Straftaten im Jugendstrafvollzug: Die Anzeigepflicht der Anstaltsleitung in Dogmatik, Strafvollzugsforschung und Praxis [1 ed.] 9783428557905, 9783428157907

Für einen auf Resozialisierung ausgerichteten Jugendstrafvollzug sind Aspekte wie die Sicherheit der Gefangenen und ein

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German Pages 368 Year 2020

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Straftaten im Jugendstrafvollzug: Die Anzeigepflicht der Anstaltsleitung in Dogmatik, Strafvollzugsforschung und Praxis [1 ed.]
 9783428557905, 9783428157907

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Kriminologische und sanktionenrechtliche Forschungen Band 22

Straftaten im Jugendstrafvollzug Die Anzeigepflicht der Anstaltsleitung in Dogmatik, Strafvollzugsforschung und Praxis

Von

Alexandra Schwan

Duncker & Humblot · Berlin

ALEXANDRA SCHWAN

Straftaten im Jugendstrafvollzug

Kriminologische und sanktionenrechtliche Forschungen Begründet als „Kriminologische Forschungen“ von Prof. Dr. Hellmuth Mayer Herausgegeben von Prof. Dr. Kirstin Drenkhahn

Band 22

Straftaten im Jugendstrafvollzug Die Anzeigepflicht der Anstaltsleitung in Dogmatik, Strafvollzugsforschung und Praxis

Von

Alexandra Schwan

Duncker & Humblot · Berlin

Der Fachbereich Rechtswissenschaft der Freien Universität Berlin hat diese Arbeit im Wintersemester 2017/2018 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2020 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: L101 Mediengestaltung, Fürstenwalde Druck: CPI buchbücher.de GmbH, Birkach Printed in Germany ISSN 0933-078X ISBN 978-3-428-15790-7 (Print) ISBN 978-3-428-55790-5 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde vom Fachbereich Rechtswissenschaft der Freien Universität Berlin im Wintersemester 2017 / 18 als Dissertation angenommen. Literatur und Rechtsprechung konnten bis Januar 2017 berücksichtigt werden. Mein besonderer Dank gilt meiner Doktormutter Frau Prof. Dr. Kirstin Drenkhahn, die die Arbeit sehr engagiert betreut und durch zahlreiche Gespräche und wertvolle Anregungen wesentlich zu ihrem Gelingen beigetragen hat. Herrn Prof. Dr. Frieder Dünkel danke ich für die rasche Erstellung des Zweitgutachtens. Ebenfalls danke ich Herrn Prof. Dr. Gerhard Seher für die Erfahrungen, die ich während meiner Tätigkeit an seinem Lehrstuhl sammeln durfte, und für die hilfreichen Diskussionen über die Garantenstellung. Die Verantwortlichen der Jugendstrafanstalt Berlin und der Justizvollzugsanstalt Wriezen haben mir Türen geöffnet, die sonst geschlossen sind, mir alle Unterlagen bereitgestellt und meine vielen Fragen geduldig beantwortet. Hervorzuheben sind auch alle Anstaltsleiterinnen und Anstaltsleiter, die an meiner Befragung teilgenommen haben. Meine Kolleginnen und Kollegen an der Freien Universität Berlin haben mir durch ständigen Austausch und zahlreiche kriminologische Gespräche stets geholfen. Besonders danken möchte ich meinen Freundinnen AlisaDorin Schmitz und Claudia Everling, dafür, dass sie mich immer bestärkt sowie unermüdlich und gründlich Korrektur gelesen haben. Mein größter Dank gilt an dieser Stelle meiner Familie – meinen Eltern Beate Rösener-Schwan und Dieter Schwan sowie meinem Bruder Simon Arne Schwan und meinem Freund Nils Andrzejewski – für die jahrelange Unterstützung, ohne die diese Arbeit niemals möglich gewesen wäre. Berlin, April 2019

Alexandra Schwan

Inhaltsverzeichnis A. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 B. Grundlagen des Jugendstrafvollzugs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Straftheoretische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Absolute Straftheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vergeltungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Sühnetheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Relative Straftheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Generalprävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Spezialprävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Vereinigungstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Strafzwecke im Jugendstrafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Kriminologische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kriminalitätstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Psychoanalytischer Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Bindungs- und Kontrolltheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Theorie der sozialen Bindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Theorie der fehlenden Selbstkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Lerntheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Kriminalitätstheorie von Eysenck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Theorie der differentiellen Assoziation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Sozial-kognitive Lerntheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Theorie der Moralentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Theorie des rationalen Wahlverhaltens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Subkulturtheorien und Neutralisation  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Etikettierungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Mehrfaktorenansätze  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . h) Entwicklungstheoretische Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . i) Situational Action Theory (SAT) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . j) Fazit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Straftäterbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Wirksamkeitsforschung zur Behandlung im Jugendstrafvollzug . . . . . a) Forschung zum deutschen Jugendstrafvollzug . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Eckdaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Untersuchung zu Biografie, Vollzugsverlauf und Rückfälligkeit im Jugendstrafvollzug von Baden-Württemberg . . . . . . . .

24 24 25 25 26 27 27 30 31 34 35 35 36 36 38 38 39 40 41 42 43 44 46 47 48 49 51 52 53 54 57 58 58 60

8

Inhaltsverzeichnis cc) Ausbildung und Arbeit im Jugendstrafvollzug von BadenWürttemberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 dd) Lockerungen im Jugendstrafvollzug von Baden-Württemberg  65 ee) Untersuchung des kriminologischen Dienstes von NordrheinWestfalen und Sekundäranalysen von Baumann und Wirth . . . 66 ff) Bestandsaufnahme und Rückfalluntersuchung zum Jugendstrafvollzug in Mecklenburg-Vorpommern . . . . . . . . . . . . . . . . 69 gg) Evaluation des offenen Vollzugs der Jugendstrafanstalt Rockenberg in Hessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 hh) Legalbewährung nach Entlassung aus der sozialtherapeutischen Abteilung der Jugendanstalt Hameln . . . . . . . . . . . . . . . 73 ii) Wirksamkeit des Anti-Aggressivitäts-Trainings in der Jugend­anstalt Hameln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 jj) DFG-Längsschnittuntersuchung zu den „Entwicklungsfolgen der Jugendstrafe“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 kk) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 b) Internationale Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 aa) Zur Wirksamkeit von Behandlungsprogrammen mit einer kognitiven Komponente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 bb) Die Wirksamkeit von Behandlungsprogrammen . . . . . . . . . . . 81 cc) Wirksamkeit von Behandlungsprogrammen bei Jugendlichen und Erwachsenen in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 dd) Das Correctional Drug Abuse Treatment Effectiveness (CDATE) Projekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 ee) Eine Kosten-Nutzen-Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 ff) Meta-Analyse zur Behandlung von jugendlichen Gesetzesbrechern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 gg) Zur Wirksamkeit von strukturierten, gruppenorientierten, kognitiv-verhaltenstherapeutischen Behandlungsprogrammen . 88 hh) Wirksame Faktoren bei der kognitiv-verhaltenstherapeutischen Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 ii) Wirksamkeit von Behandlungsprogrammen mit Jugendlichen in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 jj) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 c) Regeln für eine wirksame Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 aa) Das Risk-Need-Responsivity (RNR) Modell . . . . . . . . . . . . . . 93 bb) Das Good Lives Model (GLM) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 4. Prisonisierung und Vollzugsgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 a) Prisonisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 aa) Prisonisierungstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 bb) Prisonisierungseffekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 b) Vollzugsgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 c) Fazit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 5. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105

Inhaltsverzeichnis9 III. Rechtliche Grundlagen des Jugendstrafvollzugs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 1. Gesetzeskonzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 2. Vollzugsziel und Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 a) Resozialisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 b) Schutz der Allgemeinheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 c) Vollzugsziel und Aufgabe in den Jugendstrafvollzugsgesetzen der Länder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 aa) Vorrang der Resozialisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 bb) Gleichrangigkeit von Resozialisierung und Sicherungsauf­ gabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 cc) Vorrang des Schutzes der Allgemeinheit . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 d) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 3. Der Erziehungsgedanke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 a) Kritik am Erziehungsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 b) Konkretisierung und Begrenzung des Erziehungsbegriffs . . . . . . . . 127 c) „Förderung“ statt Erziehung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 d) Der Erziehungsgedanke in den Landesgesetzen . . . . . . . . . . . . . . . 131 e) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 4. Gestaltungsgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 5. Rechtliche Grundlagen für Reaktionen auf Straftaten im Jugendstrafvollzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 a) Erzieherisches Gespräch, erzieherische Maßnahmen und Disziplinarmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 b) Maßnahmen der Konfliktregelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 6. Verhältnis des Vollzugsziels zu den allgemeinen Strafzwecken . . . . . . 140 7. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 C. Das Vorliegen einer Anzeigepflicht der Anstaltsleitung  . . . . . . . . . . . . . . . 145 I. Die Strafanzeige der Anstaltsleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 1. Die Strafanzeige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 2. Die Anstaltsleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 3. Die Strafanzeige durch die Anstaltsleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 II. Pflicht der Anstaltsleitung zur Strafanzeige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 1. Strafrechtliche Pflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 a) Strafverfolgungsvereitelung aus §§ 258 I, 13 I StGB . . . . . . . . . . . 153 aa) Grundlagen der Garantenstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 (1) Das Vertrauensprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 (2) Soziologisch fundierte Theorien  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 (3) „Pflichten kraft Organisationszuständigkeit“ und „Pflichten kraft institutioneller Zuständigkeit“ . . . . . . . . . . . . . . . 163 (4) Die „Herrschaft über den Grund des Erfolges“ . . . . . . . . . 164 (5) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 bb) Die Anstaltsleitung als Überwachergarantin . . . . . . . . . . . . . . . 170

10 Inhaltsverzeichnis cc) Die Anstaltsleitung als Beschützergarantin . . . . . . . . . . . . . . . (1) Ableitung aus der Funktion der Anstaltsleitung . . . . . . . . (2) Ableitung aus einer speziellen gesetzlichen Regelung oder anderen Dienstpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Ableitung aus den Verwaltungsvorschriften  . . . . . . . . . . . dd) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Strafverfolgungsvereitelung im Amt aus §§ 258a, 13 I StGB . . . . 2. Dienstrechtliche Pflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

172 173 177 179 182 182 183 185

D. Die Anzeigepflicht der Anstaltsleitung im Kontext der Strafvollzugsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 I. Forschung zu Straftaten im Strafvollzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 1. Im Jugendstrafvollzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 a) Formelle Disziplinierung im Jugendstrafvollzug . . . . . . . . . . . . . . . 188 b) Viktimisierung im Jugendstrafvollzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 c) Gewalt im hessischen Justizvollzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 d) Gewalt unter Gefangenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 e) Jugendgewalt im Strafvollzug in Sachsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 f) Viktimisierungserfahrungen im Justizvollzug . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 g) Sicherungs- und Disziplinarmaßnahmen im Jugendstrafvollzug von Mecklenburg-Vorpommern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 h) Gewalt und Suizid im Jugendstrafvollzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 2. Im Erwachsenenstrafvollzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 a) Reaktionen der Vollzugsverwaltung auf Straftaten . . . . . . . . . . . . . 209 b) Gewalt unter erwachsenen männlichen Inhaftierten . . . . . . . . . . . . 212 3. Internationale Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 II. Mögliche Ursachen von Straftaten im Vollzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 1. Allgemeine Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 a) Kriminalitätstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 b) Individuelle kriminogene Risikofaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 2. Vollzugspezifische Faktoren  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 a) Prisonisierung und Subkultur  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 b) Vollzugsspezifische Risikofaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 3. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 III. Die Strafanzeige im Jugendstrafvollzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 1. Ziel der Strafanzeige im Jugendstrafvollzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 2. Sinnhaftigkeit einer Strafanzeige durch die Anstaltsleitung . . . . . . . . . 229 a) Auswirkungen auf den Resozialisierungsprozess . . . . . . . . . . . . . . 230 aa) Auswirkungen auf einzelne Behandlungsprogramme und -maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 bb) Auswirkungen auf die Prisonisierung und die Vollzugsgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233

Inhaltsverzeichnis11 (1) Auswirkungen auf Prisonisierung und Subkulturbildung . 234 (2) Auswirkungen auf einzelne Prisonisierungseffekte . . . . . . 234 (3) Auswirkungen auf die Vollzugsgestaltung . . . . . . . . . . . . . 238 cc) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 b) Auswirkungen auf den Schutz der Allgemeinheit . . . . . . . . . . . . . . 240 c) Sonstige Auswirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 d) Strafverfolgungsinteresse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 e) Handlungsalternativen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 aa) Erzieherische Maßnahmen und Disziplinarmaßnahmen  . . . . . 244 bb) Erzieherisches Gespräch und Maßnahmen der Konfliktregelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 f) Abwägung der Implikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 3. Erfordernis einer verpflichtenden Regelung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 E. Die Handhabung in der Praxis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Aktenanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Schriftliche Befragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Vorabtestung der Erhebungsinstrumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Vorgehensweise  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Probleme bei der Durchführung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Ergebnisse der Aktenanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Anstalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) JSA Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) JVA Wriezen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Straftaten in den Jugendstrafanstalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Anzahl und Art der Vorkommnisse in den Anstalten . . . . . . . . . . . b) Geschädigte / r . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Verletzungsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Meldung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Tatort und -beteiligung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Zeitpunkt der Tatbegehung im Haftverlauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Täter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Täterdaten in der JSA Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Täterdaten in der JVA Wriezen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Umgang mit Straftaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Strafanzeige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Meldung bei der Aufsichtsbehörde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Disziplinarmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Kritische Würdigung der Aktenanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Ergebnisse der schriftlichen Befragung der Anstaltsleitungen . . . . . . . . .

254 254 255 255 256 257 258 260 260 260 262 263 264 266 268 271 271 273 274 274 275 276 277 284 285 286 287 288

12 Inhaltsverzeichnis 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Umgang mit den Diziplinarfällen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Fallorientierter Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Anstaltsorientierter Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Strafanzeige: Ziele und Auswirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Regelung zur Strafanzeige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Kritische Würdigung der schriftlichen Befragung . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Übergreifende Befunde zur Strafanzeige und Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . .

288 290 291 300 302 305 306 307 308

F. Regelungsvorschlag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 G. Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364

Abbildungs- und Tabellenverzeichnis Abbildung 1: Deliktsverteilung in der JSA Berlin zum 31.03.2012 . . . . . . . . . 262 Abbildung 2: Deliktsverteilung in der JVA Wriezen zum 31.03.2012 . . . . . . . 263 Abbildung 3: Zeitpunkt der Tatbegehung im Haftverlauf . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Abbildung 4: Anlassdelikte der Täter in der JSA Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Abbildung 5: Anlassdelikte der Täter in der JVA Wriezen . . . . . . . . . . . . . . . . 276 Abbildung 6: Persönliche Daten der Anstaltsleitungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Tabelle 1:

Überblick über Vollzugsziel und Aufgabe in den Jugendstrafvollzugsgesetzen der Länder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116

Tabelle 2:

Anzahl und Art der Vorkommnisse in der JSA Berlin . . . . . . . . 264

Tabelle 3:

Anzahl und Art der Vorkommnisse in der JVA Wriezen . . . . . . 265

Tabelle 4:

Geschädigte / r in der JSA Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267

Tabelle 5:

Geschädigte / r in der JVA Wriezen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267

Tabelle 6:

Verletzungsfolgen in der JSA Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269

Tabelle 7:

Verletzungsfolgen in der JVA Wriezen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270

Tabelle 8:

Tatorte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272

Tabelle 9:

Anzahl der Täter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272

Tabelle 10:

Strafanzeigen in der JSA Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277

Tabelle 11:

Strafanzeigen in der JVA Wriezen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280

Tabelle 12:

Strafanzeige bei Verletzungsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282

Tabelle 13:

Verfahrensgang nach gestellter Strafanzeige . . . . . . . . . . . . . . . . 283

Tabelle 14:

Arten der verhängten Disziplinarmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . 285

Tabelle 15:

Überblick über die 15 Disziplinarfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290

Tabelle 16:

Reaktionen auf die Disziplinarfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294

Tabelle 17:

Art der genannten Disziplinarmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . 297

Tabelle 18:

Art der genannten Erziehungsmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . 297

Tabelle 19:

Art der genannten sonstigen Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298

Tabelle 20:

Verfolgte Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303

Tabelle 21:

Eignung der Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305

Abkürzungsverzeichnis a. A. Andere Ansicht a. F. alte Fassung AAT Anti-Aggressivitäts-Training abl. ablehnend Abs. Absatz Abschn. Abschnitt AGST Arztgeschäftsstelle AK Alternativkommentar Amtsbl. Amtsblatt Anm. Anmerkung Annals, AAPSS Annals of the American Academy of Political and Social S ­ cience AO Abgabenordnung APuZ Aus Politik und Zeitgeschichte Art. Artikel ASR American Sociological Review AV Ausführungsvorschriften Bay. Bayern BayStVollzG Bayerisches Strafvollzugsgesetz vom 10. Dezember 2007 Bbg. Brandenburg BbgJStVollzG Brandenburgisches Jugendstrafvollzugsgesetz vom 18.  Dezember 2007 BbgJVollzG Brandenburgisches Justizvollzugsgesetz vom 24. April 2013 BeamtStG Beamtenstatusgesetz BeckRS Beck-Rechtsprechung Beschl. v. Beschluss vom BewHi Bewährungshilfe BFG Berliner Forum Gewaltprävention BGB Bürgerliches Gesetzbuch BGBl. Bundesgesetzblatt BGH Bundesgerichtshof BGHSt Bundesgerichtshof Strafsachen BJ Betrifft Justiz Bln. Berlin

Abkürzungsverzeichnis15 BMJ

Bundesministerium der Justiz

Brem. Bremen BremJStVollzG

Bremisches Jugendstrafvollzugsgesetz vom 27. März 2007

bspw. beispielsweise BT-Drucks.

Bundestag Drucksache

Btm Betäubungsmittel BtmG Betäubungsmittelgesetz BVerfG Bundesverfassungsgericht BVerfGE

Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts

BVerwG Bundesverwaltungsgericht BVG

Berliner Verkehrsbetriebe

BW Baden-Württemberg BZRG Bundeszentralregistergesetz bzw. beziehungsweise CDATE

Correctional Drug Abuse Treatment Effectiveness Project

CPT

Europäischer Anti-Folter-Ausschuss

d

standardisierte Mittelwertdifferenz

D / S / S

Diemer / Schatz / Sonnen

DFG

Deutsche Forschungsgemeinschaft

DiszG Disziplinargesetz Drs. Drucksache DVBl

Deutsches Verwaltungsblatt

DVJJ

Deutsche Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichts­ hilfen e. V.

Einl. Einleitung Erg. Ergebnis ERJOSSM

European Rules for Juvenile Offenders Subject to Sanctions or Measures

ES Effektstärke EuGRZ

Europäische Grundrechte-Zeitschrift

f. folgende ff. fortfolgende Fn. Fußnote FS

Forum Strafvollzug

GA

Goltdammer’s Archiv für Strafrecht

GBl. Gesetzblatt gem. gemäß gg. gegen

16 Abkürzungsverzeichnis GG Grundgesetz ggf. gegebenenfalls GLM

Good Lives Model

GreifR

GreifRecht – Greifswalder Halbjahresschrift für Rechtswissenschaft

GS

Der Gerichtssaal

GVBl. Gesetzesverkündungsblatt GVOBl.

Gesetz- und Verordnungsblatt

Hess. Hessen HessJStVollzG

Hessisches Jugendstrafvollzugsgesetz vom 19. November 2007

Hmb. Hamburg HmbJStVollzG

Hamburgisches Jugendstrafvollzugsgesetz vom 14. Juli 2009

HmbStVollzG

Hamburgisches Strafvollzugsgesetz vom 14. Dezember 2007

Hrsg. Herausgeber i. S. d.

im Sinne des

i. V. m.

in Verbindung mit

JA

Juristische Arbeitsblätter

JA Neustrelitz

Jugendanstalt Neustrelitz

JGG Jugendgerichtsgesetz JR

Juristische Rundschau

JS

Juristische Schulung

JSA Jugendstrafanstalt JStVollzG Jugendstrafvollzugsgesetz JStVollzG Bln

Jugendstrafvollzugsgesetz Berlin vom 15. Dezember 2007

JStVollzG LSA

Jugendstrafvollzugsgesetz Sachsen-Anhalt vom 7. Dezember 2007

JStVollzG M-V Jugendstrafvollzugsgesetz 1. Januar 2008

Mecklenburg-Vorpommern

vom

JStVollzG NRW

Jugendstrafvollzugsgesetz Nordrhein-Westfahlen vom 16. Dezember 2009

JStVollzG S-H

Jugendstrafvollzugsgesetz Schleswig-Holstein vom 19. Dezember 2007

JuS

Juristische Schulung

JVA Justizvollzugsanstalt JVollzGB BW

Justizvollzugsgesetzbuch Baden-Württemberg vom 4. November 2009

JZ Juristenzeitung Kap. Kapitel KJ

Kritische Justiz

Abkürzungsverzeichnis17 KK

Karlsruher Kommentar

KrimJ

Kriminologisches Journal

KrimPäd

Kriminalpädagogische Praxis

L / N / N / V

Laubenthal / Nestler / Neubacher / Verrel

LG Landgericht LJStVollzG RLP

Landesjugendstrafvollzugsgesetz Rheinland-Pfalz vom 3. Dezember 2007

LJVollzG RLP

Landesvollzugsgesetz Rheinland-Pfalz vom 8. Mai 2013

LK

Leipziger Kommentar

LR Löwe-Rosenberg LSA Sachsen-Anhalt LT Landtag M Mittelwert M / R / T / W

Meier / Rössner / Trüg / Wulf

M-V Mecklenburg-Vorpommern m. w. N.

mit weiteren Nachweisen

MK

Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch

MRT

Moral Reconation Therapy

MschrKrim

Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform

MST

Multi-Systemic Therapy

MTFC

Multidimensional Treatment Foster Care

n Anzahl Nds. Niedersachsen NJVollzG

Niedersächsisches Justizvollzugsgesetz vom 14. Dezember 2007

NJW

Neue Juristische Wochenschrift

NK

Neue Kriminalpolitik

NK-Bearbeiter

Nomos Kommentar-Bearbeiter

NOMS

National Offender Management Service

NORDKRIM

Norddeutscher Kriminologischer Gesprächskreis

Nr. Nummer NRW Nordrhein-Westfalen NStZ

Neue Zeitschrift für Strafrecht

NStZ-RR

Neue Zeitschrift für Strafrecht Rechtsprechungsreport

OASys

Offender Assessment System

OLG Oberlandesgericht OR

Odds Ratio

p

Fehlerwahrscheinlichkeit; Signifikanzwert

PADS+

Peterborough Adolescent and Young Adult Development Study

18 Abkürzungsverzeichnis PCL

Psychology, Crime & Law

phi

phi-Koeffizient (Pearson’s Korrelationskoeffezient für dichotome Daten)

PKS

Polizeiliche Kriminalstatistik

r Korrelationskoeffizient R & R

Reasoning & Rehabilitation

RdJB

Recht der Jugend und des Bildungswesens

RGBl. Reichsgesetzblatt RGSt

Reichsgericht Strafsachen

RJGG Reichsjugendgerichtsgesetz RLP Rheinland-Pfalz Rn. Randnummer RNR

Risk-Need-Responsivity Modell

S. Seite S / B / J / L

Schwind / Böhm / Jehle / Laubenthal

S-H Schleswig-Holstein Saarl. Saarland Sächs. Sächsisches SächsJStVollzG

Sächsisches Jugendstrafvollzugsgesetz vom 12. Dezember 2007

SAT

Situational Action Theory

Sch / Sch

Schönke / Schröder

SD Standardabweichung SGB Sozialgesetzbuch SJStVollzG

Saarländisches Jugendstrafvollzugsgesetz vom 30. Oktober 2007

SK

Systematischer Kommentar

sog. sogenannt SothA

Sozialtherapeutische Abteilung

StGB Strafgesetzbuch StPO Strafprozessordnung StV Strafverteidiger StVollzG Strafvollzugsgesetz SubvG Subventionsgesetz t

Testwert (t-Test)

Thür. Thüringen ThürJStVollzG

Thüringer Jugendstrafvollzugsgesetz vom 20. Dezember 2007

ThürJVollzG

Thüringer Justizvollzugsgesetz vom 27. Februar 2014

u. a.

und andere / unter anderen

u. ä.

und ähnliche

Abkürzungsverzeichnis19 urspr. ursprünglich USA United States of America Var. Variante VG Verwaltungsgericht vgl. vergleiche VV Verwaltungsvorschriften VVJug Bundeseinheitliche Verwaltungsvorschriften zum Jugendstrafvollzug VwGO Verwaltungsgerichtsordnung VwVfG Verwaltungsverfahrensgesetz WDO Wehrdisziplinarordnung wistra Zeitschrift für Wirtschafts- und Steuerstrafrecht WStG Wehrstrafgesetz z. B. zum Beispiel ZfS Zeitschrift für Soziologie ZfStrVo Zeitschrift für Strafvollzug und Straffälligenhilfe ZIS Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik ZJJ Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe ZKJ Zeitschrift für Kindschaftsrecht und Jugendhilfe ZRP Zeitschrift für Rechtspolitik ZStW Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft zust. zustimmend

A. Einführung „An Heiligabend hatten mehrere Gefangene einen Beamten mit einem Messer bedroht. Der Mitarbeiter wurde nach etwa zehn Minuten von Kollegen befreit. Die JVA-Leiterin […] hatte darüber nicht sofort Polizei und Staatsanwaltschaft informiert. Die Anklagebehörde ermittelt wegen des Verdachts der Strafvereitelung gegen die inzwischen suspendierte [Anstaltsleiterin] […].“ So berichtete das Hamburger Abendblatt noch am 20. Februar 20151 über einen Vorfall, der sich Ende 2014 in der JVA Lübeck ereignete und zu seiner Zeit insbesondere in den lokalen Medien Aufsehen erregte und politische Auseinandersetzungen auslöste. Ob sich Anstaltsleiterinnen und Anstaltsleiter tatsächlich wegen Strafvereitelung strafbar machen, wenn sie im Vollzug begangene Straftaten nicht anzeigen, ist bisher höchstrichterlich nicht entschieden.2 Eine spezielle gesetzliche Regelung zur Anzeigepflicht der Anstaltsleitung gibt es nicht. Darüber hinaus ist auch fragwürdig, ob eine Strafanzeige im Hinblick auf einen Strafvollzug, der die Gefangenen zu einem Leben ohne Straftaten befähigen soll, immer sinnvoll ist. Es ist Aufgabe der vorliegenden Arbeit, die verschiedenen Implikationen der Strafanzeige als Reaktion auf Straftaten, die im Strafvollzug von Gefangenen begangen werden, zu untersuchen. Dazu gehören die rechtlichen Rahmenbedingungen, die Frage nach dem sinnvollen Einsatz der Strafanzeige als Reaktion auf Straftaten sowie der tatsächliche Umgang mit der Strafanzeige in der Praxis des Strafvollzugs. Erwachsenen- und Jugendstrafvollzug unterscheiden sich voneinander. Dies gilt besonders hinsichtlich des Umgangs mit Straftaten. Schon aufgrund der für den Jugendstrafvollzug zusätzlichen gesetzlich vorgesehenen Reak­ tionsmöglichkeiten, aber auch mit Blick auf den Erziehungsgedanken, sind Erwachsenen- und Jugendstrafvollzug nur schwer vergleichbar. Deshalb 1  Artikel abrufbar unter: http://www.abendblatt.de/region/schleswig-holstein/ article137666565/Haeftling-in-JVA-Luebeck-begeht-Selbstmord.html (abgerufen am 12.10.2015). 2  Das OLG Hamburg hat 1995 den damaligen Anstaltsleiter der JVA Fuhlsbüttel wegen Strafvereitelung zu einer elfmonatigen Bewährungsstrafe verurteilt, weil er schwere, von Gefangenen während der Haftzeit begangene Straftaten nicht anzeigte (OLG Hamburg NStZ 1996, 102). Dagegen hat der BGH zwei Jahre später in einem etwas anders liegenden Fall die Strafbarkeit von leitenden Vollzugsbediensteten verneint, als diese Straftaten von Bediensteten gegenüber Gefangenen nicht meldeten (BGHSt 43, 82).

22

A. Einführung

wurde die Untersuchung auf eine dieser Vollzugsformen, den Jugendstrafvollzug, begrenzt. Gerade im Jugendstrafvollzug spielen erneute Straftaten und Gewalt eine so bedeutende Rolle, dass teils sogar von einem „alltäg­ lichen Phänomen“3 gesprochen wird. Auch rücken besonders schwere Vorfälle von Gewalt im Jugendstrafvollzug immer wieder in den Fokus der ­öffentlichen Diskussion und Forderungen nach verstärkten Kontrollen und Vorwürfe gegenüber den Anstalten werden laut.4 Aus diesen Gründen und da sich die Jugendstrafgefangenen meist noch in einer Phase befinden, in der Möglichkeiten zur Einflussnahme auf die Entwicklung bestehen, ist die Frage nach dem richtigen Umgang mit Straftaten hier besonders relevant. Für einen Jugendstrafvollzug, der auf Resozialisierung und Erziehung der Gefangenen ausgerichtet ist, sind auch Aspekte wie die Sicherheit der Gefangenen und ein positives, angstfreies Anstaltsklima von Bedeutung. Reaktionen auf Straftaten im Vollzug müssen insoweit dazu beitragen, die Funk­ tionsfähigkeit des Strafvollzugs zu gewährleisten. Das BVerfG äußerte sich in seinem Grundsatzurteil vom 31. Mai 2006, in dem es eine gesetzliche Grundlage für den Jugendstrafvollzug forderte, dazu insofern, dass es zur Aufrechterhaltung eines funktionsfähigen Jugendstrafvollzugs disziplinarischer Maßnahmen bedürfe. Gerade im Jugendstrafvollzug sollte jedoch positiv beeinflussenden und motivierenden Maßnahmen der Vorzug gegeben werden.5 In welcher Beziehung die Strafanzeige, die eine staatliche Strafverfolgung in Gang setzt, zum Resozialisierungsziel und zu den anderen Reaktionsmaßnahmen steht, bleibt zu untersuchen. Als Folge schwerer Gewaltvorkommnisse in der JVA Ichtershausen 2001 und der JVA Siegburg 2006 entstanden einige Untersuchungen,6 die sich mit dem Ausmaß von Gewalt im Jugendstrafvollzug und mit Präventionsmöglichkeiten beschäftigen. Nur wenige Untersuchungen7 widmen sich jedoch dem nachträglichen Umgang mit bzw. den Reaktionsmöglichkeiten auf im Vollzug begangene Straftaten. Eine Untersuchung speziell zur Strafanzeige gibt es bisher nicht. Gerade im Hinblick auf die Häufigkeit von gestellten Strafanzeigen, den Verfahrensverlauf und den Einfluss, den eine Strafanzeige auf Resozialisierung, Sicherheit und Ordnung und das Anstaltsklima hat, 3  A. Ernst / Neubacher 2014, S. 171, 180; Neubacher 2014b, S. 322; Wirth 2006, S. 22. 4  Siehe nur für Berlin http://www.morgenpost.de/berlin-aktuell/article123842247/ Ploetzensee-ein-Berliner-Jugendgefaengnis-ausser-Kontrolle.html oder http://www. rbb-online.de/klartext/ueber_den_tag_hinaus/kriminalitaet/skandaloes_gewaltexzesse. html (beides abgerufen am 12.9.2015). 5  BVerfGE 116, 82 (93 f.). 6  Bieneck / Pfeiffer 2012; Hinz / Hartenstein 2010; Neubacher 2014b; Wirth 2006. 7  Ritz 1984; J. Walter 1998. Aktuell, aber speziell zur Anwendung von Sicherungsund Disziplinarmaßnahmen auch Faber 2014; Bachmann / A. Ernst 2015.



A. Einführung23

stellen sich noch viele offene Fragen, die im Folgenden beantwortet werden sollen.8 Die vorliegende Arbeit ist dazu in fünf Abschnitte gegliedert. Im ersten Abschnitt (B.) werden die Grundlagen des Jugendstrafvollzugs dargestellt, die für die Einordnung der Strafanzeige von Bedeutung sind. Anschließend ergeben sich mit Blick auf die Fragestellung drei Teile, die die verschiedenen Implikationen der Strafanzeige im Jugendstrafvollzug betreffen. Es ist sinnvoll, zunächst zu untersuchen, ob eine Anzeigepflicht der Anstaltsleitung bei Straftaten in der Anstalt überhaupt besteht (C.), also ob es Vorschriften gibt, die eine solche Pflicht regeln oder aus denen sie sich herleiten lässt. Neben der möglichen strafrechtlichen Pflicht, falls sich also die Anstaltsleitung strafbar macht, wenn sie im Vollzug begangene Straftaten nicht anzeigt, werden auch dienstrechtliche Verpflichtungen berücksichtigt. Danach wird erörtert, ob und in welchen Fällen eine Strafanzeige insbesondere mit Blick auf das Vollzugsziel sinnvoll ist (D.). Dafür sind die Ergebnisse der Strafvollzugsforschung relevant, die sich mit dem Zielerreichungsprozess beschäftigen oder die Straftaten und Gewalt im Vollzug zum konkreten Gegenstand haben. Daran schließt eine Untersuchung an, wie in der Praxis des Jugendstrafvollzugs mit strafrechtlich relevanten Fällen und besonders mit der Strafanzeige als Reaktion umgegangen wird (E.). Zu diesem Zweck wurde in der JSA Berlin und der JVA Wriezen eine Aktenanalyse durchgeführt. Außerdem wurden alle Anstaltsleiterinnen und Anstaltsleiter von Jugendstrafanstalten in Deutschland schriftlich befragt. Abschließend wird in Abschnitt F. ein Regelungsvorschlag unterbreitet und in Abschnitt G. werden die wesentlichen Ergebnisse der Arbeit zusammengefasst.

8  Dazu

auch J. Walter 2010, S. 66.

B. Grundlagen des Jugendstrafvollzugs Zwar ist die Strafanzeige auf eine staatliche Strafverfolgung gerichtet, sie muss sich als mögliche Reaktion der Vollzugsverwaltung aber auch in das System des Jugendstrafvollzugs einordnen lassen. Erst wenn die im Jugendstrafvollzug verfolgten Ziele klar abgesteckt, die Maßnahmen zur Erreichung dieser Ziele auf ihre Wirksamkeit hin überprüft und die rechtliche Ausgestaltung des Jugendstrafvollzug erörtert wurden, ist es möglich, über die Pflichten der Anstaltsleitung zu entscheiden und fundierte Argumente für und gegen aus dem Jugendstrafvollzug heraus gestellte Strafanzeigen zu entwickeln. Dieser Abschnitt beschäftigt sich deshalb mit den straftheoretischen (I.), den kriminologischen (II.) und den rechtlichen (III.) Grundlagen des Jugendstrafvollzugs.

I. Straftheoretische Grundlagen Aufgabe des Strafrechts ist es, die menschlichen Beziehungen zu regeln und die bestehende gesellschaftliche Ordnung zu schützen. Durch Rechtsgüterschutz soll ein freies und friedliches Zusammenleben aller Bürgerinnen und Bürger gesichert werden.1 Dazu gibt es eine Reihe von Ver- und Gebotsnormen im Besonderen Teil des Strafgesetzbuches und in den strafrechtlichen Nebengesetzen, die eine hoheitliche Missbilligung bestimmter Verhaltensweisen ausdrücken.2 Wie diese jedoch mit den Mitteln des Strafrechts durchgesetzt werden sollen, ist seit langem umstritten und auch heute immer wieder Teil der wissenschaftlichen Diskussion3: Bei der Frage nach dem Sinn der Strafe (Androhung, Verhängung und Vollzug) stehen sich absolute und relative Straftheorien gegenüber, die die Vereinigungstheorien auf verschiedene Weise zu verbinden versuchen. Die Grundzüge dieser Theorien werden im Folgenden näher erläutert.

1  Baumann / Weber / Mitsch

2003, § 3 Rn. 4 ff.; Roxin 2006, § 2 Rn. 7. 2016, § 3 Rn. 2. 3  Siehe aktuell Hassemer 2009; von Hirsch 2011; Hörnle 2011a; Hörnle 2011c. 2  Rengier



I. Straftheoretische Grundlagen25

1. Absolute Straftheorien Kerngedanke der absoluten Straftheorien ist es, dass mit der Bestrafung des Täters kein außerhalb der Strafe liegender Zweck verfolgt, sondern allein deshalb bestraft werde, weil Unrecht begangen wurde. Die Strafe ist danach rein repressiver Natur und durch sie wird in Form von Vergeltung (Vergeltungstheorie) oder Sühne (Sühnetheorie) Gerechtigkeit wiederhergestellt.4 Anknüpfungspunkt ist dabei der gerechte Schuldausgleich; die Schuld, die der Täter oder die Täterin auf sich geladen hat, soll in gerechter Weise vergolten, ausgeglichen oder gesühnt werden.5 a) Vergeltungstheorie Im Rahmen der Vergeltungstheorie soll die Strafe das geschaffene Unrecht aufheben und so Gerechtigkeit bzw. die verletzte Rechtsordnung wiederherstellen. Die bedeutendsten Vertreter der Vergeltungstheorie waren Kant und Hegel. Nach Kant kann die Strafe nicht bloßes Mittel zum Zweck sein „sondern muss jederzeit nur darum wider ihn [den Verbrecher] verhängt werden, weil er verbrochen hat; denn der Mensch kann nie bloß als Mittel zu den Absichten eines anderen gehandhabt und unter die Gegenstände des Sachenrechts gemengt werden, wowider ihn seine angeborene Persönlichkeit schützt […].“6 Dass es bei der Strafe allein um die Wiederherstellung einer metaphysischen Gerechtigkeit, losgelöst von gesellschaftlichen Normen, gehe, verdeutlicht Kant durch sein berühmtes Inselbeispiel: „Selbst wenn sich die bürgerliche Gesellschaft mit aller Glieder Einstimmung auflöste (z. B. das eine Insel bewohnende Volk beschlösse, auseinander zu gehen und sich in alle Welt zu zerstreuen), müsste der letzte im Gefängnis befindliche Mörder vorher hingerichtet werden, damit jedermann das widerfahre, was seine Taten wert sind, und die Blutschuld nicht auf dem Volke hafte, das auf diese Bestrafung nicht gedrungen hat: weil es als Teilnehmer an dieser öffentlichen Verletzung der Gerechtigkeit betrachtet werden kann.“7 Um diese metaphysische Gerechtigkeit wiederherzustellen, muss nach Kant jedoch Gleiches mit Gleichem vergolten werden: „Prinzip der Gleichheit (im Stande des Züngleins an der Waage der Gerechtigkeit)“, „Nur das Wiedervergeltungsrecht (ius talionis) […] kann die Qualität und Quantität der Strafe bestimmt angeben […].“8 Sühnetheorie im allgemeinen Baumann / Weber / Mitsch 2003, § 3 Rn. 50. 2006, § 3 Rn. 2; Streng 2012, S. 7 f. 6  Kant 1803, § 49 E. I. (S. 226). 7  Kant 1803, § 49 E. I. (S. 229). 8  Kant 1803, § 49 E. I. (S. 227). 4  Zur

5  Roxin

26

B. Grundlagen des Jugendstrafvollzugs

Auch nach Hegel wird durch die Bestrafung des Täters oder der Täterin das Recht wiederhergestellt. Das Verbrechen des Täters oder der Täterin stelle eine Verletzung des Rechts dar, die nur durch eine erneute Verletzung des Verbrechers ausgeglichen werden könne. Die Verletzung sei „der besondere Wille des Verbrechers. Die Verletzung dieses als eines daseienden Willens also ist das Aufheben des Verbrechens, das sonst gelten würde, und ist die Wiederherstellung des Rechts“.9 Die Strafe sei damit „Negation der Negation“.10 Im Unterschied zu Kant muss die Strafe jedoch nicht qualitativ und quantitativ die gleiche Beschaffenheit aufweisen, sondern lediglich dem Werte nach gleich sein.11 Vorteil der Vergeltungstheorie ist es, dass sich die Strafe durch sie recht einfach bestimmen lässt und vor allem in ihrer Höhe begrenzt ist, nämlich nicht über das Maß der Schuld des Täters oder der Täterin hinaus gehen darf.12 Dient das Strafrecht jedoch gerade dazu, die bestehende gesellschaftliche Ordnung und deren Werte zu schützen, kann auch die Strafe selbst nicht von völlig zweckfreier Natur sein. Es ist nicht Aufgabe des Staates, das Konzept einer metaphysischen Gerechtigkeit zu verwirklichen. Bestrafung, die nicht aufgrund des Schutzes des gesellschaftlichen Ordnung und ihrer Rechtsgüter erfolgt, sondern nach der Idee der Vergeltung zur Wiederherstellung der Gerechtigkeit erforderlich ist, fehlt es dann an Legitimation.13 Auch die erheblichen Grundrechtseingriffe sowie die enormen Kosten für die Kriminaljustiz, die den Steuerzahlern entstehen, verpflichten zu einer Begründung.14 Eine zweckfreie Strafe kann deshalb in einem modernen Rechtsstaat keinen Bestand haben.15 b) Sühnetheorie Nach der Sühnetheorie steht die Sühne des Täters oder der Täterin, der oder die sich durch die Verbüßung der Strafe mit sich selbst, mit der verletzten Rechtsordnung und der Gesellschaft versöhnt, im Mittelpunkt. Der Täter oder die Täterin wird hier als gewissenhafter Mensch angesprochen, der sein 9  Hegel

1821, § 99. 1821, § 97. 11  Hegel 1821, § 101. Siehe dazu auch Lesch 1994a, S. 515, der bei Hegel von einem kommunikativ-symbolischen Ausgleich des Verbrechens durch Strafe spricht, während die Wiederherstellung der Gerechtigkeit bei Kant auf einer äußerlich-kausalen Ebene stattfindet. 12  Lesch 1994b, S. 595, 599. 13  Maurach / Zipf 1992, § 7 Rn. 5; Momsen / Rackow 2004, S. 339; Roxin 2006, § 3 Rn. 8. 14  Hörnle 2011c, S. 16 f. 15  Calliess 2001, S. 110 ff.; Hassemer 1983, S. 43 f.; Hörnle 2011c, S. 16 f. 10  Hegel



I. Straftheoretische Grundlagen27

Unrecht einsieht und sich durch einen inneren Akt und das Aufsichnehmen der Rechtsfolge, als Tilgung der Schuld, von der Tat befreit und sich so mit der Rechtsordnung wieder versöhnt.16 Nach Preiser ist „die Strafe aus ihrer sühnenden, reinigenden Funktion zu rechtfertigen. Der Täter darf bestraft werden, weil er den sittlichen Makel, den er sich selbst durch seinen Rechtsbruch zugezogen hat, nur dadurch zu tilgen vermag, dass er das Strafleiden auf sich nimmt […]“.17 Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, dass Versöhnung einen freiwilligen Akt voraussetzt, es sich bei der Strafe jedoch gerade um ein aufgezwungenes Übel handelt.18 Hinzu kommt, dass der Täter oder die Täterin heute, unabhängig davon, ob er oder sie Sühne geleistet hat, nach der Verurteilung als „vorbestraft“ und nach einem Gefängnisaufenthalt in der Gesellschaft als „gebrandmarkt“ gilt, sodass das Konzept der Sühne in unserem heutigen Strafrechtssystem und unserer Gesellschaft kaum ein Fundament findet.19 2. Relative Straftheorien Die relativen Straftheorien blicken in die Zukunft und sehen den Zweck der Strafe in der Vorbeugung erneuter Straftaten (Verbrechensverhütung). Dies erscheint gerade dann sinnvoll, wenn man als Aufgabe des Strafrechts den Rechtsgüterschutz betrachtet, der gerade durch die Verhinderung von Straftaten am besten erreicht wird.20 Es wird jeweils zwischen General- und Spezialprävention unterschieden. a) Generalprävention Zweck der Generalprävention ist es, durch Strafe die Allgemeinheit an der Begehung von Straftaten zu hindern. In negativer Hinsicht (negative Generalprävention) soll durch die Androhung der Strafe die Allgemeinheit von der Tatbegehung abgeschreckt werden. Die Androhung von Strafe sowie die Verhängung und Vollstreckung als notwendige Konsequenz bzw. Verstärkung sollen damit verhaltenslenkend wirken.21 Zurückzuführen ist diese Lehre auf Feuerbach, der die Notwendigkeit der Abschreckung als Gegenantrieb zur Tat aus seiner Theorie des psychologischen Zwangs ableitete: „[…] der Staat muss sich solcher Mittel bedienen, Baumann / Weber / Mitsch 2003, § 3 Rn. 55. 1954, S. 77. 18  Jakobs 1991, 1. Abschn. Rn. 25 f. 19  So auch Lesch 1994a, S. 513. 20  Baumann / Weber / Mitsch 2003, § 3 Rn. 25. 21  Hörnle 2011c, S. 24, 45; Roxin 2006, § 3 Rn. 23. 16  Dazu

17  Preiser

28

B. Grundlagen des Jugendstrafvollzugs

durch welche es den Bürgern psychologisch unmöglich wird, zu schaden; durch welche sie bestimmt werden, keine Rechtsverletzungen zu begehen, sich zu keiner zu entschließen.“22 „Die Übertretungen werden daher verhindert, wenn jeder Bürger gewiss weiß, dass auf die Übertretungen ein grö­ ßeres Übel folgen werde, als dasjenige ist, welches aus der Nichtbefriedigung des Bedürfnisses nach der Handlung (als einem Objekt der Lust) entspringt […].“23 Damit sie Geltung beanspruchen können, ist den präventiven Theorien jedoch die Frage nach ihrer Wirkung immanent. Kann die Strafe die Verhinderung von Straftaten gar nicht erreichen, so kann darin auch nicht ihre Zweckbestimmung liegen.24 Gerade bei der Abschreckung, die eine Täterin oder einen Täter voraussetzt, die oder der die Vor- und Nachteile kühl und rational abwägt, ist dies im Hinblick auf einige Straftaten wie Fahrlässigkeitstaten oder situativ motivierte Gewaltdelikte zweifelhaft. Zudem spielt vielmehr das Risiko, entdeckt und bestraft zu werden, als die Strafandrohung selbst eine Rolle. Auch führt die Bemessung der Strafe zu fragwürdigen Ergebnissen, da nicht an dem sozialen Schaden, der durch die Tat entsteht, sondern an dem potentiellen Vorteil des Täters oder der Täterin, den es auszugleichen gilt, angesetzt wird: „Bei einem Mord um einiger hundert Mark Beute willen mag eine einigermaßen sicher erfolgende Geldstrafe von einigen tausend Mark hinreichend prävenieren, während bei einer üblen Nachrede, die der Täter zur Erhaltung einer persönlichen Beziehung oder zur Steigerung seiner Karriere begeht, erst die Aussicht auf jahrelange Freiheitsstrafe ein hinreichendes Übel sein mag.“25 Es fehlt der negativen Generalprävention darüber hinaus an jeglicher Begrenzung der Strafhöhe; es wird sogar gerade zu Strafschärfungen ermuntert, um die vermutete Effektivität der Abschreckung zu steigern.26 Bei der positiven Generalprävention soll durch eine Bestrafung von normabweichendem Verhalten das Vertrauen der Allgemeinheit in die Rechtsordnung gestärkt werden. Dieses Vertrauen ergibt sich vor allem aus der Bestätigung der Normgeltung. Der Strafe kommt damit eine das Rechtsbewusstsein der Bevölkerung stabilisierende und als Fernwirkung dessen auch eine straftatverhindernde Funktion zu.27 Erste theoretische Ansätze zur positiv generalprä22  Feuerbach

1799, S. 40. 1799, S. 45 f., so auch später in Feuerbach 1847, §§ 12 ff. 24  Hassemer 1983, S. 44 f., 56; Hassemer 2009, S. 72; dazu auch Kaspar 2014, S. 633. Ebenso Hörnle 2011c, S. 9 f., 24 f., die von einer zwar beschränkten, aber ausreichenden verhaltensbeeinflussenden Wirkung der Strafandrohung und Verhängung ausgeht. Zur Wirksamkeit von abschreckenden Maßnahmen, siehe aber Kap. B. II. b) jj). 25  Jakobs 1991, 1. Abschn. Rn. 28 ff., Beispiel in Rn. 30. 26  Hassemer 2009, S. 71 f.; Roxin 1966, S. 380; Roxin 2006, § 3 Rn. 32. 27  Baumann / Weber / Mitsch 2003, § 3 Rn. 30 ff.; Jakobs 1991, 1. Abschn. Rn. 4 ff., 15. 23  Feuerbach



I. Straftheoretische Grundlagen29

ventiven Wirkung der Strafe finden sich bereits bei Welzel28 und Mayer29, aber auch in der Rechtsprechung gibt es Überlegungen, die der Theorie der positiven Generalprävention nahestehen. So spricht BGHSt 24, 40 von „Erhaltung der Rechtstreue der Bevölkerung“ und davon, dass eine Vollstreckung der Freiheitsstrafe zur „Verteidigung der Rechtsordnung“ geboten sei, „wenn eine Aussetzung der Strafe zur Bewährung im Hinblick auf schwerwiegende Besonderheiten des Einzelfalles für das allgemeine Rechtsempfinden schlechthin unverständlich erscheinen müsste und das Vertrauen der Bevölkerung in die Unverbrüchlichkeit des Rechts und in den Schutz der Rechtsordnung vor kriminellen Angriffen dadurch erschüttert werden könnte.“30 Ein Zusammenhang der Strafe mit einem gesellschaftlichen Normvertrauen und einer sich daraus ergebenden Verhinderung von Straftaten ist jedoch kaum nachzuweisen.31 Dennoch tauchen unterschiedliche Formen der positiven Generalprävention immer wieder auch in der neueren straftheoretischen Diskussion auf, sodass teilweise gar von ihrer „Renaissance“32 gesprochen wird. So setzt Jakobs bei seiner Variante der positiven Generalprävention bei den Erwartungen der Menschen an das gesellschaftliche Zusammenleben an, die durch Regelmäßigkeiten und Orientierungsmuster geprägt werden. Strafe erfolgt danach zur „Einübung in Normanerkennung“, da jeder weiß, was ihn erwarten kann („Einübung in Normvertrauen“), das Verhalten als indiskutabel („Einübung in Rechtstreue“) und der Zusammenhang des Verhaltens mit der beschwerenden Einbuße der Strafe erlernt wird („Einübung in die Akzeptation der Konsequenzen“).33 Nach Hassemer ist das das Strafrecht Teil des Gesamtsystems der sozialen Kontrolle. Dadurch, dass Strafrecht und Strafe den Bürgern Vertrauen in Normen, in deren Sicherung und Geltung schafften, erhielten und zudem stärkten, wirkten sie an den Prozessen der normativen Enkulturation mit. Diese Mitwirkung beschränkt Hassemer jedoch nicht auf die freiheitseinschränkenden Normen, sondern schließt auch freiheitsverbürgende Normen, wie sie sich aus dem Strafverfahrensrecht ergeben, mit ein.34 Auch nach Kaspar ist die positive Generalprävention der „Hauptzweck“ 28  Welzel

1969, S. 3. 1967, S. 21 f. 30  BGHSt 24, 40 (44 ff.). 31  Hörnle 2011c, S. 26; Hörnle / von Hirsch 1995, S. 262; Roxin 2006, § 3 Rn. 30. Dazu auch Kaspar 2014, S. 658 ff., der davon ausgeht, dass empirische Erkenntnisse nicht erzielt werden können, nach sachlogischen Erwägungen („Evidenzen“) eine positiv-generalpräventive Wirkung der Strafe aber bejaht. Versuche, die Wirksamkeit zu überprüfen, finden sich bei Baurmann 1994 und Schumann 1989. 32  Lesch 1994a, S. 517. 33  Jakobs 1991, 1. Abschn. Rn. 15. 34  Hassemer 1983, S. 61 ff.; Hassemer 2000, S. 207  f., 213 ff.; Hassemer 2009, S.  32 ff., 109 f. 29  Mayer

30

B. Grundlagen des Jugendstrafvollzugs

der Strafe. Nach einer Straftat bestehe „in der Regel ein generalpräventives Bedürfnis nach einer strafenden Reaktion“35, denn nur so könne ein Lernoder Befriedungseffekt eintreten. Die Strafe sei allerdings stets strikt an den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gebunden. Kaspar spricht insoweit von „verhältnismäßiger Generalprävention“36 Der Generalprävention insgesamt ist zu Gute zu halten, dass sie die Schutzaufgabe des Strafrechts hervorhebt und dazu anhält, das strafbare Verhalten als Gegenstand des Verbots genau zu bestimmen. Im Hinblick auf die Menschenwürde ist allerdings fragwürdig, ob es einziger Sinn der Bestrafung des einzelnen Täters oder der einzelnen Täterin sein kann, die Allgemeinheit abzuschrecken oder das Vertrauen der Allgemeinheit in die Rechtsordnung zu stärken.37 b) Spezialprävention Während die Generalprävention die Allgemeinheit an der Begehung von Straftaten hindern möchte, geht es bei der Spezialprävention um den Täter oder die Täterin als Individuum. Der Täter oder die Täterin selbst soll also durch Strafe zukünftig von der Begehung neuer Straftaten abgehalten werden, entweder durch Besserung, also Resozialisierung (positive Spezialprävention), individuelle Abschreckung oder durch Sicherung der Gesellschaft vor dem Täter oder der Täterin, indem man ihn oder sie einsperrt (negative Spezialprävention).38 Die Theorie der Spezialprävention wurde vor allem von von Liszt durch seine Antrittsvorlesung an der Universität Marburg, dem sog. „Marburger Programm“, geprägt. Darin sprach sich von Liszt für eine ausschließliche Orientierung des Strafrechts am Zweckgedanken aus. Die Strafe könne nur durch die Erkennung ihres Zweckes zu einer Willenshandlung und damit insbesondere im Hinblick auf ihre Qualität und Quantität zur Erreichung des Rechtsgüterschutzes optimiert werden.39 Nach von Liszt ist die Strafe Zwang. Dieser könne entweder ein indirekter, mittelbarer, psychologischer Zwang, auch Motivation genannt, sein, der dem Täter oder der Täterin Motive an die Hand gebe, die der Begehung von Straftaten entgegenwirkten (im Rahmen der Besserung oder Abschreckung) oder ein direkter, unmittelbarer, mechanischer Zwang, der nämlich durch 35  Kaspar

2014, S. 704. 2014, S. 703 ff. 37  Roxin 1966, S. 380; Roxin 2006, § 3 Rn. 28 f., 32; abl. jedenfalls Calliess 2001, S. 110; Lesch 1994a, S. 519; Neuß 2001, S. 185. 38  Roxin 2006, § 3 Rn. 11 f. 39  von Liszt 1883, S. 23; siehe dazu auch Freund 1995. 36  Kaspar



I. Straftheoretische Grundlagen31

Gewalt den Täter oder die Täterin vorübergehend oder dauerhaft unschädlich mache (durch Einsperren). Von Liszt teilte diesen Formen des Rechtsgüterschutzes jeweils bestimmte Tätergruppen zu, die durch eine bestimmte Art der Strafe angesprochen werden sollten. Dadurch entstehen drei Kategorien: „1) Besserung der besserungsfähigen und besserungsbedürftigen Verbrecher;   2) Abschreckung der nicht besserungsbedürftigen Verbrecher;   3) Unschädlichmachung der nicht besserungsfähigen Verbrecher.“40 Dieser Theorie ist zuzusprechen, dass eine täterorientierte Bestrafung in Form von entweder Besserung, Abschreckung oder Unschädlichmachung im Hinblick auf den Rechtsgüterschutz durchaus sinnvoll erscheint, jedoch muss sich auch der Zweck der Spezialprävention an seiner tatsächlichen Wirksamkeit messen lassen.41 Während die Inhaftierung zumindest Straftaten außerhalb der Anstalt notwendigerweise verhindert42, bestehen hinsichtlich einer abschreckenden Wirkung begründete Zweifel43. Auch im Hinblick auf die Resozialisierung taucht immer wieder Skepsis auf44, die empirische Forschung zeigt jedoch, dass durchaus positive Effekte durch Straftäterbehandlung möglich sind45. Bei der Spezialprävention als einzigem Zweck der Strafe ist zudem problematisch, dass sie einerseits, ebenso wie die Generalprävention, keine Prinzipien zur Begrenzung der Strafe liefert; die Strafe kann zum Zweck der Resozialisierung weit über das für die Vergeltung bzw. den Schuldausgleich erforderliche Maß hinausgehen.46 Und sie kann andererseits auch zu schuldunangemessenen Einschränkungen bei der Bestrafung führen, nämlich wenn bspw. bei einem Mörder oder einer Mörderin keine Wiederholungsgefahr besteht und eine Bestrafung damit im Sinne der Spe­ zialprävention nicht sinnvoll wäre.47 3. Vereinigungstheorien Da alle bisher erörterten Straftheorien einzelne gewichtige Schwächen aufweisen, wird versucht, mehrere Straftheorien als Zweck der Strafe ge40  von

Liszt 1883, S. 33 ff. 1983, S. 44 f., 56; Hassemer 2009, S. 72. 42  Hörnle 2011c, S. 22. 43  Siehe dazu Kap. B. I. 2. a); Kap. B. II. 2.; Kap. B. II. 3. b) jj). 44  Bspw. Hörnle 2011c, S. 21 f.; Lesch 1994b, S. 593. 45  Siehe dazu Kap. B. II. 3. 46  Hassemer 2009, S. 71 f.; Jakobs 1991, 1. Abschn. Rn. 46; Lesch 1994b, S. 593 f.; Roxin 1966, S. 379; Roxin 2006, § 3 Rn. 16. 47  Momsen / Rackow 2004, S. 338 mit dem Beispiel der Mutter, die den Mörder ihrer siebenjährigen Tochter aus Verzweiflung erschießt. 41  Hassemer

32

B. Grundlagen des Jugendstrafvollzugs

meinsam heranzuziehen. Diese sogenannten Vereinigungstheorien werden heute vielfach, jedoch mit unterschiedlichen Gewichtungen der einzelnen Strafaspekte, vertreten.48 Beispielhaft ist auch die Stellungnahme des BVerfG, das gleich mehrere Aspekte ohne jegliche Gewichtung nebeneinander nennt: „Es hat als allgemeine Aufgabe des Strafrechts bezeichnet, die elementaren Werte des Gemeinschaftslebens zu schützen. Schuldausgleich, Prävention, Resozialisierung des Täters, Sühne und Vergeltung für begangenes Unrecht werden als Aspekte einer angemessenen Strafsanktion bezeichnet.“49 Zwar erscheint es durchaus richtig, nicht einen einzelnen Strafgrund allein wirken zu lassen, sondern ein in sich stimmiges Strafkonzept zu entwickeln; die einfache Kumulierung der Strafzwecke, wenn diese gleichrangig in Konkurrenz treten, führt jedoch zu Widersprüchen (sogenannte Antinomie der Strafzwecke), bspw. bereits bei der Bestimmung des Strafmaßes.50 Um diese Konflikte aufzuheben, hat Roxin in seinem Stufenmodell eine Anwendungsstruktur der Strafzwecke entwickelt. Da das Strafrecht dem oder der Einzelnen in dreifacher Weise, nämlich Strafe androhend, verhängend und vollziehend, gegenübertrete, bedürfe jeder dieser Schritte seiner eigenen Rechtfertigung und die einzelnen Strafzwecke müssten diesen Stufen zugeordnet werden. Danach wirke die Strafandrohung primär generalpräventiv. Bei der Verhängung der Strafe würden general- und spezialpräventive Aspekte gleichermaßen berücksichtigt, jedoch werde die Höhe der Strafe durch ein Element der Vergeltungstheorie, das Schuldprinzip, begrenzt. Auf der Ebene des Strafvollzugs erlange schließlich der Resozialisierungsgedanke überwiegende Bedeutung.51 Auch bei von Hirsch und Hörnle finden sich Theorien, die zur Begründung der Strafe mehrere Aspekte kombinieren. Beide kritisieren zunächst die zwanghafte Unterscheidung von absoluten und relativen Theorien in der deutschen Straftheoriedebatte, in die sich ihre Begründungsaspekte nicht immer einordnen lassen.52 Nach von Hirsch besteht die Strafe aus den beiden Elementen Tadel und Übelszufügung. Dem Tadel komme moralische Funktion zu, er unterscheide sich von den absoluten Strafzwecken jedoch darin, dass er nicht die „Wiederherstellung des moralischen Gleichgewichts“ für sich beanspruche, sondern ein normatives Urteil darstelle, das in unterschied48  Siehe bspw. Baumann / Weber / Mitsch 2003, § 3 Rn. 61 ff.; Bunz 2011, S. 17; Hörnle 2011c, S. 37  ff.; Jescheck / Weigend 1996, S. 79; MK-Joecks 2017, Einl. Rn.  76 ff.; Roxin 1966, S. 381 ff. Zur Übersicht siehe auch Koriath 1995, S.  625 ff. 49  BVerfGE  45, 187 (253 f.). Zu den Strafzwecken in der Rechtsprechung siehe auch Roxin 2009b. 50  Jakobs 1991, 1. Abschn. Rn. 48 ff.; Lesch 1994b, S. 595; Roxin 1966, S. 381; Streng 2012, S. 25. 51  Roxin 1966, S. 381; Roxin 2006, § 3 Rn. 42, 51; Roxin 2009b, S. 610 ff. 52  Hörnle 2011b, S. 28; von Hirsch 2011, S. 43.



I. Straftheoretische Grundlagen33

lichen sozialen Kontexten Anwendung finde. Der Tadel kommuniziere dem Täter als Person mit moralischer Handlungskompetenz die Unrechtmäßigkeit seines Verhaltens; er bestätige dem Opfer, dass ihm Unrecht geschehen ist und er übermittele Dritten, den Mitgliedern der staatlichen Gemeinschaft, normative Botschaften.53 Der anschließenden Übelzufügung komme eine präventive Funktion zu. Sie liefere dem Täter oder der Täterin den „zweckrationalen Grund“, keine Straftaten zu begehen.54 Wie Roxin unterteilt auch Hörnle die Strafe in verschiedene Stufen, die unterschiedlich begründet werden müssen. Zur eigentlichen Straftheorie zählt sie jedoch nur die Androhung und Verhängung der Strafe, während sich ihre Bemessung und ihr Vollzug durch jeweils eigene Theorien (Strafzumessungstheorie bzw. Strafvollzugstheorie) begründen lassen müssen. Zur Begründung der Androhung und Verhängung von Strafe zieht Hörnle generalpräventive Erwägungen heran, die sie durch von ihr sogenannte expressive bzw. kommunikative Theorien ergänzt. So seien bei der Legitimation der Verhängung von Strafe auch Opferinteressen, nämlich das in Form des Unwerturteils dem Opfer bestätigt werde, dass ihm Unrecht geschehen sei, sowie der Gleichheitsgrundsatz als Organisationsprinzip des menschlichen Zusammenlebens und Fairnessaspekte zu berücksichtigen. Auch dadurch werde mit der Strafe ein Zweck verfolgt, der jedoch nicht präventiver Natur sei.55 Bei der Bemessung der Strafe misst Hörnle dem Schuldgrundsatz, beim Strafvollzug der sich aus dem Sozialstaatsprinzip ergebenden Resozialisierung des Täters oder der Täterin überwiegende Bedeutung zu.56 Im heutigen Strafgesetzbuch hat der Gesetzgeber keine Entscheidung zugunsten eines Strafzwecks getroffen. Vielmehr nennen die §§ 46, 47, 56 StGB mehrere Aspekte nebeneinander. Nach § 46 I StGB ist die Schuld Grundlage für die Strafzumessung, daneben spielen aber auch die Wirkungen der Strafe auf den Täter (§ 46 I 2 StGB) eine Rolle. Bei der Verhängung von kurzen Freiheitsstrafen oder der Aussetzung zur Bewährung ist zudem eine erforderliche Einwirkung auf den Täter oder die Täterin sowie die Verteidigung der Rechtsordnung zu berücksichtigen (§§ 47 I, 56 I StGB).

53  von Hirsch 2011, S. 50  ff., dieselben Ausführungen finden sich auch in von Hirsch 2005, S. 41 ff. 54  von Hirsch 2011, S. 55 ff. 55  Hörnle 2011a, S. 13 ff.; Hörnle 2011c, S. 29 ff. 56  Hörnle 2011a, S. 19 ff.

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B. Grundlagen des Jugendstrafvollzugs

4. Strafzwecke im Jugendstrafrecht Die Eigenständigkeit des Jugendstrafrechts macht auch eine selbstständige Bestimmung der Strafzwecke erforderlich.57 Bereits § 2 I JGG bestimmt die Spezialprävention in Form der gelungenen Legalbewährung als vorrangiges Ziel. Mit der Formulierung, dass die Anwendung des Jugendstrafrechts „vor allem“ erneuten Straftaten eines oder einer Jugendlichen oder Heranwachsenden entgegenwirken soll, bleibt eine Anwendung von Nebenzielen aber offen.58 Namentlich kommt hier der gerechte Schuldausgleich, welcher in § 17 II JGG bei Verhängung der Jugendstrafe wegen Schwere der Schuld ausdrücklich erwähnt ist, in Betracht. Darüber hinaus sind Schulderwägungen auch bei der Bemessung der Jugendstrafe von Bedeutung. So kommt ihnen die Funktion zu, das Strafmaß nach oben hin zu begrenzen: auch wenn eine längere Dauer der Maßnahme aus erzieherischen Gründen wünschenswert und sinnvoll wäre, darf bei der Verhängung einer Jugendstrafe nicht über das schuldangemessene Maß hinausgegangen werden.59 Zudem finden sich Schulderwägungen auch in § 18 I 2 JGG wieder, nach dem eine aus erzieherischen Gründen kaum sinnvolle60 Jugendstrafe bis zu zehn Jahren bei besonders schweren Taten möglich ist.61 Dagegen sind nach ganz überwiegender Auffassung Gesichtspunkte der negativen Generalprävention im Sinne von Abschreckung anderer potentieller Täter oder Täterinnen innerhalb des vom Erziehungsgedanken beherrschten Jugendstrafrechts ausgeschlossen.62 Zum einen berücksichtigt dieses Prinzip nicht das Interesse des oder der Jugendlichen, um das es im Jugendstrafrecht jedoch gerade geht, und junge Straftäter oder -täterinnen würden dadurch in einer nicht mit Art. 1 I GG zu vereinbarenden Weise zur Aufrechterhaltung der Rechtsordnung funktionalisiert.63 Zum anderen ist die 57  Schüler-Springorum

1987, S. 431. 2011, § 2 vor Rn. 1; M / R / T / W-Rössner 2014, § 2 Rn. 4; Ostendorf 2016, § 2 Rn. 2. So nennt Sonnen 2007a, S. 51 hier explizit „Aspekte der Normverdeutlichung und des Schuldausgleichs“. 59  BT-Drucks.  16 / 6293, S. 9; BGH Beschl. v. 13.6.1995 (4 StR 315 / 95); BGH Beschl. v. 14.8.1996 (2 StR 357 / 96), StV 1998, 334; BGH NStZ 1986, 71; Übersicht auch bei Böhm 1995, S. 536; Böhm 1997, S. 381. 60  Dünkel 1999, S. 103 f. 61  BGH NStZ-RR 1996, 120 ff.; Böhm / Feuerhelm 2004, S. 233 f.; Eisenberg 2016, § 18 Rn. 9. 62  BGHSt 15, 224 (226); BGH StV 1990, S. 505; Böhm / Feuerhelm 2004, S. 233; D / S / S-Sonnen 2011, §§ 2 vor Rn. 1, 18 Rn. 16; Eisenberg 2016, §§ 2 Rn. 3, 17 Rn. 5, 18 Rn. 17; Ostendorf 2016, § 2 Rn. 4. 63  BGHSt 15, 224 (226); Ostendorf 2015a, Rn. 49. 58  D / S / S-Sonnen



II. Kriminologische Grundlagen35

Wirksamkeit von Abschreckung bei jungen, wenig aus Vernunft heraus handelnden Tätern oder Täterinnen ohnehin zweifelhaft.64 Zwar lässt sich das erste Argument auch hinsichtlich der positiven Generalprävention einbringen65, nach der Gesetzesbegründung kann diese allerdings als Reflexwirkung einer Verurteilung einen auch gewollten Nebeneffekt auf das Rechtsbewusstsein Anderer darstellen.66 5. Zusammenfassung Aus den vorherigen Ausführungen zu den verschiedenen Strafzwecken wird deutlich, dass die Strafe nicht durch einen Ansatz bzw. eine Straftheorie allein begründet werden kann. Vielmehr ist es der Komplexität der Materie geschuldet, dass eine abschließende Begründung von Strafe bisher nicht gefunden wurde und die Straftheorien in der wissenschaftlichen Diskussion weiterhin aktuell bleiben. Zwar dürfen Erwägungen zur Abschreckung der Allgemeinheit im Jugendstrafrecht keine Rolle spielen, dennoch können Aspekte der Spezialprävention, des gerechten Schuldausgleichs und eingeschränkt auch der positiven Generalprävention berücksichtigt werden.

II. Kriminologische Grundlagen Der folgende Abschnitt beschäftigt sich mit den für die Fragestellung dieser Arbeit relevanten kriminologischen Grundlagen: Um beurteilen zu können, welche Bedeutung eine Strafanzeige im und welche Auswirkungen sie auf den Jugendstrafvollzug hat und wie sich die Strafanzeige in den Zielerreichungsprozess eingliedert, müssen zunächst die für die Entwicklung der Jugendstrafgefangenen relevanten Faktoren erörtert werden. Dazu gehören neben den grundlegenden Theorien, aus denen sich Konzepte der Straftäterbehandlung ergeben, auch die Wirksamkeit einzelner Behandlungsmaßnahmen und -programme sowie verschiedene Strategien effizienter Behandlung Ostendorf 2015a, Rn. 49. Siehe dazu auch Kap. B. II. 2.; Kap. B. II. 3. b) jj). Böhm / Feuerhelm 2004, S. 233; D / S / S-Sonnen 2011, § 18 Rn. 16; anders aber Bottke 1984, S. 42 f.; Frommel / Maelicke 1994, S.  29 ff.; Hinz 2001, S. 54; Trenckhoff 1977, S. 492. Auch nach Laubenthal 2002, S. 811 ist die generalpräventive Funktion „eine der Rechtsordnung immanente und der Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes vorgängige notwendige Wirkungsbedingung von Rechtsregeln, so lässt sich schwerlich von einer Instrumentalisierung des Menschen und seiner Herabwürdigung zum Objekt sprechen, sondern von der Aktualisierung von Konsequenzen, die sich aus der Gemeinschaftsgebundenheit des Einzelnen notwendigerweise ergeben.“ 66  BT-Drucks. 16 / 6293, S. 10; M / R / T / W-Rössner 2014, § 2 Rn. 4. 64  So 65  So

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B. Grundlagen des Jugendstrafvollzugs

und die Veränderungsprozesse, die eine Jugendstrafgefangene oder ein Jugendstrafgefangener aufgrund der besonderen Lebenssituation während einer Inhaftierung durchläuft. 1. Kriminalitätstheorien Die Kriminalitätstheorien oder auch Theorien abweichenden Verhaltens sind die Grundlage einer effizienten Straftäterbehandlung. Nur wer weiß, warum Menschen straffällig werden, also die Ursachen von delinquentem Verhalten untersucht hat, kann auch sinnvolle Konzepte und Maßnahmen entwickeln, um diesem entgegenzutreten.67 Im Folgenden wird deshalb ein Überblick über verschiedene Theorien zur Erklärung abweichenden Verhaltens gegeben. Dabei wird jedoch kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben, vielmehr werden nur solche Ansätze erörtert, die im weiteren Verlauf der Untersuchung, insbesondere im Hinblick auf eine Behandlung im Jugendstrafvollzug, von Bedeutung sind. a) Psychoanalytischer Ansatz Der psychoanalytische Ansatz sieht den Grund für die Entstehung von abweichendem Verhalten in Entwicklungsstörungen in der frühen Kindheit. Nach Freud, dem Begründer der Psychoanalyse, bildet sich in den ersten fünf Lebensjahren der psychische Apparat eines Menschen, bestehend aus dem Es, dem Ich und dem Über-Ich. Freud beschreibt die Entwicklung des psychischen Apparats wie folgt: Während das Es im Unterbewussten liegt und durch von Anfang an vorhandene Triebe, insbesondere Aggression und Sexualität, geleitet wird, entwickelt sich das Ich in den ersten Jahren durch den Einfluss der Außenwelt auf das Kind. Das Ich nimmt insoweit eine vermittelnde Position zwischen dem Es und der Außenwelt ein. Es befindet sich im Vorbewussten, Gedanken und Wünsche aus dem Vorbewusstsein können jedoch jederzeit ins Bewusste transportiert werden. Hinzu kommt noch eine Beeinflussung des Ich durch das Über-Ich. Das Über-Ich entsteht durch die Abhängigkeit des Kindes von seinen Eltern oder anderen Bezugspersonen und die Übernahme von deren kulturellen Moral- und Wertvorstellungen. Durch das Über-Ich werden die aus dem Es kommenden Triebregungen, die nicht mit den kulturellen Vorstellungen des Über-Ich übereinstimmen, unterdrückt. Auch das Über-Ich liegt im Unterbewussten.68 Es ist Aufgabe des Ich, ein harmonisches Zusam67  Lösel

1994, S. 27; Steller 1994, S. 9. 1955, S. 54 f.; Dechêne 1975, S. 126 ff.; Freud 1941, S. 67 ff.

68  Brenner



II. Kriminologische Grundlagen37

menspiel zwischen den Instanzen zu garantieren. Liegen jedoch Störungen in der Entwicklung des Ich oder des Über-Ich vor, ist dies nicht möglich, und es kann zu abweichendem Verhalten kommen.69 Entwicklungsstörungen in der frühen Kindheit ergeben sich häufig aus dem Verhalten der Eltern gegenüber ihrem Kind. Insbesondere im ersten Lebensjahr sammelt ein Kind elementare Erfahrungen mit sich selbst und seiner Umgebung und benötigt dafür die uneingeschränkte Zuneigung der Mutter, die alle Bedürfnisse des Kindes befriedigt, wodurch beim Kind ein Grundvertrauen entsteht. Fehlt dem Kind in dem ersten Jahr diese Bezugsperson ganz oder wechselt diese, so führt dies zu Störungen in der Entwicklung des Ich. Strafbare Handlungen von Personen mit solch frühzeitigen Störungen sind oft durch ihre zerstörerische Art gekennzeichnet, die der Täterin oder dem Täter selbst kaum Nutzen bringt, sondern aus dem Wunsch nach vorbehaltloser Anteilnahme herrührt.70 Im zweiten und dritten Lebensjahr lernt ein Kind, sich mit seiner Umgebung auseinanderzusetzen, es sucht seine Stellung in der Familie und lernt, sich durchzusetzen, nachzugegeben oder Kompromisse zu schließen. Bei dieser Entwicklungsphase spielen insbesondere der Vater, aber auch andere Vorbilder wie Geschwister oder Erzieher eine Rolle. Störungen in dieser Phase spiegeln sich in einem zu starken oder zu schwachen Über-Ich wider. Straftaten, die aus einem schwachen Über-Ich resultieren, sind durch eigennützige Motive gekennzeichnet.71 Auch Freuds Verbrecher aus Schuldbewusstsein, der ein zu starkes Über-Ich aufweist und die daraus resultierenden Schuldgefühle durch Bestrafung, die auf eine Straftat folgt, zu entlasten sucht, ist in diese Phase einzuordnen.72 Verlaufen diese Entwicklungsphasen hingegen ohne Probleme, entwickelt sich eine reife, verantwortungsbewusste Persönlichkeit, die dazu fähig ist, Bedürfnisse zurückzustellen, feste Beziehungen mit Mitmenschen einzugehen und soziale Leistungen zu erbringen. Im Gegensatz dazu ist eine Person, die Entwicklungsstörungen in der frühen Kindheit erlitten hat, gekennzeichnet durch schwache Selbstkontrolle, Impulsivität, geringes Selbstbewusstsein und Bindungsängste.73

69  Freud 1946, S. 366 f., 389 f.; Fromm 1970, S. 122; Göppinger-Bock 2008, § 9 Rn. 9. 70  Lüderssen 1983, S. 73; Toman 1983, S. 41 ff. 71  Toman 1983, S. 44 f. 72  Aichhorn 1951, S. 198; Freud 1946, S. 389. 73  Andrews / Bonta 2010, S. 11, 87 f.

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B. Grundlagen des Jugendstrafvollzugs

b) Bindungs- und Kontrolltheorien Im Unterschied zu den meisten anderen Kriminalitätstheorien beschäftigen sich die Bindungs- und Kontrolltheorien nicht mit der Frage, wie delinquentes Verhalten entsteht, sondern wie abweichendes Verhalten verhindert werden kann. Ausgangspunkt ist dabei, dass der Mensch als von Anfang an aggressives, unkontrolliertes Individuum angesehen wird und konforme Verhaltensweisen, vor allem durch soziale Beziehungen, erst verinnerlicht werden müssen. In diesem letzten Aspekt ist eine gewisse Ähnlichkeit der Bindungsund Kontrolltheorien mit dem psychoanalytischen Ansatz zu erkennen.74 Bereits die älteren Kontrolltheorien, z. B. von Reiss oder Nye, unterscheiden zwischen innerer und äußerer Kontrolle, wobei diesen Aspekten und ihrer Entwicklung unterschiedliche Bedeutung beigemessen wurde. Jedenfalls verhelfe das Vorliegen von innerer und äußerer Kontrolle dem Einzelnen dazu, dem gesellschaftlichen Druck und schädlichen Einflüssen zu widerstehen und so sein Verhalten zu kontrollieren und sich normangepasst zu verhalten. Im Umkehrschluss dazu ergebe sich delinquentes Verhalten aus einem Mangel an Selbstkontrolle.75 Auch Reckless unterscheidet in seiner Halttheorie zwischen innerem und äußerem Halt. Dabei spiegle sich der innere Halt im „Selbstkonzept“ einer Person wider, das sich durch Erfahrungen und Erlebnisse mit sich selbst und mit anderen bilde.76 Dieses Selbstkonzept bezeichnet Reckless als „differentiellen Reaktionskomponenten, der erklärt, warum manche der Versuchung erliegen und andere nicht […]“.77 Anders ausgedrückt, falle es einer Person mit günstigem Selbstkonzept leichter, inneren Bedürfnissen oder gesellschaftlichem Druck zu widerstehen. Ein ungünstiges Selbstkonzept könne jedoch durch äußeren Halt, bestehend aus haltgewährenden Familienstrukturen oder anderen Gruppen, ausgeglichen werden.78 aa) Theorie der sozialen Bindung In seiner Theorie der sozialen Kontrolle versucht Hirschi die Mechanismen der inneren und äußeren Kontrolle näher zu beschreiben, um somit genauer zu erklären, welche Einflüsse kriminelle Verhaltensweisen eines Menschen verhindern.79 Ausschlaggebend für konformes Verhalten sei die Bin2008, § 9 Rn. 18; Schäfer 2007, S. 15 ff. 1958, S. 3 ff.; Reiss 1951, S. 203. 76  Reckless / Dinitz / Murray 1956, S. 746; Reckless / Dinitz / Kay 1957, S. 566, 569 f. 77  Reckless 1961, S. 9. 78  Reckless 1961, S. 11 f. 79  Hirschi 1969, S. 16; Meier 2016, § 3 Rn. 79. 74  Göppinger-Bock 75  Nye



II. Kriminologische Grundlagen39

dung des Individuums an die Gesellschaft. Hirschi unterscheidet dabei vier Elemente dieser Bindung80: – Attachment: Die emotionale Bindung zu nahestehenden Personen verhindert abweichendes Verhalten, da Meinungen dieser Personen wertgeschätzt werden und man sich dementsprechend verhalten wird. – Commitment: Wer sich allgemein anerkannten Zielen verpflichtet, wird seine Zeit und Energie in die Erreichung dieser Ziele investieren, sodass wenig Zeit für kriminelles Verhalten bleibt. Zudem wird eine solche Person ihr Verhalten abwägen, um die Erreichung dieser Ziele nicht zu gefährden. – Involvement: Eine strukturierte Zeiteinteilung und die Einbindung einer Person in feste Aktivitäten in Beruf und Freizeit verhindert abweichendes Verhalten bereits aufgrund des Mangels an Gelegenheit. – Belief: Wer innerlich die Werte und Moralvorstellungen der Gesellschaft akzeptiert und übernimmt, wird diese nicht verletzen. Durch das Bestehen dieser Bindung erfahre ein Individuum Zuneigung und Sicherheit in der Gesellschaft, lerne soziales Verhalten kennen und verinnerliche bestehende gesellschaftliche Werte. Sei wenigstens eines dieser Bindungselemente schwach oder gar nicht vorhanden, so könne sich das in kriminellem Verhalten widerspiegeln. Allerdings sind nach Hirschi diese Elemente eng miteinander verbunden und beeinflussen sich gegenseitig. Wer bspw. eine enge emotionale Bindung zu anderen Personen aufweise, sei meist auch in gesellschaftliche Aktivitäten involviert und akzeptiere dadurch auch die gesellschaftlichen Werte und Moralvorstellungen.81 bb) Theorie der fehlenden Selbstkontrolle An seine frühere Theorie anknüpfend, entwickelte Hirschi zusammen mit Gottfredson die Theorie der fehlenden Selbstkontrolle (1990). Diese bezeichnen sie selbst als „allgemeine Kriminalitätstheorie“ (General Theory of Crime) und beanspruchen, damit alle Formen kriminellen Verhaltens zu erklären.82 Die Grundlagen ihrer Theorie finden sich in der klassischen Kriminologie, wonach kriminelles Verhalten nicht angeboren ist, sondern jeder Mensch ­ra­tional handelt, indem er in einer Kosten-Nutzen-Kalkulation seine eigenen Interessen verfolgt und nach der Befriedigung seiner Bedürfnisse strebt.83 Da80  Hirschi

1969, S. 16 ff. 1969, S. 27. 82  Gottfredson / Hirschi 1990, S. 117; Seipel / Eifler 2004, S. 289. 83  Gottfredson / Hirschi 1990, S. 5. Dazu ausführlicher in Kap. B. II. 1. d). 81  Hirschi

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B. Grundlagen des Jugendstrafvollzugs

raus folgt die Kernaussage ihrer Theorie, dass fehlende oder geringe Selbstkontrolle der Täterin oder des Täters die Ursache für Kriminalität darstelle. Selbstkontrolle zeige sich in der Fähigkeit, kurzfristige Bedürfnisse zu kon­ trollieren, den schnellen positiven Folgen kriminellen Handelns („temptations of the moment“) zu widerstehen und dessen langfristige negative Folgen im Auge zu behalten.84 Nach Gottfredson und Hirschi entwickelt sich die Selbstkontrolle in den ersten sechs bis acht Lebensjahren eines Kindes insbesondere durch familiäre Erziehung. Für eine optimale Entwicklung nennen Gottfredson und Hirschi drei Minimalkriterien, die erfüllt werden müssten: Eltern müssen das Verhalten ihres Kindes überwachen, abweichendes Verhalten erkennen, sobald es auftritt und das Kind aufgrund dieses Verhaltens in Form von verbaler Missbilligung bestrafen.85 Im Anschluss an diese Entwicklungsphase verändere sich das Maß an Selbstkontrolle kaum, sodass die Neigung zu abweichendem Verhalten nicht mehr korrigiert werden könne. Daher und aufgrund der beanspruchten Geltung für alle Kriminalitätsformen gebe es auch kein Erfordernis, Jugendkriminalität spezifisch zu erklären. Geringere Kriminalität im Alter würde aus einem körperlichen Abbau und dem Rückgang an Gelegenheiten, nicht aber aus einer Veränderung der Selbstkontrolle erfolgen.86 Allerdings führe geringe Selbstkontrolle nicht notwendigerweise zu kriminellen Verhaltensformen, sondern könne sich auch in anderen unerwünschten Verhaltensweisen, wie Rauchen, Konsum von Alkohol oder Betäubungsmitteln oder Glücksspiel widerspiegeln. Personen mit geringer Selbstkontrolle zeichneten sich durch Impulsivität, Gefühllosigkeit, Risikobereitschaft, fehlende Voraussicht und geringe verbale Fähigkeiten aus.87 c) Lerntheorien Ausgangspunkt der Lerntheorien ist die Annahme, dass jede Form von Verhalten – soziales, normgerechtes, aber auch abweichendes Verhalten – durch Interaktion mit der Umwelt eines Menschen von diesem erlernt wird. Mit der Zeit wurden mehrere Lernprinzipien und damit auch unterschiedliche Erklärungsformen für delinquentes Verhalten erforscht, die in diesem Abschnitt im Zusammenhang mit ihrer Entstehung dargestellt werden. Insbesondere für die Untersuchung von abweichendem Verhalten ist es wichtig, 84  Gottfredson / Hirschi

1990, S. 85 ff. 1990, S. 97. 86  Gottfredson / Hirschi 1990, S. 117, 124 ff., 171; kritisch dazu u. a.  M. Walter /  Neubacher 2011, S. 51, 58. Dieser Standpunkt ist schwer mit der neueren empirischen Forschung zu vereinbaren, wonach die Kriminalität im Jugendalter stark zunimmt und mit dem Alter abnimmt. Ausführlicher dazu bei den entwicklungstheoretischen Ansätzen in Kap. B. II. 1. h). 87  Gottfredson / Hirschi 1990, S. 90. 85  Gottfredson / Hirschi



II. Kriminologische Grundlagen41

dass nach den Lerntheorien bestimmte Verhaltensweisen nicht nur erlernt werden, sondern auch wieder verlernt werden können.88 aa) Kriminalitätstheorie von Eysenck Die Kriminalitätstheorie von Eysencks beruht auf den Grundannahmen des klassischen Behaviorismus. Das klassische Konditionieren eines Menschen, das eine Reiz-Reaktions-Beziehung hervorhebt, wurde vom russischen Physiologen Pawlow durch Tierversuche entwickelt. Danach folgen bei Menschen und Tieren auf bestimmte Reize auch bestimmte Reaktionen. Trete nun mit einer bestimmten Reaktion auch immer wieder ein anderer Reiz auf, so rufe nach einer gewissen Zeit schon dieser andere Reiz die Reaktion hervor. Bezogen auf abweichendes Verhalten heiße das, dass bspw. Strafen Furchtgefühle auslösten, die an das bestrafte Verhalten gekoppelt würden. Erfolge auf unerwünschtes Verhalten immer wieder eine Bestrafung, trete diesbezüglich eine Konditionierung ein und das unerwünschte Verhalten werde auch ohne eine drohende erneute Bestrafung vermieden.89 Von einer erfolgreichen Konditionierung im Kindesalter und der damit einhergehenden Gewissensbildung hänge es ab, ob eine Person später kriminelle Verhaltensweisen aufweise.90 Ausgehend von diesem Modell des klassischen Konditionierens entwickelte Eysenck in seinem Werk „Kriminalität und Persönlichkeit“ einen Erklärungsansatz für das individuell unterschiedliche Lernverhalten. Er erklärt insbesondere, warum bei manchen Personen eine Konditionierung schneller und erfolgreicher stattfindet als bei anderen. Dafür unterteilt er die menschliche Persönlichkeit in die Persönlichkeitsdimensionen des Psychotizismus, der Extraversion und des Neurotizismus, deren unterschiedliche Ausprägungen bei einer Person mit abweichendem Verhalten korrelierten. Für den Lern­ erfolg in Form des Konditionierens sei die Einordung einer Person als ex­ travertiert oder introvertiert ausschlaggebend. Merkmale extravertierter Persönlichkeit seien Lebhaftigkeit, Sorglosigkeit, Empfindsamkeit, Aktivität, Impulsivität, Unruhe, Reizbarkeit und Aggressivität, während Introvertierte vorsichtig, rücksichtsvoll, kontrolliert, ausgeglichen, streng und ängstlich seien. Nach Eysencks Vorstellung lassen sich Extravertierte durch ihre Persönlichkeitsmerkmale schlechter konditionieren und werden deshalb auch häufiger straffällig als introvertierte Menschen.91

88  Barkey

1983, S. 52. 1977, S. 24, 161 ff. 90  Eysenck 1977, S. 141 ff. 91  Eysenck 1977, S. 60, 113, 161 ff. 89  Eysenck

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B. Grundlagen des Jugendstrafvollzugs

Im Anschluss an das Prinzip des klassischen Konditionierens erforschte Skinner eine andere Form der Verhaltensbeeinflussung. Das sogenannte operante Konditionieren entfernt sich von der Reiz-Reaktions-Beziehung und schenkt dem Verstärken von Verhaltensweisen mehr Aufmerksamkeit. Danach wird ein Verhalten von Mensch und Tier wiederholt durchgeführt und damit erlernt, wenn es zum Erfolg führt. Es wird zwischen positiven Verstärkern, wie Belohnung oder dem Entziehen einer Strafe, und negativen Verstärkern, wie Bestrafung selbst und dem Entziehen von Vorteilen, unterschieden.92 Außerdem hänge ein wirksames operantes Konditionieren von der Kontiguität zwischen dem erwünschten oder gerade nicht erwünschten Verhalten und dem Verstärker ab. Das heißt, der Verstärker müsse zeitnah, möglichst gleichzeitig mit dem jeweiligen Verhalten auftreten, damit ein Lern­ erfolg auftrete. Ansonsten finde eine Konditionierung der dazwischenliegenden Verhaltensweisen statt.93 Zwar knüpft Eysencks Theorie an das klassische Konditionieren an, sie kann allerdings auch auf das operante Konditionieren angewendet werden.94 Eysenck selbst schlägt zudem für den Umgang mit extravertierten Straffälligen das „token economy“-Prinzip vor, wonach Verhaltensweisen durch unmittelbare positive symbolische Bekräftigung geformt werden sollen. Bei Introvertierten hält er das Entwerfen und Ausüben von Problemlösungskonzepten, das sogenannte „modelling“, für erfolgsversprechender.95 bb) Theorie der differentiellen Assoziation Nach der von Sutherland entwickelten Theorie der differentiellen Assoziation (oder auch Kontakte) wird abweichendes Verhalten in sozialen Prozessen, also in der Interaktion mit anderen Personen wie Familienmitgliedern oder Freunden erlernt. Im Rahmen seiner Entwicklung komme ein Individuum sowohl mit kriminellem als auch mit nicht-kriminellem Verhalten in Berührung. Eine Person werde dann delinquent, wenn die negativen Einstellungen gegenüber Gesetzen im Vergleich zu den positiven überwögen. Nach Sutherland findet dieser Lernprozess vorwiegend in Gruppen statt. Habe eine Person überwiegend Kontakt mit einer Gruppe von Menschen, die die Normen der Gesellschaft nicht akzeptiere, so führe dies zu delinquentem Verhalten der Person. Überwögen demgegenüber die Kontakte zu einer Gruppe mit positiver Einstellung zu den gesellschaftlichen Regeln, sei delinquentes Verhalten der Person nicht zu erwarten. Die Wahrscheinlichkeit, ob delinquentes 92  Breland

1975, S. 62 f.; Skinner 1974, S. 46 ff. 1975, S. 64. 94  Eysenck 1977, S. 164 f. 95  Eysenck 1977, S. 218 ff. 93  Breland



II. Kriminologische Grundlagen43

Verhalten auftrete, hänge dabei von Häufigkeit, Dauer, Priorität und Intensität der Kontakte ab. Neben den Techniken zur Ausführung des Verbrechens werde auch die spezifische Richtung von Motiven, Trieben, Rechtfertigungen und Einstellungen verinnerlicht, je nachdem, ob Gesetze positiv oder negativ bewertet würden.96 Eine Erweiterung dieser Theorie erfolgte durch Glaser, der nicht nur das Überwiegen bestimmter Kontakte für richtungsweisend hält, sondern vor allem auf eine Identifikation der Person mit ihren Kontakten abstellt, damit entsprechende Verhaltensweisen übernommen werden.97 Die Theorie der differentiellen Kontakte von Sutherland erklärt selbst jedoch nicht, wie einzelne Lernvorgänge mit Bezug zu den Prinzipien der allgemeinen Lernpsychologie stattfinden.98 An dieser Kritik ansetzend erweitern Burgess und Akers die Theorie der differentiellen Kontakte um das Prinzip des operanten Konditionierens. Danach übernimmt das Individuum im Rahmen sozialer Prozesse hauptsächlich solche Verhaltensweisen, die positiv verstärkt werden.99 cc) Sozial-kognitive Lerntheorie Der Vorwurf an den Behaviorismus, der Komplexität menschlicher Verhaltensweisen nicht gerecht zu werden und deren Erlernung anhand von Konditionierung zu vereinfacht darzustellen, führte in den 1960er Jahren zur kognitiven Wende in der Psychologie. Zwar wurde der Einfluss der Konditionierung auf das Lernverhalten nicht verneint, es wurde jedoch den kognitiven Prozessen mehr Aufmerksamkeit entgegengebracht. Danach werden Verhaltensweisen durch Erfahrung, die Aneignung und Vermittlung von Kenntnissen, Fertigkeiten und Moralvorstellungen in Form eines interaktiven und inneren Prozesses erlernt.100 Bei dieser kognitiven Wende war die soziale Lerntheorie von Bandura von besonderer Bedeutung, die er im Zusammenhang mit aggressiven Verhaltensweisen entwickelte. Auch nach dieser Theorie erfolgt das Lernen durch soziale Kontakte, komplexe Verhaltensweisen werden jedoch durch Beobachtung und Nachahmung angeeignet. Bandura unterscheidet zwischen dem Aneignen neuer Verhaltensweisen und dem Verfestigen dieser Verhaltensweisen, das mit der Aufnahme des spezifischen Verhaltens in ein Verhaltensrepertoire 96  Sutherland

1947, S. 6 f.; Sutherland / Cressey 1969, S. 429 ff. 1969, S. 525. 98  Meier 2016, § 3 Rn. 68. 99  Akers 1977, S. 41 ff.; Burgess / Akers 1966, S. 129 f., 137. 100  Göppinger-Bock 2008, § 9 Rn. 46, 49. 97  Glaser

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B. Grundlagen des Jugendstrafvollzugs

verbunden sei.101 Dabei fänden vier miteinander verbundene Teilprozesse statt: Aufmerksamkeit, Gedächtnis, motorisches Wiederholen und Motivation. Welchen Verhaltensweisen der Lernende seine Aufmerksamkeit schenke und welche er beobachte, hänge von der Nähe zum Vorbild und dessen Ansehen, von persönlichen Erfahrungen und Interessen sowie von situativen Bedingungen ab. Bei dieser Phase des „modeling“ spielten insbesondere Eltern, Geschwister und Freunde, aber auch fiktive Charaktere aus den Medien eine Rolle. Das beobachtete Verhalten werde von der oder dem Lernenden in ihre oder seine Erinnerung aufgenommen und könne anschließend situationsangepasst reproduziert werden. Ob beobachtete Verhaltensweisen jedoch erlernt und nachgeahmt würden, hänge von der Motivation der oder des Lernenden und von den mit der Verhaltensweise verbundenen erwarteten Konsequenzen ab.102 Dabei spielten zunächst externe Verstärker wie Anerkennung, Rügen, Aufmerksamkeit, Zuneigung und Ablehnung, aber auch Belohnung und Bestrafung eine große Rolle. Führe ein beobachtetes Verhalten zum Erfolg, so sei die Wahrscheinlichkeit einer Nachahmung höher, als wenn negative Konsequenzen beobachtet würden (stellvertretende Verstärkung). Werde ein Verhalten dann nachgeahmt und bringe seinerseits Erfolg mit sich, so werde diese Verhaltensweise von dem Nachahmenden verinnerlicht, was zu einer wiederholten Ausübung solcher Verhaltensweisen führe (unmittelbare Verstärkung). Neben den externen Verstärkern finde bei der Motivation auch eine Selbstbekräftigung statt. Aus Erfahrung setzten Menschen Maßstäbe für ihr eigenes Verhalten und seien entweder mit sich zufrieden oder kritisierten sich selbst. Bandura schreibt auch dieser Selbstverstärkung einen hohen Lern­effekt zu.103 Durch die Prinzipien des sozialen Lernens könnten Verhaltensweisen nicht nur erlernt, sondern auch verändert und kontrolliert werden. Dabei sei insbesondere das „modelling“ von Bedeutung, bei dem Personen mit abweichenden Verhaltensweisen sich unter Anleitung soziale Fertigkeiten aneignen und lernen könnten, mit bestimmten Situationen fertig zu werden.104 dd) Theorie der Moralentwicklung In seiner Theorie der Moralentwicklung stellt Kohlberg die Entwicklung der moralischen Urteilsfähigkeit eines Menschen in den Mittelpunkt. Dabei versucht er zu erklären, wie Sozialisationsfaktoren, Art und Bedingung von Belohnung und Bestrafung, die Identifikation mit den Eltern und die Wider101  Bandura

1973, 1977, 103  Bandura 1973, 104  Bandura 1973, 102  Bandura

S. 43, 68 ff., 183. S. 22 ff.; Bandura 1986, S. 51 ff. S. 43 ff., 183 ff.; Bandura 1977, S. 96 ff. S. 245, 252 f.



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standsfähigkeit gegen Versuchungen mit der moralischen Entwicklung einer Person und der daraus entstehenden moralischen Urteilsfähigkeit zusammenhängen.105 Seine Theorie schließt damit an Piagets Theorie zur Moralentwicklung an, nach der der Mensch sich von einer egozentrischen, subjektiven kindlichen Moral hinzu einer autonomen, reziproken, kooperativen Moral der Erwachsenen entwickelt.106 Nach Kohlberg erfolgt diese Entwicklung in sechs Stufen, die wiederum drei verschiedenen Hauptniveaus (Ebenen) zugeordnet werden.107 Ein Mensch könne diese Stufen in seiner moralischen Entwicklung nacheinander erreichen, werde die nächste Stufe jedoch von einer Person erreicht, so sei es nicht mehr möglich, auf eine niedrigere Stufe der Moralentwicklung zurückzufallen. Kohlberg entwickelte seine Theorie anhand der Befragung von Kindern zu einer Reihe von moralischen Konfliktsituationen108 und ordnete die bei der Untersuchung erhobenen Antworten einer der sechs Stufen zu. Zuerst durchlaufe ein Mensch die prämoralische Ebene, in der er zunächst sein ausschließlich egoistisches Verhalten an Strafen und Gehorsam orientiert (Stufe 1) und es anschließend instrumentell auf Bedürfnisbefriedigung ausrichtet (2. Stufe). Auf dem zweiten Hauptniveau (konventionelle Ebene) richte sich das moralische Urteil nach dem sozialen Umfeld aus: Während bei der „good-boy morality“ (Stufe 3) Handlungsbewertungen durch Per­ spektivwechsel an die Erwartungen anderer angepasst würden, sei in der vierten Stufe die moralische Ordnung des Sozialsystems mit ihren Autoritäten maßgeblich. Für die Perspektivübernahmen in der zweiten Ebene sieht Kohlberg die Entwicklung in der Familie und die Erfahrung, die eine Person in einer Gruppe von Gleichaltrigen mache, als wichtige Faktoren an, wobei auch die Schule als sozialer Erfahrungsraum eine große Rolle spiele.109 Die letzte, postkonventionelle Ebene sei schließlich von selbst akzeptierten moralischen Prinzipien geprägt. Auf der fünften Stufe würden die mehrheitlich akzeptierten Normen der Gesellschaft als verbindlich angesehen, auch um die Achtung anderer zu bewahren; in der sechsten und letzten Stufe seien dann nur noch die eigenen Gewissensprinzipien ausschlaggebend. Damit habe der Mensch in der letzten Stufe eine Autonomie erreicht, die von moralischer Vernunft und kritischem Reflektieren der Regeln geprägt sei. Insge105  Kohlberg

1995a, S. 8 f. 1973. 107  Siehe zur moralischen Stufenentwicklung Kohlberg 1995a, S. 26 ff.; Kohlberg 1995b, S.  126 ff. 108  Bekannteste Konfliktsituation ist das sog. Heinz-Dilemma, bei dem Heinz teure Medikamente stehlen sollte, um der eigenen Frau das Leben zu retten. Siehe dazu die Fragen im Anhang von Kohlbergs Sammelband 1995, Die Psychologie der Moralentwicklung. 109  Kohlberg 1995a, S. 31 ff. 106  Piaget

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B. Grundlagen des Jugendstrafvollzugs

samt hat Kohlbergs Stufenmodell seine Wurzeln in der Moralphilosophie von Kant, bei dem der Mensch stets als Subjekt angesehen und als vernünftiges Wesen angesprochen wird. So erinnert Kohlbergs sechste Stufe an Kants kategorischen Imperativ: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“110 Die Umsetzung der moralischen Urteilsfähigkeit in moralisches Handeln hänge zwar stark von den situativen Bedingungen ab, dennoch dürfte ein Zusammenhang zwischen der Reife des Handelns und der Reife der moralischen Werte der Person bestehen.111 Nach Kohlberg weisen Straftäterinnen und Straftäter Entwicklungsdefizite auf und befinden sich in ihrer moralischen Urteilsfähigkeit vorwiegend auf der prämoralischen Ebene. Daraus folge, dass eine geringere moralische Entwicklung zwar nicht die Ursache für abweichendes Verhalten sein müsse, eine höhere Entwicklung aber gegen kriminelles Verhalten immunisiere.112 d) Theorie des rationalen Wahlverhaltens Die ökonomischen Theorien erklären abweichendes Verhalten als Ergebnis einer rationalen Entscheidung (rational choice), die ein Mensch danach trifft, welchen Nutzen er von seinem Verhalten erwartet. Vor jeder Ausführung einer delinquenten Handlung werden demnach Vor- und Nachteile jeder Handlungsalternative gegenübergestellt und sich für diejenige entschieden, die bei möglichst großem Nutzen die geringsten Kosten verspricht.113 Bereits Bentham ging von einer Kosten-Nutzen-Rechnung als Basis des menschlichen Verhaltens aus, die sich an der Steigerung von „pleasure“ und Vermeidung von „pain“ orientiert.114 Nach den neueren Theorien setzt eine rationale Wahl jedoch ein stabiles Präferenzsystem voraus, das sich auf grundlegende Aspekte des Lebens, wie Gesundheit oder Ansehen bezieht. Zudem darf die Bedeutung der Informationsbeschaffung bei wichtigen Entscheidungen nicht unterschätzt werden. Erst mittels vorhandener Informationen kann eine vernünftige und dem Kosten-Nutzen-Prinzip entsprechende Entscheidung getroffen werden.115

110  Kant

1785, S. 52. Dazu auch Keller 2005, S. 149 f. 1995a, S. 12, 15. 112  Jennings / Kilkenny / Kohlberg 1983, S. 311; Kohlberg 1978, S. 213, 216; anders Weyers 2005, S. 13, nach dessen Untersuchung sich Delinquente durchaus auf der konventionellen Ebene befänden. 113  Becker 1974, S. 9; Ehrlich 1974, S. 71. 114  Bentham 1970, S. 11. 115  Becker 1976, S. 5 f. 111  Kohlberg



II. Kriminologische Grundlagen47

Zur Verhinderung abweichenden Verhaltens sollen nach der Theorie des rationalen Wahlverhaltens insbesondere abschreckende Maßnahmen herangezogen werden, die das Verhalten für den Abwägenden aufgrund der damit erhöhten Kosten weniger attraktiv machen. Zu diesen Maßnahmen gehören insbesondere die Erhöhung der Strafschwere und die Steigerung der Verfolgungsintensität.116 e) Subkulturtheorien und Neutralisation Der Ursprung der Subkulturtheorien liegt in den soziologischen Studien der Chicagoer Schule. Dort wurden Kriminalitätserscheinungen, insbesondere Bandenkriminalität, in Großstädten untersucht und deren Ursache im Verfall einiger Stadteile und dem damit einhergehenden Verlust an sozialer Kontrolle gesehen.117 Subkulturtheorien setzen im Gegensatz zu den bereits erläuterten Theorien mit ihren Erklärungen nicht beim Individuum an, sondern stellen gesellschaftliche Zusammenhänge in ihren Mittelpunkt. Eine der bekanntesten Subkulturtheorien stammt von Cohen, der nicht von einem Verlust sozialer Kontrolle ausgeht, sondern davon, dass Untergruppen in der Gesellschaft wie bspw. jugendliche Banden eigene Norm- und Wertvorstellungen entwickelten, die vom allgemein gesellschaftlich anerkannten Wertesystem abwichen. Unterschiedliche Norm- und Wertvorstellungen bilden sich nach Cohen aufgrund der Anpassungsprobleme, mit denen Jugendliche aus der Unterschicht konfrontiert werden, wenn sie versuchen, einer am Anspruchsniveau der Mittelschicht orientierten Gesellschaft zu entsprechen.118 Aus dieser Statusfrustration heraus bilde sich in der Subkultur ein eigenes Statussystem, dem die Jugendlichen gerecht werden könnten. Dazu gehören nach Cohen jedoch gerade auch Wertvorstellungen, die der allgemeinen Gesellschaftskultur widersprechen, um sich so von dieser abzugrenzen. Handle eine Person nun nach dem Wertesystem der Subkultur, so führe dies zu abweichendem Verhalten. Dieses werde durch Anerkennung und Unterstützung der Gruppe motiviert und verstärkt.119 Sykes und Matza widersprechen der These von Cohen, dass sich in einer Subkultur Werte entwickelten, die nicht mehr mit den Werten der Gesamtgesellschaft vereinbar seien. Dies erklären sie anhand von beobachteten Schuldund Schamgefühlen, die nach delinquentem Verhalten auch bei Jugendlichen aufträten. Stattdessen gehen Sykes / Matza von einer Rechtfertigung und damit 116  Becker

1974, S. 12 f., 33 f., 41; Becker / Nashat Becker 1998, S. 166 ff. dazu das Werk von Thrasher 1963 (urspr. 1927) oder zur „brokenwindow“-Theorie Wilson / Kelling 1996. 118  Cohen 1955, S. 32 ff., 59. 119  Cohen 1955, S. 65 f., 121, 168 f. 117  Siehe

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B. Grundlagen des Jugendstrafvollzugs

einhergehenden Neutralisierung des Verhaltens durch die Jugendlichen aus. Dies geschähe durch Ablehnung der Verantwortung, Verneinung des Unrechts, Ablehnung des Opfers, Verdammung der Verdammenden oder die Berufung auf höhere Instanzen.120 Allerdings können diese „Techniken der Neutralisierung“ nach Cohen gerade in jugendlichen Gruppen erlernt werden.121 f) Etikettierungsansätze Die Etikettierungstheorien entstammen dem Interaktionismus, der davon ausgeht, dass ein bestimmtes Verhalten nicht von vornherein kriminell ist, sondern dass gesellschaftliche Reaktionen, die darauf folgen, es zu kriminellem Verhalten machen. Dieser Ansatzpunkt tauchte in der Kriminologie erstmals 1938 auf: „The young delinquent becomes bad because he is definded as bad […].“122 Eine Konkretisierung erfolgte durch Lemert, der zwischen primärer und sekundärer Devianz unterschied. Primäre Devianz sei die ausschlaggebende Handlung, die durch eine Reaktion der Umwelt als delinquentes Verhalten definiert werde. Dadurch werde dem Täter oder der Täterin die Rolle eines „Kriminellen“ zugewiesen. Durch diese Rollenzuweisung erfolge nicht nur eine gesellschaftliche Einordnung des Täters oder der Täterin, sondern es verändere sich auch dessen Selbstbild. Sekundäre Devianz seien dann die nachfolgenden abweichenden Handlungen, die der Täter oder die Täterin begehe, weil er oder sie sich seiner oder ihrer Rollenzuweisung entsprechend verhalte.123 Dies führe zu einer Verfestigung der kriminellen Verhaltensweisen bis hin zu einer kriminellen Laufbahn.124 Dieser weitgehend in den USA entstandene „labeling approach“ wurde in unterschiedlicher Ausformung auch von deutschen Kriminologen übernommen und weitergeführt.125 Speziell für Jugendliche beschreibt Quensel in seinem „Teufelskreis-Modell“ den Verlauf jugendkrimineller Entwicklung als einen „sich wechselseitig hochschaukelnden Interaktionsprozess zwischen der oder dem Jugendlichen und ihrer oder seiner sozialen Umwelt“.126

120  Sykes / Matza

1979, S. 364, 366 ff. 1979, S. 374. 122  Lamnek 2007, S. 223, 225; Tannenbaum 1951 (urspr. 1938), S. 17 f. 123  Lemert 1969, S. 604 f.; Lemert 1975, S. 433 ff. 124  Becker 1963, S. 25 ff. 125  Siehe dazu Keckeisen 1974; Sack 1972. 126  Quensel 1970, S. 377 ff., 380. 121  Cohen / Short



II. Kriminologische Grundlagen49

g) Mehrfaktorenansätze Mehrfaktorenansätze gehen nicht von einer monokausalen Verbrechens­ erklärung aus, sondern versuchen, in empirischen Vergleichs- und Langzeituntersuchungen vielseitige Bedingungen bspw. in der Person des Täters bzw. der Täterin oder seinem bzw. ihrem Umfeld zu erfassen, die mit delinquentem Verhalten korrelieren. Es handelt sich dabei um keinen klassischen Theo­rieansatz, sondern vielmehr um die Feststellung von Risikofaktoren zur Ermöglichung von Prognoseentscheidungen.127 Bekanntestes Beispiel für einen Mehrfaktorenansatz sind die Untersuchungen des Ehepaares Glueck.128 In ihrer 1950 veröffentlichten Studie „Unraveling Juvenile Delinquency“ verglichen sie 500 delinquente Jugendliche im Alter von 11 bis 17 Jahren mit einer Kontrollgruppe, die sich in wesentlichen Punkten wie ethnische Zugehörigkeit, Intelligenz und soziales Umfeld nicht von der Experimentalgruppe unterschied, jedoch zum Erhebungszeitpunkt kein delinquentes Verhalten aufwies. Ein interdisziplinär besetztes Team untersuchte die Jugendlichen umfassend in Bereichen wie Körperbau, kindliche Entwicklung, Persönlichkeit und in der Interaktion mit Familie und Umwelt. Dabei stellten sie kaum relevante Unterschiede in gesundheitlicher und physischer Verfassung der Probanden fest129, jedoch Unterschiede in der Qualität des Familienlebens und der Einbindung des Probanden in die Familie. Die Unterschiede zeigten sich insbesondere in der Alltagsstruktur, gegenseitigem Respekt, einer stabilen Beziehung der Eltern und in der Beziehung der Probanden zu ihren Eltern und Geschwistern.130 Trotz weitgehend ähnlicher Intelligenz wurden auch Unterschiede in Schulerfolg und Freizeitgestaltung beobachtet.131 Diese Ergebnisse arbeiteten die Gluecks anschließend in Prognosetafeln um, um potentielle Straffälligkeit von Probanden systematisch vorherzusagen zu können. Die gesamten Daten des Ehepaares Glueck wurden später von Sampson / Laub neu ausgewertet.132 Weitere Mehrfaktorenansätze mit unterschiedlicher Gewichtung der Bereiche, in denen Vergleiche durchgeführt wurden, finden sich in der „Cambridge Study in Delinquent Development“ von

127  Glueck / Glueck

1950, S. 7; Moser 1972, S. 108. 1950; Glueck / Glueck 1952; Glueck / Glueck 1956; Glueck /  Glueck 1959; Glueck / Glueck 1962. 129  Glueck / Glueck 1950, S. 181. 130  Glueck / Glueck 1950, S. 115, 133; Glueck / Glueck 1952, S. 47 ff. 131  Glueck / Glueck 1950, S. 153, 167; Glueck / Glueck 1952, S. 69 ff. 132  Sampson / Laub 1993. Dazu sogleich ausführlicher bei den entwicklungstheoretischen Ansätzen unter B. II. 1. h). 128  Glueck / Glueck

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B. Grundlagen des Jugendstrafvollzugs

West / Farrington133 und im deutschen Sprachraum in der „Tübinger Jung­ täter-Vergleichsuntersuchung“134. Ein weiterer Ansatz, der auch von vielseitigen Bedingungen für abweichendes Verhalten ausgeht, fragt neben den Risikofaktoren auch nach sog. protektiven Faktoren. Dabei handelt es sich um schützende Merkmale, die die Wahrscheinlichkeit abweichenden Verhaltens verringern bzw. Risikofaktoren ausgleichen sollen.135 Lösel und Kollegen identifizierten folgende protektive Merkmale aus ihren eigenen, aber auch aus anderen Untersuchungen: „ein einfaches Temperament; überdurchschnittliche Intelligenz und ein gutes Planungsverhalten; eine sichere Bindung an eine Bezugsperson (in Multiproblem-Familien eventuell Verwandte, Lehrer, Erzieher); emotionale Zuwendung und zugleich Kontrolle in der Erziehung; Erwachsene, die auch unter widrigen Umständen positive Vorbilder sind; soziale Unterstützung durch nicht-delinquente Personen; ein mehr aktives und weniger vermeidendes Bewältigungsverhalten; Erfolg in der Schule und eine Bindung an schulische Werte und Normen; Zugehörigkeit zu nicht-delinquenten Gruppen oder eine gewisse soziale Isolation; Erfahrungen der Selbstwirksamkeit in nicht-delinquenten Aktivitäten (z. B. Hobby); ein positives, aber nicht unrealistisch überhöhtes Selbstwerterleben; das Gefühl von Sinn und Struktur im eigenen Leben (z. B. sense of coherence).“136 Auch wenn sich diese Schutzfaktoren vielfach mit den Risikofaktoren überschnitten, seien sie nicht deren „Kehrseite“, sondern könnten dazu beitragen, abweichendes Verhalten differenzierter zu verstehen.137 In einer daran anschließenden Untersuchung suchten Lösel und Bliesener nach protektiven Merkmalen bei Jugendlichen, die zwar hohe Risikowerte besaßen, aber dennoch nicht durch abweichendes Verhalten auffielen. Die Jugendlichen zeigten eine geringere Impulsivität, weniger Aufmerksamkeitsprobleme, eine weniger aggressionsorientierte Informationsverarbeitung sowie einen wesentlich selteneren Drogenkonsum als die Vergleichsgruppe mit ähnlichem Risiko.138 Wie auch bei Risikofaktoren erhöhe sich auch bei den protektiven Faktoren der Einfluss, wenn mehrere gemeinsam vorlägen.139

133  West

1969; West / Farrington 1973; West / Farrington 1977. 1983. 135  Lösel / Bender 2000, S. 119. 136  Lösel / Bliesener 2003, S. 19. Eine ausführliche Darstellung findet sich in Lösel / Bender 2000, S. 124 ff. 137  Lösel / Bender 2000, S. 141. 138  Lösel / Bliesener 2003, S. 98 f. 139  Lösel / Bliesener 2003, S. 19. 134  Göppinger



II. Kriminologische Grundlagen51

h) Entwicklungstheoretische Ansätze Ausgangspunkt für die entwicklungstheoretischen Ansätze ist die Kritik an Gottfredsons und Hirschis „allgemeiner Kriminalitätstheorie“, nach der sich eine in der Kindheit entwickelte mangelnde Selbstkontrolle und die damit verbundene Neigung zu abweichendem Verhalten während des gesamten Lebens nicht verändert.140 Diese Stabilitätsthese widerspricht der Forschung, die einen Anstieg delinquenten Verhaltens in der Jugend und einen Rückgang mit dem Alter verzeichnet (age-crime-curve).141 Neben diesem Zusammenhang zwischen Alter und Kriminalität versuchen die entwicklungstheoretischen Ansätze auch Gründe für den Abbruch und die Kontinuität abweichenden Verhaltens zu finden. Sampson und Laub gehen in ihrer age-graded informal social control t­heory davon aus, dass soziale Bindungen durch die von ihnen ausgehende informelle soziale Kontrolle delinquentes Verhalten fördern oder verhindern könnten.142 Je nach Entwicklungsstand und Alter einer Person würden andere soziale Bindungen bedeutsam. Während in der Kindheit familiäre Bindungen einen hohen Stellenwert einnähmen, sei dies im Jugendalter bei Gleichaltrigengruppen (peer-groups) der Fall. Gerade die Schwächung der familiären Bindungen und der Kontakt zu delinquenten Gleichaltrigen führten zu einer hohen Kriminalität im Jugendalter.143 Frühe soziale Auffälligkeit führe nur indirekt durch ihre Auswirkungen auf aktuelle Bindungen zu weiteren Auffälligkeiten im Lebensverlauf. Dagegen könnten neue Bindungen im Erwachsenenalter (sog. turning points), bspw. durch Gründung einer eigenen Familie oder die berufliche Einbindung, zum Abstandnehmen von kriminellen Verhaltensweisen (desistance) führen. Sampson und Laub belegten ihre Theorie durch eine erneute Auswertung des Glueck-Datensatzes. Auch dort zeige sich ein Zusammenhang zwischen neuen Bindungen wie Heirat oder Stabilität im Beruf und der späteren Abwendung von Kriminalität.144 Zudem bestätigt die Reanalyse eines Teilsamples der Tübinger Jungtäter-Vergleichsuntersuchung einen Zusammenhang von Kriminalität und sich verändernden sozialen Bindungen.145

140  Gottfredson / Hirschi

1990, S. 117, 124 ff., 171. dazu für Deutschland die PKS 2014, S. 116 ff. 142  Sampson / Laub 1993, S. 7, 17. Ein ähnlicher Ansatzpunkt findet sich auch in Thornberrys Wechselwirkungstheorie, die auch die Bedeutung von sich im Lebenslauf verändernden sozialen Bindungen betont, Thornberry 1987. 143  Sampson / Laub 1993, S. 64 ff., 99 ff. 144  Laub / Sampson 1993, S. 304; Sampson / Laub 1993, S. 143 ff., 178; dazu ausführlicher auch Laub / Sampson 2003. 145  Stelly u. a. 1998, S. 119 f.; Stelly / Thomas 2001, S. 300 ff. 141  Vgl.

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B. Grundlagen des Jugendstrafvollzugs

Als Ergänzung zu diesen Erkenntnissen, aus welchen Gründen Menschen von strafbarem Verhalten Abstand nehmen, untersuchte Maruna die subjektiven Aspekte, also „wie“ Straftäter aufhören, weitere Taten zu begehen. Dafür analysierte er im Rahmen der Liverpool Desistance Study Interviews von 20 Tätern, die aktuell noch Straftaten begehen, und 30 von solchen, die von der Begehung von Straftaten Abstand genommen haben.146 Dabei fand Maruna bei Personen, die weiterhin Straftaten begingen, ein Muster in der Erzählung über das eigene Leben (condemnation script). In der Erzählung zeige sich deutliche Resignation sowie das Gefühl, keine ausreichende Kontrolle über das eigene Leben zu haben. Zwar wurde die eigene Lebenssituation durchaus realistisch eingeschätzt, aktuelle Straftäter machten aber unrealistische Pläne für die Zukunft.147 Dagegen fand Maruna in den Erzählungen von Personen, die aufgehört hatten, Straftaten zu begehen (redemption script), dass diese einen guten Kern in sich ausmachen konnten und sich selbst vergeben hatten. Maruna identifizierte die Beteuerung eines guten Selbst, die eigene Wahrnehmung von Kontrolle und Hoffnung für die Zukunft sowie den Wunsch und die Bemühungen etwas zurückzugeben in den redemption scripts.148 Nach Maruna brauchten frühere Straftäter „a logical self-story to help them deal with their own feelings of culpability, external stigma, and the potential emptiness and void of their lives“. Diese eigene Lebensgeschichte hätte dann auch Einfluss auf zukünftiges Verhalten.149 i) Situational Action Theory (SAT) Die Situational Action Theory wurde von Wikström und Kollegen an der University of Cambridge entwickelt und wird seit 2002 durch die Peterborough Adolescent and Young Adult Development Study (PADS+) empirisch begleitet. Nach dieser Theorie ist kriminelles Verhalten von der Person und ihren persönlichen Eigenschaften und Erfahrungen abhängig und ebenso auf Umgebung und Umfeld, denen die Person ausgesetzt ist, zurückzuführen. Das Besondere der SAT ist, dass sie Person und Umfeld als Ursachen von Kriminalität nicht nur kombiniert, sondern in Beziehung und Abhängigkeit zueinander setzt.150 146  Maruna

2001, S. 8, 37 ff. 2001, S. 73 ff. 148  Maruna 2001, S. 88. 149  Maruna 2001, S. 55. 150  Eine Beschreibung der SAT findet sich auch auf der Homepage der Peter­ borough Adolescent and Young Adult Development Study (PADS+) unter http://www. pads.ac.uk/pages/research/pads_theory.html (abgerufen am 21.9.2015). Einen weiteren Überblick mit Verweis auf entsprechende empirische Erkenntnisse geben Vetter / Bachmann / Neubacher 2013, S. 79 ff. 147  Maruna



II. Kriminologische Grundlagen53

Nach Wikström und Kollegen sind Straftaten moralische Handlungen, durch die gesetzlich verankerte moralische Verhaltensregeln gebrochen werden. Menschen begingen Straftaten, weil sie erstens das strafbare Verhalten als Handlungsmöglichkeit erkennen und sich zweitens entweder aus Gewohnheit oder in dem Moment bewusst zu dieser Handlungsmöglichkeit entschieden (perception-choice process). Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Person das strafbare Verhalten als Handlungsmöglichkeit erkenne und sich auch für dieses entscheide, hänge von den persönlichen kriminellen Neigungen (propensity), von der kriminogenen Umgebung der Person (exposure) sowie der Interaktion dieser beiden Faktoren ab. Die kriminellen Neigungen einer Person ergäben sich aus einer schwachen Moralität, die aus moralischen Empfindungen und der Verbundenheit mit moralischen Werten bestünde, sowie geringer Selbstkontrolle. Die Beeinflussung durch die Umwelt hänge davon ab, inwieweit die moralischen Regeln der Umgebung strafbares Verhalten ermutigten, inwieweit sie durchgesetzt würden und inwieweit die Person Teil dieser Umgebung mit ihren Regeln sei. Liege bspw. ein eine strafbare Handlung ermutigendes Setting vor, besäße die Person aber eine hohe Verbundenheit mit moralischen Regeln, hinge das strafbare Verhalten von der Selbstkontrolle der Person ab. Würde andersherum die Umgebung nicht zu strafbaren Verhaltensweisen motivieren, besäße die Person jedoch eine geringe Verbundenheit mit moralischen Werten, könne das strafbare Verhalten nur durch Abschreckung als Teil des Faktors Umfeld kontrolliert werden.151 Kriminelle Neigungen und der Einfluss der kriminogenen Umgebung seien direkte Ursachen strafbaren Verhaltens; Faktoren, die die Entwicklung der kriminellen Neigungen, die Entstehung eines kriminogenen Umfelds und die Einwirkung des Umfelds auf die Person begünstigen, bezeichnet die SAT als Ursachen der Ursachen.152 j) Fazit Die einzelnen Kriminalitätstheorien versuchen abweichendes Verhalten auf unterschiedliche Weise zu erklären. So werden u. a. mangelnde Selbstkon­ trolle, das Erlernen von Verhaltensweisen, die gesellschaftliche Reaktion oder eine rational abwägende Entscheidung als Ursachen für abweichendes Verhalten benannt. Dass eine Kriminalitätstheorie alleine jedoch die verschiedenen Arten und Ausprägungen abweichenden Verhaltens, die auch im Einzelfall deutlich variieren und von jeweils unterschiedlichen Tätercharakteren begangen werden, zu erklären vermag, ist zweifelhaft. Vielmehr er151  Wikström 152  Wikström

u. a. 2012, S. 11 ff. u. a. 2012, S. 29 ff.

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B. Grundlagen des Jugendstrafvollzugs

scheint es sinnvoll, die Ursachen von strafbaren Verhalten stärker individualisiert zu betrachten und die verschiedenen Ansätze zur Erklärung von Kriminalität gemeinsam heranzuziehen, sie also zu verbinden oder nebeneinander anzuwenden. 2. Straftäterbehandlung Aus den dargestellten Kriminalitätstheorien ergibt sich eine Vielzahl von Möglichkeiten zur Behandlung von Straftätern und Straftäterinnen. Straftäterbehandlung in diesem Sinne ist weit zu verstehen und meint nicht allein die medizinische oder therapeutische Einwirkung auf den Täter oder die Täterin, sondern erfasst alle Formen des Umgangs mit delinquenten Personen, die ein künftig straffreies Leben ermöglichen sollen.153 Bei der Frage nach dem Umgang mit Straffälligen sind auch die allgemeinen Strafzwecke von Bedeutung. Da die Straftäterbehandlung jedoch auf zukünftiges Verhalten abzielt, sind absolute Strafzwecke in Form von Vergeltung der Tat und Sühne der Täterin oder des Täters dafür unergiebig. Deshalb können Konzepte für den Umgang mit Straftätern und Straftäterinnen allein aus general- und spezialpräventiven Theorien abgeleitet werden.154 Im Einzelfall geht es bei der Straftäterbehandlung darum, Maßnahmen anzuwenden, um erneut straffälliges Verhalten der Person zu verhindern. Dabei spielen die Ursachen, die in erster Linie überhaupt zur Delinquenz der entsprechenden Person geführt haben, eine bedeutende Rolle. Die Erforschung dieser Ursachen ist die Grundlage für die Entwicklung von Maßnahmen zum Umgang mit delinquenten Personen und ihrer inhaltlichen Ausgestaltung.155 Aufgrund der Fülle von einzelnen Behandlungsmaßnahmen, die meist von einer bestimmten Kriminalitätstheorie ausgehen, erscheint es sinnvoll, diese auch mit Blick auf die präventiven Strafzwecke in zwei Behandlungsmodelle einzuteilen: Abschreckung / Sicherung und Besserung.156 Von den Theorien abweichenden Verhaltens führt vor allem die Theorie des rationalen Wahlverhaltens, aber auch die Theorie der fehlenden Selbstkontrolle zur Abschreckung als Konzept für den Umgang mit kriminellen Verhaltensweisen. Hiernach schlagen sich höhere Strafen und eine effektivere Strafverfolgung in der Kosten-Nutzen-Abwägung der Täterin oder des Täters dergestalt nieder, dass kriminelles Verhalten ihr bzw. ihm nicht mehr 153  Drenkhahn 2007, S. 21; Egg 1997, S. 169; Endres / Schwanengel 2015, S. 295; Hosser / Bosold 2008a, S. 128 f.; Lösel / Schmucker 2008, S. 160. 154  Drenkhahn 2007, S. 21. 155  Steller 1994, S. 9. 156  Drenkhahn 2007, S. 21.



II. Kriminologische Grundlagen55

sinnvoll erscheint.157 Eine auf Abschreckung ausgerichtete Kriminalpolitik breitete sich in den 1970er Jahren vor allem in den USA aus, fand jedoch auch in Deutschland schnell Anhänger.158 Auch zielen bspw. die in den USA für delinquente Jugendliche entwickelten Scared-Straight-Programme auf Abschreckung ab. Dabei treffen die Jugendlichen inhaftierte Erwachsene, die über ihre Erlebnisse und den Alltag einer Strafanstalt berichten, und ihnen so die Konsequenzen aufzeigen, die die Jugendlichen erwarten, wenn sie ihr Verhalten nicht ändern.159 Ähnliche Programme gibt es unter dem Stichwort „Gefangene helfen Jugendlichen“ in etwas unterschiedlicher Ausgestaltung auch in Deutschland.160 Bei solchen auf Abschreckung ausgerichteten Maßnahmen, die auf der Theorie des rationalen Wahlverhaltens beruhen, wird jedoch verkannt, dass gerade Jugendliche ihr Verhalten kaum abwägen, sondern ihr Handeln vielmehr von Planlosigkeit, Impulsivität und Leben im Augenblick geprägt ist.161 Die Theorie des rationalen Wahlverhaltens vermag es damit nicht, Jugendkriminalität zu erklären und Abschreckung kann kaum wirksames Mittel zur Verhinderung erneuter krimineller Verhaltensweisen sein.162 Außerdem ist es schwierig, aus dem Ziel der Abschreckung konkrete Maßnahmen für den Umgang mit Inhaftierten abzuleiten163, sodass dieses Modell gerade für die Behandlung im Strafvollzug nicht brauchbar ist. Aus den anderen dargestellten persönlichkeitsorientierten Kriminalitätstheorien ergeben sich Behandlungsmaßnahmen, die auf die Besserung der Täterin oder des Täters abzielen. Im Einklang mit der positiven Spezialprävention geht es dabei um die Resozialisierung der Täterin oder des Täters, also das Erreichen von straffreiem Verhalten und einer damit symbolisch einhergehenden Wiedereingliederung in die Gesellschaft.164 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lag der Schwerpunkt der Resozialisierung, insbesondere in Deutschland, auf der psychiatrischen Behandlung. Abweichendes Verhalten wurde dabei im Sinne der positivistischen Kriminologie nicht als freie, verantwortliche Entscheidung der Person angesehen, sondern als Folge biologischer, medizinischer oder psychischer Merkmale der Person mit Krankheitswert, 157  Becker

1974, S. 12 f., 33 f., 41. gleich ausführlicher in Kap. B. II. 3. 159  Zur Wirksamkeit dieser Programme siehe zusammenfassend Kap. B. II. 3. b) jj). 160  Siehe dazu u. a. http://www.gefangene-helfen-jugendlichen.de (abgerufen am 17.9.2015). 161  Siehe dazu die Untersuchung von De Haan / Vos 2004, S. 316 ff.; Schumann u. a. 1987, S. 9, 34 ff. 162  De Haan / Vos 2004, S. 332; J. Walter 1998, S. 196 f. 163  Drenkhahn 2007, S. 26. 164  Robinson / Crow 2012, S. 2; Rotman 1990, S. 3 f. 158  Dazu

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B. Grundlagen des Jugendstrafvollzugs

die es zu behandeln gelte.165 Als Gegenpol zu dieser Behandlungsart fand in den 1920er Jahren die von Freud begründete Psychoanalyse Eingang in die Straftäterbehandlung.166 Bei der analytischen Behandlung handelt es sich vor allem um umfangreiche Gesprächstherapie. Es geht darum, gemeinsam mit dem Täter bzw. der Täterin seine bzw. ihre Identität zu finden und ihm oder ihr so Unabhängigkeit zu vermitteln.167 Schließlich entwickelten sich parallel dazu auch alternative Behandlungsansätze, vor allen Dingen die Verhaltenstherapie, deren theoretischer Hintergrund in den Lerntheorien liegt und die mehr auf eine verhaltensverändernde Wirkung in kürzerer Zeit abzielt.168 Inhaltlich ist dieser Behandlungsstrang bspw. auf Verstärkungslernen, Lernen am Modell oder auf kognitiv-behaviorale Ansätze, die auf der sozial-kogni­ tiven Lerntheorie beruhen, ausgerichtet. Idealerweise sollte bei der Behandlung von Straftätern und Straftäterinnen aber nicht eine einzige Methode angewendet werden, sondern es sollte sich um individuell zugeschnittene Hilfestellungen handeln, bspw. im Bereich von Arbeit und Ausbildung, Freizeit, Persönlichkeit, Familie und Kontakten mit der Außenwelt. Zudem gehören auch spezifische Trainings- und Therapiemaßnahmen dazu.169 Unbedingte Voraussetzungen für eine wirksame Resozialisierung sind zudem die Besserungsbedürftigkeit, die Besserungsfähigkeit sowie die Motivation der oder des Inhaftierten, bei der Behandlung mitzuwirken,170 wobei die Besserungsfähigkeit in hohem Maße vom Behandlungsangebot abhängt und die Motivation oft gerade erstes Ziel der Behandlung ist. Zwar geben gesellschaftsorientierte Theorien keine konkreten Ansatzpunkte für eine auf Besserung der Täterin oder des Täters abzielende Behandlung, da sie die Ursache für abweichendes Verhalten nicht bei der Täterin oder beim Täter, sondern in der gesellschaftlichen Ordnung sehen, dennoch ist es sinnvoll, auch Aspekte dieser Theorien bei der Straftäterbehandlung zu beachten. Gerade dem Strafvollzug kommt eine stigmatisierende /  etikettierende Wirkung zu171, der es bei der Behandlung entgegenzuwirken gilt. Ferner können die Ansätze der Subkulturtheorien im Jugendstrafvollzug fruchtbar gemacht werden, da gerade diese Vollzugsart besonders anfällig für die Bildung peer-group begünstigter Subkulturen ist.172 165  Robinson / Crow

2012, S. 4, 17; H. J. Schneider 2012, S.  1169 f. dazu Aichhorn 1951; Kury 1999, S. 252 ff.; Rotman 1990, S. 62. 167  Lüderssen 1983, S. 72. 168  Kury 1999, S. 254 ff.; Rotman 1990, S. 63 ff. 169  Egg 1997, S. 169; Rotman 1990, S. 3. 170  Dahle 1997, S. 148. 171  Lesch 1994a, S. 513, nach dem eine Person nach einem Gefängnisaufenthalt in der Gesellschaft als „gebrandmarkt“ gilt. Zu den Auswirkungen auf das Selbstbild der Inhaftierung und weiteren negativen Auswirkungen siehe Kap. B. II. 4. a) bb). 172  Siehe dazu Kap. B. II. 4. und Kap. D. II. 1. a). 166  Vgl.



II. Kriminologische Grundlagen57

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass es eine Vielzahl von Behandlungsmöglichkeiten gibt, deren theoretische Grundlagen den Kriminalitätstheorien entstammen. Um jedoch eine erfolgreiche Straftäterbehandlung gewährleisten zu können, müssen diese Möglichkeiten auf ihre Wirksamkeit hin überprüft werden. Die dazu vorhandene Forschung ist Gegenstand des folgenden Kapitels. 3. Wirksamkeitsforschung zur Behandlung im Jugendstrafvollzug Neben einer theoriegeleiteten Grundlage ist auch die empirische Bewährung der Behandlungsprogramme und einzelnen Maßnahmen Voraussetzung für eine effiziente Straftäterbehandlung.173 Die im Hinblick auf psychologische und psychiatrische Maßnahmen international herrschende „Behand­ lungseuphorie“174 zeigte sich in Deutschland in den 1950er und 1960er Jahren in den Arbeiten an der und der Diskussion um die Große Strafrechtsreform. Zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Zweiten Gesetzes zur Reform des Strafrechts im Jahre 1975, mit dem vorwiegend der Allgemeine Teil des Strafgesetzbuches völlig neu gestaltet wurde175, hatte die internationale Forschung bereits eine Kehrtwende vollzogen. Ausgangspunkt dafür war Martinsons 1974 erschienener Aufsatz, in dem er die in dessen Titel enthaltene Fragestellung „What works?“ mit den Sätzen „[w]ith few and isolated exceptions, the rehabilitative efforts that have been reported so far have had no appreciable effect on recidivism“176 und „[i]t is just possible that some of our treatment programs are working to some extent, but that our research is so bad that it is incapable of telling“177 beantwortete. Aufgrund dieser pessimistischen Sätze wurde Martinsons Veröffentlichung mit dem Stichwort „nothing works“ belegt, welches schnell allgemeine Bekanntheit erreichte und noch heute auch für die daran anschließende kriminalpolitische Wende von der Spezial- zur Generalprävention steht.178 Kritiker der Resozialisierung, die sich dieses Schlagwort zu Nutze machten, kamen aus verschiedenen Richtungen. Während auf der einen Seite die Effektivität der Resozialisierung 173  Lösel

1994, S. 27. 1980, S. 72; zur Entwicklung der Behandlungsforschung siehe auch Drenkhahn 2007, S. 27 f.; Dünkel / Drenkhahn 2001. 175  BGBl. I 1969 S. 717; BGBl. I 1973 S. 909. 176  Martinson 1974, S. 25, bei dieser Veröffentlichung handelt es sich um einen Vorbericht einer von Lipton / Martinson / Wilks durchgeführten Studie zu The Effectiveness of Correctional Treatment (1975). 177  Martinson 1974, S. 49. 178  Dünkel / Drenkhahn 2001, S. 390; siehe zum Stichwort „nothing works“ bereits Wilson 1980, S. 3; ausführlicher zur Entwicklung des Stichworts bei Lipton 1998, S.  2 ff. 174  Dünkel

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B. Grundlagen des Jugendstrafvollzugs

bezweifelt oder der Missbrauch der Resozialisierung zu unverhältnismäßig langen Strafen oder zur Indoktrinierung freier Bürger und Bürgerinnen befürchtet wurde, sahen Kritiker auf der anderen Seite Resozialisierungsmaßnahmen als zu milde an und forderten strengere Strafen im Zeichen der ­Abschreckung. Hinzu kam auch Kritik aus der soziologischen Theorie und Forschung, die die nur auf das Individuum bezogene Resozialisierung als zu einseitig empfand und gesellschaftliche Ursachen berücksichtigt wissen wollte.179 Erst Ende der 1980er Jahre kam es zu einem Wiederaufleben der Behandlungsforschung mit Blick auf die Resozialisierung der Täterinnen und Täter. Insbesondere auf internationaler Ebene sind eine Vielzahl von Evaluationsstudien zu einzelnen Behandlungsprogrammen und Maßnahmen entstanden.180 Auch in Deutschland gibt es einige Studien zur Behandlungswirksamkeit in verschiedenen Bereichen. a) Forschung zum deutschen Jugendstrafvollzug Der folgende Abschnitt soll einen Überblick über die Wirksamkeitsforschung zu Behandlungsmaßnahmen an Jugendlichen ab 1990 vermitteln. Dazu werden zunächst einige Eckdaten zum deutschen Jugendstrafvollzug vorgestellt. Sodann werden einzelne Untersuchungen erörtert, der Schwerpunkt liegt dabei auf der stationären Behandlung, also der Behandlung Jugendlicher im Strafvollzug. aa) Eckdaten Am 31.3.2015 verbüßten 4397 Personen eine Jugendstrafe in Deutschland. Davon waren 4258 männlich und 139 weiblich. 436 (9,9 %) Personen befanden sich im offenen Vollzug. Nur 439 Jugendstrafgefangene (10,0 %) waren am Stichtag zwischen 14 und 18 Jahre alt, also Jugendliche im engeren Sinne. Bei 1944 (44,2 %) handelte es sich um Heranwachsende zwischen 18 und 21  Jahren, 2014 (45,8 %) waren bereits 21 Jahre und älter.181 Die absoluten Zahlen sind in den letzten zehn Jahren aufgrund des demographischen Wandels stark zurückgegangen. Auch die relativen Zahlen zeigen einen Rückgang der Belegungszahlen (Gefangenenraten pro 100.000: 2006 = 90,3; 2011 = 87,2; 2014 = 75,6) und spiegeln damit eine insgesamt rückläufige 179  Zu den einzelnen Kritikpunkten und Kritikern siehe Lüderssen 1991, S.  223 f.; Rotman 1990, S. 101 ff.; speziell zur Indoktrinierung Lüderssen 1997, S.  179 ff. 180  Ein allgemeiner Überblick über die Behandlungsforschung seit Ende der 80er Jahre findet sich bei Dünkel / Drenkhahn 2001, S. 391 ff. 181  Statistisches Bundesamt 2016, S. 13.



II. Kriminologische Grundlagen59

Kriminalitätsentwicklung und abnehmende Verurteilungszahlen bei Jugend­ lichen und Heranwachsenden wider.182 Diese Veränderung brachte beispielsweise einen Rückgang der Überbelegung sowie, wenn auch nicht in allen Bundesländern, eine Verbesserung der Personalsituation mit sich.183 Da der Anteil der zwischen 14 und 18-Jährigen seit 1980 konstant zwischen 9 % und 12 % liegt, handelt es sich beim deutschen Jugendstrafvollzug eher um einen Jungerwachsenenvollzug, der sich in der inhaltlichen Ausgestaltung auch an dieser Mehrheit orientiert.184 Zudem hat sich die Vollzugspopulation in den letzten Jahrzehnten verändert. Zum Stichtag befanden sich 1052 (23,9 %) Jugendstrafgefangene mit ausländischer oder ohne Staatsangehörigkeit im Vollzug185, während dies 1980 nur 6 % waren186. Der kontinuierliche Anstieg der Zahl ausländischer Gefangener verändert zum einen den Vollzugsalltag durch verstärkte Subkulturbildung und fordert zum anderen aufgrund sprachlicher und kultureller Barrieren spezielle Maßnahmen zur Behandlung.187 Auch eine Veränderung in der Deliktstruktur der Gefangenen beeinflusst die Vollzugsgestaltung. Die Anzahl der wegen Diebstahlsdelikten Verurteilten hat sich seit 1980 (49 %) halbiert (22,8 % am 31.3.2015). Ein Anstieg von 17,7 % auf 33,6 % am Stichtag ist bei Raub- und Erpressungsdelikten zu verzeichnen. Bemerkenswert ist auch der Anteil von Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit, die im Gegensatz zu 1980 mit 0,6 % nun 19,9 % der Verurteilungen im Jugendstrafvollzug ausmachen. Der hohe Anteil an wegen Gewaltdelikten Verurteilten, die, wenn man Tötungsdelikte, Raubdelikte, Delikte gegen die körperliche Unversehrtheit und Sexualdelikte zusammenfasst, über 60 % der Vollzugspopulation ausmachen, führt zu einer Anspannung des Vollzugsklimas und macht eine Anpassung der Behandlungsmaßnahmen unerlässlich.188 Üblicherweise dient die Legalbewährung als Erfolgsmaßstab für die Überprüfung von Behandlungsmaßnahmen.189 Die aktuellste deutschlandweite Rückfalluntersuchung erhebt Rückfallquoten in drei Wellen (Bezugsjahre 182  Dünkel / Geng / von der Wense 2015, S.  232 ff.; Dünkel / Geng 2013, S. 624 ff. Die Ergebnisse der Erhebung wesentlicher Strukturdaten des Jugendstrafvollzugs zum 31.3.2010 finden sich auch in Dünkel / Geng 2012; zum demographischen Wandel und dessen Auswirkung auf die Gefangenenzahlen insgesamt, siehe auch Drenkhahn 2013. 183  Dünkel / Geng 2013, S. 624 ff., 631 ff. 184  Dünkel / Geng 2007, S. 69; Dünkel / Geng 2013, S. 628 f.; Lang 2007, S. 36 f. 185  Statistisches Bundesamt 2016, S. 14. 186  Dünkel / Geng / Morgenstern 2010, S. 13 f. 187  Dünkel / Geng 2007, S. 71. 188  Dünkel / Geng 2007, S. 69 f.; aktuelle Zahlen aus Statistisches Bundesamt 2016, S. 22. 189  Kerner 1996, S. 5; Suhling 2012, S. 108.

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B. Grundlagen des Jugendstrafvollzugs

2004, 2007 und 2010).190 Dabei werden alle Eintragungen ins Bundeszentralbzw. Erziehungsregister erfasst und ein Rückfallzeitraum von drei Jahren zugrunde gelegt. Für das Bezugsjahr 2004 wurde zudem ein Rückfallzeitraum von sechs und neun Jahren berücksichtigt. Die Rückfallraten wurden anschließend nach Sanktionsart und -höhe, Deliktsgruppen, Alter, Geschlecht, Nationalität und Vorstrafenbelastung differenziert.191 Für alle strafrechtlich sanktionierten oder aus der Haft entlassenen Erwachsenen und Jugendlichen wurde für das Bezugsjahr 2004 eine Rückfallquote von 34 %, für das Jahr 2007 von 35 % und für das Jahr 2010 von 35 % ermittelt.192 Die Rückfallquote für den sechs- (44,5 %) und neunjährigen Rückfallzeitraum (48,3 %) zeigt, dass die meisten Rückfalltaten bereits innerhalb der ersten Jahre geschehen.193 Die Sanktionsart mit der höchsten Rückfallrate ist mit 69 % (jeweils 2004 und 2007) und 64 % (2010) die Jugendstrafe ohne Bewährung.194 Bei dem sechsjährigen Rückfallzeitraum ergab sich zudem ein Zuwachs von 11 %-Punkten, nach neun  Jahren erhöhte sich die Rückfallquote um weitere 3 %-Punkte.195 Das heißt, dass bei Personen, die ihre Strafe im Jugendstrafvollzug verbüßen, die Rückfallwahrscheinlichkeit am größten ist. Die Wieder­ kehrerquote, also die Zahl der Personen, die eine erneute unbedingte Freiheits- oder Jugendstrafe erhielten, lag bei 36 % (2004), 35 % (2007) bzw. 30 % (2010).196 Zudem zeigt sich u. a. ein Zusammenhang der Rückfallrate mit dem Alter. Während die Rückfallbelastung bei den 14–24-Jährigen ähnlich hoch ist, sinkt die Rückfallrate anschließend mit ansteigendem Alter stetig.197 bb) Untersuchung zu Biografie, Vollzugsverlauf und Rückfälligkeit im Jugendstrafvollzug von Baden-Württemberg Dolde und Grübl untersuchten in ihrer Studie die biografische Entwicklung, den Vollzugsverlauf und die spätere Legalbewährung von 524 männ­ 190  Jehle

u. a. 2016; Jehle u. a. 2013; Jehle u. a. 2010. u. a. 2016, S.  12 ff.; Jehle u. a. 2013, S. 7 ff.; Jehle u. a. 2010, S. 5 ff. 192  Jehle u. a. 2016, S. 37; Jehle u. a. 2013, S. 26; Jehle u. a. 2010, S. 38. 193  Jehle u. a. 2016, S. 175; Jehle u. a. 2013, S. 9, 155 ff. 194  Jehle u. a. 2016, S. 37; Jehle u. a. 2013, S. 27. In der Rückfallstatistik aus 2003 (Bezugsjahrgang 1994) betrug die Rückfallquote nach Jugendstrafvollzug für einen dreijährigen Bewährungszeitraum noch 74,8 %. Jehle u. a. 2010 vermuteten als Ursache jedoch eine Veränderung der Sanktionspraxis, da die Anzahl der Jugendstrafen zwischen 1994 und 2004 um 44 % gestiegen ist, S. 29. 195  Jehle u. a. 2016, S. 175. 196  Jehle u. a. 2016, S. 43; Jehle u. a. 2013, S. 34; Jehle u. a. 2010, S. 39. 197  Jehle u. a. 2016, S. 45; Jehle u. a. 2013, S. 37 ff.; Jehle u. a. 2010, S. 41 ff. Die Ergebnisse einer weiteren Rückfalluntersuchung, die sich jedoch auf Strafentlassene nach langen Jugendstrafen beschränkt, findet sich bei Grindel / Jehle 2014. 191  Jehle



II. Kriminologische Grundlagen61

lichen deutschen Jugendstrafgefangenen, die im zweiten Halbjahr 1976 und im ersten Halbjahr 1977 im Alter von 14 bis 24 Jahren in den Jugendstrafvollzug in Baden-Württemberg aufgenommen wurden. Die erforderlichen Daten zu Biografie und Vollzugsverlauf wurden aus der Sozialstatistik und den Gefangenenpersonalakten, zur Rückfälligkeit aus Bundeszentral- und Erziehungsregister entnommen und ausgewertet.198 Im ersten Teil der Studie wurden die nach § 92 II JGG a. F. aus dem Jugendstrafvollzug Ausgenommenen und in den Erwachsenenvollzug Verlegten mit denen verglichen, die bis zur Entlassung im Jugendstrafvollzug verblieben.199 Im zweiten Teil wurden dann die biografischen Merkmale wie Alter, Sanktionsgeschichte oder Sozialisationshintergrund sowie Merkmale des Vollzugsverlaufs wie Lockerungen, Gruppenteilnahmen, Bildungsmaßnahmen oder Disziplinarmaßnahmen auf Zusammenhänge mit späterer Rückfälligkeit untersucht.200 Dafür wurde Rückfälligkeit zunächst als jede neue im Bundeszentral- oder Erziehungsregister erfasste Verurteilung definiert. Der Überprüfungszeitraum für die Legalbewährung betrug mindestens vier Jahre. Eine erneute Verurteilung wurde bei 82,9 % der Probanden erfasst. Da dieses Verständnis von Rückfälligkeit jedoch nicht berücksichtigte, dass Jugendliche sich in einem höchst kriminalitätsgefährdeten Alter befänden, wurden im folgenden Teil der Untersuchung nur noch Verurteilte berücksichtigt, die eine erneute Freiheitsstrafe verbüßen mussten, sogenannte „Wiederkehrer“. Deren Anzahl lag bei 54,4 %.201 Bezüglich der Vollzugsdauer konnte keine Korrelation mit der Rückfälligkeit festgestellt werden. Die Rückfälligkeit von Probanden mit Freiheitsstrafen unter neun Monaten, von 10–20 Monaten und über 20 Monaten lag ähnlich zwischen 53 % und 55 %.202 Probanden mit einer vorzeitigen Entlassung zeigten mit 50 % einen geringeren Anteil an Rückfälligen als die bei Endstrafe entlassenen Gefangenen mit 62 %. Dies zeige die Bedeutung der weiteren institutionalisierten Betreuung bei einer vorzeitigen Entlassung auf Bewährung. Ähnlich positive Effekte zeigten sich auch bei einer intensiven Entlassungsvorbereitung.203 Eine positive Auswirkung auf das Rückfallverhalten konnte insgesamt bei Lockerungen festgestellt werden. Die Jugendstrafgefangenen, die während ihrer Haftzeit Urlaub oder Ausgang erhielten, hatten ein um 12 %-Punkte verbessertes Rückfallverhalten. Zum Freigang Zugelassene wurden sogar nur 198  Dolde / Grübl 199  Dolde / Grübl 200  Dolde / Grübl 201  Dolde / Grübl 202  Dolde / Grübl 203  Dolde / Grübl

1996, 1996, 1996, 1996, 1996, 1996,

S. 225 f. S. 231 ff. S. 251 ff. S. 244 ff. S. 254. S. 255, 289 ff.

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B. Grundlagen des Jugendstrafvollzugs

zu 21 % wieder rückfällig. Bei diesen Ergebnissen sei allerdings Vorsicht geboten, da bei Entscheidungen zur Gewährung von Lockerungen bereits eine Positivauswahl erfolge.204 Die Teilnahme an Gesprächsgruppen, bspw. für Drogen- oder Alkoholgefährdete, von Sozialarbeitern oder Psychologen geleitete Gruppen, zeigte insgesamt keine positive Auswirkung auf die Rückfälligkeit. Dagegen konnte die Rückfälligkeit bei der Teilnahme an Freizeitgruppen, wie bspw. Sport, Kreativgruppen oder Musik- und Theatergruppen reduziert werden. Bei den Insassen, die zwei Freizeitgruppen besuchten, lag die Rückfälligkeit bei 45 %.205 Mit Blick auf die schulische oder berufliche Ausbildung wirkte sich lediglich ein erlangter Abschluss positiv auf die Legalbewährung aus, weil dieser die berufliche und soziale Integration nach der Entlassung fördere. Hier lagen die Rückfallquoten zwischen 32 % und 52 %.206 Jugendliche, die ohne Disziplinarmaßnahme nach § 87 VVJug aus dem Jugendstrafvollzug entlassen wurden, wurden zu 15 %-Punkten weniger straffällig als diejenigen, die während ihrer Haftzeit eine Disziplinarmaßnahme erhielten. Allerdings korrelierte erst die mehrfache Ahndung von Regelverstößen mit den Rückfällen. Bei Insassen mit zwei Disziplinarmaßnahmen während ihrer Haftzeit wurde mit 52 % eine minimal überdurchschnittliche Bewährung festgestellt. Zwar wurde hinsichtlich der im Vollzug begangenen Straftaten keine Zusammenhangsanalyse mit dem Rückfallverhalten vorgenommen, dennoch wurde ermittelt, dass aufgrund einer im Februar 1977 getroffenen Vereinbarung, alle strafrechtlich relevanten Fälle unabhängig von ihrem Gewicht anzuzeigen, in der JVA Adelsheim auch ca. 200 Fälle pro Jahr angezeigt wurden. Die JVA hielt eine strafrechtliche Ahndung jedoch nur in 45 % der Fälle für erforderlich. Es kam auch nur in knapp 10 % der Fälle zu einer Verurteilung, die meisten Verfahren wurden nach § 154 StPO oder § 170 II StPO eingestellt.207 Die Untersuchung von Dolde und Grübl zeigt, dass die Legalbewährung durch die Vollzugsgestaltung gefördert werden kann. Nach ihren Erkenntnissen erscheint es insbesondere sinnvoll, vollzugliche Maßnahmen auf veränderbare, sogenannte „dynamische“ Merkmale auszurichten, die Rückfälligkeit begünstigen. Dies könne durch das Training sozial erwünschter Verhaltensweisen oder durch chancenverbessernde Maßnahmen geschehen.208

204  Dolde / Grübl

1996, 1996, 206  Dolde / Grübl 1996, 207  Dolde / Grübl 1996, 208  Dolde / Grübl 1996, 205  Dolde / Grübl

S. 262, 267. S. 276 ff. S. 279 ff. S. 273. S. 258 f.



II. Kriminologische Grundlagen63

cc) Ausbildung und Arbeit im Jugendstrafvollzug von Baden-Württemberg Ziel der Studie von Geissler war es, die Umsetzung, den gesamten Haftkontext und die an der Legalbewährung gemessene Effektivität von Bildung, Ausbildung und Arbeit im Jugendstrafvollzug von Baden-Württemberg zu analysieren. Dafür griff sie auf Daten zurück, die ab 1980 im Rahmen eines Forschungsprojektes zum Haftverlauf jugendlicher Strafgefangener am MaxPlanck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht erhoben wurden. Sie analysierte Daten aus den Gefangenenpersonalakten, zur Ergänzung geführte Interviews und die Bundeszentralregisterauszüge von 196 Jugendstrafgefangenen, die von März bis Juli 1981 in die Anstalten Schwäbisch Hall und Adelsheim aufgenommen worden waren. Anhand einer bivariaten Vergleichsanalyse untersuchte Geissler Zusammenhänge der Daten zur Biografie und zum Haftverlauf mit der Rückfälligkeit. In einem weiteren Schritt wurde der Einfluss von Drittvariablen aus Sozial- und Legalbiografie, Haftverlauf und Entlassungssituation auf das Rückfallverhalten kontrolliert, um den eigentlichen Effekt der Maßnahme zu ermitteln.209 Das Durchschnittsalter der Untersuchungsgruppe lag bei 19,4 Jahren. Instabile Entwicklungsbedingungen zeigten sich durch den Wechsel der Bezugspersonen über einen Zeitraum von mindestens zwei Monaten bei knapp 40 % der Probanden, bei 41,8 % wurde mindestens ein Heimaufenthalt verzeichnet. Die durchschnittliche Anzahl der vor Inhaftierung registrierten Straftaten lag bei 4,1 Delikten, 20 % der Jugendstrafgefangenen konnten bereits Hafterfahrung vorweisen.210 Weiterhin wies die Untersuchungsgruppe starke Defizite im Leistungsbereich auf. Über 30 % der Jugendstrafgefangenen verfügten bei Inhaftierung über keinen Schulabschluss, knapp 50 % über einen Hauptschlussabschluss, 17 % über einen Sonderschulabschluss und 1,5 % (drei Insassen) konnten einen Realschulabschluss vorweisen. Zwar hatten fast 60 % der Probanden vor der Inhaftierung eine Lehre begonnen, aber nur 11 % hatten dabei einen Abschluss erreicht. Über 50 % der Insassen waren vor Haftantritt mindestens einmal arbeitslos.211 Während des Vollzugs nahmen über die Hälfte der Insassen (n = 100) an einer Ausbildungsmaßnahme teil. Die Untersuchungsgruppe der Teilnehmer unterschied sich von der Vergleichsgruppe der Nichtteilnehmer durch ein durchschnittlich schlechteres Ausbildungsniveau, geringeres Alter und eine längere Inhaftierungszeit. Dies zeige zwar, dass minder qualifizierte Insassen gefördert wurden, eine kurze Vollzugdauer hindere jedoch die Zuweisung zu 209  Geissler

1991, S. 2 ff., 103, 110 f. 1991, S. 115 ff. 211  Geissler 1991, S. 119 f. 210  Geissler

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B. Grundlagen des Jugendstrafvollzugs

Ausbildungsmaßnahmen.212 Zudem wurde auch bei den Teilnehmern die Zeit nicht ausschließlich zur Verringerung der Defizite genutzt, sondern auch sie verbrachten mehr als ein Drittel ihrer Zeit mit Arbeit in den Anstaltsbetrieben oder ohne Beschäftigung.213 Die Gruppe der Teilnehmer erhielt im Schnitt geringfügig weniger Lockerungszeiten als die Nichtteilnehmer, wurde jedoch weitaus öfter vorzeitig aus dem Vollzug entlassen. Zudem konnte die Per­ spektive, einen Arbeitsplatz zu finden, vor allem bei beruflich Ausgebildeten verbessert werden.214 Für die Rückfallanalyse wurden mehrere Rückfalldefinitionen verwandt: jede erneute Verurteilung, jede Verurteilung, die zu einer Wiederinhaftierung führte und das „Offenbarungskriterium“, wonach Rückfälligkeit nur dann vorlag, wenn der Proband seine Verurteilung nach § 53 I BZRG offenbaren musste bzw. diese in sein Führungszeugnis aufgenommen wurde.215 Der Kontrollzeitraum betrug vier Jahre.216 In den vier  Jahren blieben nur 23 % ohne erneute Verurteilung, 50 % erhielten eine erneute Freiheitsstrafe und bei 57 % wurde die erneute Verurteilung auch in das Führungszeugnis aufgenommen. Bei der Untersuchungsgruppe der Teilnehmer an Ausbildungsmaßnahmen zeigt sich mit 22 % eine um 2 %-Punkte niedrigere Rückfallquote als bei den Nichtteilnehmern (24 %), im Hinblick auf eine erneute Freiheitsstrafe schnitten sie jedoch um 8 %-Punkte besser ab.217 Wurden aus der Gruppe der Nichtteilnehmer solche Probanden ausgenommen, die bereits einen Abschluss hatten, blieben sogar nur 18 % der Nichtteilnehmer (ohne Abschluss) ohne eine neue Verurteilung. Schüler bewährten sich nur mit 13,5 %. Die beste Rückfallquote mit 27 % ohne erneute Verurteilung und 57 % ohne erneute Freiheitsstrafe zeigten die beruflich Ausgebildeten. Auffällig und im Vergleich zu anderen Untersuchungen nicht erklärbar ist die um 8 %-Punkte schlechtere Rückfallquote der Probanden, die ihre Ausbildung erfolgreich abschließen konnten im Unterschied zu den erfolglosen.218 Da sich die unterschiedlichen Vergleichsgruppen jedoch auch im Hinblick auf Merkmale wie Alter, Lockerungsgewährung u. ä. unterschieden, die selbst die Legalbewährung wesentlich beeinflussen, führte Geissler eine Kovarianzanalyse zur Homogenisierung der Gruppen durch, um den eigentlichen Effekt von Ausbildungsmaßnahmen im Vollzug herauszufinden. Auch wenn die unterschiedlichen Rückfallquoten der Vergleichsgruppen größtenteils erhalten 212  Geissler 213  Geissler 214  Geissler 215  Geissler 216  Geissler 217  Geissler 218  Geissler

1991, 1991, 1991, 1991, 1991, 1991, 1991,

S. 131 ff. S. 147. S. 223, 232. S. 242 f. S. 235. S. 246 f. S. 259 f.



II. Kriminologische Grundlagen65

blieben, konnte dabei für keinen Gruppenvergleich ein signifikanter Effekt ermittelt werden.219 Positive Effekte auf die Rückfälligkeit wurden jedoch für die Lockerungsgewährung und einen vorinstitutionellen Lehrabschluss festgestellt, negative Effekte zeigten sich bei der vorherigen Vollzugserfahrungen und einem jüngeren Einstiegsalter.220 dd) Lockerungen im Jugendstrafvollzug von Baden-Württemberg Grosch untersuchte den Einsatz von Lockerungen im Haftverlauf und deren Beitrag zur positiven Legalbewährung im Jugendstrafvollzug von BadenWürttemberg. Wie auch bei der Arbeit von Geissler stammten die Daten aus dem 1980 am Max-Planck-Institut begonnenen Forschungsprojekt zum Haftverlauf jugendlicher Strafgefangener. Zur Überprüfung der Rückfälligkeit wurden 1988 Auszüge aus dem Bundeszentralregister herangezogen.221 Da es sich um dieselbe Untersuchungsgruppe handelt, gilt hinsichtlich der sozial- und legalbiografischen Daten das zur Untersuchung von Geissler gesagte.222 Während des Haftverlaufs wurden bei der Untersuchungsgruppe Lockerungen in Form von Ausführung, Ausgang, Freigang, Urlaub sowie interne Lockerungen registriert. Dabei war die Ausführung mit nur 39 in den Akten registrierten Fällen die am seltensten praktizierte Lockerungsform. 61,2 % der Jugendstrafgefangenen konnten die Anstalt mindestens einmal in Form eines Besuchs-, Einzel- oder Dauerausgangs verlassen, wobei die durchschnittliche Zahl bei 3,6 Ausgängen pro Jahr lag. Insgesamt 15,3 % der Probanden befanden sich während ihrer Haftzeit mindestens einmal im Freigang und wurden im Durchschnitt nach acht Monaten Haft Freigänger. 64,8 % erhielten während ihrer Haftzeit durchschnittlich zwei Mal pro Jahr Urlaub. Dabei handelte es sich zu 57 % um Regelurlaub und zu 22 % um Entlassungsurlaub. Ein intern gelockerter Vollzug mit freier Bewegungsmöglichkeit innerhalb der Wohngruppe fand nur in der Adelsheimer Anstalt statt. Von den 117 Probanden, die dieser Anstalt zugewiesen wurden, waren 54 % wenigstens einmal im gelockerten Vollzug.223 Bei der Gewährung von Lockerungen wurde hinsichtlich der Jugendstrafgefangenen eine Positivauswahl getroffen. So wies die Gruppe der Probanden ohne Lockerungen neben weniger schulischen oder beruflichen Abschlüssen und größerer disziplinarischer Auffälligkeit während des Haftver219  Geissler

1991, S. 269 f. 1991, S. 301 f. 221  Grosch 1995, S. 5. 222  Siehe dazu im vorherigen Kap. B. II. 3. a) bb). 223  Grosch 1995, S. 227 ff. 220  Geissler

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B. Grundlagen des Jugendstrafvollzugs

laufs auch häufigere Lebensgruppenwechsel wie die Unterbringung in Pflegefamilien, Heim- und insbesondere Hafterfahrung auf. Zudem war für die Gewährung von Lockerungen eine längere Haftzeit von Bedeutung und eine vorzeitige Entlassung war anschließend wahrscheinlicher.224 Ein Missbrauch der Lockerungen wurde selten verzeichnet. 5,4 % der beurlaubten Probanden (auf die Gesamtanzahl der gewährten Urlaube umgerechnet waren dies 2 %) kehrten nicht in den Vollzug zurück. In einem einzigen Fall wurde während der Lockerung eine Straftat begangen, allerdings handelte es sich dabei um eine Bagatellstraftat des Erschleichens von Leistung nach § 265a StGB (Schwarzfahren). Bei 17,1 % der beurlaubten Probanden wurde eine verspätete Rückkehr erfasst.225 Bei der Rückfallanalyse verwandte Grosch dieselben Rückfalldefinitionen und denselben Untersuchungszeitraum wie Geissler. Folglich kann auch für die Ergebnisse der Gesamtgruppe auf die Ausführungen dort verwiesen werden.226 Mit Blick auf die gebildeten Vergleichsgruppen (Gelockerte – Nichtgelockerte) ergaben sich insbesondere für Freigänger nach allen Rückfalldefinitionen weitaus bessere Rückfallquoten. So kam es nur bei 60 % der Freigänger zu einer erneuten Verurteilung während des Untersuchungszeitraumes und nur 20 % kehrten in den Strafvollzug zurück. Grosch geht jedoch davon aus, dass die geringe Rückfälligkeit bei Freigängern auch stark mit der Positivauswahl bei der Gewährung zusammenhänge. Bei den Urlaubern erhielten 77,5 % im Vergleich zu den Nichturlaubern mit 84,4 % eine erneute Verurteilung. 52 % der Urlauber und 60,9 % der Nichturlauber wurden wieder inhaftiert. Eine Diskriminanzanalyse, in der auch der Einfluss weiterer Variablen untersucht wurde, ergab allerdings keinen signifikanten Beitrag der Urlaubgewährung zur Legalbewährung.227 ee) Untersuchung des kriminologischen Dienstes von Nordrhein-Westfalen und Sekundäranalysen von Baumann und Wirth Ende 1983 wurde eine Arbeitsgruppe des Kriminologischen Dienstes des Justizministeriums Nordrhein-Westfalen mit einer landesweiten Legalbewährungsuntersuchung im Jugendstrafvollzug beauftragt. Dabei wurden Daten zur biografischen Entwicklung, zum Vollzugsverlauf und zur Rückfälligkeit von 1260 Jugendstrafgefangenen, die 1981 aus dem Jugendstrafvollzug in NRW entlassen worden waren, anhand von Gefangenenpersonalakten und 224  Grosch

1995, 1995, 226  Grosch 1995, 227  Grosch 1995, 225  Grosch

S. 253 ff. S. 319 f. S. 398 ff.; Kap. B. II. 3. a) bb). S. 405 ff.



II. Kriminologische Grundlagen67

Bundeszentralregisterdaten erhoben. Mit dieser Datengrundlage wurden später einige Sekundäranalysen durchgeführt.228 In der Erstanalyse wurden Defizite bei den jungen Gefangenen insbesondere bei den Bedingungen der Herkunftsfamilie und bei der schulischen oder beruflichen Bildung im Vergleich zur Gesamtbevölkerung festgestellt. Bspw. hatten bereits über ein Drittel der Probanden einen mindestens drei Monate langen Heimaufenthalt hinter sich, 57 % hatten vor ihrer Inhaftierung keinen allgemeinbildenden Schuldabschluss erreicht und 94 % waren bereits strafrechtlich in Erscheinung getreten.229 Während des Vollzugsverlaufs nahmen 57 % der Insassen an mindestens einer schulischen oder beruflichen Bildungsmaßnahme und 21 % an einer Betreuungs- oder Behandlungsmaßnahme wie Einzelgesprächen oder Sozialtherapie teil. Fast 90 % der Insassen erhielten während ihrer Haftzeit Besuch, rund 80 % Urlaub und 50 % Ausgang. 70 % der Jugendstrafgefangenen erhielten während ihrer Haftzeit mindestens eine Disziplinarmaßnahme und 6 % wurden wegen einer Straftat erneut verurteilt. Bei den Straftaten handelte es sich meist um Diebstähle (56 % der neuen Straftaten), gefolgt von Körperverletzungen mit 14 %. 78 % der Insassen wurden vorzeitig auf Bewährung entlassen.230 Bei der Rückfalluntersuchung wurden mehrere Rückfalldefinitionen verwandt. 84 % der Jugendstrafgefangenen hatten nach Ablauf des Untersuchungszeitraums von fünf Jahren mindestens eine neue Eintragung im Bundeszentral- oder Erziehungsregister, 55 % wurden zu einer erneuten Jugendoder Freiheitsstrafe ohne Bewährung verurteilt.231 Die Analyse der Daten war jedoch lediglich deskriptiv angelegt232 und es wurden keine Zusammenhänge zwischen den einzelnen Merkmalen und der Rückfälligkeit ermittelt, sodass auch keine Schlüsse auf die Wirksamkeit der einzelnen Vollzugsmaßnahmen gezogen werden können. In einer Sekundäranalyse untersuchte Baumann den Einfluss vollzug­ licher Gestaltung auf die Legalbewährung der Insassen. Dabei verglich er die jeweils zuständigkeitsgleichen Jugendstrafanstalten Iserlohn und Hövelhof (für Jugendliche von 14 bis 17 Jahren) und Siegburg und Herford (für junge Gefangene ab 18 Jahren) auf Merkmale wie Belegungsfähigkeit, Auslastung, Betreuungsverhältnis (Personal / Gefangene), Ausbildungs- und Behandlungsorientierung und Anstaltsklima, um diese mit den für die einzelnen Anstalten ermittelten Rückfallquoten in Beziehung zu setzen.233 Zwar 228  Wirth

1996, S. 133 ff. 1996, S. 360 ff. 230  Maetze 1996, S. 368 ff. 231  Maetze 1996, S. 378 f. 232  Wirth 1996, S. 134. 233  Baumann 1996, S. 431, 443 ff. 229  Maetze

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B. Grundlagen des Jugendstrafvollzugs

hatte die Anstalt Hövelhof mit einer geringeren Anstaltsgröße die günstigeren Voraussetzungen, die Anstalt Iserlohn schnitt jedoch vor allem in den Bereichen Disziplinierung und Lockerungen, weniger auch beim Betreuungsverhältnis und der schulischen und beruflichen Ausbildungssituation besser ab. Damit konnte ihr eine mäßig höhere Ausbildungs- und Behandlungsorientierung und aufgrund der bei Weitem geringeren Zahl von Disziplinarmaßnahmen und des höheren Lockerungsanteils ein deutlich besseres Vollzugsklima zugesprochen werden. Im Vergleich der Anstalten für ältere Insassen zeigte Herford mit geringerer Größe und Auslastung, besserem Betreuungsverhältnis, deutlich besserer beruflicher Ausbildungssituation und höherer Zahl an Urlaubsgewährungen die günstigeren Bedingungen.234 Als Ergebnis der Rückfalluntersuchung konnte jedoch keine eindeutige Einflussnahme der vollzuglichen Bedingungen auf die Legalbewährung ermittelt werden: Während der Vergleich der Anstalten Iserlohn und Hövelhof mit einer Wiederkehrer-Rückfallquote von jeweils 67 % für keine Einflussnahme durch vollzugliche Gestaltung sprach, zeigte sich eine solche beim Vergleich der Anstalten Herford (42 %) und Siegburg (59 %) deutlich.235 Da­ raus schließt Baumann, dass für ohnehin rückfallgefährdete jüngere Jugendstrafgefangene weniger das Vollzugsklima und vielmehr deren biografischen Persönlichkeitsmerkmale die Rückfälligkeit bedingten. Bei älteren Gefangenen lasse sich, insbesondere durch eine bessere berufliche Ausbildungs­ situation, eine vollzugliche Einflussnahme auf das Rückfallverhalten jedoch feststellen.236 In einer weiteren Sekundäranalyse untersuchte Wirth die Zusammenhänge von Variablen der Vorgeschichte der Insassen und der Vollzugsgestaltung mit der Legalbewährung nach Entlassung. Hinsichtlich der individuellen Vorgeschichte ermittelte er ein erhöhtes Rückfallrisiko bei vergleichsweise jüngeren Gefangenen, solchen, die Heimerfahrung hatten oder die eine Sonderschule besuchten, keine Ausbildung vorweisen konnten oder bereits eine Haftstraße verbüßt hatten. Beim Haftverlauf stellte er besonders große Unterschiede der Vergleichsgruppen mit oder ohne Hafturlaub, Disziplinarmaßnahme oder Teilnahme an einer beruflichen Qualifizierungsmaßnahme, insbesondere wenn ein Abschluss erlangt wurde, fest.237 Wirth geht jedoch von einer geringen Aussagekraft der Ergebnisse aus, da andere Einflussgrößen, wie bspw. eine vorherige Positivauswahl der Teilnehmer von beruflichen Maßnahmen, bei einer solchen bivariaten Zusammenhangsanalyse außer Betracht blieben.238 234  Baumann

1996, S. 445 ff. 1996, S. 461, 463 f. 236  Baumann 1996, S. 464 ff. 237  Wirth 1996, S. 481 f. 235  Baumann



II. Kriminologische Grundlagen69

ff) Bestandsaufnahme und Rückfalluntersuchung zum Jugendstrafvollzug in Mecklenburg-Vorpommern Bei der Arbeit von Lang handelt es sich um eine umfassende Bestandsaufnahme und Rückfalluntersuchung zum Jugendstrafvollzug in MecklenburgVorpommern. Anhand der Gefangenenpersonalakten und des Bundeszentralregisters analysierte sie sozial- und legalbiographische Daten, Vollzugsverlauf und Legalbewährung von insgesamt 230 in den Jahren 1994 und 1996 aus dem Jugendstrafvollzug Entlassenen.239 Wie die Ergebnisse bisheriger Untersuchungen bestätigen auch die von Lang ermittelten sozial- und legalbiografischen Daten große Defizite Jugendstrafgefangener bei Inhaftierung. Bereits zuvor hatte der überwiegende Teil der jungen Gefangenen mit Belastungen aus dem familiären und sozialen Umfeld zu kämpfen. Bei 52,2 % wurde eine Trennung oder Scheidung der Eltern, bei über 10 % sogar der Tod eines Elternteils ermittelt. Bei über 20 % der Probanden gab es Hinweise auf Alkoholprobleme eines Elternteils in den Akten, über 30 % wurden bereits vor ihrem 14. Lebensjahr mindestens einmal in ein Heim eingewiesen.240 Dieses Bild setzte sich auch im Bildungsbereich und bei der Straffälligkeit fort. Fast 40 % der Jugendstrafgefangenen hatten die Schule ohne Abschluss verlassen. Während 35 % über einen Hauptschulabschluss verfügten, hatten immerhin 12 % einen Realschulabschluss erlangt. 11 % brachten eine abgeschlossene Berufsausbildung mit.241 91,7 % der Untersuchungsgruppe waren bereits vorher schon strafrechtlich sanktioniert worden, wobei 37,4 % eine Haftstrafe verbüßen mussten.242 Während des Vollzugsverlaufs bekamen 46,1 % aller Jugendstrafgefangenen mindestens einen Ausgang genehmigt, wobei es bei der Hälfte der Gelockerten beim einmaligen Verlassen der Anstalt blieb. 60 % der Jugendstrafgefangenen wurde Urlaub gewährt, 13,9 % waren zum Freigang zugelassen.243 Besuchskontakte wurden bei 88 % der Insassen festgestellt.244 Nur 5,7 % der Untersuchungsgruppe nahmen während des Vollzugs an einer schulischen Ausbildungsmaßnahme teil und nur ein Teilnehmer des Sonderschullehrgangs erlangte dabei einen Abschluss. Diese Daten erschienen insbesondere mit 238  Wirth 1996, S. 484. Um dies zu verdeutlichen, untersucht Wirth anschließend die Interkorrelationen der ausgewählten Variablen anhand einer multivariaten Bedingungsanalyse, S. 485 ff. 239  Lang 2007, S. 101 f. 240  Lang 2007, S. 110 f. 241  Lang 2007, S. 112 ff. 242  Lang 2007, S. 116 f. 243  Lang 2007, S. 121 ff. 244  Lang 2007, S. 131 f.

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B. Grundlagen des Jugendstrafvollzugs

Blick auf den niedrigen Bildungsstand der Insassen erstaunlich. Im Unterschied dazu nahmen jedoch 80 % der Jugendstrafgefangenen an einer beruflichen Bildungsmaßnahme teil, allerdings erreichten auch hier nur zwei der ausgebildeten jungen Gefangenen (1,4 %) einen Berufsabschluss.245 Zwei Drittel der Gefangenen (63 %) wurden während ihrer Haftzeit disziplinarisch sanktioniert, davon bekamen die Hälfte nur eine, 30 % zwei oder drei und 20 % vier oder mehr Disziplinarmaßnahmen. Bei 30,9 % wurde eine Straftat während der Haftzeit registriert, bei 9,7 % waren es sogar mehrere. In 91,1 % der Fälle wurde Strafanzeige erstattet, es handelte sich dabei überwiegend (52,5 %) um Körperverletzungen. Wie sich aus den Gefangenenakten ergab, wurden 20,9 % der Verfahren eingestellt. Bei 56,5 % kam es zu einer Verurteilung, die immer eine erneute Haftstrafe mit sich brachte, sodass sich insgesamt bei 10,1 % der Jugendstrafgefangenen die Haftzeit durch eine im Vollzug begangene Straftat verlängerte. Die restlichen Verfahren waren noch nicht abgeschlossen.246 63,5 % der Jugendstrafgefangenen wurden vorzeitig auf Bewährung aus dem Vollzug entlassen.247 Bei der Rückfallanalyse wurden die sozial- und legalbiografischen Daten und der Vollzugsverlauf auf Zusammenhänge mit dem Rückfallverhalten untersucht. Dabei wurden zwei Rückfalldefinitionen verwandt: einmal die „Rückfalltäter“, die eine neue Eintragung im Bundeszentralregister aufwiesen, und die „Rückkehrer“, die zu einer erneuten Freiheitsstrafe ohne Bewährung verurteilt wurden. Der Untersuchungszeitraum betrug drei Jahre. In dieser Zeit wurden 90 % nach ihrer Entlassung aus dem Vollzug erneut straffällig, bei rund 54 % handelte es sich um „Rückkehrer“. 94 % der Rückfälligen wurde innerhalb von zwei Jahren erneut straffällig, nach einem Jahr waren es bereits 77 %, nach sechs Monaten 56 %.248 Wie auch andere Untersuchungen zeigen, spielen das Alter und die bisherige Legalbiografie bei der Legalbewährung eine Rolle. Während bei Jugendstrafgefangenen unter 18  Jahren 66,6 % in den Strafvollzug zurückkehrten, waren dies bei über 18-Jährigen nur 48,8 %. Auch das Durchschnittsalter der nicht Rückfälligen von 19,4 Jahren bestätigte das jüngere Alter als prognostischen Faktor für Rückfälligkeit.249 Zudem kehrten Jugendstrafgefangene, die bereits frühzeitig (vor dem 18.  Geburtstag) ihre erste Straftat begingen, mit 58 % häufig in den Strafvollzug zurück, wurde die erste Straftat erst im He­ ranwachsendenalter begangen, lag die Wiederinhaftierungsquote bei 29 %.250 245  Lang 246  Lang 247  Lang 248  Lang 249  Lang 250  Lang

2007, 2007, 2007, 2007, 2007, 2007,

S. 134 f. S. 138 ff. S. 142. S. 148 ff. S. 155. S. 161.



II. Kriminologische Grundlagen71

Keine Zusammenhänge konnte Lang zwischen den verschiedenen familiären Belastungen und der Rückfälligkeit feststellen, allerdings bewährten sich Jugendliche ohne Heimerfahrung mit 13,3 % deutlich besser als Jugendliche mit Heimerfahrung.251 Ein schulischer oder beruflicher Abschluss spielte eine erhebliche Rolle für die Legalbewährung und gesellschaftliche Wiedereingliederung. Die Rückkehrerquote derjenigen mit abgeschlossener Schulausbildung lag mit 45,2 % weit unter dem Anteil in der gesamten Untersuchungsgruppe. Ebenso wurden Jugendstrafgefangene mit beruflichem Abschluss seltener erneut zu einer unbedingten Freiheitsstrafe verurteilt (47,8 % ohne erneute Verurteilung), eine Eintragung im Bundeszentralregister wurde allerdings häufiger verzeichnet. Aufgrund der niedrigen Fallzahlen könne dieses Ergebnis jedoch nur eingeschränkt interpretiert werden.252 Die Aussagen der Studie über die Wirksamkeit von Bildungsmaßnahmen im Vollzug seien aufgrund der geringen Teilnahme an den schulischen Maßnahmen und der Anzahl der Inhaftieren, die an keiner beruflichen Bildungsmaßnahme teilgenommen hatten, wenig aussagekräftig. Auch bezüglich der drei jungen Gefangenen, die im Vollzug einen Abschluss erhielten, könnten keine repräsentativen Aussagen getroffen werden.253 Bei Lockerungen im Vollzug konnte Lang nur einen sehr geringen Einfluss auf die Legalbewährung feststellen. Gefangene mit Ausgang kehrten nur um 9 %-Punkte seltener in den Vollzug zurück. Bei Gefangenen mit Urlaub lag der Unterschied sogar nur bei 6 %-Punkten. Dabei konnte nicht festgestellt werden, ob diese geringe Verbesserung nur auf die Positivauswahl bei Gewährung der Lockerungen zurückzuführen war. Im Gegensatz dazu waren die Rückkehrerquoten von Gefangenen mit Dauerausgangsgenehmigung und Freigang jedoch mit 34 % und 28 % recht gering.254 Hinsichtlich der Disziplinierung kam Lang zu ähnlichen Ergebnissen wie Dolde / Grübl in ihrer Studie. Diejenigen Jugendstrafgefangenen mit zwei Disziplinarmaßnahmen bewährten sich mit einer Rückfallquote von 44,4 % besser als diejenigen mit einer Disziplinarmaßnahme mit 63,1 % und diejenigen mit mehrfacher Disziplinierung mit je nach Anzahl zwischen 66,7 % und 75,8 %. Bei Jugendstrafgefangen, die während ihrer Inhaftierung eine erneute Straftat begingen, war die Legalbewährungsquote für Rückkehrer um 8 %-Punkte schlechter.255 Hinsichtlich einer vorzeitigen Entlassung konnte Lang keine Unterschiede bei der Legalbewährung feststellen.256 251  Lang 252  Lang 253  Lang 254  Lang 255  Lang 256  Lang

2007, 2007, 2007, 2007, 2007, 2007,

S. 157. S. 158 f. S. 166. S. 163 ff. S. 167, 249. S. 168.

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B. Grundlagen des Jugendstrafvollzugs

gg) Evaluation des offenen Vollzugs der Jugendstrafanstalt Rockenberg in Hessen In seiner Arbeit untersuchte Frankenberg, welchen Beitrag der offene Jugendstrafvollzug zum Ziel der Resozialisierung leistet und ob er dieses Ziel im Vergleich zum geschlossenen Vollzug besser fördert. Dazu überprüfte und verglich er die Legalbewährung von 100 Jugendstrafgefangenen aus dem offenen Vollzug und 100 aus dem geschlossenen Vollzug, die zwischen 1990 und 1994 aus der JVA Rockenberg entlassen wurden. Die Daten stammten aus den Gefangenenpersonalakten und dem Bundeszentralregister. Der Bewährungszeitraum betrug drei Jahre.257 Es wurden alle Rückfälle erfasst, die zu einer erneuten Eintragung im Bundeszentralregister führten, wobei diese Taten nochmal nach ihrem Schweregrad unterteilt wurden.258 Bei der Auswahl der Untersuchungs- und Kontrollgruppe war es erforderlich, dass sich die Gruppen in Faktoren wie sozialbiografischer Hintergrund, Persönlichkeit und sanktionsrechtliche Vorgeschichte möglichst ähnelten und damit vergleichbar waren. Bei den persönlichen Merkmalen und beim sozialbiografischen Hintergrund lagen kaum Differenzen vor. Während die Untersuchungsgruppe bei Intelligenz und Drogenabhängigkeit leicht besser abschnitt, befanden sich innerhalb dieser Gruppe jedoch mehr uneheliche ­Kinder und Waisen.259 Auch mit Blick auf die schulische und berufliche Ausbildung waren die Gruppen vergleichbar, allein beim Merkmal Schulabschluss wies die Untersuchungsgruppe eine bessere Ausgangssituation vor. Jedoch wurden auch bei der Untersuchungsgruppe mit 38 % der Gefangenen ohne Schulabschluss und 46 % mit Hauptschulabschluss erhebliche Defizite deutlich.260 Weiterhin zeigten sich bei der strafrechtlichen Vorgeschichte und dem Verhalten während des Vollzugs keine bedeutsamen Unterschiede.261 Damit waren unterschiedliche Rückfallquoten, die auf einer Positivauswahl der Insassen des offenen Vollzugs beruhen, ausgeschlossen.262 Die um 14 %-Punkte häufigere vorzeitige Entlassung bei Jugendstrafgefangenen des offenen Vollzugs sei nach Frankenberg darauf zurückzuführen, dass der offene Vollzug ein ausschlaggebender Faktor für diese Entlassungsart sei.263 Bei der Rückfallanalyse zeigte sich im Hinblick auf jede erneute Eintragung ins Bundeszentralregister eine um 5 %-Punkte bessere Legalbewährung 257  Frankenberg 258  Frankenberg 259  Frankenberg 260  Frankenberg 261  Frankenberg 262  Frankenberg 263  Frankenberg

1999, 1999, 1999, 1999, 1999, 1999, 1999,

S. 3 ff. S. 130. S. 69 ff. S. 93 ff., 100. S. 106 ff. S. 126. S. 122.



II. Kriminologische Grundlagen73

der Insassen des offenen Vollzugs. Bei der Rückfälligkeit mit einer schwerwiegenden Tat schnitt die Untersuchungsgruppe mit 6 %-Punkten besser ab als die Vergleichsgruppe. Auch zeigte sich, dass die Insassen aus dem offenen Vollzug 18,2 % weniger erneute Verurteilungen in der Gesamtzahl aufwiesen und zudem später rückfällig wurden. Mit der Länge des Aufenthalts der ­Jugendstrafgefangenen im offenen Vollzug verringerte sich auch deren Rückfallquote. Damit sieht Frankenberg seine These bestätigt, dass der offene Vollzug geringere Rückfallquoten ermögliche und somit bessere Chancen für eine Resozialisierung biete.264 hh) Legalbewährung nach Entlassung aus der sozialtherapeutischen Abteilung der Jugendanstalt Hameln Seitz und Specht untersuchten die Legalbewährung von ehemaligen Jugendstrafgefangenen, die zwischen 1985 und 2000 aus der sozialtherapeutischen Abteilung der Jungendanstalt Hameln, dem Rudolf-Sieverts-Haus, in Freiheit oder in den offenen Vollzug entlassen oder in eine andere Abteilung der JA Hameln rückverlegt wurden. Bei der Behandlung im Rudolf-SievertsHaus handelte es sich um ein strukturiertes Programm, das aus milieutherapeutischen, sozialtherapeutischen und psychoanalytischen Behandlung- und Trainingsangeboten bestand.265 Von 168 Jugendstrafgefangenen, bei denen anhand einer Bundeszentralregisterabfrage ein Bewährungszeitraum von mindestens fünf Jahren ermittelt werden konnte, wurden 80 (47,6 %) direkt aus dem Rudolf-Sieverts-Haus entlassen, während 88 (52,4 %) das Behandlungsprogramm abbrachen und in eine andere Abteilung der JA Hameln rückverlegt wurden. Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer für die Entlassenen betrug 23,2 Monate, für die Rückverlegten sieben Monate. Das Durchschnittsalter der Gefangenen bei Entlassung lag bei 22,2  Jahren. Mit einer Vorstrafenbelastung bei 86,8 % der Gefangenen, einem durchschnittlichen Alter von 16,4 Jahren bei der ersten Verurteilung, einem durchschnittlichen Strafmaß der aktuellen Verurteilungen von 43,2 Monaten und einem hohen Anteil von Gewaltdelikten zeigte sich eine starke strafrechtliche Vorbelastung der in das Rudolf-Sieverts-Haus Aufgenommenen.266 Daten zur Sozialbiografie, die nur bei einer Stichprobe von 24,4 % der gesamten Untersuchungsgruppe erhoben werden konnten, zeigten Belastungen im bisherigen Lebensverlauf und starke Defizite im Bildungs­ bereich.267 264  Frankenberg

1999, S. 133 ff. 2002, S. 54. 266  Seitz / Specht 2002, S. 55 f. 267  Seitz / Specht 2002, S. 57. 265  Seitz / Specht

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B. Grundlagen des Jugendstrafvollzugs

In dem Untersuchungszeitraum von fünf Jahren kam es insgesamt bei 138 (82,1 %) der Jugendstrafgefangenen zu einer erneuten Verurteilung, bei 78,7 % der Entlassenen und bei 85,1 % der Rückverlegten. 42,5 % der Entlassenen wurden zu einer erneuten Freiheitsstrafe ohne Bewährung verurteilt, bei den Rückverlegten waren es 62,1 %. Die Entlassenen wurden im Schnitt 1,9 Mal erneut verurteilt, die Rückverlegten 2,8 Mal. Bei den Rückfälligen kam es bei 55,6 % der Entlassenen und 66,7 % der Rückverlegten zu einer erneuten Verurteilung innerhalb des ersten Jahres. Damit wurden die Rückverlegten deutlich häufiger, schneller, schwerer und intensiver rückfällig als die nach abgeschlossenem Aufenthalt im Rudolf-Sieverts-Haus Entlassenen.268 Bei einem Vergleich der Tat der Verurteilung mit der Rückfalltat zeigte sich insgesamt eine Verbesserung bei der Intensität des Deliktes. 63 % der Entlassenen wurden überhaupt nicht oder wegen eines weniger intensiven Delikts verurteilt, bei den Rückverlegten waren dies jedoch nur 46 %. Von den wegen eines Gewaltdelikts Inhaftierten wurden bei den Entlassenen nur 13 von 53 und bei den Rückverlegten 17 von 50 durch eine erneutes Gewaltdelikt rückfällig. Die am häufigsten vorkommenden Rückfalltaten waren Eigentums- oder Vermögensdelikte.269 ii) Wirksamkeit des Anti-Aggressivitäts-Trainings in der Jugendanstalt Hameln Eine vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen durchgeführte Studie untersuchte die Wirksamkeit des seit 1986 in der Jugendanstalt Hameln stattfindenden Anti-Aggressivitäts-Trainings (AAT) unter dem Gesichtspunkt der Legalbewährung. In diesen Trainings sollten zu Gewalt neigende Jugendstrafgefangene in bis zu zwei Mal wöchentlich stattfindenden, sechsmonatigen Intensivkursen anhand von Gruppengesprächen gewaltfreies Verhalten lernen. Neben der Aufarbeitung des inhaftierungsrelevanten Delikts und etwaigen Gewaltverhaltens in der Anstalt sollten den Teilnehmern Schuld, Scham sowie Mitgefühl für ihre Opfer vermittelt werden. Insgesamt bezog sich die Untersuchung auf 73 Personen, die zwischen 1987 und 1999 am AAT teilgenommen hatten und im Hinblick auf die Legalbewährung mit einer möglichst ähnlichen Kontrollgruppe von AAT-Untrainierten verglichen wurde. Daten aus dem Bundeszentralregister wurden im Januar 2000 gezogen.270 Zwar hatten die Untrainierten kein AAT durchlaufen, konnten aber 268  Seitz / Specht

2002, S. 57 ff. 2002, S. 63 f. 270  Ohlemacher u. a. 2001, S. 380. Eine Übersicht über die bundesweit im Jugendstrafvollzug durchgeführten Anti-Gewalt-Trainings, die meist auf einem kognitivlerntheoretischen Behandlungskonzept beruhen, findet sich bei Bosold / Prasse / Lauterbach 2006. 269  Seitz / Specht



II. Kriminologische Grundlagen75

durchaus Teilnehmer einer anderen Behandlungsmaßnahme wie Sozialtherapie oder anderer Gruppengespräche gewesen sein.271 Probanden der Untersuchungs- und Kontrollgruppe waren wegen eines Gewaltdelikts mindestens sechs Monate in Hameln inhaftiert. Das Einweisungsalter lag bei der Untersuchungsgruppe bei 19,8 und bei der Kontrollgruppe bei 19,7 Jahren. Die Strafdauer betrug bei beiden Gruppen 3,2 Jahre, wobei die ATT-Teilnehmer 2,5 Jahre, die Untrainierten 2,1 Jahre in Hameln verbrachten. Bei beiden Gruppen stellte eine Körperverletzung am häufigsten das schwerste Delikt zur Einweisung (über 40 %) dar, gefolgt von Raubdelikten (knapp 40 %) und Tötungsdelikten (rund 15 %). Die Probanden der ­Untersuchungsgruppe brachten im Schnitt 5,2 Vorstrafen, die Kontrollgruppe 4,6 Vorstrafen mit, wobei die Probanden der Kontrollgruppe mit 34,3 % zu 17,8 % bereits über mehr Hafterfahrung verfügten.272 Bei den AAT-Teilnehmern wurde eine Rückfallrate für erneute Gewalt­ delikte von 37 %, bei den Untrainierten von 34,2 % festgestellt. Dieser Unterschied erwies sich jedoch nicht als signifikant. Auch bei der Rückfallhäufigkeit und Rückfallgeschwindigkeit konnten keine Unterschiede festgestellt werden. Allein bei der Rückfallintensität wurde eine Verbesserung bei den AAT-Teilnehmern ermittelt: Während 56 % der Untrainierten mit einem schweren Gewaltdelikt rückfällig wurden, waren dies bei den Trainierten nur 29,6 %. Andersherum begingen 55,6 % der Trainierten ein leichteres Delikt, verglichen mit 32 % der Untrainierten. Allerdings erwiesen sich auch diese Differenzen nicht als signifikant.273 jj) DFG-Längsschnittuntersuchung zu den „Entwicklungsfolgen der Jugendstrafe“ Ziel der am Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen durchgeführten und ab 2004 von der DFG geförderten Längsschnittuntersuchung „Entwicklungsfolgen der Jugendstrafe“274 war es, kurz- und langfristige Folgen einer Inhaftierung auf die soziale und individuelle Entwicklung eines Jugendlichen zu ermitteln. Es sollten insbesondere Merkmale identifiziert werden, die eine Legalbewährung positiv oder negativ beeinflussen. Dafür wurden zwischen 1998 und 2001 in sechs Jugendstrafanstalten der Länder Niedersachsen, Hamburg, Bremen und Sachsen-Anhalt über 2000 deutsche 271  Ohlemacher

u. a. 2001, S. 383. u. a. 2001, S. 382 f. 273  Ohlemacher u. a. 2001, S. 384 f. 274  Dieses Projekt ist die von der DFG geförderte Fortsetzung der bereits 1997 begonnen Längsschnittuntersuchung „Gefängnis und die Folgen“, zu ersten Ergebnissen siehe Greve / Hosser 2002. 272  Ohlemacher

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B. Grundlagen des Jugendstrafvollzugs

männliche erstverbüßende Jugendstrafgefangene zwischen 14 und 24 Jahren in Face-to-Face-Interviews in regelmäßigen Abständen (bei Beginn der Haftzeit, nach einem Drittel, vor und nach Entlassung) befragt. Zudem wurden die Gefangenenpersonalakten und das Bundeszentralregister ausgewertet. Das Interview kurz vor Entlassung konnte, hauptsächlich aufgrund unvermittelter Entlassung, nur noch bei 42 % der ursprünglich Befragten (n = 891) durchgeführt werden. Zum Zeitpunkt der Inhaftierung lag das Durchschnittsalter der Probanden bei knapp 20 Jahren. Das durchschnittliche Strafmaß betrug 17 Monate, ersteckte sich jedoch von sechs Monaten bis zu zehn Jahren. Die meisten Jugendstrafgefangenen (49,9 %) waren wegen eines Gewaltdelikts verurteilt worden, gefolgt von Eigentumsdelikten mit 35,2 %. Das bereits bei anderen Studien ermittelte defizitäre Bild der Insassenpopulation des Jugendstrafvollzugs im Bildungsbereich zeigte sich auch in dieser Untersuchung. Etwa ein Drittel der Probanden besaß keinen Schulabschluss, 67,3 % hatten einen Haupt- oder Realschulabschluss und lediglich 0,4 % das Abitur. 34,4 % der Jugendstrafgefangenen besaßen eine abgeschlossene Berufsausbildung.275 Innerhalb des Rückfalluntersuchungszeitraumes von 24 Monaten kam es bei 75,6 % der Untersuchungsgruppe zu einer erneuten Verurteilung. Bei 60,3 % führte die Verurteilung zu einer erneuten Freiheitsstrafe ohne Bewährung. Als Prädiktor der Rückfälligkeit wurde insbesondere das Alter ermittelt. Bei um zwei Jahre älteren Insassen sank das Rückfallrisiko um 8 %-Punkte. Weitere Risikofaktoren für Rückfälligkeit waren Aggressivität und moralische Urteilsfähigkeit.276 Innerhalb dieser Längsschnittstudie wurden die Durchführung und die Wirksamkeit von psychosozialen Behandlungsmaßnahmen untersucht. Für den Behandlungserfolg wurde neben der Rückfälligkeit der Einfluss auf individuelle Risikofaktoren und auf Prisonisierungseffekte ermittelt. Die Untersuchungsgruppe bestand aus den 1880 Jugendstrafgefangenen der Anstalten in Niedersachsen (Hameln, Göttingen, Vechta) und Sachsen-Anhalt (Halle). Die Befragung vor Entlassung ließ sich noch bei 763 Insassen durchführen.277 Insgesamt wurde bei 70 % der niedersächsischen Strafgefangenen und bei 38 % der Probanden aus Sachsen-Anhalt mindestens eine Behandlungsmaßnahme in den Gefangenenpersonalakten dokumentiert. Die einzelnen Maßnahmen im niedersächsischen Jugendstrafvollzug wurden in die Kategorien soziales Training (20,9 %), Sozialtherapie (12 %), Suchttherapie (5,6 %), 275  Hosser / Greve 2002, S. 430; Hosser 2007, S. 8 f.; Hosser / Bosold 2008b, S.  167 f. 276  Hosser / Bosold 2008b, S. 171 f. Zu den Ergebnissen hinsichtlich der einzelnen Prisonisierungseffekte siehe Kap. B. II. 4. a) bb). 277  Bosold / Hosser / Lauterbach 2007, S.  269 ff.



II. Kriminologische Grundlagen77

Suchtberatung (35 %), Anti-Gewalt-Training (4,7 %), Einzelfallhilfe (34,1 %) und sonstiges Gruppentraining (5,5 %) zusammengefasst. In Sachsen-Anhalt lagen die Schwerpunkte bei Alkohol- und Drogenberatung (19 %) und Einzelfallhilfen (24 %).278 Bei der Rückfallanalyse wurden erneute Verurteilungen sowie Wiederinhaftierung innerhalb eines Jahres ermittelt. Dabei schnitten die Behandelten hinsichtlich einer erneuten Verurteilung um 4 %-Punkte, bei einer Wiederinhaftierung um 5 %-Punkte besser ab als die Unbehandelten. Jedoch war nur der Unterschied bei der Wiederinhaftierung signifikant.279 Bezüglich einer positiven Veränderung individueller Risikofaktoren konnte nur beim moralischen Urteilsvermögen ein kleiner, aber signifikanter Effekt von Behandlungsmaßnahmen gezeigt werden. Eine Verbesserung zeigte sich insbesondere bei den Teilnehmern von Anti-Gewalt-Trainings und Einzelfallhilfen. Das Gefühl eines Autonomieverlusts und die emotionale Bindung an vollzugsinterne Gruppen erhöhten sich während des Haftverlaufs trotz der Teilnahme an Behandlungsmaßnahmen.280 Anhand der Daten der Längsschnittstudie untersuchten Boxberg und Bosold außerdem die Wirksamkeit des Sozialen Trainings in der Jugendanstalt Hameln. In dem kognitiv-verhaltenstherapeutisch ausgerichteten Training wurden mit acht bis zehn Jugendstrafgefangenen in 20 Sitzungen Themen wie soziale Beziehungen, Integration in den Arbeitsmarkt, Konsum von Alkohol und Drogen, Umgang mit Geld und Freizeitgestaltung behandelt. Die in den Sitzungen gemeinsam erarbeiteten Handlungsziele wurden anschließend durch Probehandeln und Rollenspiele erlernt und verfestigt.281 Um zu ermitteln, inwieweit das Soziale Training das Sozial- und Legalverhalten nach Entlassung fördert, wurden 109 Teilnehmer des Trainings mit einer möglichst ähnlichen Kontrollgruppe verglichen. Eine Sozialbewährung kennzeichnet sich durch eine Integration ins Arbeitsleben, das Vorliegen fester Beziehungen und einen geringen Substanzkonsum. Zwar konnte eine Tendenz zu besserem Sozialverhalten bei den ehemaligen Trainingsteilnehmern festgestellt werden, signifikant war allerdings nur das Ergebnis zum Alkoholkonsum, das bei Trainingsteilnehmern 11 %-Punkte geringer war. Im Hinblick auf die Legalbewährung kam es bei den Trainingsteilnehmern zwar um 2 %-Punkte öfter zu einer erneuten Verurteilung, diese führte jedoch seltener zu einer erneuten Inhaftierung (nicht signifikant).282 Im Ergebnis stell278  Bosold / Hosser / Lauterbach

2007, S. 272 ff. 2007, S. 277. 280  Bosold / Hosser / Lauterbach 2007, S. 275 f. 281  Boxberg / Bosold 2009, S. 238. 282  Boxberg / Bosold 2009, S. 239 ff. 279  Bosold / Hosser / Lauterbach

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B. Grundlagen des Jugendstrafvollzugs

ten Boxberg und Bosold fest, dass das Soziale Training insgesamt keinen bedeutsamen Einfluss auf die Sozial- und Legalbewährung habe und es erforderlich scheine, das Training besser an spezifischen Zielgruppen auszurichten.283 kk) Zusammenfassung Die in allen Untersuchungen ermittelten starken Defizite und die Benachteiligung der Vollzugspopulation in Legal- und Sozialbiografie zeigen einen großen Behandlungsbedarf im Jugendstrafvollzug. Dabei ist es sinnvoll, die Behandlung an dynamischen, also veränderbaren Merkmalen anzusetzen, die mit einer erneuten Straffälligkeit im Zusammenhang stehen. Während bspw. eine starke Vorstrafenbelastung, die ein Prädikator der Rückfälligkeit ist, nachträglich nicht mehr verändert werden kann, liegen die Chancen einer vollzug-lichen Behandlung bei der Einwirkung auf kriminalitätsrelevante Einstellungen und Verhaltenstendenzen.284 Deutlich wird dies auch an dem hohen Anteil der Gefangenen ohne Schulabschluss oder Berufsausbildung, ohne die eine soziale Wiedereingliederung nur schwer möglich ist. Zwar konnten schulische und berufliche Maßnahmen allein keinen positiven Effekt auf die Rückfallquoten erzielen, ein Schulabschluss oder eine abgeschlossene Berufsausbildung erhöhten jedoch deutlich die Chancen einer sozialen Wiedereingliederung und einer damit einhergehenden positiven Legalbewährung.285 Die Ergebnisse zu den Lockerungen im Vollzug zeigen, dass eine isolierte Untersuchung der Wirksamkeit aufgrund anderer Faktoren wie der Positivauswahl bei Gewährung nur schwer möglich ist, eine frühzeitige Entlassungsvorbereitung eine positive Legalbewährung jedoch unterstützt. Zwar liegen bezüglich der Wirksamkeit von Ausgang und Urlaub widersprüchliche Ergebnisse vor, insbesondere konnte jedoch beim offenen Vollzug eine positive Wirkung bestätigt werden.286 Auch die vorzeitige Entlassung trägt gerade aufgrund der institutionellen Weiterbetreuung zur Wiedereingliederung nach Ende der Haftzeit und damit auch zur Legalbewährung bei.287 Da der Jugendstrafvollzug bereits von Beginn an die Wiedereingliederung des Täters bezweckt, muss dies auch bei der Gewährung von Lockerungen berücksich283  Boxberg / Bosold 284  Dolde / Grübl

S. 74.

285  Dolde / Grübl

286  Dolde / Grübl

2009, S. 241 f. 1996, S. 258 f.; Hosser / Bosold 2008b, S. 172 f.; Lang 2007,

1996, S. 279 ff.; Geissler 1991, S. 259 f.; Lang 2007, S. 158 f. 1996, S. 262, 267; Frankenberg 1999, S.  133 ff.; Lang 2007,

S.  164 f. 287  Dolde / Grübl 1996, S. 255, 289 ff.



II. Kriminologische Grundlagen79

tigt werden. Eine begleitete, gestufte Öffnung des Vollzugs und eine intensive Nachbetreuung sind unerlässlich.288 Hinsichtlich der Verhängung von Disziplinarmaßnahmen zeigt sich, dass ca. zwei Drittel der Jugendstrafgefangenen während ihrer Haftzeit diszipliniert wurden.289 Jugendstrafgefangene ohne Disziplinarmaßnahme während ihrer Haftzeit wurden seltener erneut straffällig, wobei hier auch andere Faktoren eine Rolle spielen können. Ein negativer Einfluss auf die Legalbewährung konnte nur bei drei und mehr Disziplinierungen während des Vollzugs festgestellt werden.290 Zur Wirksamkeit einzelner Behandlungsprogramme im Jugendstrafvollzug, die die Veränderung einzelner Einstellungen und Verhaltenstendenzen anstreben, liegen in Deutschland nur sehr wenige Ergebnisse vor. Die beschriebenen Untersuchungen zu psychosozialen Maßnahmen, sozialen Trainingskursen und Anti-Aggressivitäts-Trainings zeigen nur mäßige bis keine Effekte auf die Legalbewährung.291 b) Internationale Forschung Aufgrund der Vielzahl der auf internationaler Ebene vorliegenden Evaluationsstudien einzelner Behandlungsprogramme und Maßnahmen wird der Kenntnisstand zu diesen Fragen anhand von Meta-Analysen zusammengefasst.292 Im Unterschied zu einfachen Zusammenfassungen (reviews) geben Meta-Analysen die Ergebnisse der einzelnen Studien nicht einfach wieder, sondern verarbeiten die methodisch oft unterschiedlichen Studien in einem statistisch einheitlichen Verfahren, um vergleichbare Ergebnisse zu erhalten.293 Die Wirksamkeit der Behandlung wird dabei als Effektstärke angegeben, die den Unterschied zwischen Variablen verschiedener Untersuchungsgruppen anzeigt. Die Effektstärken werden bspw. als standardisierte Mittelwertdifferenz (d), als Korrelationskoeffizient (r) oder als Odds Ratio (OR) errechnet.294

288  Dünkel / Geng / Morgenstern

2010, S. 22 f. 2007, S. 138; Maetze 1996, S. 373. 290  Dolde / Grübl 1996, S. 273; Lang 2007, S. 167, 249. 291  Bosold / Hosser / Lauterbach 2007, S.  277; Boxberg / Bosold 2009, S. 239  ff., 241 f.; Ohlemacher u. a. 2001, S. 384 f. 292  Lösel 1994, S. 13 f. 293  Robinson / Crow 2012, S. 69. Dieses Verfahren wurde von Gene V. Glass entwickelt und erstmals zur Ermittlung der Wirksamkeit von Psychotherapie verwendet, Glass 1976; Smith / Glass 1977. 294  Lipsey / Wilson 2000, S. 107, 172 ff. 289  Lang

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B. Grundlagen des Jugendstrafvollzugs

Viele der Meta-Analysen auf internationaler Ebene befassen sich mit der Behandlung delinquenter Jugendlicher.295 Der folgende Abschnitt zeigt den internationalen Forschungsstand ab 1990. Dabei wurden jedoch lediglich Meta-Analysen berücksichtigt, die u. a. auch Studien zur Wirksamkeit von Behandlungsprogrammen im Jugendstrafvollzug beinhalten. aa) Zur Wirksamkeit von Behandlungsprogrammen mit einer kognitiven Komponente In einer vergleichsweise kleinen Meta-Analyse untersuchten Izzo und Ross 46 zwischen 1970 und 1985 veröffentlichte Studien, die eine Behandlungsmethode an delinquenten Jugendlichen mittels eines experimentellen oder quasi-experimentellen Forschungsdesigns im Hinblick auf die Rückfälligkeit evaluierten. Die meisten Studien bezogen sich auf männliche Jugendliche, einige wenige untersuchten jedoch auch geschlechtsgemischte Behandlungsgruppen. Die Probanden waren zwischen 11 und 18  Jahren alt, wobei das Durchschnittsalter der gesamten Untersuchungsgruppe bei 13,2 Jahren lag. Bei den begangenen Straftaten handelte es sich überwiegend um Eigentumsdelikte oder Delikte gegen die Person.296 Izzo und Ross gingen davon aus, dass insbesondere die theoretische Grundlage einer Behandlungsmaßnahme deren Ausgestaltung und Zielsetzung bestimme und damit der wichtigste Einflussfaktor für deren Effizienz darstelle. Um die unterschiedlichen Auswirkungen von Behandlungsart und Behandlungseigenschaften herauszufinden, wurden die Zusammenhänge verschiedener Variablen mit der Rückfälligkeit anhand mehrerer statistischer Verfahren untersucht. Dabei ergab sich, dass Behandlungsprogramme, die auf einem theoretischen Konzept basierten, sich zwar nicht signifikant, aber im Durchschnitt fünf Mal so effektiv auf die Rückfälligkeit auswirkten wie solche ohne theoretische Grundlage.297 Eine Regressionsanalyse führte die unterschiedlichen Effekte der Behandlungsprogramme auf zwei Variablen zurück: erstens auf den Behandlungsort (Behandlung im Vollzug schnitt schlechter ab als Behandlung außerhalb) und zweitens auf die Behandlungsart. Dabei waren Programme, die eine kognitive Maßnahme, wie die Vermittlung von Problemlösungsstrategien, Verhandlungsstrategien oder eines prosozialen zwischenmenschlichen Umgangs durch Rollenspiel, Modelllernen und ähnliches vorsahen, doppelt so effektiv wie Programme ohne eine solche kognitive Komponente.298 295  Lipton

1998, S. 12; Lösel 1996, S. 262. 1990, S.  136 f. 297  Izzo / Ross 1990, S. 137 f. 296  Izzo / Ross



II. Kriminologische Grundlagen

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bb) Die Wirksamkeit von Behandlungsprogrammen In seiner Meta-Analyse von 1992 verglich Lipsey über 400 Studien, die die Wirksamkeit von Behandlungsprogrammen an Jugendlichen mittels einer Experimental- und Vergleichsgruppe untersuchten. Wichtigstes Ziel dieser Analyse war es, die Wirksamkeit von Behandlungsprogrammen im Hinblick auf die Rückfälligkeit zu ermitteln. Zudem wurden auch Korrelationen mit anderen Variablen wie Persönlichkeitsmerkmale oder Leistungen im schulischen und akademischen Bereich analysiert.299 Bei fast zwei Dritteln (64,3 %) der Studien schnitt die Experimentalgruppe im Hinblick auf die Rückfälligkeit besser ab als die Kontrollgruppe. Bei 397 Studien war es möglich, aufgrund der vorliegenden Informationen eine Effektstärke zu ermitteln. Als Maß der Effektstärke wurde die standardisierte Mittelwertdifferenz300 verwendet. Die nach Umfang (Anzahl der Probanden) der Studien gewichtete durchschnittliche Effektstärke betrug 0.10. Zwar handle es sich dabei nur um ein mäßiges Resultat, es zeige sich dennoch eine insgesamt positive Auswirkung von Straftäterbehandlung.301 Allerdings wurden große Unterschiede bei der Effektstärke der einzelnen Studien festgestellt, was Lipsey insbesondere auf die Heterogenität der Methodik der Studien zurückführte. Insgesamt hingen 53 % der Abweichung mit der Methodik, wie bspw. der Vergleichbarkeit der Experimental- und Kontrollgruppe oder dem Untersuchungszeitraum, zusammen. Innerhalb der Behandlungsmodalitäten, auf die 47 % der Abweichungen zurückzuführen waren, kam der Behandlungsart mit 24 % die größte Bedeutung zu.302 Die stärksten positiven Effekte im Hinblick auf die Rückfälligkeit erreichten multimodale und verhaltenstherapeutische Programme, sowie Programme, die auf spe­ zielle Fertigkeiten der Teilnehmer abzielen. Die ermittelten Effektstärken lagen hier zwischen 0.20 und 0.25. Geringere Effektstärken von 0.02 bis 0.08 wurden bei Einzel-, Gruppen- oder Familientherapie erzielt. Im Gegensatz dazu wirkten sich jedoch Programme, die auf Abschreckung abzielten,

298  Izzo / Ross 1990, S. 139. Die große Effektivität von Programmen, die kognitive Maßnahmen enthielten, wurde auch durch die Studie von Antonowicz / Ross 1994, S. 98, 100 bestätigt. Diese Analyse wurde hier nicht aufgenommen, da sie nicht die Effektivität einzelner Programme ermittelt, sondern lediglich den Einfluss von Programmeigenschaften untersuchte. Dazu sogleich ausführlich unter B. II. 3. c) (Prinzipien wirksamer Behandlung). 299  Lipsey 1992a, S. 133. 300  Danach zeige eine Effektstärke von 0.2 einen niedrigen, von 0.5 einen mittleren und von 0.8 einen hohen Effekt an, Lipsey / Wilson 2000, S. 147. 301  Lipsey 1992a, S. 134 f.; Lipsey 1992b, S. 94 ff. 302  Lipsey 1992a, S. 136 f.

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B. Grundlagen des Jugendstrafvollzugs

negativ auf die Rückfälligkeit aus. Es wurde hier eine Effektstärke von –0.24 ermittelt.303 Einige Jahre später haben Lipsey und Wilson die Datensammlung aus 1992 aktualisiert und in einer neuen Meta-Analyse die Wirksamkeit von Behandlungsmaßnahmen bei „serious juvenile offenders“ untersucht. Aufgrund der Beschränkung auf jugendliche Schwerverbrecher konnten nur 200 Studien Eingang in die Untersuchung finden. Diese wurden zwischen 1950 und 1995 überwiegend in den USA, einige auch in Kanada und Großbritannien durchgeführt. Das durchschnittliche Alter der Jugendlichen lag meist zwischen 14 und 17 Jahren.304 Als Ergebnis wurde eine positive, statistisch signifikante Effektstärke von 0.12 errechnet.305 Zudem wurde erneut eine große Varianz der Effektstärken der einzelnen Studien festgestellt, die sowohl von der Methodik der Studien, als auch von einzelnen Behandlungsfaktoren abhingen. Auch hier erzielten verhaltenstherapeutische Programme und Programme, die sich an den Fertigkeiten der Jugendlichen orientierten, die höchsten Effekte.306 cc) Wirksamkeit von Behandlungsprogrammen bei Jugendlichen und Erwachsenen in Europa In ihrer Meta-Analyse untersuchten Redondo, Garrido und Sánchez-Meca die Wirksamkeit von 57 Behandlungsprogrammen aus Großbritannien (26), Spanien (13), Niederlanden (9), Deutschland (4), Schweden (4) und Israel (1), die zwischen 1980 und 1993 in Primärstudien evaluiert wurden. Für eine Aufnahme in die Meta-Analyse mussten die Studien den Effekt einer Behandlung mittels Untersuchungs- und Kontrollgruppe oder Vor- und Nachuntersuchung an einer Gruppe ermitteln und die Berechnung einer Effektstärke musste durch die vorliegenden Informationen möglich sein. Weiterhin musste es Zweck der evaluierten Programme sein, die Rückfälligkeit von Personen zu reduzieren, die von einer strafrechtlichen Maßnahme betroffen waren. Neben der Rückfälligkeit wurden weitere abhängige Variablen, wie die Verbesserung sozialer Fertigkeiten, Fähigkeiten im schulischen und beruflichen Bereich und die psychologische Veränderung persönlicher Einstellungen und Verhaltenstendenzen zur Überprüfung der Wirksamkeit der Programme he­ rangezogen. Insgesamt umfasste die Analyse 7728 hauptsächlich männliche Jugendliche und Erwachsene.307 303  Lipsey

1992a, S. 138 f. 1998, S. 314 f. 305  Lipsey / Wilson 1998, S. 318. 306  Lipsey / Wilson 1998, S. 319 ff. 307  Redondo / Garrido / Sánchez-Meca 1997, S. 502 ff. 304  Lipsey / Wilson



II. Kriminologische Grundlagen

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Bei Berücksichtigung aller abhängigen Variablen für die Wirksamkeit ergab sich eine durchschnittliche Effektstärke von r = 0.15.308 Im Hinblick auf die Rückfälligkeit, die nach Angaben der Autoren jede neue Tat beinhaltete, wurde eine Effektstärke von r = 0.12 ermittelt.309 Aufgrund der Heterogenität der Effektstärken der einzelnen Studien analysierten Redondo, Garrido und Sánchez-Meca die Zusammenhänge weiterer Variablen mit der Rück­ fälligkeit. Dabei identifizierten sie die Art des Behandlungsprogrammes als eine der Schlüsselvariablen. Programme, die auf verhaltenstherapeutischen (r = 0.232) und kognitiv-verhaltenstherapeutischen (r = 0.265) Behandlungsmodellen beruhten, erzielten die höchsten Effekte, gefolgt von non-behavioralen Programmen, wie bspw. Psychotherapie mit einer Effektstärke von r  =  0.192. Schulische Maßnahmen konnten nur eine Effektstärke von r = 0.080 erreichen. Das einzige mit Blick auf die Rückfälligkeit evaluierte Programm, dessen theoretische Grundlage die Abschreckung bildete, erzielte eine negative Effektstärke von r = –0.006. Die Untersuchung weiterer Zusammenhänge zeigte, dass Programme mit Jugendlichen (unter 16 Jahre: r = 0.205; zwischen 16 und 18  Jahren: r = 0.188) besser abschnitten als die mit Erwachsenen (r = 0.120). Zudem beeinflussten auch die Methodik und Charakteristiken der Studie die Effektstärke.310 Eine weitere Meta-Analyse, die die Wirksamkeit nur mit Blick auf die Rückfälligkeit ermittelte, wurde von Redondo, Garrido und Sánchez-Meca im Jahr 2001 erstellt. Im Rahmen dieser Untersuchung analysierten sie 32 europäische Studien, bei denen es sich bis auf zwei jedoch um dieselben Studien handelte, die bereits in ihrer Meta-Analyse aus 1997 berücksichtigt wurden. Auch hier wurde ein durchschnittliche Effektstärke von r = 0.12 ermittelt und verhaltenstherapeutische (r = 0.231) und kognitiv-verhaltenstherapeutische (r = 0.226) Behandlungsprogramme erwiesen sich am wirksamsten.311 Dieses Ergebnis wurde anhand einer multivariaten Zusammenhangsanalyse, bei der der Einfluss anderer Variablen auf die Rückfälligkeit kon­ trolliert wurde, bestätigt.312

308  Redondo / Garrido / Sánchez-Meca 1997, S. 507. Zwar wurde die Effektstärke hier auch als standardisierte Mittelwertdifferenz errechnet, jedoch in Form von Pearsons Korrelationskoeffizienten angegeben. Der Korrelationskoeffizienten zeigt mit 0.1 einen niedrigen, mit 0.25 einen mittleren und mit 0.4 einen hohen Effekt an, Lipsey / Wilson 2000. 309  Redondo / Garrido / Sánchez-Meca 1997, S. 511. 310  Redondo / Garrido / Sánchez-Meca 1997, S. 512 f. 311  Redondo Illescas / Sánchez-Meca / Garrido Genovés 2001, S. 54. 312  Redondo Illescas / Sánchez-Meca / Garrido Genovés 2001, S. 57 f.

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B. Grundlagen des Jugendstrafvollzugs

dd) Das Correctional Drug Abuse Treatment Effectiveness (CDATE) Projekt Im Rahmen des vom National Institute on Drug Abuse der USA geförderten Correctional Drug Abuse Treatment Effectiveness (CDATE) Projekts wurden, als Weiterführung des 1975 von Lipton / Martinson / Wilks veröffentlichten Werkes „The Effectiveness of Correctional Treatment“, Studien, die zwischen 1968 und 1996 die Wirksamkeit von Behandlungsmaßnahmen an Jugendlichen und Erwachsenen untersuchten, gesammelt, erläutert und zusammenfassend analysiert. Ziel dieses Projekts war es, anhand mehrerer Meta-­Analysen der umfassend gesammelten Studien herauszufinden, welche Behandlungsprogramme für wen und unter welchen Bedingungen wirksam sind.313 Dafür wurden die Studien in Behandlungskategorien unterteilt und Auswirkungen von Behandlungsart und anderen Variablen auf verschiedene Ziele wie Rückfälligkeit, schulischer oder beruflicher Erfolg, soziale Einstellungen und ähnliches anhand unterschiedlicher statistischer Verfahren untersucht. Für die Gewichtung der einzelnen Studien in der Gesamtauswertung wurde ihre Qualität mit einer Skala von 1–4 (1 = poor; 2 = fair; 3 = good; 4 = excellent) bewertet. Insgesamt wurden mehr als 2100 Untersuchungen erfasst.314 Bei den 72 Programmen, deren Behandlungsschwerpunkt in der schulischen und beruflichen Ausbildung lag, wurde bezüglich der Rückfälligkeit eine durchschnittliche Effektstärke von r = 0.05 ermittelt.315 Die Behandlungskategorie erfasste Programme zur Verbesserung der Lese- und Schreibfähigkeit, zur Erreichung eines Schulabschlusses, zur Vermittlung von Fertigkeiten bei der Jobsuche, College-Kurse und einzelne Berufsausbildungen. Zwar wurde damit in dieser Kategorie hinsichtlich der Rückfälligkeit nur ein mäßiger Effekt erzielt, die Programme zur Verbesserung der Lese- und Schreibfähigkeit und zur Erreichung eines Schulabschlusses konnten mit r = 0.10 jedoch durchaus positive Effekte erzielen. Insgesamt problematisch bei der Auswertung war jedoch die Qualität der einzelnen Studien, die meist mit „poor“ oder „fair“ bewertet wurde.316 In einer weiteren Analyse, die 69 Studien zu verhaltenstherapeutischen und kognitiv-verhaltenstherapeutischen Maßnahmen umfasste, wurde eine durchschnittliche Effektstärke von r = 0.12 ermittelt.317 Im weiteren Verlauf 313  Lipton

1998, S. 7, 12 f.; Pearson / Lipton 1999, S. 5. 1998, S. 16; Pearson / Lipton 1999, S. 10 f. 315  Pearson / Lipton 1999, S. 10. Als Maß für die Effektstärke wurde der Korrela­ tionskoeffizient r von Pearson verwendet. 316  Pearson / Lipton 1999, S. 18 ff. 317  Lipton u. a. 2002a, S. 95 f.; Pearson u. a. 2002, S. 487. 314  Lipton



II. Kriminologische Grundlagen

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der Analyse wurden die verschiedenen Behandlungsarten miteinander verglichen. Die verhaltenstherapeutischen Programme, die darauf abzielten, erwünschte Verhaltensweisen durch positive Verstärkung zu entwickeln und zu fördern, erreichten lediglich einen Effekt von r = 0.07. Hierzu gehörten Maßnahmen wie die systematische Belohnung für bestimmtes Verhalten (token economy) oder das contingency contracting, bei dem der Teilnehmer bei Behandlungsbeginn einen Vertrag unterschreibt, der festlegt, welche positiven und negativen Folgen mit gewissen Verhaltensweisen einhergehen.318 Als besonders wirksam erwiesen sich die Programme, die auf die Entwicklung kognitiver Fertigkeiten wie Konfliktlösung, Kommunikation, Selbstkontrolle und Aggressionsbewältigung abzielten. Sie erreichten eine durchschnittliche Effektstärke von r = 0.14. Dabei zeigten insbesondere das von Ross und Fabiano319 entwickelte Reasoning & Rehabilitation (R & R) Programm, mit dem kognitive und soziale Defizite ausgeglichen werden sollen, mit r = 0.15 und Programme zur allgemeinen Entwicklung sozialer Fertigkeiten mit r = 0.17 verhältnismäßig hohe Effekte.320 Schließlich wurde in einer weiteren Meta-Analyse die Wirksamkeit von therapeutischen Gemeinschaften und Milieutherapie untersucht. Dabei handelte es sich um strukturierte Behandlungsprogramme, bei denen die Teilnehmer und Teilnehmerinnen sich zwischen neun und achtzehn Monaten in einer hierarchisch oder demokratisch organisierten Gemeinschaft befanden und dort lernten, sich deren Werten und Verhaltensregeln anzupassen.321 Die Wirksamkeitsanalyse umfasste 42 Studien, unter denen auch Studien zur deutschen Sozialtherapie waren. Insgesamt wurde für diese Behandlungs­ arten eine Effektstärke von r = 0.14 ermittelt.322 Bei den sieben Studien, die ausschließlich die Behandlung von Jugendlichen untersuchten, ergab sich eine Effektstärke von r = 0.15, diese war jedoch nicht signifikant.323 ee) Eine Kosten-Nutzen-Analyse Einen etwas anderen Ansatzpunkt zur Untersuchung der Wirksamkeit von Behandlungsprogrammen wählten Aos, Phipps, Barnoski und Lieb. In ihrer Meta-Analyse unternahmen sie für den US-amerikanischem Bundesstaat Washington eine Kosten-Nutzen-Analyse, um die Verteilung der öffentlichen Mittel zu verbessern. Dabei ermittelten sie zunächst auch die Wirksamkeit 318  Pearson

u. a. 2002, S. 479, 488. 1985. 320  Pearson u. a. 2002, S. 480, 489 f. 321  Lipton u. a. 2002b, S. 44 ff. 322  Lipton u. a. 2002b, S. 56 f. 323  Lipton u. a. 2002b, S. 63. 319  Ross / Fabiano

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B. Grundlagen des Jugendstrafvollzugs

einzelner Programme anhand von Effektstärken. Ihre Analyse enthielt die Ergebnisse von über 400 Studien, die in den USA und Kanada durchgeführt wurden und die Wirksamkeit von Behandlungsprogrammen anhand eines Vergleichs der Rückfälligkeit in Experimental- und Kontrollgruppe untersuchten.324 Zwar erfasste die Analyse Programme für jüngere Kinder, Jugendliche und Erwachsene, im Folgenden werden jedoch nur die Ergebnisse zur Wirksamkeit von Behandlungsprogrammen für Jugendlichen erörtert. Da es Ziel der Analyse war, die Effektivität einzelner Programme im Hinblick auf ihre Kosten zu untersuchen, wurde keine durchschnittliche Effektstärke aller Programme ermittelt, sondern nur für einzelne Programmarten. Als Maß der Effektstärke wurde die standardisierte Mittelwertdifferenz verwendet. Allerdings bedeutet eine negative Effektstärke hier, dass sich die Rückfälligkeit bei der Experimentalgruppe im Vergleich zur Kontrollgruppe verringert hat, eine positive Effektstärke zeigt dagegen eine Erhöhung der Rückfälligkeit an.325 Die höchsten Effektstärken wurden von den speziellen Programmen Multi­ dimensional Treatment Foster Care (MTFC; ES = –0.37) und Multi-Systemic Therapy (MST; ES = –0.31) erzielt. Bei beiden Programmen handelte es sich um intensive Behandlungsmaßnahmen durch Therapeuten, die neben dem Jugendlichen selbst auch dessen Familie, Schule und weiteres Umfeld mit einbezogen. Während MTFC mit einer Länge von sechs bis zwölf Monaten immer bei Pflegefamilien stattfand, wurde MST meist über vier Monate in der gewohnten Umgebung des Jugendlichen durchgeführt.326 Das beste Kosten-Nutzen-Verhältnis wurde, gefolgt von den MTFC-Programmen, beim Aggression Replacement Training ermittelt. Dabei handelte es sich um kognitiv-verhaltenstherapeutische Maßnahmen zur Kontrolle von Aggressionen und zur Entwicklung sozialer und moralischer Fertigkeiten. Die ermittelte Effektstärke lag hier bei  –0.18.327 Demgegenüber wirkten sich Boot Camps und Scared Straight-Programme negativ auf die Rückfälligkeit von Jugend­ lichen aus. Bei den Boot Camps, die auf Förderung von Disziplin durch körperliche Anstrengung und Herausforderung ausgelegt waren, ergab sich eine Effektstärke von 0.10. Bei den auf Abschreckung abzielenden Scared Straight Programmen lag diese bei 0.13.328 Die im Jahr 2001 erstmals erstellte Kosten-Nutzen-Analyse wird durch das Washington State Institute for Public Policy regelmäßig aktualisiert. In der 324  Aos

u. a. u. a. 326  Aos u. a. 327  Aos u. a. 328  Aos u. a. 325  Aos

2001, 2001, 2001, 2001, 2001,

S. 1. S. 7 f. S. 8, 17, 18 f. S. 8, 18. S. 8, 21 f.



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letzten Aktualisierung im Jahr 2012 hat das Aggression Replacement Training weiterhin das beste Kosten-Nutzen-Verhältnis, die Effektstärke hat sich jedoch auf –0.30 erhöht. Effektstärken über –0.20 lagen immer noch bei MST und MTFC sowie bei der Functional Familiy Therapy vor.329 ff) Meta-Analyse zur Behandlung von jugendlichen Gesetzesbrechern Latimer, Dowden und Morton-Bourgon untersuchten in ihrer Meta-Analyse für das kanadische Department of Justice die Wirksamkeit von Behandlungsprogrammen an meist männlichen Jugendlichen unter 18  Jahren, die bereits eine Straftat begangen hatten. Die dafür verwendeten Studien wurden zwischen 1964 und 2002 in den USA, Kanada, Großbritannien und Australien veröffentlicht und umfassten 195 Behandlungsprogramme. Die Wirksamkeit der Behandlung wurde mittels Experimental- und Vergleichsgruppe vorwiegend an der späteren Rückfälligkeit, aber auch an anderen Ergebnissen wie schulische oder berufliche Leistung oder psychisches Wohlbefinden gemessen. Latimer, Dowden und Morton-Bourgon formulierten als zentrales Ziel ihrer Arbeit zu ermitteln, welche Programmcharakteristika sich nach dem empirischen Forschungsstand positiv auf die Rückfälligkeit von Jugendlichen auswirkten.330 Aus den 176 Programmen, bei denen die Wirksamkeit insofern gemessen wurde, ergab sich eine durchschnittliche Effektstärke von phi = 0.09.331 Um die Wirksamkeit einzelner Programmcharakteristika zu ermitteln, wurden die Programme nach Interventionsform, Behandlungsziel, Länge, Intensität und anderen Faktoren aufgeteilt. Im Bereich der Interventionsform wurden die besten Effekte (phi = 0.16) von Programmen mit mehreren Schwerpunkten, die bspw. Individual-, Familien- und Gruppenberatung kombinierten, und rein familienfokussierten Programmen erzielt. Boot Camps und WildernessProgramme hatten dagegen negative Effektstärken von phi = –0.07 und phi = –0.09.332 Bei den Programmen, die positive Effektstärken erzielten, zeigte sich, dass die Rückfälligkeit verbessert werden konnte, wenn Aggressionsbewältigung, anti-soziale Einstellungen und Verhaltenstendenzen, akademische, kognitive und soziale Fertigkeiten als Behandlungsziele adressiert 329  Lee

u. a. 2012, S. 4.

330  Latimer / Dowden / Morton-Bourgon

2003, S. 1 ff. 2003, S. 10 f. Als Maß wurde der phi-Ko­ effizient verwendet (Pearsons Korrelationskoeffezient für dichotome Daten). In einer früheren Meta-Analyse von Latimer, die nur 35 Studien umfasste, die jedoch überwiegen auch in der aktuellen Analyse berücksichtigt wurden, ermittelte er eine durchschnittliche Effektstärke von 0.15, Latimer 2001, S. 242. 332  Latimer / Dowden / Morton-Bourgon 2003, S. 12. 331  Latimer / Dowden / Morton-Bourgon

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wurden. Die Effektstärken lagen hier zwischen phi = 0.12 und phi = 0.20.333 Programme mit einer Länge bis zu sechs Monaten waren mit einer Effektstärke von phi = 0.11 erfolgreicher als Programme, die in ihrer Dauer über sechs Monate hinausgingen (phi = 0.05).334 Schließlich wurden die Programme auch im Hinblick auf ihre Integrität überprüft. Dabei wurden vier Prinzipien, nämlich geplante Behandlung unter Anleitung und mit Leitfaden, dessen Einhaltung, Ausbildung des Personals und Supervision des Personals, berücksichtigt. Je mehr dieser Prinzipien bei der Programmgestaltung beachtet wurden, desto höher war auch dessen Effektivität.335 gg) Zur Wirksamkeit von strukturierten, gruppenorientierten, kognitiv-verhaltenstherapeutischen Behandlungsprogrammen Ziel der Meta-Analyse von Wilson, Bouffard und MacKenzie war es, die Wirksamkeit von strukturierten, kognitiv-verhaltenstherapeutischen Behandlungsprogrammen zu untersuchen, die zwischen 1985 und 1999 mit jugendlichen und erwachsenen Straftätern in Gruppen durchgeführt wurden. Insgesamt konnten 20 Studien Eingang in die Untersuchung finden, aus denen 74 Effektstärken in Form der standardisierten Mittelwertdifferenz zu unterschiedlichen Ergebnisvariablen ermittelt werden konnten. 62 der errechneten Effektstärken bezogen sich auf die Rückfälligkeit.336 Insgesamt konnten Wilson, Bouffard und MacKenzie die Wirksamkeit der Behandlungsprogramme feststellen. Es wurde eine durchschnittliche Effektstärke der qualitativ besseren Studien von d = 0.32 festgestellt.337 Gegenstand von sechs Studien war die Moral Reconation Therapy (MRT) – ein Programm, dessen theoretische Grundlage Kohlbergs Theorie der Moralentwicklung bildet und das versucht, moralische und soziale Verhaltensdefizite durch kognitiv-verhaltenstherapeutische Maßnahmen auszugleichen. Die Übungen werden nach klarer Anleitung in gewöhnlich zwei Mal pro Woche stattfindenden, zweistündigen Sitzungen mit 10–15 Teilnehmern durchgeführt. Für das Behandlungsprogramm wurde eine durchschnittliche Effektstärke von d = 0.36 ermittelt.338 Weitere sieben Studien evaluierten das Reasoning & Rehabilitation (R & R) Programm, das darauf abzielt, kognitive und soziale Defizite durch die Vermittlung von Selbstkontrolle, Problemlösungskompetenzen und ähnli333  Latimer / Dowden / Morton-Bourgon 334  Latimer / Dowden / Morton-Bourgon 335  Latimer / Dowden / Morton-Bourgon 336  Wilson / Bouffard / MacKenzie

2005, 2005, 338  Wilson / Bouffard / MacKenzie 2005, 337  Wilson / Bouffard / MacKenzie

2003, S. 13. 2003, S. 14. 2003, S. 15. S.  175 ff. S. 198. S. 180 ff.



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chem auszugleichen. Dies geschieht innerhalb von 35 Sitzungen mit Hilfe von verschiedenen Übungen wie Rollenspiele, Modelllernen und Gruppendiskussionen. Insgesamt wurde für dieses Behandlungsprogramm eine Effektstärke von d = 0.16 ermittelt. Dies bedeute eine Reduzierung der Rückfälligkeit um 8 %-Punkte (von 54 % bei der Kontrollgruppe auf 46 % bei der Untersuchungsgruppe).339 Die weiteren sieben Studien bezogen sich auf kognitiv-verhaltenstherapeutische Programme, die nicht an den Defiziten der Teilnehmer ansetzten, sondern meist versuchen, kognitive Verhaltensstörungen, wie bspw. falsche Situationswahrnehmung zu verändern. Die durchschnittliche Effektstärke lag hier bei d = 0.51.340 hh) Wirksame Faktoren bei der kognitiv-­ verhaltenstherapeutischen Behandlung Zwar wurde bisher in Meta-Analysen insgesamt ein hoher Effekt von ­ognitiv-verhaltenstherapeutischen Behandlungsprogrammen festgestellt, es k zeigte sich dabei allerdings auch eine große Heterogenität in den Ergebnissen der einzelnen Studien. Deshalb ist es Ziel der Meta-Analyse von Landenberger und Lipsey, einzelne Faktoren der Studien und der Behandlung herauszukristallisieren, die die Effektivität positiv beeinflussten. Dafür untersuchten sie 58 Studien, die zwischen 1980 und 2004 die Wirksamkeit von kognitivverhaltenstherapeutischen Programmen an jugendlichen und erwachsenen Straftätern im Hinblick auf ihre unterschiedlichen Forschungsdesigns und der konkreten Ausgestaltung des Programms evaluierten.341 Die Effektivität der Behandlung wurde anhand der Odds Ratio ermittelt. Insgesamt wurde für alle Programme ein Effekt von OR = 1.53 errechnet, was eine Reduzierung der Rückfälligkeit bei der Untersuchungsgruppe durch die Behandlung um 25 % im Verhältnis zur Kontrollgruppe bedeute.342

339  Wilson / Bouffard / MacKenzie

2005, S. 189 ff. 2005, S. 194 ff. 341  Landenberger / Lipsey 2005, S. 453 ff. In die Analyse wurden auch die 14 Studien älterer Untersuchungen von Lipsey / Chapman / Landenberger 2001 und Lipsey /  Landenberger 2005 mitaufgenommen, weshalb hier auf diese Meta-Analysen nicht einzeln eingegangen wird. 342  Landenberger / Lipsey 2005, S. 460. Durch die Odds Ratio werden die Erfolgschancen der Behandlung bei der Untersuchungsgruppe im Vergleich zur Kontrollgruppe ermittelt. Eine Odds Ratio von 1 zeigt keinen Unterscheid zwischen Unter­ suchungs- und Kontrollgruppe an. Während Werte über 1 auf positive Effekte hindeuten, weisen Werte zwischen 0 und 1 auf negative Effekte hin, Lipsey / Wilson 2000, S.  52 f. 340  Wilson / Bouffard / MacKenzie

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B. Grundlagen des Jugendstrafvollzugs

Eine Regressionsanalyse ergab eine statistisch relevante Beeinflussung der Effektstärke durch mehrere Variablen, die die Art der Studie und der Behandlung betrafen. Insbesondere wirkte sich eine qualitativ bessere Umsetzung des Programms positiv auf dessen Wirksamkeit aus. Bedeutende Faktoren waren eine enge Überwachung und die Aus- und Weiterbildung des Personals. Außerdem zeigte die Regressionsanalyse, dass kognitiv-verhaltenstherapeutische Maßnahmen gerade bei Teilnehmern mit hohem Rückfallrisiko positive Effekte erzielen können. Zudem konnte keines der bekannten Programme (R & R, MRT, Aggression Replacement Therapy, Interpersonal Problem Solving Therapie oder Thinking for a Change) überdurchschnittlich hohe Effekte erzielen. Eine in der Behandlung enthaltene Aggressionsbewältigungs- und Problemlösungskomponente wirkte sich jedoch positiv auf die Rückfälligkeit aus, während verhaltensändernde Maßnahmen und Maßnahmen, die auf Opferempathie abzielen, geringere Effekte erzielten.343 ii) Wirksamkeit von Behandlungsprogrammen mit Jugendlichen in Europa In einer weiteren Meta-Analyse zur Wirksamkeit von Behandlungsprogrammen in Europa untersuchten Koehler, Lösel, Akoensi und Humphreys 25 Studien aus Großbritannien (16), Schweden (1), Norwegen (2), den Niederlanden (4) und Deutschland (2), die zwischen 1980 und 2009 veröffentlicht wurden. Es wurden ausschließlich Studien über jugendliche Straftäter und Straftäterinnen unter 25 Jahren einbezogen, die die Wirksamkeit von Behandlungsmaßnahmen im Hinblick auf die Rückfälligkeit von Untersuchungs- und Kontrollgruppe ermittelten. Insgesamt beinhaltete die Untersuchung 7940 Probanden und Probandinnen, deren Altersdurchschnitt bei 17,9 Jahren lag.344 Als Maß der Effektstärke wurden Odds Ratios verwendet. Die durchschnittliche Effektstärke aller Studien lag bei OR = 1.34. Bei der Annahme einer Rückfälligkeitsrate von 50 % in der Kontrollgruppe bedeute dies eine Reduzierung der Rückfälligkeit um 7 %-Punkte auf 43 % in der Untersuchungsgruppe.345 Die höchste Wirksamkeit erzielten verhaltenstherapeutische und kognitiv-verhaltenstherapeutische Programme mit einer Effektstärke von OR = 1.73. Während nicht verhaltenstherapeutische Programme mit OR = 1.23 zwar geringere, aber dennoch positive Effekte zeigten, lag die Effektstärke bei Behandlungsprogrammen, die auf Abschreckung abzielen, bei OR = 0.85, was einer Erhöhung der Rückfallrate (ausgehend von 343  Landenberger / Lipsey

2005, S. 468 f. u. a. 2013, S. 21 f., 26. 345  Koehler u. a. 2013, S. 26. 344  Koehler



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50 %) um 4 %-Punkte gleichkomme. Allerdings erwiesen sich die Effektstärken bei nicht verhaltenstherapeutischen und abschreckenden Programmen als nicht signifikant. Innerhalb der nicht verhaltenstherapeutischen Programme waren die schulischen und beruflichen Maßnahmen mit OR = 1.69 am wirksamsten. Im weiteren Verlauf der Analyse wurde der Einfluss weiterer Studien- und Programmcharakteristika auf die Effektstärke untersucht. Dabei zeigte sich, dass Programme besser abschnitten, wenn sie außerhalb einer geschlossenen Institution stattfanden. Zwischen Programmen, an denen entweder freiwillig oder verpflichtend teilgenommen wurde, konnte interessanterweise kein Unterschied in der Effektstärke festgestellt werden.346 jj) Zusammenfassung Die vorangehend beschriebenen ab 1990 durchgeführten Meta-Analysen zeigen, dass es möglich ist, durch Behandlungsprogramme eine Verringerung des Rückfallrisikos im Bereich von r = 0.10 zu erreichen. Dieses Ergebnis entspricht auch den Ergebnissen früherer Analysen zum Jugendstrafvollzug.347 Als wirksamste Behandlungsart haben sich kognitiv-verhaltenstherapeutische Programme erwiesen, die darauf abzielen, bestimmte Einstellungen und Verhaltenstendenzen durch Einwirkung auf die Denkmuster einer Person zu verändern. Es wurden hier Effektstärken zwischen r = 0.09 und r = 0.26 ermittelt. Insbesondere zeigen strukturierte und an einem Leitfaden orientierte Programme wie bspw. Reasoning & Rehabilitation, Moral Reconation Therapy oder Aggression Replacement Training eine überdurchschnittlich gute Wirksamkeit.348 Auch verhaltenstherapeutische Programme, die Verhaltensmuster vorwiegend durch positive Verstärkung verändern wollen, erwiesen sich insgesamt als effektiv. Allerdings zeigen die Ergebnisse mit Effektstärken von r = 0.07 bis r = 0.23 eine große Spannbreite der Wirksamkeit der einzelnen Programme. Multimodale Programme, die mehrere Behandlungsmaßnahmen vereinen, die auf unterschiedlichen theoretischen Grundlage beruhen, erreichten Effektstärken bis r = 0.18. Erfolgreich waren auch hier vor 346  Koehler u. a. 2013, S. 30. Weiterhin wurde die Effektivität der Prinzipien wirksamer Behandlung (Risk-Need-Responsivity) untersucht. Dazu sogleich in Kap. B. II. 3. c). 347  Garrett 1985; Mayer u. a. 1986. Kaum Effektivität von Behandlungsprogrammen an Jugendlichen zeigte sich jedoch bei der Meta-Analyse von Whitehead / Lab 1989. 348  Eine Meta-Analyse, die sich ausschließlich der Wirksamkeit des R & R-Programmes widmete und sechzehn Studien miteinander verglich, ermittelte eine Reduzierung der Rückfälligkeit um durchschnittlich 14 % im Verhältnis zur Kontrollgruppe (OR = 1.16), Tong / Farrington 2006.

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B. Grundlagen des Jugendstrafvollzugs

allem strukturierte Programme wie Multidimensional Treatment, Multi-Systemic Therapy und Functional Family Therapy. Insgesamt geringere Effekte wurden für weniger strukturierte Programme und psychotherapeutische, nicht verhaltenstherapeutische Maßnahmen ermittelt. Die Effektstärken reichten jedoch auch hier je nach Maßnahme von r = 0.01 bis r = 0.19. Auch berufliche und schulische Maßnahmen schnitten im Hinblick auf die Legalbewährung schlechter ab. Die Effektstärken in einzelnen Meta-Analysen lagen hier zwischen r = 0.05 und r = 0.13. Maßnahmen zur Erreichung eines Schulabschlusses und der Verbesserung der Lese- und Schreibfähigkeit zeigten Effekte von durchschnittlich r = 0.10. Keine Wirksamkeit und sogar eine negative Beeinflussung der Legalbewährung wurden bei Behandlungsprogrammen ermittelt, die die Abschreckung der Teilnehmer bezwecken. Dazu gehören u. a. Boot Camps und Scared Straight-Programme. Die Effektstärken lagen hier zwischen r = –0.13 und r = 0.00.349 Diese Ergebnisse sind jedoch gerade bei Jugendlichen nicht überraschend, da das Handeln Jugendlicher meist nicht planmäßig erfolgt, sondern in hohem Maße durch Spontanität und Impulsivität geprägt ist und damit zu erwartende Folgen bei der Handlungsentscheidung kaum berücksichtigt werden.350 Neben der Effektivität der Behandlungsart wurde in vielen Meta-Analysen auch die Beeinflussung des Rückfallverhaltens durch andere Faktoren untersucht. Insbesondere erwiesen sich eine auf einem theoretischen Konzept beruhende, strukturierte, an einem Leitfaden orientierte Umsetzung sowie die Aus- und Weiterbildung des Personals als wichtige Komponenten. Allerdings zeigte sich auch, dass die ermittelten Effekte stark von der Qualität der jeweiligen Studie abhängen. Insgesamt vermittelt die internationale Forschung ein hoffnungsvolles Bild für die Behandlung jugendlicher Straftäter und Straftäterinnen. Einzelne Behandlungsprogramme können hinsichtlich der Rückfälligkeit sogar Effektstärken von mehr als r = 0.20 erzielen. Bei der Übertragbarkeit der meist aus Nordamerika stammenden Ergebnisse auf Deutschland ist jedoch aufgrund kultureller und justizieller Unterschiede und unterschiedlicher politischer Ausrichtungen bei der Kriminalitätsbekämpfung Vorsicht geboten.351 Darüber hinaus zeigten jedoch auch die beiden Meta-Analysen, die Behandlungsprogramme in Europa evaluieren, sehr ähnliche Ergebnisse. 349  Auch Analysen, die ausschließlich die Wirksamkeit dieser Programme beinhalteten, kamen nicht zu anderen Ergebnissen, MacKenzie / Wilson / Kider 2001; Petrosino / Turpin-Petrosino / Buehler 2003. 350  De Haan / Vos 2004, S. 332. 351  Grietens / Hellinckx 2004, S.  412 f.; Sußner 2009, S. 91.



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c) Regeln für eine wirksame Behandlung Zwar wurde festgestellt, dass sich eine Behandlung von straffälligen Jugendlichen im Allgemeinen positiv auf deren Rückfallverhalten auswirkt, dennoch hängt die Effektivität der einzelnen Behandlungsmaßnahmen entscheidend von der zu behandelnden Person ab. Unter dem Stichwort „what works“ wird ermittelt, welche Behandlung für welche Personen unter welchen Umständen am wirksamsten ist. Um die Behandlung den Besonderheiten der Person und des einzelnen Falles anzupassen, wurden sogenannte Prinzipien für eine wirksame Straftäterbehandlung entwickelt, welche im Folgenden dargestellt werden.352 aa) Das Risk-Need-Responsivity (RNR) Modell Nach dem Risk-Need-Responsivity (RNR) Modell hängt eine effektive Behandlung von der Berücksichtigung von drei aufeinander aufbauenden Prinzipien ab. Das Risikoprinzip (risk principle) fordert, dass Umfang und Intensität der Behandlung am individuellen Rückfallrisiko der zu behandelnden Person ausgerichtet werden. Bei Personen mit einem hohen Rückfall­ risiko ist eine intensive Behandlung erforderlich, während bei Personen mit geringerem Rückfallrisiko eine minimale Behandlung angezeigt ist.353 Dafür muss zunächst das Rückfallrisiko der zu behandelnden Person festgestellt werden (risk assessment). Empirisch identifizierte kriminalitätsrelevante Faktoren (Risikofaktoren), die zur Vorhersage des zukünftigen Verhaltens herangezogen werden, sind eine kriminelle Vorgeschichte, antisoziale Persönlichkeit und Kognitionen, antisozialer Umgang (Big Four), familiäre und schulische oder berufliche Probleme, mangelnde Einbindung in normkonforme Freizeitaktivitäten und Alkohol- oder Drogenprobleme (Central Eight).354 Nach dem Bedürfnisprinzip (need principle) soll die Behandlung auf die kriminogenen Merkmale der zu behandelnden Person abzielen. Darunter versteht man die dynamischen, also veränderbaren Risikofaktoren, deren Beeinflussung die Rückfallwahrscheinlichkeit des Täters bzw. der Täterin verringern soll. Da die Straftäterbehandlung die Vermeidung von Rückfälligkeit bezweckt, müssen die spezifischen Behandlungsmaßnahmen an den in352  Andrews u. a. 1990, S. 372. Präziser formuliert müsste die Fragestellung eigentlich „What works how with whom under which conditions?“ heißen, Steller 1994, S. 10. Zusammenfassende Beiträge zu den Prinzipien wirksamer Straftäterbehandlung finden sich bei Endres / Schwanengel 2015, S. 293 ff.; Lösel 2012, 986 ff. und Lösel 2016, S.  17 ff. 353  Andrews u. a. 1990, S. 374; Andrews / Bonta / Hoge 1990, S. 20, 23 ff. 354  Andrews / Bonta 2010, S. 47 f., 58 ff.

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dividuellen kriminalitätsrelevanten Bedürfnissen des Täters ausgerichtet und danach ausgewählt werden. Im Gegensatz zu diesen kriminalitätsrelevanten Faktoren wurde bei anderen Merkmalen wie einer Steigerung des Selbstbewusstseins ohne Einwirkung auf kriminelle Neigungen, körperliche Bewegung oder der Bearbeitung unbestimmter persönlicher oder emotionaler Probleme kein Zusammenhang mit dem Rückfallverhalten festgestellt (noncrimonogenic needs).355 Das Ansprechbarkeitsprinzip (responsivity principle) sieht vor, dass Methode und Gestaltung der Behandlung an die individuellen Fähigkeiten und Lernmodalitäten der zu behandelnden Person angepasst werden. Damit spielen bei der Auswahl der Behandlungsmaßnahmen nicht nur die Bedürfnisse des Täters oder der Täterin eine Rolle, sondern auch die Eigenschaften und Rahmenbedingungen des einzelnen Falles, die die Effektivität einer bestimmten Maßnahme am wahrscheinlichsten erscheinen lassen. Bei den meisten Personen mit antisozialen Verhaltensweisen haben sich kognitiv-verhaltenstherapeutische Maßnahmen, die eine aktive Teilnahme durch Rollenspiele oder ähnliches fordern, als am wirksamsten erwiesen.356 Dagegen setzen psychoanalytische oder klientenzentrierte Therapien ein hohes Maß an verbalen Fähigkeiten und Motivation voraus, die bei den meisten inhaftierten Straftätern und Straftäterinnen nicht gegeben sind.357 In ihrer Meta-Analyse von 1990 haben Andrews u. a. ihre Prinzipien angemessener Behandlung auf ihren Beitrag zur Reduzierung der Rückfälligkeit untersucht. Während bei einer unangemessenen Behandlung, in der die drei Prinzipien keine Berücksichtigung fanden, eine Effektstärke von phi = –0.06 ermittelt wurde, erzielte eine angemessene Behandlung eine Effektstärke von phi = 0.30. Rein punitive Sanktionen zeigten einen Effekt von phi = –0.07. Auch bei den Studien, die sich ausschließlich mit der Behandlung Jugendlicher befassten, zeigte sich die Wirksamkeit einer angemessenen Behandlung mit phi  =  0.29, im Gegensatz zur unangemessenen Behandlung mit phi = –0.07 und zu rein punitiven Sanktionen mit phi = –0.06.358 Diese Ergebnisse wurden durch weitere Untersuchungen zur allgemeinen Straf­ ­ täterpopulation359 und zu speziellen Tätergruppen (Frauen, Gewalt- oder Sexualstraftätern)360 bestätigt. Auch in zwei weiteren Meta-Analysen, die 355  Andrews u. a. 1990, S. 374 f.; Andrews / Bonta / Hoge 1990, S. 31 ff.; Andrews /  Bonta 2010, S. 48 f. 356  Siehe Kap. B. II. 3. b) jj). 357  Andrews u. a. 1990, S. 375 f.; Andrews / Bonta / Hoge 1990, S. 20, 35 ff.; Andrews / Bonta 2010, S. 49 ff. 358  Andrews u. a. 1990, S. 382 f.; für ihre Meta-Analyse verwendeten sie u. a. die Daten von Whitehead / Lab 1989. 359  Antonowicz / Ross 1994. 360  Dowden / Andrews 1999a; Dowden / Andrews 2000; Hanson u. a. 2009.



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sich mit der Wirksamkeit der Prinzipien angemessener Behandlung ausschließlich bei Jugendlichen beschäftigten, zeigten sich sehr hohe Effektstärken, wenn die drei Prinzipien beachtet wurden.361 In einigen Ländern wie Kanada, Großbritannien, Australien und Neuseeland werden die Prinzipien wirksamer Straftäterbehandlung bereits weitgehend berücksichtigt.362 Insbesondere in England und Wales führte die Einführung des National Offender Management Service (NOMS) im Jahr 2004 zu einem durchgängigen risk / need assessment in der Bewährungshilfe und intramuralen Straftäterbehandlung. Dies erfolgt durch den Einsatz des Offender Assessment System (OASys), das als Bewertungs-, Dokumentations- und Evaluationssystem die Risikofaktoren und kriminogenen Bedürfnisse von Straftätern beurteilt und den Erfolg oder Misserfolg von Behandlungsmaßnahmen erfasst.363 bb) Das Good Lives Model (GLM) Als Alternative zum RNR-Modell haben Ward und Kollegen das Good Lives Model (GLM) entwickelt. Ausgangspunkt ist die Kritik am RNRModell, dass es für eine Resozialisierung der zu behandelnden Person nicht ausreiche, allein die Risikofaktoren in den Blick zu nehmen. Vielmehr sei es zur Reduzierung der Rückfallwahrscheinlichkeit erforderlich, die Person mit den Mitteln auszustatten, die sie benötige, um ihre individuellen Lebensziele auf normkonforme Weise zu erreichen und ihr damit zu einem erfüllten Leben zu verhelfen. Das GLM entspringt der humanistischen und positiven Psychologie, die weniger defizitorientiert arbeitet, sondern bei der Behandlung von Personen deren Stärken und Ressourcen in den Mittelpunkt stellt.364 Nach Ward und Kollegen entwickelt jeder Mensch einen, wenn auch unbewussten, Good Lives Plan, in dem er verschiedene Lebensziele formuliert. Diese Ziele beruhten auf grundlegenden menschlichen Bedürfnissen (primary human goods), die jeder Mensch nach seinen Vorstellungen und Interessen unterschiedlich gewichte und in seine Lebensziele übersetze. Würden diese Ziele erreicht und damit die menschlichen Bedürfnisse befriedigt, führe dies 361  Dowden / Andrews

1999b, S.  22 f.; Koehler u. a. 2013, S. 30. 2004, S. 243; Ward / Melser / Yates 2007, S. 209. 363  Wirth 2007b, S. 327. Zur Umsetzung von NOMS und dem Einsatz von OASys siehe in der deutschen Literatur ausführlich Matt / Hentschel 2007. Als mit OASys vergleichbares System wurde der Einsatz von „Asset“ zur Beurteilung jugendlichen Straftäter eingeführt, Robinson / Crow 2012, S. 94. 364  Ward / Brown 2004, S. 244; Ward / Maruna 2007, S. 107 ff.; eine ausführliche Kritik des RNR-Modells findet sich bei Ward / Melser / Yates 2007. 362  Ward / Brown

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B. Grundlagen des Jugendstrafvollzugs

zu einem starken Wohlbefinden und fördere die Identitätsentwicklung.365 Zur Einordnung solcher grundlegenden Bedürfnisse nennen Ward und Maruna zehn nicht abschließende Kategorien: Leben (körperliche und psychische Gesundheit, sexuelle Befriedigung u. a.), Wissen, Erfolg in Beruf und Freizeit, Autonomie, innerer Frieden, Freundschaft (umfasst auch Familie und Partnerschaft), Gemeinschaft, Lebenssinn, Glück und Kreativität.366 Durch ihre Verhaltensweisen versuchten Menschen diese Lebensziele zu erreichen. Dafür seien jedoch gewisse Fertigkeiten und Umstände (instrumental oder secondary goods) erforderlich, die sich aus den persönlichen Stärken und Vorlieben (internal conditions) und der Umwelt und Gelegenheiten (external conditions) ergäben.367 Persönliche Probleme bis hin zu kriminellen Verhaltensweisen ergäben sich aus Fehlern im Good Lives Plan. Diese könnten aus einer Unausgewogenheit des Lebensplanes, aus Konflikten zwischen einzelnen Bedürfnissen oder aus einer mangelhaft ausgeprägten Fähigkeit, den Plan den sich verändernden Umständen anzupassen, resultieren oder darauf beruhen, dass die Ziele mit den gegebenen Mitteln nicht erreicht werden könnten. Eine Behandlung müsse nun mit Rücksicht auf die individuellen Stärken und Fähigkeiten der zu behandelnden Person und die situativen Bedingungen einen insbesondere auch nach Entlassung aus dem Vollzug funktionierenden Good Lives Plan entwickeln und den Täter mit Mitteln und Fertigkeiten ausstatten, diesen Plan umsetzen und aufrechterhalten zu können.368 Nach Ward und Kollegen soll das GLM das RNR-Modell nicht ersetzen, sondern lediglich eine Perspektivänderung herbeiführen, indem auch die Stärken der zu behandelnden Personen berücksichtigt und die Behandlungsziele positiv formuliert werden. Neben der Stärken- und Ressourcenorientierung sollten Risikofaktoren reduziert werden (twin focus). Insbesondere gebe es die criminogenic needs auch im GLM, sie stellten dort nur die Faktoren dar, die die zu behandelnde Person daran hindere, ihre Lebensziele mit sozial anerkannten Mitteln zu erreichen.369 Die Stärken des GLM liegen darin, positive Rahmenbedingungen für eine Behandlung zu schaffen, die durch eine Wertschätzung des Täters bzw. der Täterin, nicht jedoch seiner bzw. ihrer Tat, gekennzeichnet sind und es mit Blick auf das erreichbare bessere Leben möglich machen, sie zu einer aktiven Teilnahme an Behandlungsmaßnahmen 365  Ward / Brown

2004, S. 246 f.; Ward / Maruna 2007, S. 112 ff. 2007, S. 113. 367  Ward / Brown 2004, S. 246 f. 368  Ward / Brown 2004, S. 248. 369  Ward / Maruna 2007, S. 125  ff.; Whitehead / Ward / Collie 2007, S. 581, 594 f. Siehe zur Einordnung der criminogenic needs als Hindernisse, ein erfülltes Leben zu erreichen, die Ausführungen von Ward / Steward 2003. 366  Ward / Maruna



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zu motivieren.370 Allerdings gibt es bisher kaum Forschung zum GLM, sodass dessen Wirksamkeit empirisch nicht gesichert ist.371 4. Prisonisierung und Vollzugsgestaltung Neben der Straftäterbehandlung in Form von Programmen und einzelnen Maßnahmen kann auch die Inhaftierung an sich Einfluss auf den Entwicklungsprozess einer bzw. eines Jugendstrafgefangenen und damit auch auf die anschließende Legalbewährung haben. Sie ist ein bedeutender Einschnitt in das Leben und die Entwicklung einer bzw. eines Jugendlichen. Sie bringt nicht nur den Verlust von Freiheit mit sich, sondern beschränkt zudem Autonomie und Privatsphäre, verhindert weitgehend soziale und intime Kontakte zu Familie und Freunden außerhalb der Anstalt und begrenzt den Erhalt und Genuss materieller und immaterieller Güter. Hinzu kommen eine ständige Kontrolle und die Pflicht, sich an die institutionellen Regeln und Bedingungen anzupassen.372 Goffman hat für Anstalten, in denen Individuen in einer nicht freiwillig gewählten Gemeinschaft von der übrigen Gesellschaft weitgehend abgeschnitten ein streng organisiertes und reglementiertes Leben führen, den Begriff der „totalen Institution“ geprägt. Der Strafvollzug sei klassisches Beispiel einer solchen Institution.373 Gerade im Jugendalter, in dem Autonomie und Verantwortungsübernahme wichtige Faktoren im Entwicklungsprozess zu einer persönlichen Identität sind, erscheinen solche Bedingungen auf dem Weg zu einem straffreien Leben kontraproduktiv.374 Der folgende Abschnitt zeigt, welche Auswirkungen der Aufenthalt in einer Vollzugsanstalt für Jugendliche haben kann und wie diesen ggf. entgegengewirkt werden kann. a) Prisonisierung Nach Clemmer ist Prisonisierung, in Anlehnung an den Begriff der Amerikanisierung von Immigranten, die Anpassung der Strafgefangenen an die Sitten, Werte und Regeln der Mitinsassen, die die anstaltsinterne Kultur ausmachen. Jede bzw. jeder Gefangene durchlaufe diesen Prisonisierungspro370  Suhling / Pucks / Bielenberg 2012, S.  251  ff.; Whitehead / Ward / Collie 2007, S. 587. 371  Es gibt lediglich einige Fallstudien zur Anwendung des GLM bei Sexual- und Gewalttätern (Lindsay u. a. 2007; Whitehead / Ward / Collie 2007) sowie eine qualitative Untersuchung anhand von Interviews nach Entlassung (Willis / Ward 2011), die jedoch von Ward und Kollegen selbst durchgeführt wurden. 372  Greve / Hosser 1998, S. 88 f. 373  Goffman 1961, S. 4 f. 374  Greve / Hosser 1998, S. 89; Hosser / Bosold 2008b, S. 173.

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B. Grundlagen des Jugendstrafvollzugs

zess, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung.375 Während dieses Anpassungsprozesses würden kriminelle Einstellungen und Verhaltensweisen der Mitgefangenen übernommen, die sich insbesondere durch eine feindselige Einstellung gegenüber Anstaltsbediensteten, einer mangelnden Bereitschaft zur Mitarbeit und durch abweichendes Verhalten während des Vollzugs kennzeichneten. Damit einher gehe die Gefährdung der Resozialisierung und Wiedereingliederung des Gefangenen.376 aa) Prisonisierungstheorien Zur Erklärung der bei Strafgefangenen beobachteten Prisonisierung gibt es zwei Grundvorstellungen. Nach Sykes passen sich Gefangene an die Gefängniskultur wegen der Gefängnisbedingungen an (Deprivationsmodell). Die Entstehung einer Gefängnissubkultur und die Anpassung der Insassen seien Teil der Situationsbewältigung des Einzelnen, die aufgrund der Deprivationen, Einschränkungen und Frustration durch das Anstaltslebens erforderlich sei, um Selbstachtung wiederherzustellen, bei den Mitinsassen akzeptiert zu werden und Einsamkeit zu bekämpfen.377 Als „pains of imprisonment“, die die Deprivation im Gefängnisalltag ausmachen, nennt Sykes neben dem Verlust der Freiheit den Entzug materieller und immaterieller Güter, die Verhinderung heterosexueller Beziehungen, die Begrenzung von Autonomie und den Mangel an Sicherheit vor den Mitinsassen. Es handle sich dabei um starke psychische Belastungen, die mit dem Verlust der Freiheit einhergingen.378 Das Gefühl des Eingesperrtund Ausgeliefertseins führt leicht zur Solidarität mit den Mitgefangenen und eine sichere Stellung und Ansehen in der Gruppe steigert das Selbstwertgefühl. Gerade auch aufgrund der Einschränkung familiärer und freundschaft­ licher Beziehungen mit Personen außerhalb der Anstalt gewinnen soziale Kontakte zu anderen Insassen an Bedeutung. Insbesondere streben Jugend­ liche nach Anerkennung, was die Bedeutung der Peergroup im Jugendalter hervorhebt.379 Zudem führen der Mangel an materiellen Gütern und die Verwehrung von Dienstleistungen zu unkontrolliertem Handel und Tauschgeschäften unter den Gefangenen.380 375  Clemmer

1958, S. 299. 2008, S. 172. 377  Sykes 1958, S. 82 f. 378  Sykes 1958, S. 63 ff. 379  Greve / Hosser 1998, S. 92; Tauss 1992, S. 52 ff. 380  Lang 2007, S. 40. Eine rege informal economy, insbesondere bei Drogen, stellte auch Crewe 2009, S. 369 ff. bei seiner Untersuchung der englischen Strafanstalt Wellingborough fest. 376  Hosser



II. Kriminologische Grundlagen99

Einen anderen Ansatzpunkt hat das Importationsmodell (auch kulturelle Übertragungstheorie), das auf die Arbeit von Irwin und Cressey zurückgeht. Danach bringen die Strafgefangenen bei Inhaftierung bereits bestimmte Verhaltensweisen, Einstellungen und Strukturen mit, die die Gefängniskultur prägen. Die Anstaltskultur entstehe somit nicht erst aufgrund der Gegebenheiten innerhalb der Institution, sondern sei selbst ein Spiegelbild des außerhalb der Anstalt existierenden kriminellen Wertesystems. Maßgeblich für die Entstehung der Subkultur und die Anpassung des einzelnen Gefangenen daran seien die vorinstitutionellen individuellen Voraussetzungen der Insassen.381 Auch wenn bei der Übertragbarkeit der aus der anglo-amerikanischen Forschung stammenden Ergebnisse Vorsicht geboten ist, handelt es sich dennoch um wertvolle Ansätze, um die auch in deutschen Vollzugsanstalten vorhandene Subkulturbildung und Machthierarchie zu erklären.382 So finden sich in der deutschen Forschung und Literatur immer wieder Rückgriffe und Verweise auf das Deprivations- und das Importationsmodell. Bspw. macht Harbordt in seiner Studie zur Subkultur des Gefängnisses vorwiegend die Struktur und Politik der Anstalt für Inhalt und Ausprägung der Prisonisierung verantwortlich, erkennt jedoch auch, dass das frühere soziale Milieu und die Erfahrungen der Insassen eine Rolle spielen.383 Hürlimann stellt in seiner Untersuchung zu Führereigenschaften und Einflusshierarchien in der Jugendstrafanstalt Rockenberg und der Erwachsenenanstalt Butzbach fest, dass kriminelle Erfahrung, bisherige Hafterfahrung, Persönlichkeit und die Beteiligung am Vollzugsgeschehen für die Stellung in der Gefangenengemeinschaft ausschlaggebend sind.384 Dies lässt den Schluss zu, dass jedenfalls auch außerinstitutionelle Bedingungen eine Rolle bei der Subkulturbildung spielen.385 Auch Ortmann findet in seiner Studie zu den Wirkungen von Maßnahmen in der sozialtherapeutischen Anstalt der JVA Tegel Zusammenhänge zwischen Vollzugsgestaltung, vorinstitutioneller Biografie und der Prisonisierung.386 Damit weisen die deutschen Forschungsergebnisse darauf hin, dass sowohl die Gefängnisbedingungen als auch die Einstellungen und Erfahrungen der Insassen vor Inhaftierung die Entstehung und Ausprägung der Prisonisierung beeinflussen.387 Ein solcher integrativer Erklärungsansatz findet 381  Irwin / Cressey

1962, S. 145. 1996, S. 6 f. 383  Harbordt 1972, S. 42 ff. 384  Hürlimann 1993, S. 211 ff. 385  Dünkel 1996, S. 7. 386  Ortmann 1987, S. 371 ff. 387  So auch Bruns 1989, S. 44; Dünkel 1996, S. 7; Geissler 1991, S. 38; Klingemann 1975, S.  197 f.; Lambropoulou 1987, S. 94 ff.; Lang 2007, S. 45; Neubacher u. a. 2011, S. 137; Tauss 1992, S. 39, 263 ff. 382  Dünkel

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B. Grundlagen des Jugendstrafvollzugs

sich auch in der internationalen Forschung bereits bei Thomas (1977) wieder, der die Einflussvariablen beider Erklärungsmodelle bei jungen Erwachsenen vergleichend untersuchte und ist mittlerweile anerkannt. Danach ist es möglich, der subkulturellen Ausprägung im Strafvollzug einerseits durch die Vollzuggestaltung, andererseits durch Behandlung von Verhaltenstendenzen und Einstellungen entgegenzuwirken.388 bb) Prisonisierungseffekte Prisonisierungseffekte sind die negativen Sozialisations- und Entwicklungsfolgen, die aufgrund der Inhaftierung entstehen. Neben den Effekten, die sich aus der Anpassung des Insassen an die Gefängnissubkultur ergeben, werden zunehmend auch solche Effekte untersucht, die aus der allgemeinen Haftsituation heraus entstehen. Insgesamt bringt der Strafvollzug eine hohe psychische Belastung der Gefangenen mit sich. Insbesondere in der Anfangsphase treten Angst, Depressivität und ein geringes Selbstwertgefühl auf. Damit einher geht eine erhöhte Suizidrate sowie eine Häufung von Disziplinarverstößen. Belastungen aufgrund des Autonomieverlusts, des Eingesperrtseins, des Verlusts der bisherigen sozialen Kontakte und des Konflikts mit Mitinsassen bleiben jedoch auch während des weiteren Vollzugsverlaufs bestehen und treten vor allem bei langen Haftstrafen verstärkt auf.389 Im Rahmen des vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen durchgeführten Projekts „Entwicklungsfolgen der Jugendstrafe“ wurde die Veränderung von Selbstwert, Normorientierung, Neutralisierung des eigenen Verhaltens und moralische Urteilsfähigkeit, Aggression, Depressivität und Einsamkeitsempfinden von jugendlichen Strafgefangenen zwischen 14 und 24 Jahren während ihrer Haftzeit untersucht.390 Hinsichtlich kriminalitätsrelevanter Einstellungen und Verhaltenstendenzen, wie Aggressivität, Norm­ orientierung, Neutralisierung des eigenen Verhaltens und moralische Urteilsfähigkeit, die durch bewährte standardisierte Befragungsinstrumente erfasst wurden, konnten keine signifikanten Veränderungen während des Haftverlaufs festgestellt werden. Allerdings erhöhte sich die emotionale Bindung an anstaltsinterne Gruppen, was eine Einbettung in die Gefangenensubkultur kennzeichne, und durch die Inhaftierung wurde ein Verlust an Autonomie

388  Thomas

1977, S.  137 ff., 144 f. 1998, S. 89 ff.; Hosser 2008, S. 172, 176 f. Zu Aspekten des Langstrafenvollzugs im internationalen Vergleich siehe Drenkhahn 2009; Drenkhahn / Dudeck 2007. 390  Hosser 2007, S. 8 f.; Hosser / Bosold 2008b, S. 167 f.; Hosser / Greve 2002, S. 430. Siehe zu dieser Untersuchung auch Kap. B. II. 3. a) ii). 389  Greve / Hosser



II. Kriminologische Grundlagen101

durchlebt.391 Aufgrund des anfänglichen „Inhaftierungsschocks“ wurden zu Beginn der Haftzeit insbesondere ein niedriger Selbstwert sowie erhöhte Depressivität und Einsamkeit festgestellt, deren Werte sich jedoch zum Haft­ ende hin an die Werte der Normalbevölkerung anglichen.392 Weiterhin zeigte sich bei Inhaftierten, die das Anstaltsklima als positiv und resozialisierungsfördernd empfanden, eine weit höhere Orientierung an gesellschaftlichen Normen als bei Inhaftierten, die das Anstaltsklima mit Unterdrückung und Angst beschrieben. Bei Gefangenen mit ausgeprägter Bindung an Mitinsassen wurde zudem bei Haftende eine erhöhte Aggression festgestellt.393 Im Rahmen einer Rückfalluntersuchung wurden als Prädiktoren der Rückfälligkeit neben dem Alter Aggressivität und moralische Urteilsfähigkeit ermittelt.394 Auch ältere Untersuchungen zur Prisonisierung in deutschen Vollzugsanstalten zeigen ähnliche Ergebnisse im Hinblick auf einzelne Prisonisierungseffekte. Die Untersuchung von Ortmann in der JVA Tegel, für die er eigens einen Fragebogen und eine Erfassungsskala zur Prisonisierung entwickelte, zeigte, dass sich die Prisonisierungswerte der sozialtherapeutischen Gefangenen kaum von denen der Gefangenen des Normalvollzugs unterschieden. Insbesondere war keine Veränderung der Einstellungen und Werthaltungen, die mit der kriminellen Karriere verknüpft sind, ersichtlich. Autonomiebegrenzung, negative Einstellungen gegenüber der Anstalt und deren Bediensteten, Angst vor Mitinsassen bestanden auch in der sozialtherapeutischen Abteilung in hohem Maße.395 Eine Bindung an Freunde außerhalb der Anstalt scheine einer Prisonisierung jedoch entgegenzuwirken.396 Ähnliche Effekte zeigten sich auch in der Studie von Tauss zur sozialtherapeutischen Abteilung in der Jugendstrafanstalt Plötzensee. Anhand von Ortmanns Fragebogen zur Prisonisierung wurde in dieser Untersuchung zudem festgestellt und als soziale Desintegration interpretiert, dass die emotionale Bindung zu Außengruppierungen während des Haftverlaufs stark abnahm, demgegenüber fand jedoch keine Zunahme der emotionalen Integration innerhalb der Anstalt statt. Allerdings zeigten stark subkulturell inte­ grierte Jugendliche auch verstärkte oppositionelle Einstellungen gegenüber der Anstalt.397

391  Hosser / Bosold

2008b, S. 169. 2002, S. 500 f.; Hosser / Bosold 2008b, S. 170, 173. 393  Greve / Hosser 2002, S. 493 f.; Hosser / Greve 2002, S. 432. 394  Hosser / Bosold 2008b, S. 171 f. 395  Ortmann 1987, S. 302 ff. 396  Ortmann 1987, S. 357. 397  Tauss 1992, S. 271 ff. 392  Greve / Hosser

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B. Grundlagen des Jugendstrafvollzugs

Schließlich untersuchten Dahle und Steller die Einflüsse von persönlichen Merkmalen und Vollzugsgestaltung auf soziale Einstellungen und die Wahrnehmung der Anstaltsatmosphäre. Bei einem Vergleich der jugendlichen Gefangenen der sozialtherapeutischen Abteilung mit den Inhaftierten des Normalvollzugs der JVA Neumünster ergab sich, dass die Gefangenen der sozialtherapeutischen Abteilung eine erhöhte Behandlungsorientierung der Anstalt, weniger Kontrolle und Disziplin, eine offenere Kommunikation mit den Vollzugsbeamten und der Gefangenen untereinander wahrnahmen. Zudem zeigten sich die Inhaftierten der Sozialtherapie weniger aggressiv, weniger behandlungsablehnend und weniger feindselig gegenüber den Vollzugsbeamten. Damit bestätigten sich die Erwartungen von Dahle und Steller, dass sich eine behandlungsorientierte Vollzugsgestaltung positiv im Anstaltsklima niederschlägt und dies von den Insassen auch wahrgenommen wird.398 Hinsichtlich der persönlichen Merkmale wie Schulabschluss, Beruf und Deliktsart konnten keine signifikanten Unterschiede festgestellt werden. Allein Inhaftierte mit Hafterfahrung ließen insgesamt einen erhöhten Prisonisierungsgrad erkennen, indem sie sich als ablehnend gegenüber einer Behandlung und den Vollzugsbeamten, weniger sozialorientiert und aggressiver beschrieben.399 b) Vollzugsgestaltung Da eine Prisonisierung die Resozialisierung der Strafgefangenen ungünstig beeinflussen oder gar verhindern kann, müssen Wege gefunden werden, die negativen Einflüsse einer Strafhaft möglichst gering zu halten.400 Ausgehend von den theoretischen Grundlagen kann den schädlichen Auswirkungen der Prisonisierung einerseits durch die Vollzugsgestaltung, andererseits durch die Behandlung von Verhaltenstendenzen und Einstellungen der Vollzugsinsassen gegenüber getreten werden.401 Die Vollzugsgestaltung lässt sich in einen institutionellen, einen strukturellen und einen klimatischen Bereich aufteilen, aufgrund der zwischen den Bereichen bestehenden Wechselbeziehungen ist eine klare Trennung jedoch oft kaum möglich. Zu den institutionellen Haftbedingungen gehören die Größe, Räumlichkeiten und Ausstattung, die Personalsituation und das Konzept und die Organisationsstruktur der Anstalt.402 Insbesondere die sicherheits- oder behandlungsorientierte Ausrichtung von Anstalten kann das Haft­ erleben der Insassen unterschiedlich beeinflussen. In einem Vergleich zweier 398  Dahle / Steller

1990, S.  43 ff. 1990, S. 40 ff. 400  Dahle / Steller 1990, S. 48; Ortmann 1987, S. 184, 356. 401  Thomas 1977, S. 145. 402  Dahle / Steller 1990, S. 33. 399  Dahle / Steller



II. Kriminologische Grundlagen103

englischer Strafanstalten, der sicherheitsorientierten Anstalt Albany und der liberaler ausgerichteten Anstalt Long Lartin, untersuchten Sparks, Bottoms und Hay unter den Aspekten der Sicherheit und Ordnung die Legitimität einer Anstalt. Unter Legitimität verstehen die Autoren gerechte Vollzugsentscheidungen und faires Verhalten der Vollzugsbediensteten in der subjektiven Wahrnehmung der Insassen und der Bediensteten selbst. Legitimität verleihe dem Anstaltsregime Glaubwürdigkeit und sei die Grundlage von Macht, die wiederum durch die Legitimität selbst begrenzt würde.403 Zwar ergab die Untersuchung, dass in Albany weitaus mehr Disziplinierungen stattfanden, die Insassen sich hier jedoch insgesamt sicherer fühlten und die Bediensteten überwiegend als vernünftig und fair einschätzten. Die vermehrten Kontrollen wurden von den Inhaftierten als belästigend empfunden, allerdings traf diese Belästigung alle Insassen gleichermaßen.404 Insgesamt befürworteten jedoch mehr Insassen das liberalere Regime von Long Lartin, das ihnen mehr Freiheiten ließ und ein weniger angespanntes Zusammenleben ermöglichte.405 Andere Untersuchungen zeigten auch, dass eine verstärkte Sicherheitsorientierung und die damit verbundene gesteigerte Kontrolle und Bevormundung der Insassen die Bereitschaft erhöht, sich mit anderen Gefangenen in Gruppen zusammenzuschließen und Subkulturbildung verstärkt. Insbesondere entständen dadurch Ärger, Feindseligkeit und ggf. auch Aggressivität der Insassen gegenüber der Anstalt und ihren Bediensteten.406 Deshalb wird in der Forschung zunehmend empfohlen, das Vollzugskonzept weniger an „passiver“ Sicherheit bspw. in Form von Wegschließen oder elektronischer Überwachung, sondern mehr an „dynamischer“ Sicherheit auszurichten. Dabei sollen positive Beziehungen und Kommunikation zwischen Gefangenen und Bediensteten im Mittelpunkt stehen.407 Die strukturelle Haftsituation beschreibt die individuelle Lebensgestaltung der Vollzugsinsassen. Neben dem geplanten Behandlungsablauf gehören zu diesem Bereich die individuellen Einschränkungen hinsichtlich der Bewegungsfreiheit, der eigenständigen Lebensführung und Kontakten innerhalb 403  Sparks / Bottoms / Hay

1996, S. 84 ff. 1996, S. 123 f., 186 ff.; Sparks / Bottoms 2008, S. 93 f. 405  Sparks / Bottoms / Hay 1996, S. 203. 406  Akers / Hayner / Gruninger 1994, S.  415 f., 420 f.; Hosser / Greve 2002, S. 432; Lambropoulou 1987, S. 78 ff., 94 f., 264; Street 1965, S. 47 ff., 55; vgl. auch Bosold /  Hosser / Lauterbach 2007, S. 267; Dolde 1994, S. 107; Harbordt 1972, S. 45, 59; Liebling / Crewe 2012, S. 908 f. 407  Dünkel 2009, S. 171 ff.; Dünkel 2003, S. 25 ff.; van Zyl Smit / Snacken 2009, S. 263 ff. Auch Regel 88.3 der European Rules for juvenile offenders subject to sanctions or measures (ERJOSSM) fordert einen dynamischen Ansatz: „Staff shall develop a dynamic approach to safety and security which builds on positive relationships with juveniles in the institutions.“ 404  Sparks / Bottoms / Hay

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B. Grundlagen des Jugendstrafvollzugs

und außerhalb der Anstalt. Bspw. sollen zum Ende der Haftzeit aufgrund der Entlassungsvorbereitung mehr Lockerungen gewährt und soziale Kontakte außerhalb der Anstalt gefördert werden.408 Insbesondere Lockerungen und Außenkontakte können subkulturelle Einflüsse vermindern und eine angespannte Haftsituation entlasten.409 Ein weiterer wichtiger Aspekt bei der Vollzugsgestaltung ist das Anstaltsklima. In Anlehnung an die Wirtschaftswissenschaften und die Organisa­ tionspsychologie versteht man unter dem Anstaltsklima eine einheitliche sozialpsychologische Grundstimmung der Gefangenen, die von einer gewissen Dauerhaftigkeit gekennzeichnet ist.410 Diese Grundstimmung wird durch eine Vielzahl von internen und externen Einflussfaktoren geprägt. Nach einer Untersuchung von Liebling und Arnold zur Lebensqualität in englischen Strafanstalten seien dabei Sicherheit, Ordnung, Fairness, Respekt, Vertrauen, Menschlichkeit, familiärer Kontakt, der Umgang von Bediensteten mit Insassen und der Umgang der Insassen untereinander von Bedeutung.411 Ein humaner Umgang im Strafvollzug ist durch Aspekte der respektvollen Kommunikation und Wahrung der Privatsphäre gekennzeichnet. Dazu gehören bspw. das Anklopfen von Bediensteten vor Betreten des Haftraums oder eine Anrede mit „Sie“ und „Herr …“.412 Wichtig für ein ausgewogenes Anstaltsklima ist zudem die ausreichende und sinnvolle Beschäftigung und Freizeitgestaltung, um einen geregelten Tagesablauf herzustellen und Langeweile vorzubeugen.413 Weiterhin haben auch die Größe, Struktur und Ausstattung der Anstalt Auswirkungen auf das Anstaltsleben. Im Jugendstrafvollzug eignet sich insbesondere der Wohngruppenvollzug, in dem in einer von bestimmten Vollzugsbeamten betreuten Art Wohngemeinschaft ein soziales Trainingsund Interaktionsfeld geschaffen wird und ein eigenverantwortliches Leben in Gemeinschaft im Vordergrund steht, um eine persönliche, von Vertrauen geprägte Atmosphäre zu schaffen.414 In der Untersuchungen von Liebling und Arnold zur Lebensqualität in und der moralischen Leistung von Vollzugsanstalten in England ergaben sich aus Sicht der Gefangenen bedeutsame Unterschiede zwischen Anstalten. Zur Leistung einer Vollzugsanstalt im Hinblick auf die Lebensqualität der Insassen prägte Liebling hier den Begriff „moral performance“.415 408  Dahle / Steller

1990, S. 33. 1994, S. 106 f.; Grosch 1995, S. 17 ff. 410  Drenkhahn 2011, S. 25. 411  Liebling 2009, S. 15; Liebling / Arnold 2004, S. 134, 154 f. 412  Drenkhahn 2011, S. 26 f. 413  Drenkhahn 2010, S. 264. 414  Bruns 1989, S. 25 ff.; J. Walter 2006b, S. 374. 415  Liebling 2009, S. 15 f.; Liebling / Arnold 2004, S. 168 ff., 197, zur Ausgestaltung von moral performance siehe S. 442 ff. 409  Dolde



II. Kriminologische Grundlagen105

c) Fazit Während der Jugendstrafe wird der Entwicklungsprozess eines bzw. einer Jugendstrafgefangenen bereits durch Faktoren beeinflusst, die der Inhaftierung immanent sind. So erfolgt häufig eine Anpassung des oder der Jugendlichen an die anstaltsinternen Sitten, Werte und Regeln, mit der Folge, dass abweichende Einstellungen und Verhaltensweisen der Mitgefangenen übernommen werden und sich verfestigen. Zudem bringt die Inhaftierung hohe psychische Belastungen wie ein sinkendes Selbstwertgefühl, Depressivität, Aggressivität oder Angst mit sich, die wiederum die Behandlung und damit auch eine künftige Legalbewährung der Jugendstrafgefangenen beeinflussen können.416 Neben verschiedenen Maßnahmen, die der Behandlung der Jugendstrafgefangenen dienen, ist es möglich, diesen schädlichen Einflüssen der Prisonisierung bereits durch Vollzugsgestaltung entgegenzuwirken. So lässt eine behandlungs- und weniger sicherheitsorientierte Vollzuggestaltung den Gefangenen mehr Freiheiten, ermöglicht ein entspanntes Zusammenleben und beugt insgesamt, insbesondere auch durch eine Öffnung des Vollzugs mit vermehrten Außenkontakten, subkulturellen Einflüssen vor. Eine behandlungsorientierte Vollzugsgestaltung wirkt sich damit positiv auf das Anstaltsklima aus.417 Es spielen jedoch auch die Sicherheit und Ordnung innerhalb der Anstalt eine bedeutende Rolle für ein entspanntes und angstfreies Zusammenleben. Neben dem Sicherheitsempfinden sind zudem Aspekte wie das Erleben von Fairness, Vertrauen und Respekt, die der Anstalt Glaubwürdigkeit und damit Legitimität verschaffen, bedeutsam.418 Auch wenn die wenigen Untersuchungen zur Prisonisierung im deutschen Jugendstrafvollzug419 eine mögliche Beeinflussung der negativen Haftfolgen durch die Vollzugsgestaltung bestätigen, ist weitergehende Forschung erforderlich, um langfristige und resozialisierungsbehindernde Folgen zu identifizieren und diesen wirksam entgegenwirken zu können. 5. Zusammenfassung Um untersuchen zu können, welche Rolle die Strafanzeige im Jugendstrafvollzug spielt420, war es notwendig, die für den Zielerreichungsprozess rele416  Hosser

2008, S. 172. 1990, S. 33, 43 ff.; Greve / Hosser 2002, S. 492 ff. 418  Liebling 2009, S. 15; Liebling / Arnold 2004, S. 134, 154 f.; Sparks / Bottoms /  Hay 1996, S. 84 ff. 419  Dahle / Steller 1990; Greve / Hosser 2002; Hosser / Bosold 2008b; Tauss 1992. 420  Zu den einzelnen Implikationen der Strafanzeige und ihren Auswirkungen auf die Behandlung und einzelne Maßnahmen im Jugendstrafvollzug siehe sodann Kap. D. III. 417  Dahle / Steller

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B. Grundlagen des Jugendstrafvollzugs

vanten Faktoren herauszuarbeiten. Im Jugendstrafvollzug kann auf die Entwicklung der Gefangenen einerseits durch Straftäterbehandlung in Form von Behandlungsprogrammen und einzelnen Maßnahmen und andererseits bereits durch die allgemeine Vollzugsgestaltung Einfluss genommen werden. Im Rahmen dieser Einflussnahme müssen nicht allein die vor dem Vollzug der Jugendstrafe entstandenen Sozialisationsdefizite ausgeglichen, sondern zudem auch den schädlichen Einflüssen der Inhaftierung selbst entgegengewirkt werden. Während die Kriminalitätstheorien die theoretische Grundlage der Straf­ täterbehandlung bilden und sich aus ihnen einige Möglichkeiten zum Umgang mit Jugendstrafgefangenen ableiten lassen, kann die Wirksamkeit einzelner Programme und Maßnahmen jedoch erst anhand der Forschung, insbesondere mittels Rückfalluntersuchungen, verneint oder bestätigt werden.421 Letzteres gilt ebenso für die Art und Weise der Vollzugsgestaltung, die inhaftierungsbedingten negativen Entwicklungsfolgen entgegenwirken und zudem künftige Legalbewährung fördern soll. So hat sich eine behandlungsorientierte Vollzugsgestaltung, die zudem Sicherheit und Ordnung in der Anstalt gewährleistet und sich mittels eines fairen und respektvollen Umgangs der Bediensteten Vertrauen und Glaubwürdigkeit auf Seiten der Gefangenen verschafft, mit Blick auf das Anstaltsklima, die Subkulturbildung und die Norm­ orientierung der Jugendstrafgefangenen als förderlich erwiesen.422 Aus der deutschen und internationalen Forschung zur Wirksamkeit von Programmen und Maßnahmen der Straftäterbehandlung im Jugendstrafvollzug ergeben sich teils recht unterschiedliche Ergebnisse. Während in der deutschen Forschung einzelne vollzugliche Maßnahmen wie Lockerungen, Schule und Ausbildung oder Disziplinierungen die bedeutende Rolle für die Resozialisierung spielen, liegt der Fokus der internationalen Forschung eher auf Behandlungsprogrammen als auf einzelnen Maßnahmen. In den deutschen Studien erweisen sich gerade eine frühzeitige Entlassungsvorbereitung durch Lockerungen, insbesondere der offene Vollzug oder die vorzeitige Entlassung, bei der der Entlassene durch einen Bewährungshelfer weiterbetreut wird, als rückfallvermeidend.423 Bei den wenigen Untersuchungen zu Behandlungsprogrammen wie psychosozialen Maßnahmen, Sozialen Trainingskursen und Anti-Aggressiv-Trainings konnten dagegen so gut wie keine positiven Effekte auf die Rückfälligkeit festgestellt werden.424 Letzteres wi421  Lösel

1994, S. 27. II. 4. 423  Dolde / Grübl 1996, S. 155, 262, 267, 289 ff.; Frankenberg 1999, S. 133  ff.; Lang 2007, S. 164 f. 424  Bosold / Hosser / Lauterbach 2007, S.  277; Boxberg / Bosold 2009, S. 239  ff., 241 f.; Ohlemacher u. a. 2001, S. 384 f. 422  Kap. B.



III. Rechtliche Grundlagen des Jugendstrafvollzugs107

derspricht aber gerade den in der internationalen Forschung ermittelten Effektstärken von durchschnittlich r = 0.10. Bei kognitiv-verhaltenstherapeutischen Programmen konnten sogar Effektstärken bis zu r = 0.26 ermittelt werden. Allerdings kam es dabei nicht nur auf die Art der Programme, sondern auch auf deren theoretische Einbettung sowie die strukturierte und durch Fachkräfte begleitete Umsetzung an.425 In der internationalen Forschung erwies es sich für die Behandlung von Straftätern und Straftäterinnen zudem als förderlich, den Prinzipien wirksamer Behandlung zu folgen. So ist insbesondere das Rückfallrisiko der zu behandelnden Person anhand von Risikofaktoren festzustellen. Bei der Behandlung soll der Blick dann auf solche Risikofaktoren gelegt werden, die veränderbar sind und somit das Rückfallrisiko senken können. Die Maßnahmen sind zudem an den Eigenschaften der zu behandelnden Person auszurichten.426 Die begrenzte Wirksamkeit der gegenwärtigen Behandlungspraxis im deutschen Jugendstrafvollzug, insbesondere der Behandlungsprogramme, zeigt einen hohen Bedarf an effektiven Interventionen. Insbesondere scheint es erforderlich, strukturierte und methodisch fundierte Programme durchzuführen und diese durch Forschung zu begleiten, um die einzelnen Behandlungsmaßnahmen an die sich verändernden Gegebenheiten anzupassen und mit Blick auf eine maximale Effektivität weiterzuentwickeln. Auch die international entwickelten Prinzipien wirksamer Behandlung können dabei helfen.427 Neben den Risikofaktoren sollten jedoch auch individuelle Stärken und Fähigkeit428 sowie protektive Faktoren429 Berücksichtigung finden.

III. Rechtliche Grundlagen des Jugendstrafvollzugs Das BVerfG hat im Urteil vom 31.5.2006 festgestellt, dass für den Jugendstrafvollzug keine verfassungsrechtlich ausreichende gesetzliche Grundlage bestand.430 Da der Strafvollzug in besonders schwerer Weise in die Grundrechte der Betroffenen eingreift, ist eine gesetzliche Grundlage unerlässlich. Dies hatte das BVerfG bereits 1972 entschieden, indem es die Rechtsfigur des „besonderen Gewaltverhältnisses“ für den Strafvollzug für nicht mehr 425  Kap. B.

II. 3. b). u. a. 1990, S. 382 f.; Dowden / Andrews 1999b, S. 22 f.; Koehler u. a.

426  Andrews

2013, S. 30. 427  Bereits Dolde / Grübl 1996, S. 258 f. empfahlen, die Behandlung an dynamischen Merkmalen anzusetzen, die die Rückfälligkeit begünstigen. 428  Kap. B. II. 3. c) bb). 429  Dazu Lösel / Bender 2000. 430  BVerfGE 116, 69 (80 f.).

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B. Grundlagen des Jugendstrafvollzugs

anwendbar erklärte und die Schaffung eines Strafvollzugsgesetzes forderte.431 Für den Jugendstrafvollzug kann in dieser Hinsicht nichts anderes gelten. Eine solche Gesetzesgrundlage muss allerdings auf die besonderen Anforderungen, die sich bei einem Vollzug von Freiheitsstrafen an Jugendlichen und ihnen gleichstehenden Heranwachsenden ergeben, zugeschnitten sein.432 Die Frist für die Schaffung einer solchen Gesetzesgrundlage endete mit ­Ablauf des Jahres 2007.433 Im Rahmen der Föderalismusreform wurde mit Wirkung vom 1.9.2006 die Gesetzgebungskompetenz für den Strafvollzug auf die Länder übertragen. Der Strafvollzug wurde dabei aus der konkurrierenden Gesetzgebung in Art. 74 I Nr. 1 GG gestrichen434, sodass jedes Bundesland verpflichtet war, bis zum Ablauf des Jahres 2007 ein auf den Vollzug an Jugendlichen zugeschnittenes Jugendstrafvollzugsgesetz zu schaffen. Im folgenden Abschnitt wird nun ein Blick in die einzelnen Jugendstrafvollzugsgesetze geworfen. Für die Frage nach dem richtigen Umgang mit Straftaten durch die Jugendstrafanstalt, die durch Gefangene während des Vollzugs begangen werden, und insbesondere die Fragestellung, ob und in welchen Fällen es sinnvoll ist, eine Strafanzeige zu erstatten, sind die Zielsetzung des Jugendstrafvollzugs und dessen gestalterische Umsetzung von großer Bedeutung. Aus diesem Grund werden im Folgenden die einzelnen Bestimmungen zum Ziel und zur Aufgabe des Jugendstrafvollzugs untersucht und anschließend die Bedeutung des Erziehungsgedankens und die Gestaltungsgrundsätze in den jeweiligen Gesetzen herausgearbeitet. Außerdem wird ein Blick auf die rechtlichen Grundlagen für Reaktionen auf Straftaten im Jugendstrafvollzug geworfen. Schließlich spielt es für die Entscheidung der Anstalt, ob und wann Strafanzeige gestellt werden sollte, auch eine Rolle, inwieweit die Strafzwecke bei der Entscheidungsfindung berücksichtigt werden dürfen. Dafür wird im letzten Teil dieses Kapitels das Verhältnis des Vollzugsziels zu den allgemeinen Strafzwecken erörtert. 1. Gesetzeskonzepte Die Jugendstrafvollzugsgesetze wurden durch die einzelnen Bundesländer unterschiedlich gestaltet: Die Länder Berlin, Brandenburg, Bremen, Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen-Anhalt, SchleswigHolstein und Thüringen haben gemeinsam einen Musterentwurf (sog. Neuner431  BVerfGE 33,

1 (9 f.). 69 (81 ff.). 433  BVerfGE 116, 69 (93). 434  BGBl. I 2006 S. 2034. 432  BVerfGE 116,



III. Rechtliche Grundlagen des Jugendstrafvollzugs109

Entwurf)435 entwickelt, sodass deren Gesetze sich, trotz Unterschieden im Detail, stark ähnelten.436 Bayern, Hamburg und Niedersachsen integrierten das Jugendstrafvollzugsrecht in ihre allgemeinen Strafvollzugsgesetze.437 Ob diese konzeptionelle Umsetzung in einem allgemeinen Strafvollzugsgesetz den sich vom Erwachsenenstrafvollzug deutlich unterscheidenden Bedingungen und Anforderungen des Jugendstrafvollzugs gerecht wird, ist durchaus fragwürdig. Zumal auch den Vorgaben des BVerfG, nach denen der Jugendstrafvollzug besonderen verfassungsrechtlichen Anforderungen unterliegt und eine gesetzliche Regelung auf diese zugeschnitten sein muss438, dabei nicht entsprochen wurde.439 Außerdem erschwert eine solche gemeinsame Regelung mit etlichen gesetzesinternen Verweisungen eine übersichtliche und benutzerfreundliche Handhabung, die insbesondere mit Blick auf den Personenkreis, dessen Rechte aufgrund des Gesetzes eingeschränkt werden, jedoch überaus erforderlich wäre.440 Während Hamburg von dieser Form durch eine Neuregelung des Jugendstrafvollzugs, die sich stark am Neuner-Entwurf orientiert, wieder Abstand nahm441, integrierten Baden-Württemberg, Brandenburg, Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt und Thüringen das Jugendstrafvollzugsrecht wie Bayern und Niedersachsen in allgemeine Justizvollzugsgesetze.442 Hessen, Nordrhein-Westfalen und Sachsen legten jeweils eigene Ju435  Ostendorf-Ostendorf

2016, § 1 Rn. 3. Bln vom 15.12.2007 (Bln. GVBl. 2007 S. 653); BbgJStVollzG vom 18.12.2007 (Bbg. GVBl. I 2007 S. 348); BremJStVollzG vom 27.3.2007 (Brem. GBl. 2007 S. 233); JStVollzG M-V vom 14.12.2007 (GVOBl. M-V 2007 S. 427); LJ­ StVollzG RLP vom 3.12.2007 (GVBl. 2007 RLP S. 252); SJStVollzG vom 30.10.2007 (Saar. Amtsbl. 2007 S. 2370); JStVollzG LSA vom 7.12.2007 (GVBl. LSA 2007 S. 368); JStVollzG S-H vom 19.12.2007 (GVBl. S-H 2007 S. 563); ThürJStVollzG vom 20.12.2007 (Thür. GVBl. 2007 S. 221). Berlin, Brandenburg, Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt und Thüringen haben mittlerweile neue Gesetze verabschiedet. 437  BayStVollzG vom 10.12.2007 (Bay. GVBl. 2007 S. 866); HmbStVollzG vom 14.12.2007 (Hmb. GVBl. 2007 S. 471); NJVollzG vom 14.12.2007 (NdS. GVBl. 2007 S. 720), neue Bekanntmachung vom 8.4.2014 (NdS. GVBl. 2014 S. 106). 438  BVerfGE 116, 69 (81 ff.). 439  So auch Dünkel 2007a, S. 1 f.; Dünkel / Pörksen 2007, S. 55; Eisenberg 2008, S.  250 f.; Feest 2008, S. 554; Köhne 2007, S. 110; Kühl 2012, S.  40 f.; Meier 2007, S. 143; Ostendorf-Ostendorf 2016, § 1 Rn. 4; Sonnen 2007a, S. 52; Sonnen 2007b, S. 80. Anders jedoch Arloth 2008, S. 134; R. Schneider 2010, S. 46 f. 440  Eisenberg 2008, S. 250 f.; Feest 2008, S. 554; Kühl 2012, S. 39 f.; OstendorfOstendorf 2016, § 1 Rn. 4; Ostendorf 2015b, S. 113; anders auch hier Arloth 2008, S. 134; Oehlerking 2008, S. 47; R. Schneider 2010, S. 48, die darauf abstellen, so alle Regelungen „unter einem Dach“ zu haben und damit auf etwaige Mehrfach- bzw. Doppelregelungen verzichten zu können. 441  HmbJStVollzG vom 14.7.2009 (Hmb GVBl. 2009 S. 257). 442  JVollzGB BW vom 10.11.2009 (BW GBl. 2009 S. 545); BbgJVollzG vom 24.4.2013 (Bbg. GVBl. I 2013 Nr. 14); LJVollzG RLP vom 8.5.2013 (GVBl. 2013 436  JStVollzG

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B. Grundlagen des Jugendstrafvollzugs

gendstrafvollzugsgesetze vor.443 Durch das zuletzt in Berlin verabschiedete Jugendstrafvollzugsgesetz sollte das Strafvollzugsrecht in Berlin vereinheitlicht werden. Das Gesetz orientiert sich am neuen StVollzG Bln und geht über den ursprünglichen Neuner-Entwurf deutlich hinaus.444 2. Vollzugsziel und Aufgabe Die Bestimmung des Vollzugsziels ist für den Jugendstrafvollzug von besonderer Bedeutung. Durch die Niederlegung des Vollzugsziels in einer Zielbestimmungsnorm445 gibt der Gesetzgeber ein Leitmotiv vor, das sowohl bei der allgemeinen Ausrichtung und Gestaltung als auch bei Einzelentscheidungen, wie bspw. Lockerungen oder Disziplinierungen, im Vollzugsalltag immer berücksichtigt werden muss.446 Ein Ziel für den Jugendstrafvollzug wurde erstmals im 1. JGG von 1923 formuliert. Der damalige § 16 I lautete: „Der Strafvollzug gegen einen Jugendlichen ist so zu bewirken, dass seine Erziehung gefördert wird.“447 Damit war der Jugendstrafvollzug damals ausschließlich auf Erziehung ausgerichtet.448 Durch die Novelle des JGG von 1943 wurde in § 64 I ein neues Ziel formuliert: „Durch den Vollzug der Jugendgefängnisstrafe soll der Verurteilte dazu erzogen werden, sich verantwortungsbewusst in die Volksgemeinschaft einzuordnen.“449 Gesetzessystematisch ist die Erziehung hier nun nur noch das Mittel, um das Ziel, ein verantwortungsbewusstes Einordnen in die Volksgemeinschaft, zu erreichen. Im Jahr 1953 wurde diese Systematik bei der Schaffung eines neuen JGG weitgehend übernommen, allerdings von der nationalsozialistischen Ideologie befreit.450 Der durch den Bundesgesetzgeber normierte § 91 I JGG a. F. (ex § 64 I JGG) lautete bis Ende des Jahres 2007, als die Bestimmung des Vollzugsziels aus dem JGG herausgenommen wurde, unverändert: „Durch den Vollzug der Jugendstrafe soll der Verurteilte RLP S. 79); JVollzGB LSA vom 18.12.2015 (GVBl. LSA 2015 S. 666); ThürJVollz­GB vom 27.2.2014 (Thür. GVBl. 2014 S. 13). 443  HessJStVollzG vom 19.11.2007 (Hess. GVBl. I 2007 S. 758); JStVollzG NRW vom 20.11.2007 (GVBl. NRW 2007 S. 539); SächsJStVollzG vom 12.12.2007 (SächS. GVBl. 2007 S. 558). 444  JStVollzG Bln vom 04.04.2016 (Bln. GVBl. 2016 S. 152, 171). 445  BGHSt 43, 82 (90). 446  Boers / Schaerff 2008, S. 316; Bornhöfer 2010, S. 133; Goerdeler / Pollähne 2007, S. 60; Müller-Dietz 1973, S. 5; Ostendorf-Ostendorf 2016, § 1 Rn. 14. 447  JGG vom 16.2.1923, RGBl. I 1923 S. 135. 448  Boers / Schaerff 2008, S. 316. Zum Begriff der Erziehung und seiner problematischen Unbestimmtheit siehe Kap. B. III. 3. a). 449  RJGG vom 10. November 1943, RGBl. I 1943 S. 637. 450  Ostendorf-Ostendorf 2016, § 1 Rn. 12.



III. Rechtliche Grundlagen des Jugendstrafvollzugs111

dazu erzogen werden, künftig einen rechtschaffenen und verantwortungsbewussten Lebenswandel zu führen.“451 Bereits im ersten Strafvollzugsgesetz von 1977 wurde in § 2 zwischen Ziel und Aufgabe des Strafvollzugs unterschieden. Es heißt dort: „Im Vollzug der Freiheitsstrafe soll der Gefangene fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen (Vollzugsziel). Der Vollzug der Freiheitsstrafe dient auch dem Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten.“452 Während § 91 JGG a. F. in seiner Bestimmung des Ziels für den Jugendstrafvollzug den Schutz der Allgemeinheit nicht vorsah, wurde dieser in allen neu geschaffenen Landesjugendstrafvollzugsgesetzen in die grundlegende Ausrichtung des Vollzugs mit aufgenommen. Damit kommt diesem Aspekt aufgrund seiner gesetzlichen Normierung neben der Resozialisierung eine wesentliche Bedeutung zu.453 a) Resozialisierung Das BVerfG gab sich in seinem Urteil von 2006 nicht allein mit dem Auftrag zur Gesetzgebung zufrieden. Es machte sehr ausführlich auch inhaltliche Vorgaben zur Ausgestaltung eines Jugendstrafvollzugsgesetzes.454 Danach muss der Vollzug „auf das Ziel ausgerichtet sein, dem Inhaftierten ein künftiges straffreies Leben in Freiheit zu ermöglichen“455. Die Notwendigkeit und das besonders hohe Gewicht dieses Ziels der Resozialisierung leitet das Gericht aus der Pflicht zur Achtung der Menschenwürde jedes Einzelnen und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit des staatlichen Strafens ab. Nur durch eine soziale Integration werde der Mensch nicht als bloßes Mittel zu gesellschaftlichen Zwecken missbraucht, sondern es würden die Rechte und Belange des Einzelnen berücksichtigt.456 Damit folgt das Gericht seiner vo­ rangehenden Rechtsprechung. Bereits 1972 erachtete es die Resozialisierung als notwendig für einen menschenwürdigen Vollzug457 und konkretisierte 451  JGG

vom 4. August 1953, BGBl. I 1953 S. 751. 1976 S. 581. Das StVollzG galt nach seiner inhaltlichen Bestimmung zwar ausschließlich für den Vollzug der Freiheitsstrafe an Erwachsenen (§ 1 StVollzG), wurde jedoch neben dem VVJug mangels gesetzlicher Grundlage (außer § 91 JGG a. F. für das Vollzugsziel) für den Jugendstrafvollzug analog angewendet, siehe statt vieler OLG Hamm, NStZ 2005, 295; OLG Celle, NStZ 2000, 167. 453  Boers / Schaerff 2008, S. 317. Zu den einzelnen Jugendstrafvollzugsgesetzen sogleich ausführlich unter Kap. B. III. 2. c). 454  Bornhöfer 2010, S. 88; Dünkel 2006b, S. 114; Höynck u. a. 2008, S. 159. 455  BVerfGE 116, 69 (85). 456  BVerfGE 116, 69 (85 f.). 457  BVerfGE 33, 1 (7 f.). 452  BGBl. I

112

B. Grundlagen des Jugendstrafvollzugs

diese Herleitung im Lebach-Urteil von 1973458, wonach das Anrecht des Täters bzw. der Täterin auf Wiedereingliederung aus seinem oder ihrem Grundrecht aus Art. 2 I i. V. m. Art. 1 GG erwächst. Außerdem folgt die Resozialisierung auch aus dem Sozialstaatsprinzip aus Art. 20 I GG. Zwar lässt das Gericht diese Herleitung in seinem Urteil aus 2006 unerwähnt, es hat das Sozialstaatsprinzip aber in früheren Entscheidungen zusammen mit Art. 2 I und Art. 1 I GG herangezogen.459 Unter Resozialisierung versteht man die Wiedereingliederung einer Person in die Gesellschaft.460 Der Maßstab für eine erfolgreiche Resozialisierung im Strafvollzug liegt in der Verhinderung bzw. zumindest Verminderung der Rückfälligkeit der früheren Täter und Täterinnen, also in einem künftig normkonformen Verhalten.461 Daher muss die oder der Gefangene im Vollzug lernen, sich straffrei zu verhalten.462 Angestrebt wird eine solche künftige Rückfallvermeidung durch Straftäterbehandlung in Form von wirksamen Behandlungsprogrammen.463 Im Unterschied zum Erwachsenenvollzug hat das Resozialisierungsziel im Jugendstrafvollzug eine noch größere Bedeutung. Der Freiheitsentzug findet in einer Lebensphase statt, die der Entwicklung der Persönlichkeit dient. Die bzw. der Jugendliche ist in diesem Zeitraum noch weniger gefestigt und ihre bzw. seine Entwicklungsmöglichkeiten sind offener.464 Hinzu kommt, dass der bzw. dem Jugendlichen nach ihrer oder seiner Entlassung noch eine besonders lange Lebenspanne bevorsteht, die möglichst auch im Hinblick auf den Schutz der Allgemeinheit kriminalitätsfrei verlaufen soll. Der Staat steht damit in der gesteigerten Verantwortung, dem Resozialisierungsziel durch entsprechende, auf Förderung ausgerichtete Vollzugsgestaltung gerecht zu werden.465 Die Resozialisierung steht als Ziel des Strafvollzugs jedoch auch immer wieder unter dem Druck der eigenen Rechtfertigung. Insbesondere durch Negativschlagzeilen in der Presse im Falle einer Entweichung oder des Miss-

458  BVerfGE 35,

202 (235 f.). BVerfGE  35, 202 (235 f.) u. a. auch in BVerfGE  45, 187 (228 f.) (Lebenslange Freiheitsstrafe) und BVerfGE 98, 169 (200 f.). 460  Cornel 2009, S. 29, 30. 461  Kerner 1996, S. 5; Luzius 1979, S. 18. 462  Cornel 2009, S. 29; Schüler-Springorum 1969, S. 158. 463  Dünkel / Drenkhahn / Morgenstern 2008, S. 227. Siehe zur Straftäterbehandlung und zur Wirksamkeit von Behandlungsprogrammen im Jugendstrafvollzug die Kap. B. II. 2. und Kap. B. II. 3. 464  J. Walter 2006a, S. 237. 465  BVerfGE 116, 69 (86). 459  Neben



III. Rechtliche Grundlagen des Jugendstrafvollzugs113

brauchs von Lockerungen466, aber auch in der Rechtsprechung und Wissenschaft durch den Verweis auf hohe Rückfallquoten467 werden immer wieder Zweifel am Resozialisierungsziel geäußert. Dabei wird jedoch übersehen, dass zum einen Entweichungen oder der Missbrauch von Lockerungen seltene Ausnahmen sind468 und zum anderen eine Ausrichtung des Strafvollzugs auf Resozialisierung ja gerade notwendig ist, um einen menschenwürdigen Vollzug und dem verfassungsrechtlichen Anspruch der bzw. des Gefangenen auf Wiedereingliederung aus Art. 2 I i. V. m. Art. 1 GG zu genügen.469 Aus diesem besonderen verfassungsrechtlichen Gewicht leitet das BVerfG zudem die positive Verpflichtung des Staates ab, den Vollzug mit den zur Realisierung des Vollzugsziels erforderlichen personellen und finanziellen Mitteln auszustatten. Dazu gehören ausreichende Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten, sichere Unterbringung, soziales Lernen fördernde pädagogische und therapeutische Betreuung, worunter auch der Schutz vor wechselseitiger Gewalt durch Mitinhaftierte fällt, sowie eine Entlassungsvorbereitung mit anschließender Hilfe nach der Entlassung. Außerdem muss sich die Ausgestaltung des Vollzugs auf die Wirksamkeitsforschung zu unterschiedlichen Vollzugsgestaltungen und Behandlungsmaßnahmen stützen und damit den Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse berücksichtigen.470 b) Schutz der Allgemeinheit Der Schutz der Allgemeinheit, wie in § 2 StVollzG genannt, beschreibt zunächst einmal den dem Vollzug einer Freiheits- oder Jugendstrafe innewohnenden staatlichen Sicherungsauftrag: Die oder der Gefangene wird über einen Zeitraum aus der Gesellschaft ausgeschlossen und damit an einer Betätigung in Freiheit, auch in Form von Straftaten, gehindert.471 Zwischen 466  Siehe statt vieler „Heftiger Parteienstreit nach Flucht aus offenem Vollzug“ abrufbar unter http:/ /www.welt.de newsticker/news3/article109533670/HeftigerParteienstreit-nach-Flucht-aus-offenem-Vollzug.html (abgerufen am 24.3.2014). 467  Arloth 1988, S. 408; Hinz 2001, S. 52; OLG Schleswig, NStZ 1985, 475, das im Hinblick auf die Fähigkeit des Jugendstrafvollzugs sein Ziel zu erreichen, die Verfassungsmäßigkeit der Jugendstrafe überprüfte. Ebenso auf internationaler Ebene der Behandlungspessimismus der 1970er Jahre, bei dem mit „nothing works“ die Ergebnisse der Wirksamkeitsforschung zusammengefasst wurden, dazu Kap. B. II. 3. 468  Vgl. Grosch 1995, S. 319 f. 469  BVerfGE 116, 69 (85 f.); BVerfGE 35, 202 (235 f.); Müller-Dietz 1973; so auch Lüderssen 1997, sogar für den Fall, dass der Inhaftierte die eigene Resozialisierung ablehnt. 470  BVerfGE 116, 69 (89 f.). 471  AK-Lindemann 2017, § 2 Rn. 20; Calliess / Müller-Dietz 2008, § 2 Rn. 1; Laubenthal 2011, Rn. 172.

114

B. Grundlagen des Jugendstrafvollzugs

dieser Sicherungsaufgabe und dem Vollzugsziel der Resozialisierung besteht ein wesensbedingter Grundkonflikt. Während die Resozialisierung auf eine eigenverantwortliche Legalbewährung abzielt und diese bspw. durch vollzugsöffnende Maßnahmen gefördert wird, steht der Sicherungsauftrag solchen Maßnahmen häufig aufgrund einer etwaigen Missbrauchsgefahr entgegen.472 Im Strafvollzugsgesetz von 1977 stehen Resozialisierung und Schutz der Allgemeinheit jedoch nicht gleichrangig nebeneinander. Dafür spricht schon der Klammerzusatz, der Satz 1 als Vollzugziel bestimmt und damit den Schutz der Allgemeinheit in Satz 2 als Aufgabenbeschreibung hinter der Zielbestimmungsnorm zurücktreten lässt. Während die Zieldefinition hier das verbindlich formulierte Problem darstellt, welches es vorrangig im Vollzug zu lösen gilt, ist die Aufgabenbestimmung daneben lediglich als „Basisund Minimal-Ziel“473 nachrangig zu beachten.474 Im Gegensatz zum StVollzG sah § 91 JGG a. F. in seiner Bestimmung des Ziels für den Jugendstrafvollzug den Schutz der Allgemeinheit nicht, und zwar auch nicht als „Minimal-Ziel“, vor.475 Auch das BVerfG nennt allein die Resozialisierung als Ziel für den Jugendstrafvollzug.476 Dieses Ziel leitet es jedoch auch gerade aus der staatlichen Pflicht zum Schutz der Allgemeinheit ab. In seinem Urteil aus 2006 heißt es: „Zugleich folgt die Notwendigkeit, den Strafvollzug am Ziel der Resozialisierung auszurichten, auch aus der staatlichen Schutzpflicht für die Sicherheit aller Bürger. Zwischen dem Integrationsziel des Vollzugs und dem Anliegen, die Allgemeinheit vor weiteren Straftaten zu schützen, besteht insoweit kein Gegensatz.“477 Danach hat der Staat seiner Schutzpflicht dadurch nachzukommen, dass er die Resozialisierung fördert und so die Rückfälligkeit reduziert. Der beste Schutz der Allgemeinheit erfolgt durch die Vermeidung erneuter Straftaten, also die Resozialisierung der Täter.478 Das Gericht bezieht sich dabei jedoch nur auf den Zeitraum nach der Entlassung der Gefangenen. Eine erfolgreiche Resozialisierung stellt also in der Zukunft den besten Opferschutz dar; in der Zukunft decken sich damit Resozialisierung und der Schutz Allgemeinheit.479 472  So auch Bornhöfer 2010, S. 138; Calliess / Müller-Dietz 2008, § 2 Rn. 3 f., 20; Goerdeler / Pollähne 2007, S. 60 f.; Kühl 2012, S. 49. 473  Calliess / Müller-Dietz 2008, § 2 Rn. 1, 5. 474  AK-Lindemann 2017, § 2 Rn. 4 f.; Calliess / Müller-Dietz 2008, § 2 Rn. 1, 5; Dünkel 2007a, S. 5; Laubenthal 2011, Rn. 174; L / N / N / V-Neubacher 2015, B Rn. 28. 475  Boers / Schaerff 2008. 476  BVerfGE 116, 69 (85). 477  BVerfGE 116, 69 (86). 478  Goerdeler / Pollähne 2007, S. 60; Kamann 2009, S. 64; Sonnen 2007b, S. 82; Sonnen 2007c, S. 161 f.; Tierel 2008, S. 140 f. 479  Ostendorf-Ostendorf 2016, § 1 Rn. 21.



III. Rechtliche Grundlagen des Jugendstrafvollzugs115

Beim Schutz der Allgemeinheit während der Inhaftierung ist zwischen der internen oder auch inneren und der externen oder auch äußeren Sicherheit zu unterscheiden.480 Bezüglich der internen Sicherheit ist vor allem mit Blick auf eine erfolgreiche Resozialisierung im Jugendstrafvollzug der Schutz der Gefangenen vor wechselseitiger Gewalt durch bestimmte Formen der Unterbringung und Betreuung zu garantieren.481 Zu der externen Sicherheit, die bereits eine dem Strafvollzug immanente Nebenfolge ist, äußert sich das BVerfG nicht, sodass für ein gleichrangiges, konkurrierendes Ziel im Sinne des Schutzes der Allgemeinheit neben dem der Resozialisierung kein Raum bleibt. Zwar ist die Sicherheit der Allgemeinheit bei vollzuglichen Einzel­ entscheidungen wie bspw. der Gewährung von Vollzugslockerungen zu be­ rücksichtigen,482 vorrangig dienen diese Maßnahmen aber der Vorbereitung auf die Entlassung und der Wiedereingliederung des Täters bzw. der Täterin. Neben der verfassungsrechtlichen Verankerung der Resozialisierung und der darauf beruhenden Entscheidung des BVerfG zugunsten des Resozialisierungsziels spricht dafür auch die höhere Schutzbedürftigkeit von Jugendlichen, die sich noch mitten in der Persönlichkeitsentwicklung befinden und damit einerseits noch beeinflussbar sind, andererseits aber mit den schäd­ lichen Wirkungen der Haftzeit auch schlechter umgehen können als Erwachsene. Außerdem wirkt der Freiheitsentzug bei Jugendlichen aufgrund der geringeren bisherigen Lebensdauer einschneidender als bei Erwachsenen und im Hinblick auf die noch zu erwartende längere Lebensdauer muss eine erfolgreiche Resozialisierung gerade angestrebt werden.483 Bereits in § 2 I JGG hat sich der Bundesgesetzgeber dafür entschieden, dass die Anwendung des Jugendstrafrechts vor allem erneuten Straftaten eines oder einer Jugendlichen entgegenwirken soll; die Rechtsfolgen und das Verfahren sind dabei vorrangig am Erziehungsgedanken auszurichten. Darauf Bezug nehmend wird auch angebracht, dass eine andere Ausrichtung des Jugendstrafvollzugs dieser Vorgabe, die auch die einzelnen Länder bei der Ausrichtung ihres Jugendstrafvollzugs gemäß Art. 31 GG beachten müssten, widerspräche.484 Arloth 2011, § 2 Rn. 2; Ostendorf-Goerdeler 2016, § 8 Rn. 2 f. auch BVerfGE 116, 69 (89 f.). 482  Goerdeler 2007, S. 19. 483  BVerfGE  116, 69 (86); Eisenberg / Singelnstein 2007, S. 184; Eisenberg 2008, S. 251; Kühl 2012, S. 57. So auch R. Schneider 2010, S. 83 f., der damit jedoch nur die höhere Bedeutung der Resozialisierung im Jugendstrafvollzug im Vergleich zu Erwachsenen hervorhebt, im Ergebnis aber den Vorrang der Resozialisierung gegenüber dem Schutz der Allgemeinheit verneint. 484  Boers / Schaerff 2008, S. 321; Ostendorf-Ostendorf 2016, § 1 Rn. 21. Zweifelhaft ist bei diesem Argument jedoch, dass im Rahmen der Föderalismusreform die Kompetenzbereiche für das Strafrecht und den Strafvollzug ja gerade getrennt wur480  So

481  So

116

B. Grundlagen des Jugendstrafvollzugs

Dem Schutz der Allgemeinheit kann jedenfalls nicht das Gewicht zukommen, die Vollzugsphilosophie und die gesamte Vollzugsgestaltung zu bestimmen. Er kann deshalb nur nachgeordnete Vollzugsaufgabe sein.485 c) Vollzugsziel und Aufgabe in den Jugendstrafvollzugsgesetzen der Länder Die Länder haben Ziel und Aufgabe des Jugendstrafvollzugs auf unterschiedliche Weise in ihre Jugendstrafvollzugsgesetze integriert. Tabelle 1 Überblick über Vollzugsziel und Aufgabe in den Jugendstrafvollzugsgesetzen der Länder486 Vollzugsziel und Aufgabe BVerfGE 116, 69 ff.

S. 85: Der Vollzug der Freiheitsstrafe muss auf das Ziel ausgerichtet sein, dem Inhaftierten ein künftiges straffreies Leben in Freiheit zu ermöglichen. Dieses – oft auch als Resozialisierungsziel bezeichnete – Vollzugsziel der sozialen Integration […] ist im geltenden Jugendstrafrecht als Erziehungsziel verankert (§ 91 Abs. 1 JGG). S. 86: Zugleich folgt die Notwendigkeit, den Strafvollzug am Ziel der Resozialisierung auszurichten, auch aus der staatlichen Schutzpflicht für die Sicherheit aller Bürger. Zwischen dem Integrationsziel des Vollzugs und dem Anliegen, die Allgemeinheit vor weiteren Straftaten zu schützen, besteht insoweit kein Gegensatz. Für den Jugendstrafvollzug hat das Ziel der Befähigung zu einem straffreien Leben in Freiheit besonders hohes Gewicht.

den und dadurch die Gesetzgebungskompetenz für den Strafvollzug und damit auch für die Definierung des Vollzugsziels auf die Länder übergegangen ist. Rechtsfolgen i. S. d. § 2 I JGG betreffen vielmehr die einzelnen Sanktionen und die Strafzumessung. 485  I. Erg. so auch Boers / Schaerff 2008, S. 317; Bornhöfer 2010, S. 138; Dünkel 2007a, S. 8; Dünkel / Pörksen 2007, S. 56; Eisenberg / Singelnstein 2007, S. 184 f.; Eisenberg 2008, S. 251 f; Flügge 2008, S. 37; Goerdeler 2007, S. 18 f.; Goerdeler / Pollähne 2007, S. 60 f.; Ostendorf 2007, S. 109 f.; Ostendorf-Ostendorf 2016, § 1 Rn. 21 f.; Sonnen 2007a, S. 52 f.; Sonnen 2007b, S. 82 f.; J. Walter 2007, S. 37; a. A. Arloth 2008, S. 135; R. Schneider 2010, S. 89 f. 486  Ähnliche Tabellen finden sich u.  a. bei Dünkel 2007a, S. 5 ff.; Kühl 2012, S.  45 ff.; Ostendorf-Ostendorf 2012, § 1 Rn. 17.



III. Rechtliche Grundlagen des Jugendstrafvollzugs117 Vollzugsziel und Aufgabe S. 89: Das Erfordernis gesetzlicher Regelung betrifft über den Bereich der unmittelbar eingreifenden Maßnahmen hinaus auch die Ausrichtung des Vollzuges auf das Ziel der sozialen Integration. Baden-Würt­ temberg (JVollzGB BW*)

Buch I Gemeinsame Regelungen und Organisation § 2 Ziele des Vollzug (1) Die kriminalpräventive Aufgabe des Strafvollzugs und des Jugendstrafvollzugs in Baden-Württemberg liegt im Schutz der Bürgerinnen und Bürger vor weiteren Straftaten. Strafvollzug und Jugendstrafvollzug leisten einen Beitrag für die Eingliederung der Gefangenen in die Gesellschaft, die innere Sicherheit und für den Rechtsfrieden. Buch IV Jugendstrafvollzug § 1 Erziehungsziel Im Vollzug der Jugendstrafe sollen die jungen Gefangenen dazu erzogen werden, in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen.

Bayern (BayStVollzG)

Art. 121 Aufgaben des Jugendstrafvollzugs

Berlin (JStVollzG Bln)

§ 2 Ziel und Aufgabe

Brandenburg BbgJVollzG)

§ 2 Ziel und Aufgabe des Vollzugs der Freiheits- und Jugendstrafe

Der Vollzug der Jugendstrafe dient dem Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten. Die Gefangenen im Vollzug der Jugendstrafe (junge Gefangene) sollen dazu erzogen werden, künftig einen rechtschaffenen Lebenswandel in sozialer Verantwortung zu führen (Erziehungsauftrag). Der Vollzug dient dem Ziel, die Jugendstrafgefangenen zu befähigen, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen. Er hat die Aufgabe, die Allgemeinheit vor weiteren Straftaten zu schützen.

Der Vollzug der Freiheitsstrafe und der Jugendstrafe dient dem Ziel, die Straf- und Jugendstrafgefangenen zu befähigen, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen. Er hat die Aufgabe, die Allgemeinheit vor weiteren Straftaten zu schützen. Bremen (BremJStVollzG) MecklenburgVorpommern (JStVollzG M-V)

§ 2 Ziel und Aufgabe Der Vollzug dient dem Ziel, die Gefangenen zu befähigen, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen. Gleichermaßen hat er die Aufgabe, die Allgemeinheit vor weiteren Straftaten zu schützen. (Fortsetzung nächste Seite)

118

B. Grundlagen des Jugendstrafvollzugs

(Fortsetzung Tabelle 1) Vollzugsziel und Aufgabe Hamburg (HmbJStVollzG)

§ 2 Aufgaben des Vollzuges

Hessen (HessJStVollzG)

§ 2 Erziehungsziel und Schutz der Allgemeinheit

Der Vollzug dient dem Ziel, die Gefangenen zu befähigen, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen. Gleichermaßen hat er die Aufgabe, die Allgemeinheit vor weiteren Straftaten zu schützen. Zwischen dem Vollzugsziel und der Aufgabe, die Allgemeinheit vor weiteren Straftaten zu schützen, besteht kein Gegensatz. (1) Durch den Vollzug der Jugendstrafe sollen die Gefangenen befähigt werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen (Erziehungsziel). (2) Der Jugendstrafvollzug dient zugleich dem Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten. Dies wird durch das Erreichen des Erziehungsziels und durch die sichere Unterbringung und Beaufsichtigung der Gefangenen gewährleistet. Bei der Prüfung von vollzugsöffnenden Maßnahmen sind der Schutz der Allgemeinheit und die Belange des Opferschutzes in angemessener Weise zu berücksichtigen.

Niedersachsen (NJVollzG)

§ 113 Vollzugsziele

NordrheinWestfahlen (JStVollzG NRW)

§ 2 Vollzugziel, Aufgaben

Im Vollzug der Jugendstrafe sollen die Gefangenen vor allem fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen. Der Vollzug der Jugendstrafe dient auch dem Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten. (1) Der Vollzug der Jugendstrafe dient dem Ziel, die Gefangenen zu befähigen, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen. (2) Der Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten ist bei der Gestaltung des Vollzugs zu gewährleisten.

Rheinland-Pfalz § 2 Ziel und Aufgabe des Vollzugs der Freiheits- und Jugend(LJVollzG RLP*) strafe Der Vollzug der Freiheitsstrafe und der Jugendstrafe dient dem Ziel, die Strafgefangenen und Jugendstrafgefangenen zu befähigen, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen. Er hat die Aufgabe, die Allgemeinheit vor weiteren Straftaten zu schützen.



III. Rechtliche Grundlagen des Jugendstrafvollzugs119 Vollzugsziel und Aufgabe Saarland (SJStVollzG)

§ 2 Ziel und Aufgabe (1) Durch den Vollzug der Jugendstrafe sollen die Gefangenen befähigt werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen (Erziehungsziel). (2) Der Jugendstrafvollzug dient zugleich dem Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten. Dies wird durch das Erreichen des Erziehungsziels und durch die sichere Unterbringung und Beaufsichtigung der Gefangenen gewährleistet.

Sachsen § 2 Ziel und Aufgabe des Vollzugs (SächsJStVollzG) Der Vollzug dient dem Ziel, die Gefangenen zu befähigen, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen. Er erfüllt auch die Aufgabe, die Allgemeinheit vor weiteren Straftaten zu schützen. Dies wird durch eine zielgerichtete und wirkungsorientierte Vollzugsgestaltung sowie sichere Unterbringung und Beaufsichtigung der Gefangenen gewährleistet. Sachsen-Anhalt (JVollzGB LSA)

§ 2 Ziel und Aufgabe des Vollzugs der Freiheitsstrafe oder der Jugendstrafe Der Vollzug der Freiheitsstrafe oder der Jugendstrafe dient dem Ziel, den Strafgefangenen oder den Jugendstrafgefangenen zu befähigen, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen. Der Vollzug hat die Aufgabe, die Allgemeinheit vor weiteren Straftaten zu schützen.

Schleswig§ 2 Ziel und Aufgabe Holstein Der Vollzug dient dem Ziel, die Gefangenen zu befähigen, (JStVollzG S-H*) künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen. Gleichermaßen hat er die Aufgabe, die Allgemeinheit vor weiteren Straftaten zu schützen. Zwischen dem Vollzugsziel und der Aufgabe, die Allgemeinheit vor weiteren Straftaten zu schützen, besteht kein Gegensatz. Thüringen (ThürJVollzGB)

§ 2 Ziel und Aufgabe des Vollzugs der Freiheits- und Jugendstrafe (1) Der Vollzug der Freiheitsstrafe und der Jugendstrafe dient dem Ziel, die Straf- und Jugendstrafgefangenen zu befähigen, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen. Er hat die Aufgabe, die Allgemeinheit vor weiteren Straftaten zu schützen.

*  Bei den Gesetzen aus Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein wurden die Länderkurzbezeichnungen hinzugefügt, damit sich erkennen lässt, aus welchem Bundesland die Gesetze stammen.

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B. Grundlagen des Jugendstrafvollzugs

Die verschiedenen gesetzlichen Regelungen des Vollzugsziels lassen sich in drei Gruppen einteilen: Während einige Länder die Resozialisierung als vorrangiges Vollzugsziel anerkennen und den Schutz der Allgemeinheit als bloße Aufgabe beschreiben, gehen andere Landesgesetzgeber von einer Gleichrangigkeit beider Aspekte aus und wieder andere stellen gar den Schutz der Allgemeinheit vor die Resozialisierung der Jugendstrafgefangenen487. aa) Vorrang der Resozialisierung Berlin, Brandenburg, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen unterscheiden in ihren Jugendstrafvollzugsgesetzen zwischen Zielbestimmung und Aufgabe des Vollzugs und legen dabei die Befähigung der Gefangenen, „künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen“, als alleiniges Vollzugsziel fest488. Erst anschließend nennen sie den Schutz der Allgemeinheit als Aufgabe des Vollzugs und werten somit die Resozialisierung als vorrangiges Ziel.489 Auch in den Jugendstrafvollzugsgesetzen von Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein heißt es zunächst, dass der Vollzug der Befähigung dient, „künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen“; die Gesetze formulieren jedoch weiter: „Gleichermaßen hat er die Aufgabe, die Allgemeinheit vor weiteren Straftaten zu schützen.“490 Dem Schutz der Allgemeinheit wird damit ein hoher Stellenwert eingeräumt, ob mit dieser Formulierung sogar die Gleichrangigkeit der beiden Aspekte gewollt ist, bleibt allerdings unklar. Gegen eine beabsichtigte Aufwertung des Schutzes der Allgemeinheit als gleichrangiges Vollzugsziel spricht die sprachliche Unterscheidung zwischen Ziel und Aufgabe.491 Schleswig-Holstein und Hamburg fügen an die Nennung des Schutzes der Allgemeinheit noch den Satz „Zwischen dem Vollzugsziel und der Aufgabe, die Allgemeinheit vor weiteren Straftaten zu schützen, besteht kein Gegen­ 487  Diese Gliederung entspricht der Einteilung von Dünkel / Pörksen 2007, S. 56, ebenso Boers / Schaerff 2008, S. 317; Kühl 2012, S. 50; R. Schneider 2010, S. 97 ff. 488  § 2 JStVollzG Bln; § 2 BbgJVollzG; § 2 JStVollzG NRW; § 2 LJVollzG RLP; § 2 SächsJStVollzG; § 2 JVollzGB LSA; § 2 ThürJVollzGB. 489  Boers / Schaerff 2008, S. 317; Flügge 2008, S. 37 für § 2 JStVollzG Bln. 490  § 2 BremJStVollzG; § 2 HmbJStVollzG; § 2 JStVollzG M-V; § 2 JStVollzG S-H. 491  Boers / Schaerff 2008, S. 318 gehen von einer gewollten Gleichrangigkeit der beiden Aspekte aus. Dagegen findet Kühl 2012, S. 52 eine solche Auslegung aufgrund der Differenzierung von Vollzugsziel und Aufgabe zu weit, hält die Formulierung aber für missverständlich.



III. Rechtliche Grundlagen des Jugendstrafvollzugs121

satz.“492 an. Auch diese an das Urteil des BVerfG angelehnte Formulierung scheint eine Gleichrangigkeit von Resozialisierung und Schutz der Allgemeinheit herzustellen. Allerdings beschreibt das BVerfG damit, dass die Resozialisierung der Gefangenen insbesondere nach der Entlassung der beste Schutz der Allgemeinheit ist und betont so eigentlich erneut die besonders wichtige und vorrangige Stellung der Resozialisierung im Strafvollzug. Diesen Zusammenhang stellen die JStVollzG nicht her und gebrauchen daher die Aussage des BVerfG missverständlich.493 Zudem ist durchaus fraglich, ob der wesensbedingte Gegensatz von Resozialisierung und Schutz der Allgemeinheit durch eine Gesetzesformulierung beseitigt werden kann.494 Über diese Gesetzesformulierungen hinaus differenziert Hamburg auch in der Überschrift nicht zwischen Vollzugsziel und Aufgabe, sondern spricht einheitlich von „Aufgaben des Vollzuges“ und steigert damit noch den Anschein der Gleichrangigkeit der Aspekte.495 Hessen unterscheidet in § 2 HessJStVollzG zwischen dem Erziehungsziel der Straffreiheit und dem Schutz der Allgemeinheit. Dennoch scheinen die Aspekte auch hier durch die Formulierung „dient zugleich“ in § 2 II 1 gleichrangig nebeneinander zu stehen.496 Dieses Missverständnis wird jedoch anschließend durch die folgenden Sätze wieder aufgelöst. Es heißt weiter, dass der Schutz der Allgemeinheit gerade „durch das Erreichen des Erziehungsziels“ gewährleistet wird (§ 2 II 2) und außerdem der Schutz der Allgemeinheit bei vollzugsöffnenden Maßnahmen „in angemessener Weise“ (§ 2 II 3), also nachrangig, zu berücksichtigen ist.497 Diese Auslegung, dass auch im HessJStVollzG der Schutz der Allgemeinheit als nachrangige Aufgabe hinter dem Resozialisierungsziel zurücktreten soll, wird durch dessen Gesetzesbegründung bestätigt, die es als wichtigstes Anliegen des Jugendstrafvollzugs sieht, die Gefangenen zu einem Leben ohne Straftaten zu führen.498 Während Berlin, Brandenburg, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen klar zwischen vorrangigem Reso­ zialisierungsziel und nachrangiger Vollzugsaufgabe unterscheiden und damit der Vorgabe des BVerfG für die Ausrichtung des Jugendstrafvollzugs entsprechen, bleiben die Formulierungen aus Bremen, Hamburg, Hessen, Meck­ lenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein missverständlich. Um den 492  § 2

HmbJStVollzG; § 2 JStVollzG S-H. 2009, S. 82 f.; Kühl 2012, S. 53; Sonnen 2007a, S. 52 f. 494  Kühl 2012, S. 53. 495  Dünkel / Kühl 2009, S. 82; Kühl 2012, S. 53; Tondorf / Tondorf 2009, S. 258. 496  So Bornhöfer 2010, S. 138. 497  Boers / Schaerff 2008, S. 317 f. 498  Gesetzesbegründung Landtag Hessen, Drs. 16 / 7363, S. 41 f. 493  Dünkel / Kühl

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B. Grundlagen des Jugendstrafvollzugs

Vorgaben des BVerfG gerecht zu werden, bedarf es insoweit einer verfassungskonformen Auslegung.499 bb) Gleichrangigkeit von Resozialisierung und Sicherungsaufgabe Die Aussage des BVerfG, dass zwischen dem Ziel der Resozialisierung und dem Anliegen, die Allgemeinheit vor weiteren Straftaten zu schützen, kein Gegensatz besteht, nutzten einige Länder bei der Schaffung ihres Jugendstrafvollzugsgesetzes nun dazu, den Schutz der Allgemeinheit gleichrangig neben das Ziel der Resozialisierung zu stellen.500 Niedersachsen stellt bereits mit der Überschrift „Vollzugsziele“ des § 2 NJVollzG klar, dass es sich um zwei gleichrangig nebeneinander stehende Aspekte handeln soll. Im Gegensatz dazu unterscheidet das Saarland in der Überschrift noch zwischen Vollzugsziel und Aufgabe, stellt diese jedoch mit der Formulierung „dient zugleich“ nebeneinander. Zwar könnte man hier, wie bei der Formulierung aus Hessen, von einer ungewollten Gleichstellung ausgehen, zumal auch hier der nächste Satz ausführt, dass der Schutz der Allgemeinheit gerade „durch das Erreichen des Erziehungsziels“ gewährleistet wird; allerdings wird aus der Gesetzesbegründung des Saarlandes deutlich, dass ein einheitliches Vollzugsziel durchaus gewollt ist: „Im Saarland ist Vollzugsziel auch der Schutz der Allgemeinheit (§ 2) […] Das Gesetz legt als Vollzugsziel fest, die Gefangenen zu einem Leben ohne Straftaten in sozialer Verantwortung zu befähigen und die Allgemeinheit vor weiteren Straftaten zu schützen. Die gesamte Vollzugsgestaltung hat sich an diesem Vollzugsziel auszurichten.“501 Die in diesen Gesetzen postulierte Gleichrangigkeit von Resozialisierung und Schutz der Allgemeinheit widerspricht der Vorgabe des BVerfG für die Ausrichtung des Jugendstrafvollzugs.502 Die Gleichordnung der beiden Aspekte in den Gesetzen von Niedersachsen und dem Saarland hat durchaus auch Auswirkungen auf die Vollzugsgestaltung und den Vollzugsalltag. Ins499  So auch Eisenberg / Singelnstein 2007, S. 185 bezüglich des gemeinsamen Referentenentwurfs vom 19.1.2007, der wie Brandenburg, Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein und Thüringen die Formulierung „Gleichermaßen …“ benutzte. Ebenso Bornhöfer 2010, S. 138 für § 2 HessJStVollzG. 500  Dünkel / Pörksen 2007, S. 56. 501  Gesetzesbegründung Landtag Saarland, Drs.  13 / 1390, S. 48, 50 f.; Drs.  13 /  1612, S. 1; Plenarprotokoll 13 / 46 v. 30.10.2007, S. 2658 ff. 502  Boers / Schaerff 2008, S. 319 f. (auch für Brandenburg, Bremen, MecklenburgVorpommern, Schleswig-Holstein und Thüringen; aber nicht Niedersachsen); Kühl 2012, S. 51 f. (nur für Niedersachsen). A. A. Oehlerking 2008, S. 49, der die Formulierung des BVerfG dahingehend missversteht, „dass der Schutz der Bürger vor Straftaten der Gefangenen während des Vollzuges nicht nachrangig gegenüber dem verfassungsrechtlichen Integrationsgebot ist.“



III. Rechtliche Grundlagen des Jugendstrafvollzugs123

besondere bei vollzugsöffnenden Maßnahmen, die der Wiedereingliederung des Gefangenen dienen, muss nun im selben Maße auch der Schutz der Allgemeinheit beachtet werden. Dabei entsteht ein Zielkonflikt, der bereits bei einzelnen Ermessensentscheidungen zu Beliebigkeit und Unberechenbarkeit führt. Außerdem besteht die Gefahr einer restriktiven Vollzugsgestaltung bis hin zur bloßen Verwahrung.503 Eine solche Ausgestaltung ist mit der ständigen Rechtsprechung des BVerfG,504 das die Resozialisierung als verfassungsrechtlich gebotenes Ziel ansieht, dem insbesondere im Jugendstrafvollzug eine besondere Bedeutung zukommt, nicht vereinbar. cc) Vorrang des Schutzes der Allgemeinheit Bayern und Baden-Württemberg haben bei der Ausgestaltung eines eigenen Strafvollzugsgesetzes das Rangverhältnis von Resozialisierung und Schutz der Allgemeinheit für den Jugendstrafvollzug sogar umgekehrt. Darüber hinaus haben beide Länder die differenzierenden Begriffe „Ziel“ und „Aufgabe“ aufgegeben. Bayern hat zudem die Erziehung zu einem künftig rechtschaffenden Lebenswandel lediglich als Soll-Vorschrift ausgestaltet.505 Baden-Württemberg gestaltet seine Rangentscheidung noch etwas deutlicher aus. Zunächst nennt es in § 2 JVollzGB-I als die vorrangige kriminalpräventive Aufgabe für den gesamten Strafvollzug den „Schutz der Bürgerinnen und Bürger vor weiteren Straftaten“. Daneben leistet der Jugendstrafvollzug nur einen „Beitrag für die Eingliederung der Gefangenen in die Gesellschaft, die innere Sicherheit und für den Rechtsfrieden“. Erst in § 1 des vierten Buches (Jugendstrafvollzug) lautet das Erziehungsziel: „Im Vollzug der Jugendstrafe sollen die jungen Gefangenen dazu erzogen werden, in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen.“ Diese Umkehrung der Rangfolge von Resozialisierung und Schutz der Allgemeinheit widerspricht nicht nur den Vorgaben des BVerfG zur Ausgestaltung des Jugendstrafvollzugs, sondern ist aufgrund der Missachtung des verfassungsrechtlich verankerten und gebotenen Resozialisierungsprinzips auch verfassungswidrig.506 Auch wenn der Schutz der Allgemeinheit während der Inhaftierung durch Sicherungsmaßnahmen und der Verwehrung von 503  Boers / Schaerff

S. 15.

504  BVerfGE 33,

2008, S. 318 f.; Dünkel / Pörksen 2007, S. 56 f.; Ostendorf 2008,

1 (7 f.); BVerfGE 35, 202 (235 f.); BVerfGE 116, 69 (85). BayStVollzG. 506  Boers / Schaerff 2008, S. 323; Eisenberg 2008, S. 251 f.; Kühl 2012, S. 58; Wegemund / Dehne-Niemann 2008, S. 569 (für Baden-Württemberg); ähnlich Dünkel /  Pörksen 2007, S. 56. A. A. R. Schneider 2007, S.  57 f.; R. Schneider 2010, S. 90, der in Art. 121 BayStVollzG kein Rangverhältnis, sondern lediglich ein „[I]neinandergreifen“ erkennen kann. 505  Art. 121

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B. Grundlagen des Jugendstrafvollzugs

vollzugsöffnenden Maßnahmen am besten gewährleistet wäre, so ist eine Entlassung des Täters bzw. der Täterin nach verbüßter Strafe mit Gefahren für die Allgemeinheit verbunden, wenn die Zeit der Inhaftierung nicht zur Verringerung des Rückfallrisikos genutzt wurde.507 Kurzfristige Sicherungen durch bloßes Wegschließen müssen hinter der langfristigen Sicherheit, die durch eine erfolgreiche Resozialisierung erreicht wird, zurücktreten. Die wirksame Resozialisierung der Jugendlichen ist von höchster Bedeutung und „kann nur durch verantwortungsbewusstes, aber auch mutiges Vorbereiten der Gefangenen auf das Leben“ nach der Entlassung erreicht werden.508 d) Zusammenfassung Im Anschluss an das Urteil des BVerfG aus dem Jahre 2006 zur Verfassungswidrigkeit eines Jugendstrafvollzugs ohne gesetzliche Grundlage und einer Verschiebung der Gesetzgebungskompetenz durch die Föderalismusreform haben alle Bundesländer gesetzliche Regelungen in unterschiedlicher Form geschaffen. Im Unterschied zu § 91 JGG, dem bundesrechtlichen Vorgänger zum Ziel des Jugendstrafvollzugs, wurde in allen Landesgesetzen nun neben der Resozialisierung auch der Schutz der Allgemeinheit als weiterer Aspekt aufgenommen und damit die Bedeutung des Schutzes der Allgemeinheit bei der Vollzugsgestaltung und bei einzelnen Ermessensentscheidungen erhöht. Diese Erweiterung lässt sich weder aus dem Urteil des BVerfG ableiten, noch trägt sie den Besonderheiten des Jugendstrafvollzugs Rechnung, dessen Gefangene sich in einer weichenstellenden Lebensphase befinden, in der sich der Freiheitsentzug regelmäßig besonders einschneidend auswirkt. Mit der Aufnahme des Schutzes der Allgemeinheit unterscheidet sich zudem das Ziel von Jugend- und Erwachsenenstrafvollzug nicht.509 Die Gesetze, die Resozialisierung und Schutz der Allgemeinheit gleichrangig nebeneinander stellen oder den Schutz der Allgemeinheit sogar vor das Resozialisierungsziel ziehen, missachten damit die Vorgaben des BVerfG und die Bedeutung, die die Verfassung der Resozialisierung insbesondere auch im Jugendstrafvollzug einräumt.510 Namentlich betrifft dies Niedersachsen, das Saarland, Bayern und Baden-Württemberg. 507  Boers / Schaerff

2008, S. 319. 2007a, S. 8. 509  Eisenberg / Singelnstein 2007, S. 184; ebenso Dünkel / Kühl 2009, S. 82 für die Hamburger Gesetze, deren „Aufgaben des Vollzuges“ jeweils identisch geregelt werden. 510  Boers / Schaerff 2008, S. 319 ff.; Eisenberg 2008, S. 251 f.; Kühl 2012, S. 58; J. Walter 2007, S. 37; ähnlich Dünkel 2007a, S. 8; Dünkel / Pörksen 2007, S. 56; Goer­deler / Pollähne 2007, S. 60 f.; Ostendorf-Ostendorf 2016, § 1 Rn. 22; Sonnen 2007b, S. 82 f. 508  Dünkel



III. Rechtliche Grundlagen des Jugendstrafvollzugs125

3. Der Erziehungsgedanke Nachdem die Resozialisierung als wichtigstes Anliegen des Jugendstrafvollzugs qualifiziert wurde, stellt sich nun die Frage nach der inhaltlichen Ausgestaltung. Gemäß § 2 I 2 JGG ist das Jugendstrafrecht zur Erreichung seines Ziels der Legalbewährung vorrangig am Erziehungsgedanken auszurichten. Dieser Erziehungsgedanke zieht sich auch durch die Gesetzgebung zum Jugendstrafvollzug. Bereits im JGG von 1923 sollte der Strafvollzug bei einem Jugendlichen die Erziehung fördern.511 Die Ausrichtung des Jugendstrafvollzugs am Erziehungsgedanken ist aber durchaus nicht unumstritten. Während man sich einerseits im Rahmen der verschiedenen Gesetzesentwürfe zum Jugendstrafvollzug immer wieder zu einem Erziehungsstrafrecht bekannte512, so gab es andererseits auch immer wieder Bestrebungen, den Erziehungsbegriff aus dem Jugendstrafrecht zu verbannen.513 a) Kritik am Erziehungsbegriff Heftige Kritik erfährt der Begriff der „Erziehung“ wegen seiner Unbestimmtheit. Dessen Weite und Offenheit lassen vielfältige Interpretationsmöglichkeiten zu und unterwerfen ihn in gefährlicher Weise dem jeweiligen Zeitgeist. Dadurch erscheint er im Hinblick auf das Bestimmtheitsgebot aus Art. 103 II GG verfassungsrechtlich bedenklich.514 Bspw. ist ein Missbrauch durch politische Ideologien, wie im Nationalsozialismus geschehen,515 nicht auszuschließen.516 Ebenso ist eine autoritär militärische Erziehung wie in japanischen und chinesischen Jugendstrafanstalten oder in amerikanischen „boot-camps“ nicht mit dem westeuropäischen Wohngruppenvollzug, der auf eigenverantwortliche Mitwirkung des Gefangenen ausgerichtet ist, vergleichbar.517 Auch abseits eines Missbrauchs zu ideologischen Zwecken können grundrechtsbelastende strafrechtliche Maßnahmen unter dem Deckmantel der Erziehung durchgeführt werden. Es besteht insoweit die Gefahr, dass in ver511  JGG

vom 16.2.1923, § 16 I, RGBl. I 1923 S. 135. Baumann 1985, S. 8 f. in § 2 seines Entwurfs eines Jugendstrafvollzugsgesetzes; ebenso in § 3 des Praktikerentwurfs der DVJJ, Bulczak u. a. 1988, S. 20. 513  Albrecht 2003, S.  357 f.; Kusch 2006, S. 66. Ein Überblick über den Meinungsstand findet sich bei Schöch 2003. 514  Albrecht 2003, S. 357 f.; Gerken / Schumann 1988, S. 2; Nothacker 1985, S. 59. 515  Siehe dazu Grunewald 2003, S. 145 f.; Nothacker 1985, S. 44 ff.; Schlüchter 1994, S. 18 f. 516  Dazu Ostendorf 1998, S. 298; Weyel 2003, S.  406 f. 517  Dünkel 1999, S. 117 f. 512  So

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B. Grundlagen des Jugendstrafvollzugs

gleichbaren Fällen stärker als im Erwachsenenstrafrecht in die Rechte von Jugendlichen eingegriffen wird.518 Gerken / Schumann bezeichnen den Erziehungsgedanken deshalb auch als „trojanisches Pferd im Rechtsstaat“519. Schließlich geht es bei der Kritik des Erziehungsgedankens auch um den Konflikt zwischen Erziehung und Strafe bzw. Schuldvergeltung, der dem Jugendstrafrecht insgesamt anhaftet.520 Man könnte im Erziehungsstrafrecht einen Widerspruch in sich erkennen, da die Erziehung helfenden Charakter aufweist, während die Strafe der Sühne für begangenes Unrecht dient.521 Dieses Spannungsverhältnis zeigt sich insbesondere bei der Jugendstrafe nach § 17 JGG, die einerseits wegen schädlicher Neigungen der oder des Jugendlichen, die in der Tat hervorgetreten sind (§ 17 II Var. 1 JGG), und andererseits wegen der Schwere der Schuld (§ 17 II Var. 2 JGG) verhängt werden kann. Während bei der Verhängung der Jugendstrafe wegen schädlicher Neigungen der Grund in der Spezialprävention liegt, zielt die Jugendstrafe wegen Schwere der Schuld auf einen gerechten Schuldausgleich bzw. Vergeltung ab.522 Nach der Terminologie des JGG, insbesondere § 18 II JGG, muss in beiden Fällen die Jugendstrafe zwar für die Erziehung grundsätzlich auch geeignet sein523, dennoch kann nach der Rechtsprechung des BGH524 zu § 18 JGG bei gravierenden Taten ausnahmsweise der Gedanke von Sühne und Schuldausgleich so neben den Erziehungsgedanken treten, dass auch Jugendstrafen zwischen fünf und zehn Jahren, die mit erzieherischen Gesichtspunkten eigentlich nicht mehr begründet werden können525, verhängt werden können. Während bei Verhängung und Bemessung der Jugendstrafe neben dem Erziehungsgedanken also auch Gesichtspunkte der Sühne der Schuld beachtet werden, geht es im Strafvollzug jedoch allein um Spezialprävention, sodass der Konflikt hier nicht zu Tage tritt.526 518  Kreideweiß 1995, S. 28 f.; Ostendorf 1998, S. 298; Pfeiffer 1992, S. 79; J. Walter 2001, S. 15 f. 519  Gerken / Schumann 1988, S. 2. 520  Beulke / Dittrich / Mann 2002, S. 122; Dünkel 1999, S. 103; Grunewald 2002, S.  453 f.; Kreideweiß 1995, S. 26; Ostendorf 1998, S. 289; Schüler-Springorum 1982, S.  649 ff. 521  Kreideweiß 1995, S. 26 ff.; Rössner 1990, S. 21; Tierel 2008, S. 144. 522  Böhm / Feuerhelm 2004, S. 224; Laubenthal / Baier / Nestler 2010, Rn. 738, 748; Meyer-Odewald 1993, S. 2. 523  BGHSt 15, 224; 16, 261 (263); BGH StV 1981, 130; 240; 241; 405; BGH NStZ-RR 2005, 245; so auch Buckolt 2009, S. 65; Eisenberg 2016, § 17 Rn. 4. 524  BGH StV 1981, 26; BGH NStZ 2007, 522. 525  Dünkel 1999, S. 103. 526  Siehe zu den Strafzwecken im Jugendstrafrecht Kap. B. I. 4. Die Erörterung, inwieweit Strafzwecke bei vollzuglichen Entscheidungen dennoch eine Rolle spielen können, erfolgt sogleich in Kap. B. III. 6.



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b) Konkretisierung und Begrenzung des Erziehungsbegriffs Um den Bedenken bezüglich der Weite und Unbestimmtheit des Erziehungsbegriffs entgegenzuwirken, bedarf es einer genauen Erläuterung und Konkretisierung. In der pädagogischen und erziehungswissenschaftlichen Literatur wird Erziehung als eine bewusste und gezielte Beeinflussung von heranwachsenden Personen beschrieben, die eine Veränderung bzw. Verbesserung des Erzogenen herbeiführen soll. Es handelt sich danach um einen sozialen interaktiven Prozess von mindesten zwei Personen, der über einen gewissen Zeitraum andauert.527 Dabei wird zwischen verschiedenen Erziehungsstilen unterschieden, bei denen die Faktoren „Einsatz elterlicher Autorität“ und „Berücksichtigung kindlicher Bedürfnisse“ jeweils unterschiedliche Beachtung finden. Die heute in der Pädagogik vorherrschenden Konzepte sind auf eine Erziehung zur Mündigkeit ausgerichtet, die eine ruhige, ausgeglichene Autorität voraussetzt und durch die Aspekte Anerkennung, Anregung und Anleitung gekennzeichnet ist.528 Durch gegenseitige Achtung, beidseitige Kooperation und Mitbestimmung soll eine gewisse Gleichrangigkeit zwischen Erzieher und zu Erziehendem bestehen.529 Es soll dabei eine möglichst freie Entwicklung ohne Beschränkungen und Sicherheitsmaßnahmen angestrebt werden, sodass die Erziehung das „Aushalten von Unsicherheiten“ erfordert.530 Gemäß § 1 I SGB VIII steht jedem jungen Menschen „ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit“ zu. Nach diesem Grundsatz ist dem Wohl der oder des Jugendlichen und ihrer oder seiner Entwicklung Vorrang vor anderen Belangen und Gesichtspunkten einzuräumen.531 Bei der Erziehung aus jugendstrafrechtlicher Sicht sollen Jugendliche im Rahmen der Entfaltung der Persönlichkeit zur Einhaltung der allgemein verbindlichen Normen geführt werden.532 Dies geschieht meist durch einseitige Maßnahmen, die der bzw. dem Jugendlichen auferlegt werden. Erziehung im strafrechtlichen Sinne ist im Gegensatz zur pädagogischen Herangehensweise schon deshalb von einer Ungleichwertigkeit zwischen der erziehenden und der zu erziehenden Person geprägt,533 weil auch das Jugendstrafrecht in ers527  Brezinka 1990, S. 51 ff., 95; Hurrelmann 2006, S. 156 f.; Kron / Jürgens / Standop 2013, S. 156 f. Zu den verschiedenen Erziehungsbegriffen in der pädagogischen Fachliteratur siehe Gudjons 2008, S. 185 ff. 528  Hörner / Drinck / Jobst 2010, S. 117 ff., 129 ff.; Hurrelmann 2006, S. 160 ff. 529  Tschöpe-Scheffler 2006, S. 70. 530  Dollinger 2010, S. 409. 531  J. Walter 2011, S. 98. 532  Eisenberg 2016, § 2 Rn. 6; Müller 2009, S. 419. 533  Eisenberg 2016, § 2 Rn. 6.

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B. Grundlagen des Jugendstrafvollzugs

ter Linie Strafrecht ist, bei dem der Staat auf strafrechtsrelevante Gesetzesverstöße mit Sanktionen reagiert.534 Gerade weil das Strafrecht allein an Straftaten anknüpft, kann es bei der Erziehung im Strafrecht nur um die Förderung künftiger Straffreiheit gehen. Das folgt bereits aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit staatlicher Strafe, denn wenn eine bestimmte jugendstrafrechtliche Sanktion genügt, um ein künftig gesetzestreues Verhalten der oder des Jugendlichen herbeizuführen, können darüber hinausgehende Eingriffe in ihre oder seine grundrechtlich geschützte Freiheit nicht gerechtfertigt werden.535 Dementsprechend ist auch eine Erziehung zu einem „guten Menschen“536 oder eine „längere Gesamterziehung“537 abzulehnen. Da einerseits aus solchen Begriffen keine klaren Handlungsanweisungen abzuleiten sind und es andererseits in einer freiheitlichen und pluralen Gesellschaft eine Vielzahl von Lebensmodellen und Wertvorstellungen gibt, die gleichermaßen Legitimität beanspruchen können, wäre das Jugendstrafrecht andernfalls im hohen Maße anfällig für einen politischen und ideologischen Missbrauch. Ziel des Jugendstrafrechts als Erziehungsstrafrecht kann es damit nur sein, ein gesetzeskonformes Verhalten der Jugendlichen zu erreichen. Dafür können zwar erzieherische Methoden eingesetzt werden, die Erziehung um ihrer selbst willen ist aber abzulehnen.538 Dementsprechend heißt es in § 2 JGG: „Die Anwendung des Jugendstrafrechts soll vor allem erneuten Straftaten eines Jugendlichen oder Heranwachsenden entgegenwirken. Um dieses Ziel zu erreichen, sind die Rechtsfolgen und unter Beachtung des elterlichen Erziehungsrechts auch das Verfahren vorrangig am Erziehungsgedanken auszurichten.“ In Bezug auf die unterschiedliche Behandlung von Jugendlichen und Erwachsenen, häufig unter dem Deckmantel der Erziehung, wird Benachteiligungen Jugendlicher teilweise mit der Forderung nach einem aus Art. 3 I GG abgeleiteten Schlechterstellungsverbot bzw. Gebot der Besserstellung entgegengetreten.539 Bezüglich längerer Freiheitsstrafen hat der BGH festgestellt, dass auch bei der Verhängung und Bemessung der Jugendstrafe eine Überschreitung der Schuldgrenze nach oben hin auch aus erzieherischen Gesichts-

534  Ostendorf

1998, S. 302 f. 2010, S. 411; Eisenberg / Singelnstein 2007, S. 184; Nothacker 1985, S.  60 f.; Streng 2016, S. 13; Sußner 2009, S. 70. 536  So der Begriff bei Ostendorf 1991, S. 353; Ostendorf 1998, S. 303. 537  So aber BGH NJW 1958, 638 (638); BGH NStZ 2010, 280 (280 f.). 538  Eisenberg / Singelnstein 2007, S. 184; Kühl 2012, S. 75; Ostendorf 1998, S. 303; Ostendorf-Ostendorf 2016, § 1 Rn. 23 f.; Sonnen 2005, S. 95; Tierel 2008, S. 145; Sußner 2009, S. 68; J. Walter 2003, S. 398; J. Walter 2011, S. 100. 539  Bohnert 1980, S. 1931; Eisenberg 2016, § 18 Rn. 23; Hoffmann-Holland 2009, S. 80; Nothacker 1985, S. 310 f. 535  Dollinger



III. Rechtliche Grundlagen des Jugendstrafvollzugs129

punkten nicht zulässig ist540 und insofern einem Schlechterstellungsverbot Rechnung getragen. Im Zusammenhang mit Sanktionen unterhalb der Jugendstrafe hebt die Rechtsprechung aber die Wesensverschiedenheit der beiden Rechtsfolgensystem hervor.541 Damit schließt der Gleichheitssatz des Art. 3 I GG eine unterschiedliche oder auch schlechtere Behandlung Jugendlicher und Heranwachsender in vergleichbaren Situationen nicht schlichtweg aus, wenn der Grund dafür in der Erreichung des Ziels der Resozialisierung liegt.542 Der Gedanke des Schlechterstellungsverbots lässt sich auch für die Gestaltung des Jugendstrafvollzugs fruchtbar machen. Hier folgt bereits daraus, dass sich der oder die Jugendliche in einer sensiblen Entwicklungsphase befindet und auf die negativen Folgen einer Inhaftierung empfindlicher reagiert, die Verpflichtung, die Jugendlichen keinem größeren Strafübel auszusetzen als einer im Erwachsenenvollzug untergebrachten Person. Das BVerfG geht deshalb mit Recht davon aus, dass bei der Jugendstrafe die Minimierung des Strafübels eine „besondere Bedeutung“ habe.543 Gerade was Außenkontakte und die Ahndung von Disziplinarverstößen angeht, ist daher eine deutliche Besserstellung gegenüber dem Erwachsenenvollzug geboten.544 c) „Förderung“ statt Erziehung? Um dem negativen Ruf, der dem Erziehungsgedanken im Jugendstrafrecht anhaftet, entgegenzutreten, wird teilweise vorgeschlagen, statt des Begriffs der „Erziehung“ den Begriff der „Förderung“ zu verwenden.545 Zunächst spricht für den Förderungsbegriff, dass dieser nicht als Einflussnahme auf die Gesamtpersönlichkeit hin zu einem „guten Menschen“546 verstanden werden kann, sondern lediglich das Fördern eines bestimmten Aspekts, nämlich 540  BGH

NStZ 1990, S. 389. Köln NJW 1964, 1684 ff. (1685); BayObLGSt 70, 159 (161). 542  So auch Beulke / Dittrich / Mann 2002, S. 123 f.; Burscheidt 2000, S. 169; Grunewald 2002, S. 456; Schaffstein / Beulke / Swoboda 2014, S. 216 f. 543  BVerfGE 116, 69 (85). 544  BVerfGE 116, 69 (87). 545  Tondorf 2006, S. 5; J. Walter 2006a, S. 238 und auch im Entwurf des BMJ zur Regelung des Jugendstrafvollzugs vom 7.6.2006, der auf dem „Entwurf eines Gesetzes zur Regelung des Jugendstrafvollzugs“ vom 28.4.2004 beruht. Zustimmend Kühl 2012, S. 75; Murges 2015, S. 29 ff.; Ostendorf-Ostendorf 2016, § 1 Rn. 23 f.; Ostendorf 2015b, S. 115; Schwirzer 2008, S. 55; a. A. Tierel 2008, S. 153 ff.; Weyel 2003, S. 409. Zur praktischen Umsetzung der Förderung von jungen Gefangenen im ­Jugendstrafvollzug siehe Walkenhorst 2004a, S. 250  ff. und Walkenhorst 2004b, S.  417 ff. 546  Ostendorf 1998, S. 303. 541  OLG

130

B. Grundlagen des Jugendstrafvollzugs

die Straffreiheit, meint.547 Auch nach der Begründung des Entwurfs des BMJ zur Regelung des Jugendstrafvollzugs vom 7.6.2006548, bei dem der Austausch des Erziehungsbegriffs durch „Förderung“ beabsichtigt war, beschreibt der Förderungsbegriff deutlicher die geforderte aktive Mitarbeit der Gefangenen an ihrer persönlichen Weiterentwicklung, die Einsicht und Eigenverantwortung mit sich bringen soll. Laut Ostendorf ist der Begriff der Förderung insbesondere bei Volljährigen (Heranwachsenden) eine gute Alternative, da eine staatliche Erziehung von Erwachsenen verfassungswidrig549 ist. Insoweit trage die Verwendung des Förderungsbegriffs insbesondere im Jugendstrafvollzugsrecht dem Umstand Rechnung, dass Jugendliche unter 18 Jahren in der Gesamtpopulation des Jugendstrafvollzugs nur einen geringen Anteil von 7–12 % ausmachen und es sich vielmehr um einen Jungerwachsenenvollzug handelt.550 An anderer Stelle wird jedoch vorgebracht, dass der Erziehungsbegriff gut dafür geeignet sei, das Jugendstrafrecht vom Erwachsenenstrafrecht abzuheben.551 Denn durch ihn werde deutlich, dass das Jugendstrafrecht mehr leisten müsse, da bei Jugendlichen noch besondere Möglichkeiten der Einflussnahme bestünden, die dazu genutzt werden könnten, den Jugendlichen zu einem straffreien eigenverantwortlichen Leben zu befähigen.552 Auch gehe es beim Streit um den Erziehungsgedanken allgemein nur darum, die richtige Begrifflichkeit zu finden,553 sodass der Austausch der Begriffe nur eine Umwälzung der Problematik auf einen neuen Begriff mit sich bringt. Im Hinblick auf die beliebigen Interpretationsmöglichkeiten des Erziehungsbegriffs spricht viel dafür, eine Verwendung des Begriffs „Förderung“ im Jugendstrafrecht und auch Jugendstrafvollzugsrecht in Betracht zu ziehen. Demgegenüber hat sich der Bundesgesetzgeber mit dem zweiten Gesetz zur Änderung des Jugendgerichtsgesetzes und anderer Gesetze vom 13.12.2007 für die Beibehaltung des Erziehungsbegriffes in § 2 JGG entschieden554 und auch in die Jugendstrafvollzugsgesetze der Länder hat der Begriff der „Erziehung“ durchweg Eingang gefunden.

547  Kühl

2012, S. 75. zu § 3 des Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung des Jugendstrafvollzugs vom 28.4.2004. Siehe dazu auch Dünkel 2006a, S.  565 ff. 549  BVerfGE 22, 180 (219 f.). 550  Ostendorf-Ostendorf 2016, § 1 Rn. 23 ff. Zur Altersverteilung im Jugendstrafvollzug siehe Kap. B. II. 3. a) aa). 551  Bornhöfer 2010, S. 134; Tierel 2008, S. 146. 552  Bornhöfer 2010, S. 134. 553  Sußner 2009, S. 69. 554  BGBl. I 2007 S. 2894. 548  Begründung



III. Rechtliche Grundlagen des Jugendstrafvollzugs131

d) Der Erziehungsgedanke in den Landesgesetzen Der Erziehungsbegriff findet sich auf unterschiedliche Weise in den Jugendstrafvollzugsgesetzen der Länder wieder. Während einige Länder einen Erziehungsauftrag beschreiben, der richtigerweise selbst ein Mittel zur Erreichung des Vollzugsziels „Befähigung zu einem straffreien Leben“ darstellt, formulieren andere Länder ein eigenes Erziehungsziel mit selbständigem Stellenwert. Bspw. will Bayern zu einem „rechtschaffenden Lebenswandel“ erziehen.555 Auch der Begriff des „rechtschaffenden Lebenswandels“ ist zunächst einmal wegen seiner Unbestimmtheit und Dehnbarkeit problematisch.556 Dass Bayern sich dabei nicht mit einer Erziehung zur Legalbewährung zufrieden gibt, sondern darüberhinaus weiterreichende Ziele verfolgt, verdeutlicht die Gesetzesbegründung, nach der die jugendlichen Gefangenen zu einem „nützlichen Glied in der Gesellschaft“ werden sollen oder von ihnen „ein sinnvolles Leben“ erwartet wird.557 Dass solch ambitionierte Ansprüche an die Erziehung der Jugendstrafgefangenen jedenfalls nicht mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bei staatlicher Strafe vereinbar sind, wurde bereits erörtert.558 Darüber hinaus erscheinen sie aber auch im Hinblick auf das Selbstbestimmungsrecht und die Menschenwürde problematisch. Nach Art. 6 II 2 GG besteht zwar ein sekundäres staatliches Erziehungsrecht, dennoch darf nicht eine innere Umkehr einer Person erzwungen werden.559 Zudem bleibt völlig unklar, was ein „nützliches Glied in der Gesellschaft“ oder ein „sinnvolles Leben“ überhaupt ausmacht. Diesbezüglich wird an mancher Stelle gar der Vergleich zur nationalsozialistischen Erziehungsideologie mit Begrifflichkeiten wie das „taugliche Glied in der Gesellschaft“, „soziale Gesinnung“ oder das „ordentliche Mitarbeiten“ nicht gescheut.560 Deutlich zu weit geht auch Baden-Württemberg mit dem in § 2 II JStVollz­ GB-IV formulierten Erziehungsgrundsatz. Es heißt: „Die jungen Gefangenen sind in der Ehrfurcht vor Gott, im Geiste der christlichen Nächstenliebe, zur Brüderlichkeit aller Menschen und zur Friedensliebe, in der Liebe zu Volk und Heimat, zu sittlicher und politischer Verantwortlichkeit, zu beruflicher und sozialer Bewährung und zu freiheitlicher demokratischer Gesinnung zu erziehen.“ Abgesehen davon, dass diese Formulierungen „lebensfremd und

555  Art. 121

BayStVollzG. 2007, S. 20; Kühl 2012, S. 67. 557  So die Begründung zu Art. 121 BayStVollzG, LT-Drs. 15 / 8101 S. 72. 558  Siehe Kap. B. III. 3. b). 559  Ostendorf 1991, S. 353; Sußner 2009, S. 71, 193. 560  So Kühl 2012, S. 72 f. 556  Goerdeler

132

B. Grundlagen des Jugendstrafvollzugs

lächerlich“561 wirken und das Land den Jugendstrafgefangenen damit moralische Verhaltensweisen aufdrängen will, liegt damit neben dem Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auch ein Eingriff in die Religionsfreiheit vor. Der Staat darf niemanden zur Ehrfurcht vor Gott und im Geiste der christlichen Nächstenliebe erziehen.562 Fraglich bleibt außerdem die angestrebte praktische Bedeutung dieser Formulierung des Erziehungsgrundsatzes: Jede Maßnahme im Jugendstrafvollzug, die zur Ehrfurcht vor Gott anhalten soll, würde sich in Widerspruch zur Rechtsprechung des BVerfG zur negativen Religionsfreiheit563 setzen. Auch die Regelung des Landes Sachsen geht in eine ähnliche Richtung, wenn auch in § 3 I 3 SächsJStVollzG in etwas abgeschwächter Weise formuliert wird: „Sie sind zur Ehrfurcht vor allem Lebendigen, zur Nächstenliebe, zum Frieden und zur Erhaltung der Umwelt, zur Heimatliebe, zu sittlichem und politischem Verantwortungsbewusstsein, zu Gerechtigkeit und zur Achtung vor der Überzeugung des Anderen, zu beruflichem Können, zu sozialem Handeln und zu freiheitlicher demokratischer Haltung zu erziehen.“ Dennoch stoßen auch solche moralischen Ansprüche an die Erziehung der Jugendstrafgefangenen auf die gleichen Bedenken. Sie sind zudem einer eher konservativen politischen Haltung geschuldet, die sich bei der nächsten Landtagswahl erledigt haben könnte. Dagegen sehen Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfahlen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen in der Erziehung nur das Mittel, um eine soziale Integration des Gefangenen zu erreichen.564 Sie formulieren weitgehend einheitlich unter der Überschrift „Erziehungsauftrag“, „Erzieherische Gestaltung“ oder „Gestaltung“ des Vollzugs: „Der Vollzug ist erzieherisch zu gestalten. Die Gefangenen sind in der Entwicklung ihrer Fähigkeiten und Fertigkeiten so zu fördern, dass sie zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Lebensführung in Achtung der Rechte anderer befähigt werden.“565 Berlin und Brandenburg heben bereits an dieser Stelle neben dem Erziehungs- auch den Förderauftrag explizit hervor. 561  Meier

2007, S. 147. 2007, S. 55; Ostendorf 2007, S. 107; Ostendorf-Ostendorf 2016, § 1 Rn. 24; Sonnen 2007b, S. 83; D / S / S-Sonnen 2011, JStVollzG § 3 Rn. 5; Wegemund / Dehne-Niemann 2008, S. 570 f. 563  „Kruzifix“-Urteil des BVerfG, BVerfGE 93, 1 ff. 564  Dazu auch D / S / S-Sonnen 2011, JStVollzG § 3 Rn. 2. 565  § 3 JStVollzG Bln, § 9 BbgJVollzG, § 3 BremJStVollzG, § 3 HmbJStVollzG, § 3 HessJStVollzG, § 3 JStVollzG M-V, § 114 NJVollzG, § 3 JStVollzG NRW, § 9 LJVollzG RLP, § 3 SJStVollzG, § 3 JStVollzG S-H, § 9 ThürJVollzGB. 562  Dünkel / Pörksen



III. Rechtliche Grundlagen des Jugendstrafvollzugs133

e) Zusammenfassung Die Umsetzung des Erziehungsgedankens in den Landesgesetzen zeigt erneut die gefährliche Unbestimmtheit des Begriffs „Erziehung“ und dessen Offenheit für politische oder ideologische Interpretationsmöglichkeiten. Obwohl die Anfälligkeit des Erziehungsbegriffs für ideologischen Missbrauch mittlerweile gut belegt ist und die Notwendigkeit seiner verfassungsrechtlich gebotenen Begrenzung auf ein Leben ohne Straftaten immer wieder erörtert wurde, füllen einige Landesgesetzgeber den Erziehungsgedanken mit derart „symbolischer Gesetzgebung“566 aus. Ob dem Jugendstrafvollzug mit der Formulierung solcher Erziehungsziele gedient ist, ist zweifelhaft. Der Umgang einiger Landesgesetzgeber mit dem Erziehungsbegriff legt es jedenfalls nahe, den Begriff der „Förderung“ als Alternative in Betracht zu ziehen.567 4. Gestaltungsgrundsätze Die bereits in § 3 StVollzG niedergelegten Gestaltungsgrundsätze wurden von allen Ländern nahezu vollständig, wenn auch teilweise mit unterschiedlichen Formulierungen, in ihre Jugendstrafvollzugsgesetze aufgenommen.568 Die Gestaltungsgrundsätze dienen dazu, durch richtungsweisende Vorgaben den Inhalt der Vollzuggestaltung und damit den Weg der Resozialisierung näher zu bestimmen. Insbesondere sollen durch diese Vorgaben auch die negativen Auswirkungen, die ein Freiheitsentzug zwangsläufig mit sich bringt, vermindert werden.569 Nach dem Angleichungsgrundsatz soll das Leben im Vollzug den allgemeinen Lebensverhältnissen so weit wie möglich angeglichen werden. Dazu gehören vor allem ein strukturierter Tagesablauf durch sinnvolle Beschäftigung und Freizeitgestaltung,570 gleiche Schul- und Ausbildungsmöglichkeiten bzw. Lehrpläne, sodass der Jugendliche auch nach seiner Entlassung da 566  Dünkel / Pörksen 2007, S. 55 sprechen insoweit auch noch von „wild gewordenen Ministerialbeamten“ oder „Provinzposse“. 567  So auch Kühl 2012, S. 75; J. Walter 2006a, S. 238. 568  § 2 JVollzGB BW-IV; Art. 122 i. V. m. Art. 5 BayStVollzG § 3 JStVollzG Bln; § 7, 8 BbgJVollzG; § 4 BremJStVollzG; § 3 HmbJStVollzG; § 3 HessJStVollzG; § 3 JStVollzG MV; § 2 NJVollzG; § 2 JStVollzG NRW; § 7, 8 LJVollzG RLP; § 3 SJ­ StVollzG; § 3 SächsJStVollzG; § 7 JVollzGB LSA; § 3 JStVollzG S-H; § 7, 8 Thür­ JVollzGB. 569  Calliess / Müller-Dietz 2008, § 3 Rn. 1; AK-Feest / Lesting 2017, § 3 Rn. 1 ff.; Laubenthal 2011, Rn. 196. Zu den negativen Entwicklungsfolgen im Einzelnen und einer sinnvollen Vollzugsgestaltung siehe Kap. B. II. 4. 570  Drenkhahn 2010, S. 264.

134

B. Grundlagen des Jugendstrafvollzugs

ansetzen kann, wo er im Vollzug aufgehört hat,571 der Zugang zu einer Bibliothek und Tageszeitungen,572 aber auch die Berücksichtigung des technischen Fortschritts, der sich zumindest weitgehend in der Anstaltsausstattung bzw. in den Möglichkeiten der Inhaftierten, auf technische Geräte zuzugreifen, widerspiegeln sollte573. Nach dem Gegenwirkungsgrundsatz ist den schädlichen Folgen des Freiheitsentzugs entgegenzuwirken. Diesem Grundsatz kommt gerade im Jugendstrafvollzug, bei dem sich die Gefangenen noch im Entwicklungsprozess hin zu einer persönlichen Identität befinden, eine erhöhte Bedeutung zu.574 Prisonisierungseffekte wie die Anpassung an die Werte und Regeln der Mitinsassen, psychische Belastungen, Autonomieverlust, aber auch die Einschränkung von familiären und freundschaftlichen Kontakten wirken gerade aufgrund der Entwicklungsphase, in der Verantwortungsübernahme und Eigenständigkeit wichtige Faktoren darstellen, besonders belastend.575 Es ist deshalb erforderlich, diese schädlichen Haftfolgen durch entsprechende Vollzugsgestaltung abzuschwächen. Wichtige Aspekte sind dabei die Ausrichtung der Anstalt auf wirksame Behandlungsförderung, eine sichere und menschenwürdige Unterbringung, eine sinnvolle Beschäftigung und Freizeitgestaltung, die Gewährung von Lockerungen und das Fördern von Außenkontakten. Zudem müssen auch die Sicherheit und Ordnung und insbesondere der Schutz vor gegenseitiger Gewalt in der Vollzugsgestaltung beachtet werden. Ein gewaltfreies Klima ist für die Entfaltung einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit unerlässlich.576 Schließlich ist nach dem Integrationsgrundsatz der Vollzug darauf auszurichten, der bzw. dem Gefangenen zu helfen, sich in das Leben in Freiheit einzugliedern. Es wird somit erneut die Ausrichtung des gesamten Vollzugs am Vollzugsziel betont. Auch wenn der maßgebliche Zeitpunkt in § 3 StVollzG nicht explizit benannt wurde, verlangt bereits die Stellung der Resozialisierung als Vollzugsziel, dass dies von Anfang an zu erfolgen hat.577 571  Sußner

2009, S. 72; ähnlich BVerfGE 116, 69 (90). 2008, § 3 Rn. 1, 3; OLG Nürnberg ZfStrVo 1993, 116. 573  Knauer 2006, S. 58 ff. 574  Laubenthal / Baier / Nestler 2010, Rn. 932. So auch BVerfGE  116, 69 (68), das aufgrund des staatlichen Eingriffs in diese Lebensphase eine gesteigerte Verantwortung sieht, der der Staat nur durch eine in besonderer Weise auf Förderung ausgerichtete Vollzugsgestaltung gerecht werden kann. 575  Greve / Hosser 1998, S. 89 ff.; Hosser / Bosold 2008b, S. 173. Siehe dazu Kap. B. II. 4. 576  Kap. B. II. 3. und Kap. B. II. 4., ähnliche Vorgaben macht auch das BVerfG, BVerfGE 116, 69 (86 ff.). 577  Arloth 2011, § 3 Rn. 7; AK-Feest / Lesting 2017, § 3 Rn. 7; Laubenthal 2011, Rn. 234. 572  Calliess / Müller-Dietz



III. Rechtliche Grundlagen des Jugendstrafvollzugs135

Die Integration des Gefangenen kann bspw. durch den Erhalt einer bereits vorhandenen Wohnung oder durch die Ermöglichung von Kontakten zu Personen außerhalb der Anstalt erleichtert werden.578 Die Grundsätze der Angleichung und Gegenwirkung wurden von allen Ländern nahezu wörtlich in ihre Jugendstrafvollzugsgesetze übernommen. Hessen und Nordrhein-Westfalen schränken den Angleichungsgrundsatz direkt im Anschluss jedoch insoweit ein, dass dabei „die Belange von Sicherheit und Ordnung der Anstalt zu beachten“ sind. Als Konkretisierung des Gegenwirkungsgrundsatzes fordern Baden-Württemberg, Berlin, Brandenburg, Bremen, Mecklenburg-Vorpommern, Saarland und Schleswig-Holstein ausdrücklich, dass die jungen Gefangenen vor Übergriffen zu schützen sind und räumen diesem Schutz damit einen erhöhten Stellenwert ein. Auch Hessen und Niedersachsen benennen diesen Schutzauftrag an anderer Stelle im Gesetz ausdrücklich.579 Hamburg fordert zudem: „Insbesondere ist auf die Schaffung und die Bewahrung eines gewaltfreien Klimas im Vollzug zu achten.“580 Dieser Schutzauftrag ist vor allem als Reaktion auf einige öffentlichkeitswirksame Vorkommnisse und Untersuchungen,581 nach denen Gewalt im Jugendstrafvollzug kein seltenes Phänomen ist, begrüßenswert.582 In Brandenburg, Rheinland-Pfalz und Thüringen ist ein besonderes Augenmerk auf die Verhütung von Selbsttötungen zu richten. Auch der Integrationsgrundsatz wurde von den meisten Bundesländern in die Gesetze aufgenommen. Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen stellen zudem klar, dass die Vollzugsgestaltung bereits „von Beginn an“ auf die Wiedereingliederung ausgerichtet sein muss und damit die bereits bei § 3 StVollzG übereinstimmende Auslegung583 gesetzlich fixiert. Niedersachsen hat den Integrationsgrundsatz nur als Soll-Vorschrift neben anderen Belangen, wie die Mitarbeit der Gefangen und ihre Eigenverantwortung zu fördern, ausgestattet. Die Integration der Gefangenen findet als Gestaltungsgrundsatz im Gesetz von Baden-Württemberg keine Berücksichtigung. Sie wird lediglich als Aufgabe des Vollzug hinter dem Schutz der Allgemeinheit neben weiteren 578  Kamann

2009, S. 65 ff. Satz 3 HessJStVollzG; § 120 I Satz 2 NVollzG. 580  § 3 III Satz 3 HmbJStVollzG. 581  Bspw. Bieneck / Pfeiffer 2012, S. 11; Hinz / Hartenstein 2010, S. 178; Wirth 2006, S. 22. Zu den einzelnen Untersuchungen zu Gewalt und Straftaten im Strafvollzug siehe Kap. D. I. 582  Auch das BVerfG hat diesen Schutzauftrag im Jugendstrafvollzug ausdrücklich betont, BVerfGE 116, 69 (90). 583  Arloth 2011, § 3 Rn. 7; Calliess / Müller-Dietz 2008, § 3 Rn. 7; AK-Feest / Lesting 2017, § 3 Rn. 7; Laubenthal 2011, Rn. 234. 579  § 44 I

136

B. Grundlagen des Jugendstrafvollzugs

Aufgaben genannt: „[…] Strafvollzug und Jugendstrafvollzug leisten einen Beitrag für die Eingliederung der Gefangenen in die Gesellschaft, die innere Sicherheit und für den Rechtsfrieden.“584 Im Unterschied zu § 3 StVollzG werden in den Gesetzen von Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Saarland, Sachsen und SchleswigHolstein zudem die Belange der Sicherheit und Ordnung der Anstalt und in Hamburg, Niedersachsen und Sachsen auch die Belange der Allgemeinheit im Anschluss an die Gestaltungsgrundsätze genannt.585 Ob diesen Belangen damit eine mit Blick auf das Vollzugsziel der Resozialisierung unzulässige erhöhte Bedeutung zukommen soll oder die gesetzliche Fixierung nur aus Klarstellungsaspekten erfolgt, bleibt unklar.586 Einige Länder haben zusätzlich zu den aus § 3 StVollzG übernommenen Grundsätzen noch weitere Grundsätze eingefügt wie die Achtung der Grundund Menschenrechte587 oder die Auseinandersetzung der Gefangenen mit ihren Straftaten, deren Ursachen und Folgen588. Auch finden sich in den ­ Gesetzen Konkretisierungen wie Lernen mit Gleichaltrigen und Verant­ ­ wortungsübernahme,589 die Anpassung der Vollzugsgestaltung an den Ent­ wicklungsstand,590 die Berücksichtigung der unterschiedlichen Bedürfnisse von weiblichen und männlichen Gefangenen591 bzw. der unterschiedlichen Bedürfnisse insbesondere im Hinblick auf Geschlecht, Alter, Herkunft, Religion, Behinderung und sexuelle Identität oder die Einbeziehung der Personensorgeberechtigten und der Jugendhilfe592 . 5. Rechtliche Grundlagen für Reaktionen auf Straftaten im Jugendstrafvollzug Als Reaktion auf Pflichtverstöße der Gefangenen und damit auch auf Straftaten, die im Vollzug begangen werden, sehen alle Jugendstrafvollzugs584  § 2 I

Satz 2 JVollzGB BW-I. Hessen und Nordrhein-Westfalen geschieht diese Einschränkung bereits im Rahmen des Angleichungsgrundsatzes. 586  Kühl 2012, S. 84 f. 587  § 2 I JVollzGB BW-IV. 588  § 8 I BbgJVollzG; § 8 I JVollzG RLP; § 8 I ThürJVollzGB. 589  § 2 VI JVollzGB BW-IV. 590  § 2 VIII JVollzGB BW-IV; § 3 III HessJStVollzG. 591  § 2 VIII JVollzGB BW-IV; § 3 IV BremJStVollzG; § 3 III HmbJStVollzG; § 3 III HessJStVollzG; § 3 IV JStVollzG MV; § 3 III JStVollzG NRW; § 3 IV SJStVollzG; § 3 V SächsJStVollzG; § 3 IV JStVollzG S-H. 592  In unterschiedlicher Aufzählung in § 2 IX JVollzGB BW-IV; § 3 VIII JStVollzG Bln; § 7 IV BbgJVollzG; § 7 III JVollzG RLP; § 7 III JVollzGB LSA; § 7 III ThürJVollzGB. 585  Bei



III. Rechtliche Grundlagen des Jugendstrafvollzugs137

gesetze erzieherische Maßnahmen und Disziplinarmaßnahmen vor.593 In einigen Gesetzen werden daneben auch das erzieherische Gespräch594 und Maßnahmen der Konfliktregelung595 bzw. einvernehmlichen Streitbeilegung596 genannt. Die Strafanzeige als Reaktionsmaßnahme findet in den Landesgesetzen keine eigene Regelung. Erwähnung findet sie, wenn auch nur indirekt, allein im Rahmen des Regelungsabschnitts zu den Disziplinarmaßnahmen: Dort wird normiert, dass bei einer Verfehlung einer oder eines Gefangenen Disziplinarmaßnahmen auch neben einem Straf- oder Bußgeldverfahren verhängt werden können.597 Zwar ist dies hinsichtlich des Doppelbestrafungsverbots problematisch,598 es zeigt jedoch, dass der Gesetzgeber grundsätzlich von einer strafrechtlichen Verfolgung im Vollzug begangener Taten ausgeht. Ob und in welchen Fällen bei im Vollzug begangenen Straftaten Strafanzeige zu stellen ist, bleibt jedoch offen. Auch der Blick in internationale Vorschriften hilft nicht weiter. Zwar heißt es unter der Überschrift „Criminal acts“ in Nr. 55 der European Prison Rules (EPR) „[a]n alleged criminal act committed in a prison shall be investigated in the same way as it would be in free society and shall be dealt with in accordance with national law“, diese Empfehlung bezieht sich aber lediglich auf die Einhaltung von rechtsstaatlichen Mindeststandards bei Ermittlungen im Strafvollzug. Sie trifft keine Aussage über die Verpflichtung, Strafanzeige zu stellen. Strikt von den Maßnahmen, die als Reaktionen auf im Vollzug begangene Straftaten eingesetzt werden, sind die allgemeinen und besonderen Siche593  §§ 77 ff. JVollzGB BW-IV; Art. 155 ff. BayStVollzG; §§ 96 ff. JStVollzG Bln; §§ 98 ff. BbgJVollzG; §§ 82 ff. BremJStVollzG; §§ 85 ff. HmbJStVollzG; §§ 54 ff. HessJStVollzG; §§ 82 ff. JStVollzG M-V; § 130 NJVollzG; §§ 92 ff. JStVollzG NRW; §§ 96 ff. LJVollzG RLP; §§ 82 ff. SJStVollzG; §§ 81 ff. SächsJStVollzG; §§ 97 ff. JVollzGB LSA; §§ 82 ff. JStVollzG S-H; §§ 97 ff. ThürJVollzGB. 594  Explizit genannt wird es in § 98 BbgJVollzG; § 82 BremJStVollzG; § 85 HmbJStVollzG; § 82 JStVollzG M-V; § 92 JStVollzG NRW; § 96 LJVollzG RLP; § 82 SJStVollzG; § 81 SächsJStVollzG; § 97 JVollzGB LSA; § 82 JStVollzG S-H; § 97 ThürJVollzGB. § 77 JVollzGB BW-IV nennt das erzieherische Gespräch als eine erzieherische Maßnahme. Nach § 96 JStVollzG Bln und § 54 HessJStVollzG sind die Pflichtverletzungen unverzüglich erzieherisch aufzuarbeiten. 595  § 96 I, II JStVollzG Bln; § 54 HessJStVollzG; § 92 I JStVollzG NRW. Auch § 77 I JVollzGB BW-IV nennt die Konfliktschlichtung, jedoch als eine der erzieherischen Maßnahmen. 596  § 98 II, 99 BbgJVollzG; § 96 II LJVollzG RLP; § 97 II ThürJVollzGB. 597  § 77 III JVollzGB BW-IV; Art. 156 II i. V. m. Art. 109 III BayStVollzG; § 97 VI JStVollzG Bln; § 100  V BbgJVollzG; § 83  IV BremJStVollzG; § 86  IV HmbJStVollzG; § 55  IV HessJStVollzG; § 83  IV JStVollzG M-V; § 94  III i. V. m. § 130  II NJVollzG; § 93  II JStVollzG NRW; § 97  VI LJVollzG RLP; § 83  IV SJStVollzG; § 82  V SächsJStVollzG; § 98  VI JVollzGB LSA; § 83  IV JStVollzG S-H; § 98 VI ThürJVollzGB. 598  Dazu Kap. D. III. 2. e) aa).

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B. Grundlagen des Jugendstrafvollzugs

rungsmaßnahmen sowie die Maßnahmen des unmittelbaren Zwangs zu unterscheiden. Diese werden präventiv zur Gefahrenabwehr eingesetzt und sind als Maßnahmen zur Disziplinierung unzulässig.599 a) Erzieherisches Gespräch, erzieherische Maßnahmen und Disziplinarmaßnahmen Die Maßnahmen zur Reaktion auf Pflichtverstöße sind in allen Landes­ gesetzen in einem abgestuften System geregelt. Die meisten Gesetze sehen dabei ein dreistufiges Modell vor.600 Zunächst ist der Pflichtverstoß in einem erzieherischen Gespräch bzw. erzieherisch aufzuarbeiten. Anschließend können erzieherische Maßnahmen ergriffen werden. Die eingriffsintensiveren Disziplinarmaßnahmen kommen schließlich nur in Betracht, wenn erzieherische Maßnahmen nicht ausreichen, den Gefangenen das Unrecht ihrer Handlung zu verdeutlichen. Als erstes muss das Tatgeschehen also mündlich und gemeinsam mit der oder dem Gefangenen erzieherisch aufgearbeitet werden. Erst danach kommen erzieherische Maßnahmen in Betracht. Bei erzieherischen Maßnahmen handelt es sich um Handlungsanweisungen und Verpflichtungen, die dazu geeignet sind, den Gefangenen ihr Fehlverhalten und die Notwendigkeit einer Verhaltensänderung bewusst zu machen. Zudem nennen einige Bundesländer verschiedene kurzzeitige Beschränkungen im Hinblick auf Freizeitgegenstände und gemeinsame Freizeit.601 Erzieherische Maßnahmen können verfahrensfrei eingesetzt werden, die Anstaltsleitung muss allerdings bestimmen, welche Bediensteten dazu befugt sind.602 Dagegen können Disziplinarmaßnahmen nur von der Anstaltsleitung in einem formalisierten Disziplinarverfahren angeordnet werden.603 Zum Verfahren gehört eine Sachverhaltsaufklärung nach rechtsstaatlichen Maßstäben einschließlich der Anhörung der Gefangenen und der Belehrung zur Aussagefreiheit, bei der der rechtswidrige und schuldhafte Pflichtverstoß nachge599  Ostendorf-Goerdeler

2016, § 8 Rn. 22. 2016, § 10 Rn. 5. 601  So § 77 I JVollzGB BW-IV; § 96 III JStVollzG Bln; § 98 I BbgJVollzG § 82 I BremJStVollzG; § 85 HmbJStVollzG; § 82 I JStVollzG M-V; § 92 I JStVollzG NRW; § 96  I LJVollzG RLP; § 82  I SJStVollzG; § 81  I SächsJStVollzG; § 97  I JVollzGB LSA; § 82  I JStVollzG S-H; § 97  I ThürJVollzGB. § 77  I JVollzGB BW-IV nennt zusätzlich noch die Verwarnung. 602  Nach § 88  I HmbJStVollzG ist allein die Anstalts- oder die damit beauftragte Vollzugs- oder Wohngruppenleitung zuständig. Keine Zuweisung der Zuständigkeit gibt es im HessJStVollzG und NJVollzG. 603  Zur Delegationsmöglichkeit siehe Kap. C. I. 2. In Berlin wird die Disziplinarbefugnis in einem Geschäftsverteilungsplan festgelegt, §§ 99 I, 106 II JStVollzG Bln. 600  Ostendorf-Rose



III. Rechtliche Grundlagen des Jugendstrafvollzugs139

wiesen werden muss. Ggf. müssen Personen, die an der Erziehung des Gefangenen mitwirken, mit einbezogen und eine Ärztin oder ein Arzt konsultiert werden. Außerdem muss die Entscheidung zur Disziplinarmaßnahme den Gefangenen mündlich und schriftliche begründet werden. Disziplinarmaßnahmen können zur Bewährung ausgesetzt werden und den Gefangenen steht ein Beschwerderecht zu. Die Anordnung von Disziplinarmaßnahmen liegt im Ermessen der Anstaltsleitung. In einigen Landesgesetzen sind die Pflichtverstöße, für die eine Disziplinarmaßnahme in Frage kommt, in einem Tatbestandskatalog abschließend aufgezählt. So können Disziplinarmaßnahmen angeordnet werden, wenn Gefangene rechtswidrig und schuldhaft (1) gegen Strafgesetze verstoßen oder eine Ordnungswidrigkeit begehen, (2) andere Personen verbal oder tätlich angreifen, (3) Lebensmittel oder fremdes Eigentum zerstören oder beschädigen, (4) sich zugewiesenen Aufgaben entziehen, (5) verbotene Gegenstände in die Anstalt bringen, (6) sich am Einschmuggeln verbotener Gegenstände beteiligen oder sie besitzen, (7) entweichen oder zu entweichen versuchen oder (8) in sonstiger Weise wiederholt oder schwerwiegend gegen die Hausordnung verstoßen oder das Zusammenleben in der Anstalt stören.604 Die möglichen Disziplinarmaßnahmen sind in den jeweiligen Landesgesetzen abschließend, jedoch teilweise recht unterschiedlich geregelt. Allgemein in Betracht kommen die Beschränkung oder der Entzug des Rundfunkempfangs, von Freizeitgegenständen, der Ausschluss von gemeinsamer Freizeit oder einzelnen Freizeitveranstaltungen, die Beschränkung des Einkaufs und der Arrest bis zu zwei Wochen.605 Es dürfen 604  § 83  II BremJStVollzG; § 83  II JStVollzG M-V; § 83  II SJStVollzG; § 82  II SächsJStVollzG; § 83  II JStVollzG S-H. Ähnlich in § 97  II JStVollzG Bln; § 100  I BbgJVollzG; § 55  II HessJStVollzG; § 86  II HmbJStVollzG; § 97  I LJVollzG RLP; § 98 I JVollzGB LSA § 98 I ThürJVollzGB. 605  Genannt werden noch die Beschränkung und der Entzug der Verfügung über das Hausgeld (JVollzGB BW-IV [auch das Sondergeld]; Art. 156 III BayStVollzG; § 130 i. V. m. § 95 I NJVollzG; § 55 III HessJStVollzG [bis 50 %]; § 93 III JStVollzG NRW [bis 75 %]; § 82 III SächsJStVollzG; § 99 III JVollzGB LSA), der zugewiesenen Arbeit oder Beschäftigung (§ 78  I JVollzGB BW-IV; Art. 156  III BayStVollzG; § 97 III JStVollzG Bln; § 130 i. V. m. § 95 I NJVollzG; § 99 III JVollzGB LSA), von Ausgangsstunden bei der Gewährung von vollzugsöffnenden Maßnahmen (§ 55 III HessJStVollzG), die Beschränkung des Verkehrs mit Personen außerhalb der Anstalt auf dringende Fälle bis zu drei Monaten (§ 78 I JVollzGB BW-IV; Art. 156 III BayStVollzG; § 130 i. V. m. § 95 I NJVollzG), Kürzung des Arbeitsentgelts um 10 Prozent (§ 97 III JStVollzG Bln; § 100 III BbgJVollzG; § 97 III LJVollzG RLP; § 99 III JVollzGB LSA; § 98  III ThürJVollzGB), der Verweis (§ 55  III HessJStVollzG; § 130 i. V. m. § 95 I NJVollzG; § 99 III JVollzGB LSA), der Widerruf einer nach § 4 II gewährten Belohnung oder Anerkennung (§ 55 III HessJStVollzG) bzw. der Entzug von Annehmlichkeiten nach § 62 (§ 99 III JVollzGB LSA) und der Ausschluss von Unterricht, Berufsausbildung, beruflicher Fort- und Weiterbildung, Umschulung oder der zugewiesenen Arbeit oder einer sonstigen Beschäftigung bis zu vier Wochen (§ 97 III LJVollzG RLP und § 98 III ThürJVollzGB [nur Arbeit bis zu zwei Wochen]). § 97 III

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B. Grundlagen des Jugendstrafvollzugs

dabei auch mehrere Disziplinarmaßnahmen nebeneinander angeordnet werden. Allein Brandenburg und Sachsen stechen hervor, indem sie auf die eingriffsintensivste Maßnahme, den Arrest, verzichten.606 b) Maßnahmen der Konfliktregelung In den Landesgesetzen von Berlin, Hessen und Nordrhein-Westfalen sind zudem auch Maßnahmen zur Konfliktregelung niedergelegt. Genannt werden hier ausgleichende Handlungen wie eine Entschuldigung, Schadensbeseitigung oder Schadenswiedergutmachung. Das Berliner Jugendstrafvollzugs­ gesetz sieht zudem die Erbringung von Leistungen für die Gemeinschaft, die Teilnahme an einer Mediation oder den vorübergehenden Verbleib im Haftraum vor.607 Ähnliche Maßnahmen, die als Vereinbarungen im Wege der einvernehmlichen Streitbeilegung bezeichnet werden und bei Erfüllung der Vereinbarung die Anordnung von erzieherischen Maßnahmen oder Disziplinarmaßnahmen ausschließen, finden sich in den Gesetzen von Brandenburg, Rheinland-Pfalz und Thüringen.608 Dass solche Maßnahmen der Konfliktregelung nur in wenige Landesgesetze aufgenommen wurden, heißt jedoch nicht, dass sie in den restlichen Bundesländern nicht auch eingesetzt werden. Bspw. wurde in Niedersachsen auf eine explizite Nennung solcher Maßnahmen im Jugendstrafvollzugsgesetz verzichtet, da das Gesetz ihnen nicht entgegenstünde und es einer besonderen Regelung nicht bedürfe.609 Es ist dennoch wünschenswert, auch solche Maßnahmen ausdrücklich in die einzelnen Gesetze aufzunehmen, um ihre Durchführung sicherzustellen und auszuweiten. 6. Verhältnis des Vollzugsziels zu den allgemeinen Strafzwecken Die Frage nach dem Zweck der Strafe allgemein und die Frage nach dem Vollzugsziel betreffen zwei unterschiedliche Ebenen der Strafrechtspflege.610 JStVollzG Bln; § 100  III BbgJVollzG; § 86  III HmbJStVollzG; § 97  III LJVollzG RLP; § 99 III JVollzGB LSA schließen den Entzug von Lesestoff aus. Nach § 97 III JStVollzG Bln ist allgemein ein Entzug der Geräte der Informations- und Unterhaltungselektronik mit Ausnahme des Hörfunkempfangs möglich. 606  Zur Zielsetzung und zum sinnvollen Einsatz von erzieherischen Maßnahmen und Disziplinarmaßnahmen siehe die Bewertung bei Handlungsalternativen zur Strafanzeige im Kap. D. III. 2. e). 607  § 96 II JStVollzG Bln; § 54 HessJStVollzG; § 92 I JStVollzG NRW. 608  § 98 II, 99 BbgJVollzG; § 96 II LJVollzG RLP; § 97 II ThürJVollzGB. 609  Gesetzesbegründung Landtag Niedersachsen, Drs. 15 / 3565, S. 172. Dazu auch Ostendorf-Rose 2016, § 10 Rn. 3. 610  Goerdeler 2007, S. 15; siehe dazu auch das Stufenmodell von Roxin 1966, S. 381; Roxin 2006, § 3 Rn. 42, 51.



III. Rechtliche Grundlagen des Jugendstrafvollzugs141

Während es bei der ersten Frage um den Sinn der Strafandrohung, der Strafverhängung und des Strafvollzugs an sich geht,611 behandelt die zweite Frage die Ausrichtung des Vollzugs bei einer freiheitsentziehenden Sanktion, also die Gestaltung der Freiheitsstrafe.612 Um bei der Entscheidung, ob und wann die Anstaltsleitung bei im Jugendstrafvollzug begangenen Straftaten Strafanzeige stellen soll, zwischen allen in Betracht kommenden Aspekten abwägen zu können, bedarf es der Erörterung, inwieweit die Strafzwecke auch in den Strafvollzug wirken und dort bei der Ausgestaltung und bei konkreten vollzuglichen Entscheidungen berücksichtigt werden dürfen. Im Erwachsenenvollzug wird zunächst zwischen Statusentscheidungen und Gestaltungsentscheidungen unterschieden.613 Bei Statusentscheidungen, die meist als gerichtliche Entscheidungen nach dem StGB den Status einer Person als Gefangene begründen oder aufheben, finden die allgemeinen Strafzwecke grundsätzlich unmittelbare Berücksichtigung. Solche Entscheidungen sind bspw. das Strafurteil als Grundlage für die Vollstreckung und den Vollzug oder eine Aussetzung des Strafrests zur Bewährung nach §§ 57, 57a StGB. Die Heranziehung verschiedener Strafzwecke erfolgt hier schwerpunktmäßig bei der Bemessung der Strafe nach § 46 I StGB. Bereits aus der Offenheit dieser Grundlagenformel lässt sich schließen, dass ein Verbot der Berücksichtigung anderer Strafzwecke grundsätzlich nicht besteht.614 Im Gegensatz dazu gilt bei Gestaltungsentscheidungen, bei denen es um die Durchführung des Vollzugs geht, ausschließlich die Zielsetzung der Strafvollzugsgesetze. Zwar können nach früheren Entscheidungen einiger Obergerichte615 Sühne und Schuldausgleich bei der Entscheidung über die Gewährung von Vollzugslockerungen Beachtung finden. Gegen eine solche Erweiterung der Vollzugsziele spricht aber die gesetzeskonforme Auslegung und Anwendung der Vollzugszielbestimmungen, denn diese wurden in den Vollzugsgesetzen der Länder abschließend geregelt. Damit ist eine unmittelbare Anwendung allgemeiner Strafzwecke ausgeschlossen. Außerdem widerspricht eine Berücksichtigung der Schuldschwere bei der Vollzugsgestaltung den Grundsätzen der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und dem Rechtsstaatprinzip nach Art. 20 III GG. Ein solcher grundrechtsrelevanter Eingriff muss in seinen Voraussetzungen und seinem Inhalt so klar festgeschrieben sein, dass ein Betroffener die Rechtslage erkennen und sein Verhalten danach ausrich611  Kap. B.

I. III. 2. 613  Laubenthal 2011, S. 98; Calliess / Müller-Dietz 2008, § 2 Rn. 9. 614  Streng 2012, S. 262. 615  OLG Stuttgart NStZ 1984, 525 f.; OLG Frankfurt NStZ 1983, 140; OLG Nürnberg NStZ 1984, 92; OLG Karlsruhe NStZ 1989, 247; so auch BVerfGE  64, 261 (274  ff.) in Fällen lebenslanger Freiheitsstrafe (abweichendes Sondervotum vom Richter Mahrenholz). 612  Kap. B.

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B. Grundlagen des Jugendstrafvollzugs

ten kann.616 In der Ausgestaltung des Strafvollzugs soll keine weitere Übelzufügung, die über den Freiheitsentzug hinaus geht, liegen.617 Die Tatumstände und die Tatschuld wurden bereits abschließend im Rahmen der Straffestsetzung herangezogen, eine erneute Berücksichtigung der Tatschuld würde zu einer Doppelbestrafung führen.618 Durch die zeitliche Rahmenvorgabe des Strafurteils und dessen Berücksichtigung bei Einzelentscheidungen während des Vollzugs entsteht allenfalls eine Reflexwirkung.619 Eine Berücksichtigung der Schuldschwere bei der Vollzugsgestaltung ist deshalb ausgeschlossen.620 Schließlich hat das BVerfG in seiner Entscheidung zur Sicherungsverwahrung dargelegt, dass schon der Strafvollzug (und damit erst recht die nicht vergeltende Maßnahme der Sicherungsverwahrung) nicht an repressiven, schuldausgleichenden Gesichtspunkten auszurichten ist.621 Im Erwachsenenvollzug dürfen somit die allgemeinen Strafzwecke nur bei den Status­ entscheidungen berücksichtigt werden, bei Gestaltungsentscheidungen hingegen können sie nur mittelbar eine Rolle spielen. Im Jugendstrafrecht haben die Strafzwecke einen anderen Stellenwert als im Erwachsenenstrafrecht. Während Erwägungen zur Abschreckung der Allgemeinheit im Jugendstrafrecht generell keine Rolle spielen dürfen, können Aspekte der Spezialprävention, des gerechten Schuldausgleichs und eingeschränkt auch der positiven Generalprävention jedoch berücksichtigt werden.622 So spielt bspw. der gerechte Schuldausgleich auch bei vollzuglichen Statusentscheidungen wie Verhängung und Bemessung der Jugendstrafe gemäß §§ 17 II, 18 JGG eine Rolle. Der Einfluss des Schuldausgleichs auf Gestaltungsentscheidungen ist jedoch auch im Hinblick auf den Jugendstrafvollzug fragwürdig. Parallel zur Diskussion im Erwachsenenstrafvollzug wurde die Berücksichtigung der Schuldschwere bei Entscheidungen über die Gewährung von Lockerungen im Jugendstrafvollzug durch obergerichtliche 616  Sondervotum des Richters Mahrenholz, BVerfGE  64, 261 (287 f.); unter Aufgabe der eigenen Rechtsprechung auch OLG Frankfurt NStZ 2002, 53; LG Heilbronn NStZ  1986, 380; Calliess / Müller-Dietz 2008, § 2 Rn. 9 f.; a. A. Arloth 1988, S.  410 ff. 617  Calliess / Müller-Dietz 2008, § 2 Rn. 1; Nr. 102.2 der Europäischen Strafvollzugsgrundsätze des Europarates v. 11.1.2006. 618  Ostendorf-Ostendorf 2016, § 1 Rn. 19. 619  Laubenthal 2011, S. 108; Calliess / Müller-Dietz 2008, § 2 Rn. 10; dazu auch OLG Frankfurt NStZ 1983, 93 f. 620  So auch Bornhöfer 2010, S. 133; Calliess / Müller-Dietz 2008, § 2 Rn. 8; AKLindemann 2017, § 2 Rn. 5; Kreideweiß 1995, S. 56; Laubenthal 2011, S. 100 ff.; Ostendorf-Ostendorf 2016, § 1 Rn. 19; Schüler-Springorum 1987, S. 432; anders ­Arloth 2002, S. 280 und auch S / B / J / L-Böhm / Jehle 2009, § 2 Rn. 7, die die Berücksichtigung der Schuldschwere in „Extremfällen“ zulassen. 621  BVerfGE 109, 133 (176 f.). 622  Kap. B. I. 4.



III. Rechtliche Grundlagen des Jugendstrafvollzugs143

Rechtsprechung bejaht.623 Allerdings ist auch hier festzustellen, dass das Vollzugsziel, das bei Gestaltungsentscheidungen immer eine richtungsweisende Funktion hat,624 abschließend in den verschiedenen Jugendstrafvollzugsgesetzen der Länder geregelt ist. Die Spezialprävention – neben der vorrangigen Resozialisierung wird auch der Schutz der Allgemeinheit berücksichtigt – ist die alleinige Zielsetzung des Jugendstrafvollzugs.625 Auch hier würde eine Berücksichtigung der Schuldschwere bei der Vollzugsgestaltung den Grundsätzen der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und dem Rechtsstaatprinzip nach Art. 20 III GG widersprechen. Damit ist auch im Jugendstrafvollzug eine dogmatische Unterscheidung zwischen Status- und Gestaltungsentscheidungen maßgeblich. Bei Statusentscheidungen können andere Strafzwecke neben der Spezialprävention Berücksichtigung finden, bei Gestaltungsentscheidung sind allein die in den Landesgesetzen normierten Vollzugsziele heranzuziehen. 7. Zusammenfassung Die Vorgabe des BVerfG zur Schaffung eines Jugendstrafvollzugsgesetzes haben alle Landesgesetzgeber, wenn auch in unterschiedlicher Art und Weise, umgesetzt. Unterschiede in den Landesgesetzen zeigen sich nicht nur bei der konkreten Ausgestaltung einzelner vollzuglicher Maßnahmen, sondern bereits bei der allgemeinen Ausrichtung des Jugendstrafvollzugs, seiner Zielsetzung. Auch wenn die Ausrichtung des Jugendstrafvollzugs allein an der ­Resozialisierung verfassungsrechtlich geboten ist und zudem langfristig die beste Gewährleistung des Rechtsgüterschutzes darstellt626, haben einige Länder ein zumindest gleichrangiges, wenn nicht sogar vorrangiges Ziel des Schutzes der Allgemeinheit formuliert. Diese Vorgaben beeinflussen trotz Verfassungswidrigkeit die Vollzugsgestaltung und den Vollzugsalltag.627 In der näheren Konkretisierung der Ausrichtung des Jugendstrafvollzugs durch den Erziehungsgrundsatz und die verschiedenen Gestaltungsprinzipien finden sich weitere Unterschiede in den rechtlichen Regelungen. Gerade die Umsetzung des Erziehungsgedankens, der aufgrund seiner begrifflichen Unbestimmtheit ohnehin Kritik ausgesetzt ist,628 wirkt in manchen Landesgesetzen erstaunlich. Die Gestaltungsgrundsätze wurden zwar weitgehend in alle 623  OLG

Frankfurt 1984, 382 f.; OLG Stuttgart, NStZ 1987, 430 f. 2010, S. 133; Ostendorf-Ostendorf 2016, § 1 Rn. 14. 625  Kap. B. III. 2. 626  BVerfGE 33, 1 (7 f.); 35, 202 ff. (235 f.); 116, 69 ff. (85 f.). 627  Boers / Schaerff 2008, S. 318 f.; Dünkel / Pörksen 2007, S. 56  f.; Kühl 2012, S. 65; Ostendorf 2008, S. 15. 628  Kap. B. III. 3. a). 624  Bornhöfer

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B. Grundlagen des Jugendstrafvollzugs

Landesgesetze übernommen, dennoch sind Einschränkungen mit Bezug auf die Belange der Sicherheit und Ordnung ersichtlich. Deshalb und aufgrund der engen verfassungsrechtlichen Vorgaben zum Jugendstrafvollzug erscheint es fraglich, ob die Föderalismusreform hier einen sinnvollen „Wettbewerb“ zwischen den einzelnen Bundesländern eröffnet hat.629 Laut Dünkel ist die Föderalismusreform im Bereich des Strafvollzugs ein „teures und ungeeignetes Mittel föderaler Selbstverwirklichung“, für das gar kein Bedarf besteht, das eine sicherheits- oder resozialisierungsfreundliche Vollzugsgestaltung je nach „Großwetterlage“ möglich macht und zudem den Umzug in „begehrte Vollzugsländer“ (sog. Gefangenentourismus) fördert.630 Als Reaktion auf im Vollzug begangene Pflichtverstöße einschließlich Straftaten sehen die Jugendstrafvollzugsgesetze ein dreistufiges Modell vor: Zuerst sollen ein erzieherisches Gespräch und nach einigen Gesetzen auch einvernehmliche konfliktlösende Maßnahmen durchgeführt werden. Erst danach kommen erzieherische Maßnahmen in Betracht. Nur wenn diese nicht ausreichen, können Disziplinarmaßnahmen verhängt werden. Die im Jugendstrafrecht allgemein beachteten Strafzwecke können bei der Gestaltung des Jugendstrafvollzugs keine Berücksichtigung finden. Die Vollzugszielbestimmung der einzelnen Landesgesetze ist insoweit abschließend. Allein bei ­Statusentscheidungen, die den Status der oder des Betroffenen als Gefangene bzw. Gefangenen begründen oder aufheben, können andere Strafzwecke ­herangezogen werden.

629  Diesbezüglich zweifelnd Boers / Schaerff 2008, S. 323; Dünkel 2007a, S. 29; Dünkel / Pörksen 2007, S. 64; Dünkel / Schüler-Springorum 2006, S. 149. Es fallen Begriffe wie „Wettbewerb der Schäbigkeit“ oder „Farce der Föderalismusreform“. 630  Dünkel 2007a, S. 29 f. Jedenfalls der befürchtete „Wettbewerb der Schäbigkeit“ wurde laut Dünkel und Geng aufgrund der positiven Entwicklung des Jugendstrafvollzugs seit 2006 eher widerlegt als bestätigt, Dünkel / Geng 2013, S. 641.

C. Das Vorliegen einer Anzeigepflicht der Anstaltsleitung Im Jahr 1996 verurteilte das OLG Hamburg1 den damaligen Anstalts­ leiter der JVA Fuhlsbüttel wegen Strafvereitelung durch Unterlassen aus §§ 258  I, 13  I  StGB, weil er mehrere schwere Straftaten eines Gefangenen nicht anzeigte. Im darauffolgenden Jahr lehnte der BGH2 eine Strafbarkeit leitender Vollzugsbediensteter, die von anderen Bediensteten an Gefangenen begangene Körperverletzungen nicht anzeigten, aus derselben Norm ab. Weitere Entscheidungen zur Anzeigeverpflichtung der Anstaltsleitung gibt es nicht. Ziel dieses Abschnitts ist es nun, die Rechtslage zu analysieren und einen Überblick über den aktuellen Meinungsstand zur Anzeigepflicht der Anstaltsleitung zu geben, um so einer etwaig bestehenden Rechtsunsicherheit bei Anstaltsleiterinnen und Anstaltsleitern von Justiz- und Jugendstrafanstalten in Deutschland entgegenzuwirken. Dafür wird zunächst ein Blick auf die rechtliche Ausgangslage geworfen (I.) und anschließend untersucht, ob eine strafrechtliche oder dienstrechtliche Verpflichtung der Anstaltsleitung besteht, eine im Vollzug begangene Straftat den Strafverfolgungsbehörden mitzuteilen (II.). Auch wenn in der vorliegenden Arbeit die Strafanzeige im Jugendstrafvollzug im Mittelpunkt steht, gelten die rechtlichen Ausführungen zur Anzeigepflicht ebenso für Anstaltsleiterinnen und Anstaltsleiter im Erwachsenenvollzug.

I. Die Strafanzeige der Anstaltsleitung Dieses Kapitel beschäftigt sich zunächst mit den rechtlichen Grundlagen der Strafanzeige und der Anstaltsleitung und erläutert die Strafanzeige anschließend als Teil des Aufgabenbereichs der Anstaltsleitung. 1. Die Strafanzeige Die Strafanzeige ist ein Instrument der strafrechtlichen Sozialkontrolle. Sie stellt das Bindeglied zwischen privater und hoheitlicher Deliktswahrnehmung 1  OLG

Hamburg NStZ 1996, 102. 43, 82.

2  BGHSt

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C. Das Vorliegen einer Anzeigepflicht der Anstaltsleitung

dar.3 Ältere Untersuchungen zeigen, dass ca. 90 % aller Fälle polizeilichen Eingreifens auf Strafanzeigen zurückzuführen sind.4 Die Strafanzeige hat damit bedeutenden Einfluss auf die allgemeine Kriminalstatistik.5 Die Entscheidung einer Person, Strafanzeige zu stellen oder nicht zu stellen, hängt von vielen Faktoren ab. Neben der Deliktsart, der Tatschwere und etwaigen Folgen spielen auch individuelle Beziehungen, Bedürfnisse und Einstellungen zu Kriminalität eine Rolle.6 Während die in § 158  I StPO geregelte Strafanzeige eine bloße Wissensmitteilung an die Strafverfolgungsbehörden darüber ist, dass ein möglicherweise strafbarer Sachverhalt vorliegt, enthält der ebenfalls in § 158  I StPO geregelte Antrag auf Strafverfolgung zudem die Willensbekundung, dass die Behörde strafverfolgend tätig werden soll.7 Von einer bloßen Strafanzeige kann damit nur in den Fällen ausgegangen werden, in denen ein völlig Unbeteiligter den Strafverfolgungsbehörden bloß eine Beobachtung mitteilt. Es löst jedoch allein der Antrag auf Strafverfolgung die Bescheidungspflicht des § 171 StPO aus, nach der der Antragende über die Einstellung des Verfahrens unter Angabe der Gründe informiert werden muss.8 Grundsätzlich ist jeder befugt, eine Strafanzeige oder einen Antrag auf Strafverfolgung zu stellen, eine allgemeine Pflicht zur Erstattung von Strafanzeigen in Verdachtsfällen oder bei Kenntnisnahme von einer begangenen Straftat besteht jedoch nicht.9 Nach § 158 I StPO sind die Strafanzeige oder der Antrag auf Strafverfolgung schriftlich oder mündlich bei der Staatsanwaltschaft, den Behörden und Beamten bzw. Beamtinnen des Polizeidienstes oder den Amtsgerichten anzubringen. Durch eine Strafanzeige oder den Antrag auf Strafverfolgung wird die Staatsanwaltschaft dazu verpflichtet, zu prüfen, ob ein Anfangsverdacht und damit Anlass besteht, ein Ermittlungsverfahren einzuleiten. Die Strafanzeige und der Strafantrag lösen damit die in § 160 I StPO niedergelegte Erforschungspflicht aus. Beide Varianten, Strafanzeige und Antrag auf Strafverfolgung, werden heute jedoch jedenfalls umgangssprachlich, aber häufig auch fachsprachlich sinngleich verwandt.10

3  Kaiser

1996, § 37 Rn. 9 ff.; Koch 2005, S. 943. 1978, S. 119 f.; Steffen 1976, S. 125 f.; dazu auch Schwind 2013, § 2 Rn. 34. 5  PKS 2014, S. 1 f.; Brüchert 2004, S. 87 ff.; Schwind 2013, § 20 Rn. 2 f. 6  Eisenberg 2005, § 26 Rn. 3  ff.; Kaiser 1996, § 37 Rn. 9 ff.; Reuband 1981, S.  213 ff.; Schwind 2013, § 20 Rn. 4 ff. 7  LR-Erb 2008, § 158 Rn. 7 f.; KK-Griesbaum 2013, § 158 Rn. 2 f. 8  LR-Erb 2008, § 158 Rn. 7 f. 9  LR-Erb 2008, § 158 Rn. 2; Meyer-Goßner / Schmitt-Schmitt 2016, § 158 Rn. 6. Bei der Kenntnisnahme von geplanten Straftaten regelt § 138  StGB eine spezielle Anzeigepflicht. 4  Blankenburg / Sessar / Steffen



I. Die Strafanzeige der Anstaltsleitung147

Abzugrenzen sind die Strafanzeige und der Antrag auf Strafverfolgung im Sinne des § 158 I StPO vom Strafantrag des § 158 II StPO, der ansonsten in den §§ 77 bis 77d StGB geregelt ist, nur vom Verletzten gestellt werden kann und eine selbstständige Prozesshandlung darstellt. Ein solcher Strafantrag wird allein bei den Delikten relevant, bei denen das Gesetz vorschreibt, dass sie nur auf Antrag verfolgt werden dürfen (sog. Antragsdelikte).11 2. Die Anstaltsleitung „Die Anstaltsleiterin oder der Anstaltsleiter trägt die Verantwortung für den gesamten Vollzug und vertritt die Anstalt nach außen.“12 So oder so ähnlich lautet die Kompetenzzuweisung in allen Jugendstrafvollzugsgesetzen der Länder. Die Anstaltsleitung steht damit an der Spitze der Verwaltungsbehörde Justizvollzugsanstalt bzw. Jugendstrafanstalt. An die entsprechende bundesgesetzliche Norm des § 156 StVollzG anschließend haben sich die Landesgesetzgeber für eine „hierarchisch-monokratische“ Anstaltsstruktur13 entschieden, wonach die Anstaltsleitung Dienstvorgesetzte und damit weisungsbefugt gegenüber allen Vollzugsbediensteten ist. Diese Art der Anstaltsorganisation war keineswegs immer unbestritten. Bereits im Alternativ­ entwurf von 1973 wurde vorgeschlagen, die Alleinzuständigkeit einer Person durch ein Gremium, bestehend aus Personen unterschiedlicher Fachrich­ tungen, zu ersetzen. Ein solches Kollegialorgan sollte die für die Behandlungsaufgabe eigentlich hinderliche hierarchische Anstaltsstruktur aufbrechen.14 Zwar gehen Feest / Walter davon aus, dass auch die Regelung des

10  LR-Erb 2008, § 158 Rn. 8; Volk / Engländer 2013, § 8 Rn. 7. Auch in der Literatur zu Straftaten im Strafvollzug wird allein von einer Strafanzeige und nicht von einem Antrag auf Strafverfolgung gesprochen, obwohl es sich häufig gerade um einen solchen Antrag handelt, siehe bspw. AK-Walter 2017, § 86 Rn. 33; Dolde / Grübl 1996, S. 273; Heinrich 2002, S. 381; Ritz 1984, S. 90 ff.; J. Walter 2010, S. 62 f.; Wirth 2006, S. 21. Da die Strafanzeige der weitere und üblichere Begriff auch für den Antrag auf Strafverfolgung ist und der einzige Unterschied in der Bescheidungspflicht aus § 171 StPO liegt, wird auch in dieser Arbeit der Begriff Strafanzeige verwendet, unabhängig davon, ob der Wille zur Strafverfolgung zum Ausdruck kommt. 11  LR-Erb 2008, § 158 Rn. 23 f. 12  § 109 I 1 BbgJVollzG; § 101 I 1 JStVollzG RLP; ähnlich in § 13 II JVollzGB BW-I; Art. 177 II BayStVollzG; § 106 I 2 JStVollzG Bln; § 101 I 1 BremJStVollzG; § 71 I 1 HessJStVollzG; § 100 II HmbJStVollzG; § 101 I 1 JStVollzG MV; § 176 I 1 NVollzG; § 118 I 1 JStVollzG NRW; § 101 I 1 SJStVollzG; § 101 I 1 SächsJStVollzG; § 107 I 1 JVollzGB LSA; § 101 I 1 JStVollzG S-H; § 101 I 1 ThürJStVollzG. 13  Zur Auseinandersetzung mit dieser Anstaltsstruktur siehe Eisenhardt 1978, S.  90 ff.; Kamann 1997; Müller-Dietz 1975; Schott 2001. 14  Baumann u. a. 1973, S. 85; für ein solches Team auch Schott 2001, S. 325.

148

C. Das Vorliegen einer Anzeigepflicht der Anstaltsleitung

§ 156 StVollzG ein Leitungsteam zuließe15, was dann ebenso für die fast wortgleichen Normen in den Jugendstrafvollzugsgesetzen zuträfe, ein solches Leitungsteam gibt es jedoch in keiner Jugendstrafanstalt. Neben dieser allgemeinen Aufgabenbeschreibung finden sich in den Gesetzen zahlreiche spezielle Kompetenzen der Anstaltsleitung. So kann nach dem Brandenburgischen Justizvollzugsgesetz (BbgJVollzG)16 die Anstaltsleiterin oder der Anstaltsleiter in bestimmten Fällen Besuche (§ 35) oder den Schriftwechsel mit bestimmten Personen (§ 40) untersagen oder Schreiben anhalten (§ 43). Außerdem obliegt es der Anstaltsleitung, Disziplinarmaßnahmen (§ 102), besondere Sicherungsmaßnahmen (§ 91), mit Entkleidung verbundene körperliche Durchsuchungen (§ 86) oder Maßnahmen anzuordnen, die geeignet sind, den Missbrauch von Suchtmitteln festzustellen (§ 88). Ebenso führt die Anstaltsleiterin oder der Anstaltsleiter die Konferenzen zur Vollzugsplanung (§ 14) und erlässt die Hausordnung (§ 114). Über diese beispielhafte Aufzählung hinaus besteht für die Anstaltsleiterin oder den Anstaltsleiter eine grundsätzliche „Allzuständigkeit“, auch für Entscheidungen, für die eine spezielle Zuständigkeitszuweisung nicht vorhanden ist.17 Aufgrund der Vielfältigkeit und Komplexität ist es der Anstaltsleitung kaum möglich, alle Aufgaben immer selbst zu erledigen. Insbesondere wird ihr in einigen Bereichen wie beispielsweise der medizinischen Versorgung auch die nötige Fachkompetenz fehlen. Um einerseits die Anstaltsleitung zu entlasten, andererseits aber auch zu dezentralisieren und ein kommunikations- und beziehungsförderndes Anstaltsklima zu schaffen, räumen die Jugendstrafvollzugsgesetze18 die Möglichkeit einer Delegation von Aufgaben ein.19 Teilweise wird in der Literatur sogar von einer Pflicht der Anstaltslei15  AK-Feest / Walter

2012, § 156 Rn. 3; anders nun AK-Galli 2017, § 95 Rn. 3. Regelungen finden sich auch in den übrigen Landesgesetzen. Zum Rechtszustand nach dem neuen Berliner Jugendstrafvollzugsgesetz sogleich. 17  Kaiser / Schöch 2002, § 11 Rn. 8; Laubenthal 2015, Rn. 263. 18  Art. 177 II 2 BayStVollzG; § 101 I 2 BbgJStVollzG; § 101 I 2 BremJStVollzG; § 71 I 2 HessJStVollzG; § 100 II HmbJStVollzG; § 101 I 2 JStVollzG MV; § 176 I 1 NVollzG; § 118 I 2 JStVollzG NRW; § 101 I 2 JStVollzG RLP; § 101 I 2 SJStVollzG; § 101 I 2 SächsJStVollzG; § 107 I JVollzGB LSA; § 101 I 2 JStVollzG S-H; § 101 I 2 ThürJStVollzG. Im JVollzGB BW findet sich keine vergleichbare allgemeine Delegationsbefugnis, allerdings kann nach § 80 I 3 JVollzGB BW-IV die Befugnis, Disziplinarmaßnahmen anzuordnen, auf Mitglieder der Anstalts- oder Vollzugsabteilungsleitung übertragen werden. 19  Dazu auch AK-Galli 2017, § 95 Rn. 10; Calliess / Müller-Dietz 2008, § 156 Rn. 2; Hausmann 2012, S. 113; Kaiser / Schöch 2002, § 11 Rn. 9; Kamann 2008, Rn. 332; L / N / N / V-Laubenthal 2015, N Rn. 39; Schott 2001, S. 323. Zum Umfang der Aufgaben der Anstaltsleitung siehe Preusker 1988, S. 120 f. 16  Ähnliche



I. Die Strafanzeige der Anstaltsleitung149

tung zur Delegation ausgegangen.20 In diese Richtung geht auch das Berliner Jugendstrafvollzugsgesetz. So sieht § 106 I 2 Nr. 4 und 5, II JStVollzG Bln nicht nur die bloße Möglichkeit zur Delegation vor, sondern setzt voraus, dass weitreichende Befugnisse von einzelnen Bediensteten, deren Zuständigkeit von der Anstaltsleiterin oder dem Anstaltsleiter in einem Geschäftsverteilungsplan geregelt wird, in eigener Verantwortung wahrgenommen werden. Diese Kompetenzverteilung findet sich auch in den einzelnen Vorschriften wieder, nach denen nun nicht mehr die Anstaltsleitung, sondern entweder konkret der oder die von der Anstaltsleitung bestimmte Bedienstete (z. B. § 99 zur Disziplinarbefugnis) oder allgemein die Anstalt (z. B. § 111 zum Erlass der Hausordnung) zuständig ist. Damit wird die im Gesetz zwar noch in § 106 I 2 Nr. 1 JStVollzG Bln genannte Verantwortung der Anstaltsleitung in weiten Teilen zugunsten einer Kollegialverantwortung der leitenden Bediensteten in der Anstalt aufgegeben. In den meisten Bundesländern kann sich die Aufsichtsbehörde die Zustimmung zur Delegation vorbehalten.21 In Bayern, Hamburg und Niedersachsen dürfen die Anordnungsbefugnisse für die mit Entkleidung verbundene körperliche Durchsuchung, die besonderen Sicherungsmaßnahmen sowie die Disziplinarmaßnahmen nur mit Zustimmung der Aufsichtsbehörde übertragen werden.22 Einige Verwaltungsvorschriften regeln zudem, dass die Anstaltsleitung schriftlich festlegt, welche Bediensteten in ihrem Auftrag Entscheidungen treffen können.23 Liegt eine Delegation durch die Anstaltsleitung beispielsweise an Abteilungsleiter oder Abteilungsleiterinnen vor, stellt sich die Frage, ob die Anstaltsleiterin oder der Anstaltsleiter anschließend noch in den übertragenen Bereich eingreifen darf. Dagegen spricht zunächst der Wortlaut einiger Verwaltungsvorschriften24, der der Anstaltsleitung bei Maßnahmen gewisser 20  AK-Galli 2017, § 95 Rn. 10; Laubenthal 2015, Rn. 265.; a.  A.: Arloth 2011, § 156 Rn. 3; Calliess / Müller-Dietz 2008, § 156 Rn. 2. 21  § 101 I 3 BbgJStVollzG; § 101 I 3 BremJStVollzG; § 71 I 3 HessJStVollzG; § 101 I 3 JStVollzG MV; § 101 I 3 JStVollzG RLP; § 101 I 3 SJStVollzG; § 101 I 3 SächsJStVollzG; § 107 II JVollzGB LSA; § 101 I 3 JStVollzG S-H; § 101 I 3 ThürJStVollzG. In Berlin bezieht sich der Zustimmungsvorbehalt in § 106 II 2 JStVollzG Bln auf die weitere Delegation von den im Geschäftsverteilungsplan benannten Bediensteten. 22  Art. 177 III BayStVollzG; § 100 III HmbJStVollzG; § 176 I 2 NVollzG. 23  Bspw. VV Nr. 2.1 zu § 13 JVollzGB BW-I; VV Nr. 2 II zu Art. 177 BayStVollzG; § 49 Nr. 1.2 VV (Geschäftsverteilungsplan) zu HessJStVollzG; VV zu § 101 SJStVollzG in Abs. 2. So auch noch AV Nr. 1 II zu § 101 JStVollzG Bln und VV Nr. 60.2 zu § 111 JStVollzG LSA, die durch die neuen Gesetzesfassungen jedoch inhaltlich überholt sind; mangels angepasster Verwaltungsvorschriften gelten diese im Übrigen fort. 24  Bspw. VV Nr. 2 V zu Art. 177 BaySt VollzG.

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C. Das Vorliegen einer Anzeigepflicht der Anstaltsleitung

Fachkräfte, die die Sicherheit der Anstalt, die Ordnung der Verwaltung oder die zweckmäßige Behandlung der Gefangenen gefährden, keine Eingriffs-, sondern nur eine Aussetzungsbefugnis zubilligt, bis eine Entscheidung der Aufsichtsbehörde eingeholt wurde.25 Dabei handelt es sich jedoch um Einzelfälle in fachlichen Angelegenheiten, die sich der Beurteilung der Anstaltsleitung entziehen und nicht um allgemeine Aufgabenbereiche, die schriftlich delegiert wurden.26 Ein Interventionsrecht der Anstaltsleitung ergibt sich aus der allgemeinen Kompetenzzuweisung, nach der die Anstaltsleiterin oder der Anstaltsleiter die Verantwortung für den gesamten Vollzug trägt, sowie aus der Weisungsbefugnis der Dienstvorgesetzten. Die Gesamtverantwortung der Anstaltsleitung kann nicht delegiert werden.27 Kaiser / Schöch sprechen insoweit neben einer „Allzuständigkeit“ auch von einer „Allverantwortlichkeit“.28 Ebenso vertritt die Anstaltsleitung die Anstalt in jedem Fall nach außen.29 Dazu gehören neben dem Kontakt mit der Aufsichtsbehörde auch Stellungnahmen der Anstalt gegenüber der Öffentlichkeit. 3. Die Strafanzeige durch die Anstaltsleitung Aufgrund der in allen Jugendstrafvollzugsgesetzen vorhandenen allgemeinen Zuständigkeitszuweisung fällt es bei strafrechtlich relevanten Vorfällen innerhalb einer Jugendstrafanstalt in den Kompetenzbereich der Anstaltsleitung, Strafanzeige zu stellen. Auch wenn die Anstaltsleiterin oder der Anstaltsleiter das Stellen von Strafanzeigen innerhalb der Anstalt delegiert hat30, trägt sie oder er die Verantwortung für den Umgang mit strafrechtlich relevanten Vorkommnissen. Beim Stellen einer Strafanzeige handelt die jeweilige Person, ob Anstaltsleitung oder Delegierte / r, aus ihrer oder seiner Stellung bzw. Funktion in der Anstaltsorganisation heraus. Die Gründe für die Entscheidung zur Strafanzeige können dabei von unterschiedlicher Natur sein.31 Beispielsweise kann entweder auf der Grundlage einer Verwaltungsvorschrift gehandelt oder innerhalb der allgemeinen Kompetenzzuweisung nach einer Abwägung der Auswirkungen einer Strafanzeige auf das Vollzugs25  Kamann

2008, Rn. 389 zu VV Nr. 2 III zu § 156 StVollzG. auch Hausmann 2012, S. 115. 27  AK-Galli 2017, § 95 Rn. 10; Laubenthal 2015, Rn. 265. 28  Kaiser / Schöch 2002, § 11 Rn. 8. 29  Calliess / Müller-Dietz 2008, § 156 Rn. 2; L / N / N / V-Laubenthal 2015, N Rn. 39. 30  So stellt bspw. in der JSA Berlin und in der JVA Wriezen grundsätzlich der jeweilige Leiter der Abteilung Sicherheit die Strafanzeigen bei strafrechtlich relevanten Vorkommnissen innerhalb der Anstalt. 31  J. Walter 1998, S. 58. 26  So



I. Die Strafanzeige der Anstaltsleitung151

ziel und die Sicherheit und Ordnung der Anstalt die Entscheidung selbstständig getroffen werden. Jedenfalls liegt ein Handeln im Rahmen hoheitlicher Zuständigkeit und öffentlich-rechtlicher Vorschriften32 und damit der Verwaltung vor.33 Auch bei der Strafanzeige durch die Anstalt handelt es sich um eine Wissensmitteilung an die Strafverfolgungsbehörde, dass ein möglicherweise strafbarer Sachverhalt vorliegt. Ob die Strafanzeige zudem mit dem Wunsch der Strafverfolgung verbunden ist und deshalb einen Antrag auf Strafverfolgung darstellt, der die Bescheidungspflicht nach § 171 StPO ausgelöst, hängt zwar von der Beurteilung des Einzelfalls ab, ist jedoch sehr wahrscheinlich. Zum einen wird die Anstaltsleitung oder delegierte Person bei selbstständiger Entscheidung keine Strafanzeige stellen, wenn sie den Sachverhalt nicht verfolgt wissen will, zum anderen wird auch hinter der Entscheidung für den Erlass einer Verwaltungsvorschrift bzw. einer Dienstanweisung der Wille stehen, die benannten Fälle auch der Strafverfolgung zuzuführen. Auch wäre eine Strafanzeige der Anstalt, die gar keine Strafverfolgung der Tat bezweckt, wenig zielführend und die Anstalt wird aus Gründen der Vollzugsplanung zudem immer ein Interesse daran haben, den weiteren Verlauf des Verfahrens zu erfahren. J. Walter geht sogar ganz allgemein von der Pflicht der Staatsanwaltschaft aus, die Anstalt über den Gang des Ermittlungsverfahrens informieren zu müssen.34 Danach müsste es sich bei der Strafanzeige der Anstaltsleitung immer um einen Antrag auf Strafverfolgung im Sinne des § 158 I Satz 1 Var. 2 StPO handeln. Anderes ermittelten aber Dolde / Grübl, wonach die Anstalt aufgrund einer Vereinbarung bei allen strafrechtlich relevanten Fällen Strafanzeige erstatten musste, eine strafrechtliche Ahndung jedoch nur in 45 % der Fälle für erforderlich hielt.35 Bei der von der Anstalt gestellten Strafanzeige handelt es sich nicht um einen Verwaltungsakt. Ein solcher ist nach § 35 1 VwVfG „jede Verfügung, Entscheidung oder andere hoheitliche Maßnahme, die eine Behörde zur Re32  Zu den Voraussetzungen öffentlich-rechtlichen bzw. verwaltungsrechtlichen Handelns siehe Wolff u. a. 2007, § 45 Rn. 28. 33  Ähnlich sieht das VG Karlsruhe (Urteil v. 19.04.2012 – 3 K 3460 / 10, BeckRS 2012, 50334) bei einer Klage gegen eine mit Antrag i. S.d § 194 II StGB verbundene Strafanzeige der Dienstvorgesetzten den Verwaltungsrechtsweg nach § 40 I VwGO eröffnet, da sie als „hoheitliche Aufgaben erfüllende Dienstvorgesetzte aufgetreten ist“ und die „beanstandete Äußerung [die Strafanzeige] auch inhaltlich in Ausübung einer hoheitlichen Funktion gegenüber der Generalstaatsanwaltschaft abgegeben“ wurde. A. A. Volckart 1996, S. 610 nach dem sich die Strafanzeige einer Anstaltsleiterin oder eines Anstaltsleiters nicht von der Strafanzeige einer Privatperson unterscheidet. 34  J. Walter 1998, S. 172. 35  Dolde / Grübl 1996, S. 273.

152

C. Das Vorliegen einer Anzeigepflicht der Anstaltsleitung

gelung eines Einzelfalls auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts trifft und die auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet ist“. Auch wenn die Strafanzeige eine einzelfallbezogene Maßnahme einer Behörde ist, fehlt es ihr als reiner Wissensmitteilung jedenfalls am Charakter einer Regelung. Sie bezweckt gerade nicht die Herbeiführung einer Rechtsfolge.36 Zwar löst der Antrag auf Strafverfolgung die Bescheidungspflicht nach § 171 StPO aus, ist jedoch nicht final auf diese Rechtsfolge ausgerichtet. Auch die Willensbekundung, dass die Behörde strafverfolgend tätig werden soll, bringt selbst noch keine Rechtsfolge mit sich. Vielmehr hängt die Erforschungspflicht bzw. die Pflicht zur Strafverfolgung von der in § 160 I und § 152 II StPO eigenständigen, jedoch gebundenen Entscheidung der Staatsanwaltschaft ab, ob ein Anfangsverdacht besteht. Die Strafanzeige oder der Antrag auf Strafverfolgung können insoweit lediglich den Verdacht begründen. Bei der von der Anstalt gestellten Strafanzeige handelt es sich somit um nichtförmliches bzw. schlichtes Verwaltungshandeln. Die Ermächtigung dazu kann sich bereits aus Aufgaben- und Zuständigkeitsnormen sowie den damit zusammenhängenden Kompetenzen ergeben, soweit keine Grundrechte beeinträchtigt werden.37 Zwar kann durch eine Strafanzeige das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 I i. V. m. Art. 1 I GG betroffen sein, dennoch reicht die allgemeine Kompetenzzuweisung der Jugendstrafvollzugsgesetze, nach der „Allzuständigkeit“ sowie „Allverantwortlichkeit“ besteht, für die Befugnis der Anstaltsleitung zur Strafanzeige bei in der Anstalt begangener Straftaten aus. Zum einen dient das Erstatten von Strafanzeigen, zu dem nach § 158  I StPO auch jedermann befugt ist, dem allgemeinen Interesse am Erhalt des Rechtsfriedens und an der Aufklärung von Straftaten, sodass auch die Anstaltsleiterin oder der Anstaltsleiter innerhalb ihres bzw. seines Zuständigkeitsbereichs dazu befugt sein muss. Zum anderen wird die Strafanzeige als reine Wissensmitteilung lediglich gegenüber der zur Verschwiegenheit verpflichteten Strafverfolgungsbehörde abgegeben, die die Vorwürfe nach § 160 I StPO erst überprüft.38 36  Zu den Voraussetzungen eines Verwaltungsakts und dem Regelungscharakter im speziellen siehe Erichsen / Ehlers-Ruffert 2010, § 21 Rn. 14 ff., 24 ff.; Kopp / Ramsauer 2016, § 35 Rn. 50 ff., 88; Stelkens / Bonk / Sachs-Stelkens 2014, § 35 Rn. 50 ff., 142; Wolff u. a. 2007, § 45 Rn. 15 ff., 38 ff. 37  Gusy 2000, S. 980 ff.; Ipsen 2015, Rn. 831; Remmert 2007, S.  740 f.; Wolff u. a. 2007, § 57 Rn. 22 ff. 38  Diese Argumentation lehnt sich an die Entscheidungen zu Schadensersatzansprüchen und Widerrufs- und Unterlassungsbegehren im Hinblick auf gestellte Strafanzeigen, wonach solche Ansprüche grundsätzlich ausgeschlossen sind, es sei denn, es handelt sich um wissentlich unwahre Behauptungen (§ 164 StGB), BVerfGE 74, 257; VG Karlsruhe, Urteil v. 19.04.2012 – 3 K 3460 / 10, BeckRS 2012, 50334 (auch bei der Anzeige einer Dienstvorgesetzten). Zum Strafbarkeitsrisiko bei Strafanzeigen siehe auch Koch 2005.



II. Pflicht der Anstaltsleitung zur Strafanzeige153

Die Möglichkeit der oder des Geschädigten, eigenständig Strafanzeige zu stellen, bleibt davon selbstverständlich unberührt. Neben der Befugnis zur Strafanzeige steht der Anstaltsleitung als Dienstvorgesetzten bei Antrags­ delikten unter den Voraussetzungen des § 77a StGB auch ein Antragsrecht zu, wenn sich der strafrechtlich relevante Vorfall gegen Untergebene richtet. Ob über die Befugnis hinaus, bei strafrechtlich relevanten Sachverhalten Strafanzeige zu stellen, auch eine Pflicht zur Strafanzeige besteht, ist Gegenstand des folgenden Abschnitts.

II. Pflicht der Anstaltsleitung zur Strafanzeige Die Strafverfolgungsbehörden (Staatsanwaltschaft und Polizei) sind aufgrund des Legalitätsprinzips (§§ 152 II, 160, 163 StPO) verpflichtet, bei Kenntnis von einer Straftat Ermittlungen einzuleiten. Für die Allgemeinheit besteht bei Kenntnis von Straftaten grundsätzlich keine Verpflichtung, eine Strafanzeige zu stellen. Strafbewehrte Ausnahmen davon finden sich in § 138 StGB, bei der Kenntnis von bestimmten explizit aufgelisteten geplanten Straftaten39, oder in § 40 WStG, wenn es ein militärischer Vorgesetzter unterlässt, Straftaten seiner Untergebenen anzuzeigen. Dienstrechtliche Anzeigepflichten finden sich zudem in § 6 SubvG, § 81a IV SGB V, § 116 AO und § 33 III WDO. Eine Pflicht der Anstaltsleitung zur Strafanzeige kann sich also zum einen aus dem Strafrecht ergeben, nämlich wenn sich die Anstaltsleiterin oder der Anstaltsleiter bei unterlassener Strafanzeige selbst strafbar macht, oder aus dienstrechtlichen Vorschriften. 1. Strafrechtliche Pflicht Für die Anstaltsleiterin oder den Anstaltsleiter einer Justizvollzugsanstalt oder Jugendstrafanstalt steht bei einer Nichtanzeige von in der Anstalt begangenen Straftaten eine Strafbarkeit wegen Strafvereitelung (§ 258 StGB) bzw. Strafvereitelung im Amt (§ 258a StGB) im Raum. a) Strafverfolgungsvereitelung aus §§ 258  I, 13  I StGB § 258 StGB schützt die deutsche Rechtspflege, genauer die Funktionsfähigkeit der deutschen Strafrechtspflege bei der Verhängung von Strafen oder 39  Bei § 138  StGB handelt es sich jedoch nicht um eine Verpflichtung zur Strafanzeige im Sinne des § 158  StPO, sondern lediglich um eine Verpflichtung zur Mitteilung an eine Behörde oder den Bedrohten.

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C. Das Vorliegen einer Anzeigepflicht der Anstaltsleitung

Maßnahmen nach § 11 I Nr. 8 StGB oder deren Vollstreckung.40 § 258 StGB bezweckt Verhaltensweisen zu verhindern, die eine Bestrafung der Täterin bzw. des Täters vereiteln. Hilfsmaßnahmen anderer sollen erschwert und so die Täterin bzw. der Täter isoliert werden.41 Teilweise wird auch davon ausgegangen, dass durch § 258 StGB, indem das Risiko der Bestrafung erhöht wird, die spezial- und generalpräventive Wirkung der Strafe gestärkt werden soll.42 Jedenfalls handelt es sich bei § 258 StGB um eine Straftat gegen die Allgemeinheit.43 Dagegen vertreten einige Autoren, dass § 258 StGB entweder ausschließlich44 oder zusätzlich, als Doppelfunktion45, die von der Vortat betroffenen Individualrechtsgüter schützt. Zwar spricht die Anlehnung an den Strafrahmen der Vortat aus § 258 III StGB dafür, letztlich findet sich in § 258 I StGB aber ein eigenständiger Strafrahmen der Strafvereitelung.46 Auch könnte das Opfer der Vortat weder durch Zustimmung die Tatbestandsverwirklichung oder die Rechtswidrigkeit der Tat ausschließen, noch ein Klageerzwingungsverfahren betreiben.47 § 258 StGB unterteilt sich in die Strafverfolgungs- (§ 258 I) und Strafvollstreckungsvereitelung (§ 258  II). Während bei der Strafverfolgungsvereitelung durch die Tathandlung eine materiell dem Strafgesetz entsprechende Rechtsfolge (Strafe oder Maßnahme nach § 11 I Nr. 8 StGB) vereitelt werden muss, kommt es bei der Strafvollstreckungsvereitelung drauf an, dass die Vollstreckung einer von einem deutschen Gericht rechtskräftig verhängten Strafe oder Maßnahme vereitelt wird, unabhängig von der materiellen Richtigkeit der gerichtlichen Entscheidung.48 Eine auf diesem Unterschied beruhende Differenzierung des Schutzzwecks ist nicht sinnvoll, da die Verhän40  BGHSt 30, 77 (77 f.); 43, 82 (84); 45, 97 (101); MK-Cramer / Pascal 2012, § 258 Rn. 2 f.; Fischer 2017, Vor § 257 Rn. 2; Günther 1998, S. 38; Lackner / KühlKühl 2014, § 258 Rn. 1; Sch / Sch-Stree / Hecker 2014, § 258 Rn. 1. 41  Fezer 1993, S. 672 f.; Lackner / Kühl-Kühl 2014, § 258 Rn. 1; Satzger 2007, S. 755; Seel 1999, S. 26; Sch / Sch-Stree / Hecker 2014, § 258 Rn. 1; a. A. Jahn / Palm 2009, S. 408. 42  Jerouschek / Schröder 2000, S. 58; Sch / Sch-Stree / Hecker 2014, § 258 Rn. 1. 43  Rengier 2015, § 21 Rn. 1; Satzger 2007, S. 755; LK-Walter 2010, § 258 Rn. 8. 44  So Miehe 1970, S. 105; Schroeder 1985, S. 11 ff. 45  So Amelung 1978, S. 229. 46  Günther 1998, S. 32. 47  OLG Nürnberg NStZ-RR 2000, 54; OLG Frankfurt a. M. NStZ-RR 1998, 279; OLG Düsseldorf, wistra 1992, 357 (258); so auch LK-Walter 2010, § 258 Rn. 8, 10, der § 258 StGB zwar für ein Delikt hält, das kollektive Rechtsgüter schützt, aber dennoch davon ausgeht, dass hierdurch die Normgeltung der Straftatbestände der Vortat unterstrichen wird. 48  MK-Cramer / Pascal 2012, § 258 Rn. 32; Günther 1998, S. 189 f., 204; LKWalter 2010, § 258 Rn. 12.



II. Pflicht der Anstaltsleitung zur Strafanzeige155

gung und Vollstreckung lediglich Teile eines einheitlichen Strafverfahrens sind.49 Es handelt sich hier allein um unterschiedliche Verletzungsarten desselben Rechtsguts.50 Da die im Vollzug begangenen Straftaten von Gefangenen, auf die sich die hier untersuchte Anzeigepflicht der Anstaltsleitung bezieht, stets noch nicht abgeurteilt sind, kann sich eine Strafbarkeit nur aus § 258  I StGB ergeben. Bei § 258 I StGB handelt es sich um ein Erfolgsdelikt.51 Der einfachste Fall des Vereitelns liegt vor, wenn die Bestrafung ganz und auf Dauer verhindert wird, so z. B. wenn die Täterin oder der Täter dafür sorgt, dass eine Straftat den Strafverfolgungsbehörden nicht vor Eintritt der Verfolgungsverjährung bekannt wird oder ein rechtskräftiger Freispruch ergeht.52 Schwieriger liegt der Fall, wenn die Bestrafung nicht vollständig verhindert, sondern lediglich verzögert wird. Die herrschende Meinung53 nimmt auch in diesen Fällen eine vollendete Strafvereitelung an. Zu beachten ist aber, dass eine Verzögerung der Bestrafung nicht bereits darin liegt, dass einzelne Ermittlungshandlungen später erfolgen.54 Jedenfalls kommt aber eine Versuchsstrafbarkeit in Betracht.55 In subjektiver Hinsicht muss die Strafvereitelung absichtlich oder wissentlich begangen werden. Es sind Konstellationen denkbar, in denen die Anstaltsleiterin oder der Anstaltsleiter § 258 I StGB verwirklicht, so z. B. wenn den Strafverfolgungsbehörden irreführende Informationen übermittelt werden, um Straftaten zwischen Gefangenen zu vertuschen. Diese Fälle, die in der Praxis gewiss selten sind, haben gemein, dass die Anstaltsleitung aktiv tätig wird; eine Subsumtion unter § 258 I StGB bereitet dann kaum Schwierigkeiten. Anders liegt es, 49  LK-Walter

2010, § 258 Rn. 9. 1998, S. 29. 51  NK-Altenhain 2013, § 258 Rn. 2; MK-Cramer / Pascal 2012, § 258 Rn. 5; Fischer 2017, § 258 Rn. 2; Günther 1998, S. 85; Sch / Sch-Stree / Hecker 2014, § 258 Rn. 11, 14; LK-Walter 2010, § 258 Rn. 11, 30; dazu ausführlich Wappler 1998. 52  Rengier 2015, § 21 Rn. 5. 53  Jedenfalls bei einer Verzögerung für geraume Zeit, wobei der genaue Zeitraum unterschiedlich beurteilt wird. BGH NJW 1984, 135; BGH wistra 1995, 143; KG JR 1985, 24 (25); OLG Karlsruhe NStZ 1988, 503 (504); OLG Koblenz NStZ-RR 2006, 77 (79); MK-Cramer / Pascal 2012, § 258 Rn. 24; Fischer 2017, § 258 Rn. 8; Günther 1998, S. 114 f.; Lackner / Kühl-Kühl 2014, § 258 Rn. 4; Jahn / Palm 2009, S. 409; Satzger 2007, S. 758; Sch / Sch-Stree / Hecker 2014, § 258 Rn. 14; LK-Walter 2010, § 258 Rn. 35 ff.; anders NK-Altenhain 2013, § 258 Rn. 48 ff.; SK-Hoyer 2014b, § 258 Rn.  15 ff.; Wappler 1998, S. 189. 54  BGH wistra 1995, 143; KG JR 1985, 24 (25); Fischer 2017, § 258 Rn. 8; Lackner / Kühl-Kühl 2014, § 258 Rn. 4; Sch / Sch-Stree / Hecker 2014, § 258 Rn. 14; LK-Walter 2010, § 258 Rn. 35. 55  Zur Versuchsstrafbarkeit gelangen auch diejenigen, die die Verzögerung generell nicht als Erfolg bei § 258 I StGB genügen lassen. 50  Günther

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C. Das Vorliegen einer Anzeigepflicht der Anstaltsleitung

wenn der Anstaltsleitung allein der Vorwurf gemacht werden kann, den Strafverfolgungsbehörden einen strafrechtlich relevanten Sachverhalt nicht mitgeteilt zu haben. Dann erschöpft sich das Verhalten der Anstaltsleiterin oder des Anstaltsleiters im bloßen Nichtstun. § 258  I StGB kann aber auch durch Unterlassen begangen werden. Unter welchen Voraussetzungen ein Straftatbestand durch Unterlassen verwirklicht werden kann, regelt § 13 I StGB. Dort heißt es: „Wer es unterläßt, einen Erfolg abzuwenden, der zum Tatbestand eines Strafgesetzes gehört, ist nach diesem Gesetz nur dann strafbar, wenn er rechtlich dafür einzustehen hat, daß der Erfolg nicht eintritt, und wenn das Unterlassen der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes durch ein Tun entspricht.“ Von diesen sog. unechten Unterlassungsdelikten, bei denen der Tatbestand auf ein aktives Tun zugeschnitten ist, das Unterlassen dem Tun jedoch durch § 13 I StGB gleichgestellt wird, sind die echten Unterlassungsdelikte zu unterscheiden. Bei echten Unterlassungsdelikten wird die Strafbarkeit des Unterlassens unmittelbar im Gesetz bestimmt (bspw. §§ 323c, 138 StGB).56 Voraussetzung für die Bestrafung aus einem unechten Unterlassungsdelikt ist nach der Gleichstellungsnorm des § 13 I StGB damit zum einen das „rechtliche Einstehenmüssen“ für die Erfolgsverhinderung und zum anderen, dass das Unterlassen einer aktiven Tatbestandsverwirklichung „entspricht“. Der sog. Entsprechungsklausel kommt nur Bedeutung zu, wenn der im ­konkreten Fall relevante Tatbestand bestimmte Tatmodalitäten vorsieht, also fordert, dass die Tat auf eine bestimmte Handlungsweise begangen wird (bspw. heimtückisch, grausam, in Verdeckungsabsicht (§ 211 StGB), Täuschung (§ 263 StGB)). Im Vordergrund stehen hier die sog. verhaltensgebundenen Delikte. In diesen Fällen ist eine Modalitätenäquivalenz festzustellen, die nur vorliegt, wenn das Unterlassen die Tatmodalitäten in gleichwertiger Weise verwirklicht. Die Tatbestandsverwirklichung durch Unterlassen muss also mit dem sozialen Sinngehalt einer aktiven Tatbestandsverwirklichung übereinstimmen.57 Da der Tatbestand des § 258  I StGB keine besondere Art der Begehung erfordert und der Entsprechungsklausel für die Strafbarkeit der Anstaltsleitung damit keine Relevanz zukommt58, ist eine nähere Untersuchung hier überflüssig. 56  Lackner / Kühl-Kühl 2014, § 13 Rn. 4; Kühl 2007, S. 498 f.; Nikolaus 2005, S. 605; Roxin 2003, § 31 Rn. 16. Diese Terminologie abl. MK-Freund 2017, § 13 Rn. 60; Freund 2009, § 6 Rn. 12; LK-Weigend 2007, § 13 Rn. 16. 57  Jakobs 1991, 29. Abschn. Rn. 78; Kühl 2012, § 18 Rn. 123; Kühl 2007, S. 498; Lackner / Kühl-Kühl 2014, § 13 Rn. 16; Sch / Sch-Stree / Bosch 2014, § 13 Rn. 4. Den Anwendungsbereich noch weiter eingrenzend Roxin 2003, § 32 Rn. 239 ff.; LK-Weigend 2007, § 13 Rn. 77. 58  Rudolphi 1991, S. 364; LK-Walter 2010, § 258 Rn. 11.



II. Pflicht der Anstaltsleitung zur Strafanzeige157

Das „rechtliche Einstehenmüssen“ beschreibt nach überwiegender Auffassung das Erfordernis einer Garantenstellung.59 Voraussetzungen, wann eine Garantenstellung vorliegt, werden im Gesetz jedoch nicht genannt. Der Gesetzgeber hat die Konkretisierung der Garantenstellung damit der Wissenschaft und Praxis überlassen.60 Erst wenn Umstände vorliegen, die eine Garantenstellung begründen, kann daraus auch eine Garantenpflicht abgeleitet werden; jedoch nur, wenn das Unterlassen den spezifischen Schutzzweck der Garantenstellung betrifft. Allein aus der Stellung als Garant muss nicht notwendigerweise immer eine Handlungspflicht folgen.61 So können Eltern aus erzieherischen Gründen ihre Kinder erst mal gewähren lassen, auch wenn sie sich dabei leichte Körperverletzungen zuziehen.62 Die Strafbarkeit der Anstaltsleitung steht und fällt somit mit dem Vorliegen der für die unechten Unterlassungsdelikte erforderlichen Garantenstellung.63 aa) Grundlagen der Garantenstellung Die unechten Unterlassungsdelikte wurden erstmals 1975 mit der Aufnahme des § 13 ins StGB durch Inkrafttreten des Zweiten Gesetzes zur Reform des Strafrechts64 normiert. Die Vorschrift ist das Ergebnis einer lange währenden Diskussion um die Strafbarkeit durch Unterlassen und ihrer Voraussetzungen. Bereits Feuerbach ging in seinem Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts davon aus, dass für eine Strafbarkeit durch Unterlassen eine besondere Rechtspflicht zum Handeln bestehen müsse. So heißt es: „So ferne eine Person ein Recht auf wirkliche Aeusserung unserer Thätigkeit hat, insoferne giebt es Unterlassungsverbrechen (del. omissionis im Gegensatz von delict. commissionis). Weil aber die ursprüngliche Verbindlichkeit des Bürgers nur auf Unterlassungen geht, so setzt ein Unterlassungsverbrechen immer einen besonderen Rechtsgrund (Gesetz oder Vertrag) voraus, durch welchen die Verbindlichkeit zur Begehung begründet 59  BVerfG NJW 2003, 1030; Jakobs 1991, 29. Abschn. Rn. 26; Jescheck / Weigend 1996, S. 620; Kühl 2012, § 18 Rn. 2; Kühl 2007, S. 497; Roxin 2003, § 32 Rn. 1; Sch / Sch-Stree / Bosch 2014, § 13 Rn. 1; anders MK-Freund 2017, § 13 Rn. 48 ff.; Freund 1992, S. 39 ff., der von einem einheitlichen Verhaltensunrecht bei Tun und Unterlassen ausgeht und eine zusätzliche Garantenstellung danach für nicht erforderlich hält. 60  BGHSt 36, 227 (227 f.); Lackner / Kühl-Kühl 2014, § 13 Rn. 1; Sch / Sch-Stree /  Bosch 2014, § 13 Rn. 1. Siehe zum Problem der Bestimmtheit Kap. C. II. 1. a) aa) (5). 61  Coelln 2008, S. 84 f.; Sch / Sch-Stree / Bosch 2014, § 13 Rn. 14. 62  Beispiel bei Rengier 2016, § 50 Rn. 39. 63  So auch Verrel 2003, S. 597. 64  BGBl. I 1969 S. 717, 719.

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C. Das Vorliegen einer Anzeigepflicht der Anstaltsleitung

wird. Ohne diesen wird man durch Unterlassung kein Verbrecher.“65 Damit begründete Feuerbach die viele Jahre in Rechtsprechung66 und Literatur67 vorherrschende formelle Rechtsquellenlehre, nach der sich eine Garantenstellung aus Gesetz oder Vertrag ableiten muss. Auch heute wird sie teilweise, wenn auch neben anderen Kriterien, noch zur Bestimmung einer Garantenstellung herangezogen.68 Dabei wurden ihre Schwächen bereits früh erkannt. So reichte einerseits eine Herleitung der Garantenstellung allein aus Gesetz und Vertrag nicht aus und die formelle Rechtsquellenlehre wurde durch die Fallgruppen einer durch Vorverhalten69 und Lebens- und Gefahrgemeinschaften70 begründeten Garantenstellung ergänzt. Andererseits zeigte sich auch, dass eine gesetzliche oder vertragliche Verpflichtung gerade nicht das ausschlaggebende Kriterium für eine Garantenstellung sein kann: Typische Fallkonstellation ist dafür das Kindermädchen, das sich zwar vertraglich dazu verpflichtet hat, auf das Kind aufzupassen, zu dem vereinbarten Termin aber nicht erscheint. Lassen die Eltern das Kind dennoch allein und es kommt zu Schaden, hat sich nicht das Kindermädchen, sondern haben sich die Eltern aufgrund einer bestehenden Garantenstellung wegen Unterlassens strafbar gemacht. Andersherum hat das Kindermädchen auch trotz Unwirksamkeit des Vertrags, beispielsweise wegen fehlender Geschäftsfähigkeit, eine Garantenstellung inne, wenn es zum Termin erscheint.71 Auch hinsichtlich der gesetzlichen Verpflichtung stellte bereits Mezger fest, dass sich eine strafrechtliche Haftung nur aus einer „Rechtspflicht zur Erfolgsabwendung, die den erweislichen Sinn hat, eine strafrechtliche Haftung für den Erfolg begründen zu wollen“72 ergeben kann. So begründen beispielsweise die §§ 323  c, 138 StGB keine Garantenstellung, obwohl sie eine Handlungspflicht statuieren; sie stellen nach ihrem Sinn und Zweck lediglich Spezialvorschriften dar.73 Ebenso ist heutzutage mehrheitlich anerkannt, dass auch 65  Feuerbach 1847, § 24, so erstmals in der 2. Auflage (1803), hier zitiert in der 14. Auflage. 66  RGSt 15, 58 (58 f.); 17, 260 (261); 22, 332 (333 f.); 39, 397 (398). 67  Siehe nur Hippel 1930, S. 161 ff.; Mezger 1931, S. 138 ff. 68  Baumann / Weber / Mitsch 2003, § 15 Rn. 51 ff.; Jescheck / Weigend 1996, S. 621; Lackner / Kühl-Kühl 2014, § 13 Rn. 7 ff.; Kühl 2012, § 18 Rn. 43; Sch / Sch-Stree /  Bosch 2014, § 13 Rn. 8. 69  RGSt 58, 130 (134); 58, 244, (245); 63, 392 (394); 66, 71 (72 f.). 70  RGSt 69, 321 (323); 73, 389 (391); 74, 309 (310). 71  Zum Beispiel Schünemann 2009, S. 309; Schünemann 1971, S. 226. Inhaltlich auch Nagler 1938, S. 32 f., 62 f., 87 f. Ähnlich auch Schaffstein 1936, S. 79 mit dem Beispiel des minderjährigen Knechts, der in seiner konkreten Stellung und nicht aus Vertrag verpflichtet war, einen Brand zu löschen. 72  Mezger 1931, S. 140. 73  Mezger 1931, S. 141 für die damaligen §§ 360 Nr. 10 und § 139 StGB; Nagler 1938, S. 66; aktuell auch Roxin 2003, § 32 Rn. 11.



II. Pflicht der Anstaltsleitung zur Strafanzeige159

das formale Band der Ehe aus § 1353 I BGB, nach dem die Ehegatten für­ einander die Verantwortung tragen, nicht allein zum Fortbestehen einer Garantenstellung ausreicht, wenn sich die Ehegatten ernsthaft getrennt haben.74 In Anbetracht der Mängel der formellen Rechtsquellenlehre hat sich für die Bestimmung von Garantenstellungen die sog. Funktionenlehre durchgesetzt, die materiell anhand der Aufgabenstellung bzw. sozialen Funktion differenziert. Sie geht zurück auf Armin Kaufmann, der die Garanten in zwei Gruppen aufteilte: In der ersten Gruppe ist es die Pflicht der Garanten, ein bestimmtes Rechtsgut gegen Angriffe aller Art und gleich aus welcher Richtung zu schützen. Kaufmann spricht hier von einer „Rundumverteidigung des konkreten Rechtsgutes gegen Gefahren verschiedenster Art.“ In der zweiten Gruppe besteht die Pflicht der Garanten in der „Überwachung einer bestimmten Gefahrenquelle“ für Rechtsgüter aller Art.75 Man differenziert insoweit zwischen Beschützer- und Überwachergaranten.76 Damit ist jedoch noch nicht erörtert, wie sich Garantenstellungen herleiten lassen bzw. wie sie sich begründen. Rechtsprechung und Lehre haben mit der Zeit vielfältige Garantenstellungen entwickelt, eine einheitliche theoretische Grundlage zur Bestimmung von Garantenstellungen gibt es jedoch, trotz reihenweiser Versuche aus der Wissenschaft77, nicht. Die Frage, unter welchen Voraussetzungen eine Garantenstellung entsteht und ob damit die Bewirkung eines tatbestandlichen Erfolges durch Unterlassen dem Tun gleichgestellt ist, ist noch in Diskussion und eine einheitliche Lösung fern. Roxin nennt die Problematik um die unechten Unterlassungsdelikte deshalb auch das „umstrittenste und dunkelste Kapitel in der Dogmatik des Allgemeines Teils“.78 Im Folgenden sollen lediglich einige Ansätze aus dem Dschungel der Erklärungsversuche über die Garantenstellung herausgegriffen werden, um einen Überblick zu geben und eine Grundlage für die weitere Diskussion zur Garantenstellung der Anstaltsleiterin oder des Anstaltsleiters zu schaffen.

74  BGHSt 48, 301. Ein weiteres Beispiel ist die Lederspray-Entscheidung des BGHSt 37, 106 (115), in der der BGH die Begründung strafrechtlicher Garantenstellungen aus zivilrechtlichen Rückruf- oder Schadensersatzpflichten anzweifelt. 75  Kaufmann 1959, S. 283. 76  Roxin 2003, § 32 Rn. 33  ff., 107 ff.; ebenso Jescheck / Weigend 1996, S. 621; Sch / Sch-Stree / Bosch 2014, § 13 Rn. 8 ff., die die formelle und materielle Betrachtungsweisen kombinieren. 77  Bspw. Androulakis 1963, S. 205 ff.; Bärwinkel 1968, S. 91 ff.; Brammsen 1986, S.  93 ff.; Coelln 2008, S. 129 ff.; Freund 2009, § 6 Rn. 14 ff.; Jakobs 1991, 29. Abschn. Rn. 28 ff.; Otto / Brammsen 1985, S. 536 ff.; Philipps 1974, S. 158 ff.; Schünemann 1971, S. 229 ff.; Welp 1968, S. 177 ff.; Wolff 1965, S. 37 ff. 78  Roxin 2003, § 32 Rn. 2; ähnlich auch in Roxin 2009a, S. 73.

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C. Das Vorliegen einer Anzeigepflicht der Anstaltsleitung

(1) Das Vertrauensprinzip Immer wieder wird der Gedanke des Vertrauensschutzes zur Herleitung von Garantenstellungen herangezogen. Bereits Mezger identifizierte das Vertrauen als entscheidenden Gesichtspunkt für die Erfolgsabwendungspflicht bei besonderer Übernahme: „Die strafrechtliche Haftung tritt ein, weil sich der Vertragsgegner auf die zugesagte Hilfe verläßt und im Vertrauen darauf andere Sicherung unterläßt.“79 Diese Ausführungen Mezgers aufgreifend erkennt Vogler im Vertrauen, „das das Verhalten anderer bestimmt“, sogar ein „allgemeingültiges Prinzip“ zur Begründung von Garantenpflichten. Die Legitimation der Strafbewehrung liege darin, dass Personen Schutz- oder Überwachungsmaßnahmen unterließen, weil sie auf die rechtsgüterschützenden Handlungen des anderen vertrauten.80 Ein umfassenderes Konzept legt Wolff vor, der als Voraussetzung für ein „Bewirken durch Unterlassen“ zwei aufeinander bezogene Momente nennt: Erstens eine Abhängigkeit des Gefährdeten, die jedoch zum normalen Leben gehört und keine besondere Vergünstigung darstellt, und zweitens eine freie Entscheidung der pflichtigen Person, also eine reale Wahl zwischen Verhaltensmöglichkeiten.81 Die Abhängigkeit, die sich nach Wolff aus einem Vertrauensverhältnis ergibt, begründet letztlich die Garantenstellung: „Der Einzelne baut darauf, daß die anderen ihre Verpflichtungen wirklich erfüllen, und durch dieses Vertrauen ist er von ihnen abhängig.“ Es komme dabei nicht auf das tatsächliche Vertrauen im Einzelfall an, sondern auf den Umstand, ob der Betroffene im Fall vertrauen durfte.82 Da es für solche Abhängigkeitsverhältnisse keine gesetzliche Regelung gebe, sei man darauf angewiesen, diese aus der Rechtsordnung insgesamt zu konkretisieren.83 Letztere Feststellung, dass ein solches Abhängigkeits- oder Vertrauensverhältnis erst noch aus der Rechtsordnung konkretisiert werden müsse, zeigt bereits, dass das Vertrauensprinzip selbst nicht dazu in der Lage ist, Garantenstellungen zu begründen. Zwar wird nicht angezweifelt, dass in den meisten Fällen, in denen eine Garantenpflicht verletzt wird, auch ein Abhängigkeitsverhältnis besteht bzw. ein Vertrauensverhältnis enttäuscht wird, wann ein solches vorliegt und in welchen Fällen es sich um ein berechtigtes Vertrauen handelt, bleibt jedoch unklar. Schünemann geht sogar davon aus, dass 79  Mezger

1949, S. 144. 1976, S. 281. Ebenfalls Erwähnung findet das Vertrauensprinzip bei Blei 1966, S. 137 ff.; Jescheck / Weigend 1996, S. 623; Sch / Sch-Stree / Bosch 2014, § 13 Rn. 8, 27; Stree 1966, S. 158. 81  Wolff 1965, S. 37 ff. 82  Wolff 1965, S. 40. 83  Wolff 1965, S. 38. 80  Vogler



II. Pflicht der Anstaltsleitung zur Strafanzeige161

ein berechtigtes Vertrauen insgeheim bereits eine Garantenstellung voraussetze, da das Vertrauen nur dann auch schutzwürdig sei, und wirft dem Vertrauensprinzip damit einen Zirkelbeweis vor.84 Jedenfalls ist das Vertrauensprinzip als Grundlage für die Begründung von Garantenstellungen zu unbestimmt.85 (2) Soziologisch fundierte Theorien Die soziologisch fundierten Garantenlehren versuchen, wesentliche Aspekte des gesellschaftlichen Zusammenlebens wissenschaftlich zu erfassen und diese für die Bestimmung von Garantenstellungen fruchtbar zu machen.86 Dafür setzen sie bei der Stellung des Individuums innerhalb der Gesellschaft an. Nach Bärwinkel ergeben sich Garantenpflichten aus der jeweiligen sozialen Rolle, die ein Individuum innerhalb der Gesellschaft bzw. innerhalb von Gruppen einnimmt. Zunächst sei es für das Funktionieren einer Gesellschaft notwendig, dass die Aufgaben untereinander verteilt werden. Der Einzelne übernehme je nach Familienstand, Beruf etc. eine sachliche Teilfunktion, die die sozial-funktionelle Stellung im Beziehungsgefüge des Gruppenganzen festlege.87 Beobachte man das gesellschaftliche Zusammenleben („in den Straßen […], in Geschäften, Wohnungen und Betrieben […], wie sie einander grüßen, Gespräche miteinander führen […] und wie sich Männer gegenüber Frauen, Nachgeordnete gegenüber Vorgesetzten benehmen […]“) würden unabhängig von individuellen Unterschieden objektivierte Verhaltensschemata im Umgang miteinander erkennbar.88 Die Verhaltenspflichten des Einzelnen folgten aus der sozial-funktionalen Stellung und der damit verbundenen sozialen Rolle mit ihren typisierten Verhaltensmustern. „Es kann nur derjenige wegen der Nichtabwendung eines Erfolges bestraft werden, zu dessen Rolle die Abwendung gehörte.“89 Allerdings könnten wegen des ultima-ratio-­ Charakters des Strafrechts nur Verstöße gegen solche Handlungspflichten ein strafrechtlich relevantes Unrecht darstellen, die für das „Gemeinwohl“ bzw. „für ein gedeihliches Gemeinschaftsleben unbedingt notwendig“ sind.90 84  Schünemann

1971, S. 251. auch Coelln 2008, S. 95 f. Otto 2004, § 9 Rn. 28; Otto / Brammsen 1985, S. 535 halten das Vertrauensprinzip grundsätzlich für sinnvoll, jedoch konkretisierungsbedürftig. 86  Otto / Brammsen 1985, S. 535. 87  Bärwinkel 1968, S. 108. 88  Bärwinkel 1968, S. 104 f. 89  Bärwinkel 1968, S. 108 ff., 111. 90  Bärwinkel 1968, S. 95, 111 ff. 85  So

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C. Das Vorliegen einer Anzeigepflicht der Anstaltsleitung

Otto und Brammsen entwickelten eine Garantenlehre, die sich an den Strukturen des sozialen Alltagslebens orientiert. Ausgangspunkt ihrer Theorie ist zunächst auch die Erkenntnis, dass der Mensch im gesellschaftlichen Zusammenleben soziale Rollen übernimmt. Eine solche Rolle bewirke „Sicherheit und Verlässlichkeit in der sozialen Alltagswelt, schafft eine für das Bestehen menschlicher Sozialgebilde (Systeme) notwendige Konformität und entlastet dadurch auch von Komplexität.“91 Aus den verschiedenen Rollen gingen Verhaltenserwartungen der Mitmenschen hervor, die sich an die jeweiligen Inhaber und Inhaberinnen dieser Rollen richten. Zu berücksichtigen seien dabei aber nur solche Verhaltenserwartungen, denen im sozialen Raum stabilisierende Funktion zukommt, die Mitmenschen also bei ihrer eigenen Alltagsgestaltung als sicheren Faktor berücksichtigen. Entscheidend für eine Garantenpflicht sei zudem ein gegenseitiges Erwarten, in der Form, dass der oder die Verpflichtete auch erwartet, dass die bestimmte Verhaltensweise von ihm bzw. ihr erwartet wird, und dass andere Personen sich darauf verlassen. Allein so könne der bzw. die Pflichtige sein bzw. ihr Verhalten auch danach ausrichten.92 Schließlich könne nur eine Verhaltenserwartung eine Garantenpflicht begründen, die „von solcher Festigkeit ist und solches Gewicht hat, daß ihre Verletzung einen ebenso schweren Schaden für die Vertrauensbasis des Soziallebens bedeutet wie die Verletzung dieser Basis durch Gefährdung und Verletzung entsprechender Rechtsgüter durch positives Tun.“93 In Anbetracht der in Rechtsprechung und Literatur katalogartig anerkannten Garantenstellungen ist es durchaus sinnvoll, für die Entstehung von Handlungspflichten einen Blick auf die Stellung des Individuums in der Gesellschaft zu werfen. So resultiert die Pflicht der Eltern, ihr Kind nicht verhungern zu lassen, offenkundig aus ihrer sozialen Rolle als Mutter oder Vater. Ebenso folgt die Pflicht eines Unternehmers, von ihm in den Verkehr gebrachte gesundheitsschädliche Produkte zurückzurufen, aus seiner beruflichen Stellung in der Gesellschaft. Dabei bleibt jedoch ungeklärt, wann die sich aus der sozialen Rolle ergebenen Handlungspflichten nicht lediglich sozialethische oder zivilrechtliche Pflichten, sondern strafbewehrte Garantenpflichten darstellen. Die von Bärwinkel dafür genannte Voraussetzung, dass die Handlungspflicht für das „Gemeinwohl“ „unbedingt notwendig“ sein müsse, ist derart unbestimmt, dass sie die Grenzen für eine praktikable und objektive Identifizierung und Handhabung von Garantenpflichten nicht abzustecken vermag.94 Ähnlich ist nach Otto und Brammsen die Nichtbefolgung 91  Brammsen

1986, S. 118; vgl. Otto / Brammsen 1985, S. 536. 1985, S. 536 f. 93  Otto 2004, § 9 Rn. 46; Otto / Brammsen 1985, S. 537. 94  Ebenso Brammsen 1986, S. 55 f.; Coelln 2008, S. 107 f.; Otto / Brammsen 1985, S.  535 f.; Schünemann 1971, S. 128 ff. 92  Otto / Brammsen



II. Pflicht der Anstaltsleitung zur Strafanzeige163

einer Erwartung, die aus einer sozialen Rolle resultiert und ihrerseits erwartet wird, nur strafwürdig, wenn sie „einen ebenso schweren Schaden für die Vertrauensbasis des Soziallebens bedeutet“ wie die Gefährdung oder Verletzung von Rechtsgütern durch positives Tun. Zwar versuchen die Autoren diese Formel noch weiter zu konkretisieren, indem das „Erwartungsverhältnis die Erhaltung elementarer Rechtsgüter oder wesentlicher Strukturen des gesamtgesellschaftlichen Sozialgefüges zum Inhalt“95 haben müsse, trotzdem lassen sich auch daraus keine für die Praxis geeigneten Grenzen der Garantenpflichten ableiten, auf die sich der Bürger oder die Bürgerin verlassen kann. (3) „  Pflichten kraft Organisationszuständigkeit“ und „Pflichten kraft institutioneller Zuständigkeit“ Jakobs stellt bei der Begründung von Garantenpflichten auf Zuständigkeiten ab. Ausgangspunkt für seinen Ansatz ist die Erkenntnis, dass sich in der Gesellschaft, beispielsweise aufgrund zustehender Rechtspositionen, Organisationskreise von Personen auch über den eigenen Körper hinaus bilden. Solche Organisationskreise seien Ausdruck von Freiheit. Der Freiheit stehe jedoch quasi im Synallagma die Pflicht gegenüber, den eigenen Organisa­ tionskreis in einem gefahrlosen Zustand zu halten. Diese Pflicht ergebe sich aus der Verantwortlichkeit für die Gestaltung des Organisationskreises. Zu den sich aus dem Organisationskreis ergebenden Pflichten gehörten Verkehrssicherungspflichten, die Ingerenz sowie die Übernahme einer Verrichtung. Die Grenze der eigenen Zuständigkeit liege dann bereits im Ausschluss objektiver Zurechenbarkeit, wie bei erlaubtem Risiko oder der Verantwortlichkeit einer anderen Person in deren Organisationskreis.96 Zu der Haftung aus Organisationszuständigkeit kommen nach Jakobs noch Pflichten aus „besonderem Rechtsgrund“ hinzu. Solche ergäben sich aus institutioneller Zuständigkeit. Bereits die Organisationszuständigkeit setze die „Institution der rechtlichen Verfaßtheit der Gesellschaft“ durch „Verhaltensfreiheit und Folgenverantwortung“ voraus. Weitere Zuständigkeiten könnten sich nur aus Institutionen ergeben, die „die Identität der Gesellschaft ebenso bestimmen“.97 Als Institutionen zählt Jakobs den Staat oder die Justiz. Pflichten folgten hier nicht aus dem eigenen Organisationskreis, sondern aus dem jeweiligen Status, den eine Person innerhalb der Institution innehat. Es handele sich letztlich um staatliche Pflichten, für die die Amtswalter haften, 95  Brammsen

1986, S. 130; Otto / Brammsen 1985, S. 537. 1996, S. 19 ff. 97  Jakobs 1996, S. 30 ff.; Jakobs 1991, 29. Abschn. Rn. 57 f. 96  Jakobs

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C. Das Vorliegen einer Anzeigepflicht der Anstaltsleitung

die diese übernehmen.98 Ebenso ließen sich die Pflichten als Mutter, Vater oder Ehepartner aus dem jeweiligen Status einer Person innerhalb einer In­ stitution herleiten.99 Als Institutionen nennt Jakobs hier das Eltern-KindVerhältnis sowie etwaige Ersatzverhältnisse, die Ehe und das besondere Vertrauen.100 Zusammenfassend ergeben sich nach Jakobs Garantenpflichten entweder aus den „Pflichten kraft Organisationszuständigkeit“ oder den „Pflichten kraft institutioneller Zuständigkeit“. Diese Pflichtbestimmung in Form von Geboten folge allerdings der Bestimmung von Pflichten bzw. Verboten bei Begehungsdelikten: So ergebe sich bei „Herrschaftsdelikten“ aus der Verantwortlichkeit für die Gestaltung des Organisationskreises einerseits die Pflicht, Gefahren zu verhindern, andererseits aber genauso die Pflicht, gefährliche Handlungen zu unterlassen. Der einheitliche Haftungsgrund sei die „Rücksichtnahme auf andere bei der Gestaltung eines Organisationskreises.“ Diese Übereinstimmung zeige sich auch bei den „Pflichtdelikten“. Der einheitliche Haftungsgrund sei hier die „institutionell abgesicherte Solidarität“. Nach Jakobs besteht damit „völlige Kongruenz“ zwischen der Haftung für Tun und der für Unterlassen.101 Für diese Konzeption spricht, dass sie nach einem einheitlichen Haftungsgrund für Begehungs- und Unterlassungsdelikte sucht. Auch die Bestimmung der Zuständigkeiten nach Organisationskreisen ist durchaus sinnvoll, da auch unter Heranziehung der Fallgruppen der objektiven Zurechnung sich diese einigermaßen klar gegeneinander abgrenzen und sich Pflichten bestimmen lassen. Zu vage sind hingegen die Pflichten aus „institutioneller Zuständigkeit“. Zum einen lässt es Jakobs selbst völlig offen, wie man Institutionen und daraus resultierende Pflichten identifiziert, bis auf dass sie die „Identität der Gesellschaft bestimmen“ müssten und es um die „Erhaltung der unverzichtbaren Elemente der gesellschaftlichen Gestalt“ gehe. Auch der Haftungsgrund der „institutionell abgesicherten Solidarität“ lässt freien Raum für Wertungen, hinreichende Rechtssicherheit einer solch normativen Bestimmung von Garantenpflichten lässt sich daher bezweifeln.102 (4) Die „Herrschaft über den Grund des Erfolges“ Auch Schünemann sucht nach einem einheitlichen Strafgrund für Begehungs- und Unterlassungsdelikte. Da es für ein Gleichstellungskriterium im 98  Jakobs

1996, S. 33 f. 1996, S. 34. 100  Jakobs 1991, 29. Abschn. Rn. 58 ff. 101  Jakobs 1996, S. 36 ff.; Jakobs 1991, 28. Anschn. Rn. 14 ff. 102  So auch Roxin 2003, § 32 Rn. 23 f. 99  Jakobs



II. Pflicht der Anstaltsleitung zur Strafanzeige165

Gesetz keine Anhaltspunkte gebe, könne es nur aus der „Natur der Sache“ ermittelt werden. Zwar unterschieden sich Unterlassungsdelikte von Begehungsdelikten, sie seien aber auch nicht gänzlich gegensätzlich. Das Unterlassen könne nur dann wie eine Begehungstat („begehungsgleich“) behandelt und aus ein und demselben Tatbestand bestraft werden, wenn ein gemeinsamer Strafgrund vorliege.103 Es müsse sich aus den sachlogischen Strukturen eine allgemeingültige materiale Voraussetzung ergeben. Da sich die Strukturen bei den einzelnen Deliktstypen (Erfolgsdelikte, Tätigkeitsdelikte etc.) bereits wesentlich unterschieden, müsse der Strafgrund für jeden Deliktstyp selbstständig festgestellt werden. Schünemann wendet sich den Erfolgsdelikten zu, da sie zum einen die meisten Tatbestände im StGB darstellten und zum anderen auch bei der Diskussion um die Unterlassungsdelikte im Vordergrund stünden.104 Hier erkennt er den Grund für die Strafbarkeit bei der Zurechnung des Erfolges zu einer Person. Anknüpfungspunkt ist dabei typischerweise die Handlung, weil diese den Erfolg verursacht hat. Da diese jedoch für den Strafgrund des Unterlassungsdelikts keine Anhaltspunkte geben könne, müsse noch ein Schritt weiter gedacht werden. Es gehe nicht um die Zurechnung des Erfolges zur Handlung, sondern zur Person. Zurechnungsgrund ist hier die „absolute[n] Herrschaft der Person über den Körper“ und damit über die strafrechtlich relevante Körperbewegung. Als gemeinsames Zurechnungsprinzip identifiziert Schünemann daher die „Herrschaft über den Grund des Erfolges“.105 Anschließend nimmt Schünemann eine Konkretisierung dieses Prinzips vor und teilt es in Anlehnung an die Funktionslehre (Überwacher- und Beschützergarant) in die „Herrschaft über die wesentliche Erfolgsursache“ und die „Herrschaft über die Anfälligkeit des Opfers“ ein. Die Einteilung beruht darauf, dass nur in einem für den konkreten Kausalverlauf wesentlichen Merkmal der Grund des Erfolges liegen könne. So liege ein wesentliches Merkmal in dem Nichthissen einer roten Fahne bei gefährlichen Tidebedingungen an der Nordsee vor, wenn daraufhin eine Person schwimmen geht und ertrinkt; die Rettungsmöglichkeit eines anderen Strandbesuchers stellt jedoch kein für den Kausalverlauf wesentliches Merkmal dar, da ein Nichteintreten des Erfolges durch die mögliche Rettung lediglich hypothetisch angenommen werden kann. Neben der Erfolgsursache kann aber auch die „Anfälligkeit“ bzw. die „Hilflosigkeit“106 des Opfers als wesentliches Merkmal des Kausalverlaufs der Grund des Erfolges sein. Eine Zurechnung könne 103  Schünemann

1971, S. 231 ff. 1971, S. 233 f. 105  Schünemann 1971, S. 234 ff.; Schünemann 1984, S. 293 f.; Schünemann 1995, S. 72; Schünemann 2009, S. 313 f. 106  Schünemann 1971, S. 341. 104  Schünemann

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C. Das Vorliegen einer Anzeigepflicht der Anstaltsleitung

dann erfolgen, wenn eine Herrschaft über diese Hilflosigkeit des Opfers besteht.107 Bei der Hilflosigkeit könne es sich entweder um eine „konstitutionelle“ (Hilflosigkeit aufgrund eines andauernden Zustands wie bspw. „jugendliches Alter, Gebrechlichkeit oder Krankheit“) oder eine „partielle“ (vorübergehende und auf einzelne Bereiche begrenzte Hilflosigkeit) handeln. Eine Herrschaft über die konstitutionelle Hilflosigkeit könne entweder existentiell, durch eigenen Zugriff oder durch Übertragung der Herrschaft aufgrund eines Vertrauensakts vorliegen. Typisches Beispiel der existentiellen Herrschaft sei die der Mutter über ihr Kleinkind. Übernehme bspw. eine Nonne die Obhut über ein Waisenkind, liege ein Fall des eigenen Zugriffs vor. Und überließen die Eltern ihr Kind einem Kindermädchen, übertrügen sie ihre eigene Herrschaft an dieses, wobei bspw. im Falle der eigenen Krankheit oder Gebrechlichkeit auch der Rechtsgutsinhaber selbst die Herrschaft übertragen könne. Bei der partiellen Hilflosigkeit komme eine Herrschaft nur aufgrund des eigenen Zugriffs oder der Übertragung durch Vertrauensakt in Betracht.108 Letzteres betreffe bspw. die Gefahrengemeinschaft, bei der der Teilnehmer sein Rechtsgut der Gemeinschaft anvertraut, oder die Lebensgemeinschaft, bei der sich mehrere Personen zusammenschließen, „um das allgemeine Lebensrisiko besser bestehen“ bzw. „den Tücken des Lebens besser begegnen zu können“.109 Die „Herrschaft über die wesentliche Erfolgsursache“ konkretisiert Schünemann durch die „Herrschaft über einen Gefahrenbereich“. Dazu gehörten vor allem Verkehrssicherungspflichten110, aber auch Pflichten zur Verhinderung von Straftaten Dritter, wenn über die Person eine Herrschaft aufgrund von Unmündigkeit oder rechtlicher Befehlsgewalt111 bestehe. Eine Garantenstellung aus Ingerenz lehnt Schünemann hingegen ab, da eine Herrschaft, die über die bloße Möglichkeit der Erfolgsverhinderung hinausgeht, nicht vorliege. Der Erfolg werde jedoch bereits dem Vorverhalten, bspw. in Form einer Fahrlässigkeitstat, zugerechnet. Die meisten häufig der Ingerenz zugeordneten Fälle seien ohnehin von der „Herrschaft über einen Gefahrenbereich“ erfasst, liege eine solche Herrschaft aber nicht vor, scheide auch eine Zurechnung aus.112 107  Schünemann 1971, S. 241  f.; zur Einteilung siehe auch Schünemann 2009, S. 314. 108  Schünemann 1971, S. 342 ff. 109  Schünemann 1971, S. 355. 110  Schünemann 1971, S. 281 ff. 111  Schünemann 1971, S. 323 ff. 112  Schünemann 1971, S. 313 ff.; abl. auch in Schünemann 1974, S.  231 ff.; Schünemann 1984, S. 308 f.



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Schünemanns Herrschaftstheorie besticht in zweierlei Hinsicht: Erstens dadurch, dass sie als Grund für die Bestrafung aus einem unechten Unterlassungsdelikt nach einem Kriterium sucht, das sich auch in den sachlogischen Strukturen eines Begehungsdelikts wiederfindet. Nur durch ein einheitliches Kriterium kann das Unterlassen der Tatbestandverwirklichung durch aktives Tun gleichstehen, so wie es § 13 StGB für die Bestrafung aus einem Begehungstatbestand auch vorsieht.113 Zweitens handelt es sich bei der „Herrschaft über den Grund des Erfolges“ um ein Kriterium, das sich greifbar darstellt, weitgehend objektiv nachvollziehbar und wenig anfällig für subjektiv unterschiedliche Interpretationen der Reichweite von Garantenpflichten erscheint.114 Dennoch ist die Kritik an Schünemanns Theorie vielfältig: Zunächst wird ihr vorgeworfen, dass die Herleitung des Herrschaftsprinzips nicht so wertfrei sei, wie Schünemann vorgibt115, denn bereits der Entscheidung, nur beherrschbare Folgen in die Strafbarkeit durch Unterlassen mit einzubeziehen, liege eine Wertung zugrunde.116 Außerdem sei die Herleitung des Herrschaftskriteriums aus der „Natur der Sache“ zu unbestimmt, der Begriff werde überhaupt nicht erklärt und sei deshalb inhaltslos.117 Schünemann entwickelt das Herrschaftskriterium aus der Suche nach strukturellen Gemeinsamkeiten von Begehungs- und Unterlassungsdelikten. Auch wenn die Entscheidung, ebenso wie beim Begehungsdelikt beim unechten Unterlassungsdelikt nur beherrschbare Folgen zu erfassen, eine Wertung darstellen mag, fragt man sich doch, mit welcher Rechtfertigung auch unbeherrschbare Folgen unter die Begehungstatbestände subsumierbar sein sollten. Zwar mag das Kriterium der „Natur der Sache“ für sich genommen inhaltslos erscheinen, Schünemann verwendet es aber lediglich als Beschreibung für seinen Versuch, in Bezug auf das Gleichstellungerfordernis die dafür relevanten Gemeinsamkeiten von Begehungs- und Unterlassungshandlungen zu finden. Schließlich sei auch der Herrschaftsbegriff selbst nicht hinreichend bestimmt. So bleibe dabei unberücksichtigt, dass es auch faktische Herrschaftsverhältnisse gebe, die allerdings keine Garantenpflicht begründeten.118 Zudem sei gerade auch die bloße Möglichkeit der Erfolgsverhinderung für die 113  Coelln 2008, S. 122 f.; so auch Roxin 2003, § 32 Rn. 19, der sich der Theorie Schünemanns anschließt; anders Herzberg 1972, S. 196. 114  Coelln 2008, S. 123. 115  Nach Schünemann ergebe „sich die Geltung dieses obersten Zurechnungsprinzips aus der Entsprechungsbeziehung von gesetzlicher Wertentscheidung und Natur der Sache“, Schünemann 1971, S. 238. 116  Brammsen 1986, S. 73; Orlich 1977, S. 182; Otto / Brammsen 1985, S. 534. 117  Brammsen 1986, S. 71 f.; Coelln 2008, S. 128; Otto / Brammsen 1985, S. 534. 118  Maiwald 1981, S. 480; Otto / Brammsen 1985, S. 534; ähnlich auch Landau 1976, S. 81 f. Nach Schünemann kommt es hier jedoch ähnlich wie beim Gewahr-

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C. Das Vorliegen einer Anzeigepflicht der Anstaltsleitung

Zurechnung relevant, die Forderung nach einem für den Kausalverlauf aktuell wesentlichen Merkmal sei willkürlich.119 Coelln wirft Schünemann sogar vor, dass er gar nicht erkläre bzw. erklären könne, wie sich seine Herrschaft von der faktischen Handlungsmöglichkeit unterscheide.120 Jedenfalls letzterem Argument gegen den Herrschaftsbegriff kann entgegengehalten werden, dass sich Schünemanns „Herrschaft über den Grund des Erfolges“ sehr wohl von der reinen Handlungsmöglichkeit, bei der die Kausalität für den Erfolg nur hypothetisch festgestellt werden kann, unterscheidet, wie das obige Nordseebeispiel verdeutlicht.121 Hinsichtlich der Bestimmtheit des Begriffs muss dennoch festgestellt werden, dass dieser, wie Schünemann selbst bemerkt122, insbesondere bei der „Herrschaft über die Hilflosigkeit des Opfers“ noch konkretisierungsbedürftig ist. Konsequent lehnt Schünemann bspw. eine Garantenstellung allein aus Lebensgemeinschaft oder natürlicher Verbundenheit ab, da auch in diesen Fällen immer eine Herrschaft hinzutreten muss. Eine solche Herrschaft könne sich aus dem Zusammenschluss mehrerer Personen ergeben, „um das allgemeine Lebensrisiko besser bestehen“ bzw. „den Tücken des Lebens besser begegnen zu können“.123 Das damit verbundene Verständnis von der Lebensgemeinschaft als einer Art Gefahrengemeinschaft erscheint gekünstelt.124 Wann außerdem eine abzuwendende Gefahr den von der Lebensgemeinschaft umfassten Bereich des alltäglichen Lebens betrifft, bleibt unklar. Den Ansatz von Schünemann versucht Coelln zu konkretisieren. Zur Überprüfung, ob eine Bestrafung aus einem unechten Unterlassungsdelikt gerechtfertigt ist, zieht sie „höherrangiges Recht“ und die „Erwartungen der Gesellschaft“ als „zwei Grundpfeiler“ der Garantenstellung heran.125 Insbesondere die Verhältnismäßigkeit sei letztlich ausschlaggebend für das Bestehen oder Nichtbestehen einer Garantenstellung.126 Zwar soll nicht bezweifelt werden, dass das verfassungsrechtliche Verhältnismäßigkeitsprinzip auch im Strafrecht eine Rolle spielt und bei der Verhängung von Sanktionen zu besamsbegriff des § 242 StGB auf den erforderlichen Herrschaftswillen an, Schünemann 1984, S. 294 (Fn. 26). 119  Brammsen 1986, S. 76. 120  Coelln 2008, S. 127. 121  Zur Abgrenzung siehe auch Schünemann 1971, S. 234 f., 243, 316. 122  Schünemann 1971, S. 356; Schünemann 1984, S. 295 (in Fn. 26). Auch Roxin 2003, § 32 Rn. 21 geht davon aus, dass das „Kriterium der Kontrollherrschaft“ als „oberstes Leitprinzip“ noch Konkretisierung und normativer Abgrenzung bedarf. 123  Schünemann 1971, S. 355 f. 124  Kritisch zu der Fallgruppe der Lebensgemeinschaft auch Herzberg 1972, S. 193 f., nach dessen Auffassung Schünemann diese lediglich in sein System zwängt. 125  Coelln 2008, S. 133 ff. 126  Coelln 2008, S. 234.



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rücksichtigen ist. Bei der Bestimmung von Garantenstellungen würde es jedoch, ohne weitere konkretisierende Maßstäbe, subjektivem Rechtsempfinden, das zu rational kaum nachvollziehbaren Entscheidungen führen wird, Tür und Tor öffnen.127 Eine Konkretisierung von Schünemanns Herrschaftstheorie erfolgt dadurch letztlich nicht. (5) Fazit Die aufgeführten Ansätze verdeutlichen die Schwierigkeiten, die sich bei der Bestimmung von Garantenstellungen ergeben. Am ehesten vermag die Theorie von Schünemann noch, die Entstehung von Garantenstellungen zu erklären und durch die Voraussetzung der „Herrschaft über den Grund des Erfolges“ enge Grenzen für ihren Anwendungsbereich zu schaffen. Doch auch hier überzeugt die Eingliederung der Beschützergarantenstellungen als „Herrschaft über die Hilflosigkeit des Opfers“ nicht vollends. Da Beschützerund Überwachergarantenstellungen unterschiedliche Schutzrichtungen aufweisen, mögen Zweifel aufkommen, ob sie sich überhaupt auf einen einheitlichen Entstehungsgrund zurückführen lassen.128 Jedenfalls wird dies nur schwerlich und unter einigen Zugeständnissen in der Dogmatik möglich sein. In der Rechtsprechung findet sich letztlich eine Kasuistik unterschied­ licher Garantenstellungen. So ergeben sich Garantenstellungen aus familiärer Verbundenheit129, engen persönlichen Lebensbeziehungen130, Gefahrengemeinschaften131, tatsächlicher Übernahme132, Amtsträgerschaft133, Verantwortlichkeit für Gefahrenquellen134 und vorangegangenem gefährlichen Tun (Ingerenz)135. 127  So

auch Maurach / Gössel / Zipf-Gössel 2014, § 46 Rn. 47. auch Herzberg 1972, S. 196. 129  Eltern-Kind-Verhältnis (BGHSt 19, 167 (168); BGHSt 41, 113 (118)), Geschwister (abl. LG Kiel NStZ 2004, 157), Ehe (BGHSt 2, 150, (153 f.); BGHSt 48, 301, (304 f.)). 130  Eheähnlichen Lebensgemeinschaft (BGH NJW 1960, 1821 (1821 f.), abl. bei Wohngemeinschaften (BGH NStZ 1984, 163). 131  BGH NStZ 2008, 276, (277), im konkreten Fall für illegal einreisende Ausländer abgelehnt. 132  BGH NJW 1993, 2628 (2628 f.); BGHSt 27, 10 (12 f.); BGH NJW 1966, 1763. 133  Staatsanwaltschaft und Polizei zum Schutze der staatlichen Strafrechtspflege, abl. jedoch bei Strafvollzugsbediensteten (BGHSt 43, 82 (85)). 134  KfZ (OLG Hamm NJW 1983, 2456 (2457)), Wohnung (BGHSt 30, 391 (396)), Personen (OLG Celle NJW 2008, (1013)). 135  Gastwirt nach Ausschank von Alkohol an Betrunkenen (BGHSt 26, 35 (37ff.)), Strafgefangener für weitere Misshandlungen von Mitgefangenen nach Schaffung eines Klimas der Gewalt (BGH NStZ 2009, 321 (322)), Inverkehrbringen von gefähr­ lichen Produkten (BGHSt 37, 106 (115 ff.)). 128  Ähnlich

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C. Das Vorliegen einer Anzeigepflicht der Anstaltsleitung

Dem Vorliegen einer Garantenstellung kommt jedoch für die Strafbarkeit eine enorme Bedeutung zu. Sie entscheidet als alleiniges Abgrenzungskriterium von echten und unechten Unterlassungsdelikten darüber, ob bspw. in dem Fall, dass das Opfer stirbt und die Täterin die ihr mögliche Erfolgsverhinderung unterlässt, § 212, 13 StGB oder lediglich § 323c StGB einschlägig ist.136 Deshalb kommen immer wieder Zweifel auf, ob § 13 I StGB, der die Voraussetzungen, wann ein rechtliches Einstehenmüssen vorliegt, in keiner Weise konkretisiert, mit dem Bestimmtheitsgrundsatz aus Art. 103 II GG vereinbar ist.137 Das BVerfG hat die verfassungsrechtlich ausreichende Bestimmtheit des § 13 I StGB bejaht, da der Gesetzgeber auch im Strafrecht wegen der „Vielgestaltigkeit des Lebens“ auf solche Generalklauseln zurückgreifen muss und der Normadressat sich hinsichtlich einzelner Garantenstellungen auf die kontinuierliche richterrechtliche Ausarbeitung verlassen kann.138 Außerdem werden durch die Formulierung „wenn er rechtlich dafür einzustehen hat“ sittliche Pflichten ausgeschlossen.139 Dennoch ist bei der Annahme einer strafbarkeitsbegründenden Garantenpflicht Zurückhaltung geboten und die Fallgruppen der Garantenstellungen müssen eng ausgelegt werden.140 bb) Die Anstaltsleitung als Überwachergarantin Ein Überwachergarant bzw. eine Überwachergarantin trägt die Verantwortung für eine bestimmte Gefahrenquelle und hat somit Sicherungspflichten gegenüber der Allgemeinheit.141 Bei den zu überwachenden Gefahrenquellen muss es sich nicht ausschließlich um Sachen handeln, auch bei Personen kann in bestimmten Fällen die Pflicht bestehen, diese von einer Gefahrschaffung oder gar von der Begehung von Straftaten abzuhalten. Grundsätzlich 136  Kretschmer

2006, S. 898; Kühl 2007, S. 499; Rengier 2016, § 49 Rn. 26. Ergebnis die Vereinbarkeit aber bejahend Jescheck / Weigend 1996, S. 609 f.; Lackner / Kühl-Kühl 2014, § 13 Rn. 21; Kühl 2012, § 18 Rn. 41; Roxin 2003, § 31 Rn. 32 ff.; Sch / Sch-Stree / Bosch 2014, § 13 Rn. 5 f.; abl. Köhler 1997, S. 213 f.; Otto 2004, § 9 Rn. 20 f.; Schürmann 1986, S. 190. 138  BVerfGE 96, 68 (97 ff.); BVerfG NJW 2003, 1030. 139  BVerfG NJW 2003, 1030; Jescheck / Weigend 1996, S. 621; Kühl 2012, § 18 Rn. 41. Seebode 1992, S. 340 f. hält deshalb auch nur Pflichten aus Gesetz oder Vertrag für mit dem Bestimmtheitsgrundsatz vereinbar. Da sich die formelle Rechtsquellenlehre zur Begründung von Garantenstellungen jedoch nicht eignet (siehe dazu Kap. C. II. 1. a) aa), ist diese Auffassung zu eng. 140  So auch Sch / Sch-Stree / Bosch 2014, § 13 Rn. 6; Verrel 2003, S. 597; LK-Weigend 2007, § 13 Rn. 19. 141  Fischer 2017, § 13 Rn. 15; Jescheck / Weigend 1996, S. 621; Kühl 2012, § 18 Rn. 44; Roxin 2003, § 32 Rn. 7; Sch / Sch-Stree / Bosch 2014, § 13 Rn. 11. 137  Im



II. Pflicht der Anstaltsleitung zur Strafanzeige171

folgt aus dem Prinzip der Eigenverantwortlichkeit, dass keine Einstandspflicht für das Verhalten anderer Menschen besteht. Ausnahmen gelten jedoch, wenn die Verantwortlichkeit der anderen Person eingeschränkt ist und ein Aufsichtsverhältnis besteht oder wenn aufgrund eines Über-Unterordnungsverhältnisses eine Verantwortung für das Handeln des anderen übernommen wurde. Typische Beispiele sind eine Überwachergarantenstellung gegenüber Kindern, in Schulen oder bei Anstalten zur Unterbringung von psychisch Kranken.142 Eine Überwachergarantenstellung wird zudem für die Anstaltsleitung, aber auch andere Vollzugsbedienstete zur Verhinderung von Straftaten der Gefangenen im Strafvollzug bejaht.143 Es besteht hier zum einen eine Herrschaft, deren Inhalt es ist, den Bereich des Strafvollzugs zu kontrollieren und zu gestalten und damit kraft Aufsichtsgewalt auch eine Herrschaft über die sich im Strafvollzug befindenden Personen144, zum anderen liegt eine durch die Gewalt über eine andere Person begründete Verbindung des eigenen Organisationskreises mit dem Verhalten der anderen Person vor.145 Damit trifft die Anstaltsleiterin oder den Anstaltsleiter zwar eine Straftatenverhinderungspflicht, wenn sie oder er im Vorfeld von der geplanten Begehung von Straftaten erfährt oder selbst Zeuge einer solchen Begehung wird; die Frage nach der Anzeigepflicht der Anstaltsleitung betrifft jedoch einen ganz anderen Fall: In der Jugendstrafanstalt wurden Straftaten bereits begangen und die Anstaltsleiterin oder der Anstaltsleiter erfährt erst in Nachhinein von dem konkreten Sachverhalt. Zur Begründung einer Überwachergarantenstellung der Anstaltsleitung müsste man die Behauptung anstellen, dass der Strafvollzug an sich, hinsichtlich der bereits begangenen Taten, eine Gefahrenquelle darstellt. Und zwar nicht wegen der erhöhten Gefahr der Begehung von weiteren Straftaten (diese müssten nach den bisherigen Ausführungen wenn möglich bereits im Vorfeld verhindert werden), sondern als spezifische Gefahrenquelle derart, dass aus dem Strafvollzug, aufgrund der nicht angezeigten Straftaten, eine Gefahr für fremde Rechtsgüter erwächst. In Betracht kommt hinsichtlich der Strafbarkeit aus § 258  I StGB allein die Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege.146 Eine generelle Gefahr des Strafvollzugs für die Strafrechtspflege anzunehmen, ist jedoch widersinnig. Zum 142  Fischer 2017, § 13 Rn. 15; Kühl 2012, § 18 Rn. 116 ff.; Roxin 2003, § 32 Rn.  125 ff.; Sangenstedt 1989, S. 474 ff., 486; Schünemann 1971, S. 323 ff.; Sch / SchStree / Bosch 2014, § 13 Rn. 51 f.; NK-Wohlers / Gaede 2013, § 13 Rn. 51 ff. 143  RGSt 53, 292 (292 f.); Brammsen 1986, S. 228 f.; Jakobs 1991, Abschn. 29 Rn. 35; Jescheck / Weigend 1996, S. 628; Roxin 2003, § 32 Rn. 133; SK-Rudolphi / Stein 2014a, § 13 Rn. 35; Rudolphi 1991, S. 365; Sangenstedt 1989, S. 486; Sch / Sch-Stree / Bosch 2014, § 13 Rn. 52; NK-Wohlers / Gaede 2013, § 13 Rn. 52. 144  Roxin 2003, §  32 Rn. 133; Rudolphi 1991, S. 365  f.; Schünemann 1971, S.  323 ff. 145  Jakobs 1991, Abschn. 29 Rn. 32 ff. 146  Dazu auch Verrel 2003, S. 598 f.; Volckart 1996, S. 610; Wagner 1992, S. 518 f.

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C. Das Vorliegen einer Anzeigepflicht der Anstaltsleitung

einen handelt es sich beim Strafvollzug gerade um eine Institution zur Durchsetzung staatlicher Strafen147, er ist also Teil der Strafrechtspflege, zum anderen werden auch in der Gesellschaft148 nicht immer alle Straftaten angezeigt. Zwar bestehen im Strafvollzug und gerade im Jugendstrafvollzug besondere Anzeigehemmnisse149, alleine aus diesen kann jedoch keine strafvollzugsspezifische Gefahrenquelle begründet werden, denn ähnliche Anzeigehemmnisse finden sich auch außerhalb des abgeschlossenen Bereichs Strafvollzug, beispielsweise in Schulen oder in familiären Beziehungen.150 Mal abgesehen davon, dass der Strafvollzug gar keine Gefahrenquelle für die Strafrechtspflege darstellt, besteht auch keine Kontrollherrschaft der Anstaltsleitung151 darüber, ob insgesamt wegen einer im Vollzug begangenen Straftat Strafanzeige gestellt wird. Neben der Strafvollzugsbehörde, für die die jeweilige Anstaltsleiterin oder der jeweilige Anstaltsleiter die Verantwortung trägt, kann auch jede andere Person, ob verletzt oder unbeteiligt, ob Gefangene / r, Bedienstete / r oder Außenstehende / r, selbstständig Strafanzeige stellen. cc) Die Anstaltsleitung als Beschützergarantin Eine Beschützergarantin bzw. ein Beschützergarant trägt die Pflicht, ein bestimmtes Rechtsgut gegen Gefahren aller Art zu sichern. Eine solche Garantenstellung besteht typischerweise bei Eltern für die Rechtsgüter ihrer Kinder, unter Ehegatten, bei tatsächlicher Übernahme wie bspw. dem Zusammenschluss zu einer Gefahrengemeinschaft oder bei Amtsträgern für Rechtsgüter, die in ihren Zuständigkeitsbereich fallen.152 Gewiss ist die Anstaltsleitung nicht nur Überwachergarantin für die Gefahren, die von einzelnen Jugendstrafgefangenen ausgehen, sondern vor allem auch Beschützergarantin für die Rechtsgüter der jungen Gefangenen, insbesondere deren körperliche Unversehrtheit. Die Anstaltsleitung hat nicht nur in tatsächlicher Hinsicht die Obhut über die sich in der Anstalt befindenden Jugendstrafgefangenen übernommen, sie ist zudem dazu verpflichtet, die Sicherheit und Ordnung in der in diesem Zusammenhang auch Wagner 1992, S. 518 f. 2005, § 26 Rn. 3 ff.; Schwind 2013, § 2 Rn. 34. 149  Siehe dazu nur Bieneck / Pfeiffer 2012, S. 18 ff. 150  Eisenberg 2005, § 26 Rn. 8 ff.; Schwind 2013, § 20 Rn. 9  f.; Verrel 2003, S. 598 f. 151  Eine Herrschaft im Sinne Schünemanns lehnt auch Verrel 2003, S. 599 ab, allerdings mit der Begründung, dass es nicht in der Macht der Anstaltsleitung liege, andere Personen daran zu hindern, ihr begangene Straftaten mitzuteilen und dass bei Kenntnis der Anstaltsleitung keine Gefahrenlage mehr bestünde. 152  Fischer 2017, § 13 Rn. 14; Jescheck / Weigend 1996, S. 621 ff.; Kühl 2012, § 18 Rn. 44 ff; Roxin 2003, § 32 Rn. 33 ff.; Sch / Sch-Stree / Bosch 2014, § 13 Rn. 10. 147  So

148  Eisenberg



II. Pflicht der Anstaltsleitung zur Strafanzeige173

Anstalt zu gewährleisten, schädliche Folgen der Inhaftierung zu vermeiden und die Jugendstrafgefangenen vor wechselseitigen Übergriffen zu schützen.153 Auch hier kann eine Strafanzeige relevant werden, wenn sie dazu beiträgt, wiederholte Taten zu verhindern. Zu denken ist an eine Unterlassungsstrafbarkeit der Anstaltsleitung hinsichtlich der durch eine Gefangene oder einen Gefangenen begangenen wiederholten Tat. Eine Garantenstellung könnte sich durch die Nichtanzeige der ersten Tat aus Ingerenz herleiten lassen. Dies setzt jedoch nicht nur die Kenntnis einer erneuten Tatbegehung voraus, sondern zudem den sicheren Beweis, dass eine Strafanzeige die erneute Tat verhindert hätte. Andere Maßnahmen wie bspw. die Verlegung einer oder eines gefährlichen oder gefährdeten Gefangenen sind hier zur Verhinderung neuer Straftaten und zum Schutz der Gefangenen naheliegender. Nun geht es aber um die Frage, ob die Anstaltsleitung bereits begangene Straftaten, von denen sie zum Zeitpunkt der Tatbegehung keine Kenntnis hatte, anzeigen muss bzw. sich beim Unterlassen einer Strafanzeige wegen Strafvereitelung aus § 258 I StGB strafbar macht. In dieser Fallkonstellation kommt nur eine Beschützergarantenstellung gegenüber dem Rechtsgut der Strafvereitelung in Betracht.154 (1) Ableitung aus der Funktion der Anstaltsleitung Zunächst einmal ist die Anstaltsleiterin oder der Anstaltsleiter in der Strafvollstreckung als Teil der deutschen Strafrechtspflege tätig. Damit erstrecken sich ihre oder seine Kompetenzen auf die Vollstreckung von rechtskräftig verhängten Strafen in der Anstalt, für die sie oder er die Verantwortung trägt.155 Bei der Frage der Strafanzeige auch von im Strafvollzug begangen Taten geht es jedoch um den Bereich der Strafverfolgung. Durch den Eingang einer Strafanzeige bei den Strafverfolgungsbehörden sind diese nach §§ 152 II, 160 I, 163 I StPO verpflichtet, den Sachverhalt zu erforschen und bei einem Anfangsverdacht ein Ermittlungsverfahren einzuleiten. Im Bereich der Strafverfolgung hat die Anstaltsleitung keine Aufgaben, sie ist nicht dazu berufen, an der Verfolgung von Straftaten mitzuwirken, geschweige denn, sicherzustellen, dass der Täter einer Straftat der nach geltendem Recht vorgesehenen Bestrafung zugeführt wird. Anders als die Staatsanwaltschaft, Polizeibeamte oder Richter wurden die in der Strafvollstreckung tätigen Personen wie Anstaltsleitung oder andere Vollzugsbedienstete nicht mit der 153  Vorschriften, die die Sicherheit innerhalb der Anstalt betreffen finden sich bspw. im JStVollzG Bln unter §§ 3 V, 83 JStVollzG Bln. Dazu auch BVerfGE 116, 69 (86); Ostendorf-Goerdeler 2016, § 8 Rn. 1 ff. 154  Ebenso Wagner 1992, S. 517. 155  Zu den Aufgaben der Anstaltsleitung siehe Kap. C. I. 2.

174

C. Das Vorliegen einer Anzeigepflicht der Anstaltsleitung

Strafverfolgung als amtlicher Aufgabe betraut, sodass sie auch nicht als Beschützergarantin für diesen Teil der Strafrechtspflege aufgestellt sind.156 Das OLG Hamburg157 hat eine Garantenstellung der Anstaltsleitung aus der Verantwortung zur Erreichung des Vollzugsziels aus § 2 StVollzG und der damit verbundenen Sachnähe des Aufgabenbereichs der Anstaltsleitung zur Strafverfolgung hergeleitet. In dem konkreten Fall wurde der damalige Anstaltsleiter der JVA Fuhlsbüttel (Erwachsenenstrafvollzug) zu elf Monaten Freiheitsstrafe, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde, verurteilt, weil er mehrere in seiner Amtszeit begangene Sexualstraftaten eines Gefangenen gegenüber Bediensteten nicht anzeigte. So sollte durch den Verzicht auf eine Strafanzeige, auf Wunsch der Geschädigten, eine öffentliche sowie anstaltsinterne Bloßstellung vermieden werden. Außerdem wurden die Taten des Gefangenen weder der Justizbehörde berichtet noch in der Gefangenenakte vermerkt; zum Schutz der Bediensteten vor weiteren Taten wurde jedoch ein internes Warnsystem eingerichtet. Das OLG stützt die Begründung der Obhutsgarantenstellung auf § 2 StVollzG, nach dem neben der Befähigung der Gefangenen zu einem Leben ohne Straftaten als primäres Ziel der Vollzug der Freiheitsstrafe auch dem Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten dient. Bereits daraus resultiert nach der Argumentation des OLG, dass Strafverfolgung und Strafvollstreckung keine getrennten Aufgaben mehr sind: Aus dem Umstand, dass Gefangene neue gewichtige Straftaten begehen, könne man schließen, dass die bereits verhängte Strafe zur Resozialisierung der Täterin oder des Täters und zum Schutz der Allgemeinheit noch nicht ausreiche und deshalb eine Strafverfolgung der neuen im Vollzug begangenen Taten geboten sei. Eine „noch engere Sachnähe zum Schutzzweck des § 258 StGB“ als bei der Leitung einer Strafvollzugsbehörde und der damit verbundenen Aufgaben sei „kaum denkbar“.158

156  Im Erg. so auch BGHSt 43, 82 (84 f.) für leitende Beamte einer JVA bei Straftaten anderer Vollzugsbediensteter; Calliess / Müller-Dietz 2008, § 156 Rn. 3; MKCramer / Pascal 2012, § 258 Rn. 19; AK-Feest / Walter 2012, § 156 Rn. 10; SK-Hoyer 2014b, § 258 Rn. 32; Kubink 1996, S.  374 ff.; Küpper 1996, S. 525; Lackner / KühlKühl 2014, § 258 Rn. 7a; Laubenthal 2015, Rn. 258; L / N / N / V-Laubenthal 2015, N Rn. 42; Ostendorf 1997, S. 1108 f.; Rengier 2015, § 21 Rn. 15 f.; Roxin 2003, § 32 Rn. 82; Rudolphi 1997, S. 600 f.; Kaiser / Schöch / Kinzig-Schöch 2015, S. 340; Seebode 1998, S. 340; Sonnen 1997, S. 837 ff.; Sch / Sch-Stree / Hecker 2014, § 258 Rn. 17; Verrel 2003, S. 602 ff.; Volckart 1996, S. 609 f.; Wagner 1992, S. 519 ff.; LKWalter 2010, § 258 Rn. 95 ff.; a. A. OLG Hamburg NStZ 1996, 102; Klesczewski 1998, S. 314 f.; Klesczewski 1996, S.  103 f. 157  OLG Hamburg NStZ 1996, 102. 158  OLG Hamburg NStZ 1996, 102 (102  f.); zustimmend Klesczewski 1996, S.  103 f.



II. Pflicht der Anstaltsleitung zur Strafanzeige175

Die Herleitung der Garantenstellung des OLG ist erstaunlich.159 Einerseits vermischt es Zielsetzung, Gestaltung und Aufgabenerfüllung der unterschiedlichen Verfahrensabschnitte Strafverfolgung und Strafvollstreckung, andererseits missversteht es den Prozess der Resozialisierung und überspannt die Rolle einer Vollzugszielbestimmung. So handelt es sich bei § 2 StVollzG um eine Zielbestimmungsnorm.160 Das Vollzugsziel gilt als Leitmotiv für die Ausrichtung und Gestaltung des Strafvollzugs, gibt selbst jedoch keine Mittel zur Erreichung dieses Ziels vor. Zwar ist es auch bei Einzelentscheidungen als Auslegungsrichtlinie zu berücksichtigen161, konkrete strafbewehrte Handlungsanweisungen können einer solchen Zielbestimmungsnorm allein jedoch nicht entnommen werden.162 Die Resozialisierung ist die Wiedereingliederung der Täterin bzw. des Täters in die Gesellschaft. Diese wird im Strafvollzug durch die Befähigung zu einem künftig straffreien Leben angestrebt.163 Herauszufinden, welche Behandlungsmaßnahmen und -programme die Resozialisierung im konkreten Fall fördern, ist ein komplexes Vorhaben und wird in der Strafvollzugsforschung beispielsweise durch Rückfalluntersuchungen oder Studien zu Vollzugsbedingungen betrieben. Bei der Frage, ob eine Strafanzeige die Resozialisierung der Täterin bzw. des Täters einer neuen Straftat im Einzelfall nun begünstigt oder vielleicht sogar behindert, spielen viele Faktoren eine Rolle; erwähnt seien an dieser Stelle nur die mit einem laufenden Ermittlungsverfahren einhergehende Lockerungssperre und die Beeinflussung des Anstaltsklimas.164 Die Anstaltsleitung müsste nun, um herauszufinden, ob im konkreten Fall eine Pflicht zur Strafanzeige besteht, wirkungsprognostisch ermitteln, welche Auswirkungen eine Strafanzeige auf die Resozialisierung der Täterin bzw. des Täters haben wird. Davon abgesehen, dass eine solche Untersuchung mit enormem Aufwand verbunden und in der Praxis kaum durchführ159  Zwar ging es bei der Entscheidung des OLG Hamburg um die Anzeigepflicht eines Anstaltsleiters im Erwachsenenstrafvollzug, die Argumentation könnte jedoch für den Jugendstrafvollzug genauso aussehen, sodass die folgende Auseinandersetzung mit der Garantenstellung beide Vollzugsformen gleichermaßen betrifft. 160  BGHSt 43, 82 (90). 161  AK-Feest / Lesting 2017, § 2 Rn. 15, 21; Calliess / Müller-Dietz 2008, § 2 Rn. 3; Laubenthal 2015, Rn. 139. 162  BGHSt 43, 82 (90); Kaiser / Schöch / Kinzig-Schöch 2015, S. 339; Seebode 1998, S. 340; Verrel 2003, S. 602; Volckart 1996, S. 608 f. Das gilt ebenso für die einschlägigen Bestimmungen aus den Jugendstrafvollzugsgesetzen. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Vollzugsziel findet sich in Kap. B. III. 2. 163  Cornel 2009, S. 29 f. 164  Die Kap. B. II. 3. und B. II. 4. beschäftigen sich mit der Wirksamkeitsforschung zu Behandlungsmaßnahmen und Kap. D. III. 2. anschließend mit den Auswirkungen einer Strafanzeige auf den Resozialisierungsprozess und den Schutz der Allgemeinheit.

176

C. Das Vorliegen einer Anzeigepflicht der Anstaltsleitung

bar wäre, würde letztlich die Strafbarkeit der Anstaltsleitung aus § 258  I StGB vom Ergebnis dieser Prognoseentscheidung abhängen. Eine solche Wechselwirkung zwischen Strafbarkeit und Resozialisierung kann einerseits mit Blick auf das Bestimmtheitsgebot aus Art. 103 II GG nicht gewollt sein und würde andererseits auch kaum brauchbare Ergebnisse mit sich bringen. Läge eine Resozialisierungsfähigkeit der Täterin bzw. des Täters nicht vor, bestünde auch bei schweren Straftaten keine Pflicht zur Anzeigeerstattung. Gerade in dem Fall des OLG Hamburg, bei dem der Täter wegen Mordes an einer Prostituierten zu 15 Jahren Freiheitsstrafe mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt wurde, müssten jedenfalls Zweifel an der Resozialisierungsfähigkeit bestanden haben.165 Aber auch einmal angenommen, eine Strafanzeige wäre im konkreten Fall der Resozialisierung dienlich, resultierte daraus noch lange keine Pflicht, die Strafverfolgung und Bestrafung des Täters oder der Täterin als Garantin des § 258  I StGB zu sichern. Die Pflichten der Anstaltsleitung bleiben allein diejenigen, die sich aus dem einschlägigen Strafvollzugsgesetz für die Strafvollstreckung ergeben. Das Strafverfahren zerfällt in zwei unterschiedliche Verfahrensabschnitte, die durch das rechtskräftige Urteil voneinander getrennt werden und für die andere gesetzliche Regelungen bestehen.166 Dass das auch keine „quasi künstlich[e]“ Zergliederung eines „in vielen Teilen identische[n] Bereich[s] staatlicher Aufgaben“167 darstellt, zeigt sich darin, dass für die aufeinander folgenden Verfahrensabschnitte nicht nur andere Personen verantwortlich und verschiedene Aufgaben zu erfüllen sind, sondern für deren Zielsetzungen auch die Strafzwecke in unterschiedlicher Gewichtung herangezogen werden. Während bei der Strafvollstreckung die Resozialisierung deutlich im Vordergrund steht, sind bei der Verhängung der Strafe durchaus auch generalpräventive Aspekte sowie der Schuldgrundsatz als Ausfluss des Vergeltungsprinzips relevant.168 Etwas anderes kann sich auch nicht aus der Sachnähe der Aufgabenbereiche Strafverfolgung und Strafvollstreckung ergeben. Die Pflicht zur Verteidigung eines Rechtsguts kann sich nur auf den Bereich erstrecken, für den auch eine Zuständigkeit im Einzelfall besteht.169 So hat die Anstaltsleitung keine Herrschaft über den auch Verrel 2003, S. 601; Volckart 1996, S. 609. Doppelbestrafungsverbot aus Art. 103 III GG verhindert einerseits, dass bezüglich eines bereits rechtskräftig abgeurteilten Sachverhalts erneut ein Strafverfahren eingeleitet wird, andererseits stellt § 449 StPO sicher, dass die Strafvollstreckung nur auf der Grundlage eines rechtskräftigen Urteils erfolgt. 167  So aber das OLG Hamburg NStZ 1996, 102 (103). 168  Siehe dazu Kap. B. I. 3. Ähnlich auch Verrel 2003, S. 603 f.; J. Walter 2010, S. 62. 169  BGHSt 43, 82 (85); Kubink 1996, S. 375; Verrel 2003, S. 603 f.; Volckart 1996, S. 610; Wagner 1992, S. 519 ff. 165  Ähnlich 166  Das



II. Pflicht der Anstaltsleitung zur Strafanzeige177

Grund des Erfolges im Sinne Schünemanns, da ihr Aufgaben im Bereich der Strafverfolgung von Amts wegen nicht anvertraut wurden und ihr deshalb in diesem Bereich auch keine Handlungskompetenzen zustehen. Die reine Handlungsmöglichkeit reicht zur Begründung einer Garantenstellung nicht aus.170 Ebenso zählt nach Jakobs der Staat zwar zu den Institutionen, aus denen sich garantenstellungsbegründende Pflichten ergeben können, jedoch nur für solche staatlichen Pflichten, die der Amtswalter auch übernommen hat, die also zu seinem Zuständigkeitsbereich gehören.171 Schwieriger zu beantworten ist, ob auf der Basis des Vertrauensprinzips oder der soziologisch fundierten Theorien eine Garantenstellung bejaht werden kann172. Während man annehmen müsste, dass die Strafverfolgung nicht zu den Aufgaben einer Strafvollstreckungsbehörde und damit eher nicht zu der sozialen Rolle der Anstaltsleitung gehört, ist es nicht fernliegend, dass jedenfalls von Teilen der Gesellschaft die Erwartung an die Anstaltsleitung herangetragen wird, Straftaten im Vollzug lückenlos anzuzeigen. Ob nun die jeweilige Anstaltsleitung diese Erwartung rezipiert und ihrerseits erwartet, bleibt ebenso unklar wie die Frage, ob diese Erwartungen im Sinne dieser Theorien hinreichend gewichtig sind. Auch das für Garantenstellungen im sozialen Nahbereich entwickelte Vertrauensprinzip bietet für das von konkreten personalen Beziehungen losgelöste Verhältnis vom Staat als Inhaber des Rechtsguts der Strafrechtspflege und der Anstaltsleitung keine gesicherten Erkenntnisse. Hier zeigen sich die Grenzen dieser Ansätze zur Bestimmung von Garantenpflichten. Aus der Funktion der Anstaltsleitung einer Jugendstrafanstalt entspringt somit keine Garantenstellung zum Schutz der Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege bei der Strafverfolgung. (2) A  bleitung aus einer speziellen gesetzlichen Regelung oder anderen Dienstpflichten Etwas anderes kann sich ergeben, wenn spezielle gesetzliche Regelungen vorhanden sind. Diese müssen jedoch die Anstaltsleitung zum Schutz der Strafrechtspflege auch bei der Strafverfolgung berufen, die Anstaltsleitung also zur Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs heranziehen. Eine öffentlich-rechtliche Regelung, die zwar die Anstaltsleitung zur Mitteilung einer im Vollzug begangenen Straftat an die Strafverfolgungsbehörden ver170  Zu Herrschaftsbeziehungen bei Amtspflichten, Schünemann 1971, S. 362 f.; zu Schünemanns Herrschaftstheorie allgemein, Kap. C. II. 1. a) aa) (4). 171  Jakobs 1996, S. 33 f.; Jakobs 1991, Abschn. 29 Rn. 77. 172  Zum Vertrauensprinzip siehe Kap. C. II. 1 a) aa) (1); zu den soziologisch fundierten Theorien Kap. C. II. 1. a) aa) (2).

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C. Das Vorliegen einer Anzeigepflicht der Anstaltsleitung

pflichtet, damit aber die Erreichung des Vollzugsziels und die Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung zur Sicherung eines der Resozialisierung dienenden funktionsfähigen Strafvollzugs bezweckt, würde für die Begründung einer Garantenstellung der Anstaltsleitung nicht ausreichen. Nicht jede öffentlich-rechtliche Pflicht stellt nämlich sogleich eine strafbewehrte Garantenpflicht dar. Ansonsten würde man den Grundsatz, dass Garantenstellungen materiell zu bestimmen sind, zugunsten der überholten formellen Rechtsquellenlehre aufgeben.173 Deshalb genügt es für die Prüfung einer Strafbarkeit nach §§ 258 I, 13 StGB nicht, allein festzustellen, ob gegen eine dienstrechtliche Anzeigeverpflichtung wie bspw. aus §§ 6 SubvG, 81a  IV SGB  V oder § 116 AO verstoßen wurde; erforderlich ist es vielmehr, die Identität der Schutzzwecke zu ermitteln.174 In allen Jugendstrafvollzugsgesetzen fehlt eine ausdrückliche Regelung zur Anzeigepflicht der Anstaltsleitung und deren Voraussetzungen bei im Vollzug begangenen Straftaten. Allein aus der Erwähnung der Strafanzeige im Regelungsabschnitt zu den Disziplinarmaßnahmen in den Landesgeset­ zen,175 wonach der Gesetzgeber grundsätzlich von einer strafrechtlichen Verfolgung im Vollzug begangener Taten ausgeht, kann keine Verpflichtung, eine Strafanzeige zu stellen, resultieren. Bei der Kenntniserlangung der oder des Dienstvorgesetzten von Straftaten ihrer bzw. seiner Untergebenen wird vereinzelt sogar eine durch §§ 258 I, 13 StGB strafbewehrte Anzeigepflicht angenommen. Zwar gibt es auch hier, mit Ausnahme des § 33 III WDO für militärische Vorgesetzte, keine ausdrück­ liche Regelung einer Anzeigepflicht, eine solche wird dennoch angenommen, wenn die oder der Dienstvorgesetzte ein bezüglich der Strafanzeige bestehendes Ermessen missbraucht, obwohl aufgrund einer Ermessensreduzierung auf Null keine Wahlmöglichkeit bleibt.176 Auch wenn man ein dienstrecht­ liches Ermessen der Dienstvorgesetzten, das sich in bestimmten Fällen auf Null reduzieren kann, bejaht177, lässt sich daraus keine Garantenstellung zum Schutz der Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege ableiten. So liegt die 173  Roxin 2003, § 32 Rn. 81; Rudolphi 1991, S. 364 ff.; dazu auch Sangenstedt 1989, S. 535. 174  Vgl. Bülte 2009, S.  59  ff. zu § 116 AO; ebenfalls Dusch / Rommel 2014, S. 189 ff. zur Anzeigepflicht von Finanzbeamten. 175  Siehe dazu Kap. B. III. 5. 176  Lackner / Kühl-Kühl 2014, § 258 Rn. 7a. Diese Auffassung beruft sich auf RGSt 73, 265 (266); 74, 178 (180); BGHSt 4, 167 (170), die jedoch nur die Anzeigepflicht von Dienstvorgesetzten mit Polizeibefugnissen zum Gegenstand haben; ob deren Ausführungen auch allgemein auf Dienstvorgesetzte übertragbar sind, bleibt unklar; abl. Verrel 2003, S. 606 f.; Wagner 1992, S. 516, 524 f. 177  Zum Ermessen der Anstaltsleitung im Rahmen der dienstrechtlichen Verpflichtung sogleich in Kap. C. II. 2.



II. Pflicht der Anstaltsleitung zur Strafanzeige179

Pflicht der Dienstvorgesetzten darin, die Funktionsfähigkeit der Dienstbehörde, für die sie die Verantwortung tragen, aufrechtzuerhalten, sodass der Dienstbetrieb ordnungsgemäß durchgeführt werden kann, und nicht darin, den staatlichen Strafanspruch durchzusetzen.178 Gleiches gilt auch für die Anzeigepflicht der Anstaltsleitung bei Straftaten der Vollzugsbediensteten und, sofern man diesen Grundgedanken überhaupt übertragen möchte, auch bei Straftaten von Gefangenen.179 Eine Begründung der Anzeigepflicht der Anstaltsleitung wird ebenfalls aus dem in Art. 35 I GG niedergelegten Amtshilfegrundsatz, der in § 161 I StPO für das Strafverfahren konkretisiert wird, erwogen, jedoch allgemein abgelehnt. Dieser kann sowohl eine generelle dienstrechtliche als auch eine strafrechtliche Anzeigepflicht nicht begründen, weil er ein Ersuchen im Einzelfall voraussetzt.180 Amtshilfe kommt außerdem erst dann in Betracht, wenn unterschiedliche Zuständigkeiten bestehen. Eine Garantenstellung wegen einer Verantwortung für den Bereich der Strafverfolgung kann diese deshalb gerade nicht begründen.181 (3) Ableitung aus den Verwaltungsvorschriften Verwaltungsvorschriften sind Regelungen der Exekutive. Sie betreffen die Verwaltungsorganisation und werden meist als generell-abstrakte An­ ordnungen einer übergeordneten Verwaltungsbehörde oder der Vorgesetzten gegenüber nachgeordneten Behörden oder Bediensteten erlassen.182 „Die Befugnis zum Erlaß von Verwaltungsvorschriften ist der Exekutivgewalt inhärent, soweit ihre Organisations- und Geschäftsleitungsgewalt jeweils ­ 178  So auch BGHSt 43, 82 (88 f.); NK-Altenhain 2013, § 258 Rn. 44; MK-Cramer / Pascal 2012, § 258 Rn. 19; SK-Hoyer 2014b, § 258 Rn. 32; Roxin 2003, § 32 Rn. 81; Sch / Sch-Stree / Hecker 2014, § 258 Rn. 17; LK-Walter 2010, § 258 Rn. 94. Dazu ausführlich auch Rudolphi 1991, S. 364 f., 367, der sogar noch weiter geht und selbst dann, wenn eine öffentlich-rechtliche Anzeigepflicht der Strafverfolgung dient, eine Garantenstellung ablehnt, weil dem Verpflichteten damit immer noch nicht die staatliche Strafverfolgung an sich anvertraut wurde, sondern in seiner Anzeigeverpflichtung lediglich eine Art Amtshilfe für die Strafverfolgungsbehörden liege. Ähnlich wie Rudolphi auch Sangenstedt 1989, S. 536 ff. 179  Eine Garantenpflicht der Anstaltsleitung als Dienstvorgesetzte abl. auch BGHSt 43, 82 (88 f.); Roxin 2003, § 32 Rn. 82; Verrel 2003, S. 606 f.; Wagner 1992, S. 524 f.; LK-Walter 2010, § 258 Rn. 94 f. Dagegen zieht das OLG Hamburg NStZ 1996, 102 (103) mit zust. Anm. Klesczewski 1996, S. 104 das Institut der Anzeigeplicht des Dienstvorgesetzten zur Begründung der Anzeigepflicht der Anstaltsleitung bei Straftaten von Gefangenen heran. 180  OLG Hamburg NStZ 1996, 102; Klesczewski 1996, S. 103. 181  BGHSt 43, 82 (86). 182  Maurer 2011, § 24 Rn. 1; Erichsen / Ehlers-Möstl 2010, § 20 Rn. 16 f.

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C. Das Vorliegen einer Anzeigepflicht der Anstaltsleitung

reicht.“183 Aus § 35 BeamtStG ergibt sich die Weisungsgebundenheit der Anstaltsleitung gegenüber Anordnungen der Vorgesetzten und deren allgemeinen Richtlinien. Damit besteht auch eine Folgepflicht bei Verwaltungsvorschriften. Die Bezeichnung von Verwaltungsvorschriften ist nicht immer einheitlich. So handelt es sich bspw. auch bei Allgemeinverfügungen, Ausführungsvorschriften, Richtlinien, Erlassen, Dienstanweisungen o. ä. um Ver­ waltungsvorschriften.184 Im Jahr 1991 wurden bundeseinheitliche Verwaltungsvorschriften zum Jugendstrafvollzug erlassen, mittlerweile gibt es in einigen Bundesländern eigene Verwaltungsvorschriften zur Durchführung des Jugendstrafvollzugs. Dort finden sich ausführliche Berichterstattungspflichten der Anstaltsleitung gegenüber der Aufsichtsbehörde bei außerordentlichen Vorkommnissen185, wobei es sich hier jedoch lediglich um eine Verpflichtung gegenüber der obersten Dienstbehörde und nicht um eine Pflicht zur Mitteilung an Strafverfolgungsbehörden handelt. Die Frage der Anzeigepflicht ist in manchen Bundesländern dennoch durch gesonderte Erlasse, Dienstanweisungen o. ä. der Aufsichtsbehörde geregelt. Diese ordnen gegenüber den jeweils der Aufsichtsbehörde unterstehenden Justizvollzugsanstalten und Jugendstrafanstalten an, in welchen Fällen auch bei im Vollzug begangenen Straftaten Strafanzeige gestellt werden soll. Die einzelnen Vorgaben unterscheiden sich jedoch von Bundesland zu Bundesland.186 Relevant für die strafrechtliche Pflicht der Anstaltsleitung zur Strafanzeige ist allein die Bedeutung von Verwaltungsvorschriften für die Strafbarkeit aus §§ 258 I, 13 StGB oder genauer, ob sich aus Verwaltungsvorschriften Garantenpflichten zum Schutz der Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege ableiten lassen. Bei Verwaltungsvorschriften, die die verwaltungsinterne Organisation von Jugendstrafvollzugsanstalten und die Verpflichtungen gegenüber der Aufsichtsbehörde regeln, ist bereits zweifelhaft, ob sie überhaupt bezwecken, die Anstaltsleitung zur Strafverfolgung zu berufen.187 Auch der BGH hat in seiner Entscheidung zur Anzeigepflicht von Vollzugsbediensteten Bedenken dahingehend geäußert, dass Verwaltungsvorschriften, wenn man ihnen eine solche garantenstellungsbegründende Wirkung zuspricht, mit ihrer Bedeutung weit 183  BVerwG DVBl 1982, 195 (196); BVerwGE 67, 222 (229); dazu auch BVerfGE 26, 338 (395 f.); Erichsen / Ehlers-Möstl 2010, § 20 Rn. 18. 184  Maurer 2011, § 24 Rn. 1; Erichsen / Ehlers-Möstl 2010, § 20 Rn. 16. 185  Nr. 103 (7) VVJug; VV zu § 13 JVollzGB BW-I; VV zu Art. 177 BayStVollzG; AV zu § 101 JStVollzG Bln; § 49 HVV; VV zu § 156 NJVollzG; VV zu § 111 JStVollzG LSA; VV zu § 101 SJStVollzG. 186  Zu den Verwaltungsvorschriften im Einzelnen sogleich in Kap.C. II. 2. 187  Abl. RGSt 73, 265 (267); Wagner 1992, S. 522 ff.; allgemein auch Sangenstedt 1989, S. 531 ff.



II. Pflicht der Anstaltsleitung zur Strafanzeige

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über den verwaltungseigenen Bereich der Geschäftsleitungs- und Organisationsgewalt hinausreichen würden, der allein jedoch ihre Existenz rechtfertigt. Eine Entscheidung musste der BGH allerdings nicht treffen, da es im betreffenden Bundesland solche Verwaltungsvorschriften nicht gab.188 Einerseits kann mit Verwaltungsvorschriften, die der Funktionsfähigkeit der Verwaltung dienen, nicht auch die Sicherstellung der Strafverfolgung bezweckt werden, andererseits sind sie vor allem als Regelungsmechanismen des inneren Verwaltungsbereichs nicht dazu geeignet, die Strafbarkeit von bestimmten Verhaltensweisen abzustecken. Schon aus diesen Gründen können Garantenpflichten nicht aus Verwaltungsvorschriften abgeleitet werden.189 Dagegen, dass Verwaltungsvorschriften Garantenstellungen begründen können, spricht außerdem der Gesetzesvorbehalt des Art. 103 II GG. Dieser stellt sicher, dass allein der Gesetzgeber den Bereich des Strafbaren bestimmt und so jeder vorhersehen kann, welches Verhalten strafbar ist.190 Zwar hat das BVerfG erklärt, dass bereits § 13 StGB die Unterlassungsstrafbarkeit hinreichend bestimme, auch weil die einzelnen Garantenstellungen durch Rechtsprechung und Lehre konkretisiert worden sind. Mit Blick auf Ingerenz oder tatsächlicher Übernahme wird auch deutlich, dass nicht alle Garantenstellung auch auf eine zusätzliche gesetzliche Grundlage zurückzuführen sind; das heißt aber nicht, dass für die Begründung neuer Garantenstellungen außerhalb der herkömmlichen Fallgruppen nicht der Gesetzgeber tätig werden müsste. Nur so kann dem Zweck des Art. 103 II GG, die Vorhersehbarkeit strafbaren Verhaltens zu gewährleisten, genüge getan werden.191 Dafür spricht auch, dass der Gesetzgeber Anzeigepflichten, die andere Personen als die für die Strafverfolgung ausdrücklich (§§ 152 II, 160, 163 StPO) Zuständigen treffen, in § 138 StGB oder § 40 WStG normiert hat.192 Würde man zudem das Entstehen einer Garantenstellung zur Disposition der Verwaltung stellen, die mittels Verwaltungsvorschriften strafbewehrte Anzeigepflichten schaffen könnte, würde dies zu sachlich schwer nachvollziehbaren Unterschieden in den Bundesländern führen. Denn die zuständigen 188  BGHSt

43, 82 (87 f.). auch RGSt 73, 265 (267); MK-Cramer / Pascal 2012, § 258 Rn. 19; Dusch / Rommel 2014, S. 189 f.; Menche 1987, S. 396; Rudolphi 1997, S. 599 ff.; Wagner 1992, S. 522 ff.; a. A. Klesczewski 1998, S. 315; Klesczewski 1996, S. 104 mit der Anregung verpflichtende Verwaltungsvorschriften zu schaffen. 190  BVerfGE  78, 374 (382); Maunz / Dürig-Schmidt-Aßmann 2015, Art. 103 II Rn. 178. 191  Kaiser / Schöch / Kinzig-Schöch 2015, S. 340; Verrel 2003, S. 605 f.; J. Walter 2010, S. 62; ähnlich auch Papier 1988, S. 1115 für die Anzeigepflicht vom Amtsträgern im Umweltrecht; a. A. Lackner / Kühl-Kühl 2014, § 258 Rn. 7a. 192  MK-Cramer / Pascal 2012, § 258 Rn. 19; Verrel 2003, S. 606. 189  So

182

C. Das Vorliegen einer Anzeigepflicht der Anstaltsleitung

Verwaltungseinheiten haben ganz unterschiedlich geregelt, in welchen Fällen die Strafverfolgungsbehörden zu benachrichtigen sind.193 dd) Fazit Die Anstaltsleitung einer Jugendstrafanstalt ist keine Garantin für die Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege bei der Strafverfolgung. Einerseits kommt eine Überwachergarantenstellung nicht in Betracht, da der Strafvollzug an sich keine Gefahrenquelle für die Strafrechtspflege darstellt, andererseits ist die Anstaltsleiterin oder der Anstaltsleiter auch nicht zur Strafverfolgung bzw. zur Durchsetzung des materiellen staatlichen Strafanspruches berufen. Die Zuständigkeit der Anstaltsleitung ist auf den Bereich der Strafvollstreckung begrenzt, darüber hinaus trifft sie keine aus §§ 258  I, 13 StGB strafbewehrte Pflicht, an der Strafverfolgung durch Anzeige im Jugendstrafvollzug begangener Taten mitzuwirken. b) Strafverfolgungsvereitelung im Amt aus §§ 258a, 13  I StGB Bei der Anzeigepflicht der Anstaltsleitung einer Strafvollzugsanstalt ist auch an die Strafbarkeit wegen Strafvereitelung im Amt aus § 258a,13 StGB zu denken. Zweck dieser Vorschrift ist neben dem Schutz der Strafrechtspflege wie bei § 258 StGB auch, die Erfüllung staatlicher Aufgaben hinsichtlich solcher Amtspflichten zu schützen, die einem bestimmten Kreis von Personen auferlegt sind. Dabei muss im Rahmen des § 258a StGB ebenso zwischen Strafverfolgungsvereitelung (§ 258a  I Var.  1 StGB) und Strafvollstreckungsvereitelung (§ 258a I Var. 2 StGB) unterschieden werden.194 Zwar kann die Anstaltsleiterin oder der Anstaltsleiter als oberstes Glied einer Strafvollstreckungsbehörde und damit als Amtsträgerin bzw. Amtsträger eine Strafvollstreckungsvereitelung im Amt begehen, eine Strafverfolgungsvereitelung im Amt scheidet aber für Personen aus, die nicht zur Mitwirkung im strafrechtlichen Erkenntnisverfahren berufen sind.195 Damit ist die Anstaltsleitung einerseits mangels einschlägiger Amtsträgerschaft gar keine taugliche Täterin des § 258a I Var. 1 StGB, andererseits fehlt es ihr ohnehin an der für eine Unterlassungsstrafbarkeit erforderlichen Garantenstellung.

193  Verrel

2003, S. 605 f.

194  MK-Cramer / Pascal

Rn. 1.

2012, § 258a Rn. 1; Sch / Sch-Stree / Hecker 2014, § 258a

195  Kaiser / Schöch / Kinzig-Schöch 2015, S. 338 f.; Verrel 2003, S. 597; Wagner 1992, 514.



II. Pflicht der Anstaltsleitung zur Strafanzeige

183

2. Dienstrechtliche Pflicht Die Zuständigkeit und Kompetenz der Anstaltsleitung zur Strafanzeige bei Straftaten im Jugendstrafvollzug ergibt sich bereits aus der allgemeinen Aufgabenzuweisung in den Jugendstrafvollzugsgesetzen, nach denen die Anstaltsleiterin oder der Anstaltsleiter die Verantwortung für den gesamten Vollzug trägt und die Anstalt nach außen vertritt.196 Darüber hinaus findet sich jedenfalls keine spezielle gesetzliche Regelung, in welchen Fällen Strafanzeige gestellt werden soll. Der Anstaltsleitung steht bei der Entscheidung zur Strafanzeige also ein Ermessen zu.197 Dieses Ermessen resultiert jedoch nicht wie üblicherweise daraus, dass ein Gesetz als Rechtsfolge explizit Ermessen einräumt, sondern aus dem Umstand, dass aufgrund eines gesetzlich nicht geregelten Bereichs der Behörde ein Handlungsspielraum zusteht.198 Trotz eines bestehenden Handlungsspielraums bzw. eines Ermessens ist die Behörde selbstverständlich an Recht und Gesetz gebunden, die Entscheidung zur Strafanzeige darf also in erster Linie dem Grundgesetz, aber auch anderen gesetzlichen Wertungen nicht widersprechen.199 In bestimmten Fällen, wenn nur eine rechtsfehlerfreie Entscheidung zulässig ist, kann sich das Ermessen auch auf Null reduzieren. Maßgebend für die Ermessensentscheidung der Anstaltsleitung sind aber allein solche Aspekte, die sich innerhalb des ihr zugewiesenen Aufgabenbereichs bewegen, insbesondere die Sicherheit und Ordnung zur Aufrechterhaltung eines funktionsfähigen Strafvollzugs.200 Zur Begrenzung des Ermessens bei der Strafanzeige wird auch die Zielbestimmungsnorm des § 2 StVollzG für den Erwachsenenvollzug bzw. für Erwachsenen- und Jugendstrafvollzug gleichermaßen die entsprechende 196  Siehe

Kap. C. I. auch OLG Hamburg NStZ 1996, 102 (103); Calliess / Müller-Dietz 2008, § 156 Rn. 3; AK-Feest / Walter 2012, § 156 Rn. 10; Kubink 1996, S. 376; AK-Walter 2017, § 86 Rn. 33; J. Walter 2010, S. 61 f.; ebenso BGHSt 43, 82 (88 f.); Rudolphi 1997, S. 600 für Dienstvorgesetzte; a. A. Volckart 1996, S. 610, der die Strafanzeige einer Anstaltsleitung nicht für Verwaltungshandeln hält, sodass der Begriff des Ermessens hier nicht in Betracht kommt. 198  Stelkens / Bonk / Sachs-Stelkens 2014, § 40 Rn. 31 spricht insoweit statt von Ermessen von „frei gestaltender Verwaltung“. 199  Dies ergibt sich bereits aus Art. 20 III GG. § 40 VwVfG, der nur für gesetzlich eingeräumtes Ermessen bei Verwaltungsakten gilt, ist insoweit spezieller. Sowohl bei anderem Verwaltungshandeln (Kopp / Ramsauer 2016, S.  40 Rn.  6  f.; Stelkens / Bonk / Sachs-Stelkens 2014, § 40 Rn. 47 ff.) als auch bei Ermessen aufgrund von gesetzlich nicht geregelten Bereichen (Kopp / Ramsauer 2016, § 40 Rn. 5; Rode 2003, S. 124 ff.) wird jedoch eine entsprechende Anwendung diskutiert. 200  BGHSt 43, 82 (88 f.); Calliess / Müller-Dietz 2008, § 156 Rn. 3; AK-Feest / Walter 2012, § 156 Rn. 10; Rudolphi 1997, S. 600; J. Walter 2010, S. 61 f.; kritisch zur Ermessensreduzierung Kubink 1996, S. 376. 197  So

184

C. Das Vorliegen einer Anzeigepflicht der Anstaltsleitung

Vorschrift aus dem jeweiligen Landesgesetz herangezogen.201 Ob sich im Einzelfall das Ermessen der Anstaltsleitung jedoch deshalb auf Null reduziert hat, weil eine Strafanzeige zur Förderung der Resozialisierung geboten ist, wird allerdings schwer zu beurteilen sein.202 Darüber hinaus gibt es in einigen Bundesländern Verwaltungsvorschriften in Form von Erlassen oder Dienstanweisungen, die die Anzeigepflicht der Anstaltsleitung regeln und damit Entscheidungsmaßstäbe für die Ausübung des Ermessens liefern.203 Aufgrund der Weisungsgebundenheit der Verwaltung ist diesen Anordnungen auch zu folgen.204 Verwaltungsvorschriften können formlos und verfahrensfrei erlassen werden und müssen in der Regel nur den Behörden oder Bediensteten bekannt gegeben werden, an die sie gerichtet sind. Eine Pflicht zur Veröffentlichung von Verwaltungsvorschriften besteht nicht.205 In den Bundesländern bestehen in Inhalt und Form ganz unterschiedliche Vorgaben. Während es in Brandenburg lediglich eine in einem Protokoll einer Anstaltsleiterdienstbesprechung vom 14.12.2006 schriftlich niedergelegte Anweisung des zuständigen Abteilungsleiters des Ministeriums der Justiz gibt, nach der bei Verdacht auf Vorliegen einer Straftat immer Strafanzeige gestellt werden soll, wurden in Berlin durch ein Schreiben der Senatsverwaltung vom 13.  Juli 2011 (III A 4  – 4434 / E / 105 / 2011) ausführ­ liche Anweisungen an die Justizvollzugsanstalten erteilt206: „Unstreitig ist, dass bei Bekanntwerden des Anfangsverdachts einer durch einen Gefangenen begangenen Straftat keine strafrechtlich begründete Anzeigepflicht der Vollzugsbehörde besteht. Vielmehr ist in jedem Einzelfall eine Abwägung nach pflichtgemäßem Ermessen zwischen Erziehungsmaßnahmen bzw. anstaltsinterner Disziplinierung und / oder Strafanzeige geboten. Dabei sind der Rang der verletzten Rechtsgüter, die Folgen der Tat auf das Opfer, eine etwa erfolgte Wiedergutmachung und – neben dem gesetzlichen Erziehungsauftrag – insbesondere auch die Auswirkung auf die Sicherheit und Ordnung in der Anstalt einzuschätzen und abzuwägen. Der hier grundsätzlich bestehende Ermessensspielraum kann aufgrund der Schwere eines Vorkommnisses auf Null reduziert sein und nur eine Entscheidung, nämlich 201  OLG Hamburg NStZ 1996, 102 (102 f.); Klesczewski 1996, S. 103 f.; kritisch dazu auch Kubink 1996, S. 376. 202  BGHSt 43, 82 (89 f.) hat eine Verletzung des Resozialisierungsziels jedenfalls dann bejaht, wenn von Vollzugsbediensteten begangene schwere Straftaten gegenüber Gefangenen nicht angezeigt werden. Zu den einzelnen Auswirkungen der Strafanzeige auf den Prozess der Resozialisierung siehe Kap. D. III. 2. a). 203  Maurer 2011, § 24 Rn. 10 f.; Erichsen / Ehlers-Möstl 2010, § 19 Rn. 20, 22. 204  Dazu Kap C. II. 1. a) cc) (3). 205  Maurer 2011, § 24 Rn. 32 ff.; Erichsen / Ehlers-Möstl 2010, § 19 Rn. 23. 206  Eine Anfrage bei allen Justizministerien der Länder und Jugendstrafanstalten aus dem Jahr 2013 ergab zudem, dass es jedenfalls in vier weiteren Bundesländern Erlasse zur Anzeigepflicht gibt. Dazu Kap. E. I. 5., V. 1. 5 und E. III. 5.



III. Zusammenfassung

185

die Strafanzeige zulassen. Selbstverständlich ist das bei Tötungsdelikten und Gewalttätigkeiten mit schweren Tatfolgen. Ich bitte, ab sofort ausnahmslos auch bei folgenden Sachverhalten Strafanzeige zu erstatten: • Besondere Vorkommnisse nach Nr. 3 d) der AV zu § 101 JStVollzG Bln (jede auf Fremdeinwirkung beruhende nicht unerhebliche Verletzung von Vollzugsbediensteten im Dienst und von Gefangenen) • Vorkommnissen unter Gefangenen, die sich nach dem Geschehensablauf als Körperverletzung (§§ 223 ff.), Nötigung (§ 240), Raub (§ 249), räuberischer Diebstahl (§ 252), Erpressung (§ 253), räuberische Erpressung (§ 255) oder als Straftat(en) gegen die sexuelle Selbstbestimmung (13. Abschnitt des StGB) darstellen.“

Ein schuldhafter Verstoß gegen dienstrechtliche Pflichten stellt nach § 47 I 1 BeamtStG ein Dienstvergehen dar, dessen Verfolgung in den Disziplinargesetzen der Länder geregelt ist. Grundsätzlich führt ein Dienstvergehen zu einem disziplinarrechtlichen Verfahren. Im Unterschied zur öffentlichen Klage im Strafrecht wird ein solches Verfahren verwaltungsintern oder vor den Verwaltungsgerichten durchgeführt207, an dessen Ende statt Strafe eine dienstbezogene Maßnahme steht (bspw. Versetzung, Entfernung aus dem Dienst oder Kürzung der Dienstbezüge208).

III. Zusammenfassung Die Anstaltsleitung trägt die Verantwortung für den gesamten Strafvollzug. Damit obliegt ihr auch die Entscheidung, ob bei Straftaten, die in der Vollzugsanstalt begangen wurden, Strafanzeige zu stellen ist. Unterlässt sie eine Mitteilung an die Strafverfolgungsbehörden, macht sie sich jedoch nicht wegen Strafvereitelung aus §§ 258 I, 13 StGB oder §§ 258a, 13 StGB strafbar. Eine Strafbarkeit aus § 258a StGB scheidet bereits aus, da die Anstaltsleitung keine Amtsträgerin hinsichtlich der Strafverfolgung ist. Voraussetzung für eine Strafbarkeit aus §§ 258  I, 13 StGB ist, dass die Anstaltsleitung rechtlich dafür einzustehen hat, dass der Erfolg nicht eintritt, also eine ­Garantenstellung zum Schutz des Rechtsguts der Strafvereitelung innehat. Da sich der Zuständigkeitsbereich der Anstaltsleitung einer Justizvollzugsoder Jugendstrafanstalt allein auf den Bereich der Strafvollstreckung erstreckt und sie nicht dazu berufen ist, auf irgendeine Weise an der Strafverfolgung mitzuwirken, treffen sie diesbezüglich auch keine Schutzpflichten. Eine gesetzliche Verpflichtung, Strafanzeige zu stellen, besteht nicht. Eine spezielle gesetzliche Regelung kann eine Garantenstellung auch nur begründen, wenn sie die Anstaltsleitung ausdrücklich dazu beruft, für die Strafverfolgung tätig 207  Bspw. 208  Bspw.

§§ 33, 34 DiszG Bln. § 5 I DiszG Bln.

186

C. Das Vorliegen einer Anzeigepflicht der Anstaltsleitung

zu werden, also nicht die Aufrechterhaltung eines funktionsfähigen Strafvollzugs, sondern gerade die Durchsetzung des materiellen Strafanspruchs bezweckt. Eine Garantenstellung kann auch nicht aus der Sachnähe der Aufgabenbereiche Strafverfolgung und Strafvollstreckung, aus der Verantwortung der Anstaltsleitung für das Vollzugsziel, aus Verwaltungsvorschriften oder anderen allgemeinen Dienstpflichten abgeleitet werden. Mangels einer gesetzlichen Anzeigepflicht steht der Anstaltsleitung bei ihrer dienstlichen Entscheidung ein Ermessensspielraum zu. Dieser ist jedoch insbesondere durch die gesetzlichen Vorgaben der Jugendstrafvollzugsgesetze, aus denen sich bspw. die Verpflichtung zur Aufrechterhaltung eines funktionsfähigen Strafvollzugs ergibt, begrenzt. Ebenso können Verwaltungsvorschriften, sofern sie in den Bundesländern erlassen wurden, verpflichtende Maßstäbe zur Ausübung des Ermessens liefern.

D. Die Anzeigepflicht der Anstaltsleitung im Kontext der Strafvollzugsforschung Ziel dieses Abschnitts ist es, herauszufinden, ob und in welchen Fällen das Stellen einer Strafanzeige durch die Anstaltsleitung bei Straftaten, die im Jugendstrafvollzug begangen werden, sinnvoll ist. Daran unmittelbar anschließend stellt sich dann die Frage, ob einheitlich geregelt werden sollte, in welchen Fällen Strafanzeige bei der Staatsanwaltschaft zu erstatten ist, und wie eine solche Regelung auszusehen hätte. Diese Frage kann jedoch abschließend erst nach dem dritten Abschnitt dieser Arbeit, der Darstellung, wie in der Praxis der Anstaltsleitung mit der Strafanzeige bei Straftaten im Jugendstrafvollzug umgegangen wird, beantwortet werden. Um herauszufinden, ob und in welchen Fällen es sinnvoll ist, Strafanzeige zu erstatten, wird zunächst ein Überblick über den Stand der Forschung zu Straftaten im Vollzug (I.) sowie deren Ursachen (II.) gegeben. Anschließend werden die Auswirkungen einer Strafanzeige auf die Ziele des Jugendstrafvollzugs untersucht und unter Berücksichtigung der allgemeinen Strafzwecke und etwaigen Handlungsalternativen gegeneinander abgewogen (III.).

I. Forschung zu Straftaten im Strafvollzug Straftaten bzw. Gewalt im Strafvollzug sind ein Thema, das aufgrund einzelner schwerer Vorkommnisse immer wieder in den Mittelpunkt der öffentlichen Berichterstattung rückt, in der deutschen Strafvollzugsforschung zunächst jedoch wenig Beachtung gefunden hat. Erst in den letzten Jahren wurden vermehrt Untersuchungen zu Vorkommnissen von Gewalt im deutschen Jugend- und Erwachsenenstrafvollzug durchgeführt. Um einen sinnvollen Umgang mit Straftaten, gerade auch mittels Strafanzeige, diskutieren zu können, ist es erforderlich, Umfang und Art der im Jugendstrafvollzug vorkommenden Straftaten und die verschiedenen Reaktionen der Vollzugsverwaltung zu kennen. Deshalb wird im Folgenden ein Überblick über die deutsche und internationale Forschung, die sich mit Straftaten im Strafvollzug und mit dem Umgang damit beschäftigt, gegeben.

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D. Die Anzeigepflicht der Anstaltsleitung

1. Im Jugendstrafvollzug Neben den Studien, die sich ausschließlich mit Straftaten im Jugendstrafvollzug befassen, gibt es auch einige Untersuchungen, die bei der Fragestellung nicht explizit zwischen den Vollzugsformen trennen, sondern im Hinblick auf jugendliche Gefangene innerhalb der Studie nur bei einigen Aspekten differenzieren. Auch diese Studien sind Gegenstand des folgenden Abschnitts, wobei auf solche Ergebnisse, die speziell den Jugendstrafvollzug betreffen, besonders aufmerksam gemacht wird. a) Formelle Disziplinierung im Jugendstrafvollzug In seiner Dissertation aus dem Jahre 1998 untersuchte J. Walter die rechtlichen und theoretischen Grundlagen der formellen Disziplinierung im Jugendstrafvollzug sowie deren tatsächliche Anwendung und Bedeutung in der Vollzugspraxis. Unter formeller Disziplinierung versteht er jede Maßnahme, „die darauf gerichtet ist, wegen eines im Vollzug unerlaubten oder unerwünschten Verhaltens den Gefangenen offiziell mit einer rechtsförmlichen strafenden Sanktion zu belegen“.1 Darunter fielen insbesondere Erziehungsmaßnahmen wie bspw. ein erzieherisches Gespräch oder die Erteilung von Auflagen und Weisungen und Disziplinarmaßnahmen wie Beschränkungen bezüglich der Freizeitbeschäftigung oder des Einkaufs und die Verhängung von Arrest bis zu zwei Wochen.2 Zudem gehörten auch Strafanzeigen, die die Anstalt gegen Jugendstrafgefangene stelle, zu den Arten der formellen Disziplinierung. J. Walter stellt außerdem fest, dass neben der auf die Anzeige ggf. folgenden strafrechtlichen Sanktion in der Regel bereits das Stellen der Strafanzeige selbst nach dem Empfinden der Gefangenen, aber auch nach der Intention der die Anzeige erstattenden Anstaltsleitung eine disziplinarische Wirkung habe.3 Die formelle Disziplinierung wurde von der informellen Disziplinierung abgegrenzt. Während es sich bei der formellen Disziplinierung um offiziell dafür vorgesehene Maßnahmen handle, würden Maßnahmen der informellen Disziplinierung meist bzw. vorgeblich zu anderen Zwecken ergriffen, entfalteten jedoch zusätzlich auch disziplinierende Wirkung. Zu nennen seien hier vollzugliche Sicherheits- und Kontrollmaßnahmen, die Versagung positiver Maßnahmen wie Lockerungen und die Einflussnahme auf die Haftdauer durch Stellungnahmen bezüglich einer vorzeitigen Entlas1  J.

Walter 1998, S. 7. und Disziplinarmaßnahmen waren in Nr. 86 und Nr. 87 der Bundeseinheitlichen Verwaltungsvorschriften zum Jugendstrafvollzug (VVJug) geregelt. Einzelne auch voneinander abweichende Vorschriften finden sich nun in den Jugendstrafvollzugsgesetzen der Länder, siehe dazu Kap. B. III. 5. 3  J. Walter 1998, S. 7 ff., 10. 2  Erziehungs-



I. Forschung zu Straftaten im Strafvollzug

189

sung, Gnadengesuchen, Weihnachtsamnestien oder ähnlichem.4 Im Zusammenhang mit einer aus dem Vollzug heraus erstatteten Strafanzeige könnten deren Folgen zudem dem Bereich der informellen Disziplinierung zugeordnet werden. Hierzu gehörten bspw. die Versagung von Lockerungen oder das Ablehnen einer vorzeitigen Entlassung aufgrund des Ermittlungsverfahrens.5 Nach J. Walter entfalten Maßnahmen der formellen Disziplinierung zwar repressive Wirkung, ihr eigentlicher Zweck liegt jedoch unter Berücksichtigung des Vollzugsziels der Resozialisierung in der Sicherung der Voraussetzungen eines erzieherisch orientierten, geordneten Vollzugs. Neben der erzieherischen Wirkung auf die disziplinierte Gefangene oder den disziplinierten Gefangenen bedürfe es für einer auf soziales Lernen ausgerichteten individualisierten Erziehung aller Insassen der Aufrechterhaltung der Ordnung und Sicherheit innerhalb der Anstalt. Zwischen dem Erziehungsziel und der Ordnung der Anstalt bestehe insoweit eine gegenseitige Abhängigkeit.6 Beim Stellen einer Strafanzeige komme als weitere Zweckbestimmung noch die Ahndung der Rechtsgutsverletzung als Aufgabe des Strafrechts hinzu.7 Im zentralen Teil seiner Arbeit untersuchte J. Walter den Umfang, die Gründe und Zweckbestimmung sowie die Umstände und Bedingungen formeller Disziplinierung in der Praxis des Jugendstrafvollzugs. Als Datenquellen für diese Untersuchung verwendete er eine vom BMJ geführte bundesweite Statistik über verhängte Disziplinarmaßnahmen, angeordnete besondere Sicherungsmaßnahmen und Entweichungen, Daten zu Disziplinarmaßnahmen aus einer von Dünkel im Jahr 1990 veröffentlichten Erhebung, Daten aus der JVA Adelsheim, in der er zum Erhebungszeitpunkt Anstaltsleiter war, und die Ergebnisse einer eigens durchgeführten Anstaltsleiterbefragung.8 Die Daten zur Verhängung von Erziehungs- und Disziplinarmaßnahmen zeigten, dass deren Handhabung sowohl im Längsschnittvergleich der JVA Adelsheim als auch im Vergleich mit anderen Jugendstrafanstalten (hier lagen nur Daten zu Disziplinarmaßnahmen vor) sehr uneinheitlich war. Bereits innerhalb von Baden-Württemberg unterschied sich die Disziplinarpraxis in den zwei Jugendstrafanstalten, die sich hinsichtlich ihrer Gefangenenpopulation und der Rückfallquote glichen, enorm. Während in der JVA Adelsheim im Jahr 1986 323 Disziplinarmaßnahmen pro 100 Gefangene verhängt wurden, waren es in der JSA Schwäbisch Hall nur 132. J. Walter interpretierte diese Daten dahingehend, dass die „Toleranzschwelle bei ordnungswidrigem 4  J.

Walter Walter 6  J. Walter 7  J. Walter 8  J. Walter 5  J.

1998, 1998, 1998, 1998, 1998,

S. 3 ff. S. 13 f. S. 39 f. S. 165. S. 93.

190

D. Die Anzeigepflicht der Anstaltsleitung

Verhalten“ in Adelsheim deutlich niedriger lag und sich das „Definitionsverhalten“ der Institutionen bzw. der Anstaltsleitungen unterschied.9 Mit Blick auf die identischen Rückfallquoten zeige sich jedoch auch, dass sich ein härterer Sanktionsstil keinesfalls positiv auf das Vollzugsziel der Legalbewährung auswirke.10 Weiterhin ergab ein Vergleich mit dem Erwachsenenvollzug, dass zwischen 1987 und 1995 Disziplinarmaßnahmen im Jugendstrafvollzug rund dreimal häufiger verhängt wurden, wobei dabei die meist zahlreichen Erziehungsmaßnahmen nicht einmal berücksichtigt waren. Mit häufigeren Vorkommnissen im Jugendstrafvollzug kann nach Ansicht J. Walters dieser Unterschied nur zu einem geringen Teil erklärt werden.11 Auch im Hinblick auf die erstatteten Strafanzeigen zeigte der Längsschnittvergleich große Schwankungen in den  Jahren zwischen 1978 und 1995 in der JVA Adelsheim. Interessant ist hier der Vergleich der Jahre 1982, mit 357 Strafanzeigen, und 1993, mit 17 Strafanzeigen, insbesondere auch bezüglich der Art der angezeigten Delikte. Während im Jahr 1982 eine enorme Vielzahl von Delikten, überwiegend jedoch Körperverletzungen und Beleidigungen, angezeigt wurden, beschränkten sich die erstatteten Strafanzeigen im Jahr 1993 auf Betäubungsmitteldelikte, Körperverletzungen und Diebstahl, obwohl die allgemeine Disziplinarstatistik auch für das Jahr 1993 eine Vielzahl von anderen Verstößen aufwies. Nach J. Walter sei das Definitionsverhalten der Anstaltsleitung (der sogenannte „Anstaltsleitereffekt“) der ausschlaggebende Aspekt für diese unterschiedliche Handhabung.12 Aufgrund der Verpflichtung der Staatsanwaltschaft, die Anstalt über den Fortgang des Ermittlungsverfahrens zu informieren, konnte festgestellt werden, dass es bei rund 30 % der Strafanzeigen auch zu einer Anklage oder zu einem Strafbefehlsantrag kam. Die übrigen Verfahren wurden eingestellt oder der Ausgang konnte nicht ermittelt werden. Diese Zahlen blieben über die Jahre stabil.13 Auch bei der bundesweiten Befragung aller Leiterinnen und Leiter der Jugendstrafanstalten ergab die Auswertung des Fragebogens, dass die disziplinarischen Reaktionen auf die den Anstaltsleiterinnen und Anstaltsleitern vorgegebenen 21 Fälle von Disziplinarverstößen sehr vielfältig waren. Bspw. reichten die Reaktionen bei der Beschimpfung eines Bediensteten als „Idiot“ von einem einfachen Verweis bis hin zu fünf Tagen Arrest zur Bewährung oder zwei Monate Freizeitausschluss. Insgesamt ließ sich im Vergleich der 9  J.

Walter 1998, S. 94 ff., 99, 103. Walter 1998, S. 136 f. 11  J. Walter 1998, S. 100 f. 12  J. Walter 1998, S. 165 ff. 13  J. Walter 1998, S. 172. 10  J.



I. Forschung zu Straftaten im Strafvollzug191

Anstalten erkennen, dass sich durchgängig unterschiedliche Sanktionierungsstile in den Anstalten entwickelt hatten.14 Die Frage, in welchen Fällen Strafanzeige durch die Anstalt erstattet werden muss, zeigte erhebliche Rechtsunsicherheit unter den Anstaltsleiterinnen und Anstaltsleitern. Während 20 % der Anstaltsleitungen davon ausgingen, keiner Anzeigepflicht zu unterliegen, meinten 80 % in bestimmten Fällen Anzeige erstatten zu müssen. Jedoch reichten die Auffassungen auch hier von geringfügigen bis zu umfassenden Anzeigepflichten. In diesem Zusammenhang ist außerdem interessant, dass die Anstaltsleitung häufig auch in den Disziplinarfällen Strafanzeige erstattet hätten, in denen sie nach eigener Auffassung keiner Pflicht zur Anzeige unterlagen.15 Schließlich gaben die Anstaltsleiterinnen und Anstaltsleiter überwiegend (82 %) an, mit Maßnahmen der formellen Disziplinierung erstrangig die Erziehung der Insassen zu bezwecken. Allerdings schätzten nur wenige (17 %) die Eignung dafür als hoch ein. 57 % der Anstaltsleiterinnen und Anstaltsleiter meinten jedoch, die Eignung sei noch ausreichend. Ein weiteres Ziel, das im Zusammenhang mit der formellen Disziplinierung genannt wurde, ist die Aufrechterhaltung der Anstaltsordnung. Tatvergeltung, Abschreckung und die Motivation der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen spielten nur eine untergeordnete Rolle.16 Im Ergebnis folgert J. Walter aus der teilweise inflationären und unterschiedlichen Handhabung der formellen Disziplinierung, dass deren strikte Begrenzung in Form einer präzisierten und enger gefassten Regelung mit Disziplinartatbeständen erforderlich sei.17 b) Viktimisierung im Jugendstrafvollzug In ihrer Studie zur Viktimisierung im Jugendstrafvollzug befragten Kury und Brandenstein im Jahre 1999 168 Jugendstrafgefangene der Jugendanstalt Hameln. Gefragt wurde nach Viktimisierungserfahrungen hinsichtlich Diebstahl, Erpressung, körperlicher Bedrohung, körperlicher Misshandlung oder sexuellem Missbrauch vor und während der Inhaftierung.18 79,8 % der Befragten gaben an, bereits vor der Inhaftierung mindestens einmal Opfer eines dieser Delikte geworden zu sein, wobei 53,3 % Opfer einer körperlichen Bedrohung, 38,9 % eines Diebstahls, 34,9 % einer körperlichen Misshand14  J.

Walter 1998, S. 152 ff. Walter 1998, S. 157 f. 16  J. Walter 1998, S. 159 ff. 17  J. Walter 1998, S. 201 ff. 18  Kury / Brandenstein 2002, S. 29; Kury / Smartt 2002, S.  332 f. 15  J.

192

D. Die Anzeigepflicht der Anstaltsleitung

lung, 13,3 % einer Erpressung und 5,4 % eines sexuellen Missbrauchs geworden waren. Mehrfachviktimisierungen eines Befragten waren häufig, insgesamt wurde von 242 Vorfällen berichtet. Die meisten Taten wurden nach dem 14. Lebensjahr erlitten. Im weiteren Verlauf der Untersuchung wurden die Jugendstrafgefangenen nach ihrem Anlassdelikt in drei Gefährlichkeitsgruppen (leichte, mittelstarke und schwere Anlasstat) aufgeteilt. Interessanterweise ergab sich, dass die Gefangenen der Gruppe mit mittelstarkem Anlassdelikt (einfache Körperverletzung, Erpressung, Nötigung, einfacher Raub) mit 89 % die häufigsten Viktimisierungen angaben, gefolgt von der Gruppe mit schwerem Anlassdelikt (schwere / gefährliche Körperverletzung, Tötungsdelikte, Vergewaltigung, Brandstiftung, schwerer Raub) mit 82 % und der Gruppe mit leichtem Anlassdelikt (Eigentumsdelikte, Sachbeschädigung oder ähnliche leichte Straftaten) mit 72 %.19 Hinsichtlich der Viktimisierungserfahrungen während der Inhaftierung gaben 51 % der Befragten an, mindestens einmal Opfer eines der erfragten Delikte geworden zu sein. Davon wurden 42 % Opfer eines Diebstahls, 7 % einer Erpressung, 8 % einer körperlichen Bedrohung, 7 % einer körperlichen Misshandlung und 1 % eines sexuellen Missbrauchs. Außerdem wurde ermittelt, dass die Zahl der Viktimisierungen bei einer längeren Vollzugsdauer ebenfalls zunimmt. Der Zusammenhang zwischen bereits verbüßter Haftzeit und der Anzahl der Viktimisierungserfahrungen war signifikant.20 Die meisten Viktimisierungen entstanden sowohl außerhalb als auch im Vollzug aus einem Streit, einer vorangehenden Provokation oder einer ähn­ lichen Auseinandersetzung heraus, sodass davon auszugehen sei, dass sich Täter und Opferrollen häufig miteinander vermischten.21 c) Gewalt im hessischen Justizvollzug In der Studie „Gewalt im Gefängnis“ des kriminologischen Dienstes des Landes Hessen untersuchte Heinrich die Entwicklung von Gewalt im hessischen Justizvollzug zwischen den  Jahren 1989 und 1998. Darüberhinaus erhob er Daten zu Umständen und Folgen der Vorkommnisse sowie zu Person, Vollstreckungsstand und Vorgeschichte der Gefangenen, die wegen einer Gewalttat im Vollzug auffällig wurden. Damit sollte die Studie zur Versachlichung und Entideologisierung des Problembereichs der Gewalt im Justizvollzug beitragen und zur Diskussion über mögliche Ursachen, Gewaltprophylaxe und effektive Reaktionsformen anregen.22 19  Kury / Brandenstein

2002, S. 29 f. 2002, S. 30. 21  Kury / Smartt 2002, S. 333. 20  Kury / Brandenstein



I. Forschung zu Straftaten im Strafvollzug193

Mittels der Akten bei der Aufsichtsbehörde über besondere Vorkommnisse und gestellte Strafanträge wurden die Fälle ermittelt und ausgewertet, die als Gewalt qualifiziert werden konnten. „Gewalt“ waren hiernach alle Handlungen, „die sich in der Anwendung oder Androhung von Zwang manifestieren und dazu dienen: einen anderen zu schädigen, die eigenen Interessen durchzusetzen oder jemanden gegen seinen Willen zu einem bestimmten Verhalten zu veranlassen.“23 Insgesamt wurden in dem Zeitraum zwischen 1989 und 1998 1229 Fälle von Gewalt ermittelt. Während es im Jahr 1989 nur 86 Fälle waren, stieg die Anzahl mit leicht schwankendem Verlauf auf 176 im Jahr 1998 an. Relativierte man diese absoluten Zahlen, indem man die Gefangenenzahlen der jeweiligen Jahre (Jahresdurchschnittsbelegung: 4602 [1989]; 6016 [1998]) berücksichtigte, zeigte sich auch hier eine signifikante Steigerung der Gewalttaten von mehr als 50 %.24 1058 der Taten im gesamten Untersuchungszeitraum waren Körperverletzungen. Weitere 110 Taten waren Bedrohungen, gefolgt von 28 Nötigungen. Während die Anzahl der meisten Delikte über die Jahre verteilt stabil blieb, war bei den Körperverletzungen ein deutlicher Anstieg zu erkennen. Die Taten wurden gleichermaßen gegen Mitgefangene (572) und Bedienstete (586) verübt. Die restlichen waren gegen Besucherinnen oder Besucher, ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter o. ä. gerichtet. In 1057 Fällen handelte es sich um eine Tatbegehung durch eine Alleintäterin oder einen Alleintäter, 172 Taten wurden von zwei oder mehreren Täterinnen oder Tätern gemeinschaftlich begangen. Bezüglich der Schwere der Gewaltanwendung hinsichtlich der Personenschäden wurden die Taten in die Kategorien leicht, mittel und schwer eingeordnet. 608 Taten wurden als leicht kategorisiert, da es zu keinen körperlichen Verletzungen kam. Bei 429 handelte es sich um mittelschwere Taten, deren Folge Platzwunden, Hämatome, Prellungen, leichte Riss-, Schnitt- oder Bisswunden oder leichte Verbrennungen waren. 184 Taten, die mit einer schweren körperlichen oder seelischen Verletzung, Tod, Vergewaltigung, Schock, Angstzuständen, Gehirnerschütterung, Knochenbruch oder Augenverletzung einhergingen, wurden als schwer eingestuft. Die meisten Taten wurden in einem Haftraum verübt, gefolgt vom Flur, Freistundenhof, Freizeitraum und Ausbildungsstätte oder Werkbetrieb. Meist (1009 Fälle) wurden Körperteile (Fäuste, Hände oder Füße) zur Tat

22  Heinrich

2002, S. 369 ff. 2002, S. 370 f. 24  Heinrich 2002, S. 372 f. Heinrich nennt dazu relative Werte von 1,9 für 1989 und 2,9 für 1998. Wie diese Werte und wie eine relative Steigerung der Gewalttaten von über 50 % errechnet wurden, ist unklar. 23  Heinrich

194

D. Die Anzeigepflicht der Anstaltsleitung

eingesetzt, es wurden jedoch auch Taten mittels Messer, Flasche, Stuhl, Stock oder anderen Gegenständen registriert.25 Die Auswertung der Daten, die zu Person, Vollstreckungsstand und Vorgeschichte der inhaftierten Gewalttäterinnen und Gewalttäter erhoben wurden, ergab hinsichtlich der Altersverteilung, dass eher jüngere Gefangene zu Gewalt im Vollzug neigten. Der Altersdurchschnitt der Täter lag bei 27 Jahren, während er bei der gesamten Gefangenenpopulation bei 34 Jahren lag. 173 Taten (14 %) wurden von Personen begangen, die eine Jugendstrafe verbüßten. Zudem wurden 59 % der Taten von Personen mit ausländischer Staatsangehörigkeit, die auch im Ausland geboren wurden, und 28 % der Taten von Deutschen begangen. Im Hinblick auf die Entwicklung war zu erkennen, dass die Anzahl der durch Ausländerinnen oder Ausländer begangenen Taten in den Jahren stark anstieg, während die Anzahl der Taten von Deutschen sich kaum veränderte. Dabei war allerdings zu berücksichtigen, dass sich auch der Anteil der ausländischen Gefangenen an der Gesamtzahl aller Gefangenen deutlich erhöhte. Nur 2 % der ermittelten Personen aller registrierten Vorkommnisse waren Frauen, der Anteil der weiblichen Inhaftierten lag im Beobachtungszeitraum bei durchschnittlich 5 %. Bezüglich der Tatbegehung wurde deutlich, dass über 50 % der Vorkommnisse in den ersten sechs Monaten der Inhaftierung geschahen. Der Schwerpunkt der Vorkommnisse fand im Bereich der Untersuchungshaft statt, hier wurden fast 50 % der Taten registriert.26 Im weiteren Verlauf der Untersuchung wurde eine Auswertung der Vorkommnisse hinsichtlich möglicher Ursachen für die Gewalttaten vorgenommen. Dafür wurden sechs mögliche Ursachenbereiche gebildet, zu denen jedoch aufgrund mangelnder Informationen nicht alle Vorfälle zugeordnet werden konnten. 302 Taten wurden dem Bereich der Subkultur zugeschrieben, bei dem Gewalthandeln als eine Art „Überlebenstechnik“ gelte, die dazu diene, Macht und Ansehen zu erlangen, eigene Interessen durchzusetzen, aber auch elementare Bedürfnisse zu befriedigen. 275 Fälle waren auf eine erhöhte Neigung der Täterin oder des Täters zu Gewalt und 116 auf psychische Auffälligkeiten der Täterin oder des Täters zurückzuführen. Außerdem wurden 49 Fälle einem akuten Rausch- oder Entziehungszustand, 41 Fälle einem „Haftkoller“ und 14 Fälle einer speziellen Krisensituation wie Trennung, Krankheit oder Probleme im Strafverfahren zugeschrieben.27 Die häufigste Reaktion der Vollzugsverwaltung war die Verbringung in einen besonders gesicherten Haftraum (791 Fälle), gefolgt von der Absonde25  Heinrich

2002, S. 375 ff. 2002, S. 373 ff. 27  Heinrich 2002, S. 378 f. 26  Heinrich



I. Forschung zu Straftaten im Strafvollzug195

rung oder dem Einschluss des Gefangenen. In 62 Fällen wurde im Anschluss an die Tat eine Behandlungsmaßnahme durch Fachdienste ergriffen. In 522 Fällen kam es zu einer Strafanzeige.28 Insgesamt sieht Heinrich die Möglichkeiten einer Gewaltprophylaxe in der Herstellung geeigneter Rahmenbedingungen wie der Reduzierung der Überbelegung, einer angemessenen Personalausstattung und der Verbesserung der Organisations- und Führungsstruktur.29 d) Gewalt unter Gefangenen Im Forschungsprojekt des Kriminologischen Dienstes des Landes Nordrhein-Westfalen aus dem Jahre 2006 zur Gewalt unter Gefangenen wurden Vorkommnisse, Art und Umstände der Gewalttaten von Gefangenen untereinander quantitativ analysiert. Die Studie lieferte eine differenzierte Beschreibung der in den Justizvollzugsanstalten und Jugendstrafanstalten in Nordrhein-Westfalen im Jahre 2005 begangenen Gewalttaten nach Anzahl, Ort, Zeit, Tatgeschehen, Folgen und Meldungen. Ziel der Studie war es, Handlungsempfehlungen zur Gewaltprävention im Strafvollzug geben zu können. Zu diesem Zweck wurden in Form einer „täterorientierten Zugangsweise“ auch personen- und vollzugsbezogene Merkmale der aktenkundigen Gewalttäterinnen und Gewalttäter systematisch analysiert.30 Als Datenquellen dienten die Disziplinarbücher der Anstalten und die Aufzeichnungen über die Fälle, die als „besondere Vorkommnisse“ der Aufsichtsbehörde berichtet wurden oder bei denen Strafanzeige erstattet wurde. Ergänzend wurden zur Tat- und Täteranalyse die Gefangenenpersonalakten hinzugezogen.31 In dieser Untersuchung wurde der Gewaltbegriff von Heinrich (2002) übernommen. Konkret wurden darunter Körperverletzungsdelikte, Tötungsdelikte, Nötigung, Bedrohung, Raub, Erpressung, Freiheitsberaubung, Geisel­ nahme, erpresserischer Menschenraub und sexuelle Nötigung / Vergewaltigung subsumiert.32 Für das Jahr 2005 wurden 605 Gewaltdelikte registriert, wobei es sich aufgrund von doppelten Erfassungen bei bspw. einer gemeinschaftlichen Begehung um insgesamt 403 begangene Taten handelte.33 Da 43 % der ins28  Heinrich

2002, S. 381. 2002, S. 383. 30  Wirth 2006, S. 7; die Ergebnisse der Untersuchung sind auch in Wirth 2007a zu finden; Handlungsempfehlungen zur Gewaltprävention finden sich in Wirth 2013. 31  Wirth 2006, S. 8. 32  Wirth 2006, S. 7. 33  Wirth 2006, S. 9. 29  Heinrich

196

D. Die Anzeigepflicht der Anstaltsleitung

gesamt erfassten Delikte auf den Jugendstrafvollzug entfielen, dieser allerdings nur rund 10 % des gesamten Strafvollzugs in Nordrhein-Westfalen ausmachte, wurde dessen besondere Problembelastung deutlich. Der Kriminologische Dienst sah hier einen besonderen Schwerpunkt der Gewaltdelinquenz.34 Die Tatanalyse zeigte, dass 79,1 % der erfassten Taten Körperverletzungsdelikte waren, die jedoch meist in einfacher Form begangen wurden. Eine schwere oder gefährliche Körperverletzung lag in 42 Fällen vor, eine Körperverletzung mit Todesfolge wurde während des Beobachtungszeitraums nicht begangen. Auch Tötungsdelikte wurden keine erfasst. Nötigungen und Erpressungen wurden in 53 Fällen, sexuelle Nötigung / Vergewaltigung in 5 Fällen registriert. Beteiligungen an einer Schlägerei, bei denen Täterin bzw. Täter und Opfer nicht immer eindeutig auszumachen waren, machten 7 % der Taten aus. 80 % der erfassten Taten wurden „handgreiflich“, also mittels Schlägen mit Händen oder Fäusten, Fußtritten oder auch Kopfstößen begangen. Stich- und Hiebwaffen wurden nur in 6 % der Fälle verwendet, was jedoch aufgrund der erschwerten Beschaffung im Vollzug nicht verwunderlich sei. Auch ein geplantes Vorgehen wurde mit 10,2 % eher selten ermittelt, vielmehr wurden die Taten im Vollzug überwiegend spontan und situationsbedingt begangen. Die Einlassungen der Täterinnen und Täter zum Geschehen ließen erkennen, dass die Taten sehr häufig aus Provokationen oder verbalen Attacken heraus entstanden waren. Die gemeinschaftliche Begehung von Taten in Form einer Cliquenbildung (drei und mehr Tatbeteiligte) kam im Jugendstrafvollzug mit 15,4 % signifikant häufiger als im Erwachsenenvollzug (7,5 %) vor. Die Schwere der Taten wurde anhand der Verletzungsfolgen beim Opfer ermittelt. Dabei wurden 45,3 % der Taten als leicht, also ohne erkennbare und behandlungsbedürftige Folgen, eingestuft. Weitere 45,3 % brachten mittelschwere (Platzwunden, Hämatome, Prellungen, leichte Wunden oder Verbrennungen) und 9,3 % schwere Tatfolgen (größere Verletzungen, Knochenbrüche, Gehirnerschütterung, Augenverletzungen, Schock und Angstzustände und ähnliches) mit sich. Bei der Analyse der Schwere der Tat war auffällig, dass der Anteil an schweren und mittelschweren Taten bei Taten von Gefangenencliquen höher ausfiel. Insgesamt fanden 33,2 % der Gewalttaten in den Hafträumen statt. Zudem wurden Taten auch häufig in Anstaltsgängen (17 %) und in Freistundenhöfen (20 %) verübt, gefolgt von Duschen (7 %) und Werkbetrieben (6 %). Als weitere Tatorte wurden Freizeiträume, Sporthallen, Ausbildungsräumlichkeiten und Sanitätsbereiche ermittelt. Die weitere Analyse zeigte, dass Taten, die in 34  Wirth

2006, S. 14.



I. Forschung zu Straftaten im Strafvollzug197

Hafträumen begangen wurden, insbesondere im Jugendstrafvollzug auch häufig schwerere Folgen mit sich brachten. Die Aufdeckung der Delikte geschah in 77 % der Fälle durch das Anstaltspersonal, wobei die Bediensteten häufig selbst Augenzeugen oder durch Verletzungen oder Betätigung eines Notrufs auf die Tat aufmerksam wurden. Eine Meldung durch das Opfer, auch durch Notruf, kam bei einem Drittel der Delikte vor. Nur 13 % der Taten wurden durch andere Inhaftierte gemeldet.35 Die Täteranalyse36 zeigte, dass mehr als die Hälfte aller Taten von Täterinnen und Tätern unter 25 Jahre begangen wurden, sodass von einer Altersabhängigkeit der Gewaltdelikte ausgegangen werden könne. Dies stimmt mit der allgemeinen kriminologischen Erkenntnis überein, dass das Kriminalitätsrisiko im Alter abnimmt und erklärt auch die besondere Problembelastung im Jugendstrafvollzug. Während Frauen bei der Täteranalyse verhältnismäßig unterrepräsentiert waren und deshalb diesbezüglich keine weitergehende Untersuchung erfolgte, lag der Anteil der ausländischen Delinquenten mit 38 % weit über dem Ausländeranteil (22,8 %) der Strafvollzugspopulation insgesamt. Es bestätigten sich bei der Täteranalyse auch die Erkenntnisse zu den Risikofaktoren bei Aspekten aus der individuellen Vorgeschichte und Legalbiographie der Gewalttäter und Gewalttäterinnen. 64 % von ihnen konnten keinen Schulabschluss vorweisen und 82 % hatten keine Berufsausbildung. Dementsprechend waren auch zwei Drittel zu Haftbeginn arbeitslos und über die Hälfte auch vor und während der Gewalttat unbeschäftigt. Akute Symptome einer Drogenabhängigkeit bei Haftbeginn lagen bei 42 % der Täter und Täterinnen vor und bei 43,1 % bestanden Hinweise auf eine Suizidgefahr. Außerdem waren 63,5 % im Vollzug auch wegen einer Gewalttat inhaftiert. 82 % waren vorher bereits mehrfach strafrechtlich belangt worden. Zwar zeigte ein Blick auf den offenen Vollzug und auf Vollzugslockerungen, dass Gewalttaten in diesen Fällen signifikant seltener vorkamen, allerdings könne dabei nicht ohne weiteres von einer aggressionsfördernden Prisonisierung im geschlossenen Vollzug ausgegangen werden, da nur eine Positivauswahl von Gefangenen in den offenen Vollzug verlegt werde oder Lockerungen erhalte. 57 % der Täter und Täterinnen waren zur Tatzeit in Gemeinschaft untergebracht. Dieser Wert lag um 10 %-Punkte höher als der Wert für den gesamten Strafvollzug in NRW zum 31.3.2005. Es zeigte sich, dass Gewalttaten in Hafträumen häufiger von Tätern und Täterinnen, die in Gemeinschaftsräumen untergebracht waren, begangen wurden, allerdings handelte es sich dabei auch oft um den Haftraum des Opfers, das bspw. einzeln untergebracht war, sodass dieser Befund wenig aussagekräftig sei.

35  Zu

den Ergebnissen insgesamt Wirth 2006, S. 10 ff. 2006, S. 16 ff.

36  Wirth

198

D. Die Anzeigepflicht der Anstaltsleitung

Schließlich wurden noch die Reaktionen der Anstalten auf die Gewalt­ delikte untersucht. In 90,9 % der Fälle wurde der Täter oder die Täterin diszi­ plinarisch belangt, wobei der Arrest, die getrennte Unterbringung während der Freizeit und der Ausschluss von gemeinschaftlichen Veranstaltungen die häufigsten Disziplinarmaßnahmen waren. Strafanzeigen wurden in insgesamt 29,7 % der Fälle gestellt, jedoch bei jedem bzw. jeder dritten Erwachsenen, aber nur bei jedem bzw. jeder vierten jungen Gefangenen. Die Taten mit schweren Tatfolgen wurden bis auf zwei Ausnahmen alle angezeigt. Der Verlauf des Strafverfahrens konnte nur in wenigen Fällen nachvollzogen werden: Von insgesamt 154 Strafanzeigen wurden 32 Verfahren eingestellt, bei 33 wurde Anklage erhoben und bei 19 kam es zu einer in den Akten ­registrierten Verurteilung. Insofern und aufgrund der langen Bearbeitungszeiträume einer Strafanzeige bezweifelt der Kriminologische Dienst eine spezialpräventive oder erzieherische Wirkung.37 Insgesamt sieht der Kriminologische Dienst des Landes Nordrhein-Westfalen seine Vermutung bestätigt, dass Gewalt im Vollzug zwar ein alltägliches Phänomen darstelle, das nie vollständig verhindert werden könne, dennoch aber Bedarf bestehe, dem konsequent gegenzusteuern. Insbesondere seien für eine sinnvolle Gewaltprävention mehr Personal und mehr Hafträume für Einzelunterbringung erforderlich, um die „Drucksituation hinter Gittern zu entspannen“. Neben einer systematischen Risikoanalyse und der Vermeidung von Cliquenbildung sollten auch mehr Ausbildungs- und Beschäftigungsangebote geschaffen werden, um Perspektiven zu erhöhen, aber auch um den Vollzugsalltag sinnvoll auszufüllen. Schließlich seien auch klare Vorgaben zur konsequenten Reaktion auf Gewalttaten erforderlich, auf die sich Opfer und andere Gefangene sicher verlassen können. Insofern fordert der Kriminologische Dienst einen klar definierten Sanktionskatalog und verbindliche Vorgaben zu seiner Anwendung.38 e) Jugendgewalt im Strafvollzug in Sachsen Um einer verzerrten Mediendarstellung entgegenzutreten und zur Versachlichung des Themas beizutragen, untersuchten Hinz und Hartenstein (2010) Zahl, Schwere und Verteilung von Jugendgewalt im sächsischen Strafvollzug. Unter ihren Gewaltbegriff fiel dabei jede Tat, die „laut Strafgesetzbuch körperliche und / oder seelische Schäden hinterlässt, also alle Formen der Körperverletzung, Taten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, Totschlag, Mord sowie Erpressung, Raub, Nötigung, Menschenraub, Freiheitsberaubung“. In ihrer Untersuchung wurden die Taten erfasst, die zwischen Oktober 37  Wirth 38  Wirth

2006, S. 21. 2006, S. 22 ff.



I. Forschung zu Straftaten im Strafvollzug199

2007 und Juli 2009 disziplinarisch belangt oder strafrechtlich angezeigt und damit dokumentiert worden waren. Zur Analyse der Taten wurden die Gefangenenpersonalakten ausgewertet.39 Insgesamt konnten für den Untersuchungszeitraum 118 Gewalttaten ermittelt werden, wovon 94 in der JSA Regis-Breitingen von männlichen und 24 in der JVA Chemnitz von weiblichen Jugendstrafgefangenen begangen wurden. Bei den Taten handelte es sich bei über 90 % um Körperverletzungen, zudem kamen Bedrohung, Erpressung, Nötigung, versuchter Mord und ein Sexualdelikt vor. 64 % der Taten geschahen im Wohngruppenbereich, im Haftraum des Opfers oder im Ausbildungsbereich. Taten im Haftraum der Täterin oder des Täters kamen nur selten vor. Die meisten Taten wurden durch Entdeckung von Bediensteten oder durch eine Meldung des Opfers bekannt, Unbeteiligte zeigten Taten nur sehr selten an. 22 % der Taten wurden von mehreren Täterinnen oder Tätern begangen, aber nur bei 4 % der Taten gab es mehrere Opfer. Eine Zusammenhangsanalyse zwischen der Anzahl der Täterinnen bzw. Täter und der Schwere der Verletzungen ergab, dass bei mehreren Täterinnen oder Tätern mittlere und schwere Verletzungen häufiger waren.40 Um Ursachen und Merkmalsunterschiede zu erforschen und Möglichkeiten der Prävention zu finden, wurden drei Vergleichsgruppen gebildet. Die erste Gruppe bestand aus den 102 Täterinnen und Tätern, die zweite Gruppe aus den 49 Opfern, die sich aus den oben beschriebenen Gewalttaten ergaben. Allerdings wurden dabei Schlägereien und andere Taten, bei denen sich Täter- und Opferrollen überschnitten, ausgenommen. Die dritte Gruppe bestand aus einer zufällig ausgewählten Vergleichsstichprobe von 107 Insassen der JSA Regis-Breitingen, die während ihrer Inhaftierung nicht als Täter oder Opfer dokumentiert wurden. Da sich die Ergebnisse nicht wesentlich veränderten, wenn man die weiblichen Jugendstrafgefangenen aus der Täter- und Opfergruppe herausnahm, blieben diese darin enthalten.41 In vielen Untersuchungskriterien konnten keine Unterschiede zwischen den Vergleichsgruppen festgestellt werden. Dazu gehörten u. a. das Alter, die Vorverurteilungen, Staatsangehörigkeit, Geburtsland, Heimaufenthalte und ein fester Wohnsitz vor Inhaftierung. Der deutlichste Unterschied zwischen den Gruppen zeigte sich darin, dass sich bei 42 % der Täterinnen und Täter und 38 % der Opfer bereits Hinweise auf Aggressivität im Vollzugsplan fanden. Bei der Vergleichsgruppe war dies nur bei 14 % der Fall. Zudem waren sowohl Täterinnen und Täter als auch Opfer deutlich häufiger mit Drogen39  Hinz / Hartenstein

2010, S. 176 f. 2010, S. 178. 41  Hinz / Hartenstein 2010, S. 177. 40  Hinz / Hartenstein

200

D. Die Anzeigepflicht der Anstaltsleitung

oder Alkoholabhängigkeit belastet. Der prozentuale Anteil der Drogenabhängigkeit lag bei den Täterinnen und Tätern bei 46 %, bei den Opfern bei 28 % und bei der Vergleichsgruppe bei 21 %. Bei der Alkoholabhängigkeit lag der Anteil bei den Opfern sogar bei 43 %, bei den Täterinnen und Tätern bei 32 % und bei der Vergleichsgruppe bei 17 %. Während in der Vergleichsgruppe 30 % über einen Schulabschluss verfügten, konnten nur 20 % der Täterinnen und Täter und 25 % der Opfer einen solchen vorweisen. Außerdem war der Anteil der im Vollzug arbeitenden Gefangenen bei den Täterinnen und Tätern höher als bei Opfern und den Insassen aus der Vergleichsgruppe. Hinz und Hartenstein vermuten, dass sich durch die Beschäftigung mehr Konflikte und Tatgelegenheiten ergeben hätten. Auch im Hinblick auf die Straffälligkeit vor Strafmündigkeit zeigten die Gefangenenpersonalakten, dass 31 % der Täterinnen und Täter, 33 % der Opfer, aber nur 13 % der Vergleichsstichprobe strafrechtlich auffällig waren. Täter bzw. Täterinnen und Opfer waren außerdem durchschnittlich zu längeren Haftstrafen verurteilt als die Gefangenen der Vergleichsgruppe. Der Unterschied der Mediane lag bei etwa fünf Monaten. Diese Ergebnisse der Untersuchung erwiesen, dass die Opfergruppe der Tätergruppe weitaus ähnlicher war als der Vergleichsgruppe. Im Hinblick auf die im Vollzug begangenen Taten ergab sich, dass mit der Dauer des Aufenthalts im Strafvollzug auch die Wahrscheinlichkeit, Opfer einer Gewalttat zu werden, abnahm. Meistens wurden die Taten in den ersten drei Monaten der Haftzeit erlitten. Bei den Täterinnen und Tätern konnte allerdings keine Veränderung über die Haftzeit festgestellt werden.42 Nach Hinz und Hartenstein zeigen ihre Ergebnisse insgesamt, dass Gewalt im Vollzug nicht einer bestimmten Gruppe oder Begebenheit zugeordnet werden kann. Zwar ergaben sich bei Täterinnen bzw. Tätern und Opfern einige Belastungsmerkmale, diese reichten für eine eindeutige Vorhersage von Taten im Vollzug jedoch nicht aus. Vielmehr handle es sich bei diesen Belastungsmerkmale um allgemeine Risikofaktoren, die gerade bei Gefangenen des Jugendstrafvollzugs vermehrt vorkommen. Die Untersuchung zeige jedoch, dass es wichtig ist, Opfer in die Forschung mit einzubeziehen. Gewalttaten ergäben sich häufig aus Beziehungen heraus, sodass es für die Prä­ vention von Bedeutung sein könnte, herauszufinden, welche Täter-Opfer-­ Konstellationen eine Gewaltanwendung begünstigten.43 f) Viktimisierungserfahrungen im Justizvollzug In einem Forschungsprojekt untersuchte das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen das tatsächliche Ausmaß der Viktimisierung im Straf42  Hinz / Hartenstein 43  Hinz / Hartenstein

2010, S. 179. 2010, S. 180 f.



I. Forschung zu Straftaten im Strafvollzug201

vollzug von Brandenburg, Bremen, Niedersachsen, Sachsen und Thüringen. Ziel war es, die Viktimisierung quantitativ zu beschreiben, um so Interven­ tionsmaßnahmen entwickeln zu können, die das Risiko einer Opferwerdung senken und subkulturellen Aktivitäten im Vollzug entgegenwirken.44 Zu diesem Zweck wurden zwischen April 2011 und Mai 2012 Gefangene zu ihren Opfer- und Tätererfahrungen im Vollzug, zu den situativen Begleitumständen und zu früheren Gewalterfahrungen im Lebenslauf befragt. Insgesamt 6384 Fragebögen konnten verwertet werden. Unter den Befragten waren 461 Frauen und 938 Jugendstrafgefangene, der Rest waren männliche Erwachsene. Der überwiegende Teil der weiblichen und männlichen Gefangenen war zwischen 22 und 30 Jahren, die Mehrzahl der Jugendstrafgefangenen zwischen 18 und 21 Jahren alt. Jünger als 18 Jahre waren 73 der Befragten. Über 90 % besaßen die deutsche Staatsangehörigkeit. Insgesamt konnten 4451 von 5368 einen Schulabschluss vorweisen, wobei es sich meist um einen Haupt- oder Realschulabschluss handelte. Bei den Jugendstrafgefangenen hatte knapp ein Drittel (32,7 %) keinen Schulabschluss, allerdings besaßen 90,5 % eine Berufsausbildung. Die Mehrzahl der erwachsenen Gefangenen verbüßte ihre Haftstrafe wegen eines Eigentumsdelikts, die Jugendstrafgefangenen wegen eines Gewaltdelikts. Die Länge der Haftstrafe lag meist zwischen einem und drei Jahren. 1212 von 5389 Befragten gaben an, bisher nicht vorbestraft zu sein.45 Unter den berichteten Opfererfahrungen kam die indirekte Viktimisierung wie bspw. das Verbreiten von Gerüchten bei den weiblichen (63,5 %), den männlichen (50,4 %) und auch bei den jungen Gefangenen (57,2 %) am häufigsten vor, gefolgt von der verbalen Viktimisierung mit 40,1 % bei den weiblichen, 37,8 % bei den männlichen und 54,4 % bei jungen Insassen. Die Befragungen zum Täterverhalten bestätigten diese Angaben. Insgesamt berichteten deutlich mehr Jugendstrafgefangene in allen Tatkategorien von Opfer- oder Tätererfahrungen als dies bei den erwachsenen Gefangenen der Fall war. Besonders deutlich zeigte sich dies bei der physischen Viktimisierung, bei der doppelt so viel von Opfererfahrungen und noch mehr von ­Tätererfahrungen berichteten. Auch die Erfahrungen mit Diebstählen hatten im Jugendstrafvollzug deutlich mehr Befragte gemacht als im Erwachsenenvollzug.46 Bei den Befragungen zum schlimmsten Vorfall gaben 1569 von 6384 Befragten an, einen persönlich als schlimm bewerteten Vorfall erlebt zu haben. Während dieser schlimme Vorfall bei erwachsenen Gefangenen am häufigs44  Bieneck / Pfeiffer

2012, S. 3. 2012, S. 6 ff. 46  Bieneck / Pfeiffer 2012, S. 11. 45  Bieneck / Pfeiffer

202

D. Die Anzeigepflicht der Anstaltsleitung

ten in die Kategorie der verbalen Viktimisierung fiel, berichteten Jugendstrafgefangene am häufigsten von physischer Viktimisierung als schlimmstem Vorfall. Als Tatorte wurden insgesamt häufig der eigene oder ein fremder Haftraum oder der Arbeitsbereich genannt. Bei den jungen Befragten fiel auf, dass sie als häufigsten Tatort den Stationsbereich angaben, was nach Bieneck und Pfeiffer auf den im Jugendstrafvollzug überwiegend praktizierten Wohngruppenvollzug zurückzuführen sei. Zudem wurden die als schlimm bewerteten Vorfälle überwiegend von mehreren Tätern begangen. Häufig angegebene psychische Folgen waren Wut / Zorn, Hilflosigkeit, Depression und Gefühle der Erniedrigung. Bei den Jugendstrafgefangenen wurde aufgrund der physischen Beeinträchtigungen von Schmerzen, blauen Flecken und Prellungen berichtet.47 Bei der Frage nach der Anzeige des schlimmsten Vorfalls gaben 60 % der Frauen und 54 % der Männer an, jemandem von dem Vorfall erzählt zu haben. Unter den Jugendstrafgefangenen waren dies insgesamt 42 %, bei physischen oder sexuellen Übergriffen jedoch nur 32 %. Meist wurden Stationsbedienstete, andere Gefangene oder Familienangehörige informiert oder es erfolgte eine schriftliche Mitteilung an die Anstalt oder den eigenen Anwalt. Es wurde auch nach den Gründen für den Verzicht auf eine Anzeige gefragt. Häufige Gründe waren, „nicht als Verräter gelten zu wollen“, „weil man das im Gefängnis nicht macht“ oder die Angst vor weiteren Übergriffen. Die besonders große Häufigkeit dieser Antworten bei den Jugendlichen deute auf eine starke Ausprägung und hohe Bedeutung der subkulturellen Konflikt­ regelung im Jugendstrafvollzug hin. 23 % der Männer, 12 % der Frauen und 13 % der Jugendlichen gingen davon aus, dass man ihnen sowieso nicht glauben würde.48 Von den Befragten gingen nur sehr wenige (Männer: 8,5 %, Frauen: 12,6 %, Jugendliche: 6,4 %) davon aus, in der Anstalt von Bediensteten beschützt zu werden. Vielmehr gaben gerade die Frauen (21,4 %) und Jugendstrafgefangenen (23,5 %) an, Unterstützung bei den Mitgefangenen zu finden. Andererseits mieden 30,4 % der Befragten bestimmte Bereiche der Anstalt, wenn sich dort Mitgefangene aufhielten. Bei den Jugendstrafgefangenen waren dies insbesondere der Freistundenhof und der Wohngruppenbereich.49 Schließlich wurden die teilnehmenden Gefangenen noch zu Gewalterfahrungen in ihrer Kindheit befragt und ihre Antworten auf Zusammenhänge mit der aktuellen Gewalterfahrung im Vollzug untersucht. Im Rahmen einer Regressionsanalyse wurden dabei auch andere Merkmale (wie Alter, Geschlecht, kriminelle Karriere etc.) berücksichtigt. Als Prädiktoren mit bedeutsamen 47  Bieneck / Pfeiffer

2012, S. 12 ff. 2012, S. 18 ff. 49  Bieneck / Pfeiffer 2012, S. 21 ff. 48  Bieneck / Pfeiffer



I. Forschung zu Straftaten im Strafvollzug203

Effekten auf die Viktimisierungserfahrungen im Vollzug ergaben sich das Alter, der Schulabschluss, die Höhe der aktuellen Freiheitsstrafe und die Gewalterfahrungen in der Kindheit. Ähnliche Zusammenhänge wurden auch für selbstberichtetes Gewalthandeln im Vollzug ermittelt. Prädiktoren waren hier das Alter, der Schulabschluss, die Höhe der aktuellen Freiheitsstrafe, das Alter beim ersten Haftantritt, die Anzahl der Vorstrafen, eine bereits verbüßte Haftstrafe und Gewalterfahrungen in der Kindheit.50 Insgesamt wurde festgestellt, dass sich diese Merkmale auch mit denen aus Untersuchungen zu antisozialem Verhalten deckten.51 In einem weiteren Beitrag zu dieser Studie, der sich auf die für den Vollzug an erwachsenen Männern ermittelten Ergebnisse beschränkte, wurde ebenfalls von Drogenkonsum, Gewaltaffinität und eigenen Opfererfahrungen als Einflussfaktoren auf eigenes Gewalthandeln berichtet. Zudem waren Gefangene, die von einem positiven Verhältnis zwischen Gefangenen und Bediensteten ausgingen, signifikant seltener Täter von Gewalt im Vollzug.52 Bei einer weiteren Auswertung, bei der ebenfalls allein die Daten der erwachsenen Männer berücksichtigt wurden, analysierten Baier, Pfeiffer und Bergmann Anstaltsvariablen wie Anteil der Migranten und ethnischer Gruppen, Anteil kurzer Haftstrafen, Verhältnis Insassen-Bedienstete und InsassenInsassen, die durchschnittliche Gewaltaffinität in der Anstalt und die Quote der durch Gefangenen gemeldeten Fälle von Gewalt auf Zusammenhänge mit dem Gewaltverhalten der Gefangenen im Vollzug.53 Im Ergebnis zeigte sich, dass Anstaltsvariablen durchaus eine Rolle für das Gewaltverhalten spielen. Insbesondere bei der durchschnittlich gemessenen Gewaltaffinität in der Anstalt und der Quote der durch Gefangene gemeldeten Fälle konnten signifikante Zusammenhänge mit dem Gewaltverhalten der Gefangenen festgestellt werden.54 Ähnliche Ergebnisse zeigte auch die Auswertung von Klatt u. a., die sich auf die Daten der 865 männlichen Jugendstrafgefangenen beschränkte. Dabei wurden Drogenkonsum während der Inhaftierung, Gewaltaffinität und ein negatives Verhältnis zwischen Gefangenen und Bediensteten als Prädiktoren für Gewaltverhalten im Vollzug identifiziert.55

50  Bieneck / Pfeiffer

2012, S. 24 ff. 2012, S. 34. 52  Baier / Bergmann 2013, S. 81. 53  Baier / Pfeiffer / Bergmann 2014, S. 474 ff. 54  Baier / Pfeiffer / Bergmann 2014, S. 485 ff. 55  Klatt u. a. 2016, S.  736 f. 51  Bieneck / Pfeiffer

204

D. Die Anzeigepflicht der Anstaltsleitung

g) Sicherungs- und Disziplinarmaßnahmen im Jugendstrafvollzug von Mecklenburg-Vorpommern In seiner Dissertation untersuchte Faber den Einsatz von Sicherungs- und Disziplinarmaßnahmen in der JA Neustrelitz in den Jahren 2006 bis 2011. Dafür analysierte er die Verzeichnisse der besonderen Sicherungsmaßnahmen und der Disziplinarmaßnahmen bzw. ab 2010 die dem Disziplinarbuch entsprechende Funktion in der Verwaltungssoftware der Anstalt. Dabei stellte Faber fest, dass Disziplinarmaßnahmen, von denen durchschnittlich 444 pro Jahr verhängt wurden, im Vergleich zu besonderen Sicherungsmaßnahmen, diese wurden durchschnittlich 133 Mal pro Jahr eingesetzt, eine in der Praxis weitaus größere Bedeutung zukommt. Bei beiden Maßnahmearten variiert die Häufigkeit der jährlichen Anordnungen jedoch deutlich.56 Bei den Disziplinarmaßnahmen ist mit den Jahren sowohl bei den absoluten als auch bei den relativen Zahlen, die die unterschiedliche Jahresdurchschnittsbelegung berücksichtigen, insgesamt ein Rückgang zu verzeichnen. Den sparsameren Einsatz von Disziplinarmaßnahmen führt Faber auf das Inkrafttreten des Jugendstrafvollzugsgesetzes am 1.1.2008 und der damit verbundenen Zunahme von konfliktschlichtenden Maßnahmen zurück.57 Häufig eingesetzte besondere Sicherungsmaßnahmen waren die Absonderung von Gefangenen, der Entzug oder die Vorenthaltung von Gegenständen und die Beobachtung von Gefangenen. Auch der Unterbringung in einem besonders gesicherten Haftraum, die wegen des eingriffsintensiven und isolierenden Charakters selten und nur für sehr kurze Zeit eingesetzt werden sollte, kam mit durchschnittlich 25,8 Anordnungen pro Jahr erhebliche praktische Bedeutung zu. Gründe für die Anordnung waren meist die Gefahr der Selbstverletzung oder die Gefahr von Gewalttätigkeiten gegenüber anderen Gefangenen. Insgesamt wurden besondere Sicherungsmaßnahmen im Jahresdurchschnitt gegenüber 17 % der Gefangenen angeordnet.58 Als Disziplinarmaßnahmen wurden im Untersuchungszeitraum die Beschränkung des Einkaufs, die Beschränkung des Rundfunkempfangs, die Beschränkung der Teilnahme an gemeinschaftlichen Freizeitveranstaltungen und die getrennte Unterbringung während der Freizeit häufig eingesetzt. Auch hier bestehen jedoch große Unterschiede in den einzelnen Jahren. Die eingriffsintensivste Maßnahme, der Arrest, wurde im Durchschnitt 49 Mal pro Jahr verhängt, in den letzte Jahren ist im Verhältnis zu den anderen Disziplinarmaßnahmen jedoch ein gesteigerter Einsatz erkennbar.59 Bei dem für 56  Faber

2014, 2014, 58  Faber 2014, 59  Faber 2014, 57  Faber

S. 146 f., 167 f. S. 168. S. 149 ff. S. 170 ff.



I. Forschung zu Straftaten im Strafvollzug205

Disziplinarmaßnahmen ursächlichen Verhalten muss es sich nicht immer um strafrechtlich relevantes Verhalten handeln, dennoch liegt ein solches bei rund der Hälfte der disziplinierten Fälle vor: Von den insgesamt im Untersuchungszeitraum 2666 verhängten Disziplinarmaßnahmen wurden 406 wegen eines körperlichen Angriffs auf Mitgefangene angeordnet, bei 424 Fällen spielten Drogen eine Rolle, 85 Fälle betrafen verbale Auseinandersetzungen zwischen Mitgefangenen. Nur 5 Disziplinarmaßnahmen wurden wegen körperlichen Angriffen und 33 wegen Drohungen gegenüber Bediensteten verhängt. Bei weiteren 103 Fällen handelte es sich um Beleidigungen von Bediensteten. 38 Disziplinarmaßnahmen betrafen Diebstähle. Insgesamt überrascht Faber das Ergebnis seiner Untersuchung hinsichtlich der Anordnungsgründe für Disziplinarmaßnahmen nicht, da die Verhaltensweisen typisch für die starken subkulturellen Ausprägungen im Jugendstrafvollzug sind.60 Die meisten der im Untersuchungszeitraum disziplinierten Gefangenen erhielten nur eine Disziplinarmaßnahme (41 %). 25 % der Gefangenen wurden zwei Mal, 12 % drei Mal und 22 % mehr als drei Mal diszipliniert.61 h) Gewalt und Suizid im Jugendstrafvollzug Im Rahmen eines von der DFG geförderten und an der Universität zu Köln durchgeführten Forschungsprojekts untersuchen Neubacher u. a. seit 2010 Vorkommnisse und Ursachen von Gewalt und Suizid im Jugendstrafvollzug. Durch eine auf drei Jahre angelegte Kombination von quer- und längsschnittlichem Design sollen der Inhaftierungsprozess und die Anpassung an die Subkultur erfasst und darauf aufbauend die Entstehungsbedingungen und Verlaufsformen von Gewalt und Suizidalität ermittelt werden.62 Grundlage der Untersuchung bildet die theoretische Annahme, dass bei Gewalt und suizidalem Verhalten im Vollzug sowohl die biographischen Vorbedingungen der Jugendstrafgefangenen als auch das Ereignis der Inhaftierung selbst und die Haftbedingungen berücksichtigt werden müssen.63 Zu diesem Zweck fand neben einer Auswertung der Gefangenenpersonalakten und qualitativen Interviews mit den Gefangenen eine standardisierte Fragebogenerhebung mit den Jugendstrafgefangenen der Anstalten Herford, Heinsberg (Nordrhein-Westfalen) und Ichtershausen (Thüringen) und mit 60  Faber

2014, S. 176 ff. 2014, S. 188 f. 62  Neubacher u. a. 2011, S. 133 ff.; Neubacher / Oelsner / Schmidt 2013, S. 674 f. 63  Neubacher 2008b, S. 362 f.; Neubacher u. a. 2011, S. 137. Zu den theoretischen Entstehungsgründen für Gewalt im Strafvollzug siehe auch die Veröffentlichung der Antrittsvorlesung von Prof. Dr. Neubacher an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Neubacher 2008a, S. 12 ff. 61  Faber

206

D. Die Anzeigepflicht der Anstaltsleitung

zwei Kontrollgruppen statt. Die schriftliche Befragung zu Täter- und Opfererfahrungen in Haft erfolgte vier Mal jeweils im Abstand von drei Monaten (Mai 2011, August 2011, November 2011 und Februar 2012). Dabei wurden die Gefangenen je nach Inhaftierungszeitpunkt und Aufenthaltsdauer im Vollzug in Gruppen unterteilt und so die inhaftierungsbedingte Veränderung in den verschiedenen Anstalten zu unterschiedlichen Zeitpunkten gemessen. Durch dieses Design konnten neben den Unterschieden von Personen zu den einzelnen Messungszeitpunkten (between-person variation) auch die Entwicklungsprozesse Einzelner (within-person variation) analysiert werden. Die zwei Kontrollgruppen bestanden aus Personen gleichen Alters, zum einen aus der „Normalbevölkerung“ und zum anderen aus aufgrund von ähn­ lichen Delikten zu Bewährungsstrafen Verurteilten.64 Insgesamt nahmen aus den beteiligten Anstalten 882 männliche Jugendstrafgefangene an der Untersuchung teil. Es wurden in der ersten Welle 386  Gefangene, in der zweiten Welle 430 Gefangene, in der dritten Welle 453 Gefangene und in der vierten Welle 500 Gefangene schriftlich befragt. Zudem wurden 223 Gefangenenpersonalakten ausgewertet und 36 problemzentrierte Interviews geführt. Für die Kontrollgruppen wurden 212 Bewährungsprobanden vier Mal sowie Studenten, zu denen es noch keine Ergebnisse gibt, einmalig schriftlich befragt. Mittlerweile wurde das Projekt auch auf weibliche Jugendstrafgefangene aus den Anstalten Köln (NordrheinWest­ falen), Schwäbisch Gmünd (Baden-Württemberg), Aichach (Bayern) und Chemnitz (Sachsen und Thüringen) ausgeweitet. Abschließende Ergebnisse wurden hier bisher nicht veröffentlicht.65 Der Altersdurchschnitt der teilnehmenden Jugendstrafgefangenen lag bei 20  Jahren. Unter ihnen waren 18,3 % ohne deutsche Staatsangehörigkeit sowie weitere 29,5 % mit Migrationshintergrund. 69 % wurden wegen eines Gewaltdelikts (meist Körperverletzungs- oder Raubdelikte) inhaftiert. 99 % hatten bereits eine oder mehrere Vorstrafen. 53 % besaßen keinen Schulabschluss und ein Drittel der Jugendstrafgefangenen waren zum Zeitpunkt der Inhaftierung arbeitslos. Illegale Drogen wurden von 59 % „täglich“ oder „fast täglich“ konsumiert.66 Von den befragten Jugendstrafgefangenen gaben zwischen 80 % und 90 % (je nach Befragungswelle) zu, in den letzten drei Monaten Täter psychischer Gewalt (z. B. Ignorieren, Hetzen, Lästern) geworden zu sein. Zwi64  Neubacher

u. a. 2011, S. 138 ff. 2014b, S. 321. Zu den Ergebnissen des Pretests in der JVA Siegburg siehe Neubacher u. a. 2011, S. 141 ff. Zu bereits früher veröffentlichen Ergebnissen der ersten Erhebungswellen Boxberg / Wolter / Neubacher 2013; Häufle / Schmidt /  Neubacher 2013; Neubacher / Oelsner / Schmidt 2013. 66  Neubacher 2014a, S. 490; Neubacher 2014b, S. 321. 65  Neubacher



I. Forschung zu Straftaten im Strafvollzug207

schen 62 % und 68 % der Befragten räumten ein, Täter physischer Gewalt und zwischen 42 % und 47 % Täter einer konkreten Körperverletzung geworden zu sein. Zudem gestanden 42 % bis 44 % „Zwang“ oder „Erpressung“ verübt zu haben. 1 % bis 4 % offenbarten sich als Täter sexueller Gewalt. Auch Neubacher u. a. erkennen in diesen Zahlen, dass es sich bei Gewalt im Jugendstrafvollzug um ein „alltägliches Phänomen“ handele. Zieht man zudem die Antworten der Jugendstrafgefangenen zur Opferwerdung heran, wird deutlich, dass es viele Täter-Opfer-Überschneidungen gibt und insgesamt nur 5 % weder Täter- noch Opfererfahrungen berichteten, also nicht involviert waren. Der Blick auf die Vergleichsgruppe der Bewährungsprobanden zeigt jedoch, dass diese in allen Gewaltgruppen noch stärker belastet waren als die Jugendstrafgefangenen. Neubacher u. a. führen dies auf „unterschiedliche Tatgelegenheitsstrukturen“ zurück: Auch wenn im Jugendstrafvollzug viele zu Gewalt neigende Personen aufeinander träfen, gelänge es den Vollzugsbeamten, durch Aufsicht und Kontrolle die Tatgelegenheiten zu verringern.67 Zu Gewalt kam es am häufigsten in der Freistunde oder in den Hafträumen, gefolgt von der Arbeit, den Duschräumen, den Fluren und beim Sport. Dass sich die Gefangenen in der Anstalt vor Übergriffen sicher fühlten, bejahten in der ersten Befragungswelle 47 %. Es konnte jedoch kein Zusammenhang zwischen der gefühlten Sicherheit und der Inhaftierungsdauer festgestellt werden. Vergleicht man Täter und Opfer miteinander, lassen sich bei der Tätergruppe bestimmte gewaltbegünstigende Einstellungen wie Akzeptanz von Gewalt, Männlichkeitsvorstellungen oder eine positive Einstellung zu subkulturellen Werten und Verhaltensweisen erkennen. Prädiktoren für Gewalt waren außerdem Autonomieverlust, ein jüngeres Alter, die Dauer der Inhaftierung sowie Gewalterfahrungen in der Kindheit. Schließlich zeigte sich, dass auch anstaltsspezifischen Aspekten wie dem Anstaltsklima Bedeutung zukommt. Insbesondere für „Verfahrensgerechtigkeit“ konnte ein die Gewalt positiv beeinflussender Effekt festgestellt werden. Gefangene, die sich fair behandelt fühlen, seien nachweisbar weniger gewalttätig.68 In den qualitativen Interviews wurde die Relevanz der subkulturellen Normen für das Verhalten der Jugendstrafgefangenen deutlich. Bspw. war „das Unter-Beweis-Stellen physischer Stärke“ eine häufige Strategie zur Selbstbe67  Neubacher

2014a, S. 491 ff.; Neubacher 2014b, S. 322. 2014b, S. 322 f. Für weitere Analysen der Daten, die sich auf Grundlage der Deprivationstheorie speziell mit subkulturellen Einflüssen und Verfahrensgerechtigkeit als Bedingungsfaktoren für Gewalt im Jugendstrafvollzug beschäftigen, siehe Boxberg / Häufle 2015 und Wolter / Boxberg 2016. Zu den Ergebnissen der schriftlichen Befragung und speziell zu den Daten der 100 Gefangenen, die an allen vier Erhebungswellen teilnahmen siehe auch A. Ernst / Neubacher 2014, S. 171. 68  Neubacher

208

D. Die Anzeigepflicht der Anstaltsleitung

hauptung, aber auch Gebote, wie einen anderen nicht zu „verzinken“, hatten sich die Gefangenen zu eigen gemacht.69 Durch einen Vergleich der Daten aus den Gefangenenpersonalakten mit den Ergebnissen der schriftlichen Befragung können Schlüsse zur HellfeldDunkelfeld-Relation gezogen werden. Zur Präzision wurde sich hier auf drei Items aus dem Fragebogen, die strafrechtlich relevante Vorfälle beschrieben, beschränkt. Gaben sich in den Fragebögen insgesamt 84 Gefangene als Täter zu erkennen, so waren in den Gefangenpersonalakten jedoch nur 16 davon als Täter erfasst. Damit ergibt sich eine Relation von 1 zu 5,3.70 Nach Neubacher sind Fairness, Transparenz und Berechenbarkeit des vollzuglichen Handelns bedeutende Faktoren, um Subkultur und Gewalt um Jugendstrafvollzug entgegenzutreten. Ein Anti-Gewalt-Konzept, das nicht ­ Strafanzeigen und Disziplinarmaßnahmen als Standardreaktion vorsieht, sondern „weiche“ Faktoren wie die Verbesserung des Anstaltsklimas in den Mittelpunkt rückt, könnte dazu beitragen.71 In einer Sekundäranalyse wurden die Daten von Bachmann und A. Ernst im Hinblick auf die Wirksamkeit von Disziplinarmaßnahmen im Jugendstrafvollzug erneut ausgewertet. Zusätzlich wurde, um die Relevanz von Diszi­ plinarmaßnahmen festzustellen, eine Länderbefragung zur Häufigkeit der Anordnung von Disziplinarmaßnahmen für die Jahre 2008 bis 2013 durchgeführt. Dabei wurden erhebliche Unterschiede in der Anwendung nicht nur zwischen den Bundesländern, sondern auch zwischen einzelnen Anstalten innerhalb eines Bundeslandes festgestellt.72 Hinsichtlich der Frage der Wirksamkeit ergab sich, dass eine gegen einen Jugendstrafgefangenen verhängte Disziplinarmaßnahme keine Veränderung dessen zukünftigen Gewaltverhaltens im Vollzug herbeiführt.73 2. Im Erwachsenenstrafvollzug Es gibt auch Untersuchungen, die sich ausschließlich mit der Gewalt im Erwachsenenstrafvollzug beschäftigen. Dabei geht es vorwiegend um die Hintergründe der Gewalt im Vollzug und um die Reaktionen der Vollzugsverwaltung. Zwar sind die Ergebnisse aufgrund des unterschiedlichen Charakters des Jugendstrafvollzugs nicht vollständig auf diesen übertragbar, dennoch können den Studien gerade im Hinblick auf die Entstehung von und 69  Neubacher

2014a, S. 493 f.; Neubacher 2014b, S. 323. 2014b, S. 323 f. 71  Neubacher 2014a, S. 499; Neubacher 2014b, S. 324 f. 72  Bachmann /  A. Ernst 2015, S. 6 ff. 73  Bachmann /  A. Ernst 2015, S. 11 ff. 70  Neubacher



I. Forschung zu Straftaten im Strafvollzug209

den Umgang mit Gewalt Aspekte entnommen werden, die auch für den Jugendstrafvollzug von Bedeutung sind und insbesondere in der weiteren Forschung zur Gewalt im Jugendstrafvollzug berücksichtigt werden sollten. a) Reaktionen der Vollzugsverwaltung auf Straftaten In ihrer Dissertation zum Thema „Reaktionen der Vollzugsverwaltung auf Straftaten von Gefangenen“ untersuchte Ritz (1984) die Reaktionen des vollzuglichen Aufsichtspersonals auf unterschiedliche Taten der Gefangenen. Ausgangspunkt war dabei, dass auch die Reaktionen der Vollzugsverwaltung auf Straftaten als Instrumentarien des Strafvollzugs mit Blick auf den Re­ sozialisierungsgedanken den Abbau krimineller Verhaltensweisen bewirken sollen. Um den Erfolg der Reaktionen zu prüfen, untersuchte Ritz auch deren Auswirkungen auf Handlungsmöglichkeiten, Selbstbild, Verhalten und Einstellungen der Gefangenen.74 Zu diesem Zweck wurden das Aufsichtspersonal und die Gefangenen zweier Anstalten des Regelvollzugs an erwachsenen Männern, namentlich die damalige geschlossene Straf- und Verwahrungsanstalt Hamburg-Fuhlsbüttel (Anstalt VIII) mit einer Belegungsfähigkeit von 305 Plätzen und die halboffene Strafanstalt Hamburg-Neuengamme mit einer Belegungsfähigkeit von 427 Plätzen, schriftlich befragt. Bei den Angehörigen der Vollzugsverwaltung wurde sich wegen der Übersichtlichkeit und der besonderen Nähe des Aufsichtspersonals zu den Gefangenen und zu den Geschehnissen in der Anstalt auf den allgemeinen Vollzugsdienst beschränkt. Zur Vorbereitung der Befragung und zur Ergänzung der Untersuchung wurden zudem die in den Anstalten geführten Hausstrafenbücher, die Personalakten der Gefangenen, die als Beteiligte eines Vorfalls in den Hausstrafenbüchern vermerkt waren, die Verzeichnisse über besondere Sicherungsmaßnahmen und die Verzeichnisse über besondere Vorkommnisse, die bei der Aufsichtsbehörde geführt wurden, analysiert.75 Die Aktenanalyse ergab für die Jahre 1974, 1975 und 1976 insgesamt 299 aktenkundige Straftaten, wobei 162 in der Anstalt Fuhlsbüttel und 137 in der Anstalt Neuengamme begangen wurden. Von den erfassten Taten wurden nur 48 gegenüber Mitgefangenen, dafür aber 242 gegenüber Beamten oder der Anstalt begangen, neun waren sonstige Straftaten.76 Unter den 249 mit Hausstrafen belegten Straftaten waren „ungebührliches Verhalten“ oder Beleidigungen gegenüber Beamten mit 85 Fällen die am häufigsten verzeichne74  Ritz

1984, S. 12, 18. 1984, S. 20 f. 76  Ritz 1984, S. 88. 75  Ritz

210

D. Die Anzeigepflicht der Anstaltsleitung

ten Taten, gefolgt von Schlägereien zwischen Mitgefangenen, einem Angriff auf Mitgefangene und einer Verletzung von Mitgefangenen in 42 Fällen. Während in Fuhlsbüttel der Verweis in 40 Fällen die häufigste anstaltsinterne Reaktion auf Straftaten war, wurde in Neuengamme am häufigsten mit Arrest bis zu einer Woche ohne Bewährung (73 Fälle) reagiert. Bei der weiteren Auswertung stellte Ritz fest, dass die Anzahl der Hausstrafen in Beziehung zu der durchschnittlichen Gefangenenzahl in Fuhlsbüttel mit 2,8 Hausstrafen je Insasse weitaus niedriger war als in Neuengamme mit 4,4 Hausstrafen je Insasse.77 Von den 299 aktenkundigen Straftaten wurden 38 der Justizbehörde gemeldet. Darunter waren sechs Straftaten gegenüber Mitgefangenen, 31 Straftaten gegenüber Beamten und der Anstalt und eine sonstige Straftat. Ritz stellte fest, dass die gemeldeten Straftaten alle von schwerwiegendem Charakter waren: Die Taten gegenüber den Beamten und der Anstalt waren ausschließlich Gewalttätigkeiten, die Taten gegenüber Mitgefangenen, bis auf zwei Diebstähle, die von den Geschädigten selbst gemeldet wurden, waren Gewalttätigkeiten, die eine schwere Verletzung zur Folge hatten.78 Die Anzahl der gestellten Strafanzeigen wurde auch anhand der Verzeichnisse für besondere Vorkommnisse bei der Justizbehörde ermittelt. Da die Zahl von 38 gemeldeten Fällen aus Fuhlsbüttel und Neuengamme kaum Spielraum für weitere Auswertungen ließen, wurden die in den Verzeichnissen vermerkten Straftaten aus allen Hamburger Anstalten verwendet. Insgesamt handelte es sich dabei um 372 Fälle, wovon 78 Taten gegenüber Mitgefangenen und 264 gegenüber Beamten und der Anstalt erfolgten. Bei weiteren 16 handelte es sich um Verstöße gegen das BtmG und bei 14 um sonstige Straftaten. Während alle Taten gegen das BtmG durch die Justizverwaltung angezeigt wurden, waren dies bei Straftaten gegen Mitgefangene und Straftaten gegen Beamte oder die Anstalt jeweils ca. 30 % der in der Anstalt dokumentierten Fälle. Bei den Straftaten gegenüber Mitgefangenen wurden 17 % außerdem durch den Geschädigten selbst angezeigt. Insgesamt zeigte sich damit eine eher restriktive Handhabung der Strafanzeige. Als Grund für das Stellen einer Strafanzeige wurde in den Akten oft die Häufung bestimmter Straftaten angegeben und dabei zudem generalpräventive Zwecke genannt. Weitere Gründe waren eingetretene Verletzungen oder die Vermutung, dass die Tat schwere Folgen hätte haben können. Zudem gab es Fälle, in denen dem Wunsch des betroffenen Beamten entsprochen wurde oder angegeben wurde, dass die Beamtenschaft auf Urteile „angewiesen sei“ oder „betroffen reagieren würde“, wenn eine Anzeige unterbliebe. Als Gründe für das Unterlassen einer Strafanzeige wurden die Erfolglosigkeit eines neuen Verfahrens, 77  Ritz 78  Ritz

1984, S. 63 ff. 1984, S. 88 f.



I. Forschung zu Straftaten im Strafvollzug211

die mangelnde Schuldfähigkeit des Täters, eine Entschuldigung, ein ansonsten mustergültiges Verhalten des Täters oder der Umstand, dass eine erneute Strafanzeige „mehr zerstören als aufbauen“ würde, angegeben. Insgesamt stellte Ritz fest, dass es eher sicherheitsbezogene Gründe und die Unterstützung der Beamtenschaft waren, die für eine Strafanzeige sprachen, und täterorientierte Überlegungen, die gegen eine solche verwendet wurden. Während die Justizbehörde sich in Zweifelsfällen eher für eine Anzeige entschied, stellte die Anstaltsleitung meist die täterbezogen Überlegungen in den Vordergrund.79 Weiterhin konnte aus den Akten ermittelt werden, dass das Verfahren für knapp 30 % der 143 angezeigten Straftaten eingestellt wurde. Die Einstellung erfolgte überwiegend im Hinblick auf die noch laufende Haftstrafe nach § 154 StPO, aber auch aufgrund mangelnden Tatverdachts nach § 170 II StPO oder wegen Geringfügigkeit nach § 153 StPO.80 Bei der Auswertung der schriftlichen Befragung konnten insgesamt 296 Fragebögen berücksichtigt werden, wovon 71 von Aufsichtsbeamten und 225 von Gefangenen stammten.81 Im Hinblick die Reaktionen der Beamten konnte festgestellt werden, dass die Anzahl der Meldungen davon abhing, ob der Beamte eigene Interessen verletzt sah. Ein Zusammenhang damit, ob der Beamte die Sicherheit in der Anstalt gefährdet sah, konnte nur bei Straftaten gegenüber Gefangenen festgestellt werden. Ritz sah jedoch auch darin einen Zusammenhang mit eigenen Interessenverletzungen, da Straftaten unter Mitgefangenen von dem Beamten auch als Verletzung der eigenen Interessen angesehen würden, wenn sie sicherheitsrelevant wären. Zudem konnte ein Zusammenhang zwischen der Anzahl der Meldungen bei Straftaten gegenüber Mitgefangenen und der vermuteten Meinung der Kollegen und Vorgesetzten zu einer Meldung festgestellt werden. Aufsichtsbeamte meldeten eine Straftat häufiger, wenn sie davon ausgingen, dass ihre Kollegen und Vorgesetzten eine Meldung für richtig hielten. Weiterhin zeigte ein Vergleich der Reaktionen auf Straftaten gegen Mitgefangene und Straftaten gegen Beamte oder die Anstalt, dass Straftaten gegen Beamte oder die Anstalt häufiger gemeldet wurden. Da solche Unterschiede bei anderen Reaktionen, wie einem „Übersehen“ oder bei informellen Reaktionen nicht festgestellt wurde, könne ein häufigeres Untätigbleiben der Beamten bei Straftaten gegen Mitgefangene insgesamt jedoch nicht bestätigt werden.82

79  Ritz

1984, 1984, 81  Ritz 1984, 82  Ritz 1984, 80  Ritz

S. 90 ff. S. 95 f. S. 130. S. 210 ff.

212

D. Die Anzeigepflicht der Anstaltsleitung

Hinsichtlich der Auswirkungen auf die Handlungsmöglichkeiten wurde jedoch festgestellt, dass die Gefangenen davon ausgingen, die Aufsichtsbeamten blieben bei Straftaten gegenüber Mitgefangenen häufiger untätig als bei Straftaten gegenüber der Anstalt oder Beamten. Auch wenn dieser Umstand nicht bestätigt werden konnte, sieht Ritz eine subjektive Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten der Gefangenen zu entsprechenden Taten darin, dass den Gefangenen vermittelt werde, Straftaten gegen Mitgefangene führten nicht im gleichen Umfang zu einem Einschreiten der Aufsichtsbeamten. Zudem würden dadurch auch die Möglichkeiten zur legalen Verteidigung der Opfer eingeschränkt und das Selbstbild der Gefangenen beeinflusst. Insbesondere die Beeinflussung des Selbstbildes wirke sich auch auf das Verhalten und die Einstellung der Gefangenen aus, sodass Straftaten gegenüber Mitgefangenen und Selbstjustiz gefördert würden.83 Insgesamt sah Ritz ihre Vermutung bestätigt, dass die Reaktionen der Vollzugverwaltung auf Straftaten von Gefangenen die Resozialisierung nicht förderten. Aufgrund der Beeinflussbarkeit der Reaktionen der Bediensteten durch verschiedene Faktoren und des Mangels an passenden Reaktionsmöglichkeiten für die Vollzugsverwaltung hielt Ritz die Schaffung einer sich von den allgemeinen Straf- und Disziplinarvorschriften unterscheidenden gesetzlichen Regelung für erforderlich. Da Straftaten im Vollzug gerade ein Ausdruck für die mangelnde Fähigkeit, Konflikte in gesellschaftlich akzeptierter Form lösen zu können, seien, sollte die Vermittlung solcher Techniken als Ausgangspunkt genommen und die Reaktionen streng an dem Vollzugziel der Resozialisierung ausgerichtet werden.84 b) Gewalt unter erwachsenen männlichen Inhaftierten Ziel der Untersuchung von S. Ernst zur Gewalt unter erwachsenen männlichen Inhaftierten war es, das tatsächliche Ausmaß der Gewalt in deutschen Justizvollzugsanstalten auch im Dunkelfeld zu untersuchen und Zusammenhänge zwischen den Gewalterfahrungen und individuellen Merkmalen der Inhaftierten sowie den Gegebenheiten in den einzelnen Anstalten zu ermitteln.85 Dabei wurde der Gewaltbegriff auf „die direkte psychische oder physische Gewalt durch eine oder mehrere inhaftierte Personen gegen Mitgefangene beschränkt“86 und Gewalt unter weiblichen oder jugendlichen Inhaftier83  Ritz

1984, S. 263 ff. 1984, S. 308 f. 85  S. Ernst 2008a, S. 20; zu den Ergebnissen in Kurzform siehe auch S. Ernst 2008b. 86  S. Ernst 2008a, S. 27. 84  Ritz



I. Forschung zu Straftaten im Strafvollzug213

ten aufgrund des nicht vergleichbaren Ausmaßes und der unterschiedlichen Ausprägung außer Betracht gelassen.87 Die Untersuchung fand in Form einer schriftlichen Befragung von Inhaftierten in 33 Anstalten aus fünf Bundesländern (Bayern, Berlin, NordrheinWestfalen, Schleswig-Holstein, Sachsen) statt. Insgesamt gingen 2215 Fragebögen in die Auswertung mit ein, was 10 % aller erwachsenen männlichen Inhaftierten in den teilnehmenden Anstalten entsprach.88 Um Zusammenhänge zwischen Gewalterfahrungen und den individuellen Faktoren bzw. den Anstaltsfaktoren ermitteln zu können, wurden neben den abhängigen Variablen zur Opfer- und Täterwerdung in den letzten 6 Monaten bezüglich der Taten Bedrohung, Erpressung und Körperverletzung auch unabhängige ­Anstaltsvariablen, Inhaftiertenvariablen und gemischte Variablen gebildet. Zu den Anstaltsvariablen gehörten Anstaltsgröße und tatsächliche Belegung, Überbelegung, Abteilungsgröße und Abteilungsart, Haftraumgröße und Haft­ raumbelegung, Lebensraum pro Person in m2, Wunschunterbringung (ob die Unterbringung im Einzel- oder Gemeinschaftshaftraum den eigenen Wünschen entspricht), Vollzugsform, Fluktuation, Opferwerden durch Bedienstete und Anzeigeerstattung durch die JVA. Die unabhängigen Inhaftiertenvariablen bezogen sich auf soziodemografische Merkmale, Alkohol- und Drogenkonsum und Abhängigkeit, Schulden, eigene Tätigkeit in der JVA (Arbeits­ losigkeit, Arbeit o. ä.), Teilnahme an Gruppenveranstaltungen, Sozial­kontakte außerhalb und innerhalb der Anstalt, Gewaltbilligung und die Angst vor Mitinsassen. Die gemischten unabhängigen Variablen beschrieben Merkmale der sozialen Beziehungen im Vollzug wie die Einschätzung des Bedienstetenverhaltens durch die Gefangenen, Beziehungen der Gefangenen untereinander und die favorisierte Selbstschutzmöglichkeit bei Gewalt (Meldung bei Bediensteten, Inanspruchnahme von Schutz durch Mitgefangene, Antrag auf Verlegung, Anzeigeerstattung o. ä.).89 Die Frage, ob Viktimisierungserfahrungen in den letzten sechs Monaten gemacht wurden, bejahten 25,6 % der Befragten. Dabei kamen Bedrohungen mit 22,9 % am häufigsten vor. Opfer einer Körperverletzung wurden 8,3 % und Opfer einer Erpressung 6,5 %. Eigenes Täterverhalten gaben 17,6 % der Befragten zu. Auch hier war die Bedrohung mit 13,4 % das häufigste Delikt, 9,5 % offenbarten die Begehung einer Körperverletzung und 2,8 % die Begehung einer Erpressung.90 In 27 der 33 teilnehmenden Anstalten wird Strafanzeige jedenfalls bei Taten mit schweren Verletzungsfolgen gestellt und 87  S.

Ernst Ernst 89  S. Ernst 90  S. Ernst 88  S.

2008a, 2008a, 2008a, 2008a,

S. 35. S. 129 ff. S. 120 f. S. 173 ff.

214

D. Die Anzeigepflicht der Anstaltsleitung

vier Anstalten überlassen die Anzeigeerstattung den Inhaftierten. Aus zwei Anstalten gab es keine Rückmeldung.91 Auf die Frage nach der favorisierte Selbstschutzmöglichkeit antworteten 23,4 % der Gefangenen, dass sie es am sinnvollsten fänden, Bedienstete zu informieren und 5,8 % hielten eine Anzeigeerstattung für die beste Reaktion. Ansonsten wurden u. a. „nichts tun /  sich wie immer verhalten“ (18,5 %), „mit Gewalt reagieren / zuschlagen“ (12,0 %), „Schutz durch andere Inhaftierte in Anspruch nehmen“ (10,2 %) oder „Verlegungsantrag stellen“ (9,7 %) als weitere favorisierte Reaktionen genannt.92 Bei der Zusammenhangsanalyse zeigten sich zahlreiche signifikante Beziehungen zwischen der Gewalt unter den Insassen und den erhobenen Merkmalen der Anstalt bzw. der Inhaftierten. Erhebliche Unterschiede fanden sich bei der Häufigkeit der Gewalt im geschlossenen und offenen Vollzug. Insbesondere war die Anzahl der Erpressungen und Körperverletzungen, sowohl bei Täter- als auch bei Opferangaben, im geschlossenen Vollzug mehr als doppelt so hoch als im offenen Vollzug.93 Im Hinblick auf die Anstaltsbedingungen Abteilungsgröße, Abteilungsart, Haftraumgröße, tatsächliche Belegung (Überbelegung) und automatische Anzeigeerstattung konnten keine signifikanten Zusammenhänge gefunden werden. Allerdings zeigte sich insbesondere bei den Täter- und Opferangaben zur Erpressung eine erhöhte Anzahl der Vorkommnisse, wenn ein Haftraum mehrfach belegt wurde. Auch wenn man Haftraumgröße und Belegung miteinander verband, wurde bei sinkendem Lebensraum pro Person in m2 eine erhöhte Anzahl von Erpressungen bei Täter- und Opferangaben und eine erhöhte Anzahl von Körperverletzungen bei den Opferangaben festgestellt. Außerdem sank die Anzahl der Täter- und Opferangaben, wenn die Gefangenen nach ihrem eigenen Wunsch in einem Einzel- oder Gemeinschaftshaftraum lebten. Die Überprüfung der Wirkung der Anstaltsgröße und der Fluktuation ergaben jeweils nur ein signifikantes Ergebnis bei den Opferangaben zur Bedrohung, dieses kann jedoch auch auf andere Faktoren wie Anstaltsführung oder Zuständigkeit zurückzuführen sein. Schließlich zeigten sich auch signifikante Zusammenhänge zwischen der Gewalt unter den Inhaftierten und den Viktimisierungen durch Bedienstete. Die Anzahl aller Opferangaben sowie die Täterangaben zu Körperverletzungen und Bedrohungen stiegen bei Viktimisierungserfahrungen durch Bedienstete.94

91  S.

Ernst Ernst 93  S. Ernst 94  S. Ernst 92  S.

2008a, 2008a, 2008a, 2008a,

S. 152. S. 179. S. 213. S. 214 ff., 317 ff.



I. Forschung zu Straftaten im Strafvollzug215

Bei den Faktoren der Gefangenen zeigten sich signifikante Zusammenhänge mit der Gewalt im Vollzug bei Alter, Straftat, vorheriger Inhaftierung, Herkunft, Alkohol- und Drogenkonsum und Abhängigkeit, Schulden, eigener Tätigkeit, Sozialkontakten außerhalb und innerhalb der Anstalt und der Gewaltbilligung. Die Ergebnisse zeigten in Übereinstimmung mit anderen Forschungsarbeiten, dass insbesondere geringeres Alter das Risiko einer ­Täter- oder Opferwerdung steigert. Während Hafterfahrung und der Kontakt zu eigenen Kindern sich risikoverringernd auswirkten, wurde das Risiko von Gewalterfahrungen im Vollzug durch Alkohol oder Drogen, Schulden, Arbeitslosigkeit in der Anstalt und Gewaltbilligung gesteigert. Bezüglich der Gruppenzugehörigkeit in der Anstalt zeigte sich, dass dies die Wahrscheinlichkeit, Opfer einer Gewalttat zu werden, verringerte, das Risiko des Täterwerdens jedoch erhöhte. Zudem waren Inhaftierte deutscher Herkunft häufiger unter den Bedrohungsopfern und Inhaftierte nichtdeutscher Herkunft häufiger unter den Erpressungs- und Körperverletzungstätern vertreten. Schließlich zeigte sich auch ein Zusammenhang im Hinblick auf das Anlassdelikt. Insbesondere war die Wahrscheinlichkeit, Opfer von Bedrohungen oder Erpressungen zu werden, bei Sexualstraftätern signifikant höher.95 Bei allen drei gemischten unabhängigen Variablen zeigte sich ein signifikanter Zusammenhang zur Gewalt im Vollzug. Eine negative Einschätzung des Bedienstetenverhaltens (bspw. im Hinblick auf Zuverlässigkeit, Ausgeglichenheit und erlebte Fairness) und des Anstaltsklimas brachte vermehrte Opfer- und Tätererfahrungen mit sich. Bei den Reaktionen auf Gewalt zeigte sich bei den Gefangenen, die den Schutz durch Mitgefangene in Anspruch nahmen oder einen Verlegungsantrag stellten, ein erhöhter, bei denen, die eine Meldung an Bedienstete favorisierten, ein geringerer Opferanteil. Bei Gefangenen, die angaben, vorzugsweise mit Gewalt zu reagieren, zeigte sich auch ein erhöhter Täteranteil.96 Im offenen Vollzug ergab sich ein signifikanter Zusammenhang bei den Anstaltsvariablen nur bei der Fluktuation, mit deren Zunahme auch die Anzahl der Täterangaben bei der Körperverletzung stieg. Auch bei den Faktoren der Inhaftierten wiederholten sich die signifikanten Zusammenhänge nur bei der Gewaltbilligung und der Anlasstat. Dies lag nach der Ansicht von S. Ernst zum einen an der geringeren Stichprobengröße im offenen Vollzug, zum anderen aber auch an der Vorauswahl der Insassen für den offenen Vollzug, die eine Reduzierung der Risikofaktoren vermuten lässt. Auch bei den Ergebnissen bezüglich der gemischten Variablen ergaben sich weniger Signifikanzen, 95  S. 96  S.

Ernst 2008a, S. 227 ff., 325 ff. Ernst 2008a, S. 219 ff., 323 ff.

216

D. Die Anzeigepflicht der Anstaltsleitung

die Tendenzen gingen jedoch bei allen drei Faktoren in dieselbe Richtung wie beim geschlossenen Vollzug.97 Insgesamt zeigten die Ergebnisse, dass Zusammenhänge von Gewalt im Vollzug sowohl zu den Anstaltsgegebenheiten und den individuellen Faktoren der Inhaftierten, als auch zu den gemischten Variablen bestanden. Diese Erkenntnisse können nach S. Ernst für die Entwicklung von Präventionsmaßnahmen genutzt werden.98 3. Internationale Forschung Auch in der internationalen Forschung zu in Strafvollzugsanstalten begangenen Straftaten widmen sich die meisten Studien den Vorkommnissen und Begleitumständen von Gewalt. Dabei gibt es jedoch verschiedene Ansätze und unterschiedliche Perspektiven. Während sich einige Studien ggf. anlässlich von Aufständen und Ausbrüchen von Gefangenen mit deren Ursachen und Präventionsmöglichkeiten beschäftigten,99 widmeten sich andere Studien der Gewalt mit Blick auf die Arbeit des Europäischen Anti-Folter-Ausschusses (CPT), das neben unmenschlicher und herabwürdigende Behandlung von Gefangenen auch auf Gewalt unter Gefangenen aufmerksam macht.100 Weitere Studien näherten sich der Gewalt im Vollzug, indem sie, oft unter Berücksichtigung des Deprivations- und des Importationsmodells, individuelle Faktoren und unterschiedliche Gefängnisvariablen sowie deren Auswirkungen auf Anstaltsklima und Gewalt untersuchten.101 Ein weiterer Ansatz lag darin, sich mit der Viktimisierung und Viktimisierungserfahrungen, teilweise auch Tätererfahrungen, durch Befragungen von Insassen im Strafvollzug zu befassen.102 Dass Straftaten und Gewalt im Strafvollzug nicht nur in Deutschland Themen sind, die mehr Aufmerksamkeit verdienen, zeigen beispielhaft folgende Untersuchungen: In der Studie von Edgar, O’Donnell und Martin, die Viktimisierung im Strafvollzug von England und Wales untersuchten, wurde ermittelt, dass manche Deliktstypen so häufig unter Gefangenen begangen 97  S.

Ernst 2008a, S. 260 ff., 336 ff. Ernst 2008a, S. 382. 99  Wilsnack 1976, speziell zur Präventionswirkung der Videoüberwachung im Vollzug Allard / Wortley / Steward 2008. 100  Siehe bspw. Evans / Morgan 1998, S. 251 ff. 101  Bottoms 1999; Lahm 2008; Mears u. a. 2013; McCorkle / Miethe / Drass 1995; Snacken 2011; Wooldredge / Griffin / Pratt 2001. 102  Bowker 1980; Edgar / O’Donnell / Martin 2003; Hagemann 2008; Power / Dyson / Wozniak 1997. So auch die verschiedenen Arbeiten von Ireland, siehe zum Überblick Ireland 2012, S.  63 ff. 98  S.



I. Forschung zu Straftaten im Strafvollzug217

wurden, dass man von Routine sprechen könne. Bspw. gaben 56 % aller befragten jungen Gefangenen an, dass sie im letzten Monat mindesten einmal verbal angegriffen wurden, 44 %, dass ihnen mit Gewalt gedroht wurde und 30 % berichteten von einer Körperverletzung.103 Auch im Rahmen einer Studie von Hagemann, die sieben europäische Länder um die Ostsee (Deutschland, Finnland, Lettland, Litauen, Polen, Russland und Schweden) im Hinblick auf deren Haftbedingungen, Viktimisierung und Konflikte im Strafvollzug untersuchte, gaben rund 52 % der Befragten an, in ihrer Haftzeit mindestens einmal Opfer einer Tat geworden zu sein. Zwar variierten Art und Anzahl der Vorkommnisse in den einzelnen Ländern stark, dennoch gaben auch in Schweden, einem Land mit sehr geringer Viktimisierungsrate, immerhin noch rund 34 % an, Opfer psychischer Gewalt und rund 8 % Opfer physischer Gewalt geworden zu sein.104 Auch im außereuropäischen Ausland ist Gewalt im Vollzug ein bedeutendes Thema. Bspw. berichteten 25 % der männlichen und 20 % der weiblichen Befragten einer Studie, die in 14 Strafvollzugsanstalten in den USA stattfand, während ihrer Haftzeit physisch angegriffen worden zu sein. Damit waren die Viktimisierungsraten bei männlichen Gefangenen 18 Mal, bei weiblichen Gefangenen sogar 27 Mal höher als in der Normalbevölkerung.105 Die Arten der Vorkommnisse ähneln den Ergebnissen der deutschen Untersuchungen. Am häufigsten traten verbale At­ tacken und andere Arten psychischer Gewalt auf, gefolgt von Körperverletzungen und Diebstählen. Tötungsdelikte und Sexualstraftaten wurden seltener erfasst.106 Zu den Ursachen von Gewalt im Vollzug bzw. zu gewaltbegünstigenden Risikofaktoren gibt es eine Vielzahl von Theorien und Untersuchungen in der internationalen Forschung. Neben individuellen Faktoren wie Geschlecht, Alter, Biographie und kriminellem Lebenslauf und den allgemeinen Kriminalitätstheorien werden auch vollzugspezifische Faktoren wie Gefängnisregime, Überbelegung und Unterbringung immer wieder zur Erklärung von Gewalt im Vollzug herangezogen.107 Insbesondere wird das geringere Alter der Täte103  Edgar / O’Donnell / Martin

2003, S. 29 f. 2008, S. 291 f. Zu ähnlichen Ergebnissen hinsichtlich der Viktimisierungserfahrungen von Gefangenen kommt auch die international vergleichende Studie des Greifswalder Mare-Balticum-Projekts zu den tatsächlichen Lebens- und Haftbedingungen von Gefangenen, vgl. u. a. Dünkel 2007b, S.  113 f. 105  Wolff u. a. 2007, S. 592, 595. Auch andere amerikanische Studien zeigen mit bspw. 25 % (Wooldredge 1998, S. 488), 32 % (Pérez u. a. 2009, S. 388) und 32 % (Wolff / Shi 2009, S. 64) ähnlich hohe Viktimisierungsraten hinsichtlich physischer Gewalt. 106  So bspw. auch in den Untersuchungen von Edgar / O’Donnell / Martin 2003, S.  29 f.; Hagemann 2008, S. 291; Maitland / Sluder 1998, S. 68. 107  Siehe zur ausführlichen Einordnung und Erläuterung der einzelnen Ansätze im Kap. D. II. 104  Hagemann

218

D. Die Anzeigepflicht der Anstaltsleitung

rinnen und Täter, das auch in der deutschen Forschung zu Gewalt im Vollzug als wichtiges Belastungsmerkmal angesehen wird, als Risikofaktor bestätigt.108 Häufig wird auch die Zahl der Gefangenen bzw. eventuelle Überbelegung als begünstigender Faktor von Gewalt im Strafvollzug gesehen.109 In einer älteren Studie von Gaes und McGuire wurden Daten aus 19 Strafanstalten in den USA über einen Zeitraum von 33 Monaten ausgewertet, um Zusammenhänge zwischen im Vollzug begangenen Körperverletzungen und diese begünstigenden Faktoren festzustellen. Dabei wurde die Überbelegung einer Anstalt als einflussreichster Risikofaktor ermittelt.110 Auch in der neuen Literatur wird „institutional crowding“ als ein gewaltbegünstigender Aspekt bestätigt. Levan, die in ihrer Arbeit die Gefangenenraten verschiedener Länder wie USA, Canada, England / Wales, Schottland, Deutschland, Frankreich, Niederlande, Schweden, Finnland, Israel, China, Japan, Südafrika und Russland gegenüberstellte und diese anschließend mit den in verschiedenen Studien111 berichteten Gewaltvorkommnissen in den Vollzugsanstalten der einzelnen Länder verglich, sah in einer überfüllten Anstalt, in der eine ausreichende Überwachung der Gefangenen mit Schwierigkeiten verbunden ist, mehr Gelegenheit zu Gewalt im Vollzug. Daten aus Ländern mit besonders hohen Gefangenenraten wie USA, Russland und Südafrika bestätigten dies.112 Ähnlich stellten auch van der Laan und Eichelsheim in ihrer Studie im belgischen Jugendstrafvollzug ein Zusammenhang zwischen aggressivem Verhalten und Gruppengröße fest.113 In der Studie von Hagemann wurden die Haftbedingungen auf Zusammenhänge mit der Viktimisierung im Vollzug untersucht, mit dem Ergebnis, dass in Ländern mit besseren Haftbedingungen und einer insgesamt höheren Lebensqualität auch die Viktimisierungsraten niedriger ausfallen. Ein interessanter Zusammenhang konnte auch bezüglich der Art der Unterbringung festgestellt werden. Je mehr Gefangene sich eine Unterkunft teilen mussten, umso höher war auch die Viktimisierungsrate. Bspw. lag die Rate der physischen Viktimisierung bei einer Unterbringung mit mehr als 30 Personen, wie sie in Schlafsälen in Lettland oder Litauen vorkam, bei rund 37 %, während sie bei Einzel- oder Doppelunterbringung zwischen 5 % und 7 % lag.114 Als 108  Bottoms 1999, S. 227; Cohen 1976, S. 10; Ireland 1999, S.  173 f.; Lahm 2008, S. 132; Maitland / Sluder 1998, S. 58, 65 f.; Wooldredge 1998, S. 489. 109  Gaes / McGuire 1985, S. 56; Lahm 2008, S. 132; Levan 2012, S. 39; Wooldredge / Griffin / Pratt 2001, S. 219 ff. 110  Gaes / McGuire 1985, S. 50 ff. 111  Für Deutschland verwendete sie die Studien von Hagemann 2008 und Zdun 2008. 112  Levan 2012, S. 25 ff., 39. 113  Van der Laan / Eichelsheim 2013, S. 439. 114  Hagemann 2008, S. 281, 292.



I. Forschung zu Straftaten im Strafvollzug219

weitere gewaltbegünstigende Faktoren wurden ein weit verbreiteter Drogenhandel innerhalb der Anstalt und der Mangel an Arbeit und Beschäftigung im Vollzug genannt.115 Der Frage des nachträglichen Umgangs mit in Strafanstalten begangenen Straftaten und insbesondere dem Stellen einer Strafanzeige widmeten sich kaum Untersuchungen. Eine Ausnahme bildet die Studie von Eichenthal und Blatchford, die Straftaten untersuchten, die im Jahre 1995 in Strafanstalten des US-Bundesstaates New York begangen wurden und dabei ermittelten, dass von rund 6000 begangenen Taten weniger als ein Drittel der Strafverfolgungsbehörde überhaupt mitgeteilt wurden. Von diesen angezeigten Taten wurde bei über der Hälfte eine Strafverfolgung durch die Staatsanwaltschaft aufgrund mangelnder Kapazität oder Aussichtslosigkeit des Verfahrens abgelehnt.116 Dieses von den Autoren als „mangelhafte Durchsetzung des Strafrechts“117 bezeichnete Ergebnis bestätigte die Ergebnisse einer bereits im Jahre 1985 in den USA durchgeführten Studie118 zur Bedeutung des Strafrechts in Strafanstalten. Eichenthal und Blatchford schlugen deshalb vor, dem Vorbild des Staates Texas zu folgen und spezielle Staatsanwälte nur für die Verfolgung von im Vollzug begangenen Straftaten einzusetzen (Special Prison Prosecution Unit).119 Zwar wären solche Staatsanwälte mit den besonderen Bedingungen einer im Vollzug begangenen Tat besser vertraut, dennoch birgt eine solche Institution die Gefahr einer Überkonzentration, sowie eine vermehrte Strafverfolgung und aufgrund der höheren Erfolgsaussichten auf eine Verurteilung auch eine erhöhte vollzugliche Überwachung. Ob dies gerade im Jugendstrafvollzug im Hinblick auf eine Resozialisierung des Gefangenen und das Anstaltsklima sinnvoll ist, erscheint durchaus fragwürdig.120 4. Zusammenfassung Die Ergebnisse der Untersuchungen zeigen, dass Straftaten und Gewalt im Strafvollzug und insbesondere auch im Jugendstrafvollzug so häufig sind, dass teilweise sogar von „routinemäßigem Auftreten“121 oder einem „alltäg115  Snacken

2011, S. 325 f. 1997, S. 458 ff. 117  Eichenthal / Blatchford 1997, S. 464. 118  Eichenthal / Jacobs 1991. 119  Eichenthal / Blatchford 1997, S. 464. 120  Zur ausführlichen Behandlung der Frage, in welchen Fällen ein Strafanzeige und eine damit eventuell einhergehende Strafverfolgung überhaupt sinnvoll erscheint, siehe Kap. D. III. 2. 121  Edgar / O’Donnell / Martin 2003, S. 29, wörtlich heißt es: „The findings of the survey […]; confirm that some types of victimization are so frequent as to be routine; […].“ 116  Eichenthal / Blatchford

220

D. Die Anzeigepflicht der Anstaltsleitung

lichen Phänomen“122 gesprochen wird. Gerade auch bei den Ergebnissen der aktuellen Studien mit Zahlen wie 118 Gewalttaten innerhalb von 22 Monaten im sächsischen Jugendstrafvollzug, wovon 90 % Körperverletzungen wa­ ren,123 oder einer Rate von 54,4 % bei verbaler Viktimisierung und 49,0 % bei physischer Viktimisierung bei 938 befragten jungen Gefangenen in den Jahren 2011 und 2012,124 drängt sich die Relevanz und Tragweite der Materie auf. Durch ein von Gewalt und Angst besetztes Anstaltsklima werden Resozialisierungsbemühungen negativ beeinflusst oder gar unterbunden. Um dies zu verhindern, müssen zum einen Präventionsmaßnahmen gefunden werden, zum anderen aber auch sinnvolle Maßnahmen für den nachträg­lichen Umgang mit Straftaten entwickelt werden, um strafbarem und gewalttätigem Verhalten von Jugendstrafgefangenen entgegenzusteuern. Neben der Umsetzung der in der Forschung vorgeschlagenen Maßnahmen wie Überbelegung zu vermeiden, Einzelunterbringung zu gewährleisten, für ausreichend Personal und Beschäftigungsangebote zu sorgen, das Anstaltsklima zu verbessern und gewaltfördernde Risikofaktoren zu behandeln, bedarf es zudem weitergehender Erforschung der Materie insbesondere zu Anzahl, Art, Umständen und Hintergründen der Vorkommnisse und zur Wirksamkeit von Präventionsund Reaktionsmaßnahmen. Die bisherigen Studien näherten sich der Materie von unterschiedlichen Gesichtspunkten. Während häufig einerseits Anzahl, Art und Umstände der begangenen Straftaten aus Tätersicht und andererseits Viktimisierungsraten aus Opfersicht untersucht wurden, um Präventionsmöglichkeiten zu ermitteln, sind Untersuchungen zu möglichen und sinnvollen Reaktionsmaßnahmen im Anschluss an die Tat in der deutschen sowie in der internationalen Forschung sehr selten. Zudem erschweren die teils sehr unterschiedlichen Herangehensweisen und die verschiedenen Fragestellungen den direkten Vergleich der Untersuchungen. Bereits in den vier beschriebenen deutschen Studien zu Gewalt im Strafvollzug finden sich drei verschiedene Gewaltdefinitionen. Dennoch lässt sich erkennen, dass insbesondere verbale Auseinandersetzungen ein sehr häufiges Phänomen im Jugendstrafvollzug sind, aber auch gerade Körperverletzungen im Vergleich zum Erwachsenenvollzug eine große Rolle spielen, schwere Verletzungen als Folge jedoch selten sind.125 Die meisten Taten im Jugendstrafvollzug werden in Hafträumen oder im Wohnbereich126 und von Alleintätern begangen.127 122  A.

S. 22.

Ernst / Neubacher 2014, S. 171, 180; Neubacher 2014b, S. 322; Wirth 2006,

123  Hinz / Hartenstein

2010, S. 178. 2012, S. 11. 125  Bieneck / Pfeiffer 2012, S. 11; Wirth 2006, S. 10, 12. 126  Bieneck / Pfeiffer 2012, S. 12 ff.; Heinrich 2002, S. 377; Wirth 2006, S. 14. 124  Bieneck / Pfeiffer



I. Forschung zu Straftaten im Strafvollzug221

Die Studien, die die Personengruppe der Täterinnen und Täter näher untersuchten, um herauszufinden, welche Tätercharakteristika mit Straftaten im Vollzug korrelieren, zeigten, dass sich die bekannten Risikofaktoren für allgemeine Kriminalität128 bei im Vollzug erneut Straffälligen verstärkt wiederfinden. Insbesondere stellt das jüngere Alter ein Belastungsmerkmal dar. Dies zeigt sich bereits an der wesentlich höheren Anzahl der im Jugendstrafvollzug im Vergleich zum Erwachsenenvollzug begangenen Taten.129 Als weitere Risikofaktoren wurden der Bildungs- und Beschäftigungsstand sowie die kriminelle Vorgeschichte der Täter und Täterinnen ermittelt.130 Die Meldung einer Straftat erfolgte meist durch Bedienstete, die die Tat selbst beobachten oder bspw. durch einen Notruf oder Verletzungen beim Opfer auf diese aufmerksam wurden. Hin und wieder kam es auch zu einer Meldung durch das Opfer selbst, eine Meldung durch unbeteiligte Gefangene kam nur selten vor.131 Die wenigen deutschen Studien, die sich dem nachträglichen Umgang mit Straftaten im Strafvollzug widmeten, zeigten eine sehr unterschiedliche Handhabung in den einzelnen Anstalten und zu unterschiedlichen Zeitperioden.132 Bezüglich der Maßnahmen der formellen Disziplinierung (Erziehungsmaßnahmen, Disziplinarmaßnahmen, aber auch gestellte Strafanzeigen) führte J. Walter dies auf die unterschiedlichen Ansichten und Einstellungen der Anstaltsleitung (sog. Anstaltsleitereffekt) sowie auf eine bezüglich der Handlungsverpflichtungen bestehende Rechtsunsicherheit zurück.133 Ritz wies zudem darauf hin, dass sich bereits einzelne Vollzugsbedienstete bezüglich einer Meldung von unterschiedlichen Faktoren, wie bspw. der vermuteten Meinung der Kollegen und Vorgesetzten, beeinflussen ließen.134 Außerdem spielten bei der Entscheidung für eine Meldung bzw. für das Stellen einer Strafanzeige die Erfolgsaussichten des Verfahrens eine Rolle. Bei Taten, bei denen eine Strafanzeige gestellt wurde, war der Gang des Verfahrens in der Regel jedoch schwer weiterzuverfolgen. In den Fällen, in denen der Fortgang ermittelt werden konnte, zeigte sich jedoch eine Tendenz zur Einstellung des Verfahrens, zur erneuten Verurteilung kam es nur in wenigen Fäl127  Heinrich

2002, S. 376; Hinz / Hartenstein 2010, S. 178. zu den allgemeinen Risikofaktoren Kap. B. II. 3. c) aa). 129  Bieneck / Pfeiffer 2012, S. 11; Bottoms 1999, S. 227; Bowker 1980, S. 36 f.; Heinrich 2002, S. 373; Maitland / Sluder 1998, S. 58, 65 f.; Wirth 2006, S. 16. 130  Bieneck / Pfeiffer 2012, S. 24 ff., 34; Wirth 2006, S. 16 ff. 131  Hinz / Hartenstein 2010, S. 178; Wirth 2006, S. 15. 132  Ritz 1984; J. Walter 1998; so auch Faber 2014, S. 167 ff. für die unterschiedlich häufige Anwendung von Disziplinarmaßnahmen in der JA Neustrelitz zwischen 2006 und 2011. 133  J. Walter 1998, S. 94 ff., 157 f. 134  Ritz 1984, S. 213 f. 128  Siehe

222

D. Die Anzeigepflicht der Anstaltsleitung

len.135 Im Hinblick auf die unterschiedliche Handhabung und die verschiedenen Aspekte, die eine Entscheidung beeinflussen können, hielten J. Walter und Ritz die Schaffung einer einheitlichen Regelung für den Umgang mit im Vollzug begangener Straftaten für erforderlich.136

II. Mögliche Ursachen von Straftaten im Vollzug Um geeignete Maßnahmen für die nachträgliche Verarbeitung zu ermitteln, ist es sinnvoll, zunächst einen Blick auf die möglichen Ursachen von Straftaten im Vollzug zu werfen. Dazu gibt es in der Forschung verschiedene Theorien und auch die Frage nach den Ursachen wird in den verschiedenen Studien zu Gewalt im Strafvollzug häufig aufgegriffen.137 In den Mittelpunkt rücken dabei immer wieder das Importations- und das Deprivationsmodell.138 Inzwischen ist sich die neuere Forschung jedoch weitgehend einig, dass nicht allein individuelle Faktoren oder vollzugliche Bedingungen für das Verhalten im Vollzug von Bedeutung sind, sondern eine Vielzahl von Aspekten gemeinsam und in jeweils unterschiedlicher Ausprägung eine Rolle spielen.139 Solche Aspekte können neben den „pains of imprisonment“ auch andere vollzugliche Bedingungen wie bspw. die Überbelegung oder allgemeine Faktoren sein, die sich aus den Kriminalitätstheorien oder individuellen Risikofaktoren ergeben. Der folgende Abschnitt soll einen Überblick über solche Faktoren geben, die Gewalt im Strafvollzug beeinflussen. 1. Allgemeine Faktoren Zur Begründung von Straftaten im Vollzug können auf allgemeiner Ebene sowohl die Kriminalitätstheorien, die in der Kriminologie allgemein zur Erklärung abweichenden Verhaltens entwickelt wurden, als auch die in der Forschung ermittelten kriminogenen Risikofaktoren, die gerade mit im Voll135  Eichenthal / Blatchford

1997, S. 458 ff.; Ritz 1984, S. 95 f.; Wirth 2006, S. 21. 1984, S. 308 f.; J. Walter 1998, S. 201 ff. 137  Siehe dazu im vorherigen Kap. D. I. 138  Siehe zum Importationsmodell Irwin / Cressey 1962, S. 145 und zum Depriva­ tionsmodell Sykes 1958, S. 82 f. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit den Modellen findet sich in Kap. B. II. 4. a) aa). 139  Zum integrativen Ansatz siehe Thomas 1977, S. 137 ff., 144 f. Dass eine Vielzahl von Faktoren für Gewalt im Vollzug verantwortlich sind, vertreten in der deutschen Forschung bspw. Dünkel 1996, S. 7; Neubacher u. a. 2011, S. 137; Suhling / Rabold 2013. Versuche, diese Vielzahl von Faktoren in einem theoretischen Konzept unterzubringen, sind das „Multifactor Model of Bullying in Secure Settings“ von Ireland 2012 und die „General Strain Theory of Prison Violence and Misconduct“ von Blevins u. a. 2010. 136  Ritz



II. Mögliche Ursachen von Straftaten im Vollzug223

zug begangenen Straftaten korrelieren, herangezogen werden. Diesen Erklärungen ist gemein, dass sie vollzugsspezifische Faktoren erst einmal außer Betracht lassen, aber dennoch auch im vollzuglichen Kontext relevant sein können. Damit können diese Ansätze abweichendes Verhalten sowohl außerhalb als auch innerhalb einer Strafanstalt erklären. a) Kriminalitätstheorien Erstaunlicherweise wird bei den Versuchen zur Erklärung von Straftaten im Vollzug kaum auf die Kriminalitätstheorien im Allgemeinen zurückgegriffen.140 Dabei können diese Theorien gerade auch im vollzuglichen Kontext eine Rolle spielen.141 Bspw. ist eine gesellschaftliche Bindung, deren vier Elemente Hirschi in seiner Theorie der sozialen Bindung als ausschlaggebend für normkonformes Verhalten ansieht,142 im Strafvollzug nur begrenzt möglich. Gerade familiäre und enge emotionale Bindungen zu Personen außerhalb des Vollzugs sind durch die beschränkten Kontaktmöglichkeiten kaum realisierbar. Zudem wird auch die Einbindung in Beruf und Freizeitaktivitäten durch die in der jeweiligen Anstalt vorhandenen Angebote vorgegeben. Da sich das Fehlen solcher Bindungselemente nach Hirschi aber gerade in kriminellem Verhalten widerspiegelt, sollten Außenkontakte, Beruf und Freizeitmöglichkeiten im vollzug­ lichen Alltag gefördert werden.143 Auch die Lerntheorien sind in der Vollzugssituation von Bedeutung, da danach Verhaltensweisen durch Interaktion mit der Umwelt erlernt werden. Nach Sutherland hängt die Übernahme und Verinnerlichung krimineller Verhaltensweisen einer Person vom Kontakt mit einer Gruppe von Menschen ab, die die Normen der Gesellschaft nicht akzeptieren. Je nach Häufigkeit, Dauer, Priorität und Intensität eines solchen Kontakts erhöhe sich die Wahrscheinlichkeit, selbst kriminelle Verhaltensweisen an den Tag zu legen.144 Auch nach der sozial-kognitiven Lerntheorie von Bandura sind das Umfeld und insbesondere nahestehende Personen oder häufige Kontakte, die als Modell für das Aneignen von Verhaltensweisen dienen, von besonderer Bedeutung. Daneben seien jedoch auch externe Verstärker wie Aufmerksamkeit, Anerkennung oder Ablehnung für das Verfestigen der Verhaltensweisen von 140  Levan

2012, S. 51. ausführlichen Erörterung der allgemeinen Kriminalitätstheorien siehe Kap. B. II. 1. 142  Hirschi 1969, S. 16 ff. 143  Levan 2012, S. 54. 144  Sutherland 1947, S. 6 f.; Sutherland / Cressey 1969, S. 429 ff. 141  Zur

224

D. Die Anzeigepflicht der Anstaltsleitung

Relevanz.145 Gerade der Umgang mit selbst bereits straffällig gewordenen Personen, die ggf. auch kriminelle Verhaltensweisen im Vollzug befürworten, begünstigt das Erlernen und Verfestigen solcher Verhaltensweisen.146 Ob der Strafvollzug nun aber als „Schule des Verbrechens“ bezeichnet werden kann, hängt stark von seiner Ausgestaltung im Einzelfall ab. Auch können bestimmte Aspekte der Subkulturtheorie von Cohen147 im vollzuglichen Kontext eine Rolle spielen, da gerade die Subkultur der Gefangenen häufig als Ursache für Gewalt im Vollzug herangezogen wird.148 Nach Cohen entsteht die Insassenkultur jedoch nicht aufgrund der im Vollzug typischen Deprivationen, sondern sie wird durch die Gefangenen mit in den Vollzug gebracht. Relevante Faktoren seien dabei neben dem jüngeren Alter, das die Person aufgrund geringerer Verpflichtungen und geringerer Disziplin weniger empfänglich für institutionelle Regeln mache, insbesondere eine subkulturelle Grundhaltung und Einstellung sowie bereits vorhandene subkulturelle Kontakte außerhalb der Anstalt, die der Einzelne mit in die Anstalt bringe.149 Untergruppen in der Gesellschaft entwickelten eigene Norm- und Wertvorstellungen aufgrund von Statusfrustration und einer sich daraus ergebenden notwendigen Abgrenzung der Personen von der mehrheitskonformen Kultur.150 Gewalt und damit auch Gewalt im Vollzug hänge von bestimmten strukturellen Bedingungen ab, die von der allgemeinen gesellschaftlichen Ordnung geprägt würden.151 Im Zusammenhang mit der Subkultur können auch die Neutralisierungstechniken von Sykes / Matza, mit denen die Taten gerechtfertigt werden und bspw. Unrecht verneint oder Verantwortung abgelehnt wird,152 von Bedeutung sein, da das anstaltsinterne Wertesystem dabei hilft, Gewalt zu akzeptieren oder zu rechtfertigen.153 Mit Blick auf den „labeling approach“154 bringt gerade der Strafvollzug eine etikettierende Wirkung bzw. eine gesellschaftliche Einordnung der Täterin oder des Täters mit, die sein oder ihr Selbstbild beeinflussen und ein 145  Bandura

1977, S. 22 ff., 96 ff. 2012, S. 58. 147  Kap. B. II. 1. e). 148  So auch Cohen 1976, S. 11 ff. selbst. 149  Cohen 1976, S. 10 ff.; dieser Erklärungsansatz korrespondiert mit dem Importationsmodell von Irwin und Cressey, Irwin / Cressey 1962, S. 145. 150  Cohen 1955, S. 32 ff., 59; Cohen / Short 1979, S. 372 f. 151  Cohen 1976, S. 14. 152  Sykes / Matza 1979, S. 364, 366 ff. 153  Levan 2012, S. 54 f. Nach Cohen / Short 1979, S. 374 werden solche Neutralisierungstechniken gerade in jugendlichen Gruppen erlernt. 154  Kap. B. II. 1. f). 146  Levan



II. Mögliche Ursachen von Straftaten im Vollzug225

weiteres Handeln nach dieser Rollenzuweisung wahrscheinlich machen. Zudem ordnen sich die Gefangenen auch untereinander Gruppen zu, die auch von der Anlasstat und dem Verhalten und Auftreten im Vollzug abhängen. Bspw. ist bei Gefangenen, die wegen eines Sexualdelikts inhaftiert sind, die Wahrscheinlichkeit, Opfer einer Gewalttat zu werden, erhöht.155 Schließlich können auch weitere Theorien wie der psychoanalytische Ansatz, nach dem abweichendes Verhalten auf Entwicklungsstörungen in der frühen Kindheit zurückzuführen ist,156 für die Erklärung von Straftaten auch im Strafvollzug fruchtbar gemacht werden. b) Individuelle kriminogene Risikofaktoren So wie die allgemeine Behandlungsforschung versucht, individuelle Belastungsfaktoren herauszufinden, die mit abweichendem Verhalten im allgemeinen korrelieren, so wurde in einigen Studien zu Straftaten und Gewalt im Strafvollzug auch untersucht, welche Risikofaktoren einer Person mit der Begehung von Straftaten innerhalb der Strafanstalt im Zusammenhang stehen. Die Untersuchungen zeigten jedoch auch eine gewisse Übereinstimmung der Risikofaktoren bei allgemein abweichendem Verhalten und bei im Strafvollzug begangenen Straftaten.157 Relevante Risikofaktoren für Straftaten im Vollzug sind ein jüngeres Alter, der Bildungs- und Beschäftigungsstand sowie die kriminelle Vorgeschichte der Täter und Täterinnen.158 Durch die Identifizierung solcher Risikofaktoren und ein entsprechendes Risikoassessment ist es zwar in gewissem Umfang möglich, abzuschätzen, in welchen Fällen die Gefahr der Begehung von Straftaten besteht und dementsprechend Präventionsmaßnahmen zu ergreifen; für eine nachträgliche Behandlung ist es jedoch nur möglich, bei dynamischen, also veränderbaren, Risikofaktoren anzusetzen.159 Da diese im Zusammenhang mit Straftaten im Vollzug jedoch noch weitgehend unerforscht sind, wären weitere Untersuchungen hier wünschenswert. 2. Vollzugspezifische Faktoren Für die Erklärung von Gewalt im Strafvollzug sind außerdem vollzugsspezifische Faktoren relevant. Insbesondere beeinflusst der Prisonisierungspro155  Levan

325 ff.

2012, S. 58; dies bestätigte auch die Studie von S. Ernst 2008a, S. 227 ff.,

156  Kap. B.

II. 1. a). Kap. D. I. 4. 158  Bieneck / Pfeiffer 2012, S. 24 ff., 34; Wirth 2006, S. 16 ff. 159  Zu den Möglichkeiten zum Umgang mit Risikofaktoren siehe die Ausführungen zum Risk-Need-Responsivity-Modell in Kap. B. II. 3. c) aa). 157  Siehe

226

D. Die Anzeigepflicht der Anstaltsleitung

zess das Verhalten der Jugendstrafgefangenen, aber auch einzelne vollzug­ liche Bedingungen spielen als vollzugsspezifische Risikofaktoren eine Rolle. a) Prisonisierung und Subkultur Die Prisonisierung, näher beschrieben als die Anpassung eines Strafgefangenen an die anstaltsinterne Kultur mit ihren Werten, Sitten und Regeln, gilt häufig als eine der Ursachen von im Strafvollzug begangenen Straftaten, da die Übernahme krimineller Verhaltensweisen und Einstellungen von Mitinsassen als typisches Phänomen dieses Anpassungsprozesses gilt.160 Die Werte, Sitten und Regeln der Gefangenensubkultur, die als informelle Sozialkontrolle das Zusammenleben und Verhalten der Insassen untereinander bestimmen, sind geprägt vom Überlebenskampf. Dabei sind Charaktereigenschaften wie „Männlichkeit, Cleverness, Mut und Risikobereitschaft“161 von großer Bedeutung. Der Einzelne muss sich eine sichere Stellung in der Gruppe erarbeiten, sich gegenüber anderen Insassen behaupten und durchsetzen können und darf keine Schwächen zeigen. Neben der Durchsetzungsfähigkeit spielt auch die Loyalität der Insassen untereinander in Opposition zur Anstalt und ihren Bediensteten eine Rolle im Strafvollzug. Insbesondere Gefangene, die andere Insassen bspw. wegen einer Straftat „verpfeifen“, werden schnell aus der Gefangenengemeinschaft ausgeschlossen.162 Häufig schließen sich Gefangene auch in Gruppen zusammen, um gegenseitigen Schutz zu gewährleisten.163 Von Bedeutung ist auch der informelle Handel, der sich aufgrund des erschwerten Zugangs zu bestimmten erlaubten oder auch zu unerlaubten Gütern entwickelt. Typische gehandelte Waren sind Zigaretten oder Drogen, aber auch Dienstleistungen wie Putzen, die Gewährleistung von Schutz oder sexuelle Gefälligkeiten. Nicht nur der Handel mit verbotenen Gütern, sondern auch der Mangel an legalen Konfliktlösungsmechanismen führen häufig zu Straftaten und Gewalt.164 Zur Erklärung des Prisonisierungsprozesses und der Entstehung von Subkultur im Vollzug werden wiederum das Importations- und das Deprivationsmodell herangezogen,165 wobei im Rahmen der vollzugspezifischen Fakto160  Hosser

2008, S. 172. 2008, S. 175 f. 162  Faulkner / Faulkner 1997, S. 60; Harbordt 1972, S.  21  ff.; Hosser 2008, S.  175 f.; Levan 2012, S. 42 ff.; Meyer 2001, S. 164 ff., 172; Weis 1988, S. 248. Zu der Bedeutung von Gruppenbildung im Jugendstrafvollzug siehe die Untersuchung von Kühnel 2007. 163  Kühnel 2007, S. 30. 164  Harbordt 1972, S. 49 f.; Silberman 1995, S. 27 ff., 34 f. 165  Dazu Kap. B. II. 4. a) aa). 161  Hosser



II. Mögliche Ursachen von Straftaten im Vollzug227

ren allein das Deprivationsmodell von Bedeutung ist. Ob der Einzelne nun Straftaten begeht, hängt zu einem großen Teil auch von der Gefangenenhie­ rarchie und seiner Stellung darin ab. Eine detaillierte Beschreibung der Gefangenenhierarchie findet sich in Sykes Werk „The Society of Captives“. Danach befinden sich an der Spitze der Hierarchie aggressive maskuline Gefangene, die ihre Stellung gegenüber anderen Gefangenen durch Dominanz und Gewalt durchsetzen, während sich Gefangene, die feminine oder passive Rollen übernehmen, unten in der Hierarchie einordnen. Letztere ­fielen selbst selten durch aggressives Verhalten auf. Das Aufsteigen in der Hierarchie geschehe jedoch meist durch Ausübung von Dominanz gegenüber den anderen Gefangenen.166 Ebenso können einzelne Prisonisierungseffekte und ein anfänglicher Inhaftierungsschock zu einer Häufung von Disziplinarverstößen führen167 und damit auch mit Straftaten im Vollzug in Zusammenhang stehen. In der Untersuchung von Neubacher u. a. wurde beispielsweise ein Autonomieverlust als Prädiktor für Gewalt identifiziert.168 b) Vollzugsspezifische Risikofaktoren Neben den Risikofaktoren, die in der Person der Täterin oder des Täters liegen, wurden durch die Forschung auch Risikofaktoren identifiziert, die mit der Begehung von Straftaten im Vollzug korrelieren und auf vollzugliche Bedingungen zurückzuführen sind. Bei der Überbelegung handelt es sich um einen solche Straftaten begünstigenden Faktor.169 Die Schwierigkeit einer ausreichenden Überwachung und die vermehrten Tatgelegenheiten bei überfüllten Anstalten machen die Begehung von Straftaten im Vollzug wahrscheinlicher.170 Auch die Gemeinschaftsunterbringung wurde als vollzugsspezifischer Risikofaktor identifiziert. Je mehr Gefangene sich eine Unterkunft teilen müssen, desto höher ist die Viktimisierungsrate.171 Weitere vollzugsspezifische Risikofaktoren, bei denen ein Zusammenhang mit Straftaten und Gewalt im Strafvollzug festgestellt werden konnte, sind der Mangel an Arbeit und Beschäftigung sowie ein weitverbreiteter Drogenhandel innerhalb der Anstalt.172

166  Sykes

1958, S. 84 ff.; so auch Bowker 1980, S. 32 f.; Harbordt 1972, S. 56 ff. 2008, S. 176 f. 168  Neubacher 2014b, S. 323. 169  Gaes / McGuire 1985, S. 50 ff.; Levan 2012, S. 39. 170  Levan 2012, S. 39. 171  S. Ernst 2008a, S. 317 ff.; Hagemann 2008, S. 281, 292. 172  Snacken 2011, S. 325 f. 167  Hosser

228

D. Die Anzeigepflicht der Anstaltsleitung

3. Zusammenfassung Aus den vorangehenden Ausführungen folgt, dass eine Vielzahl von Faktoren für die Begehung von Straftaten im Vollzug ursächlich sein kann. Dabei wird strafbares Verhalten jedoch meist nicht auf einen einzelnen Umstand, sondern auf mehrere Faktoren gemeinsam zurückzuführen sein. Präventive Maßnahmen zur Verhinderung von Straftaten im Strafvollzug sollten deshalb sowohl auf vollzuglicher Ebene bei der Schaffung besserer Bedingungen und der Vermeidung übermäßiger Prisonisierung als auch auf individueller Ebene durch Behandlungsmaßnahmen zur Reduzierung von Straftaten ansetzen. Zudem sollte auch der nachträgliche Umgang mit Straftaten in erster Linie die Behandlung der Jugendstrafgefangenen bzw. die Verringerung krimineller Verhaltenstendenzen und Einstellungen im Blick haben, daneben bei der Entscheidung über Reaktionsmaßnahmen aber auch die Bedingungen, die Straftaten im Vollzug begünstigen, berücksichtigen.

III. Die Strafanzeige im Jugendstrafvollzug Die Frage, ob die Strafanzeige ein geeignetes Mittel zur Reaktion auf Straftaten im Jugendstrafvollzug darstellt, ist Gegenstand des folgenden Kapitels. Dies hängt zum einen von ihrer Zweckbestimmung, zum anderen aber auch davon ab, wie sie sich in das System Jugendstrafvollzug, dessen Zielsetzung und Ausgestaltung einfügt. 1. Ziel der Strafanzeige im Jugendstrafvollzug Als Antragsteller bzw. Antragstellerin einer Strafanzeige, die aus dem Jugendstrafvollzug heraus gestellt wird, kommen die Anstalt selbst (durch die Anstaltsleitung oder eine delegierte Person), die Aufsichtsbehörde, der oder die Geschädigte oder auch jeder oder jede Beobachtende oder sonst Unbeteiligte in Betracht.173 Die von der Jugendstrafanstalt gestellte Strafanzeige gegen einen Gefangenen oder eine Gefangene ist darauf gerichtet, ein strafrechtlich relevantes Verhalten mit einer rechtlich dafür vorgesehenen Maßnahme zu sanktionieren. Sie gehört daher zu den Mitteln der formellen Disziplinierung.174 Das die Strafanzeige in den Jugendstrafvollzugsgesetzen nicht ausdrücklich genannt, sondern im Abschnitt zu den Disziplinarmaßnahmen lediglich erwähnt wird, steht dem nicht entgegen. In erster Linie wird mit formeller Disziplinierung die Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ord173  Zur rechtlichen Einordnung der Strafanzeige durch die Anstaltsleitung und im Allgemeinen siehe Kap. C. I. 174  J. Walter 1998, S. 7, 10 ff.



III. Die Strafanzeige im Jugendstrafvollzug229

nung in der Anstalt und damit die Funktionsfähigkeit des Strafvollzugs bezweckt, damit dieser in der Lage ist, seine Ziele zu erreichen.175 Unabhängig davon, ob die Entscheidung zum Stellen einer Strafanzeige nun in Form eines Erlasses, der zur Anzeige bestimmter strafrechtlich relevanter Verhaltensweisen verpflichtet, oder in Form einer Ermessensentscheidung in der konkreten Situation gefällt wird, muss somit bei der Entscheidungsfindung in jedem Fall und in erster Linie das Ziel des Jugendstrafvollzugs berücksichtigt werden.176 Die Strafanzeige ist darüber hinaus aber auch das Mittel, eine Strafverfolgung in Gang zu setzen. Sie dient auf diese Weise ebenfalls der Durchsetzung des Strafrechts und damit, wenn auch nur indirekt, dem Rechtsgüterschutz in der Gesellschaft.177 An dieser Stelle dürfen die Gründe, warum Strafanzeige erstattet wird, nicht mit der allgemeinen Begründung der Strafe verwechselt werden. So stellen bspw. die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) nach mehrmaligem Schwarzfahren nicht deshalb Strafanzeige, um die Strafrechtsordnung durchzusetzen, sondern vielmehr sollen dadurch erneute Schwarzfahrten verhindert werden. Auch der Anstaltsleitung wird es regelmäßig in erster Linie um die Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung in der Anstalt gehen. 2. Sinnhaftigkeit einer Strafanzeige durch die Anstaltsleitung Ob die Anzeige von in der Jugendstrafanstalt begangenen Straftaten zur Erreichung des Vollzugsziels erforderlich oder überhaupt sachdienlich ist, hängt von den einzelnen Auswirkungen ab, die die Strafanzeige und die meist daran anschließende Strafverfolgung auf die Resozialisierung bzw. auf den Schutz der Allgemeinheit haben. Außerdem bedarf es auch für einen auf Resozialisierung ausgerichteten Strafvollzug der Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung innerhalb der Anstalt. Zudem ist bei der Entscheidungsfindung, in welchen Fällen Strafanzeige erstattet werden soll, die besondere Situation, in der sich Jugendstrafgefangene befinden, zu berücksichtigen. Insbesondere der Prisonisierungsprozess einschließlich der Subkulturbildung und der sich aus der Gefangenenkultur ergebenden Regeln, die Prisonisierungseffekte und die vollzugspezifischen Ursachen für Straftaten und Gewalt im Jugendstrafvollzug sollten beachtet werden. Außerdem darf nicht übersehen werden, dass die hohe Kontrolldichte für die Aufdeckung von weit mehr Straftaten als in jedem anderen Lebensbereich sorgt.178 Beim 175  J.

Walter 1998, S. 39 f. Walter 2010, S. 61 f. 177  J. Walter 1998, S. 165; zur Unterscheidung vom Zweck der Strafe und Zweck der Disziplinarmaßnahme siehe Ostendorf-Rose 2016, § 10 Rn. 44 f. 178  Wagner 1992, S. 511; J. Walter 2010, S. 59 f. 176  J.

230

D. Die Anzeigepflicht der Anstaltsleitung

Stellen einer Strafanzeige durch die Jugendstrafanstalt kommt als weitere Zweckbestimmung neben der formellen Disziplinierung noch die Ahndung der Rechtsgutsverletzung als Aufgabe des Strafrechts hinzu.179 Da die Strafanzeige das Mittel der Anstalt ist, eine Strafverfolgung in Gang zu setzen und die Strafverfolgung der Durchsetzung des Strafrechts dient, spielen bei der Entscheidungsfindung, wann Strafanzeige zustellen ist, ggf. auch die allgemeinen Strafzwecke eine Rolle. Zudem ist relevant, ob der Zweck der Strafanzeige nicht bereits durch andere, weniger eingriffsintensive Handlungsalternativen erreicht werden kann. Im folgenden Abschnitt werden die einzelnen Aspekte, die für den Entscheidungsprozess zum Stellen einer Strafanzeige durch die Anstalt relevant sind, untersucht. Zunächst werden die Auswirkungen, die eine Strafanzeige und die daran eventuell anschließende Strafverfolgung auf die Resozialisierung und den Schutz der Allgemeinheit haben, ermittelt und erörtert. Anschließend wird geklärt, welche Rolle die allgemeinen Strafzwecke und etwaige Handlungsalternativen bei der Entscheidungsfindung spielen. Schließlich sind die einzelnen Aspekte gegeneinander abzuwägen, um so ein Zwischenfazit über eine sinnvolle Anzeigepraxis ziehen zu können. a) Auswirkungen auf den Resozialisierungsprozess Bei der Resozialisierung als dem verfassungsrechtlich gebotenen Ziel des Jugendstrafvollzugs geht es um die erfolgreiche Wiedereingliederung der Täterin oder des Täters in die Gesellschaft und ein künftig normkonformes Verhalten. Zur Erreichung einer positiven Legalbewährung bzw. zur künftigen Rückfallvermeidung dienen im Strafvollzug (im Idealfall) vor allem auf die Täterin oder den Täter zugeschnittene und auf ihre Wirksamkeit überprüfte Behandlungsprogramme und -maßnahmen; aber auch durch die Vollzugsgestaltung selbst soll dem Prisonisierungsprozess und negativen Prisonisierungseffekten, die den Wiedereingliederungsprozess behindern, entgegengewirkt und ein behandlungsförderndes und sicheres Umfeld geschaffen werden. Welche Auswirkungen eine Strafanzeige auf einzelne Behandlungsprogramme und -maßnahmen, auf den Prisonisierungsprozess und einzelne Prisonisierungseffekte sowie die Vollzugsgestaltung haben kann, ist Gegenstand des folgenden Abschnitts.

179  J.

Walter 1998, S. 165.



III. Die Strafanzeige im Jugendstrafvollzug231

aa) Auswirkungen auf einzelne Behandlungsprogramme und -maßnahmen Die deutsche und internationale Behandlungsforschung zeigt, dass einzelne Behandlungsprogramme und -maßnahmen die Resozialisierung von Jugendstrafgefangenen durchaus positiv beeinflussen können. Deutsche Studien weisen überwiegend auf die resozialisierungsfördernde Wirkung einer frühzeitigen Entlassungsvorbereitung in Form von Lockerungen, einer Unterbringung im offenen Vollzug und einer vorzeitigen Entlassung zur Bewährung, bei der die Jugendstrafgefangenen in der schwierigen Phase direkt nach der Entlassung in der Regel durch einen Bewährungshelfer oder eine Bewährungshelferin weiterbetreut und somit unterstützt werden, hin. Lockerungen wie Ausgang und Urlaub ermöglichen das eigenverantwortliche Regeln eigener Angelegenheiten sowie mehr Außenkontakte und besonders die Aufrechterhaltung familiärer Bindungen.180 Wird nun jedoch gegen eine oder einen Jugendstrafgefangenen eine Strafanzeige gestellt und als regelmäßige Folge der in § 160 I StPO niedergelegten Erforschungspflicht ein Ermittlungsverfahren eingeleitet, so führt dies, unabhängig davon, ob es sich bei der angezeigten Tat um eine Beleidigung oder eine schwere Körperverletzung handelt, in den meisten Bundesländern zu einer Versagung von Lockerungsmaßnahmen. In einigen Verwaltungsvorschriften finden sich dazu explizite Regelungen: Bspw. sind gem. AV Nr. 7.9.4 zu § 9 JVollzGB BW-III, AV Nr. 4 zu Art. 13 BayStVollzG, Nr. 6 VV Jug Bbg, VV Nr. 11.4.3 zu § 15 JStVollzG LSA und VV zu § 15 SJStVollzG Gefangene, gegen die ein Ermittlungs- oder Strafverfahren anhängig ist, für Vollzugslockerungen ungeeignet. Nach AV Nr. 8 zu § 15 JStVollzG Bln ist im Rahmen der Eignungsprüfung bei den Strafverfolgungsbehörden durch Anfrage festzustellen, ob Ermittlungs- oder Strafverfahren anhängig sind. Eine Eignung liegt jedoch nur dann nicht vor, wenn die auf diese Weise gewonnenen Erkenntnisse auf Missbrauchs- oder Fluchtgefahr hinweisen. Gleiches gilt für die Verlegung in den offenen Vollzug.181 Damit bringt das Stellen einer Strafanzeige eine faktische Lockerungssperre und die Verhinderung von vollzugsöffnenden Maßnahmen mit sich, die Umsetzung des Vollzugsplans wird behindert und eine Entlassungsvorbereitung kann selbst in den Monaten vor der tatsächlichen Entlassung, sofern zu diesem Zeitpunkt ein Ermittlungs- oder Strafverfahren anhängig ist, nicht erfolgen.182 Die Strafanzeige steht häufig auch der 180  Dolde / Grübl 1996, S. 255, 262, 267, 289 ff.; Dünkel / Geng / Morgenstern 2010, S.  22 f.; Frankenberg 1999, S. 133 ff.; Lang 2007, S. 164 f. 181  AV Nr. 3.1.4 zu § 7 JVollzGB BW-III, AV Nr. 2 zu Art. 12 BayStVollzG, AV Nr. 1 zu § 13 JStVollzG Bln, VV Nr. 9.2 zu § 13 JStVollzG LSA, VV zu § 13 SJStVollzG. 182  Tierel 2008, S. 249; J. Walter 1998, S. 13; J. Walter 2010, S. 57 ff., 63.

232

D. Die Anzeigepflicht der Anstaltsleitung

vorzeitigen Entlassung zur Bewährung entgegen. Während eines anhängigen Ermittlungs- oder Strafverfahrens wird die vollstreckungsleitende Jugendrichterin oder der vollstreckungsleitende Jugendrichter im Rahmen ihrer oder seiner Prognose eine Aussetzung des Rests der Jugendstrafe gemäß § 88 JGG meist nicht befürworten.183 Damit können einerseits Unsicherheiten in der Vollzugsplanung entstehen, da das Strafende bzw. der genaue Entlassungszeitpunkt nicht mehr bestimmt werden kann,184 andererseits fällt die bei der vorzeitigen Entlassung vorgesehene Bewährungshilfe bei der Wiedereingliederung weg. In der internationalen Forschung erwiesen sich kognitiv-verhaltenstherapeutische, gefolgt von verhaltenstherapeutischen Behandlungsprogrammen als besonders wirksam. Zu den kognitiv-verhaltenstherapeutischen und verhaltenstherapeutischen Programmen gehören beispielsweise Reasoning & Rehabilitation, das anstrebt, kognitive und soziale Defizite durch die Vermittlung von Problemlösungskompetenzen, Selbstkontrolle und ähnlichem auszugleichen, sowie das Anti-Aggressiv-Training oder soziale Trainingskurse. Gemein haben diese Programme, dass sie Übungen wie Rollenspiele und Modelllernen mit einbeziehen, aber auch Gruppendiskussionen und tataufarbeitende Einzelgespräche durchgeführt werden. Im Falle einer Strafanzeige und eines daran anschließenden laufenden Ermittlungsverfahrens können insbesondere Einzelgespräche behindert, aber auch andere Übungen erschwert werden, da die oder der im Jugendstrafvollzug erneut straffällig gewordene Gefangene sich aufgrund des aus dem Persönlichkeitsrecht nach Art. 2 I i. V. m. Art. 1 I GG hergeleiteten nemo-tenetur-Grundsatzes nicht zu der Tat äußern muss.185 Demnach kann die im Vollzug begangene Tat jedenfalls während eines laufenden Ermittlungs- oder Strafverfahrens nur erschwert in die Behandlung mit einbezogen werden. Gleiches gilt für alle anderen Gespräche oder Maßnahmen, die mit dem Täter oder der Täterin anlässlich der im Vollzug begangenen Tat durchgeführt werden sollen. Aus einer Nichtteilnahme an Maßnahmen, die mit dem nemo-tenetur-Grundsatz kollidieren, dürfen der oder dem Gefangenen jedoch keine Nachteile erwachsen.186 Auch bei der Auswahl der Gefangenen 183  Eisenberg 2016, § 88 Rn. 12; J. Walter 1998, S. 13. Zur Verwertbarkeit dieses Umstandes entgegen der Unschuldsvermutung siehe LG Hamburg NStZ 1992, 455; OLG Hamm NStZ 2004, 685. 184  J. Walter 1998, S. 13. 185  BVerfG NJW 1981, 1431. Der nemo-tenetur-Grundsatz gilt zwar nicht gegenüber Privaten, jedoch auch außerhalb des Strafverfahrens gegenüber staatlichen Organen, KK-Diemer 2013, § 136 Rn. 10; OLG Celle NJW 1985, 640. Die Grundsätze der Belehrungspflicht aus § 136 StPO gelten auch im vollzuglichen Disziplinarverfahren, BGH NStZ 1997, 614. 186  OLG Frankfurt NStZ-RR 2004, 157 zur disziplinarischen Ahndung von Verstößen gegen Mitwirkungspflichten, die dem Grundsatz des nemo-tenetur widerstrei-



III. Die Strafanzeige im Jugendstrafvollzug233

für Behandlungsprogramme sprechen die eben genannten Aspekte dafür, dass im Vollzug auffällige Gefangene häufig unberücksichtigt bleiben, wenn gegen sie eine Strafanzeige gestellt wurde.187 Eine solche Vorgehensweise würde jedoch gerade den in der Strafvollzugsforschung entwickelten Grundsätzen einer effektiven Behandlung widersprechen, nach denen Umfang und Intensität der Behandlung am Rückfallrisiko der zu behandelnden Person ausgerichtet werden sollen und damit bei Personen mit einem hohen Rückfallrisiko eine intensive Behandlung angezeigt ist (risk principle). bb) Auswirkungen auf die Prisonisierung und die Vollzugsgestaltung Die allgemeinen Reaktionsmuster einer Anstalt auf im Vollzug begangene Straftaten beeinflussen die Situation aller Gefangenen.188 Leider gibt es zu den Auswirkungen einer durch die Anstalt gestellten Strafanzeige auf die Prisonisierung der Gefangenen mit Ausnahme der Ausführungen bei Ritz aus dem Jahr 1984 keine Untersuchungen. Im Folgenden sollen daher aus allgemeinen Studien zur Prisonisierung vorsichtig Schlüsse auf die Auswirkungen einer Strafanzeige gezogen werden. Für die Prisonisierung und die Vollzugsgestaltung ist jedoch häufig nicht allein das Unterlassen oder Stellen einer Strafanzeige, sondern das Ausbleiben einer staatlichen Reaktion insgesamt relevant.189 Neben den Auswirkungen, die eine Strafanzeige auf den Prozess der Prisonisierung, also die Anpassung an die anstaltsinterne Kultur einschließlich der Übernahme krimineller Einstellungen und Verhaltensweisen der Mitinsassen, haben kann, kommen auch solche auf einzelne Prisonisierungseffekte in Betracht. Die negativen Sozialisations- und Entwicklungsfolgen einer Inhaftierung können durch das Stellen oder Unterlassen einer Strafanzeige entweder verstärkt oder auch abgeschwächt werden. Außerdem müssen die Auswirkung einer Strafanzeige auf die Vollzugsgestaltung mit einem besonderen Augenmerk auch auf das Anstaltsklima beachtet werden.

ten; dies muss jedoch auch bezüglich anderer Nachteile wie der Versagung von Lockerungen oder Besuchen gelten. 187  So ist auch die „PeerMediation“ in der JSA Berlin (dazu sogleich in Kap. D. III. 2. e) bb)) grundsätzlich ausgeschlossen, wenn bezüglich der Auseinandersetzung Strafanzeige gestellt wurde, Dienstanweisung des Anstaltsleiters vom 23.09.2013, Nr. 4 / 13, S. 3. 188  Zu den verschiedenen Reaktionsmustern der Vollzugsverwaltung und einzelnen Auswirkungen auf die Gefangenen siehe Ritz 1984. 189  Zu den Handlungsalternativen der Vollzugsverwaltung bei der Reaktion auf strafrechtlich relevantes Verhalten im Jugendstrafvollzug siehe Kap. D. III. 2. e).

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D. Die Anzeigepflicht der Anstaltsleitung

(1) Auswirkungen auf Prisonisierung und Subkulturbildung Nach Sykes Deprivationsmodell sind die Entstehung einer Gefangenensubkultur und die Anpassung des Einzelnen an diese anstaltsinterne Kultur Folge der mit einer Inhaftierung verbundenen Einschränkungen und Frustrationen.190 Bspw. führt der gemeinsame Verlust der Freiheit zu Solidarität unter den Gefangenen und der begrenzte soziale Kontakt zu Personen außerhalb der Anstalt sorgt dafür, dass sich die sozialen Beziehungen auf Mitgefangene konzentrieren.191 Zu den „pains of imprisonment“ zählt Sykes aber auch den Mangel an Sicherheit vor Mitgefangenen.192 Dieser Mangel an Sicherheit veranlasst die Gefangenen dazu, sich eine sichere Stellung und Ansehen in der Gruppe zu erarbeiten und führt dazu, dass sie auf Mitgefangene angewiesen sind. Fehlt der Schutz durch die Anstalt, so muss er anderweitig gewährleistet werden, was die Abhängigkeit von Mitgefangenen verstärkt.193 Eine eigene Anzeige bei Straftaten von Mitgefangenen ist aufgrund des innerhalb der Gefangenengruppe ausgeübten Drucks, Bedrohungen und aus Angst vor erneuten Übergriffen kaum möglich.194 Gerade Jugendliche halten sich an subkulturelle Regeln („im Knast zeigt man nicht an“), meinen jedoch auch, dass ihnen bei einer Meldung ohnehin nicht geglaubt würde.195 Im Gegensatz dazu ergab sich aus einigen Untersuchungen aber auch, dass eine repressive Vollzugsausrichtung mit erhöhter Sicherheitsorientierung und vermehrten Kontrollen die Deprivationen der Gefangenen intensiviert und Subkulturbildung verstärkt.196 (2) Auswirkungen auf einzelne Prisonisierungseffekte Das Stellen oder Unterlassen einer Strafanzeige kann auch Auswirkungen auf einzelne Prisonisierungseffekte haben. So ist es wahrscheinlich, dass negative Sozialisations- und Entwicklungsfolgen, die aufgrund der Inhaftierung 190  Sykes

1958, S. 82 f. Ernst 2008a, S. 114; Greve / Hosser 1998, S. 92. 192  Sykes 1958, S. 63 ff. 193  S. Ernst 2008a, S. 79 ff., 177 ff. zu den verschiedenen Reaktionen der Gefangenen auf erlittene Straftaten und deren Konsequenzen. Dazu, dass Gefangene auf Mitgefangene angewiesen sind, siehe auch das Interview mit einem Gefangenen bei Schroven 2013, S.  92 ff. 194  Levan 2012, S. 52; Ritz 1984, S. 38. 195  Bieneck / Pfeiffer 2012, S. 20 f. 196  Akers / Hayner / Gruninger 1994, S. 415 f., 420 f.; Hosser / Greve 2002, S. 432; Lambropoulou 1987, S. 78 ff., 94 f., 264; Street 1965, S. 47 ff., 55; vgl. auch Bosold / Hosser / Lauterbach 2007, S. 267; Dolde 1994, S. 107; Harbordt 1972, S. 45, 59; Liebling / Crewe 2012, S. 908 f. 191  S.



III. Die Strafanzeige im Jugendstrafvollzug235

entstehen, sowohl beim Täter bzw. der Täterin als auch beim Opfer der im Vollzug begangenen Straftat je nach Reaktion der Anstalt verstärkt oder abgeschwächt werden können. In Betracht kommen insbesondere eine Beeinflussung des Gefühls von Sicherheit bzw. des Angsterlebens im Vollzug, des Selbstwertes, der Normorientierung sowie des künftigen Verhaltens. Ein Angsterleben der Gefangenen im Vollzug bzw. ein von Angst geprägtes Anstaltsklima läuft dem Vollzugsziel der Resozialisierung entgegen. Bspw. ermittelten Greve und Hosser eine Veränderung der normativen Orientierung in Form einer geringeren Übereinstimmung mit den Normen der Gesellschaft und einer sinkenden Bereitschaft zur Akzeptanz von Gesetzen bei Gefangenen, die das Anstaltsklima mit Unterdrückung und Angst beschrieben.197 Zudem wird die im Vollzug bereits begrenzte Bewegungsfreiheit durch Angst der Gefangenen noch weiter eingeschränkt, wenn sie häufige Tatorte wie die Wohngruppe oder der Freizeitbereich im Jugendstrafvollzug meiden.198 Einerseits kann das Ausbleiben einer staatlichen Reaktion, zu der auch die Strafanzeige gehört, bei im Vollzug insbesondere gegenüber Mitgefangenen begangenen Straftaten dazu führen, dass das Sicherheitsempfinden insgesamt noch verringert wird. Die Gefangenenbefragung von Bieneck und Pfeiffer zeigte, dass das Sicherheitsempfinden der Gefangenen im deutschen Jugendstrafvollzug bereits gering ausfällt: Nur 6,4 % der Befragten fühlten sich durch Bedienstete geschützt, dagegen suchen 23,5 % den Schutz durch Mitgefangene.199 In der Untersuchung von Drenkhahn u. a. zum Langstrafenvollzug gaben jeweils zwischen 70 % und 80 % der befragten Gefangenen aus elf europäischen Ländern an, dass sie sich wünschten, dass sich die Bediensteten in Konfliktsituationen involvierten bzw. dass die Bediensteten Ermittlungen anstellten und die Situation untersuchten. Fast 60 % der Befragten forderten, dass Verantwortliche bestraft werden.200 Interessanterweise gaben aber auch 62 % der Befragten an, eigene Viktimisierungen nicht zu melden. Gründe dafür sind geringes Vertrauen in die Bediensteten, der Glaube, dass Bedienstete ohnehin nicht reagieren würden und die Angst vor Vergeltung durch den Täter oder die Täterin.201 Drenkhahn u. a. stellten zudem fest, dass das erlebte Anstaltsklima gerade von der Angst vor Viktimi197  Greve / Hosser

2002, S. 494. 2012, S. 21 f. 199  Bieneck / Pfeiffer 2012, S. 21 f. 200  Drenkhahn 2014, S.  359 ff. 201  Drenkhahn 2014, S. 356; Drenkhahn / Morgenstern 2016, S. 151. Ähnlich auch bei Bieneck / Pfeiffer 2012, S. 18 ff.: Von den befragten Jugendstrafgefangenen erzählten insgesamt 42 % einer anderen Person von dem Vorfall, bei physischen oder sexuellen Übergriffen nur 32 %. 198  Bieneck / Pfeiffer

236

D. Die Anzeigepflicht der Anstaltsleitung

sierung sowie tatsächlicher Viktimisierung beeinflusst wird.202 Der Schutz der Gefangenen, um Angst zu verringern bzw. das Sicherheitsempfinden zu stärken, ist damit ein wichtiger Aspekt im Resozialisierungsprozess.203 Andererseits zeigten Untersuchungen aber auch, dass eine erhöhte Sicherheitsausrichtung der Anstalt die Deprivationen der Gefangenen intensiviert und neben der Subkulturbildung204 auch das Angstempfinden205 verstärkt wird. Schließlich ergaben die Untersuchungen von Liebling zur „moral performance“, dass die von den Gefangenen wahrgenommene Sicherheit auch mit der „Art und Qualität der Beziehungen zwischen den Gefangenen und Bediensteten sowie mit Fairness und Vertrauen“ zusammen hingen.206 In einer weiteren Studie von Liebling, Hulley und Crewe, bei der die Bedingungen von „moral performance“ in sieben englischen Strafanstalten erneut überprüft wurden und ein besonderes Augenmerk auf die Kategorie Sicherheit gelegt wurde, ließ sich „policing“ als weitere wichtige Dimension identifizieren. Gemeint ist damit das nötige Fingerspitzengefühl der Vollzugsbediensteten bei der Entscheidung, ob und welche Regeln durchgesetzt werden müssen, um Sicherheit in der Anstalt zu gewährleisten sowie die nötige Balance bei der Ausübung von Autorität.207 Zu einem ähnlichen Ergebnis kamen auch van der Laan und Eichelsheim in ihrer Untersuchung im belgischen Jugendstrafvollzug: Bedienstete, die alle Regeln immer peinlich genau durchsetzten, erzeugten häufiger unsichere Situation im Vollzug. Von Jugendstrafgefangenen erfahrene Fairness und Gerechtigkeit korreliert dagegen mit ihrem Gefühl von Sicherheit.208 Darüber hinaus konnten auch Neubacher u. a. in ihrer Untersuchung zu Gewalt im deutschen Jugendstrafvollzug einen Einfluss der „Verfahrensgerechtigkeit“ (Items u. a. „Gefangene werden mit Respekt behandelt“, „Bedienstete erklären den Gefangenen ihre Entscheidungen“) nicht nur auf den Verlust von Autonomie und das Gefühl von Sicherheit, sondern sogar auf das Ausmaß der berichteten physischen Gewalt feststellen. Das Anstaltsklima und besonders die Art und Weise des Umgangs

202  Drenkhahn / Morgenstern

2016, S. 148 ff. Zusammenhang des Schutzes der Gefangenen mit dem Resozialisierungsziel siehe auch BVerfGE 116, 69 (89 f.); Suhling / Rabold 2013, S. 70. 204  Dazu Kap. B. II. 4. b). 205  Kury / Smartt 2002, S. 331. Auch Ortmann 1987, S. 357 f. konnte eine starke Korrelation zwischen der Begrenzung der Autonomie und der Angst vor Mitinsassen feststellen. Zudem gehört Angst auch zu Sykes „pains of imprisonment“, Sykes 1958, S.  63 ff. 206  Liebling 2009, S. 18; für den Jugendstrafvollzug dazu auch van der Laan / Eichelsheim 2013, S. 438 ff. 207  Liebling / Hulley / Crewe 2012, S. 369. 208  Van der Laan / Eichelsheim 2013, S. 436, 438 f. 203  Zum



III. Die Strafanzeige im Jugendstrafvollzug237

der Bediensteten mit den jungen Gefangenen spielen eine große Rolle dabei, Gewalt im Gefängnis zu verhindern.209 Auch sind Auswirkungen der staatlichen Reaktion bzw. einer Strafanzeige auf das Selbstbild, also auf die eigene Wahrnehmung,210 der Jugendstrafgefangenen wahrscheinlich. Diese Selbstwahrnehmung beeinflusst das Selbstkonzept einer Person, das wiederum in einer Wechselbeziehung zu deren Einstellung und Verhalten steht.211 Beim Täter oder bei der Täterin führt die durch eine Strafanzeige erfolgte offizielle Bekanntgabe und Bewertung der Tat zur Degradierung und Herabminderung des öffentlichen Werts der Person.212 Eine solche etikettierende soziale Bewertung wirkt sich wiederum auf das Selbstwertgefühl und auf die eigene Wahrnehmung aus.213 Eine Etikettierung macht neben der Beeinflussung des Selbstbilds auch ein weiteres Handeln nach dieser Rollenzuweisung wahrscheinlicher.214 Auf Seiten des Opfers bringen Straftaten Wut, Hilflosigkeit, Angst und das Gefühl der Erniedrigung mit sich.215 Nach Ritz kann eine Nichtanzeige von Straftaten deren Bagatellisierung und bei Straftaten gegen Mitgefangene eine Geringschätzung der Gefangeneninteressen bedeuten. Insassen, die sich diese Einschätzung zu eigen machten, könnten sich als weniger schutzwürdige Personen sehen.216 Ein solches Bild, das Strafgefangene weniger schutzwürdig seien, würde für sich selbst und andere übernommen und könne zu mehr Taten gegenüber Mitgefangenen führen.217 Dies sei vor allem der Fall, wenn den Gefangenen vermittelt werde, Straftaten gegen Mitgefangene führten nicht im gleichen Umfang zu einem Einschreiten der Aufsichtsbeamten wie Straftaten gegen Bedienstete. Diese Beeinflussung des Selbstbildes wirke sich auch auf die Einstellung und das Verhalten der Gefangenen aus: Straftaten gegenüber Gefangenen erschienen als geringere Interessenverletzung und

209  Neubacher

2014b, S. 323; Wolter / Boxberg 2016, S. 169 f. 2006, S. 25, 41 ff. 211  Mummendey 2006, S. 245 ff. 212  Weis 1975, S. 128. 213  Mummendey 2006, S. 146. 214  Dazu Lemert 1969, S. 604 f.; Lemert 1975, S. 433 ff. Zu ähnlichen Ergebnissen kommen auch Boers u. a. 2014, S. 197, die Delinquenzverläufe und Erklärungszusammenhänge durch die wiederholte Befragung von Schülerinnen und Schülern aus Duisburg untersucht haben. Dabei stellten sie fest, dass formelle Kontrollinterventionen abweichende Lebens-, Einstellungs- und Verhaltensstile nicht hemmen, sondern fördern. 215  Bieneck / Pfeiffer 2012, S. 16 f.; zusammenfassend zu den Auswirkungen auf das Opfer auch Levan 2012, S. 67 f. 216  Ritz 1984, S. 227. 217  Ritz 1984, S. 27, 38 ff. 210  Mummendey

238

D. Die Anzeigepflicht der Anstaltsleitung

als eher gerechtfertigt.218 Außerdem würden bei Nichteinschreiten der Anstalt die Möglichkeiten des Opfers zur legalen Verteidigung und Wahrnehmung seiner Interessen beschnitten, da eine Strafanzeige durch das Opfer selbst häufig zu dessen Denunziation führe.219 Ein Nichteinschreiten bei Straftaten gegen Mitinsassen führe deshalb zur vermehrten Begehung dieser Taten sowie zu Selbstjustiz,220 die sich als abweichende Handlungsmuster auf Dauer verfestigen.221 Im Gegensatz dazu ermittelte S. Ernst eine sinkende Tendenz (jedoch nicht signifikant) bei der Anzahl der im Vollzug begangenen Körperverletzungen (Opferangaben), wenn keine „automatische Anzeigeerstattung“ erfolgte (6,6 % gegen 10,4 %, wenn „automatisch“ immer Anzeige erstattet wird).222 Dieses von der Autorin nicht erwartete und ihren Thesen auch widersprechende Ergebnis führt sie selbst aber auf „das geringe Entdeckungs­ risiko, die große Anzahl an niedergeschlagenen Verfahren, die lange Verfahrensdauer und die Seltenheit von dabei verhängten neuen Haftstrafen“ zurück. Letztendlich plädiert sie für eine „automatische Anzeigeerstattung“, da ansonsten bei den Gefangenen der Eindruck entstehe, dass Gewalt unter Inhaftierten gebilligt und dadurch die eigene Einstellung zu Gewalt sowie die Beurteilung des Bedienstetenverhaltens negativ beeinflusst werde.223 Bei der Beurteilung des Einflusses der vollzuglichen Reaktion auf das zukünftige Verhalten der Jugendstrafgefangenen ist allerdings auch zu beachten, dass Strafen und andere Reaktionen der Vollzugsverwaltung von den Insassen häufig als weniger wichtig angesehen werden. Vielmehr sind für das eigene Verhalten die Anerkennung bei Mitgefangenen sowie die Stellung in der Gefangenengemeinschaft von erhöhter Bedeutung.224 (3) Auswirkungen auf die Vollzugsgestaltung Eine Strafanzeige kann außerdem auch die Vollzugsgestaltung innerhalb einer Anstalt beeinflussen. Neben der Einbettung der Strafanzeige als Reaktion der Anstalt auf im Vollzug begangene Straftaten in das allgemeine Anstaltskonzept sind insbesondere auch die Auswirkungen auf das Anstaltsklima, also die sozialpsychologische Grundstimmung, von Bedeutung, wobei hier jedoch gewisse gegenseitige Abhängigkeiten und Wechselwirkungen bestehen. Für das Anstaltsklima sind mit Blick auf die Reaktionen der An218  Ritz

1984, S. 256 ff. 1984, S. 36 ff. 220  Ritz 1984, S. 263 ff. 221  Ritz 1984, S. 218, 259 ff. 222  S. Ernst 2008a, S. 218. 223  S. Ernst 2008a, S. 322. 224  Levan 2012, S. 58. 219  Ritz



III. Die Strafanzeige im Jugendstrafvollzug239

stalt Fairness, Vertrauen, Sicherheit und Ordnung225 relevante Aspekte.226 Was generell als Gewalt verstanden wird und welche Handlungen in der konkreten Situation auch als Gewalt bzw. als Straftaten eingestuft werden, kann sich je nach Anstalt und zuständigem Bediensteten deutlich unterscheiden227 und damit auch das Hafterleben der Gefangenen unterschiedlich beeinflussen. Die Untersuchung von Ritz ergab, dass sich die Gefangenen eine Reaktion der Vollzugsverwaltung in irgendeiner Form bei Straftaten von Mitinsassen, insbesondere von „schwierigen“ Gefangenen, häufig wünschten. Darin werde auch eine auf Seiten der Gefangenen erwünschte Aufwertung ihrer Interessen erkannt.228 Ausschlaggebend sind hier vor allem aber ein gerechtes und faires Verhalten der Vollzugsbediensteten, sodass die Gefangenen wissen, welche Reaktionen sie erwarten können und Vertrauen und Glaubwürdigkeit entstehen können. Vertrauen und Glaubwürdigkeit in der subjektiven Wahrnehmung der Vollzugsinsassen verleihen der Anstalt Legitimität.229 Die Reaktionen und insbesondere das Verhalten in Hinblick auf eine Strafanzeige sollten sich deshalb im Sicherheits- bzw. Behandlungskonzept der jeweiligen Anstalt widerspiegeln. cc) Zusammenfassung Zunächst ist festzustellen, dass eine durch die Anstaltsleitung gestellte Strafanzeige die für den Täter oder die Täterin im Rahmen der Vollzugsplanung anstehenden Behandlungsmaßnahmen oder -programme meist ver- oder behindert. Im Hinblick auf den Prozess der Prisonisierung und einzelne Prisonisierungseffekte hat das Stellen oder Unterlassen einer Strafanzeige jedoch ambivalente und häufig noch ungeklärte Folgen. So wird nach einigen Untersuchungen durch fehlendes offizielles Einschreiten der Mangel an Sicherheit und damit die Abhängigkeit von Mitgefangenen und die Subkulturbildung verstärkt, nach anderen Untersuchungen führt aber gerade eine erhöhte Kontrolldichte zu verstärkter Deprivation und damit Prisonisierung. Auch hinsichtlich der Auswirkungen auf das Angstempfinden der Insassen finden sich ähnlich unterschiedliche Untersuchungsergebnisse. Zudem kann 225  Zu den einzelnen Auswirkungen auf Sicherheit und Ordnung siehe sogleich Kap. D. III. 2. b). 226  Liebling 2009, S. 15; Liebling / Arnold 2004, S. 134, 154 f. 227  Kury / Smartt 2002, S. 327. 228  Ritz 1984, S. 288 f. 229  Zu diese Aspekten siehe auch Liebling 2009, S. 15; Liebling / Arnold 2004, S.  134, 154 f.; Liebling u. a. 2005, S. 210 ff.; Sparks / Bottoms / Hay 1996, S. 84 ff.; Sparks / Bottoms 2008, S. 103. Siehe unter dem Leitsatz „Wir sind konsequent und liberal“ auch den Erfahrungsbericht eines Anstaltsleiters zum Umgang mit Gewalt im Vollzugsalltag, Koop 2013.

240

D. Die Anzeigepflicht der Anstaltsleitung

das Ausbleiben einer Reaktion zwar eine öffentliche Degradierung des Täters oder der Täterin verhindern, allerding kann auch die Anerkennung, die er oder sie von Mitgefangenen ggf. für sein oder ihr Verhalten bekommt, überwiegen. Jedenfalls liegt aber im Unterlassen einer Strafanzeige eine Bagatellisierung der Tat und, falls es ein Opfer gibt, eine Geringschätzung seiner Interessen. Für eine sich positiv auf die Resozialisierung auswirkende Vollzugsgestaltung ist insofern von Bedeutung, dass die Reaktionen der Vollzugsverwaltung als fair empfunden werden, sodass Vertrauen entstehen kann. b) Auswirkungen auf den Schutz der Allgemeinheit Zum Schutz der Allgemeinheit gehört neben der externen Sicherheit auch die interne Sicherheit, also der Schutz der Gefangenen vor wechselseitiger Gewalt während ihrer Inhaftierung.230 Sicherheit und Ordnung innerhalb der Anstalt sind wichtige Voraussetzungen eines chancenreichen Resozialisierungsprozesses. Gerade der Schutz vor gegenseitiger Gewalt und ein damit verbundenes gewaltfreies Anstaltsklima sind für die Entwicklung der Jugendstrafgefangenen zu eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten erforderlich.231 In Jugendstrafanstalten darf einerseits kein rechtsfreier Raum in dem Sinne entstehen, dass Jugendliche aufgrund mangelnder Reaktion von Seiten der Vollzugsverwaltung auf Schutz und Gunst anderer Mitgefangener angewiesen sind. Dies muss gerade auch aufgrund des Umstandes gelten, dass Gefangene wegen des ausgeübten Drucks durch oder der Angst vor Mitinsassen selbst selten Strafanzeige stellen und zudem häufig davon ausgehen, dass ihnen bei Meldung eines strafrechtlich relevanten Vorfalls an die Vollzugsbeamten „eh nicht geglaubt“ werde.232 Andererseits führen die durch eine Strafanzeige ausgelösten Ermittlungsmaßnahmen wie Vernehmungen durch Polizei und Staatsanwaltschaft leicht zu Anspannungen unter den Insassen und stören die interne Ordnung und den gewohnten Tagesablauf.233 Hinsichtlich der externen Sicherheit ist zu erwähnen, dass es in Fällen, in denen Strafanzeige gestellt wurde, häufig zur Versagung von Lockerungen oder von einer vorzeitigen Entlassung kommt234 und damit der Schutz der Allgemeinheit außerhalb der Anstalt gewährleistet erscheint. Dabei ist jedoch nicht zu übersehen, dass Lockerungen und auch die vorzeitige Entlassung 230  Kap. B.

III. 2. b).

2012, § 8 Rn. 1; Müller-Dietz 2008, S. 21; Sonnen 2007c, S. 162; J. Walter 2011, S. 106. 232  Siehe dazu die Studie von Bieneck / Pfeiffer 2012, S. 18 ff. 233  Ritz 1984, S. 33; J. Walter 2010, S. 57 ff., 63. 234  Siehe Kap. D. III. 2. a) aa). 231  Ostendorf-Goerdeler



III. Die Strafanzeige im Jugendstrafvollzug241

elementare Maßnahmen zur Wiedereingliederung darstellen235 und dass für den Schutz der Allgemeinheit eine spätere Rückfälligkeit des Täters oder der Täterin nach Entlassung ebenfalls nicht dienlich ist. c) Sonstige Auswirkungen Neben den Auswirkungen auf die Resozialisierung von Täter bzw. Täterin und Opfer oder auf den Schutz der Allgemeinheit kann das Stellen oder Unterlassen einer Strafanzeige durch die Anstaltsleitung auch Auswirkungen auf das Meldeverhalten sowie die Motivation der Bediensteten haben. Bspw. lässt sich vermuten, dass Vollzugsbedienstete im Vollzug begangene Taten weniger häufig melden, wenn sie davon ausgehen müssen, dass sowieso keine Strafanzeige oder auch andere Reaktion erfolgen werde und anschließend dazu neigen, selbst zu informellen Maßnahmen der Disziplinierung zu greifen. Eine solche fehlende Rückendeckung durch die Anstaltsleitung kann schnell Unzufriedenheit und Demotivation auf Seiten der Bediensteten ­hervorrufen.236 Dagegen kann eine starke Anzeigepraxis auch zu einem „Aufschaukelungsprozess“ führen, indem die Bediensteten „noch genauer hinschauen“.237 In der Untersuchung von J. Walter gaben sogar 15 der 22 befragten Anstaltsleiterinnen und Anstaltsleiter die Motivation ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als erstrangiges (4) bzw. zweitrangiges (11) institutionelles Ziel bei der Verhängung von Maßnahmen der formellen Disziplinierung an. Vier schätzten die generelle Eignung der Maßnahmen, um dieses Ziel zu erreichen, als hoch, 15 als ausreichend ein.238 d) Strafverfolgungsinteresse Neben ihrer disziplinarischen Wirkung innerhalb des Jugendstrafvollzugs ist die Strafanzeige vor allem das Mittel der Anstalt, eine Strafverfolgung in Gang zu setzen.239 Da eine Strafverfolgung der Durchsetzung des Strafrechts und damit der Ahndung einer Rechtsgutsverletzung dient, kommt für die Entscheidungsfindung, ob und wann Strafanzeige zustellen ist, auch eine Berücksichtigung allgemeiner Strafzwecke in Betracht. Allerdings handelt es sich bei der Strafanzeige um eine Maßnahme der Anstaltsleitung. Für solche 235  Dazu

Kap. B. II. 3. b) jj). auch Pachmann 1979, S. 228; Ritz 1984, S. 32. 237  So J. Walter 1998, S. 167. 238  J. Walter 1998, S. 159 ff. 239  J. Walter 1998, S. 165. 236  So

242

D. Die Anzeigepflicht der Anstaltsleitung

sind, jedenfalls bei Gestaltungsentscheidungen, die Jugendstrafvollzugsgesetze und damit deren Zielsetzung der allein verbindliche Maßstab.240 Durch die Strafanzeige selbst wird die Vollzugsgestaltung jedoch nur mittelbar bspw. durch die Versagung von Lockerungen aufgrund eines laufenden Ermittlungsverfahrens beeinflusst. Die Strafanzeige löst die in § 160 I StPO niedergelegte Erforschungspflicht der Staatsanwaltschaft und damit die Strafverfolgung (Erkenntnisverfahren) aus, die ggf. in einer erneuten Verurteilung mündet. Damit ist die Strafanzeige der Anstaltsleitung vielmehr ein Vorläufer bzw. Wegbereiter einer Statusentscheidung, nämlich des Strafurteils des erkennenden Gerichts, das den Status der Verurteilten als Gefangene begründet und die Straflänge bestimmt. Dass die Strafanzeige somit aus dem System der vollzuglichen Status- oder Gestaltungsentscheidungen herausfällt, zeigt auch, dass sie als Maßnahme der Anstaltsleitung im Gegensatz zu allen anderen Status- oder Gestaltungsentscheidungen nicht durch Rechtsmittel angefochten werden kann. Die Entscheidung, ob und wann Strafanzeige zu stellen ist, kann bereits auf gesetzgeberischer Ebene, verwaltungsrechtlicher Ebene oder bei einem entsprechenden Ermessensspielraum erst durch die Anstaltsleitung getroffen werden. Während auf gesetzgeberischer Ebene natürlich allgemeine straftheoretische Überlegungen eine Rolle spielen dürfen,241 sind die Verwaltung und damit auch die Anstaltsleitung in erster Linie an die gesetzgeberische Entscheidung zur Ausrichtung des Vollzugs, also an die Spezialprävention als das Ziel des Jugendstrafvollzugs, gebunden. Da eine Strafanzeige jedoch die eigentliche Vollzugsgestaltung nicht unmittelbar betrifft, sondern einer erneuten Strafverfolgung, also der Ahndung einer neuen Straftat bzw. Rechtsgutsverletzung dient, können auch andere straftheoretische Überlegungen in begrenztem Umfang herangezogen werden. So scheiden allgemeine generalpräventive Überlegungen aus, da dabei die Interessen des jugendlichen Täters oder der jugendlichen Täterin,242 aber vor allem auch die Interessen aller Jugendstrafgefangenen völlig unberücksichtigt bleiben. Zwar darf auch innerhalb von Strafanstalten kein rechtsfreier Raum entstehen und die gesellschaftliche Ordnung muss auch hier aufrechterhalten werden. Hintergrund dieses Postulats ist aber nicht, dass ansonsten das Vertrauen der Allgemeinheit in die Rechtsordnung erschüttert wäre, 240  Siehe

Kap. B. III. 6. Gesetzgeber ist schließlich frei darin, für Entscheidungen im Strafvollzug Ziele zu bestimmen, jedenfalls solange er darüber nicht das verfassungsrechtlich vorgegebene Vollzugsziel der Resozialisierung (BVerfGE 45, 187 [238 f.]) aus dem Blick verliert. 242  So für das Jugendstrafrecht allgemein Böhm / Feuerhelm 2004, S. 233; D / S / SSonnen 2011, § 18 Rn. 16; Ostendorf 2015a, Rn. 49. 241  Der



III. Die Strafanzeige im Jugendstrafvollzug243

sondern vor allem der Schutzauftrag,243 den der Staat für seine Gefangenen und insbesondere Jugendstrafgefangenen, deren Sicherheit und körperliche Unversehrtheit übernimmt. Zudem sollen im Jugendstrafvollzug auch Werte und gesetzeskonforme Einstellungen vermittelt werden, die ein gewaltfreies Zusammenleben ermöglichen.244 Verzichtet man jedoch vollständig auf Strafanzeigen und damit auf die Durchsetzung der allgemein geltenden gesellschaftlichen Normen, würde die Ansicht des Täters bzw. der Täterin und mittelbar auch aller Jugendstrafgefangenen unterstützt, dass die allgemeinen Gesetze innerhalb der Anstalt nicht gälten und Straftaten und Gewalt von der Anstaltsleitung und den Bediensteten akzeptiert würden, was wiederum die Einstellungen und Verhaltenstendenzen der Gefangenen beeinflusst.245 Man könnte insoweit zwar von einer positiven Generalprävention innerhalb des Mikrokosmos Gefängnis sprechen, die gerade in einer engen Beziehung zur Resozialisierung der Jugendstrafgefangenen durch die Übernahme von Einstellungen und das Erlernen von Verhaltensweisen steht. Diese Resozialisierung der Jugendstrafgefangenen ist Kern des erzieherisch ausgerichteten Jugendstrafvollzugs, sodass die erzieherischen Erfordernisse im Einzelfall ausschlaggebend sind. Generalpräventive Aspekte können auch hier lediglich einen erwünschten Nebeneffekt darstellen.246 Im Zusammenhang mit der Entscheidung zum Stellen einer Strafanzeige können zudem Gedanken aus den kommunikationsorientierten bzw. expressiven Straftheorien fruchtbar gemacht werden.247 Insbesondere dient eine Reaktion der Anstaltsleitung bzw. der Vollzugsverwaltung auf die Straftat einer oder eines Gefangenen auch dazu, dem Opfer dieser Tat zu bestätigen, dass ihm Unrecht geschehen ist. Andernfalls würde kommuniziert, dass seine Rechtsgüter und Interessen nicht bedeutend genug seien, gar kein Unrecht vorläge oder es selbst schuld sei. Darin läge eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts.248 Im Hinblick auf die Kommunikation mit der Täterin bzw. dem Täter, die zum einem dazu dient, ihr bzw. sein Verhalten zu tadeln,249 können zum anderen aber auch Aspekte der Abschreckung der Täterin bzw. des Täters selbst250 eine Rolle spielen. Gerade bei wiederholter Tatbegehung und immer wieder auftretenden Rechtsgutsverletzungen muss 243  BVerfGE  116, 69 (89 f.), zum Schutzauftrag auch Sonnen 2007a, S. 53  f.; Suhling / Rabold 2013, S. 70. 244  Hosser / Bosold 2008b, S. 165; Sonnen 2007a, S. 53. 245  S. Ernst 2008a, S. 89, 322. 246  J. Walter 1998, S. 63. 247  Dazu Hörnle 2011c. 248  Hörnle 2011a; Hörnle 2011c, S. 16. 249  Hörnle 2011c, S. 32 f. 250  Zur begrenzten Wirksamkeit von Maßnahmen der Abschreckung siehe allerdings Kap. B. II. 3. b) jj).

244

D. Die Anzeigepflicht der Anstaltsleitung

der Täterin oder dem Täter verdeutlicht werden, dass ihr bzw. sein Verhalten Konsequenzen mit sich bringt. Schließlich kann auch die Schwere der Tat bei der Entscheidung, ob Strafanzeige gestellt werden sollte, berücksichtigt werden; ein abschließendes Urteil über die Schuld bzw. die Verantwortlichkeit der Täterin oder des Täters ist jedoch dem für die Tat zuständigen Gericht vorbehalten. e) Handlungsalternativen Bei der Frage nach dem richtigen Umgang mit im Jugendstrafvollzug begangenen Straftaten geht es häufig vor allem um die Frage, ob überhaupt eine staatliche Reaktion erfolgen sollte und wenn ja, welche. Neben der Strafanzeige stehen der Anstaltsleitung bzw. Vollzugsverwaltung noch weitere Reaktionsmöglichkeiten zur Verfügung.251 Um diskutieren zu können, in welchen Fällen eine Strafanzeige als Reaktion der Anstalt sinnvoll ist, ist es erforderlich, einen kurzen Blick auf die alternativen Reaktionsmöglichkeiten zu werfen und diese in ihrer Zielsetzung und Ausgestaltung von der Strafanzeige abzugrenzen. aa) Erzieherische Maßnahmen und Disziplinarmaßnahmen Statt einer Strafanzeige kommen als Reaktion auf im Vollzug begangene Straftaten auch die in den Jugendstrafvollzugsgesetzen geregelten erzieherischen Maßnahmen und Disziplinarmaßnahmen in Betracht. Sie erfolgen seitens der Anstalt als Reaktion auf Pflichtverstöße von Jugendstrafgefangenen, wobei nicht nur strafrechtlich relevante Pflichtverstöße, sondern bspw. auch Verstöße gegen Pflichten aus der Hausordnung erfasst sind. Erzieherische Maßnahmen und Disziplinarmaßnahmen sind häufig schneller und flexibler einsetzbar und machen als zeitnahe Erwiderung den Zusammenhang mit dem strafrechtlich relevanten Verhalten besser bewusst. Zudem können die Jugendstrafgefangenen bei diesen Maßnahmen bestimmte Konsequenzen mit größerer Sicherheit erwarten als bei einer Strafanzeige, bei der der Eintritt strafrechtlicher Folgen lange ungewiss bleibt.252 Dennoch sind erzieherische Maßnahmen und Disziplinarmaßnahmen letztendlich „Strafmaßnahmen, die als repressive Reaktion auf einen schuldhaften Ordnungs- oder Pflichtverstoß eines Gefangenen seitens der Anstalt ergriffen

251  Ein Überblick über die rechtlich vorgesehenen Reaktionsmaßnahmen findet sich in Kap. B. III. 5. 252  J. Walter 1998, S. 198.



III. Die Strafanzeige im Jugendstrafvollzug245

werden können“253 und sollten deshalb zurückhaltend eingesetzt werden.254 Insbesondere das Disziplinarverfahren präsentiert sich mit den rechtlichen Vorgaben zu dessen Durchführung als „kleiner Strafprozess“, der es nicht bezweckt, eine durch Kommunikation und Verständnis entwicklungsfördernde Wirkung zu entfalten. Zudem ist zweifelhaft, ob ein vollzugsinternes Verfahren die geforderte Unabhängigkeit in der Entscheidung mit sich bringen kann, wenn bspw. die Aussage einer Vollzugsbediensteten gegen die Aussage eines Jugendstrafgefangenen steht. M. Walter sieht in den Disziplinarmaßnahmen deshalb eher ein Instrument „einseitiger Machtentfaltung und -durchsetzung“.255 Auch ein Blick in den Katalog der Landesgesetze bestätigt den strafenden und wenig fördernden Charakter der Maßnahmen. Vor allen Dingen wird dem Arrest eine resozialisierungsbehindernde Wirkung zugesprochen, so werden Haftdeprivationen durch eine isolierte Unterbringung verstärkt.256 Erzieherische Maßnahmen haben insgesamt weniger Eingriffsintensität als Disziplinarmaßnahmen und sind aufgrund des fehlenden formellen Verfahrens noch flexibler einsetzbar. Allerdings sind die einzelnen möglichen Maßnahmen in den Landesgesetzen nicht abschließend bestimmt, sodass ein großer Handlungsspielraum für immer neue Sanktionen besteht. Dadurch und wegen fehlender Verfahrensvorschriften liefern sie den Gefangenen auch weniger Schutz vor Grundrechtseingriffen.257 Neben ihrer zwar durchaus auch intendierten repressiven Wirkung dienen erzieherische Maßnahmen und Disziplinarmaßnahmen jedoch dazu, die für eine erfolgreiche Resozialisierung erforderliche Anstaltsordnung und Sicherheit aufrechtzuerhalten und damit die Voraussetzungen eines erzieherisch orientierten Jugendstrafvollzugs zu sichern.258 Deshalb werden sie den Anstaltsbediensteten als sofortige Reaktionsmöglichkeiten an die Hand gegeben.259 Dagegen gibt die Anstalt bei einer Strafanzeige, die als Maßnahme der formellen Disziplinierung ebenso dazu dient, einen funktionsfähigen Strafvollzug aufrechtzuerhalten, darüber hinaus aber die staatliche Strafverfolgung bezweckt, die Verfolgung und Ahndung des Pflichtverstoßes auf253  J.

Walter 1998, S. 9. Walter 1998, S. 190, 201, 204. Es wird auch vorgeschlagen, Disziplinarmaßnahmen abzuschaffen und stattdessen Ombudsmänner einzusetzen, Tondorf 2006, S. 33. 255  M. Walter 2013, S. 838 f. 256  Faber 2014, S. 132; Kühl 2012, S. 238 m. w. N. Beide Autoren bezweifeln zudem eine Vereinbarkeit des Arrests mit den European Rules for Juvenile Offenders Subject to Sanctions or Measures (ERJOSSM). 257  Ostendorf-Rose 2016, § 10 Rn. 7; M. Walter 2013, S. 832, 840. 258  Bornhöfer 2010, S. 237; Ostendorf-Rose 2016, § 10 Rn. 28; J. Walter 1998, S. 39. 259  J. Walter 1998, S. 49. 254  J.

246

D. Die Anzeigepflicht der Anstaltsleitung

grund seiner strafrechtlichen Relevanz aus der Hand. Die anschließend staatlich geführte Strafverfolgung, die entweder zu einer Einstellung, einem Freispruch oder einem gerichtlichen Unwerturteil führt, zielt darauf ab, allgemein anerkannte Rechtsgüter zu schützen und so ein friedliches Zusammenleben aller Bürger zu sichern.260 Nach allen Landesgesetzen können Disziplinarmaßnahmen und eine durch die Anstaltsleitung erstattete Strafanzeige auch nebeneinander angewendet werden.261 Problematisch ist dies insbesondere im Hinblick auf das Doppelbestrafungsverbot aus Art. 103 III GG, da ggf. zwei Mal eine repressive Sanktion verhängt wird. Geht man jedoch mit der gesetzlichen Vorgabe davon aus, dass das Gebot „ne bis in idem“ für Disziplinarmaßnahmen nicht gilt und ein Nebeneinander von Strafe und Disziplinarmaßnahmen aufgrund der unterschiedlichen Zielsetzung möglich ist, so empfiehlt es sich doch, diese nur gleichzeitig anzuwenden, wenn dies unbedingt notwendig ist. In diesem Fall sollte die im Jugendstrafvollzug bereits erfolgte Disziplinierung im Strafverfahren berücksichtigt werden.262 bb) Erzieherisches Gespräch und Maßnahmen der Konfliktregelung Neben den erzieherischen Maßnahmen und den Disziplinarmaßnahmen sehen einige Landesgesetze auch Maßnahmen der positiven Beeinflussung der Jugendstrafgefangenen vor. In erster Linie dient dazu das erzieherische Gespräch, bei dem das Tatgeschehen gemeinsam mit dem Gefangenen mündlich aufgearbeitet wird.263 Ebenso kommen Maßnahmen der Konfliktregelung oder einvernehmlichen Streitbeilegung in Betracht. Dazu gehören insbesondere ausgleichende Handlungen wie eine Entschuldigung, Schadensbeseitigung oder Schadenswiedergutmachung. Im Rahmen der Konfliktregelung wird bspw. in der JSA Berlin sowohl bei sich andeutenden Konflikten als auch nach tatsächlichen verbalen oder körperlichen Auseinandersetzungen zwischen Gefangenen eine „PeerMediation“ durchgeführt. Es handelt sich dabei um ein Verfahren zur konstruktiven Konfliktlösung, bei dem die Konfliktparteien, geführt von gleichrangigen in der Anstalt ausgebildeten Media260  Siehe dazu Kap D. III. 1. Zum Unterschied vom Zweck der Strafe und Zweck der Disziplinarmaßnahme siehe auch Ostendorf-Rose 2016, § 10 Rn. 44 f. 261  §  77 III JVollzGB BW-IV; Art. 156 II i.  V.  m. Art. 109 III BayStVollzG; § 97 VI JStVollzG Bln; § 100 V BbgJVollzG; § 83 IV BremJStVollzG; § 86 IV HmbJStVollzG; § 55 IV HessJStVollzG; § 83 IV JStVollzG M-V; § 94 III i. V. m. § 130 II NJVollzG; § 93  II JStVollzG NRW; § 97  VI LJVollzG RLP; § 83  IV SJStVollzG; § 82  V SächsJStVollzG; § 98  VI JVollzGB LSA; § 83  IV JStVollzG S-H; § 98  VI ThürJVollzGB. 262  So auch J. Walter 1998, S. 166. 263  Ostendorf-Rose 2016, § 10 Rn. 9.



III. Die Strafanzeige im Jugendstrafvollzug247

toren ohne Entscheidungsbefugnis, ihren Streit eigenverantwortlich und einvernehmlich beilegen. Dabei sollen die Jugendlichen dazu befähigt werden, Konflikte selbst zu lösen und Verantwortung für ein geordnetes Zusammenleben zu übernehmen.264 Da das erzieherische Gespräch und Maßnahmen der Konfliktregelung keine repressive Wirkung haben und auf eine positive Beeinflussung der Gefangenen abzielen, erscheint es sinnvoll, die Anwendung dieser Maßnahmen auszuweiten und zudem gesetzlich sicherzustellen.265 Auch im Falle einer Strafanzeige sollte grundsätzlich nicht auf konfliktschlichtende einvernehmliche Maßnahmen verzichtet werden. In manchen Fällen kann eine Strafanzeige allerdings die Durchführung solcher Maßnahmen behindern266 oder andersherum können die Maßnahmen ein als Folge der Strafanzeige laufendes Ermittlungsverfahren gefährden. So ist auch die „PeerMediation“ in der JSA Berlin grundsätzlich ausgeschlossen und darf in keinem Fall vor der Vernehmung der Kontrahenten durch die Ermittlungsbehörden stattfinden, wenn bezüglich der Auseinandersetzung Strafanzeige gestellt wurde.267 f) Abwägung der Implikationen Eine durch die Anstaltsleitung gestellte Strafanzeige beeinflusst den Resozialisierungsprozess der Gefangenen auf unterschiedliche Weise. Ebenso spielt die Anzeigepraxis auch eine Rolle für den Schutz der Allgemeinheit, hier in erster Linie bei der Gewährleistung der Sicherheit im Jugendstrafvollzug und des Schutzes der einzelnen Gefangenen sowie der Aufrechterhaltung der Anstaltsordnung. Damit wird bei der Entscheidung für oder gegen eine Strafanzeige im Einzelfall die jeweilige landesrechtliche Ausrichtung des Jugendstrafvollzugs – also das Vollzugsziel als Leitmotiv sowohl bei der allgemeinen Gestaltung als auch bei allen anderen Einzelentscheidungen268 – von Bedeutung sein. Je nachdem, ob der Schwerpunkt bei der Resozialisierung der Jugendstrafgefangenen oder beim Schutz der Allgemeinheit gesetzt wird, werden unterschiedliche Aspekte bei der Entscheidungsfindung aus264  Dienstanweisung des Anstaltsleiters vom 23.09.2013, Nr. 4 / 13. Eine Evaluation des Projekts, bei der eine Erhöhung der sozialen Kompetenzen, Veränderungen im Selbstbild und in den Einstellungen im Umgang mit Konflikten sowie beim Verhalten in Konfliktsituationen festgestellt wurden, findet sich in Karliczek 2015. 265  Forderungen nach einvernehmlicher wiedergutmachender Konfliktlösung finden sich u. a. auch bei Dünkel 2006a, S. 564, 567; Dünkel 1999, S. 134; Eisenberg 2008, S. 258; J. Walter 2006b, S. 253. 266  Bspw. aufgrund des im Ermittlungsverfahren geltenden „nemo-tenetur-Grundsatzes“, siehe dazu Kap. D. III. 2. a) aa). 267  Dienstanweisung des Anstaltsleiters vom 23.09.2013, Nr. 4 / 13, S. 3. 268  Bornhöfer 2010, S. 133; Goerdeler / Pollähne 2007, S. 60.

248

D. Die Anzeigepflicht der Anstaltsleitung

schlaggebend sein. Da es sich bei der Resozialisierung jedoch auch nach Vorgabe des BVerfG um die verfassungsrechtlich gebotene Zielsetzung des Jugendstrafvollzugs handeln muss,269 sollte ihre Berücksichtigung auch bei der Entscheidung, ob und wann Strafanzeige gestellt werden sollte, Vorrang eingeräumt werden. Da die Strafanzeige ein Ermittlungsverfahren auslöst, das die weitere Vollzugsplanung behindert, Unsicherheiten im weiteren Planungsverlauf entstehen lässt, Lockerungen und eine vorzeitige Entlassung in den meisten Fällen, unabhängig von der Art und Schwere der Tat, sperrt und zudem die Durchführung einzelner auf Resozialisierung ausgerichteter Behandlungsmaßnahmen und -programme einschränkt oder gar ausschließt,270 ist es kaum sinnvoll, jeden strafrechtlich relevanten Sachverhalt auch mit den Mitteln des Strafrechts zu verfolgen. Andernfalls könnte bereits eine unüberlegte und abfällige Äußerung gegenüber Mitgefangenen oder Bediensteten (Beleidigung nach § 185 StGB) unverhältnismäßige Folgen für den weiteren Vollzugsverlauf mit sich bringen.271 Gegen eine Strafanzeige bei geringfügigeren Straftaten sprechen zudem auch der hohe Aufwand und die hohen Kosten, die durch ein Strafverfahren entstehen und die zu der meist nur geringen Straferhöhung, wenn das Verfahren nicht sowieso eingestellt wird, außer Verhältnis stehen.272 Fehlt es bei Straftaten von Jugendstrafgefangenen jedoch auf Seiten der Anstalt völlig an einer Reaktion, sind durchaus auch negative Auswirkungen im Resozialisierungsprozess, insbesondere im Hinblick auf eine Prisonisierung und einzelne Prisonisierungseffekte, erkennbar. So vermittelt eine fehlende Reaktion auf Straftaten deren Akzeptanz; es findet eine Bagatellisierung der Tat bzw. eine Geringschätzung der betroffenen Interessen statt. Dabei ist die Übernahme solcher Einstellungen und der entsprechenden Verhaltenstendenzen nicht auszuschließen.273 Im Jugendstrafvollzug sollen aber gerade gesetzeskonforme Einstellungen und Werte vermittelt und rechtmäßige Verhaltensweisen erlernt werden.274 Auch die Sicherheit und Ordnung inner269  Kap. B.

III. 2. a). dazu Kap. D. III. 2. a) aa). 271  So auch J. Walter 1998, S. 12 ff. mit einer Reihe von weiteren für den Jugendstrafvollzug alltäglichen Beispielen, die strafrechtliche Relevanz aufweisen. Auch nach Ritz 1984, S. 31 ist die Anzeige einer Straftat mit dem Ziel eines neuen Strafverfahrens kaum im Sinne eines Resozialisierungsvollzugs. 272  J. Walter 1998, S. 173. Siehe zu der Anzahl der Fälle, in denen es überhaupt zu einer neuen Verurteilung kommt Ritz 1984, S. 95 f.; J. Walter 1998, S. 171 ff.; Wirth 2006, S. 21, aber auch Kap. E. II. 4. a). 273  Ritz 1984, S. 256 ff.; S. Ernst 2008a, S. 322 gehen von einer solchen Übernahme aus. 274  Hosser / Bosold 2008a, S. 130; Hosser / Bosold 2008b, S. 165. 270  Ausführlich



III. Die Strafanzeige im Jugendstrafvollzug249

halb des Jugendstrafvollzugs sind weitere Faktoren im Resozialisierungsprozess der Jugendstrafgefangenen. So fördert ein Mangel an Sicherheit und die damit verbundene Angst der Gefangenen vor gegen sie gerichteten Straftaten, die Abhängigkeit von Mitgefangenen sowie die Bildung eigener subkultureller Regeln. Auch diese Regeln werden von den Jugendstrafgefangenen übernommen und verfestigen sich im weiteren Verlauf des Anpassungsprozesses.275 Außerdem kann bei fehlender Reaktion besonders im Falle von Straftaten unter Gefangenen der Selbstwert beeinflusst werden und auf Seiten des Opfers Wut, Hilflosigkeit, Angst und Erniedrigung entstehen.276 Daneben ist jedoch auch zu berücksichtigen, dass eine hohe Kontrolldichte die mit einer Inhaftierung ohnehin verbundenen Deprivationen, die eine Prisonisierung wiederum begünstigen, vermehrt.277 Diesen schädlichen Auswirkungen der Inhaftierung, also den einzelnen Prisonisierungseffekten und Deprivationen sowie der Subkulturbildung, ist bei der Vollzugsgestaltung entgegenzuwirken.278 Bei der Entscheidung, ob eine Reaktion und vor allem welche sinnvoll ist, sollten daher mit Blick auf den Resozialisierungsprozess des Einzelnen die besondere Situation der Gefangenen, die mit der Inhaftierung verbundenen Deprivationen sowie die Prisonisierung beachtet werden. In diesem Zusammenhang ist auch der Angleichungsgrundsatz von Bedeutung, nach dem die Vollzugsgestaltung an die allgemeinen Lebensverhältnisse anzugleichen ist.279 Bei der Entscheidungsfindung zum Stellen einer Strafanzeige ist also zu beachten, dass im Jugendstrafvollzug eine starke Kontrolldichte herrscht und über viele Fälle entschieden werden muss, die in Freiheit meist unentdeckt und damit auch ungeahndet bleiben.280 Als Reaktionsmöglichkeiten kommen dabei neben der Strafanzeige und der damit verbundenen Strafverfolgung auch anstaltsinterne erzieherische Maßnahmen, Disziplinarmaßnahmen sowie Maßnahmen der Konfliktregelung oder ein einfaches erzieherisches Gespräch in Betracht. Gerade die anstaltsinternen Maßnahmen haben unmittelbar vollzugsgestaltende Wirkung. So sollen erzieherische Maßnahmen und Disziplinarmaßnahmen die Anstaltsordnung aufrechterhalten und die besonderen Anstaltsregeln auch im Gegensatz zu subkulturellen Regeln durchsetzen. Das erzieherische Gespräch sowie 275  Sykes

1958, S. 63 ff. Zum Prisonisierungsprozess siehe auch Kap. B. II. 4. 2012, S. 16 f.; Ritz 1984, S. 227; Weis 1975, S. 128. 277  Siehe dazu Kap. B. II. 4. b). 278  Zum Gegenwirkungsgrundsatz siehe Kap. B. III. 4. 279  Zum Angleichungsgrundsatz siehe Kap. B. III. 4. 280  J. Walter 2010, S. 58 f. Im Vollzug greift daher die „Präventivwirkung des Nichtwissens“, wonach „eine Gesellschaft, die jede Verhaltensabweichung aufdeckte, […] zugleich die Geltung ihrer Normen ruinieren [würde]“ und „die Strafe […] ihre soziale Wirksamkeit nur bewahren [kann], solange die Mehrheit nicht bekommt, was sie verdient“ (Popitz 1968, S. 9, 20), gerade nicht. 276  Bieneck / Pfeiffer

250

D. Die Anzeigepflicht der Anstaltsleitung

Maßnahmen der Konfliktregelung sollen zudem durch erzieherische Einwirkung auf die Gefangene oder den Gefangenen Werte vermitteln und gesetzeskonforme Einstellungen festigen. Anstaltsinterne Maßnahmen sind schneller und flexibler einsetzbar und in ihren Folgen besser vorhersehbar als die Strafanzeige, bei der der Ausgang des sich anschließenden Ermittlungsverfahrens meist unsicher ist.281 Die Strafanzeige unterscheidet sich von den anstaltsinternen Maßnahmen in ihrer Zielsetzung. Sie dient nicht nur der Aufrechterhaltung der Anstaltsordnung, sondern auch der Herbeiführung eines Strafverfahrens und damit dem Schutz allgemein anerkannter Rechtsgüter, um ein friedliches gesellschaftliches Zusammenleben zu gewährleisten. Dieser Rechtsgüterschutz muss auch innerhalb des Strafvollzugs aufrechterhalten werden, der Staat muss auch hier seinem Auftrag zum Schutz seiner Bürgerinnen und Bürger, auch vor Dritten,282 nachkommen. Auch die Anstalt als staatliche Institution trägt insoweit eine Schutzpflicht gegenüber ihren Gefangenen.283 Auf diesen Schutz in Form einer wirksamen Ahndung von Straftaten darf gerade bei Taten mit schweren Folgen oder bei sich ständig wiederholender Tatbegehung nicht verzichtet werden.284 In solchen Fällen spricht zudem gerade das erhöhte Maß an Schuld für eine strafrechtliche Verfolgung der Tat. Auch ist eine staatliche Strafverfolgung mit ggf. anschließendem Unwerturteil nicht nur notwendig, um mit der Täterin oder dem Täter tadelnd zu kommunizieren, sondern auch, um dem Opfer gerade im vollzuglichen Kontext bei schweren Straftaten unter Gefangen zu bestätigen, dass ihm Unrecht getan wurde und seine Rechtsgüter und Interessen auch hier Schutz erfahren.285 Auch bei ungeklärten Sachverhalten, bei denen zur Aufklärung gelegentlich Strafanzeige gestellt wird,286 sollte es bei der Entscheidung zur Strafanzeige letztlich auf die Schwere der Tat ankommen. Zusammenfassend sollte die Strafanzeige als Reaktion der Anstaltsleitung mit Blick auf ihre starke Beeinflussung des weiteren Vollzugsverlaufs und damit des Resozialisierungsprozesses mit Bedacht und Zurückhaltung eingesetzt werden. Insoweit muss auch hier der ultima-ratio-Charakter des Straf281  J.

Walter 1998, S. 198. Schutzpflichten ergeben sich aus den Grundrechten, siehe bspw. BVerfGE 88, 203 (250 ff.). 283  So auch BVerfGE 116, 69 (89 f.). 284  Vgl. BVerfG EuGRZ 2010, 145 (147), das erst bei einem zu erwartenden „Klima der Rechtsunsicherheit und Gewalt“ oder einer individuellen „Gefahrenlage für Leben und Gesundheit“ aus der Schutzpflicht einen subjektiven Anspruch auf Einschreiten des Staates in Form einer wirksamen Ahndung von Gewaltverbrechen ableitet. 285  In diesem Sinne Hörnle 2011a, S. 15 f.; Hörnle 2011c, S. 39 f. zum Zweck der Androhung und Verhängung von Strafe. 286  Goeckenjan 2009, S. 712; Wirth 2006, S. 8 Fn. 5. 282  Diese



III. Die Strafanzeige im Jugendstrafvollzug251

rechts gelten. Da eine erzieherische Einflussnahme, die Vermittlung von gesetzeskonformen Verhaltensweisen und ein Entgegenwirken bei der Prisonisierung meist besser durch vollzugsgestaltende anstaltsinterne Maßnahmen zu erreichen ist, ist eine Strafanzeige nur erforderlich, wenn ein Strafverfahren für den Schutz allgemein anerkannter Rechtsgüter und damit verbunden für die Aufrechterhaltung eines funktionsfähigen Strafvollzugs unerlässlich ist. Dies ist grundsätzlich nur bei Straftaten mit schweren Folgen oder bei wiederholter Tatbegehung der Fall. Bei allen anderen Taten reichen die weniger eingriffsintensiven anstaltsinternen Maßnahmen, vorrangig die Maßnahmen zur Konfliktregelung, aus, um einerseits die Anstaltsordnung aufrechtzuerhalten und andererseits die Jugendstrafanstalt nicht zu einem rechtsfreien Raum werden zu lassen und den Schutz der Gefangenen zu gewährleisten. 3. Erfordernis einer verpflichtenden Regelung? Da der Resozialisierungs- und Prisonisierungsprozess bei jeder bzw. jedem Jugendstrafgefangenen unterschiedlich verläuft, ist die Auswahl der Reaktion und insbesondere die Strafanzeige als Mittel, um eine Strafverfolgung in Gang zu setzen, „kontextsensitiv“287 zu handhaben. Ob eine Strafanzeige und damit eine staatliche Strafverfolgung bspw. aufgrund der Schwere der Tat angebracht sind oder auf sie wegen ihrer negativen Auswirkungen auf den Resozialisierungsprozess der Täterin bzw. des Täters besser verzichtet werden sollte, ist abhängig vom Einzelfall zu beurteilen. Eine Regelung, die die Anstaltsleitung abschließend verpflichtet, in bestimmten Fällen oder gar immer Strafanzeige zu stellen, ist daher problematisch, da sie der Anstaltsleitung keine Flexibilität einräumt. Besonders wichtig für den Resozialisierungsprozess und die Glaubwürdigkeit und Legitimierung einer Anstalt ist jedoch auch, dass die Reaktionen der Anstaltsleitung bzw. der Vollzugsverwaltung die nötige Balance bei der Durchsetzung von Regeln und der Ausübung von Autorität aufweisen („policing“)288 und von den Gefangenen als gerecht und fair empfunden werden.289 Dafür ist auch von Bedeutung, dass die Reaktionen für die Jugendstrafgefangenen vorhersehbar sind. Nur wenn die Jugendstrafgefangenen auf ein bestimmtes Verhalten bzw. eine bestimmte Reaktion der Vollzugsver287  J. Walter 1998, S. 12. Anders S. Ernst 2008a, S. 322, die trotz ihrer Ergebnisse, die weniger Straftaten zeigten, wenn keine Strafanzeige erstattet wurde, eine „automatische Anzeigeerstattung“ (auch zusätzlich zu disziplinarischen Konsequenzen) in der vollzuglichen Praxis befürwortet. 288  Liebling / Hulley / Crewe 2012, S. 369. 289  Dazu Liebling 2009, S. 15; Liebling / Arnold 2004, S. 134, 154 f.; Liebling u. a. 2005, S.  210 ff.; Sparks / Bottoms / Hay 1996, S. 84 ff.; Sparks / Bottoms 2008, S. 103.

252

D. Die Anzeigepflicht der Anstaltsleitung

waltung vertrauen können, können sie ihr eigenes Verhalten auch danach ausrichten. Wichtig ist insbesondere, dass dieselben Reaktionen auch einheitlich gegenüber allen Jugendstrafgefangenen in vergleichbarer Situation erfolgen. Nur so können die Jugendstrafgefangenen die Anzeigepraxis als fair wahrnehmen und Vertrauen entwickeln. Relevant ist zudem, dass die angezeigte Straftat anschließend auch ernsthaft verfolgt wird.290 Eine Regelung erscheint insbesondere dann erforderlich, wenn das Anzeigeverhalten abhängig von der jeweiligen Anstaltsleitung (sog. Anstaltsleitereffekt) deutlich variiert.291 Auch Rechtsunsicherheit auf Seiten der Anstaltsleitung,292 in welchen Fällen Strafanzeige erstattet werden muss, spräche für das Erfordernis einer Regelung.

IV. Zusammenfassung Die Strafanzeige ist das Mittel der Anstaltsleitung, eine Strafverfolgung in Gang zu setzen. Sie dient damit jedenfalls mittelbar auch der Durchsetzung des Strafrechts, dessen Aufgabe es ist, ein geordnetes und friedliches Zusammenleben in der Gesellschaft durch Rechtsgüterschutz zu gewährleisten. Die Strafanzeige muss im Kontext des Jugendstrafvollzugs jedoch noch weitere Funktionen erfüllen. Sie muss sich in das System des Jugendstrafvollzugs eingliedern und seine Zielsetzung möglichst fördern. Allerdings wird durch die Strafanzeige und das sich daran anschließende Ermittlungsverfahren der Resozialisierungsprozess häufig behindert: So sind Lockerungen und eine vorzeitige Entlassung meist, auch unabhängig von der Art und Schwere der Tat, ausgeschlossen. Die Durchführung und Teilnahme an Behandlungsprogrammen ist beschränkt, da entweder eine Tataufarbeitung aufgrund des nemo-tenetur-Grundsatzes der bzw. des Jugendstrafgefangenen ausscheidet, bestimmte Maßnahmen wegen der Gefährdung der Ermittlungen nicht stattfinden können oder die bzw. der Jugendstrafgefangene aufgrund ihres bzw. seines bisherigen Verhaltens im Vollzug für diese sowieso nicht ausgewählt wird. Zudem birgt die weitere Vollzugsplanung Unsicherheiten 290  In der Untersuchung von J. Walter 1998, S. 171 ff. kam es nur in 30 % der angezeigten Fälle zu einer Anklageerhebung oder dem Erlass eines Strafbefehls. Wirth 2006, S. 21 stellte fest, dass von insgesamt 154 Strafanzeigen 32 Verfahren eingestellt, bei 33 Anklage erhoben wurde und es nur bei 19 zu einer in den Akten registrierten Verurteilung kam. Bei Ritz 1984, S. 195 f. kam es dagegen nur in 30 % der 143 angezeigten Fälle zu einer Einstellung des Verfahrens. 291  J. Walter 1998, S. 165 ff. In seiner Untersuchung zeigte sich ein sehr unterschiedliches Anzeigeverhalten in der JVA Adelsheim in den  Jahren 1982 und 1993, das J. Walter auf ein unterschiedliches Definitionsverhalten der Anstaltsleitungen zurückführte. 292  So J. Walter 1998, S. 157 f.; AK-Walter 2017, § 86 Rn. 33.



IV. Zusammenfassung253

und wird dadurch behindert, dass ein voraussichtlicher Entlassungszeitpunkt nicht ermittelt werden kann und die Gewährung von Lockerungen oder die Teilnahme an anderen Behandlungsmaßnahmen ohnehin ausscheidet. All dies spricht für eine sehr zurückhaltende Anzeigepraxis im Jugendstrafvollzug; insbesondere bei geringfügigen Straftaten wäre die resozialisierungsbehindernde Wirkung unverhältnismäßig. Dagegen darf in einer Jugendstrafanstalt aber auch in dem Sinne kein rechtsfreier Raum entstehen, dass hier die Rechtsgüter und Interessen anderer Personen, unabhängig davon, ob es sich um Mitgefangene, Bedienstete oder andere Anstaltsinteressen handelt, keinen Schutz erfahren. Gerade bei schweren Taten würde dies eine Bagatellisierung des Geschehens und eine Geringschätzung der Opferinteressen bedeuten. Es wird bei einer fehlenden Reaktion nicht nur Akzeptanz hinsichtlich des fraglichen Verhaltens vermittelt, sondern Normen verlieren ihren Wert, wenn auch bei schwersten oder sich wiederholenden Verstößen keine staatliche Reaktion in Form einer strafrechtlichen Aufarbeitung folgt. Letztendlich müssen bei der Entscheidung für oder gegen eine Strafanzeige im Einzelfall alle die Resozialisierung betreffenden Faktoren, die Anstaltsordnung, Opferinteressen sowie Gesichtspunkte des Schutzes der Gefangenen unter Berücksichtigung anderer vollzugsspezifischer Aspekte wie der erhöhten Kontrolldichte, der verschiedenen Deprivationen und der gerade im Jugendstrafvollzug herrschenden Hierarchien gegeneinander abgewogen werden. Grundsätzlich ergibt sich daraus, dass eine Strafanzeige nur bei schweren oder sich oft wiederholenden Taten sinnvoll ist und mit starker Zurückhaltung eingesetzt werden sollte. Ob zur Sicherung dieser Abwägung, auch unter dem Aspekt, dass die betroffenen Personen auf bestimmte Reak­ tionen vertrauen können, eine Regelung erforderlich ist, wird im weiteren Verlauf der Arbeit noch behandelt werden.

E. Die Handhabung in der Praxis In diesem Abschnitt wird der Umgang mit strafrechtlich relevanten Vorkommnissen in der Praxis des Jugendstrafvollzugs in Deutschland untersucht. Zu diesem Zweck wurde in der JSA Berlin und in der JVA Wriezen eine Aktenanalyse und zudem eine schriftliche Befragung aller Anstaltsleitungen von Jugendstrafanstalten in Deutschland durchgeführt, deren Ergebnisse im Folgenden erörtert werden. Ziel der Untersuchung ist es, aus dem Umgang der Vollzugsverwaltung mit Straftaten und insbesondere der Anzeigepraxis der Anstaltsleitung Schlüsse für die Frage ziehen zu können, ob eine Regelung zur Strafanzeige bei Straftaten im Jugendstrafvollzug erforderlich ist und wie eine solche Regelung gegebenenfalls aussehen sollte. Dafür werden die Anzeigepraxis, deren Zielsetzung, mit ihr einhergehende Auswirkungen und die Entwicklung des weiteren Verfahrens untersucht. Zudem wird die Anzeigepraxis hinsichtlich bestehender Zusammenhänge mit der Anzahl, der Art und den Umständen der Straftaten analysiert. Außerdem wird ein Blick auf die Handlungsalternativen und die Kombination von Maßnahmen geworfen. Zunächst beginnt der Abschnitt mit der Methodik der Untersuchung (1.), anschließend werden die Ergebnisse der Aktenanalyse (2.) und der schrift­ lichen Befragung (3.) dargestellt, um schließlich aus den übergreifenden Befunden ein Fazit (4.) hinsichtlich einer Regelung ziehen zu können.

I. Methode Um Straftaten in der Praxis des Jugendstrafvollzugs und insbesondere den Umgang damit zu untersuchen, wurden zwei verschiedene Erhebungsmethoden gewählt: eine Aktenanalyse in den Jugendstrafanstalten JSA Berlin und JVA Wriezen in Brandenburg sowie eine schriftliche Befragung aller Anstaltsleiter und Anstaltsleiterinnen von Jugendstrafanstalten in Deutschland. Während die Aktenanalyse dazu diente, Anzahl, Art und Umstände von im Jugendstrafvollzug begangenen Straftaten festzustellen und den tatsächlichen Umgang damit im Hinblick auf Disziplinarmaßnahmen und Strafanzeigen zu ermitteln, sollte durch die schriftliche Befragung neben dem Umgang der Anstaltsleitung mit bestimmten Verhaltensweisen auch erfasst werden, welche Ziele mit einer Strafanzeige verfolgt werden und in welchen Fällen die Anstaltsleitung eine Strafanzeige für sinnvoll hält.



I. Methode255

1. Aktenanalyse Bei der Aktenanalyse in der JSA Berlin und der JVA Wriezen handelt es sich um eine Hellfelduntersuchung, bei der Anzahl, Art und Umstände von strafrechtlich relevanten Taten, die in einem bestimmten Zeitraum von Jugendstrafgefangenen im Vollzug begangen wurden und in bestimmten Datenquellen erfasst sind, ermittelt wurden. Als Untersuchungszeitraum wurde das Jahr 2012 (01.01.–31.12.2012) gewählt. Datenquellen waren das Disziplinarbuch und die in den Anstalten vorhandenen Verzeichnisse aller gestellten Strafanzeigen und aller der Aufsichtsbehörde1 berichteten außerordent­ lichen Vorkommnisse. Als weitere Informationsquelle zu den sich aus den genannten Datenquellen ergebenden Fällen wurde in der JSA Berlin die Liste aller im relevanten Zeitraum ergangenen dienstlichen Meldungen hinzugezogen. In der JVA Wriezen gab es eine solche gesammelte Auflistung nicht. Die einzelnen Fälle wurden je Täter erhoben. Ein Fall liegt somit vor, wenn im Rahmen eines strafrechtlich relevanten Vorfalls gegen einen Jugendstrafgefangenen eine Disziplinarmaßnahme verhängt, eine Strafanzeige gestellt und / oder der Aufsichtsbehörde berichtet wurde. Bei drei an einem Vorfall beteiligten Tätern gibt es demnach auch drei Fälle. Kommt bei einer Handlung durch einen Gefangenen die Verwirklichung mehrerer Delikte in Betracht, so wurde jedoch nur das nach der Strafandrohung des StGB schwerste Delikt erfasst. Bei der Ermittlung der Fälle geht es ausschließlich um die mögliche strafrechtliche Relevanz der entsprechenden Handlung, also darum ob ein Verstoß gegen ein Strafgesetz in Betracht kommt. Ob diese Einstufung im Einzelfall einer gerichtlichen Überprüfung standhielte, ist dabei unerheblich. Die Daten wurden mit SPSS (Version 22) verarbeitet und mit Methoden der deskriptiven Statistik, vor allem Häufigkeitsverteilungen, ausgewertet. 2. Schriftliche Befragung Zur Ermittlung des allgemeinen Umgangs der Anstaltsleitungen mit strafrechtlich relevanten Vorkommnissen im Jugendstrafvollzug, der speziell mit einer Strafanzeige verfolgten Ziele sowie einzelner Auswirkungen einer Strafanzeige wurde eine schriftliche Befragung aller Anstaltsleiter und Anstaltsleiterinnen von Justizvollzugsanstalten durchgeführt, in denen Gefangene eine Jugendstrafe oder eine Freiheitsstrafe nach § 114 JGG verbüßen. Der Fragebogen entspricht in Teilen dem von J. Walter erstellten und bei seiner Untersuchung der formellen Disziplinierung im Jugendstrafvollzug 1  Nach

AV zu § 101 JStVollzG Bln bzw. gemäß Nr. 103 Abs. 7 der VVJug Bbg.

256

E. Die Handhabung in der Praxis

aus 1998 verwendeten Fragebogen.2 Nachdem im ersten Teil des Fragebogens allgemeine Daten zur Person und Anstalt erhoben werden, wird im zweiten Teil der Umgang mit strafrechtlich relevanten Vorkommnissen anhand von 15 beispielhaften Disziplinarfällen abgefragt. Diese Disziplinarfälle wurden dem Fragebogen von J. Walter entnommen, wobei jedoch nur solche Fälle verwendet wurden, die strafrechtliche Relevanz haben. Zudem wurden Antwortmöglichkeiten formuliert, um das Ausfüllen zu erleichtern. Hinzugefügt wurden einige Fragen zur Anzeigepraxis, insbesondere ob bestimmte Umstände wie Alter, Art der Verurteilung oder die Länge der zu verbüßenden Strafe die Anzeigepraxis beeinflussen. Im dritten Teil wurde entsprechend der Befragung von J. Walter nach den verfolgten Zielen, allerdings nur hinsichtlich einer Strafanzeige sowie nach der erwarteten Eignung zur Zielerreichung gefragt. Außerdem enthält der dritte Abschnitt Fragen zu einzelnen Auswirkungen, die mit einer Strafanzeige einhergehen können. Schließlich werden im letzten Teil des Fragebogens die Anstaltsleiter und Anstaltsleiterinnen nach ihrer Meinung hinsichtlich einer Regelung zur Strafanzeige bei im Jugendstrafvollzug begangenen Straftaten befragt. Die erhobenen Daten wurden ebenfalls mit SPSS (Version 22) ausgewertet. 3. Vorabtestung der Erhebungsinstrumente Um den Erhebungsbogen für die Aktenanalyse zu testen und den in den Anstalten vorhandenen Daten- und Informationsquellen anzupassen, wurde in der JVA Wriezen das Datenmaterial gesichtet und in der JSA Berlin zudem ein Pretest durchgeführt. Ursprünglich geplant war eine Erhebung aller in den Jugendstrafanstalten aktenkundigen strafrechtlich relevanten Vorkommnisse. Durch die Begrenzung der Datenquellen auf das Disziplinarbuch sowie die in der JSA vorhandenen Ordner aller durch die JSA gestellten Strafanzeigen und der Aufsichtsbehörde gemeldeten außerordentlichen Vorkommnisse als Datenquellen können jedoch nicht alle diese Fälle erfasst werden. Die Liste aller dienstlichen Meldungen zeigt, dass es auch bei strafrechtlich relevanten Fällen wie beispielsweise körperlichen oder verbalen Auseinandersetzungen zwischen Mitgefangenen häufig lediglich zu einer Erziehungsmaßnahme, Mediation o. ä. kommt, sodass diese Fälle in den verwendeten Datenquellen nicht aufgeführt sind. Von der ursprünglich geplanten Vorgehensweise, auch all die Fälle zu erheben, die sich aus der Liste der dienstlichen Meldungen ergeben, wurde jedoch abgesehen. Zum einen gibt es eine solche Liste in der JVA Wriezen nicht und zum anderen lässt sich aus dieser Liste die strafrechtliche Relevanz des Vorfalls häufig nicht erkennen (z. B. „unangemessenes Verhalten gegenüber Bediensteten“, „aggressives Verhalten ge2  Zur

Beschreibung dieser Untersuchung siehe Kap. D. I. 1. a).



I. Methode257

genüber Bediensteten“). Darüber hinaus bleibt hier die konkrete Tatbeteiligung Einzelner (ob ein strafrechtlich relevanter Tatbeitrag vorliegt) trotz Nennung aller am Vorfall beteiligten Gefangenen oft unklar. Da sich bereits in den verwendeten Datenquellen (Disziplinarbuch, gestellte Strafanzeigen, Berichte an die Aufsichtsbehörde) ausreichend Fälle für eine statistische Auswertung finden und die Untersuchung insbesondere Erkenntnisse über Anzahl und Art der „angezeigten“ Fälle und deren Ausgang liefern soll (ein Vergleich mit den nicht angezeigten Disziplinarfällen genügt dafür), wird die Untersuchung auf die genannten drei Datenquellen beschränkt. Der Erhebungsbogen wurde entsprechend angepasst. Auch der Fragebogen für die schriftliche Befragung der Anstaltsleiter und Anstaltsleiterinnen wurde im Hinblick auf Verständnis und zeitlichen Aufwand von vier verschiedenen Personen getestet. Zudem wurde der Fragebogen im Rahmen einer Vorstellung des Promotionsprojekts im Juni 2013 bei der Fachtagung des Norddeutschen Kriminologischen Gesprächskreises (NORDKRIM) zur Diskussion gestellt und anschließend entsprechende Änderungen vorgenommen. Beispielsweise wurden vermehrt offene Antwortmöglichkeiten in den Fragebogen aufgenommen, um den Anstaltsleitungen Raum für zusätzliche Aspekte und eigene Anregungen zu geben. 4. Vorgehensweise Die Aktenanalyse in Berlin und Brandenburg sowie die schriftliche Befragung der Anstaltsleitungen in allen Bundesländern musste von den jeweiligen Landesjustizministerien genehmigt werden. Nach den im Juli 2013 gestellten Anträgen auf Genehmigung haben alle Bundesländer die Untersuchung bis zum März 2014 genehmigt. In Bezug auf die Aktenanalyse wurde der Prestest in der JSA Berlin im März / April 2014 durchgeführt. Nach einigen anschließenden Veränderungen am Erhebungsbogen wie der Anpassung an die Datenquellen und nach Durchsicht der Auswertung des Prestests durch den Kriminologischen Dienst Berlin konnte dann im November 2014 die Hauptuntersuchung in der JSA Berlin und der JVA Wriezen stattfinden. Die schriftliche Befragung aller Anstaltsleiter und Anstaltsleiterinnen von Jugendstrafanstalten in Deutschland fand durch Versendung des Fragebogens nach Eingang der Genehmigungen der jeweiligen Bundesländer zwischen Oktober 2013 und März 2014 statt. Insgesamt wurden 38 Fragebögen versandt. Zwei entsprechende Erinnerungen an die Anstalten wurden gesammelt im Juni und Oktober 2014 verschickt. Bis zum 31. Dezember 2014 wurden 32 ausgefüllte Fragebögen zurückgeschickt und anschließend ausgewertet. Von drei Anstalten lag zudem ein Schreiben vor, dass die Anstaltsleitung aus

258

E. Die Handhabung in der Praxis

unterschiedlichen Gründen wie von den Richtlinien des Justizministeriums abweichende Vorstellungen hinsichtlich der richtigen Anzeigepraxis oder personelle Engpässe nicht an der Befragung teilnehmen möchte. Von den übrigen drei Anstaltsleitern oder Anstaltsleiterinnen gab es keine Rückmeldung. 5. Probleme bei der Durchführung Bereits in den Genehmigungsanträgen an die zuständigen Justizministerien oder Kriminologischen Dienste wurde angefragt, ob und wie die Anzeigepflicht der Anstaltsleitung in den jeweiligen Bundesländern geregelt ist und gebeten, eventuell vorhandene VV oder Anordnungen der Aufsichtsbehörde zuzusenden. Nur zwei Bundesländer sind dieser Bitte nachgekommen. Aufgrund des geringen Rücklaufs wurde erneut im Anschreiben des Fragebogens an die Anstaltsleitungen nach einer „Regelung“ der Anzeigepflicht gefragt. Zu dieser Frage haben insgesamt zehn Anstaltsleitungen entweder als ­Anmerkung im Fragebogen oder separat Angaben gemacht. In zwei Fällen wurde die genaue Erlasslage beschrieben, vier Mal wurde angegeben, dass bei allen Straftaten oder dem Verdacht einer solchen Anzeige erstattet werden muss, einmal wurde mitgeteilt, dass die Anzeigepflicht im Erlasswege, ohne genauere Angabe, geregelt ist und einmal, dass es keine solche Regelung gibt. In weiteren zwei Fällen wurde auf die jeweiligen Verwaltungsvorschriften verwiesen, in denen sich jedoch nur Vorgaben dazu finden, welche „besonderen Vorkommnisse“ der Aufsichtsbehörde gemeldet werden müssen. Damit konnte leider bei sieben Bundesländern nicht ermittelt werden, ob es eine Regelung für das Stellen einer Strafanzeige bei im Vollzug begangenen Straftaten gibt. Bei der Aktenanalyse ergaben sich in einigen Fällen Schwierigkeiten bei der Zuordnung zu den Deliktsgruppen. So erwies sich die juristische Bestimmung des in Frage kommenden Tatbestandes aus dem StGB häufig als problematisch, da entweder die laienhafte Nennung der Tat im Disziplinarbuch nicht mit dem eigentlich schwersten verwirklichten Delikt übereinstimmte oder der eigentlich relevante Tatvorwurf aus der Bezeichnung bzw. Beschreibung schwer erkennbar war. Bspw. wurde ein Fall, bei dem sich ein Gefangener die Zahnbürste eines anderen in den After steckte und anderen Gefangenen präsentierte, mangels sexuellen Bezugs3 lediglich als reine Sachbeschädigung eingestuft, obwohl unter der Bezeichnung „unsittliches Verhalten“ 3  § 183a StGB (Erregung öffentlichen Ärgernisses): Wer öffentlich sexuelle Handlungen vornimmt und dadurch absichtlich oder wissentlich ein Ärgernis erregt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft, wenn die Tat nicht in § 183 mit Strafe bedroht ist.



I. Methode259

sogar Strafanzeige durch die Anstalt gestellt wurde. Im Gegensatz dazu wurde ein weiterer Fall, der nur eine Disziplinarmaßnahme mit sich brachte, deshalb allein im Disziplinarbuch auftauchte und dort als „sexuelle Anzüglichkeiten“ bezeichnet wurde, wegen des Verdachts auf § 183 oder § 183a StGB in die Kategorie der Sexualdelikte eingeordnet. War jedoch kein strafrechtlich relevanter Verdacht erkennbar, wie bspw. bei der Bezeichnung „unangemessenes Verhalten gegenüber Bediensteten“, wurde der Disziplinarfall auch nicht in den Datensatz aufgenommen. Zudem war häufig schwer feststellbar, ob eine Körperverletzung im Zusammenhang mit oder aufgrund einer Wegnahme von Sachen begangen wurde und die Tat deshalb der Deliktsgruppe Raub / Erpressung zugeordnet werden müsste. Wenn sich ein Zusammenhang mit Sachen, z. B. „wollte Einkauf haben“, aus den Akten ergab, auch wenn unklar blieb, ob die exakten rechtlichen Voraussetzungen dieser Delikte verwirklicht wurden, wurde die Tat der Deliktsgruppe Raub / Erpressung mit der nach dem StGB höheren Strafandrohung zugeordnet. Ebenso finden sich Überschneidungen beim Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte (§ 113 StGB) und den Körperverletzungsdelikten gegen Bedienstete. Auch hier wurde sich grundsätzlich für eine Körperverletzung als das schwerere Delikt entschieden, es sei denn, aus den Akten war eine konkret körperverletzende Handlung nicht ersichtlich, sondern die Tat wurde einfach mit „Widerstand gegen Bedienstete“ o. ä. bezeichnet. Die schriftliche Befragung sollte unabhängig von der Aufsichtsbehörde stattfinden. In einem Bundesland hat die Aufsichtsbehörde jedoch darauf bestanden, dass die ausfüllten Fragebögen der Anstaltsleitungen zentral von der Aufsichtsbehörde gesammelt und anschließend vollständig versandt wurden. Auch in anderen Bundesländern lässt sich vermuten, dass eine Kommunikation zwischen Aufsichtsbehörde und Anstaltsleitung stattgefunden hat, da Anmerkungen, die bereits von der Aufsichtsbehörde im Zuge der Verhandlungen über eine Genehmigung gemacht wurden, erneut im Fragebogen aus dem jeweiligen Bundesland auftauchten. Bei der Eingabe und Auswertung der Daten fiel auf, dass in drei Fällen der Fragebogen nicht von der Anstaltsleitung selbst ausgefüllt wurde. Diese Fragebögen wurden zwar hinsichtlich des Umgangs mit Straftaten ausgewertet, die Personendaten wurden jedoch für die Untersuchung außer Betracht gelassen. Auch in weiteren Fällen war ersichtlich oder wurde im Fragebogen angemerkt, dass andere oder mehrere Personen je nach Zuständigkeitsverteilung in der Anstalt mit dem Ausfüllen des Fragebogens betraut wurden. Dies ist nicht verwunderlich, da in der Praxis bestimmte Disziplinarbefugnisse delegiert werden.4 Die Personendaten in diesen Fragebögen stimmen jedoch mit 4  So

auch in J. Walter 1998, S. 146.

260

E. Die Handhabung in der Praxis

denen der jeweiligen Anstaltsleitung überein und wurden deshalb in die Untersuchung aufgenommen. Zudem zeigte sich bei der Eingabe der Daten, dass insbesondere bei den Arten der Erziehungs-, Disziplinar- oder sonstigen Maßnahme häufig mehrere Reaktionsweisen oder -varianten angegeben wurden. Hier wurden der Einfachheit halber immer nur die ersten beiden Maßnahmearten in den Datensatz aufgenommen, da davon auszugehen ist, dass diese dem Bearbeiter als erste in den Sinn kamen. In einigen Fällen wurde die Verhängung einer Maßnahme auch von Bedingungen wie beispielsweise „auf Antrag“ oder auf „Wunsch des Bediensteten“ abhängig gemacht oder zwar zwei Maßnahmen angekreuzt, aber ein „oder“ dazu geschrieben. Für diese Fälle wurden nachträglich eigene Kategorien gebildet.

II. Ergebnisse der Aktenanalyse 1. Die Anstalten Die Aktenanalyse wurde in zwei Jugendstrafanstalten der Länder Berlin und Brandenburg durchgeführt. Beide Anstalten sind insbesondere5 für den Vollzug der Jugendstrafe und Untersuchungshaft an jungen männlichen Gefangenen und den Vollzug der Freiheitsstrafe an jungen männlichen Gefangenen, die für den Jugendstrafvollzug geeignet sind (§ 114 JGG), zuständig. Während die JSA Berlin die einzige Anstalt für männliche Jugendstrafgefangene im Bundesland ist, ist in Brandenburg neben der JVA Wriezen auch die JVA Cottbus-Dissenchen für den Vollzug der Jugendstrafe an männlichen Gefangenen zuständig. a) JSA Berlin Die bereits zwischen 1869 und 1878 errichtete Strafanstalt Plötzensee wurde seit Ende des Zweiten Weltkrieges aufgrund der Teilung der Stadt für Jugendstrafgefangene genutzt. Seit Eröffnung und Bezug des Neubaus der JSA Berlin im November 1987 dient die Anstalt ausschließlich dem Vollzug der Jugendstrafe und Untersuchungshaft an männlichen Jugendlichen oder Heranwachsenden bzw. männlichen zu Freiheitsstrafe Verurteilten, die das 24. Lebensjahr noch nicht vollendet haben und sich gemäß § 114 JGG für den Jugendstrafvollzug eignen. 5  Außerdem für den Vollzug von Ersatzfreiheitsstrafen, den Vollzug der Ordnungs-, Sicherungs- und Zwangshaft, den Vollzug von militärischem Strafarrest für männliche Gefangene unter 21 Jahren und für junge Auslieferungsgefangene.



II. Ergebnisse der Aktenanalyse261

Nach Mitteilung der Anstalt verfügte die JSA Berlin im Untersuchungszeitraum (Stichtag 31.03.2012) über 447 Haftplätze, wovon sich 32 Plätze im offenen Vollzug und 129 im Untersuchungshaftbereich befanden. Im Jahr 2008 wurde die Sozialtherapeutische Abteilung (SothA) mit 48 Haftplätzen eröffnet. Die JSA Berlin gehört damit zu den größten Jugendstrafanstalten in Deutschland. Die tatsächliche Belegung hat sich in den letzten Jahren stark verändert. Während sich im Jahr 2010 noch bis zu 475 Gefangene in der Anstalt befanden, lag die tatsächliche Belegung im Jahr 2012 dauerhaft unter 375 Gefangenen.6 Zum Stichtag (31.03.2012) befanden sich nach Mitteilung durch die Anstalt 355 Gefangene in der JSA Berlin. Damit lag eine Belegung der Anstalt von 79 % vor. 30 Gefangene befanden sich im offenen Vollzug, 32 in der sozialtherapeutischen Abteilung und 103 Gefangene in Untersuchungshaft. Die Unterbringung fand in Wohngruppen statt. Bis auf einige Ausnahmen, bei denen eine gemeinsame Unterbringung angezeigt war, wurden alle Hafträume einzeln belegt. Am 01.02.2012 waren 409 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in der JSA Berlin beschäftigt. U. a. gehörten 287 dem allgemeinen Vollzugsdienst an, 24 waren als Sozialarbeiter / Sozialpädagogen und 13 als Psychologen in der Anstalt tätig. Zum Stichtag (31.03.2012) waren die meisten Jugendstrafgefangenen wegen eines Körperverletzungsdelikts (33 %) inhaftiert, gefolgt von Raub (30 %) und Diebstahl (16 %) (Abbildung 1). 64 % der Jugendstrafgefangenen besaßen zum Stichtag die deutsche Staatsangehörigkeit, gefolgt von 10 % mit türkischer, 5 % mit libanesischer und 3 % mit polnischer Staatsangehörigkeit. Bei 6 % war die Staatsangehörigkeit ungeklärt. 11 % der Jugendstrafgefangenen waren am Stichtag unter 18 Jahre alt, 51 % 18 bis einschließlich 20 Jahre und 38 % 21 Jahre oder älter. Die Gefangenen waren im Mittelwert M = 19,85 Jahre alt (Mmin = 15 Jahre, Mmax = 24 Jahre; SD = 1,883).7 Insgesamt wurden 2012 224 Gefangene aus der JSA Berlin entlassen, davon wurden 151 zum Strafende und 64 vorzeitig entlassen sowie neun in ihr Heimatland abgeschoben.8 6  Vgl. hierzu die Angaben der Senatsverwaltung für Justiz unter http://www.berlin. de/sen/justiz/justizvollzug/jsa/ (abgerufen am 02.01.2015). Insgesamt sind in Deutschland die absoluten Gefangenenzahlen für den Jugendstrafvollzug in den letzten zehn Jahren aufgrund des demographischen Wandels stark zurück gegangen, Dünkel / Geng 2013, S. 624 ff., 631 ff.; Statistisches  Bundesamt 2012, S. 14. Siehe auch Kap. B. II. 3. a) aa). 7  Die Angaben beruhen auf Auskünften der Anstalt, die diese Daten elektronisch erfasst. 8  Die Daten entstammen dem regelmäßig aktualisierten Infoblatt der JSA Berlin, abrufbar unter: http://www.berlin.de/imperia/md/content/senatsverwaltungen/justiz/ justizvollzug/jsa_berlin/download/flyer_dt.pdf?start&ts=1413842860&file=

262

E. Die Handhabung in der Praxis Tötungsdelikte §§ 211 ff. 5%

Sonstige 8% Btm-Delikte 7%

Körperverletzungsdelikte §§ 223 ff. 33%

Sexualdelikte §§ 174 ff. 1%

Raub/Erpressung §§ 249 ff. 30% Diebstahl §§ 242 ff. 16%

Abbildung 1: Deliktsverteilung in der JSA Berlin zum 31.03.2012

b) JVA Wriezen Der Neubau der JVA Wriezen wurde am 01.07.2004 für den Vollzug der Jugendstrafe an männlichen Jugendlichen und Heranwachsenden sowie der Untersuchungshaft eröffnet. Die Anstalt befindet sich im Landkreis Märkisch-Oderland des Landes Brandenburg zwischen Eberswalde (ca. 30 km) und Frankfurt a. d. O. (ca. 60 km) und ist ca. 100 km von der Landeshauptstadt Potsdam entfernt. Zum Stichtag (31.03.2012) verfügte die JVA Wriezen über 206 Haftplätze, davon 30 im offenen Vollzug, 26 in der sozialtherapeutischen Abteilung und 45 Plätze im Untersuchungshaftbereich. Es befanden sich 171 Jugendstrafgefangene in der Anstalt, darunter 24 im offenen Vollzug, 24 in der sozialtherapeutischen Anstalt und 27 in Untersuchungshaft. Die Belegung der Anstalt lag damit bei 83 %. Die Unterbringungsform war der Wohngruppenvollzug. 24 Jugendstrafgefangene befanden sich in einem Haftraum mit Doppelbelegung, 147 hatten einen Einzelhaftraum. Am 01.04.2012 waren 106 Mitarbeiflyer_dt.pdf (abgerufen am 02.01.2015). Alte Versionen dieses Infoblatts mit Daten, die den Untersuchungszeitraum betreffen, wurden von der Anstalt überreicht. Eine Bestandsaufnahme der JSA Berlin findet sich auch in Stoll / Bieneck 2014.



II. Ergebnisse der Aktenanalyse263

Nötigung/Bedrohung §§ 240 ff. 6%

Btm-Delikte 3%

Sonstige 1%

Tötungsdelikte §§ 211 ff. 5%

Körperverletzungsdelikte §§ 223 ff. 30%

Raub/Erpressung §§ 249 ff. 29%

Diebstahl §§ 242 ff. 23%

Sexualdelikte §§ 174 ff. 3%

Abbildung 2: Deliktsverteilung in der JVA Wriezen zum 31.03.2012

ter und Mitarbeiterinnen in der JVA Wriezen beschäftigt, davon gehörten 77 dem allgemeinen Vollzugsdienst an, fünf waren Sozialarbeiter oder -pädagogen und drei Psychologen. Am Stichtag (31.03.2012) waren 30 % der Jugendstrafgefangenen wegen eines Körperverletzungsdelikts inhaftiert, 29 % wegen Raubes / Erpressung und 23 % wegen Diebstahls (Abbildung  2). 91 % der Jugendstrafgefangenen hatten die deutsche Staatsangehörigkeit, gefolgt von 4 % mit polnischer und 3 % mit litauischer Staatsangehörigkeit. 7 % der Jugendstrafgefangenen waren am Stichtag unter 18 Jahre alt, 43 % 18 bis einschließlich 20 Jahre und 53 % 21 Jahre oder älter. Die Gefangenen waren im Mittelwert M = 20,51 Jahre alt (Mmin = 16 Jahre, Mmax = 25 Jahre; SD = 1,774).9 2. Straftaten in den Jugendstrafanstalten Im Untersuchungszeitraum wurden insgesamt 343 strafrechtlich relevante Fälle erfasst. Dabei handelt es sich um 272 registrierte Vorfälle, bei denen zum Teil mehrere Gefangene beteiligt waren. 9  Die Angaben beruhen auf Auskünften der Anstalt, die diese Daten elektronisch erfasst.

264

E. Die Handhabung in der Praxis

a) Anzahl und Art der Vorkommnisse in den Anstalten Von den 343 strafrechtlich relevanten Fällen wurden 256 in der JSA Berlin und 87 in der JVA Wriezen erfasst. Es handelt sich dabei um 198 bzw. 74 Vorfälle. Die einzelnen Fälle wurden nach dem schwersten in Betracht kommenden Delikt elf verschiedenen Deliktsgruppen (Tötungsdelikte §§ 211  ff. StGB, Körperverletzungsdelikte §§ 223  ff. StGB, Sexualdelikte §§ 174 ff. StGB, Nötigung / Bedrohung §§ 240 ff. StGB, Diebstahl §§ 242 ff. StGB, Raub / Erpressung §§ 249 ff. StGB, Sachbeschädigung § 303 StGB, Beleidigung §§ 185 ff. StGB, Widerstand gegen die Staatsgewalt §§ 113 ff. StGB, Btm-Delikte §§ 29 ff. BtmG, Sonstiges) zugeordnet. Die meisten Fälle (33,8 %) fielen unter die Deliktsgruppe Körperverletzung, gefolgt von Straftaten nach dem BtmG (18,1 %), Nötigungen / Bedrohungen (14,6 %), Beleidigungen (14,3 %) und Raub- oder Erpressungsdelikten (6,1 %). Bei jeweils sechs Fällen (1,7 %) handelte es sich um Diebstähle und Sexualdelikte und jeweils fünf Fälle (1,5 %) fielen in die Gruppen Sachbeschädigung und Widerstand gegen die Staatsgewalt. 6,7 % waren „sonstige“ Delikte. Bei den unter „Sonstiges“ eingeordneten Fällen handelt es sich überwiegend um Brandstiftungen (§§ 306 ff. StGB), vereinzelt um Betrug (§ 263 StGB) oder das Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen (§ 86a StGB). Tabelle 2 Anzahl und Art der Vorkommnisse in der JSA Berlin Art des Deliktes

Fälle

Vorfälle

Anzahl

Prozent

Anzahl

Prozent

Tötungsdelikte §§ 211 ff.

0

0

0

0

Körperverletzung §§ 223 ff.

91

35,5

56

28,3

Sexualdelikte §§ 174 ff.

6

2,3

5

2,5

Nötigung / Bedrohung §§ 240 ff.

47

18,4

35

17,7

Diebstahl §§ 242 ff.

4

1,6

4

2,0

Raub / Erpressung §§ 249 ff.

14

5,5

8

4,0

Sachbeschädigung § 303

5

2,0

5

2,5

Beleidigung §§ 185 ff.

40

15,6

38

19,2



II. Ergebnisse der Aktenanalyse265

Art des Deliktes

Fälle

Vorfälle

Anzahl

Prozent

Anzahl

Prozent

Widerstand gg. Staatsgewalt §§ 113 ff.

5

2,0

5

2,5

Btm-Delikte §§ 29 ff. BtmG

39

15,2

37

18,7

Sonstiges

5

2,0

5

2,5

256

10010

198

100

Gesamt

Beim Vergleich der beiden Anstalten ergeben sich einige Unterschiede. Berücksichtigt man hinsichtlich der Anzahl der Fälle die tatsächliche Belegung der jeweiligen Anstalt wurden in der JSA Berlin 0,73 Taten und in der JVA Wriezen 0,51 Taten pro Jugendstrafgefangenen registriert. Zwar sind in beiden Anstalten Körperverletzungen die am häufigsten aktenkundigen Delikte (35,5 % bzw. 28,7 %), in der JVA Wriezen kommen Betäubungsmittel­ delikte mit 26,4 % jedoch fast ebenso häufig vor, während in der JSA Berlin Nötigung / Bedrohung (18,4 %) die zweithäufigste Deliktsgruppe darstellten (Tabellen 2 und 3). Bei den 18 sonstigen Fällen in der JVA Wriezen handelt es sich ausschließlich um Taten, die als Brandstiftungen (§§ 306 ff. StGB) eingeordnet wurden. Dies waren Fälle, bei denen Gefangene Gegenstände im Haftraum anzündeten oder brennende Gegenstände aus ihrem Haftraum auf den Hof oder auf das Dach warfen. Tabelle 3 Anzahl und Art der Vorkommnisse in der JVA Wriezen Art des Deliktes

Fälle

Vorfälle

Anzahl

Prozent

Anzahl

Prozent

Tötungsdelikte §§ 211 ff.

0

0

0

0

Körperverletzung §§ 223 ff.

25

28,7

20

27,0

Sexualdelikte §§ 174 ff.

0

0

0

0

Nötigung / Bedrohung §§ 240 ff.

3

3,4

3

4,0

(Fortsetzung nächste Seite) 10  Abweichungen bei den Dezimalstellen in der Summe zu 100,0 % sind in den folgenden Berechnungen den Rundungen geschuldet.

266

E. Die Handhabung in der Praxis

(Fortsetzung Tabelle 2) Art des Deliktes

Fälle

Vorfälle

Anzahl

Prozent

Anzahl

Prozent

Diebstahl §§ 242 ff.

2

2,3

2

2,7

Raub / Erpressung §§ 249 ff.

7

8,0

5

6,8

Sachbeschädigung § 303

0

0

0

0

Beleidigung §§ 185 ff.

9

10,3

9

12,2

Widerstand gg. Staatsgewalt §§ 113 ff.

0

0

0

0

Btm-Delikte §§ 29 ff. BtmG

23

26,4

23

31,1

Sonstiges

18

20,7

12

16,2

Gesamt

87

100

74

100

b) Geschädigte / r Von den insgesamt 343 erfassten Fällen richteten sich 168 gegen Mitgefangene und 81 gegen Bedienstete. Eine Nötigung / Bedrohung wurde gegen eine Person außerhalb der Anstalt begangen. Die Brandstiftungen sowie vier Sachbeschädigungen und ein Diebstahl richteten sich gegen die Institution. Bei 63 Fällen handelte es sich um opferlose Straftaten nach dem BtmG und § 86a StGB. Ein Fall des § 86a StGB wurde jedoch bei den gegen die Institution gerichteten Taten eingeordnet, da die verfassungswidrigen Kratzereien in der Haftraumtür gleichzeitig eine Sachbeschädigung gegenüber der Anstalt darstellen. In fünf Fällen (in der JSA Berlin bei zwei Diebstählen und einem sonstigen Delikt; in der JVA Wriezen bei zwei Diebstählen) war nicht festzustellen, gegen wen die Tat gerichtet wurde.



II. Ergebnisse der Aktenanalyse267 Tabelle 4 Geschädigte / r in der JSA Berlin Geschädigte / r Art des Deliktes

Mitgef.

Bed.

Institution

Person außerhalb

Keiner

Gesamt

Körperverletzung

88

3

0

0

0

91

Sexualdelikte

6

0

0

0

0

6

Nötigung /  Bedrohung

24

22

0

1

0

47

Diebstahl

1

0

1

0

0

2

Raub / Erpressung

14

0

0

0

0

14

Sachbeschädigung

1

0

4

0

0

5

Beleidigung

2

38

0

0

0

40

Widerstand gg. Staatsgewalt

0

5

0

0

0

5

Btm-Delikte

0

0

0

0

39

39

Sonstiges

1

0

2

0

1

4

137

68

7

1

40

253

Gesamt

Tabelle 5 Geschädigte / r in der JVA Wriezen Geschädigte / r Art des Deliktes

Mitgef.

Bed.

Institution

Person außerhalb

Keiner

Gesamt

Körperverletzung

24

1

0

0

0

25

Nötigung /  Bedrohung

0

3

0

0

0

3

Raub / Erpressung

7

0

0

0

0

7

Beleidigung

0

9

0

0

0

9

(Fortsetzung nächste Seite)

268

E. Die Handhabung in der Praxis

(Fortsetzung Tabelle 5) Geschädigte / r Mitgef.

Bed.

Institution

Person außerhalb

Keiner

Gesamt

Btm-Delikte

0

0

0

0

23

23

Sonstiges

0

0

18

0

0

18

Gesamt

31

13

18

0

23

85

Art des Deliktes

Hinsichtlich der einzelnen Delikte ergaben sich bei den Anstalten kaum Unterschiede. Während Körperverletzungs- und Raub- / Erpressungdelikte überwiegend gegen Mitgefangene gerichtet waren, waren Beleidigungen fast ausschließlich gegenüber Bediensteten aktenkundig.11 Nötigungen / Bedrohungen kamen in der JSA Berlin gleichermaßen sowohl gegenüber Bediensteten als auch gegenüber Mitgefangenen vor, die wenigen Fälle in der JVA Wriezen richteten sich gegen Bedienstete (Tabellen 4 und 5). c) Verletzungsfolgen Sofern die konkreten Tatfolgen ersichtlich waren, wurden diese, ähnlich wie bei der Untersuchung von Wirth 200612, in Kategorien eingeteilt. Die Verletzungsfolgen wurden als „schwer“ eingestuft, wenn größere Verletzungen wie Brüche, Gehirnerschütterung, starke Blutungen o. ä. ersichtlich waren. „Mittelschwer“ sind Verletzungen wie Hämatome, Prellungen oder leichte Wunden. Unter „leicht / keine“ Verletzungen wurden Taten eingeordnet, bei denen lediglich blaue Flecken oder keine behandlungsbedürftigen Folgen ersichtlich waren. In den beiden Tabellen zu den Verletzungsfolgen (6 und 7) finden sich die 279 Fälle der Delikte, bei denen eine Person (Gefangene / Bedienstete / Person außerhalb der Anstalt) als Geschädigter fest­ gestellt werden konnte. Bei den „sonstigen“ Delikten handelt sich in der JSA Berlin um zwei Betrugsdelikte und ein Brandstiftungsdelikt, in der JVA Wriezen um Brandstiftungsdelikte.13 11  Daraus kann jedoch nicht geschlossen werden, dass Beleidigungen in den Anstalten nur gegenüber Bediensteten vorkamen. Wahrscheinlicher ist, dass Beleidigungen gegen Bedienstete aufgrund eines eingeleiteten Disziplinarverfahrens oder einer Strafanzeige häufiger aktenkundig wurden. 12  Siehe zu dieser Untersuchung ausführlich Kap. D. I. 1. d). 13  Da immer nur das nach der Strafandrohung des StGB schwerste Delikt aufgeführt wurde, daneben aber bei den Brandstiftungsdelikten tateinheitlich verwirklichte



II. Ergebnisse der Aktenanalyse269

Nimmt man dagegen nur die Vorfälle in den Blick, um so die sich bei mehreren Tatbeteiligten ergebende mehrfache Aufführung von Verletzungsfolgen zu vermeiden, ergibt sich, dass von insgesamt 176 Vorfällen, bei denen eine Person als Geschädigter festgestellt werden konnte, auf 9 eine schwere und auf 38 eine mittelschwere Verletzung folgte. Die Vorfälle mit schweren oder mittelschweren Verletzungsfolgen richteten sich ausschließlich gegen Mitgefangene. Tabelle 6 Verletzungsfolgen in der JSA Berlin Verletzungsfolgen Art des Delikts

Gesamt

Schwer

Mittelschwer

Leicht /  Keine

Nicht ersichtlich

Körperverletzung

9

41

29

12

91

Sexualdelikte

0

0

6

0

6

Nötigung /  Bedrohung

0

0

47

0

47

Diebstahl

0

0

4

0

4

Raub / Erpressung

1

2

6

5

14

Sachbeschädigung

0

0

5

0

5

Beleidigung

0

0

40

0

40

Widerstand gg. Staatsgewalt

0

0

5

0

5

Sonstiges

0

0

3

0

3

Gesamt

10

43

145

17

215

Körperverletzungen (z. B. durch Rauchvergiftung) in Betracht kamen, sind diese Delikte in den Tabellen zu den Verletzungsfolgen auch erfasst.

270

E. Die Handhabung in der Praxis Tabelle 7 Verletzungsfolgen in der JVA Wriezen Verletzungsfolgen

Art des Delikts

Gesamt

Schwer

Mittelschwer

Leicht /  Keine

Nicht ersichtlich

Körperverletzung

1

10

1

13

25

Nötigung /  Bedrohung

0

0

2

1

3

Diebstahl

0

0

2

0

2

Raub / Erpressung

0

3

3

1

7

Beleidigung

0

0

8

1

9

Sonstiges

0

8

0

10

18

Gesamt

1

21

16

26

64

Außerdem wurde bezüglich der Verletzungsfolgen untersucht, ob der Täter selbst oder das Opfer bei der Arztgeschäftsstelle (AGST) bzw. beim medizinischen Dienst vorstellig wurde. In der JSA Berlin war in der Liste der dienstlichen Meldungen vermerkt, wenn ein Tatbeteiligter in der AGST untersucht wurde. Eine solche Untersuchung fand insgesamt in 69 Fällen statt, in 51 Fällen handelte es sich um den Geschädigten, in 18 Fällen um den Täter selbst. 90 % der Fälle, bei denen die AGST besucht wurde, waren Körperverletzungsdelikte. Ansonsten handelte es sich um Raub- / Erpressungsdelikte und in einem Fall um eine Nötigung / Bedrohung. In der JVA Wriezen war es bis auf eine Ausnahme nur dann möglich, aus den verwendeten Datenquellen eine Vorstellung beim medizinischen Dienst herauszufinden, wenn Strafanzeige gestellt und / oder der Aufsichtsbehörde berichtet wurde und somit eine ausführlichere Vorfallbeschreibung in den Datenquellen vorhanden war. Eine Vorstellung beim medizinischen Dienst fand in insgesamt 26 Fällen statt, davon wurde in 20 Fällen der Geschädigte und in sechs Fällen der Täter selbst untersucht. Auch in der JVA Wriezen wurde der medizinische Dienst meist im Anschluss an Körperverletzungsdelikte (57,7 %) besucht, in acht Fällen nach einem Brandstiftungsdelikt und in drei Fällen nach einem Raub- / Erpressungsdelikt.



II. Ergebnisse der Aktenanalyse271

d) Meldung Zwar stammen alle dienstlichen Meldungen von Bediensteten, in insgesamt 236 Fällen konnte dennoch festgestellt werden, wie diese auf das Vorkommnis aufmerksam wurden. In Berlin wurde in 133 Fällen die Tat durch den Bediensteten selbst (beispielsweise durch Anwesenheit, Auffinden des Opfers oder Entdeckung von Verletzungen) entdeckt, in 43 Fällen wurde die Tat durch das Opfer, in zwei Fällen durch andere Gefangene und in einem Fall durch den Täter selbst gemeldet. In der JVA Wriezen zeigt sich ein ähnliches Bild: Dort wurden in 51 Fällen die Bediensteten selbst auf das Geschehen aufmerksam, in sechs Fällen wurde die Tat durch den Geschädigten gemeldet. Auch wenn andere Untersuchungen14 darauf hinweisen, dass Gefangene sich wegen in der Anstalt begangener Straftaten aus verschiedenen Gründen, wie Angst vor Mitgefangenen oder Mangel an Vertrauen, selten an das Anstaltspersonal wenden, kann dieser Schluss aus den vorliegenden Daten nicht gezogen werden, da es sich um eine Hellfelduntersuchung handelt und damit nicht ersichtlich ist, wie viele Taten insgesamt vorkamen, die nicht von Bediensteten entdeckt, aber auch nicht durch Gefangene gemeldet wurden. e) Tatort und -beteiligung In 213 Fällen war es möglich, den genauen Tatort zu bestimmen. Häufigster Tatort war in beiden Anstalten der eigene Haftraum des Täters. Zweithäufigste Tatorte waren in der JSA Berlin ein fremder Haftraum, in der JVA Wriezen dagegen die Freizeiträumlichkeiten einschließlich des Freistundenhofs (Tabelle 8). „Sonstige“ Tatorte waren u. a. der Warteraum der AGST, der Raum der Jugendgerichtshilfe oder die Besuchsräumlichkeiten während des oder nach dem Besuch.

14  Bieneck / Pfeiffer

2012, S. 18 ff.; Drenkhahn 2014, S. 356.

272

E. Die Handhabung in der Praxis Tabelle 8 Tatorte JSA Berlin

JVA Wriezen

Anzahl

Prozent

Anzahl

Prozent

Eigener Haftraum

37

14,5

30

34,5

Fremder Haftraum

24

9,4

1

1,1

Freizeiträumlichkeiten

5

2,0

7

8,0

Sport

7

2,7

0

0

Anstaltsgänge

18

7,0

2

2,3

Werkbetrieb

15

5,9

0

0

Schule

7

2,7

3

3,4

Waschräume

2

0,8

3

3,4

Außenbereich

13

5,1

0

0

Mehrere Orte (meist längerer Zeitraum)

21

8,2

5

5,7

Sonstiges

10

3,9

3

3,4

Nicht ersichtlich

97

37,9

33

37,9

Gesamt

256

100

87

100

Tabelle 9 Anzahl der Täter Anzahl der Täter

JSA Berlin

JVA Wriezen

Anzahl der Vorfälle Prozent Anzahl der Vorfälle Prozent 1

140

70,7

43

58,1

2

19

9,6

2

2,7

3

12

6,1

0

0

4 oder mehr

3

1,5

1

1,4

Nicht ersichtlich

24

12,1

28

37,8

Gesamt

198

100

74

100



II. Ergebnisse der Aktenanalyse273

In der JSA Berlin konnte zudem aus der Liste der dienstlichen Meldungen auch der Ort, von dem die Meldung kam, ermittelt werden. Diese kam zu 82,8 % aus den verschiedenen Häusern der Anstalt und zu 11,3 % aus den Werkbetrieben. Weitere Meldungen kamen aus der Schule (2,3 %), vom Sport (1,6 %), von der Pforte (1,2 %) und von der AGST (0,4 %). Weit überwiegend wurden die strafrechtlich relevanten Vorfälle durch einen Alleintäter begangen (Tabelle 9). f) Zeitpunkt der Tatbegehung im Haftverlauf In insgesamt 274 der 343 Fälle konnte der Zeitpunkt der Tat im Haftverlauf des Täters ermittelt werden. Um bei den verschiedenen Straflängen eine einheitliche Darstellung zu ermöglichen, wurde berechnet, in welchem Perzentil der Vollstreckungsdauer des Täters die Tat begangen wurde. Während die Anzahl der Taten in den ersten 30 % des Haftverlaufs pro Perzentil stark ansteigt, fällt sie anschließend ebenso schnell ab (Abbildung 3). 36,9 % der Taten werden in der zweiten Hälfte des jeweiligen Haftverlaufs begangen. In den letzten 10 % des Haftverlaufs wurden lediglich 5,8 % der Taten erfasst. Hinsichtlich der Prisonisierung der Jugendstrafgefangenen als Ursache für Straftaten im Jugendstrafvollzug können aus der Abbildung 3 keine relevanten Schlüsse gezogen werden. Weder ist eine Häufung 60

Anzahl der Taten

50 40 30 20 10 0

10

20

30

40

50 60 70 Haftverlauf in %

80

90

100

Abbildung 3: Zeitpunkt der Tatbegehung im Haftverlauf



274

E. Die Handhabung in der Praxis

der Taten zum Beginn der Haftzeit, die auf einen Inhaftierungsschock15 hinweisen würde, erkennbar, noch zeigt sich eindeutig, dass die Anzahl der ­Taten mit einem erhöhten Grad an Prisonisierung, beispielsweise zur Mitte der Haftzeit16, zusammenhängt. Aus der Abbildung 3 ist lediglich erkennbar, dass die Anzahl der Taten zum Ende der Haftzeit, vermutlich im Hinblick auf die bevorstehende Entlassung, abfällt. 3. Täter Für die 343 strafrechtlich relevanten Fälle, die im Zeitraum vom 01.01.– 31.12.2012 in den Datenquellen der beiden Anstalten erfasst wurden, waren insgesamt 221 Jugendstrafgefangene verantwortlich. In 23 Fällen (6,7 %) war der Täter aus den Akten nicht ersichtlich oder konnte bei der Tat nicht festgestellt werden. 21 Fälle davon waren Delikte nach dem BtmG und zwei waren Körperverletzungen. Von den 221 ermittelten Tätern waren 65 (29,4 %) mehrfach auffällig. a) Täterdaten in der JSA Berlin Die 164 in der JSA Berlin ermittelten Täter waren zum Zeitpunkt der Tat (bei mehreren Taten wurde die erste im Vollzug begangene Tat erfasst) im Mittelwert M = 19,43 Jahre alt (Mmin = 15 Jahre, Mmax = 24 Jahre; SD = 1,938) und damit geringfügig jünger als alle Gefangenen der JSA am Stichtag des 31.03.2012. 65,9 % der Täter hatten die deutsche Staatsangehörigkeit, gefolgt von 9,8 % mit türkischer, jeweils 3,0 % mit libanesischer oder russischer und 2,4 % mit polnischer Staatsangehörigkeit. Bei 4,3 % der Täter war die Staatsangehörigkeit ungeklärt oder sie waren staatenlos. Die restlichen 11,6 % der Täter hatten ganz unterschiedliche Staatsangehörigkeiten (bspw. serbisch, irakisch, vietnamesisch, italienisch, griechisch). Das Strafmaß der Täter lag im Mittelwert bei M = 32,06 Monaten (ca. 2 Jahre, 8 Monate) und reichte insgesamt von 6 Monaten bis 10 Jahre (SD = 18,569). 36,8 % der Täter waren wegen eines Raub- / Erpressungsdelikts (§§ 249 ff. StGB) inhaftiert, jeweils 21,5 % wegen eines Diebstahls (§§ 242 ff. StGB) oder eines Körperverletzungsdelikts (§§ 223 ff. StGB) (Abbildung 4). Anlasstaten, die in die Gruppe „Sonstige“ fallen, sind u. a. Geiselnahme, Freiheitsberaubung, Betrug oder Fahren ohne Fahrerlaubnis. Die Anlasstaten der Täter ähneln der Deliktsverteilung aller Gefangenen in der JSA Berlin (Abbildung 1). Zwar machten hier Körperverletzungsdelikte 33 % der Anlassdelikte 15  Hosser / Bosold 16  Wheeler

2008b, S. 173; Hosser / Greve 2002, S. 431. 1961, S.  706 ff.



II. Ergebnisse der Aktenanalyse275 Widerstand gg. Staatsgewalt Beleidigung §§ 113 ff. 2% §§ 185 ff. 1%

Btm-Delikte 4%

Sonstiges 6%

Tötungsdelikte §§ 211 ff. 4% Körperverletzungsdelikte §§ 223 ff. 21%

Sachbeschädigung § 303 1%

Sexualdelikte §§ 174 ff. 2% Nötigung/ Bedrohung §§ 240 ff. 1%

Raub/Erpressung §§ 249 ff. 37% Diebstahl §§ 242 ff. 21%

Abbildung 4: Anlassdelikte der Täter in der JSA Berlin



aus, während Raub / Erpressung bzw. Diebstahl nur 30 % bzw. 16 % betrafen, insgesamt waren jedoch die meisten Gefangenen auch wegen eines dieser Delikte inhaftiert. b) Täterdaten in der JVA Wriezen In der JVA Wriezen wurden 57 Täter ermittelt. Sie waren zum Zeitpunkt der Tat im Mittelwert M = 19,93 Jahre alt (Mmin = 16 Jahre, Mmax = 24 Jahre; SD = 1,913) und somit zwar ein wenig älter als die ermittelten Täter der JSA Berlin, jedoch jünger als die Gefangen der JVA Wriezen insgesamt (Stichtag 31.03.2012). 90,6 % der Täter in der JVA Wriezen waren deutscher Staatsangehörigkeit.17 Ein kleiner Unterschied zwischen den Anstalten konnte zudem hinsichtlich des Strafmaßes festgestellt werden. So war das Strafmaß bei den Tätern in der JVA Wriezen im Mittelwert mit M = 27,86 Monaten, also ca. 2 Jahre und 4 Monate (Mmin = 6 Monate, Mmax = 9 Jahre; SD = 16,649), etwas geringer als bei den Tätern in der JSA Berlin. 17  Daraus kann jedoch nicht der Schluss gezogen werden, dass in der JVA Wriezen mehr Taten durch Täter mit deutscher Staatsangehörigkeit begangen werden. Vielmehr spiegelt dieser Unterschied vermutlich die allgemeine Insassenzusammensetzung der Anstalten wider.

276

E. Die Handhabung in der Praxis Btm-Delikte 4%

Sachbeschädigung § 303 6%

Tötungsdelikte §§ 211 ff. 2% Körperverletzungsdelikte §§ 223 ff. 32%

Raub/Erpressung §§ 249 ff. 28%

Diebstahl §§ 242 ff. 24%

Sexualdelikte §§ 174 ff. 4%

Abbildung 5: Anlassdelikte der Täter in der JVA Wriezen



Die Anlassdelikte der Täter in der JVA Wriezen (Abbildung 5) ähnelten denen aus der JSA Berlin. Zwar waren die meisten Täter hier wegen eines Körperverletzungsdelikts (32,1 %) inhaftiert, mit 26,3 % Raub / Erpressung und 22,8 % Diebstahl sind diese drei Delikte jedoch ebenso wie in der JSA Berlin am stärksten vertreten. Die Anlassdelikte der Täter stimmen weitgehend mit der allgemeinen Deliktsverteilung in der JVA Wriezen (Abbildung 2) überein. 4. Umgang mit Straftaten Insgesamt wurde in dem Untersuchungszeitraum in beiden Anstalten 214  Mal, also in 62,4 % der Fälle, Strafanzeige gestellt, 89 Fälle (25,9 %) wurden der Aufsichtsbehörde berichtet und es wurden 277 Disziplinarmaßnahmen (80,6 %) verhängt.



II. Ergebnisse der Aktenanalyse277

a) Strafanzeige In der JSA Berlin (Tabelle 10) wurde eine Strafanzeige in 155 Fällen (60,5 %), in der JVA Wriezen (Tabelle 11) in 59 Fällen (68,6 %)18 gestellt. Die meisten Strafanzeigen in der JSA Berlin betrafen Körperverletzungsdelikte (43 Fälle), gefolgt von Btm-Delikten (38 Fälle), Nötigung / Bedrohung (26 Fälle) und Beleidigungen (22 Fälle). In der JVA Wriezen führen BtmDelikte (23 Fälle) die Liste der Strafanzeigen an, wobei an zweiter Stelle auch hier Körperverletzungsdelikte (14 Fälle) stehen. Tabelle 10 Strafanzeigen in der JSA Berlin Strafanzeige

Art des Delikts Körperver­letzung §§ 223 ff.

Opfer

nein

Mitgefangener

40

48

88

Bediensteter

3

0

3

43

48

91

47,3

52,7

100

5

1

6

5

1

6

83,3

16,7

100

Mitgefangener

10

14

24

Bediensteter

16

6

22

Person außerhalb der Anstalt

0

1

1

26

21

47

55,3

44,7

100

Gesamt Gesamt in % Sexualdelikte §§ 174 ff.

Opfer

Mitgefangener

Gesamt Gesamt in %

Nötigung /  Bedrohung §§ 240 ff.

Opfer

Gesamt Gesamt in %

Gesamt

ja

(Fortsetzung nächste Seite)

18  In der JVA Wriezen war in einem Fall nicht ersichtlich, ob Strafanzeige gestellt wurde, sodass die Grundgesamtheit nur aus 86 Fällen besteht.

278

E. Die Handhabung in der Praxis

(Fortsetzung Tabelle 10) Strafanzeige

Art des Delikts Diebstahl §§ 242 ff.

Raub / Erpressung §§ 249 ff.

Sachbeschädigung § 303

Beleidigung §§ 185 ff.

Widerstand gg. Staatsgewalt §§ 113 ff. Btm-Delikte

nein

Mitgefangener

0

1

1

Institution

1

0

1

Nicht ersichtlich

1

1

2

Gesamt

2

2

4

Gesamt in %

50

50

100

14

0

14

Gesamt

14

0

14

Gesamt in %

100

0

100

Mitgefangener

1

0

1

Institution

0

4

4

Gesamt

1

4

5

Gesamt in %

20

80

100

Mitgefangener

0

2

2

Bediensteter

22

16

38

Gesamt

22

18

40

Gesamt in %

55

45

100

1

4

5

Gesamt

1

4

5

Gesamt in %

20

80

100

38

1

39

38

1

39

97,4

2,6

100

Institution

1

1

2

Keiner

1

0

1

Nicht ersichtlich

0

1

1

3

2

5

Opfer

Opfer

Opfer

Opfer

Opfer

Opfer

Mitgefangener

Bediensteter

Keiner

Gesamt Gesamt in % Sonstiges

Gesamt

ja

Opfer

Gesamt Gesamt in %



II. Ergebnisse der Aktenanalyse279 Strafanzeige

Art des Delikts Gesamt

Gesamt

ja

nein

Mitgefangener

71

66

137

Bediensteter

42

26

68

Institution

2

5

7

Person außerhalb der Anstalt

0

1

1

Keiner

39

1

40

Nicht ersichtlich

1

2

3

Gesamt

155

101

256

Gesamt in %

60,5

39,5

100

Opfer

Von den insgesamt 155 in der JSA Berlin (Tabelle 10) gestellten Strafanzeigen richteten sich 71 der damit verbundenen Taten gegen Mitgefangene, 42 gegen Bedienstete, zwei gegen die Institution und 39 waren opferlose Delikte. Vergleicht man dort das Anzeigeverhalten bei Straftaten gegen Mitgefangene oder Bedienstete, so ergeben sich hinsichtlich der Gesamtzahlen geringe Unterschiede. Insgesamt 61,8 % der Taten gegen Bedienstete und 51,8 % der Taten gegen Mitgefangene wurden angezeigt. Größere Unterschiede werden jedoch mit Blick auf einzelne Deliktsgruppen deutlich. Beispielsweise wurden in der Deliktsgruppe Nötigung / Bedrohung 72,7 % der Taten gegen Bedienstete angezeigt, während es bei den Taten gegen Mitgefangene nur 41,6 % waren. In der JVA Wriezen (Tabelle 11) richteten sich von den 59 gestellten Strafanzeigen 20 Taten gegen Mitgefangene, jeweils acht gegen Bedienstete oder die Institution und 23 waren opferlose Delikte. Beim Vergleich der Anzeigepraxis bei Delikten gegen Mitgefangene und Bedienstete wurden verhältnismäßig mehr Strafanzeigen bei Delikten gegen Mitgefangene gestellt, der Unterschied ist jedoch gering (66,7 % bei Mitgefangenen und 61,5 % bei Bediensteten). Vergleiche hinsichtlich der einzelnen Delikte können aufgrund der geringen Zahlen nicht gezogen werden.

280

E. Die Handhabung in der Praxis Tabelle 11 Strafanzeigen in der JVA Wriezen

Art des Delikts

Körperverletzung §§ 223 ff.

Strafanzeige ja

nein

Mitgefangener

13

10

23

Bediensteter

1

0

1

14

10

24

58,3

41,7

100

2

1

3

2

1

3

66,7

33,3

100

0

2

2

Gesamt

0

2

2

Gesamt in %

0

100

100

7

0

7

7

0

7

100

0

100

5

4

9

5

4

9

55,6

44,4

100

23

0

23

Gesamt

23

0

23

Gesamt in %

100

0

100

8

10

18

8

10

18

44,4

55,6

100

Opfer

Gesamt Gesamt in % Nötigung /  Bedrohung §§ 240 ff.

Opfer

Bediensteter

Gesamt Gesamt in %

Diebstahl §§ 242 ff.

Raub / Erpressung §§ 249 ff.

Opfer

Opfer

Nicht ersichtlich

Mitgefangener

Gesamt Gesamt in %

Beleidigung §§ 185 ff.

Opfer

Bediensteter

Gesamt Gesamt in %

Btm-Delikte

Sonstiges

Gesamt

Opfer

Opfer Gesamt Gesamt in %

Keiner

Institution



II. Ergebnisse der Aktenanalyse Art des Delikts

Gesamt

281

Strafanzeige

Opfer

Gesamt Gesamt in %

Gesamt

ja

nein

Mitgefangener

20

10

30

Bediensteter

8

5

13

Institution

8

10

18

Keiner

23

0

23

Nicht ersichtlich

0

2

2

59

27

86

68,6

31,4

100

In der JSA Berlin wurde, sofern ersichtlich, bei schweren Verletzungsfolgen immer und bei mittelschweren Verletzungsfolgen zu 65,1 % Strafanzeige gestellt. In der JVA Wriezen wurde bis auf eine Ausnahme sowohl bei schweren als auch bei mittelschweren Verletzungsfolgen immer Strafanzeige erstattet. Bei dem einen schweren Verletzungsfall in der JVA Wriezen, bei dem keine Strafanzeige gestellt wurde, handelte es sich um einen Täter, der sich in Auslieferungshaft befand und kurz vor der Auslieferung stand. Jedoch wurde auch bei keinen / leichten Verletzungsfolgen in beiden Anstalten häufig Strafanzeige gestellt. Insgesamt besteht ein statistisch signifikanter Zusammenhang zwischen dem Erstatten einer Strafanzeige und der Schwere der Tatfolgen (r = .140, p  .05) konnte kein statistisch signifikanter Zusammenhang mit dem Stellen einer Strafanzeige festgestellt werden.

282

E. Die Handhabung in der Praxis Tabelle 12 Strafanzeige bei Verletzungsfolgen Strafanzeige in der JSA Berlin

Strafanzeige in der JVA Wriezen

Verletzungsfolgen

ja

nein

Gesamt

ja

nein

Gesamt

Schwere

10

0

10

0

1

1

11

Mittelschwere

28

15

43

20

0

20

63

Leichte / Keine

111

75

186

34

5

39

225

Gesamt

149

90

239

54

6

60

299

Gesamt in % pro Anstalt

62,3

37,7

100

90

10

100

Gesamt

Bei den 155 Fällen, in denen in der JSA Berlin eine Strafanzeige gestellt wurde, war bei 56 Fällen (36,1 %) ein Einstellungsbescheid in den Akten vorhanden, in 17 Fällen (11,0 %) wurde das Verfahren mit einem Urteil beendet. In der JVA Wriezen war in 37 Fällen (62,7 %) von 59 gestellten Strafanzeigen eine Einstellung ersichtlich, in drei Fällen (5,0 %) war ein Urteil vorhanden. In den anderen Fällen war der Ausgang des Verfahrens aus den Akten nicht ersichtlich und damit der JSA vermutlich auch nicht bekannt (Tabelle 13).19 Eingestellt wurde meist wegen mangelnden Tatverdachts gemäß § 170 II StPO oder es wurde gemäß § 154 I StPO von der weiteren Verfolgung der im Vollzug begangenen Tat abgesehen, da die Strafe neben einer anderen bereits verhängten oder erwarteten Strafe nicht beträchtlich ins Gewicht fiel bzw. die verhängte oder erwartete Strafe zur Einwirkung auf den Täter und zur Verteidigung der Rechtsordnung ausreichte. In den insgesamt 20 Urteilen wurden elf Geldstrafen, fünf Freiheitsstrafen, zwei Jugendstrafen und eine Verwarnung ausgesprochen. In einem Fall wurde der Angeklagte freigesprochen.

19  Der Ausgang des Verfahrens wurde jedenfalls nicht der Abteilung Sicherheit mitgeteilt. In Einzelfällen kann es sein, dass der oder die betreffende Gruppenleiter / in den Ausgang des Verfahrens erfahren hat und sich ein entsprechender Vermerk in der Gefangenenakte befindet.



II. Ergebnisse der Aktenanalyse

283

Tabelle 13 Verfahrensgang nach gestellter Strafanzeige JSA Berlin

JVA Wriezen

Anzahl

Prozent

Anzahl

Prozent

Einstellungsbescheid

56

36,1

37

62,7

Urteil

17

11,0

3

5,0

Nicht ersichtlich

82

52,9

19

32,2

Gesamt

155

100

59

100

• § 170 II StPO

31

55,4

15

40,5

• § 153 I StPO

0

0

1

2,7

• § 154 I StPO

11

19,6

13

35,1

• § 153b StPO i. V. m. • § 46a Nr. 1 StGB

0

0

2

5,4

• § 45 I JGG

0

0

2

5,4

• § 45 II JGG

1

1,8

1

2,7

• § 31a BtmG

0

0

3

8,1

• Nicht ersichtlich

13

23,2

0

0

Gesamt

56

100

37

100

• Freiheitsstrafe

4

23,5

1

33,3

• Geldstrafe

10

58,8

1

33,3

• Jugendstrafe

1

5,9

1

33,3

• Verwarnung u. a.

1

5,9

0

0

• Freispruch

1

5,9

0

0

Gesamt

17

100

3

100

Einstellungsgrund

Urteil

284

E. Die Handhabung in der Praxis

b) Meldung bei der Aufsichtsbehörde In der JSA Berlin wurden 34 Fälle (13,3 %) der Aufsichtsbehörde (nach Nr. 2 und 3 der AV zu § 101 JStVollzG Bln20) als außerordentliches Vorkommnis gemeldet. Dabei handelt es sich um 20 Körperverletzungen, acht Nötigungen / Bedrohungen, vier Raube / Erpressungen und jeweils eine Sachbeschädigung und Beleidigung. 31 der Taten richteten sich gegen Mitgefangene, zwei gegen Bedienstete und eine gegen die Institution. Schwere bzw. mittelschwere Tatfolgen lagen bei neun bzw. acht Fällen vor. In 26 Fällen wurde neben der Meldung bei der Aufsichtsbehörde auch Strafanzeige gestellt, in allen 34 Fällen wurde eine Disziplinarmaßnahme verhängt. In der JVA Wriezen wurden 55 Fälle (63,2 %) der Aufsichtsbehörde gemäß Nr. 103 Abs. 7 der VVJug Bbg21 berichtet. Davon waren 15 Körperverletzungen, acht Brandstiftungen, sechs Raube / Erpressungen, zwei Beleidigungen und bei einer Tat handelte es sich um eine Nötigung / Bedrohung. Zudem wurden alle Delikte gegen das BtmG (23 Fälle) gemeldet. 20 der Taten richteten sich gegen Mitgefangene, vier gegen Bedienstete und die acht Brandstiftungsdelikte gegen die Institution. Die 23 Btm-Delikte wurden als opferlose Delikte eingestuft. Alle Taten, bei denen schwere oder mittelschwere Tatfolgen auftraten, wurden zudem der Aufsichtsbehörde gemeldet. Wenn Strafanzeige gestellt wurde, wurden die Fälle in der JVA Wriezen auch fast 20  Nr. 2: „Die Anstaltsleiterin oder der Anstaltsleiter berichtet unverzüglich der Aufsichtsbehörde über außerordentliche Vorkommnisse und über Angelegenheiten, die Anlass zu allgemeiner Regelung geben können.“ Nr. 3: „Ein außerordentliches Vorkommnis im Sinne von Nummer 2 ist: a) der Tod oder der Selbsttötungsversuch von Gefangenen, b) die lebensbedrohliche Erkrankung von Gefangenen infolge Alkohol- oder Drogenmissbrauchs, c) das Entweichen oder dessen Versuch, d) jede auf Fremdeinwirkung beruhende nicht unerhebliche Verletzung – von Vollzugsbediensteten im Dienst, – von Gefangenen, e) der Gebrauch von Schusswaffen und Pfefferspray, f) der unbefugte Besitz von Waffen oder nicht geringfügiger Mengen von Betäubungsmitteln, g) der Hungerstreik von mehr als siebentägiger, der Durststreik von mehr als zweitägiger Dauer, h) die Androhung eines Anschlags auf eine Justizvollzugsanstalt, i) ein sonstiger Sachverhalt, der Aufsehen in der Öffentlichkeit erregen kann. Ein derartiger Sachverhalt liegt insbesondere dann vor, wenn Gefangene von einem Freigang oder Ausgang nach § 15 JStVollzG Bln, einem Urlaub nach § 16 JStVollzG Bln nicht zurückgekehrt sind und bei der Zulassung zu der Maßnahme die Zustimmung der Aufsichtsbehörde oder eine besonders gründliche Prüfung nach Nummer 7 der Ausführungsvorschriften zu § 15 JStVollzG Bln erforderlich war oder Gefangene von einem Freigang oder Ausgang nach § 15 JStVollzG Bln, einem Urlaub nach § 16 JStVollzG Bln nicht zurückgekehrt sind und noch ein Strafrest von mehr als zwei Jahren bis zur Vollverbüßung zu vollstrecken ist, oder von der Anstalt zur Bewältigung eines Vorkommnisses die Polizei eingeschaltet worden ist.“ 21  „Der Anstaltsleiter berichtet unverzüglich der Aufsichtsbehörde über außerordentliche Vorkommnisse und über Angelegenheiten, die Anlass zu allgemeiner Regelung geben können.“



II. Ergebnisse der Aktenanalyse

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immer (54 Fälle) der Aufsichtsbehörde gemeldet. Nur in fünf Fällen wurde zwar Strafanzeige gestellt, der Aufsichtsbehörde aber nicht berichtet. Andersherum wurde nur ein Fall der Aufsichtsbehörde berichtet, aber keine Strafanzeige gestellt. Eine Disziplinarmaßnahme wurde neben der Meldung bei der Aufsichtsbehörde in 24 Fällen verhängt. Schließlich konnte festgestellt werden, dass der Aufsichtsbehörde bei schweren Verletzungsfolgen oder einem jüngeren Alter des Täters häufiger berichtet wurde. Insoweit ergab sich zwischen der Meldung bei der Aufsichtsbehörde und den Tatfolgen (r = .357, p