Studien zum deutschen Imperialismus vor 1914 [Reprint 2021 ed.] 9783112478523, 9783112478516


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German Pages 402 [293] Year 1977

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Studien zum deutschen Imperialismus vor 1914 [Reprint 2021 ed.]
 9783112478523, 9783112478516

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AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN DER DDR SCHRIFTEN DES ZENTRALINSTITUTS FÜR GESCHICHTE B A N D 47

Studien zum deutschen Imperialismus vor 1914 Herausgegeben

von

Fritz Klein

AKADEMIE - VERLAG • B E R L I N 1976

Redaktionsschluß: 15. 1. 1974

Erschienen im Akademie-Verlag, 108 Berlin, Leipziger Straße 3—4 © Akademie-Verlag, 1976 Lizenznummer: 202 • 100/75/76 Umschlaggestaltung: Nina Striewski Gesamtherstellung: IV/2/14 V E B Druckerei »Gottfried Wilhelm Leibniz«, 445 Gräfenhainichen • 4575 Bestellnummer: 753 0201 (2083/47) • LSV 0235 Printed in G D R EVP: 25,-

Inhalt

FRITZ KLEIN

: Einleitung

HELMTTTH STOECXER

5

: Bürgerliche Auslegungen des Imperialismusbegriffes

in der Gegenwart

17

WILLIBALD GTJTSCHE :

Probleme des Verhältnisses zwischen Monopolkapital und Staat in Deutschland vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Vorabend des ersten Weltkrieges

33

: Einige Probleme der inneren Struktur der herrschenden Klasse in Deutschland vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum ersten Weltkrieg

85

Centraiverband Deutscher Industrieller und Sozialdemokratie um die Jahrhundertwende. Zur Klassenkampftaktik der Bourgeoisie während der Entstehung und Ausbreitung von Opportunismus und Revisionismus in der deutschen Sozialdemokratie

115

Zur Rolle des Zentrismus 1 9 1 1 / 1 9 1 2 . Ein Beitrag über den Zusammenhang von Imperialismus und Opportunismus

143

HERBERT GOTTWALD : Der Umfall des Zentrums. Die Stellung der Zentrumspartei zur Flottenvorlage von 1897

181

: Innere Widersprüche im Bündnis zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn zu Beginn der imperialistischen Epoche (1897 bis 1902)

225

HORST HANDKE

BALDUR KATJLISCH:

ANNELIES LASCHITZA:

FRITZ KLEIN

HORST BENNECKENSTEIN : Transkaukasien — Expansionsziel des deutschen Imperialismus vor dem ersten Weltkrieg 263

Autorenverzeichnis

291

Einleitung 1

Imperialismus — nach Meyers Lexikon von 1927 „ein politisches, zu verschiedenen Zeiten verschieden verwendetes Schlagwort": Man könnte glauben, die Charakteristik des bürgerlichen Lexikons, das im vergleichsweise ausführlichen Literaturverzeichnis zu diesem Stichwort Lenins Werk der Erwähnung nicht für Wert erachtet, sei zutreffend, sieht man sich in der bürgerlichen, sozialdemokratischen und linksradikalen Publizistik unserer Tage um. Immer neue Schriften werden produziert mit immer neuen Theorien — die freilich allzuoft bei näherem Hinsehen weder neu noch theoretisch belangvoll sind. Der Vorwurf, imperialistische Politik zu treiben, wird mit allen Zeichen der Entrüstung zurückgewiesen von Imperialisten, die ihrerseits die Politik sozialistischer und antiimperialistischer Regierungen bedenkenlos als imperialistisch verleumden. Längst ist die Zeit vorbei, in der Imperialisten sich offen oder gar stolz als Imperialisten bekannten wie die Männer der Imperial Federation League. Ganz offenbar erzwingen die andauernde Realität des Imperialismus und der Kampf gegen ihn die immer neue Bemühung des Begriffs, wobei Jahrzehnte schrecklichster Erfahrung mit dieser Realität den Begriff so färbten, daß niemand ihn auf sich angewandt sehen möchte. Die angedeuteten Zusammenhänge lassen die politische Notwendigkeit der Untersuchung des Imperialismus durch marxistisch-leninistische Historiker erkennen. In einer Zeit, die geprägt ist durch scharfe internationale Auseinandersetzungen, deren Grundachse immer wieder der Kampf zwischen Imperialismus und Sozialismus ist, richtet sich die Aufmerksamkeit fortschrittlicher Historiker notwendig auf den Imperialismus als das gesellschaftliche System, das zwei Weltkriege hervorgebracht hat und dessen aggressivste Exponenten die Menschheit immer wieder mit Krieg, Tod und Gewalt bedrohen. Die marxistischen Historikern selbstverständliche politische Notwendigkeit historischer Imperialismusforschung wird hier vor allem mit Blick auf die Schwierigkeiten des Themas und die noch offenen Fragen betont. Uberzeugt, daß ein Beitrag marxistisch-leninistischer Historiker zum Kampf gegen den Imperialismus dessen möglichst genaue Erforschung von den Anfängen her ist, stellen sich die Autoren des vorliegenden Bandes das Ziel, durch die Untersuchung wichtiger Vorgänge in verschiedenen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens im imperialistischen Deutschland von der Jahrhundertwende bis zum ersten Weltkrieg nicht nur die behandelten Vorgänge selbst aufzuhellen, sondern zugleich das damals in erster

6

Einleitung

Ausprägung befindliche Gesamtphänomen „Deutscher Imperialismus" genauer zu beschreiben. Der Band soll dazu beitragen, einen Zustand zu verändern, den die Verfasser des zum Internationalen Historikerkongreß 1970 vorgelegten Forschungsberichtes über Arbeiten von DDR-Historikern zur deutschen Geschichte von der Jahrhundertwende bis 1917 hinsichtlich der Berichtszeit, die die zurückliegenden zehn Jahre umfaßte, so charakterisierten: „Über den deutschen Vorkriegsimperialismus entstand im Berichtszeitraum zwar eine Reihe von Arbeiten zu verschiedenen Teilfragen, doch erfuhr dieser Zeitabschnitt bisher keine systematische und auf eine umfassende Analyse des imperialistischen Herrschaftssystems in Deutschland gerichtete Bearbeitung, so daß es hier nach wie vor Lücken zu schließen gilt." 2 An diesem Zustand hat sich in den seither vergangenen wenigen Jahren nicht viel geändert. J Die kritische Erforschung des Imperialismus ist um so notwendiger, als dieser über ein breites Instrumentarium sehr verschiedener Methoden verfügt und große, häufig noch allzu erfolgreiche Aktivitäten entwickelt, um die Menschen über sein wahres Wesen zu täuschen. Beides, die breite Skala der politischen Methoden des Imperialismus und die umfangreiche Manipulation der Öffentlichkeit, gehört in gewisser Weise zusammen und muß doch sorgfältig voneinander geschieden werden. Es gehört insofern zusammen, als das Vorhandensein verschiedener Methoden, ja schon die Möglichkeit, verschiedene Methoden anzuwenden, die Manipulation erleichtert, die immer wieder den Eindruck zu vermitteln sucht, es handele sich um grundsätzliche Wandlungen, wenn tatsächlich nur die Methode gewechselt wird — im Interesse gleichartiger letzter Zielsetzungen. Beispiele hierfür gibt es in Fülle seit Beginn der imperialistischen Epoche bis in die Gegenwart. Prinzipiell gleiche Sachverhalte liegen vor, wenn die USA-Doktrin der „Offenen Tür" von 1899 von der direkten Annexion und Eroberungspolitik grundsätzlich abgehoben wird, wenn der kaiserliche Reichskanzler Bethmann Hollweg dem kaiserlichen General Ludendorff oder der Volksparteiler Stresemann dem Deutschnationalen Westarp als jeweilige Gegner von antagonistischer Unversöhnlichkeit gegenübergestellt werden. Es ist dieselbe Sache, wenn in unserer Zeit von der „Allianz für den Fortschritt" behauptet wird, sie zeige das Bestreben des amerikanischen Imperialismus an, imperialistische Zielsetzungen in Lateinamerika aufzugeben, oder wenn die Behauptung verbreitet wird, die Ostpolitik der gegenwärtigen BRD-Regierung sei ein Zeichen dafür, daß der westdeutsche Imperialismus seinen Charakter geändert habe. Die angeführten Beispiele lassen die Notwendigkeit der Unterscheidung deutlich hervortreten. Sosehr nämlich im Falle der manipulierenden imperialistischen Propaganda das Moment der Täuschung, das auch Selbsttäuschung sein kann, hervorzuheben ist, nachdrücklich ist zu betonen, daß die Anwendung verschiedener Methoden imperialistischer Politik nicht primär eine Sache der Irreführung und Täuschung ist. Es hängt nicht vom guten oder bösen Willen bzw. von der mehr oder weniger großen Einsicht imperialistischer Machthaber ab, welcher Methode sie in ihrer Politik nach außen oder innen in einem gegebenen Zeitpunkt den Vorzug geben. Daß Ludendorff

Einleitung

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über Bethmann triumphierte und der realistischere Stresemann einige Jahre hindurch die Oberhand behielt über den konservativen Starrsinn seiner Gegner von rechts, hatte beide Male seinen Grund im Kräfteverhältnis der Klassen, in den Machtverhältnissen innerhalb der herrschenden Klasse und in der spezifischen Stellung des deutschen Imperialismus im imperialistischen System. Es folgte aus Struktur, Geschichte, geographischer Lage und Entwicklungsstand des amerikanischen Imperialismus, daß er seine Interessen mit der Parole von der „Offenen T ü r " am besten vertreten sah, und nicht der anders strukturierte und gelagerte deutsche Imperialismus. Daß solche Gegenüberstellungen etwas schematisch sind, weil sie nur die jeweiligen Haupttendenzen vergleichen, ist zu beachten. Wir kommen noch darauf zurück, daß die verschiedenen Methoden imperialistischer Politik selten rein und ausschließlich, sondern im allgemeinen kombiniert auftreten. Das Thema dieses Bandes ist nicht schlechthin der Imperialismus, sondern die Herausbildung des deutschen Imperialismus. Wir haben dennoch vorstehend begonnen, vom Imperialismus allgemein zu sprechen und den deutschen nur beispielsweise zu erwähnen. Das ist in den folgenden Beiträgen anders — mit gutem Grund natürlich. Gewiß hat Lenin nicht Diskussionen und wissenschaftliche Arbeiten über einen bestimmten Imperialismus ablehnen wollen, als er es dezidiert als „unsinnig" vom marxistischen Standpunkt aus erklärte, „vom Imperialismus zu sprechen und dabei die Lage nur eines Landes zu sehen, während doch die kapitalistischen Länder aufs engste miteinander verknüpft sind". 3 Nicht zuletzt zwingen praktische Gesichtspunkte der Arbeitsökonomie und der Begrenztheit der Kräfte den Historiker, der einer riesigen Menge an Material und einer steigenden, immer weniger zu übersehenden Flut wissenschaftlicher Literatur gegenübersteht, sich immer wieder auf die Geschichte einzelner Länder zu konzentrieren. Die Historiker der DDR haben aber allen Anlaß, den Blick zu weiten und die welthistorische Einbettung der deutschen Geschichte bei deren Studium und Darstellung gebührend zu beachten. Der deutsche Imperialismus vor dem ersten Weltkrieg, so heben wir mit Recht hervor, war gekennzeichnet durch seine besondere Aggressivität. Und wir haben, im Zusammenhang mit den Erkenntnissen über die Wirkungsweise des Gesetzes von der Ungleichmäßigkeit der Entwicklung der Staaten im Kapitalismus, beweiskräftige Daten, die diese Einschätzung bestätigen. Eine gründliche, tiefgehende und wissenschaftlich überzeugende Untersuchung des Problems, das ja offensichtlich nur gelöst werden kann, wenn die Politik aller imperialistischen Großmächte von der Jahrhundertwende bis zum ersten Weltkrieg nach gleichen Gesichtspunkten erforscht wird, steht aber noch aus. „. . . die Sache ist die", sagte Lenin in einer Lektion über den Zusammenhang von Krieg und Revolution im Mai 1917, „daß wir, um den gegenwärtigen Krieg zu verstehen, in erster Linie die Politik der europäischen Mächte als Ganzes betrachten müssen. Man darf keine Einzelbeispiele, keine Einzelfälle wählen, die stets leicht aus dem Zusammenhang der gesellschaftlichen Erscheinungen zu reißen sind und keinerlei Wert haben, weil man ebensoleicht ein entgegengesetztes Beispiel

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Einleitung

anführen kann. Nein, m a n muß die g e s a m t e Politik des ganzen S y s t e m s der europäischen S t a a t e n in ihren ökonomischen und politischen Wechselbeziehungen betrachten, u m zu verstehen, auf welche Weise aus diesem S y s t e m folgerichtig und unvermeidbar der gegenwärtige Krieg entstanden i s t . " 4 Infolge zeitweilig übermäßiger Strapazierung ist das Wort „ S y s t e m " bei u n s etwas in Verruf gekommen. Wir haben Grund zu einer gewissen Z u r ü c k h a l t u n g bei seinem Gebrauch. Aber nichts wäre falscher, als d a s K i n d mit d e m B a d e a u s zuschütten und nicht nur die Übertreibung der Sache, sondern auch die S a c h e selbst abzuschaffen. Vernünftig aufgefaßt ist der Systembegriff nicht nur nützlich, sondern unerläßlich zur vollständigen und zutreffenden, d. h. marxistischen E r fassung historischer Wirklichkeit. Der Systembegriff, d. h. allgemein gesprochen die Vorstellung von einer real existierenden Gesamtheit von Elementen, die strukturell und funktionell in bestimmter Weise miteinander verbunden sind, ist in mehrfacher Hinsicht nützlich und unerläßlich in Anwendung auf unser T h e m a . E r zwingt uns zur vergleichenden Einordnung des entstehenden deutschen Imperialismus in den größeren Z u s a m m e n h a n g der imperialistischen Entwicklung überhaupt, was die B e s t i m m u n g der Spezifik des deutschen Einzelfalles ü b e r h a u p t erst gestattet. E s versteht sich dabei, daß m i t einem Begriff wie Imperialismus so klug verfahren werden muß, wie das von den Klassikern des Marxismus-Leninismus zu lernen ist. Offenbar h a t t e M a r x vom Wirken der historischen Gesetze im konkreten Geschichtsverlauf eine sehr unschematische, dialektische Vorstellung, wandte er doch beispielsweise im N o v e m b e r 1877 kritisch gegen einen Kritiker seiner Arbeiten ein, dieser müsse durchaus seine „historische Skizze von der E n t s t e h u n g des K a p i t a l i s m u s in Westeuropa in eine geschichtsphilosophische Theorie des allgemeinen Entwicklungsganges verwandeln, der allen Völkern schicksalsmäßig vorgeschrieben ist, was immer die geschichtlichen U m s t ä n d e sein mögen, in denen sie sich befinden". 5 Was a b e r den Vergleich historischer Erscheinungen angeht, so bestand er darauf, daß jede von ihnen f ü r sich studiert werden müsse, u m sie dann miteinander zu vergleichen. Nur so sei der Schlüssel zur Analogie und Differenz zwischen geschichtlichen E n t wicklungen zu finden, der aber niemals der „Universalschlüssel einer allgemeinen geschichtsphilosophischen Theorie (sein könne), deren größter Vorzug darin besteht, übergeschichtlich zu sein". 6 Ganz klar und scharf h a t Lenin die konstitutive B e d e u t u n g der Ablösung des K a pitalismus der freien Konkurrenz durch den Monopolkapitalismus für den Imperialismus herausgearbeitet und d a m i t die feste Grundlage marxistischer ImperialismusAnalyse geschaffen. Zugleich aber war für ihn die größte Mannigfaltigkeit der F o r men, unter denen imperialistische Entwicklung vor sich geht, ganz selbstverständlich. Belege f ü r diese These lassen sich mit größter Leichtigkeit aus zahlreichen Schriften Lenins, vor allem natürlich aus der Arbeit über den Imperialismus a l s das höchste S t a d i u m des K a p i t a l i s m u s und aus den „ H e f t e n zum I m p e r i a l i s m u s " herausziehen. Nicht uninteressant ist in diesem Z u s a m m e n h a n g vielleicht der Hinweis auf eine Äußerung Lenins, die sachlich m i t dem Imperialismus-Problem nichts zu tun h a t ,

Einleitung

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methodisch aber allgemein bedeutungsvoll und so auch für unser konkretes Problem anwendungsfähig ist. In einem Brief an Potressow vom 27. April 1899 beschäftigte sich Lenin mit der Diskussion russischer Sozialisten über den Marxismus, insbesondere im Zusammenhang mit dem Auftreten Bernsteins. E r zitierte Struve, der zu einem nicht näher zu bezeichnenden Problem gemeint hatte, der Schwerpunkt der Frage liege in der „konkreten Unmöglichkeit einer abstrakt vorstellbaren T h e s e " , und polemisierte ganz scharf gegen diese Feststellung. Struve verwechsle, so warf Lenin ihm vor, „die abstrakt-theoretischen mit den konkret-historischen F r a g e n " . Konkret unmöglich sei z. B . die von Marx dargestellte Grundrente oder der Durchschnittsprofit. „Aber", so formulierte Lenin zugespitzt: „Unmöglichkeit der Verwirklichung in reiner Form ist durchaus kein Einwand." 7 Es dürfte hier nicht nötig sein, den leidenschaftlichen Realisten und Erforscher konkreter Tatsachen Lenin gegen den banalen Vorwurf zu verteidigen, er fordere mit solchen Feststellungen zur Mißachtung der Realität auf — so wenig natürlich, wie von Marx' oben zitierten Wendungen gegen scholastischen Mißbrauch seiner geschichtsphilosophischen Theorie über den gesetzmäßigen Gang der Menschheitsgeschichte ausdrücklich gesagt werden muß, daß sie nicht im Widerspruch zu eben dieser Theorie stehen. Es geht um ganz etwas anderes, um Grundfragen des Verständnisses von historischen Zusammenhängen, Abläufen und Gesetzmäßigkeiten, die Lenin ganz im Sinne der Begründer des Marxismus auffaßte. Nur wenige J a h r e zuvor hatte der alle Engels das gleiche Problem behandelt wie 1899 Lenin, und es ist aufregend, die völlige Ubereinstimmung beider zu konstatieren. In einem Brief vom 12. März 1895 an Conrad Schmidt wandte sich Engels gegen die Kritik Schmidts an dem von Marx dargestellten Wertgesetz: „Die Vorwürfe, die Sie dem Wertgesetz machen, treffen alle Begriffe, vom Standpunkt der Wirklichkeit aus betrachtet . . . die beiden, der Begriff einer Sache und ihre Wirklichkeit, laufen nebeneinander wie zwei Asymptoten, sich stets einander nähernd und doch nie zusammentreffend. Dieser Unterschied beider ist eben der Unterschied, der es macht, daß der Begriff nicht ohne weiteres, unmittelbar, schon die Realität, und die Realität nicht unmittelbar ihr eigner Begriff ist." Die ökonomischen Gesetze „ . . . haben keine andre Realität als in der Annäherung, der Tendenz, im Durchschnitt, aber nicht in der unmittelbaren Wirklichkeit. Das kommt einesteils daher, daß ihre Aktion von der gleichzeitigen Aktion andrer Gesetze durchkreuzt wird, teilweise aber auch von ihrer Natur als Begriffe." 8 Und in dem gleichen Brief gibt Engels ein anschauliches Beispiel für die Differenziertheit in der Anwendung von Oberbegriffen für Gesellschaftsformationen, das mutatis mutandis für den Imperialismus ganz ebenso gilt wie für den hier gewählten Gegenstand: „Ist denn", fragt Engels, „die Feudalität jemals ihrem Begriff entsprechend gewesen? Im Westfrankenreich gegründet, in der Normandie durch die norwegischen Eroberer weiterentwickelt, durch die französischen Normannen in England und Süditalien fortgebildet, kam sie ihrem Begriff am nächsten — im ephemeren Königreich Jerusalem, das in den Assises de Jérusalem den klassischsten Ausdruck der feudalen Ordnung hinterlassen hat. W a r diese Ordnung deswegen eine Fiktion, weil sie nur in Palästina eine kurzlebige Existenz in

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Einleitung

voller Klassizität zustande brachte, und auch das nur — größtenteils — auf dem Papier?" 9 Man wird den Satz nicht pressen, aber doch erheblichen Nutzen aus Engels' Fragestellung für eine vergleichende Imperialismus-Betrachtung ziehen, die ja vor dem Problem steht, so verschiedene Dinge wie beispielsweise den „militärischabsolutistisch-feudale(n) Imperialismus" 10 des Zarenreiches und den rein bürgerlichen Imperialismus der USA auf einen Begriff zu bringen. Eine Äußerung wie die Präsident Wilsons: „Da . . . der Industrielle darauf besteht, daß ihm der Weltmarkt zur Verfügung steht, muß ihm die Fahne seines Landes folgen, und wo es Länder mit verschlossenen Türen gibt, müssen diese eingeschlagen werden", 1 1 — die, nebenbei bemerkt, sehr deutlich die Ambivalenz der vorgeblich so friedlichen Doktrin der „Offenen Tür" offenbart — eine solche Äußerung wäre aus dem Munde des Zaren oder eines russischen Ministerpräsidenten schwer vorstellbar. Kaum hätte ein russischer Außenminister auf einer Versammlung von Industriellen gesprochen wie der amerikanische Außenminister Bryan, nicht als höfliche Phrase, sondern ganz ernst, im Mai 1914, auf der Jahresversammlung des National Council of Foreign Trade: „Mein Ministerium ist Ihr Ministerium, die Botschafter, die Gesandten, die Konsuln stehen ganz zu Ihrer Verfügung. Es ist ihre Aufgabe, Ihren Interessen zu dienen . . , " 1 2 Natürlich handelt es sich hier nicht um einen Unterschied in der Offenherzigkeit von Personen, sondern um Unterschiede in der objektiven gesellschaftlichen Struktur beider Länder, deren jeweilige Oberschicht durch diese Personen repräsentiert wurde. Neben den großen Unterschieden gleichzeitig nebeneinander bestehender Imperialismen, zu deren Berücksichtigung das obenerwähnte Engels-Wort ermuntert, orientiert es aber noch auf eine andere sehr wichtige Dimension: die im Ablauf der Zeit vor sich gehende Entwicklung, Modifizierung und Veränderung. Es ist wichtig, auch diese Dimension ernst zu nehmen; denn nur sie gestattet es beispielsweise, den britischen Imperialismus in befriedigender Weise in unser Gesamtbild von Imperialismus einzufügen, jenen Imperialismus, der der ganzen Erscheinung den Namen gegeben hat — ironischerweise mit Vorgängen und Entwicklungen, die ja vor der Zeit liegen, die wir als die imperialistische bezeichnen, während das Finanzkapital in Großbritannien mit beträchtlichem Zeitverzug entstand. Man sieht, wie wichtig der Hinweis Lenins ist, daß es angesichts der Bedingtheit und Beweglichkeit aller Grenzen in Natur und Gesellschaft „sinnlos wäre, z. B . über die Frage zu streiten, seit welchem J a h r oder Jahrzehnt der Imperialismus als ,endgültig' herausgebildet gelten kann". 1 3 Gleichsam zwischen den Polen, die durch den russischen und den amerikanischen Imperialismus bezeichnet werden, stand der junkerlich-bürgerliche Imperialismus in Deutschland. Auch hier wird ein richtig aufgefaßter Systembegriff weiterhelfen: die Erkenntnis, daß es sich um ein Ganzes handelt, zusammengesetzt aus funktionell und strukturell miteinander verbundenen Elementen. Und wenn in diesen einleitenden Überlegungen nach Problemen der Erforschung des deutschen Imperialismus vor 1914 gefragt wird, so liegt sicher hier, in der komplizierten Dialektik des Besonderen und des Allgemeinen, in der Erfassung der widerspruchsvollen

Einleitung

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Totalität des deutschen Imperialismus vor dem ersten Weltkrieg, das schwierigste Problem. Der Sinn dieses Bandes besteht darin, Impulse für neue Fortschritte in der systematischen Erforschung des imperialistischen Herrschaftssystems in Deutschland in der Zeit seiner Formierung zu geben. Nicht zufällig steht dabei das Problem •des Verhältnisses von Ökonomie und Politik an wichtigster Stelle, und zwar aus einem doppelten Grund: Immer liegt für jeden Zeitabschnitt in diesem Verhältnis der Schlüssel zum endgültigen Verständnis der Geschichte, und verständlicherweise wenden die mit der monopolkapitalistisch beherrschten Gesellschaft von heute verbundenen Historiker viel Mühe auf, um die Monopolkapitalisten von gestern und vorgestern von dem Vorwurf zu befreien, sie seien letztlich verantwortlich für den Imperialismus und seine menschheitsfeindliche Politik. Auf einen allgemeinen Gesichtspunkt sei anhand einiger Bemerkungen Lenins hingewiesen. Im Zusammenhang mit der Gewerkschaftsdiskussion in Sowjetrußland zu Beginn der zwanziger Jahre hat Lenin einmal scharf gegen eine Bemerkung Bucharins polemisiert, der in einer Diskussion davon gesprochen hatte, man dürfe weder das politische noch das wirtschaftliche Moment ausschalten. Lenin bezeichnete diese Denkweise als einen theoretischen Fehler, dessen Wesen darin bestehe, daß Bucharin „die dialektische Wechselbeziehung zwischen Politik und Ökonomik (die uns der Marxismus lehrt) durch Eklektizismus ersetzt". „Die Dialektik", so fuhr Lenin fort, „erheischt die allseitige Berücksichtigung der Wechselbeziehungen in ihrer konkreten Entwicklung, nicht aber das Herausreißen eines Stückchens von diesem, eines Stückchens von jenem." 1 4 Jeder weiß, wie schwierig diese Dinge werden, wenn man sich der Untersuchung bestimmter Vorgänge zuwendet. Wir sollten versuchen, im Laufe der weiteren Forschungsarbeit vielleicht einige Themen festzustellen, deren komplexe Bearbeitung geeignet wäre, die obenerwähnte Hauptschwäche unserer Geschichtsschreibung auf dem hier interessierenden Gebiet zu überwinden. Ein solches Thema wären z. B. die ökonomischen, politischen und ideologischen Tendenzen, Pläne und Aktivitäten, die unter dem Stichwort „Mitteleuropa" zusammenzufassen sind. Über die politische Bedeutung dieser Thematik braucht hier nichts weiter ausgeführt zu werden. Zentrales Kriegsziel des deutschen Imperialismus im ersten Weltkrieg, blieb die Absicht der Beherrschung Mitteleuropas eine Konstante in den Plänen des deutschen Imperialismus vom Anfang des Jahrhunderts bis in unsere Zeit. Die ökonomischen Grundlagen der Mitteleuropapolitik des deutschen Imperialismus vor dem ersten Weltkrieg, aber auch ihre außerordentlichen ökonomischen Schwierigkeiten liegen auf der Hand. Als Reaktion auf den immer stärker fühlbaren Druck des amerikanischen Exports auf den Weltmarkt und nicht zuletzt in Europa selbst entstand z. B. in den neunziger Jahren die Idee eines Zollvereins Deutschlands mit Österreich-Ungarn, Holland und der Schweiz. 15 Der Gedanke, der ganz offensichtlich in Übereinstimmung war mit dem, was man das Gesamtinteresse des deutschen Imperialismus nennen könnte, wurde in den Interessentenkreisen diskutiert, und sogleich ergaben sich, weil die ökonomisch herrschende Schicht eben alles andere als homogen war, die beträchtlichsten Differenzen. Die

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Einleitung

Agrarier sprachen sich aus für eine Zollvereinigung mit dem stärker industrialisierten Osterreich, gegen eine Zollvereinigung jedoch mit dem agrarischen Ungarn. Ein Zollverein mit Holland und der Schweiz schien ihnen in bezug auf den Getreidehandel nicht so riskant, dafür aber hinsichtlich der Viehzucht. Die Industriellen waren dazu wegen ihrer steigenden Exportchancen grundsätzlich eher geneigt. Im ganzen jedoch waren auch sie sehr vorsichtig; starke branchenspezifische Unterschiede sind zu beachten. Eine Enquete des Verbandes der Industriellen und Kaufleute in Berlin ergab eine überwiegende Abneigung gegen die Idee eines Zollvereins mit Holland und der Schweiz. Im Oktober 1900 beschäftigte sich die Generalversammlung des Bundes der Industriellen mit dem Gedanken einer mitteleuropäischen Zollunion, wobei diesmal auch Belgien in den Kreis der Länder einbezogen wurde, die gegebenenfalls Mitglieder dieser Zollunion sein sollten. Der Tenor des Referats zu dieser Frage war zustimmend; denn nur auf diese Weise könnten die europäischen Länder erfolgreich mit den USA und Großbritannien konkurrieren. Der Generalsekretär des Bundes der Industriellen sprach sich für den Vorschlag aus und ging soweit, eine Resolution vorzuschlagen, in der die Regierung ersucht wurde, den Plan ernsthaft zu studieren. Und er bemerkte in diesem Zusammenhang, der Bund der Industriellen rechne es sich zur Ehre an, diesen Plan etwa vier oder fünf Jahre vor seiner Verwirklichung erörtert zu haben. Der anwesende Regierungsvertreter jedoch, Geheimrat Lusensky, war nicht so optimistisch. Er lehnte den Plan als utopisch ab und empfahl größte Zurückhaltung, weil die kleineren Staaten in solchen Plänen Annexionswünsche sehen würden. Noch wurde also Zurückhaltung geübt, und es wäre eine weitere Frage, in welchem Maße zu dieser Haltung der Regierung die Tatsache beigetragen hat, daß um die Jahrhundertwende der Zentralverband der Industriellen, die Organisation der Schwerindustrie, ebenfalls gegen Zollvereinspläne, wie sie der Bund der Industriellen entwickelte, scharf als „unreife Projektemacherei" polemisierte. Zur gleichen Zeit forderten die Alldeutschen in Deutschland — Mainzer Parteitag Juni 1900 — die Schaffung eines mitteleuropäischen Zollvereins, sekundiert von ihren Gesinnungsgenossen in Österreich-Ungarn, während die ökonomischen Interessenten in dem Nachbarland, das in allen Plänen von deutscher Seite immer als wichtigster und nächster Partner kommender Zusammenschlüsse betrachtet wurde, ebenfalls gespalten waren. Der Zentralverband der Industriellen Österreichs besprach auf einer Generalversammlung im November 1899 die Frage und meinte in seinem Beschluß, eine direkte Zollvereinigung mit einer benachbarten Großmacht — gemeint war natürlich Deutschland — sei nicht zu empfehlen. Die Tagung der Gesellschaft österreichischer Volkswirte im Januar und Februar 1900 brachte lange Debatten mit dem Resultat, daß insgesamt der Zollverein eher abgelehnt wurde, wiederum wegen branchenspezifischer Unterschiede. Die Produzenten von Massenartikeln waren dagegen, die von feineren Waren dafür, die Spinner dagegen, die Weber dafür, die Produzenten von Sägewaren dagegen, die Möbelproduzenten dafür. In Ungarn sprachen sich die Industriellen gegen die Zollvereinigung aus, während die ungarischen Agrarier mit aller Kraft dafür agitierten. Die ungarischen Landwirte, so schrieb 1897 der spätere Ministerpräsident Tisza, würden die Ver-

Einleitung

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wirklichung eines mitteleuropäischen Zollvereins mit einstimmigen Freudenrufen begrüßen. Methodische wie inhaltliche Probleme ergeben sich aus diesen hier natürlich nur unvollständig und skizzenhaft angedeuteten Tatbeständen. Methodisch stellt sich die Frage, wie diese vor allem durch die verwirrende Detailfülle so komplizierten Zusammenhänge am überzeugendsten erforscht und dargestellt werden können. Bei aller sehr gebotenen Skepsis gegenüber der allgemeinen Aussagefähigkeit von „Kliometrie" und ähnlichen Methoden scheint doch eine sorgfältige Prüfung geboten, welche quantifizierenden und statistischen Methoden hier eingesetzt werden können, um das massenhafte Material zu erfassen und aufzuarbeiten. Inhaltlich zeigt schon der erste flüchtige Überblick, welche erheblichen Konsequenzen daraus folgen, daß wir es in Deutschland — wie in allen anderen industriell hochentwickelten Ländern — mit einer in sich hundertfach gegliederten Bourgeoisie zu tun haben. Das prinzipielle Verdienst von Helga Nußbaums Buch „Unternehmer gegen Monopole" kann kaum überschätzt werden. In künftigen Arbeiten sollte man diese Differenziertheit durchweg stärker berücksichtigen. Es wird nur möglich sein, das monopolistisch beherrschte imperialistische Deutschland vor dem ersten Weltkrieg als Gesellschaftssystem vollständig und überzeugend zu erfassen, wenn es gelingt, herauszuarbeiten, wie kompliziert und gegen welche Widerstände es sich allmählich herausgebildet hat. Und immer wird dabei die aus Engels' vorher zitierten Sätzen über den Feudalismus abzuleitende historische Orientierung hilfreich sein, die den Blick in unserem Falle auf die Entwicklung lenkt, die der Imperialismus in den Jahrzehnten von seinem Beginn bis in unsere Tage genommen hat. Ganz klar wird bei solcher Sicht die Richtigkeit der Imperialismus-Analyse Lenins, der die Herrschaft der großen Monopole als das entscheidende Merkmal dieses letzten Stadiums der kapitalistischen Gesellschaftsordnung nachgewiesen hat. Eine bemerkenswerte Erscheinung in der Phase der Formierung des Imperialismus in Deutschland war das Widerstreben der Konservativen und der Agrarier gegen die industrielle Entwicklung. Zur Veranschaulichung der Probleme, um die es da in sehr handgreiflicher und für die Betroffenen fühlbarer Weise ging, diene ein Zitat aus einem Brief des Grafen Philipp Eulenburg an Bülow vom September 1899.16 Eulenburg hatte in Ostpreußen an einer Familienfeier im Hause des Grafen Eberhard Dohna teilgenommen, wo ein großer Kreis ultra-konservativ gesinnter Gutsbesitzer und Politiker zusammengewesen war. Über die Quintessenz der Unterhaltungen bei diesem Anlaß schrieb er: „Die Sozialisten machen erschreckende Fortschritte auf dem flachen Lande, weil die Gutsbesitzer auf die wenigen, noch nicht nach den Industriebezirken gezogenen Arbeiter angewiesen sind. Diese glauben, jede Forderung stellen zu können und fangen an, eine Art Terrorismus auszuüben. Mein Schwager Karlwein erzählte mir, daß ein zu Kilgris gehöriges Dorf tatsächlich fast leer steht. Seine alten Leute treten unerträglich frech auf. Bei seinem Schwiegersohn Batocki . . . haben jetzt 50 Mann unter einer gewissen Anerkennung für den guten Willen der Herrschaft erklärt fortzugehen — und verlassen tatsächlich am

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Einleitung

1. Oktober den Ort. Unter diesen Umständen erklärte mir Kanitz-Podangen, seien die Konservativen im Kampfe um die Existenz gezwungen, gegen Maßregeln (ganz egal ob Kanal oder etwas anders) zu stimmen, welche der industriellen Bewegung Vorschub leisten und weitere Verschiebung der Arbeiterfrage zur Folge hätten." Man darf annehmen, daß das Wort „sozialistisch" hier nicht sehr exakt gebraucht, sondern von den großen Herren der großen Güter schon dann verwandt wurde, wenn die Landproletarier auch nur Ansätze machten, ihren Forderungen nach etwas besserem Leben mehr Nachdruck zu verleihen. Die Situation selbst aber ist doch sehr klar. Noch 1894 hatte Engels die „tatsächliche halbe Leibeigenschaft der ostelbischen Landarbeiter" als die „Hauptgrundlage der preußischen Junkerherrschaft und damit der spezifisch preußischen Oberherrschaft in Deutschland" bezeichnet. 17 Wenn diese Machtgrundlage nun unter den geschilderten Umständen ins Wanken geriet, so bedeutete das konkret nicht wenig für die Betroffenen. Das zitierte Beispiel mag hier stellvertretend für noch eine Reihe anderer ernster Interessengegensätze zwischen Junkertum und Bourgeoisie stehen, denen unsere Aufmerksamkeit künftig stärker zugewandt werden sollte. Zu dem großen Thema Mitteleuropa, das wir mit vorstehenden Überlegungen j a keineswegs erschöpft haben, sei noch auf zwei Aspekte hingewiesen. Der erste ist die in einem anderen Zusammenhang oben bereits erwähnte Ambivalenz des Expansionszieles Mitteleuropa. Immer wieder wird von liberalisierenden bürgerlichen Historikern versucht, das Expansionsziel Mitteleuropa als ein gemäßigtes Ziel einzuordnen. Tatsächlich verhielt es sich doch anders. Ein Mitteleuropa unter Führung des deutschen Imperialismus war ein Ziel auch der Alldeutschen — gedacht und geplant keineswegs in irgendeiner Weise maßvoll oder zurückhaltend. Hier verband sich mit der Ausdehnung des deutschen Machtbereichs auf Mitteleuropa die Absicht weitestgehender Annexionen und der Aufrichtung einer Macht des deutschen Militarismus und Imperialismus so stark und radikal wie irgend möglich. Das Vorhandensein unterschiedlicher ökonomischer Interessen innerhalb der herrschenden Schichten drückte sich im sehr unterschiedlichen politischen Gehalt der Mitteleuropa-Losung aus. Es sollte nicht vergessen werden, daß auch die faschistische Konzeption einer „Neuordnung Europas" direkt an die alten Mitteleuropapläne anknüpfte. Zum zweiten ist diese Zielsetzung des deutschen Imperialismus ein sehr lohnendes Feld für Forschungsarbeiten nicht nur auf dem Gebiet der Wirtschaftsgeschichte oder der politischen Geschichte, sondern auch für Untersuchungen über Inhalt und Wirkungsweise imperialistischer Ideologie. Nehmen wir nur ein charakteristisches Zitat, aus einem Vortrag von Erich Mareks im Oktober 1914 über das Ziel Deutschlands im Weltkrieg: „Ein neues Mitteleuropa", so sagte er, „unter deutscher Führung steigt da vor uns auf . . . nicht von Deutschland beherrscht, aber von Deutschland überragt und beschirmt." 1 8 Deutschland, so meinte der wortgewandte Historiker, werde ausgreifen müssen nach West und Ost, aber nicht, um zu annektieren; denn die Einfügung fremder Volks- und Länderteile in den Körper des deutschen Reiches würde keinen Segen bringen. . Notwendig — und nicht sehr schwierig — ist es gegenüber solchen Tiraden zunächst,

Einleitung

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ihre Zweideutigkeit festzustellen und nachzuweisen, wie hier dem Expansionismus der führenden imperialistischen Kreise wirkungsvolle Hilfestellung gegeben wurde. Klarzumachen ist die objektiv betrügerische Funktion solcher verbaler Kunststückchen, die den Eindruck erwecken, es sei ein Unterschied, ob Deutschland andere Länder „überrage", statt offen, wie die Alldeutschen, von Herrschaft zu sprechen. So richtig und notwendig es ist, diesen, vor allem wichtigen Tatbestand zu unterstreichen, es ist nicht alles. Weitergehende und gründlicher differenzierende Forschung, die sich ja immer wieder dem Problem gegenübersieht, erklären zu müssen, wie es kam, daß große Teile des deutschen Volkes, weit über die Zahl u n mittelbarer Interessenten an imperialistischen Extraprofiten hinaus, imperialistischer Politik folgten, weil sie sie für richtig und gerechtfertigt hielten, wird der ersten Feststellung weitere Überlegungen hinzuzufügen haben. Natürlich irrten Männer wie Albert Einstein oder Paul Österreich, wenn sie glaubten, durch ihre Unterschrift unter die Delbrück—Dernburg-Denkschrift etwasfür den Frieden zu t u n ; denn eine Denkschrift zugunsten imperialistischer Kriegsziele war diese auch, wie die der Alldeutschen und der Schwerindustrie. Bemerkenswert ist aber doch, daß einzelne der Unterzeichner bei Delbrück und Dernburg vor allem deren Worte gegen die wildesten und lautesten Annexionisten und Kriegstreiber sahen und sich der Denkschrift anschließen zu können glaubten, als der einzigen ihnen sichtbaren Möglichkeit, irgend etwas f ü r den Frieden und gegen den Krieg zu tun. Natürlich wäre die Meinung falsch, daß solche Wirkungen an dem proimperialistischen Charakter von Aktionen wie der eben erwähnten Denkschrift das geringste ändern. Das tun sie nicht. F ü r die Entwicklung der in Betracht kommenden einzelnen aber, von denen in der Folgezeit möglicherweise größere Wirkungen auf eine größere Zahl von Menschen in Richtung auf fortschrittliches und friedensfreundliches Verhalten ausgehen, sind auch solche Aktionen wichtig. Zu antiimperialistischen Positionen freilich gelangten solche Männer nur in dem Maße, wie sie alle illusionären Vorstellungen modifizierender „Besserung" des Imperialismus überwanden und sich aktiv an die Seite der revolutionären Arbeiterbewegung stellten. Wir sprachen einleitend vom Kampf zwischen Imperialismus und Sozialismus als der Grundachse der internationalen Auseinandersetzungen der Gegenwart und kommen abschließend auf diese grundlegende Frontstellung zurück. Sinn und Ziel marxistisch-leninistischer Imperialismusforschung ist die Durchleuchtung und Aufhellung des Herrschaftssystems, in dem der Kapitalismus „zu einem Weltsystem kolonialer Unterdrückung und finanzieller Erdrosselung der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung der Erde durch eine Handvoll fortgeschrittener' Länder geworden" ist. 19 Und nicht wissenschaftlichem Selbstzweck dient diese Arbeit, sondern dem Kampf der revolutionären und antiimperialistischen Kräfte gegen den Imperialismus, den man nur überwinden kann, wenn man ihn kennt. Was Lenin für die Erscheinung der Arbeiteraristokratie feststellte, gilt f ü r das imperialistische System insgesamt: „Ohne die ökonomischen Wurzeln dieser Erscheinung begriffen zu haben, ohne ihre politische und soziale Bedeutung abgewogen zu haben, ist es unmöglich, auch nur einen Schritt zur Lösung der

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Einleitung

praktischen A u f g a b e n der kommunistischen Bewegung und der k o m m e n d e n sozia len R e v o l u t i o n zu m a c h e n . " 2 0

Anmerkungen 1

Überarbeitete Fassung eines Vortrages über „Probleme der Erforschung des deutschen Imperialismus vor 1914", gehalten am 13. 11. 1973 auf dem Kolloquium „Der deutsche Imperialismus vor 1914" des Zentralinstituts für Geschichte an der A d W der D D R in Berlin.

Gutsche, Willibald/Laschitza, Annelies, Forschungen zur deutschen Geschichte von der Jahrhundertwende bis 1917, in: Historische Forschungen in der D D R 1960—1970, Berlin 1970, S. 491. 3 Lenin, W. /., Werke, Bd 24, Berlin 1959, S. 227. 2

* Ebenda, S. 398. 5 Marx, Karl/Engels, Friedrich, Werke (im folgenden: M E W ) , Bd 19, Berlin 1962, S. 111. 6 Ebenda, S. 112. ' Lenin, W. /., Werke, Bd 34, Berlin 1962, S. 17. 8 M E W , Bd39, Berlin 1968, S. 431. Diese Gedanken haben Engels in diesen Tagen offenbar stark beschäftigt. A m 19. 3. 1895 machte er zu einer Stelle in einem ihm übersandten Manuskript von Carl Hirsch die folgende Bemerkung: „S. 6 — jedesmal Überproduktionen, Krisen'. — Kann, hat die Tendenz — Realisation keineswegs notwendig." (Ebenda, S. 441). 9 Ebenda, S. 433. «> Vgl. Lenin, W. /., Werke, Bd 21, Berlin 1960, S. 443. 11 Zit. nach Williams, William A., Amerikas „idealistischer" Imperialismus 1900—1917, in: Imperialismus, hg. von Hans-Ulrich Wehler, 2. Aufl., Köln 1972, S. 426. 12 Vgl. ebenda, S. 436. « Lenin, W. /., Werke, Bd 22, Berlin 1960, S. 271. Derselbe, Bd 32, Berlin 1961, S. 81 f. Vgl. Boso, L., Zollalliancen und Zollunionen in ihrer Bedeutung für die Handelspolitik der Vergangenheit und Zukunft, Berlin 1907, S. 252 ff. 16 Bundesarchiv Koblenz, Nachlaß Eulenburg, Nr. 54, BI. 205 f. « M E W , Bd 22, Berlin 1963, S. 504. 18 Vgl. Klein, Fritz, Die deutschen Historiker im ersten Weltkrieg, in: Studien über die deutsche Geschichtswissenschaft, hg. v . Joachim Streisand, Bd I I , Berlin 1965, S. 234. « Lenin, W. /., Werke, Bd 22, S. 195. M Ebenda, S. 198. "

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HELMUTH

STOECKEB.

Bürgerliche Auslegungen des Imperialismusbegriffes in der Gegenwart

Bis in die Gegenwart haben sehr viele antimarxistische, einschließlich der sozialdemokratischen Ideologen es sich bei der Auseinandersetzung mit der Imperialismustheorie Lenins leicht gemacht: Sie taten diese Theorie einfach als wissenschaftlich nicht haltbare Zweckkonstruktion ab, klassifizierten sie nicht selten ohne einen Versuch der Differenzierung zusammen mit den Theorien John A. Hobsons, Rudolf Hilferdings und Rosa Luxemburgs als „Theorie des ökonomischen Imperialismus" (so jüngst wieder W. Baumgart, Deutschland im Zeitalter des Imperialismus 1890—1914, Frankfurt/M. 1972) und verwechselten sie, wie den historischen Materialismus schlechthin, mit mechanistischem Ökonomismus. J e größer aber der Einfluß der Leninschen Theorie im internationalen Maßstab wurde, je mehr der Imperialismus über die revolutionäre Arbeiterbewegung hinaus, vor allem in den nationalen Befreiungsbewegungen, als Schlüssel zum Verständnis handgreiflicher ökonomischpolitischer Realitäten Verbreitung fand, desto mehr sahen sich die Vertreter bürgerlicher Ideologie insbesondere unter den Historikern genötigt, jener Theorie eigene Auffassungen und Deutungen entgegenzustellen, deren objektiver Sinn darin besteht, den Imperialismusbegriff zu verfälschen, um ihn als Instrument antiimperialistischer Ideologie und Politik möglichst unbrauchbar zu machen. Diese Tendenz — bei manchen Autoren offen zugegeben, bei anderen sorgfältig getarnt — tritt unverkennbar hervor in dem gemeinsamen Nenner, auf den alle antimarxistischen Imperialismustheorien und -auslegungen in Vergangenheit und Gegenwart gebracht werden können: in dem Versuch, Politik und Ideologie des Imperialismus von ihrer Grundlage, dem monopolistischen Kapitalismus, zu trennen. In dieser prinzipiellen Frage stimmen so unterschiedliche Historiker wie Heinrich Friedjung und William L. Langer, Erich Eyck und Fritz Härtung, Wolfgang Mommsen und David Fieldhouse miteinander überein. Zwischen den beiden Weltkriegen gab es im deutschsprachigen Raum und in England nicht wenige Versuche, den Begriff „Imperialismus" aus der Wissenschaft zu verbannen, indem er als parteipolitische, demagogische Losung ohne eindeutige Definierbarkeit disqualifiziert wurde. So bezeichnete der österreichische Nationalökonom Othmar Spann 1923 den Imperialismus als „keine eigentlich wissenschaftliche", sondern „nur eine parteipolitische Begriffsbildung" 1 , während die 1926 bzw. 1929 veröffentlichte 13. und 14. Auflage des wichtigsten allgemeinen Nachschlagewerkes in englischer Sprache, die Encyclopaedia Britannica, den Begriff 2 Imperialismus

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„Imperialismus" überhaupt nicht kannten. Der führende britische Kolonialhistoriker Sir Keith Hancock erklärte ihn noch 1940 als ungeeignet für eine wissenschaftliche Analyse. 2 Dementsprechend blieb die bürgerliche theoretische Literatur, die sich mit dem Imperialismusbegriff auseinandersetzte, im Umfang sehr gering; er fand im Vokabular der Mehrzahl deutscher akademischer Historiker lediglich mitunter Verwendung im Hinblick auf die expansionistische Ideologie und Bewegung, auf die sie die hektische Kolonialexpansion am Ende des 19. Jahrhunderts zurückführten. Nur einer, der Mediävist J u s t u s Hashagen, stellte eine weitergehende Definition auf: „Imperialismus ist eine zugleich geistige und politische Bewegung mit dem Ziel einer Reichsgründung durch die Ausdehnung nationaler Herrschaft und Wirtschaftsmacht über einen R a u m , der die Grenzen des betreffenden Nationalstaates überschreitet und fremde Völker dem Reichsverband zu unterwerfen oder einzugliedern versucht." 3 Demnach wäre der Begriff „Imperialismus" bereits auf das spanische Imperium des 16. Jahrhunderts, wenn nicht gar auf noch frühere Reichsgründungen anzuwenden. Hashagens Definition erinnert unwillkürlich an eine Feststellung Lenins von 1 9 1 6 : „ . . . ,allgemeine' Betrachtungen über den Imperialismus, die den radikalen Unterschied zwischen den ökonomischen Gesellschaftsformationen vergessen oder in den Hintergrund schieben, arten unvermeidlich in leere B a n a l i t ä t e n oder Flunkereien aus, wie etwa der Vergleich des ,größeren Rom mit dem größeren Britannien'. Selbst die kapitalistische Kolonialpolitik der früheren Stadien des Kapitalismus unterscheidet sich wesentlich von der Kolonialpolitik des Finanzkapitals." 4 Wurde der Begriff in England nicht so eindeutig und absolut disqualifiziert, so doch wohl nur, weil er, zu Victorias Zeiten stolz zum politischen Leitmotiv der größten Kolonialmacht erhoben, der Bourgeoisie als Synonym einer aktiven E m pire* und Kolonialpolitik galt, mit der sie sich zwischen den beiden Weltkriegen noch voll identifizierte. Nach dem zweiten Weltkrieg und mit dem Sieg nationaler antikolonialer Bewegungen in einer britischen Kolonialdomäne nach der anderen erwies sich das W o r t vom Imperialismus, das bei vielen Millionen Asiaten und Afrikanern Erinnerungen an Unterjochung, Entrechtung und vor allem brutalste Ausbeutung heraufbeschwor, freilich als ernste Belastung neokolonialistischer Politik: W a r nicht der Imperialist von gestern Imperialist geblieben und ergo wohl kaum der uneigennützige Entwicklungshelfer, als den er sich gab? Also wurde die Entkräftung der „Theorie des ökonomischen Imperialismus" seit den fünfzigei J a h r e n zu einer Hauptaufgabe akademischer Geschichtsschreiber und neokolonialistischer Ideologen, deren emsige und weitgespannte Produktivität es ermöglichte, allen ehemals dem Empire zugehörigen Völkern den Zwecken der Metropole angemessene Geschichte und Ideologie frei Haus zu liefern. Im Vordergrund steht hier die Deutung der Triebkräfte und Motive kolonialer Aggression und Herrschaft. Anhand einzelner Fälle, die sich natürlich finden lassen, wird versucht nachzuweisen, daß die wirtschaftliche Expansion häufig ein bewußt gehandhabtes Instrument der politischen Expansion und dieser generell mehr oder weniger untergeordnet gewesen sei. So bemühten sich z. B . Ronald Robinson und

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J o h n Gallagher in dem in der englisch sprechenden Welt weitverbreiteten und ausgezeichnet geschriebenen Buch „Africa and the Victorians" (London 1961 und weitere Aufl.) zu zeigen, daß es bei den britischen Kolonialeroberungen in Ostafrika Ende des 19. Jahrhunderts weniger um die Reichtümer und Ausbeutungspotenzen der betroffenen Länder als vielmehr um die Absicherung des Weges von England nach Indien und die Bekämpfung afrikanischer Gegner des „informal empire" ging. Daraus leiteten sie dann ab, daß die „Theorie des ökonomischen Imperialismus" zur Erklärung der kolonialen Aufteilung Afrikas nicht tauge. Wenn man, wie Robinson und Gallagher, den entscheidenden Grund für die zweifellos vorhandene defensive Komponente in der britischen Ostafrikaexpansion jener Zeit, nämlich die überragenden ökonomischen Interessen der britischen Bourgeoisie in Indien, kaum beachtet, kann man sicherlich der Illusion erliegen, daß ökonomische Interessen für die in Ostafrika verfolgte Politik nicht letztlich maßgebend waren. Doch diese Begrenzung des historischen Blickfeldes ist allzu willkürlich: Die Anwendung derartiger Verfahren durch sonst sehr umsichtige und erfahrene Historiker scheint nur durch das Bewußtsein einer überaus bedrängten Position erklärlich, das diesen „Schwurzeugen für die lichte, weiße, blütenreine Natur des britischen Imperialismus" (Hallgarten) beim Entwerfen ihrer Darstellung eigen gewesen sein muß. Ähnlich primitive Täuschungsmethoden werden benutzt, um die Bedeutung des Kapitalexports für den Imperialismus, oder genauer gesagt, für die Kolonialexpansion der imperialistischen Mächte in Frage zu stellen. So führen mehrere britische Autoren den zweifellos geringen Umfang der europäischen Kapitalanlagen in den Kolonien des tropischen Afrika an, um eine Verbindung zwischen kolonialer Expansion und Kapitalexport zu negieren und, davon ausgehend, ebenfalls anzuzweifeln, daß die sogenannte Theorie des ökonomischen Imperialismus auf Afrika überhaupt anwendbar sei. 5 Als ob nicht die Entwicklung des Kolonialismus in Indien, Ägypten, Südafrika, Malaya, Australien und anderen wichtigen Kolonien und Halbkolonien diese Verbindung beziehungsweise die Bedeutung der Interessen der Kapitalexporteure als Triebkraft kolonialer Expansion und raison d'être kolonialer Herrschaft als allgemeines Charakteristikum des imperialistischen Kolonialsystems so eindeutig bestätigt, daß es gar keinen Raum für Meinungsverschiedenheiten über diese Tatsache geben kann; als allgemeines Charakteristikum freilich, das in bestimmten Kolonialgebieten, wie Tropisch-Afrika und Russisch-Mittelasien, vor 1914 wenig entwickelt war (und auch später nicht überall das gleiche Gewicht aufwies). Schließlich fallen in der theoretischen, vor allem aber der kolonialgeschichtlichen Literatur Englands die nicht enden wollenden Versuche auf, die Kolonien als wirtschaftlich enttäuschend, unprofitabel, als Zuschußobjekte, bestenfalls als Länder hinzustellen, in denen hohe Gewinne hohen Verlusten gegenüberstanden und daher Durchschnittsprofite nicht höher gewesen sein können als in den Metropolen. Kiplings Wort von der Bürde des weißen Mannes wird als naiver Ausfluß einer antiquierten Kolonialideologie belächelt; doch an der Substanz dieses Gedankens hält man fest. 2*

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Die grundsätzlich von gleicher Klassenposition aus geführte Auseinandersetzung mit dem Imperialismusbegriff in der B R D weist demgegenüber manche Unterschiede im einzelnen auf. Während einige konservative Geschichtsschreiber auch nach dem zweiten Weltkrieg an der Ablehnung des Imperialismusbegriffes in jeglicher Gestalt festhielten — Gerhard Ritter schrieb z. B. 1960 von der „Epoche des sogenannten ,Imperialismus'" 6 —, fand sich die Mehrzahl der deutschen bürgerlichen Historiker nunmehr bereit, den Begriff nicht nur gelegentlich zu verwenden, sondern ihm eine gewisse Rolle bei der allgemeinen Kennzeichnung der Außenpolitik der Mächte vor 1914 einzuräumen. Sichtlich unter dem Eindruck amerikanischer Vorbilder — hatte doch ein so angesehener amerikanischer Historiker wie William L . Langer bereits 1935 eine ausführliche Darstellung der Geschichte der internationalen Beziehungen 1890 bis 1902 mit dem Titel „The Diplomacy of Imperialism" versehen — gab Hans Herzfeld, Ordinarius für Neuere Geschichte an der „Freien Universität" in Westberlin, 1952 dem ersten Hauptabschnitt seines Hochschullehrbuches über die Weltgeschichte von 1890 bis 1945 die Überschrift „Der Imperialismus und die Vorgeschichte des ersten Weltkrieges". In der Auslegung des Imperialismusbegriffes ging Herzfeld über die Vorstellungen hinaus, die von Justus Hashagen nach dem ersten Weltkrieg entwickelt worden waren. Dessen Definition ergänzte er durch das „Lebensraum"-Motiv und eine eindeutigere zeitliche Einordnung sowie den Hinweis auf weltpolitische Konsequenzen. Als Imperialismus bezeichnete Herzfeld das Expansionsstreben einzelner Mächte seit etwa 1880 mit dem Ziel, den Rang von Groß- bzw. Weltmächten zu erreichen. Triebkraft sei „der Wunsch, Lebensraum für die wachsende Bevölkerungszahl auch in der Zukunft zu sichern, und die Überzeugung, daß auf dem enger werdenden Erdball sich in führender Stellung nur Staaten mit großem Raum, hoher Volkszahl und starker Wirtschaftskraft behaupten können . . . " ; die koloniale Aufteilung der Erde und der Übergang zu „einem planetarischen System der Machtverteilung und der Machtrivalitäten" 7 seien die Folge. Die demagogische Lebensraumparole, ein wichtiges Requisit nazistischer Ideologie und Propaganda, ist von Herzfeld also 1952 schon wieder zur Erklärung (und implizite Rechtfertigung) imperialistischer Expansionspolitik angeführt worden. Daß ähnliche Auslegungen des Imperialismusbegriffes, im einzelnen in dieser oder jener Richtung variiert, bis heute in der B R D vorherrschen, zeigt sich bei der Durchsicht der dort in den letzten Jahren veröffentlichten Geschichtsliteratur allgemeineren Charakters. Dabei fällt sofort auf, daß der der Kommentierung dieses Begriffes gewidmete Raum etwa entsprechend der Steigerung des Einflusses des Marxismus-Leninismus im Weltmaßstab vermehrt worden ist. So widmet Theodor Schieder der Analyse der Triebkräfte des „Impsrialismus" in seinem Handbuch der europäischen Geschichte weit mehr Aufmerksamkeit, als die Herausgeber analoger Handbücher es in früheren Jahrzehnten für notwendig erachteten. Während Schieder, wie Fritz Härtung 16 Jahre früher in der 6. Aufl. seiner Deutschen Geschichte 1871—1919 (Stuttgart 1952), „Imperialismus" ohne jeden Versuch einer Bsgründung mit der Kolonialexpansion, dar kolonialen Aufteilung der Erde und der Errichtung großer Kolonialreiche seit 1880 gleichsetzte, konnte er nicht umhin — und darin entspricht er einer allgemeinen Tendenz der bürgerlichen Historiographie

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im Weltmaßstab —, dieser Problematik, der Härtung 2Y 2 Seiten zugebilligt hatte, einen ganzen Abschnitt seines Kompendiums zu widmen. Da Schieder in der westdeutschen Historiographie eine sehr wichtige Stellung einnimmt und als einflußreicher Repräsentant der heute in der B R D vorherrschenden flexiblen imperialistischen Strömung gelten kann, seien seine Auffassungen hier kurz wiedergegeben.8 Sie bilden keine geschlossene, in sich einheitliche Theorie, sondern werden dargeboten als eine Anzahl nebeneinandergestellter, nicht unbedingt logisch oder unmittelbar sachlich miteinander verbundener Thesen. Es fällt ein Eklektizismus auf, der auf jede Systematik verzichtet und, unbekümmert um Widersprüche in der eigenen Argumentation, im Grunde nur auf das Entkräften der Leninschen Imperialismustheorie abzielt. Dabei ist Schieders Vorgehen charakteristisch für das unruhige Taktieren, zugleich aber auch für die theoretische Armut der antimarxistischen Geschichtsschreibung der Gegenwart. Schieder beschränkt den Begriff „Imperialismus", wie gesagt, auf die außereuropäische Expansion der Mächte seit etwa 1880, die sich von früherer Expansion dadurch unterscheide, daß sie ein weit größeres Gewicht für die Gesamtpolitik gewonnen habe und programmatisch betrieben worden sei. „Jede große Macht hält es jetzt für ihr politisches Prestige unerläßlich, daß sie über Herrschaftsgebiete außerhalb ihrer nationalen Grenzen v e r f ü g t . . . Es entsteht eine demographische, aber auch national-psychologische Dynamik, die zweifellos zunächst noch wenig und nur mittelbar etwas mit Kapitalismus zu tun hatte." 9 Nach diesen unwissenschaftlichen und grundfalschen Behauptungen leitet Schieder, von der richtigen Feststellung ausgehend, daß die „antagonistische Struktur des Imperialismus", d. h. die koloniale Gegensätzlichkeit der kapitalistischen Mächte, eine fundamentale Erscheinung sei, über zu dem genauso untauglichen Versuch, durch die Auflösung des Weltsystems des Imperialismus (d. h. Kolonialismus) in nationale Bestandteile bzw. Einzelimperialismen die Realität dieses Weltsystems zu leugnen. Die kolonialen Gegensätze zwischen den Mächten, schreibt er, hätten „die Entstehung eines einzigen Wehimperialismus von vornherein unmöglich" gemacht. „Das die imperialistische Politik auslösende Motiv in jeder Nation", fährt er fort, „ist eine jeweils besondere nationale Lage". So sei Frankreichs Übergang zur kolonialen Expansion in erster Linie durch das Bedürfnis verursacht worden, die Niederlage von 1870/71 zu kompensieren, während in Deutschland die Auffassung entstand, „daß die deutsche Nationalstaatsgründung erst als vollendet angesehen werden kann, wenn sie durch eine Weltmachtschöpfung gekrönt würde" 10 . Die ökonomischen Motive und Triebkräfte des weltweiten Kampfes um koloniale Aufteilung und Neuaufteilung erscheinen bei Schieder an letzter Stelle. E r meint: „Die ökonomische Komponente der imperialistischen Expansion ist nirgends zu übersehen, aber sie wird fast überall integriert in politische Tendenzen. Es besteht wohl von Anfang an ein unauflöslicher Zusammenhang politischer und ökonomischer Tendenzen, aber keineswegs immer ein unbedingter Primat des Ökonomischen . . .", der sich insbesondere nicht aus dem „Zwang zum Kapitalexport" nachweisen lasse. Vielmehr sei auf dem Boden des Protektionismus der Industriestaaten das Streben nach Rohstoffgebieten, Warenabsatzmärkten und Siedlungs-

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gebieten zur Unterbringung des (angeblichen) Menschenüberschusses „innerhalb eines nationalen Herrschaftsraumes" wirksam geworden; es habe sich seit 1880 die „Einsicht" durchgesetzt, „daß der nationalstaatliche Rahmen zu eng ist für die Bewältigung der gewaltigen ökonomischen und sozialen Probleme". 11 Bei dem kolonialen Wettrennen, das damals einsetzte, habe es sich um einen Vorgang gehandelt, „den man vielleicht am ehesten als Potenzierung ursprünglich vorhandener machtstaatlich-politischer Tendenzen durch ökonomische bezeichnen" könne. Im übrigen habe es „im allgemeinen eine sehr geringe Erfüllung der wirtschaftlichen Hoffnungen" gegeben, die an die kolonialen Erwerbungen geknüpft worden waren.12 Schieder hat hier Argumente zusammengefaßt, die uns in der bürgerlichen Imperialismusliteratur des letzten Jahrzehnts immer wieder begegnen. Am Ende seiner Ausführungen behauptet er nochmals einen Primat „rein" politischer Motive für den Kampf um Kolonien: Der Antagonismus der Mächte untereinander habe „zweifellos den sturmflutartigen Verlauf der ganzen Bewegung wesentlich bestimmt, der sonst durch kein Motiv hinreichend erklärt werden kann außer durch den Elementartrieb des politischen Wettbewerbs im Kampf um die Macht"13. Damit sind wir wieder bei einem Grundgedanken des von Schieder selbst an anderer Stelle kritisierten, zutiefst reaktionären „deutschen Historismus" angelangt. Sind schon Schieders gewundene, mitunter widersprüchliche Versuche, sein Festhalten an traditionellen Argumenten zur Begründung und historischen Legitimierung kapitalistischer und imperialistischer Expansionspolitik mit Zugeständnissen an „modernere" Richtungen zu verbinden, nur mit dem Streben nach Anpassung an eine veränderte weltpolitische Lage im allgemeinen und an eine bei Teilen der studentischen Jugend der B R D erheblich gewachsene Aufgeschlossenheit gegenüber dem Marxismus im besonderen zu erklären, so steht das Auftreten einiger jüngerer Historiker der B R D auf dem Gebiet der Imperialismustheorie erst recht im Zeichen gewandelter Verhältnisse. Einer von ihnen, Wolfgang Mommsen, Professor für Neuere Geschichte an der Universität Düsseldorf, sah das 1969 so: „Der Marxismus-Leninismus hat es . . . leicht, triumphierend auf die Inkonsistenz und Zufälligkeit der bürgerlichen Erklärungsmodelle des Imperialismus hinzuweisen und ihnen die logische Stringenz der eigenen Theorie entgegenzustellen. Tatsächlich tragen die meisten westlichen Versuche, den Imperialismus als spezifisch modernes oder als universalhistorisches Phänomen erschöpfend zu beschreiben, eklektizistischen Charakter; die komplexen historischen Zusammenhänge werden mit großer Präzision beschrieben; hingegen scheut die Forschung immer wieder davor zurück, die Einzeluntersuchungen in einer allgemeinen Theorie zusammenzufassen." 14 Beim Lesen von Mommsens Überblicksdarstellung der europäischen Geschichte von 1885 bis 1918, der er den Titel „Das Zeitalter des Imperialismus" gab, zeigt sich, daß man seine Bemerkungen durchaus auch auf dieses Buch 1 5 beziehen kann; denn es zeichnet sich einerseits durch Materialfülle, andererseits durch theoretische Anspruchslosigkeit aus. Mommsen bekennt sich zur industriegesellschaftlichen Geschichtstheorie. Er postuliert ein „gleichberechtigtes" (?) Nebeneinander von politischen Ideologien, wirtschaftlicher Entwicklung und Entwicklung der Sozialstruk-

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t u r und leitet in vielen einzelnen Fällen die Herausbildung und Ausbreitung der Ideologien von der (keineswegs immer zutreffend skizzierten) ökonomischen und sozialen Entwicklung ab. Die imperialistische Ideologie, auf die Mommsen die imperialistische Politik in erster Linie zurückführt, deutet er allerdings als eine „Extremform nationalistischen Denkens", als eine Steigerung des bürgerlichen Nationalismus ohne jegliche Beziehung zu dem (auch von ihm konstatierten) Konzentrationsprozeß in Industrie und Finanz, ja überhaupt ohne entscheidende Anstöße aus der Sphäre ökonomischer Interessen. „Nationale Geltung nur im Rahmen des europäischen Staatensystems war den Völkern nun nicht mehr genug; man wollte auch in Übersee eine Macht werden." 16 Unter dem Druck dieser Ideologie, dem „Fieberwahn des Imperialismus", der sowohl die Kabinette als auch breite Teile der Öffentlichkeit, insbesondere der Mittelschichten, erfaßte, seien die Mächte am Ende des 19. Jahrhunderts zu einer kolonialexpansionistischen Weltmachtpolitik übergegangen. Die Regierungen gerieten „in den Sog einer nationalistisch aufgeladenen öffentlichen Meinung", schreibt Mommsen 17 und fügt hinzu, daß „wirtschaftliche Motive, sowohl solche primärer als auch solche abgeleiteter Art, nur in Verbindung mit politischen Erwartungen und Sehnsüchten nationalistischer Färbung zur Steigerung der imperialistischen Leidenschaften der Zeit beigetragen haben . . . Die primären Ursachen des Imperialismus jener Epoche sind in dem Nationalismus eben jener Schichten zu suchen, welche im Zuge der Entwicklung der industriellen Gesellschaft nach oben getragen wurden, nicht aber in vermeintlich objektiven Bedürfnissen des Kapitalismus nach überseeischen Märkten als solchen." 18 Der Kapitalismus habe im Gegenteil, „seinem wahren Wesen (!!—H. S.) gemäß, Formen internationaler Kooperation (entwickelt), die, wäre nicht der Erste Weltkrieg dazwischengekommen, auf die internationalen Beziehungen entschärfend hätten wirken können" 1 9 , ja, „die führenden Kreise der Wirtschaft" seien bis Kriegsbeginn „eher für die Erhaltung des europäischen Friedens eingetreten". 2 0 Mommsen mag empfunden haben, daß dieser dürftige, inhaltlich nur wenig über Langer und Schieder hinausgehende Versuch, den Kapitalismus und die imperialistische Großbourgeoisie mittels wahrheitswidriger Behauptungen zu entlasten, vielen seiner Leser nicht überzeugend erscheinen konnte. Jedenfalls legte er in seinem 1971 veröffentlichten Aufsatz „Der moderne Imperialismus als innergesellschaftliches Phänomen. Versuch einer universalgeschichtlichen Einordnung" 2 1 eine wesentlich „anspruchsvollere" Deutung des Imperialismusbegriffes vor. Sie beruht auf einer eigentümlichen Mischung durchaus zutreffender Erkenntnisse, ja f ü r einen bürgerlichen Historiker ungewöhnlich weitreichender Einsichten einerseits und willkürlicher Entstellung sowie Ignorierung historischer Tatsachen andererseits. Mommsen geht hier über die Bestimmung des Imperialismus als politischideologische Bewegung hinaus, wenn er den modernen Imperialismus als „historische Formation" bezeichnet. Es zeigt sich jedoch sehr bald, daß er diese „Formation" nicht von der E n t wicklung der Produktionsverhältnisse ableitet, sondern mit der kolonialen Expansion und Herrschaft der „modernen Industriestaaten" im Sinne einer industrie-

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gesellschaftlichen Geschichtstheorie identifiziert. Die Begriffe Monopol, monopolistische Bourgeoisie, Monopolkapitalismus kommen in diesem Aufsatz weder als Worte noch der Sache nach vor; der Begriff „Imperialismus", meint Mommsen, sei bei der Charakterisierung von „Fehlerquellen" der heutigen Weltwirtschaft nutzlos; es erscheine „nicht zweckmäßig, das heutige Verhältnis der Industrieländer zu den Entwicklungsländern mit traditionellen imperialistischen Kategorien beschreiben zu wollen". 22 E r behauptet also, der Imperialismus habe 1945 ein Ende gefunden. „Die historische Formation" des Imperialismus teilt Mommsen in drei Perioden ein: 1. 1776 bis 1882; 2. 1882 bis 1918; 3. 1919 bis 1945. In der ersten Periode hätten „noch nahezu die meisten Merkmale, die man landläufig dem Imperialismus zuschreibt", gefehlt; „die imperialistische Expansion dieser Periode war weder zielbewußt gesteuert noch eine wirtschaftliche Notwendigkeit". 23 Die zweite Periode sei die des klassischen Imperialismus gewesen. Hier kommt Mommsen zum entscheidenden Teil seiner Argumentation. Die Kolonialexpansion der europäischen Mächte seit 1882 sei primär politisch motiviert gewesen, was er nun weitergehend begründet: „Der Ruf nach Machtsteigerung der eigenen Nation in Übersee läßt sich bestimmen als Integrationsideologie, die die loyale Einfügung der neuen Mittelschichten in ein weitgehend noch von traditionellen Führungseliten gelenktes politisches System ermöglichen sollte. Imperialismus war, mit anderen Worten, ein Mittel zur Festigung und Konservierung der bestehenden Herrschaftsstrukturen in einer sich rapide wandelnden gesellschaftlichen Wirklichkeit." 2 4 Und an anderer Stelle: „Allein in Verbindung mit der weit verbreiteten Vorstellung, daß die bestehenden sozialen politischen Strukturen sich nur unter den Bedingungen eines stetigen wirtschaftlichen Wachstums würden erhalten und die sozialdemokratische Gefahr bannen lassen, gewann der Ruf nach neuen Märkten und Rohstoffquellen in Übersee seine große Gewalt." Mit dieser Erkenntnis ist Mommsen — wenn wir von der Beschränkung des Imperialismus auf Kolonialexpansion außerhalb Europas absehen — zweifellos zu einer außerordentlich wichtigen Teilwahrheit — aber eben nur Teilwahrheit — über die Triebkräfte imperialistischer Expansionspolitik vorgedrungen. Doch wozu benutzt er diese Erkenntnis? Sie wird sofort einseitig verabsolutiert, um in demagogischer Art und Weise gegen eine andere, dazu durchaus nicht im Widerspruch stehende Wahrheit über imperialistische Expansion gerichtet zu werden. Die Tatsache, schreibt Mommsen, „daß die eigentlichen Ursachen für die Entstehung des modernen Imperialismus und für seine zeitweilig ungeheure Stoßkraft in den politischen und gesellschaftlichen Strukturen der Industriestaaten jener Epoche zu suchen sind", erledige „die auch heute noch verbreitete kleinbürgerliche Variante der marxistischen Imperialismustheorie, wonach der Imperialismus einzig und allein das sinistre Produkt der Machenschaften kleiner Gruppen von Finanzkapitalisten und Industrieherren gewesen sei". 2 5 Offenbar soll dem Leser die Vorstellung nahegebracht werden, daß derartigen Machenschaften allenfalls eine nebensächliche Rolle in der Geschichte imperialistischer Politik zukomme. Im übrigen seien — ein Hinweis auch auf die heutige B R D — die „ökonomischen Inter-

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essen der Eigentümerklasse einer kapitalistisch organisierten Wirtschaft . . . als solche nicht notwendig imperialistisch . . .", und vor und während des ersten Weltkrieges wäre „das Interesse an der Erhaltung der überkommenen gesellschaftlichen und politischen Struktur weit stärker als der Wunsch nach Förderung der unmittelbar ökonomischen Interessen" gewesen. 26 Natürlich treten in der Geschichte jeder imperialistischen Macht auch kleinere und größere Widersprüche zwischen den ökonomischen Interessen (insbesondere den kurzfristigen Profitinteressen) einzelner Kapitalisten oder kapitalistischer Gruppen und den politischen Interessen der Bourgeoisie (auch der Monopolbourgeoisie) insgesamt auf, doch berechtigt dieser Umstand keinesfalls zu einer Gegenüberstellung ökonomischer und politischer Interessen als voneinander unabhängiger Kategorien. W a r die ökonomische Basis kapitalistischer Produktionsverhältnisse (und mit ihr das kapitalistische Profitmotiv) etwa nicht die entscheidende Grundlage „der überkommenen gesellschaftlichen und politischen Struktur" der imperialistischen Mächte vor 1918 (und bis in die Gegenwart)? Aus diesem einfachen Grund war (und ist) jede Äußerung imperialistischer Politik, mochte bzw. mag sie auch noch so wenig mit unmittelbar konkret faßbaren Profitinteressen zu tun haben, letztendlich auf kapitalistische Profitinteressen zurückführbar, wobei es sich sowohl um spezifische Einzelinteressen als auch um grundlegende Interessen allgemeiner Art handeln kann. J e d e Auslegung des Imperialismusbegriffes, die, wie diejenige W . J . Mommsens, kapitalistische Profitinteressen als sekundär oder gar als unmaßgeblich für die expansionistische Politik imperialistischer Mächte abtut, ist nicht allein wissenschaftlich unbrauchbar, da im Widerspruch zur historischen Realität stehend, sondern als Exkulpationsversuch der proimperialistischen Apologetik zuzurechnen. Das gilt auch für die Auffassungen von Helmut Böhme, Präsident der T H Darmstadt, der nach dem Ausgang der Auseinandersetzung um das Buch Fritz Fischers „Griff nach der Weltmacht" offenbar das Bedürfnis verspürte, die nicht länger zu bestreitende Aggressivität des deutschen Imperialismus vor 1914 und dessen spezifische Rolle in der Entstehung des ersten Weltkrieges zu erklären, ohne das Terrain vor der Leninschen Imperialismustheorie räumen zu müssen. Diesen Versuch unternahm er jedenfalls 1971 in seinen ausführlichen „Thesen zur Beurteilung der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Ursachen des deutschen Imperialismus". 2 7 Das prätentiöse Elaborat — eine freundlichere Bezeichnung haben die ohne jegliche Sorgfalt gearbeiteten „Thesen" Böhmes nicht verdient — geht ebenfalls aus von der industriegesellschaftlichen Geschichtstheorie, jedoch lehnt der Verfasser in einer Polemik gegen H.-U. Wehlers Erklärung der Kolonialexpansion als konjunkturpolitisches Korrektiv (siehe unten) im Unterschied zu Mommsen die Realität ökonomischer Triebkräfte und Motivierungen der Expansionspolitik des deutschen Imperialismus rundheraus ab. Nach Böhme gab es für die „Weltpolitik" des deutschen Imperialismus vor 1914 nur politische Beweggründe. Dabei sei es vornehmlich um „agrarfeudale" Interessen gegangen, deren Träger „mit Hilfe manipulierter Weltmachtansprüche den sozialen Status quo trotz Industrialisierung" hätten erhalten wollen. „Das Hauptziel dieser Politik",

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schreibt er, „war ohne Zweifel eine emotional gesteigerte Ersatzbefriedigung sozialer und wirtschaftlicher Forderungen, nicht aber die Durchsetzung auf Grund vorgegebener Wirtschaftsexpansion. Mit dieser Überlegung erhalten dann aber alle jene Erscheinungen wie wirtschaftliche Konzentrationsbewegung, Bevölkerungswachstum, Steigerung der Produktionsraten, Ausbau des Universalbankennetzes eine Bedeutung, die nicht mehr im direkten, kausalen Verhältnis zum Imperialismus steht." Das angebliche Fehlen einer direkten Verbindung zwischen Wirtschaftsentwicklung und imperialistischer Expansionspolitik sucht Böhme mit der den Tatsachen diametral widersprechenden Behauptung zu stützen, es habe kaum „direkte kolonialpolitische Interessen schwerindustrieller Monopole und der mit ihnen verbundenen Großbanken" gegeben, und die deutschen Überseeunternehmen hätten „notorisch negative Bilanzen" aufgewiesen. 28 Wie man sieht, handelt es sich um eine extrem zugespitzte Anwendung der Konzeption Mommsens auf Deutschland, in der die Verantwortung für die imperialistische Expansion einseitig dem ostelbischen Junkertum — also einer im Unterschied zur deutschen Monopolbourgeoisie nicht mehr existenten Schicht — zugeschrieben wird. Die BRD-Historiker, deren Auffassungen hier skizziert wurden, stehen auf einer bürgerlichen, eindeutig antimarxistischen Position, auch dann, wenn sie sich einzelne — eben nur einzelne — Erkenntnisse des Marxismus zu eigen gemacht haben und sich hier und da marxistischer Termini bedienen; denn dies geschieht nur, um die marxistische Theorie noch wirksamer zu bekämpfen. Bei allen zur Schau getragenen Differenzen untereinander sind sie sich in bestimmten entscheidenden Grundfragen durchaus einig: 1. Der Begriff „Imperialismus" wird ausdrücklich oder implizit auf die europäische bzw. europäisch-US-amerikanische koloniale Expansion und Herrschaft beschränkt, insbesondere von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1945. Aus dieser Begriffsbestimmung ergibt sich zwangsläufig, daß — wie Mommsen offen ausspricht — die Politik der NATO-Mächte seit dem Ende des offen praktizierten Kolonialismus nicht mehr als imperialistisch bezeichnet werden sollte. Die Anwendung des Begriffes „Imperialismus" auf die Politik der monopolkapitalistischen Großmächte in der Gegenwart wird im übrigen von den westdeutschen bürgerlichen Historikern, die sich zu dieser Problematik äußerten, beinahe ausnahmslos abgelehnt. 2. Die Wurzeln und Triebkräfte kolonialer Expansion und Herrschaft werden nicht primär im kapitalistischen Streben nach kolonialen Rohstoffen, Märkten und Kapitalanlagesphären gesehen. Um mit Lenin zu sprechen: Die Politik des Imperialismus wird von seiner Ökonomie getrennt. Vor allem leugnet man, z. T. mit großer Heftigkeit, daß das Profitmotiv einzelner Kapitalisten, kapitalistischer Firmen, Banken oder Interessengruppen eine maßgebliche oder auch nur wesentliche Rolle in der Geschichte des modernen Kolonialismus gespielt habe. Wer auch immer am „Imperialismus" schuld sei, der kapitalistische Unternehmer sei es nicht. 3. In den Schriften von Schieder, Mommsen und vielen anderen bürgerlichen Autoren wird man nicht nur vergebens nach Hinweisen auf die Beziehung zwischen der Konzentration der Produktion und der Zentralisation des Kapitals einerseits und dem modernen Kolonialismus andererseits suchen, sondern es fehlt auch

Bürgerliche Auslegungen des Imperialismusbegriffes

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•weitgehend die Erkenntnis vom monopolistischen Charakter dieses Kolonialismus im Rahmen eines monopolkapitalistischen Gesamtsystems. Vor allem wird aber der parasitäre Charakter des modernen Kolonialismus nicht anerkannt. 4. Nirgends wird der Begriff „Imperialismus" in eindeutiger Weise mit dem Kampf um die Neuaufteilung des Erdballs seit der Jahrhundertwende und der Entstehung •der beiden Weltkriege in Verbindung gebracht. Wohl in keiner Frage wird so deutlich, daß der objektive Sinn der hier behandelten Auslegungen des Imperialismusbegriffes nicht nur in seiner politischen, sondern auch in seiner ideologischen Entschärfung besteht. 5. Der Gegensatz zwischen Bourgeoisie und Arbeiterklasse, von einigen Historikern als wichtige Wurzel imperialistischer Politik anerkannt, wird nicht als fundamentaler, unversöhnlicher Klassengegensatz aufgefaßt, dessen Überwindung nur auf dem Wege der Ablösung der Bourgeoisie durch die Arbeiterklasse als herrschende Klasse und die Schaffung sozialistischer Produktionsverhältnisse erfolgen kann. Ob es ausgesprochen wird oder nicht, es herrscht die irreale Auffassung vor, daß eine dauerhafte Integration der Arbeiterklasse in ein „modernes" industriekapitalistisches System durchaus möglich, j a wünschenswert sei. Schließlich soll noch eingegangen werden auf die Auffassungen eines sehr publikationsfreudigen Historikers, dem es sichtlich ein Bedürfnis ist, so manche sakrosankte These des preußisch-deutschen Historismus unter Feuer zu nehmen. Im J a h r e 1969 veröffentlichte Hans-Ulrich Wehler, seit 1971 Professor für Allgemeine •Geschichte an der Universität Bielefeld, unter dem Titel „Bismarck und der Imperialismus" eine überaus materialreiche Monographie über die Anfänge der deutschen Kolonialexpansion. Darin unternahm er den Versuch, Bismarcks Kolonialannexionen von 1884/1885 als „manipulierten Sozialimperialismus" zu deuten, d. h. als .„antizyklische Konjunkturpolitik" auf dem Gebiet der Wirtschaft und „bonapartistische Ablenkung nach außen" auf dem Gebiet der Innenpolitik. 29 Zweifellos haben Wehlers umfassende Forschungen unsere Kenntnis der Triebkräfte des frühen deutschen Kolonialismus (insbesondere der wirtschaftspolitischen Motive) erheblich erweitert, doch hier kommt es nur auf seine grundsätzliche Stellung zur Imperialismusproblematik an. Wehler lehnt die herkömmliche bürgerliche, sozialökonomische Grundlagen und Triebkräfte mißachtende Machtstaats- und Diplomatiegeschichte entschieden ab, aber vom Standpunkt der Lehre von der Industriegesellschaft aus, zu der er sich ausdrücklich bekennt 30 , und unter betonter Distanzierung vom „naiven ökonomischen Determinismus" 31 (worunter der weniger marxistisch geschulte Leser den Marxismus-Leninismus verstehen wird). Er betont den inneren Zusammenhang von „Wirtschaft und Gesellschaft, Politik und Ideen usw.", deren „Totalität" er als „interdependentes Regelsystem" bezeichnet, erklärt es aber zugleich für unmöglich, bei der historischen Analyse dieses „Regelsystems" „von vornherein oder logisch schlüssig einen bestimmten Komplex für den in letzter Instanz wichtigsten zu halten And daher von ihm auszugehen". 32 Doch dabei bleibt es nicht: In keineswegs logisch schlüssiger Weise folgt unmittelbar auf dieses prinzipielle Bekenntnis zu einem offenbar regellosen „Regelsystem" (das dem Eklektizismus und der sub-

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Helmuth Stoecker

jektiven Willkür bei der Interpretation der neueren Geschichte alle Türen öffnet) die Erklärung, die historische Erfahrung des 19. und 20. Jahrhunderts legitimiere „das Urteil, daß von der Industrialisierung . . . eine umwälzende Wirkung auf die moderne Entwicklung ausgeht . . . Deshalb bildet sie hier den Ausgangspunkt." 3 3 Zurückgenommen ist damit freilich der methodologische Eklektizismus durchaus nicht, wie Wehlers Beurteilung einer Anzahl historischer Vorgänge zeigt. Mit der industriellen Revolution seit Ende des 18. Jahrhunderts, schreibt Wehler, sei „ein permanent expandierendes Wirtschaftssystem" entstanden, dessen Wachstum „gewissermaßen prinzipiell, seiner Natur nach ungleichmäßig" verlaufe, denn es gebe ein „chronisches Mißverhältnis zwischen seiner entfesselten Produktionskraft und seiner beschränkten Konsumfähigkeit". 34 Mit der fortschreitenden Ausdehnung der „Industriewirtschaft" sei ein Konzentrationsprozeß gekoppelt, an die Stelle des Wettbewerbs einzelner Unternehmen rücke allmählich „das System des oligopolistischen organisierten Kapitalismus", der das Bedürfnis erzeuge, „die Labilität des unablässig weiterwachsenden Industrialismus mit seinem zeitweilig ungezügelten Wettbewerb einer wirksamen Kontrolle . . . zu unterwerfen, damit endlich Gleichmäßigkeit der Wirtschaftsentwicklung, rationale Vorauskalkulierbarkeit der Marktchancen, soziale und politische Stabilität gewährleistet werden können. Der Konzentrationsprozeß vereinigt solche Kontrollmöglichkeiten in der Leitung von Großunternehmen und -banken, von Kartellen und Syndikaten usw. In engster Verbindung mit ihm steigt daher aber auch der moderne Interventionsstaat auf . . ., der schließlich bewußt Konjunkturpolitik treibt . . .'