Bedürfnissen des Bestandsschutzes. Sie kann also nicht gemäß den jeweiligen Bedürfnissen nach modernisiertem Staatsschutz als veraltet abgelehnt werden. Sie folgt einer eigenen Logik. Wenn der Staatsbestand nur gegen spezifische Verkehrsformen geschützt wird, so heißt das, daß er von anderen Verkehrsformen abhängig bleibt. Er ist auf den Zusammenhang des Handelns der Bürger angewiesen. Darin steckt nicht nur eine Begrenzung der Strafgewalt, sondern ein positives Programm. Es bedeutet, daß die Freunde des bestehenden Staates sich m i t dagegen gerichtetem Druck politisch, d. h. ohne Strafgewalt auseinandersetzen müssen. Der sich darin äußernde K o n f l i k t über den Bestand ist Thema der Demokratie, die nicht nur i n Wahlen stattfindet. Das gilt z. B. für Streiks, die lästig, arbeitsrechtswidrig und für den Staatsbestand gefährlich sein mögen. I n ihnen kann jedoch zum Ausdruck kommen, daß i n der Gesellschaft tiefgreifende Klassengegensätze fortbestehen, daß Teile der Bevölkerung strukturell benachteiligt, verachtet, sozial abgekoppelt werden. Wenn ohne weiteres der Gesamtbestand zum unproblematischen K r i t e r i u m des politischen Strafrechts wird, so werden diese Gegensätze im theoretischen Ausgangspunkt des Strafrechts negiert und tendenziell unterdrückt. Die Orientierung des Hochverratstatbestandes an bestimmten M i t t e l n des Konflikts berücksichtigt, daß der Bestand (des Staates, der Verfassung) stets problematisch bleibt. I m Gewaltkriterium steckt also eine inhaltlich bestimmte Konzeption des Hochverratstatbestandes und nicht nur eine formale Begrenzung 36 . Auch die inhaltliche Bestimmung des Gewaltmittels als Verletzungsgewalt und Freiheitsberaubung dürfte nicht gänzlich veraltet sein. Es geht dabei nicht wie i n älteren Theorien 37 um den Schutz der Persön86 D a m i t ist selbstverständlich nicht bestritten, daß auch auf der Seite der Rechtsgüter (Staat u n d Verfassung) eine Bestimmung des § 81 wichtig ist. D a m i t v. a. beschäftigt sich Schroeder, Schutz von Staat u n d Verfassung, S. 354 ff., 417 ff. Allerdings h ä l t er es anscheinend f ü r undenkbar, daß das G e w a l t m i t t e l eine eigenständige Bedeutung neben der Freiheitsbeeinträchtigung haben könnte. Das verschiedene ( „ m i t Gewalt . . . nötigt") w i r d fraglos i n eins gesetzt (S. 318 f.). Danach müßte Schroeder f ü r jede Sonderfreiheit einen besonderen Gewaltbegriff bilden, bei § 240 wäre die totale Auflösung des Gewaltbegriffs unausweichlich. Diese Erfolgsorientierung wurde oben i m Zusammenhang des Rechtsguts Freiheit u n d der monistischen Konzeption erörtert. 37 Z . B . v. Feder, Das Staatsverbrechen, S. 236f.; dazu Schroeder, S. 62f.
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lichkeit der Regierenden, weil darin der Staat inkarniert wäre. Wie gezeigt, genügt die Gewalt gegen jeden Bürger. Verfassung und Staat dieser Gesellschaft haben i n der Wahrung menschlicher Existenz i h r Zentrum. Es ist daher nicht abwegig, die Verletzungsgewalt und Freiheitsberaubung gegen Menschen zum Anknüpfungspunkt der schärfsten Sanktionen zu machen, welche Verfassung und Staat schützen sollen. Fazit: Der allgemeine Gewaltbegriff ist auch bei § 81 sinnvoll. Es besteht kein Anlaß, hier einen gesonderten Begriff zu bilden. Das gesagte gilt i m wesentlichen auch für die §§ 105 ff. Nach h. M. w i r d hier die »demokratische Willensbildung und Ausübung' geschützt. Sie soll ,unberührbar' sein, soll nicht dem vor dem Parlament,tobenden Pöbel' überlassen werden. Auch das Absperren der Zufahrtsstraßen müsse pönalisiert werden 88 . Der hier vorgeschlagene Gewaltbegriff genügt solchen Anforderungen nur zum Teil. — Hinsichtlich des Pöbels ist zunächst auf § 106 a f. zu verweisen. I m übrigen ist die demokratische Willensbildung gewiß ein hohes Gut, aber auch ohne Straßensperren keinesfalls frei. Bevor sich das demokratische Engagement der K r i m i nalpolitik auf spektakuläre Aktionen richtet, könnte die neuere Forschung über die subtilen Nötigungen des Parlaments und der Regierung rezipiert werden 39 . Von Seiten etwa der wirtschaftlich Mächtigen, überhaupt durch die gegebene Wirtschaftsstruktur werden die demokratischen Organe i n einer Weise beeinflußt, die über Lobbyismus u. ä. weit hinausreicht, die i h r Handeln i n einem festen Rahmen inhaltlich determiniert. Deshalb werden Straßensperren nicht erträglicher. Aber die Dringlichkeit der Ausweitung des Gewaltbegriffs kann etwas relativiert werden. 3. Straßenverkehrsdelikte a) Gefährdungsvorsatz Nötigende Gewalt ist strafbar, wenn sie vorsätzlich angewendet wurde. Eine Gefahr, die Gewalt sein kann, ist als vorsätzliche zurechenbar jedenfalls dann, wenn der Täter den Eintritt der Verletzung b i l l i gend i n Kauf nimmt. Denn dann liegt dolus eventualis bezüglich der Verletzimg vor und folglich auch Gefährdungsvorsatz 1 . Mehr ist nicht 38 Schönke / Schröder / Eser, Rn 1 vor § 105, § 105 Rn 8 a; SK-Rudolphi, Rn 1 v o r § 105, § 105 Rn 6; Blei, Straf recht I I , S. 343; Merten, Rechtsstaat, S. 43 f., bedauert die E i n f ü h r u n g des Gewaltkriteriums u n d die Senkung der Mindeststrafe bei § 105. Jede Parlamentsnötigung soll anscheinend s t r a f w ü r d i g sein. 39 Vgl. Grottian, Strukturprobleme, S. 167 ff.; Euchner, Parlamentarismus, i n : Handlexikon der Politikwissenschaft, Bd. 2, S. 304 ff.; N a r r / Naschold, Theorie der Demokratie, S. 107 ff., 131 ff.; Habermas, Strukturwandel, S. 273 ff. 1 Horn, Konkrete Gefährdungsdelikte, S. 204.
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erforderlich. Die These der h. M., Gewalt müsse m i t Absicht angewendet werden 2 , betrifft nur die Zwangswirkung der Gewalt auf den Genötigten 3 . Abwandlung: Der Täter erkennt, ohne es billigend i n Kauf zu nehmen, daß sein Verhalten — der riskante Umgang m i t der Schußwaffe oder dem Kfz — Verletzungen herbeiführen kann, die er, solange er das Verhalten fortsetzt, nicht verhindern kann. Der Täter weiß, daß aus seinem T u n unabhängig von seinem Können und Wollen strafrechtlich relevante Nebenfolgen — Verletzungen — entstehen können. Wenn er m i t diesem Wissen willentlich sein Verhalten beginnt oder fortsetzt, so nimmt er die als möglich erkannten Nebenfolgen in seinen Willen auf, es sei denn, er hielte sie nur entfernt für möglich, also für unwahrscheinlich 4 . M i t dieser Einschränkung bedeutet das Fürmöglichhalten des Eintritts der Nebenfolgen, daß der Täter insoweit m i t dolus eventualis, also vorsätzlich handelt. Wenn also der aggressive Autofahrer oder der riskant m i t dem Gewehr Umgehende es für möglich halten, daß es durch ihr riskantes Verhalten ohne weiteres Zutun zu unvermeidbaren Verletzungen kommt, so haben sie i. d. R. Verletzungs- und damit auch Gefährdungsvorsatz. Die Abgrenzung des Eventualvorsatzes kann hier nicht eingehend erörtert werden. Die hier dargestellte Lösung folgt der von Welzel u. a.5 vertretenen Abgrenzung. Sie weicht ab von der Billigungstheorie 6 . — Wo der Täter einen möglichen Verletzungserfolg als von seinem Willen unabhängig erkennt, da kann es für die Zurechnung nicht auf die voluntative Disposition des Täters ankommen. Sein Billigen oder Mißbilligen des Erfolges bleibt unerhebliche Gesinnung, wo es keinen Einfluß auf das tatsächliche Geschehen gewinnt. Wenn der Autofahrer dicht auffährt, obwohl er erkennt, daß dadurch unbeherrschbare Verletzungsmöglichkeiten entstehen, so ist es irrelevant, ob er das mißbilligte. Das Strafrecht bezieht sich auf willentliches Handeln, nicht auf Hoffnungen oder ethische Gesinnungen 7 . Durch die Einbeziehung dessen, was der Täter für möglich gehalten hat, w i r d der Vorsatz relativ weit ausgedehnt. Die Fälle der Nötigung durch Gefahr sind damit nicht vollständig abgedeckt. Der Nachweis des Fürmöglichhaltens dürfte oft schwierig sein. Denkbar ist folgende Kon2 Schönke / Schröder / Eser, R n 18 v o r § 234; Knodel, Der Begriff, S. 83 ff.; SK-Rudolphi, § 105 Rn 10. 3 Knodel, J Z 1963, 701 f. 4 Welzel, Lehrbuch, S. 67 ff.; ähnlich A r m i n Kaufmann, Z S t W 70 (1958), 64 ff.; Horn, a.a.O., S. 205 ff. 5 Siehe die i n der vorangegangenen F n genannten. 6 Maurach / Zipf, Strafrecht A T T b 1, S. 328; Baumann, Lehrbuch, § 26 I I I 2 b. 7 A r m i n Kaufmann, Z S t W 70, 78.
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V I . Einzelprobleme des Gewaltbegriffs
stellation: Der Täter schafft die Möglichkeit des nicht beherrschbaren, sofortigen Eintretens von Verletzungen. Er setzt diese Gefahr gezielt so ein, daß der Bedrohte sie erkennt und motiviert wird, sich dem Täter zu fügen. Der Täter meint aber, er habe i n Wirklichkeit die Situation doch so i n der Hand, daß er das Eintreten von Verletzungen letztlich noch immer vermeiden könne. Hat hier der Täter vorsätzlich eine Gefahr herbeiführen wollen? Eckhard Horn 6 hat das m i t überzeugenden Argumenten verneint. Sie beziehen sich zwar auf konkrete Gefahren, sind aber auf den vorliegenden Fall übertragbar, i n welchem es um eine nicht beherrschte Gefahr geht. Der Täter meint, er beherrsche die Gefahr noch. I n seiner Sicht ist die objektiv gegebene Gefahr nur eine Scheingefahr, die er dem zu Nötigenden vorspiegelt, u m ihn zu motivieren. Die Scheingefahr gehört aber, wie oben gezeigt, nicht zur Gewalt. Für die Annahme von Gewalt fehlt es am Vorsatz. Allenfalls könnte man i n den geschilderten Fallkonstellationen Fahrlässigkeit bezüglich der möglichen Verletzungen annehmen. Aber das würde die Erfordernisse der Gewaltstrafbarkeit — Vorsatz bezüglich einer wirklichen Gefahr — nicht erfüllen®. b)
Gefahrkonstellationen
Wenn ein Autofahrer m i t hoher Geschwindigkeit auf einen Polizisten zurast, u m dadurch diesen zum Beiseitespringen zu veranlassen, so schafft er die Möglichkeit einer Gefährdung. Gegenwärtig ist die Gefahr freilich erst dann, wenn die Verletzung unvermittelt bevorsteht. Hat der Polizist die kommende Gefahr frühzeitig vorausgesehen und sich i n Sicherheit gebracht, so entsteht keine gegenwärtige Gefahr. Vielmehr wurde der Polizist dann durch eine k ü n f t i g drohende Verletzung genötigt. Die strafbare Drohung w i r d hier auch nicht m i t der Annahme abzulehnen sein, der Fahrer habe das Eintreten des Übels nicht mehr steuern können. I n dem frühen Zeitpunkt, i n welchem der Polizist auswich, w i r d der Fahrer die Verletzung auch noch haben vermeiden können 10 . Gegenwärtige Gefahr und damit Gewalt ist auch anzunehmen, wenn der Autofahrer bei hoher Geschwindigkeit auf 2 m dicht an den Vordermann heranfährt, u m diesen zum Ausweichen zu veranlassen 11 . Beim 8
A.a.O., S. 207 ff. Außerdem ist die Pönalisierung von Fahrlässigkeit ohne Erfolg dem gegebenen Strafrechtssystem fremd. Solche Pönalisierung würde aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit voraussetzen, daß die Sorgfaltsanforderungen bezüglich Leib u n d Leben kodifiziert sind; so A r m i n Kaufmann, J Z 71, 569 (575). 10 I m übrigen ist eine Erweiterung des Drohungsbegriffs zu erwägen nach Jakobs, Festschrift f ü r Peters, S. 84 f. 11 I m Rahmen der Verwerflichkeit stellt die Rechtsprechung hier auf die Dauer des bedrängenden Fahrens ab; O L G Karlsruhe VRS 1979, 415 ff.; O L G F r a n k f u r t VRS 1979, 286. 9
3. Straßenverkehrsdelikte
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blockierenden Fahrverhalten ist allerdings zu unterscheiden. Wer seinen Wagen so aufstellt oder fährt, daß andere anhalten oder ausweichen müssen und dabei sich selbst gefährden, weil die Straße schnell befahren w i r d oder unübersichtlich ist, hat die anderen Verkehrsteilnehmer durch gegenwärtige Gefahr genötigt. Anders, wenn die Verkehrsverhältnisse so sind, daß die anderen Verkehrsteilnehmer ohne eigene Gefährdung auf das Hindernis reagieren. Gegenwärtige Gefahr ist zu bejahen, wenn der Blockierende die Nachfolgenden durch abruptes Bremsen oder die Uberholwilligen durch plötzliches Linksausschwenken gefährdet Der Bundesgerichtshof hat beim blockierenden Fahrverhalten undifferenziert Gewalt angenommen, allerdings nicht, w e i l er immer eine Gefahr annahm, sondern w e i l er die Blockade (mit oder ohne Gefahr) als körperliches Hindernis bewertet 1 2 . Das hängt m i t dem herkömmlichen Gewaltbegriff zusammen, der hier nicht nochmals zu erörtern ist. Bei der Frage der Verwerflichkeit hat der Bundesgerichtshof zunächst i n einer Entscheidung 13 recht global angenommen, das blockierende Fahren auf freier Strecke sei eine Gefährdung. Später hat er jedoch klargestellt, daß ein Zustand eingetreten sein muß, der „jederzeit", d. h. gegenwärtig zur Verletzung umschlagen kann 1 4 . Zuzugeben ist, daß das K r i t e r i u m ,gegenwärtig' einige Unsicherheit birgt, insbesondere i m ersten hier aufgeführten Fall. Dieses K r i t e r i u m ist aber immerhin am objektiven Geschehen orientiert und nicht an Fernzielen des Nötigers. Darauf aber greift die Rechtsprechung zurück, wenn sie das Zwangsmittel und die ferneren Absichten 16 des Täters kasuistisch moralisch bewertet 16 . M i t den Kriterien »gegenwärtige Gefahr' w i r d das Moralisieren i m Einzelfall obsolet. Z u erörtern sind noch die Parklücke-Fälle: Ein Fußgänger hält für einen Freund eine Parklücke „besetzt"; ein fremder Autofahrer, der die Lücke benutzen und den Fußgänger zur Freigabe veranlassen w i l l , fährt langsam auf diesen zu und ruft: „Gehen Sie weg, sonst überfahre ich Sie!" Er hält das Anfahren auch für möglich; er wendet nötigende Gewalt an 17 . Wenn der Fußgänger auf die gegenwärtige Gefahr reagiert 12 B G H S t 19, 265. A u f das genannte K r i t e r i u m verzichtet B a y O b L G VRS 1981, 188 i m Anschluß an B G H S t 23, 54. 13 N J W 1963, 1269. 14 B G H S t 19, 268. 15 Z u r weiten Mittel/Zweck-Relation: Arzt, Festschrift f ü r Welzel, S. 826 ff. 16 Vgl. B G H N J W 1963, 1269 u n d oben S. 205. 17 Der Fußgänger handelt nach der hier vertretenen Begriffsbildung nicht gewaltsam; anders gemäß dem herkömmlichen Gewaltbegriff die h. M.; B G H S t 23, 54; O L G K ö l n N J W 1979, 2056; O L G H a m m VRS 1980 (Bd. 59), 426 f.
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und sich fügt, ist die Gewaltnötigung vollendet. Auch wenn der Fahrer seinen Vorsatz nicht äußert, kann er aus der Konkludenz seines Verhaltens zu entnehmen sein. Oft w i r d der Fahrer allerdings geltend machen, daß er nur eine Scheingefahr habe schaffen wollen. Auch hier mag die Sachverhaltsfeststellung zuweilen schwierig sein, immerhin geht es aber allein um den Eventualverletzungsvorsatz und nicht um Fernziele und deren moralische Qualität. 4. Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte Nach der wohl h. M. 1 soll ,Gewalt' bei § 113 i n Abweichung vom allgemeinen Gewaltbegriff verstanden werden als Gewalt gegen die körperliche Person des Amtsträgers, wozu allerdings auch die Freiheitsberaubung gehören soll. Demgegenüber meinen Horn 2 und Schröder 3 , bei § 113 solle der bei § 240 entwickelte weite Gewaltbegriff (entscheidend ist letztlich die Zwangswirkung) angewendet werden. Diese letztere Auslegung soll zunächst untersucht werden. a) Der weite Gewaltbegriff
bei §113
Ausgangspunkt dieser Auslegung ist die Unterscheidung der beiden Tatmodalitäten des § 113 Abs. 1: ,mit Gewalt . . . Widerstand leisten' und ,den Amtsträger tätlich angreifen'. Die Pönalisierung der zweiten Alternative soll nach Schröder dem Schutz des Amtsträgers dienen, die der ersten dem Schutz des Staatswillens. Deshalb könne es bei der ersten nicht auf die Widerstandsmittel, also nicht auf Gewalt gegen die Amtsträgerperson ankommen, sondern nur auf den Widerstandszweck (Behinderung der Diensthandlung). Nun liegt aber nach dem Gesetz bei der ersten Tatmodalität der Schwerpunkt des Widerstandes beim Verhalten — es ist A k t i v i t ä t erforderlich — und auf den Erfolg w i r d verzichtet. Der Verhaltensaspekt, die Nötigungsmittel, stehen also bei dieser Alternative des § 113 mehr als bei § 240 i m Vordergrund 4 . Das spricht i m Rahmen des § 113 gegen den bei § 240 entwickelten erfolgsorientierten Gewaltbegriff. Zu berücksichtigen ist ein weiteres: M i t dem weiten Gewaltbegriff würde auch die Gewalt gegen Sachen i n den § 113 Abs. 1 einbezogen. Dagegen spricht ein Vergleich der Strafverschärfungsregeln der § 113 Abs. 2, § 121 Abs. 3, § 125a. A l l diese Regelungen sind relativ neu. Nur i n § 125a ist Schaden an Sachen als Begründung eines schweren Falles 1 Dreher / Tröndle, § 113 R n 19; Schönke / Schröder / Eser, § 113 R n 42; L K v. Bubnoff (10. Aufl.), § 113 Rn 42; Lackner, § 113 A n m . 4 a. 2 SK § 113 Rn 13. 3 Schönke / Schröder (bis zur 18. Aufl.), § 113 R n 20. 4 Schönke / Schröder / Eser, § 113 R n 2.
4. Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte
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eingeführt. Demnach dürfte die Schädigung von Sachen bei den beiden anderen Regelungen nicht ausreichen. Zwar handelt es sich nur u m Regelbeispiele. Aber wenn deren gesetzliche Erwähnung irgendeinen rechtsstaatlich leitenden Sinn haben soll, dann wohl den, vergleichende Schlußfolgerungen zu ermöglichen. Andernfalls hätte die differenzierende Aufzählung jeweils anderer Beispiele i n verschiedenen Tatbeständen überhaupt keine Bedeutung. Wenn trotz verschiedener Beispiele die gleichen Folgerungen gezogen werden könnten, so wären die Regelbeispiele eine Farce. Es muß also m i t verschiedenen Regelbeispielen verschiedenes gemeint sein; man kann das verschiedene auseinanderhalten und vergleichen. Aus dem Vergleich der drei Schärfungsregeln ergibt sich der Schluß, daß bei § 113 Abs. 2, § 121 Abs. 3 die Schädigung von Sachen nicht berücksichtigt werden soll, denn sie ist nur bei § 125a aufgeführt und zudem w i r d dort erheblicher Sachschaden gefordert 5 . Betrachtet man nun die den drei Schärfungsregelungen zugrunde liegenden einfachen Fälle, also § 113 Abs. 1, § 121 Abs. 1, § 125 Abs. 1, so fällt auf, daß wiederum nur bei § 125 von Gewalt gegen Sachen die Rede ist. Angesichts dieser Parallelität dürfte auch bei den Tatbeständen der einfachen Fälle i n §§ 113, 121 nicht Gewalt gegen Sachen erfaßt sein 6 . Auch das spricht gegen den weiten Gewaltbegriff bei § 113, denn der weite Gewaltbegriff umfaßt Gewalt gegen Sachen. Er dürfte nach allem bei § 113 nicht akzeptabel sein. Es ist i n dieser Regelung noch deutlicher als bei § 240 ein spezifisches Verhaltenselement, ein besonderes Nötigungsmittel erforderlich. Diese Eingrenzung ist nicht w i l l k ü r lich. Es steckt darin eine Relativierung des Staatsapparates, die einer demokratischen Gesellschaft angemessen ist. — Das Strafrecht schützt i. d. R. nur besonders gewichtige Interessen, Güter, Verkehrsformen o. ä. Es ist „ultima ratio des Rechtsgüterschutzes". Es prätendiert mehr als andere Sanktionen eine Verinnerlichung der zentralen Güter durch den Bürger. Würde nun annähernd jeder Widerstand gegen jede staatliche Maßnahme m i t Strafe sanktioniert, so wäre staatliches Handeln undifferenziert m i t dem Gewicht des Strafrechtsgutes aufgewertet. Die Unterwerfung wäre i n jedem Fall zu verinnerlichende Norm. Es wäre unterstellt, daß zugunsten rechtmäßigen staatlichen Handelns das scharfe Strafrecht schon immer angemessen sei. Der rechtmäßig handelnde Staat wäre die ultima ratio an sich. Das ist eine obrigkeitsstaatliche Vorstellung vom Staat. „Der Staat" ist nicht schon als solcher Strafrechtsgut. Tiedemann 7 schlägt deshalb Güterabwägungen i m Ein5 Dreher / Tröndle (§ 121 R n 17) meinen, auch bei § 121 könne erheblicher Sachschaden einen schweren F a l l begründen; wäre das richtig, so hätte die Differenzierung der Regelbeispiele i n § 121 Abs. 3, § 125 a keinen Sinn. 6 Ä h n l i c h argumentieren Calliess, Gewaltbegriff, S. 39; L K - v . Bubnoff (10. Aufl.), § 113 R n 14. 7 J Z 1969, 724 f.
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V I . Einzelprobleme des Gewaltbegriffs
zelfall vor. Das bringt Rechtsunsicherheit. Angemessener dürfte es sein, Relativierungen dort einzusetzen, wo sie i n § 113 angelegt sind, bei den M i t t e l n des Widerstandes. Das Strafrecht sollte nur eingreifen, wo der Widerstand dadurch geleistet wird, daß noch andere Rechtsgüter angegriffen werden (die Person des Amtsträgers). Erst die Qualifikation der M i t t e l macht demnach den Widerstand strafwürdig. Der einzelne hat gegenüber rechtmäßigen Diensthandlungen eine Duldungspflicht; er muß Zwang hinnehmen; das w i r d i h m aber nicht ohne weiteres mittels Strafen einverseelt 8 . Darin hat die Ablehnung des weiten, am Zwang orientierten Gewaltbegriffs bei § 113 eine Erklärung. Besonders fragwürdig würde der weite Gewaltbegriff i n den Fällen, i n welchen der Bürger durch die Diensthandlung, der er Widerstand leistet, strafverfolgt wird. M i t dem bloßen Widerstandszwang, welchen der weite Gewaltbegriff pönalisiert, verhindert der Bürger dann die Strafverfolgung und sonst nichts. I h n dafür zu strafen, widerspricht dem Grundsatz der Straffreiheit der Selbstbegünstigung. Darauf w i r d i m Zusammenhang des § 121 genauer einzugehen sein. Fazit: Wenn gewaltsamer Widerstand gegen die Staatsgewalt strafbar sein soll, muß mehr geschehen sein als Widerstand. Auch der Amtsträger muß betroffen sein 9 . Die restriktive Annahme der h. M., § 113 Abs. 1 diene i n seiner ersten Alternative auch dem Schutz des Amtsträgers 10 , ist also akzeptabel. b) Der Gewaltbegriff
der h. M. bei § 113
W i r d aber dieses Programm eingehalten, wenn bei § 113 »Gewalt1 m i t der h. M. verstanden w i r d als Tätigkeit gegen den Amtsträger? Eine Gefährdung des Amtsträgers oder der Versuch einer Körperverletzung soll nicht erforderlich sein. Gewalt gegen die Person des Amtsträgers soll schon anzunehmen sein, wenn einem Gerichtsvollzieher das Pfandstück entrissen w i r d 1 1 , wenn er am Betreten des Raumes gehindert wird, i n welchem sich das Pfandobjekt befindet 12 , wenn ein Polizist bei der 8 Ä h n l i c h dürfte Haffkes Eingrenzung des Gewaltbegriffs i n dem von i h m gebildeten Gerichtsvollzieherfall zu erklären sein (ZStW 84, 60); dazu oben S. 210 f. 9 Überzogen w i r d der hier vertretene Ansatz durch das von Tiedemann (a.a.O., S. 726) mitgeteilte U r t e i l des A G F r a n k f u r t v. 27. 9. 68, wonach den Beamten auch die Hinnahme von leichten Körperverletzungen zur Amtspflicht gemacht w i r d . 10 Schönke / Schröder / Eser, §113 Rn 2, 42. 11 O L G Oldenburg NdsRpfl. 1953, 152; zustimmend Schönke / Schröder / Eser, § 113 Rn 42; L K - v . Bubnoff (10. Aufl.), § 113 R n 15. 12 B G H S t 18, 133; zustimmend L K - v . Bubnoff, a.a.O.; D r e h e r / Tröndle, § 113 R n 19; a. A . Schönke / Schröder / Eser, a.a.O.
4. Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte
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Verfolgungsfahrt am Überholen gehindert wird 1 3 » 1 4 . Hat i n diesen Fällen die Gewalt gegen den Amtsträger als Person tatsächlich eine spezifische soziale Bedeutung, die über die Nötigung, d. h. den Widerstand gegen die Diensthandlung hinausgeht? Der Widerstand (Nötigung) jedenfalls t r i f f t i n diesen Fällen nicht den Amtsträger als Person. Für den Gerichtsvollzieher als Person ist es gleichgültig, ob die Pfandsache weggenommen oder unzugänglich ist, sofern i h n daran keine Schuld t r i f f t ; den Polizistenpersonen ist es prinzipiell egal, ob sie den Verfolgten erreichen können, wenn sie es nur pflichtgemäß versucht haben. Der Widerstand t r i f f t nur „den Staat". Was der Amtsträger verwirklichen sollte und nicht konnte, war rechtlich nicht sein Wille, sondern der des Staatsapparates. Auch wenn der Amtsträger nach Ermessen entschieden hat, w i r d sein Handeln allein dem Staatsapparat zugerechnet. Und selbst wenn der Widerstand dem Amtsträger zusätzliche Arbeit (etwa das Schreiben eines Protokolls) verursacht, ist das kein rechtlich relevanter Nötigungserfolg. Solche Arbeit gehört zu den Dienstpflichten des Amtsträgers. Er ist durch den Widerstand nicht personal betroffen. Ist er durch die Gewalt, so wie die h. M. sie versteht, betroffen? Daß dem Gerichtsvollzieher eine Sache, die i h n als Person nichts angeht — er w i r d u. U. bestraft, wenn sie i h n personal doch „etwas angehen" sollte (§ 133) — physisch entrissen oder durch Aussperrung vorenthalten wird, ist für den Gerichtsvollzieher persönlich irrelevant, ebenso wie die Behinderung die Polizistenpersonen unbeeinträchtigt läßt; es sei denn, sie wären körperlich verletzt oder bedroht worden. Darauf soll es nach h. M. aber gerade nicht ankommen. Hier realisiert sich die schon bei § 249 konstatierte Gehaltlosigkeit des herkömmlichen Begriffs der Gewalt gegen eine Person. Wenn also die h. M. betont, der allgemeine Gewaltbegriff müsse bei § 113 eingeschränkt werden auf Gewalt gegen eine Person, so steckt darin der berechtigte Versuch, neben dem Staat die konkrete Amtsträgerperson zu berücksichtigen. Dieser Ansatz w i r d aber nicht wirklich realisiert. Durch die sogenannte Gewalt gegen die Person ist nicht notwendig eine Person betroffen. Das führt zu folgenreichen Friktionen. Der Rechtswidrigkeitsbegriff der h. M. bei § 113 ist nämlich auf den Schutz der Person des Amtsträgers zu Lasten des Bürgers zugeschnitten 15 . Die Rechtswidrigkeit der Diensthandlung soll nicht nur nach objektiven Kriterien des materiellen Verwaltungsrechts, der VwGO und der Verwaltungsverfahrensgesetze bestimmt werden. Gerechtfertigt ist der Amtsträger auch, wenn er 13 14 15
Schönke / Schröder / Eser, § 113 R n 44; L K - v . B u b n o f f (10. Aufl.), a.a.O. Oben S. 117 f. Dazu Paeffgen, J Z 1979, 516 (519 ff.).
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V I . Einzelprobleme des Gewaltbegriffs
subjektiv i n nicht vorwerfbarer Weise eine rechtfertigende Sachlage annimmt. Dies widerspricht dem verwaltungsrechtlichen Rechtswidrigkeitsbegriff, wie Thiele 1 6 gezeigt hat. Der Amtsträger ist nach den subjektivierten strafrechtlichen Kriterien z. T. weitergehend gerechtfertigt, als es verwaltungsrechtlich möglich wäre 1 7 . Begründet w i r d das m i t der Notwendigkeit, den Amtsträger als Person zu schützen. Das Risiko der Rechtswidrigkeit soll i h m nicht allein aufgelastet werden 16 . Diese Einschränkung ist prinzipiell akzeptabel. Aber wie oben gezeigt, ist der Amtsträger als Person nach dem herrschenden weiten Begriff der Gew a l t gegen eine Person keineswegs immer betroffen. Dem Bürger werden also grundlos Lasten auferlegt. Er w i r d u. U. kriminalisiert, moralisch diskriminiert dafür, daß er sein Recht wahrte und dabei niemandem etwas zuleide tat, auch niemanden gefährdete. Daß i n diesem Konzept nicht hinreichend unterschieden w i r d zwischen der Sphäre der Person des Amtsträgers und der staatlich-amtlichen Sphäre, beide vielmehr vermischt werden, das fügt sich i n den Kontext vorrechtlicher Werte. Werte überspannen rechtsstaatliche und grundrechtliche Differenzierungen wie die zwischen A m t und Person (Art. 33 GG) 19 . I m Horizont der Werte ist schwer erkennbar, ob die formalgesetzlich organisierte Staatssphäre oder eine Person betroffen ist 2 0 . Fazit: Wenn man den weiten Begriff der Gewalt gegen eine Person bei § 113 akzeptierte (und erst recht, wenn man den bei § 240 entwickelten weiten Gewaltbegriff bei § 113 einführte), so müßten anstelle der subjektivierten strafrechtlichen Rechtswidrigkeitskriterien bei § 113 aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit verwaltungsrechtliche Rechtswidrigkeitskriterien eingeführt werden. Nach Thiele 2 1 wäre dann auf das Vollstreckungsrecht abzustellen. Der Widerstand auch gegen materiell rechtswidrige, aber vollstreckbare Staatsakte wäre strafbar. Das ist nicht unproblematisch. Wenn die Vollstreckungsregeln den Bürgern Duldungspflichten auch gegenüber materiell rechtswidrigen Staatsakten auferlegen und sie auf den Rechtsweg verweisen, so ist das begründet i m Interesse an der Funktionsfähigkeit der Verwaltung. Das ist, wo die materiell-rechtliche Begründung fehlt, ein bloß pragmatisch-technischer Grund. Er erklärt die Duldungspflicht und den Zwang gegen den Bür19
JZ 1975, 353 ff. Thiele, S. 355 ff.; Paeffgen, S. 522 f. 18 Paeffgen, a.a.O. 19 Dazu Leibfried, K r i t J 1975, 171 f. 20 Die hier geltend gemachte Unterscheidung der Sphären w i r d auch relevant bei der Frage, ob u n d i n w i e w e i t sich Polizisten u n d staatliche Behörden auf die Notrechte der §§ 32, 34 berufen können; dazu u. a. Amelung, N J W 1977, 833 ff. m. w. N. 21 J Z 1975, 355 ff. 17
4. Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte
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ger. Ob aber die materiell rechtswidrige Funktionsfähigkeit der Verwaltung den Bürgern auch noch mittels Strafen einverseelt werden muß, läßt sich bezweifeln 22 . I m übrigen stehen diesem Ansatz die Einwände entgegen, die oben (S. 284 ff.) gegen den weiten Gewaltbegriff bei §113 geltend gemacht wurden. c) Eigene Lösung M i t dem hier vertretenen Gewaltbegriff w i r d u. a. die wirkliche Betroffenheit des Amtsträgers zum Kriterium. Durch Verletzungsgewalt und Freiheitsberaubung ist der konkrete Amtsträger als Person betroffen, und nur daneben ist durch die angestrebte Nötigung auch die Durchsetzung des staatlichen Willens gefährdet. I n dieser Konzeption hat der subjektivierte strafrechtliche Rechtswidrigkeitsbegriff einen Sinn. Es kann daran festgehalten werden. Es w i r d durch dieses Konzept auch nicht das „Faustrecht" wiederbelebt, wie Baumann / Frosch 23 fürchten, denn sowohl faktische als auch gegenwärtig und künftig drohende Verletzungsgewalt als auch freiheitsberaubende Gewalt sind pönalisiert. Der Unwert des Widerstands w i r d bei dem hier vertretenen Gewaltbegriff teilweise auf die Gewalt gegen den Amtsträger verlagert. Dagegen könnte man einwenden, dieser Unwert sei schon i n der zweiten Alternative des § 113 Abs. 1 (tätlicher Angriff) erfaßt. I n der Tat ist m i t dieser Modalität das Unternehmen einer Körperverletzung pönalisiert 24 . Dennoch ergibt sich keine Verdoppelung, denn die erste Alternative betrifft die Situation des Widerstands, der vorsätzlich gegen Diensthandlungen geleistet wird, also eine Variante des § 240, der Gewalt und Nötigung umfaßt. Die zweite Alternative betrifft Angriffe, die gelegentlich einer Amtshandlung geschehen. Dabei kommt es nicht auf die Nötigungswirkung und den diesbezüglichen Vorsatz an 25 . Die zweite A l t e r native ist eine Variante der Körperverletzung 2 6 . Außerdem umfaßt die erste Alternative mehr (Gewalt i m Sinn der Freiheitsberaubung und 22 Ä h n l i c h Tiedemann (JZ 1969, 724 f.) zu § 116 a. F.: keine Strafbarkeit schlichten Ungehorsams. I m Laepple-Fall soll auf Seiten der Demonstranten n u r Ungehorsam vorgelegen haben. I m übrigen soll nach Tiedemann allerdings eine Wertabwägung stattfinden. Das ist nach dem hier vorgeschlagenen Gewaltbegriff nicht nötig. 23 J Z 1970, 117. 24 SK-Horn, § 113 R n 15; nach Schönke / Schröder / Eser, § 113 Rn 46, L K v. Bubnoff (10. Aufl.), § 113 Rn 17, Dreher / Tröndle, § 113 Rn 21 w i r d noch mehr erfaßt. 25 So die h. M.; a. A. S K - H o r n , § 113 Rn 15 (nach dem Gesetzestext ist n ö t i gender Widerstand aber bei der zweiten Alternative gerade nicht erforderlich). 26 Sofern man Schönke / Schröder / Eser, a.a.O., L K - v . Bubnoff, a.a.O. folgt, auch der Freiheitsberaubung.
19 Keller
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V I . Einzelprobleme des Gewaltbegriffs
Drohung m i t künftiger Gewalt) und ist auch insofern von der zweiten Alternative unterschieden. 5. Gefangenenmeuterei Den hier vertretenen Gewaltbegriff auch bei § 121 einzuführen, widerspricht der Rechtsprechung und nahezu der gesamten Lehre 1 . Es soll daher versucht werden, den Gewaltbegriff auch aus § 121 selber zu begründen. Auch bei der Meuterei sind Gewalt und Nötigung auseinanderzuhalten. Schon dabei zeigt sich das zentrale Problem: Täter der Meuterei können nur Gefangene sein; Betroffene können nur Anstaltsbeamte oder ähnliche Personen sein. Wenn nun der Gewaltbegriff formal bleibt (d. h. wie bei § 113 auf das Erfordernis personaler Beeinträchtigung des Beamten verzichtet wird), und wenn das Abgenötigte die Selbst-Befreiung der Gefangenen ist, darf dann die Nötigung überhaupt strafrechtlich ins Gewicht fallen? Ist die Selbstbefreiung der Gefangenen strafbar? Werden Gefangene anders behandelt als sonstige Bürger, deren Selbstbegünstigung straflos ist? Befinden sich Gefangene noch in einem besonderen Gewaltverhältnis 2 , i n welchem sie m i t dem Staatsapparat identisch sind und i n welchem die Behauptung eines Unterschieds zum Staatsapparat, also Selbstbefreiung strafbar ist? Bevor auf die Probleme der Selbstbefreiung genauer eingegangen wird, soll die a) Reichweite des §121 betrachtet werden. Nach h. M. 3 pönalisiert dieser Tatbestand i n Abs. 1 Nr. 1 den tätlichen Angriff auf Anstaltsbeamte u. ä. Personen sowie die sich auf den internen Betrieb beziehende Nötigung und die Nötigung m i t Ausbruchstendenz, i n Nr. 2 die Ausbruchsgewalt gegen sachliche Abschlußeinrichtungen 4 , i n Nr. 3 die gewaltsame Hüfe zum Ausbruch. Bei den Nötigungen gemäß § 121 soll der bei § 240 entwickelte weite Gewaltbegriff uneingeschränkt angewendet werden 6 . Wenn allerdings 1 B G H S t 20, 305 (307); RGSt 2, 80 (81); 49, 429 (430); 50, 85 (86); 55, 67 (69); Schönke / Schröder / Eser, § 121 Rn 8 f.; Dreher / Tröndle, § 121 Rn 6; Knodel, Der Begriff, S. 170; Lackner, § 121 A n m . 5; SK-Horn, § 121 Rn 8; L K - v . B u b noff (10. Aufl.), § 121 Rn 26; Helmke, Der Begriff der Gewalt, S. 67 f. F n 115; anders Calliess, Gewaltbegriff, S. 37 f. 2 Schönke / Schröder / Eser, § 121 Rn 1; vgl. auch L K - v . B u b n o f f (10. Aufl.), § 121 Rn 12. 3 Schönke/Schröder/Eser, § 121 Rn 6 ff.; SK-Horn, § 121 R n 7 ff.; D r e h e r / Tröndle a.a.O. 4 Nach RGSt 55, 67 (68); B G H S t 16, 34 f.; L K - v . B u b n o f f (10. Aufl.), § 121 R n 32 soll die gewaltsame Ausbruchsnötigung von Personen zu Nr. 2 gehören; offengelassen i n B G H S t 20, 305 (307). 5 Siehe oben F n 1.
5. Gefangenenmeuterei
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der Gefangene sich nur gegen Abschlußeinrichtungen wendet, soll erhöhte, nicht beträchtliche Kraftaufwendung erforderlich sein; w i r d ein Riegel m i t einem Stein zurückgeschlagen, ein Gitter m i t einem Schraubenzieher gelöst, so kann das ein gewaltsamer Ausbruch sein 6 . Bei den Beamtennötigungen ist auch solche K r a f t nicht erforderlich, nur passives Verhalten genügt nicht. Was das bedeutet, mag ein vom Bundesgerichtshof 7 entschiedener Fall verdeutlichen: I n der Absicht zu flüchten, stellten sich zwei Untersuchungsgefangene hintereinander an ihrer Zellentür auf. Als der Beamte erwartungsgemäß öffnete, schlüpfte der erste Gefangene i n gebückter Stellung an den Beinen des Beamten vorbei. Der faßte i h n am Mantel. Der Gefangene versuchte vergeblich, sich loszureißen. Dann streifte er den Mantel ab, ließ sich fallen und kroch weiter. Zugleich suchte der zweite Gefangene zu enteilen. Der Beamte packte ihn. Der Gefangene konnte sich jedoch losreißen. Beiden Gefangenen gelang die Flucht. — Laut B G H und der i h m folgenden h. M. ist das Meuterei: drei Monate bis fünf Jahre Freiheitsstrafe. Die Gefangenen haben sich zusammengerottet und den Beamten m i t vereinten Kräften gewaltsam genötigt, so der BGH. Die Entscheidung w a r auf § 122 a. F. gestützt, i n welchem Gewalt noch nicht explizit Tatbestandsmerkmal war 8 . Der B G H hat aber klargestellt, daß er Gewalt bejaht. Das Urteil wäre also zu § 121 n. F. ebenso ergangen. Das entspricht nicht nur dem modernen Gewaltbegriff, sondern auch den älteren. Die Gefangenen haben K r a f t entfaltet und sich aus dem Griff des Vollzugsbeamten losgerissen bzw. loszureißen versucht, also auf den Körper eingewirkt. Sie haben laut B G H auch einen gewaltsamen Ausbruch begangen (§ 121 Abs. 1 Nr. 2). Wer außer dem staatlichen Verwahrapparat w a r hier von „Gewalt" betroffen? Daß der Beamte als Person betroffen sei, wenn sich i h m ein Gefangener entzieht, davon kann nach dem zu § 113 Ausgeführten keine Rede sein; anders natürlich, wenn man auch hier i m enormen Wert der Freiheit die rechtsstaatliche Trennung der Sphären von A m t und Person auflöst. Oder, wenn man den staatlichen Verwahrapparat als freie Person denkt i n Anknüpfung an monarchistische Staatsphilosophie. Von dort aus ließe sich auch ohne Schwierigkeit begründen, warum bei § 121 anders als bei § 113 die Rechtmäßigkeit der Diensthandlung, gegen die sich die Gefangenen bei internen Nötigungen wenden, irrelevant sein soll 9 . 6
Schönke/Schröder/Eser, § 121 R n 11; B G H S t 12, 307 f.; 16, 34 (35); RGSt 49, 429 (431). 7 BGHSt 20, 305 (306 f.). 8 Dazu L K - H ü b n e r (9. Aufl.), § 122 Rn 17. 9 Rechtmäßigkeit soll auch nicht als objekive Bedingung der Strafbarkeit relevant sein. N u r i n Einzelfällen sollen N o t w e h r u n d Notstand zulässig sein, 19*
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V I . Einzelprobleme des Gewaltbegriffs
Sieht man davon ab, so ist i m dargestellten Fall nur der staatliche Vollzug der Strafe beeinträchtigt. Dem sich zu entziehen, sollte aber straflos sein. Der weite Gewaltbegriff, der gleichwohl zu Strafe führt, scheint auch hier einige rechtsstaatliche Differenzierungen durcheinander zu bringen. b)
Zusammenrottung
Die Rechtsprechung weist darauf hin, daß nach dem Tatbestand des § 121 (früher § 122) die Meuterei von der schlichten Selbstbefreiung abgehoben ist durch die Kriterien »zusammenrotten 4 und »handeln m i t vereinten Kräften' 1 0 . Dadurch sei die Nötigung qualifiziert. Aber diese Kriterien erfassen praktisch kaum etwas spezifisches, wie der dargestellte Flucht-Fall zeigt, i n welchem der Bundesgerichtshof Zusammenrottung und Handeln m i t vereinten Kräften ausdrücklich bejahte. Ein Zusammenrotten kann sich schon aus einer Zellengemeinschaft zweier Gefangener ergeben 11 . Zwar kommt es nach dem Gesetz darauf an, daß die Gefangenen „sich zusammenrotten", die h. M. bejaht das Tatbestandsmerkmal aber auch, wenn die Gefangenen durch die Anstalt zusammengerottet worden sind i n einer Gemeinschaftszelle 12 . Die Anstalt selber legt die Zusammenrottung nahe. Das Gefährliche, das das K r i t e r i u m zusammenrotten' erfassen soll, steckt i m Strafvollzug selbst. Er schafft die Gefahr 13 . Wenn man an dieser Tatsache allein die Auslegung des Gesetzes orientiert, dann braucht man eine den ganzen Vollzug umfassende Disziplinierungsstrafdrohung. Die Zusammenrottung muß, so w i r d gesagt, auf bedrohliches Handeln oder auf Gewalttätigkeit gerichtet sein 14 . Ernst genommen wurde diese Formulierung bei §§ 115, 125 a. F. 16 . Dort war die Zusammenrottung allerdings vom normalen Verkehr der Menschen deutlich abzugrenzen, weil es nicht um Gefangene ging. Bei § 121 w i r d die Bedeutung der Formulierung entleert, denn es ist unklar, worauf sich die Drohung richten muß: Wenn nicht notwendig auf Gewalttätigkeit (die ja selbst
Schönke / Schröder / Eser, § 121 Rn 10; L K - v . Bubnoff, § 121 Rn 24. Nach Dreher / Tröndle, § 121 R n 6 soll § 240 Abs. 2 i n Ausnahmefällen anwendbar sein. 10 RGSt 2, 80 (81); B G H S t 4, 396 (400); ebenso L K - v . Bubnoff (10. Aufl.), § 121 Rn 3; Welzel, Lehrbuch § 73 V. 11 B G H S t 4, 396; RGSt 50, 85 (86); 2, 80 (81); L K - v . Bubnoff (10. Aufl.), § 121 R n 14; Schönke / Schröder / Eser, § 121 Rn 4. 12 RGSt 2, 81; 49, 429 f.; 50, 86; zustimmend die h. M. 13 L K - v . Bubnoff (10. Aufl.), § 121 Rn 12. 14 L K - v . Bubnoff (10. Aufl.), § 121 Rn 13; Dreher / Trödle, § 121 Rn 3; RGSt 56, 281 f.; anders S K - H o r n , § 121 R n 5. 15 RGSt 58, 281 f.; B G H N J W 1954, 1694.
5. Gefangenenmeuterei
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ein bedrohliches Handeln ist), dann w o h l auf Gewaltnötigung 1 6 ; aber der Gewaltbegriff der h. M. ist formal und erfaßt auch die schlichte gemeinschaftliche Selbstbefreiung. Eine Tendenz zur Verletzungsgewalt gegen Menschen ist m i t „bedrohlich" nicht gemeint. Das zu fordern, würde dem Gewaltbegriff der h. M. widersprechen, der auch „Gewalt" gegen Sachen umfaßt. Eine Zusammenrottung liegt daher auch vor, wenn zwei Gefangene heimlich die Gitterstäbe durchsägen 17 . Wenn die Zusammenrottung erkennbar bedrohlich sein muß, so bedeutet das nach h. M. auch nicht, daß ein besonderer Eindruck etwa „einer für das Wachpersonal gefährlichen Macht" entstehen müsse 18 . Aber auch zur „Gew a l t " gegen Sachen muß die bedrohliche Zusammenrottung nicht tendieren, denn der weite Gewaltbegriff geht letztlich i n bloßem Zwang auf, so daß der B G H auch dort eine Zusammenrottung annehmen konnte, wo die Gefangenen sich dem Griff des Beamten entzogen bzw. entrissen und die „Zusammenrottung" zunächst einmal heimlich stattfand, dann von dem einzelnen Beamten wahrgenommen wurde 1 0 . Diese Entscheidung und die anderen hier genannten werden zustimmend zitiert auch dort, wo für die Zusammenrottung bedrohliches Handeln und/oder Entschluß zur Gewalttätigkeit verlangt wird 2 0 . Gemeint ist m i t Zusammenrottung letztlich das Zusammentreten i n erkennbarer Absicht zu rechtswidrigem Tun, wobei auch die Erkennbarkeit noch abstrakt gemeint ist, also das Heimliche umfaßt, wie die Rechtsprechung zeigt 21 . Horn 2 2 , der explizit auch noch auf die Erkennbarkeit verzichtet, formuliert nur offen, was sich faktisch m i t dem K r i t e r i u m zusammenrotten* vollzogen hat. A n anderer Stelle hat der B G H festgestellt, daß auch bloß passive Resistenz mehrerer als Zusammenrottung bezeichnet werden kann 2 3 . Dieses K r i t e r i u m präziser zu fassen, ist — und das ist entscheidend — durch den weiten Gewaltbegriff verstellt. Das Problem, daß die schlichte Selbstbefreiung bei § 121 strafbar sein kann, w i r d 16
Nach Dreher / Tröndle, v. Bubnoff, RG (jeweils a.a.O.) ist Gewalttätigkeit eine Alternative des bedrohlichen Handelns, anders Schönke / Schröder / Eser, § 121 Rn 4, dazu sogleich. 17 RGSt 50, 86; vgl. auch RGSt 49, 429 f.; 55, 68; 2, 81; B a y O b L G G A 1966, 280 f. 18 RGSt 55, 68; vgl. auch RGSt 49, 430. 19 B G H S t 20, 305 (306 f.). 20 Schönke / Schröder / Eser, § 121 Rn 4; Dreher / Tröndle, § 121 Rn 3; L K v. Bubnoff (10. Aufl.), § 121 Rn 12 f., 20. Letzterer meint B G H S t 20, 307 liege „ a n der Grenze", w e i l die Gefangenen sich bei der Flucht trennten: der eine kroch am Boden, der andere drängte sich aufrecht an dem Beamten vorbei. Das dürfte nicht der problematische P u n k t sein. Fraglich ist schon, ob hier überhaupt eine bedrohliche Zusammenrottung u n d Gewaltnötigung vorlag; das bezweifelt auch v. Bubnoff nicht. 21 RGSt 53, 305; 55, 68; L K - v . Bubnoff (10. Aufl.), § 121 Rn 13. 22 SK § 121 Rn 5. 23 B G H S t 23, 46 (52).
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V I . Einzelprobleme des Gewaltbegriffs
durch das K r i t e r i u m »Zusammenrottung' also nicht beseitigt. Es steckt i m weiten Gewaltbegriff. (Oder, wenn sich die Drohung auf »Gewalttätigkeit' beziehen soll 24 , i n der Ausweitung dieses Begriffs. Auch er wurde inzwischen derart entleert, daß die schlichte Selbstbefreiung strafbar werden kann: dann nämlich, wenn ein Aufsichtsbeamter beiseite gedrängt oder ein Gitter m i t erhöhtem (nicht beträchtlichem) Kraftaufwand umgeworfen wird 2 6 .) Auch das K r i t e r i u m ,mit vereinten Kräften' ändert daran nichts, denn es bezieht sich ebenfalls auf die Gewaltnötigung und besagt nur, daß sie aktiv und von Mitgliedern der Zusammenrottung begangen werden muß. Es weitet die Grenzen der Mittäterschaft also aus 26 . Eine schlichte Selbstbefreiung w i r d aber nicht dadurch strafbar, daß sie aktiv und mittäterschaftlich durchgeführt wird, wie die Rechtsprechung an anderer Stelle betont 27 . c) Strafbarkeit
der Selbstbefreiung?
I m oben dargestellten Fall der beiden U-Häftlinge ist durch deren Ausbruch nichts beeinträchtigt als der „amtliche Gewahrsam". Wenn dieser bei § 121, der nur Gefangene betrifft, ein angemessenes Rechtsgut wäre 2 8 , so wäre die bloße Selbstbefreiung strafbar. Nun sind i m allgemeinen nicht alle Handlungen, durch die jemand sich der Strafe entzieht, straflos 29 . Wo die Selbstbegünstigung zugleich i n fremde Rechtsgüter eingreift, w i r d z. T. nur eine Minderung des Unrechts und/oder der Schuld anerkannt — m i t Grund, denn dabei beeinträchtigt der Täter mehr als seine eigene Strafverfolgung. Folglich w i r d die These, daß die schlichte Selbstbegünstigung straflos ist? 0, davon nicht berührt 3 1 . Wie sie i m einzelnen zu begründen ist, ist nicht ganz geklärt. Ulsenheimer weist auf psychologische und Schulderwägungen hin 8 2 . 24
Schönke / Schröder / Eser, § 121 Rn 4. B G H S t 23, 53. 26 Schönke / Schröder / Eser, § 121 Rn 5. 27 B G H S t 17, 369 (373 ff.); O L G Celle N J W 1961, 263 f.; Schröder, ebd. S. 264 f. 28 So Schönke / Schröder / Eser, § 121 R n 1; S K - H o r n , § 121 Rn 2; anders B a y O b L G G A 1966, 280. 29 Ulsenheimer, G A 1972, 1 ff. 30 B G H S t 4, 396 (400). 31 Den wenigen Tatbeständen, die die Selbstbegünstigung strafschärfend berücksichtigen (vgl. Ulsenheimer, S. 7), liegt ebenfalls eine Fremdschädigung oder Gefährdung zugrunde; auch sie sind m i t der schlichten Selbstbegünstigung nicht vergleichbar. I m übrigen sind diese Strafschärfungsfälle u m s t r i t ten; vgl. Otto, ZStW 83, 39, 67 ff.; § 100 Abs. 2 Nr. 5 A E StGB, Begr. S. 19; § 135 E 1962, Begr. S. 273; Simson / Geerds, Straftaten gegen die Person, S. 31; B V e r f G N J W 1977, 1525 (1534). 32 S. 2 ff., 23. 25
5. Gefangenenmeuterei
295
Man könnte sie auch i m Zusammenhang des Prozeßrechts und des Verfassungsrechts sehen. Daß ein Täter, der nichts als seine eigene Bestrafung verhindert, nicht dafür noch bestraft werde, ist i n den Beschuldigtenrechten des Strafprozesses ein Stück weit anerkannt. Der Beschuldigte darf die Aussage verweigern, er darf Zeugen aktiv dazu überreden, von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch zu machen, und sich dazu auch noch eines Verteidigers bedienen 33 . Er darf auf mancherlei Weise der Verwirklichung des rechtmäßigen Strafanspruchs entgegenwirken. Allerdings stehen diese Rechte nur dem Beschuldigten zu und nicht dem „Täter", sie bestehen nur vor dem rechtskräftigen Urteil, das die Freiheitsstrafe begründet, und vor der richterlichen Anordnung, die die U-Haft begründet. Und daß der Beschuldigte lügen kann, w i r d nicht als ein Recht anerkannt 9 4 . Interessant ist gleichwohl die Begründung dieser Rechte und Möglichkeiten. Das Aussageverweigerungsrecht w i r d nicht nur aus der Rücksicht auf die Psychologie des Beschuldigten zu erklären sein und das Recht, sich einen Verteidiger zu wählen, um die eigene Verurteilung zu verhindern, w i r d nicht nur aus der möglichen Fehlsamkeit des Richters zu erklären sein. Es steckt darin wohl der Respekt vor dem der Strafgewalt Unterworfenen als einem anderen Menschen, der sich nicht m i t dem staatlichen Strafanspruch identifizieren muß, auch wenn dieser zu Recht besteht. Das könnte man mit dem Freiheitsgrundrecht erklären. Allerdings ist Freiheit nur i m Rahmen des Rechts garantiert. Das Recht muß aber auch Widersprüche respektieren. Das Freiheitsgrundrecht i. V. m. A r t . 1 GG bedeutet, daß Menschen als andere, nicht zu vereinnahmende Subjekte respektiert werden müssen. Auch die Durchsetzung des Strafrechts findet hier ihre Grenzen, wie die strafprozessuale Stellung des Beschuldigten zeigt 35 . Von diesem Grundsatz aus könnte auch die Straflosigkeit der Selbstbefreiung erklärt werden. Es ginge darum, daß niemandem die physische und moralische Selbsterhaltung streitig gemacht wird. Durch den Strafvollzug werden die Gefangenen intensiv spürbar gezüchtigt und getadelt für begangenes Unrecht. Gefangene, die sich befreien, verweigern sich der Züchtigung und dem Tadel. Daß dies verhindert werden darf, ist unstreitig. Z u fordern wäre aber, daß niemand gezwungen wird, sich selbst der Züchtigung und dem Tadel zu unterwerfen. A u f Seibsiunterwerfung aber sind Strafen gerichtet, das unterscheidet sie von anderen Sicherungsmaßnahmen. Sie zielen auf Verinnerlichung. Strafdrohungen für Selbstbefreiung würden es zu einer zu verinnerlichenden Norm machen, daß man sich der gegen einen selbst gerichteten Züchtigung und dem Tadel 33 M 35
Roxin, Strafverfahrensrecht, S. 98. Streitig, vgl. Roxin, Strafverfahrensrecht, S. 130. B G H S t 14, 358 (365).
296
V I . Einzelprobleme des Gewaltbegriffs
selbst unterwirft. Eine Ordnung, die die Bürger mittels Strafen zu einer solchen, recht weitgehenden physischen und moralischen Selbstaufgabe zwänge, tendierte bedenklich zur Dressur. Sie würde den Menschen die Eigenständigkeit i n verfassungsrechtlich fragwürdiger Weise absprechen. Das betrifft nur die Straflosigkeit der schlichten Selbstbefreiung, die nichts als die eigene Bestrafung verhindert. Diese Erklärung ist gewiß bestreitbar. Auch wenn man ihr nicht folgt und psychologische oder Schulderwägungen bevorzugt, besteht aber kein Anlaß, vom Grundsatz der Straflosigkeit der schlichten Selbstbegünstigung und Selbstbefreiung abzugehen. Er w i r d gegenwärtig auch nirgends prinzipiell i n Frage gestellt. Für die Strafbarkeit der Selbstbefreiung kann auch nicht das Vollzugsziel der Behandlung des Gefangenen (§ 2 StVollzG) geltend gemacht werden 36 , denn den Gefangenen obliegt keine Behandlungspflicht (§ 4 StVollzG) 37 . Wenn nun Gefangene durch Zwang gegen den Vollstreckungsapparat (ohne weitere Rechtsgutsverletzungen) sich diesem entziehen, so ist das schlichte Selbstbefreiung. Auch Rechtsprechung und Lehre zu § 120 erkennen an, daß die schlichte — auch die gemeinschaftliche — Selbstbefreiung straflos ist 38 . Bei der Auslegung des Gewaltbegriffs i n § 121 w i r d gleichwohl das Gegenteil unterstellt. Hier w i r d die Selbstbefreiung als das strafwürdige Essential der Meuterei bewertet. Der Widerspruch zeigt sich, wenn man die schlichte Selbstbefreiung genauer betrachtet: Sie macht die Gefangenhaltung durch den Vollstreckungsapparat unmöglich. Sie macht — i m Kontext der Nötigung formuliert — den dauernden planmäßigen Widerstand des Vollstreckungsapparats gegen die Fortbewegung der Gefangenen unmöglich. Selbstbefreiung ist also immer Nötigung 3 9 . Sie muß straflos sein, wenn Selbstbefreiung straflos ist. Der nur den Vollstreckungsapparat nötigende Zwang zwecks Selbstbefreiung ist demnach straflos. Dieser Grundsatz w i r d auf den Kopf gestellt, wenn bei § 121 ein Gewaltbegriff gebildet wird, der seine 36 So aber O L G München v. 23. 5. 78 — 1 Ws 335/78 allerdings n u r bezüglich Disziplinarmaßnahmen f ü r Selbstbefreiung. 37 Calliess / Müller-Dietz, StVollzG § 4 Rn 3 f., § 102 Rn 2 ff.; K a i s e r / K e r ner/Schöch, Straffvollzug, S. 74; A G Zweibrücken N J W 1979, 1557. 38 B G H S t 17, 369 (373 ff.); O L G Celle JZ 1961, 263 f. m. A n m . Schröder, ebd. S. 264 f.; O L G H a m m N J W 1961, 2232; Ulsenheimer, S. 19; Schönke / Schröder / Eser, § 120 Rn 9; einschränkend bezüglich Gemeinschaftlichkeit noch B G H S t 4, 396 (400 f.). 39 Die von Geilen (Festschrift f ü r Mayer, S. 460 ff.) u n d Haffke (ZStW 84, 62 f.) vorgeschlagenen Eingrenzungen betreffen n u r die (qualifizierte) Gewaltnötigung. Daß bei der Flucht eine unqualifizierte Nötigung vorliegt, dürfte nicht zu bezweifeln sein (vgl. Geilens Festnahmebeispiel, S. 462). Nach K n ö dels Definition (Der Begriff, S. 59) liegt übrigens, w e n n Gefangene flüchten, Gewaltnötigung vor, wie Geilen zeigt. Wenn Knodel (S. 168 f.) annimmt, bei der Manipulation an Abschlußeinrichtungen liege keine Gewaltnötigung vor, so widerspricht das seiner eigenen Definition.
5. Gefangenenmeuterei
297
Legitimation darin hat, daß selbstbefreiender Zwang umfassend zu kriminalisieren sei. Der weite Gewaltbegriff ist i m Zusammenhang des § 121 widersinnig. Man könnte einwenden, die Straflosigkeit der schlichten Selbstbefreiung müsse nicht notwendig gerade beim Gewaltbegriff berücksichtigt werden; sie könne auch an systematisch anderer Stelle eingeführt werden. Das träfe zu, wenn § 121 wie § 120 ein „Jedermannsdelikt" wäre. Dann dürfte die Straflosigkeit der Selbstbefreiung nicht schon bei der Bestimmung der (Befreiungs-)Handlung berücksichtigt werden. § 121 pönalisiert aber ein Sonderdelikt. Er betrifft als Täter nur Gefangene und deren Verhältnis zum Vollstreckungsapparat. Der auf Befreiung gerichtete Zwang ist, wo es allein um dieses Sonderverhältnis geht, schon als Handlung nicht das eigentlich Strafwürdige 4 0 . Deshalb ist der weite Gewaltbegriff, der den Zwang als das eigentlich Strafwürdige bewertet, bei § 121 schon i m Ansatz fragwürdig. Er verfehlt die i n diesem Sonderbereich gebotene Bewertung. Es ist nicht nur eine Frage der Verbrechenssystematik, sondern führt, wie die oben dargestellte BGHEntscheidung zeigt, zu überzogener Kriminalisierung, wenn man davon ausgeht, die Selbstbefreiung sei das strafwürdige Essential der Meutereihandlung. Daran kann wie gezeigt auch das K r i t e r i u m Zusammenrottung' nichts mehr ändern, denn die Auslegung dieses Kriteriums w i r d vom Gewaltbegriff beeinflußt, w e i l die Zusammenrottung auf Gewalt gerichtet sein muß. Schließlich widerspricht es auch dem immanenten Begründungszusammenhang des weiten Gewaltbegriffs selber, i h n bei § 121 einzuführen. I m allgemeinen w i r d der weite Gewaltbegriff vertreten m i t dem Vorbehalt, er könne den Besonderheiten der Einzeltatbestände angepaßt werden 41 . Der B G H hat ausdrücklich gefordert, das tatbestandliche Ziel der Gewalt bei der Begriffsbildung zu berücksichtigen 42 . Bei § 121 w i r d die Straflosigkeit des tatbestandlichen Gewaltzieles, die Selbstbefreiung, nicht berücksichtigt, vielmehr als Strafgrund bewertet. Das Problem liegt beim weiten Gewaltbegriff, der die Selbstbefreiung als das strafwürdige Essential bei § 121 bewertet und damit deren prinzipielle Straflosigkeit folgenreich verfehlt. Fazit: Nach der auf Identifikation m i t der Strafvollstreckung gerichteten Konzeption der h. M. sollen Gefangene die selbstlosesten Wesen i n dieser Gesellschaft sein, und diese Selbstlosigkeit w i r d m i t Strafen 40 Daß das Recht der staatlichen Instanzen, die Selbstbefreiung zu v e r h i n dern, dadurch nicht tangiert ist, dürfte k l a r sein. Es geht n u r u m die Strafwürdigkeit. 41 B G H S t 23, 46 (49); L K - v . Bubnoff (10. Aufl.), § 113 Rn 14; Schönke / Schröder / Eser, § 113 Rn 42, Rn 19 vor § 234; Knodel, Der Begriff, S. 162. 42 B G H S t 23, 49; L K - v . Bubnoff (10. Aufl.), § 113 Rn 14.
298
V I . Einzelprobleme des Gewaltbegriffs
durchgesetzt. Das ist eine psychologisch und verfassungsrechtlich fragwürdige Konzeption. Sie enthält Züge des früheren „besonderen Gewaltverhältnisses" 43 , welches den Bürgern die Eigenständigkeit nahm und sie dem staatlichen Innenraum eingliederte. Nachdem das BVerfG festgestellt hat, daß auch die Gefangenen Grundrechte haben 44 , sich also nicht i n einem Zustand der Selbstentäußerung befinden, besteht kein Anlaß, sie anders zu behandeln als sonstige Bürger, deren Selbstbegünstigung straflos ist. d) Anstaltsinterne
Gewaltnötigung
(ohne Ausbruchstendenz)
Dazu gilt zunächst das zum Rechtsgut Freiheit, zum allgemeinen Gewaltbegriff und zu § 113 ausgeführte. Spezielle Probleme mag ein Beispiel zeigen: Z w e i Gefangene i n einer Gemeinschaftszelle werden am Abend zum fünften Mal vom Aufsichtsbeamten aufgesucht; darauf drängen sie i h n gemeinsam aus der Zelle — nach h. M. Meuterei. Bei der Beurteilung des Falles sollte berücksichtigt werden, daß das Leben der i n der Vollzugsanstalt Gefangenen perfekt vermittelt ist durch die Anstalt. Annähernd jede Lebensäußerung vom morgendlichen Aufstehen über das Waschen, Arbeiten, Pausieren, Essen, i m Freien Herumgehen, Kontakte m i t anderen Menschen, Freundlichkeit, Offenheit, Verschlossenheit, Eigensinn, Unlust, Zellenausstattung, Fernsehen, Lektüre, Schlafengehen, das nächtliche Schweigen . . . alles ist mehr oder weniger deutlich durch die Anstalt gesteuert, registriert, kontrolliert. Die Anstalt ist i n jeder Lebensäußerung des Gefangenen präsent, sie ist Teilhaber seines Lebens. Jede Nötigung gegen Anstaltsbeamte ist ein Stück weit Widerstand gegen diesen Zustand der Unfreiheit, d. h. gegen die Gefangenschaft, welche conditio sine qua non der latent totalen Kontrolle ist. Diese Verfügungsmöglichkeit der Anstalt über die Gefangenen ohne zusätzliche Kriterien durch Strafen zu verstärken, würde wiederum die Identifikation der Gefangenen m i t der Vollzugsanstalt zu einer zu verinnerlichenden Norm erklären. Solche Identifikationsnorm wäre gegenüber den Eingesperrten psychologisch und rechtsstaatlich noch fragwürdiger als gegenüber Normalbürgern, denn es beanspruchte eine latent totale Institution die Verinnerlichung durch die Betroffenen. Anstaltsinterne Widerstände der Gefangenen (Nötigungen) sollten daher nur pönalisiert werden, wenn sie qualifiziert sind.
43
Das besondere Gewaltverhältnis soll Rechtsgut des § 121 sein nach Schönke / Schröder / Eser, § 121 R n 1; vgl. auch L K - v . Bubnoff (10. Aufl.), § 121 R n 12. 44 BVerfGE 33, 1 ff. = J Z 1972, 359 ff. m. A n m . Starck. Z u m besonderen Gewaltverhältnis des StroffVollzuges: Keller, Z u r Rechtslage der Strafgefangenen. I n : Wege zum Menschen 1976, 112 ff.
5. Gefangenenmeuterei
299
Der hier vertretene enge Gewaltbegriff hat demnach als Bestimmung des NötigungsVerfahrens auch bei § 121 einen angemessenen Stellenwert. Er pönalisiert nur Nötigungen, die zugleich die Anstaltsbeamten persönlich treffen, die quasi das „Grundverhältnis" der Anstaltsbeamten tangieren. Er kriminalisiert nicht umfassend den Widerstand gegen die Sondersituation der Gefangenschaft. Das K r i t e r i u m des bedrohlichen Zusammenrottens kann hier entsprechend der effektiven Gefährlichkeit der Gewalt sinnvoll spezifiziert werden. Nicht unter dem engen Gewaltbegriff erfaßte Nötigungen verletzten nur die »Sonderordnung, der die Gefangenen unterworfen sind. A u f solche Nötigungen kann ggf. m i t den vollzugsspezifischen Maßnahmen der §§ 84 ff., 94 ff., 102 ff. StVollzG reagiert werden. e) Weiter Gewaltbegriff
und Strafvollzug
Bemerkenswert ist auch das Verhältnis der auf Identifikation gerichteten Idealkonzeption der h. M. zur Realität des Vollzuges. Die Anlässe zu besonderer Selbstlosigkeit gegenüber dem Staatsapparat sind dort seltener als außerhalb. Die eingesperrten Menschen sind eher gereizt, sie reagieren unflexibler, die kurzschlüssige Auflehnung liegt näher. Die Idealordnung, die nach h. M. diesem Zustand entgegengestellt wird, kann i h n allenfalls verschärfen i m Sinn einer beständigen Disziplinierung. Interne Nötigungen, wie sie nach h. M. pönalisiert werden sollen, kommen i m Vollzug fast täglich vor. Nach dem Legalitätsprinzip müßte eine dauernde Zusatzkriminalisierung der Gefangenen stattfinden. Sie findet faktisch nicht statt. Bestrafungen sind relativ selten. Aber der von Schüler-Springorum 45 kritisierten gefährlichen „Übersicherung" des Vollzugs entspricht gemäß § 121 eine latente Überkriminalisierung, wenn man der herkömmlichen Auslegung folgt. Auch hier geht es nicht so sehr u m die wenigen w i r k l i c h verhängten Strafen, sondern um die umfassende Latenz der Kriminalisierung, die Drohpolitik i m Strafvollzug, die es der Anstaltsleitung erspart, sich auf die Probleme der Gefangenen gründlich einzulassen. Man kann den aufflackernden Funken „alsbald austreten" (v. Bubnoff). f) Zusammenfassung Der hier vorgeschlagene restriktive Gewaltbegriff legt diese Probleme weniger nahe. Das Verhältnis der Einzeltatbestände ist entsprechend den verschiedenen Gewaltsituationen zu bestimmen 46 : Nach Abs. 1 Nr. 1 45
Strafvollzug i m Übergang, S. 181 ff. Z u m folgenden: Calliess, Gewaltbegriff, S. 38; ähnlich L K - v . Bubnoff (10. Aufl.), § 121 Rn 32; B G H S t 16, 34 (35), die allerdings den weiten Gewaltbegriff zugrundelegen; vgl. auch B G H S t 20, 305 (307). 46
300
V I . Einzelprobleme des Gewaltbegriffs
sind neben dem tätlichen Angriff nur anstaltsinterne Gewaltnötigungen pönalisiert, nach Nr. 2 der Ausbruch mittels Gewaltnötigung, nach Nr. 3 die gewaltsame Ausbruchshilfe. Daß nach dieser Einteilung die allgemeine Drohung nur bei internen Nötigungen, nicht beim Ausbruch mittels Nötigung pönalisiert ist, läßt sich erklären aus der situativen Differenz. Da es den Gefangenen beim Ausbruch unmittelbar und gezielt um ihre Freiheit geht, w i r d ihr diesbezügliches Verhalten weniger umfassend bestraft. 6. Gewalttätigkeit a) Gewalt und Gewalttätigkeit Die Tatbestandsmerkmale ,Gewalt' und ,Gewalttätigkeit* haben eine gemeinsame Wurzel 1 . Sie sind entwickelt aus dem crimen vis, einem Delikt gegen öffentliche Sicherheit und Frieden. Lange Zeit wurden sie als Synonyma oder zumindest als Worte m i t ähnlicher Bedeutung aufgefaßt 2 . So meinte v. Liszt 3 zur Gewalt, sie sei „stets gewalttätige Einw i r k u n g auf die Substanz, stets Gewalttätigkeit, niemals an sich Einw i r k u n g auf den Willen oder Zwang"; ähnlich noch Welzel 4 zur Gewalttätigkeit: sie ist „physische gegen die Person gerichtete Gewalt, auch ohne schädigenden Erfolg". Das wichtigste gemeinsame K r i t e r i u m beider war die Kraftentfaltung des Gewalttäters gegen Menschen oder Sachen. Durch die Entfaltung physischer Kraft kann i n der Tat — jedenfalls i n einfachen Gesellschaften — das Vertrauen der Bürger i n die Stabilität der Verhältnisse, insbesondere der Staatsgewalt, also die öffentliche Sicherheit erschüttert werden 6 . Durch die ,moderne' Orientierung des Gewaltbegriffs auf Individualfreifreit wurde er von der Bestimmung der Gewalttätigkeit abgelöst, die weiterhin auf öffentliche Sicherheit bezogen blieb. Seitdem w i r d ein fundamentaler Bedeutungsunterschied der Worte ,Gewalt' und »Gewalttätigkeit' behauptet 6 . Nach Knodel besteht „keinerlei Zusammenhang". Das ist Konsequenz des Vorrangs der Willensschutzteleologie vor dem Gesetzeswortlaut. Nach dem Wortlaut ist Gewalttätigkeit nichts als eine besonders aktive Form der Gewalt. A u f weitere Zusammenhänge w i r d noch einzugehen sein. 1 Vgl. Grolman, Grundsätze (2. Aufl.), § 230; Tittmann, Handbuch §§ 229 ff.; Wächter, Neues A r c h i v des Criminalrechts, 11. Bd. (1830), 635 ff. u n d oben I V . 1. e), f). 2 Vgl. RGSt 45, 153 (156); 52, 34 f. 3 Lehrbuch, S. 336. 4 Deutsches Strafrecht § 73 V 4. 5 Siehe oben S. 99, 108 f. 6 Schönke / Schröder / Lenckner, § 125 E n 4; L K - v . B u b n o f f (10. Aufl.), § 125 R n 22; Knodel, Der Begriff, S. 177; k r i t . Calliess, Begriff der Gewalt, S. 21.
6. Gewalttätigkeit
301
Wenn nach der hier vorgeschlagenen Konzeption die Gewalt zunächst unabhängig vom Zwangszweck als besonderes Verfahren zu bestimmen ist, so müßte der vom Wortlaut nahegelegte und historisch anerkannte Zusammenhang hier wieder zur Geltung kommen, denn auch Gewalttätigkeit kann nicht instrumenten bestimmt werden. Ob freilich der Zusammenhang wie früher auf der Ebene der Gefährdung öffentlicher Sicherheit herzustellen ist, w i r d zu prüfen sein. U. K l u g 7 hat den Zusammenhang der beiden wortverwandten Tatbestandsmerkmale neuerdings wieder betont. Er w i l l das Wort ,Gewalt' überhaupt durch »Gewalttätigkeit' ersetzen. Freilich gibt es auch i n dem teleologisch am Willensschutz orientierten Gewaltbegriff einen verdeckten Zusammenhang m i t der Bestimmung der Gewalttätigkeit. Wie erwähnt ist die Pönalisierung der Gewalt dort, wo sie am extensivsten die Individualfreiheit schützen soll, neuerdings wieder beim Bezug auf die öffentliche Sicherheit angekommen (freilich subtiler und weniger kontrolliert), denn die äußere Willensfreiheit aller, wenn man sie so naturalistisch formal versteht und schützt wie z. Z. üblich, ist nichts als ein Etikett des kasuistisch bestimmten öffentlichen Friedens. Entgegen der Bekundung von „keinerlei Zusammenhang" gibt es also wieder Parallelen i m Verständnis von Gewalt und Gewalttätigkeit. Die Zusammenhänge liegen freilich jenseits der Definition von Tatbestandsmerkmalen. A u f dieser Ebene w i r d betont, daß Gewalttätigkeit i m Unterschied zur Gewalt nicht instrumenten auf Freiheitsbeeinträchtigung zielt®; sie ist als tatbestandliche Handlung zwecklos wie etwa das demonstrative Verprügeln von Personen, das Zerstören von Sachen. Gewalttätigkeit ist expressiv; das entspricht ihren tatbestandlichen Zusammenhängen. Sie kommt i n Delikten m i t Öffentlichkeitsbezug vor. Die Bestimmungen der Gewalttätigkeit sind auch heute noch oft konzentriert auf die Kraftentfaltung gegen Menschen oder Sachen9. Seit BGHSt 23, 46 (52 f.) aber setzt sich daneben oder statt dessen das Merkmal Aggressivität' durch. Körperverletzung, Sachbeschädigung oder auch nur eine Berührung oder Gefährdung von Menschen oder Sachen sollen nicht erforderlich sein. b) Rechtsprechung und Literatur Das Errichten von Barrikaden, das behindernde Stehen oder Lagern auf Straßen oder Gleisen (Streikposten vor Werkstoren, Sitzstreik) 7
SA-Protokolle, V I , S. 187, 194 f. Knodel, Begriff, S. 172 ff.; L K - v . Bubnoff (10. Aufl.), § 125 Rn 22 ff. 9 L K - v . Bubnoff (10. Aufl.), § 125 Rn 22 ff.; Schönke / Schröder / Lenckner, § 125 Rn 6. 8
302
V I . Einzelprobleme des Gewaltbegriffs
wurden als Gewalttätigkeit pönalisiert 10 . Auch das Bewerfen m i t Puddingpulver oder Konfetti soll darunter subsumiert werden können 11 . Besonders i m Zusammenhang der justiziellen Bearbeitung politischer und sozialer Unruhen (nach dem 1. Weltkrieg; i n der Auseinandersetzung m i t der „außerparlamentarischen Opposition") wurde die Pönalisierung der Gewalttätigkeit ausgeweitet 12 . Z. B.: eine Menschenmenge war i n einen Bäckerladen eingedrungen, einige Eindringlinge nahmen Brote weg — Gewalttätigkeit 1 3 ; eine „Arbeiterrotte" zog vor ein m i l i tärisches Wachgebäude und verlangte erfolgreich die Herausgabe von Waffen — Gewalttätigkeit 1 4 ; i n einer Menschenmenge trommeln einzelne m i t den Fäusten gegen einen Omnibus — Gewalttätigkeit 1 5 ; ebenso wenn ein Mensch i n einen Raum eingesperrt w i r d 1 6 . Allerdings hat der B G H 1969 klargestellt, daß der Sitzstreik mangels Aggressivität nicht gewalttätig ist 1 7 ; wohl aber ist danach die Gewalttätigkeit des Landfriedensbruchs vollendet durch einzelne, die — ohne selbst i n der Menschenmenge anwesend zu sein 18 — m i t Eventualvorsatz Beihilfe leisten, wenn ein Polizeibeamter durch Mitglieder der Menge weggedrängt oder ein Gegenstand umgeworfen w i r d 1 9 . Nach dem A G München 20 dürfte auch das Bemalen eines Gegenstandes genügen. 10 B G H 2 StR 291/60 v. 13. 6. 60 (zit. nach L K - v . Bubnoff (10. Aufl.), § 125 R n 25; O L G K ö l n N J W 1970, 260; O L G Celle N J W 1970, 206; LK-Schäfer (9. Aufl.), § 124 Rn 11; Dreher / Tröndle, § 124 Rn 7; Preisendanz, § 125 Anm. 2 a; anders: Schönke / Schröder / Lenckner, § 125 R n 7; Lackner, § 125 A n m . 2 b; Kreuzer, N J W 1970, 670; SK-Rudolphi, § 125 Rn 8; Tiedemann, J Z 1969, 717 (720). — Z u r Blockade durch Menschen: B a y O b L G N J W 1955, 1806 f.; JZ 1969, 472 m. A n m . Schwarck; N J W 1969, 1495; O L G Celle N J W 1970, 206; Eb. Schmidt J Z 1969, 395; Janknecht, G A 69, 37; ähnlich RGSt 45, 153 (154); vgl. auch Martin, Festschrift f ü r B G H S. 211 (222); anders: L K - v . Bubnoff, § 125 R n 25; Dreher / Tröndle, § 124 R n 7; Schönke / Schröder / Lenckner, § 125 R n 7; Stöcker, JZ 1969, 396; Tiedemann, JZ 69, 720; SK-Rudolphi, § 125 Rn 8; K r e u zer, N J W 70, 670; Ott, N J W 1969, 454 (456). 11 L K - v . Bubnoff (10. Aufl.), § 125 Rn 25; vgl. auch LK-Schäfer, § 124 R n 11. 12 Das justizielle Engagement zeigt eindrucksvoll Hübner ( L K [9. Aufl.], Vorbem. zu § 125): w e r „eilfertig" das Demonstrationsstrafrecht einschränken w i l l , sieht sich dort „dem Verdacht ausgesetzt" „strafrechtliche Notwendigkeiten" „politischem Zweckmäßigkeitsdenken" zu opfern. Dem Grundrecht auf Meinungsfreiheit stehe der „Rechtsfriede" als Rechtsgut gleich, w e i l er „dem Staatsbürger" ebenso teuer sei. Da von „Rechtsfrieden" — was auch immer das sei — als Grenze der Meinungsfreiheit i m GG nicht die Rede ist, dürfte es sich u m eine jener (unpolitischen) strafrechtlichen Notwendigkeiten handeln. 13 RGSt 52, 34 f.; zustimmend Dreher / Tröndle, § 124 Rn 7; Knodel, Der Begriff, S. 177 F n 42; OGHSt 2, 212; LK-Schäfer, § 124 R n 11. " RGSt 54, 89. 15 B a y O B L G N J W 1969, 64. w LK-Schäfer, § 124 Rn 11. 17 B G H S t 23, 46 (51 ff.). 18 L K - v . Bubnoff (10. Aufl.), § 125 R n 7; Dreher / Tröndle, § 125 Rn 5; anders Blei, J A 1970, 618; Lackner, § 125 A n m . 3 a. 19 BGHSt 23, 51; Preisendanz, § 125 A n m . 2 a; zweifelnd: L K - v . Bubnoff,
6. Gewalttätigkeit
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Die Interpretation des Terminus »Gewalttätigkeit 4 als Kraftentfaltung oder Aggressivität gegen Menschen oder Sachen versteht Gewalttätigkeit als einen Fall der Gefährdung von öffentlicher Sicherheit. Diese ist Bezugsrahmen der Begriffsbestimmung. Das w i r d zwar nicht immer programmatisch ausgesprochen. Nach v. Bubnoff 2 1 sollen vielmehr durch Gewalttätigkeiten Individualrechtsgüter betroffen sein. Aber ohne den Bezug auf öffentliche Sicherheit als Rechtsgut ist nicht verständlich, warum generell ,aggressives Verhalten' als Gewalttätigkeit pönalisiert werden soll, ohne daß i n irgendeiner Weise festgelegt wäre, welche und wessen Rechtsgüter beeinträchtigt oder bedroht werden müssen. Außer der These, bloße Passivität genüge nicht, bleibt auch offen, welche spezifische Form der Aggressivität i m Verkehr der einzelnen durch die Strafdrohung verhindert werden soll, was überhaupt der Sinn der Pönalisierung von Aggressivität ist, was das Verwerfliche daran ist I n Teilen der Kommentarliteratur 2 2 w i r d die frühere Rechtsprechung weitgehend auch unter dem neueren K r i t e r i u m »aggressiv' tradiert. Faßt man die tradierte Kasuistik (siehe das oben Referierte) zusammen, so ergibt sich: aggressiv kann sein die Beeinträchtigung oder abstrakte Gefährdung von Leben, Gesundheit, Freiheit, Eigentum, Staat und Staatswille — kurz: Gefährdung der öffentlichen Sicherheit. Der äußerst unbestimmte Terminus ,aggressiv' fungiert genaugenommen nur als andere Bezeichnung für die ebenso unbestimmte öffentliche Sicherheit. Sie w i r d daher neuerdings auch ausdrücklich als das alleinige Rechtsgut des § 125 bezeichnet 23 . Freilich kann man hinsichtlich der Kriterien der Gewalttätigkeit unterscheiden: Das ältere K r i t e r i u m ,Kraftentfaltung' ist mehr formal an den Erscheinungen orientiert. Seine Unbestimmtheit liegt i m quantitativen Maß der Kraftentfaltung. Der moderne Terminus »Aggressivität' thematisiert die soziale Bedeutung des Handelns i n vielfacher Hinsicht. Es w i r d Qualitatives i n die Interpretation unvermittelt eingebracht. Entsprechend weit ist die Unbestimmtheit dieses Kriteriums. I m heutigen Sprachgebrauch läßt sich kaum bestimmen, was nicht aggressiv ist. Deshalb dürfte bei der Konkretisierung des Kriteriums ,aggressiv' der a.a.O.; k r i t . zum B G H Schönke / Schröder / Lenckner, a.a.O.; Eilsberger, JuS 1970, 164 (165 f.); SK-Rudolphi, § 125 Rn 5. Z u r Mittäterschaft durch bloße Anwesenheit vgl. B G H v. 14. 11. 78 — 1 StR 282/78 — zit. bei Dreher / Tröndle § 125 Rn 5. 20 K r i t J 1968, 73 (76). 21 L K (10. Aufl.) § 125 Rn 1; SK-Rudolphi, § 125 R n 2. 22 Vgl. Dreher / Tröndle, § 124 R n 7; LK-Schäfer, § 124 Rn 10 f.; zurückhaltender L K - v . Bubnoff (10. Aufl.), § 125 Rn 22 ff.; Lackner, § 125 A n m . 3 b; p r i n zipiell anders Schönke / Schröder / Lenckner, § 125 Rn 4 f. 23 Lackner, § 125 A n m . 1; „ i m wesentlichen" ebenso Schönke / Schröder / Lenckner, § 125 R n 3 (anders noch Cramer i n der 18. A u f l . v o n Schönke/ Schröder); SK-Rudolphi, § 125 Rn 2; L K v. Bubnoff (10. Aufl.), § 125 R n 22 ff.
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V I . Einzelprobleme des Gewaltbegriffs
ungebrochene Durchgriff auf den Schutz der öffentlichen Sicherheit die Regel sein. Dann aber geht ,Gewalttätigkeit 9 in der ,Gefährdung der öffentlichen Sicherheit' — in § 125 unterschiedene Tatbestandsmerkmale — tendenziell auf. Diese Interpretation ist ebenso fragwürdig wie die Auflösung des Gewaltbegriffs i m Zwangserfolg. Eine andere Interpretation bestimmt die »Gewalttätigkeit 4 unter dem Aspekt der Gefährdung der Körperintegrität von Menschen und der Integrität von Sachen. Diese Konzeption wurde schon früh von Heilborn 2 4 dargestellt, heute w i r d sie u. a. i m Kommentar Schönke / Schröder 2 5 vertreten. Auch hier muß eine Körperverletzung, Sachbeschädigung oder Berührung nicht tatsächlich eingetreten sein 26 . Die Gewalttätigkeit muß sich aber als Angriff darauf richten 27 bzw. eine konkrete Gefahr 28 für Menschen oder Sachen i n ihrer körperlichen Integrität hervorrufen 2 9 . Das Wegdrängen eines Polizisten, das Wegnehmen von Broten, das Umwerfen eines Gegenstandes und Beschränkungen der Bewegungsfreiheit können nach dieser Konzeption nicht Gewalttätigkeit sein 30 . Der Bundesgerichtshof hat die Interpretation der »Gewalttätigkeit' i m Horizont der Gefährdung von Menschen und Sachen i n ihrer körperlichen Integrität ausdrücklich abgelehnt 31 . Zwischen den beiden Alternativen gibt es vermittelnde Stellungnahmen, die zwar keine Verletzungs- oder Beschädigungstendenz fordern, wohl aber betonen, die Aggressivität müsse „von einiger Erheblichkeit" sein 32 . c) öffentliche
Sicherheit als vorrangiges Rechtsgut?
Kann, wie es der Auslegung des B G H entspricht, »Gewalttätigkeit' i m Rahmen der Gefährdung öffentlicher Sicherheit bestimmt, bzw. kasuistisch konkretisiert werden? — Zunächst ist evident, daß die Tat24
ZStW 18, 161 (188); auch Wanjeck, G A 27, 194 (197). Schönke/ Schröder/Lenckner, § 125 R n 4 ff.; L G K ö l n J Z 1969, 80 (81); Eilsberger, JuS 1970, 164 (166); Ott, N J W 1969, 454 (456); Calliess, Gewaltbegriff, S. 32. 26 So aber Calliess, Begriff, S. 32; Heilborn, S. 192 fordert eine körperliche Berührung. 27 Schönke / Schröder / Lenckner, § 125 Rn 4. 28 Eilsberger, JuS 1970, 166; Ott, N J W 1969, 456. 29 Nach Schönke / Schröder / Lenckner, § 125 R n 4, u n d w o h l auch Ott, N J W 1969, 456, soll zusätzlich K r a f t e n t f a l t u n g erforderlich sein. 30 U n k l a r Knodel (Der Begriff, S. 177), der f ü r Gewalttätigkeit zwar einen A n g r i f f auf Personen oder Sachen i n ihrer körperlichen Existenz fordert, darunter aber auch die Forderungen der Arbeiterrotte, das Wegnehmen von B r o ten (s. o. b), das Blockieren einer Straße (RGSt 45, 153) subsumiert. 31 B G H S t 23, 36 (51); ebenso Dreher / Tröndle, § 124 R n 7. 32 Nach SK-Rudolphi, § 125 Rn 5 soll es daran fehlen, w e n n ein Polizist weggedrängt w i r d ; vgl. auch Lackner, § 125 A n m . 2 b. 25
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bestände, i n denen »Gewalttätigkeit 4 vorkommt, mehr Bezug zur Öffentlichkeit haben als etwa § 240. Die §§ 131, 184 Abs. 4 beziehen sich zwar nicht auf die öffentliche Sicherheit i. e. S., wohl aber auf Darstellungen von Gewalt, w e i l Darstellungen andere Menschen stimulieren könnten. Bei §§ 113, 121 geht es u m Zusammenrottung, vereinte Kräfte, die sich der (öffentlichen) Staatsgewalt entgegenstellen. Deutlicher ist der Bezug i n § 124, der öffentliche Zusammenrottungen betrifft. Die öffentliche Sicherheit soll eines der Rechtsgüter dieses Tatbestandes sein 83 . Nicht zu bezweifeln ist diese Annahme schließlich bei § 125, wo die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit eigenständiges Tatbestandsmerkmal ist. Dennoch ist zu differenzieren: Gerade i n § 125 ist die Gewalttätigkeit ein Tatbestandsmerkmal neben der Gefährdung der öffentlichen Sicherheit. Gibt es Gründe, eines dem anderen unterzuordnen und die Bestimmung der Gewalttätigkeit i m Problem der Gefährdung öffentlicher Sicherheit aufgehen zu lassen? — Aufschlußreich ist zunächst Die Subsidiaritätsklausel des § 125 Wäre die öffentliche Sicherheit das vorrangige Rechtsgut des § 125, wie teils implizit teils explizit angenommen wird, so wäre nicht verständlich, warum dieser Tatbestand etwa gegenüber §§ 223a ff. subsidiär sein soll 34 . Die Subsidiaritätsklausel spricht eher für den Vorrang der von Gewalttätigkeiten betroffenen Individualrechtsgüter vor der öffentlichen Sicherheit. Gewalttätigkeiten wären demnach nicht durch den Rückgriff auf die öffentliche Sicherheit zu bestimmen. Lenckner 35 meint, die öffentliche Sicherheit sei das primäre Rechtsgut des § 125. Gegenüber der hier vorgetragenen Argumentation weist er darauf hin, daß unstreitig § 125 zu § 223 i n Idealkonkurrenz stehen kann; deshalb könne § 125 nicht nur als ein durch Gefährdung der öffentlichen Sicherheit qualifizierter A n g r i f f auf Individualrechtsgüter verstanden werden. Andernfalls müsse er nämlich dem § 223 als lex specialis vorgehen. Dabei w i r d jedoch übersehen, daß § 125 m i t der Pönalisierung der Gewalttätigkeit undifferenziert das Vorstadium von Körperverletzungen (den Angriff) ebenso erfaßt wie vollendete Körperverletzungen 36 . Das Spezifische der Vollendung muß also ggf. durch § 223 zum Ausdruck gebracht werden, deshalb die mögliche Idealkonkurrenz zwischen § 125 und § 223. Die unstreitige Annahme dieser 33
LK-Schäfer, § 124 Rn 1; Schönke / Schröder / Lenckner, § 124 Rn 1. L K - v . Bubnoff (10. Aufl.), § 125 Rn 1; SK-Rudolphi, § 125 Rn 2. 35 Schönke / Schröder / Lenckner, § 125 Rn 3; anders die Vorauflagen dieses Kommentars. 36 Gewalttätigkeit ist ein unechtes Unternehmensdelikt, Schönke / Schröder / Lenckner, § 125 R n 6. 94
20 Keller
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V I . Einzelprobleme des Gewaltbegriffs
Idealkonkurrenz spricht m i t h i n nicht für Lenckners These, § 125 schütze „ i m wesentlichen" nur die öffentliche Sicherheit. — Lenckner meint weiter, die Subsidiaritätsklausel sei „auch" zu erklären, wenn man § 125 als Delikt primär gegen die öffentliche Sicherheit verstehe: es trete dann deren Schutzbedürfnis zurück, wenn es zu schwereren Straftaten komme; „diese gesetzgeberische Entscheidung" sei allerdings nicht „sonderlich sinnvoll". Das wäre richtig, wenn die „gesetzgeberische Entscheidung" so wäre. Gerade die Erkenntnis jedoch, daß eine „auch" mögliche Auslegung wenig sinnvoll ist, sollte es ausschließen, eben diese Auslegung zugleich als richtige vorzustellen und zur gesetzgeberischen Entscheidung zu stilisieren. I m übrigen ist es m i t der These vom Schutz der öffentlichen Sicherheit als primärem Rechtsgut des § 125 schwer zu vereinbaren, wenn Lenckner die Gewalttätigkeit bei § 125 (zutreffenderweise) strikter als andere Autoren auf die Beeinträchtigung von Individualrechtsgütern bezieht. Nach allem dürfte aus der Subsidiaritätsklausel zu entnehmen sein, daß die Bedeutung der Gewalttätigkeit jedenfalls nicht i n einem vorrangigen Schutz der öffentlichen Sicherheit aufgeht. Dafür sprechen auch andere Gründe. Die Vagheit der öffentlichen Sicherheit Die öffentliche Sicherheit ist als Rechtsgut ähnlich problematisch wie die äußere Willensfreiheit. Sie legitimiert potentiell die Pönalisierung sehr vieler Verhaltensweisen. Unmittelbar i n der Konkretisierung des Tatbestandes geltend gemacht, kann sie zur Auflösung der zu bestimmenden Handlungsmodalitäten — hier der Gewalttätigkeit — führen. Ebenso wie durch den vorrangigen Schutz der äußeren Willensfreiheit der Begriff der Gewalthandlung aufgelöst wird, geschieht es m i t dem Begriff der Gewalttätigkeit, wenn er dem Schutz der öffentlichen Sicherheit unterworfen wird. Beide Male ist die Interpretation i n fragwürdiger Weise erfolgsorientiert. Beide Male w i r d die Bestimmung von intersubjektiven Verkehrsformen verdrängt durch staatlich verwaltete Universalwerte. Gewiß kann man, ähnlich wie Jakobs und v. Heintschel-Heinegg 37 es hinsichtlich der äußeren Willensfreiheit vorschlagen, auch die öffentliche Sicherheit, mehr als i m Strafrecht bisher anerkannt, normativ bestimmen anhand der Grundrechte. Dadurch w i r d die empirische Frage nach dem „Gefühl der Sicherheit" 38 , welches geschützt werden soll, relativiert. Aber präzise Bestimmungen der Handlungsformen werden auch unter diesem normativ-grundrechtlichen Aspekt nicht wieder37
Dazu oben I V . 12. b). Vgl. die K r i t e r i e n der öffentlichen Sicherheit nach Schönke / Schröder / Lenckner, § 125 Rn 15; differenzierend L K - v . Bubnoff (10. Aufl.), § 125 R n 18. 38
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gewonnen; vielmehr geht es dann u m (Grundrechts-)Güterabwägungen i m Einzelfall etwa zwischen Meinungs- und Bewegungsfreiheit 39 — ein rechtsstaatlich besonders i m Strafrecht wenig angemessenes Verfahren. Dem Strafrecht dürfte es eher entsprechen, soweit als möglich i n den Tatbeständen die Verkehrsformen unabhängig vom Schutz der öffentlichen Sicherheit zu bestimmen und davon auszugehen, daß schon aus dieser Orientierung an Verkehrsformen ein wesentliches Stück öffentlicher Sicherheit resultiert. Rechtsstaatlichkeit und Subsidiarität des Strafrechts I m Polizeirecht ist anerkannt, daß öffentliche Sicherheit nicht bestimmt werden kann i n Kontraposition zu den Grundrechten der B ü r ger, die von möglichen polizeilichen Eingriffen betroffen sind. Die Freiheitsrechte der Bürger sind vielmehr selber Konstituens der öffentlichen Sicherheit. Ebenso ist davon auszugehen, daß die i m Strafrecht zentrale Rechtsstaatsgarantie Konstituens des strafrechtlichen Schutzes öffentlicher Sicherheit ist. Rechtliche Bindung der Staatsgewalt zielt ähnlich auf Freiheitswahrung wie die Spezialgrundrechte. Wie i m Polizeirecht kann auch i m Strafrecht das Rechtsgut »öffentliche Sicherheit' nicht geschützt werden ohne die freiheitswahrenden Prinzipien der Verfassung, d. i. i m Strafrecht v. a. die Rechtsstaatlichkeit. Die Trennung von Rechtsgüterschutz und Rechtsstaatlichkeit ist beim strafrechtlichen Schutz öffentlicher Sicherheit ebenso fragwürdig wie beim Schutz des Rechtsguts »Freiheit 4. Es wäre eine auf Angst und Gew a l t beruhende Sicherheit, die durch eine dem Recht entbundene Strafgewalt zu schützen wäre, kaum die Sicherheit einer Demokratie, die primär durch das freie Verhalten der Bürger bestimmt wird. Das Strafrecht hat schon i m Ansatz (bei der Frage nach dem Rechtsgüterschutz) nur bestimmte Verhaltensweisen zu unterdrücken, die für den Verkehr der Bürger untragbar sind und die Entstehung öffentlicher Sicherheit prinzipiell ausschließen. Welcher Gestalt die öffentliche Sicherheit konkret ist, muß dem Strafrecht m i t Bestimmtheit entzogen bleiben. Als solche kann öffentliche Sicherheit nicht das Rechtsgut sein, welches die Bestimmung (bzw. Auflösung) der strafrechtlichen Eingriffsvoraussetzungen vorrangig zu leiten hätte. Z u r Gesetzgebungsgeschichte Das hier dargestellte Verständnis der öffentlichen Sicherheit findet Bestätigung i n der neueren Rechtsentwicklung. Nach § 125 a. F. (vor dem 3. StrRG von 1970) war zwar Tatbestandsmerkmal eine öffentliche Zu39 Dazu einerseits Tiedemann, J Z 1969, 722 f., andererseits Schweiger, J Z 1970, 214.
20*
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V I . Einzelprobleme des Gewaltbegriffs
sammenrottung, die m i t vereinten Kräften Gewalttätigkeiten beging. Bestraft wurden aber nicht nur die Teilnehmer der Gewalttätigkeiten, sondern alle Teilnehmer der Zusammenrottung, auch wenn sie m i t den Gewalttätigkeiten objektiv nichts zu t u n hatten, sie nicht einmal billigten 40 . Pönalisiert waren also Taten nicht wegen ihres Bezuges zu konkreten Angriffen gegen Personen oder Sachen, sondern w e i l sie die (generelle) Gefährlichkeit der Zusammenrottung für die öffentliche Sicherheit erhöhten 41 . Hinsichtlich § 125 a. F. war demnach die These vom vorrangigen Rechtsgut,öffentliche Sicherheit 4 begründet. Die Neufassung der Vorschrift 4 2 setzt zwischen pönalisiertem Verhalten und Gewalttätigkeit einen konkreten Bezug i. S. der Teilnahmevorschriften voraus. Das neue Recht ist gerade dadurch vom alten unterschieden, daß die Taten wegen ihrer Gefährlichkeit für die durch Gewalttätigkeit bedrohten Menschen oder Sachen pönalisiert werden. Diese reformerische Wendung würde unterlaufen, wenn weiterhin die öffentliche Sicherheit als vorrangiges Rechtsgut des § 125 angenommen würde. Gewalt und Gewalttätigkeit nach Wortlaut und Systematik Wenn der Bestimmung der Gewalttätigkeit das Rechtsgut »öffentliche Sicherheit 4 zugrundegelegt wird, so w i r d die Bestimmung gänzlich abgetrennt („keinerlei Zusammenhang 44 ) von der der Gewalt. Das widerspricht wie gesagt dem Gesetzeswortlaut, wonach Gewalttätigkeit m i t Gewalt diese qualifizierend zusammenhängt. Auch die Systematik mehrerer Tatbestände spricht für diesen Zusammenhang: § 113 und § 121 pönalisieren jeweils i m Grundtatbestand Gewalt und i n der darauf bezogenen Qualifikationsregel die Gewalttätigkeit. Diese ist nicht nur bezogen auf den i m Grundtatbestand genannten »tätlichen A n g r i f f , sondern auch auf die nötigende Gewalt. Die Gewalttätigkeit erscheint als Synthese der beiden Begehungsmodalitäten des Grundtatbestandes, Gewalt und Tätlichkeit. Wenn Gewalttätigkeit sich nicht nur semantisch als Qualifikation des Grundwortes »Gewalt4 erweist, sondern auch noch systematisch derart als Qualifikation der Gewalt fungiert, so gehört einige teleologische Unbekümmertheit zu der verbreiteten These, zwischen beide gebe es „keinerlei Zusammenhang 44 .
40
Schönke / Schröder, 12. Aufl., § 125 Rn 7, 10. A.a.O. Rn 10. 42 Z u r Reform: L K - v . B u b n o f f (10.Aufl.), Vorbem. zu § 125ff.; Schönke/ Schröder / Lenckner, § 125 Rn; SK-Rudolphi, § 125 Rn 1. 41
6. Gewalttätigkeit
d) Bestimmung
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des Begriffs der Gewalttätigkeit Ausgangspunkt
Nach allem sollte die öffentliche Sicherheit nicht als das vorrangige Rechtsgut des § 125 und der Bestimmung von Gewalttätigkeit angenommen werden. Diese muß zunächst unabhängig vom Schutz öffentlicher Sicherheit bestimmt werden. Woran ist sie zu orientieren? Einen ersten Anhaltspunkt bieten wie gesagt Wortlaut und Systematik. Danach müßte die Bestimmung der Gewalttätigkeit von der Bedeutung der einfachen Gewalt ausgehen. Sie könnte deren Zentralbereich, die Tätigkeit der Verletzungsgewalt, umfassen. Gewalttätigkeit und öffentliche Sicherheit Andererseits ist die öffentliche Sicherheit für die Bestimmung der Gewalttätigkeit nicht bedeutungslos. N u r i n Delikten m i t Öffentlichkeitsbezug ist wie erwähnt die Gewalttätigkeit pönalisiert. Auch die explizite Hervorhebung der Tätigkeit i m Verhältnis zur einfachen Gew a l t enthält den Öffentlichkeitsaspekt, denn i n der Tätigkeit steckt die Schauseite eines Delikts. Schließlich fungiert die Beeinträchtigung öffentlicher Sicherheit bei § 125 Abs. 2 Nr. 1 und 2 als Qualifikation, beim aufwieglerischen Landfriedensbruch (Einwirken, u m die Bereitschaft zu fördern . . . ) begründet sie eine Vorverlagerung der Strafbarkeit der Gewalttätigkeit. Gänzlich getrennt von öffentlicher Sicherheit kann Gewalttätigkeit also nicht bestimmt werden. Gewalttätigkeit ist demnach i m Ansatz gesondert von öffentlicher Sicherheit zu bestimmen; zugleich aber sind Zusammenhänge beider zu berücksichtigen: Gewalttätigkeit ist nach § 125 die Handlung , deren Erfolg die Gefährdung öffentlicher Sicherheit ist 4 *. Die beiden sich scheinbar widersprechenden Richtlinien der Bestimmung der Gewalttätigkeit — Trennung von öffentlicher Sicherheit und Zusammenhang damit — lassen sich vermitteln i n dem reflexiven Konzept, das oben bei der Bestimmung des Gewaltbegriffs entwickelt wurde: öffentliche Sicherheit w i r d nicht intentione recta, nicht unmittelbar strafrechtlich geschützt und definiert. Sie ist primär dem Verkehr der Bürger überlassen. Es werden strafrechtlich nur Randbedingungen öffentlicher Sicherheit gewahrt, d. h. bestimmte für öffentliche Sicherheit untragbare Verhaltensweisen unterdrückt, und zwar m i t rechtsstaatlicher Bestimmtheit, weil die Bindung der Strafgewalt selbst ein Element öffentlicher Sicherheit ist. Als eine Randbedingung der 43 Die Gefährdung öffentlicher Sicherheit muß durch die Ausschreitungen entstehen; L K - v . B u b n o f f (10. Aufl.), § 125 Rn 19, Schönke / Schröder / Lenckner, § 125 Rn 15.
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V I . Einzelprobleme des Gewaltbegriffs
erwähnten A r t ist die Gewalttätigkeit zu bestimmen. I n einzelne Schritte der Konkretisierung zerlegt bedeutet dies: Gewalttätigkeit ist zunächst als Verhaltensweise zu bestimmen, die öffentliche Sicherheit überall prinzipiell i n Frage stellt. Bei diesem ersten Schritt ist die Verbindung zwischen Handlung (Gewalttätigkeit) und Erfolg (Gefährdung der öffentlichen Sicherheit) abstrakt. Die Bestimmung der Gewalttätigkeit geht — intentione obliqua — vorbei an den konkret inhaltlichen Bedingungen der öffentlichen Sicherheit. I n einem zweiten Schritt ist dann zu berücksichtigen, daß die Beeinträchtigung öffentlicher Sicherheit nach dem Tatbestand des § 125 auch konkreter Erfolg der Gewalttätigkeit ist. Die zunächst relativ eigenständige Bestimmung ist also zu präzisieren und zu modifizieren i m Hinblick auf spezielle Erfordernisse öffentlicher Sicherheit, soweit das Gesetz eine solche Verschränkung von Gewalttätigkeit und öffentlicher Sicherheit vorschreibt. I m ersten Schritt der Bestimmung geht es u m die Fixierung einer Minimalbedingung des zivilisierten öffentlichen Zusammenlebens. Das ist die Abwesenheit von Verletzungsgewalt, das mögliche Vertrauen darauf, daß man regelmäßig von anderen körperlich geschont wird. I n diesem Ausgangspunkt t r i f f t sich die Bestimmung der Gewalttätigkeit m i t der Bestimmung der Gewalt — nicht zufällig, denn die Randbedingungen von öffentlicher Sicherheit und von Freiheit i n der Gesellschaft sind nicht grundsätzlich verschieden. Der Zusammenhang w i r d wie erwähnt neuerdings auch i n der Diskussion um den Freiheitsschutz hervorgehoben 44 . Indem die Bestimmung der Gewalttätigkeit zunächst am Schutz der individuellen Körperintegrität orientiert wird, sind zugleich die Bestimmungen von Calliess 45 , Eilsberger 46 , Heilborn 4 7 , Lenckner 48 i m Ansatz bestätigt. Ist die Gewalttätigkeit i m Ausgangspunkt m i t der Gewalt identisch 49 , so sind doch i m Hinblick auf die konkrete Beeinträchtigung oder Gefährdung öffentlicher Sicherheit Modifikationen nötig. Besonderheiten der Gewalttätigkeit Gewalt umfaßt auch Freiheitsberaubung. Gehört die Freiheitsberaubung auch zur Gewalttätigkeit? Die Gründe, die oben für die Einbeziehung der Freiheitsberaubung i n den Gewaltbegriff entscheidend 44 Gewaltsame Freiheitsbeeinträchtigungen sollen nach Fezer (JR 1976, 95) regelmäßig pönalisiert werden, w e i l (und soweit) durch sie der „innere Friede" der Rechtsgemeinschaft gestört werde. 45 Gewaltbegriff, S. 32. 46 JuS 1970, 166. 47 ZStW 18, 188 f. 48 Schönke / Schröder / Lenckner, § 125 R n 4. 49 So auch K l u g , Demonstrationsfreiheit, S. 33; Protokolle, S. 187, 194 f., 216; Ott, N J W 1969, 2023.
6. Gewalttätigkeit
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waren (die Differenzierung zwischen §§249, 253, 255), sind hier nicht gegeben. Auch der Zusammenhang der einschlägigen gesetzlichen Tatbestände spricht eher gegen die Einbeziehung der Freiheitsberaubung i n die Gewalttätigkeit. Sie ist genannt i n den Tatbeständen m i t Öffentlichkeitsbezug, u.a. §§ 113, 121, 124, 125a. Dort ist nie Freiheitsberaubung als Qualifikationskriterium aufgeführt, wohl aber schwere K ö r perverletzung und erhebliche Sachbeschädigung, obgleich sonst i m StGB Freiheitsberaubung schwerer bewertet w i r d als Sachbeschädigung 60 . Offenbar w i r d i m Gesetz davon ausgegangen, daß der Freiheitsberaubung die spezifische Gefährdung der öffentlichen Sicherheit nicht eignet. Das dürfte auch tatsächlich angemessen sein. Die Freiheitsberaubung tangiert die öffentliche Sicherheit nicht ebenso wie die auf Körperverletzung gerichtete Aggression. Bei der Freiheitsberaubung werden die Betroffenen i n ihrem physisch existenziellen Bestand nicht angegriffen, sondern geschont. Der Freiheitsberaubung fehlt das Element der schlagartigen sozialen Entwürdigung, das i n der Verletzung und Aggression enthalten ist. Deshalb w i r d auch der öffentliche soziale Zusammenhalt durch Freiheitsberaubung weniger schlagartig, unmittelbar betroffen als durch Verletzungsgewalt Auch hinter der Sachbeschädigung bleibt die öffentliche W i r k u n g der Freiheitsberaubung typischerweise noch zurück. Denn die Sachbeschädigung geht ans Äußerliche der Dinge, an deren körperlichen Bestand. Gerade von ihrer Oberflächlichkeit geht die spektakulär öffentliche W i r k u n g der Sachbeschädigung aus. Und diese oberflächlich spektakuläre Komponente fehlt der Freiheitsberaubung. Der Schutz der öffentlichen Sicherheit modifiziert also den allgemeinen Gewaltbegriff insofern, als Freiheitsberaubung nicht zur Gewalttätigkeit gehört. Dafür spricht i m übrigen auch die Wortinterpretation: Gewalttätigkeit unterscheidet sich von Gewalt durch ein aggressiv tätiges Element. Das ist bei der Freiheitsberaubung, welche den Betroffenen i n seinem physisch-existenziellen Bestand schont, weniger vorhanden. Eine weitere Einschränkung schlägt Calliess 61 vor: Gewalttätigkeit soll nur faktisch vollzogene Körperverletzung sein. Das dürfte dem Wortlaut des Gesetzes nicht gerecht werden. Gewalttätigkeit ist noch deutlicher als Gewalt ein Tätigkeitsdelikt, d. h. der Schwerpunkt liegt hier noch mehr bei der Handlung, nicht beim Erfolg 6 1 . Gewalttätigkeit ist ein „unmittelbarer Angriff" 6 8 . Die soziale Bedeutung der Handlung 50 51 52 53
Vgl. § 35 u n d § 34. Begriff, S. 32. Heilborn, Z S t W 18, 188 f. Schönke / Schröder / Lenckner, § 125 E n 6.
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V I . Einzelprobleme des Gewaltbegriffs
ergibt sich hier zwar nicht wie beim allgemeinen Gewaltbegriff aus dem instrumentellen Bezug auf Zwang, wohl aber aus dem Bezug der Gewalttätigkeit auf öffentliche Wirkung. Diese geht primär von der Schauseite des Delikts aus. Dafür genügt die tätige gefährliche Handlung. Das gilt auch für §§ 131,184 Abs. 4, wo es auf die Gewaltdarstellung wegen deren stimulierender Wirkung ankommt. Der Erfolgs^eintritt ist also verzichtbar. Dies findet Bestätigung i n anderen Delikten m i t Öffentlichkeitsbezug. I n § 113 Abs. 1 muß der gewaltsame Widerstand tätig sein; ein Nötigungserfolg muß nicht objektiv eintreten 54 . Auch nach h. M. muß bei Gewalttätigkeit ein Verletzungserfolg nicht eintreten 55 . Das nivelliert auch nicht die Differenz der Nr. 1 und 2 des § 125 Abs. I 5 6 . Die gegenwärtige wirkliche Verletzungsgefahr umfaßt keineswegs alle Bedrohungen m i t Gewalttätigkeit, nicht die Drohung m i t künftiger Gewalttätigkeit, nicht die nicht ernstgemeinte Drohung; diese aber sind i n Nr. 2 erfaßt 57 . Daneben 58 fungiert die Beeinträchtigung öffentlicher Sicherheit bei § 125 Abs. 1 Nr. 1 und 2 als Qualifikation, beim aufwieglerischen Landfriedensbruch (Einwirken, u m die Bereitschaft zu f ö r d e r n . . . ) begründet sie eine Vorverlagerung der Strafbarkeit. Die Bedeutung der Gewalttätigkeit gegen Sachen Der Schutz der öffentlichen Sicherheit ist schließlich insofern relevant, als er bei § 125 Abs. 1 Nr. 1 und § 124 die Ausweitung der Pönalisierung auf Gewalttätigkeit gegen Sachen begründet. Sind daraus allgemeine Schlüsse zu ziehen dahingehend, daß generell das Verbot der Gewalttätigkeit auch dem Schutz des Eigentums diene? Und daß weiter die Gewalt, die j a m i t Gewalttätigkeit zusammenhängt, auch Angriffe auf das Eigentum umfasse 59 entgegen der hier vertretenen Ansicht? Oder handelt es sich bei der Pönalisierung der Gewalttätigkeit gegen Sachen u m einen Sonderfall, der keine allgemeinen Schlüsse zuläßt? Dann müßte die Besonderheit erklärt werden. Nach dem Gesetzeswortlaut ist nur pönalisiert die Gewalttätigkeit gegen Sachen, d.h. Sachbeschädigung und darauf gerichtete Hand54 I n § 183 a ist n u r eine sexuelle Handlung, k e i n Verletzungserfolg erforderlich. 55 Schönke / Schröder / Lenckner, § 125 R n 6. 56 Eine solche Nivellierung schlägt Calliess, Begriff, S. 36 f., zu § 249 Abs. 1, § 255 vor; s. o. V. 5. b). 57 Daß Drohung u n d Bedrohung nicht w i e von Calliess (Begriff, S. 22 f., 34 f.) vorgeschlagen unterschieden werden können, zeigt ein Vergleich der §§ 177 f. u n d §§ 249, 255; dazu oben V. 2. h) a. E. 58 Z u m folgenden SK-Rudolphi, § 125 Rn 3. 59 Ablehnend v. Wächter, GS 27 (1875), 165.
6. Gewalttätigkeit
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lungen. Schon daraus läßt sich einiges über den Sinn der Regelung entnehmen. Wegnahme, Diebstahl richtet sich nicht gegen Sachen, sondern gegen den personalen Gewahrsam an Sachen. Zwar richtet sich auch Sachbeschädigung gegen das Eigentumsrecht an Sachen. Aber sie greift auch die Sache selbst als Ding zerstörend an. N u r sie und nicht der Diebstahl richtet sich gegen Sachen. Gegen Sachen richtet sich nur, was deren Substanz angreift® 0. N u n w i r d Diebstahl i m allgemeinen intensiver pönalisiert als Sachbeschädigung, ist also gravierenderes Unrecht. Die Wegnahme aber ist beim Landfriedensbruch nur als Qualifikation i n der Sonderform des Plünderns (§ 125a), also als Steigerung, nicht als Begründung des Tatbestandes relevant 61 . Warum ist primär die an sich weniger unwertige Sachbeschädigung bei der Pönalisierung der Gewalttätigkeit erfaßt? Warum reicht der schwerwiegendere Diebstahl als Unrechtsbegründung bei § 125 nicht aus? — Hier ist relevant die erwähnte besondere öffentliche Wirkung, die die Sachbeschädigung zu entfalten geeignet ist, gerade weil sie oberflächlicher ist als der Diebstahl, w e i l sie das Ding i n seinem sinnlich faßbaren Bestand destruktiv angreift und nicht auf der subtileren Ebene der Gewahrsamsverschiebung w i r k t . Die Sachbeschädigung macht mehr Schau. Vorläufig ist festzuhalten: Eigentumsbeeinträchtigungen sind bei der Gewalttätigkeit nur relevant i m Zusammenhang einer besonderen Gefährdung öffentlicher Sicherheit, nicht um ihrer selbst willen. Eine Übertragung auf die allgemeine Gewaltstrafbarkeit oder eine generelle Einbeziehung der Wegnahme ist nicht begründet. Das findet Bestätigung, wenn man genauer betrachtet, wo die Gewalttätigkeit gegen Sachen pönalisiert ist. Das ist nicht immer der Fall. Vielmehr ist dort, wo schlicht von »Gewalttätigkeit' die Rede ist, nicht diejenige gegen Sachen gemeint. Unbestritten ist das bei § 113 Abs. 2 Nr. 3®*, denn erstens reicht auch für den Grundtatbestand des § 113 die Beeinträchtigung von Sachen nicht aus, und zweitens muß durch die 60 Schönke / Schröder / Lenckner, § 125 Rn 8; SK-Rudolphi, § 125 Rn 5. Die davon abweichenden Entscheidungen RGSt 52, 34 f. u n d OGHSt 2, 209 (212 f.) (zustimmend L K - v . Bubnoff [10. Aufl.], § 124 R n 11; zurückhaltend D r e h e r / Tröndle, § 124 R n 7; k r i t . Frank, § 124 I 2) widersprechen dem geltenden Gesetzestext („gegen Sachen"). Sie stehen auch deutlich i m Zusammenhang des alten Gewaltbegriffs (Kraftentfaltung) und der Gleichsetzung von Gewalt u n d Gewalttäigkeit. Da beides nicht mehr der h. M. entspricht, dürften die E n t scheidungen f ü r die h. M. nicht mehr repräsentativ sein. 61 Anders RGSt 52, 34 (35); dazu die vorangegangene Fn. N u r wenn sie i n F o r m aggressiven Handelns erfolgt, könnte die Wegnahme nach BGHSt 23, 52 f. Gewalttätigkeit sein (ablehnend Schönke/ Schröder / Cramer [18. Aufl.], § 125 a Rn 25). F ü r sich ist sie auch nach dem B G H nicht Gewalttätigkeit; vgl. auch Schönke / Schröder / Lenckner, § 125 a R n 13. 62 Vgl. Schönke / Schröder / Eser, § 113 Rn 67; L K - v . Bubnoff (10. Aufl.), § 113 Rn 57, 59.
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V I . Einzelprobleme des Gewaltbegriffs
Gewalttätigkeit des Abs. 2 Nr. 3 ein Mensch gefährdet werden. Nicht anders verhält es sich bei § 121 Abs. 3 Nr. 3. Auch dort umfaßt der Grundtatbestand wie oben gezeigt entgegen der h. M. nicht die bloße „Gewalt" gegen Sachen. Aber auch wenn man i n diesem Punkt anders entschiede, wäre für § 121 Abs. 3 Nr. 3 Gewalttätigkeit gegen Sachen nicht ausreichend. Es ist nämlich auch hier eine konkrete Personengefährdung erforderlich. Daß diese auch durch Sachbeschädigung (z. B. Brandstiftung) vermittelt sein kann, ändert nichts daran, daß die Gewalttätigkeit sich zumindest als gegenwärtige Gefährdung gegen Personen richten muß. Mehr ist auch sonst bei Gewalttätikeit gegen Personen nicht erforderlich. Außerdem muß der Täter auch bei der konkreten Personengefährdung der §113 Abs. 2, §121 Abs. 3 einen Gefährdungsvorsatz und wie oben gezeigt auch einen Verletzungsvorsatz haben 68 . A l l e diese Kriterien entsprechen den Erfordernissen der Gewalttätigkeit gegen die Körperintegrität von Personen. § 125a Nr. 3 ist insoweit gleich gelagert. Es bleibt § 125 Abs. 1 Nr. 2. Die erste Lektüre des gesamten Abs. 1 i m Zusammenhang mag mehr als die anderer bisher erörterter Vorschriften den bisherigen Befund bestätigen und nahelegen, daß jedenfalls hier i n Nr. 2 nur Gewalttätigkeiten gegen Menschen gemeint sein können, denn von ihnen ist allein die Rede i n Nr. 2, nachdem i n Nr. 1 Gewalttätigkeiten gegen Menschen und Sachen behandelt wurden. Aber diesem auch wegen der Abstufung Gewalttätigkeit/Bedrohung einleuchtenden Verständnis kann man nicht mehr vertrauen, seit Hübner 6 4 darauf hingewiesen hat, daß m i t der Formulierung „Bedrohung von Menschen m i t einer Gewalttätigkeit" auch Gewalttätigkeiten gegen Sachen gemeint sein können und — nach Hübner — gemeint sein müssen. Dem ist die Literatur inzwischen mehrheitlich gefolgt 65 . I n der Tat kann, wenn man die Formulierung der Nr. 2 isoliert betrachtet, auch das von Hübner Behauptete gemeint sein, muß es aber nicht. „Objektive Auslegung", auf die Hübner verweist, bedeutet nicht, daß Strafgesetze weit auszulegen seien. Die Auslegung ist bei isolierter Betrachtung der Nr. 2 offen, mehr nicht. Die „ratio des § 125" auf die Rudolphi 6 6 sich beruft, h i l f t nicht weiter, denn ob i n Nr. 2 auch der Schutz von Sachen gemeint ist, ist gerade die Frage, aus deren Beantwortung erst sich etwas über die ratio erschließen ließe. Die frag03 Z u m Vorsatz Schönke / Schröder / Eser, § 121 Rn 20, § 113 Rn 67, § 125 a R n 11. M L K (9. Aufl.) § 125 R n 28. w L K - v . Bubnoff (10. Aufl.), § 125 Rn 28; Dreher / Tröndle, § 125 Rn 2; Schönke / Schröder / Lenckner, § 125 Rn 21; SK-Rudolphi, § 125 Rn 16; Lackner, § 125 A n m . 2 c; anders: Blei, Strafrecht I I , § 75 2 b; Schönke / Schröder / Cramer (18. Aufl.), § 125 R n 20. 66 A.a.O.; ähnlich Schönke / Schröder / Lenckner, § 125 Rn 21.
6. Gewalttätigkeit
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würdige Globalratio »Schutz der öffenlichen Sicherheit', die alles begründen würde, wurde oben erörtert. Nach der h. M. bezieht sich das Wort ,Menschen' i n Nr. 2 auf den Adressaten einer Äußerung und nicht auf das Objekt der Gewalttätigkeit; darauf aber soll es i n Nr. 1 bezogen sein. Eine solche umständliche grammatische Bezugsänderung i n einem gesetzlichen Satz wäre erstaunlich. Vor allem wäre dann schwer verständlich, w a r u m das Wort ,Menschen' dann überhaupt i m Gesetz an dieser Stelle eingefügt ist und eine umständliche Formulierung ergibt: daß es nicht genügt, wenn die Täter ihre Drohung vor sich h i n murmeln oder den Verkehrsschildern verkünden, das hätte wohl keiner Klarstellung bedurft. Die deutliche Differenzierimg i n zwei Nummern i m Gesetzestext — für die h. M. muß das als unsinnige Umständlichkeit gelten — ergibt nur einen Sinn, wenn man sie bezieht auf die generelle Unwertdifferenz zwischen gegenwärtiger Gewalttätigkeit und Drohung m i t künftiger Gewalttätigkeit; und zu diesem Unterschied fügt sich der Unterschied zwischen ,Menschen und Sachen' i n Nr. 1 und nur »Menschen' i n Nr. 2: Sachen reichen als Angriffsobjekt i m leichteren Fall der Drohung nicht aus, wohl aber i m schwereren Fall der gegenwärtigen Gewalttätigkeit. A l l e i n m i t diesem Verständnis wurde Nr. 2 auf Initiative des Richterbundes ins Gesetzgebungsverfahren eingebracht. Widersprechende Intentionen bei der Gesetzgebung sind nicht erkennbar. Die besseren Gründe dürften also dafür sprechen, daß i n Nr. 2 nur Gewalttätigkeiten gegen Menschen gemeint sind 67 . Wenn man den § 125 Abs. 1 i m Zusammenhang liest, so dürfte das auch die weniger „sprachfremde" (Hübner) Deutung sein. Fazit: Gewalttätigkeit gegen Sachen ist nur bei den besonders schweren Gefährdungen der öffentlichen Sicherheit (§§ 124, 125 Abs. 1 Nr. 1) relevant. Allgemeine Schlüsse lassen sich daraus nicht ziehen 88 . Wo i m Gesetz von Gewalttätigkeit ohne Zusatz die Rede ist, ist nur die Gewalttätigkeit gegen Menschen gemeint. Zusammenfassung und Definition Der allgemeine Begriff der Gewalttätigkeit ist nur auf die Körperintegrität und das Leben von Menschen bezogen. 67 So auch Blei, S t r a f r e c h t l l §752b; Schönke / Schröder / Cramer (18. Aufl.) § 125 Rn 20. Daß der aufwieglerische Landfriedensbruch auch Gewalttätigkeit gegen Sachen umfaßt, steht dem nicht entgegen, denn diese Begehungsform hat darin i h r Gewicht, daß der Täter gezielt auf Gewalt u n d Störung der öffentlichen Sicherheit h i n w i r k t . Das ist bei den anderen Begehungsformen nicht erforderlich. 68 Nach v. Wächter (GS 27 [1875], 165) ist die Strafbarkeit der Gewalttätigkeit gegen Sachen eine Ausnahme und f ü r den allgemeinen Gewaltbegriff nicht relevant.
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V I . Einzelprobleme des Gewaltbegriffs
Gewalttätigkeit ist eine A k t i v i t ä t , die andere tötet, körperlich verletzt oder i n die wirkliche, gegenwärtige Gefahr des Todes oder der Körperverletzung bringt.
V I I . Strafrechtlicher Gewaltbegriff und Staatsgewalt Zusammenfassung Z u m Abschluß sollen die wichtigsten Schritte der Untersuchimg dargestellt werden:
vorliegenden
1. Was i m StGB als Gewalt bezeichnet wird, ist i n vielen verschiedenen sozialen Bereichen relevant (z.B. Hochverrat, Vergewaltigung, Raub, Straßenverkehrsnötigung); der tatbestandliche Zusammenhang von Gewalt ist stets gleich: Strafbar ist, ,wer einen anderen m i t Gewalt nötigt', d. h. i n der Freiheit beschränkt. Daraus w i r d herkömmlich geschlossen, Zweck der Pönalisierung von Gewalt sei der Schutz der Freiheit. Dies ist die Begründung vieler Ausweitungen des Gewaltbegriffs. U m des Schutzes der Freiheit w i l l e n soll der Bereich strafbarer Gewalt w e i t gefaßt werden; letztlich: Gewalt ist intensiver Zwang beliebiger A r t (z. B. Blockade, Verkehrsbehinderung, Streik). Solche Ausweitung des Gewaltbegriffs zum Schutz der Freiheit w i r d dann durch Generalklauseln wieder relativiert, jedoch kasuistisch. Rechtsstaatliche Bestimmtheit w i r d nicht mehr erreicht. Deren Auflösung folgt der Prämisse, daß der Schutz der Freiheit unmittelbarer Zweck und Orientierung der Gewaltstrafbarkeit sei. Das ist fraglich: a) Es gibt für das Strafrecht kein identisches Rechtsgut ,Die Freiheit', sondern nur Freiheiten i n verschiedenen sozialen Zusammenhängen (Verkehrsformen). Politische Freiheit, Freiheit i m sexuellen Verkehr, Freiheit i m wirtschaftlichen Verkehr sind nicht juristisch zu einem Rechtsgut zu vereinheitlichen. Es kann also ein solches Rechtsgut auch nicht die Ausweitung des Gewaltbegriffs begründen. b) ,Die Freiheit' kann als solche nicht Gegenstand des Straf rechts sein. Würde ohne präzise nähere Bestimmung der Schutz der Freiheit der Bürger dem Staat übertragen, so gewönne die Stafjustiz kaum kontrollierbare Interventionsmöglichkeiten. Damit wäre ihre verfassungsmäßige Kompetenz überschritten. Die Grenze zum Polizeirecht würde tendenziell verwischt wie i m Absolutismus, als das crimen vis umfassend zum Schutz des öffentlichen Friedens eingesetz wurde. c) Nach den gesetzlichen Tatbeständen ist zwar Gewalt zu verstehen als Ursache von Freiheitsbeeinträchtigung (Nötigung). Die Tatbestände differenzieren aber zwischen Gewalthandlung und Nötigungserfolg.
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V I I . Zusammenfassung
Es gibt keinen Grund, die Bestimmung der Gewalthandlung dem Freiheitsschutz unterzuordnen und so die Bedeutung des spezifischen M i t tels der Freiheitsbeeinträchtigung ohne weiteres von deren Erfolg her zu erklären und aufzulösen. Gewalt ist nicht kausal erfolgsorientiert als Freiheitsbeeinträchtigung beliebiger A r t , sondern als besonderes Verfahren zwischen Menschen rechtsstaatlich zu bestimmen. d) Der Staat hat m i t dem Strafrecht die Freiheit der Bürger nicht als ein dringliches Rechtsgut quasi rundum gegen Beeinträchtigungen beliebiger A r t zu schützen. Freiheit w i r d i n Formen sozialen Verkehrs verwirklicht, ist auf sie angewiesen. Strafrecht hat Freiheit nur gegen der Form nach rechtsstaatlich bestimmte Beeinträchtigungen zu schützen. Eine solche ist G e w a l t 2. Zur K r i t i k der bisherigen Gewaltbegriffe: a) Die älteren engen Gewaltbegriffe erfassen Gewalt noch als Verfahren: Kraftentfaltung oder Körpereinwirkung. Sie bestimmen dam i t aber kaum etwas, das negative gesellschaftliche Bewertung notwendig machte. Meist sind sie auch methodisch unzulänglich begründet: A l s leitendes Telos w i r d umfassend ,Schutz der Freiheit* angenommen; die Verfahrensbestimmung der Gewalt w i r k t demgegenüber oft als formalistische Restriktion. Daher werden diese Gewaltbegriffe auch selten konsequent durchgehalten. Ihre verfassungsrechtlichen Prämissen erscheinen veraltet. b) Die neueren Gewaltbegriffe sind meist weit, w e i l primär am Erfolg (Freiheitsbeeinträchtigung) orientiert. Ihre Weite ermöglicht, unbestimmt vielen Arten sozialen Druckes zu kriminalisieren. Sie enthalten die Tendenz, die Strafgewalt zu erweitern zu einem Instrument polizeimäßiger interventionistischer Gefahrenkontrolle. Ihnen stehen die zu 1. genannten Einwände entgegen. Ihre methodische Begründung vernachlässigt die Differenzierungen des Gesetzestextes zugunsten einer abgehobenen A r t von Teleologie. Sie sind auch nicht verfassungsrechtlich zu begründen m i t der These, Freiheit sei ein ,objektiver Wert' des GG (Art. 2) und deshalb umfassend strafrechtlich zu schützen. Die Konzeption »objektiver Werte' löst rechtsstaatliche Differenzierungen auf. A r t . 2 GG gewährleistet Grundrechte der Bürger und kann nicht jenseits einfacher Gesetze staatliche Strafgew a l t begründen. Die »objektiven Werte' sind ein Problem des sozialen Verkehrs. 3. Zur Bestimmung des strafrechtlichen Gewaltbegriffs: Es ist einheitlich und präzis für alle Tatbestände und sozialen Bereiche zu bestimmen. Er bezieht sich nicht unmittelbar auf Freiheitsbeeinträch-
V I I . Zusammenfassung
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tigung, sondern auf Verhaltensweisen, die i n allen sozialen Bereichen die Bedingungen von äußerer Willensfreiheit infrage stellen. Das sind zunächst Körperverletzung und Tötung. Sie stehen i m Zentrum des Gewaltbegriffs. Da Gewalt i n den Tatbeständen stets ein M i t t e l ist zum Zwangserfolg, muß sie nicht selbst als Erfolgsdelikt bestimmt werden. F ü r die sozialen Bedingungen der Freiheit der Bürger kann der A n g r i f f auf deren Körper ähnlich gefährlich sein wie die erfolgte Verletzung. Auch der Angriff, d. h. die gegenwärtige wirkliche Gefahr der Verletzung oder Tötimg ist daher als Gewalt zu bewerten. Auch Freiheitsberaubung von erheblicher Dauer muß als Gewalt bewertet werden, w e i l andernfalls der gesetzlich vorgesehene Sonderbereich ,Gewalt gegen eine Person 4 nicht innerhalb der allgemeinen Gewalt bestimmt werden könnte. I m Hinblick auf die soziale Bedeutung der Gewalthandlung kann ihr das Unterlassen nicht gleichgestellt werden. Eigentumsbeeinträchtigungen („Gewalt" gegen Sachen) i n den Gewaltbegriff einzubeziehen, entspricht nicht den Tatbeständen. Auch sind Eigentumsbeeinträchtigungen nicht derart allenthalben untragbar wie die vorher angesprochenen Verhaltensweisen. Wenn der von Gewalt und der von Nötigung Betroffene nicht identisch sind, kann dies, außer bei einzelnen politischen Delikten, nicht als Gewaltnötigung bestraft werden. Die insbesondere bei Haus- und Landfriedensbruch relevante Gewalttätigkeit ist nicht i m weiten Bezugsrahmen der Gefährdung öffentlicher Sicherheit zu bestimmen. Die Gewalttätigkeit hängt m i t Gewalt zusammen. Sie umfaßt Angriffe auf Leben und Körperintegrität.
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