Die verfassungsrechtlichen Grenzen der exekutiven Normsetzung in Bolivien: Ursprünge, rechtsvergleichende Dogmatik und Praxis [1 ed.] 9783428535927, 9783428135929

In Bolivien hat das Präsidialsystem eine lange Tradition. Die Institution des Präsidenten auf Lebenszeit existiert heute

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German Pages 196 Year 2013

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Die verfassungsrechtlichen Grenzen der exekutiven Normsetzung in Bolivien: Ursprünge, rechtsvergleichende Dogmatik und Praxis [1 ed.]
 9783428535927, 9783428135929

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Schriftenreihe der Hochschule Speyer Band 217

Die verfassungsrechtlichen Grenzen der exekutiven Normsetzung in Bolivien Ursprünge, rechtsvergleichende Dogmatik und Praxis

Von

Maria Virginia Lorena Ossio Bustillos

Duncker & Humblot · Berlin

MARIA VIRGINIA LORENA OSSIO BUSTILLOS

Die verfassungsrechtlichen Grenzen der exekutiven Normsetzung in Bolivien

Schriftenreihe der Hochschule Speyer Band 217

Die verfassungsrechtlichen Grenzen der exekutiven Normsetzung in Bolivien Ursprünge, rechtsvergleichende Dogmatik und Praxis

Von Maria Virginia Lorena Ossio Bustillos

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer hat diese Arbeit im Jahre 2009 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2013 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0561-6271 ISBN 978-3-428-13592-9 (Print) ISBN 978-3-428-53592-7 (E-Book) ISBN 978-3-428-83592-8 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Dieses Buch ist durch verschiedene Lernphasen und motivierende akademische Projekte im interkulturellen Gedankenaustausch mit Weggefährten aus der Speyerer Zeit und aus verschiedenen Orten dieser Welt entstanden. Besonders herausgefordert und bereichert haben mich zudem meine Forschungsaufenthalte in Buenos Aires, Medellín, Rio de Janeiro, Brasilia, Santiago und in den indigenen Gemeinden aus dem Hochland und Tiefland Boliviens. Die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ ist eine figurative Sprache, die den Stand der auf der Welt gültigen Rechtsentwicklungen und Rechtsverständnisse zutreffend beschreibt. Wenn die Wirklichkeit und die Komplexität der gesellschaftlichen Vielfalt und Ordnungsentwürfe von uns die Bereitschaft zu immer neuen Perspektivenwechseln verlangt, kann ein wissenschaftliches Gespräch Quelle sein, um rechtliche Probleme zu erfassen und Lösungsansätze für die Herausforderungen von wenig erforschten Rechtssystemen zu finden. Der Zugang zu den Bibliotheken und Seminaren an deutschen Universitäten und Forschungseinrichtungen waren eine solche Quelle für meine Weiterentwicklung und rufen in mir immer wieder aufs Neue eine große Begeisterung hervor. In diesen Räumen lässt sich die Wissenschaftsfreiheit tief atmen. Der Gewinn von rechtswissenschaftlichen Erkenntnissen und die Ermöglichung einer gemeinsamen Kommunikationsebene des wissenschaftlichen Austauschs ebnen den Weg für ein universales Verständnis der Rechtswissenschaft und fördern die Bereitschaft, auf interdisziplinäre Methoden einzugehen. Diese Überzeugung begleitet meinen wissenschaftlichen Weg hin zu der Rechtsvergleichung. Das aber bedeutet nicht, dass die Erkenntnisse überall gleich gesehen und gleich aufgenommen werden. Dies erleben wir als Rechtsvergleicher, wenn wir die Grenze überqueren und andere Verständnisse für grundsätzliche Begriffe wie Rechtsquellensysteme und Gewaltenteilungsprinzip in einer anderen Verfassungsordnung entdecken. Die Erkenntnisse vermögen sich jeweils kennzeichnend – den nach Raum und Zeit besonderen Gegebenheiten (nicht weniger wichtig im Rechtsvergleich: die Gegebenheiten der Sprache) und Bedürfnissen gemäß – zu verkörpern. Es gibt sehr viele Gründe, warum ich mich für das Thema der verfassungsrechtlichen Grenzen der exekutiven Normsetzung in Bolivien entschieden habe. Meine vorherigen Forschungen waren zuvor im Bereich der Judikative angesiedelt, besonders über die Einrichtung des Verfassungsgerichts in Bolivien 1994 nach deutschem Vorbild sowie über die legislative Gewalt und die Wahlorgane. Skeptisch stand ich hingegen der exekutiven Gewalt gegenüber. Die Waage zwischen Macht und Recht schien mir mehr in Richtung Macht zu kippen. Erst wäh-

6

Vorwort

rend meiner Lehrtätigkeit an der Universität und meiner Tätigkeit als Projektleiterin am Justizministerium in Bolivien habe ich mich intensiv mit zwei neuen Forschungsfeldern beschäftigt: der Gesetzgebungstechnik in der exekutiven Gewalt sowie dem Recht der indigenen Völker. Die Praxiserfahrung hat mein Forschungsinteresse an der exekutiven Normsetzung geweckt. Die vorliegende Arbeit wurde im September 2009 von der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer als Dissertation angenommen. Mein Dank gilt an erster Stelle meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Karl-Peter Sommermann, für die Betreuung der Arbeit. Meine tiefe Bewunderung gilt dessen, wie intensiv er sich mit lateinamerikanischen Rechtssystemen auskennt und mir immer ratgebend zur Seite stand. Mein Dank gilt weiterhin Herrn Prof. Dr. Klaus Eckart Gebauer für die Erstellung des Zweitgutachtens und für seine zahlreichen wertvollen Hinweise. Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass beide Gutachter jeweils als Gastdozent und als Rechtsexperte bereits in Bolivien tätig waren. Des Weiteren danke ich Frau Prof. Dr. Sabine Kropp, der Vorsitzenden der Prüfungskommission meiner Disputation. An die Begabtenförderung der Konrad-Adenauer-Stiftung richtet sich mein Dank für die Gewährung eines Promotionsstipendiums, stellvertretend danke ich meinem freundlichen und angenehmen Ansprechpartner Berthold Gees. Zu danken habe ich einer Reihe weiterer Weggefährten der Speyerer Zeit, von denen ich an dieser Stelle nur wenige namentlich nennen kann: Natascha Garloff-Jonkers, Ilona Werner, Ingrid Schneck, Petra Kempf, Nils Schröder, Dirk Spörle und Heinz Meditz. Auch danke ich Silvia Reum, die Person, die mir den Zugang zu der Sensibilität, Wahrnehmung und zu den mir sehr hoch geschätzten kulturellen Werten in diesem Land eröffnet hat. Edith Steins Betrachtungen sind in Speyer allgegenwärtig. Inspiration bekam ich auch von den Gedanken von Hanna Arendt: der Geburt als der Anfang des Handelns. Ich empfinde Freude und Dankbarkeit, in einer so großen Familie (mit meinen sieben älteren Geschwistern) aufgewachsen zu sein. Ich möchte meinen Eltern, Julieta Bustillos und Luis Ossio Sanjinés, diese Arbeit widmen und mich für ihre liebevolle Unterstützung bedanken. Aus Gründen der Lesbarkeit werden in diesem Buch nicht ständig weibliche und männliche Personenbezeichnungen benutzt. Im Allgemeinen habe ich die männliche Form verwendet. München, im Januar 2013

Lorena Ossio

Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Die Lage in Bolivien: Problemaufriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15

II. Gegenstand der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

18

Erstes Kapitel Historische Darstellung der exekutiven Normsetzung in Bolivien

21

I. Verfassungshistorische Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die bolivianische Rechtsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kriterien für den Vergleich der ausgewählten verfassungshistorischen Abschnitte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Untersuchungsgegenstände in den ausgewählten historischen Abschnitten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Funktion der Verordnung in den Zeitperioden . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Rechtsetzungsbefugnis und die Regierungsorgane . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Formalitäten und Gesetzgebungstechnik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Auswahlkriterien der historischen Abschnitte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Kolonialzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Republikanische Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Diktaturzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Demokratische Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21 21

23 23 25 26 27 27 27 28 28

II. Die Funktion der Verordnung in der spanischen Kolonialzeit . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Verordnung und die Macht der spanischen Krone über „Las Indias“ . . . 2. Die Organisation der Regierungsstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Form- und Verfahrensprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29 29 33 36

III. Die Funktion der Verordnung in der republikanischen Zeit Boliviens . . . . . . . . . 1. Die Verordnung und der lateinamerikanische Konstitutionalismus . . . . . . . . . 2. Die Organisation der Exekutive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Form- und Verfahrensprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39 39 43 46

IV. Die Funktion der Verordnung in der diktatorischen Zeit Boliviens (Regierungsperiode 1971–1978) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

49

23

8

Inhaltsverzeichnis 1. Die Verordnung und die Diktaturzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Organisation der Exekutive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Form- und Verfahrensprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

49 53 55

V. Die Funktion der Verordnung seit den 1980er Jahren im Rahmen der Rückkehr Boliviens zur Demokratie (Regierungsperiode 1982–2002) . . . . . . . . . . . . . 1. Die Verordnung und die demokratische Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Organisation der Regierungsstruktur und die Exekutive . . . . . . . . . . . . . . 3. Form- und Verfahrensprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

59 59 61 62

Zweites Kapitel Rechtskultureller Hintergrund der exekutiven Normsetzung

65

I. Die soziale Struktur der bolivianischen Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Funktion der Institutionen: Informale versus formale Institutionen? . . . 2. Die Informalität innerhalb der Formalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

65 67 70

II. Multikulturelle Gesellschaft und Rechtspluralismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Multikulturalität und das indigene Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Internationale rechtliche Instrumente für indigenes Recht . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Einordnung des bolivianischen Rechtssystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Kulturelle Identität und das Rechtsbewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Eingliederung des Gewohnheitsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Der Konflikt und die Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Der Konflikt und dessen Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

74 74 75 76 79 81 83 85

III. Der Konflikt und das indigene Gewohnheitsrecht in Bolivien . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Begriffsklärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Gewohnheitsrecht des Hochlandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Rechtskultur der Aymaras . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Rechtskultur der Quechuas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Gewohnheitsrecht im Tiefland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Aufnahme des indigenen Rechts in der neuen bolivianischen Verfassung oder die Formalisierung der informalen Institutionen? . . . . . . . . . . . . . .

86 87 90 91 93 94 97

Drittes Kapitel Grundkonzeption der exekutiven Normsetzung

105

I. Rechtsdogmatik in Bolivien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 II. Grundkonzeption der exekutiven Normsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107

Inhaltsverzeichnis

9

III. Das Verhältnis zwischen Gesetz und Verordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Delegation, Ermächtigung und autonome Rechtsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Derivatives Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Verordnungsrecht und die Verordnungsarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

111 112 113 115

IV. Das Präsidialsystem und die duale Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Gewaltenteilungsprinzip in Lateinamerika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gesetzgebungsverfahren und Verordnungsgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die vorläufigen Maßnahmen in Brasilien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die gesetzliche Delegation in Argentinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Der Verordnungsvorbehalt in Chile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Die ermächtigenden Gesetze in Venezuela . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Die Dringlichkeitsdekrete mit Gesetzeskraft in Peru . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

116 121 123 127 131 133 136 138

Viertes Kapitel Praxis der exekutiven Normsetzung in Bolivien

142

I. Das Rechtsquellensystem in Bolivien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Verfassung und die Rechtsquellen mit Verfassungsrang . . . . . . . . . . . . . . a) Die Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Einordnung des „Verfassungsrechtlichen Blocks“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Gesetz zur Verfassungsteilreform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die internationalen Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Formelle und materielle Gesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Formelle Gesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Materielle Gesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Übergangsbereich zwischen Gesetz und Dekret . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Exekutive Normsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

142 143 143 143 144 149 149 149 151 152 152

II. Normsetzung als Aufgabe der exekutiven Gewalt in Bolivien . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zuständigkeiten der exekutiven Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gesetzgebungsverfahren bei der legislativen Rechtsetzung . . . . . . . . . . . . . . . 3. Verfahren bei der exekutiven Rechtsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Rechtsetzung und Rechtsbereinigung nach der geltenden Praxis . . . . . . . . . . 5. Gesetzgebungstechnik in Bolivien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Ergebnisse der empirischen Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Voraussetzungen für die Umsetzung einer „guten“ Gesetzgebungstechnik . . a) Politischer Konsens der staatlichen Institutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Leitfaden für die Rechtsbereinigung von Rechtsvorschriften . . . . . . . . . . .

154 154 158 160 160 162 163 166 166 166

10

Inhaltsverzeichnis Fünftes Kapitel Schlussfolgerungen und zusammenfassende Thesen

169

I. Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 II. Zusammenfassende Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190

Abkürzungsverzeichnis Abs. Adm.Pub. ADN a. M. Anm. AöR Art. ASP Aufl. Bd. BVerfGE bzw. CABI CAN CE chap. CIDOB CIPCA CNCB COB CONAMAQ COPEI CPE CSUTCB ders. DEA d.h. DIRECO D.O.

Absatz Administración Pública (Öffentliche Verwaltung) Acción Democrática Nacionalista (Nationale Demokratische Aktion) am Main Anmerkung Archiv des öffentlichen Rechts Artikel Asamblea por la Soberanía de los Pueblos (Versammlung für die Selbstbestimmung der Völker) Auflage Band Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts beziehungsweise Capitanía del Bajo Izozog (Gebiet von Bajo Izozog) Comunidad Andina de Naciones (Andengemeinschaft) Constitución Española (Spanische Verfassung) Chapter Confederación de Indígenas del Oriente Boliviano (Dachverband der Indigenas Ostboliviens) Centro de Investigación y Promoción del Campesinado (Zentrum der Forschung und Förderung der Bauern) Confederación Nacional de Colonizadores de Bolivia (Landesdachverband der Siedler Boliviens) Central Obrera Boliviana (Dachverband der Arbeiter Boliviens) Consejo Nacional de Ayllus y Markas del Qullasuyu Comité de Organización Política Electoral Independiente (Venezolanische Christliche Sozialdemokratische Partei) Constitución Política del Estado (bolivianische Verfassung) Confederación Sindical única de Trabajadores y Campesinos Bolivianos (Dachverband der Landarbeiter Boliviens) derselbe Drug Enforcement Administration (Drogenbekämpfungsbehörde der USA) das heißt Dirección de Reconversión de la Coca (Direktion für Rückbau der Koka) Diario Oficial (Amtsblatt)

12 DÖV DVBl. Ed. ebd. EGTK et al. etc. EuZW f. FELCN ff. GG GGO GGO I GGO II GMBl. GTZ GWB HGrG Hrsg. IHD ILDIS ILO INAP INE INRA insb. IPSP Jh. JÖR JuS JZ Kap. KAS MAS MIP

Abkürzungsverzeichnis Die öffentliche Verwaltung Deutsches Verwaltungsblatt Edición (Auflage) ebenda (wie vorgennant) Ejército Guerrillero Tupaj Katari (Guerrilla Grupe Tupaj Katari) et alii (und andere) et cetera (und die Übrigen) Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht folgende Seite Fuerza Especial de Lucha Contra el Narcotráfico (Spezialeinheit gegen den Drogenhandel) folgende Seiten Grundgesetz Gemeinsame Geschäftsordnung Gemeinsame Geschäftsordnung d. Bundesministerien, Allg. Teil (vom Kabinett am 8.1.1958 genehmigt) Gemeinsame Geschäftsordnung d. Bundesministerien, Besonderer Teil i. d. Bek. v. 15.10.1976 (GMBl. S. 550) Gemeinsames Ministerialblatt Gesellschaft für technische Zusammenarbeit Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen Haushaltsgrundsatzgesetz Herausgeber Impuesto a los Hidrocarburos y Derivados (Steuer für Kohlenwasserstoffe und Derivate) Instituto Latinoamericano de Investigaciones Sociales International Labour Organisation (Internationale Arbeitsorganisation) Instituto Nacional de Administración Pública Instituto Nacional de Estadística Instituto Nacional de Reforma Agraria insbesondere Instrumento Político para la Soberanía de los Pueblos (Politisches Instrument für die Selbstbestimmung der Völker) Jahrhundert Jahrbuch des öffentlichen Rechts Juristische Schulung Juristenzeitung Kapitel Konrad Adenauer Stiftung Movimiento al socialismo (Bewegung zum Sozialismus) Movimiento Indígena Pachakutik (Indigene Bewegung Pachacuti)

Abkürzungsverzeichnis MNR MVR NJW Nr. Num. NVwZ OECD OPS PIEB PNUD PPT RCP S. SAFCO sog. Tit. u. a. UMSA USA v. v. a. vgl. VgRÄG VGV VOB VOF VOL Vol. VRÜ VVDStRL VwGO www. ZaöRV z. B. ZG Ziff. ZNR ZPO ZPol

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Movimiento Nacionalista Revolucionario (Nationale Revolutionäre Bewegung) Movimiento Quinta República (Bewegung Fünfte Republik) Neue Juristische Wochenschrift Nummer Nummer Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Organization for Economic Cooperation and Development (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) Oficina para Servicios de Proyectos (Büro für Projektmanagment) Programa de Investigación Estratégica de Bolivia (Programm der strategischen Forschung Boliviens) Programa de Naciones Unidad para el Desarrollo (Entwicklungsprogramm der Vereinigten Nationen) Patria para todos (Vaterland für alle) Reglamento Común de Procedimientos Seite Sistema de administración fiscal y control gubernamental sogenannt Titel unter anderem Universidad Mayor de San Andrés United States of America versus vor allem vergleiche Vergaberechtsänderungsgesetz Vergabeverordnung Verbindungsordnung für Bauleistungen Verbindungsordnung für freiberufliche Leistung Verbindungsordnung für Leistung Volumen Verfassung und Recht in Übersee Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Verwaltungsgerichtsordnung i. d. Bek. v. 19.3.1991 (BGBl. I S. 686) World Wide Web Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht zum Beispiel Zeitschrift für Gesetzgebung Ziffer Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte Zivilprozessordnung Zeitschrift für Politikwissenschaft

Einleitung I. Die Lage in Bolivien: Problemaufriss Will man die wesentlichen Merkmale der geschichtlichen und politischen Entwicklung Boliviens skizzieren, drängen sich fünf Themen auf: Boliviens kulturelle Identität, die Nutzung der Rohstoffe, die Regelung der Landverteilung, der Kampf für soziale Gerechtigkeit und die Hegemonialstellung der Exekutive. Die Verflechtung dieser fünf Themenbereiche miteinander zeichnet den Rahmen vor, in dem sich die Bildung des Staates Bolivien seit seiner Gründung 1825 vollzieht. Die kulturelle Identität1 spiegelt die heterogene Zusammensetzung der neun Millionen Bolivianer wider. Mit einer hoch entwickelten Organisation seiner Zivilgesellschaft ist dieses südamerikanische Land mit mehr als 30 indigenen Völkern und Nationen, mit unterschiedlichen Sprachen und mit vielfältigen eigenen Wertesystemen reich an kultureller Vielfalt. Seine Bezeichnung als plurinationaler Staat soll der Beteiligung der ethnischen und kulturellen Gruppen Boliviens an der Gestaltung und dem Inhalt der neuen Verfassung Rechnung tragen. Darüber hinaus verfügt Bolivien über einen großen Reichtum an Bodenschätzen wie Lithium, Erdgas und Eisenerz. Mit seinen Wasserressourcen ist es eines der 30 Länder der Erde, die nicht von Wasserknappheit bedroht sind. Bolivien ist jedoch trotz dieser natürlichen Ressourcen eines der ärmsten Länder Lateinamerikas geblieben.2 Die Landverteilungspolitik stellt ein wesentliches Potenzial des Konflikts zwischen den Regionen des Tief- und denen des Hochlands dar. Das oft instrumentalisierte Recht der Landverteilung, bei der keine transparenten oder objektiven Kriterien zu erkennen sind, verbunden mit der Problematik interner Migration, bildet letztlich kein leichtes Szenario für die Gewährleistung von Rechtssicherheit und das damit verbundene Recht auf Eigentum. 1 Die kulturelle Identität wird hier als dynamischer Prozess verstanden, der lediglich als statisches Resultat des kulturellen Erbes der vorkolonialen Geschichte Boliviens zu sehen ist; zur Unterscheidung zwischen kultureller Identität, kultureller Vielfalt und kulturellem Erbe in einer Gesellschaft siehe Sommermann, Karl-Peter: Kultur im Verfassungsstaat, in: VVDStRL 65 (2006), S. 29 ff. 2 Zur Problematik der fossilen Reserven in Lateinamerika und der Entwicklungsstrategie siehe Altvater, Elmar: Die große Illusion eines „Elpetrolado latinoamericano“, in: Gabbert, Karin (Hrsg.), Jahrbuch Lateinamerika, Analysen und Berichte, Band 31, Rohstoffboom mit Risiken, Münster 2007, S. 23 ff.

16

Einleitung

Der Kampf für soziale Gerechtigkeit lässt sich von einem rechtspositivistischen Verfassungstext nicht leicht erfassen. Dieses Problem bleibt bei der Bezeichnung der neuen Verfassung als „Estado Unitario Social de Derecho Plurinacional Comunitario“ ungelöst; nur in der Präambel wird konkret Bezug auf die sozialen Entstehungsprozesse genommen. Die Furcht der Bevölkerung und zugleich der Kult um starke Führungsfiguren in vielen Ländern Lateinamerikas hängen eng mit deren wirtschaftlicher Entwicklung und politischer Kultur zusammen.3 Die institutionelle Entwicklung der Exekutive bleibt von dieser ambivalenten Haltung gegenüber einem starken Präsidenten daher nicht unbeeinflusst.4 Das Erbe der Diktatur schafft in den Ländern Lateinamerikas ein großes Misstrauen gegenüber der Wiederwahl von Präsidenten und gegenüber nahezu uneingeschränkten Befugnissen der Exekutive.5 3 So der berühmte Satz von Mariano Isidoro Belzu: „Cuando las reformas no se hacen desde arriba, el pueblo hace la revolución a su modo“; siehe dazu Reinaga, Fausto: Biografía de Belzu, La Paz 1954, S. 126. Für eine ausführliche Analyse der Biografien von Präsidenten in Bolivien siehe Ossio Sanjinés, Luis: Introducción a la teoría de la historia, La Paz 1982. 4 Um den Kampf für soziale Gerechtigkeit einerseits und die hegemoniale Stellung der Exekutive andererseits zu verdeutlichen, bietet sich ein Gedicht Pablo Nerudas, des weltbekannten chilenischen Poeten, an, der Bolivien in seinem Werk „Canto General“ einige Verse widmete. Das Gedicht erzählt von einem Tag in der Geschichte Boliviens, dem 22. März 1865, an dem der grausame Machtkampf zwischen den zwei „Caudillos“ Belzu und Melgarejo in La Paz seinen Höhepunkt fand. In der kurzen Handlung wird beschrieben, wie die Massen unter dem Balkon des Präsidentenpalasts, nachdem sie Belzu als Sieger bejubelt hatten, in kürzester Zeit unverzüglich auf die Seite seines Gegners Melgarejo wechselten, nachdem dieser Belzu im Handstreich ermordet hatte. Gewiss basiert diese Poesie lediglich auf einer volkstümlichen Anekdote über eine der sinnbildlichen Figuren der uneingeschränkten Macht in Bolivien, Mariano Melgarejo, der von Neruda als Minotaurus bezeichnet wurde. Dennoch entwirft dieses Gedicht ein paradigmatisches Bild der Phänomene des Autoritarismus und des Populismus in Lateinamerika, das in unterschiedlichen kulturellen Ausdrucksformen immer wieder zu finden ist, Neruda, Pablo: Canto General, Mexiko 1950, S. 34. In einem anderen bedeutsamen literarischen Werk wie „Der Aufstand der Massen“, geschrieben von einem auch Zeitzeugen eines politischen Umbruchs zwischen dem sogenannten Totalitarismus und dem Liberalismus in Europa – wie jede Lebensform ihres Gegenteils bedarf, um ihr Gleichgewicht zu erlangen – äußerte Ortega y Gasset die Hoffnung, dass der sogenannte Totalitarismus sich im Lauf einer friedvollen, besinnenden Zeit in seinen Gegenpol, den Liberalismus in Europa verwandelt, „dass eine Zeitlang jenes Minimum an Ruhe einzieht, dessen es unbedingt bedarf, auf dass tief im Walde der Seelen die Quelle eines neuen Glaubens aufrausche. Dieser Glaube ist die wahre historische Schöpferkraft, aber er entsteht nicht im Getümmel des Streites, sondern in der Zurückgezogenheit der Selbstbesinnung“, Ortega y Gasset, José: Der Aufstand der Massen, Stuttgart 1965, S. 355. 5 Die zentrale Literatur über die uneingeschränkte Macht der Exekutive stammt überwiegend aus der Periode 1960–1980, der Blütezeit der Verfassungsrechtslehre Südamerikas. Die kritische Einstellung gegenüber dem Präsidialsystem und die hegemoniale Stellung des Präsidenten in diesem System waren in intellektuellen Kreisen eine Folge der Instrumentalisierung des Rechts durch die Diktaturen. Jedoch gab es auch Autoren, die eine starke Exekutive bevorzugten, um die Entwicklung des Staates zu begünstigen. Auf beiden Positionen spielte das Recht an sich eine geringere Rolle. Die Befürchtung

I. Die Lage in Bolivien: Problemaufriss

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Instabile politische Szenarien, bedingt durch wirtschaftliche Krisen oder populistische Bewegungen, lassen das wissenschaftliche Forschungsinteresse an rechtsdogmatischen Untersuchungen der Staatslehre in Bolivien in den Hintergrund treten. Die Aufgabe bleibt ungelöst, und die fehlende theoretische Reflexion über die Staatsbildung lässt sich meist auf die geringe Förderung und die mangelhaften Rahmenbedingungen der Wissenschaft zurückführen. Die verfassungsrechtlichen Grenzen der Exekutive und die Staatsorganisation Boliviens bleiben unerforscht, trotz der zentralen Bedeutung der Exekutive für Boliviens gesamtes Rechtssystem. Daher ist es das Ziel der folgenden Untersuchung, diese Forschungslücke schließen zu helfen. Der Wandel der Regierungsform von einem Präsidialsystem zu einem parlamentarischen System nimmt in der Diskussion der Staatsreformen in Lateinamerika eine zentrale Stellung ein. Die neoliberale Politik und der „WashingtonKonsens“ haben die Deregulierungstendenzen und die Privatisierung staatlicher Unternehmen gefördert. Die Wirkung wird auch an der Normsetzung der Exekutive sichtbar: Viele dieser Regelungen wurden von den Regulierungsbehörden übernommen. In diesem Zusammenhang sind Konzepte wie die „bürgerfreundliche öffentliche Verwaltung“, das „New Public Management“ und „Good Governance“ eingeführt worden. Die rechtswissenschaftlichen Konsequenzen, insbesondere die des Verfassungs- und Verwaltungsrechts in der Systematik der Rechtsquellen, werden dabei nicht in Betracht gezogen. In Bolivien hat das Präsidialsystem eine lange Tradition. Bereits seit der Gründung der Republik 1825 spielt die Exekutive, vom Volk legitimiert, eine starke Rolle mit fast unbegrenzter Macht. Legislative und Exekutive beziehen aus der Direktwahl ihre Legitimation zum Erlass abstrakt-genereller Regelungen. Dabei stellt sich die Frage der Legitimation der Normsetzung in einem Präsidialsystem stärker als in einem parlamentarischen System. Die zunehmende Bedeutung exekutiver Normen wirft die Frage der verfassungsrechtlichen Grenzen exekutiver Normsetzung auf. In einem Präsidialsystem gewähren Wahlen sowohl dem Präsidenten, der das Staatsoberhaupt und der Kopf der Exekutive ist, als auch dem Parlament, den Abgeordneten und Senatoren, direkte Legitimität. Diese duale Legitimität verstärkt die verfassungsrechtlichen Kompetenzen, mit denen die Staatsorgane ausgestattet sind. Die Normsetzungsbefugnis ist eine Aufgabe, die in Bolivien in der Praxis beiden Staatsgewalten, der Exekutive und der Legislative, zusteht. Der politischer Instrumentalisierung wissenschaftlicher Ergebnisse zugunsten autoritärer Anführer populistischer Bewegungen scheint in der politischen Kultur Lateinamerikas immer noch tief zu sitzen; vgl. dazu Miranda Pacheco, Mario: Crisis de Poder y el Poder Ejecutivo en América Latina, in: Barquín Alvarez, Manuel (Hrsg.), Predominio del poder ejecutivo en Latinoamérica, Mexiko-Stadt 1977, insbesondere S. 38 ff.; Valadés, Diego: La dictatura constitucional en América Latina, Mexiko-Stadt 1974; Valencia Carmona, Salvador: El poder Ejecutivo latinoamericano, Mexiko-Stadt 1979.

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Einleitung

Präsident Boliviens hat als Staatsoberhaupt und Kopf der Exekutive das Verordnungsgebungsrecht. Den Kompetenzen der Exekutive sind in sachlicher und zeitlicher Hinsicht enge Schranken gesetzt. Rechtsdogmatisch wurde die Tragweite dieser Kompetenzen in Bolivien jedoch bisher nicht untersucht. Dabei verbirgt sich hinter dieser Dualität ein Teil der Schwierigkeiten, die es verhindern, ein überschaubares Rechtsquellensystem für Boliviens Rechtsordnung zu entwickeln. Die Normsetzung der Exekutive Boliviens dehnt sich auf zahlreiche untergesetzliche Formen aus. Die Ziehung einer scharfen Grenze zwischen den notwendigerweise durch Parlamentsgesetze zu regelnden und den durch untergesetzliche Normsetzungen regelbaren Gegenständen ist bisher nicht gelungen. Die Sicht auf das Problem der exekutiven Normsetzung in Bolivien wird durch die Komplexität des Autonomiegedankens, die neu eingerichteten Institutionen der Verfassung Boliviens wie die indigene Gerichtsbarkeit und die Direktmandate der Präfekten, die Abwahlmöglichkeiten Gewählter sowohl auf Staats- als auch auf Kommunalebene und die nicht vorhandene Verwaltungsgerichtsbarkeit erschwert. In erheblichem Umfang erlässt die Exekutive ohne verfassungsrechtliche Grundlagen Rechtsnormen, die für die Bürger bedeutsame Regelungen beinhalten, subjektive öffentliche Rechte begründen und Pflichten festlegen.

II. Gegenstand der Arbeit Die vorliegende Arbeit hat sich zum Ziel gesetzt, die Rechtsetzungsbefugnis der Exekutive und die Grundkonzeption der Rechtsetzungsbefugnis zu untersuchen. Am Beispiel Boliviens soll untersucht werden, wie sich die „Exekutive“ herausgebildet hat. Die Zusammensetzung verschiedener Elemente aus einer modernen Strömung der Rechtsauffassung eines Präsidialsystems einerseits und aus überkommenem kulturellem Rechtsverständnis und Rechtspraxis andererseits lässt die Frage aufkommen, wie die Grundform der Rechtsetzungsbefugnis und deren Funktion festzustellen sind. Diese Arbeit widmet sich unter anderem diesem Problem. Das Verhältnis der Rechtsquellen zueinander ist in vielen Bereichen noch nicht geklärt, insbesondere nicht die Rangfrage. Ein wichtiges Ziel dieser Arbeit ist es, die dogmatischen Grundlagen der Klärung des Verhältnisses der unterschiedlichen Rechtsquellen zueinander zu erarbeiten und ein neues Normsetzungskonzept zu entwickeln. Die Verordnungen, die durch „Oberste Dekrete“ („Decretos Supremos“) erlassen werden, haben zahlenmäßig eine größere Bedeutung als die Gesetze des Parlaments oder die Verordnungen nachgeordneter Verwaltungsinstanzen. Durch die Prinzipien der Gewaltenteilung und des Gesetzesvorbehalts lässt sich die Grundform der Exekutive eingrenzen; beide sind grundlegende Pfeiler

II. Gegenstand der Arbeit

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des Rechtsstaats. Darüber hinaus sind die Kohärenz des Rechtssystems und die Rechtssicherheit als Bestandteile der Einheit der Rechtsordnung zu konzipieren und gehören auf diese Weise zu den wesentlichen Merkmalen eines Rechtsstaats. Ob Bolivien diesen gerecht wird, soll in dieser Arbeit mit behandelt werden. Wird hier eine Parallele zu den beiden Konzepten gezogen, auf der einen Seite dem Konzept des Rechtsstaats und auf der anderen Seite dem Phänomen des „failed state“, d. h. des Wegfalls effektiver Staatsgewalt,6 wird deutlich, dass das Problem eines Rechtsstaats, der von außen als legitimierte Staatsform aller Regierungshandlungen angenommen wird, der von innen aber immer mehr vom anderen Extrem, nämlich dem Phänomen des Wegfalls effektiver Staatsgewalt („failed state“) bedroht wird, die gesamte Bandbreite an Problemen zeigt, aufgrund deren die Entwicklungsländer zunehmend an Handlungsfähigkeit verlieren. Diese wachsende Zerrissenheit, in der sich insbesondere die Staaten Lateinamerikas befinden, entwirft ein zusehends düsteres Szenario deren rechtsstaatlicher Entwicklung. Dies gibt den Rahmen für die thematische Einordnung und die Relevanz des Exekutivorgans vor. Denn so, wie es erforderlich ist, dass die Exekutive nach außen den Kriterien der Gewaltenteilung genügt, ist es auch nach innen unerlässlich, durch transparente und klare Kriterien ihrer Rechtsnormen innerhalb der Normenhierarchie eines demokratischen Staates die Handlungsfähigkeit aufrechtzuerhalten. Um den aufgezeigten Untersuchungsgegenstand zu analysieren, ist die vorliegende Arbeit in zwei Hauptteile untergliedert. Der erste Teil stellt den historischsozialen Charakter der Bildung und des Wandels von Institutionen der Exekutive und die politische Kultur Boliviens dar. Auf diese beiden Themenkomplexe wird im ersten und zweiten Kapitel eingegangen. Der zweite Teil widmet sich den begrifflichen, systematischen und dogmatischen Zusammenhängen in Boliviens Rechtssystem. Die Ziele des zweiten Teils sind die Einordnung des Rechtssystems Boliviens in bestimmte Grundsätze der allgemeinen Lehre des öffentlichen Rechts sowie die Analyse seiner Entwicklung und entsprechender Lösungswege anderer Länder,7 um auf diese Weise allgemeine Aussagen über die rechtliche 6 Thürer, Daniel: Der Wegfall effektiver Staatsgewalt – „The Failed State“, Heidelberg, 1996; zur aktuellen politischen Entwicklung Boliviens in den letzten Jahren in einer chronologischen Berichterstattung siehe die Beiträge in Jäger, Thomas (Hrsg.): Bolivien – Staatszerfall als Kollateralschaden, Wiesbaden 2009. Stellvertretend für die Entwicklungsstrategie zur Armutsbekämpfung siehe Schweickert, Rainer: Makroökonomische Beschränkungen des Wachstums – Prozesses [sic!] und Auswirkungen auf die Armutsreduzierung – der Fall Bolivien in Lateinamerika, in: Lateinamerika Analyse, 4. Februar 2003, S. 31–66. 7 Mehr zu dieser Methode in Sommermann, Karl-Peter: Die Bedeutung der Rechtsvergleichung für die Fortentwicklung des Staats- und Verwaltungsrecht in Europa, in: DÖV 1999, S. 1023 ff.; vgl. dazu auch Krüger, Hartmut: Eigenart, Methode und Funktion der Rechtsvergleichung im öffentlichen Recht, in: Staatsphilosophie und Rechtspolitik, FS Kriele, München 1997, S. 1393–1405.

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Einleitung

Zulässigkeit dieser Normen treffen zu können. Die Systematisierung erfüllt damit im dritten Kapitel rechtsdogmatische und rechtspolitische sowie im vierten Kapitel rechtspraktische Aufgaben. Die Untersuchung wird nicht nur Konzepte der deutschen Staatsrechtlehre auf Bolivien anwenden, sondern rechtsvergleichend zur Entwicklung der Staatsrechtslehre Südamerikas im Kontext mit dem Präsidialsystem beitragen. Insoweit können in Bezug auf Boliviens Lage Parallelen zu Brasilien, Argentinien, Peru, Venezuela und Chile gezogen werden, indem die funktionelle Methode der Rechtsvergleichung angewandt wird. Rechtsetzung ist ein komplexer, mehrere Ebenen betreffender und letztlich politischer Vorgang, bei dem der Rechtswissenschaft die Aufgabe zukommt, Vorschläge für Inhalte, Verfahren und Formen der Rechtsetzung zu machen und deren Vor- und Nachteile zu würdigen.

Erstes Kapitel

Historische Darstellung der exekutiven Normsetzung in Bolivien I. Verfassungshistorische Einordnung 1. Die bolivianische Rechtsgeschichte Ciro Felix Trigo, der bedeutendste Verfassungsrechtler Boliviens hat früh in seinem Werk darauf hingewiesen, wie schwierig es ist, eine Klassifizierung der Geschichte Boliviens vorzunehmen8. Nicht anders ist es mit der Systematisierung der Rechtsgeschichte. Die neuere Geschichte Boliviens seit 1825 ist von instabilen Regierungsperioden geprägt. Instabilität bzw. Stabilität wird oft als ein Hauptkriterium für die Klassifizierung der unterschiedlichen historischen Phasen in diesem Land seit seiner Gründung 1825 bezeichnet. So werden fünf Regierungsperioden identifiziert, welche insgesamt 72 Jahre politischer Stabilität Boliviens widerspiegeln.9 Die Instabilität der Regierungsperioden wird an der Zeitdauer gemessen, für welche der jeweilige Präsident an der Macht geblieben ist, unabhängig davon, ob es sich um eine demokratische oder diktatorische Regierungsperiode handelte. Kriterien für die Beschreibung der Geschichte Boliviens werden hauptsächlich auf Erfolge oder Misserfolge bzw. persönliche Eigenschaften der Präsidenten oder Caudillos bezogen.10 So unterscheidet der Historiker Arguedas zwischen 8 „La historia boliviana no es fácil de sistematizar, pues carece de homogeneidad y sus períodos muestran rasgos de difícil fisonomía.“ Trigo, Ciro Félix: Las constituciones de Bolivia, Madrid 1958, S. 42. 9 Bolivien wurde im Jahre 1988 im „Guiness Buch der Rekorde“ als das politisch instabilste Land der Welt mit 191 Putschversuchen in seiner Geschichte seit 1825 genannt. Dieser Rekord vermag eine komplexe politische Realität vereinfacht darzustellen, aber die meist kurze Dauer der Amtsperioden hatte in der Tat eine beträchtliche Wirkung auf die Entwicklung und den Konsolidierungsprozess der demokratischen Institutionen in Bolivien. Dieser häufige Wechsel, oft des gesamten politischen Personals vom Präsidenten bis hin zu den unteren Instanzen der exekutiven Gewalt, behinderte den kontinuerlichen Aufbau eines geordneten Verwaltungssystems erheblich. Die Instabilität gilt somit als ein wichtiger Indikator, welcher die Entwicklung der Institutionen der exekutiven Gewalt kennzeichnet. Guiness Buch der Rekorde zitiert in Mesa Gisbert, Carlos: Presidentes de Bolivia entre urnas y fusiles, La Paz 2003, S. 108 ff. 10 Weitere Kriterien für die Charakterisierung der bolivianischen Verfassungstradition wie in der englischen Literatur sind der „Constitutionalism“ (Konstitutionalismus)

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1. Kap.: Historische Darstellung der exekutiven Normsetzung in Bolivien

„Caudillos letrados und Caudillos iletrados“, gebildeten und ungebildeten Caudillos.11 Trotz 200 Revolutionen im Laufe der 150 Jahren seit Bestehen der Republik Bolivien zeigt sich, dass die Verfassungstradition in ihren Grundprinzipien dennoch überdauert hat, eine Realität, die oft verkannt wird. Bolivien kennt in seiner Verfassungsgeschichte im Zeitraum von 1825 bis 2000 insgesamt 15 Verfassungen und vier Verfassungsreformen. Darunter wurden nur sechs Verfassungen unter konstitutionellen Regierungen, neun jedoch in Zeiten der Diktatur verabschiedet. Der bolivianische Verfassungsrechtler Tomas Manuel Elío vertritt jedoch die Auffassung, dass die Verfassungsgeschichte Boliviens als eine Einheit wahrgenommen werden sollte12. Die Verfassung von 1826 muss als Ursprung und Bestand des bolivianischen Rechtssystems angesehen werden, denn in der Zeitspanne von 1831 bis heute gab es zwar Verfassungsreformen, aber mit nur geringen Abweichungen von diesem Grundtext13. Diese Analyse zeigt mögliche Kontinuitätslinien der Verfassungstradition in Bolivien auf, welche unabhängig von den instabilen politischen Verhältnissen zu sehen sind. Der Schwerpunkt dieses Kapitels wird sich auf die Analyse der besonders relevanten historischen Zäsuren für die Normsetzung der Exekutive konzentrieren. Dabei wird keine chronologische Darstellung aller Regierungsperioden und Präsidentenamtszeiten unternommen14, sondern jeweils nur thematisch auf die unterschiedlichen Zeitperioden in der Geschichte der Republik Bolivien Bezug genommen. Diese werden folgendermaßen unterteilt: die Kolonialzeit, die Phase

und die „Mobilisation“ (Mobilisierung). Aus rechtswissenschaftlicher Sicht ist diese Klassifizierung nicht weiter hilfreich, denn der Inhalt des Begriffes „Konstitutionalismus“ wird dadurch ausgehöhlt. Der „Konstitutionalismus“ wird im Unterschied zum herkömmlichen Sprachgebrauch in der Geschichts- und Rechtswissenschaft von Whitehead so verstanden, dass er das verfassungskonforme Verhalten der Regierenden beschreibt. Damit wird die Stabilität der liberalen Rechtsordnung mit einem qualitativen Wert, der Gesetzestreue, versehen. Unter „Mobilisation“ versteht er hingegen, dass die Regierenden gegen die Verbindlichkeit der Verfassungsordnung verstoßen, jedoch aus einem legitimen Grund. Vgl. dazu: Whitehead, Laurence: Emergence of Democracy in Bolivia in Crabtre, John/Whitehead, Laurence: Towards Democratic Viability, The Bolivian Experience, Oxford 2001, S. 3–40. Allgemein zu der Geschichte Boliviens siehe Bieber, León: Bolivien in: Bernecker, Walther (Hrsg.): Handbuch der Geschichte Lateinamerikas – Lateinamerika im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1996, S. 821–842. 11 Arguedas, Alcides: Historia general de Bolivia, La Paz 1922, S. 23 ff. 12 Vgl. dazu den Vortrag von Tomas Elío in Vorwort des Buches von Salinas Mariaca, Ramón: Las Constituciones de Bolivia, La Paz 1989. 13 Vgl. dazu Rivera Santivanez, José Antonio: Reformas constitucionales. Avances, debilidades y temas pendientes, Cochabamba 1999. 14 Zu einer ausführlichen Analyse der Präsidentenamtszeiten in Bolivien siehe Fellmann Velarde, José: Historia de Bolivia, La Paz 1968, S. 203 ff.; Finot, Enrique: Nueva Historia de Bolivia, La Paz 1994; Guzmán, Augusto: Historia de Bolivia, 8. Aufl., La Paz, 1998; Klein, Herbert: Historia General de Bolivia, La Paz 1994; Benavides, Ariel/ Sevilla, Rafael (Hrsg.): Bolivien, das verkannte Land?, Bad Honnef 2001.

I. Verfassungshistorische Einordnung

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der Republikgründung (1825), die diktatorischen Militär-Regime (am Beispiel der Periode 1971–1978) und nach 1982 die Rückkehr zur Demokratie und der ihr folgende Konsolidierungsprozess.15 2. Kriterien für den Vergleich der ausgewählten verfassungshistorischen Abschnitte a) Untersuchungsgegenstände in den ausgewählten historischen Abschnitten Die Geschichte der Normsetzung der exekutiven Gewalt in Lateinamerika, zu deren Erklärung diese Arbeit beitragen soll, kann nur als Bestandteil der Verfassungsgeschichte verstanden werden. Im Fall Boliviens müssen die Normsetzung der Exekutive und die Verfassungsgeschichte überhaupt mit dem Entstehungsprozess des bolivianischen Nationalstaates im Zusammenhang gesehen werden. Die politische und die rechtliche, die funktionelle und die normative Auffassung der Normsetzungsbefugnisse stehen in enger Verbindung mit dem Entwicklungsgrad des Staates. Die politische und rechtliche Gestaltung der Normsetzungsbefugnisse der exekutiven Gewalt hängt jeweils davon ab, inwieweit der Bildungsprozess des Nationalstaates fortgeschritten ist. Die sozialen, politischen und kulturellen Bedingungen, die im Prozess der Staats- und Nationsbildung Boliviens zur rechtlich-normativen Gestaltung der exekutiven Gewalt führten, sind im Falle Boliviens bis jetzt weitgehend unerforscht geblieben. Die Abgrenzung gegenüber dem politikwissenschaftlichen, dem rechtswissenschaftlichen und soziologischen Begriffsverständnis der Legitimation der Herrschaftsgewalt ist nicht leicht. Legitimation ist ein interdisziplinärer Begriff, der nicht losgelöst von den Forschungsergebnissen anderer Disziplinen betrachtet werden kann.16 Dies gilt auch für die folgende Untersuchung der historischen Abschnitte, die sich in drei Fragen gliedert. aa) Die Funktion der Verordnung in den Zeitperioden Die erste Frage, die durch alle Beispiele einen roten Faden zu ziehen vermag, bezieht sich auf die Funktion der Verordnung in den verschiedenen Zeitperioden und die damit verbundene Rechtsetzungsbefugnis.

15 Salinas (Anm. 12). Carrasco, José: Estudios Constitucionales, Bd. III, La Paz 1920. 16 Vgl. Schliesky, Utz: Souveranität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, Tübingen 2004, S. 160.

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1. Kap.: Historische Darstellung der exekutiven Normsetzung in Bolivien

Die Unterscheidung zwischen Staatszwecken und Staatszielen ist notwendig, um die Rechtfertigung der Herrschaftsgewalt zu verstehen und außerdem hilfreich für die Analyse des Usprungs der exekutiven Gewalt und die Funktion der Verordnung in der bolivianischen Geschichte. Denn selbst wenn die beiden Begriffe Staatszwecke und Staatsziele sich auf die inhaltliche Legitimation und Orientierung des Staatshandelns beziehen – wie bei der Definition im Evangelischen Staatslexikon erklärt wird – bezeichnen „in einem engeren Sinne Staatszwecke diejenigen Zwecke und Ziele, die jedem Staat als Gemeinwesen zugeschrieben und in diesem Sinne als zeitlos angesehen werden“ 17. Der Begriff der Staatsziele bietet sich hier für die historische Analyse an, da er „von naturrechtlichen oder metaphysischen Konnotationen weitgehen frei ist, und als Analysekategorie für die Untersuchung säkularisierter Staaten mit pluralistischen Gesellschaften vorzuziehen ist“ 18. Legitimität beschreibt den Zustand, in dem Herrschaftsgewalt gerechtfertigt ist, als Ergebnis eines Legitimationsprozesses. Das heisst, die Legitimation ist der prozeßhafte Vorgang, aus dem die Legitimität resultiert. Versucht man sich in eine andere Zeit zu versetzen, wäre die Legitimität dann zeitbedingt und betrachtet aus einem anderen Blickwinkel als der aus dem Verfassungsstaat und deren Staatszwecke. So erklärt in dem folgenden Satz: „Legitimität ist historisch wandelbar und damit zeitbedingt“ 19. In dem historischen Abschnitt über die Kolonialzeit wird der spanischen Krone die Legitimität von Anfang an zugesprochen. Legitimation soll dementsprechend die Verfahren und Vorgänge bezeichnen, die zu durchlaufen sind, um Legitimität zu erzeugen. Unabhängig von dieser Differenzierung, die für die unterschiedlichen historischen Abschnitte eine wichtige Rolle spielt, sollen im folgenden Legitimität und Legitimation gleichbedeutend verwendet werden. Eine zentrale Kategorie, die Funktion der Verordnung, wird anhand des Legitimationsverständnisses herausgearbeitet. Wie diese Funktion der Verordnung der Macht in Bolivien funktioniert, welche Auswirkungen sie auf die Rechtssetzungsorgane hat und wer die Kompetenz dieser dualen Zuständigkeiten zu kontrollieren hat, wird aus einem historischen Blickwinkel erläutert. Bei dieser ersten Annäherung an die Problematik zeigt sich schon, dass es natürlich in der Kolonialzeit nicht möglich gewesen wäre von Parlament oder Exekutive im heutigen Verständnis zu sprechen.20 Nichtdestoweniger bietet sich das Folgende als inte17 Sommermann, Karl-Peter: Artikel „Staatszwecke/Staatsziele“, in W. Heun/M. Honecker/J. Haustein/M. Morlok/J. Wieland (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, Stuttgart 2006, S. 2348. Ausführlich zu dieser Differenzierung vgl. Sommermann, KarlPeter: Staatsziele und Staatszielbestimmungen, Tübingen 1997. 18 Ebd., S. 2348. 19 Ebd., S. 151. 20 Jellinek, Georg: Allgemeine Staatslehre, Neudruck der 3. Ausgabe 1929, Bad Homburg 1959, S. 229.

I. Verfassungshistorische Einordnung

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ressantes Beispiel an, weil es zwei Quellen der Rechtsetzungsbefugnis behandelt. Der König von Spanien und der Vizekönig in der neuen Welt waren praktisch gleichrangig, da man den König als ursprüngliche und de jure absolute Macht anerkannt und respektiert hatte, de facto aber die unmittelbare Macht vom Vizekönig ausgeübt wurde, mit der Folge, dass der berühmte Satz „Das Gesetz wird geachtet, aber nicht befolgt“ bis in die Gegenwart zitiert wird. Der König wird als Gesetzgeber angesehen, aber die Beschlüsse des Vizekönigs werden letztendlich umgesetzt. In einem Präsidialsystem tritt die Figur des Präsidenten als direkt vom Volk gewählt hervor, also befugt und legitimiert, eine eigene Rechtssetzungskompetenz21 zu beanspruchen. Aber wenn die legislative Gewalt „der Mund, durch den der Volkswille in Gestalt des Gesetzes zum Ausdruck kommt“ 22 ist, wie hat sich das Verhältnis von der exekutiven Gewalt und der legislativen Gewalt in Bolivien entwickelt? Und damit sind selbstredend auch das Verhältnis zwischen Gesetz und Dekret und deren Inhalte gemeint23. Hier ist von besonderer Bedeutung jedoch die Frage, wie aus der Sicht der Bevölkerung, vornehmlich also aus ihrer historischen Perspektive, sich diese Beziehung entwickelt hat. bb) Rechtsetzungsbefugnis und die Regierungsorgane Wie bildet sich die exekutive Gewalt und welche sind die Institutionen, die man darunter versteht? Diese Frage setzt sich zum Ziel, den soziologischen und historischen Hintergrund der Institutionen in Bolivien zu beschreiben. Die Verwaltungsstruktur und ihre Verflechtung erlauben, einen Einblick in die komplexen Rechtstraditionen zu erhalten, u. a. interessiert hier, inwieweit die Institutionen der exekutiven Gewalt und der öffentlichen Verwaltung sich unterscheiden und entfaltet haben. Das Gewaltenteilungsprinzip trennt die drei Gewalten Exekutive, Legislative und Judikative in einer theoretischen, klar differenzierten Weise die gesamte Verfassungsgeschichte Boliviens hindurch. Die verfassungsrechtlichen Ideale sollen aber mit der Realität verglichen werden. Die horizontale Kontrolle der Macht wird analysiert aus einer historischen Perspektive, im Mittelpunkt der Analyse bleibt jedoch 21 Ob es sich um eine legislative Delegation oder eine selbstständige Kompetenz handelt, wird im dritten Kapitel analysiert. 22 Ossenbühl, Fritz: Gesetz und Verordnung im gegenwärtigen Staatsrecht, in ZG (1997), S. 305. 23 Der Autor Ossenbühl äußert sich in seinem Aufsatz über das Idealbild der deutschen Verfassung und das Verhältnis zwischen Gesetz und Rechtsverordnung und die Notwendigkeit die verfassungsrechtlichen Ideale mit der widerstrebenden Realität zu vergleichen und zu einer praktischen Syntese zu führen. Ossenbühl (vorige Anm.), S. 306.

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1. Kap.: Historische Darstellung der exekutiven Normsetzung in Bolivien

die exekutive Gewalt. Ihre Zuständigkeiten und ihr rechtlicher Rahmen werden dabei beschrieben. Die Abgrenzung zwischen Institutionen wie Präfekturen und Munizipien, die vertikale Kontrolle der Macht, dient als Beispiel für die Analyse des soziologischen Hintergrundes und des Ursprungs der Institutionen in der Kolonialzeit, ein Vermächtnis, an dessen Auswirkungen die bolivianische Staatsorganisation bis zum heutigen Tage mitträgt. cc) Formalitäten und Gesetzgebungstechnik Die übermäßigen Formalitäten, die kaum mit Inhalt und Ziel der normativen Instrumente zu vereinbaren sind, werden als letzter Punkt dieser kurzen Einführung Berücksichtigung finden. Wie hat sich das Verhältnis zwischen Inhalt und Form der rechtlichen Normen herausgebildet? Und analog: Wie sind materielle und formelle Grundsätze zu verstehen? Das Verhältnis zwischen Form und Recht wird in einem besonderen Abschnitt anhand von Beispielen behandelt. Die Funktion der Form des Rechts gewährleistet die Kontinuität und Sicherheit einer Rechtsordnung; aus einer juristischen Perspektive betrachtet wird diese grundlegende rechtsstaatliche Funktion als die Bindung der öffentlichen Verwaltung an das Gesetz und die Rechtssicherheit konzipiert. Die folgende Fragestellung versucht aber auch, einen anderen Einblick in die rechtliche Formalisierung des staatlichen Handelns zu gewinnen. Die rechtliche schriftliche Formalisierung aller möglichen Handlungen beginnt in der Kolonialzeit mit der ersten Expedition von Cristóbal Colón (Christoph Kolumbus) auf diesem „neuen“ Kontinent. Das Vorgehen der Spanier in der Eroberung Hispanoamerikas wird durch notarielle Rechtsakte gekennzeichnet, welche sich streng und nicht immer verständlich für die Bevölkerung tief in der autoritären Verwaltungskultur verankern24, die Furcht verbreitet und gleichzeitig Anerkennung. Ungeachtet dieser Anerkennung lässt sich das so überformalisierte Recht von seinem negativen Akzent nicht so leicht befreien, mit welchem auch der Begriff des Rechtsstaates mit traditionellen festen Kompetenzen der Behörden und einer starren Hierarchie in Verbindung gesetzt wird 25. 24 Der kolumbianische Anthropologe Juan Friede hat in seinem Standardwerk „El indio en la lucha por la Tierra“ bereits 1944 auf den Widerspruch des indigenen Widerstands in Kolumbien hingewiesen, den er als „legalismo indígena“ kritisiert, dessen Merkmal das „blinde Vertrauen“ und die „bedingungslose Anhänglichkeit“ der Indios an die gesetzlichen Vorschriften beim Kampf um ihr Land seien und den er als das historische Ergebnis der Kolonialzeit betrachtet. Friede, Juan: Las Fuentes Coloniales del Legalismo Indígena, Bogotá 1976, S. 35. 25 Hier werden übermäßige rechtliche Formalitäten im staatlichen Handeln produziert, die nicht immer mit Inhalt und Ziel der normativen Instrumente zu vereinbaren

I. Verfassungshistorische Einordnung

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In einem Rechtsstaat ist das Handeln des Staates überschaubar, berechenbar und begrenzbar. Hierbei ist nachvollziehbar, wie sich das Verhältnis zwischen Inhalt und Form der rechtlichen Normen gebildet hat und dann entsprechend deren materiellen und formellen Grundsätze zu verstehen sind. Der Missbrauch rechtlicher Gestaltungsmöglichkeiten könnte dazu führen, dass die inhaltliche Aussagekraft der rechtlichen Norm verloren geht. Der Rechtsmissbrauch tritt eher dann ein, wenn die rechtlichen Regeln für die Gestaltungsmöglichkeiten, seien sie schriftlich oder aus dem Gewonheitsrecht stammend, vorher bestimmt wurden. So sind diese Formen des Missbrauchs auch unterschiedlich zu bewerten26. Zu den Tatbeständen im Bereich der Legislative, die gelegentlich als Formenmissbrauch kritisiert werden, gehören die Verwendung der Gesetzesform für individuelle Maßnahmeregelungen oder die Verwendung einer gesetzgeberischen Verweisung auf Rechtsverordnungen, welche die Gesetze ergänzen sollen. b) Auswahlkriterien der historischen Abschnitte aa) Kolonialzeit Diese Periode erstreckt sich vom Beginn der spanischen Herrschaft über „Las Indias“, dem späteren Hispanoamerika, bis zur Etablierung eines kolonialen Verwaltungssystems, welches die Rechtskultur und das Rechtsbewusstsein bis in die heutigen Tage prägen wird. Als Beispiel wird die dritte Phase der Kolonialzeit beleuchtet. bb) Republikanische Zeit Dieser Zeitraum ist gekennzeichnet durch den sonderbaren Weg der lateinamerikanischen Staaten mittels des Konstitutionalismus die Legitimität der Macht zu erlangen. Diese Periode bezieht sich im Falle Boliviens auf die Gründung der Republik durch Dekret vom 13. Februar 1825 und die Legitimation der Macht durch die erste bolivianische Verfassung von 1826. Die Agrarrevolution von 1952 wird in diesem Zusammenhang ebenfalls analysiert und die darauf folgende Einführung allgemeiner Wahlen.

sind. Zu diesem Verständnis des Begriffs Rechtsstaat siehe Pollitt, Christopher/Bouckaert, Geert: New Public Managment Reform, Oxford 2000. 26 „Wäre er (der Staat) frei in der Schaffung oder der Wahl vorhandener Formen, bestünde die Gefahr, dass der Apparat lahmgelegt würde und die Verfassung als Einbindung ihren Sinn verlöre“. Pestalozza, Christian: „Formenmißbrauch“ des Staates, München 1973, S. 4.

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1. Kap.: Historische Darstellung der exekutiven Normsetzung in Bolivien

cc) Diktaturzeit Die Rolle der Streitkräfte und ihr Verständnis von der Erhaltung der Souveränität eines Staates führten in Lateinamerika zu einer Sonderstellung des Ausnahmezustands und zur Einführung der Rechtskategorie der Decretos-Leyes. Als ein repräsentatives Beispiel für diese Zeit wird die Regierung de facto von Hugo Banzer als die längste Periode der Diktaturzeit in der bolivianischen Geschichte (1971–1978) behandelt. dd) Demokratische Zeit Diese Zeit beginnt mit der Rückkehr der Demokratie Boliviens im Jahre 1982. In Anbetracht dieser historischen Abschnitte der Epochen, lassen sich einige Merkmale festmachen, die ein kontinuierliches Verhaltensmuster – verwurzelt in der Natur des juristischen Verständnisses der bolivianischen Bevölkerung – bis zum heutigen Tag nahelegen. Ausserdem dient diese Fragestellung dazu, dem Leser, welchem die lateinamerikanische bzw. bolivianische informelle Rechtspraxis weniger vertraut ist, die Anwendung der Rechtssetzung und die Komplexität ihrer Logik näher zu bringen. Die innere Verbindung zwischen Rechtsgeschichte und Rechtsvergleichung ist von Radbruch im 20. Jahrhunderts dargestellt worden27. Die notwendige Distanz zur eigenen Rechtsordnung, um tief in die Wurzeln der Rechtsgeschichte einzudringen und damit die funktionalen Äquivalente der rechtsdogmatischen Figuren zur Geltung zu bringen, ist eine Erkenntnis der modernen Wissenschaft von der

27 „Während die Rechtsgeschichte das zeitliche Nacheinander der Rechtszustände zu ihrem Gegenstand hat, stellt die Rechtvergleichung ein Nebeneinander der verschiedenen nationalen Rechtsordnungen dar“. Vgl. dazu Radbruch, Gustav: Vorschule der Rechtsphilosophie, Nachschrift einer Vorlesung, hrsg. Von Harald Schubert und Joachim Stolzenburg, Heidelberg 1948. Aufl. zitiert in: Scholler, Heinrich: Die Rechtsvergleichung bei Gustav Radbruch und seine Lehre vom überpositiven Recht, Berlin 2002, S. 14–16. Die Konstruktion der Vorgeschichte der Rechtsentwicklung durch die Kulturnationen, die autochthonen Völker bis hin zur letzten Stufe der Universalrechtsvergleichung von Radbruch ist im Zeitalter der Globalisierung nicht mehr vertretbar. Denn die evolutionistische Methode impliziert eine letzte Stufe, welche ein „richtiges“ Recht voraussetzt, das mit der Entwicklungstendenz übereinstimmen will, Entwicklungstendenz von autochthonen Kulturen bis hin zu postindustrialisierten Gesellschaften. Im Vordergrund steht das Kriterium des wirtschaftlichen Fortschritts. Dieses Rechtsgebiet, das Radbruch als Universalrechtsvergleichung bezeichnete, nennt man heute Vergleichende Rechtskulturwissenschaft oder in angloamerikanischem Raum Comparative Legal Culture. Vgl. Hoecke, Mark van/Warrington, Marl: Legal Cultures, Legal Paradigms and Legal Quarterly Bd. 47 (1998), S. 495–536. Hierzu auch Häberle, Peter: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl., Berlin 1998. Cruz, Peter de: Comparative Law in a Changing World, London 1995. Coing, Helmut: Aufgaben der Rechtsvergleichung in unserer Zeit, in: NJW (1981), S. 2601–2604.

II. Die Funktion der Verordnung in der spanischen Kolonialzeit

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Rechtvergleichung28. So wird die Bedeutung der rechtspolitischen Dimension in der Rechtsvergleichung erreicht, wenn sie über das positive Recht hinausgreift. In diesem Kontext versteht man diese rechtspolitische Dimension im Sinne einer Metasprache29 der Rechtsvergleichung. Dieser Vorgang ist in besonderer Weise in lateinamerikanischen Rechtsordnungen präsent, da die positivistische Tradition seit der Gründung der Staaten im 19. Jahrhundert sich nicht außerordentlich von den kontinentaleuropäischen Traditionen unterscheidet, zumindest in Bezug auf die Verfassungstexte und Gesetzesbücher.30

II. Die Funktion der Verordnung in der spanischen Kolonialzeit 1. Die Verordnung und die Macht der spanischen Krone über „Las Indias“ Für mehr als 300 Jahre verkörperte die spanische Krone die Legitimation der Macht in allen Gebieten ihres Imperiums.31 Die Bildung von Staatlichkeit im kolonialen Hispanoamerika wird von der Fachliteratur als eine starke und zentralisierte Macht Spaniens beschrieben32, deren Strukturen eine durchaus solide Präsenz in den herrschenden Institutionen, den so genannten „Las Indias“, aufwiesen. „Las Indias“ ist ein Terminus, der das gesamte hispanoamerikanische Territorium unter einheitlichen verwaltungspolitischen Richtlinien zusammenfasst. Offiziell wird „Las Indias“ nicht als Kolonialgebiet sondern als Provinz oder 28 Zu einer differenzierten Auffassung von Erkenntniszwecken und rechtspolitischen Zwecken der Rechtsvergleichung siehe Sommermann (Anm. 6), S. 1020–1021. 29 Starck, Christian: Rechtsvergleichung im öffentlichen Recht, in: JZ (1997), S. 1027. 30 Die Beispiele von Rechtskulturen außerhalb des Westens beziehen sich auf asiatische, afrikanischen und islamischen Rechtskulturen. Die lateinamerikanischen Rechtskulturen werden bei der Klassifizierung einfach nicht erwähnt. So in Mastronardi, Philippe: Recht und Kultur, Kulturelle Bedingtheit und universaler Anspruch des juristischen Denkens in: ZaöRV 61/1 (2001). Garcia Pelayo, Manuel: Derecho Constitucional comparado, Madrid 1987. 31 „To be sure the King was not always obeyed, but his authority, at least in theory, was always respected. Napoleon’s seizure of Spain in 1808 created a legitimacy crisis from which parts of the former empire have not yet recovered. The Spanisch Kings, Carlos IV and his son Fernando, were forced to abdicate in favor Napoleons brother Joseph . . .“ Klein, Herbert: A concise history of Bolivia, Cambridge 2003, S. 89. 32 „Spanien war autoritär, absolutistisch, zentralistisch, patrimonialistisch und korporativ. Diese Strukturen, wurden als auch für die conquista der entdeckten Gebiete nützlich angesehen und übertragen, ohne dass damit die Vorstellung eines bis ins letzte durchrationalisierten Gebildes zu verbinden ist“. Mols, Manfred: Begriff und Wirklichkeit des Staates in Lateinamerika, in: Manfred Hättich (Hrsg.), Zum Staatsverständnis der Gegenwart, München 1987, S. 190. Vgl. zum Staat in Lateinamerika u. a. Pietschmann, Horst: Die politisch-administrative Organisation, in: Handbuch der Geschichte Lateinamerikas, Band 1, Stuttgart 1994, S. 328–364.

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1. Kap.: Historische Darstellung der exekutiven Normsetzung in Bolivien

Reich des Überseeimperiums in den amtlichen Dokumenten genannt33. Erst Ende des 18. Jahrhunderts wurde diese Bezeichnung verwendet. So wird auch dieser Prozess von Staatlichkeit überwiegend als „Staatsbildung von oben“ betrachtet, bei der das spanische Überseeimperium „Las Indias“ meist als Einheit angesehen wird, das von einer spezialisierten Zentralbehörde, dem „Consejo de las Indias“, dem so genannten Indienrat, von Spanien aus regiert wurde. Diese Perspektive übersieht, dass in weiten Teilen Hispanoamerikas bereits vor der spanischen Landnahme indigene Staatsgebilde bestanden, von denen bestimmte Teile die gesamte Kolonialzeit überdauerten, so dass je nach Grad staatlicher Organisation der indigenen Bevölkerung die spanische Landnahme in der Praxis in unterschiedlicher Weise vorgenommen wurde. In dieser Zeit begannen die Vermischung, Verflechtung und Überschneidung der Kompetenzen und Funktionen zweier unterschiedlicher Machtstrukturen. Im Schatten der offiziellen spanischen Ämter und formalen Institutionen funktionierten die vorspanischen indianischen34 Institutionen weiter, allerdings auf der Grundlage eines Anweisungsverhältnisses seitens der Befehlsgewalt der Konquistadoren. Diese wiederum bekamen ihre Kompetenzen durch die „capitulaciones“ 35, die von der Krone vorgegebenen wurden. Der Ursprung und die Entwicklung der Institutionen in Hispanoamerika beruhen auf einer Dualität der Strukturen, die in der bolivianischen Geschichte immer wieder unterschiedlich zum Ausdruck kommt. Im Folgenden wird das Konzept der dualen Legitimation der Macht im Einzelnen erläutert. Eine solche Dualität der Machtlegitimation und Machtausübung in den Territorien, die dem spanischen Reich neu eingegliedert wurden, war dabei nicht ungewöhnlich. Spanien war erst im späten 15. Jahrhundert aus einer Vereinigung der Kronen von Aragon und Kastilien entstanden, also nur unwesentlich vor der 33 Über die Entwicklung und die daraus resultierenden Rechtsfolgen siehe dazu Levene, Ricardo: Las Indias no eran Colonias, Madrid/Buenos Aires 1951; Garcia Gallo, Alfonso: La constitución política de las Indias Españolas in Estudios de Historia del Derecho Indiano, Madrid 1972, S. 489–514. 34 Der Begriff indianisch wird unterschiedlich in den Fachdisziplinen verwendet. Die Differenzierung wird gezielt im Gegensatz zu dem Begriff Indigenes eingesetzt. Für die Rechtsgeschichte besteht der Unterschied zwischen indigenem und indianischem Recht darin, dass indianisches Recht aus den Kolonialstrukturen und Institutionen hervorgeht und indigenes Recht aus den vorkolonialen Institutionen kommt. Siehe dazu Ossio, Lorena: Indigenismo, in: Nohlen, Dieter: Diccionario de ciencias politicas, Mexiko 2006. 35 Capitulaciones sind erlassene Rechtsetzungsakte seitens der Krone für die neuen anektierten Gebiete. Aufgrund dieser Capitulaciones entwickelte sich auch das erste koloniale und administrative Rechtssystem. Die ersten Capitulaciones de Santa Fe vom 17. April 1492 verliehen Cristóbal Colón den Vizekönigtitel. Die Rechtsnatur dieser Capitulaciones wurde ausführlich in der Rechtsstreitigkeit zwischen Colón und den Königen aus Spanien analysiert, in welcher diese Rechtssetzungsakte als verbindliche Verträge und Gesetze aus Kastilien interpretiert wurden. Siehe dazu García Gallo, Alfonso: Los orígenes españoles de las instituciones americanas, Madrid 1987, S. 692–693.

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„conquista“. Das entstehende spanische Reich in Europa verband die einzelnen Territorien, wie etwa Sizilien, Neapel, die Burgundischen Erblande sowie Kastilien, Katalonien, Valencia und Aragon unter einer gemeinsamen Krone. Bestehende politische Institutionen und administrative Strukturen wurden dabei im Allgemeinen unverändert übernommen. Spanien blieb daher bis ins 19. Jahrhundert hinein eine „composite monarchy“ 36, zusammengefügt aus institutionell und administrativ deutlich unterschiedlichen Teilreichen, in denen jeweils ein Vizekönig als Statthalter der Krone die Macht ausübte.37 Und selbst innerhalb der bestehenden Territorien hatten spätmittelalterliche Strukturen der Machtformung und -ausübung überlebt, so dass die „Freiheiten“ von Städten, Territorien und nicht zuletzt der Kirche mit der Krone konkurrierten. Die Konsequenzen dieses dualen Systems von Machtstrukturen und des dualen Verständnisses ihrer Legitimation verdeutlichen sich bei der Wahrnehmung und Umsetzung von Gesetzen. Der Staatsbildung in Hispanoamerika ermangelte es seit ihren Anfängen eines sehr wichtigen Elementes für das moderne Verständnis eines liberalen Staates: des Gewaltmonopols. Die spanische Krone überließ dessen Ausübung den Konquistadoren in „Las Indias“, denn sie war bei ihrer Expansion nach Amerika auf private Initiative angewiesen. Daher erteilte das spanische Imperium weitreichende Privilegien an die Anführer solcher Unternehmungen, die Konquistadoren. Das spanische Überseeimperium versuchte aber auch der Gefahr entgegenzuwirken, dass die Konquistadoren ein koloniales Feudalsystem in den Überseegebieten etablierten. Dabei entstand eine Überreglementierung durch rechtliche Instrumente wie die „capitulaciones“, „instrucciones“ und „ordenanzas“, d.h. durch Kontrollmechanismen seitens der Krone, die nur bedingt zur Weiterentwicklung der Institutionen in Hispanoamerika führten, da diesen nur kommissarische Bedeutung zukam. Diese Politik der Machtbeschränkung der Konquistadoren drückte sich auch im Konzept der dos repúblicas aus38, d.h. des Nebeneinanders von indianischem und spanischem Gemeinwesen mit voneinander getrennter Verwaltung auf Munizipalebene, das den Indianern eine beschränkte kommunale Selbstverwaltung unter der Aufsicht eines spanischen Beamten (corregidor) sicherte und sie vor jurisdiktioneller Dominanz durch die von Kreolen bewohnten Städte bewahren sollte. Die Schutzbestimmungen in den „ordenanzas“, „provisiones“ und Gesetzen der kolonialen Rechtsordnung sollten die gnadenlose Unterdrückung und Ausbeutung der Indigenen durch Konquistadoren und Encomenderos, denen Verfü36 Elliott, John H.: A Europe of Composite Monarchies, Past and Present, 137. 1992, S. 48–71. 37 Die Institution des Vizekönigs wurde aus der Tradition von Aragon und Katalonien übernommen. Siehe bei Elliott, John H.: Imperial Spain 1469–1716, Harmondsworth 1981. 38 Pietschmann (Anm. 32), S. 328–364.

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1. Kap.: Historische Darstellung der exekutiven Normsetzung in Bolivien

gungsgewalt über indianische Arbeitskräfte verliehen wurde, mildern, weil die aus ihr resultierende Entvölkerung des Landes den ökonomischen Interessen der spanischen Krone zuwiderlief. Zum Teil nutzte die Krone die Debatte um die geeignete Behandlung der Indianer, indem sie die Trennung zwischen weißen und indianischen Siedlungsgebieten einführte, um die Eingeborenen vor den Misshandlungen durch die Siedler zu schützen39, aber auch um ein bürokratisches und zentralisiertes Verwaltungssystem in den Überseegebieten aufzubauen, welches ausschließlich königlicher Kontrolle unterworfen sein sollte.40 Die Krone legte bei der Wahl des Verwaltungspersonals strenge Kriterien bezüglich der Herkunft an41. Sie verfolgte innerhalb ihrer komplizierten Rechtsformalitäten die Strategie, auch den Vertretern anderer Gesellschaftsschichten gewisse Privilegien zukommen zu lassen. Der König blieb auf diese Weise immer erster Ansprechpartner in allen Belangen der Macht und wurde damit die einzige legitimierte Quelle der Souveränität. Die Unabhängigkeitsbewegung in den amerikanischen Kolonien Spaniens wurde durch Napoleons Machtergreifung 1808 begünstigt. König Fernando II wurde in Gewahrsam genommen und damit eine Legitimationskrise der Macht initiiert. In Madrid beanspruchte Joseph Napoleon die Herrschaft über das spanische Imperium, ebenso tat dies die Schwester des Königs, Carlota, verheiratet mit dem portugiesischen König Pedro. Im Jahr 1809 reisten sie nach Brasilien, um ihre Rechte geltend zu machen. Im Zuge der Widerstandskämpfe gegen Napoleon bildeten sich wiederum spanische Juntas, die im Namen des abgedankten Königs regieren wollten42.

39 Die einschlägigen Schutzgesetze enthalten – formaljuristisch betrachtet – für die Indigenen in mancher Hinsicht tatsächlich gewisse Vorteile im Vergleich zu den im 19. und 20. Jahrhundert eingeführten liberalen Änderungen. Siehe dazu Hanke, Lewis: Más polémica y un poco de verdad acerca de la lucha española por la justicia en la conquista de América in: Estudios sobre Fray Bartolome de las Casas y sobre la lucha por la justicia en la conquista española de América, Caracas 1968. 40 In den Gebieten, die später Peru und Bolivien zugeordnet wurden, war die Behandlung von Gewohnheiten und Traditionen der Indianer im Rahmen der Inquisition abhängig von der persönlichen Einstellung der jeweiligen spanischen Anführer. In Bolivien war die Inquisition eher milder und weit mehr toleranter im Umgang mit anderen Kulturen. Siehe dazu Lara, Pablo: Extirpación de Idolatrías, La Paz 2000. 41 Die Mestizen durften keine hoheitstragenden Ämter ausüben. Die mittleren Positionen in Kommunen, die Cabildos, durften die Kreolen ausüben. Die höheren politischen und verwaltungsleitenden Positionen waren ausschließlich mit sogenannten Realistas zu besetzen. Die zuerst genannte Gruppe stammte von spanischen und indigenen Vorfahren ab (Mestizen), die zweite Gruppe waren als Spanier in las Indias geboren (Kreolen), während letztere Gruppe sinngemäß rein spanischer Abstammung war (Realistas). Siehe mehr dazu Pietschmann (Anm. 3), S. 360. 42 Dazu siehe Klein (Anm. 31), S. 89.

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Die erste Befreiungsbewegung Südamerikas fand sich in La Paz 1809 in einer „Junta gubernativa“ unter der Führung von Pedro Domingo Murillo. Die Parolen der Armee der Unabhängigkeitsbewegung verlangten die Freiheit des spanischen Königs Fernando II und beanspruchten für sich die Macht über „Las Indias“. Somit besaß die Unabhängigkeitsbewegung paradoxe Züge: Sie begann mit der Verteidigung des abgesetzten spanischen Königs und endete mit der Ausrufung der Volkssouveränität. Sie war das Werk von Patrioten, welche die französische Okkupation Spaniens ablehnten und sich gleichzeitig am französischen Modell orientierten. Die nur vordergründig stark zentralisierte Verwaltungsstruktur begann durch die Machtergreifung Napoleons zu zerbrechen. Die von der Macht in den kolonialen Gebieten ausgeschlossenen Gesellschaftsschichten43, die Kreolen und Mestizen, stellten die Legitimation der lokalen Behörden in Frage und fanden neue Ansatzpunkte für die Interpretation der Legitimation der Macht aufgrund des Souveränitätsprinzips im Sinne einer Staatsgewalt, die vom Volk ausgeht.44 Das Vermächtnis der Kolonialzeit und die Staatsbildung in Hispanoamerika prägten das lateinamerikanische Rechtsverständnis mit einem durchaus begründeten Misstrauen gegenüber einem möglichen Missbrauch der politischen Institutionen sowie der rechtlichen Verfahren und Normen. Deren Instrumentalisierung für den Machterhalt der spanischen Krone hatte ihren Sinn und Zweck von Anfang an ausgehöhlt. Darüber hinaus lässt sich aber auch feststellen, dass die Legitimation der spanischen Krone nicht ernsthaft in Frage gestellt wurde, denn die Vielfalt und Heterogenität der Bevölkerung in Lateinamerika verlangte nach einem gemeinsamen Integrationssymbol, das so unterschiedliche Gebiete in Frieden bewahren konnte und das zugleich entfernt genug blieb, um die örtlichen Machtstrukturen nicht zu gefährden. 2. Die Organisation der Regierungsstruktur Während der Kolonialzeit regierte der König aus dem entfernten Spanien. Dafür hatte er bestimmte Institutionen geschaffen, wie z. B. den „Consejo de las 43 Die lokalen Regierungen in den kolonialen Gebieten waren komplexer und beruhten noch auf einer engeren Verflechtung der Machtinteressen der verfeindeten Seiten als angenommen. Das Problem bestand darin, dass die Nachkommen der spanischen Konquistadoren (Kreolen und Mestizen) und selbst indianische Häuptlinge in Bezug auf Selbstverständnis und Bewältigung der eigenen Geschichte gespalten waren. Einerseits gab es die Position der spanischen Vorherrschaft, von Beginn an Widerstand zu leisten und die Autonomie anzustreben, anderseits arrangierte sich ein Teil dieser Elite mit den vorrevolutionären Verhältnissen und schwenkte erst nach dem Erfolg Simón Bolívars auf die entgegengesetzte Position ein, ohne die Ideale der staatlichen Unabhängigkeit wirklich zu teilen. 44 Ein Volk, das zu dieser Zeit nur kreolischen Männern eine qualifizierte Stimme geben sollte. Die indianische Bevölkerung spielte trotz ihrer Bevölkerungsmehrheit nur eine passive Rolle in Boliviens politischem Leben seit der Gründung der Republik.

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1. Kap.: Historische Darstellung der exekutiven Normsetzung in Bolivien

Indias“ (Indienrat), mit dessen Beratung die allgemeinen politischen Richtlinien für die Vizekönigreiche festgelegt wurden. Im Grunde genommen war es aber der Vizekönig, der faktisch vor Ort regierte, versehen mit den Titeln Generalkapitän (Capitán General), Gouverneur und Präsident der Audienzen. Am Anfang der Kolonialzeit war der Vizekönig auf Lebenszeit im Amt, dann wurde sein Mandat zunächst auf 3 Jahre reduziert und schließlich wiederum auf 5 Jahre erweitert. Er genoss das Vertrauen des Königs und wurde in einem sorgfältigen Auswahlverfahren ermittelt. Die Kompetenzen des Vizekönigs waren umfangreich in Funktionen der Exekutive und Legislative, aber auch der Judikative.45 Er war das „Alter Ego“ des Königs in der neuen Welt, eine Rolle die sich aber mit der Zeit auf die Kompetenzen innerhalb der Städte und die interne Kontrolle der Verwaltungsstruktur des Vizekönigtums beschränkte. Von Anfang an sorgte die spanische Krone dafür, die Verwaltung des neu erschlossenen Amerikas in ihrem Sinne zu gestalten: die Schaffung verschiedener Kontrollorgane, wie z. B. die „Casa de Contratación de Sevilla“, „Consejo de Indias“ und die „Secretaría de Desarrollo Universal de las Indias“, diente vor allem der Begrenzung der Macht der Vizekönige und sollte letztere dazu zwingen, ihren Verpflichtungen gegenüber der spanischen Krone nachzukommen. Aber die großen Distanzen und daraus folgende verzögerte Kommunikation erschwerten die Wahrnehmung dieser Aufgaben von Seiten der damit betrauten Organe. Der König in Spanien und der Vizekönig in der neuen Welt waren praktisch gleichrangig, da man den König als ursprüngliche und ausschließliche Macht anerkannte, die unmittelbare und rechtliche Macht aber vom Vizekönig ausging. Es entstand der berühmte Satz „Das Gesetz wird geachtet, aber nicht befolgt“, der bis in die aktuelle Zeit zitiert wird. Die Krone wurde als Gesetzgeber gesehen, aber die Beschlüsse des Vizekönigs wurden letztendlich umgesetzt. Auch diese scheinbar sehr ungewöhnliche Trennung, die es erlaubte von der obersten Gewalt, d.h. der Krone, erlassene Gesetze formal anzuerkennen, aber nicht zu befolgen, ohne die Autorität der Krone als solche in Frage zu stellen, hatte durchaus Parallelen im iberischen Spanien. Seit ihrer Eingliederung in das Kastilische Reich verfügten die baskischen Provinzen über einen sogenannten „pase foral“, der von jedem neuen Monarchen erneut anerkannt werden musste. Dieser besagte, dass die Einwohner und Autoritäten z. B. im „Señorio de Vizcaya“ von der Krone erlassenen Gesetzen „gehorchen, aber sie nicht ausführen“ mussten, sofern diese den traditionellen „Freiheiten“ der Region widersprachen. Da diese „Freiheiten“ weite Bereiche der Lokalverwaltung, aber auch des Steuer45 Kossok, Manfred: El virreynato del Rio de la Plata, Buenos Aires 1959 und Hernandez Alfonso, Luis: Virreinato del Perú, Madrid 1930.

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wesens umfassten, war de facto die Machtausübung der Krone stark eingeschränkt.46 Die spanische Krone versuchte mittels einer Reihe von Mechanismen, die erteilten Privilegien staatlicher Kontrolle zu unterwerfen. Aber dieser Versuch allumfassender Reglementierung war in Übersee nicht besonders erfolgreich, weil die Sonderinteressen der Beamtenschaft und der kolonialen Oligarchien Mittel und Wege fanden, diese staatliche Einflussnahme zu unterlaufen, zu umgehen oder einfach zu missachten. In jedem Fall hatte dieses Bestreben aber zur Folge, dass sich die staatliche Tätigkeit ausweitete, die Bürokratie enorm zunahm und auch Zuwiderhandlungen gegen die staatlichen Vorschriften auf dem Wege einer scheinbaren Rechtmäßigkeit legitimiert werden mussten. Papierflut und Allgegenwärtigkeit von Recht und Jurisprudenz waren die Folge dieser Entwicklung. Im fiskalischen Bereich führte diese Entwicklung zur Einführung neuer Steuern, wie etwa der „papel sellado“ (Stempelpapiersteuer), der Steuer für alle Ernennungen, Titel und königlichen Gunsterweise.47 In einigen Bereichen, wie z. B. bei der Personalverwaltung, vermochte sich aber auch die Krone in ihrem Sinne durchzusetzen; so behielt sie sich die Ernennung selbst untergeordneter Ämter vor. Angesichts der starren Gesellschaftsordnung der kolonialen Zeit bedeutete dies einen wesentlichen Faktor der Machtausübung und führte zu einer Verschärfung des Antagonismus zwischen Kreolen und Spaniern im iberischen Spanien. Die Einrichtung eines zentralisierten, bürokratischen Verwaltungssystems mit umfangreicher Gesetzgebung der Krone führte dazu, dass andere Einflüsse auf die staatliche Entwicklung nur unzureichend von der Forschung in Betracht gezogen wurden. Diese Forschungsansätze sind jedoch wichtig, wenn man die Frage beantworten will, welche Akzeptanz gegenüber den rechtlichen Normen innerhalb eines Volkes entsteht, wenn das Verwaltungssystem aus einer fernen Rechtskultur übernommen wird und so der Eindruck entstehen muss, es werde „von oben“ aufgezwungen. Diese Tradition überdauerte nicht nur die Kolonialzeit, sondern wirkte auch in die republikanische Zeit hinein. Um der Frage nach den Ursachen der eigentümlichen Dichotomie zwischen starker exekutiver Gewalt einerseits und der Schwäche bzw. Ineffizienz staatlicher Institutionen in Lateinamerika andererseits nachzugehen und des weiteren die Frage nach dem Einfluss vorspanischer indianischer Staatlichkeit auf die ko46 Im Jahre 1628 verweigerte das Señorio de Vizcaya z. B. die Einführung eines neuen Zollregisters unter dem Hinweis auf den „pase foral“. Siehe Archivo Foral de Bizkaia, Consulado de Bilbao, Libro 065, No. 59, zitiert in Grafe, Regina: Entre el mundo ibérico y el Atlántico, Comercio y especialización regional, 1550–1650, Bilbao 2005. 47 Escobeda Mansilla, Ronald: Control Fiscal en el virreinato peruano. El tribunal de cuentas, Madrid 1986.

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1. Kap.: Historische Darstellung der exekutiven Normsetzung in Bolivien

loniale und nachkoloniale Entwicklung des Staates sowie Fragen nach den Ursachen für das Rechtsverständnis bzw. den ambivalenten Geltungsbereich der Gesetzgebung aus unterschiedlichen Legitimitätsquellen beantworten zu können, lässt sich inzwischen aufgrund neuer Interpretationsansätze die staatliche Entwicklung der Kolonialzeit mit der postkolonialen Phase des 19. und 20. Jahrhunderts verknüpfen. Es ist kaum möglich, die Kontinuitäten im Detail nachzuzeichnen; aber hiermit soll dargestellt werden, dass die Mechanismen und Haltungen gegenüber dem Staat in Hispanoamerika in der Kolonialzeit begründet liegen, die noch bis in die heutige Zeit nachwirken. Wichtige Beobachtungen in diesem Zusammenhang sind u. a. die folgenden: – Doppelcharakter und -funktionen sind ein kennzeichnendes Element der kolonialen Verwaltungsorganisationen. – Die voranschreitende Bürokratisierung manifestiert sich in der Flut von ordenanzas und instrucciones. Alle behördlichen Vorgänge bedurften notarieller Abschriften, Beglaubigungen, Bestätigungen usw. Damit waren eine Schlüsselposition der Behördensekretäre im Bereich staatlicher Tätigkeit und ein hohes soziales Ansehen begründet. – Die Organisation der kolonialen Zentralverwaltung erwies sich als sehr undurchsichtig. Mit den beiden Vizekönigreichen und den „presidencias“, „capitanías generales“ und „gobernaciones“ scheinen zwar einheitliche, großräumige Verwaltungsbereiche gegeben, doch war die administrative Gliederung faktisch wesentlich komplexer und weniger eindeutig. Sie war nicht mit einem klar umrissenen Territorialkonzept von Amtsfunktionen verbunden, so dass die Jurisdiktionsbezirke der einzelnen Autoritäten sich beständig überschnitten. – Im allgemeinen Verwaltungsbereich entstanden ebenfalls Institutionen für besondere Aufgaben, die jedoch meist kommissarischen Charakter besaßen, d.h. zwar als unbefristete, aber nicht dauerhafte Einrichtungen geschaffen wurden, die direkt der politischen Gewalt unterstehen sollten. Diese nannten sich „Superintendencias“. 3. Form- und Verfahrensprinzipien Die Verrechtlichung aller möglichen Handlungen seitens der spanischen Kolonialmacht durch notarielle Rechtsakte kennzeichnete ihr Vorgehen in der Konquista, sei es bei der Regelung des alltäglichen Lebens oder vor einem Kampf.48 Mit der ersten Expedition auf diesem neuen Kontinent begann eine Reihe von Schritten zur Fixierung formeller Instrumente: die „capitulaciones“, „requerimiento“, „ordenanzas“, „instrucciones“ u. a. 48 Hanke, Lewis: La lucha española por la justicia en la conquista de América, Buenos Aires 1967, S. 63–66.

II. Die Funktion der Verordnung in der spanischen Kolonialzeit

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Auf der einen Seite hing der Rahmen, innerhalb dessen sich die indianischen Institutionen in der Kolonialzeit bewegten, von Titeln und abstrakten Bezeichnungen ab, erteilt von den herrschenden spanischen Konquistadoren49. Aufgrund der von der Krone an sie delegierten Macht konnten die Konquistadoren die Verwaltung durch konkrete Regelungen gestalten. Damit wurde eine Verwaltungskultur übermäßiger Rechtsformalitäten in Hispanoamerika initiiert. Auf der anderen Seite war diese Umsetzung abhängig von der Akzeptanz und den Gewohnheiten der Bevölkerung, so dass Legitimation in soziologischer Hinsicht verstanden wurde. Die starke Interdependenz der zwei Konzepte, die sich hinter dem Begriff Legitimation verbergen, der staatlichen Legalität einerseits und der soziologischen Legitimität anderseits, lässt sich an folgendem Beispiel verdeutlichen. Der Vizekönig von Hochperu verlangte eine besondere Steuer von den Ayllus (indianischen Gemeinden) auf ihre kollektiven Grundstücke, die regelmäßig gezahlt werden musste. Das Verständnis der Legitimation der Macht in diesem Fall war mit Legalität gleich zu setzen, denn diese Steuern waren legitimiert, indem sie nicht nur gemäß der zeitgenössischen Voraussetzungen durch ein rechtmäßiges Verfahren geschaffen wurden, sondern weil diese Steuern auch als Pflichten seitens der indigenen Bevölkerung empfunden wurden.50 In der republikanischen Zeit wurden diese Steuern de jure abgeschafft, aber die Ayllus bestanden de facto darauf, diese Beiträge weiterhin an die staatliche Kasse zu leisten. In der Erfüllung dieser Verpflichtung sahen die Ayllus eine Gewähr dafür, dass ihr kollektives Grundeigentum erhalten blieb und dass sich dadurch als unmittelbare Folge eines Abkommens über die zu entrichtenden Steuern eine Art Pakt über das Besitzrecht ergab. Die Rechtsformalitäten bekamen auf diese Weise eine unterschiedliche Bedeutung für die Legitimation der Macht, welche die offiziellen Amtsinhaber ausübten, und bewirkten eine andere Wahrnehmung in der Bevölkerung. Die Legitimation lebte auch von Rechtsformalitäten, mittels derer die Machtinhaber das Volk von der gerechten Ausübung ihrer Macht überzeugen konnten.51 49 Diaz Rementeria, Carlos: El cacique en el virreinato del Perú estudio históricojurídico, Sevilla 1977. 50 Mehr dazu siehe in Miranda, José: El tributo indígena en la Nueva España durante el siglo XVI, México 1952. Escobeda Mancilla, Ronald: El tributo indigena en el Peru. Siglos XVI y XVII, Pamplona 1979. González de San Segundo, Miguel Angel: Derecho Prehispánico e Instituciones indígenas en el ordenamiento jurídico indiano, Madrid 1980 S. 261–323. Murra, John: Control Vertical de un máximo de pisos ecológicos en la economía de las sociedades andinas in: Condarco Morales, Ramiro/Murra, John: La teoria de la Complementariedad vertical eco-simbólica, La Paz 1987, S. 29–85. 51 So ist nicht verwunderlich, dass z. B. in Arque (einem Ort weit entfernt von der Modernität heutiger Städte in Bolivien) der indianische Häuptling Mallku (gleichzeitig

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1. Kap.: Historische Darstellung der exekutiven Normsetzung in Bolivien

Welchen Zweck hatte es, dieses rigide und komplizierte Verfahren zu einem weit entfernten Ort zu bringen? Der Aufbau eines Verwaltungssystems konnte aus der Sicht einer Kolonialmacht sicherlich leichter mit Mitteln der Gewalt vollzogen werden, so wie es an vielen Orten gängige Praxis war.52 Wieso beabsichtigte die spanische Krone dann von Anfang an diese Art der Vorgehensweise für die Konquista der neuen Gebiete? Die Konquistadoren waren aufgrund einer „ordenanza“ der Krone vom 17. November 1526 gezwungen, den Indianern vor einem Kampf durch einen Notar die „Requerimiento“ vorlesen zu lassen.53 Die „Requerimiento“ war als ein formaler Akt verfasst in einem Dokument mit theologischem Inhalt, welcher vom Indienrat vorgeschlagen wurde; sie enthielt die Rechtfertigung für die Eroberung seitens der Konquistadoren aufgrund des Auftrags der Krone, die als legitimierte Besitzerin dieses unbekannten Ortes, Terra Inkognita, vor den neuen Untertanen repräsentiert werden sollte. Bewaffnete spanische Soldaten in Begleitung religiöser Würdenträger sollten den fremden Menschen dieses Dokument vorlesen und, wenn notwendig, mit Hilfe von Übersetzern den Inhalt vermitteln. Damit war der erste Schritt der Unterwerfung dieser aus der Sicht der Spanier ungläubigen Menschen nach der Ankunft in den neuen Gebieten getätigt, welche damals als „Pazifizierung“ 54 fremder wilder Völker bezeichnet wurde. Die Hochkulturen55, welche in diesen Gebieten heimisch waren, hatten eine gut entwickelte Organisation, strenge Religiosität und kannten eine äußerst starre Bürgermeister) für jeden Besucher, den er empfängt, immer noch eine Ordenanza in einer sehr alten spanischen Sprachform erlässt. Dies verdeutlichte den Entwicklungshelfern der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ), wie wichtig die Einhaltung von Formalitäten ist und wie tief somit das Erbe der spanischen Eroberung in der Rechtskultur verankert ist (unveröffentlichter Bericht im Rahmen des Projekts der GTZ für das Programm „Modernisierung des Staates in Bolivien“, Mai 2000). 52 Der Vergleich mit anderen Kolonialmächten, wie z. B. Großbritannien, Frankreich oder Portugal ist laut dem Historiker William James nur bedingt möglich. Spanien unterschied sich aber grundlegend dahingehend von anderen Kolonialmächten, dass es seine Machtansprüche aus religiösen Prinzipien herleitete. Dies schien einen moralischen Anspruch zu begründen, war aber auch der Beginn der „leyenda negra der Spanischen Kolonialmacht“. Siehe dazu Hanke (Anm. 48), S. 65. 53 Vergl. dazu Hanke, Lewis: La evolución de reglamentos para conquistadores in: Estudios sobre Fray Bartolome de las Casas y sobre la lucha por la justicia en la conquista española de América, Caracas 1968, S. 91–102. 54 „Por justas causas y consideraciones conviene que en todas las capitulaciones que se hicieren para nuevos descubrimientos, se excuse esta palabra conquista, y en su lugar se use de las de pacificación y población, pues habiéndose de hacer con toda la paz y caridad, es nuestra voluntad que aun este nombre, interpretado contra nuestra intención no ocasione ni dé color a lo capitulado para que se pueda hacer fuerza ni agravio a los Indios“. Item 29 de la Ordenanza sobre descubrimientos de 13. Juli 1573, Recopilación de leyes de los reynos de las Indias, lib. IV, tít. I, ley VI zitiert in Grafe (Anm. 46), S. 73.

III. Die Funktion der Verordnung in der republikanischen Zeit Boliviens

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Hierarchie in ihrer Verwaltungsstruktur. Sie verfügten bereits über entwickelte Institutionen, wie die „Encomienda“ und ein funktionierendes Steuersystem, welches von den Konquistadoren übernommen wurde. Indianische Häuptlinge welche mit der spanischen Krone kooperierten, bekamen den Titel „Cacique“ 56. Dieser schuf eine Art Pakt zwischen den elitären Schichten zweier Machtstrukturen. Auf den ersten Blick scheinen diese übermäßigen Formalitäten – Stempel, Papiere und zeremonielle Rechtsakte – ziemlich absurd zu sein. Dennoch, dieser scheinbare Widersinn übertriebener Rechtsformalitäten hatte nach außen eine sehr wichtige Aufgabe zu erfüllen: sich „gerecht“ gegenüber den Einheimischen zu zeigen. Nach innen sollten diese Rechtsformalitäten aber noch eine wichtigere Rolle spielen, nämlich das Bündnis zwischen Kirche und der spanischen Krone zu festigen. So wird das Recht durch formelle Akte instrumentalisiert und aufgrund dieser Rechtsformalitäten, wie z. B. des „requerimiento“, wurden Armeen von Konquistadoren in Begleitung religiöser Orden entsandt, um sich Bodenschätze zu sichern, weniger um Gerechtigkeit zu schaffen. Die Gleichsetzung der Existenz von gesetzlichen Regelungen mit Gerechtigkeit ist fragwürdig. Diese Interpretation gipfelte darin, dass einige Historiker die Vorgehensweise der Konquistadoren – insbesondere im Vergleich mit dem Vorgehen anderer Kolonialmächte in dieser Zeit – als Suche nach Gerechtigkeit deuteten.

III. Die Funktion der Verordnung in der republikanischen Zeit Boliviens 1. Die Verordnung und der lateinamerikanische Konstitutionalismus Am 6. August 1825 beschloss die konstituierende Versammlung aller Provinzen in Hochperu die Unabhängigkeit von der spanischen Kolonialherrschaft. Der neue Staat wurde nach dem „Libertador Bolívar“ benannt. Simón Bolívar Palacios (1783–1830), der Befreier vieler Länder Lateinamerikas und erste Präsident der neuen Republik Bolivien, Amtszeit von 12.08.1825 bis 29.12.1825, strebte eine Republik nach nordamerikanischem Muster an, die 55 Siehe dazu insbesondere über die Anfänge der Staatenbildung Lavallée, Danièle/ Lumbreras, Luis: Die Andenvölker, von den früheren Kulturen bis zu den Inka, München 1986, S. 263. 56 Die Erzählung über den Inka-Nachkömmling Enriquillo, welcher sich christlich taufen ließ und seinen Widerstand gegen die spanische Krone aufgab, zeigt nach Auffassung des spanischen Historikers Menendez Pidal die große psychologische Anziehungskraft des Titels „Cacique“ und die Bezeichnung „Don“ für manche indianische Elite. Vgl. dazu Menendez Pidal, Ramón: El padre las Casas. Su doble personalidad, Madrid 1963, S. 73–90.

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den ganzen Subkontinent (die heutigen Staatsgebiete von Venezuela, Kolumbien, Ecuador, Peru und Bolivien) umfassen sollte. Aus den ursprünglich zwei Gebieten der spanischen Krone, Vizekönigreich Gran Colombia und Vizekönigreich del Peru, sollte eine große Republik zusammengefügt werden. Die bestehenden unabhängigen Regionen sollten nach dem völkerrechtlichen Prinzip „uti possidetis“ ihre Souveränität erlangen.57 Die spanische Krone hatte 1776, also nur wenige Jahrzehnte vor dem Zerfall des Imperiums, die Verwaltungsabhängigkeit der Region Hochperu (aktuell Gebiet des heutigen Boliviens) vom „Vizekönigreich von Peru“ an das „Vizekönigreich von la Plata“ vergeben, so dass die regionale Zugehörigkeit zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit nicht eindeutig war. Die Entscheidung, die Gründung der Republik der konstituierenden Versammlung zu überlassen, wurde damit begründet, dass sich das Prinzip, auf das sich Bolívar völkerrechtlich stützen wollte, nicht eindeutig auf dieses Gebiet anwenden ließ. Den Grundstein für die Republik Bolivien legte Mariscal José Antonio Sucre. Nachdem er in einem entscheidenden Kampf in Ayacucho die spanische Armee besiegt hatte, entschied er sich am 9. Februar 1825, vor Ort durch Dekret eine Versammlung der lokalen Elite einzuberufen. Damit wurde es überhaupt möglich, die Gründung eines unabhängigen Staates in Gang zu setzen, der weder zu Peru noch zu Argentinien gehören sollte.58 Bolívar besuchte erst nach dem Erlass dieses Dekretes das Gebiet, auf dem Bolivien gegründet wurde. Die damalige briefliche Korrespondenz zwischen Bolívar und seinem General Sucre zeigt deutlich die Ablehnung von Bolívar, kleine Staaten zu konstituieren und erst recht nicht auf dem Gebiet Boliviens, eine Entscheidung, bei der er vorher nicht konsultiert wurde. Aber vor Ort änderte sich Bolívars ablehnende Position in Bezug auf die Gründung Boliviens, einem Gebiet, das der früheren „Audienz von Charcas“ entsprach. Die strategische geopolitische Lage dieses neuen Staates könnte möglicherweise Konflikte mit den mächtigen Nachbarn Brasilien, Argentinien, Peru und nicht zuletzt mit Chile verhindern und damit den Frieden in der Region wahren59. 57 Siehe dazu Masur, Gerhard: Simón Bolívar und die Befreiung Südamerikas, Konstanz 1949. 58 „Considerando 4. Que el antiguo Virreinato de Buenos Aires, a quien ellas pertenecían al tiempo de la Revolución de América, carece de un gobierno general que representa completa, legal y legítimamente la autoridad de todas las provincias, y que no hay, por consiguiente, con quién entenderse para el arreglo de ellas . . .“ 5. Que por tanto, ese arreglo debe ser el resultado de la deliberación de las mismas provincias, y de un convenio de la Plata.“ Dekret 9. Februar 1825, zitiert in Trigo (Anm. 7), S. 106. 59 Wie schwierig das Problem der territorialen Gliederung in der Kolonialzeit ist, zeigt die anschließende Staatenbildung des 19. Jh. in Peru und Mexiko, die aus den genannten Vizekönigreichen hervorgingen, wobei Peru einen Teil seines Gebietes verlor, während sich im Fall Mexikos das ganze ausgedehnte Vizekönigreich des ausgehenden Kolonialzeitalters als Staat zu etablieren vermochte. Im Falle Argentiniens blieb das

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Die großen regionalen Unterschiede und die Gegensätze, die sich unter den Eliten im Laufe der langen Kolonialgeschichte gebildet hatten, sowie die Wirtschaftsinteressen der anderen großen Kolonialmächte England, Portugal und den neuen unabhängigen Vereinigten Staaten60 spielten auch eine Rolle, bereits bei der Initiation vor-revolutionärer Bestrebungen. Eine diesbezüglich taktisch kluge Außenpolitik und die Beachtung des Völkerrechtes waren demzufolge zentrale und entscheidende Themen für die Unabhängigkeitsbewegung in Lateinamerika und wichtige Voraussetzungen, um als Staat anerkannt zu werden. Dieses internationale Szenario beherrschte der Stratege Simón Bolívar hervorragend. Von der konstituierenden Versammlung erhielt Bolívar den Auftrag, die erste Verfassung für dieses Land zu entwerfen. Am 26. November 1826 wurde der Verfassungstext von Bolívar aus Lima abgeschickt und abschließend vom bolivianischen Kongress verabschiedet. Der Verfassungsschöpfer Simón Bolívar stützte sich hauptsächlich auf die nordamerikanische Verfassung als Vorbild und versuchte, deren Bestimmungen den Notwendigkeiten des Landes anzugleichen. Bolívar sah die Gefahr der Streitigkeiten unter den Eliten, die zur instabilen politischen Lage dieser Region geführt hatte, und versuchte, einen innovativen Text vorzuschlagen, inspiriert von der Französischen Revolution und den liberalen Ideen der damaligen Zeit. Bolívar sah die Lösung für das Problem dieser latenten politischen Instabilität in einem Präsidialsystem mit einem starken Präsidenten auf Lebenszeit. Bolívars Verfassung ist ein grundlegendes, wenn auch umstrittenes Dokument in der Verfassungsgeschichte Südamerikas. Die Präsidentschaft auf Lebenszeit ist die Institution, welche zum Verhängnis für den liberalen und progressiven Ruf Bolívars wurde. Viele sahen in diesem Dokument den Beginn der Vorherrschaft der exekutiven Gewalt über die anderen Staatsgewalten.61 im 18. Jh. gegründete Vizekönigreich zwar als Staat bestehen, verlor jedoch mit Bolivien, Paraguay und Uruguay ganze audiencia-Bezirke, die sich als selbständige Staaten konstituierten, außerdem zwei gobernaciones (Paraguay und Uruguay), denen es gelang die Eigenstaatlichkeit zu errungen. Chile und Venezuela sind Fälle von Staaten, deren Territorien einem ehemaligen „presidencia, capitanía general y gobernaciones“ entsprachen und die sich als Ganzes die Einheitsstaatlichkeit erkämpfen konnten. Die Rechtsnatur der „Capitanía General“ ist eher mit einer militären Funktion des Gebietes verbunden, weniger mit einer zivilen oder politischen Autorität. García Gallo, Alfonso: La Capitanía General como Institución de gobierno político en Espanya e indias en el Siglo XVIII, Madrid 1987, S. 953–995. 60 Diese Länder waren besonders an der offiziellen Öffnung der Handelsmärkte der spanischen Kolonien interessiert, die bis zu diesem Zeitpunkt für sie verschlossen gewesen waren. Vgl. dazu Elliot (Anm. 37), S. 23 ff. 61 Es wird aber häufig in der Analyse außer Acht gelassen, dass der „allmächtigen“ Figur des Präsidenten auch gewisse Einschränkungen gesetzt waren. Er war zwar auf Lebenszeit in diesem Amt gewählt, aber der Vizepräsident sollte der „Jefe de la Administración“ werden, so wie ein Premier-Minister in einem parlamentarischen System (Französisches Modell). Die erste Verfassung Boliviens von 1826 wird als eine liberale

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Die bolivarische Verfassung wurde nicht in Kraft gesetzt. Sie traf auf Widerstand bei den lokalen Eliten, besonders aufgrund der Institution der Präsidentschaft auf Lebenszeit, die in der nachfolgenden Verfassung abgeschafft wurde. Die politische Lage war von Bolívar jedoch nicht falsch eingeschätzt worden, denn tatsächlich waren die Kriegsgefahren sehr groß.62 Der sechste Präsident Andrés de Santa Cruz y Calahumana (1792–1865), der vom Mai 1829 bis zum Februar im Amt war und als großer Staatsmann in die bolivianische Geschichte eingegangen ist, brauchte tatsächlich mehrere Jahre, um die Republik zu organisieren. So wie Bolívar eine Frist von 10 Jahren für die Verfassungsreform vorgesehen hatte, dauerte es tatsächlich ungefähr so lange, bis Santa Cruz die Reformen umgesetzt hatte. Santa Cruz regierte mit starker Hand, aber mit mehr politischer Erfahrung als Bolívar im Umgang mit den lokalen Eliten. So ließ er zweimal eine neue Verfassung vom Parlament verabschieden, die seine Macht weiterhin legitimierte und stützte. Der Konstitutionalismus in Lateinamerika wird durch das Vertrauen in den gestaltenden Einfluss der juristischen Normen auf die soziale Realität charakterisiert. Dieses Vertrauen bezieht sich auf die verfassungsmäßige Ordnung und auf ihre Fähigkeit, nicht nur einen Staat zu organisieren, sondern auch eine Nation zu formieren. Die ersten politischen Führer der Unabhängigkeitsphase – wie Miranda in Venezuela oder Maia in Brasilien – bis hin zu den Verfassungsschöpfern – wie dem Argentinier Alberdi oder dem Brasilianer Ruy Barbosa – waren durchdrungen von angelsächsischen Demokratieformeln, aber hatten ungenügende Kenntnisse oder tiefe Vorurteile gegenüber den Traditionen der Ursprungsbevölkerung63. So und moderne Verfassung gesehen, denn man sah deutlich den höheren Wert, den Bolívar der Freiheit der Menschen, dem privaten Eigentum und den freien Wahlen beigemessen hatte. 62 Die Verfassungshistoriker Boliviens betrachten die Verfassung Bolívars, die nicht lange in Kraft war, als die zweckmäßigste für die damalige politische Lage Boliviens und sogar passender als die später folgenden liberalen Verfassungen. Vgl. Galindo, Marcelo: Constituciones Bolivianas Comparadas (1826–1967), La Paz 1991, S. 570 ff. 63 Im Fall von Argentinien beginnt die sogenannte Periode des nationalen Aufbaus nach der Schlacht von Caceros (1852) mit dem Kampf zwischen zwei ideologischen Strömungen: dem Unitarismus und dem Föderalismus. Die wichtigste Konsequenz war die Verkündung der Verfassung von 1853. Die Staatsmänner und Schriftsteller des nationalen Aufbaus in Argentinien waren überzeugt von der Unfähigkeit von Spaniern oder Kreolen und Eingeborenen zur modernen Entwicklung. Dies lässt sich auch für die übrigen lateinamerikanischen Verfassungsschöpfer feststellen. In Alberdis Worten: „Es ist notwendig, auf unserem Boden die angelsächsische Bevölkerung heranzubilden. Sie wird mit Dampfmaschine, dem Handel, der Freiheit identifiziert und es wird uns unmöglich sein, diese Dinge bei uns zu verwurzeln ohne die Mitarbeit dieser Rasse des Fortschritts und der Zivilisation.“ Vgl. Alberdi, Juan Bautista: Bases y puntos de partida para la organización política de la República Argentina, Buenos Aires 1913, S. 12. Siehe auch dazu Galvao de Souza, José: Notas sobre la idea de la constitución y la significación del derecho constitucional, in: JöR (1967), S. 63.

III. Die Funktion der Verordnung in der republikanischen Zeit Boliviens

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nimmt von Anfang an die Verfassung in Lateinamerika den Charakter einer ideologischen Charta an, geschaffen im Hinblick auf gewisse politische Auffassungen. Sie ist kein pragmatisches Instrument, mit dem konkrete Freiheiten geschützt werden sollen. 2. Die Organisation der Exekutive Der Kern der exekutiven Gewalt in der Verfassung von 1826 besteht nach Artikel 77 aus einem Präsidenten auf Lebenszeit, einem Vizepräsidenten und drei Ministern. Die Ausübung der exekutiven Gewalt wurde dem Vizepräsidenten und den Ministern auf ihren Fachgebieten zugestanden. Jeder „Órden“ (Befehl) der exekutiven Gewalt musste vom Vizepräsidenten und dem jeweiligen Minister unterschrieben werden, damit die Befehle ihre Gültigkeit erlangten. In diesem Sinne konnten sie auch zur Rechenschaft gezogen werden. Das Verfahren dafür hieß „juicio nacional“ und sollte gemäß Artikel 55 von den drei Kammern des Parlamentes von Senatoren, Zensoren und Tribunen zusammen entschieden werden. Der Präsident blieb dagegen bezüglich der von ihm erlassenen Akte unangreifbar und durfte den Vizepräsidenten und die Minister sowohl ernennen als auch des Amtes entheben. Die Institution des Präsidenten erinnert eher an die Rolle eines Monarchen als an einen Diktator, wie es später von manchen Biographen Bolívars behauptet wird. Denn wenn man die Kompetenzen des Präsidenten genauer betrachtet, entsprechen seine Zuständigkeiten eher denen eines Präsidenten in einem parlamentarischen System als denen in einem Präsidialsystem.64 Seine Zuständigkeiten waren die eines Kriegsführers und Militärstrategen, die aber der legislativen Gewalt unterworfen waren.65

64 „El Vicepresidente era el jefe del ministerio y el responsable de la administración con el ministro respectivo, tenía a su cargo funciones importantísimas. Era el eje del gobierno; algo así como los primeros ministros dentro del régimen parlamentario moderno, correspondiendo al presidente una labor menos activa y beligerante.“ Trigo, Ciro Félix: Derecho Constitucional Boliviano, Buenos Aires 1952, S. 124. 65 Eine andere Meinung zur Rolle der Legislativen Gewalt in der bolivarianischen Verfassung findet man im folgenden Zitat: „Libertador Simon Bolivar instituded a fourfold separation of powers among a lifetime presidency, an independent judiciary, a tricameral congress, and an electoral body. The tricameral congress comprised the Senate and the Chamber of Tribunes whose members had fixed terms, as well as a Chamber of Censors, whose members served for life . . . The legislature’s key functions were to name the president and to approve a list of successors submitted by the president. One of the long-lasting efects of the Bolivarian Constitution was the establishment of an executive-based system. The Bolivarian Constitution reflected the Spanish tradition of bureaucratic patrimonialism in which power rested in the executive branch“. Mehr dazu Klein (Anm. 31), 76.

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Durch das Gesetz vom 19. Juni 1826 (Ley de Organización Provisional del Poder Ejecutivo) wurde die vorläufige Gestaltung der Exekutive und der ihr nachgeordneten Behörden der jungen, seit 1825 unabhängigen Republik geregelt. Unter der Präsidentschaft von Andrés de Santa Cruz wurde eine neue Verfassung im August 1831 verabschiedet. Bolivien erhielt in dieser Regierungszeit auch die wesentlichen ersten Gesetzestexte für die republikanische Rechtsordnung. Diese Verfassung kann als Grundlage der Verfassungsgeschichte Boliviens bezeichnet werden, denn in der Zeitspanne von 1831 bis heute gab es zwar Verfassungsreformen, aber mit nur kleinen Abänderungen von diesem Grundtext. Zwischen 1839 und 1880 wurden sechs Verfassungen von der Legislative erlassen.66 Der Präsident wurde in der neuen Verfassung von 1831 zum „jefe de administración“ (Art. 71). Er wurde direkt vom Volk gewählt wie auch der Vizepräsident. Beide konnten zur Rechenschaft gezogen werden. Das Volk delegierte die Souveränität an die drei Staatsgewalten. Die rechtsdogmatische Untersuchung der Rechtssetzung innerhalb der Exekutiven erfolgt im nächsten Kapitel, hier geht es zunächst darum, die Legitimation der Organe darzustellen. Bolivien gilt aufgrund des häufigen Wechsels von Demokratie und Diktatur als Paradigma politischer Instabilität innerhalb Lateinamerikas.67 Dies spiegelt sich auch in den verschiedenen Verfassungstexten, die dem Willen der Caudillos gedient haben, wider. Die Caudillos waren Politiker, die unter dem Anschein einer demokratischen Regierung die Regierungspolitik für ihre eigenen Interessen benutzten. Die Gründer der Republik übernahmen Institutionen, die sich schon während der Kolonialzeit und vor der Eroberung durch die Spanier bewährt hatten. Die Fähigkeit, sich neue Situationen schnell anzupassen, erwies sich als besonders ausgeprägt im Kampf um den Machterhalt. Bis zum Ende des Salpeterkrieges mit Chile (1879–1884) hatte sich an dieser Situation kaum etwas geändert. Die militärische Niederlage Boliviens im Salpeterkrieg führte zum Verlust der an Salpeter und Guano reichen Provinz Atacama (Litoral) an der Küste des Pazifischen Ozeans, so dass Bolivien neben großen Gebietsverlusten auch den direkten Zugang zum Meer verlor. In der Parteienlandschaft dominierten zunächst die Konservativen, die vorwiegend die Landbesitzeroligarchie vertraten, später die Liberalen, die eng mit den neuen Bergbauunternehmern verknüpft waren. Der erste ernste Versuch, die Organisation der exekutiven Gewalt in einem Gesetz festzuschreiben, wurde mit dem Gesetz (Ley de Organización Política) vom 3. Dezember 1888 unternommen.68 Damit wurden zum ersten Mal, fünfzig Jahre 66 Tomás Elío hat die Theorie der Einheit der bolivianischen Verfassung beschrieben, siehe dazu das Vorwort in: Salinas (Anm. 12), S. 1–3. 67 Siehe dazu Mesa Gisbert (Anm. 87), S. 276–280. 68 Die Verfassung von 1880 führte die Prinzipien für eine formelle Demokratie mit beschränkter Teilnahme der Bevölkerung ein, differenziert je nach Vermögen und

III. Die Funktion der Verordnung in der republikanischen Zeit Boliviens

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nach der Entstehung der Republik, die Struktur der exekutiven Gewalt, ihre Kompetenzen, Zuständigkeiten und Organe systematisch dargestellt. Das Verordnungsdekret dieses Gesetzes, verabschiedet am 10. Januar 1903, regelt detailliert die Ämter und Posten der Ministerien und deren Aufgaben. Dieses Gesetz ist eng mit der Dezentralisierungspolitik69 verknüpft. Bolivien ist seitdem in Departements aufgegliedert, welche jeweils von einem Präfekten geführt werden. Die Expansion der staatlichen Unternehmen wuchs rasant und damit auch die Überschneidung von Kompetenzen und Zuständigkeiten mit der öffentlichen Verwaltung. Erst 1928 mit der Gründung des Schatzamtes (Tesoro General de La Nación) und des Rechnungshofes (Contraloría General de La República) sowie mit der Neustrukturierung der Zollbehörden (Aduanas) fing man an, sich behutsam von den überkommenen administrativen Leitlinien zu distanzieren und gleichzeitig den Staatsapparat zu modernisieren. Der Chaco-Krieg (1932–1936) zwischen Bolivien und Paraguay forderte auf bolivianischer Seite 50.000 Menschenleben und hatte die Abtretung eines beträchtlichen Landesteiles, des Chaco Boreal, zur Folge. Die Militärregierungen nach dem Chaco-Krieg, welche die erste zielstrebige Expansion staatlicher Befugnisse, auch auf wirtschaftlichem Gebiet, durchführten, haben während der kurzen Periode von 1936 bis 1939 eine Reihe gesetzlicher Bestimmungen erlassen, die noch heute den Charakter des staatlichen Sektors prägen. So wurden die Anzahl der Ministerien verdoppelt und neue staatliche Einrichtungen gegründet, vor allem das staatliche Unternehmen für die Selbstverwaltung von Erdgas, Erdöl und Mineralien „Yacimientos Petroleros Bolivianos“ im Jahr 1936. Die Offiziere und Präsidenten Boliviens David Toro Ruilova (1898–1977; Amtszeit von 1936 bis 1937); Germán Busch Becerra (1904–1939; Amtszeit von 1937 bis 1939); und später Gualberto Villarroel López (1908–1946; Amtszeit von 1943 bis 1946) betrieben eine Politik des Militärsozialismus, welche auf die Rückgewinnung der nationalen Kontrolle über die Rohstoffe gerichtet war.70 Schulbildung; in der Praxis bedeutete dies die Ausgrenzung der Indianer und Arbeiter aus dem politischen Leben. Die Verfassung von 1961 brachte das universelle Wahlrecht, die Verteilung des Grundbesitzes und die Verstaatlichung der Minen. Trotz des Charakters dieses Grundgesetzes kamen diese populären Ideen nicht zur Verwirklichung. Die Verfassung von 1967 konnte erst angewendet werden, als die bolivianischen Militärs 1982 dem Parlament die Macht übergeben hatten und damit die Rückkehr zur Demokratie ermöglicht wurde. Siehe dazu Trigo (Anm. 7), S. 108 ff. 69 Der Nationalkonvent wurde 1921 ins Leben gerufen, mit dem Ziel über die Dezentralisierungspolitik zu entscheiden. Im Referendum von 1930 wurde über diese Vorschläge abgestimmt. Vgl. dazu Salinas Mariaca (Anm. 12), S. 13. 70 Die an das Ausland erteilten Konzessionen zur Erdölgewinnung wurden großenteils zurückgezogen, 1937 wurde zum ersten Mal in Lateinamerika ein USA-Unternehmen, die Standard Oil of New Jersey, verstaatlicht. Präsident Toro richtete das erste Arbeitsministerium ein und verabschiedete das erste Arbeitsgesetzbuch und das Gesetz

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1. Kap.: Historische Darstellung der exekutiven Normsetzung in Bolivien

3. Form- und Verfahrensprinzipien Auch die Entwicklung der Gemeinden („Municipios“) ist im engen Zusammenhang mit der Unabhängigkeitsbewegung in den amerikanischen Kolonien zu sehen. Die stark zentralisierte Verwaltung und die Verteilung der Stellen von Spanien aus schlossen die Kreolen von der politischen Macht aus, da nur gebürtige Spanier solche Positionen einnehmen durften. So konnten die Kreolen nur in den „Cabildos“ (Versammlungen) ihre politischen Aktivitäten ausüben, und hier versuchten sie auch die Stimmung des Volkes hinter sich zu bringen. Der Ursprung dieser Institutionen lag zwar in der räumlichen Untergliederung, deren Ziel es war, die Kreolen von höheren Funktionen fernzuhalten, aber diese „Cabildos“ wurden später zum Verhängnis für die Kolonialmacht, denn sie verwandelten sich in die „Juntas gubernativas“, welche die Basis für die Befreiungskämpfe wurden. Die starke Rivalität zwischen den Gemeinden („Municipios“) und der zentralen Verwaltung bleibt als Erbe aus dieser Zeit zurück, in welcher der Zentralstaat sogar als Feindbild angesehen wurde. Als erhellendes Beispiel hierfür kann die Analyse der Wahlgesetze der Verfassung von 1834 bis zur Agrarrevolution von 1952 durch Marta Iruroyzqui Victoriano71 gelten. Vom Zeitpunkt der ersten Wahlen 1839 bis zur Revolution im Jahre 1952 war das Wahlrecht ausschließlich alphabetisierten Wählern männlichen Geschlechts vorbehalten. Die Wahlen stellten einerseits den Weg dar, um an die Regierung zu gelangen und waren andererseits Statussymbol der Bürgerschaft. Im Gegensatz zu anderen lateinamerikanischen Ländern, gab es in Bolivien während dieser Periode (1834–1952) keine Reformvorhaben oder andere Rechtsetzungsversuche, welche die geltenden normativen Regelungen ändern wollten. Untersuchungen über stattgefundene Wahlen beweisen jedoch, dass durch die nachlässige Umsetzung der Wahlbeschränkungen doch ein erheblicher Teil des Volkes abstimmen durfte, der de jure nicht zur Wahl zugelassen war. Der Umstand, dass ein eigentlich von der Wahl ausgeschlossener Teil der Bevölkerung an dieser teilnehmen konnte, erklärt sich aus der Rechtstradition in den Gemeinden („Municipios“). Die noch aus der Kolonialzeit stammende Verfassung von Cadiz beinhaltet das Konzept, denjenigen als Bürger anzusehen, der „ein ehrliches Leben führt“, was ihm unter anderem von seinen Nachbarn oder von Personen öffentlichen Ansehens (z. B. den Priestern) bescheinigt werden über die zivilen Rechte der Frauen. Zwischen 1941 und 1943 wurden die bolivianische Fluggesellschaft (Lloyd Aéreo Boliviano), die Agrarbank und die bolivianische Fördergesellschaft (Corporación de Fomento) geschaffen. Siehe dazu Sanabria, Hernando: Historia Elemental de Bolivia, La Paz 1998, S. 45–67. Und Querejazu Calvo, Jorge: Historia Abreviada de Bolivia, Sucre 2005, S. 23–56. 71 Iruroyzqui Victoriano, Marta: A Bala, Piedra y Palo – La construcción de la ciudadanía política en Bolivia 1826–1952, Madrid 1999, S. 34 ff.

III. Die Funktion der Verordnung in der republikanischen Zeit Boliviens

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kann. Darüber hinaus war ein Mindesteinkommen ein weiteres Kriterium für die Eintragung in das Wahlregister nach den Maßgaben der Gemeinden („Municipios“). Der zentralisierte Staat war nicht in der Lage, die Wahlregister zu erstellen und zu kontrollieren, daher wurde diese Aufgabe an die Gemeinden („Municipios“) delegiert. Das hatte zur Folge, dass dort entschieden wurde, wer wahlberechtigt war. Die Übergangsphase der Kolonialzeit zur Republik offenbarte die Schwierigkeiten, da die zentrale Regierung stark von den Gemeinden („Municipios“) abhing, die bei der Organisation der Wahlen eine bedeutende Macht ausübten. Der Kongress erklärte viele Wahlergebnisse dieser Gemeinden („Municipios“) für nichtig, ohne dabei ein einheitliches Kriterium anzuwenden. Angesichts der damit verbundenen Macht übertrug der Kongress die Zuerkennung des Wahlrechts und das Führen der Wahlregister aus der Kompetenz der gewählten Gemeinden („Municipios“) auf die Präfekten, die den jeweiligen Departments vorstanden. Dabei wiederholte sich in der Geschichte Boliviens ein Konflikt zwischen den Organen, der schon vor der Gründung Boliviens stattgefunden hatte. Die „Intendencias“ wurden als administrative Maßnahme in das Verwaltungssystem eingeführt, um die bürokratische, zentralistische Verwaltungsstruktur zu entlasten und eine effizientere Einnahmequelle für den König zu schaffen, aber sie hatten auch den Zweck, eine vermehrte politische Kontrolle über die Gemeinden auszuüben. Diese „Intendencias“ waren die Vorläufer der Präfekturen, welche die zentrale Verwaltung in den Gemeinden vertreten sollten. Die politische Elite erzielte zwar eine Legalität und Akzeptanz der Gesetze in breiten Bevölkerungsschichten, gleichzeitig aber benutzte sie die rechtlichen Normen als Instrument, um ihre Interessen durchzusetzen72. Aber es wäre auch nicht korrekt zu behaupten, dass diese Wahlen nur eine Fiktion waren. Die Wahlen waren die Basis für die Entwicklung der liberalen Demokratie. Bolivien erlebte im Jahre 1952 eine der radikalsten Revolutionen des Kontinents. Ihre Konsequenzen für den Aufbau eines neuen Rechtssystems bzw. eines Rechtsbewusstseins der Bevölkerung blieben jedoch gering. Im Gegensatz zur mexikanischen Revolution von 1917 konnte die bolivianische Revolution unter der Führung des Movimiento Nacionalista Revolucionario (MNR), einer ur-

72 Die Zweideutigkeit des Gesetzes hat einen soziologischen Hintergrund, der einer besonderen Erklärung bedarf. „Das Gesetz wird geachtet, aber nicht befolgt“, eine alte Redensart aus der Kolonialzeit, entspricht einer soziologischen Erkenntnis über die Verfassung des bolivianischen Volkes. Siehe dazu Mansilla, Hugo C. F.: Ausdehnung staatlicher Funktionen und Bürokratisierungstendenzen in Bolivien, Saarbrücken 1987, S. 31 ff.

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1. Kap.: Historische Darstellung der exekutiven Normsetzung in Bolivien

sprünglich reformistischen Bewegung der Mittelschicht, nicht institutionalisiert werden.73 Im Wesentlichen wurde in der Revolution von 1952 den Machtansprüchen der Bauern (campesinos) und Arbeiter (trabajadores) zwar entgegengekommen, so bei den konkreten Forderungen nach einer Agrarreform, der Verstaatlichung der Zinnminen, die in Händen dreier Personen (Hochschild, Patiño und Aramayo) lag, und bei der Verleihung der Bürgerrechte an die Indios und Frauen. Darüber hinaus wurden die Übernahme der im britischen Besitz befindlichen Eisenbahnen und die Errichtung vieler autonomer Ämter durchgeführt. Damit wurde die vorherrschende Stellung des Staates auf gesellschaftlichem und wirtschaftlichem Gebiet begründet. Aber die Kämpfe von 1952 waren nicht mit letzter Entschlossenheit zur Infragestellung aller Werte und eines Neubeginns auf allen gesellschaftlichen Ebenen ausgetragen worden. Die Rechtskultur und die Rechtsformalitäten blieben von der Revolution unberührt, und es hatte sogar die Tradition Fortbestand, mit einer Normenkategorie der Rechtssetzung der exekutiven Gewalt, nämlich dem „gesetzlichen-Dekret“ (Decreto Legislativo), zu handeln. So wurden zwei wichtige Dekrete erlassen: Das „Oberste-Dekret“ (Decreto Supremo) Nr. 3301 vom 20. Januar 1953, das eine organisatorische Funktion erfüllte; hiermit wurde der Ausschuss für die Vorbereitung der Landverteilung ernannt und das gesetzliche-Dekret (Decreto Legislativo) Nr. 3464 vom 2. August 1953, welches das Eigentum an Land, vorwiegend aus Großgrundbesitz stammend, neu ordnete. Die massive Landumverteilung durch direkte Inbesitznahme seitens der Bauern (campesinos) erforderte eine gesetzliche Normierung und Legalisierung von Eigentumstiteln. Diese Kompetenz wurde dem Präsidenten der Republik zugestanden. Aber der rechtliche Rahmen ließ Fragen offen hinsichtlich der Legalität der errungenen Rechte.74 Anders als bei den rechtlichen Reformen wurden im Bereich der Legitimität des politischen Mandats große Fortschritte erreicht. Vor der Revolution vom April 1952 wählte man den Präsidenten des Landes mit einer Wahlbeteiligung von circa 30.000 Stimmen, d.h. mit Stimmen von etwa um 1% der gesamten Bevölkerung. Der „repräsentative“ Staat stützte seine politische Legitimation bis zu diesem Zeitpunkt auf eine dünne städtische Mittelklasse, die sich aus Angestellten, Handwerkern und Angehörigen freier Berufe zusammensetzte. Die „comunidades“ (indianische Dorfgemeinschaften) hatten eine große soziale und ökono73 Institutionen wie die Polizei wurden während dieser turbulenten Periode durch Minenkommandos ersetzt. Siehe dazu Mayorga, Rene Antonio/Gorman, Stephen: National Popular State, State capitalism and Military Dictatorship in Bolivia 1952–1975, Latin America Perspectives, Vol. 5, N. 2, 1978, S. 89–119. 74 Siehe dazu: Karst, Kenneth/Rosenn, Keith S.: Law and Development in Latin America, Berkley 1975, S. 325–330.

IV. Die Funktion der Verordnung in der diktatorischen Zeit Boliviens

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mische Bedeutung75, sie waren zum großen Teil an die Haziendas gebunden und befanden sich innerhalb des Machtbereiches derselben. Kulturell drückte sich die Marginalität der indianischen Bauernbevölkerung in einer Isolation aus, in der aber die alten Quechua- und Aymara-Traditionen bewahrt wurden, in der Einsprachigkeit (der größte Teil sprach kein Spanisch) sowie in Analphabetismus, der ca. 95% der Landbevölkerung umfasste. Die „Nationale Revolution“ von 1952 brachte die bisher größte Expansion des Staatsapparates mit sich: die Verstaatlichung der Bergwerke, die Gründung mehrerer Planungsbehörden und den Zuwachs von Personal der Verwaltung mit den zahllosen Anhängern und dem Klientel einer siegreichen, zum ersten Mal die Interessen der Mittelschichten vertretenden Partei, dem „Movimiento Nacionalista Revolucionario“ (MNR). Die zwölfjährige Herrschaft des MNR hat zwar grundlegende Veränderungen in der bolivianischen Gesellschaft herbeigeführt, jedoch die Voraussetzungen des Landes für die Überwindung von Unterentwicklung und Abhängigkeit nicht wesentlich verbessert. Mit dem Sturz des MNR durch den Staatsstreich von General René Barrientos Ortuño (1919–1969) im November 1964 setzte eine lang anhaltende, durch autoritäre und repressive Militärherrschaft gekennzeichnete politische Phase ein, deren Höhepunkte die drei Amtszeiten von General René Barrientos vom 05.11.1964 bis zum 27.04.1969, dem selbsternannten General Hugo Banzer Suárez (1926–2002); diktatorische Amtszeit vom 21.08.1971 bis zum 21.07.1978 und General Luis Garcia Meza (1929; Diktatur von 17.07.1980 bis 04.08.1981) waren und die mit wenigen Unterbrechungen durch demokratische Öffnungsversuche bis Oktober 1982 dauerte.

IV. Die Funktion der Verordnung in der diktatorischen Zeit Boliviens (Regierungsperiode 1971–1978) 1. Die Verordnung und die Diktaturzeit Am 22. August 1971 ergriff der Militär Hugo Banzer Suárez76 die Macht in Bolivien. Nach mehreren gescheiterten Versuchen, eine neue Verfassung zu ent75 Das wesentliche Strukturelement der halbfeudalen Landwirtschaft war die extreme Konzentration des Bodeneigentums in den Händen der Großgrundbesitzer. Die Latifundien stellten 8% der landwirtschaftlichen Betriebe, aber 95% der Gesamtfläche dar, die im Besitz von etwa 4% der Landherren waren. Die Gegenseite der Medaille war eine große Streuung und Zerstückelung des Bodens in Minifundien, die zwar 60% des Landbesitzes ausmachten, aber nur 0,41% der Gesamtfläche umfassten. Vgl. dazu Rivera Cusicanqui, Silvia: „La expansión del latifundio en el altiplano boliviano: elementos para la caracterización de una oligarquía regional“, in: Avances 2 (1978), S. 95–118. 76 Hugo Banzer Suárez wurde als Nachfahre deutscher Einwanderer 1926 in Concepción im tropischen Tiefland von Bolivien geboren. Banzer bekleidete sein erstes Regierungsamt als Erziehungsminister im Kabinett General Rene Barrientos von 1964 bis

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1. Kap.: Historische Darstellung der exekutiven Normsetzung in Bolivien

werfen, entschied sich der Diktator, unterstützt von seinem Kabinett, das „Gesetzes-Dekret“ (Decreto Ley) Nr. 11947 vom 9. November 1974 zu erlassen. Dieses „Gesetzes-Dekret“ sollte als Grundgesetz gelten, indem es die Verfassung von 1967 für gültig erklärte, solange sie nicht gegen die „Gesetze-Dekrete“ (Decretos Leyes) der Regierung verstößt. Diese Vorgehensweise ist in allen lateinamerikanischen Diktaturen der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderst wiederzufinden77 und folgte der Ideologie der „Doktrin der nationalen Sicherheit“. Die Exekutive wurde vom Präsidenten als Oberhaupt des Staates, vom Generalkapitän der Streitkräfte und vom Ministerrat gebildet. Die Staatsgewalt ging von der exekutiven Gewalt aus. Wesentliche Gesetzbücher und der formelle rechtliche Rahmen wurden in der Diktaturzeit in Form von „Gesetzes-Dekret“ geschaffen. In der Diktaturzeit von Hugo Banzer wurden die ersten normativen Regelungen für die Behörden erfasst. Diese beinhalteten einen kontinuierlichen regelgebundenen Betrieb von Amtsgeschäften, dem Prinzip der monokratischen Amtshierarchie folgend, die damit eine Beamtenlaufbahn als Hauptberuf ermöglichten. Die rationale Herrschaft nach Max Weber78 zeichnet sich durch einen bürokratischen Verwaltungsstab aus. In diesem Sinne lässt sich sicherlich über die Legitimation der Herrschaft in einer Diktaturzeit argumentieren. Aber da die Legislative in dieser Zeit abgeschafft war und damit rechtliche Formen (Gesetze) missbraucht und ausgehöhlt wurden, bleibt diese Argumentation doch bedenklich.79 Die Problematik der Legitimation der Macht wird hier erwähnt, um die Kriterien für die unterschiedlichen rechtlichen Argumentationen für die Rezeption der „Gesetzen-Dekrete“ in der bolivianischen Rechtsordnung darzustellen. Die Gültigkeit eines „Gesetzes-Dekretes“ im materiellen Sinne kann wohl aus einer de1966. 1971 gelangte er durch einen Militärputsch an die Macht. Seine Präsidentschaft, eine Militärdiktatur, dauerte bis 1978. Im Jahr 2001 wurde er demokratisch gewählt, seine Amtsperiode bis 2004 konnte er jedoch nicht beenden, da er 2003 an Krebs verstarb. Mesa (Anm. 8), S. 684. 77 De-facto-Regierungen haben auch vor den achtziger Jahren die Legitimation der Herrschaft gesucht. Sie baten sogar um rechtliche Anerkennung als verfassungsmäßige Regierung vor der Judikativen Gewalt. 1930 stellte General Uriburu in Argentinien diese Petition dem obersten Gerichtshof vor. Nach der Analyse des Autors Kenneth Karst: „The practice of the Argentine and Brasilian Supreme Courts is open to serious criticism. The Courts cannot invoke a single constitutional or statutory provision in support of the practice of recognizing de facto governments.“ Vgl. Karst, Kenneth L.: Latin American legal Institutions, 1966, Latin American studies series S. 681–685. 78 Die drei Typen legitimer Herrschaft von Max Weber sind die Rationale, Traditionale und Charismatische Herrschaft. Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft 5. Aufl., Tübingen 1972, S. 124–127 und S. 551–556. 79 Über die Legitimation der Macht der de facto Regierung und ihre entsprechende Rechtsetzungsbefugnis in Diktaturzeiten siehe Gonzalez Arzac, Felipe: El derecho de autoridad y la legitimación de los gobiernos de facto Buenos Aires 1967, S. 38–48.

IV. Die Funktion der Verordnung in der diktatorischen Zeit Boliviens

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mokratischen Hinsicht in Frage gestellt werden, wenn das Parlament nach der bolivianischen Verfassung seine Aufgabe der Gesetzgebung auf die exekutive Gewalt nicht delegieren darf. Aber das gesamte Rechtssystem soll zu dieser juristischen Frage Antworten finden. Die Normenkategorie der „Gesetzes-Dekrete“ hat ihren Ursprung in Bolivien ausschließlich aus Diktaturzeiten, anders als z. B. in Italien oder in Spanien. Diese Normenkategorien werden zwar in der aktuellen Verfassung Boliviens nicht ausdrücklich als Normkategorie erwähnt oder anerkannt, aber ihre Existenz bedarf trotzdem immer wieder der Interpretation seitens der Rechtsprechung, was zu regelmäßigen politischen und juristischen Kontroversen führt80. 80 „En gobiernos de facto, el Poder Ejecutivo sustituye al Legislativo dictando decretos con fuerza de ley, de tal manera que en los hechos puede derogar leyes. Si bien es cierto que de acuerdo al art. 228 de la Carta Magna, las autoridades debeb aplicar al Constitución con preferencia a las leyes, y éstas con preferencia a los decretos, no es menos cierto que en los gobiernos de facto, donde se carece de Poder Legislativo que es el unico facultado para dictar las leyes, el Poder Ejecutivo sustituye al Legislativo dictando decretos con fuerza de ley, es decir, equiparables a las leyes, de tal manera que en los hechos puede derogar leyes. Por tanto, se declara IMPROBADA la demanda de inconstitucionalidad“. Relator: Ministro Dr. Francisco Blacutt Llano. Decretos Leyes, Auto Supremo No 11, de 10 de septiembre de 1980. „Tienen carácter de ley y no pueden primar frente a ellos un decreto supremo. De la lectura del D. L. No 1247 de 13 de deciembre de 1974, se infiere que el propósito del supremo gobierno ha sido el de fomentar la reinversión de utilidades obtenidas por el sector privado del país, protegiendo todo aumento de capital por dicho concepto u otros con la liberación de impuestos nacionales, departamentales o municipales. Las Ordenanzas Municipales de la Alcaldía de Trinidad, aprobadas por DD. SS. No 13820 de 4 de agosto de 1976 y No 18058 de 4 de marzo de 1981, atacadas inconstitucionales, al gravar con el 1,5% sobre la última suma del capitalpagado y reservas legales de los bancos de esa ciudad, se encuentran en franca contraposición con el D. L. No 12047 antes mencionado, habia cuenta de que el referido impuesto no constituye un gravamen sobre el capital inicial o de „arranque“ del Banco Big Beni, sobre el aumento de capital, el que sólo es posible con la reinversión progresiva de utilidades, reinversión que se da autos. Tanto la doctrina como la jurisprudencia reconocen el valor legal de los decretos leyes, y han establecido que dichas normas son aplicables mientras no sean abrogadas o derogadas. El decreto ley forma parte de una legislación de emergencia por reunir en una sola autoridad los poderes ejecutivo y legislativo como consecuencia de un cambio político. Resulta un acto con valor de ley, es el sucedáneo de la ley y vale como ella. Teniendo el decreto-ley carácter de ley, no puede primar frente a él un decreto supremo, ya que por imperio del art. 228 de la C.P.E., corresponde a los tribunales, jueces y autoridades aplicar la constitución y las leyes con preferencia a cualesquiera resoluciones, por lo que la inconstitucionalidad de las repetidas ordenanzas apoyadas en los decretos supremos indicados es evidente y notoria. Los hechos anotados por el demando en sentido de que las agencias de Santa Cruz, Cochabamba y La Paz del Big Beni hubiesen cancelado el mismo tipo de impuesto que se resiste pagar la central de Trinidad, no influye en la decisión de la causa porque el control jurisdiccional de la constitucionalidad a que hace referencia el art. 127,5 de la C.P.E., sólo circunscribe al caso particular debatido y no tiene alcance general, osea la inconstitucionalidad y consiguiente inaplicabilidad se

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Die konstituierenden Elemente eines Staates sind Gebiet, Bevölkerung und Regierung, letztere übt die Hoheitsgewalt aus. Ohne Hoheitsgewalt und Ordnung gibt es keinen Staat, die Anarchie würde die Gesellschaft zu Grunde richten. Die Normsetzungsbefugnis der exekutiven Gewalt wird deswegen in Ausnahmezuständen und bestimmten Notsituationen durch Übertragung der Rechtssetzungskompetenzen von der legislativen an die exekutive Gewalt zugelassen. Dies erfolgt in verschiedenen Verfassungen unter strengen Bedingungen, anders hingegen in Bolivien, wo diese konkreten Notverordnungen nicht in der Verfassung geregelt werden. Der Ausnahmezustand wird zwar in den Artikeln 111 bis 115 geregelt, aber die Dekrete mit Gesetzeskraft oder Notdekrete („decretos de emergencia“) bleiben als Normenkategorien in der bolivianischen Rechtsordnung unbekannt. Die „Gesetzes-Dekrete“ sind demzufolge nicht Teil der verfassungsrechtlichen bolivianischen Rechtsquellen, aber es stellt sich die Frage, ob die „Gesetzes-Dekrete“ eine eigene Normkategorie bilden oder ob sie zu der Normkategorie des Gesetzes oder des Dekretes gehören. Die lateinamerikanische Rechtslehre hat sich wenig mit diesen theoretischen Überlegungen befasst. Als Abweichung von der Regel gelten die argentinische Rechtsschule und die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs Argentiniens. Die argentinische Rechtsprechung beschäftigt sich schon seit dem letzten Jahrhundert mit dieser Thematik. Die Tendenzen und Entwicklungen der argentinischen Urteile in diesem Bereich werden von der bolivianischen Seite mit Interesse verfolgt und zum Teil auch in die Debatte miteinbezogen. Die Entwicklung der ersten Rechtsprechungslinie von 1865 bis 1943 erkennt die Rechtskompetenzen der Regierung de facto an und sieht im Akt des formalen Eids auf die Verfassung, dass sich die neuen Machthaber zu einer Selbstbeschränkung der Macht bekennen. So befand der Oberste Gerichtshof Argentiniens, dass die Rechtsetzungsbefugnis der Regierung als gewöhnlicher Teil der exekutiven Gewalt anzusehen ist. Solange die legislative Gewalt ihre Funktionen nicht ausübt, werden diese Dekrete als Akte materieller Gesetzgebung anerkannt. Sollte die Regierung de facto nicht mehr an der Macht sein, besitzen die „Gesetzes-Dekrete“ keine Gültigkeit mehr. Eine neue Regierung muss diese „Gesetzes-Dekrete“ ausdrücklich de iure, also formell durch Gesetz. Unter dem Einfluss von Richter Tomás Casares wurde 1947 in Argentinien eine neue Rechtsprechungslinie entwickelt. Die Rechtsetzungsbefugnis der Redeclara inter partes y no erga omnes. Por tanto, declara PROBADA la demanda y por consiguiente inaplicables las ordenanzas municipales aprobadas mediante Decreto Supremo No. 13820 del cuatro de agosto de 1976 y No. 18058 de cuatro de marzo de 1981. En aquellas partes en que se fijan imposiciones tributarias al banco demandante. Relator: Ministro Dr. Hugo Galindo Decker, Decretos Leyes, Auto Supremo. No. 18 de 19 de octubre de 1984.

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gierung wurde de facto der legislativen Rechtssetzung gleichgestellt und damit wurde die Gültigkeit der rechtlichen Normen als materielle Gesetze über die Amtszeit hinaus anerkannt. Das neue Parlament musste demzufolge unerwünschte rechtliche Normen ausdrücklich aufheben.81 Nach 1966 herrschte Ungewissheit in Bezug auf die Gültigkeit der Gesetze, die de facto Regierungen erlassen hatten. Die drei Staatsgewalten in Argentinien entwickelten auf diesem Gebiet unterschiedliche Positionen. Zum ersten hat der Oberste Gerichtshof Argentiniens entschieden, dass mit dem Wegfall der „de-facto-Regierung“ auch die Gesetzgebung entfällt. Zum zweiten hat die Exekutive einige Male durch einen einfachen Erlass ein „Gesetzes-Dekret“ außer Kraft gesetzt. Ein anderes Mal schickte sie Gesetzesentwürfe an den Kongress, welche die Aufhebung von zwischen dem 28. Juni 1966 und dem 25. Mai 1982 erlassenen „Gesetze“ (Gesetzes-Dekreten) zum Ziel hatten. Zum dritten akzeptierte der Nationalkongress, dass „Gesetzes-Dekrete“, die von de facto Regierungen verabschiedet worden waren, per Erlass aufgehoben wurden, um anderseits selbst Gesetzes-Dekrete durch formelle Gesetze aufzuheben.82 2. Die Organisation der Exekutive Die zwei einzigen Gesetze von 1826 und 1888, welche die Organisation der exekutiven Gewalt regelten, zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass sich fast alle darinhaltenen Bestimmungen auf die Darstellung der formellen Befehlshierarchie und auf die Zusammensetzung des Ministerrates beziehen. Funktionsweise, Beamtenethos und Organisationsstruktur der Verwaltung wurden aus der kolonialspanischen Zeit übernommen. 81 1958 wurde in Argentinien das Gesetz No. 16479 verabschiedet, das zum ersten Mal eine Entscheidung bezüglich der Hinfälligkeit der „Gesetzes-Dekrete“ behandelt. Die Unabhängigkeit des obersten Gerichtshofes gegenüber der Regierung soll auch in der Jurisprudenzlinie dieses Gerichtes eine Rolle spielen. Zu diesem Thema siehe Oyhanarte, Julio: Caducidad o continuidad de los llamados Decretos-Leyes de los gobiernos de facto, in: Revista La Ley T. 90, Buenos Aires 1958, S. 770. 82 Nicht weniger kompliziert war es in der Periode der Diktaturen in Lateinamerika, eine Hierarchie der Quellen gültiger normativer Ordnung zu ermitteln. So legte zum Beispiel Artikel drei des Statuts der argentinischen Revolution drei Hauptquellen fest: das Statut selbst, die Verfassung von 1853 und die Ziele der argentinischen Revolution gemäß Anhang 3 der Revolutionsakte, wobei das Statut eine ranghöhere Position einnahm. Diese Art Autoritarismus in Vorschriften der Verfassung findet sich oft in Lateinamerika. So fügt zum Beispiel die brasilianische Verfassung von 1967 durch die Reform vom 17. Oktober 1969 den Artikel 182 hinzu: „Die „Acta Institucional No. 5“ vom 13. Dezember 1968 und die übrigen erlassenen Actas bleiben in Kraft. Der Präsident der Republik kann, nachdem er den Rat der Nationalen Sicherheit konsultiert hat, die Aufhebung jeder dieser Actas dekretieren, wenn deren Verfügungen als unnötig betrachtet werden.“ Vgl. Evers, Tillman: Militärregierung in Argentinien. Das politische System der „Argentinischen Revolution“, Hamburg 1972, S. 79.

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1. Kap.: Historische Darstellung der exekutiven Normsetzung in Bolivien

Erst fast ein Jahrhundert später, am 30. April 1970, wurde ein weiteres Gesetzes-Dekret „Ley de Bases“ noch unter der Regierung von Efraín Gauchalla verabschiedet. Die Ministerien wurden systematisch in Sektoren untergliedert. Die Ministerien der Planung, Finanzen und Information wurden als Leitorgane dieser Systemstruktur festgelegt. Das „Gesetzes-Dekret“ vom 12. September 1972 („Decreto Ley de Organización Administrativa del Poder Ejecutivo“) bestimmt für jedes Ministerium ein Referat für die Umsetzung der folgenden Bereiche: Planung, Personal, Verwaltungsanalyse, Rechnungswesen, Statistiken usw. Diese sollten unter der Leitung des Finanzministeriums für die entsprechenden Systeme reguliert und koordiniert werden. Die zwei oben genannten Gesetze wurden von zwei politisch-ideologisch sehr verschiedenen Regimes erlassen. Beide beanspruchten, die öffentliche Verwaltung völlig neu zu strukturieren und zu modernisieren, und beide Gesetzeswerke erschöpften sich eher nur wie üblich in der Umbildung des Ministerrates und der Umgestaltung der formellen Hierarchien des Staatsapparates, so zum Beispiel in einer logischeren Einordnung der Behörden, Institutionen und Unternehmen zwecks einer besseren Aufstellung des Staatshaushaltes. Laut dem Gesetz vom 12. September 1972 zur administrativen Gliederung der exekutiven Gewalt umfasst der staatliche Sektor fünf Bereiche, die zugleich die unterschiedlichen Ebenen der Finanz- und Geschäftsautonomie widerspiegeln: – Zentrale Verwaltung (Administración Central): Diese Ebene wird dann als Exekutive im engeren Sinne verstanden; – Dezentralisierte Verwaltung (Administración Descentralizada): Die Unternehmerrolle des Staates expandierte besonders im historischen Abschnitt der Diktaturzeit Banzers durch die Gründung der großen neun regionalen Entwicklungskorporationen (Corporaciones Regionales de Desarrollo) und zahlreicher anderer Betriebe (von Schmelzhütten über eine Schifffahrtslinie bis zu Speiseölfabriken) und umfasste 131 Institutionen des öffentlichen Rechts (instituciones públicas) sowie 75 staatliche Wirtschaftsunternehmen (empresas mixtas). Der Aufgabenkreis der regionalen Entwicklungskorporationen ist fachlich weder definiert noch eingegrenzt. Infrastruktur, öffentliche Bauten, Produktionsund Distributionsbetriebe sowie Verwaltungstätigkeit werden von ihnen in einer Weise ausgeführt, die keine Rücksichten auf tatsächliche Kosten zu nehmen braucht. Ihre Aktivitäten überschneiden sich mit den Funktionen zahlreicher anderer Staatsunternehmen. – Dekonzentrierte Verwaltung (Administración Desconcentrada): Unter dieser Bezeichnung werden die Präfekturämter verstanden. Der Einheitsstaat für die Landesteile (Departamentos) geht auf die Übernahme des französisch-jakobinischen Verwaltungssystems zurück, dessen Grundlage die Abschaffung der

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als feudal und altmodisch geltenden intermediären Gewalten, die eindeutige Hervorhebung der Hauptstadt und der Zentralregierung sowie die Auffassung von der Unteilbarkeit und Einheit der Nation bilden. Die Landesgliederung folgt dem französischen Präfekturmodell, in dem die Präfekten vom Innenministerium auf unbestimmte Zeit ernannt werden; die Leitungen der nachgeordneten Bezirksbehörden werden von Präfekten ernannt und können des Amtes enthoben werden. Die Verfassung sieht zwar die freie Wahl eines Stadtrates in jeder Stadt vor, aber der städtischen Autonomie sind sehr enge finanzielle und gesetzliche Grenzen gesetzt. – Lokale Verwaltung (Administración Local): Darunter werden ausschließlich Gemeindeämter verstanden. Die entsprechenden Gemeindewahlen fanden recht selten statt (es gab zwischen 1951 und 1985 keine gewählten Stadträte), und zu der Zeit bestellte der Staatspräsident die Bürgermeister der wichtigsten Städte per Ernennung. – Autonome Verwaltung (Administración Autónoma): Die Universitäten gehören zu diesem Bereich. Sie genossen selbst in der Diktaturzeit eine weitgehende Selbständigkeit in der Geschäftsführung; alle öffentlichen Hochschulen wurden von der Staatskasse finanziert, welche normalerweise nur die festen Personalkosten abdeckt. Die übrigen Ausgaben sind gebührenfinanziert. 3. Form- und Verfahrensprinzipien Die Normenkategorie der „Gesetzes-Dekrete“ wird in Bolivien nicht immer verfassungsrechtlich einheitlich behandelt. Ein erhellendes Beispiel hierfür bilden die „Gesetzes-Dekrete“, welche sich mit der Regelung des Vergaberechts befassen. Die ersten Regeln des Vergaberechts entstanden hauptsächlich durch die „Obersten Dekrete“ vom 2. März 1905, 6. April 1926, 9. September 1936 und 22. Mai 1939 und wurden durch die Rechtssetzung der exekutiven Gewalt in Form eines „Obersten Dekretes“ bestimmt. Diese erste Phase der „Obersten Dekrete“ beinhaltete Regeln für die Organisation der „Junta de Almonedas“, deren Funktion darin bestand, über die Vergabe und über die gegebenenfalls in Abhängigkeit von der Finanzierungshöhe notwendigen Ausschreibungen öffentlicher Aufträge zu entscheiden. Das Vergaberecht wurde in einer zweiten Phase durch ein strenges Verfahren in der Diktaturzeit Banzers geregelt, da seine Vorschriften durch „Gesetzes-Dekrete“ festgelegt wurden. Sowohl in Zeiten der Diktatur als auch der Demokratie behielt die Normenkategorie der „Obersten Dekrete“ gleichermaßen ihre Gültigkeit und übte so entscheidenden Einfluss auf bestehende Gesetze wie auf die laufende Gesetzgebung aus. So entspricht aus materieller Sicht in der Demokratie das Verhältnis zwischen Gesetz und Dekret dem Verhältnis zwischen „GesetzesDekreten“ und „Obersten Dekreten“ in Phasen der Diktatur.

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1. Kap.: Historische Darstellung der exekutiven Normsetzung in Bolivien

Anders als bei den meisten „Gesetzes-Dekreten“ aus der Zeit der Banzer-Diktatur, welche die Texte der wesentlichen Kodifizierung Boliviens verabschiedet haben und ihren Gesetzesrang in demokratischen Zeiten weiterhin beibehielten, wurde die Gültigkeit des „Gesetzes-Dekretes“, welches die öffentlichen Ausschreibungen regelt, nicht als Gesetz übernommen, sondern lediglich als „Oberstes Dekret“ eingestuft. So wurde zuerst das „Gesetzes-Dekret“ Nr. 15192 vom 12. Dezember 1977 bezüglich öffentlicher Ausschreibungen einfach durch das „Oberste Dekret“ Nr. 21660 vom 10. Juli 1987 unter einer demokratischen Regierung83 ersetzt. Später wurde die Vergabe öffentlicher Aufträge sogar durch einen „Obersten Beschluss“ geregelt. Die „Gesetzes-Dekrete“ Nr. 15192 vom 15. Dezember 1977, Nr. 15223 vom 30. Dezember 1977 und Nr. 16859 vom 19. Juli 1979 behandelten ausführlich und vollständig die Themengebiete Leistungen und Bauleistungen. Aus der Sicht der Gesetzgebungstechnik hatte das Verfahren der öffentlichen Ausschreibungen eine deutliche qualitative Verbesserung durch diese neuen Vorschriften erlangt. Nur die historische und soziologische Analyse dieser Regelungen lässt erkennen, dass die Periode, in denen sie erlassen wurden, nicht konstitutionell war. Wie sollte man mit diesen „Gesetzes-Dekreten“ umgehen, wenn sie gar nicht der bolivianischen Verfassung entsprechen? Die exekutive Gewalt begann schnell, die Auswirkungen einer Flexibilisierung der Vergaberegelung öffentlicher Aufträge zuschätzen, besonders angesichts der wirtschaftlichen Implikationen84. So kehrte sie zu dem rechtlichen Instrument der ersten Phase, nämlich dem „Obersten Dekret“ zurück und erklärte damit diesen Bereich zur eigenen Kompetenz innerhalb der Rechtsetzung. Dies erklärt auch, warum sich die exekutive Gewalt zehn Jahre später entschied, die Regelung der Vergabepraxis statt durch ein „Oberstes Dekret“ durch einen nachrangigen „Obersten Beschluss“ regeln zu lassen; dieser bedarf allein der Unterschrift des Präsidenten und stellt insofern eine weitere Vereinfachung dieses Rechtsbereiches dar. Dies erschien aus ökonomischer Sicht sinnvoll, drohte aber die Rechtssicherheit zunehmend zu gefährden.85

83 Für eine ausführliche Diskussion zur demokratischen Zeit siehe den nächsten Abschnitt. 84 Die Entscheidung einem Gesetzes-Dekret den Gesetzesrang abzusprechen, begründete der damalige Wirtschaftsminister, Fernando Cossío, aus ökonomischen Zwängen. So bedingte das bisherige Vergabeverfahen, festgelegt im entsprechenden Gesetzes-Dekret, dass in den Jahren 1981 bis 1986 von 1,7 Milliarden Dollar öffentlicher Mittel rund 1 Milliarde eingefroren werden musste; ein Missstand der erst aufgehoben wurde, indem sich der Wirtschaftsminister über das betreffende Gesetzes-Dekret hinwegsetzte. Foro Económico-ILDIS (06/12/88). 85 Über die Möglichkeiten einer Vergabe ohne Ausschreibung lässt sich weiterhin heute argumentieren. Siehe dazu z. B. Neßler, Volker: Politische Auftragsvergabe durch den Staat?, in: DÖV (2000), S. 145–152.

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Im Detail wurde das „Gesetzes-Dekret“ Nr. 15192 vom 12. Dezember 1977 zunächst durch das „Oberste Dekret“ Nr. 21660 vom 10. Juli 1987 ergänzt, vom „Obersten Dekret“ Nr. 22176 vom 10. Juli 198786 abgelöst und schließlich durch den „Obersten Beschluss“ Nr. 215475 vom 20. März 1995 mit ausführlichen und detaillierten Vorschriften ersetzt. Die Gesetzgebungsabteilung des Justizministeriums stellte diese Unvereinbarkeit dieser Vorgehensweise mit der Normenhierarchie der Rechtssetzung innerhalb der exekutiven Gewalt fest, denn das „Oberste Dekret“ Nr. 21660 vom 10. Juli 1987 hatte einen höheren Rang als ein „Oberster Beschluss“. So einfach konnte ein „Oberster Beschluss“ ein „Oberstes Dekret“ nicht aufheben. Diese Unstimmigkeiten wurden eher als formeller Mangel der Rechtsformalitäten identifiziert als ein Problem der Normenhierarchie der Normsetzung innerhalb der exekutiven Gewalt. So wurde praktisch am Beispiel des Vergaberechts dieser Widerspruch korrigiert, indem der Präsident und sein Kabinett das „Oberste Dekret“ Nr. 23981 erließen, veröffentlicht am 11. April 1995, mit dem einzigen Zweck, die zwei „Obersten Dekrete“ von 1987 außer Kraft zu setzen und mittels der Regelung durch einen neuen „Obersten Beschluss“ Nr. 216145 gleichen Inhalts, der aber aufgrund des Prinzips des „Lex posterior derogat legi anteriori“ erst später nach Außerkraftsetzung des „Obersten Dekrets“ am 21. August 1995 abgefasst und veröffentlicht wurde. Es stellt sich die Frage, wieso sich die exekutive Gewalt anmaßt, ein „Oberstes Dekret“ durch einen „Obersten Beschluss“ zu ersetzen, und damit die Transparenz im Bereich der Normsetzung mindert. Die Intention dabei war, unter Berücksichtigung des betreffenden übergeordneten Gesetzes Nr.1178 SAFCO vom 20. Juli 1990 die Systematik der öffentlichen Verwaltung in einer abgestuften Hierarchie aus „Obersten Dekreten“ und „Obersten Beschlüssen“ zu gliedern. Dieses Gesetz delegiert seine Umsetzung an Aufsichtsorgane, wie z. B. das Wirtschaftsministerium oder die Regulierungsbehörde, welche Richtlinien für bestimmte Fachbereiche entwickeln sollen, wie die sogenannten Systeme der Personalverwaltung, der öffentlichen Aufträge, der öffent86 Diese zwei Obersten Dekrete von 1987 führten ein neues sehr umstrittenes System des Vergaberechts ein. Oberhalb des Schwellenwertes von 200.000 Dollar sollten internationale Agenturen die öffentliche Ausschreibung durchführen. So bekam die „Caisse Des Depots Development“ den Auftrag 712 öffentliche Ausschreibungen zu organisieren, mit einem Gesamtvolumen von 774 Millionen Dollar, was der Agentur einen Gewinn von 7,5 Millionen Dollar erbrachte. Die „Crown Agents“ konnten in den Jahren 1991 bis 1995 einen Gewinn von ungefähr 10 Millionen Dollar für sich verbuchen, da sie Aufträge mit einem Etat in Höhe von 1 Milliarde Dollar erlangten. Die OSP/PNUD („Oficina para Servicios de Proyectos“) bekam Aufträge in Höhe von 1.366 Millionen Dollar mit einem Gewinn von 5 Millionen Dollar. Aufgrund unterschiedlich bewerteter Unregelmäßigkeiten erwies sich dieses System als ein Fehler für die bolivianische Wirtschaft. Siehe Angaben in: Semanario Nueva Economía Vuelve la Hipercorrupción?, 25 de abril 1995.

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1. Kap.: Historische Darstellung der exekutiven Normsetzung in Bolivien

lichen Kredite, der Verwaltungsorganisation, des Rechnungshofes, „gubernativer“ Kontrolle und dergleichen mehr. Die „Obersten Beschlüsse“ sollten wiederum die detaillierten Vorschriften der öffentlichen Ausschreibung beinhalten. Dabei musste die Vorgabe durch neue Verordnungen in Form von „Obersten Dekreten“ und nicht in Form von Beschlüssen umgesetzt werden. Hierbei entstand die Schwierigkeit, bestehendes Recht mit diesen neuen Regelungen in Übereinstimmung zu bringen, was z. B. bei Gesetz Nr.1178 dazu führte, dass ein bestehendes Gesetz mit der neuen rechtlichen Beschlusslage nicht in Einklang zu bringen war. Ähnlich wie beim Kaskadenprinzip87 der deutschen Regelungssystematik, welche auf verschiedenen Normhierarchien (Gesetz, Verordnung, Ordnungen) beruht, versuchte man in Bolivien die Argumentation für den „Obersten Beschluss“ zu finden. Diese Konzeption hatte aber weniger mit einer rechtlichen Normhierarchie zu tun, als mit einem organisatorischen Kaskadenprinzip und damit mit der Ökonomisierung des Rechts. Die verfassungsrechtlichen Fragen zur Interpretation des Gesetzesranges eines „Gesetzes-Dekrets“ gehören sicherlich zu den Kernkompetenzen des Verfassungsgerichts. Es bleibt jedoch die Frage offen, ob die exekutive Gewalt bei der Auswahl der Normenkategorie innerhalb der exekutiven Normsetzung auch gebunden bleibt. Wenn sie sich zuerst für ein „Oberstes Dekret“ entschieden hat, ist es dann später möglich, den Inhalt mit Hilfe eines „Obersten Beschlusses“ zu modifizieren. Wenn die Lehre der Selbstbindung der Verwaltung88 befolgt werden soll, ist es ein Gebot der Rechtssicherheit, dass die Exekutive ihre Handlungsweise nicht willkürlich ändert. Demzufolge muss die Exekutive einheitliche Kriterien für ihr Normsetzungsverständnis entwickeln.

87 Die Rechtsgrundlagen in Deutschland sind das Vergaberechtsänderungsgesetz (VgRÄG), das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB), die Vergabeverordnung (VGV), die Verbindungsordnung für Leistungen (VOL), die Verdingungsordnung für freiberufliche Leistungen (VOF), die Verdingungsordnung für Bauleistungen (VOB) und das Haushaltsgrundsatzgesetz (HGrG). Die Regelungssystematik des Vergaberechts muss die Europarechtlinien berücksichtigen, insbesondere soll die Richtlinie 2004/18/ EG vom 31. März 2004 umgesetzt werden. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Rechtsnatur der Vergabeverordnung, da die Allgemeinen Geschäftsordnungen keine Rechtsnormen sind. Nach den Kriterien des Kaskadenprinzips wird unter diesem Gesichtspunkt die Problematik der Reihenfolge von Gesetzen, der Verordnungen und Verwaltungsvorschriften deutlich. Zusätzlich erlaubt der Bestimmtheitsgrundsatz des Art. 28. I und II keine Dynamische Verweisung zur privaten Rechtsetzung. Vgl. Elbel, Thomas: Das Recht der öffentlichen Aufträge auf dem Prüfungstand des europäischen Rechts, in: DÖV (1999), S. 235–242. Hierzu auch Schwarze, Jürgen: Die Vergabe öffentlicher Aufträge im Lichte des europäischen Wirtschaftsrechts, in: EuZW (2000), S. 133–144. 88 Siehe dazu Artikel 3 und Artikel 4 GG.

V. Die Funktion der Verordnung seit den 1980er Jahren

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V. Die Funktion der Verordnung seit den 1980er Jahren im Rahmen der Rückkehr Boliviens zur Demokratie (Regierungsperiode 1982–2002) 1. Die Verordnung und die demokratische Zeit Nach 18 Jahren der Militärherrschaft (1964–1982), nach der totalen Missachtung der Menschenrechte durch die Diktaturen hatte das bolivianische Volk durch einen Generalstreik den Weg zu der ersehnten Demokratisierung geebnet89. So sollte eine neue Epoche in Bolivien beginnen. Aber das brüchige und labile demokratische System, das dem Schutz der Grundrechte des Einzelnen besondere Bedeutung beimessen sollte, schien nicht sofort die Hoffnungen der Bolivianer zu erfüllen. Trotz der Stimmenmehrheit der ersten konstitutionellen Regierung unter dem demokratisch gewählten Präsidenten Hernan Siles Suazo (1913–1996), letzte Amtszeit von 1982 bis 1985, scheiterte dessen Regierungsprogramm an der baldigen Aufspaltung des innenpolitischen Konsenses. Die Wirtschaftsmaßnahmen der Regierung konnten niemanden befriedigen, das Chaos vergrößerte sich. Die Militärs hatten der demokratisch legitimierten Linksregierung ein Wirtschaftschaos mit leeren Staatskassen, sinkender Produktion, Inflation und fast 4 Milliarden US-Dollar Auslandsschulden hinterlassen. Streiks setzten die Regierung zusätzlich unter Druck, die mit ihren regulierenden Maßnahmen die Inflation nur weiter in die Höhe trieb, welche schließlich 1985 auf 24.000 Prozent stieg. Ein Jahr früher als von der Verfassung vorgeschrieben, ließ Siles Suazo Neuwahlen ausschreiben. Der erste Schritt zu einer beständigen Demokratie, in der Regierungswechsel durch Wahlen und ohne Gewalt stattfinden, war damit getan. Später gelang es Präsident Victor Paz Estenssoro (1907–2001), letzte Amtszeit von 1985 bis 1989, die tiefgreifende wirtschaftliche und politische Krise, welche die Militärs hinterlassen hatten, mit einer parlamentarischen Mehrheit, dank einer Regierungskoalition mit der Opposition, zu überwinden. Die Stabilisierung der Wirtschaft, eingeleitet durch die Verabschiedung des „Obersten Dekretes“ (Decreto Supremo) Nr. 21060 am 25. August 1985, legte zugleich den Grundstein für die politische Stabilität und die Rolle des Staates in der Ökonomie und damit für eine Veränderung der traditionellen Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft. Dies brachte aber eine hohe soziale Belastung mit sich, denn die drastischsten Maßnahmen wurden hauptsächlich von den Minenarbeitern getragen, die der untersten Gesellschaftsschicht angehören. 89 Baptista unterscheidet Rückkehr und Transition zur Demokratie, denn die Akteure von links und rechts verfolgen noch eine totalitäre Konzeption der Macht des Staates mit Instrumenten von Gewalt und Unterdrückung, in Baptista, Mariano: Breve Historia contemporánea de Bolivia, México 1996, S. 336.

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Diese bedeutenden Maßnahmen wurden durch ein „Oberstes Dekret“ (Decreto Supremo) eingeführt und nicht etwa durch ein Gesetz oder gar eine möglicherweise notwendige Verfassungsreform, bemerkenswert angesichts der Tatsache, welche tiefgreifenden Reformen dieses Dekret beinhaltet. Die exekutive Gewalt verstärkte so in der Praxis ihren Handlungsspielraum mit einer autonomen Normsetzungsbefugnis, welche zwar einen beschleunigten Normsetzungsprozess für schnell notwendige ökonomische Entscheidungen ermöglichte, aber auch offenbarte, wie ausgeprägt die Ambivalenz der bolivianischen Rechtsordnung in Bezug auf das Verhältnis zwischen Gesetz und Verordnung ist. Die legislative Gewalt übernahm eine zurückhaltende Rolle gegenüber den Handlungen der exekutiven Gewalt. Diese war die Folge einer Koalition zwischen zwei großen Parteien (ADN und MNR) und der starken Führungsrolle ihrer beiden Parteivorsitzenden, Präsident Víctor Paz Estenssoro und Hugo Banzer. In diesem besonderen historischen Kontext sollte man auch die Rolle der legislativen Gewalt betrachten. Bolivien gehört zu den Ländern, die in einem relativ großen Sprung in wenigen Jahren eine gewisse wirtschaftliche Stabilität erreicht haben und damit auch einen Anfang gestalten im Umbau der politischen Landkarte Lateinamerikas. Diese erfreuliche Welle der Demokratisierung begann in den 80er Jahren in Lateinamerika. Sie entstand aus einem sozialen Druck resultierend aus der Unzufriedenheit großer Bevölkerungsmassen, allerdings minderte die herrschende Wirtschaftskrise in allen südamerikanischen Ländern immer wieder ihre Konsolidierungsaussichten. Das Dekret Nr. 21060 hatte zwar für die Stabilisierung der bolivianischen Wirtschaft positive Auswirkungen, für das Rechtsbewusstsein und die Wahrnehmung der rechtlichen Normen in Bolivien jedoch verheerende Folgen. Das Verhältnis zwischen Gesetz und Verordnung wurde in demokratischer Zeit verschoben. Die Legalität der Verordnung wurde von der legislativen Gewalt nicht in Frage gestellt. Die Mitglieder der Legislativen übernahmen eine passive Rolle und billigten schweigend jeden Ausnahmezustand, welcher durch die Exekutive verhängt wurde. Die Blütezeit der Staatsreformen in Bolivien bezieht sich auf den sog. neoliberalen Reformprozess seit 1985 bis Ende des 20. Jahrhunderts, welcher das Land modernisieren sollte, gleichzeitig wurde die Konsolidierung der Demokratie angestrebt. In der ersten Phase (1985–1989)90 wurden drastische Maßnahmen er90 Der Reformprozess begann 1985 mit der neoliberalen Politik des Staatspräsidenten Victor Paz Estensoro. Die erste Phase bezieht sich deswegen auf die Regierungsperiode von Paz Estensoro. Die Große Koalition zwischen der Partei Acción Democrática Nacionalista (ADN), geführt von dem ehemaligen Diktator Hugo Banzer Suárez und

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griffen, um die Wirtschaft zu sanieren. Die zweite Phase (1989–1994)91 zeichnete sich durch einen Vertrauensgewinn bei den internationalen Kreditbanken und die Ermöglichung von ausländischen Kreditprogrammen aus. Diese Kreditprogramme basierten auf einem starken Konsens der politischen Klasse. Die dritte Phase (1994–1998) zeichnete sich durch Rechtsreformen und Privatisierung der staatlichen Unternehmen aus92. Die Akzentuierung der wirtschaftlichen Krise und die politische Korruption beschleunigten den Untergang der traditionellen politischen Parteien. 2. Die Organisation der Regierungsstruktur und die Exekutive Der Präsident Gonzalo Sanchez de Losada, geboren 1930, (Amtszeit von 1993 bis 1997) führte eine Reihe von Staatsreformen93 durch, welche auch die Organisation der exekutiven Gewalt betrafen. Die vorherigen Regierungen von Victor Paz Estenssoro (1985–1989) und Jaime Paz Zamora, geboren 1939, (Amtszeit von 1989 bis 1993) hatten die bisherige Struktur der exekutiven Gewalt erhalten. Diese wird durch Gesetz festgelegt, so dass der Präsident bei Reformen auf die Stimmen des Parlaments angewiesen ist. Das Kabinett war bis zu diesem Zeitpunkt auf 17 Minister angewachsen, deren Koordination für den Staatschef zu einer fast unlösbaren Aufgabe geworden war, selbst wenn es sich um einen sehr um Ausgleich bemühten Regierungschef handelte.94 So entstand eine Vielzahl von Räten, denen verschiedene Ministerien nach Themengebieten zugeordnet waren, wie etwa der „Ökonomische Rat“, der „Rat für soziale Politik“, der „Rat zur Bekämpfung des Drogenhandels“, sowie der Rat für die Erziehungsreform“. Der Minister, der diese Räte leitete, bekam so ein höheres politisches Gewicht in der exekutiven Gewalt. Im Januar 2002 wurde ein Gesetzentwurf über die Verteilung der Rollen und Kompetenzen der exekutiven Gewalt, der Präfekturen und der Regierung in den Gemeinden von den Beratern der exekutiven Gewalt vorgelegt. Der Grund hierfür der Partei Movimiento Nacionalista Revolucionario (MNR) ermöglichte drastische ökonomische Reformen. 91 Die zweite Phase bezieht sich auf die Regierungsperiode von Jaime Paz Zamora. Die Koalition zwischen der drittplatzierten Linkspartei (Movimiento Izquierda Revolucionario) und den Acción Democrática Nacionalista (ADN). Der Pakt für die Kooperation zwischen den drei Gewalten legte den Grundstein für die Verfassungsreformen. 92 Eine wichtige Rolle für die Modernisierung Boliviens spielte die zweite Regierungsperiode von Gonzálo Sanchez de Losada (MNR), besonders im Hinblick auf die Privatisierung der staatlichen Unternehmen. Für eine Analyse dieser Regierungsperiode siehe die Habilitationsschrift von Jost, Stefan: Bolivien: Politisches System und Reformprozess 1993–1997, Opladen 2003. 93 Zu diesen umfänglichen Reformprozessen siehe dazu ebd. S. 145 ff. 94 MacLean, Ronald: La reorganización del Poder Ejecutivo in: Toranzo Roca, Carlos (Hrsg.), Buen gobierno para el desarrollo humano, Instituto Latinoamericano de Investigaciones Sociales, ILDIS, La Paz 1994, S. 19–26.

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1. Kap.: Historische Darstellung der exekutiven Normsetzung in Bolivien

war die Forderung internationaler Kooperationen einen übersichtlichen Rahmen zu gewährleisten, um sicherzustellen, dass finanzielle Mittel zu den berechtigten Organen gelangten. Dabei handelte es sich hauptsächlich um das Modell der Delegation der Kompetenzen. Die zentrale öffentliche Verwaltung wurde verstanden als Synonym der exekutiven Gewalt, die Departments als Synonym für die Präfekturen und die lokale öffentliche Verwaltung als Synonym für die Gemeinden. Im Gesetzentwurf wurden zwei Begriffe unzulässigerweisse miteinander vermengt, zum einen die Zuerkennung der Kompetenzen und zum anderen die Delegation der Kompetenzen. So wurde den Gemeinden auch legislative Rechtsetzung (Potestad Legislativa) zugebilligt, was in einer unitarischen Republik nicht zulässig ist, denn nur die legislative Gewalt hat diese Kompetenz. Laut Verfassung ist hierbei ausdrücklich die Rede von einer Normsetzungsbefugnis. Das bolivianische Verwaltungsrecht hat sich in verschiedenen Sondergerichtsbarkeiten unterschiedlich entwickelt. Das erste Verwaltungsverfahrensgesetz (Ley de Procedimiento Administrativo) wurde am 23. April 2002 verabschiedet95. 3. Form- und Verfahrensprinzipien Die Formwahl innerhalb der Normsetzung der exekutiven Gewalt stößt auch in demokratischer Zeit auf die gleichen Schwierigkeiten wie in anderen Perioden, die aufgrund eines Mangels an einheitlichen dogmatischen Regeln nicht leicht zu beheben sind, selbst wenn Praktiker kreative Lösungen dafür zu finden vermochten. Die Normenkategorien innerhalb der exekutiven Gewalt werden in den meisten Fällen eher aus der Sicht einer Beschleunigung des Verfahrens als Hauptkriterium ausgewählt.96 Es gibt jedoch auch Beispiele von rechtlichen Normen, welche ein formelles Verfahren gezielt beabsichtigten, damit ihr Inhalt verbindliche Relevanz für die gesamte öffentliche Verwaltung entwickeln kann. Ein erhellendes Beispiel dafür findet man im „Obersten Dekret“ Nr. 23934 der gemeinsamen Verordnung für die Verwaltungsverfahren („Reglamento Común de Procedimientos Administrativos“). Der Titel dieses „Obersten Dekretes“ führt zum ersten Missverständnis, denn beim Gegenstand dieser rechtlichen Norm handelt es sich um Instrumente für die Organisation der Kommunikation und Korrespondenz innerhalb der öffentlichen Verwaltung, nicht um das Verwaltungsverfahren im rechtlichen Sinne. Dieses „Oberste Dekret“ wurde nach dem Muster der deutschen Geschäftsordnung97 für die Ministerien entworfen. 95 Gerke Mendieta, Carlos/Gerke Siles, Marcela: La nueva ley de procedimiento administrativo, in: Revista de administración Pública N.159, Madrid 2002, S. 459–474. 96 Das Verfahren für die Obersten Dekrete wird im fünften Abschnitt behandelt. 97 Es gibt nichts gegen die Notwendigkeit dieser wichtigen Instrumente für die Organisation der Verwaltung einzuwenden. Im Gegenteil, das Projekt der GTZ wurde mit

V. Die Funktion der Verordnung seit den 1980er Jahren

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Die Flexibilität und die Anpassung dieser Regelungen bedürfen der Form einer Verwaltungsvorschrift, was im bolivianischen Recht einem Verwaltungsbeschluss („Resolución Administrativa“) entsprechen kann. Diese Verordnung wurde jedoch in Form eines „Obersten Dekretes“ verabschiedet. Die Wahl dieser rechtlichen Form war unzutreffend, wenn man den Inhalt der Vorschriften im Einzelnen analysiert. Es gibt unterschiedliche Gründe, warum es zu einer solchen Entscheidung kommen konnte.98 Da diese Vorschriften in Form eines „Obersten Dekretes“ erlassen wurden, stellt sich die Frage, wie verbindlich ihre Auswirkungen für die Organisation der Verwaltung bei der legislativen Gewalt sein sollten. Die theoretische Auseinandersetzung mit der Rechtsnatur und den Auswirkungen der „Obersten Dekrete“ wurde von der Rechtsabteilung der legislativen Gewalt99 umgangen, indem durch eine „Resolución Legislativa“ (Legislativ-Beschluss) das Oberste Dekret „Reglamento Común de Procedimientos Administrativos“ zur eigenständigen Verwaltungsvorschrift erklärt wurde. Diese praktische Lösung sollte dazu dienen, die rechtspolitischen Empfindlichkeiten zu beschwichtigen und Kompromisse zu finden angesichts der zugespitzten Diskussion des starren Gewaltenteilungsprinzips in Lateinamerika. Aber das sollte keine rechtsdogmatischen Konsequenzen haben. Der Tenor des obersten Dekretes beschreibt die Struktur und Organisation der Ministerien der exekutiven Gewalt, diese ist jedoch nicht mit der Struktur der Verwaltung der legislativen Gewalt identisch. Dabei stellt sich heraus, dass ohne Anpassung der Systeme eine funktionierende Verwaltung nicht möglich ist, geschweige denn, dass eine Normenkategorie wie der „Legislative Beschluss“ die Funktion eines „Obersten Dekrets“ übernimmt.

Recht als Musterprojekt für die internationale Zusammenarbeit anerkannt. Die GGO II von 15. Oktober 1976 (GMBl., S. 550) wurde zu diesem Zweck übersetzt und diente als Modell für die bolivianische Verwaltungsorganisation innerhalb der exekutiven Gewalt. 98 Im rechtdogmatischen Teil dieser Untersuchung werden die Entscheidungsprozesse und das Verfahren für die Entstehung einer rechtlichen Norm in der exekutiven Gewalt dargestellt. Im Fall des „Reglamento Común de Procedimiento Administrativos“ spielte es möglicherweise eine Rolle für die Auswahl der Form von „Obersten Dekreten“, dass bei internationaler Zusammenarbeit Projekte nach Ergebnissen bewerten werden. Und die Ergebnisse als Gesetze oder Oberst Dekret lassen sich positiver betrachten aufgrund ihrer praktischen Dauerhaftigkeit wegen des komplizierten Prozesses ihre Entstehung oder Aufhebung. Denn die instabile politische Lage in Entwicklungsländern verursacht eine große Mobilität von Verwaltungspersonal und in jeder neuen Legislaturperiode wird tabula Rassa mit der alten Verwaltung gemacht und damit auch mit dem transferierten Wissen. (Interview mit dem Personal des Projekts der GTZ. RCP). La Paz, 25.05.2004. 99 Die Funktionäre der legislativen Gewalt versuchten die Rechtsgrundlage für die Entscheidung des „Legislativen Beschlusses“, welche das oberste Dekret nochmal erließ, bei den Reglementierenden Dekreten des Gesetzes No.1178 zu suchen. Sie waren der Auffassung, dass die Reglementierenden-Dekrete eines Gesetzes für die legislative Gewalt „verbindlich“ seien, und daher mit einem Legislativen Beschluss anzuerkennen wären. (Interview mit dem Personal des Projekts der GTZ. RCP). La Paz, 16.05.2004.

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1. Kap.: Historische Darstellung der exekutiven Normsetzung in Bolivien

In einem südamerikanischen Präsidialsystem beharren die Verwaltungen der legislativen Gewalt und judikativen Gewalt darauf, sich strikt von der exekutiven Gewalt abzugrenzen, aber wie oben beschrieben wird in der Praxis anders gehandelt. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, den Erlass des Gesetzes Nr. 1178 der „Contraloría General de la República“ (Rechnungshof) zu erwähnen, das unter der Bezeichnung „Sistema de Administración y control Gubernamental“ (SAFCO) im Jahr 1990 verabschiedet wurde. Dieses Gesetz bestimmt die Rahmenbedingungen für eine transparente Rechenungslegung bezüglich der öffentlichen Gelder und ihrer Kontrolle. Nach den Regeln des Gesetzes Nr. 1178 müssen sich die Legislative, Judikative und Exekutive gemeinsam an die politischen Verwaltungsrichtlinien halten. Die „Obersten Dekrete“, welche dieses Gesetz reglementieren, werden wiederum in Verwaltungsvorschriften festgeschrieben. Dabei müssen für jede Institution eigene Subsysteme entwickelt werden. Dies könnte dann in Form eines Beschlusses erfolgen. Diese Interpretation der „Reglementierenden-Dekrete“ (Decretos Reglamentarios) führt dazu, dass die legislative Gewalt Regelungen erlassen hat, die sie für die Kommunikation der Ministerien und Institutionen der exekutiven Gewalt konzipierte, die dort aber als Fremdkörper in der eigenen Organisation empfunden wurden.

Zweites Kapitel

Rechtskultureller Hintergrund der exekutiven Normsetzung I. Die soziale Struktur der bolivianischen Gesellschaft Die große Ungleichheit in der bolivianischen Gesellschaft zeigt sich markant zwischen Land und Stadt und den kulturellen Merkmalen.100 Die Mehrzahl der bolivianischen Bevölkerung bildet die ländliche Unterschicht indianischer Abstammung, zu denen die Aymara-, Quechua-, Guarani-, Ayoreo- und ChiquitanoVölker zählen. Es sind vom Land in die Stadt abgewanderte Aymara (vorwiegend in die Hochlandstädte El Alto und La Paz) oder Quechua (vorwiegend in die Städte Cochabamba, Oruro und Potosi) oder Guaranies (vorwiegend in die Tieflandstadt Santa Cruz), aus denen sich die neuen städtischen Unterschichten rekrutierten101. Den größten Zulauf erlebte Santa Cruz mit einer durchschnittlich jährlichen Wachstumsrate von 7,3% bis 1983 und von 4,3% im Jahr 2004. Eine Stadt, die rasant mit über zwei Millionen zusammenwächst. Die anderen Städte La Paz, Cochabamba und Oruro erlebten früher eine ähnliche Entwicklung. Vor der Agrarrevolution von 1953 und teilweise auch noch heute als „Indios“ oder „Indígenas“ in Tiefland bezeichnet, setzt sich im offiziellen Sprachgebrauch immer mehr das Wort „Campesino“ für die ländliche Bevölkerung auf dem Hochland durch. Die Agrarreform machte den Campesino zum Landbesitzer in den traditionell dichtbesiedelten Regionen des Hochlands und in den Tälern, vorwiegend um Cochabamba. Auch von den Aymara-Bauern selbst wurde diese Beschreibung ihres Status in der bolivianischen Gesellschaft akzeptiert. Durch den zunehmenden Bevölkerungsdruck erhöhte sich die Landzersplitterung und entzog denjenigen, die es bearbeiten, ihre wirtschaftliche Grundlage. Es genügt nicht, Landbesitzer zu sein, ohne gleichzeitig die Kontrolle über die Vermarktung der Nahrungsmittel zu haben. Diese Diskrepanz steigt mit der Entfernung zum städtischen Markt. Um der wirtschaftlichen Not bei Kleingrundbesitz zu entgehen, 100 Eine besondere Stellung im sozialen Gefüge nehmen die Minenarbeiter der ehemaligen staatlichen Minenbetriebe ein. Sie sind in ländliche Gebiete migriert, damit sie durch den Kokaanbau ihre Lebensexistenz ermöglichen können. Allgemein zu der Gesellschaftsstruktur in Lateinamerika siehe dazu ausführlich in Werz, Nikolaus: Lateinamerika, Baden-Baden 2005, S. 57–81. Vgl. dazu Sanjines, Javier: El espejismo del mestizaje. La Paz: PIEB, La Paz, 2005. 101 Osbornes Aussage von 1952 trifft auch heute noch zu: „the commercial lower class in the towns and upper class among the indians“. Vgl. dazu Osborne, Harold: Indians of the Andes, Aymaras und Quechuas, London 1952, S. 178.

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2. Kap.: Rechtskultureller Hintergrund der exekutiven Normsetzung

aber auch, um aus seiner sozialen Isolation herauszukommen und um zu überleben, ist der Campesino genötigt, sich an die vorhandenen wirtschaftlichen Alternativen (Saisonarbeit in landwirtschaftlichen Großunternehmen und in Bergwerken) anzupassen.102 Neuere Einflüsse durch wirtschaftliche Verflechtungen führen bei den „Campesinos“ zu Annäherungen an städtische Lebensgewohnheiten. Sofern es die finanziellen Möglichkeiten zulassen, werden Nahrung, Kleidung und auch andere Konsum- und Gebrauchsgüter in verstärktem Maße erworben.103 Eine neue Schicht von Händlern, Zwischenhändlern und Transportunternehmer bildete sich heraus. Bei schlechten ländlichen Lebensbedingungen mit geringen Verdienstmöglichkeiten mit landwirtschaftlichen Produkten überlegen viele Bauernfamilien, aus dem ländlichen Kulturkreis in die städtische Kultur abzuwandern. Die wirtschaftliche Lage bietet jedoch nur geringe Chancen für eine Verbesserung ihrer Lebenssituation durch diesen Schritt. Die Landbevölkerung der Campesinos ist noch sehr stark an ihre traditionellen Bezüge und kulturellen Lebensformen gebunden. Trotz der Abwanderung jedes fünften Campesino in urbane Zentren zwischen 1950 und 1976, ging die Bevölkerungszahl in wenigen Provinzen zurück. Dies lässt sich nicht mit hohem Bevölkerungswachstum erklären, sondern mit der enge kulturelle Verbindung zu der indigenen Dorfgemeinschaft und der daraus resultierenden Beibehaltung des Domizils. Die Diskriminierung in der bolivianischen Gesellschaft ist ein ernsthaftes Problem, das über das Phänomen verschiedener Hautfarben, Schönheitsideale und Lebensvorstellungen nach westlichem Muster hinausgeht. Dahinter verbergen sich sozioökonomische und kulturelle Faktoren, welche noch über die multikulturelle Gesellschaft Boliviens hinaus zu erforschen bleiben104. 102 Selbst die Blockaden erweisen sich als eine gute Einnahmequelle für die Campesinos, da die Preise ihrer Agrarprodukte erheblich steigen können. Zu der Strategie des Widerstands der indigenen Völker in Bolivien siehe Reinaga, Fausto: La Revolución india, La Paz 1999; Patzi, Felix: Insurgencias y sumisión, Colección Comuna, La Paz 1999; Rivera, Silvia: Oprimidos pero no vencidos. La Paz 2003. 103 „Gelingt es den Aymara-Bauern in der Stadt Arbeit zu finden und Fuß zu fassen, so fühlen sie sich als die ,sozialen Aufsteiger‘ (Cholos) und somit den früheren Dorfmitgliedern überlegen“. Vgl. dazu Bornhütter, Horst: Die Aymara – Ein indianisches Bauernvolk in Bolivien, Köln 1987, S. 50. So hat auch der Soziologe Osborne dies beschrieben: „As the cholos were despised by the whites, so they – and still continue to despise – the Indians“. Siehe Osborne (Anm. 101), 1954. 104 Die bolivianische Gesellschaft in Weiße und Indigene als Rassen zu trennen, ist ein unvollständiges und vereinfachtes Bild über die multikulturelle Gesellschaft Boliviens. So z. B. wenn die ländlichen indigenen Bewohner in die Stadt einwandern, werden sie als „Mistis“ aus Perspektive der indigenen Völker oder als „Cholos“ aus Perspektive der Stadtbürger mit Aymara Migrationshintergrund bezeichnet. Die „Cholos“ kommen aus Mittelschicht oder Oberschicht und stehen an nächster Stelle im sozialen Gefüge. Die Bezeichnung „Cholita“ wird inzwischen von den Frauen mit Stolz angenommen.

I. Die soziale Struktur der bolivianischen Gesellschaft

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1. Die Funktion der Institutionen: Informale versus formale Institutionen? Die Unterscheidung zwischen „formal“ und „informal“ in Bezug auf Institutionen in Bolivien ist bislang kaum für rechtliche Analyse fruchtbar gemacht worden. Die Dualität zwischen formal und informal drückt das Problem des Aufeinandertreffens unterschiedlicher Handlungslogiken in den verschiedenen Disziplinen aus. Für den Soziologen Patzi105 ist die formale Institution von staatlichen Strukturen westlicher Herkunft geprägt und der Inhalt wird in rechtlichen Normen festgelegt. Die informale Institution hingegen kommt aus der mündlichen Tradition und wird vorwiegend von indigenen Werten geprägt, weshalb sie als tradionelle Institution bezeichnet wird. Seit dem Aufstand der Bevölkerung in Cochabamba im sogenannten „Wasserkrieg“ von 2003 setzen sich die Erkenntnis und Deutung der Realität durch, dass die Ursache der Krise der republikanischen Institutionen (u. a. Parlament und Judikative) vor allem in der tiefen Kluft zwischen Staat und Gesellschaft zu suchen sei, vor allem aufgrund der Vorstellung der Bevölkerung von einem entfernten Staatsbild. Problematisch ist dieses Verständnis von formalen Institutionen als republikanischen westlichen Institutionen, wenn damit eine negative Wertung und politische Instrumentalisierung erzielt wird. Nach dem Bericht der Vereinigten Nationen „Desarrollo Humano“ des „Programa de Naciones Unidas para el Desarrollo, PNUD“ (Entwicklungsprogramm für der Vereinigten Nationen) zeigen die Bolivianerinnen und Bolivianer auf dem Land eine bemerkenswerte Beteiligung an den traditionellen Institutionen.106 Diese Feststellungen zeigen jedoch auch, dass je mehr das Vertrauen zu den lokalen indigenen Autoritäten wächst, desto größer das Misstrauen gegenüber den zentralen staatlichen Behörden wird. Unter einem funktionalen Gesichtspunkt ist hinsichtlich der Informalität und der Offenheit der Verfassung Boliviens zu fragen, inwieweit die Verfassungsordnung diesen sozialen Wandel verarbeiten kann. In der wissenschaftlichen Diskussion wird der Begriff „Informalität“ in Bezug auf die Entparlamentarisierung angewandt. So ist diese Debatte innerhalb eines 105

Patzi, Felix: Insurgencias y sumisión, Colección Comuna, La Paz 1999. Nach diesem Bericht liegt in Lateinamerika der Organisationsgrad der Beteiligung in gesellschaftspolitischen Vereinigungen (Juntas vecinales, Gewerkschaften, Ayllus) durchschnittlich bei 55%. Im Vergleich dazu beträgt der Organisationsgrad in den ländlichen Gebieten des Hochlandes Boliviens 82%. Zur der Frage, wie sich diese große Beteiligung an Institutionen erklärt, die sehr autoritäre hierarchische Strukturen nachweisen, lässt sich mit dem Identitätsbewusstsein der indigenen Bevölkerung antworten. Aber sicherlich besteht eine Notwendigkeit für die Nutzung der althergebrachten sozialen Netze auf dem Land, da der Staat aus wirtschaftlichen Gründen die Aufgabe der sozialen Sicherung nicht ansatzweise erfüllen kann. Vgl. dazu Albó, Xavier/ Barrios, Franz: „Por una Bolivia pluricultural e intercultural con autonomías“. National Report on Human Development, La Paz 2006. 106

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2. Kap.: Rechtskultureller Hintergrund der exekutiven Normsetzung

Systems zu verstehen. Demzufolge wird in Deutschland die Diskussion innerhalb des Parlamentarismus und der Parteiendemokratie geführt107. In der Organisationstheorie handelt es sich bei den Elementen des Begriffspaars „formal“ und „informal“ um Handlungsmodalitäten, nicht um Handlungsinhalte. Mit dem Begriff „formal“ werden Verhaltensweisen benannt, die von der festgelegten Ordnungsstruktur der Organisation erfasst werden. Als informal werden hingegen Verhaltensweisen bezeichnet, die durch diese Ordnungsstruktur nicht erfasst sind, d.h. die durch das Fehlen, nicht durch die Verletzung formaler Verhaltensanforderungen charakterisiert sind. In diesem Sinne sind etwa Korruption und Klientelismus nicht als informale Verhaltensweisen zu verstehen Die informalen Verhaltensweisen sind auf die formale Ordnungsstruktur bezogen, indem sie diese ergänzen oder modifizieren.108 Zur begrifflichen Präzisierung des rechtsdogmatischen Verständisses von Informalität erklärt Morlok109: „Informalität entwickelt sich vor dem Hintergrund der durch das Recht gesetzten Handlungsrestriktionen. Formale Normen schaffen ein Problem, informal wird es zu lösen versucht. Der Begriff des informalen Handelns soll nur normreguliertes Handeln umfassen, also das Handeln einer Mehrzahl von Akteuren, die sich an konsentierten informalen Normen orientieren, nicht aber gesetzesumgehende Handlungen des isolierten Akteurs. Damit verbunden ist der Regelcharakter der Informalität. Das umfasst ein faktisches wie ein normatives Element. Faktisch geht es um empirische Regelmäßigkeiten, um relativ stabile Muster des Vorgehens, um Erwartungserwartungen als Teil der Parlamentskultur. Das normative Element bedeutet, dass ein bestimmtes Vorgehen als üblich und unbedenklich hingenommen wird. Die Normativität ist schwächer als bei einer Rechtsregel, gegebenfalls wird eingestanden, man handle in einer „Grauenzone“. Informale Regeln nähern sich damit dem Gewohnheitsrecht an: usus continuus und opinio necessitatis.“

Diese Art von Normativität, die schwächer als die einer Rechtsregel ist, findet man in Bolivien bei den sogenannten sindicatos. Wörtlich übersetzt heisst es „Gewerkschaften“. Aber anders als im rechtswissenschafltichen Sprachgebrauch verschmelzen hier die Elemente des üblichen Verständisses von formalen und informalen Institutionen miteinander. Die „Gewerkschaft“ wurde hier als Beispiel ausgewählt, da diese Institution die Komplexität von formalen und informalen Strukturen widerspiegelt. Sie verkörpert diese Verschmelzung zweier unter107 Kropp, Sabine: Informale Institutionen als Handlungsressource für Exekutive und Parlament, in: Jann, Wernen/König, Klaus (Hrsg.), Regieren zu Beginn des 21. Jahrhunderts, Tübingen 2008, S. 49–86. 108 In der Organisationsanalyse wird jedoch „informal“ nicht mit vorschriftswidrig gleichgesetzt. Verhaltensweisen werden informal genannt, wenn sie in der formalen Ordnung des Entscheidungsprozesses nicht vorgesehen sind. Vgl. dazu Bohne, Eberhard: Der informale Rechtstaat, Berlin 1981. 109 Morlok, Martin: Informalisierung und Entparlamentarisierung politischer Entscheidungen als Gefährdung der Verfassung? VVDStRL 62 (2003), S. 37, 50.

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schiedlicher Handlungslogiken. Die Struktur der Gewerkschaften in Bolivien hat ihren Ursprung in den klassischen Beziehungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmern, die in dieser Form in verschiedenen Regionen der Welt ähnlich zu finden ist. Aber in Bolivien erlangen sie noch eine zusätzliche Dimension, welche für einen Außenstehenden nicht leicht zu durchschauen ist. Es geht hier darum, die Funktionalität dieser Institutionen zu verstehen: das Verständnis von Gewerkschaften die in der indigenen Kulturtradition stehen. Diese Problematik trifft den Kernpunkt der internationalen und nationalen Diskussionen über die Entwicklung des demokratischen Prozesses in Bolivien und sucht eine Antwort auf die folgenden Fragen: Birgt die Dynamik der neuen indigenen Bewegungen Konflikte für das demokratische System in den Andenländern? Sind die Wertsysteme der indigenen Bevölkerung vereinbar mit den Demokratien westlicher Prägung? Oder sind sie eine Bedrohung für die freie politische Willensbildung, insbesondere durch ihre Protestaktionen und autoritären Entscheidungsdurchsetzungsmechanismen innerhalb der Gewerkschaften? Sind die bolivianische Verfassung und das Staatsorganisationsrecht hinreichend offen und anpassungsfähig, um auf diese Prozesse der Informalisierung angemessene Antworten zu finden, ohne die Herausbildung der Rechtstaatlichkeit Boliviens zu gefährden? Die institutionellen Rahmenbedingungen zur Partizipation der indigenen Bevölkerung an den so genannten formalen Institutionen wurden in den letzten Jahren durch eine Änderung des Wahlsystems verbessert. Bei den Nationalwahlen Boliviens am 30. Juni 2002 haben die beiden indigenen Parteien „Instrumento Político para la Soberanía de los Pueblos“ (IPSP), welche unter dem ausgeliehen Namen „Movimiento al Socialismo“ (MAS) auftritt, und der „Movimiento Indígena Pachakutik“ (MIP) zusammen 27% der Stimmen errungen. Einer der Kandidaten der neu gegründeten Parteien, die IPSP-MAS Partei, errang die zweite Position unter den elf Präsidentschaftskandidaten, weniger als zwei Prozentpunkte hinter dem vormaligen Präsidenten Gonzalo Sánchez de Lozada (1993– 1997). Die IPSP-MAS verfügte 1998–2005 über die zweitstärkste Fraktion in den beiden Kammern des Kongresses. 2005 gewann Evo Morales mit seiner Partei (MAS) die Nationalwahlen mit absoluter Mehrheit. Die zentralstaatlichen Finanzzuweisungen für ländliche Gebiete stiegen und die indigenen Völker wurden als juristische Personen anerkannt. Damit beginnt der Prozess der Annäherung zwischen diesen dualen (formal/informal) institutionellen Strukturen.110 110 Wegen der bislang wenig gekannten Sprachenvielfalt im Kongress von 2002 mussten zum ersten Mal Übersetzer eingesetzt werden, um die Übersetzungen in Aymara, Quechua und Guaraní für die neuen Mitglieder des Parlaments zu dolmetschen. Vgl. dazu Memorias del Parlamento Boliviano, Congreso Nacional de Bolivia, La Paz, Agosto 2002.

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2. Kap.: Rechtskultureller Hintergrund der exekutiven Normsetzung

2. Die Informalität innerhalb der Formalität Die wichtigste zeitgenössische Organisation des Hochlandes111 ist die „Confederación Sindical Unica de Trabajadores Campesinos de Bolivia“ (CSUTCB). Sie wurde auf einem Kongress 1979 gegründet, welcher von der Gewerkschaft „Central Obrera Boliviana“ (COB)112 organisiert wurde. Ziel war, die ungleichen unabhängigen Gewerkschaften, die sich in den Spätsiebzigern gebildet hatten, zu vereinen. Die Organisation der CSUTCB wurde hier als Beispiel ausgewählt, da diese Institution die Komplexität von formalen und informalen Strukturen widerspiegelt. Sie verkörpert diese Verschmelzung zwischen zwei unterschiedlichen Verwaltungskulturen.113 Die indigene Bevölkerung übernahm die Bezeichnung und die hierarchische Struktur einer Gewerkschaft, um ihre traditionelle Machtstruktur weiterhin auf den neu aufgesetzten Verwaltungsapparat auszudehnen. Dieser Prozess der Anpassungsfähigkeit an die von oben durchgesetzten Institutionen, gehört zu der Überlebungsstrategie, welche sich schon seit einigen Jahrhunderten bei den indigenen Bevölkerungen erfolgreich bewährt hat.114 Dieser Prozess verläuft allerdings nicht reibungslos. Der Konflikt ist eine Konstante dieser Anpassungsfähigkeit der alten und der neuen Institutionen in der Rechtskultur der bolivianischen Bevölkerung. Relevant für die vorliegende Arbeit ist die politische Kultur der indigenen Bevölkerung, welche für jede Analyse des Landes unerlässlich ist, da die Aymaras und Quechuas den größten Teil der bolivianischen Bevölkerung ausmachen. Dafür wird im Folgenden folgend ein Exkurs über die Entstehungsgeschichte der CSUTCB eingegliedert.

111 Das Hochland in Bolivien wird kulturell vorwiegend von den Aymaras und Quechuas geprägt. Die Unterschiede zum Tiefland finden sich deutlich auf institutioneller Ebene. (Siehe dazu in diesem Kapitel Abschnitt über das Gewohnheitsrecht im Tiefland.) Die Organisation, welche die Vertretung der indigenen Bevölkerung vereinigt und auf nationaler Ebene repräsentiert ist die „Central de Pueblos Indígenas del Oriente Boliviano“ (CIDOB). Näheres zum Hochland siehe Condarco, Ramiro: El Escenario andino y el hombre, La Paz 1970; Yampara, Simón: El Ayllu y la territorialidad de los andes, El Alto 2001; näheres zum Tiefland siehe Molina, Carlos Hugo: Las mancomunidades municipales como política de Estado: La experiencia innovadora de la Gran Chiquitanía, La Paz, ILDIS 2000. 112 Für die Entstehung und Entwicklung der Geschichte der „Central Obrera Boliviana“ siehe die Habilitationsschrift von Jost, Stefan: Bolivien, Politisches System und Reformprozess 1993–1997, Opladen 2003. Lazarte, Jorge: Movimiento Obrero y Procesos Políticos en Bolivia (Historia de la COB 1952–1987), La Paz 1988. 113 Selbst in der ausführlichen und aktuellen Habilitationsschrift über Bolivien werden zwar die formellen gesellschaftlichen Interessenorganisationen umfassend dargestellt, aber das Gewicht der indigenen Organisationen und die hier behandelte CSUTCB kommen für das Verständnis der politischen Kultur in Bolivien nicht zur Geltung. 114 Siehe dazu nächster Abschnitt.

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Der „Katarismus“ 115, eine politische Bewegung der Aymara, sorgte in den 70er Jahren für einen ethnischen Diskurs, der stark durch die klassenbasierte marxistische Analyse der wirtschaftlichen Ausbeutung der Bauern geprägt war. Die Aymara-Identität wurde damit mit dem Selbstverständnis der Bauern gleichgesetzt. Die Aymara-Anführer gründeten die CSUTCB, deren Agenda daher Klassenbezogene und ethnonationale Angelegenheiten behandelt und die Zweispurigkeit der Ausbeutung der einheimischen Bevölkerung (in dem Fall: der Aymara-Kultur) im Hochland widerspiegeln soll. Die CSUTCB organisierte massive Demonstrationen, welche die Regierung dazu zwangen, sich der ländlichen Belange anzunehmen. Aber nicht nur durch gewalttätige Mittel, die sofortige Ergebnisse erzwangen, verschaffte die CSUTCB sich Gehör. Ihre Stärke liegt darin, kontinuierlich politisch nach außen zu wirken, so wie zur Zeit des großen Einflusses der COB, der Gewerkschaft der Minenarbeiter. Besonders nach innen gewannen sie an Akzeptanz bei der indigenen Bevölkerung. Diese fühlt sich durch die CSUTCB vertreten und auf nationaler Ebene erstmals anerkannt. Bis zu diesem Zeitpunkt waren es eher die Intellektuellen der Aymaras, welche sich für eine Partizipation durch eine politische Partei entschieden hatten, aber mit wenig Zulauf der indigenen Wähler rechnen konnten. Als die politische Schlagkraft der CSUTCB in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre abnahm, tauchte eine neue Kraft innerhalb des ländlichen Sektors auf, um gegen die Bestrebungen der Zentralregierung anzukämpfen, den traditionellen Anbau von Coca auszurotten.116 Die politische Mobilisation der Cocabauern begann kurz nach dem demokratischen Übergang 1983 mit Straßenblockaden. 1984 begannen Cocabauer, ihre eigenen Vertretungen zu formieren, um ihre Position zu artikulieren und den wachsenden Anstrengungen der Regierung zur Bekämpfung des Cocaanbaus entgegenzutreten.117

115

Siehe dazu Hurtado, Javier: Katarismo, La Paz 1986. Die meisten Coca-Anbaugebiete bestehen im Tiefland tropischer Regionen der Chapare im Cochabamba-Bezirk und den Yungas im La Paz-Bezirk. Die Coca-Anbauer waren zum größten Teil entlassene Minenarbeiter, die meisten davon Quechua, welche bedingt durch die Maßnahmen „structural adjustment policies“ der Regierung von 1985 ihren Arbeitsplatz verloren hatten. In den späten 90er Jahren gab es im Chapare ungefähr 300.000 Einwanderer – die meisten davon Quechua. 117 Unter dem Druck der Regierung der Vereinigten Staaten, den Coca-Anbau zu unterbinden – die Kokainproduktion war 1983–1984 dramatisch angestiegen – erstellte die Regierung 1986 einen Plan, nach welchem die für den Export als Cocapaste oder Kokain bewirtschafteten Cocafelder vernichtet werden sollten. Die gesamte Fläche mit Kokapflanzen wurde 1997 von 52.800 Hektar (davon 21.800 Hektar illegal) auf 33.800 Hektar im Jahr 2000 (davon 2.100 Hektar illegal) reduziert. Vgl. dazu Gamarra, Eduardo: Entre la Droga y la democracia, La Paz 1994, S. 55. 116

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2. Kap.: Rechtskultureller Hintergrund der exekutiven Normsetzung

1988 schlossen sich die fünf Cochabamba-Vereinigungen zu einem Koordinationsausschuss zusammen. Die Cocaanbauer hatten ihre Abgeordneten im Kongress der CSUTCB gegenüber 1987 verdreifacht; 1988 riss der Quechua-Führer die Kontrolle der Organisation der Aymara an sich, welche Aymara-Intellektuelle gegründet hatten. Eine neue Führungsschicht bildete sich durch die CocaanbauBewegung. 1990 hatten die Cocabauern aus der Region Chapare 160 örtliche Gewerkschaften unter der Schirmherrschaft von 30 Untervertretungen („centrales“) formiert, welche wiederum in fünf Organisationen unterteilt sind, während die Cocabauer aus der Yungas Region weitere fünf Vertretungen gegründet hatten. Da es keine örtliche Regierung in diesen Gebieten gab, wurden die Zusammenschlüsse der Cocabauern die anerkannteste Autorität vor Ort.118 Um das wirtschaftliche Überleben ihrer Mitglieder zu sichern, überlegten sich die Vereinigungen der Cocabauern, sich mit bereits bestehenden ethno-kulturellen, indigenen Bewegungen zu vernetzen bis hin zu einer Verschmelzung. Ihre Mitglieder waren überwiegend Aymara- und Quechua-Migranten („Colonizadores“), welche Verbindungen zu traditionellen Gemeinden unterhielten und Diskriminierung wegen ihrer ethnischen Herkunft erlitten hatten. Die Vereinigungen rechtfertigten ihre ablehnende Haltung gegenüber der Regierungspolitik der „Erradicación“ (wörtlich: Ausrottung) damit, dass der Anbau von Coca auf eine lange kulturelle und religiöse Tradition unter den bolivianischen indigenen Völker im Hochland – sowie allgemein in den Anden – zurückgehe. 1992 hatten die Coca-Bauern die Kontrolle über die CSUTCB an sich gerissen. Sie beabsichtigten eine unabhängige politische Partei zu gründen, um ihre Strategie zu verfestigen, die Massen zu mobilisieren und die Resistenz gegenüber der Ausrottung von Coca zu verstärken.119 Bei den Nationalwahlen 2006 war die indigene Bewegung zu einer konsolidierten sozialen Bewegung im Lande geworden. Sie war als eine permanente soziale Bewegung in Organisationen verankert, die 15 bis 20 Jahre alt waren und von Männern mit jahrzehntelanger politischer Erfahrung geführt wurden. Diese Organisationen boten die erforderlichen menschlichen und materiellen Ressourcen für die IPSP-MAS und MIP, um gegen die besser finanzierten traditionellen Parteien antreten zu können. 118

Siehe dazu Gamarra (vorige Anm.), S. 58 ff. Diskussionen innerhalb der CSUTCB über die Entstehung eines ländlichen „politischen Instrumentes“ begannen zu Beginn des Gedenktreffens der „500 Años de la Conquista de América“ im Jahre 1992 signifikante Konturen anzunehmen. Wegen zahlreicher Gründe endete dieses Treffen allerdings in einem kompletten Zusammenbruch. Die CSUTCB-Führer griffen trotz allem das Thema bei einer „Asamblea“ wieder auf. Teilnehmer dieser Versammlung vom 25.–27. März 1995 stimmten darüber ab, eine „Asamblea de la Soberanía de los Pueblos“ (ASP) zu gründen, um als unabhängige Partei bei den Kommunalwahlen im Dezember 1995 teilzunehmen. 119

I. Die soziale Struktur der bolivianischen Gesellschaft

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Hierbei machten sie sich die durch die kommunale Dezentralisierung des Jahres 1995 bewirkte institutionelle Veränderung zu Nutze. Einer der enthusiastischsten Verfechter dieses Projektes war Evo Morales, später Führer der „Coordinadora de las Federaciones del Trópico de Cochabamba“, eine der größten Organisationen von Cocabauern. In ihrem ersten Wahlauftritt dominierte die „Asamblea de la Soberanía del Pueblo“ (ASP) die Bezirke des Cocaanbaus der Chapare mit insgesamt zehn Bürgermeistern, 49 Gemeinderäten und sechs Ratsmitgliedern auf Bezirksebene in Cochabamba. Sie gewann zudem fünf Ratsmitglieder in anderen Bezirken des Hochlandes.120 Das Schlüsselereignis für das politische Fortkommen der Cokabauern war eine Spaltung innerhalb der CSUTCB. Ein Machtkampf zwischen ihren Hauptführern – Evo Morales und Alejo Véliz – und ihren Unterstützern hatte eine Spaltung innerhalb der CSUTCB auf ihrem Kongress im Jahre 1998 zur Folge. Als die Organisation sich nicht zwischen Alejo Véliz und Evo Morales entscheiden konnte, wählte man Felipe Quispe zum Generalsekretär als Kompromiss. Nach seiner Wahl zum Generalsekretär erhielt Quispe den Titel „Mallku“, eine hohe Aymara-Autorität. Mit dieser institutionellen Rolle leitete Quispe über die nächsten drei Jahre militante und mitunter gewaltsame Demonstrationen gegen die Regierung von Hugo Banzer (1998–2002). Die internen politischen Diskrepanzen sollten jedoch nicht nur auf einen Streit zwischen indigenen Führungspersönlichkeiten wie Evo Morales und Felipe Quispe reduziert werden. Dahinter stecken unterschiedliche Weltanschaungen zwischen Aymaras und Quechuas und unterschiedliche Staatsvorstellungen. Während Evo Morales als Präsident Boliviens und Anführer der sozialen und Coca-Bewegung seine Ziele innerhalb des institutionellen Gefüges zu erreichen sucht, behält sich der Mallku öffentlich vor, notfalls auch mit militanten Aktionen gegen das System vorzugehen.

120 Nach Meinung des Bauernführers Román Loayza, welcher die ASP in den Jahren 1997–2002 im Kongress vertreten hatte, war es der CSUTCB durch die kommunale Dezentralisierung möglich, ihre erste überlebensfähige politische Partei zu formieren. Aufgrund von Spaltungen innerhalb der ländlichen Bewegung teilte sich die Partei 1998 intern zwischen Evo Morales und Alejo Véliz und präsentierte zu den Kommunalwahlen 1999 zwei Listen: Der verbliebene Teil der ASP, geführt von Véliz, gewann 28 kommunale Ratsmitglieder und fünf Bürgermeister in Cochabamba; die Splitterpartei, Instrumento Político para la Soberanía de los Pueblos (IPSP) unter der Führung von Morales gewann 79 kommunale Ratsmitglieder in sieben der neun Bezirke des Landes (überwiegend in Cochabamba (40) und La Paz (18), einem anderen Hauptgebiet des Cocaanbaus). Auf nationaler Ebene, wie bereits oben erwähnt, gewann die ASP vier Sitze „diputados uninominales“ (Abgeordnete aus direkten Wahlkreisen) in den Kongresswahlen 1997. In den proportionalen Wahlen, welche die Besetzung der 62 Sitze in der Abgeordnetenkammer bestimmten, gewann die ASP 17,5% der Stimmen in Cochabamba, auf die ganze Nation gerechnet 3,7%.

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2. Kap.: Rechtskultureller Hintergrund der exekutiven Normsetzung

II. Multikulturelle Gesellschaft und Rechtspluralismus 1. Die Multikulturalität und das indigene Recht Das Phänomen der multikulturellen Gesellschaften ordnet man theoretisch der Globalisierung zu und betrachtet die Einrichtung einer „Multicultural Citizenship“ 121 als deren Konsequenz. Das ist ein Szenario, in dem große Städte unter dem Druck und der Herausforderung stehen, Einwanderer aus unterschiedlichen Kulturen zu integrieren, die Minderheiten bilden, die ihre religiösen und kulturellen Werte mitgebracht haben sowie ihr Verständnis für die Legitimation des Rechts. Diese Aspekte könnten wichtige Elemente der multikulturellen Gesellschaft darstellen, in denen die Rechte besonderer Gruppen im Einzelnen berücksichtig werden. Ob dieses Konzept auf die lateinamerikanischen Gesellschaften immer zutrifft, ist differenziert zu betrachten. Im Zuge der Vorbereitungen der Begehung der 500-jährigen Wiederkehr der Entdeckung Amerikas durch Cristóbal Colón (Columbus) im Jahre 1992 ist das Problem der ungenügenden Teilhabe der indigenen Völker an politischen Entscheidungen international in den Blickpunkt gerückt sowohl bei internationalen Organisationen als auch danach bei lateinamerikanischen Regierungen. In den meisten lateinamerikanischen Staaten wurden die Rechte der indigenen Völker aufgrund der grundsätzlich veränderten internationalen Haltung zu dem Indigenismus122 mehrheitlich in den neuen Verfassungen verankert. Alle bedeutenden Weltkonferenzen der 1990er Jahre, wie der „Weltumweltgipfel“ und das „Protokoll von Río de Janeiro“ 1992, die Menschenrechtskonferenz und Erklärung von Wien 1993 „Weltkonferenz über Bevölkerung und Entwicklung“, die „Erklärung von Kairo“ 1994, die „Frauenweltkonferenz“ und die „Erklärung von Peking“ 1995 haben in ihren Abschlusserklärungen Empfehlungen hinsichtlich der indigenen Völker ausgesprochen. So hat die kolumbianische Verfassungsgebende Versammlung im Jahre 1991 als erste ein Bekenntnis zum multikulturellen Staat in die Verfassung aufgenommen und damit auch zum ersten Mal die indigenen Völker in ihrer kulturellen Identität und damit als Teil ihres Staatsverständnisses anerkannt. Dies geschah im unmittelbaren Zusammenhang mit den umfangreichen Verfassungsregelungen der Internationalen Arbeits121 „Multiculturalism may create serious moral and legal hazards which must be addressed by defenders of differentiated citizenship. Unfortunately, proponents of state accommodation have left unresolved many of the complex questions associated with this new model.“ Shachar, Ayelet: Multicultural Jurisdictions, Cambridge 2001, S. 3. Rex, John: Pluralism and Multiculturalism in Colonial and Post-Colonial Society, in: Rex, John/Singh, Gurharpal, Governance in Multicultural Societies, Burlington 2004, S. 134–143. 122 Für eine umfassende Analyse des Indigenismus als ein Globales Phänomen und die Entwicklung des Konzeptes in den internationalen Organisationen siehe Niezen, Ronald: The Origins of Indigenism, Berkeley 2003.

II. Multikulturelle Gesellschaft und Rechtspluralismus

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organisation (ILO) – Konvention Nr. 169. Bei dieser Konvention handelt es sich um bislang weitreicherste internationales Rechtsinstrument zur Gewährleistung indigener Rechtsgarantien. Mit der Verfassungsreform von 1994 wurde in die bolivianische Verfassung von 1967, ein erster Artikel eingeführt, der Bolivien als multikulturell bezeichnet. Der Rechtspluralismus entsteht als die soziologische konzeptionelle Lösung für die Beschreibung des rechtlichen Phänomens. Die Kluft zwischen formalen rechtlichen Strukturen und Effektivität des Rechts in Lateinamerika erklärt sich durch diese parallelen juristischen Systeme. Neuere Verfassungen, die sich in unterschiedlichem Umfang mit den Rechten der indigenen Völker befassen, verabschiedeten Guatemala, Nicaragua, Brasilien, Kolumbien, Mexiko, Paraguay, Peru, Argentinien, Bolivien, Ecuador und Venezuela. Die Verfassungen der Andenländer Peru, Bolivien, Kolumbien, Ecuador, Venezuela und México erkennen ausdrücklich das indigene Gewohnheitsrecht an.123 2. Internationale rechtliche Instrumente für indigenes Recht Bolivien hat das Übereinkommen Nr. 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) von 1989 mit dem Gesetz Nr. 1257 vom 11. Juli 1991 ratifiziert, in dessen Artikel 8 festgelegt ist, dass die nationale Rechtsprechung die Bräuche und das Gewohnheitsrecht der indigenen Bevölkerung berücksichtigen muss. Wenig später wurde im Jahr 1994 die Verfassung reformiert und der multiethnische und multikulturelle Charakter des Landes verankert sowie das Recht der indigenen Bevölkerung, auf der Basis des indigenen Gewohnheitsrechts die Justiz anzurufen (Art. 1 und 171). Am 13. September 2007 wurde die Erklärung der Vereinten Nationen über die Rechte der indigenen Völker verabschiedet und vom bolivianischen Staat mit Gesetz vom 7. November desselben Jahres ratifiziert. Diese Erklärung erlangt ihre praktische Bedeutung erst mit der Nennung des Grundprinzips (Art. 3), in dem das Selbstbestimmungsrecht der indigenen Völker festgeschrieben ist. Das betrifft nicht nur die politische Selbstbestimmung, wo die erwähnten Grenzen bestehen, sondern auch die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Selbstbestim123 Die Verfassungsreform von 1994 besagt: „Bolivien, frei, unabhängig, souverän, multiethnisch und multikulturell, gegründet als Unitarische Republik, nimmt die repräsentative demokratische Regierungsform an, die ihre Grundlage in der Einigkeit und Solidarität aller Bolivianer findet.“ Peru hatte bereits in seiner Verfassung von 1993 diesen Absatz über die Multikulturelle Gesellschaft aufgenommen, aber es gab keine großen Auswirkungen auf das Rechtssystem. Vgl. dazu Yañes Boluarte, Carlos: Retos y posibilidades de los pueblos indígenas amazónicos ante el tercer milenio. En: Desarrollo y Participación de las comunidades Nativas. Centro Amazónico de Antropología y Aplicación Práctica, Lima 1997, S. 49.

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2. Kap.: Rechtskultureller Hintergrund der exekutiven Normsetzung

mung, die dank der Tragweite und der Genauigkeit der Erklärung nun angegangen werden kann. Die Grenzen dieses Rechts auf Selbstbestimmung werden in Artikel 46 festgelegt, wo ausdrücklich statuiert ist, dass es keinem Staat oder Volk, keiner Gruppe und keinem Menschen zusteht, eine Handlung zu begehen, welche die territoriale Unversehrtheit oder politische Einheit souveräner und unabhängiger Staaten beeinträchtigt. In den Artikeln 7 und 8 der Erklärung der Vereinten Nationen über die Rechte der indigenen Völker wird eine weitgehende Garantie der kulturellen Rechte indigener Völker und Einzelpersonen verankert, angefangen mit dem Recht auf eine eigene Kultur und gegen jegliche Art von Politik, die letztlich auf einen Angriff auf die Kultur in allen seinen Ausprägungen abzielt. Auf diese Weise wird die kulturelle Selbstbestimmung wirkungsvoll unterstützt. Die Auswirkungen, die der Artikel über die Multikulturalität Boliviens und den Rechtspluralismus in der Verfassungsreform von 1994 tatsächlich auf die Gesetzgebung, die Rechtsprechung und die Rechtsetzung der Exekutive hatte, dürfen nicht überschätzt werden. Es ist in der Tat keine leichte Aufgabe, dieses Modell der Multikulturalität in der Staatsstruktur umzusetzen. Die rechtswissenschaftliche Analyse nähert sich der Thematik der Multikulturalität besonders unter zwei Gesichtspunkten: der Souveranität des Staates und dem völkerrechtlichen Prinzip der „self determination“. Die kulturelle Vielfalt wird zwar auf eine ethische Ebene der notwendigen Toleranz erhoben, aber die möglichen rechtlichen Implikationen sind bis heute weithin offen geblieben. 3. Einordnung des bolivianischen Rechtssystems Die Abstammung vom Römischen Recht als gemeinsamer Grundlage für die Bildung einer Rechtsfamilie, wie das französische, italienische und spanische Recht, gilt auch für die im 19. Jahrhundert gegründeten Republiken in Lateinamerika, die sich derselben Rechtstradition zugehörig fühlen. Demzufolge werden lateinamerikanische Rechtssysteme der kontinental-europäischen Rechtsfamilie zugeordnet.124 Die Teilrezeption verschiedener Rechtsinstitutionen, die zu diesen zwei Rechtskreisen gehören, wurde in lateinamerikanischen Staaten auf einer „Mikroebene“ durchgeführt. Die Schwierigkeit für den Aufbau eines Rechtssystems mit verschiedenen Mikrokreisen besteht darin, dass die Rechtsordnung als Ganzes betrachtet werden soll, damit die Rechtsquellen zu einer gemeinsamen Ordnung finden können. Die neuen Rechtsinstitutionen können sich

124 Zu der Unterscheidung zwischen Rechtskreis und Rechtsfamilie siehe Scholler, Heinrich: Die Bedeutung der Lehre vom Rechtskreis und der Rechtskultur in: Scholler, Heinrich/Tellenbach, Silvia: Die Bedeutung der Lehre vom Rechtskreis und der Rechtskultur, Berlin 2001, S. 7 ff.

II. Multikulturelle Gesellschaft und Rechtspluralismus

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der neuen Struktur anpassen, aber die Erfüllung der Zwecke, für die sie geschaffen wurden, hängt von der Offenheit der alten oder traditionalen Rechtsinstitutionen ab.125 Im diesen Sinne stellt sich die Koordinierung der internationalen Hilfen bei der Rechtsentwicklung und Gerichtsorganisation und technischen Zusammenarbeit in Entwicklungsländern wie Bolivien oft als problematisch dar. Diese Entwicklungshilfe unterstützt unterschiedliche Rechtsgebiete, je nach Schwerpunkt der jeweiligen Geber-Länder. So hat zum Beispiel die US-amerikanische Entwicklungshilfe ihren Schwerpunkt auf das Strafrecht (die Einführung der Geschworenen, die finanzielle Unterstützung der Staatsanwaltschaft speziell bei der Drogenbekämpfung, die Justizreformen usw.) gelegt. Frankreich hat eher sachverständige Beratung im Bereich des Verwaltungsrechts geleistet. Deutschland hat durch die Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) vornehmlich in der Organisationsentwicklung, dem Wahlrecht und der Dezentralisierung Einfluss auf das bolivianische Recht genommen.126 Die Systematik und Kohärenz einer Rechtsordnung findet man in erster Linie in der Verfassung. Der Hüter der Verfassung interpretiert die Verfassungsnormen, wobei er ihre Gültigkeit voraussetzt. Trotzdem muss das jeweilige Verfassungsgericht bzw. der jeweilige Oberste Gerichtshof in lateinamerikanischen Ländern die Frage stellen, ob die Normen vollzogen werden können. Dies hängt mit dem Problem der Geltung und Wirksamkeit der Normen zusammen.127 Die Besonderheit des Konstitutionalismus in Lateinamerika kennzeichnet eine Rechtstradition, die sich von anderen Rechtsfamilien unterscheidet. Dieser Kons125 Zu der Problematik und einer theoretischen Auseinandersetzung mit dem Thema Institutionstransfer siehe Sommermann, Karl-Peter: Institutionengeschichte und Institutionenvergleich, in: Arthur Benz/Heinrich Siedentopf/Karl-Peter Sommermann, Institutionenwandel in Regierung und Verwaltung, FS für Klaus König, Berlin 2004, insbesondere S. 66–69. Der argentinische Autor Alberto Dalla Vía beschreibt die unterschiedliche Rechtsentwicklung des Verfassungsrechts und des Verwaltungsrechts in Argentinien. Siehe dazu Dalla Via, Alberto: Derecho constitucional económico, Buenos Aires 1999. In den Andenländern: Bolivien, Perú, Kolumbien, Ecuador u. a. südamerikanischer Staaten ist die Verfassungsgerichtsbarkeit aus der deutschen Rechtstradition herzuleiten. Siehe dazu Lösing, Norbert: Verfassungsgerichtsbarkeit in Lateinamerika, Baden-Baden 2001. 126 Siehe eine ausführliche Beschreibung der Aufgaben und des Beitrags der deutschen politischen Stiftungen zum bolivianischen Reformprozess in Jost, Stefan: Bolivien, Politisches System und Reformprozess 1993–1997, Opladen 2003, S. 382–402. 127 Das Studium der Verfassungsbestimmungen und der Urteile des Supreme Court der Vereinigten Staaten wird in den lateinamerikanischen Universitäten sowie von Anwälten und Richtern mit bemerkenswerter Intensität gepflegt, besonders in Argentinien. Stellvertretend dazu siehe Solá, Juan Vicente: Constitución y economía, Buenos Aires 2004, insbesondere S. 401–439. Die rechtlichen Texte stimmen überein, aber die Funktion des Rechts ist nicht die gleiche. Zu dieser kritischen Meinung vgl. García Villegas, Mauricio/Rodríguez, Cesar (Hrsg.): Derecho y sociedad en América Latina, Bogota 2003.

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2. Kap.: Rechtskultureller Hintergrund der exekutiven Normsetzung

titutionalismus in Lateinamerika bedeutet ein ausgeprägtes Vertrauen in die Verfassung als Ordnungsfaktor für die soziale Realität. Dieses Vertrauen in die verfassungsmäßige Ordnung drückt sich unterschiedlich aus bei denen, die von der Verfassung und den im Einklang mit ihr verabschiedeten rechtlichen Normen als einem Allheilmittel für alle Sozial- und Entwicklungsprobleme sprechen, und bei jenen, die der Meinung sind, dass die Verfassung und das positive Recht gerade ein Hindernis für die Lösung der sozialen Veränderung sind, die sie erstreben. Es ist beiden Positionen gemeinsam, dass sie die juristische Funktion einer Verfassung verkennen128. Wer sich mit lateinamerikanischen Rechtssystemen befasst, kennt die Schwierigkeiten bei der Feststellung der Wirksamkeit der Normen hinsichtlich Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit, egal ob es sich nur um kodifizierte, einfache Gesetze oder sogar Verfassungsvorschriften handelt. So ist es nicht verwunderlich, dass manche Autoren129 sich die Frage gestellt haben, ob die Ineffektivität des lateinamerikanischen Rechtssystems als ein eigenes Kriterium genügen könnte, um eine differenzierte Klassifizierung für eine ganze Rechtsfamilie anzunehmen.130 Diese Ineffektivität, verstanden als die Kluft zwischen den normativen rechtlichen Regelungen und deren Umsetzung in die lateinamerikanische Realität, bezeichnet zwar einen Mangel des Systems, aber konstituiert per se nicht einen beabsichtigten Bestandteil oder ein Charakteristikum des Rechtssystems. Daneben spielt eine Rolle, dass der Einfluss von Hans Kelsen (1881–1973) auf die lateinamerikanische Rechtswissenschaft von großer Bedeutung war und immer noch ist. Sein Werk „Reine Rechtslehre“ 131 besagt, dass die Rechtswissenschaft sich auf das Studium der verfassungsmäßig gültigen Normen beschränkt, 128 „Los gobernantes, que encuentran o ven en la Carta un obstáculo a sus designios de poder incontrolado, infringen y conculcan sus normas para mantenerse en el mando: los gobernados, que reclaman la vigencia efectiva de la Constitución frecuentemente van más allá de los límites lícitos, plantean exigencias desmedidas y provocan situaciones de hecho, que significan nuevas infracciones constitucionales.“ Arguedas (Anm. 11), S. 23. 129 Siehe dazu Kavass, Igor: Latin America Legal Systems: A Peripatetic Survey, in: Gödan, Jürgen/Reams Jr., Bernard (Hrsg.), Catalonia, Spain, Europe and Latin America: Regional Legal Systems and their Literature, S. 109, und Kars, Kenneth/Rosenn, Keith S.: Law and Development in Latin America, Berkeley 1975, S. 58. 130 Die Schwierigkeit zu erkennen, welche Normen das System eigentlich ausmachen, ist in den meisten lateinamerikanischen Ländern festzustellen. Das Problem der Systemzugehörigkeit der rechtlichen Normen und der Bestimmung von Rechtsquellen ist mit der Frage nach der Geltung der Normen verbunden. Dies ergibt sich u. a. aus der Tatsache, dass zu den Gesetzen und Dekreten die Regelungen der „de-facto-Regierungen“ hinzukommen, ohne dass die jeweiligen hierarchischen Beziehungen zwischen diesen Normen verfassungsmäßig deutlich begründet wurde. Näheres dazu im Dritten Kapitel. 131 Kelsen, Hans: Reine Rechtslehre, Wien 2000.

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die Aspekte ihrer Wirksamkeit oder Unwirksamkeit sollen nicht berücksichtigt werden. Diese Interpretation hat Generationen von Juristen geprägt. Daher weist die Rechtsoziologie an den lateinamerikanischen Universitäten einen geringeren Entwicklungsgrad auf als die Rechtstheorie.132 4. Die Kulturelle Identität und das Rechtsbewusstsein In der aktuellen Ära der Globalisierung ist festzustellen, dass besonders Intellektuelle aus den Wissenschaftskreisen der Entwicklungspolitik (nicht nur bei den Autoren mit marxistischen Prägungen) mit kritischem Auge das Rechtssystem betrachten und juristische Formeln133 nicht mehr als Allheilmittel ansehen. Die politische Instrumentalisierung und die Übernahme fremder Institutionen haben ihren tieferen Ursprung in der eigenen Rezeptionsgeschichte der Kolonialzeit.134 In diesem Sinne werden auch Begriffe wie Globalisierung und Indigenisierung nach der Lehre von den Rechtskreisen betrachtet, wobei letztere als die Rückkehr zu eigener Rechtskultur135 verstanden wird. In den meisten multikulturellen Staaten, in denen das Gewohnheitsrecht oder Rechtspluralismus existiert, könnte man die „Indigenisierung“ des Rechtes als Kriterium für eine differenzierte Rechtsfamilie vorschlagen. In diesem Sinne kommen vor allem Afrika, aber auch die Philippinen, Indonesien und Bolivien in Betracht. Der Schlüsselbegriff dieser Diskussion ist im Konflikt zwischen den modernen (individuellen) Menschenrechten und autochthonen (kollektiven) Rechten zu finden. Es ist aber umstritten, ob sich das Gewohnheitsrecht in der bolivianischen Rechtsordnung nachweisen lässt, weil sich damit das Verständnis und die Rechtsnatur der indigenen Rechtssysteme in den staatlichen Strukturen auflösen würden. Diese Meinung wird vorwiegend von Soziologen und Anthropologen vertreten. 132 In allen Ländern Lateinamerikas ist das rechtsphilosophische Denken in seiner Entwicklung, obwohl etwas verspätet, dem westeuropäischen Denken gefolgt. Umgekehrt lässt sich der Einfluss jedoch auch lateinamerikanischer Autoren feststellen, welche in Europa bei der deontischen Logik rezipiert werden, so stellvertretend der argentinischen Deontiker Carlos Alchourron und Eugenio Bulygin. Vgl. Alchourrón, Carlos/ Bulygin, Eugenio: Normative systems, Wien 1971. 133 Unter externen juristischen Formeln versteht man hier die festgelegten Rezepte, welche die internationale Entwicklungsstrategie des Washington Consensus in Lateinamerika einheitlich umsetzen wollten. Deren Leitlinien waren weitgehender Staatsabbau, Privatisierung (Ausverkauf von Staatsbetrieben an Privatfirmen), Handels- und Kapitalmarktliberalisierung und Deregulierung (Beseitigung von Vorschriften, die lenkend in das Wirtschaftsgeschehen eingreifen). Siehe dazu Stiglitz, Joseph: Die Chancen der Globalisierung, München 2006, S. 22 ff. 134 Siehe dazu Mansilla, H. C. F.: Die lateinamerikanische Identität im Zeitalter der Globalisierung. Ethnokulturelle Fragen und internationale Beziehungen in: ZPol (2000), S. 112. 135 Mehr dazu in Scholler, Heinrich (Anm. 124), S. 12.

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2. Kap.: Rechtskultureller Hintergrund der exekutiven Normsetzung

Im Blickpunkt steht eher die Pluralität der Rechtssysteme136, sowohl innerhalb eines Staates wie auch außerhalb. Es gibt demzufolge keine allgemeingültige, überkulturelle bzw. überhistorische Definition des Rechtsbegriffs. Es bestehen zwar minimale Forderungen nach einem allgemeingültigen Rechtsbegriff, aber diese werden aus der eigenen Rechtskultur projiziert.137 Das Recht konzipiert sich als Bestandteil einer Normenkultur, die sich permanent bei ihrer Gestaltung und Fortbildung beeinflussen und verändern lässt. Dieser Prozess der reflexiven Kritik der Rechtskultur generiert ein Rechtsbewusstsein, in diesem Fall Boliviens, in dem die Bevölkerung die Akzeptanz der rechtlichen Normen wahrnimmt. Bolivien gilt als Musterland für tief greifende Rechtsreformen zwischen 1997 und 2000. Die Bestrebungen eines „modernen“ Rechtssystems, zu gestalten mit dem Ziel, die Wirtschaftskrise zu überwinden, scheinen jedoch immer wieder an strukturellen Bedingungen der Gesellschaft zu scheitern. Wie in anderen Ländern Lateinamerikas zeigt Bolivien große Ungleichzeitigkeit im sozialen Fortschritt mit einer ausgeprägten kulturellen, ethnischen und ökonomischen Diskrepanz bei den Staatsangehörigen. Die vorliegende Arbeit beschränkt sich auf den Versuch, interdisziplinäre Ansätze für die Analyse eines Rechtssystems eines lateinamerikanischen Landes, hier Bolivien, darzulegen. Dabei wird angestrebt, den Rahmen zu beschreiben, in welchem die Rechtsetzung der Exekutive in Bolivien sich entfaltet, um die Rezeption universell anerkannter juristischer Institutionen in dieser bestimmten Rechtskultur vorzustellen und darzustellen und welche Wirkungen die Rechtskultur auf diese Institutionen ausübt. Bei diesem eingeleiteten Prozess der reflexiven Kritik der bolivianischen Rechtsordnung handelt es sich um noch offene Fragen, die sich mit dem Rechtsbewußtsein und der Identität der Normenkultur beschäftigen. Die Rechtstradition und die Rechtskultur beeinflussen die Entwicklung der Institutionen und der Rechtsordnung, diese wiederum schaffen den Rahmen, in dem die Rechtskultur sich entfaltet. Gleichzeitig hat natürlich die Rechtsordnung eine notwendige Steuerungsfunktion innerhalb der Gesellschaft. Die Entwicklung von Rechtsbewusstsein steht in engeren Zusammenhang mit der Rechtslehre und den Erziehungswissenschaften, denn es geht darum, wie Rechtsverständnis vermittelt werden kann. Wie rechtliche Normen wirken, ob sie angewandt und befolgt werden, ob sie ihre Zwecke erfüllen, ist jedoch für die Konsolidierung der Demokratie von existenzieller Bedeutung. Die historische Entwicklung der Staatsbildung in

136 Siehe dazu Gottwald, Dorothee: Rechtspluralismus, Parteienkalkül, Wahljustiz Lokale Konflikte in Oaxaca (Mexiko), in: ZaöRV (2003), S. 123–165. 137 Zu dem Thema, wie weit die Faktoren, die eindeutig historische Konkretionsformen abendländischen Rechts sind, von Rechtsphilosophen in den Rechtsbegriff selbst hineingezogen werden siehe Mohr, Georg: Zum Begriff der Rechtskultur, in: Goldschmidt, Werner (Hrsg.), Kulturen des Rechts Dialektik, Hamburg 1998, S. 18–24.

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Bolivien prägt das Rechtsbewusstsein der Menschen und wirkt sich im Prozess der öffentlichen Meinungs- und Willensbildung aus. Die Überzeugungskraft und der Erfolg staatlicher Konfliktregelung hängen davon ab, welche Arten von Konflikten und welche zu ihrer Lösung geeigneten Verfahren es gibt und ob die Menschen die dafür vorgesehenen Einrichtungen nutzen können. Diese Erkenntnis kommt aus der Rechtssoziologie und ist besonders von Niklas Luhmann geprägt. Er zeigt, wie die rechtlich geordneten Verfahren des Gerichtprozesses, der Gesetzgebung und Verwaltung sowie der politischen Wahl als Mittel zur Absicherung gesellschaftlicher Institutionen fungieren138. 5. Eingliederung des Gewohnheitsrechts Die Qualifizierung der internen Regeln von indigenen Völkern als Recht oder das Bestehen eines Rechtssystems berühren einen zentralen Punkt des Methodenstreits zwischen der juristischen und der ethnologischen Forschung. Die Frage nach der Abgrenzung zwischen Recht und Gewohnheit wird in der Ethnologie und in der Rechtswissenschaft unterschiedlich beurteilt. Der Begriff Gewohnheit erweckt bei der ethnologischen Annäherung zum Thema Recht eine Assoziation mit primitiven Gesellschaften und suggeriert eine evolutionäre, entwicklungshistorische Entstehung von Recht. Die Entstehung von Recht ist mit dem Entstehen von Herrschaft und der Herausbildung eines Staates verbunden. Erst die komplexe gesellschaftliche Organisation innerhalb eines Staatsgebildes führt dazu, dass das Recht aus der Bereich des gesellschaftlichen Verhaltens heraustritt und eine abgesonderte Stellung einnimmt. Recht löst sich aus den sozialen Verhältnissen und entwickelt einen abstrakten Normcharakter.139 Bei dem Übergang von Jägergesellschaften, segmentären oder sesshaften Gesellschaften zu den kephalen Gesellschaften entsteht der Anfang eines Rechtssystems. Die kephalen Gesellschaften sind häuptlings- oder königsorientierte Gesellschaften. Bei den Jägergesellschaften ist noch kein Rechtssystem vorhanden. Erst bei den segmentären Gesellschaften, in denen eine Ordnung aufgrund von Verwandtschaftsbeziehungen besteht und Sanktionen bei Regelübertretungen erteilt werden, erkennt man die Entstehung einer Rechtsordnung. Aber die in diesen Gesellschaften vorhandenen Schlichtungsinstanzen sind keine Gerichte. Diese segmentären Gesellschaften zeichnen sich durch das Nichtvorhandensein einer staatlichen Zentralinstanz aus.

138

Luhmann, Niklas: Legitimation durch Verfahren, Darmstadt 1978. Semper, Frank: Die Rechte der indigenen Völker in Kolumbien, Hamburg 2003, S. 199. 139

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Beim Aufeinandertreffen von staatlich gesetztem Recht und indigenen Gewohnheitsrechten innerhalb eines gemeinsamen Staatsgebietes stellt sich demnach die Frage, ob die Gewohnheitsrechte zerstört werden oder ob und auf welche Weise die beiden unterschiedlichen „Rechtsordnungen“ nebeneinander existieren können. Die Überlegungen zur Entstehung und Entwicklung des Rechts gehen von einer evolutionären Entwicklung aus, wobei die Entstehung von Recht die Gewohnheiten zerstöre bzw. absorbiere.140 Demnach gebe es keinen Raum für das Fortbestehen autochthoner Rechte, das indigene Recht wäre eine ausgesprochene komplexe, widersprüchliche und konfliktgeladene Regelungsmaterie, die sich aus unterschiedlichen Rechtskategorien zusammensetzt. Ob dieses Recht mit dem staatlichen Recht koexistieren könnte oder mit ihm kollidieren würde, ist die Frage. Das Nebeneinander von mündlich tradiertem Gewohnheitsrecht einerseits und schriftlich fixiertem staatlichen Recht anderseits, ist naturgemäß ein Konflikt, der einander ausschließende, aber auch verschmelzende Effekte in sich trägt. Das indigene Gewohnheitsrecht erfreut sich großer Akzeptanz bei denen, die seine Anwendung dulden und das gleiche Weltbild teilen. Doch darf nicht unterschätzt werden, welch komplexes Vorhaben es ist, diese allgemeinen konstanten Muster zu finden, welche die Gültigkeit und Legalität des Gewohnheitsrechts erlauben. Der Anwender des Gewohnheitsrechts ist also weniger eine individuelle Autorität als vielmehr die Kommune aufgrund ihrer kollektiv geteilten Auffassungen und aufgrund der Bekanntschaften und direkten Beziehungen der Beteiligten untereinander als Teil einer großen Familie. Ein typisches Beispiel für die mögliche Ungerechtigkeit des Gewohnheitsrechts könnte das Geschlechterdifferenz zugunsten der Männer sein, besonders im öffentlichen Leben, von der Gemeindeversammlung bis hin zur Repräsentation nach außen, auch bezüglich der rechtlichen Behandlung von Vergewaltigungsdelikten, insbesondere in Fällen, die minderjährige Opfer betreffen.141 Ein Punkt jedoch bleibt stets klar und deutlich erkennbar: Sobald man all diese Praktiken im Detail zu analysieren beginnt, zeigt sich, dass die Staatspräsenz dem ursprünglichen indigenen und bäuerlichen Gemeindeleben gegenüber nicht ausreicht, um eine Rechtslücke zu füllen. Häufig wird Staatspräsenz eher als Komplikation des vorigen Zustands gewertet. Es ist nicht so, dass die Gemeinden mit leeren Händen dastünden und auf Richter und Rechtsanwälte vertrauen, die ihnen Neues und Besseres von außen mitbringen. Für die Andenregion muss viel-

140 Wesel, Uwe: Zur Entstehung von Recht in frühen Gesellschaften, in: Kritische Justiz 1979, S. 244. 141 Eine ausführliche Analyse und Bestandsaufnahme der Rechte von Frauen im Hochland Boliviens siehe in Ossio, Lorena: El enfoque de género en la justicia comunitaria, La Paz 2008.

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mehr hervorgehoben werden, dass inmitten der lokalen Namens- und Rollenvielfalt ein kommunaler Posten immer eher als kostspielige Verpflichtung und nicht als Machtposition betrachtet wird. Die Kommunalversammlung hat immer die Entscheidungshoheit, und die Erfahrungen der Vorgänger spielen eine wesentliche Rolle bei den Entscheidungsfindungen. All dies hat Auswirkungen auf die kommunale Rechtsverwaltung, die mehrheitlich akzeptiert wird – viel eher als die als weit entfernt wahrgenommene gesamtstaatliche Rechtsordnung –, obgleich die Entscheidungen der Kommunalversammlung alles andere als einheitlich sind. Verallgemeinernd könnte man dem hinzufügen, dass sowohl im Hochland als auch im Tiefland die Ersatzmechanismen in der Beziehung zwischen Autorität und Kommune auf lokaler Ebene gut zu funktionieren scheinen, wenn sie gebraucht werden, doch auf überregionaler Ebene Probleme auftreten. Das Gewohnheitsrecht hat zweifellos Entwicklungspotential, auch wenn es auf höhere Ebenen übertragen wird. Das zeigt sich zum Beispiel immer dann, wenn ein Anliegen von der Lokalebene auf höhere Instanzen innerhalb derselben indigenen Bauernorganisation übertragen wird. Auf diesen höheren Ebenen ist das routinemäßige Funktionieren der Mechanismen des Gewohnheitsrechts allerdings schwieriger, da ein noch ungelöstes Artikulationsproblem zwischen der direkten Demokratie auf Kommunalebene einerseits und der repräsentativen Demokratie auf Staatsebene andererseits besteht. Zudem ist es wahrscheinlich, dass Interferenzen anderer Art auftauchen, welche die Beziehung zwischen dem Gewohnheitsrecht und dem positiven Recht erschweren. 6. Der Konflikt und die Rechtsordnung Bolivien ist ein Land instabiler Regierungen seit seiner Gründung als Republik 1825. Die schwierigen Bedingungen zum Regieren ließen meistens kaum Platz, um Entscheidungen zu treffen, die langfristig und strukturell orientiert sind. Wesentliche staatliche Aufgaben wie eine angemessene oder „bessere“ Rechtsetzung fallen darunter. Die politischen Akteure Boliviens sind mehr beschäftigt mit der Suche nach schnellen Lösungen für dringende Probleme der bolivianischen Gesellschaft als sich mit der Suche nach einem gemeinsamen Nenner für die Vielzahl der Konflikte aufzuhalten. In der Tat sind die Konflikte komplex und von unterschiedlicher Natur; aber darüber nachzudenken, über die Art der Konflikte und die damit verbundene Bedeutung für ein funktionierendes Rechtssystem, ist Aufgabe der Wissenschaft. Dies impliziert Objektivität und freies Denken, universale Voraussetzungen, die in Lateinamerika auch für eine Analyse gelten. Das Recht hat etwas mit sozialen Konflikten zu tun, da es sich auf Konflikte bezieht und das Verhalten im Konfliktfall regelt. Die gesamte natürliche und insbesondere kulturelle Wirklichkeit Boliviens ist von Konflikten durchzogen. Für

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einige Autoren ist der Konflikt gar die Form, in der sich kulturelle Wirklichkeit überhaupt erst vollzieht.142 Aber selbst wenn der Konflikt nicht die alleinige Ursache aller Wirklichkeit ist, weist er doch in Bolivien konstante Strukturen auf, die Aufschluss über bestimmte Verhaltensweisen geben können und bei der Suche nach möglichen Lösungen hilfreich sind. Ein einfaches und konkretes Beispiel für die Konfliktstruktur ist die Spannung zwischen Beständigkeit und Wandel, die sich beispielsweise in Uneinigkeiten zwischen alteingesessenen und neuen Mitgliedern einer Gruppe äußert, so im Falle der indigenen Dorfgemeinschaft. Dort lockern sich die örtlichen Strukturen zugunsten familiärer und kollektiver Überlebensstrategien durch den gestückelten Weiterverkauf von Ländereien. Junge Menschen geraten so in Konflikt mit den älteren indigenen Autoritäten, welche für das kollektive Eigentum des Landes sorgen. Darüber hinaus entstehen Konflikte aus der Spannung zwischen Einheit und Vielfalt, wie beispielsweise zwischen Gruppen, die sich mit einer bestimmten Landesregion identifizieren gegenüber Bolivianern anderer Regionen. Das trifft gerade für soziale Konfliktsituationen zu, welche sich mit den strukturellen Veränderungen auf dem Land aufgetan haben, etwa wenn sich Quechua-Bauernfamilien aus dem andinen Hochland als Siedler (colonos) im tropischen Tiefland in unmittelbarer Nachbarschaft zur angestammten Indígena-Bevölkerung niederlassen. An den Streitigkeiten zwischen „Comunarios“ (alt ansässigen Mitgliedern), der Dorfgemeinschaft gegenüber „Sayaneros“ (neu zugewanderten Mitgliedern) manifestiert sich auch die Diskrepanz zwischen Einheitlichkeit und Konformität. 1976 veröffentlichte Volkmar Gessner das Buch „Recht und Konflikt“ 143 worin er auf der Grundlage empirischer Beobachtung die Form analysierte, in der in Mexiko auf dem Gebiet des Privatrechts die sozialen Konflikte gelöst werden. Diese Untersuchung zeigt klar die verminderte Bedeutung der Rechtsordnung für die Lösung von Konflikten in Mexiko, vor allem in den ländlichen Gebieten. 142 Siehe dazu Maliandi, Ricardo: Conflicto y cultura, investigaciones éticas y antropológicas, Buenos Aires 1984. 143 Die Untersuchung von Gessner zeigt zum Beispiel deutlich die verminderte Bedeutung der juristischen Aktivität für die Lösung von Konflikten in Mexico, vor allem in den ländlichen Gebieten. Gerichte werden kaum eingeschaltet. Ihre Funktion ist auf dem Land sehr gering. Recht spielt bei dem direkten Streit zwischen Ungleichen keine Rolle. „Der den Konfliktausgang bestimmende Stärkere richtet sich nicht nach Normen, sondern nach Interessen. Im Falle von Konflikten zwischen Gleichen nimmt man die Hilfe von Schiedsrichtern in Anspruch, die selten rechtliche Normen anwenden. Man muss außerdem berücksichtigen, dass die Unkenntnis des gültigen Rechts in den von Gessner untersuchten ländlichen Gebieten 89% erreichte. Das Rechtsbewusstsein auf dem Lande hat sehr wenig mit dem geltenden positiven Recht zu tun. Vgl. dazu Gessner, Volkmar: Recht und Konflikt: Eine soziologische Untersuchung privatrechtlicher Konflikte in Mexiko, Tübingen 1976, insb. S. 219–221.

II. Multikulturelle Gesellschaft und Rechtspluralismus

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Das Buch von Gessner wird von Luhmann im Zusammenhang zwischen Recht, Erwartungsfestigung und Konflikt erwähnt.144 Instabilität wird nach Luhmann als Erwartungsunsicherheit für soziale Systeme definiert. „So muss ein Rechtssystem, das über Klagen entscheidet, sich für jede eingehende Klage entscheidungsfähig halten, ohne vorab wissen zu können, welche Klagen eingehen und wie man über sie entscheiden kann.“ 145 Die kontinuierliche Funktionserfüllung des Rechtssystems wird durch die erfassten Gesetzesformulierungen gesichert. Dies geschieht aber immer im Zusammenwirken mit der Umwelt. Wenn diese „komplexen Kopplungen“ zwischen System und Umwelt fehlen, wie es Luhmann bezeichnet146, könnte die Gefahr auftreten, dass das System sinnlos wird. Dies passiert im Fall der lateinamerikanischen Rechtssysteme. Die Funktion von Konflikten ist, in Systemen ein stabiles Verhältnis zur eigenen Instabilität herzustellen, um diese Gefahr zu reduzieren. 7. Der Konflikt und dessen Struktur Ein Konflikt zeichnet sich dadurch aus, dass die Teile einer Einheit miteinander in spannungsreicher Beziehung stehen. Diese Beziehung ist weder durch Gleichgültigkeit noch Unverbindlichkeit gekennzeichnet. Konfliktbeziehung entsteht durch Meinungsverschiedenheit, welche die Harmonie der Teile untereinander zerstört. Durch Abgrenzungsprozesse enthält jeder Teil immer gleichzeitig die Negation anderer Teile und des Komplexes der Einheit. Paradoxerweise existiert dennoch die Einheit der angenommenen Relation. Die Einheit währt, aber sie ist permanent gefährdet durch Kräfte, die sie aufzulösen drohen. Die Gefahr der Desintegration ist allen Konflikten eigen. Besagter Prozess kann auch durch ein aufkeimendes Ungleichgewicht zwischen einander entgegen gesetzten Kräften ausgelöst werden. In diesem Fall gibt es verschiedene Möglichkeiten, das Ungleichgewicht zu korrigieren: – Kompensation, Unterdrückung einer der Konfliktparteien und damit der Erhalt des Gefüges. – Neutralisierung eines der Teile, nicht durch Unterdrückung, sondern durch Transformation der Einheit des Komplexes.

144 Mit dem folgenden Zitat von Niklas Luhmann „die Quintessenz der Mexiko-Studie systemtheoretisch gelesen, ist diese mangelnde Kopplungen zwischen System und Umwelt“ wird auf das Buch von Gessner verwiesen. Dabei wird angedeutet, wie die Rechtssysteme entfremdet von der sozialen Realität sind. Vgl. dazu Luhmann, Niklas: Ausdifferenzierung des Rechts, Frankfurt am Main 1981, insb. S. 96 ff. 145 Vgl. dazu Luhmann (vorige Anm.), S. 96. 146 Ebd., S. 96.

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2. Kap.: Rechtskultureller Hintergrund der exekutiven Normsetzung

– Übermäßige Kompensation durch besondere Rettung der ursprünglichen Einheit, in der sich dennoch eine Verkomplizierung produziert, mit dem Risiko neuer Ungleichgewichtsbildungen. Die Stärke des indigenen Gewohnheitsrechts manifestiert sich in der günstigen Auswertung konkreter Praktiken und der Tendenz, Präventivlösungen für Konflikte zu suchen, die wegen der Kenntnis dieser konstanten Muster als opportun und gerecht erscheinen. So darf man nicht die Reichweite seiner Bestrafungsmethoden hervorheben, die Repressalien gegenüber den Vollstrecker hervorrufen könnte. Die Verbindung zwischen Konflikt und Gewohnheitsrecht ergibt sich durch dessen charakteristische Nähe zur kulturellen Wirklichkeit. Sie verleiht dem Gewohnheitsrecht eine unbestreitbare gesellschaftliche Legitimität in Bolivien, die schon bei der Regulierung von Konflikttypen ansetzt bis zu einem Punkt, an dem sie sogar verwechselt wird mit dem Konflikttyp selbst, den sie behandelt. Eine Gleichsetzung dieser Art verfälscht den Begriff des Rechts selbst, das aufgrund seiner fundamentalen Prinzipien keinen Vorwand für Praktiken liefern kann, die den allgemeinen Grundrechten der Freiheit und Gerechtigkeit entgegenlaufen. So wäre es absurd, wenn die Lynchjustiz als Teil dieses Rechts aufgefasst würde und sei die Menge derjenigen, die diese Praktik gutheißen, auch noch so groß. Diese Verwechslung ist Folge der Unkenntnis über die empirischen Erhebungen, wo das Gewohnheitsrecht angewendet wird, und gleichzeitig über die Möglichkeiten, was die Theorie eines Rechtssystems zu bieten hat.

III. Der Konflikt und das indigene Gewohnheitsrecht in Bolivien Dieser Abschnitt behandelt das indigene Gewohnheitsrecht (Derecho Consuetudinario Indígena). Dabei sollen vor allem die Rechtskultur und das Demokratieverständnis der indigenen Völker, denen mehrheitlich die Bewohner des östlichen Hochlands (Aymaras und Quechuas) und des westlichen Tieflandes (Guaranies) angehören, thematisiert werden. Etwa 34% der bolivianischen Bevölkerung sprechen Quechua, 23% Aymara und 2% andere Sprachen wie Guaraní, das sind vier Millionen Bolivianer und Bolivianerinnen von insgesamt acht Millionen Einwohnern. Das Gewohnheitsrecht in Bolivien wird mehr oder weniger intensiv in etwa 10.000 indigenen Gemeinschaften praktiziert, verteilt auf 190 ländliche Kommunen im Hochland und 33 Kommunen im Tiefland. Die Lebensweise und Weltanschauung der bolivianischen Bevölkerung, besonders auf dem Land, ist stark von den klimatischen und geographischen Faktoren beeinflußt. In Bolivien gib es sehr verschiedene Landschaften, in denen die unterschiedlichen indigenen Völker leben. Im Westen Boliviens liegt das Hochgebirge der Anden und im Osten ein tropisches Tiefland.

III. Der Konflikt und das indigene Gewohnheitsrecht in Bolivien

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Bolivien wird auch in vier Vegetationszonen nach der unterschiedlichen Höhelage eingeordnet: „tierra alta“, „tierra templada“, „tierra fría“ und „zona tropical“.147 1. Begriffsklärungen Für das indigene Gewohnheitsrecht gibt es verschiedene Begriffe. Die englische Literatur verwendet überwiegend die Begriffe „indigenous law“ und „customary law“.148 Dem entsprechen in der deutschen Literatur die Bezeichnungen „traditionelles Recht“ und „Gewohnheitsrecht“. Ein weiterer häufig verwendeter Begriff ist „Stammesrecht“. Sofern überhaupt zwischen den Begriffen unterschieden wird, versteht man unter dem traditionellen Recht das vor der Kolonialisierung geltende Recht. Durch die schriftliche Fixierung geriet das traditionelle Recht in die ungewisse Handhabe von Kolonialgerichten und durch die Anwendung in die Gefahr, seinen ursprünglichen Charakter zu verlieren.

147 Das Hochgebirge besteht aus der Ostkordillere, dem „Altiplano“ (Hochland), und der Westkordillere. Der höchste Berg der Ostkordillere ist der Illimani mit 6.880 m. Das Hochland ist 3.500 bis 4.000 m hoch, die höchste Vegetationszone mit Gras (Ichu) und Polstergewächsen (yareta) liegt zwischen den Kordilleren. Der höchste Berg der Westkordillere ist der Sajama mit 6.520 m. Im Osten der Kordillere gibt es subtropische Täler, die Yungas. Sie liegen unter 2.000 m. Im Norden gibt es den Amazonas-Urwald. Die Flüsse Mamore, Gaupore und Beni fließen in den Amazonas. In der Mitte liegt die Pampa, eine Savannenlandschaft, wo viel Rinderzucht betrieben wird. Im Gran Chacho, im Süden, gibt es sehr wenig Wasser. In dieser Region der Dornsavannen mit Kakteen wurde Erdöl entdeckt. Im Hochland liegt La Paz, Oruro und Potosí. Um den Titicacasee werden Gerste, Weisen und Kartoffeln angebaut. Die zweite Zone, „tierra templada“, umfasst 1.700 bis 2.000 m. In ihr liegen die milden Täler (Departaments Cochabamba, Chuquisaca und Tarija), dort gedeihen die Bergregenwälder Bananen, Ananas, Zitrusfrüchte, Tee, Kaffee und Cocafelder. Die „tierra fría“ beginnt bei einer Höhe von 3.000 m. In den Tälern wachsen Kakteen und bei künstlicher Bewässerung werden u. a. Kartoffeln, Gemüse, Wein, Mais und Quinoa angebaut. Die vierte Zone ist das Tropengebiet der Departaments Santa Cruz, Beni und Pando. Es liegt ungefähr 400 Meter über dem Meerespiegel. Sehr viele Pflanzenarten wie Palmen, Bambus und Kautschukbäume finden sich im immergrünen Regenwald im Norden. Im Süden liegen die Grassavannen mit Kakteen. Die Vegetation verändert sich mit der Länge der Regenzeit. Vgl. dazu in Albó, Xavier/ Barrios, Franz (Anm. 106), S. 8; ferner siehe dazu CIPCA: Por una Bolivia democrática, equitativa e intercultural, Cochabamba 2006. 148 So im 75. Diskussionsforum für afrikanisches Recht, dort war es nicht möglich eine Einigung über die Begriffe zu finden. Folgende Alternativen für „customary law“ wurden für Afrika entwickelt: „native law and custom“, „native customary law“, „native law“, „local law“, „indigenous law“ and „African Law“. „The term customary law is easily the most correct. For one thing it avoids the objectionable terms like ,native‘ and ,indigenous‘. Secondly, there is no doubt that when one speaks of customary law, one is referring to a law which, though based on custom, must have the force of law. To isolate law from custom, as the term ,native law and custom‘ or ,African law and custom‘ suggests would imply recognition of customs that do not have the force of law.“ Koyana, Dgby: Customary Law in a Changing Society, Cape Town 1980, S. 23.

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2. Kap.: Rechtskultureller Hintergrund der exekutiven Normsetzung

Das Eingeborenenrecht wird auch als ein Oberbegriff für Gewohnheitsrecht und traditionelles Recht verwendet. Das traditionelle Recht existierte bereits vor der Ankunft der europäischen Kolonialherrscher. Das Gewohnheitsrecht entwickelte sich innerhalb der indigenen Gemeinschaften weiter, von der Kolonialzeit über die republikanische Zeit bis in die Gegenwart. Die Abgrenzung zwischen traditionellem und aktuellem Gewohnheitsrecht ist im Einzelfall nicht eindeutig. In Bolivien wird zusäztlich der Begriff „justicia comunitaria“ verwendet. Die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts hat bis in den letzten Jahren bis 2008 versucht, diese Bezeichnung normativ auszufühlen, jedoch ohne Erfolg. Die unklare Abgrenzung des Begriffes „justicia comunitaria“ verbindet dieses Thema mit Lynchjustiz als politischer Druck auf kommunaler Ebene; Verbannung des Dorfes als Sanktion der Justicia Comunitaria; Androhung von Folter als politischer Druck auf kommunaler Ebene und nicht zuletzt mit Enteinigung als Sanktion der Justicia Comunitaria.149 149 Die Urteile mit dem Thema justicia comunitaria und Lynchjustiz als politischer Druck auf kommunaler Ebene sind folgende mit der entsprechenden Erläuterung im Urteil: „Constan informes de 24 de mayo de 2006, del Policía de servicio de la Dirección Provincial de Aiquile del departamento de Cochabamba, Pascual Choque Choque y del Subprefecto de la provincia Campero; por medio de los cuales expresan que el mismo 24 de mayo de 2004, en la casa judicial de Aiquile una turba protagonizó actos de violencia, atacando físicamente a Catalino Morales Espinoza, Oficial Mayor del Gobierno Municipal de la Tercera Sección de la provincia Mizque del departamento de Cochabamba, amenazando al Alcalde de dicho Municipio, ahora recurrente, quien determinó renunciar a su cargo, por las constantes amenazas de aplicarse ,justicia comunitaria‘ en su contra, entregando dicho documento de renuncia a la turba (fs. 56 a 57); consta también el citado documento de renuncia“. (fs. 84) SENTENCIA CONSTITUCIONAL 0005/2007-RSucre, 8 de enero de 2007, Expedientes: 2006-13713-28-RAC; 200614177-29-RACy2006-14181-29-RAC. Distrito: Cochabamba, Magistrada Relatora: Dra. Silvia Salame Farjat. Justicia comunitaria und fehlende Verfassungsgarantien: „El abogado del recurerrente planteó: „. . . Señaló que se planteó un incidente de declinatoria de competencia porque su cliente debe ser juzgado en el departamento de La Paz, donde fue encontrado el cuerpo y donde fue habido el imputado, pero este incidente no fue resuelto debido a que se pidió previamente el pase profesional en dos oportunidades. Pidió finalmente la procedencia del recurso y que previos los informes, se ordene al Juez recurrido disponga el tratamiento de las solicitudes de declinatoria en el día; al Fiscal recurrido que informe al Juez en forma detallada porqué el acta de aprehensión y la declaración informativa son falsas; a los policías informen al Juez porqué permitieron su traslado a una localidad diferente y también se declare procedente respecto a los pobladores de Caripe y de Ancoaqui, determinándose que en casos determinados de justicia comunitaria, ésta no debe violar Normas procesales.“ SENTENCIA CONSTITUCIONAL 0699/2007-R Sucre, 14 de agosto de 2007 Expediente: 2007-16299-33RHC Distrito: Oruro Magistrado Relator: Dr. Walter Raña Arana. Verbannung aus dem Dorf als Sanktion der Justicia Comunitaria: „El Fiscal de Materia recurrido informó que el 12 de abril de 2007, la representada de los recurrentes, no fue aprehendida sino que ella voluntariamente se quedó dentro del edificio de la Subprefectura y pidió prestar su declaración informativa, lo cual hizo en presencia de su abogado, porque dirigentes de la comunidad pretendían aplicarle la justicia comunitaria. El 8 de marzo de 2007 se le hizo la primera citación pero no fue encontrada, existiendo también actas pasadas

III. Der Konflikt und das indigene Gewohnheitsrecht in Bolivien

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Das Gewohnheitsrecht ist bereits Bestandteil des Rechtssystems in anderen Ländern. Die Gerichte in afrikanischen Ländern dürfen Eingeborenenrecht oder „customary law“ als „Recht“ behandeln. Ihre Befugnis, mit Eingeborenenrecht umzugehen, stellen die Gerichte heute nicht mehr in Frage. Dem nicht mit dem que demuestran que ella tuvo problemas con la comunidad y por eso no tiene pisada a la misma. Este motivo hizo que el Ministerio Público sostenga la existencia de la probabilidad de que la representada de los recurrentes no retorne a su casa: SENTENCIA CONSTITUCIONAL 0678/2007-R Sucre, 7 de agosto de 2007 Expediente: 200716257-33-RHC Distrito: La Paz Magistrado Relator: Dr. Walter Raña Arana. Auch zu Verbannung aus dem Dorf als Sanktion der Justicia Comunitaria: „El 18 de mayo de 2004 los dirigentes de la junta vecinal, autodenominados „Comisión de Agua“ en un acto arbitrario y revanchista, procedieron al corte del servicio y a la destrucción de la red de conexión a su domicilio, por el solo hecho de que cuando ella era dirigente denunció los malos manejos de éstos, viéndose obligada a renunciar. Aquella determinación se habría tomado en una asamblea realizada el 17 de mayo de 2004, para la cual su persona no fue notificada ni estuvo presente y que cuando reclamó le expresaron que eran autónomos, que lo único que hacían era aplicar la „justicia comunitaria“ y que debía abandonar el barrio. SENTENCIA CONSTITUCIONAL 1008/2004-R Sucre, 1 de julio de 2004 Expediente: 2004-08288-17-RAC Distrito: La Paz Magistrado Relator: Dr. José Antonio Rivera Santivañez Androhung von Folter als politischer Druck auf kommunaler Ebene „La recurrente arguye que bajo amenazas de ser chicoteados, flagelados y quemados por la „justicia comunitaria“ (sic), por intimidaciones de los dirigentes zonales aleccionados por el Presidente del Comité de Vigilancia y el Presidente del Concejo Municipal fue forzada a firmar su renuncia al cargo de Concejal del Municipio de Viacha, junto a otro Concejal. En segundo lugar que no se atendió su solicitud de reconsideración de la Resolución emitida por el Concejo Municipal referido por la que se aceptó dicha renuncia no obstante a tener conocimiento que la misma fue suscrita bajo presión. En tercer lugar que no se le concedió su pedido para que se le expida fotocopias legalizadas de los documentos concernientes al caso. SENTENCIA CONSTITUCIONAL 0361/2007-R Sucre, 10 de mayo de 2007 Expediente: 2006-13836-28-RAC Distrito: La Paz Magistrada Relatora: Dra. Elizabeth Iñiguez de Salinas; Erzwungener Rücktritt als politischer Druck auf kommunaler Ebene: El 16 de abril de 2004, el recurrido certificó, que: a) es evidente que el recurrente fue suspendido por la sociedad civil de su cargo de Alcalde del Municipio de Villa Tomina, en aplicación de la justicia comunitaria; b) motivado por las circunstancias sociales del 5 de abril de 2004, que culminaron en la suspensión del Alcalde, se vieron forzados a elegir uno interino, con el objetivo de no perjudicar el normal funcionamiento del municipio; y c) no existen actas y resoluciones referente a la suspensión del recurrente (fs. 8 y 9) SENTENCIA CONSTITUCIONAL 1103/2004-R Sucre, 16 de julio de 2004 Expediente: 2004-09028-19RAC Distrito: Chuquisaca Magistrado Relator: Dr. José Antonio Rivera Santivañez: Enteinigung als Sanktion der Justicia Comunitaria: „Los particulares recurridos, presentaron informe en audiencia, donde alegaron lo siguiente: a) los terrenos en disputa no cumplen una función social, por lo que la justicia comunitaria, en aplicación de las normas previstas por el art. 171.III de la CPE, ha determinado que por encontrarse ociosas son de la comunidad; b) la recurrente accionó la jurisdicción penal, denunciando la comisión de los delitos de despojo, allanamiento y perturbación de posesión, que todavía se encuentra en etapa preparatoria, por lo que no agotó los recursos ordinarios que la ley franquea; asimismo tampoco ha concluido el trámite administrativo ante los ministerios respectivos, por cuanto sólo han presentado unos simples memoriales; y c) los ministerios no tienen potestad para resolver problemas penales o civiles. Finalizan pidiendo la improcedencia del recurso. SENTENCIA CONSTITUCIONAL 1567/2004R Sucre, 28 de septiembre de 2004 Expediente: 2004-09549-20-RAC Distrito: Cochabamba Magistrado Relator: Dr. René Baldivieso Guzmán.

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2. Kap.: Rechtskultureller Hintergrund der exekutiven Normsetzung

indigenen Gewohnheitsrecht vertrauten europäischen Juristen geht es da anders. Er fragt sich, was indigenes Gewohnheitsrecht ist.150 2. Das Gewohnheitsrecht des Hochlandes Nach Ansicht von Befürwortern der Wiederherstellung eines idealisierten Inka-Reiches sollte das heutige bolivianische Rechtssystem von den althergebrachten moralischen Regeln geprägt werden, nämlich „ama suwa“ (Sei kein Dieb), „ama llulla“ (Sei kein Lügner), „ama quilla“ (Sei nicht faul). Wie zur Zeit der Inka sollen Verstöße gegen diese Rechtssätze mit der Todesstrafe geahndet werden.151 Insbesondere das Inka-Reich zeichnete sich durch eine bemerkenswerte, planmäßig durchgeführte Homogenisierung der Gesamtgesellschaft aus, durch Sprache (Quechua), Sitten und Organisationsformen in den diversen Reichsteilen, welche an die des dominierenden Reichskerns angeglichen wurden.152 Für andere Autoren sind diese Forderungen realitätsfremd, denn die damaligen Hochkulturen vermochten demokratieähnliche Modelle zur Konfliktschlichtung und zur Diskussion soziopolitischer Alternativen nicht zu entfalten.153 In diesem Abschnitt wird verstärkt das Augenmerk darauf gerichtet, wie sich aus dem tradierten Gewohnheitsrecht Rechtssätze entwickeln lassen, die einerseits dem Bedürfnis nach Konfliktminimierung und -bewältigung in einer multikulturellen Gesellschaft entsprechen, andererseits jedoch auch den Anforderungen des Rechtsstaatsprinzips und dem Menschenrechtsschutz genügen. Der Rückgriff auf traditionelle Rechtsvorstellungen könnte dazu beitragen, die zu bildenden rechtlichen Institutionen in ihrer historischen Legitimation zu stärken und zur Einsicht in ihre rationale Notwendigkeit auch bei der indigenen Bevölkerung zu führen.

150 Siehe dazu Henneke, Sebastian: Eingeborenenrecht vor südafrikanischen Gerichten, Essen 1999, S. 25; Olivier, N. J. J.: Indigenous Law Durban 1995; Lewin, Julius: An Outline of Native Law, 4. Cape Town 1966. 151 In anderen Untersuchungen werden zusätzlich moralische Regeln wie „ama maklla“ (Sei kein weiblicher Mann), „ama sipix“ (Sei kein Mörder) genannt. Siehe dazu Fernández, Marcelo: La Ley del Ayllu, La Paz 2000, S. 330. 152 Nicht zuletzt durch Deportation ganzer Ethnien und Zwangsbesiedlung bestimmter Regionen. Siehe dazu Murra (Anm. 50). 153 So schreibt Mansilla, H. F. C.: „Man darf mit einiger Sicherheit annehmen, dass die soziale Schichtung in den damaligen Hochkulturen streng hierarchisch und pyramidenartig war, wobei die vertikale Mobilität als gering zu schätzen ist. Dieser Typ einer rigiden Gesellschaftsordnung basierte auf patriarchalisch-autoritären Sozialisationsprinzipien und auf dem wohl niemals in Frage gestellten Grundsatz, dass die Eliten zu befehlen und die Massen zu gehorchen hatten.“ Siehe Mansilla (Anm. 72), S. 20.

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a) Die Rechtskultur der Aymaras Das indigene Volk der Aymaras verteilt sich in 24 Provinzen in den Departaments La Paz und Oruro und nur in einer Provinz im Departament Potosi mit insgesamt fast 640.000 Muttersprachlern, das sind rund 94% der Gesamtbevölkerung dieser Departaments. Es ist nicht leicht, das Weltbild der Aymara zu beschreiben. Im „Schmelztiegel“ der verschiedenen kulturellen Überlagerungen (traditionelle Aymara-Kultur, kolonial-spanische und seit mehreren Jahrzehnten westliche Einflüsse) gibt es eine derartige kulturelle Vielfalt, dass die Wurzeln der einzelnen Ausformungen nur schwer zuzuordnen sind. Die Erscheinungsformen weisen sehr häufig regionale Unterschiede auf. Die Ergebnisse von Forschungen in anderen Kulturen deuten darauf hin, dass eine Adaption neuer Werte am ehesten dort erfolgt, wo die Konfrontation mit westlichen Werten zunimmt. Das ursprüngliche animistische Weltbild der Aymaras mit Geistern, Göttern und Mythen wurde nur mündlich überliefert. Die Integration des Christentums in diesem schon sehr bunten kulturellen Bild macht eine Gesamtbeschreibung fast unmöglich.154 Die Bevölkerungsgruppe, die heute als indigene Gruppe bezeichnet wird, bewahrte nicht eine unveränderte vorspanische Kultur. Die Autoren Lindig und Münzel stellen zur kulturellen Veränderung fest: „Die indianische Kultur ist heute untrennbar mit europäischen Elementen durchsetzt und was ,indianisch‘ heißt, ist oft in Wahrheit kolonialspanisches Relikt. Musterbeispiel hierfür ist die indianische Tracht.“ 155 Nicht nur die kulturellen Eigenarten beeinflussten sich, sondern seit der „Conquista“ fand auch eine teilweise Vermischung der ethnischen Gruppen statt. Die „Ayllu Jesús de Machaka“ als eine der bedeutendsten Dorfgemeinschaften der Aymara Kultur zeigt eine disziplinierte bis starre Autoritätsstruktur. Kennzeichnend für diese indianische Gemeinschaft ist, dass das Ausüben eines bestimmten Amtes erst durch die Hochzeit möglich wird. Sie ist eine sehr mono-

154 So werden zum Beispiel die Kinder der Aymara als Erwachsene in ihrer Gemeinschaft angesehen. Sollte wiederum ein Erwachsener keine Leistung an die indigene Gemeinschaft miteinbringen, wird er als noch minderjährig „lloqalla“ eingestuft. Vgl. dazu Ministerio de Justicia: los Aymaras en Jesús de Machaka, La Paz 1999, S. 34. 155 Für Aymara-Frauen in La Paz ist es völlig normal, im Alltagsleben der Stadt die „pollera“, die typischen weiten Röcke zu tragen sowie einen Hut als Kopfdeckung, der wiederum Frauen aus der Region La Paz von indigenen Frauen aus anderen Teilen Boliviens unterscheidet. Vgl. dazu Lindig, Wolfgang/Münzel, Mark: Die Indianer, Kultur und Geschichte der Indianer Nord-, Mittel- und Südamerikas, München 1976, S. 214.

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2. Kap.: Rechtskultureller Hintergrund der exekutiven Normsetzung

game Gesellschaft und die Verantwortung der Amtsträger wird mit deren Ehefrauen geteilt.156 Im System der indigenen Autoritäten in der Aymara Kultur bedeutet es einen langen Werdegang, bis ein Mitglied an die Spitze der Machtstruktur gelangt. Das Ziel ist aber nicht das höchste Amt an sich, sondern die soziale Anerkennung durch die Ausübung dieses höchsten Amtes, welches unter den Mitgliedern rotiert. In der Andenregion wird die Ausübung von Autorität vor Ort nicht als Auszeichnung oder als erfolgreiche politische Kompetenz betrachtet, sondern als eine wechselseitige Verpflichtung. Es gibt besondere Fälle, in denen die Ausübung des Gewohnheitsrechts zur Bürde oder gar zur Strafe werden kann, zum Beispiel, wenn einem „comunitario“ aufgrund wiederholter Vernachlässigung seiner sozialen Pflichten die Verantwortung für gerade diesen Ort auferlegt wird, indem man ihm zum Vorsteher der betroffenen Kommune macht und ihn somit in die Pflicht zur Umsetzung des Gewohnheitsrechts nimmt. Die Kommune verleiht jedem einzelnen Mitglied Sicherheit, Zugang zu einzelnen Parzellen und Weideland und garantiert ihm nach Bedarf eine gute Verwaltung. Gleichzeitig aber ist jedes Kommunenmitglied umgekehrt auch angehalten, sich für die Allgemeinheit einzusetzen, indem es bestimmte kostspielige und zeitaufwändige Aufgaben erfüllt. Schließlich drücken alle dem Verwalter des Gewohnheitsrechts gegenüber ihre Dankbarkeit durch Zuneigung und Geschenke aus, und er erhält die „Segnung Gottes“ und anderer Schutzpatrone der Kommune. Diese Form vielfacher wechselseitiger Beziehungen ist nicht notwendigerweise abhängig von der Existenz oder dem Erhalt eines öffentlichen Titels der Kommune. Die letzte Kontrollinstanz der Kommune bezüglich der Verteilung von Land und anderer Mittel funktioniert auch dort, wo durch die Agrarreform schon individuelle Parzellentitel zugeteilt wurden. Niemand würde es wagen, seine titulierte Parzelle einem Fremden zu verkaufen, wenn die Kommune dessen Anwesenheit als Gefährdung des Zusammenhalts betrachtete. Wenn ein Mitglied der Kommune systematisch seine Kommunalaufgaben vernachlässigt, verliert es letzten Endes sein Land, so sehr es auch als sein unantastbarer Privatbesitz gekennzeichnet sein mag. Die „autoridades naturales“ (natürlichen Autoritäten), wie sie in Artikel 171 der bolivianischen Verfassung von 1967, mit der Verfassungsreform von 1994, 156 Ab dem zweiten Jahr nach der Hochzeit arbeitet sich das Paar Schritt für Schritt hoch, um die Anerkennung und das Prestige der indigenen Gemeinschaft zu erlangen. Nach 3 Jahren darf das Paar geringere verantwortungsvollere Aufgaben übernehmen, so z. B. die Leitung einer folkloristischen Musikgruppe der Gemeinschaft. So geht es für den Mann weiter bis zu dem höchsten Amt des „Jilaqata“ und seiner Frau als „Mama Tálla“. Oder auch zu den Ämtern als „Mallku“ und „Tita Mallku“. Vgl. dazu Ministerio de Justicia (Anm. 129), S. 71.

III. Der Konflikt und das indigene Gewohnheitsrecht in Bolivien

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genannt wurden, müssen diese allgemeinen Konfliktstrukturen aufgreifen, um gleiche Parameter aufzustellen und so eine gerechte Behandlung in jedem Einzelfall garantieren zu können. Das angelsächsische Rechtssystem löst die Anwendung von gleichen Regeln in jedem Einzelfall durch das Präzedenzfallsystem. Die notwendige universale Gültigkeit von konkreten Fällen stellt eine der größten, bisher ungelösten Herausforderungen an das Gewohnheitsrecht dar, das von mündlich überlieferten Traditionen lebt. b) Die Rechtskultur der Quechuas Das indigene Volk der Quechuas verteilt sich auf 35 Provinzen in vier Departaments, hauptsächlich in den andinen Zwischentälern, und dem Altiplano in Richtung Süden des Landes: Es handelt sich um ca. 900.000 Personen, die 97% der dortigen Gesamtbevölkerung ausmachen.157 Die Struktur der Autoritäten der Quechuas nimmt in unterschiedlichem Grad die Gewerkschaft als Schutzschirm für ihre eigenen traditionellen Machtstrukturen an, dabei wird dieser Institution eine andere Funktion beigemessen158, so auch im Falle des politisch administrativen Amtes der „Korregidores“. Es wird von der exekutiven Gewalt für jeden Kanton designiert. Der „Korregidor“ soll in den Quechua-Regionen jedoch auch andere Aufgaben übernehmen, die weniger mit seinen ursprünglichen Kompetenzen zu tun haben. Die neuen Kompetenzen werden von der indigenen Gemeinde festgelegt, nämlich die Umsetzung des Gewohnheitsrechts. Wie der „Alcalde Menor“ wird er für ein Jahr direkt von der „Versammlung der Gewerkschaft“ gewählt. Die Wiederwahl ist möglich. Mitglieder der Gewerkschaft sind volljährige Männer, welche eine Familie und ein Stück Land besitzen sowie Witwen mit Ländereien. Die Mitglieder müssen ihre Pflichten bei der indigenen Gemeinschaft erfüllen. Wenn die indigenen Gemeinschaften in einer gewerkschaftlichen Form mehr „Korregidores“ benötigen, werden diese von der exekutiven Gewalt akzeptiert und bestätigt. Die Instanzen der Anfechtung sind in diesen Strukturen der Gewerkschaften noch vielfältiger. Die Unterschiede liegen bei der Unterordnung des „Korregidor“ in der Hierarchie der Gewerkschaft oder bei der exekutiven Gewalt.159 157 Eine weitere Variante ist die Quechua-Aymara-Zweisprachigkeit, oft erweitert durch Spanischkenntnisse zur Dreisprachigkeit. Die dreisprachigen Zonen sind die 10 Provinzen im Department Norte de Potosí, ländliche Gebiete von Oruro, Teile von Quijarro und Frías im Süden. Ministerio de Justicia: Los quechuas de Tapacarí, La Paz 1999, S. 21 ff. 158 Es gibt kein funktionelles Äquivalent für die Institution der Gewerkschaft in Bolivien. Diese Organisation wird als eine politische und rechtliche Instanz angesehen, welche sich um die Vertretung und die Angelegenheiten der indigenen Bevölkerung aus dem Hochland kümmert. 159 Meistens lässt sich feststellen, dass je mehr Mitglieder dieser indigenen Gemeinschaft unter städtischen Einflüssen leben, die Unterordnung unter die exekutive Gewalt desto eher akzeptiert wird.

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2. Kap.: Rechtskultureller Hintergrund der exekutiven Normsetzung

3. Das Gewohnheitsrecht im Tiefland Das Volk der Guaraní kam ursprünglich von der Küste Santa Catarina und wanderte über Südbrasilien im 15. und 16. Jahrhundert in die Gegend von Santa Cruz in das heutige Staatsgebiet Bolivien ein.160 Es floh vor den portugiesischen und französischen Kolonialherrschern. Die Guaranies trafen auf unterschiedliche Ethnien, die „Zamuco“ oder „Ayoreode“, die „Toba“ und die „Chané“, die aus der Sprachfamilie der „Arawak“ kamen161. Die Männer der „Chané“-Ethnie wurden von den Guaranies versklavt und deren Frauen wurden als eigene Ehefrauen genommen. Aus der Mischung zwischen „Guaranies“ und „Chané“ entstand später das Volk der „Chiriguano“. Bis Ende des 19. Jahrhunderts gab es zwischen den Guaranies und Karai (weiße Siedler) immer wieder gewaltsame Auseinandersetzungen, dabei ging es um unterschiedliche Vorstellungen der Landnutzung. Die Guaranies waren hauptsächlich Maisbauern, während die Karai ihre Rinder auf denselben Ländereien hielten. Dadurch kam es 1892 zu dem Massaker von Kuruyuki. Das zeitgenössische Volk der Guarani besteht hauptsächlich aus den Ethnien „Ava“, „Simba“ und „Izoceños“, sie organisieren sich in unterschiedlichen „Capitanías“ 162. Die bedeutendste „Capitanía“ ist die „Capitanía del Bajo Izozog“ (CABI) der Gebiete Hoch- und Tief-Izozog in der Provinz Cordillera des Departements Santa Cruz. Sie bildet sich aus 22 indigenen Gemeinschaften eines Gebietes das ca. hundert Quadratkilometer umfasst. Im Jahr 1994 wurde dieses Gebiet vom bolivianischen Staat als indigene Kommune („Distrito Municipal Indígena“) und damit auch zum ersten Mal in der Geschichte Lateinamerikas anerkannt. Kennzeichnend für die Guaranies ist die Übertragung der Macht durch Erbfolge. Enrique Iyambae, der Häuptling und damit Anführer der „CABI“, wurde als gleichrangige politische Autorität vom Präfekten, dem Vertreter des Präsidenten Boliviens im Department Santa Cruz, anerkannt. 1923 wurde ihm der Titel 160 Für die Geschichte des Volkes der Guaranies siehe Albo, Javier: Los Guaraní – Chiriguano 3: La Comunidad hoy. CIPCA, Cuadernos de Investigación No. 32, La Paz 1990. Combes, Isabelle: Iyambae, Historia de la Capitanía Izoceña, Santa Cruz 1996. Hirsch, Silvia: Political organization among the Izoceño Indians of Bolivia, Los Angeles 1991. 161 Zu den Sprachfamilien und Ethnien in Bolivien. Siehe Carvajal, J./Plaza, P.: Etnias y lenguas en Bolivia. Instituto Boliviano de Cultura, La Paz 1985. 162 Die „Capitanías“ sind selbständige politische Organisationen der indigenen Völker aus dem Tiefland, deren Ursprung vor der spanischen Kolonialzeit liegt. Sie gehören einem bestimmten Territorium an und verwalten dieses. Die spanische Kolonialmacht hatte kein besonderes wirtschaftliches Interesse an diesen Grundstücken. Die Rivalitäten zwischen den „Capitanías“ machten es den Spaniern unmöglich einen übergeordneten Ansprechpartner zu finden und sie zu unterjochen, wie es bei den Inkas, Mayas oder Azteken-Zivilisationen der Fall war.

III. Der Konflikt und das indigene Gewohnheitsrecht in Bolivien

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als „Capitán Grande de Tribus Indígenas del Cantón Alto Izozog“ 163 verliehen. Enrique Iyambae teilte sein Herrschaftsgebiet in Hoch- und Tief-Izozog164, behielt den oberen und übergab seinem Neffen Casiano Barrientos den unteren Teil. Im Jahr 1926 tötete Iyambae seine Frau und wurde von der Gemeinschaft verbannt. Daraufhin übernahm sein Neffe Barrientos bis 1936 die Herrschaft über beide Gebiete. Barrientos und sein Volk marschierten zum Regierungsitz nach La Paz, um die Beschleunigung der Beurkundung der Eigentumstitel seines Landeigentums zu forcieren. 1958 übernahm der Halbbruder Bonifacio Barrientos, genannt „Kuaraia Guasu“ (Großer Schatten), die Herrschaft und stärkte die politische Bewegung der indigenen Völker im Tiefland. Das Schicksal der Ethnien im Tiefland verlief recht unterschiedlich. Während die Izoceños in ihrer sozialen Struktur relativ unbeschadet die Kolonialzeit und die republikanische Zeit überstanden, leben die Ava bis heute in Abhängigkeit von Großgrundbesitzern und als Saisonarbeiter in den Zuckerrohrplantagen.165 1982 entstand ein Bündnis zwischen indigenen Völkern aus dem Tiefland, Chaco und Amazonien, und zwar gründeten die „Chiquitanos“, „Ayoreode“ und „Izoceños“ den Verband der CIDOB (Central de Pueblos Indígenas del Oriente Boliviano).166 Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts waren die indigenen Gemeinschaften nicht als juristische Personen anerkannt.167 Um auf anderem Wege die Anerkennung zu erlangen, gründete Bonifacio Barrientos Junior im Oktober 1990 die Gewerkschaft „Asociación de Productores Izoceños“. 1987 erreichten zum ersten Mal 163 Der Titel Capitán Grande sollte nicht mit einem militärischen Grad verwechselt werden. Man kann ihn als Königstitel verstehen. In der Sprache der Guarani nennt man ihn: „Mburuvisha Guasu“. Vgl. dazu Ministerio de Justicia: Los Guaraníes del Bajo Izozog, La Paz 1999, S. 13. 164 Die Hochgebiete Izozog umfassen die Regionen „Ibasiriri“, „Güirayoasa“ und „la Brecha“. Die Tiefgebiete Izozog umfassen die Regionen „Iyobi“, „Aguaraigua“ und „Coropo“. Vgl. dazu Ministerio de Justicia (vorige Anm.), S. 21. 165 Das „Oberste Dekret“ Nr. 28159 vom 23.11.2006 verordnet die Befreiung der indigenen Familien, welche in Haciendas der Großgrundbesitzer noch als Zwangsarbeit arbeiteten. Die Entschädigung für diese Zwangsarbeit wird durch diese rechtliche Norm geregelt. Siehe mehr dazu in: Gaceta Jurídica Nr. 484: Justicia, Tierra y Libertad, La Paz, den 1. Dezember 2006. Gaceta Jurídica Nr. 485, Se planea erradicar la servidumbre, La Paz, den 8 de diciembre de 2006. 166 Über 30 ethnische Gruppen werden durch den Verband der CIDOB vertreten, von denen einige zahlenmäßig sehr klein sind. Für die Indígenas des Tieflandes stand die Anerkennung abgegrenzter Territorien im Vordergrund, um den Druck durch landwirtschaftliche Nutzung und Holzausbeutung in ihren Lebensräumen zu mindern. 167 Am 12. August 1994 wurde die Teilrevision der bolivianischen Verfassung von 1967 verabschiedet. Nach Art. 171, Abs. 2 werden die indigenen Gemeinschaften als juristische Personen anerkannt. Vgl. dazu Barbery, Roberto: Participación Popular, descentralización y autonomías departamentales, PADEM, La Paz 2005. Und Barrios, Franz: Propuesta autonómica de Santa Cruz, balance de fortalezas y debilidades, ILDIS, La Paz 2006.

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2. Kap.: Rechtskultureller Hintergrund der exekutiven Normsetzung

die Frauen der Guarani das Sprach- und Stimmrecht bei der „Asamblea“ (die Versammlung). Die Versammlung „Yemboati Guasu“ ist die höchste Ebene der Machtstruktur der Guaranies. Jedes Mitglied der indigenen Gemeinde darf an der „Versammlung“ teilnehmen und hat gleiche Sprachrechte. Neben den „Capitán Grande“ gibt es noch zwei „Capitanes Segundos“ und 22 „Capitanes Comunales“, letztere vertreten die eigene Versammlung und ihre Aufgabe ist es, die Beschlüsse den anderen „Capitanías“ mitzuteilen. Die staatliche Anerkennung der Gebiete als indigene Kommunen impliziert die Schaffung von Bürgermeisterämtern und den Korregidor.168 Damit diese nicht mit den Autoritätsstrukturen der indigenen Gemeinschaft kollidieren, finden sie einen Kompromiss in dem der „Capitán Grande“ als Bürgermeister anerkannt wird. Der „Korregidor“ wird von der Versammlung gewählt und vom „Capitán Grande“ ratifiziert. Ihm wird die Rolle eines Richters beigemessen und er wendet die Statuten und Verordnungen der indigenen Gemeinden an. Als einziges indigenes Volk haben die Guaranies ihre rechtlichen Normen kodifiziert. Diese schriftlichen Verankerungen sind ein Zeichen für die Wirkung westlicher Einflüsse in der Kultur der Guaranies. Nicht-indigene Personen, die in den Gebieten der Guaranies wohnen, werden in deren Machtstrukturen integriert, jedoch gibt es selten Ehen zwischen Weißen und Guaranies. Neben den Guaranies gibt es weitere indigene Gruppen, denen bestimmte Fähigkeiten zugesprochen werden, die Arakua Iya (Besitzer der Weisheit), die Ñee-Iya (Besitzer der Worte), die Paye reta (Gute Schamanen) und die Mbaekua (Böse Schamanen). Es kommt vor, dass die beiden letzten Personengruppen in einer Person verkörpert sind. In der Geschichte der Guaranies gibt es zum Beispiel „Capitanes Grandes“, die den Guten und den Bösen Schamanen in sich vereinen. Diese Personen aus diesen Gruppen besitzen eine moralische Autorität und spielen bei der Entscheidung von Streitfällen und Ahndung von Straftaten die wichtige Rolle, weil sie – anders als im Gewohnheitsrecht der Hochlandbevölkerung – allein entscheiden. Problematisch sind die Fälle der „Bösen Schamanen“, bei denen die Todesstrafe von der „Yemboati Guasu“ (Versammlung) verhängt wurde. Der Staat ist bei Bekanntwerden solcher Sanktionen verpflichtet, einzugreifen. Die Kriterien zur Unterscheidung eines guten vom bösen 168 Diese beiden Ämter stammen aus der Kolonialzeit. Der Korregidor vertrat den spanischen König in den indigenen Dörfern. Am 20. April 1994 verabschiedete die Regierung die „Ley de Participación Popular“. Damit wurden 311 neue Gemeinden geschaffen und der ländliche Bereich erstmals politisch und administrativ in die staatlichen Strukturen eingebunden. Demzufolge wurden vom Staat 5 Korregidores dem Gebiet zugeteilt. Diesen Kommunen wurden bestimmte Kompetenzen und die korrespondierenden Finanzmittel übertragen. Früher konzentrierten sich die staatlichen Finanzzuweisungen (90%) auf lediglich drei Städte. Resultat dieser Entwicklung war die Landflucht. Vgl. dazu Ministerio de Justicia: los quechuas de Tapacarí, La Paz 1999.

III. Der Konflikt und das indigene Gewohnheitsrecht in Bolivien

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Schamanen sind nicht in den schriftlichen Statuten aufgeführt, sondern werden aus Angst vor staatlichen Strafen nur mündlich weitergegeben. Wenn es um allgemeine Konflikte geht, wie Ehestreit, Trennung oder Pflichten gegenüber den Kindern und Diebstahl, aber auch um Mord, sind zunächst der „Capitán Comunal“, die Versammlung und der Korregidor zuständig. Der Korregidor dokumentiert die Art der Konflikte, die Sanktionen, die verhängt werden, und andere wichtige Informationen, welche die Gemeinde betreffen. Der Capitán Comunal ist die einzige Person, welche die Konfliktparteien beraten darf. Wenn ein Fall nicht gelöst wird und damit das Gleichgewicht der Gemeinde gestört wird, schaltet sich als höhere Instanz der „Capitán Grande“ ein. Geht es um seine Einstufung als böser Schamane so ist die Versammlung „Yemboati Guasu“ zuständig. 4. Die Aufnahme des indigenen Rechts in der neuen bolivianischen Verfassung oder die Formalisierung der informalen Institutionen? Die Positionen der Verfassungsrechtslehre in Lateinamerika bewegen sich in einem Spektrum zwischen der Stabilität und Wandel des ersten Gründungsdokuments, so z. B. hinsichtlich der argentinischen Verfassung von 1853 wegen ihres ehrwürdigen Alters und den Ewigkeitsklauseln. Das andere Extrem strebt dagegen einen völligen Wandel der Verfassung an. Diese Einstellung zeigt sich in der Diskussion der letzten Jahre besonders in den Ländern Venezuela, Ecuador und Bolivien. Die These der völligen Souveränität der Verfassungsgebenden Versammlung hat die Veränderung der gesamten politischen Ordnung zur Folge. Das neue Schlagwort von der „legalen Revolution“, suggeriert, so Florian Scriba, dass „eine Revolution im Rahmen und mit rechtssetzenden Mitteln des bisherigen Rechts, also unter Wahrung der formalen Verfassungskontinuität, vonstatten gehen kann“.169 Daraus abgeleitet stellt der Autor folgende Fragen: „Wie ist der Revolutionsbegriff zu bestimmen, vor allem wenn man die legale Revolution zumindest nicht von vornherein als Widerspruch in sich abtun möchte?“ Und wenn man davon ausgeht, dass eine Revolution jedenfalls eine verfassungspolitische Umwälzung der Staatsordnung mit sich bringt: Welche materiellen Grenzen der Verfassungsänderung sollen im Falle einer legalen Revolution gesetzt werden? Kann eine Verfassung vorsehen, dass ihr ein völlig anderes verfassungspolitisches Antlitz gegeben werden darf? Problematisch ist dabei die Bedeutung von „Revolution“ als fundamentaler Bruch mit der alten und die Schaffung einer völlig neuen Ordnung, und zwar als Resultat von einem abruptkrisenhaften, mehr oder minder gewaltsamen Prozess gesellschaftlicher und politischer Umwälzung. 169

Scriba, Florian: „Legale Revolution“, Berlin 2008, S. 12 ff.

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2. Kap.: Rechtskultureller Hintergrund der exekutiven Normsetzung

Das Ergebnis eines schwierigen Verfassungsprozesses, der am 6. August 2006 mit dem Gesetz Nr. 3364 vom 6. März 2006 sowie dem Gesetz Nr. 3728 vom 4. August 2007 begann, ist die Verabschiedung eines Verfassungstextes unter starkem Einfluss der Verfechter indigener Rechte. Der Text, der 410 Artikel, neun Übergangsbestimmungen, eine aufhebende Bestimmung, eine Widerrufsbestimmung und eine Schlussbestimmung umfasst, ist dem bolivianischen Volk am 25. Januar 2009 den Weg eines Referendums zur Entscheidung. Die Regelung der indigenen Rechtspflege in der neuen bolivianischen Verfassung dient vor allem dazu, die Koordination zwischen der formellen Justiz und der indigenen Justiz zu vereinfachen und den dringend benötigten, bis jetzt nur auf dem Papier stehenden, effizienten Zugang zur Justiz in benachteiligten Gegenden zu schaffen, insbesondere in der bäuerlich und indigen geprägten Landbevölkerung. Die Grenzen, die dem bolivianischen Staat gesetzt sind, zeigen sich anhand der Zahlen: Nur in 55% der Gemeinden des Landes gibt es einen ein Richter, 23% haben einen Staatsanwalt und nur 3% können einen Pflichtverteidiger stellen. Rechtshilfeleistungen auf Gemeindeebene (die einzig dem Zweck dienen, Opfer von innerfamiliärer und geschlechtsbezogener Gewalt zu schützen), werden nur in 35% der Gemeinden angeboten und nur 61% der Gemeinden haben eigene Staatsverteidiger der Kinder- und Jugendrechte. „Alternative Rechtshilfeleistungen“ wie Mediations- und Schlichtungszentren gibt es nur in städtischen Gegenden.170 Der eigentliche Grund dafür, in der neuen Verfassung auch Inhalte zu Fragen der Ureinwohner zu berücksichtigen, ist ethischer und politischer Natur. In Bolivien hat sich in Staat und Gesellschaft das Bewusstsein durchgesetzt, dass die indigenen Völker das Recht haben, ihre eigene Lebensart in allen Bereichen zu entfalten, was auch eine interne Verwaltung der Justiz in ihren Gemeinschaften und Territorien bedeutet. Ein Beispiel ist die von den Autoren Xavier Albo und Ramiro Molina entwickelte Definition der ethnisch-linguistischen Zugehörigkeit (CEL), die die eigene Angabe der Zugehörigkeit zu einer indigenen Nation mit der dort gesprochenen Sprache und der Muttersprache der Person verbindet. Nimmt man dies als Grundlage, so identifizieren sich nur 36% der bolivianischen Bevölkerung mit ihrer indigenen Identität. Der Anteil der Personen, die angeben, einem bestimmten indigenen Volk anzugehören und auch eine indigene Sprache zu sprechen, liegt bei 36%, das sind 1.774.972 von den 4.904.161 offiziell erfassten Bolivianern über 15 Jahren. Diese Zahlen sind wichtig, wenn man den Einfluss des Gewohnheitsrechts in Bolivien und seine Anwendung, die sich in der indigenen Rechtsprechung niederschlägt, beurteilen will. Und mit großer Wahrscheinlichkeit sind es 170

Red Participación y Justicia: Mapa de servicios de justicia, La Paz 2007, S. 23 ff.

III. Der Konflikt und das indigene Gewohnheitsrecht in Bolivien

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diese Bevölkerungsteile, für die auf Gewohnheitsrecht basierende Systeme und die jeweiligen indigenen, uneinheitlichen Rechtsprechungen gelten. Zudem sollte man nicht vergessen, dass 34% derjenigen, die eine indigene Sprache sprechen, angeben, keinem indigenen Volk anzugehören. In Artikel 5 der bolivianischen Verfassung heißt es: (1) Amtssprachen sind Spanisch und alle Sprachen der indigenen Völker und Nationen: das sind Aymara, Araona, Baure, Bésiro, Canichana, Caviñeño, Cayubaba, Chácobo, Chimán, Ese Ejja, Guaraní, Guarasu’we, Guarayu, Itonama, Leco, MachajuyaiKallawaya, Machineri, Maropa, Mojeño-Trinitario, Mojeño-Ignaciano, Moré, Mosetén, Movima, Pacawara, Puquina, Quechua, Sirionó, Tacana, Tapiete, Toromona, Uru-Chipaya, Weenhayek, Yaminawa, Auki, Yuracaré und Zamuco. (2) Die „Plurinationale Regierung“ und die Regierungen des Departaments müssen mindestens zwei Amtssprachen benutzen. Eine davon muss Spanisch sein, die andere soll so gewählt werden, dass sie der Verbreitung, dem Umgang in der Praxis, den Umständen, Bedürfnissen und Prioritäten der Bevölkerung bzw. des betreffenden Territoriums Rechnung trägt. Die anderen autonomen Regierungen müssen die Sprachen ihrer Territorien verwenden; eine davon muss Spanisch sein.

Hier stellt sich bezüglich des Rechts auf Selbstbestimmung der indigenen Völker, das in den Autonomiestatuten festgeschrieben ist, die rechtliche Frage nach der nationalen Souveränität. Das Völkerecht geht bei der Behandlung dieser Thematik von der Beziehung zwischen Minderheiten und der übrigen, homogenen Bevölkerung innerhalb eines Nationalstaats aus.171 In Bolivien passen die indigenen Völker nicht in das Konzept der ethnischen Minderheit, das auf internationaler Ebene häufig dem Mehrheitsprinzip gegenübergestellt wird. Angesichts des Zahlenverhältnisses zwischen den indigenen Völkern Boliviens und der übrigen Bevölkerung können die indigenen Völker nicht als Minderheit gelten, es sei denn, man verwendet den Ausdruck „Minderheit“ von einem subjektiven Standpunkt aus und bezieht sich auf ihre eingeschränkte Teilnahme an politischen Entscheidungen und ihren begrenzten Einfluss. Zudem muss man bedenken, dass es viele indigene Völker gibt, die aus verschiedenen Regionen des Landes kommen und große Unterschiede in ihrem Gewohnheitsrecht haben. 171 Auf völkerechtlicher Ebene wird die Abgrenzung zwischen „Minderheiten“ und „indigenen Völkern“ diskutiert. Eine allgemeine anerkannte Definition von Minderheit gibt es nicht, aber es wird auf UNO-Ebene eine „Arbeitsdefinition“ verwendet. Die Sonderberichteerstatter Capotorti erstellte 1971 eine Studie über die Rechte von Personen, die ethnischen, religiösen oder linguistischen Minderheiten angehörten und unternahm einen Definitionsversuch des Begriffs „Minderheit“. Martínez Cobo wurde im selben Jahr mit einer Studie zum Problem der Diskriminierung indigener Völker beauftragt. Ausführlich dazu in Hausotter, Carola: Das Recht indigener Völker Lateinamerikas auf interne Selbstbestimmung, Baden-Baden, S. 30–32. „Die beiden Definitionen überschneiden sich hinsichtlich folgender Elemente: Der kulturellen und ethnischen Differenz, dem gemeinsamen Willen, diese Differenz zu bewahren, und schließlich der Eigenschaft als ,nicht-dominante‘ Gruppen. Minderheiten werden in diesem Zusammenhang als zahlenmäßig in der Minderheit definiert, während sich dies für indigene Völker auf das erste Merkmal ,nicht-dominant‘ beschränkt.“ Ebd., S. 31.

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2. Kap.: Rechtskultureller Hintergrund der exekutiven Normsetzung

Die Verfassungen der Andenländer – Peru, Bolivien, Kolumbien, Ecuador, und Venezuela sowie México – erkennen ausdrücklich das indigene Gewohnheitsrecht an und verweisen die Regelung des indigenen Gewohnheitsrechts an ein spezielles Ausführungsgesetz. Bislang hat jedoch kein einziges Land ein solches Gesetz verabschiedet.172 Die wesentliche normative Unterscheidung liegt in der Verwendung der Begriffe „derecho a la libre determinación“ und „derecho a la autodeterminación“. Das Recht auf „libre determinación“ (interne Selbstbestimmung) umfasst nicht das Recht auf Sezession. Das Prinzip der territorialen Integrität des Staates wird dadurch nicht in Frage gestellt. So auch die Betonung in Artikel zwei der bolivianischen Verfassung zur territorialen Einheit des Staates. Aus dem Recht auf Selbstbestimmung folgt die rechtliche Innovation der neuen bolivianischen Verfassung bei der Einführung der indigenen Gerichtsbarkeit. Es handelt sich dabei nicht nur um eine indigene Gerichtsbarkeit, wohl gemerkt, denn in Bolivien existieren über 30 indigene Völker, die wiederum unterschiedlich und auf verschiedenen Ebenen organisiert sind. Die folgenden Artikel der Verfassung stellen den verfassungsrechtlichen Rahmen für die indigene Gerichtsbarkeit dar: 172 Die Verfassung von Ecuador statuiert in Art. 191 Abs. 4: „Las autoridades de los pueblos indígenas ejercerán funciones de justicia, aplicando normas y procedimientos propios para la solución de conflictos internos en conformidad con sus costumbres o derecho consuetudinario, siempre que no sean contrarios a la Constitución y las leyes. La ley hará compatibles aquellas funciones con las del sistema judicial nacional.“ Constitución del Ecuador de 1998. Gaceta Jurídica Marzo 2000. Die Venezolanische Verfassung: Artículo 260. Las autoridades legítimas de los pueblos indígenas pueden aplicar en sus hábitat instancias de justicia basadas en sus tradiciones ancestrales, y que sólo afecten a sus propios miembros, según sus propias normas y procedimientos, siempre que no sean contrarias a esta Constitución, a la ley y al orden público. La ley determinará la forma de coordinación entre esta jurisdicción especial y el sistema judicial nacional. Constitución de Venezuela 1999, Gaceta Jurídica, Marzo 2000. Die Peruanische Verfassung: Artículo 149. Las autoridades de las Comunidades Campesinas y Nativas, con el apoyo de las Rondas Campesinas, pueden ejercer funciones jurisdiccionales dentro de su ámbito territorial en conformidad con el derecho consuetudinario, siempre que no violen los derechos fundamentales de la persona. La ley establecerá las formas de coordinación de dicha jurisdicción especial con los juzgados de Paz y con las demás instancias del Poder Judicial. Constitución del Perú 1993, Gaceta Jurídica Marzo 2000. Die Kolumbianische Verfassung über die Gerichtsbarkeit artículo 246: „Las autoridades de los pueblos indígenas podrán ejercer funciones jurisdiccionales dentro de su ámbito territorial, de conformidad con sus propias normas y procedimientos, siempre que no sean contrarias a la Constitución y a las leyes de la república. La ley establecerá las formas de coordinación de esta jurisdicción especial con el sistema jurídico nacional.“ Constitución Política de Colombia de 1991 Edición Especial La Gaceta Jurídica Marzo 2000. La Corte Constitucional sobre este artículo comenta: „El análisis de esta norma muestra los cuatro elementos centrales de la jurisdicción indígena en nuestro ordenamiento constitucional: la posibilidad de que existan autoridades judiciales propias de los pueblos indígenas, la potestad de éstos de establecer normas y procedimientos propios, la sujeción de dicha jurisdicción indígena con el sistema judicial nacional.“ Sentencia C-139 de 1999.

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Die indigene-eingeborene-bäuerliche Gerichtsbarkeit Art. 190. I. Die indigenen-eingeborenen-bäuerlichen Nationen und Völker üben ihre Gerichtsbarkeit und ihre Zuständigkeiten durch ihre Autoritäten selbst aus und wenden ihre kulturellen Werte, Prinzipien, Normen und eigenen Verfahren selbst an. II. Die indigene-eingeborene-bäuerliche Gerichtsbarkeit respektiert das Recht auf Leben, das Recht auf Verteidigung und die weiteren in dieser Verfassung vorgesehenen Rechte und Garantien. Art. 191. I. Die indigene-eingeborene-bäuerliche Gerichtsbarkeit basiert auf einer partikulären Verbindung von Personen, welche Mitglieder der Nation oder des Volkes sind, die jeweils indigen-eingeboren-bäuerlich sind. II. Die indigene-eingeborene-bäuerliche Gerichtsbarkeit wird in den folgenden persönlichen, materiellen und territorialen Geltungsbereichen ausgeübt: 1. Der Gerichtsbarkeit sind die Mitglieder dieser Nation oder das indigene-eingeborene-bäuerliche Volk unterworfen, sei es als Angeklagte oder Verklagte, als Anzeigeerstatter oder Angezeigte, als Beschwerdeführer oder Beschwerdegegner. 2. Die Gerichtsbarkeit entscheidet über indigene-eingeborene-bäuerliche Angelegenheiten gemäß dem Gesetz der Gerichtlichen Abgrenzung (Deslinde Jurisdiccional). 3. Die Gerichtsbarkeit wird auf alle Rechtsverhältnisse und rechtliche Ereignisse oder deren Effekte angewandt, welche innerhalb der Gerichtsbarkeit eines indigeneneingeborenen-bäuerlichen Volkes stattfinden. Art. 192. I. Jede öffentliche Behörde oder Person müssen die Entscheidungen der indigeneneingeborenen-bäuerlichen Gerichtsbarkeit befolgen. II. Für die Vollstreckung ihrer Entscheidung können die indigenen-eingeborenenbäuerlichen Autoritäten Unterstützung der zuständigen staatlichen Organe anfordern. III. Der Staat fördert und verstärkt die indigene-eingborene-bäuerliche Justiz. Das Gesetz der Gerichtlichen Abgrenzung bestimmt die Mechanismen der Koordinierung und Kooperation zwischen der indigenen-eingeborenen-bäuerlichen Gerichtsbarkeit mit der ordentlichen Gerichtsbarkeit, der Landesumweltgerichtsbarkeit und der anderen in dieser Verfassung anerkannten Gerichtsbarkeiten.

Problematisch ist der Inhalt Artikel 191, II (1) der bolivianischen Verfassung über den persönlichen Geltungsbereich, welcher es Mitgliedern eines inidigenen Volkes zur Pflicht macht, sich dieser Gerichtsbarkeit zu unterwerfen. Die Untersuchungen bei der Anwendung der indigenen Gerichtsbarkeit haben gezeigt, dass oft Fälle von Ungleichbehandlungen von Frauen auftreten. Artikel 191, II (2) ermöglicht die Abgrenzung des materiellen Geltungsbereichs des indigenen Rechts durch Gesetz. Ein wesentlicher Punkt in Anbetracht der Gefahren, die z. B. eine liberale strafrechtliche Regelung im Bereich der Drogenbekämpfung in sich tragen würde.

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2. Kap.: Rechtskultureller Hintergrund der exekutiven Normsetzung

Artikel 191, II (3) über den territorialen Geltungsbereich geht über ein internes Selbstbestimmungsrecht hinaus. Denn Nicht-Mitglieder eines indigenen Volkes werden gezwungen, sich der indigenen Gerichtsbarkeit zu unterwerfen, wenn sie sich in einem Stammesgebiet aufhalten und ein „rechtliches Ereignis“ stattfindet. Über die Fragen indigener Autoritäten zur Anwendung ihrer Rechtsnormen im konkreten Fall entscheidet das Plurinationale Verfassungsgericht und seine Entscheidung ist bindend. Die Zuständigkeiten werden in Art. 202 aufgelistet und die Rechtskraft in Art. 203: Art. 202. Zuständigkeiten Zusätzlich zu den in dieser Verfassung und im Gesetz vorgesehenen Zuständigkeiten entscheidet das Plurinationale Verfassungsgericht in folgenden weiteren Zuständigkeiten: 1. Als alleinige Instanz über die Verfassungswidrigkeit von Gesetzen, Autonomiestatuten, Organchartas, Dekreten und allen Arten von Satzungen und nicht gerichtlichen Beschlüssen. Wenn es sich um eine abstrakte Normenkontrolle handelt, kann diese nur der Präsident der Republik, die Senatoren oder Abgeordnete, der Gesetzgeber und die höchsten Regierungsautoritäten der Autonomen Körperschaften erheben. 2. Über Organstreitigkeiten über Zuständigkeiten zwischen Organen der Staatsgewalt, 3. Über Organstreitigkeiten über die Kompetenz zwischen der Plurinationalen Regierung und den autonomen territorialen und dezentralisierten Körperschaften und zwischen letzteren, 4. Über die Rechtsmittel gegen Steuern, Patente, modifizierte oder gestrichene Beiträge, welche nicht im Einklang mit dieser Verfassung stehen, 5. Über die Rechtsmittel gegen die Beschlüsse der legislativen Gewalt, wenn diese Beschlüsse ein oder mehrere Rechte verletzen, unabhängig welche Person betroffen ist, 6. Über die Revision der Freiheitsbeschwerde, der Verfassungsbeschwerde oder der Beschwerde zum Schutz der Privatssphäre, der Popularklage, der Durchsetzungsklage. Die Revision verhindert die mittelbare Anwendung und die Durchsetzbarkeit des Beschlusses nicht, welcher durch die Beschwerde angegangen wird. 7. Über Fragen zur Verfassungsmäßigkeit von Gesetzesentwürfen des Präsidenten der Republik, der Legislativen Versammlung, des Obersten Gerichthofes oder des Obersten Landesumweltgerichtshofes. Die Entscheidung des Verfassungsgerichts ist bindend. 8. Über die Fragen von indigenen Autoritäten über die Anwendung ihrer Rechtsnormen im konkreten Fall. Die Entscheidung des Verfassungsgerichts ist bindend. 9. Über die präventive Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit der Ratifizierung von internationalen Verträgen, 10. Über die Verfassungsmäßigkeit von Verfahren der partiellen Reform der Verfassung, 11. Über Organstreitigkeiten zwischen der indigenen-eingeborenen-bäuerlichen Gerichtsbarkeit, der ordentlichen Gerichtsbarkeit und der Landesumweltgerichtsbarkeit,

III. Der Konflikt und das indigene Gewohnheitsrecht in Bolivien

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12. Über direkte Nichtigkeitsrechtsmittel. Artikel 203. Rechtskraft. Die Entscheidungen und Urteile des Plurinationalen Verfassungsgerichts sind bindend und besitzen Rechtskraft; es gibt kein weiteres Rechtsmittel gegen sie.

Das Plurinationale Verfassungsgericht ist in seiner Zusammensetzung und durch seine Interpretationsmethode auch ein Novum dieser Verfassung. Folgende Artikel der Verfassung umfassen seine Konstituierung als bolivianisches staatliches Organ als Teil der Judikative: Art. 196. Prüfungs- und Interpretationsfunktionen I. Das Plurinationale Verfassungsgericht garantiert den Vorrang der Verfassung, übt die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit aus und sorgt für die Einhaltung der Verfassungsrechte und Verfassungsgarantien. II. Das Plurinationale Verfassungsgericht wendet, soweit es in seiner Interpretationsfunktion tätig wird, vorrangig den Willen des Verfassungsgebers an, wie er sich in dessen Dokumenten, Akten und Beschlüssen darstellt und sich in dem Wortlaut dieses Textes manifestiert. Art. 197. Zusammensetzung I. Das Plurinationale Verfassungsgericht besteht aus Richterinnen und Richtern, welche nach den Kriterien der Plurinationalität als Vertreter aus den Systemen der ordentlichen Gerichtsbarkeit und der indigenen-eingeborenen-bäuerlichen Gerichtsbarkeit gewählt werden. II. Die Reserverichterinnen und Reserverichter des Plurinationalen Verfassungsgerichts erhalten kein Gehalt und üben ihre Funktionen ausschließlich in Abwesenheit der Richterinnen und Richter oder wegen anderer in diesem Gesetz geregelter Motive aus. III. Die Zusammensetzung, Organisation und die Funktionsweise des Plurinationalen Verfassungsgerichts wird gesetzlich geregelt. Art. 198. Wahlverfahren Die Richterinnen und Richter werden direkt gewählt gemäß dem Verfahren, den Mechanismen und den Formalitäten für die Mitglieder des Obersten Gerichtshofs. Art. 199. Voraussetzungen Für das Richteramt des Plurinationalen Verfassungsgerichts ist es erforderlich, das der Kandidat oder die Kandidatin die allgemeinen Voraussetzungen für den Zugang zum öffentlichen Dienst erfüllt, älter als fünfunddreißig Jahre ist und eine Spezialisierung oder eine mehr als achtjährige bestätigte Berufserfahrung in den Fächern Verfassungsrecht, Verwaltungsrecht oder Menschenrechte aufweist. Bei dem Auswahlverfahren wird berücksichtigt, wenn die Kandidat oder der Kandidat im eigenen Justizsystem als eingeborene Autorität fungiert hat. II. Die Kandidatinnen und Kandidaten des Plurinationalen Verfassungsgerichts können von Organisationen der Zivilgesellschaft und von indigenen-eingeborenen-bäuerlichen Völkern und Nationen vorgeschlagen werden.

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2. Kap.: Rechtskultureller Hintergrund der exekutiven Normsetzung

Art. 200. Amtszeit der Richter Die Ausübung und die Beendigung der Amtszeit der Mitglieder des Plurinationalen Verfassungsgerichts richten sich nach denselben Regeln wie für die Richterinnen und Richter des Obersten Gerichtshofes. Art. 201. Inkompatibilitätsgrundsätze Die Richterinnen und Richter des Plurinationalen Verfassungsgerichts unterliegen den Inkompatibilitätsgrundsätzen, die für die Mitglieder des öffentlichen Dienstes gelten. Art. 204. Verfahren Durch Gesetz werden die Verfahren bestimmt, welche vor dem Plurinationalen Verfassungsgericht gelten werden.

Drittes Kapitel

Grundkonzeption der exekutiven Normsetzung I. Rechtsdogmatik in Bolivien In diesem Kapitel wird der Versuch unternommen, unterschiedliche Rechtssysteme zu untersuchen, um neue rechtsdogmatische Erkenntnisse für die Normkategorie der Rechtsverordnung in Bolivien zu gewinnen. Ausgangspunkt der Überlegung ist, dass die exekutive Gewalt in Bolivien konkrete Regeln benötigt, nach denen sie in ihren verschiedenen Erscheinungsformen vorgeht, um ihre Aufgabe zu erfüllen. Dabei wird zu überprüfen sein, ob die jeweiligen materiellen Regelungen mit den angemessenen formellen und prozeduralen Voraussetzungen verknüpft werden. Die Rechtsdogmatik in Bolivien gibt bis jetzt keine klare Antwort auf die Frage, welche inhaltlichen Kategorien den jeweiligen Rechtssubjekten, Rechtssetzungsverfahren und Stufen der Normenhierarchie zuzuordnen sind. Dies ist besonders relevant insofern, als der Formalismus der reinen Rechtslehre in Lateinamerika so verstanden wird, dass dem Richter wenig Handlungsspielraum gewährt wird, das Gesetz zu interpretieren.173 Der Positivismus der Rechtsprechung gehört zu einer langen Tradition der Rechtspraxis in Lateinamerika, wonach der Richter oder der Amtsträger der öffentlichen Verwaltung seine in den Gesetzen und Verordnungen festgelegten Aufgaben sehr gut kennt und die Rechtsvorschriften auf den konkreten Fall anzuwenden weiß.174 Die gleichförmige Anwendung 173 Als erhellendes Beispiel zu dem bolivianischen Verständnis des Positivismus kann Artikel 197 Abs. N. 2 des Verfassungsentwurfes dienen, von der bolivianischen Verfassungsgebenden Versammlung am 9.12.2007 in Oruro beschlossen und am selben Tage veröffentlicht: „Das pluralistische Verfassungsgericht wird, soweit es in seiner Interpretationsfunktion tätig wird vorrangig den Willen des Verfassungsgebers anwenden, wie er sich in dessen Dokumenten, Akten und Beschlüssen darstellt sowie in dem Wortlaut dieses Textes manifestiert.“ (freie Übersetzung). In diesem Fall handelt es sich sogar um die Interpretation der Verfassungsnormen. Dabei wird auf Dokumente, Akte und Beschlüsse hingewiesen, die in einer Nacht unter großem politischen Druck und angespannter Lage bei der Verabschiedung von 411 Verfassungsvorschriften zustande gekommen sind. Siehe dazu Tageszeitung „La Razón“ vom 10.12.2007. 174 Die Fassung der Verfassung von 1967, Artikel 38, beinhaltete die Regelung über den Erwerb der bolivianischen Staatsangehörigkeit lediglich für Ausländerinnen, die durch die Heirat mit Bolivianern die bolivianische Staatsangehörigkeit ihres Mannes erwerben konnten. Es fehlte die Erwägung, dass Ausländer Bolivianerinnen heiraten. Diese Konstellation ist nicht geregelt. Anstatt den in der Verfassung verankerten Gleichheitsgrundsatz anzuwenden, verlangt die Rechtsprechungsgewalt nach einer detaillier-

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3. Kap.: Grundkonzeption der exekutiven Normsetzung

des Rechts wird als sachgemäß und als Beitrag zur Rechtssicherheit empfunden. Allerdings verfügt die bolivianische Rechtsdogmatik nicht über eine klare Idee der Funktionen der exekutiven Gewalt, und sie ist erst recht nicht zu einer übergreifenden Konzeption vorgedrungen, die Grundlage einer Einordnung der jeweiligen spezifischen Tätigkeit sein könnte. Dieser Schritt von der Theorie der reinen Rechtslehre oder des Stufenbaus der Rechtsordnung zu einer Zuordnung adäquater Inhalte zur jeweiligen Stufe wird von Müller zutreffend beschrieben: „Die Differenzierung von Rechtsformen ist erst dann voll begründet, wenn diese sich nicht allein in Bezug auf Erzeugung, sondern auch in Bezug auf ihre inhaltlichen Qualitäten auseinanderhalten lassen.“ 175 Ob vereinfachte Modalitäten von Regelungen mit Gesetzeskraft wie Notverordnungen, Gesetzes-dekrete, autonome oder selbstständige Verordnungen zulässig sind, ist eine verfassungsrechtliche Frage, die in den verschiedenen Staaten außerordentlich unterschiedlich beantwortet und definiert wird. Ossenbühl stellt dazu fest: „Geschichtliche Erfahrungen, Vorverständnisse von Staat und Exekutive sowie überkommene Verfassungsprinzipien spielen für die Bewertung und Beschränkung der so genannten vereinfachten Gesetzgebung eine maßgebliche Rolle.“ 176 Selbst innerhalb der lateinamerikanischen Staaten, die eine gemeinsame vorkonstitutionelle Geschichte prägt und die eine ähnliche Rechtsentwicklung aufweisen, besteht keine Übereinstimmung. Es liegen, trotz der Verwandtschaft des Verfassungstypus (Präsidialsystem), im Grunde ganz verschiedene Verordnungsbegriffe zugrunde. Ein allgemein gültiger Begriff der Normsetzung der exekutiven Gewalt wird auch im Hinblick auf die Integrationsprozesse der Staaten Lateinamerikas nach dem derzeitigen Stand der dogmatischen Grundstrukturen der Verfassungen dieser Länder noch nicht angestrebt.177 Es gibt Verfassungen wie die bolivianische,

ten Verfassungsänderung. Der neu gefasste Artikel 38 der bolivianischen Verfassung wurde demzufolge durch die Verfassungsänderung per Gesetz 2650 vom 13. April 2004 ergänzt wie folgt: Ausländer, Frauen und Männer, welche Bolivianer oder Bolivianerinnen geheiratet haben, können die bolivianische Staatsangehörigkeit erwerben, wenn sie sich in Bolivien aufhalten und ihre Zustimmung äußern und diese nicht durch Verwitwung oder Scheidung verlieren. 175 Müller, Georg Paul: Inhalt und Formen der Rechtssetzung als Problem der demokratischen Kompetenzordnung, Basel 1979, S. 12. 176 Ossenbühl, Fritz: Gesetz und Verordnung im gegenwärtigen Staatsrecht, in: ZG (1997), S. 307. 177 Fraglich ist, ob eine allgemein gültige Definition von Verordnung für die Analyse der lateinamerikanischen Rechtsordnungen als Ausgangspunkt für den Vergleich zwingend ist. Es gibt bereits Untersuchungen, hauptsächlich aus rechtspolitischer Sicht, welche das rechtliche Phänomen der exekutiven Normsetzung verallgemeinernd in Lateinamerika mit dem Begriff „Dekretrecht“ beschrieben haben, welche aber für die rechtstheoretischen Grundlagen nicht ausreichend sind.

II. Grundkonzeption der exekutiven Normsetzung

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welche z. B. keine ausdrücklichen Bestimmungen über die Zulässigkeit gesetzlicher Verordnungsermächtigung enthalten, die in der Praxis aber zulässig sind. Die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit der Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen bzw. der Schaffung weiterer vereinfachter Modalitäten der Rechtsetzung mit Gesetzeskraft wird im Folgenden zunächst aus einem interdisziplinären Ansatz dargestellt. Allerdings ist bereits aus der rechtswissenschaftlichen Sicht darauf hinzuweisen, dass das Fehlen einer verfassungsrechtlichen Regelung für das Erlassen von gesetzlichen Verordnungsermächtigungen nur anhand grundsätzlicher Vorstellungen und Konzepte interpretiert werden kann, die Wesen und Funktion eines Gesetzes zum Gegenstand haben. Das Problem der Verordnungsermächtigung ist daher für den Gesetzesbegriff und für den Wandel grundlegender Begriffe wie Verordnungen von entscheidender Bedeutung, nicht etwa nur im Sinne eines „materiellen“ Gesetzesbegriffs, sondern für den gesamten Aufbau der Verfassung, die Rechtsquellen eines Rechtssystems sowie auch für das konkrete Verhältnis zwischen Gesetzgebung und Regierung. Denn bei der Frage der Zulässigkeit einer Ermächtigung geht es vor allem darum, ob der die Ermächtigung erteilende Gesetzgeber selbst oder eine andere Instanz, insbesondere ein nachprüfendes Gericht, über die Ermächtigung entscheiden dürfen. Das Problem betrifft also nicht so sehr normative Fragen der Auslegung einzelner Verfassungsregeln als vielmehr die Funktionen der gesamten Rechtsordnung.

II. Grundkonzeption der exekutiven Normsetzung Es ist nicht leicht, den Grenzverlauf zwischen Gesetz und Verordnung präzise zu bestimmen und in der Verfassung zu regeln. Dabei ist zu fragen, ob das Gesetz Rechtsgrundlage für den Erlass von Verordnungen ist oder diese auf originärer oder abgeleiteter Kompetenz der Exekutive beruhen.178 Ferner ist zu klären, wie der Vorrang des Gesetzes gegenüber der Verordnung, der Bereich der Verordnung in der Verfassung und die gerichtliche Kontrolle der Gesetzmäßigkeit der Verordnung behandelt werden. Die Auseinandersetzungen mit dem Grundsatz der Gewaltenteilung und seiner Ausformung in Südamerika sowie mit der Regierungsform des Präsidialsystems sind bei der Untersuchung der Grundformen exekutiver Rechtsetzung von Nutzen, um die Begrenzung der Verordnungsgewalt in der Verfassung darzustellen. Als Grundform der exekutiven Rechtsetzung wird hier das Spektrum bezeichnet, das den Grad der Bindung und Eigenständigkeit der Rechtsetzungsbefugnisse zur exekutiven Gewalt in Bezug auf das Gesetz bestimmt.179 Die theoreti178 Zum Thema originärer oder derivater Kompetenz der Exekutive siehe Müller (Anm. 175), S. 12. 179 Der Grundsatz des klassischen Gewaltentrennungsmodells ließ sich zwar mit der Ermächtigung der Exekutive durch den Gesetzgeber ursprünglich nicht vereinbaren. Als

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3. Kap.: Grundkonzeption der exekutiven Normsetzung

schen Modelle der deutschen und französischen Verfassungsstrukturen, hier als Grundformen der exekutiven Normsetzung bezeichnet, sind für die bolivianische Rechtsordnung und überhaupt für die lateinamerikanischen Verfassungen insgesamt insofern besonders wichtig, weil sie für zwei unterschiedliche rechtsdogmatische Lösungen stehen, die mit dem demokratisch-rechtsstaatlichen Formenkreis vereinbar sind. Als Beispiel für eine gebundene Grundform der Normsetzung der exekutiven Gewalt steht die Bundesrepublik Deutschland. Die Bundesregierung erlässt ihre Verordnungen auf Grund eines Gesetzes, hat aber keine selbständige Rechtssetzungsgewalt. So steht weder der Bundesregierung noch den Landesregierungen ein ähnlich breites Spektrum an unterschiedlichen Rechtsetzungsbefugnissen zur Verfügung wie z. B. in Bolivien. Die Bundesregierung wie die Landesregierungen können zum Erlass von Verordnungen im Range ordentlicher Gesetze nicht ermächtigt werden. Art. 80 Abs. 1 GG gestattet der Bundesregierung lediglich den Erlass von Rechtsverordnungen, sofern eine nach Inhalt, Zweck und Ausmaß bestimmte gesetzliche Ermächtigung erteilt wurde. Das Grundgesetz unterwirft damit die Verordnungskompetenz der Bundesregierung einem gesetzlichen Totalvorbehalt. Eine Verselbständigung der Rechtsetzung durch die Exekutive neben der ordentlichen Gesetzgebung ist damit ausgeschlossen.180 Die in Art. 80 Abs. 1 GG niedergelegte Regelung, nach der die gesetzliche Ermächtigung Inhalt, Zweck und Ausmaß vom Gesetzgeber zum Erlass von Rechtsverordnungen zu bestimmen hat, ist nicht nur eine Neuheit in der deutschen Verfassungsgeschichte181, sondern in der universalen Verfassungsgeschich-

aber sobald die Exekutive selbst zu einem demokratisch legitimierten Staatsorgan wurde, öffnete sich die Tür für die Flexibilisierung des starren Delegationsverbots. Die Möglichkeit der Delegation von Rechtsetzung auf die Exekutive ist in den meisten demokratischen Staaten unterschiedlich eingeschränkt. Siehe ausführlich dazu Sommermann, Karl-Peter: Verordnungsermächtigung und Demokratieprinzip, in: JZ 1997, S. 434 ff. 180 Daneben sieht das Grundgesetz einen stärkeren Einfluss der Exekutive im Rahmen eines besonderen Verfahrens vor, damit die Gesetzgebung auch im Falle einer Regierungskrise aufrechterhalten werden kann. Für den Fall, dass der Bundeskanzler bei einer Vertrauensfrage nicht von einer Mehrheit des Bundestages gestützt wird und eine Auflösung des Bundestages unterbleibt, kann der Bundespräsident auf Antrag der Regierung und mit Zustimmung des Bundesrates nach Maßgabe des Art. 81 GG den Gesetzgebungsnotstand für eine Gesetzesvorlage erklären. Siehe dazu Uhle, Arnd: Parlament und Rechtsverordnung, München 1999. Pegatzky, Claus: Parlament und Verordnungsgeber, Baden-Baden 1999. 181 Die Staatsrechtslehre und Verfassungspolitik in Deutschland beschäftigen sich besonders mit den Krisensituationen der Weimarer Republik und in der nationalsozialistischen Ära mit dem Verhältnis zwischen Gesetz und Verordnung. Die praktische Relevanz des Verordnungsrechts in der unmittelbaren Nachkriegszeit führte sowohl nach dem ersten als auch nach dem zweiten Weltkrieg zu einer lebhaften Auseinandersetzung mit dem Verordnungsrecht der Exekutive, die im Hinblick auf das verfassungsrechtliche Novum des Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG bis heute andauert. Siehe dazu Mößle, Wilhelm:

II. Grundkonzeption der exekutiven Normsetzung

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te allgemein. Karl-Peter Sommermann: „Vor dem Hintergrund großzügiger Delegationsmöglichkeiten in den meisten demokratischen Staaten wirken die in Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG niedergelegten Bedingungen für eine Verordnungsermächtigung relativ streng.“ 182 Dieser Grundform einer Verordnungsermächtigung entsprechen die strengen verfassungsrechtlichen Grenzen für die Verordnungsgebung, da Verordnungen in Deutschland aufgrund eines Gesetzes ergehen.183 Aber stellen die Kriterien Inhalt, Zweck und Ausmaß sichere und ausreichende Maßstäbe dar, um die Normsetzung der Exekutive zu umgrenzen? Dies ist eine relevante Frage, um diese Grundform zu untersuchen. Der Gesetzgeber soll dabei auch mit einem Entlastungseffekt rechnen können. In der französischen Verfassungsordnung manifestiert sich hingegen diejenige Grundform der exekutiven Normsetzung, die durch eigenständige Normsetzungsbefugnisse der Exekutive gekennzeichnet ist.184 Hier gibt es Regelungen für bestimmte Bereiche, die entweder per Verordnung oder per Gesetz erlassen werden können.185 Inhalt, Zweck und Ausmaß, zur Verfassungsgeschichte der Verordnungsermächtigung, Berlin 1990. 182 In Sommermann (Anm. 179), S. 435. 183 Siehe dazu Pegatzky (Anm. 180), insbesondere S. 58 ff. Zur Unterscheidung zwischen den Begriffen aufgrund und durch Gesetz in Bezug auf die Rechtsverordnungen als Formen parlamentarischer Einflussnahme auf die Rechtsetzung, ausführlich Uhle (Anm. 180), S. 13 ff. 184 Vgl. dazu Kimmel, Adolf: Gesetzgebung im politischen System Frankreichs, in: Ismayr, Wolfgang (Hrsg.), Gesetzgebung in Westeuropa, Wiesbaden 2008, S. 231 ff.; Franzke, Hans-Georg: Normsetzung und Normenkontrolle in Frankreich, in: Jura Band 20 (1998), S. 346–352. Pascual Medrano, Amelia: La Ley y el Reglamento en el derecho constitucional francés, in: Revista de Estudios Políticos 106/1999, S. 179–215. 185 Artikel 34 der französischen Verfassung listet die parlamentarischen Kompetenzen auf. Demzufolge werden folgende Materien durch Gesetz geregelt: „die bürgerlichen Rechte und die den Staatsbürgern zur Ausübung ihrer Grundrechte gewährten grundlegenden Sicherungen, die Staatsangehörigkeit, der Personenstand, die Rechtsfähigkeit, das eheliche Güterrecht sowie das Erb- und Schenkungsrecht, die Normierung von Verbrechen und Vergehen sowie die darauf stehenden Strafen, das Strafverfahren, die Amnestie, die Schaffung neuer Gerichtsbarkeiten und die Rechtsstellung der Richter und Staatsanwälte. Durch Gesetz wird nach der französischen Verfassung ferner geregelt: das Wahlrecht für die Wahl der beiden Kammern und der lokalen Versammlungen, die Schaffung neuer Arten von Anstalten des öffentlichen Rechts, die den zivilen und militärischen Beamten gewährten grundlegenden Sicherungen, die Verstaatlichung von Unternehmen und die Überführung von öffentlichen Unternehmen in Privateigentum“. Darüber hinaus bestimmt Artikel 34 der französischen Verfassung, dass das Gesetz die Grundsätze regelt für: „die allgemeine Organisation der Landesverteidigung, die Selbstverwaltung der Gebietskörperschaften, ihre Zuständigkeit und ihre Einnahmequellen, das Unterrichtswesen, das Eigentumsrecht, das Sachenrecht sowie das Schuld- und Handelsrecht, das Arbeitsrecht, das Gewerkschaftsrecht und die Sozialversicherung. Die Haushaltsgesetze bestimmen die Einnahmen und Ausgaben des Staates nach Maßgabe eines Organgesetzes und der darin festgelegten Einschränkungen.“ Deutsche Übersetzung in Bogdandy, Armin v.: Gubernative Rechtsetzung, Tübingen 2000, S. 171.

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3. Kap.: Grundkonzeption der exekutiven Normsetzung

Artikel 37 Absatz 1 der französischen Verfassung regelt: „Die Gegenstände, für die keine gesetzliche Regelung vorgesehen ist, werden auf dem Verordnungswege geregelt.“ 186 Die Verordnungsgewalt der französischen Regierung ist mit anderen Worten durch autonome Verordnungen charakterisiert, welche keiner gesetzlichen Grundlagen bedürfen.187 Dieser Artikel 37 beinhaltet demzufolge zwar keinen Vorbehalt der Verordnung, aber die Möglichkeit, dass in dem Anwendungsbereich der Regierung autonome Verordnungen erlassen werden können. Art. 41 der französischen Verfassung lautet: „Wenn sich im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens herausstellt, dass ein Gesetzesvorschlag oder ein Änderungsantrag nicht zum Bereich der Gesetzgebung gehört (. . .) so kann die Regierung sie als unzulässig zurückweisen. Im Falle einer Meinungsverschiedenheit zwischen der Regierung und dem Präsidenten der betreffenden Kammer entscheidet auf Verlangen einer der beiden Parteien innerhalb von 8 Tagen der Verfassungsrat.“ 188

Wenn der Verfassungsrat festgestellt hat, dass ein Gesetz inhaltlich Verordnungscharakter hat, dann kann die Regierung dieses Gesetz per Verordnung modifizieren. Die parlamentarische Beratung muss unterbrochen werden, wenn die Regelung, welche Gegenstand der Beratung ist, nach Ansicht der Regierung durch Rechtsverordnungen und nicht durch Gesetz erfolgen muss. Der Verfassungsrat wird von der Regierung für diese Regelung gebeten, dies zu prüfen. Die Regierung kann den Verfassungsrat a posteriori mit dem Ziel einer Entscheidung anrufen, dass eine in Gesetzesform erlassene Regelung zu einer Rechtsverordnung heruntergestuft wird, wenn sie der Auffassung ist, dass die Regelung einer Rechtsverordnung vorbehalten ist. Die Regelung kann dann durch einfache Rechtsverordnung geändert werden (Art. 37, Abs. 2 der französischen Verfassung). Art. 38 der französischen Verfassung sieht die Möglichkeit für das Parlament vor, explizit und befristet seine Rechtsetzungsbefugnis an die Regierung zu dele186

Deutsche Übersetzung ebd., S. 262. Die französische Verfassung der V. Republik vom 4. Oktober 1958 folgte dem allgemeinen Leitgedanken, eine starke, vom Parlament möglichst unabhängige Exekutive zu schaffen. Die Gründe für das Ende der IV. Republik (1945–1958) und der Übergang zur V. Republik wurden durch die Ereignisse im Bürgerkrieg Algeriens herbeigeführt und auf diese Weise ist die Verordnungsgebung aus einem spezifischen historischen Grund geprägt. General Charles de Gaulle (Regierungszeit als Staatspräsident 1959– 1969) bekam die Vollmacht von der Assemblée Nationale für sechs Monate, ein Verfassungsprojekt auszuarbeiten und vorzulegen, das durch ein Referendum vom Volk zu billigen war. Das Referendum war für de Gaulle ein persönlicher Erfolg. 79,2% votierten in Frankreich dafür, in Algerien und in den Überseeterritorien stimmten sogar 96,7% bzw. 93,5% dafür. Nur in Guinea stimmte die Mehrheit der Wahlberechtigten dagegen. Siehe dazu Hartmann, Peter Claus: Französische Verfassungsgeschichte der Neuzeit (1450–2002), Berlin 2003, S. 145 ff. 188 Deutsche Übersetzung in v. Bogdandy (Anm. 185), S. 262. 187

III. Das Verhältnis zwischen Gesetz und Verordnung

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gieren. Die Regierung übt diese Delegation durch Erlass gesetzesvertretender Rechtsverordnungen (ordonnances) aus. Dafür bedarf die Regierung einer entsprechenden Ermächtigung durch ein Gesetz, welche die Frist und den Regelungsbereich bestimmt. Die Rechtsnatur dieser gesetzesvertretenden Rechtsverordnungen bleibt die administrative Norm. Sie müssen jedoch nach ihrem Erlass durch die Regierung vom Parlament ratifiziert werden und erlangen dadurch volle Gesetzeskraft.

III. Das Verhältnis zwischen Gesetz und Verordnung Die Bundesrepublik Deutschland verfügt über ein historisch gewachsenes Rechtsquellensystem. Im Jahre 1871 führte Paul Laband (1838–1918) den sogenannten dualistischen Gesetzesbegriff in das deutsche Staatrecht ein, nämlich die Unterscheidung von formellem und materiellem Gesetzesbegriff.189 Der formelle Gesetzesbegriff bezieht sich auf die Form des Zustandekommens der Gesetze. Danach liegt ein Gesetz vor, wenn das Gesetzgebungsverfahren, das in der Verfassung vorgesehen ist, eingehalten wurde. Dem materiellen Gesetzesbegriff zufolge hingegen wird als Gesetz jeder Rechtssatz verstanden, von dem allgemeinverbindliche Wirkung ausgeht.190 Nach dem Vorrang des Gesetzes191 sind exekutive und judikative Gewalt einerseits verpflichtet, die Parlamentsgesetze anzuwenden („Anwendungsgebot“) und anderseits dürfen Exekutive und Judikative bei ihrem Handeln auch nicht gegen das Parlamentsgesetz verstoßen („Abweichnungverbot“).192 Das deutsche Grundgesetz kennt vier Rechtsquellen als Normenkategorien: die Verfassung, das förmliche Gesetz, die Rechtsverordnung und die Satzung. Diese Normkategorien werden weder auf bundes- noch auf landesverfassunsrechtlicher Ebene explizit definiert.193 Den Verwaltungsvorschriften wird nicht Rechtssatzqualität zugeschrieben, weil sie kein allgemeinverbindliches Recht erzeugen. Die föderale Struktur Deutschlands manifestiert sich noch dazu in einer eigenen Gesetzgebungsbefugnis der Länder.

189 Siehe dazu die Biographie von Paul Laband in Pauly, Walter: Laband, Paul, in: Stolleis, Michael (Hrsg.): Juristen. – München 2001, S. 374–375. Zu der Unterscheidung zwischen formellem und materiellem Gesetz siehe Laband, Paul: Deutsches Reichsstaatsrecht, das öffentliche Recht der Gegenwart, Tübingen 1919, nach dem Tode des Verfassers bearbeitet von Otto Mayer, Nachdruck der 7. Auflage, Aalen 1969, S. 129. 190 Schneider, Hans: Gesetzgebung, Heidelberg 2002, S. 23 ff. 191 Vgl. dazu Ossenbühl, Fritz: Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes, in: Isensee, Josef/Kirchhof, Paul: Handbuch Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III 1996. 192 Ebd. 193 Zur Rangordnung der Rechtsquellen Schneider, Hans (Anm. 190), S. 23 ff.

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3. Kap.: Grundkonzeption der exekutiven Normsetzung

Die Herrschaft der Verordnung (meistens in der Form von Obersten Dekreten) über das Gesetz in Bolivien resultiert aus praktischen Zwängen, die im Regelungsgegenstand liegen und die auch viele andere Länder kennen. Sie hat ihr Anwendungsfeld in staatlichen Notlagen, bei einem Versagen des parlamentarischen Entscheidungsprozesses sowie bei komplizierter und schneller Dynamik unterworfenen Regelwerken.194 Jeder demokratische Rechtsstaat muss sich damit auseinandersetzen und sollte diese vereinfachte Gesetzgebung in seiner Verfassungsrechtsordnung berücksichtigen. Diese Berücksichtigung aber geschieht für jede Verfassungsordnung je nach unterschiedlichen Traditionen und Verfassungsentwicklung in individueller und spezifischer Weise. Deutschland ist es gelungen, die erstrebte Widerspruchsfreiheit der Normkategorien und den Grundsatz des Vorrangs der Verfassung durch die Verfassungsgerichtsbarkeit abzusichern.195 Das Gesetz gilt in diesem Land als „ein zentrales Bauelement demokratischer Verfassungsstruktur“. 196 Die verfassungsrechtlichen Vorgaben bedürfen keines einfachen Gesetzes, um den Grundrechten, dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit und den Staatzielen der Verfassung unmittelbar Geltung zu verschaffen. 1. Delegation, Ermächtigung und autonome Rechtsetzung Art. 80 Abs. 1 GG gestattet der Bundesregierung lediglich den Erlass von Rechtsverordnungen, für die eine nach Inhalt, Zweck und Ausmaß bestimmte gesetzliche Ermächtigung erteilt wurde (sog. Bestimmtheitsgebot). Das Grundgesetz unterwirft damit die Verordnungsgebung der Bundesregierung einem gesetzlichen Vorbehalt. Sowohl die Erteilung als auch die Festlegung des Inhalts und Umfangs einer solchen Ermächtigung stehen prinzipiell im Ermessen des Gesetzgebers. Das Delegationsverbot des Parlamentsvorbehalts muss jedoch in seiner Funktion unversehrt bleiben.197 194 In Deutschland sind die Verordnungsproblematiken besonders im technischen Sicherheitsrecht, im Umweltrecht und im Sozialrecht zu finden. „Das gesetzliche Vakuum im Sozialrecht füllt untergesetzliche Regelwerke“ Axer, Peter: Normsetzung der Exekutive in der Sozialversicherung, Tübingen 2000, S. 2. In Bolivien bleiben die fachspezifischen Bereiche der Regulierung wie die Verstaatlichung von Gasvorkommen, Telekommunikation, Energie, Wasser usw., dogmatisch problematisch, da sie eine Expertise brauchen, die sich jeder Zeit an die Technologie anpassen muss und flexibler Rechtsetzung bedarf. Diese Sachzwänge sind keine typisch bolivianische Erscheinung, sondern allgemein in Südamerika verbreitet. 195 Nach § 47 der deutschen Verwaltungsgerichtsordnung steht dem Bürger das Recht zu, durch die abstrakte Normenkontrolle die Nichtigkeit von gesetzeswidrigen Rechtsverordnungen eines Landes vor dem Oberverwaltungsgericht geltend zu machen. 196 Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Gesetz und gesetzgebende Gewalt, 2. Aufl. 1981, S. 381. 197 So ordnet der zentrale Absatz dieses Artikels an: „Durch Gesetz können die Bundesregierung, ein Bundesminister oder die Landesregierung ermächtigt werden, Rechts-

III. Das Verhältnis zwischen Gesetz und Verordnung

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Eine Verselbständigung der Rechtssetzung durch die Exekutive neben der ordentlichen Gesetzgebung ist damit ausgeschlossen.198 Es steht weder der Bundesregierung noch den Landesregierungen ein breites Spektrum an unterschiedlichen Rechtsetzungsbefugnissen zur Verfügung. Die Bundesregierung wie die Landesregierungen können zum Erlass von Vorschriften im Range ordentlicher Gesetze nicht ermächtigt werden. Verordnungen mit Gesetzeskraft kennt das Grundgesetz nur ausnahmsweise und lediglich im Falle der ausdrücklichen grundgesetzlichen Anordnung, welche in der Verfassungssystematik in den „Übergangs- und Schlussbestimmungen“ niedergelegt sind.199 Im Verteidigungsfall geht die Gesetzgebungsbefugnis in Deutschland nicht auf ein Exekutivorgan über, sondern wird weiterhin durch das Parlament ausgeübt. Die Bundesregierung verfügt über kein eigenständiges Verordnungsrecht, weder im Ausnahmezustand noch unter normalen Umständen.200 Das Grundgesetz bindet die Rechtsetzungsbefugnisse an das Parlament. Ein – auch nur im Notfall – selbständiges Verordnungsrecht der Bundesregierung oder des Bundespräsidenten ist nicht vorgesehen. 2. Derivatives Recht Staatstheoretisch kann man entweder die Ansicht vertreten, die gewaltenteilende Verfassung, solle allein dem parlamentarischen Gesetzgeber das Recht überlassen, Gesetze zu verabschieden oder man teilt die Meinung jener Autoren, die dafür eintreten, dass die Gewaltenteilung in erster Linie eine politische Maxime sei, welche nicht zu dogmatischer Starrheit führen dürfe, weshalb die Dele-

verordnungen zu erlassen. Dabei müssen Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung im Gesetze bestimmt werden. Die Rechtsgrundlage ist in der Verordnung anzugeben. Ist durch Gesetz vorgesehen, dass eine Ermächtigung weiter übertragen werden kann, so bedarf es zur Übertragung der Ermächtigung einer Rechtsverordnung.“ 198 Daneben sieht das Grundgesetz einen stärkeren Einfluss der Exekutive nur im Rahmen eines besonderen Verfahrens vor, damit die Gesetzgebungstätigkeit auch im Falle einer Regierungskrise aufrechterhalten werden kann. Die Bildung von Präsidialregierungen, die nicht über das Vertrauen des Parlamentes verfügen, ist damit ausgeschlossen. Für den Fall, dass die Regierung nicht von einer Mehrheit des Bundestages gestützt wird und eine Auflösung des Bundestages unterbleibt, kann der Bundespräsident nach Maßgabe des Art. 81 GG den Gesetzgebungsnotstand erklären. Siehe dazu Pegatzky (Anm. 180). 199 So z. B. Art. 119 GG: In Angelegenheiten der Flüchtlinge und Vertriebenen, insbesondere zu ihrer Verteilung auf die Länder, kann bis zu einer bundesgesetzlichen Regelung die Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrates Verordnungen mit Gesetzeskraft erlassen. Für besondere Fälle kann dabei die Bundesregierung ermächtigt werden, Einzelweisungen zu erteilen. Die Weisungen sind außer bei Gefahr im Verzuge an die obersten Landesbehörden zu richten. 200 Wilke, Dieter: Artikel 109 GG und das Stabilitätsgesetz in ihrer Bedeutung für das Verordnungsrecht, in: AöR Bd. 98 (1973), S. 196 ff.

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3. Kap.: Grundkonzeption der exekutiven Normsetzung

gation grundsätzlich zu gestatten sei. Das Problem der Gesetzesdelegation wäre der zweiten Ansicht nach dem materiellen Gesetzesbegriff zu zuordnen.201 Jellinek stellt fest, dass die Exekutive im Falle der Übertragung bestimmter Aufgaben an die Regierung durch die Verfassung nicht nur zum Erlass von Verfügungen, sondern auch zum Erlass generell-abstrakter Normen zuständig ist. Dies unter den Voraussetzungen, dass die zu erfüllende Aufgabe es bedinge und dass die Rechtsordnung nicht ausdrücklich das Gegenteil vorsehe.202 Die Frage müsse nicht lauten, ob die Kompetenz vom Kongress an die Exekutive delegiert sei, sondern vielmehr, ob die Exekutive nach der Verfassung auf diesem Gebiet überhaupt eine Verordnungskompetenz habe und wie weit dieselbe reiche. Dabei stellt sich nicht die Frage nach einer Kompetenzdelegation, sondern nach einer Grenzziehung der beiden in der Verfassung enthaltenen Normierungsrechte des Kongresses und der Exekutive.203 Das praktische Problem der Delegation bzw. des unselbständigen Verordnungsrechts der Exekutive liegt weniger in der Begründung als vielmehr in der Begrenzung desselben.204 In diesem Sinne stellt sich der allgemeine Vorbehalt des Gesetzes in historischer Sicht ganz wesentlich als Kompetenzbegriff dar, von Abgrenzung der alleinigen Entscheidungsbereiche des Monarchen als dem Bereich, wo die Untertanen vor willkürlichen Rechtsetzungsakten des Monarchen geschützt werden mussten. Hinsichtlich seines Umfangs wurde der allgemeine Vorbehalt des Gesetzes zunächst vor allem durch die Formel „Freiheit und Eigentum“ bestimmt. Im neuen Verständnis dieses Grundsatzes bezieht die Lehre vom Vorbehalt des Gesetzes alle grundlegende Bereiche der Staatstätigkeit ein. Demzufolge verpflichtet die Lehre vom Vorbehalt des Gesetzes die Legislative alle „wesentlichen“ Entscheidungen selbst zu treffen und nicht der Exekutive zu überlassen. Das Bundesverfassungsgericht stützt seine danach benannte Wesentlichkeitstheorie auf das demokratische und rechtsstaatliche Prinzip.205 Die Entscheidungskompetenz des Parlamentes basiert auf der unmittelbaren Legitimation durch das Volk. Unter dem Gesichtspunkt der Gewaltenteilung ist die Funktion

201 Stellvertretend dazu García Belaunde, Domingo: Funciones legislativas del Ejecutivo moderno: el caso Peruano, in: Revista Internacional de Ciencias Administrativas, INAP-IISA,Vol. 57, 1990, S. 169–190. 202 Jellinek, Georg: Gesetz und Verordnung 1887, Neudruck Aalen 1964, S. 375. 203 Ausführlich dazu in v. Bogdandy (Anm. 185). Vgl. auch Seiler, Christian: Der einheitliche Parlamentsvorbehalt, Berlin 2000, S. 165. 204 Vgl. dazu Müller, Georg Paul: Inhalt und Formen der Rechtsetzung als Problem der demokratischen Kompetenzordnung, 1979, S. 107 ff. 205 Siehe hierzu BVerfGE 33, 125 (158 ff.); 33, 303 (346); 34, 165 (192); 40, 237 (248); 41, 251 (259); 45, 400 (417); 47, 46 (78); 49, 89 (126); 51, 268 (290); 53, 30 (56); 54, 173 (192); 56, 1 (12); 57, 295 (320); 58, 257 (268).

III. Das Verhältnis zwischen Gesetz und Verordnung

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der Rechtsetzung „dem funktionalen Kernbereich der Parlamentsaufgaben“ 206 zugeordnet, stellt sich das Rechtsstaatsprinzip als Mittel zur Abgrenzung der Kompetenzen des Parlaments einerseits und der Exekutive anderseits, dar. Nach herrschender Lehre beschränkt sich die Verfassungsinterpretation der Regelung des Art. 80 GG nicht nur auf den Vorbehalt des Gesetzes im Einklang mit der Wesentlichkeitstheorie. Dies würde sonst bedeuten, dass nur innerhalb, nicht jedoch außerhalb des Bereiches des Gesetzesvorbehaltsgrundsatzes eine gesetzliche Ermächtigung der Exekutive zum Verordnungserlass erforderlich sei. Dem entspricht eher das Modell der Staaten mit einem Präsidialsystem. Vor diesem Hintergrund ist festzuhalten, dass in Deutschland für jeden Verordnungserlass eine gesetzliche Ermächtigung erforderlich ist. Demzufolge sind gesetzesergänzende Rechtsverordnungen verfassungswidrig. 3. Verordnungsrecht und die Verordnungsarten Jellinek erklärte in seinem Werk über Gesetz und Verordnung die Grunddogmatik für das Verordnungsrecht so: „Die Verfassung selbst muss, direkt oder indirekt, der Regierung ein Verordnungsrecht einräumen. Die Gesamtheit dieser Rechtssätze normiert das verfassungsmäßige Verordnungsrecht.“ 207 Nach Jellineks Unterscheidung gibt es zwei Kategorien von Verordnungen, die ausnahmslos in allen konstitutionellen Staaten seiner rechtsvergleichenden Untersuchung von 1887 zu finden waren, die so genannten selbstständigen Verordnungen und die Ausführungs- oder Vollzugsverordnungen. „Die erste Kategorie bilden die unmittelbar auf Verfassungssätzen beruhenden Verordnungen. Diese verfassungsmäßigen Verordnungen basieren auf allgemeiner verfassungsmäßiger Berechtigung und haben kein spezielles Gesetz zu ihrer Voraussetzung.“ 208 Dagegen bedürfen Ausführungsverordnungen immer individuell bestimmter Gesetze, um wirksam zu werden. Die selbständigen Verordnungen im Anschluss an die Verfassung, wie Jellinek sie nennt, sind Verordnungen, für die der Verfassungsgeber der Exekutive direkt, d.h. unter Ausschaltung des formellen Gesetzgebers, die Kompetenz erteilt, einen Gegenstand generell und abstrakt zu regeln. Die herrschende Lehre zählt heute auch die Vollziehungsverordnungen und die Polizeinotverordnungen der Exekutive dazu. Vollziehungsverordnungen sind generelle und abstrakte Normen, die den Vollzug der nicht direkt anwendbaren formellen Gesetze ermöglichen. Sie enthalten Detailregelungen innerhalb des gesetzlichen Ermächtigungsrahmens (intra legem) und schaffen deshalb kein neues 206 207 208

BVerfGE 58, 257 (271). Jellinek (Anm. 202), S. 372. Jellinek, ebd., S. 372.

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3. Kap.: Grundkonzeption der exekutiven Normsetzung

Recht, sondern konkretisieren das formelle Gesetz. Nach neuerer und herrschender Lehre sollen sie ohne Ermächtigung des Gesetzgebers, unmittelbar gestützt auf die verfassungsmäßige Vollziehungsgewalt der Exekutive ergehen können. Von unselbständigen Verordnungen spricht man, wenn sich die verordnende Behörde auf eine Ermächtigung unterhalb der Gesetze berufen kann. Die Kompetenzbegründung erfolgt regelmäßig durch eine Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen des Gesetzgebers an die Exekutive. Es handelt sich dabei um Übertragung oder Überlassung von Rechtsetzungsbefugnissen von der Legislative an die Exekutive. Mit gesetzesvertretenden Verordnungen werden die Bestimmungen des formellen Gesetzes nicht präzisiert, sondern ergänzt. Solche Verordnungen enthalten also selbst grundlegende Regelungen. Sie schaffen Recht praeter legem. Als gesetzesvertretende Verordnungen bedürfen sie einer gesetzlichen Grundlage, welche regelmäßig mittels Gesetzesdelegation geschaffen wird. So ist der Verordnungsgeber an die Zwecksetzung des Gesetzgebers gebunden und darf selbst ergänzende Vorschriften mit neuen Rechtsgedanken aufstellen. Selbständige Verordnungen der Exekutive sind problematisch. Durch sie wird das Parlament umgangen. Dieses Überspringen einer Stufe der Kompetenzhierarchie bei der Rechtsetzung muss triftige Gründe haben und ein Ausnahmefall bleiben. Das Parlament hat ein verfassungsmäßiges Recht, Gesetze zu erlassen. Dem Präsidenten in den lateinamerikanischen Verfassungen, steht die Kompetenz zum Erlass von Ausführungsverordnungen als notwendige Aufgabe, um die Gesetze zu vollziehen, unmittelbar aus der Verfassung zu. Daraus wurde der Schluss gezogen, dass alle Ausführungsverordnungen selbständige Verordnungen seien. Das kann so nicht gelten, da die Ausführungsverordnung regelmäßig in einem bestimmten Abhängigkeitsverhältnis zum Gesetz steht. So ist festzuhalten, dass bei einer Ausführungsverordnung die Kompetenz des Präsidenten zum Erlass der Verordnung selbständig, der Inhalt der Verordnung aber unselbständig und vom Gesetz unabhängig ist.

IV. Das Präsidialsystem und die duale Legitimation Der Einfluss der nordamerikanischen Verfassung auf den lateinamerikanischen Konstitutionalismus wurde bei der Entstehung der Republiken in Lateinamerika und durch ihre Verfassungsschöpfer209 deutlich. Die liberalen Ideen aus der Gründungsverfassung der Vereinigten Staaten (1787) wurde in den Verfassungen

209 So in Argentinien der Verfassungsschöpfer Juan Bautista Alberdi, für Bolivien, Peru, Kolumbien der Verfassungsschöpfer Simón Bolívar, für Mexico Ignacio Vallarta.

IV. Das Präsidialsystem und die duale Legitimation

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Lateinamerikas rezipiert. Die Ära des globalen „Transfers“ 210 juristischer Standards zeichnete sich früh in den Verfassungen der neu gegründeten Staaten ab.211 Dazu gehören auch das Regierungssystem der Präsidialdemokratie mit einem machtvollen Präsidenten an der Spitze der Exekutive, einer trennscharfen Verteilung der Zuständigkeiten und Machtbefugnisse zwischen dem Präsidenten als Kopf der Exekutive und der Legislative und schließlich eine starke unabhängige Judikative. Das US-amerikanische Regierungssystem gilt als Prototyp des Präsidialsystems und ist mit einem Wahlsystem ausgestaltet, bei dem zwei starke Parteien die Machtverhältnisse zwischen Legislative und Exekutive ausbalancieren. Dies kann im 21. Jahrhundert jedoch nur bedingt als geeigneter Maßstab für die Beurteilung der lateinamerikanischen Präsidialdemokratien212 verwendet werden. Denn die ausgesprochene Stärke des nordamerikanischen Kongresses im Gesetzgebungsprozess, die strikte Gewaltentrennung und der ausgeprägte Föderalismus sind nicht typisch für alle lateinamerikanischen Präsidialsysteme.213 In Lateinamerika haben die Präsidialdemokratien Mehrparteiensysteme hervorgebracht. Dies allerdings gilt für manche Autoren als Schwachstelle der Präsidialsysteme.214

210 Der Begriff Transfer bezieht sich sowohl auf Rechtsvorschriften wie auch auf Rechtsideen und Konzepte; dazu Seckelmann, Margrit: „Good governance“ Importe und Re-Importe, in: Duss, Vanessa et al. (Hrsg.), Rechtstransfer in der Geschichte: Legal transfer in history, München 2006. 211 Die Juristen der ersten Kodifikationszeit in Lateinamerika waren Velez Sarsfield in Argentinien, in Chile Andres Bello, in Bolivien Pantaleon Dalence, Ignacio Vallarta in Mexico, in Brasilien Teixeira de Freitas, Clóvis Bevilaqua und Rui Barbosa. Vgl. dazu Paul, Wolf: Kurzbiographien von Alberdi, Barbosa, Bello Bevilaqua, Teixeira de Freitas, Velez Sarsfield u. a., in: Stolleis (Hrsg.), Juristen. Ein biographisches Lexikon, München 2001. 212 Näheres zu den Unterschieden zwischen der US-amerikanischen und lateinamerikanischen Präsidialsystemen siehe Cox, Gary W./Morgenstern, Scott: American’s Reactive Assemblies and Proactive Presidents, in: Morgenstern, Scott/Nacif, Benito (Hrsg.), Legislative Politics in Latin America, Cambridge, 2002, S. 446 ff. 213 Nur vier der lateinamerikanischen Präsidialsysteme sind föderale Systeme: Argentinien, Brasilien, Mexiko und Venezuela. Deren föderale Elemente sind jeweils sehr unterschiedlich ausgeprägt und reichen in keinem Fall an die Stärke der föderalen Strukturen in den USA heran. Vgl dazu Fernández Segado, Francisco: El federalismo en América Latina, in: VRÜ, Band 36 (2003), S. 23–48; Frías, Pedro: El federalismo argentino (1950–1975). Evolución de la organización politico-constitucional en América Latina, México 1979, S. 427–448; Carpizo, Jorge: Federalismo en Latinoamérica, México 1973. 214 Autoren wie Mainwaring haben in dem Mehrparteiensystem geradezu die „Achillesferse“ der Präsidialsysteme gesehen, denn es entsteht das Risiko, dass im Parlament keine kongruenten Mehrheiten für die Politik der Exekutive bzw. für eine staatliche Politik seitens der Exekutiven oder der Legislativen Gewalt erreicht werden können. Siehe dazu Mainwaring, Scott/Shugart, Matthew (Hrsg.): Presidentialism and Democracy in Latin America, Cambridge 1997.

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3. Kap.: Grundkonzeption der exekutiven Normsetzung

Die Frage, ob Konflikte zwischen Exekutive und Legislative, die durch unterschiedliche Mehrheiten in Exekutive und Legislative begünstigt werden, wirklich die politischen Systeme belasten und inwieweit das Regierungssystem des Präsidentialismus Ursache für die politische Instabilität in Staaten ist, wird immer wieder gestellt.215 Auch die Frage, ob die Präsidialdemokratie im Vergleich zur parlamentarischen Demokratie rigider bzw. weniger flexibel ist, muss für jedes lateinamerikanische Land getrennt und unterschiedlich beantwortet werden. Diese theoretischen Auseinandersetzungen sind zum Teil für das Verhältnis zwischen Gesetz und Verordnung von Relevanz. In den europäischen Ländern haben parlamentarische Systeme eine lange Tradition. Die Bundesrepublik Deutschland hat seit dem Grundgesetz von 1949 ein parlamentarisches System, das als Modell für stabile politische Verhältnisse steht. Spanien zeigt andere spezifische Merkmale durch seine parlamentarische Monarchie. Weiterhin repräsentiert Frankreich eine besondere Regierungsform, den so genannten Semipräsidentialismus.216 Eines der wichtigsten Kriterien, um ein parlamentarisches System von einem Präsidialsystem zu unterscheiden, ist die Möglichkeit der Regierung durch das Parlament abzuberufen. Alle Regierungssysteme, deren Parlamente über eine solche Möglichkeit verfügen, gehören zum Grundtyp des „parlamentarischen Regierungssystems“. Alle anderen Systeme bilden den Grundtyp des „Präsidialsystems“.217 Das parlamentarische Misstrauensvotum ist mithin ein Erkennungszeichnen des parlamentarischen Systems. Oft wird die Frage gestellt, ob die Sonderkategorie der „semipräsidentiellen Systeme“ 218 auf einen möglichen Wechsel zu einem parlamentarischen System in Lateinamerika hindeutet. Das Hauptproblem der präsidentiellen Demokratie ist, 215 Dies wurde bereits in den 80er und 90er Jahren im Hinblick auf die Vorteile und Nachteile des Präsidialsystems und des Parlamentarischen Systems diskutiert. Vgl. dazu Linz, Juan: Presidential or Parliamentary Democracy: Does it Make a Difference? in: Linz, Juan/Valenzuela, Arturo (Hrsg.), 1994: The Failure of Presidential Democracy, 2 Bde., Baltimor/London 1994, S. 3–87. Nino, Carlos Santiago et al.: El presidencialismo puesto a prueba, Madrid 1992; Nohlen, Dieter/Fernández, Mario (Hrsg.): Presidencialismo versus parlamentarismo, América Latina, Caracas 1991. 216 Die Verfassung der V. Republik vom 4. Oktober 1958 lässt sich nicht genau einem bestimmten Regierungstypus zuordnen. Sie weist eine sehr starke Tendenz zum Präsidialsystem auf, behält andererseits aber wesentliche Züge des parlamentarischen Regimes bei (insbesondere die Regierungsverantwortlichkeit gegenüber dem Parlament). Der allgemeine Leitgedanke der französischen Verfassung war, die Parlamentssouveränität aufzuheben und eine starke, vom Parlament möglichst unabhängige Exekutive zu schaffen. 217 Siehe dazu Steffani, Winfried/Skatch, Cindy: Semi-Präsidentialismus: ein eigener Systemtyp? Zur Unterscheidung von Legislative und Parlament, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 1995, S. 631. 218 Nach Sartori: „un sistema político es semipresidencial si se aplican conjuntamente las siguientes características: a) El jefe de Estado (el presidente) es elegido por el voto popular – yasea directa o indirectamente – para un periódo predeterminado en el cargo. b) El jefe de Estado comparte el poder Ejecutivo con un primer ministro“ in Sartori, Giovanni: Ingenieria constitucional comparada, Mexiko 1994, S. 148–149.

IV. Das Präsidialsystem und die duale Legitimation

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dass die Regierung eine parlamentarische Mehrheit nicht abzusichern vermag und dies dazu führen könnte, dass eine wechselseitige Blockade zwischen Präsident (Exekutive) und Kongress (Legislative) oder sogar eine politische „PattSituation“ aufgrund nicht kongruenter Mehrheiten entsteht. Der von Löwenstein eingeführte Begriff „Neopräsidentialismus“ bezeichnet „ein politisches Regime, in welchem durch bestimmte verfassungsmäßige Einrichtungen der Regierungschef – der Präsident – an politischer Macht allen anderen Staatsorganen überlegen ist“. 219 Löwenstein äußerte sich in seiner 1975 neu ausgearbeiteten dritten Auflage der Verfassungslehre kritisch gegenüber der Rolle eines starken Präsidenten, die sich vom Präsidialsystem der Vereinigten Staaten deutlich distanziert. Anlass dazu gab die Entwicklung des französischen Regierungssystems der V. Republik, das sich für erweiterte Befugnisse des Präsidenten entschieden hat.220 Darüber hinaus stellte Löwenstein fest, dass die Form des „Neopräsidentialismus“ besonders in der Verfassungswirklichkeit Lateinamerikas zu finden ist. Nach der Einteilung von Löwenstein hinsichtlich der Übereinstimmung von Verfassungstheorie und Verfassungswirklichkeit gibt es drei Kategorien von Verfassungen, nämlich normative, nominalistische und semantische Verfassungen.221 Der Typ der normativen Verfassung ist durch weitgehende Übereinstimmung von politischem Prozess und Verfassungsnormen gekennzeichnet. Die nominalistische Verfassung hat eine erzieherische Funktion und bezeichnet das „Hineinwachsen“ in die Verfassungsnormen. Die semantische Verfassung ist durch die Funktion der Verfassung als Maskerade autoritärer Regierungsweise charakterisiert.222 Die politikwissenschaftliche Debatte über das Regierungssystem und seine Bedeutung für die Entfaltung der Demokratie liefert eine klare Grundlage für die wissenschaftliche Diskussion über die Grundformen der Rechtsverordnungen. Entweder verwendet man das US-Präsidialsystem als Maßstab für die lateinamerikanischen Rechtssysteme und nimmt die daraus entstandenen Variationen als Stufen in Richtung des Kernmodells. Oder man versteht das US-Präsidialsystem und die parlamentarischen Systeme in Europa als analytische Einheiten, bei de219

Löwenstein, Karl: Verfassungslehre, Tübingen 1975, S. 62. Vgl. Hartmann (Anm. 187), S. 146 ff. 221 Vgl. Löwenstein (Anm. 219), S. 152–153. 222 Die gesellschaftlichen Strukturen der lateinamerikanischen Staaten wurden für die Analyse des Regierungssystems von Löwenstein berücksichtigt. Er prognostizierte im Jahre 1975, dass die Lösung für die Etablierung eines Präsidentialismus in den verantwortlichen Eliten dieser Staaten lag. Der brasilianische Autor Marcelo Neves setzte sich mit dieser Prognose auseinander. Er beschreibt die lateinamerikanische Verfassungsgeschichte wie eine Pendelbeziehung zwischen Autokratismus und Demokratisierung in der Form jeweils semantischer und nomineler Verfassungen im Sinne von Karl Löwenstein. Dabei wird der Strukturwandel nach seiner Auffassung nur durch soziale Bewegungen in Lateinamerika einsetzen können. Neves, Marcelo: Präsidentialismus in Lateinamerika und Karl Loewenstein, in: Staatsverständnisse 2007, S. 193. 220

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3. Kap.: Grundkonzeption der exekutiven Normsetzung

nen jeder Staat einen eigenen Typus bildet und aus denen sich Kriterien ableiten lassen, die dadurch einen Vergleich ermöglichen. Der Übergang von einem Präsidialsystem zu einem parlamentarischen System könnte für eine funktionierende Regierung Abhilfe in Bezug auf einen politischen Konsens schaffen, aber ohne Veränderung der Regierungsstruktur und der entsprechenden Führungs- und technischen Kapazitäten ist eine tief greifende Verbesserung der Bewältigung der anwachsenden öffentlichen Aufgaben nicht denkbar. Als Kern derartiger „semipräsidentieller Systeme“ gilt die Existenz einer „dualen Exekutive“, bestehend aus Präsident und einem Premierminister (Kabinettschef),223 mit der die Macht des Präsidenten eingeschränkt werden soll. Es ist jedoch festzustellen, dass es sich immer noch um ein Präsidialsystem handelt, wenn dem Präsident die Kompetenz weiterhin beigemessen wird, den Premierminister oder Kabinettschef zu berufen und zu entlassen. Nur wenn die Parlamentsmehrheit die Kompetenz hat, den Premierminister abzuberufen, handelt es sich eindeutig um eine parlamentarische Demokratie. Dabei muss dies unabhängig vom Willen des Präsidenten geschehen können. Die duale Legitimation der direkten Wahl von Parlament und Präsident für eine feste Amtsperiode kann in manchen lateinamerikanischen Ländern auch als Merkmal gelten, um Konvergenzen und Differenzen innerhalb der Präsidialsysteme in Lateinamerika zu finden. Diese duale Legitimation, wonach sich nicht nur das Parlament, sondern auch der Präsident auf eine Legitimation durch direkte Wahlen berufen kann, wird als Schwäche der Präsidialdemokratie empfunden, da bei Konflikten zwischen Präsident und einer oppositionellen Parlamentsmehrheit kein Entscheidungsmechanismus demokratischer Natur vorgesehen ist. Denn weder kann das Parlament den Präsidenten durch ein Misstrauensvotum stürzen, noch kann dieser das Parlament auflösen oder mit dessen Auflösung drohen. Aus einem anderen Blickwinkel kann das von Linz und anderen Autoren beklagte Prinzip der „dualen Legitimation“ und die ihm innewohnende Möglichkeit 223 So wurde in Argentinien durch die Verfassungsreform von 1994 das Amt eines Kabinettschefs (Jefe de Gabinete de Ministros) geschaffen. In der peruanischen Verfassung von 1993 wurde das Amt des Kabinettschefs (Presidente del Consejo de Ministros) beibehalten, teilweise sogar gestärkt, ohne dass dadurch die Macht des Präsidenten eingeschränkt wurde (Art. 122). Die Verfassung von 1993 stellt eine doppelte Abhängigkeit des Kabinetts vom Präsidenten und vom Kongress her. Dies ist eine der wesentlichen Neuerungen und ein Novum in der peruanischen Verfassungsgeschichte überhaupt. So muss ein neu ernannter Kabinettschef innerhalb von 30 Tagen nach Amtsantritt dem Parlament ein Regierungsprogramm vorlegen und die Vertrauensfrage (cuestión de confianza) stellen. Das Kabinett muss zurücktreten, falls er diese verlieren sollte. Genauso hat der Kabinettschef das Recht, gegenüber dem Kongress die Vertrauensfrage zu stellen. Sollte der Kongress zweimal hintereinander dem Kabinett das Misstrauen aussprechen, darf der Präsident das Parlament auflösen und Neuwahlen ausschreiben (außer in seinem letzten Amtsjahr).

IV. Das Präsidialsystem und die duale Legitimation

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einer Regierung ohne parlamentarische Mehrheit sogar positiv bewertet werden. Denn die Volkswahl des Parlaments und des Präsidenten ermöglicht es dem Wähler im Interesse einer freiheitssichernden Gewaltenteilung bzw. Gewaltenhemmung jeweils unterschiedlichen politischen Tendenzen bei den Präsidentschaftswahlen und bei den Parlamentswahlen den Vorzug zu geben, um auf diese Weise sicherzustellen, dass keiner der beiden Akteure sich voll durchsetzt. 1. Das Gewaltenteilungsprinzip in Lateinamerika Kein Verfassungsstaat ohne Gewaltenteilung224; diese politische Idee der Gewaltenteilung wird weltweit anerkannt und ist Kern der rechtsstaatlichen Verfassungsstruktur. Das aber bedeutet nicht, dass sie überall gleich gesehen und gleich aufgenommen würde. Im Gegenteil: sie verkörpert sich jeweils unterschiedlich, je nach Raum, Zeit, besonderen Gegebenheiten und Bedürfnissen. Ob der sozialistische Staat durch das Fehlen einer gewaltenteiligen Struktur einen totalitären Charakter bekommt und als eine Alternative zur Gewaltenteilung betrachtet werden kann, ist fraglich.225 Das Prinzip der organisatorischen Gewaltenteilung verlangt, dass die drei Staatsfunktionen auf verschiedene, voneinander unabhängige Staatsorgane übertragen werden. Was versteht man unter dem Prinzip der Gewaltenteilung? Die politikwissenschaftlichen Analysen betrachten das Thema der Gewaltenteilung unter mehreren Gesichtspunkten.226 So nimmt die Idee der Gewaltenteilung von Land zu Land andere Gestalt an. Sie tritt in Frankreich anders in Erscheinung als in England, in den Vereinigten Staaten von Amerika227 anders als in Japan. Daher drängt sich 224 „Aus der Entstehung des Verfassungsstaates im Kampf gegen den monarchischen Absolutismus, der in den einzelnen Ländern verschieden ausgeprägt war, folgt die Betonung des Freiheitsschutzes durch Gewaltenteilung und Garantie der Rechte, die beide in Art. 16 der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 als Voraussetzung jeder Verfassung bezeichnet werden.“ Starck, Christian: Der demokratische Verfassungsstaat: Gestalt, Grundlagen, Gefährdungen, Tübingen 1995, S. 2, und weiter vgl. dazu Stern, K.: Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band II, München 1980, S. 530 f. 225 Starck: „Die auf dem Denken von Marx und Lenin beruhende sozialistische Staatsidee widerspricht der Idee des demokratischen Verfassungsstaates diametral.“ Starck (Anm. 224), S. 4. 226 Eine ausführliche Analyse zum Thema Gewaltenteilung und eine aktuelle Publikationsliste findet sich bei Kropp, Sabine/Lauth, Hans-Joachim: Einleitung: Zur Aktualität der Gewaltenteilung. Überlegungen zu einem bleibenden Thema, in: Kropp, Sabine/Lauth, Hans-Joachim (Hrsg.): Gewaltenteilung und Demokratie, Baden-Baden 2007, S. 7–27. 227 Unter dem Begriff der Gewaltenhemmung versteht man die gegenseitige Kontrolle der Staatsorgane im Sinne der US-amerikanischen „Checks and Balances“. Siehe dazu Brugger, Winfried: Der moderne Verfassungsstaat aus Sicht der amerikanischen Verfassung und des Grundgesetzes, Bd. 126 AöR (2001), S. 337–402. Speziell zu der Verordnungsgebung in den Vereinigten Staaten, siehe: Pünder, Hermann: Exekutive

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3. Kap.: Grundkonzeption der exekutiven Normsetzung

geradezu der Gedanke auf, das Thema der Gewaltenteilung in Lateinamerika im Verfassungsvergleich zu behandeln.228 Der Gedanke der Gewaltenteilung als Bestandteil einer Verfassungsordnung lässt sich bis in die Antike zurückverfolgen. Mit einer in der Verfassung angelegten Gewaltenteilung soll der Konzentration staatlicher Gewalt und damit einem Missbrauch von Herrschaftsbefugnissen entgegengewirkt werden. Die gegenseitige Beschränkung und Kontrolle staatlicher Gewalten soll die Freiheit der Bürger vor uneingeschränkter und unkontrollierbarer Machtausübung schützen.229 In der Neuzeit hat das vor allem von Locke230 und Montesquieu231 begründete Gewaltenteilungsprinzip in eher strenger Form nur Eingang in die frühen Verfassungen des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts gefunden. Die Lehre Montesquieus von der Gewaltenteilung wird als eine umfassende Ordnungsidee verstanden. Kern dieser Idee ist die Mäßigung der Macht des Staates und der Macht im Staat, so dass Machtmissbräuche vermieden und die Freiheit des Individuums und der Sozialgruppen, die der Macht und Organisationsgewalt des Staates unterliegen, sichergestellt wird. Die Staatsgewalt soll nicht von einem einzigen Entscheidungszentrum, bei dem alle staatlichen Tätigkeitsbefugnisse konzentriert sind, ausgeübt, sondern soll vielmehr gegliedert und aufgeteilt werden. Die drei Staatsgewalten stehen nicht isoliert nebeneinander, sondern sind aufeinander abgestimmt und treten in der täglichen politischen Arbeit in Beziehung zueinander. Durch ihr Zusammenwirken sollen sie sich gegenseitig kontrollieren. Das Prinzip der personellen oder subjektiven Gewaltenteilung verlangt, dass die drei verschiedenen Staatsorgane auf verschiedene Organträger verteilt werden. Eine Person soll nur einem der drei klassischen Staatsorgane angehören. Um dieses Prinzip verwirklichen zu können, werden Verfassungsartikel erlassen, welche diese Unvereinbarkeit ausdrücklich bestimmen. Unter funktioneller GewalNormsetzung in den Vereinigten Staaten von Amerika und der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1995. 228 Vgl. dazu Nolte, Detlef: Gewaltenteilung und Gewaltenverschränkung in lateinamerikanischen Präsidialdemokratien: alte und neue Forschungsthemen, in: Kropp, Sabine/Lauth, Hans-Joachim (Hrsg.): Gewaltenteilung und Demokratie, Baden-Baden 2007, S. 213–236. 229 Sommermann hebt bei der Beschreibung des Gewaltenteilungsprinzips vor allem dessen Zweck hervor, die Freiheit des Bürgers zu garantieren und ihn vor behördlicher Willkür zu schützen. Der Aspekt der Machtbeschränkung steht im Vordergrund, Sommermann, Karl-Peter: Kommentar zum Artikel 20, in: Starck, Christian: Das Bonner Grundgesetz, München 2000, 90–103. 230 Locke, John: The Second Treatise of Government, cap. XII (1689), zitiert nach der deutschen Ausgabe: Zwei Abhandlungen über die Regierung, Frankfurt 1967. 231 Montesquieu, Charles de: De l’esprit des lois, Paris 1748, Liv. XI. Chap. 6, zitiert nach der deutschen Ausgabe (Übersetzung von Kurt Weingand): vom Geist der Gesetze, Stuttgart 1965, S. 212 ff.

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tenteilung versteht man die Verteilung der staatlichen Kernfunktionen (Rechtsetzung, Rechtsanwendung und Rechtsprechung) auf verschiedene Staatsorgane. In einer funktionellen Gewaltenteilung wäre für die Begründung einer Verordnungskompetenz die Rechtsfigur der Delegation durch das Parlament notwendig. Es besteht eine enge Verknüpfung zwischen Rechtssetzungsfunktion und dem Gewaltenteilungsdogma. Der lateinamerikanische gewaltenteilende Konstitutionalismus wurde seit der Gründung der Republiken fest in den ersten Verfassungen verankert, zumindest auf einer theoretischen Ebene. Aber der Grundsatz der Gewaltenteilung ist standortgebunden und jeweils nach der Verfassungswirklichkeit zu beurteilen und nicht umgekehrt. Ein Dogma entsteht mit einem Grundgedanken, welcher es durch seine Beständigkeit schützt. Der Grundsatz der Gewaltenteilung steht im Dienste der freien Gemeinschaft und freier Menschen. Er lässt sich von Beginn in die Rechtsfigur der Delegation durch das Parlament in zwei deutliche Positionen oder Tendenzen der Gewaltenteilungslehre in Lateinamerika einteilen. Die staatliche Gewalt wird als Einheit verstanden, deren Ausübung sich lediglich trennen kann. Die Verfassungen von Mexiko und Venezuela folgen dieser Idee. Außerdem wurde die Bezeichnung „Verfassungsorgane“ in Lateinamerika mit der Einführung der Verfassungsgerichte in den Andenländern eingeführt. Dadurch wurde das starre Gewaltenteilungsdogma aufgelockert. Bei der Bezeichnung „Gewalten“ liegt die Betonung eher in der institutionellen Abgrenzung. Dieser Tradition folgen weiterhin Brasilien und Argentinien. Als erhellendes Beispiel dient der Wechsel von der Bezeichnung der exekutiven Gewalt in der vorherigen Verfassung Boliviens zu einem exekutiven Organ in der neuen Verfassung.232 Fraglich bleibt weiterhin, ob diese neuen Verfassungsorgane oder Akteure mit den jeweiligen Funktionen tatsächlich selbst kontrollieren können. 2. Gesetzgebungsverfahren und Verordnungsgebung Zwar sind alle südamerikanischen Staaten dem Strukturtypus Präsidialsystem und Demokratie zuzurechnen. Jedoch hängen das Verständnis von Gesetzgebung, Verordnungsgebung und die Bedeutung des Gesetzgebungsprozesses von den 232 Vgl. dazu Biscaretti di Ruffia, Paolo: Introducción al Derecho constitucional Comparado, México 1996, S. 2 ff. Colomer Viadel, Antonio: Introducción al constitucionalismo iberoamericano, Madrid 1989; vgl. auch dazu Palomino Manchego, José (Hrsg.): Modernas Tendencias del Derecho en América Latina, Lima 1997. Für den Fall Argentinien siehe dazu Bidart Campos, Germán: Tratado Elemental de Derecho Constitucional argentino Tomo II, Buenos Aires 1993, S. 23 ff.; für Bolivien Gironda Cabrera, Eusebio: División de poderes: una ilusión democrática in Perfiles Liberales, Bogota 1994, S. 40 ff. Eine hervoragende Zusammenfassung über die Revolutionären Gedanken in América Latina und die Gewaltenteilung in Brewer Carías, Allan: Instituciones políticas y constitucionales, Caracas 1985, S. 93–104.

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3. Kap.: Grundkonzeption der exekutiven Normsetzung

konkreten Ausprägungen des politischen Systems und der politischen Kultur des jeweiligen Landes ab. Dabei gibt es hinsichtlich der verfassungsrechtlichen und politischen Rahmenbedingungen nicht nur grundlegende Konvergenzen, sondern auch bedeutende Divergenzen, die sich auf den Gesetzgebungsprozess sowie auf die Funktion der Gesetze auswirken. Die aktuellen politikwissenschaftlichen Studien über das Thema Gewaltenteilung in Lateinamerika sind sich darüber einig, dass zentral für das verfassungsrechtliche Kräfteverhältnis zwischen Präsident und Parlament die Kompetenzverteilung im Gesetzgebungsverfahren ist. Dafür haben sie Fachausdrücke entwickelt, wie proaktive und reaktive Kompetenzen233 aus der Sicht der exekutiven Gewalt. Andere Fachausdrücke wie Gestaltungs- und Verhinderungsmacht beziehen sich auf die Kompetenzen des Parlaments.234 Diese Klassifizierungen ermöglichen eine ausführliche detaillierte vergleichende Analyse der Kompetenzen der Präsidenten und des Kongresses in lateinamerikanischen Staaten, aber nur aus der funktionalen Sicht, bei der lediglich die Rechtswirklichkeit dargestellt wird. Denn aus einer rechtwissenschaftlichen Perspektive, d.h. einer Analyse der rechtsdogmatischen Kategorie, ist die Aufteilung in proaktive und reaktive Kompetenzen des Gesetzgebungsverfahrens wenig aufschlussreich. Ausgehend von dieser Kompetenzverteilung im Gesetzgebungsverfahren zwischen Präsident und Parlament wurde eine Art Rangordnung der lateinamerikanischen Verfassungen geschaffen.235 Nach den Kriterien der so genannten Dekretkompetenz, Vetorechts und der exklusiven Gesetzgebungsinitiative des Präsidenten verfügen Argentinien, Brasilien, Chile, Ecuador, Kolumbien und Peru über Verfassungen, die dem Präsidenten im Verhältnis zum Parlament eine sehr starke Stellung einräumen. Die Verfassungen Boliviens, Mexikos, Paraguays, Uruguays und Venezuelas räumen den Präsidenten demgegenüber geringere Kompetenzen ein. Dies gilt auch für die Verfassungen in den zentralamerikanischen Staaten. 233 Die legislativen Kompetenzen des Präsidenten lassen sich ihrerseits im Hinblick auf den gesetzgeberischen Status quo in „reaktive“ (reactive powers), d.h. diesen gegenüber Entscheidungen und Initiativen des Parlaments verteidigend, und „proaktiven“ Kompetenzen (proactive powers) aufteilen, mit denen die Präsidenten die gesetzgeberische Initiative übernehmen und die Reaktionsmöglichkeiten des Parlaments konditionieren können. Vgl. Carey, John/Shugart, Matthew: Executive Decree Authority, Cambridge 1998, S. 41–48. Zu ersteren gehört das exklusive Recht der Gesetzesinitiative des Präsidenten zu bestimmten Gesetzesmaterien (meistens bei Haushaltsangelegenheiten oder Gesetzen, die die Staatsausgaben betreffen). Die wichtigste reaktive Kompetenz ist jedoch das Veto des Staatspräsidenten gegenüber Entscheidungen des Parlaments im Gesetzgebungsprozess. 234 Krumwiede, Heinrich/Nolte, Detlef: Die Rolle der Parlamente in den Präsidialdemokratien Lateinamerikas, Beiträge zur Lateinamerika-Forschung (4), 2000, S. 54. 235 Siehe dazu Carey, John/Shugart, Matthew S.: Executive Decree Authority, Cambridge 1998; Mainwaring, Scott/Shugart, Matthew (Hrsg.): Presidentialism and Democracy in Latin America, Cambridge 1998, S. 49; Krumwiede/Nolte (Anm. 234), S. 77.

IV. Das Präsidialsystem und die duale Legitimation

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Der Begriff „Dekretrecht“ und die Unterscheidung zwischen gesetzgeberischen und nichtgesetzgeberischen Kompetenzen werden aber dabei vage verwendet.236 Die legislativen Kompetenzen der exekutiven Gewalt werden zum Teil einfach aus der Praxis reflektiert und nicht als verfassungsrechtlicher Ausnahmefall behandelt. Es ist festzustellen, dass in vielen lateinamerikanischen Ländern die Verordnungskompetenzen der exekutiven Gewalt zu selten aus einem rechtwissenschaftlichen Winkel untersucht wurden. Manche lateinamerikanischen Rechtsordnungen eröffnen der exekutiven Gewalt ein breites Spektrum an Rechtsetzungsbefugnissen. Die weitreichende Inanspruchnahme von Rechtsetzungskompetenzen durch die Exekutive ist zwar stets auch Gegenstand der Kritik gewesen, aber ausgeprägte Zweifel an der Rechtmäßigkeit dieser Befugnisse lassen sich anders interpretieren und historisch zurückverfolgen als in Europa. Bei der Analyse der Machtverteilung zwischen Präsident und Kongress ist grundsätzlich zwischen den verfassungsrechtlichen Kompetenzen und der parteipolitischen Kräftekonstellation zu unterscheiden. Ein nach der Verfassung starker Präsident, dessen Partei im Kongress in der Minderheit ist oder sich von der Politik des Präsidenten distanziert, ist in der Praxis möglicherweise schwächer als ein Präsident mit geringeren Kompetenzen, der aber eine kohärente Parlamentsmehrheit (seiner Partei oder einer Koalition) hinter sich weiß.237 Während der US-Präsident selbst keine Gesetze in den Kongress einbringen kann, gehen in Lateinamerika die meisten Gesetze auf Gesetzesinitiativen der Exekutive zurück. Viele lateinamerikanische Präsidenten können nach der Verfassung direkt auf den Gesetzgebungsprozess im Parlament einwirken, um diesen gegebenenfalls zu beschleunigen. Während im US-amerikanischen System das Parlament keinerlei Sanktionsinstrumente gegenüber den Ministern hat, können

236 Shugart, Matthew Soberg/Carey, John: Presidents and Assemblies. Constitutional Design and Electoral Dynamics, Cambridge/New York 1992, S. 155. Nichtgesetzgeberische Kompetenzen umfassen vor allem die Kompetenzen des Präsidenten im Hinblick auf die Ernennung und Entlassung des Kabinetts. Die Möglichkeiten der Zensur oder eines Misstrauensvotums von Seiten des Parlaments gelten dabei als Einschränkungen präsidentieller Macht. Darunter lassen sich außerdem die Kompetenzen des Präsidenten (im Vergleich mit denen des Parlamentes) bei der Ernennung von Richtern, Botschaftern oder Militärs auflisten. Im Hinblick auf die Kompetenzen des Präsidenten bei der Verhängung des Ausnahmezustandes – mit oder ohne Zustimmung des Parlaments – lassen sich zwischen den lateinamerikanischen politischen Systemen beträchtliche Unterschiede feststellen, vgl. Krumwiede/Nolte (Anm. 234), S. 75. 237 So waren die Kompetenzen des mexikanischen Präsidenten nach der Verfassung (z. B. beim Budget) oder hinsichtlich des Vetos nicht sehr umfassend, aber seine Kontrolle über die Mehrheitspartei, die PRI, machte ihn zu einem der stärksten lateinamerikanischen Präsidenten. Auch die technischen und administrativen Ressourcen, über die Präsident und Parlament verfügen, wirken sich auf die reale Machtverteilung aus. Mehr dazu in Horn, Hans-Rudolf: Legitimation und Grenzen der Exekutive, Berlin 1979.

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3. Kap.: Grundkonzeption der exekutiven Normsetzung

in den meisten lateinamerikanischen Ländern die Parlamente eine Zensur oder sogar ein Misstrauensvotum gegen einzelne Minister aussprechen.238 Das Recht der Gesetzesinitiative des Präsidenten zu bestimmten Gesetzesmaterien betrifft vorwiegend Haushaltsangelegenheiten oder Gesetze, die die Staatsausgaben festlegen. Die wichtigste reaktive Kompetenz ist jedoch das präsidentielle Veto gegenüber Entscheidungen des Parlaments im Gesetzgebungsprozess. Im dem USA kann ein Veto des Präsidenten nur durch eine Zweidrittelmehrheit aller Parlamentarier zurückgewiesen werden. Demgegenüber ist dies nur in drei lateinamerikanischen Staaten der Fall (Ecuador, Panama und der Dominikanische Republik). In allen übrigen Ländern reicht die absolute Mehrheit (Brasilien, Kolumbien, Nicaragua, Paraguay und Peru) oder eine Zweidrittelmehrheit der Anwesenden (Argentinien, Bolivien und Chile) bzw. Dreifünftel aller Anwesenden (Uruguay). In Venezuela sieht die Verfassung von 1999, wie bereits die vorausgehende von 1961, sogar nur eine einfache Mehrheit der anwesenden Abgeordneten vor. Die Rechtsetzung der exekutiven Gewalt wird als das Recht und die Kompetenz des Präsidenten gesehen, zu bestimmten Bereichen Verordnungen in Form von Dekreten erlassen zu dürfen. Neben den exklusiven Kompetenzen des Präsidenten zur Gesetzesinitiative gehört zu dieser weit gefassten „poder de agenda“ auch die Möglichkeit des Präsidenten, die Prioritäten im Gesetzgebungsprozess zu bestimmen.239 Die Kritik an der Allmacht der Präsidenten in Form eines „hiperpresidencialismo“ bzw. eines „presidencialismo hipertrofiado“ 240 in den lateinamerikanischen Präsidialsystemen ist darin begründet, dass in den 90er Jahren in einigen Ländern, etwa in Argentinien, Brasilien und Peru die Präsidenten mit Hilfe von Dekreten am Parlament vorbei regiert haben. Wenn man alle lateinamerikanischen Länder berücksichtigt wird deutlich, dass nur eine Minderheit der Verfassungen den Präsidenten ein Verordnungsrecht durch Dekret, seien es selbständige oder delegierte Dekrete, zuerkennt. 238 In Brasilien, Chile und Mexiko ist keine Zensur von Ministern vorgesehen. In Bolivien und Venezuela ist sogar eine Zensur mit einfacher Mehrheit möglich. In Ecuador, Kolumbien, Peru und Uruguay wird für eine Zensur die absolute Mehrheit der Parlamentarier benötigt. In Argentinien ist es nur möglich, den Kabinettschef zu zensieren (mit absoluter Mehrheit der Parlamentarier). Lediglich Paraguay verlangt eine Zweidrittelmehrheit aller Parlamentarier. 239 Limongi/Figueiredo fassen die „proaktiven“ Kompetenzen noch weiter und ergänzen sie um die „poder de agenda“, die einen doppelten Sinn hat: „como a capacidade de determinar quais propostas serão objeto de consideração do Congresso e quando serão. Um maior poder de agenda implica, portanto, a capacidade do Executivo de influir directamente nos trabalhos legislativos e, desta forma, minorar os efeitos da separação dos poderes, ao tempo que pode induzir parlamentares à cooperação.“, in: Limongi, Fernando/Figueiredo, Argelina: Bases institucionais do presidencialismo de coalizao, in: Lua Nova, Revista de Cultura e Politica 44, 1998, S. 81–106. 240 Nino (Anm. 215).

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3. Die vorläufigen Maßnahmen in Brasilien Die brasilianische Verfassung trat am 5. Oktober 1988 in Kraft241, nachdem die 24 Subkommissionen der Verfassungsgebenden Versammlung („Assémbleia Nacional Constituinte“) ihre Arbeit am 11. Juni 1987 beendeten. Allen Bürgern war der freie und öffentliche Zugang zu allen Verhandlungen und Sitzungen in Brasília erlaubt, Vertreter von 383 Interessengruppen unterbreiteten vor Ort ihre Vorschläge der Verfassunggebenden Versammlung242. Diese Transparenz der Handlungen bzw. die Wahrnehmung dieser Transparenz sind für die brasilianische Rechtskultur charakterisch. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass gerichtliche Verhandlungen des Obersten Gerichtshofs243 öffentlich stattfinden sollen, um sich eine breite Legitimation bei der Bevölkerung zu verschaffen. Besonders relevant bei dem Verlauf des Verfassungsgebungsprozesses in Brasilien war die Rolle der sog. Systematisierungskommission, welche die bereits entstandenen Einzeltexte in ein erstes Verfassungsprojekt im August 1987 zusammenfasste. Das Verhältnis konservativer und progressiver Kräfte spiegelte sich innerhalb dieser Kommission wider. Das Ergebnis der Kommission setzte Akzente, denn sie entschied jeweils mit knapper Mehrheit, die Regierungsform des Parlamentarismus einzuführen, die Amtszeit des Präsidenten (seinerzeit José Sarney Costa (1930)244) auf vier Jahre zu verkürzen, staatliche Interventionen in der Wirtschaft zu verstärken, großzügige Sozialrechte für Arbeitnehmer zu verabschieden und erleichterte Bedingungen für eine Agrarreform zu schaffen. Nach dem Verfassungstext von 1988 wird die Gewaltenteilung wieder gesichert. Eine dezentrale Orientierung setzte sich durch. Die Zuständigkeiten der Bundesstaaten und Stadtgemeinden wurden zulasten der Bundeskompetenz er241 Siehe dazu den amtlichen Text der brasilianischen Verfassung und seine deutsche Teilübersetzung als Anhang in Paul, Wolf (Hrsg.): Die Brasilianische Verfassung von 1988, Frankfurt am Main 1989, S. 113–227. 242 Ausführlich dazu Eugster, Markus: Der brasilianische Verfassungsgebungsprozess von 1987/88, Dissertation der Hochschule St. Gallen, Bern/Stuttgart/Wien 1995, S. 313 ff. 243 Zu einer kurzen Beschreibung der Judikative in Brasilien siehe OECD Reviews of Regulatory Reform: Brazil, Strengthening Governance for Growth, 2008, S. 58–62. 244 Brasiliens erste demokratische Wahlen nach zwei Jahrzehnten der Militärherrschaft endeten mit einem klaren Erfolg des Präsidenten Jose Sarney. Sarney war bislang ein Präsident von zweifelhafter Legitimität. Weil die im März 1985 von der Macht abgetretenen Militärs keine direkte Wahl des ersten zivilen Präsidenten seit den sechziger Jahren duldeten, hatte ein Wahlmännergremium darüber bestimmt, welcher Zivilist das schwierige Erbe der autokratischen Generäle antreten durfte; Sarney war überdies nur Präsident geworden, weil der bereits gewählte Kandidat Tancredo Neves überraschend vor Übernahme der Amtsgeschäfte verstorben war. Seine „Partei der Demokratischen Bewegung“, die im alten Parlament von Brasilia über 43 Prozent der Sitze verfügte, konnte ihre Position unter den Bedingungen einer demokratischen Wahl mit einer Mehrheit ausbauen. Ihr eher konservativer Bündnispartner verlor an Stimmen; die rechten und linken Oppositionsparteien, darunter die zu Zeiten des Militärregimes dominierende, stramm rechte „Sozialdemokratische Partei“, blieben weit abgeschlagen.

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weitert (Artikel 21–24 und Artikel 30). Steuererhebungs- und Verfügungskompetenzen wurden zugunsten der Bundesstaaten und Gemeinden umverteilt, große Budgetanteile werden von der neuen Verfassung zweckgebunden festgelegt. Die Rolle der Legislative wird gestärkt, welche ihre vollständige Autonomie wiedererlangt und ein Mitspracherecht in Fragen des Bundes- und Regierungshaushalts erhält. Die Judikative geht ebenfalls kompetenzerweitert aus dem Reformprozess hervor: die Einrichtung eines Obersten Bundesgerichtshofs (Supremo Tribunal Federal) soll diese zu einer unabhängigen Kontrollinstanz im Staat werden lassen. Über die Defizite des brasilianischen Verfassungsprozesses und somit auch der schriftlich fixierten Verfassung berichten weiterhin die Experten, in diesem Zusammenhang wird von sog. Parallel-Verfassungen245 die Rede sein. Der brasilianische Autor Neves unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen Verfassungsnominalismus und Verfassungsinstrumentalismus.246 In der Geschichte Brasiliens maß man der Ausarbeitung von Verfassungen stets große Bedeutung bei, die Umsetzung derselben scheiterte jedoch häufig an den realen politischen Machtverhältnissen und der sog. Verfassungswirklichkeit. So wird der Präsident Sarney als Verfechter des Präsidentialismus kritisiert, denn er beabsichtigte nicht, seine präsidentiellen Rechte, insbesondere das Recht auf den Erlass von Dekreten, einschränken zu lassen.247 Diese Position teilte er mit den Gouverneuren wirtschaftlich schwächerer Staaten, insbesondere denen des Nordens und Nordostens, sowie mit Abgeordneten, die überproportional in der Constituiente vertreten waren und die Unterstützung der beiden Linksparteien hatten. Deren charismatischer Führer Leonel Brizola, Gouverneur von Rio de Janeiro, und Lula da Silva, Anführer der Arbeiterpartei entschieden sich auch für die Beibehaltung des Präsidialsystems.248 Am 22.03.1988 fiel im Kongressplenum die Entscheidung zugunsten des präsidentiellen Regierungssystems.249 245

Siehe dazu Paul (Anm. 241). Neves, Marcelo: Verfassung und Positivität des Rechts in der peripheren Moderne – Eine theoretische Betrachtung und eine Interpretation des Falls Brasilien, Berlin 1992, S. 140–144. 247 „O esforço bem sucedido do Presidente Sarney em derrubar o modelo parlamentarista, que orientou os constituintes duarante os trabalhos nas Sub-Comissões e Comissões, inclusive naquela de Sistematização, criou, em nuitos dispositivos, um descompasso entre a intenção do constituiente, o modelo idealizado e o modelo plasmado pelo Plenário, com diretrizes políticas diversas. É o que ocorre com a medida provisória, que nos casos de urgência e relevância, seria justificada no sistema parlamentar, visto que, tendo, o Poder Executivo, origem no Poder Legislativo e sendo por ele controlado ao ponto de por ele poder ser derrubado, à evidência, o poder legislativo delegado não constituiria um risco maior para a autonomia dos poderes“. Bastos, Celso: Comentários à Constituição do Brasil 1999, S. 473. 248 Vgl. dazu Eugster (Anm. 242), S. 219–234. 249 Sarney nutzte alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel (Kabinettsposten, Konzessionen für Radiostationen und Barzahlungen), um die Entscheidung über die künftige Regierungsform zu seinen Gunsten zu entscheiden, Reich, Gary: The 1988 Constitution 246

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Das Gesetzgebungsverfahren wird in Artikel 59 der brasilianischen Verfassung geregelt. Mit sieben Normkategorien verfügt Brasilien über eine differenzierte und herausragende Rechtsquellensystematik im Vergleich zu den anderen südamerikanischen Staaten, selbst wenn diese sieben Kategorien nicht ausdrücklich in der Normhierarchie erwähnt werden.250 Von 1988 bis 2006 wurden in Brasilien auf föderaler Ebene 141.771 rechtliche Normen verabschiedet, auf Bundesstaatsebene waren es 891.112 rechtliche Normen (das bedeutet einen Durchschnitt pro Bundesstaat von 33.004) und auf kommunaler Ebene waren es 2.477.920 rechtliche Normen (ein Durchschnitt pro Kommune von 446).251 Die Befugnis des Präsidenten, Decretos-Leis zu erlassen, hat es ihm ermöglicht, per Dekret in der Zeit der geltenden Verfassung von 1967 und den 27 Verfassungsergänzungen am Parlament vorbei zu regieren. Da sich anfangs eine progressive Mehrheit zugunsten eines parlamentarischen Regierungssystems gebildet hatte, führte man die vorläufigen Maßnahmen252 ein, um die Macht des Präsidenten innerhalb des parlamentarischen Systems zu stärken. Der von konservativen Kreisen ausgelöste Umschwung zu einer präsidentiellen Regierungsform verwandelte die vorläufigen Maßnahmen zu einem politischen Instrument gegen den Kongress und wurde in der Folgezeit häufig eingesetzt.253 a Decade Later: Ugly Compromises Reconsidered, in: Journal of Interamerican Studies and World Affairs, vol. 40, no. 4, 1998, S. 17. 250 Art. 59 der brasilianischen Verfassung beschreibt in der Seção VIII, do processo legislativo, Subseção I, Disposição Geral folgendens: O processo legislativo compreende a elaboração de: I – emendas a Constituição; II – leis complementares: III – leis ordinárias; IV – leis delegadas; V – medidas provisórias; VI – decretos legislativos; VII – resoluções. Nach der Quelle von Instituto Brasileiro de Planejamiento Tributário folgende empirische Daten sind erhoben: Es wurden 58 Zusatzartikel zur Verfassung (emendas a Constituição) verabschiedet; es wurden 63 ergänzende Gesetze (leis complementares) verabschiedet; es wurden 3.701 ordentliche Gesetze (leis ordinárias) und zwei delegierte Gesetze (leis delegadas) verabschiedet; es wurden 940 Ursprüngliche vorläufige Maßnahmen (medidas provisórias) und 5.491 erneute vorläufige Maßnahmen (medidas provisórias) erlassen; 8.947 federale Dekreten decretos legislativos; 122.568 Untergeordnete Beschlüsse resoluções wurden erlassen. Anaral, Gilberto et al.: Quantidade de normas editadas no Brasil: 18 anos da Constituição Federal 1988, Instituto Brasileiro de Planejamiento Tributário, Curitiba 2008, S. 26 ff. 251 Folgende empirische Daten wurden von Anaral im Einzelnen erhoben: Es wurden 58 Zusatzartikel zur Verfassung (emendas a Constituição) verabschiedet; es wurden 63 ergänzende Gesetze (leis complementares) verabschiedet; es wurden 3.701 ordentliche Gesetze (leis ordinárias) und zwei delegierte Gesetze (leis delegadas) verabschiedet; es wurden 940 ursprüngliche vorläufige Maßnahmen (medidas provisórias) und 5.491 erneute vorläufige Maßnahmen (medidas provisórias) erlassen; 8.947 föderale Dekreten (decretos legislativos); 122.568 Untergeordnete Beschlüsse resoluções wurden erlassen. Vgl. dazu Anaral (vorige Anm.), S. 27 ff. 252 Art. 62 der brasilianischen Verfassung besagt: „Em caso de relevância e urgência, o Presidente da República poderá adotar medidas provisórias, com força de lei, devendo submetê-las de imediato ao Congresso Nacional, . . .“ 253 Insgesamt wurden in den Jahren 1988 bis 1995 387 „medidas provisórias“ neu verabschiedet und 862 „medidas provisórias“ wieder verabschiedet: 125 (22) während

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Die vorläufigen Maßnahmen wurden nach der italienischen Vorlage konzipiert und fast wörtlich übernommen. Der Verfassungsrechtler Bastos hebt die Unterscheidung zwischen delegierter Rechtsetzung (Art. 68 der brasilianischen Verfassung) und Rechtsetzung im Notstandsrecht hervor (Art. 62). Wenn die Verfassungsgebende Versammlung die delegierte Rechtsetzung der Exekutive einschränken wollte, sollte man auch die vorläufigen Maßnahmen entsprechend eingrenzen.254 Bei der delegierten Rechtsetzung werden die verfassungsrechtlichen Grenzen ratione materiae festgelegt. Bei der Rechtsetzung im Notstandsrecht handelt es sich um Maßnahmen, bei denen zunächst die Dringlichkeit zu begründen ist und bei denen zusätzlich klare Einschränkungen ratione materiae festgelegt werden sollten. Dies soll unter strengen Verfahren erfolgen, wie es in der Verfassungsergänzung (Emenda Constitucional) C Nr. 32/2001 festgelegt ist. Es werden ausdrücklich die Materien identifiziert, welche die vorläufigen Maßnahmen nicht betreffen dürfen. Insgesamt werden 12 Paragraphen als Verfassungsergänzung eingeführt. Der Paragraph 1 ist wiederum in vier römische Ziffern untergliedert.255 Die Einschränkungen der materiellen Aspekte ergeben sich aus Paragraph 1 und die prozeduralen Regelungen werden in den Paragraphen 2 bis 12 benannt.256 In Brasilien ist eine parlamentarische Zustimmung (spätestens nach 30 Tagen) ausdrücklich von der Verfassung vorgeschrieben. Die zeitliche Limitierung auf 30 Tage hat sich in der Praxis als Korsett für das Parlament erwiesen, da in der Regel dieser Zeitraum für eine intensive parlamentarische Befassung nicht ausreicht. In der Praxis hatte es sich eingebürgert, dass Präsidenten nach Ablauf der 30-Tage-Frist das gleiche Dekret erneut verabschiedeten.

der Regierung von Sarney, 88 (69) unter Collor, 142 (366) unter Itamar Franco und 32 (405) im ersten Regierungsjahr von Cardoso. Siehe dazu Figueiredo, Argelina/Limongi, Fernando: O Congresso e as Medidas Provisorias: Abdicacao ou Delegacao?, in: Novo Estudos CEBRAP 47, 1997, S. 127 ff. 254 „Se a crítica maior ao decreto – lei decorria do fato de que tornava o Parlamento um Poder Inútil da República e, por esta razão, teria que ser extirpado da Constituição, à nitidez, teria sido contra-senso aprovar veículo que viesse a tornar o Preisidente da República em legislador mais poderoso do que à época do regime militar. Por esta razão, parece-me que, na interpretação dos limites e das forças da medida provisória, deveria haver a percepçao da intenção do constituinte em eliminar o deceto lei.“ Bastos (Anm. 245), S. 477. 255 Verfassungsergänzung (Emenda Constitucional Nr. 32) vom 11.9.2001 der Brasilianischen Verfassung enthält das Verbot vorläufige Maßnahmen in folgenden Materien zu erlassen: a) Nationalität, politische Rechte und politische Parteien und Wahlrecht; b) Strafrecht, Strafprozeßrecht und Zivilprozeßrecht; c) Organisation der Judikative und der Staatsanwaltschaft und Laufbahn deren Beamten; d) zusätzliche Kredite oder Finanzielle Pläne ausgenommen art. 167 § 3. 256 Der historische und funktionelle Kontext dieser neuen 12 Paragraphen findet man ausführlich in Martins, Ives Gandra da Silva: Novo Regime Constitucional das Medidas Provisórias in Rocha, Cármen Lúcia Antunes (Hrsg.): Constituição e segurança jurídica: direito adquirido, ato jurídico perfeito e coisa julgada. Belo Horizonte 2004, S. 266– 280.

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4. Die gesetzliche Delegation in Argentinien Nach Ende der Diktaturzeit in Argentinien wurde die Verfassung aus dem Jahre 1853 wieder in Kraft gesetzt. Raúl Ricardo Alfonsín (1927), der 1983 Präsident des Landes war, setzte eine Kommission (Comisión Nacional sobre la Desaparición de Personas) unter Leitung von Ernesto Sábato ein, um die Verbrechen in der Zeit der Militär Regimes aufzuklären.257 Gleichzeitig rief er einen Rat für die Konsolidierung der Demokratie (Consejo para la Consolidación de la Democracia) 258 ins Leben. Damit begann die Debatte über die Verfassungsreform, und es dauerte fast zehn Jahre, bis sie in einer Vereinbarung zwischen den Parteien259 1994 in (Pakt von Olivos) ihren Niederschlag fand.260 Die argentinische Verfassung von 1853 sah kein Not- oder Dringlichkeitsdekret vor. Die Normsetzung der Exekutive beschränkte sich auf den Erlass von Verordnungen zur Ausführung der vom Kongress beschlossenen Gesetze. Die Analyse des obengenannten Rats empfahl die Einrichtung eines semiparlamentarischen Systems zum Zwecke der Einschränkung des Präsidentialismus und einer Stärkung der Macht des Kongresses. Dies geschah im Hinblick auf die historische Erfahrung, dass sonst Präsidenten strittige Gesetzesvorhaben im Verordnungsweg durchsetzen, wenn sie für ihr politisches Vorhaben im Kongress keine Mehrheit finden. Das Gesetz Nr. 24309261 stellte die Notwendigkeit einer Verfassungsreform fest und legte zwei Kategorien zu ändernder Verfassungsartikel fest: Themen, die 257 Siehe dazu Informe Nacional sobre la Desaparición de Personas: Nunca Más (Bericht Sábato), Barcelona 1983. 258 Dieser Rat formulierte in den Jahren 1986–1988 Berichte unter der Leitung von Carlos Santiago Nino, die in den Debatten im Kongress über das Gesetz 24309 benutzt wurden. 259 Die Partei Union Cívica Radical (UCR) machte die Einführung des Kabinettschefs zur Bedingung für eine aktive Unterstützung der Reform, welche am 14. November unterzeichnet wurde. Die Partido Justicialista geführt von dem damaligen Präsidenten Carlos Menem sah diese neue Figur in ihren ursprünglichen Plänen nicht vor. 260 Für eine ausführliche Analyse der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lage von der Erblast der Diktaturzeit und das „neue Argentinien“ siehe Sommavilla, Antonio: Wirtschaft und Gesellschaft im Wandel, Argentinien, Frankfurt am Main/Berlin/ Bern/New York/Paris/Wien 1996, insbesondere S. 235–246. Allgemein dazu auch Panther, Stephan: Warum ist Argentinien kein reiches Land?, in: Eger, Thomas (Hrsg.), Erfolg und Versagen von Institutionen, Berlin 2005, S. 199–217. Zur wirtschaftlichen Krise und zum Notverordnungsrecht siehe Ferreira, Delia/Goreti, Matteo: When the President Governs Alone: The Decretazo in Argentina, 1989–93 in: Carey, John/Shugart, Matthew: Executive decree authority, Cambridge 1998, S. 33–62; Grote, Rainer: Das Notverordnungsrecht des Staatspräsidenten und die funktionellen Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit in Argentinien, in: ZaöRV Band 58 (1998), S. 853–877. Zu der Delegation des Parlaments siehe Ferraro, Agustin: Machtwille und Machtressourcen der lateinamerikanischen Parlamente, in: VRÜ Band 35 (2002), S. 23–53. 261 Veröffentlicht in Boletín Oficial Argentino am 29. Dezember 1993. Vgl. insbesondere Artikel 50 und 60, welche die Sperrklausel beinhalten.

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zur Beratung freigestellt wurden, und Themen, die unter dem Titel „Kern der gemeinsamen Basis“ zusammengefasst wurden. Diese Kernvereinbarung umfasste 13 Punkte und eine Reihe von Reformen, die nach Art. 5 des Reformgesetzes als Paket zu verabschieden waren, da die Ablehnung einzelner Punkte automatisch auch die Ablehnung des gesamten Pakets bedeutet hätte. Die Verfassungsgebende Versammlung war also gezwungen, entweder dafür oder dagegen zu stimmen. Damit waren der Diskussionsspielraum und die Kompetenzen der Versammlung stark eingeschränkt. Zweck dieser Regelung war es, der öffentlichen Meinung die Garantie zu geben, dass die Möglichkeit der Wiederwahl des Präsidenten nur gemeinsam mit institutionellen Neuerungen eingeführt werden würde, welche die Gesamtheit seiner Kompetenzen mäßigen. Zusätzlich erzielte diese Regelung, dass die Verfassungsänderung sich auf hinreichend diskutierte Optionen beschränken würde, so dass sie rechtstechnisch vernünftig und politisch ausgewogen sein würde. Kennzeichnend ist weiterhin die starke Stellung des Präsidenten nach der Verfassungsreform von 1994. Staatspräsident und Vizepräsident werden alle vier Jahre direkt gewählt. Eine einmalige Wiederwahl ist möglich. Es besteht eine hierarchische Beziehung zwischen dem Präsidenten und dem an die Weisungen des Präsidenten gebundenen Kabinettschef gemäß Art. 99 Abs. 10 in Bezug auf die Aufsicht über die Einziehung der Staatseinkünfte durch den Kabinettschef. Nach Art. 100 der argentinischen Verfassung und den Zuständigkeiten des Kabinettschefs wird klar, dass er Verwaltungsaufgaben übernimmt.262 Jedoch verfügt er nach Art. 100 Abs. 2 auch über Verordnungskompetenzen. Nach der Verfassungsreform von 1994 muss ein präsidentielles Dekret nach spätestens zwanzig Tagen im Plenum des Parlaments behandelt werden. Zu dieser Verfassungsvorgabe wurden in den 90er Jahren keine Ausführungsbestimmungen erlassen. In Kapitel IV der argentinischen Verfassung werden die Zuständigkeiten des Kongresses geregelt. Artikel 76 beinhaltet das Verbot der gesetzlichen Delegation an die Exekutive, außer im Falle bestimmter Materien der 262 „Art. 100. – El jefe de gabinete de ministros y los demás ministros secretarios cuyo número y competencia será establecida por una ley especial, tendrán a su cargo el despacho de los negocios de la Nación, y refrendarán y legalizarán los actos del presidente por medio de su firma, sin cuyo requisito carecen de eficacia. Al jefe de gabinete de ministros, con responsabilidad política ante el Congreso de la Nación, le corresponde: 1. Ejercer la administración general del país. 2. Expedir los actos y reglamentos que sean necesarios para ejercer las facultades que le atribuye este artículo y aquellas que le delegue el presidente de la Nación, con el refrendo del ministro secretario del ramo al cual el acto o reglamento se refiera . . .“ Die weiteren Absätze von 3 bis 13 beziehen sich auf Verwaltungsaufgaben wie die Gegenzeichnung der vom Präsidenten erlassenen Dekrete. Nach Art. 101 muss mindestens einmal im Monat der Kabinettschef dem Kongress über den Regierungsfortgang berichten. Die Kammern des Kongresses sind befugt mit einer Mehrheit der Stimmen dem Kabinettschef ein Misstrauensvotum auszusprechen und das Votum kann bis zu seinem Rücktritt führen. Sabsay, Daniel Alberto: La constitución de los argentinos, Buenos Aires 1994.

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Verwaltung oder bestimmter Fragen im Zusammenhang mit einem öffentlichen Notstand innerhalb einer vom Kongress festgelegten Frist für ihre Ausübung und innerhalb der Basis der gesetzlichen Delegation.263 In Art. 99 der argentinischen Verfassung werden die Zuständigkeiten des Präsidenten aufgezählt.264 Bis 1989 wurden in Argentinien weniger als 30 Not- und Dringlichkeitsdekrete, von 1989 bis 1997 über 300 verabschiedet. 5. Der Verordnungsvorbehalt in Chile Die Verfassungsgeschichte Chiles zeichnet sich dadurch aus, dass die Verfassungen von 1833 und 1925 eine lange Zeit der politischen Stabilität und der demokratischen Regierungswechsel zu gewährleisten vermochten.265 Die institutionelle Verfassungskontinuität erlitt eine eklatante historische Zäsur mit dem Umsturz des sozialistischen Präsidenten Salvador Isabelino Allende Gossens266 (1969–1973) und dem Beginn der Diktaturzeit von 1973 bis 1978 unter General Militär Augusto Jose Ramon Pinochet Ugarte (1915–2006).

263 „Art. 76. – Se prohíbe la delegación legislativa en el Poder Ejecutivo, salvo en materias determinadas de administración o de emergencia pública, con plazo fijado para su ejercicio y dentro de las bases de la delegación que el Congreso establezca. La caducidad resultante del transcurso del plazo previsto en el párrafo anterior no importará revisión de las relaciones jurídicas nacidas al amparo de las normas dictadas en consecuencia de la delegación legislativa.“ Sagüés, Néstor Pedro: Constitución de la nación Argentina, Buenos Aires 1995. 264 Nach Art. 99 Abs. 2 erlässt der Präsident die Anordnungen und Vorschriften, die zur Ausführung der Bundesgesetze erforderlich sind. Dabei soll darauf geachtet werden, dass der Geist des Gesetzes nicht durch die Verordnungen verändert wird. Nach Art. 99 Abs. 3 wirkt der Präsident an der Verabschiedung der Gesetze nach Maßgabe der Verfassung mit, verkündet sie und sorgt für ihre Veröffentlichung. Die exekutive Gewalt darf in keinem Fall selbst Vorschriften mit Gesetzescharakter erlassen. Solche Vorschriften wären absolut und unheilbar nichtig. Nur wenn außergewöhnliche Umstände die Durchführung eines Gesetzgebungsverfahrens nach dem regulären Weg in der Verfassung unmöglich machen und es sich nicht um Straf-, Steuer-, Wahl- oder Parteienrecht handelt, darf der Präsident Dekrete aus Not- oder Dringlichkeitsgründen erlassen. Diese Dekrete werden im Einvernehmen mit den Ministern erstellt, welche sie gegenzeichnen müssen, zusammen mit dem Kabinettschef. Der Kabinettschef persönlich muss innerhalb von zehn Tagen diese Dekrete dem Ständigen Gemeinsamen Ausschuss der beiden Kammern des Parlaments übermitteln, in dem die politischen Parteien entsprechend dem jeweiligen Kräfteverhältnis in den Kammern vertreten sind. Dieser Ausschuss seinerseits leitet seine Beschlussvorlage vor Ablauf von zehn Tagen dem Plenum der jeweiligen Kammer zur Beratung zu. Ein spezielles Gesetz, das in beiden Kammern jeweils mit der absoluten Mehrheit der Mitglieder beschlossen werden muss, soll das Verfahren und die Wirkungen der parlamentarischen Intervention regeln. Chile: Constitución política de la República de Chile, Santiago 2003. 265 Vgl. dazu Thiery, Peter: Transformation in Chile, institutioneller Wandel, Entwicklung und Demokratie 1973–1996, Franfurt am Main 2000, insbesondere S. 18–19. 266 Eine ausführliche Analyse der Regierungszeit Allende in Nohlen, Dieter: Chile, das Sozialistische Experiment, Hamburg 1973.

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Der Prozess der Verfassungsreform in Chile begann bereits in der Zeit der Diktaturzeit unter Pinochet (1973–1978), als die Junta der Militärs 1977 ankündigte, die Regierungsgewalt an Zivilisten zu übergeben. Dies sollte jedoch nur allmählich stattfinden. Pinochet setzte die Studienkommission der neuen Verfassung (Comisión de Estudios de la Nueva Constitución Política de la República) unter dem Vorsitz von Enrique Ortúzar ein. Am 5. Oktober 1979 legte die Kommission einen vollständigen Verfassungsentwurf vor, der im Verlauf des Jahres vor allem mit den Christdemokraten (Patricio Alwyn, Luis Fernando Luengo, u. a.) diskutiert wurde.267 Anschließend wurde ein Staatsrat unter Leitung von Pedro Ibañez einberufen, der sich jedoch auf redaktionelle Überarbeitung des Textes beschränkte. Am 11. August 1980 legte die Junta den endgültigen Verfassungsentwurf vor, der im Plebiszit am 11. September 1980 die Zustimmung der Bevölkerung fand.268 Die chilenische Verfassung trat gemäß ihrem letzten Art. 120 am 11. März 1981 in Kraft269; sie wird jedoch vorwiegend als Verfassung von 1980 zitiert.270 Die Übergangsphase von einer Autokratie zur Demokratie, hinterließ im Verfassungstext ihre Spuren. So wurde beispielweise zwar ein Zweikammersystem, nämlich das Abgeordnetenhaus und, wie in der Verfassung von 1925, der Senat eingerichtet, aber nach Artikel 45 der Verfassung von 1981 gehörten dem Senat neben 26 gewählten Senatoren auch ernannte und gesetzliche Mitglieder lebenslänglich an. Das Gesetzgebungsverfahren wurde dem der Verfassung der V. Republik Frankreichs nachgebildet. Art. 60 der chilenischen Verfassung von 1981 zählt die Materien der Gesetzgebung auf: In 19 Absätzen werden im wesentlichen Kodifikationen im zivil- und strafrechtlichen Bereich, im Arbeitsrecht und Sozialrecht, die Kreditaufnahme seitens des Staates, die Verfassungsorgangesetze und die Grundlagen von Verwaltung und Organisation erwähnt. Alle anderen Materien unterliegen dem präsidentiellen Verordnungsrecht. Die gesetzliche Delegation, geregelt in Art. 61, ermöglicht jedoch dem Präsidenten, Vorschriften zu erlassen, die ursprünglich Gegenstand der Gesetzgebung waren. Die Genehmigung des Nationalkongresses soll die Materien, auf die sich die Delegation bezieht, genau bezeichnen und kann Beschränkungen, Einschränkungen und Formalien bestimmen, die für erforderlich gehalten werden. In die Zuständigkeit des Rech267 Vgl. dazu Facultad de Derecho Universidad de Chile, Nueva Institucionalidad y Nueva Democracia, Santiago 1978. 268 Vgl. dazu Nolte, Detlef: Das politische System, Verfassung und Verfassungspraxis, in: Imbusch, P./Messner, D./Nolte, D. (Hrsg.), Chile heute. Politik, Wirtschaft, Kultur, Frankfurt 2004. 269 Constitución Política del Estado de la República de Chile sujeta a ratificación por Plebiscito Ley No. 3464, veröffentlicht im Diario Oficial vom 11. August 1980; deutsche Übersetzung in Blumenwitz, Dieter: Die Verfassungsentwicklung der Dritten Welt, unter besonderer Berücksichtigung der chilenischen Entwicklung, München 1983. 270 Am 24. Oktober 1980 wurde die Verfassung im Diario Oficial als Oberstes Dekret No. 1150 veröffentlicht.

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nungshofs fällt es, diese Dekrete mit Gesetzeskraft zu überprüfen und zurückzuweisen, wenn sie die erteilte Genehmigung überschreiten oder ihr zuwiderlaufen. Artikel 32 regelt die Befugnisse des Präsidenten und insbesondere die Normsetzungskompetenz in Absatz 8 wie folgt: die Ausübung des Rechts, Verordnungen in all jenen Materien zu erlassen, die nicht zum Bereich der Gesetzgebung gehören, unbeschadet der Möglichkeit, die übrigen Verordnungen, Dekrete und Anordnungen zu erlassen, die er zur Ausführung der Gesetze für erforderlich hält.271 Die Verfassungsreform stellt in Artikel 116 strenge Voraussetzungen für rechtliche Änderungen auf und regelt ein detailliertes Verfahren, darunter das Erfordernis einer Mehrheit von drei Fünfteln der Stimmen der Abgeordneten und Senatoren und anschließend die Einberufung eines Plebiszits. Nach sieben gescheiterten Versuchen gelang im achten Anlauf am 18. August 2005 durch Gesetz No. 20.050 die Änderung der Verfassung Chiles.272 Die chilenische Verfassung räumt dem Präsidenten das ausschließliche Recht zur Gesetzesinitiative in allen Bereichen ein, welche die Finanzpolitik des Staates (Steuern, Ausgaben, Anleihen etc.), die Mindestlöhne und Tarifverhandlungen, die sozialen Sicherungssysteme, die staatliche Verwaltung oder die territoriale Gliederung betreffen. Darüber hinaus kann der Präsident in jeder Phase des Gesetzgebungsprozesses für alle Gesetze die dringliche Beratung anfordern und zwar in drei Stufen: einfache Dringlichkeit (simple urgencia), höchste Dringlichkeit (suma urgencia) und unmittelbare Diskussion (discusión inmediata). Je nach Dringlichkeitsstufe bleiben der entsprechenden Kammer 30, 10 oder 3 Tage für die Beratung und Abstimmung des entsprechenden Gesetzentwurfes. 271 Art. 32 Abs. 8: „Ejercer la potestad reglamentaria en todas aquellas materias que no sean propia del dominio legal, sin perjuicio de la facultad de dictar los demás reglamentos, decretos e instrucciones que crea convenientes para la ejecución de las leyes.“ (Chilenische Verfassung von 1981). 272 Die Amtszeit des Staatspräsidenten in Chile wurde von acht auf sechs Jahre verändert, wie es ursprünglich in der Verfassung von 1925 festgelegt war. (Gesetz No. 19.295 Dario Oficial 04.03.1994). Die 45 Verfassungsänderungen per Gesetz No. 20.050 wurden mit den Konservativen vereinbart und damit wurden die Ära Pinochet und das Vermächtnis der Diktatur in den verfassungsrechtlichen Texten beendet, darunter die Streichung der lebenslänglichen Senatsmitgliedschaft. Der Nationale Sicherheitsrat steht nicht mehr über dem Präsidenten, dieser nominiert die Kommandierenden der Streitkräfte, die keine automatische Vertretung mehr im Senat haben. Inzwischen wurden sechzehn Verfassungen per Gesetz verabschiedet. Gesetz Nr. 18.825; D.O. 17.08. 1989, Gesetz Nr. 19.055, D.O. 01.04.1991; Gesetz Nr. 19.097, del 12.11.1991; Gesetz Nr. 19.295, D.O. 04.03.1994; Gesetz Nr. 19.519, D.O. 16.09.1997; Gesetz Nr. 19.541, D.O. 22.12.1997. Gesetz Nr. 19.611, D.O. 16.06.1999; Gesetz Nr. 19.643, D.O. 05.11. 1999 (über die Präsidentenwahlen); Gesetz Nr. 19.672, D.O. 28.04.2000 (über die Inmunität des Expräsidenten); Gesetz Nr. 19.742, D.O. 25.08.2001; Gesetz Nr. 19.876, D.O. 22.05.2003; Gesetz Nr. 20.050, D.O. 26.08.2005; Gesetz 20162, D.O. 16.02.2007; Gesetz 20193, D.O. 30.07.2007; Gesetz Nr. 20245, D.O. 10.01.2008.

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6. Die ermächtigenden Gesetze in Venezuela Die Verfassungsgeschichte Venezuelas nach der Unabhängigkeit 1811 verzeichnet mehrere Brüche wie auch in allen anderen südamerikanischen Staaten, jedoch gab es über längere Zeit eine politische Stabilität der Regierungen durch demokratische Wahlen in der Vergangenheit. Am 23. Januar 1958 endete die Herrschaft des Diktators Marcos Pérez Jiménez (1914–2001), und am 23. Januar 1961 wurde die neue Verfassung verkündet. Die Verfassung von 1961 sah nach Art. 245 die Möglichkeit von Änderungen und Reformen vor. Änderungen werden, ähnlich wie in der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika, dem Text in fortlaufender Nummerierung angefügt (Art. 245 Abs. 5). Eine Totalrevision musste einem Referendum unterzogen werden. Das Initiativrecht für die Totalrevision oder für Änderungen der Verfassung wurde dem Kongress oder den Gesetzgebenden Versammlungen eingeräumt. Art. 190 der Verfassung von 1961 beinhaltete die Befugnisse des Präsidenten. Nach Art. 190 Abs. 8 ist der Präsident dazu befugt, außerordentliche Maßnahmen im wirtschaftlichen oder finanziellen Bereich zu erlassen, wenn das öffentliche Wohl dies erfordert und er durch besonderes Gesetz dazu befugt ist. Der Notstand wird in den Artikeln 240 bis 244 geregelt, dort wird die Kategorie Dekret erwähnt. Nach Artikel 242 wird das Dekret, das den Notstand, die Einschränkung oder Aufhebung der Garantien erklärt, vom Ministerrat beschlossen und binnen zehn Tagen nach seiner Veröffentlichung den in gemeinsamer Sitzung tagenden Kammern oder dem Ständigen Ausschuss zur Behandlung vorgelegt.273 Der Verfassungsreformprozess, der bereits 1989 mit dem eingesetzten Ausschuss beider Kammern des Parlaments unter der Leitung von Rafael Caldera eingeleitet wurde, zeichnete sich zuerst durch einen zaghaften Fortgang aus. Erst 1999 gab Hugo Rafael Chavez Frias (geb. 1954) den Impuls, die Reformen voranzutreiben. Hintergrund dazu waren die Korruptionsvorwürfe gegen den sozialdemokratischen Präsidenten Carlos Andrés Pérez (geb. 1922) und seine folgende Amtsenthebung 1993. Er war 1989 wiedergewählt worden und verlor durch die Umsetzung eines vom Internationalen Währungsfond empfohlenen sehr restriktiven Anpassungsprogramms an Unterstützung. Das Programm führte nach Fahrpreiserhöhungen zu Unruhen, die vom Militär niedergeschlagen wurden.274 273 Die Termini Notstand und außerordentliche Maßnahme oder Verordnungsbefugnis der Präsidenten werden manchmal undifferenziert verwendet. Zu der Begrifflichkeit von Ausnahmezustand und Notstand in Südamerika. Vgl. dazu Orozco Abad, Iván: Die Gestaltung des Ausnahmezustandes in Kolumbien im 19. Jahrhunderts, Saarbrücken 1988. 274 Bald darauf übernahm Rafael Caldera, nachdem er sich von der COPEI getrennt und die Partei ,Convergencia‘ gegründet hatte, erneut die Präsidentschaft. Er begnadigte den Offizier Hugo Chavez, der am 4. Februar 1992 einen Putschversuch mit dem Ziel die staatlichen Institutionen zu besetzen unternommen hatte. Hugo Chávez gründete 1994 seine Partei Bewegung der 5. Republik (Movimiento Quinta República, MVR). MVR,

IV. Das Präsidialsystem und die duale Legitimation

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Im April 1999 fand ein Referendum zu zwei Fragen statt, nämlich zur Einberufung einer Verfassungsgebenden Versammlung (Asamblea Nacional Constituyente) und zum Verfahren, das die exekutive Gewalt als Grundlage für diese Einberufung vorsgechlagen hatte. Die Grundlagen waren partiell von dem Nationalen Wahlrat modifiziert worden und wurden amtlich veröffentlicht.275 Am 14. November 1999 stimmte die Bevölkerung Venezuelas per Referendum der neuen „Bolivarianischen Verfassung“ zu. Die neue Verfassung der Bolivarianischen Republik Venezuela trat am 24. März 2000 in Kraft.276 Auf der Basis dieser neuen Verfassung wurden für das Jahr 2000 Neuwahlen angesetzt. Nach der Verfassung von 2000 wurde die Amtszeit des Präsidenten von fünf Jahren auf sechs ausgedehnt, und es wurde die Möglichkeit einer einmaligen Wiederwahl eingeführt. Dies wurde jedoch später verändert. Hugo Chavez trat sein Amt als Präsident Venezuelas 1999 an, nachdem er die Wahlen mit 56% der Stimmen am 6. Dezember 1998 gewonnen hatte. Dieser neue Verfassungstext enthält eine deutliche Stärkung der exekutiven Strukturen, indem z. B. der Senat von einem föderalen Regierungsrat ersetzt wird, welcher von der Exekutive ernannt und geleitet wird. Nach Art. 203 der neuen venezolanischen Verfassung werden zwei Kategorien von Gesetzen eingeführt: die Organgesetze (Leyes orgánicas) und die „ermächtigenden“ Gesetze (leyes habilitantes). Für erstere ist eine Zwei-Drittel-Mehrheit der Stimmen der Mitglieder der Nationalversammlung, für letztere eine Mehrheit von drei Fünfteln erforderlich. Das Initiativerecht für diese Gesetze hat die exekutive Gewalt unter den vier weiteren Gewalten, zu denen Bürger- und Wahlgewalt (Poder Ciudadano y Poder Electoral) zählen. Mit Zustimmung der Nationalversammlung zu einem „ermächtigenden“ Gesetz ist der Präsident befugt, Dekrete mit Gesetzeskraft zu erlassen. Damit ist die gesetzliche Delegation in Venezuela zum ersten Mal in seiner Verfassungsgeschichte zulässig.277 Ähnlich wie im deutschen Grundgesetz (Art. 80) wird vom MAS (Movimiento al Socialismo), PPT (Patria Para Todos) und einige kleinere linke Parteien gründeten das Wahlbündnis Polo Patriotico, das im Dezember 1998 die Wahl mit 56% der Stimmen gewann. 275 Veröffentlicht in Gaceta Oficial de la República de Venezuela N ë 36.669 de fecha Marzo 25, 1999. 276 Veröffentlicht in Gaceta Oficial Extraordinaria N ë 5.453 de la República Bolivariana de Venezuela. Caracas, viernes 24 de marzo de 2000. 277 Artikel 203 der Venezolanischen Verfassung beinhaltet im vierten Paragraph: „Son leyes habilitantes las sancionadas por la Asamblea Nacional por las tres quintas partes de sus integrantes, a fin de establecer las directrices, propósitos y el marco de las materia que se delegan al Presidente o Presidenta de la República, con rango y valor de ley. Las leyes habilitantes deben fijar plazo de su ejercicio.“ Nach Art. 338 der neuen venezolanischen Verfassung: „Podrá decretarse el estado de emergencia económica cuando se susciten circunstancias económicas extraordinarias que afecten gravemente la vida económica de la Nación. Su duración será de sesenta días prorrogables por un plazo igual.“

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3. Kap.: Grundkonzeption der exekutiven Normsetzung

Zweck gesprochen. Anstelle von Ausmaß und Inhalt sind die weiteren im Gesetz zu bestimmenden Kriterien „Rahmen“ und „Leitlinien“. Nach seiner zweiten Wiederwahl für den Zeitraum 2000 bis 2006 beantragte der Präsident Hugo Chávez bei der venezolanischen Nationalversammlung Sondervollmachten. Diesem Antrag hat die Nationalversammlung am 17. Januar 2007 zugestimmt. Demnach war es möglich, in elf Schlüsselsektoren Dekrete mit Gesetzeskraft zu erlassen.278 Die Nationalversammlung behält allerdings das Recht, diese wieder aufzuheben. Zudem kann jedes dieser Dekrete auch durch eine Volksabstimmung aufgehoben werden. Art. 211 sieht eine öffentliche Anhörung für das Gesetzgebungsverfahren vor, jedoch wird diese Voraussetzung bei dem Ermächtigungsgesetz außer Acht gelassen.279 7. Die Dringlichkeitsdekrete mit Gesetzeskraft in Peru Der Beginn der Verfassungsgeschichte der peruanischen Republik wird bewusst in der Verfassung von Cádiz gesehen.280 Pareja Paz Soldán identifiziert zwei diametrale Tendenzen, welche die Verfassungsentwicklung in Peru geprägt haben. Die liberalen Verfassungen zeichneten Tendenzen zur Dezentralisierung auf, besonders die Verfassung von 1828, die bis hin zu föderalen Tendenzen ging, wie auch die Verfassung von 1920 und die konservativen Verfassungen, 278 Petkoff beschreibt die Entwicklung der Demokratie in Venezuela bis hinzu eine Autokratie: „Chavez controls all the political powers. More than 90% of the Parliament obey his commands; the Venezuelan Supreme Court, whose number were raised from 20 to 32 by the parliament to ensure an overwhelming officialist majority, has become an extension of the legal office of the Presidency . . . Therefore, from a conceptual point of view, the Venezuelan political system is autocratic. All political power is concentrated in the hands of the President.There is no real separation of Powers“. Vgl. dazu Petkoff, Teodoro: Election and Political Power, Challenges for the Opposition, in: Harvard Review of Latin America, David Rockefeller Center for Latin American Studies, Harvard University 2008, S. 11. Siehe auch dazu Crisp, Brian: Presidential Decree Authority in Venezuela, in: Carey, John/Shugart, Matthew: Executive decree authority, Cambridge 1998, S. 142–196. 279 Kritische Bemerkungen bei Brewer-Carías, Allan: Apreciación general sobre los vicios de inconstitucionalidad que afectan los Decretos Leyes Habilitados, in: Ley Habilitante del 13-11-2000 y sus Decretos Leyes, Academia de Ciencias Políticas y Sociales, Serie Eventos N ë 17, Caracas 2002, S. 63–103. 280 Die unterschiedliche Aufarbeitung der Kolonialgeschichte in Südamerika kommt hier zum Ausdruck in der Art, wie die Geschichte und ihre Quellen zitiert werden. Länder wie Peru beziehen ihre Verfassungstradition bereits auf die Verfassung von Cádiz, wie auf der Internetseite des Peruanischen Kongresses zu finden ist. Das erste Dokument der Verfassungsgeschichte Perus ist die Verfassung von Cádiz. Anders in Bolivien, wo die Übergangsphase von der Kolonialzeit zur Republikzeit gerne eher als ein radikaler Bruch betrachtet wird. Vgl. dazu Pareja Paz Soldán, José: Derecho Constitucional Peruano, Lima 1973, S. 35–44. Allgemein zu der Verfassungsgeschichte in Peru siehe dazu Bonilla, Frank: Constitución politica del Perú, Lima 1977.

IV. Das Präsidialsystem und die duale Legitimation

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welche ähnlich wie bei einer Monarchie eine zentralisierte und starke Exekutive vorsahen. Bis 1933 gab es zehn Verfassungen, darunter die von 1823, 1826, 1856 und 1867, welche nach Pareja Soldán lediglich eine nominalistische Existenz hatten.281 Nach Art. 40 und Art. 49 der Verfassung von 1933 wurde der exekutiven Gewalt die Befugnis eingeräumt, in Notsituation Maßnahmen bezüglich der Grundversorgung der Bevölkerung in kommerziellen und industriellen Bereichen zu treffen. Selbst wenn diese Verfassung von 1933 ein semipräsidentiales System in Peru eingeführt hatte, bedeutet dies kaum eine größere Veränderung für die Ausgestaltung der Normsetzungskompetenz der exekutiven Gewalt. In sachlicher Hinsicht unterschieden sich die Verordnungen nach den Kriterien, die bereits vor 1933, in den Verfassungen von 1823, 1826, 1834 und 1839, zugrunde gelegt wurden. Zwar sahen diese Verfassungen keine generelle Delegation zum Erlass von Verordnungen vor, aber die Befugnis der Exekutive Notverordnungen zu erlassen, wurde in der Verfassungswirklichkeit als Delegation gehandhabt. Aufgrund eines Plebiszits von 1939 durfte der Kongress mit einem Sondergesetz die Gesetzgebung an die exekutive Gewalt delegieren. Dieses Sondergesetz sollte die Inhalte der Delegation für die Zeit festlegen, in der sich der Kongress nicht versammelte. Diese Verfassungsvorschrift wurde 1945 wieder außer Kraft gesetzt.282 Erst in der Verfassung von 1979 (Art. 211 Abs. 20), inspiriert von der venezolanischen Verfassung von 1961, wurde der exekutiven Gewalt die Befugnis eingeräumt, außergewöhnliche Maßnahmen in ökonomischen und finanziellen Angelegenheiten zu erlassen. Anders als im Fall von Venezuela musste der Kongress zuvor ein Ermächtigungsgesetz verabschieden.283 281 Sehr polemisch und scharfsinnig ist die subtile These von Verfassungsrechtler Pareja Paz Soldán in Bezug auf die Konföderation zwischen Perú und Bolivien 1834, wonach es ein regionales Problem zwischen den Anden (Süd Peru und Bolivien) und der Küste (Nord und Zentralperu) gegeben habe. Die politische Instabilität Peru und Boliviens im Gegensatz zu der politischen Stabilität Chiles Anfang des 19. Jahrhunderts und Mitte des 20. Jahrhunderts beruht auf der Homogenität dieses letzteren Landes und auf der Fehlentscheidung des Anden-Präsidenten Santa Cruz, 1834 einen Staatenbund zwischen Peru und Bolivien zu gründen, der beide Länder zu einem Chaos führte. Pareja Paz Soldán (Anm. 280), S. 3 ff. 282 Zur Geschichte der Dringlichkeitsgesetzgebung in Perú (Legislación de urgencia) siehe Paniagua, Valentín: La legislación delegada y de urgencia en el Perú y la Constitución Española de 1978, in: Fernández Segado, Fransisco (Hrsg.), La constitución española 1978 y el constitucionalismo iberoamericano, Madrid 2003, S. 697–712. Landa, César: Los decretos de urgencia en el Perú, in: Pensamiento Constitucional, Nr. 9, Lima (2003), S. 131–148. 283 Vgl. dazu García Belaúnde (Anm. 201), S. 17–39; Eguiguren Praeli, Fransisco: Los retos de una democracia insuficiente. Diez años de régimen constitucional en el Perú 1980–1990, Comsión Andina de Juristas, Lima 1990; Planas, Pedro: Decreto de urgencia y „medidas extraordinarias“. Notas para una tipificación, in: Ius et Veritas, n. 7, Lima 1993, S. 133–158.

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3. Kap.: Grundkonzeption der exekutiven Normsetzung

Die elfte Verfassung von 1979 ist als Grundlage für die aktuelle Verfassung von 1993 zu sehen.284 Der Prozess der Verfassungsgebung fand in einer Übergangsphase zwischen Diktatur und Demokratie statt, in der die Militärs die Macht langsam, Stück für Stück, an die Zivilregierung übergaben, um sich dadurch ein Amnestiegesetz zu verschaffen. Nach Inkrafttreten der peruanischen Verfassung von 1979 verfügte die Exekutive über Normsetzungsbefugnisse. Ausdrücklich räumte die einschlägige Vorschrift jedoch nur das Recht ein, die nötigen Maßnahmen in ökonomischen und finanziell dringlichen Situationen zu regeln. Überwiegend wurde der Begriff „Maßnahme“ weit ausgelegt, so dass aus der Delegation auch das Recht zum Erlass von Verordnungen mit Gesetzeskraft abgeleitet werden konnte. Die Unterscheidung zwischen Dringlichkeitsrechtsetzung (legislación de urgencia), Notdekreten mit Gesetzeskraft (Decretos de Necesidad con fuerza de ley) und außergewöhnlichen Maßnahmen wurde bei der Ausarbeitung der Verfassung 1979 diskutiert, in der Praxis blieb die Differenzierung ohne Bedeutung. In sachlicher Hinsicht blieb die Befugnis des Staatspräsidenten im Falle eines Dringlichkeitszustands sehr flexibel, denn die Beschränkung auf ökonomische und finanzielle Maßnahmen im nationalen Interesse erlaubte Maßnahmen zu erlassen, die z. B. Steuern per Dekret festsetzten. Dies verstieß gegen den Gesetzesvorbehalt und sogar gegen das Organgesetz, welches eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Kongress vorschreibt. Darüber hinaus war für die Maßnahmen des Staatspräsidenten keine zeitliche Befristung vorgesehen. Die Verfassung von 1979 beinhaltete neue Normkategorien, nämlich die Organgesetze (Leyes Orgánicas), die gesetzlichen Dekrete (Decretos Legislativos) und die aussergewöhnlichen Maßnahmen mit Gesetzeskraft (Medidas Extraordinarias). Die rechtsdogmatische Lösung wurde jedoch in der Praxis nicht konsequent befolgt. Die verbreitete Praxis der exekutiven Gewalt, Normen zu allen Gegenständen zu erlassen, veranlasste den Kongress, ein Gesetz285 zu verabschieden, in dem die normativen Akte des Staatspräsidenten als Normkategorie mit Gesetzeskraft anerkannt wurden. Diese werden als außerordentliche „Oberste Dekrete“ bezeichnet und haben Gesetzeskraft. In einem Beschluss beschränkte das Verfassungsgericht286 sich selbst, indem es entschied, dass die außerordentlichen De284 Zu einer ausführlichen Analyse mit der beigefügter deutscher Übersetzung des Verfassungstextes der peruanischen Verfassung 1979 siehe Sommermann, Karl-Peter: Verfassungsrecht und Verfassungskontrolle in Peru, in: JöR N.F. 36 (1987), S. 597–678. 285 Das Gesetz No. 25397 über die parlamentarische Kontrolle der normativen Akte des Staatspräsidenten (Ley de Control Parlamentario sobre los Actos Normativos del Presidente de la República). 286 „El presidente es competente para dictar medidas extraordinarias, mediante decretos de ugencia con fuerza de ley, en materia económica y financiera, cuando así lo requiera el interés nacional y con cargo a dar cuenta al Congreso. El congreso puede modificar o derogar los referidos decretos de urgencia. Conforme al Reglamento del

IV. Das Präsidialsystem und die duale Legitimation

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krete der Kontrolle durch den Kongress unterliegen. Diese Normkategorie unterliegt somit keiner gerichtlichen Kontrolle. Das Gesetz No. 23.230 ermöglichte, die 12.000 Gesetz-Dekrete (Decretos Leyes) der Diktaturzeit in die peruanische Rechtsordnung zu integrieren. Damit hatte sich weder die Verfassung von 1933 noch die von 1979 auseinandergesetzt. Alberto Fujimori, der demokratisch gewählte Präsident, entschied am 5. April 1992 die verfassungswidrige Auflösung des peruanischen Kongresses, um seine politischen Maßnahmen per Dekret durchsetzen zu lassen. Im Januar 1993 wurde ein Verfassungstext erarbeitet, der durch einen Konstituierenden Kongress am 7. September 1993 verabschiedet wurde. Am 31. Oktober 1993 stimmten die Bürger per Referendum mit knapper Mehrheit dafür.287 Ausschlaggebend für die Einführung dieser neuen Verfassung war Art. 112, der die unmittelbare Wiederwahl des Präsidenten vorsah. Eine erneute Kandidatur ist dann erst nach Ablauf einer weiteren Wahlperiode möglich.288 Die peruanische Verfassung vom 20. Dezember 1993 schaffte das Zwei-Kammer-System ab. Der Nationalkongress besteht nur noch aus einer Abgeordnetenkammer. Nach Art. 118 Abs. 19 der peruanischen Verfassung kann der Präsident außerordentliche Maßnahmen durch Dringlichkeitsdekrete mit Gesetzeskraft, in ökonomischen und finanziellen Angelegenheiten erlassen, wenn es das nationale Interesse erfordert. Er muss vor dem Kongress Rechenschaft ablegen. Der Kongress hat das Recht, diese Dringlichkeitsdekrete zu modifizieren und außer Kraft zu setzen.289

congreso la copia del Decreto de urgencia debe remitirse a la Comisión de Constitución y Reglamento para su estudio dentro del plazo improrrogable de quince días útiles (art.91). Si el decreto de urgencia versa sobre las materias senalas en el inciso 19) del artículo 118 de la Constitución y se fundamenta en la urgencia de situaciones extraordinarias e imprevisibles cuyo riesgo inminente de que se extiendan constituye un peligro para la economía nacional o finanzas públicas.“ Beschluss Nr. 057-90-TR, Arequipa, 3 de octubre 1990, por el Tribunal Constitucional Resolución en el proceso de inconstitucionalidad del Decreto Supremo. Zu dieser Kompetenz sieh dazu ausführlich in Schmitt, Gregory: Presidential Ursupation or Congressional Preference? The Evolution of Executive Decree Authority in Peru, in: Carey, John/Shugart, Matthew: Executive decree authority, Cambridge 1998, S. 104–141. 287 Vgl. dazu Bernales Ballesteros, Enrique: La Constitución de 1993, Análisis Comparado, Lima 1996. 288 Ein Interpretationsgesetz vom 23.08.1996 (Gesetz Nr. 26657) machte Fujimori den Weg frei zu kandieren, denn seine Amtszeit von 1990–1993 wurde nicht angerechnet. Das Verfassungsgericht entschied, dieses Gesetz sei verfassungswidrig. 289 Die Regierung Fernando Belaúnde (1980–1985) hat 667 Dringlichkeitsdekrete erlassen, die Regierung von Alan García (1985–1990) 1338 Dringlichkeitsdekrete und die verfassungsmäßige Regierung von Alberto Fujimori (1990–1992) 574 Dekrete. Zwischen Juli 1995, dem Monat des Inkrafttretens der neuen Verfassung, und Juli 1997, wurden 66% aller Gesetze durch die Exekutive entweder über decretos legislativos oder über decretos de urgencia verabschiedet, nur ein Drittel der Gesetze wurde vom Parlament beschlossen. Planas (Anm. 283), S. 581–582.

Viertes Kapitel

Praxis der exekutiven Normsetzung in Bolivien I. Das Rechtsquellensystem in Bolivien Artikel 86 der bolivianischen Verfassung von 1861 stellte aus verfassungsvergleichender Sicht eine juristische Innovation dar, da er die Normenhierarchie im Verfassungsrecht selbst und zwar in der Reihenfolge von Verfassung, Gesetz und Dekret schriftlich festlegte. Diese Normenhierarchie wurde in jeder neuen Verfassungsreform bis 2009 übernommen. Artikel 410 der neuen Verfassung Boliviens (CPE) von 2009 führt zum ersten Mal nach 148 Jahren eine Veränderung des Rechtsquellensystems ein. Artikel 410 der CPE lautet: Jede natürliche und juristische Person sowie die öffentlichen Organe, die staatlichen Institutionen und die öffentlichen Funktionen sind dieser Verfassung unterworfen. Die Verfassung ist die oberste Norm der bolivianischen Rechtsordnung und hat Vorrang gegenüber allen anderen Rechtsvorschriften. Der Verfassungsrechtliche Block schließt die internationalen Abkommen und Konventionen auf dem Gebiet der Menschenrechte und den Normen des Gemeinschaftsrechts ein, welche bereits ratifiziert wurden. Die Anwendung der rechtlichen Normen wird sich in Übereinstimmung mit den Kompetenzen der Gebietskörperschaften an folgende Hierarchie halten: 1. Die politische Verfassung des Staates. 2. Die internationalen Abkommen. 3. Die nationalen Gesetze, die Autonomiestatuten, die Cartas Orgánicas (Organchartas) und auf Departments-, Gemeinde und Indigene Gesetzgebung. 4. Die Dekrete, Verordnungen und weiteren Beschlüsse der entsprechenden Organe der Exekutive.

Zum ersten Mal werden die Autonomiestatuten, die Cartas Orgánicas (Organchartas) und die Indigene Gesetzgebung in die Rechtsquellenhierarchie Boliviens eingeführt. In verfassungsvergleichender Sicht wird den Autonomiestatuten jedoch nicht die Funktion erteilt, wie es z. B. im spanischen Rechtssystem der Fall ist.290 Während der Übergangsphase zur Anpassung zu der neuen Verfassung ha290 Zur Rechtsdogmatik der Rechtsquellen in einem Staat mit autonomen Regionen siehe De Otto, Ignacio: Derecho constitucional, sistema de fuentes, Barcelona 1988. Santamaria Pastor, Juan Alfonso: El sistema de fuentes del derecho en los primeros cincuenta años de vida de la Revista de Administración Pública (1950–1999), in: Revista de Administración Pública, Num. 150, 1999, S. 533–576.

I. Das Rechtsquellensystem in Bolivien

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ben die Dekrete in der Praxis Vorrang gegenüber den Autonomiestatuten291, obwohl die Normsetzung der exekutiven Gewalt in der Reihenfolge der Normenhierarchie auf der vierten Ebene aufgelistet wird. Zum ersten Mal wird die Unterscheidung zwischen Dekret und Verordnung erwähnt. Die Normsetzung bleibt weiterhin ohne weitere verfassungsrechtliche normative Differenzierung innerhalb der Rechtsnormen der exekutiven Organe. 1. Die Verfassung und die Rechtsquellen mit Verfassungsrang a) Die Verfassung Die Verfassung ist die oberste Norm der bolivianischen Rechtsordnung und hat Vorrang gegenüber allen anderen Rechtsvorschriften. Zu den Rechtsvorschriften mit Verfassungsrang zählen neben der Verfassung auch das Gesetz zur Verfassungsteilreform (ley de reforma parcial constitucional) sowie die Verfassungsgesetze (leyes constitucionales). b) Einordnung des „Verfassungsrechtlichen Blocks“ Unter dem Begriff „Verfassungsrechtlicher Block“ versteht das ehemalige bolivianischen Verfassungsgericht292, dass den ausdrücklich im Verfassungstext verankerten Normen und Prinzipien auf gleicher Hierarchieebene Bestimmungen hinzugefügt werden, die nicht explizit im Text der Verfassung enthalten sind. Diese Normen dienen als Parameter zur Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit. Der „verfassungsrechtliche Block“ wird zwar in Artikel 410 Abs. 2 über das Rechtsquellensystem definiert, wird dann aber nicht mehr in der Liste der Normenhierarchie erwähnt. Daher ist seine Einordnung innerhalb der Rechtsquellensystematik unklar. Der Verfassungsrechtliche Block ermöglicht die Interpretation des nationalen Verfassungstextes und der internationalen Menschenrechtsabkommen auf einer Ebene durch das Verfassungsgericht. Aus Artikel 256 der Verfassung lässt sich eine Verbindung zum Verfassungsrechtlichen Block und seiner Einordnung in die Rechtsquellensystematik ableiten. Artikel 256 der CPE besagt: (1) Die ratifizierten internationalen Verträge oder Rechtsinstrumente im Bereich der Menschenrechte werden bei der Anwendung bevorzugt, wenn sie mehr Rechte als die nationale Verfassung gewähren. (2) Die Grundrechte innerhalb der Verfassung werden in Übereinstimmung mit den internationalen Verträgen im Bereich der Menschenrechte interpretiert, wenn diese vorteilhafter für die Berechtigten sind.

291 292

Diese Aspekte werden im Abschnitt 2 behandelt. Sentencia Constitucional/2004, Gaceta Constitucional vom 6.09.2004.

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4. Kap.: Praxis der exekutiven Normsetzung in Bolivien

c) Gesetz zur Verfassungsteilreform Seit der Gründung der Republik unterliegt das Verfahren zur Verfassungsreform strengen Kriterien. Die neue Verfassung bricht mit den traditionellen Vorschriften für Verfassungsänderungen. Danach wurden Verfassungsänderungen in zwei Legislaturperioden mit dazwischen liegender Präsidentschaftswahl durchgeführt. In jeder Legislaturperiode sollte ein Gesetz mit qualifizierter Zwei-DrittelMehrheit verabschiedet werden. In dem ersten Gesetz, genannt „Ley de Necesidad de declaratoria de Reforma Constitucional“ (Gesetz über die Erklärung der notwendigen Verfassungsreform), wurden die Artikel der Verfassung aufgezählt, welche reformiert werden sollten. Der Inhalt dieser Bestimmung sollte jedoch nicht festgelegt werden. Erst in der nächsten Legislaturperiode wurde ein Gesetz mit dem Zweck, den oben genannten Artikeln neuen Inhalt zu geben, verabschiedet. Das Gesetz 2631 (Gesetz der Verfassungsteilreform) ermöglichte die Übergangsphase von einer Verfassungsänderung zu einem Verfassungswandel. GESETZ 2631 vom 20. Februar 2004, CARLOS MESA GISBERT, VERFASSUNGSMÄSSIGER PRÄSIDENT DER REPUBLIK (BOLIVIEN) Demzufolge hat der ehrwürdige Nationalkongress das folgende Gesetz verabschiedet: Einziger Artikel: Die Artikel 1, 4, 23, 38, 39, 52, 61, 71, 95, 120, 222, 223, 224, 231, 232 der Staatsverfassung werden wie folgt neugefasst: ARTIKEL 1.- Bolivien, frei, unabhängig, souverän, multiethnisch und plurikulturell, gegründet als Unitarische Republik, nimmt für seine Regierung die demokratische partizipative Form an, die ihre Grundlage in der Einigkeit und Solidarität aller Bolivianer findet. Sie ist ein sozialer und demokratischer Rechtsstaat, der sich auf die obersten Werte der Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit stützt. ARTIKEL 4.- Das Volk fasst seine eigenen Beschlüsse und regiert durch seine Vertreter und die Verfassungsgebende Versammlung, die bürgerliche Gesetzesinitiative und das Referendum, geschaffen durch diese Verfassung und normiert durch Gesetz. Jegliche Streitkraft oder Personenvereinigung, welche versucht die Ausübung der Volkssouveränität an sich zu ziehen, begeht ein Verbrechen gegen den Staat. ARTIKEL 23.- Jedermann, der glaubt, grundlos oder rechtswidrig daran gehindert zu werden, solche Daten zur Kenntnis zu nehmen, Einwände dagegen vorzubringen oder ihre Vernichtung oder Richtigstellung zu verlangen, die durch jegliches Medium körperlicher, elektronischer, magnetischer oder informationstechnischer Art in öffentlichen oder privaten Archiven oder Datenbanken gespeichert sind, und die sein Grundrecht auf Intimsphäre, auf persönliche und familiäre Privatsphäre, sein Grundrecht am eigenen Bild, seine Ehre und seinen Ruf, die in dieser Verfassung anerkannt sind, betreffen, kann den Rechtsbehelf des „Habeas Data“ vor dem Distriktgericht oder vor jedem Gericht seiner Wahl einlegen. Wenn das zuständige Gericht oder der zuständige Richter den Rechtsbehelf für zulässig erklärt, wird er die Offenlegung, Vernichtung oder Richtigstellung der persönlichen Daten, deren Speicherung angefochten wurde, anordnen.

I. Das Rechtsquellensystem in Bolivien

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Das Urteil, das gesprochen wurde, wird von Amts wegen innerhalb einer Frist von 24 Stunden dem Verfassungsgericht zu Revision vorgelegt, ohne dass dabei der Vollzug des Urteils aufgehoben wird. Der Rechtsbehelf ist nicht zulässig mit dem Ziel, die Schweigepflicht im Pressewesen aufzuheben. Der Rechtshelf des „Habeas Data“ wird gemäß dem für den Amparo Constitucional in Artikel 19 dieser Verfassung vorgesehenen Verfahren durchgeführt. ARTIKEL 38.- Die Bolivianer, Männer und Frauen, die mit Ausländern verheiratet sind, verlieren nicht ihre Staatsbürgerschaft. Die Ausländer, Männer und Frauen, die mit Bolivianern oder Bolivianerinnen verheiratet sind, erwerben die bolivianische Staatsbürgerschaft, solange sie ihren Wohnsitz im Land haben und ihr Einverständnis erklären, und verlieren sie, selbst im Falle von Witwenstand oder Scheidung, nicht. ARTIKEL 39.- Die bolivianische Staatbürgerschaft geht nicht durch den Erwerb einer anderen Staatsbürgerschaft verloren. Wer die bolivianische Staatsbürgerschaft erwirbt, wird nicht gezwungen auf seine ursprüngliche Staatsbürgerschaft zu verzichten. ARTIKEL 52.- Kein Senator oder Abgeordneter darf ab dem Tag seiner Wahl oder bis zum Ende seines Mandats, ohne Unterbrechung, angezeigt, angeklagt oder seiner Freiheit beraubt werden ohne vorherige Genehmigung des Obersten Gerichtshofs mit zwei Dritteln der Stimmen seiner Mitglieder und auf Anklageerhebung vom Nationalstaatsanwalt, es sei denn, er wird bei Begehung der Tat festgenommen. ARTIKEL 61.- Um Abgeordneter zu sein, muss man: Bolivianer von Geburt sein und als Mann die Wehrpflicht erfüllt haben, von einer politischen Partei oder direkt von Bürgervereinigungen und/oder indigenen Völkern vorgeschlagen werden, in der Form, wie es diese Verfassung und die Gesetze bestimmen. ARTIKEL 71.- Die Bürger können Gesetzentwürfe in allen Fachgebieten direkt der legislativen Gewalt vorlegen. Das Gesetz wird die Bedingungen und das Verfahren ihrer obligatorischen Behandlung bei dem zuständigen Organ bestimmen. ARTIKEL 95.- Der Präsident der Republik darf außerhalb des Staatsgebietes nicht mehr als fünf Tage ohne die Erlaubnis des Kongresses abwesend sein. Nach seiner Rückkehr muss er einen Bericht vor dem Kongress abgeben. ARTIKEL 120.- Zusätzlich bestehen folgende Zuständigkeiten des Verfassungsgerichts: Die Revision der Rechtsmittel von Amparo Constitucional, Habeas Corpus und Habeas Data. ARTIKEL 222.- Die Volksvertretung wird gemäß dieser Verfassung durch die politischen Parteien, Bürgervereinigungen und Indigenen Völker ausgeübt. ARTIKEL 223.- Die politischen Parteien, Bürgervereinigungen und Indigenen Völker, welche bei der Volksvertretung mitwirken, sind öffentliche juristische Personen. Ihre Programme, Organisationen und deren Verwirklichung müssen demokratisch sein und angepasst an die Prinzipien, Rechte und Garantien, die von dieser Verfassung geschützt sind. Sie müssen sich registrieren lassen und ihre Persönlichkeit vor dem Nationalen Wahlorgan anerkennen lassen. Sie werden zur Rechenschaft gezogen

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4. Kap.: Praxis der exekutiven Normsetzung in Bolivien

über die staatlichen finanziellen Mittel, die sie bekommen haben, und werden der staatlichen Finanzkontrolle unterworfen sein. ARTIKEL 224.- Die politischen Parteien, Bürgervereinigungen und Indigenen Völker können direkt Kandidaten für Präsident, Vizepräsident, Senatoren, Abgeordnete, Mitglieder der verfassungsgebenden Versammlung, Gemeinderats Mitglieder, Bürgermeister und Kommunalwahlbeamte vorschlagen, in Gleichstellung vor dem Gesetz, und in Erfüllung der Voraussetzungen desselben. ARTIKEL 231.- In einer neuen Legislaturperiode wird der Gegenstand der Verfassungsreform von der Kammer behandelt, welche die Verfassungsreform entworfen hat. Und wenn diese zwei Drittel der Stimmen bekommt, wird der Entwurf der anderen Kammer zugeleitet. In der zweiten Kammer bedarf der Entwurf ebenso einer Zweidrittelmehrheit. Die weiteren Schritte werden dieselben sein, welche die Verfassung für die Verhältnisse zwischen beiden Kammern vorsieht. Die Kammern werden Beschlüsse fassen und über die Reformen gemäß dem „Deklaratorischen Gesetz“ über die Verfassungsreformen abstimmen. Die verabschiedete Reform wird der exekutiven Gewalt zur Verkündung zugeleitet, ohne dass der Präsident gegen dieses Gesetz Einspruch einlegen kann. Wenn die Änderung die Amtzeit des Präsidenten oder Vizepräsidenten betrifft, wird diese erst in der nächsten Legislaturperiode in Kraft treten. ARTIKEL 232.- Die vollständige Reform der Verfassung ist ausschließliche Befugnis der Verfassungsgebenden Versammlung, die aufgrund eines besonderen Gesetzes ins Leben gerufen wird. Das Gesetz bestimmt Form und Modalitäten der Wahl der Mitglieder der Verfassungsgebenden Versammlung und wird mit Zweidrittelmehrheit der anwesenden Mitglieder im Nationalkongress verabschiedet. Der Präsident der Republik darf kein Veto gegen dieses Gesetz einlegen. Dies ist in Übereinstimmung mit der Verfassung der exekutiven Gewalt zu übermitteln. Das Gesetz wird im Sitzungssaal des ehrenwürdigen Nationalkongresses am 19.02.2004 verabschiedet. Aus diesem Grund verkünde ich dieses Gesetz, so dass es als Grundgesetz der Republik geachtet und befolgt wird. Regierungspalast der Stadt La Paz, dem 20.02.2004. Unterschrieben von Carlos Mesa Gisbert, Präsident Boliviens.

Die folgenden fünf Artikel dienen als gutes Beispiel, um aufzuzeigen, wie unterschiedlich die Verfassungsreformen inhaltlich gestaltet sind. Sie beinhalten entweder eine Verfassungsänderung oder einen Verfassungswandel. Der Vergleich beruht auf der Verfassung von 1967, reformiert bereits mit einem Gesetz der Verfassungsteilreform von 1994, und dem Gesetz der Verfassungsteilreform von 2004: Bolivianische Verfassung von 1967

Gesetz der Verfassungsteilreform von 2004

ARTIKEL 1.Bolivien, frei, unabhängig, souverän, multiethnisch und multikulturell, gegründet als Unitarische Republik, nimmt die repräsentative demokratische Regierungsform an, die ihre Grundlage in der Einigkeit und Solidarität aller Bolivianer findet.

ARTIKEL 1.Bolivien, frei, unabhängig, souverän, multiethnisch und plurikulturell, gegründet als Unitarische Republik, nimmt für seine Regierung die demokratische partizipative Form an, die ihre Grundlage in der Einigkeit und Solidarität aller Bolivianer findet.

I. Das Rechtsquellensystem in Bolivien

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Es ist ein sozialer und demokratischer Rechtstaat, der sich auf die obersten Werte der Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit stützt. ARTIKEL 4.I. Das Volk fasst weder einen eigenen Beschluss noch regiert es selbst, sondern handelt durch seine Vertreter und die Behörden, die zu diesem Zweck rechtmäßig geschaffen wurden. II. Jede Streitkräfte oder Personenvereinigung, welche die Ausübung der Souveränität des Volkes an sich zieht, begeht ein Verbrechen gegen den Staat.

ARTIKEL 4.I. Das Volk fasst seine eigenen Beschlüsse und regiert durch seine Vertreter und die Verfassungsgebende Versammlung, die bürgerliche Gesetzesinitiative und das Referendum, geschaffen durch diese Verfassung und normiert durch Gesetz. II. Jegliche Streitkraft oder Personenvereinigung, welche versucht, die Ausübung der Volkssouveränität an sich zu ziehen, begeht ein Verbrechen gegen den Staat.

ARTIKEL 23.ARTIKEL 23.Die Beschlagnahme von Sachen aus poli- Jedermann, der glaubt, grundlos oder tischen Gründen ist ausgeschlossen. rechtswidrig daran gehindert zu werden, – solche Daten zur Kenntnis zu nehmen, Einwände dagegen vorzubringen oder ihre Vernichtung oder Richtigstellung zu verlangen, – die durch jegliches Medium körperlicher, elektronischer, magnetischer oder informationstechnischer Art in öffentlichen oder privaten Archiven oder Datenbanken gespeichert sind, – und die sein Grundrecht auf Intimsphäre, auf persönliche und familiäre Privatsphäre, sein Grundrecht am eigenen Bild, seine Ehre und seinen Ruf, die in dieser Verfassung anerkannt sind, betreffen, – kann dem Rechtsbehelf des „Habeas Data“ vor dem Distriktgericht oder vor jedem Gericht seiner Wahl einlegen. Wenn das zuständige Gericht oder der zuständige Richter den Rechtsbehelf für zulässig erklärt, wird er die Offenlegung, Vernichtung oder Richtigstellung der persönlichen Daten, deren Speicherung angefochten wurde, anordnen. Das Urteil, das gesprochen wurde, wird von Amts wegen innerhalb einer Frist von 24 Stunden dem Verfassungsgericht zu Revision vorgelegt, ohne dass dabei der Vollzug des Urteils aufgehoben wird. Der Rechtsbehelf ist nicht zulässig mit dem Ziel, die Schweigepflicht im Pressewesen aufzuheben. Der Rechtsbehelf des „Habeas Data“ wird gemäß dem für den Amparo Constitucional in Artikel 19 dieser Verfassung vorgesehenen Verfahren durchgeführt.

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4. Kap.: Praxis der exekutiven Normsetzung in Bolivien ARTIKEL 38.- Die Bolivianer, Männer und Frauen, die mit Ausländern verheiratet sind, verlieren nicht ihre Staatsbürgerschaft. Die Ausländer, Männer und Frauen, die mit Bolivianern oder Bolivianerinnen verheiratet sind, erwerben die bolivianische Staatsbürgerschaft, solange sie ihren Wohnsitz im Land haben und ihr Einverständnis erklären, und verlieren sie, selbst im Falle von Witwenstand oder Scheidung, nicht. ARTIKEL 232.- Die vollständige Reform der Verfassung ist ausschließliche Befugnis der Verfassungsgebenden Versammlung, die aufgrund eines besonderen Gesetzes ins Leben gerufen wird. Das Gesetz bestimmt Form und Modalitäten der Wahl der Mitglieder der Verfassungsgebenden Versammlung und wird mit Zweidrittelmehrheit der anwesenden Mitglieder im Nationalkongress verabschiedet. Der Präsident der Republik darf kein Veto gegen dieses Gesetz einlegen.

Artikel 1 und 232 bedeuten einen grundlegenden Verfassungswandel für das bolivianische Rechtssystem. Dadurch wird nämlich sowohl die partizipative Demokratie angenommen als auch die Instrumente der direkten Demokratie wie das Referendum oder die Beteiligung an den politischen Wahlen ohne politische Parteien; nicht zuletzt die Einführung der Verfassungsgebenden Versammlung ermöglicht eine totale Reform der Verfassung. Artikel 4 und 38 sind einfache Verfassungsmodifikationen der Verfassungsvorschriften. Artikel 411 der neuen bolivianischen Verfassung besagt: I. Die vollständige Reform der Verfassung oder diejenige, welche die grundlegende Basis, die Rechte, Pflichten oder Garantien oder den Vorrang und das Verfassungsreformverfahren betrifft, wird durch eine originäre und bevollmächtigte Verfassungsgebende Versammlung mittels eines Referendums eingeleitet. Die Einberufung des Referendums wird durch eine bürgerliche Initiative mit den Unterschriften von mindestens 20% der Wählerschaft aktiviert oder durch die absolute Mehrheit der Mitglieder der Plurinationalen Legislativen Versammlung oder durch die Präsidentin bzw. den Präsidenten der Republik aktiviert. Die Verfassungsgebende Versammlung wird sich eine eigene Geschäftsordnung geben und einen Verfassungsentwurf mit zwei Dritteln der anwesenden Mitglieder verabschieden. Die Gültigkeit dieser Reform bedarf eines zustimmenden Referendums. II. Die Teilreform der Verfassung kann durch eine Volksinitiative oder mit Unterschriften von mindestens zwei Dritteln der anwesenden Mitglieder der Plurinationalen Legislativen Versammlung eingeleitet werden. Für jede Verfassungsteilreform bedarf es eines zustimmenden Verfassungsreferendums.

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2. Die internationalen Verträge Art. 257 CPE bestimmt den Gesetzesrang von internationalen Abkommen. Zudem werden Fälle aufgeführt, in denen die internationalen Verträge vor ihrer Ratifizierung der Zustimmung der Bevölkerung durch ein Referendum unterworfen werden müssen: internationale Abkommen welche Landesgrenzen zum Gegenstand haben, die Einführung einer gemeinsamen Währung, eine strukturelle Wirtschaftsintegration und die Übertragung von institutionellen Kompetenzen auf internationale Organisationen oder auf supranationale Organisationen im Rahmen eines zwischenstaatlichen Integrationsprozesses. Nach Artikel 410 werden die internationalen Abkommen zwar an zweiter Stelle der Normenhierarchie vor den formellen Gesetzen genannt. In Verbindung mit Artikel 257 erlangen die internationalen Abkommen jedoch Gesetzesrang, wodurch sie indirekt auf dieselbe Ebene wie die nationalen Gesetzen gestellt werden. Das heißt, in der Normenhierarchie zählen die internationen Verträge zu den formellen Gesetzen, weil sie durch ein Gesetz ratifiziert sein müssen. (Ausnahme sind die internationalen Verträgen, welche durch Referendum die Zustimmung der Bevölkerung bekommen.) 3. Formelle und materielle Gesetze Ein Novum für Bolivien sind die Autonomiestatute, die „Cartas Orgánicas“, (Organchartas) und die Gesetzgebung der Departments der Gemeinden und der Indigenen Völker, welche den gleichen Rang wie die formellen Gesetzen haben. Diese gelten demzufolge als materielle Gesetze. a) Formelle Gesetze Bei den Verfassungsgesetzen (leyes constitucionales) handelt es sich um Gesetze, die in der Verfassung ausdrücklich erwähnt werden, die aber keine weitere normative Differenzierung mit sich bringen. Gesetze, die als Verfassungsgesetze qualifiziert werden, bedürfen zu ihrer Änderung einer Zweidrittelmehrheit der Mitglieder des Parlaments. Derartige Verfassungsgesetze waren auch in der vorherigen Verfassung vorhanden, jedoch war immer die Zweidrittelmehrheit für ihre Verabschiedung erforderlich, wie zum Beispiel die Gesetze nach Artikel 59 num. 20 über die Wahl des Verteidigers des Volkes; nach Artikel 119 Abs. 2 über die Wahl der Verfassungsrichter, nach Artikel 126 über die Wahl des Generalanwaltes, nach Artikel 230 über die Verfassungsteilreform, nach Artikel 231 über die Revision, nach Artikel 234 über die authentische Interpretation der legislativen Gewalt. Folgende Verfassungsgesetze sind in der neuen Verfassung Bolivien enthalten, jedoch nicht immer an die Zweidrittelmehrheit gebunden, so z. B. in Art. 191, Ley de Deslinde Jurisdiccional (Gesetz der Gerichtlichen Abgrenzung), in

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Art. 262, Ley expresa aprobada por dos tercios para zona de seguridad fronteriza, (Gesetz mit Zweidrittelmehrheit für die Grenzsicherheitszone) und in Art. 251, Ley orgánica de la Policia Boliviana (Organgesetz der bolivianischen Polizei). Außerdem werden fünf Gesetze in der zweiten vorübergehenden Verfassungsvorschrift des abschließenden Teils der Verfassung ausdrücklich genannt. Zur Verabschiedung dieser fünf Gesetze ist der Plurinationalen Verfassungsgebenden Versammlung eine Frist von 180 Tagen gesetzt. Die Gesetze sind folgende: Das Gesetz der Plurinationalen Wahlorgane, das Gesetz der Wahlgerichtsbarkeit, das Gesetz über die Gerichtsordnung, das Plurinationale Verfassungsgerichtsgesetz und das Rahmengesetz für die Autonomien und den Dezentralisierungsprozess. Neben dem Verweis auf Verfassungsgesetze wird zusätzlich der allgemeine Verweis auf das Gesetz oft im Verfassungstext verwandt, allerdings wird er zu stark beansprucht. Ungewöhnlich und manchmal ungenau für den üblichen rechtsschriftlichen Sprachgebrauch ist die Rede von „das Gesetz“, so z. B. in Artikel 49 der CPE Abs. 2, der besagt: Das Gesetz regelt die individuellen und kollektive arbeitsrechtlichen Beziehungen bezüglich Verträgen und kollektiven Vereinbarungen; generelle- und spezielle Mindestlöhne, Lohnerhöhungen; Wiedereinstellungen, Ruhe- und Feiertage, Berechnungen der Dienstalters, Arbeitszeiten; Überstunden, Nachtschichten und Sonntagsruhe, Weihnachtsgeld, Boni, Extraprämien und andere Systeme der Beteiligung an Gewinnen des Unternehmers; Entschädigungen und Zwangsräumungen, Mutterschaft; berufliche Ausbildung und Fortbildung sowie andere soziale Rechte.

Weitere Beispiele sind in Art. 36 die staatliche Kontrolle der öffentlichen und privaten Gesundheitsdienstleistungen und in Art. 39 die Sanktionen für fahrlässige Handlungen oder Unterlassungen in der medizinischen Praxis. Eine allgemeine Formulierung findet sich in dem oft verwandten Ausdruck „gemäß dem Gesetz“ (de acuerdo a ley). Im Gegensatz zu dieser allgemeinen Formulierung werden die spezielleren Formulierungen „durch Gesetz“ oder „aufgrund eines Gesetzes“ (por ley o mediante ley) noch mit normativen Inhalten verknüpft. Dadurch beinhalten die spezielleren Formulierungen jeweils einen Gesetzesvorbehalt. Ein Beispiel hierfür ist das allgemeine Haushaltsgesetz, welches in Art. 321, Abs. 3 der CPE geregelt ist. Danach hat das exekutive Organ das Recht zur Gesetzesinitiative. Allerdings ist sein Recht zu Gesetzesinitiative nicht mehr wie in der vorherigen Verfassung ausschließlich. Ein weiteres Beispiel für einen Gesetzesvorbehalt beinhaltet Art. 323 Abs. 3, welcher die Steuern auf nationaler, Departments- und Gemeindeebene regelt. Die Plurinationale Legislative Versammlung klassifiziert und definiert aufgrund eines Gesetzes, welche Steuern dem nationalen, dem departamentalen und dem kommunalen Bereich zuzuschreiben sind. Im Ergebnis räumt die neue bolivianische Rechtsordnung der exekutiven Gewalt mithin keine Befugnisse ein, Rechtsvorschriften mit Verfassungsrang zu verfassen.

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b) Materielle Gesetze Die Departements, die am 2. Juli 2006 für ihre Autonomieregelungen optiert haben, erlangen ihre Departementsautonomie, sobald sie ihre Statuten an die neue Verfassung angepasst haben und die Verfassungskonformität durch das Plurinationale Verfassungsgericht geprüft wurde. Die bolivianische Verfassung sieht vor, dass erst die Plurinationale Legislative Versammlung den Autonomieprozess regelt. Die neue Verfassung von 2009 besagt in der neunten letzten Übergangsbestimmung des Verfassungstextes: „Die für die Entwicklung der verfassungsrechtlichen Bestimmungen notwendigen Gesetze müssen im Verlauf des ersten Jahres der Arbeit der Plurinationalen Legislativen Versammlung gebilligt werden.“ In den Departements La Paz, Cochabamba, Potosí, Chuquisaca und Oruro sowie in der Provinz Gran Chaco im Departement Tarija wurden Autonomiereferenden am 6. Dezember 2009 gemeinsam mit den neuen Präsidentschaftswahlen durchgeführt. Am 4. April 2010 wurden Departements und Kommunalwahlen abgehalten. Das Oberste Dekret vom 2. August 2009 autorisiert die Gemeinden, Referenden durchzuführen, um zu bestimmen, ob sie eine indigene Autonomie werden möchten. Mit diesem Dekret wird die Abstimmung über die Wiederumwandlung von Gemeinden in indigene Autonomien ermöglicht. Die „indigenen, eingeborenen und bäuerlichen Völker und Nationen“ die eine autonome indigene Gemeinde werden wollen, sollen ihre Cartas Orgánicas (Organchartas) ausarbeiten, um am 6. Dezember 2009 unter Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften ein Referendum ausführen zu können. Dafür sollten eine kommunale Anordnung veranlasst werden oder mindestens 10% der Unterschriften von der Gesamtheit der in den Wählerlisten verzeichneten Personen vorliegen. In Bolivien gibt es 84 „Tierras Comunitarias de Origen“, TCO (ursprüngliche gemeinschaftliche Ländereien), von den insgesamt 327 Gemeinden des Staates sind 187 indigene Gemeinden. Das Dekret legt den 24. August als Frist fest, zu der die Gemeinden, die sich für den Status einer indigenen Autonomie bewerben, ihre Vorschläge eingereicht haben müssen. Die Gemeinden, die ihre Autonomievorschläge vorgelegt haben, sind: Jesús de Machaca (La Paz), Tarabuco (Chuquisaca), Mojocoya (Chuquisaca), Chayanta (Potosí) und Charazani (La Paz) sowie die „Tierras Comunitarias de Origen“, TCO (ursprüngliche gemeinschaftliche Ländereien) von San Antonio de Lomerío (Santa Cruz) und Rajaypampa (Cochabamba). Laut der Verfassung ist die indigene Autonomie „der Ausdruck des Rechts auf Selbstbestimmung durch die Ausübung der Selbstbestimmung der Nationen und der eingeborenen indigenen Völker und der bäuerlichen Gemeinschaften, deren Bevölkerung Land, Kultur, eigene juristische, politische, soziale und ökonomische Organisationstrukturen und

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4. Kap.: Praxis der exekutiven Normsetzung in Bolivien

Institutionen teilt“. Die indigene Autonomie hat größere Entscheidungsbefugnis und erhält mehr Zuweisungen als die Departementsautonomie, sie hat das Vetorecht gegen die Ausbeutung von nichterneuerbaren Ressourcen wie Kohle und Bergbau. c) Übergangsbereich zwischen Gesetz und Dekret In der lateinamerikanischen konstitutionellen Rechtsordnung regeln die zwei Arten von Verordnungen (Gesetzesverordnungen und Notverordnungen), den Übergangsbereich zwischen Gesetz und Dekret. Diese sind in der bolivianischen konstitutionellen Rechtsordnung nicht zugelassen. Lediglich in drei Ländern (Brasilien, Argentinien und Peru) besitzen die Präsidenten eigenständige Verordnungsrechte, die nach der Verfassung für Eilentscheidungen in Ausnahmesituationen vorgesehen sind, sich in den betreffenden Ländern aber zu einem normalen Verfahren der Gesetzgebung entwickelt haben. Der Zweck der Notverordnungen besteht vor allem darin, die Handlungsfähigkeit der Regierung für eine Übergangszeit zu sichern. In Bolivien stimmt die Verfassungswirklichkeit mit dem Verfassungstext und der Regelung über die Notverordnungen nicht überein. Die bolivianische Verfassung hat weder eine engere Grundform der Normsetzung der exekutiven Gewalt noch die Notverordnungen oder ein Notstandsrecht entwickelt. Demzufolge haben die „Gesetzes-Dekrete“ (Decretos-Leyes) in Bolivien keinen Eingang in die bolivianischen Rechtquellen gefunden, da sie ausschließlich das Resultat von Normsetzungen in der Zeit der Diktatur sind. Für die Übersetzung des Begriffes „Decreto Ley“ ins Deutsche werden auch die Bezeichnungen „Verordnung mit Gesetzeskraft“, „gesetzesvertretende Verordnung“ oder „im Verordnungswege erlassenes Gesetz“ verwandt. Der Unterschied zwischen Decreto Ley (Notverordnung) und Decreto Legislativo (die auf Ermächtigung beruhende Dekrete) wird mit der Übersetzung „Verordnung mit Gesetzeskraft“ nicht deutlich vermittelt, nur durch den Begriff „Notverordnung“ wird dies klar.

4. Exekutive Normsetzung Im Bereich der vierten Ebene der Rechtsquellen verfügt die exekutive Gewalt über umfangreiche Zuständigkeiten zur Normsetzung durch sogenannte Dekrete. Die Verfassung spricht von Dekreten, Verordnungen und weiteren Beschlüssen der entsprechenden Organe der Exekutive. Der Begriff Dekret wird hier wie in der klassischen Reihenfolgen „Verfassung, Gesetz und Dekret“ verwendet. In den lateinamerikanischen Staaten wird der Begriff Dekret für die Rechtsformalitäten verwendet. In der Regel – jedoch nicht ausschließlich – werden die Verordnungen in Form von Dekreten erlassen. Über-

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wiegend bezeichnet der Begriff „Oberstes Dekret“ den Begriff für Verordnungen, die in der Rangfolge formellen Gesetzen untergeordnet sind. Als Verordnungen werden allerdings beispielweise auch die Geschäftsordnungen der Verfassungsorgane (der Parlamentskammern und des Verfassungsgerichtes) bezeichnet, welche aber nicht per Dekret sondern per Beschluss erlassen werden. Ferner tragen auch Rechtsvorschriften aus dem Zuständigkeitsbereich der Gebietskörperschaften (Departements, Provinzen, Subprovinzen und Kantone) und anderer öffentlichrechtlicher Körperschaften (Kommunen) die Bezeichnung Verordnungen. Lediglich die Form der Verordnungen ist unterschiedlich. Die bolivianische Rechtsordnung verwendet den Begriff Dekret mithin für eine Vielzahl höchst unterschiedlicher Rechtsinstitute. Entgegen der früher pauschal vorgenommenen Zuordnung von Dekreten zu „actos administrativos“ (Verwaltungsakte) wird heute seit dem „Obersten Dekret“ die Zugehörigkeit von Dekreten zu Rechtsvorschriften anerkannt. Der Grund für diesen bislang freizügigen Umgang mit Bezeichnungen für unterschiedliche Rechtsinstitute ist das nahezu vollkommene Schweigen, sowohl der heutigen Plurinationalen Staatsverfassung als auch des Parlaments, wodurch dem Präsidenten und seinem Kabinett stets die Aufgabe überlassen wurde, Bestimmungen über Art und Umfang für die Rechtsetzung zu treffen. Ein erhellendes Beispiel dafür ist die Regelung der Organisation der exekutiven Gewalt. Seit 1997 war die Organisation der exekutiven Gewalt durch Verordnung geregelt, nunmehr wird die Organisation der exekutiven Gewalt durch Oberstes Dekret geregelt. Die erste grundlegende Regelung entsprechender Zuständigkeiten der exekutiven Gewalt erfolgte durch den Gesetzgeber im Jahre 1997 durch die Einführung des Gesetzes Nr. 1788. Die zur Zeit letzten entsprechenden Regelungen über die Regierungstätigkeit und die Ordnung des Präsidiums des Ministerrates hat die exekutive Gewalt selbst in Artikel 153 des Obersten Dekrets 29.894 von 7. September 2009 über die Regelung der Regierungstätigkeit und die Ordnung des Präsidiums des Ministerrates vorgenommen. Mit dem Gesetz zur Organisation der exekutiven Gewalt No. 1788 (Ley de Organización del Poder Ejecutivo) hat der Gesetzgeber zum ersten Mal umfassend die Tätigkeit der exekutiven Gewalt geregelt. Die Zuständigkeiten des Ministerrates und seines Präsidenten wurden in den Artikeln 2 bis 5 aufgeführt. Ein größerer Abschnitt gilt der Verwaltungsorganisation der Ministerratspräsidentschaft in den Artikeln 18 bis 29. Mit seinen Bestimmungen diente das Gesetz in erster Linie der – lange Zeit unterbliebenen – Umsetzung des Art. 96 der vorherigen bolivianischen Verfassung, wonach die Aufgaben und die Organisation der Regierung durch Gesetze zu regeln waren. Diese Vorschriften ergänzten – teils erweiternd, teils einschränkend – die in der Verfassung vorgesehenen Rechtsetzungsbefugnisse der Regierung. Insbesondere für den Erlass von Verordnungen hatte das Gesetz bislang keine detaillierten Bestimmungen vorgesehen.

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4. Kap.: Praxis der exekutiven Normsetzung in Bolivien

II. Normsetzung als Aufgabe der exekutiven Gewalt in Bolivien 1. Zuständigkeiten der exekutiven Gewalt In einem kurzen Überblick sollen die Zuständigkeiten der exekutiven Gewalt der vorherigen Verfassung von 1967 (linke Spalte) skizziert und mit der neuen Verfassung von 2009 (rechte Spalte) verglichen werden; anschließend werden die Zuständigkeiten des Präsidenten im einzelnen analysiert: Bolivianische Verfassung von 1967, reformiert mit Verfassungsteilreform von 1994 und 2004

Bolivianische Verfassung von 25. Januar 2009

ZWEITER TITEL Die vollziehende Gewalt

ZWEITER TITEL Das exekutive Organ

Kapitel I Der Präsident der Republik

Kapitel I Zusammensetzung und Zuständigkeiten des exekutiven Organs

Art. 85. Die vollziehende Gewalt wird durch den Präsidenten der Republik mit dem Staatsminister ausgeübt.

Art. 86. Der Präsident der Republik wird in direkter Wahl gewählt. Zum gleichen Termin und in derselben Weise wird der Vizepräsident gewählt.

Art. 87. (1) Die nicht verlängerbare Amtszeit des Präsidenten der Republik beträgt fünf Jahre. Der Präsident kann nur noch einmal wiedergewählt werden,

Sektion I Allgemeine Regelung Art. 165. (1) Das exekutive Organ besteht aus der Staatspräsidentin oder dem Staatspräsidenten, der Vizepräsidentin oder dem Vizepräsidenten und den Ministerinnen und Ministern des Staates. (2) Für die Entscheidungen des Ministerrates sind alle Minister verantwortlich und tragen die Verantwortung gemeinsam. Sektion II Art. 166. (1) Die Staatspräsidentin oder der Staatpräsident wird in direkter und obligatorischer Wahl und durch mehr als 51% der gültig abgegebenen Stimmen gewählt; oder 40% der gültig abgegebenen Stimmen, wenn der Unterschied zu der zweiten Kandidatin oder dem zweiten Kandidat 10% beträgt. (2) Wenn keiner der Kandidaten die oben genannten Voraussetzungen erfüllt, wird innerhalb der folgenden 60 Tage zwischen den zwei Kandidaturen mit den Stimmen ein zweiter Wahlgang abgehalten. Die Kandidatur, welche die Mehrheit der Stimmen bekommt, wird zum Präsidentenamt oder Vizepräsidentenamt proklamiert. Art. 167. Um die Kandidatur für das Präsidentenamt oder dem Vizepräsidenten anzutreten, muss man die allgemeinen Voraussetzungen des Zugangs zum öffentlichen

II. Normsetzung als Aufgabe der exekutiven Gewalt in Bolivien nachdem mindestens eine Amtsperiode verstrichen sein muss.

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Dienst erfüllen, älter als 35 Jahre zum Zeitpunkt des Wahltags und 5 Jahre vor den Wahlen ansässig sein.

(2) Die nicht verlängerbare Amtszeit des Vizepräsidenten beträgt auch fünf Jahren. Der Präsident darf nicht Präsident oder Vizepräsident der Republik in der seiner Amtszeit folgenden Periode sein. Art. 88. Um als Präsident oder Vizepräsident der Republik gewählt zu werden, braucht man dieselben Voraussetzungen, die für die Senatoren vorgesehen werden.

Art. 168. Die nicht verlängerbare Amtszeit der Präsidentin oder des Präsidenten, der Vizepräsidentin oder des Vizepräsidenten des Staates beträgt fünf Jahre; sie dürfen nur einmal hintereinander wiedergewählt werden.

Art. 89. Weder um die Präsidentschaft noch um die Vizepräsidentschaft dürfen sich bewerben: (1) Die Staatsminister oder die Präsidenten von Einrichtungen mit einer ökonomischen oder sozialen Funktion, in denen es Beteiligung des Staates gibt, die nicht wenigstens sechs Monate vor der Wahl aus dem Amt geschieden sind;

Art. 169. (1) Im Falle von Hinderungsgründen oder Abwesenheit der Präsidentin oder des Präsidenten des Staates, wird sie oder er durch die Vizepräsidentin oder den Vizepräsidenten ersetzt. Bei dessen Verhinderung durch die Präsidentin oder den Präsidenten des Senats, und bei Verhinderung aller Präsidentinnen oder Präsidenten der Abgeordneterkammer, wer den neue Wahlen innerhalb der nächsten 90 Tagen einberufen.

(2) Die Blutsverwandten und die Verschwägerten bis zum zweiten Grad desjenigen, der die Präsidentschaft oder Vizepräsidentschaft in dem der Wahl vorangehenden Jahr ausgeübt hat;

(2) Bei zeitweisem Fehlen der Präsidentin oder des Präsidenten übernimmt das Präsidentenamt, wer das Vizepräsidentenamt ausübt. Diese Dauer darf nicht länger als 90 Tage sein.

(3) Die Mitglieder der Streitkräfte im aktiven Dienst, des Klerus oder Minister eines religiösen Kultes. Art. 170. Die Präsidentin oder der Präsident des Staates beendet ihre oder seine Amtszeit wegen Tod; Amtsniederlegung vor der Plurinationalen Legislativen Versammlung; dauerhafter Abwesendheit oder definitiver Verhinderung; vollstreckenden Strafurteils; und wegen Amtsenthebung. Art. 171. Im Falle einer Amtsenthebung beendet die Präsidentin oder der Präsident des Staates unverzüglich das Präsidentenamt. Die Person, welche das Vizepräsidentenamt ausübt, wird umgehend Präsidentschaftswahlen einberufen, welche innerhalb der nächsten 90 Tage stattfinden werden.

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4. Kap.: Praxis der exekutiven Normsetzung in Bolivien

Art. 95. Der Präsident der Republik kann nicht mehr als fünf Tage vom Staatsgebiet abwesend sein ohne die Erlaubnis des Kongresses. Nach seiner Rückkehr wird er seinen Bericht vor dem Kongress abgeben.

Art. 173. Die Präsidentin oder der Präsident des Staates kann nicht vom Staatsgebiet mehr als zehn Tage in offizieller Dienstreise abwesend sein ohne die Erlaubnis der Plurinationalen Legislativen Versammlung.

Die Verfassung von 2009 hat nach Art. 172 folgende neue Zuständigkeiten für die Präsidentin oder den Präsidenten vorgesehen293: Die Einheit des bolivianischen Staates zu bewahren; die allgemeine Politik der Regierung und des Staates zu leiten; die öffentliche Verwaltung zu leiten und die Tätigkeiten der Staatsminister zu koordinieren; die Obersten Dekrete und Be293 Artikel 172 der CPE besagt: Zuständigkeiten der Präsidentin oder des Präsidenten des Staates sind, außer sonstigen Aufgaben, welche die Verfassung und das Gesetz ihm auferlegen: 1. Die Verfassung und die Gesetze auszuführen und ausführen zu lassen. 2. Die Einheit des bolivianischen Staates zu bewahren. 3. Die allgemeine Politik der Regierung und des Staates zu leiten. 4. Die öffentliche Verwaltung zu leiten und die Tätigkeiten der Staatsminister zu koordinieren. 5. Die Außenpolitik zu leiten, internationale Abkommen abzuschließen, diplomatische und Konsulatsbeamte zu ernennen in Übereinstimmung mit dem Gesetz; die ausländischen Funktionäre im Lande zuzulassen. 6. Die Präsidentin oder Präsidenten der Plurinationalen Versammlung zu bitten, außerordentlichen Sitzungen einzuberufen. 7. Die von der Plurinationalen Versammlung sanktionierten Gesetze, zu verkünden. 8. Oberste Dekrete und Beschlüsse zu erlassen. 9. Das Staatsvermögen zu verwalten in Übereinstimmung mit dem Gesetz, durch das zuständige Ministerium Investitionen durchzuführen in Übereinstimmungen mit den Gesetzen und strickt gemäß des Haushaltsgrundsatzgesetzes. 10. Den sozioökonomischen Entwicklungsplan vor der Plurinationalen Legislativen Versammlung vorzulegen. 11. Innerhalb der ersten 30 Sitzungen den Entwurf des Haushaltsgesetzes für das nächste Finanzjahr vor der Plurinationalen Legislativen Versammlung vorzulegen und während des Finanzjahres die Modifikationen des Haushaltsgesetzes vozuschlagen. Den Bericht über die Ausgaben und Einnahmen des ausgeglichenen Haushalts vorzulegen. 12. Jedes Jahr zu Beginn der Legislaturperiode gegenüber der Plurinationalen Versammlung eine schriftliche Erklärung über die Lage der öffentlichen Verwaltung, begleitet von einzelnen Ministerialberichten, zu erstatten. 13. Die Urteile der Gerichte durchzuführen. 14. Begnadigungen zu gewähren mit Einwilligung der Plurinationalen Legislativen Versammlung. 15. Die Präsidentin oder den Präsidenten der bolivianischen Zentralbank, die höchste Autorität der Finanz- und Regulierungsbankenbehörde und des Rechnungshofs und alle weiteren Präsidentinnen und Präsidenten der sozioökonomischen staatlichen Behörden zu ernennen. 16. Über die äußere Sicherheit und Verteidigung des Staates zu wachen. 17. Alle Obergeneräle der Streitkräfte zu ernennen. 18. Den Obergeneral der bolivianischen Polizei zu ernennen. 18. Die Beförderung der Generäle der Streitkräfte und der Polizei vor der Plurinationalen Legislativen Versammlung gemäß den Beförderungsberichten vorzuschlagen. 20. Häfen zu gründen. 21. Die Vertretung der Exekutive für das Wahlorgan zu ernennen. 22. Die Staatsministerinnen und die Staatsminister zu ernennen und die Zusammensetzung des Ministerrats in Übereinstimmung mit dem Plurinationalen Charakter und der Parität zwischen Frauen und Männern zu bilden. 23. Die Staatsverteidigerin oder den Staatsverteidiger zu ernennen. 24. Gesetzesentwürfe über wirtschaftliche Dringlichkeit vor der Plurinationalen Legislativen Versammlung vorzulegen, welche vorrangig behandelt werden. 25. Das Amt der Oberbefehlshaberin oder des Oberbefehlshabers der Streitkräfte auszuüben mit allen entsprechenden Rechten. 26. Den Ausnahmezustand zu erklären. 27. Das bolivianische Amt der Agrarreform zu leiten und die Vollstreckungstitel der Landverteilung zu erteilen.

II. Normsetzung als Aufgabe der exekutiven Gewalt in Bolivien

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schlüsse zu erlassen; die Staatsministerinnen und Staatsminister zu ernennen und die Zusammensetzung des Ministerrats in Übereinstimmung mit dem Plurinationalen Charakter und Parität zwischen Frauen und Männer zu bilden; die Staatsverteidigerin oder den Staatsverteidiger zu ernennen; Gesetzesentwürfe über wirtschaftliche Dringlichkeit vor der Plurinationalen Legislativen Versammlung vorzulegen, welche vorrangig behandelt werden müssen. Die gleich bleibenden Zuständigkeiten wie in der vorherigen Verfassung sind: In Bezug auf die internationalen Beziehungen, die Außenpolitik zu leiten; internationale Abkommen abzuschließen; diplomatische und Konsulatsbeamte zu ernennen in Übereinstimmung mit dem Gesetz; die ausländischen Funktionäre im Lande zuzulassen. In Bezug auf die Ernennung von Beamten, die Präsidentin oder den Präsidenten der bolivianischen Zentralbank, die höchste Autorität der Finanz- und Regulierungsbankenbehörde und des Rechnungshofes und alle weiteren Präsidentinnen und Präsidenten der sozioökonomischen staatlichen Behörden, alle Obergeneräle der Streitkräfte, den Obergeneral der bolivianischen Polizei und die Vertretung der Exekutive bei dem Wahlorgan zu ernennen. Die Beförderung der Generäle der Streitkräfte und der Polizei vor der Plurinationalen Legislativen Versammlung gemäß den Beförderungsberichte vorzuschlagen. In Bezug auf die ökonomischen Aufgaben: das Staatsvermögen zu verwalten in Übereinstimmung mit dem Gesetz, durch das zuständige Ministerium Investitionen zu tätigen, den sozioökonomischen Entwicklungsplan vor der Plurinationalen Legislativen Versammlung vorzulegen; innerhalb der ersten 30 Sitzungen den Entwurf des Haushaltsgrundsatzgesetzes für das nächste Finanzjahr vor der Plurinationalen Legislativen Versammlung vorzulegen und während des Finanzjahres die Modifikationen des Haushaltgrundsatzgesetzes vorzuschlagen. In Bezug auf exekutive Aufgaben: die Verfassung und die Gesetze auszuführen und ausführen zu lassen; die Präsidentin oder den Präsidenten der Plurinationalen Versammlung zu bitten, außerordentlichen Sitzungen einzuberufen; die von der Plurinationalen Versammlung sanktionierten Gesetze zu verkünden und über die äußere Sicherheit und Verteidigung des Staates zu wachen; jedes Jahr den Bericht über die Ausgaben und Einnahmen eines ausgeglichenen Haushalts vorzulegen und zu Beginn der Legislaturperiode gegenüber der Plurinationalen Versammlung eine schriftliche Erklärung über die Lage der öffentlichen Verwaltung zusammen mit einzelnen Ministerialberichten zu erstatten. Das Amt der Oberbefehlshaberin oder des Oberbefehlshabers der Streitkräfte auszuüben mit allen entsprechenden Rechten, das bolivianische Amt für Agrarreform zu leiten und die Vollstreckungstitel der Landverteilung zu erteilen. Darüber hinaus Häfen zu gründen und den Ausnahmezustand zu erklären. Nach den Artikeln 111–115 der bolivianischen Verfassung von 1967 wahrt der Präsident die äußere und die innere Sicherheit sowie die Handhabung von Ruhe

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4. Kap.: Praxis der exekutiven Normsetzung in Bolivien

und Ordnung. Dabei handelt es sich um Kompetenzen, welche der Kongress innerhalb einer bestimmten Frist zurückerhält. 2. Gesetzgebungsverfahren bei der legislativen Rechtsetzung Die bolivianische Verfassung regelt in drei Artikeln das Gesetzgebungsverfahren: in Artikel 162 die Gesetzesinitiative; in Art.163 das Gesetzgebungsverfahren im engeren Sinne und in Art.164 die Veröffentlichung. Die Verabschiedung der Gesetze ist Sache des legislativen Organs. Die Plurinationale Legislative Versammlung verabschiedet die Gesetze und das exekutive Organ verkündet die Gesetze durch die Staatspräsidentin oder den Staatspräsidenten. Die Plurinationale Legislative Versammlung besteht aus einer Abgerordnetenkammer und einer Senatskammer. Die Wahlperiode der Plurinationalen Legislativen Versammlung beträgt fünf Jahre.294 Mit Einreichung eines Gesetzentwurfs, welcher von einem Mitglied einer Kammer vorgelegt wird, wird in dieser Kammer das Gesetzgebungsverfahren eröffnet und der Gesetzentwurf an einen Auschuss zur Prüfung überwiesen. Wenn die Gesetzesinitiative von außerhalb der Kammern kommt, wird der Gesetzentwurf von der Abgeordnetenkammer entgegengenommen und an einen Ausschuss zur Prüfung überwiesen. Die Gesetzesinitiative im Bereich der Dezentralisierung, der Autonomien und der territorialen Ordnung liegt bei der Senatskammer. Der von einer Ausgangskammer mit absoluter Mehrheit der anwesenden Mitglieder angenommene Gesetzesentwurf wird an die andere Revisionskammer zur Prüfung weitergeleitet. Wenn die Revisionskammer diesen Gesetzentwurf annimmt, wird er für seine Verkündung zum exekutiven Organ weitergeleitet. Wenn eine der Kammern einen von der anderen angenommenen Gesetzentwurf ändert, gilt das Gesetz dann als verabschiedet, wenn die Ausgangskammer diesen Änderungen mit absoluter Mehrheit zustimmt. Wenn dies nicht der Fall ist, müssen beide Kammern als Plenum der Plurinationalen Legislativen Versammlung zusammen294 Die neue Verfassung sieht 130 Mitglieder im Abgeordnetenhaus vor. Nach Artikel 147 die eine Hälfte der Abgeordneten wird in Wahlkreisen („circunscripciones uninominales“) mit relativer Mehrheit gewählt, die andere Hälfte über Departmentslisten („lista plurinominal“), angeführt vom jeweiligen Präsidentschaftskandidaten. Über diese Departmentslisten werden auch der Vizepräsident sowie die 27 Senatoren, drei für jedes der neun Departments, gewählt. Die Vertreter indigener Minderheiten sollen in Direktwahlkreisen bestimmt werden. Das „Ley de Régimen Electoral transitorio“ (Gesetz der Wahlübergangsreglung) regelt die Modalitäten für die Wahlen des neuen Präsidentenund Vizepräsidentenamts und die Plurinationale Legislative Versammlung (Kongress) am 6. Dezember 2009. Die Anzahl der Wahlkreise für Vertreter indigener Minderheiten ist auf sieben verringert. Sechs dieser Wahlkreise gehen zu Lasten der über Listenplätze gewählten Abgeordneten und einer zu Lasten der Direktwahlkreise. Die Wählerregister werden überarbeitet und es wird im In- und im Ausland ein biometrisches Wählerregister eingeführt. Alle Ausführungsgesetze zur neuen Verfassung werden dann ab der nächsten Amtsperiode bereits vom neuen Parlament verabschiedet.

II. Normsetzung als Aufgabe der exekutiven Gewalt in Bolivien

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treten und die endgültige Entscheidung über den Gesetzentwurf innerhalb von 20 Tagen mit einfacher Mehrheit der Anwesenden in der Plurinationalen Legislativen Versammlung treffen. Ein abgelehnter Gesetzentwurf kann in einer nächsten Legislaturperiode erneut vorgelegt werden. Innerhalb von zehn Tagen nach Erhalt des sanktionierten Gesetzes kann die Präsidentin oder der Präsident des Staates Einwände geltend machen. Nach nochmaliger Beratung des Gesetzesentwurfes nimmt die Plurinationale Legislative Versammlung die Einwände mit einfacher Mehrheit an oder lehnt sie ab. Falls die Präsidentin oder der Präsident diese Gesetze nicht verkündet, nimmt die Präsidentin oder der Präsident der Plurinationalen Legislativen Versammlung die Verkündung vor. Nach Artikel 162 haben das Initiativrecht bei Gesetzesentwürfen: die Bürgerinnen und Bürger; die Mitglieder der Plurinationalen Legislativen Versammlung in jeder ihrer Kammern; das exekutive Organ; der Oberste Gerichtshof im Bereich der Gerichtsbarkeit und die autonomen Regierungen der territorialen Körperschaften. Dieses Initiativrecht ist verbindlich für die Plurinationale Legislative Versammlung. Die Gesetzesinitiative wird im Einzelnen durch Gesetz und Geschäftsordnung geregelt. Artikel 164 regelt die Publikation durch die Exekutive. Das Inkrafttreten erfolgt unmittelbar nach der Veröffentlichung im Amtsblatt, es sei dem, das Gesetz selbst trifft hinsichtlich der Frist eine gegenteilige Bestimmung. Das Gesetz vom 17. Dezember 1956 schuf die „Gaceta Oficial de Bolivia“ (Amtsblatt von Bolivien) als Organ, welches dem Präsidialministerium untersteht. Das Oberste Dekret Nr. 05559 vom 2. September 1960 verlieh diesem Organ die Kompetenz, innerhalb der exekutiven Gewalt die Rechtsnormen zu publizieren. Das Oberste Dekret Nr. 24855 vom 22. September 1992 (Artikel 22h) wies die Bewilligung für die private Veröffentlichung von Rechtsnormen in die Zuständigkeit des Justizministeriums und das Oberste Dekret Nr. 25055 vom 23. Mai 1998 (Artikel 10i) beschreibt das administrative Verfahren. In Bolivien besteht ein offensichtliches Defizit, was die Zugänglichkeit von Gesetzestexten anbelangt. Die „Gaceta Oficial de Bolivia“, als das zuständige Publikationsorgan, verfährt nach den Regeln von Angebot und Nachfrage. Hierbei richtet sich die Auflage nach dem mutmaßlichen Interesse, welches die Inhalte des neuen Gesetzes erwecken könnten. Der Grundsatz der Publizität der Normen und die damit verbundene Rechtssicherheit werden dadurch gefährdet.295

295 Zu der Problematik allgemein in Lateinamerika Zehrer, Sabine: Die Erwerbung lateinamerikanischer Amtsdruckschriften, in: Recht, Bibliothek, Dokumentation 23, 1993, S. 10–13.

160

4. Kap.: Praxis der exekutiven Normsetzung in Bolivien

3. Verfahren bei der exekutiven Rechtsetzung In einem kurzen Überblick sollen die im Gesetz Nr. 1788 („Ley de Organización del Poder Ejecutivo“) geregelten Anwendungsbereiche der Rechtsetzung durch Verordnung skizziert werden und mit den neuen Obersten Dekret 29894 vom 7. September 2009 verglichen werden: Art. 2 des Gesetzes Nr. 1788 von 1997 räumt der Regierung als Kollegialorgan die Befugnis ein, zur Verfolgung bestimmter Ziele Regelungen durch Verordnung zu treffen. Hierzu zählen decretos reglamentarios (Ausführungsgesetze) und decretos independientes (autonome Verordnungen). Verordnungen dürfen nur in Bereichen erlassen werden, in denen noch keine Regelung durch Gesetze erfolgt ist und die auch keinem Gesetzesvorbehalt unterliegen. Daneben bestehen weitere Zuständigkeiten für die Regelung von Organisation und Funktion der öffentlichen Verwaltung. Eine weitere und besonders weitreichende und damit problematische Kompetenz der Exekutive nach dem Obersten Dekret 29894 aufgrund einzelgesetzlicher Bestimmungen stellt ihre Befugnis dar, unter bestimmten Voraussetzungen Vorschriften in Form einer Verordnung zu beschließen, die eine Aufhebung früherer gesetzlicher Bestimmungen zur Folge haben. Schließlich enthält dieses Oberste Dekret auch Vorgaben für die Zuständigkeit eines oder mehrerer Minister zur Rechtsetzung durch Verordnung (Ministerialbeschlüsse). Einer solchen Regelung unterfallen allerdings nur Gegenstände aus den Geschäftsbereichen der beteiligten Minister. Ferner dürfen die getroffenen Bestimmungen der öffentlichen Verwaltung nicht im Gegensatz zu Verordnungen der Regierung stehen. Die enthaltenen Vorgaben für Rechtsetzungsbefugnisse stellen jedoch keine abschließende Regelung dar. Vielmehr können durch Gesetz jederzeit weitere Kompetenznormen zur Schaffung untergesetzlicher Rechtsnormen erzeugt werden.

4. Rechtsetzung und Rechtsbereinigung nach der geltenden Praxis In den 80er Jahren erreichten viele südamerikanische Staaten durch tief greifende Reformen eine ökonomische Stabilität, welche eine erste Voraussetzung für den Demokratisierungsprozess darstellte. Neue Rechtsvorschriften wurden so konzipiert, dass ein flexibler Handlungsspielraum zur Umsetzung des wirtschaftlichen Regierungsprogramms garantiert wurde. Damit verbunden war jedoch eine teilweise Unübersichtlichkeit und Widersprüchlichkeit von Rechtsnormen. Erst mit Hilfe der aktuellen Blütezeit der Reformen kann die bereits angefangene Rechtsbereinigung der Rechtsordnung wirklich umgesetzt werden. Die Rechtsbereinigung wird in Bolivien als ein normativer Konsolidierungsprozess (Feststellung der Gültigkeit und Regulierung der Normen) definiert.

II. Normsetzung als Aufgabe der exekutiven Gewalt in Bolivien

161

In diesem Rahmen werden nachfolgend einige Erfahrungen aus diesem Konsolidierungsprozess in Bolivien und Argentinien dargestellt. Exemplarisch dafür dient das Projekt „2705 Bolivien: Rechtsreform“ 296 mit den dabei auftretenden theoretischen Schwierigkeiten. Das Ziel des Projektes 2705 Bolivien war ein rein technisches und praktisches: Die elektronische Verarbeitung von Rechtsdaten sollte erreicht werden. Gesetze und Rechtsvorschriften sollten in einem Computersystem aufgearbeitet und die grundlegenden Rechtsdaten mit Hilfe eines praktischen Instruments zugänglich gemacht werden. Im Laufe der Zeit wurde aber deutlich, dass die bestehenden Informationsprobleme nicht einfach auf eine mangelhafte Funktionsfähigkeit der zuständigen Organe zurückzuführen waren, sondern vielmehr auf den Umstand, dass diese für einen demokratischen Rechtsstaat so wichtige Angelegenheit, das Zugänglichmachen von Rechtsdaten, infrastrukturell vernachlässigt worden war.297 Argentinien hat mit dem Gesetz Nr. 24967 am 25. Juni 1998 diesen Konsolidierungsprozess, bezeichnet als „Digesto Jurídico Argentino“, in Gang gesetzt. Damit wurden die wesentlichen methodischen Ansatzpunkte festgesetzt, um eine qualitative Verbesserung der gesamten föderalistischen Rechtsordnung zu erreichen. Eine gute Basis für eine entsprechende Analyse stellt die Abteilung „Sistema Argentino de Informática Jurídica“ des argentinischen Justizministeriums dar, welches bereits seit über mehr als zwölf Jahren Erfahrungen mit der elektronischen Erfassung von Rechtsdaten und -informationen gesammelt hat. Diese Konsolidierungsprozesse der Rechtsnormen werfen die Frage auf, welche rechtlichen Informationen bei der öffentlichen Hand bleiben und welche privatisiert werden sollen. Dabei ging es um grundlegende rechtsstaatliche Pflichten wie beispielsweise die Wahrung der Rechtssicherheit und die Publizität von Normen. An der öffentlichen Ausschreibung entsprechender Projektarbeiten im Jahre 1996 in Bolivien hatten internationale, in diesem Bereich spezialisierte Firmen teilgenommen, die in Verbindung mit nationalen Anwaltskanzleien standen. Die 296 Für die drei Teile des Projektes wurden 1997 durch einen Ministerialen Beschluss (Resolución Ministerial) ein Expertenausschuss gebildet. Dieser Expertenausschuss setzte sich aus folgenden Personen zusammen: der Ministeriumsdirektorin Fátima Luna Pizarro, den Experten Javier García Fernández aus Spanien sowie Gustavo Milano und Silvia Ciavelli aus Argentinien und der Projektleiterin Lorena Ossio. 297 Anlässlich eines Besuches der für die fachliche Beratung von Gesetzesentwürfen zuständigen Kommission des Parlaments stellte sich zudem heraus, dass ein Projekt, das für die Verarbeitung von Rechtsdaten durch das Parlament finanziert worden war, mangelhafte Resultate vorwies, weil das Computerprogramm unterdessen bereits veraltet war und die Daten nicht angemessen benutzt werden konnten. Besonders problematisch war, dass die rechtlichen Informationen für die Benutzerinnen und Benutzer schlecht zugänglich waren. Selbst wenn die Texte vollständig abgespeichert wurden, schuf das Computerprogramm keine ausreichende Einheitlichkeit und Klarheit der Rechtsvorschriften. Eine thematische Klassifizierung der Rechtsordnung fehlte, was eine Voraussetzung für ein benutzerfreundliches Computerprogramm gewesen wäre.

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4. Kap.: Praxis der exekutiven Normsetzung in Bolivien

von diesen Firmen erwarteten Vergütungen überstiegen allerdings die für das Rechtsreformprojekt zur Verfügung gestellten finanziellen Mittel. Darüber hinaus bot der beste Projektbeitrag zwar eine überzeugende methodische Systematik an, die technischen Nutzungsrechte sollten jedoch beim Anbieter verbleiben. Durch eine derartige Vorgehensweise wären dem Staat allerdings die Hände gebunden und dieser gezwungen gewesen, bei jeder Aktualisierung neue finanzielle Mittel aufzuwenden. 5. Gesetzgebungstechnik in Bolivien Als Ergebnis des Projektes „2750 Bolivien“ wurde das Oberste Dekret Nr. 25350 vom 8. April 1999 erlassen. Dieses Dekret erteilte nicht nur Verordnungen den hierarchischen Rang, wonach deren Vorschriften für die öffentliche Verwaltung verbindlich wurden, sondern ändert auch den exekutiven Rechtssetzungsprozess in Bolivien. Das Oberste Dekret Nr. 25350 ist das erste Instrument, welches einen Leitfaden zur Gestaltung von Rechtsvorschriften zur Verfügung stellt. Daher wird es auch als „Manual de Técnicas Normativas“ (Handbuch für die Gesetzgebungstechnik) bezeichnet, welches in Bolivien als Verordnung geschaffen und als „Decreto Supremo“ für die öffentliche Verwaltung innerhalb der exekutiven Organe für verbindlich erklärt wurde. Das erste Kapitel des „Manual de Técnicas Normativas“ (Handbuch für die Gesetzgebungstechnik)298 stellt die Normenhierarchie der exekutiven Rechtsvorschriften dar und versucht, die verschiedenen Kategorien in Bezug auf den normativen Inhalt, die zuständigen Organe und das jeweilige Verfahren einzugrenzen. Dabei werden einheitliche Kriterien angestrebt, um auch den Bürgerinnen und Bürgern – und nicht nur kundigen Juristinnen und Juristen – die Anwendung bestimmter Kategorien von Normen transparent und verständlich zu machen. Das zweite Kapitel enthält den formellen Leitfaden, der besagt, wie der Titel der Rechtsnormen zu strukturieren ist, wie die „Gaceta Oficial de Bolivia“ als das zuständige Organ den Titel festlegen und auf welche Art die Publikation erfolgen soll. Weiter enthält es Vorschriften über Formalitäten wie das Datieren, Zitieren und Nummerieren von Rechtsnormen. Das dritte Kapitel beschreibt die wesentliche Struktur der bolivianischen Normen sowie der Gesetzesentwürfe, welche der legislativen Gewalt von der Exekutive vorgelegt werden sollen. Das vierte Kapitel stellt spezifisch dar, wie ein Artikel strukturiert werden soll. Das fünfte Kapitel regelt die Vorgehensweise bei der Änderung oder der Aufhebung von Normen. Letzteres besitzt eine besondere Relevanz für die bolivianische Rechtsordnung, da – wie die Analyse gezeigt hat – 298

Ministerio de Justicia 1999, S. 1–45.

II. Normsetzung als Aufgabe der exekutiven Gewalt in Bolivien

163

im bolivianischen Rechtsetzungsverfahren am häufigsten Fehler gemacht werden. Am Schluss des Leitfadens befindet sich eine Checkliste, die von den für den Rechtsetzungsprozess zuständigen Organen oder Personen ausgefüllt und vom Justizministerium analysiert werden muss. Dieses „Manual de Técnicas Normativas“ (Handbuch für die Gesetzgebungstechnik) wurde bewilligt durch das Decreto Supremo No.25350 und ergänzt die Regeln über den Rechtsetzungsprozess der Exekutive. 6. Ergebnisse der empirischen Forschung Im folgenden Abschnitt werden die relevanten Resultate der durchgeführten empirischen Untersuchung präsentiert an der die Verfasserin als Projektleiterin beteiligt war. Insgesamt wurden 29.080 Rechtsvorschriften der bolivianischen Rechtsordnung analysiert, darunter 22.306 Gesetze und Dekrete aus der Zeit von 1960 bis 1998 sowie weitere 6.784 Normen, die zwar nicht in diese Periode gehören, aber aufgrund von Erlassen aus diesem Zeitraum abgeändert wurden oder sonst einen rechtlichen Bezug zu dieser Periode aufweisen. Angesichts der heterogenen und unsystematischen Normenproduktion in der bolivianischen Rechtsgeschichte wurde die Problematik dieser Aufgabe schnell deutlich. Die instabile politische Geschichte Boliviens spiegelt sich in den Gesetzestexten in einer Form wider, die leicht zu missverständlichen Schlussfolgerungen führen könnte: Viele für das bolivianische Rechtssystem wesentlichen Erlasse wurden in Phasen einer formellen Demokratie oder während Diktaturperioden verabschiedet. Als besonders problematisch erwies es sich, die komplexen Norminhalte in das Rechtssystem einzuordnen, da die Rechtsetzungskategorien willkürlich ausgewählt worden waren, meist unter dem Vorwand der Notwendigkeit, die Regierbarkeit sicherzustellen. Auch wurde damit argumentiert, man müsse eine pragmatische Lösung für die Rechtsetzungsprozesse finden. Die Ansprüche an das Vorhaben waren anfänglich zu hoch gesteckt. Erst während der empirischen Analyse wurde eine realistische Einschätzung des Umfangs der zu bewältigenden Arbeit möglich. Die erstellte Synopse aller Artikel der untersuchten Normen beschränkte sich auf eine ausschließlich rechtsdogmatische Analyse. Die rechtspolitische Interpretation einer Norm wurde nur in den Fällen als Kommentar beigefügt, in denen es für die Bestimmung oder Klarheit der Norm wichtig und sinnvoll erschien.

164

4. Kap.: Praxis der exekutiven Normsetzung in Bolivien Statistik der Strukturmängel der Normen (Periode 1960–1998)

Nr.

Strukturmängel der Normen

1

Fehler in der Nummerierung der Normen

2

Fehler im Datum von Erlass und Veröffentlichung

10

3

Die Artikel der Normen wurden nicht nummeriert

91

4

Verzögerte Veröffentlichung der Norm

5

Technische Fehler

6

Technische Fehler bei Verabschiedung und Veröffentlichung der Norm

7

Formelle Strukturfehler der Norm Total

Prävalenz 2

2 20 2 58 185

Anmerkungen zu den aufgelisteten Mängeln: Nr. 1. Fehler in der Nummerierung der Normen: Es wurden zwei Gesetze ermittelt, deren Identifikationsnummer nicht übereinstimmt mit der Nummer des offiziellen Organs. Konsequenz: Es ist für die Benutzerinnen und Benutzer unmöglich, diese Gesetze im Archiv zu finden. Nr. 2. Fehler im Datum von Erlass und Veröffentlichung: Das Datum der Veröffentlichung geht in zehn Fällen dem Zeitpunkt des Erlasses voraus. Dies ist ein Widerspruch in sich, denn das Rechtssetzungsverfahren erlaubt nicht, dass eine Publikation vor dem Erlass erfolgt. Nr. 3. Die Artikel des Rechtsaktes wurden nicht nummeriert: Eine nicht nummerierte Norm kann nicht angemessen zitiert werden. Dieser Fehler wurde bei 91 Rechtsvorschriften festgestellt. Nr. 4. Verzögerte Veröffentlichung der Norm: Zwar erhielt die Norm ein Publikationsdatum, aber die Drucklegung durch das zuständige Organ erfolgte viel später. Fallbeispiel hierfür ist die Strafprozessordnung. Konsequenz: Es ergab sich eine Rechtsgültigkeit ohne gesetzestextliche Grundlage.

II. Normsetzung als Aufgabe der exekutiven Gewalt in Bolivien

165

Statistik der Fehlerhaften Formulierung und Einordnung der Normen (Periode 1960–1998) Nr.

Fehlerhafte Formulierung der Normen

1

Formulierung der Rechtsvorschrift mit einem falschen Begriff

2

Formulierung der Rechtsvorschrift mit einem ungenauen Begriff

25

3

Unangemessene Handhabung der modifizierten Normen

11

4

Unangemessene Einordnung in die rechtliche Hierarchie der Normen

5

Offensichtliche Beugung der Normen zu politischen Zwecken Total

Prävalenz 300

182 5 523

Anmerkungen zu den aufgelisteten Mängeln: Nr. 1. Formulierung der Rechtsvorschrift mit einem falschem Begriff: Das Recht unterscheidet zwischen Abrogation und Derogation der Normen. Bei der Abrogation wird die gesamte Rechtsvorschrift außer Kraft gesetzt, bei der Derogation nur Teile davon (ein Artikel oder ein Satz). Verwechslungen dieser Begriffe wurden in 300 Normen festgestellt. Nr. 2. Formulierung der Rechtsvorschrift mit einem ungenauen Begriff: In den hier einschlägigen Fällen kann nicht nachvollzogen werden, ob es der Zweck der Norm ist, eine andere zu ändern oder sich auf deren Inhalt zu beziehen. Nr. 3. Unangemessene Handhabung der modifizierten Normen: So wurde z. B. ein neues Gesetz über die Freilassung auf Bürgschaft (Fianza Juratoria) verabschiedet, das in zehn Artikeln tatsächlich ein Strafprozessgesetz modifiziert, ohne dass diese Auswirkungen jedoch im betreffenden Gesetz überhaupt erwähnt wurden. Nr. 4. Unangemessene Einordnung in die rechtliche Hierarchie der Normen: Die „Decretos Supremos“ sind dem Gesetz untergeordnet. In 182 Fällen wurde dies missachtet. Als besondere Fälle wurden die rechtlichen Normen genannt, welche in Desuetudo geraten sind. Sie weisen weder inhaltliche noch formelle Mängel auf, sondern werden von der Bevölkerung einfach nicht beachtet. Der Verlust an Gesetzesautorität hat den Ursprung in den Überlagerungen und Verschachtelungen der Rechtsnormen, bei der die Rechtsklarheit und die staatliche Glaubwürdigkeit besonders Schaden nehmen. Als Paradebeispiel gilt die Regelung der Geburtsurkunden. Vor 1950 hatte der Taufschein dieselbe rechtliche Wirkung wie die Geburtsurkunde, die vom Standesamt ausgestellt wird. Im Zuge der Säkularisierung wurde der katholischen Kirche inzwischen diese standesamtliche Obliegenheit

166

4. Kap.: Praxis der exekutiven Normsetzung in Bolivien

aberkannt. Da die standesamtliche Ausstellung der Geburtsurkunde teuer und umständlicher als die des Taufscheins ist, wird die Identität der ländlichen Bevölkerung durch andere Mittel festgestellt. Laut einer amtlichen Studie des Planungsministeriums sind 59 unterschiedliche Schritte vonnöten, um eine schriftliche Eingabe an eine Behörde zu registrieren und zu beantworten, völlig unabhängig vom Inhalt des Bescheides. 173 Operationen sind zu leisten, um eine legale und im Haushalt vorgesehene Zahlung des Nationalen Schatzamtes an eine andere staatliche Institution in die Praxis umzusetzen. Um vom Staat die Konzession für die Ausbeutung eines Bergwerkes zu erhalten, sind für das Verfahren 250 Geschäftsvorgänge notwendig.299 7. Voraussetzungen für die Umsetzung einer „guten“ Gesetzgebungstechnik a) Politischer Konsens der staatlichen Institutionen Ein politischer Grundkonsens gilt in jedem Land als Voraussetzung für eine rationale Gestaltung der Gesetzgebung und für ein effektives Gesetzgebungsverfahren. Damit eine kooperative Arbeit zwischen Regierung und Parlament erreicht werden kann, sollten zuerst Sitzungen unter Beteiligung der staatlichen Organe stattfinden, die am Rechtsetzungsprozess mitwirken. Das Prinzip der Gewaltenteilung sollte von den staatlichen Angestellten nicht so eng ausgelegt werden, da es sonst oft zur Uneinigkeit über die gemeinsamen staatlichen Ziele führt. Durch ein derartiges Vorgehen wird allerdings der Argwohn der Funktionäre in den Institutionen geweckt. Bei der Frage der Zuständigkeit innerhalb der Exekutiven kommt es oft zu Konflikten zwischen den Ministerien in Bolivien, wie beispielsweise zwischen dem Justiz- und dem Präsidialministerium. Innerhalb der exekutiven Gewalt musste festgestellt werden, dass die Rechtssetzungsverfahren für Rechtsvorschriften wenig Akzeptanz und Wirksamkeit aufwiesen. b) Leitfaden für die Rechtsbereinigung von Rechtsvorschriften Zu einem ersten Schritt für die Analyse und Klassifizierung der Rechtsnormen gehört die Abfassung eines Leitfadens, der aufzeigen sollte, wie die Qualität des Erlassens von Rechtsnormen verbessert werden könnte. Dabei wurden folgende Untersuchungspunkte festgelegt: – Der Rechtsetzungsprozess an sich. – Eingrenzung des Gegenstandes der Analyse auf die verschiedenen Kategorien der Rechtsnormen. 299

Unveröffentlicher Bericht von Minsterio de Planeamiento, La Paz 1999.

II. Normsetzung als Aufgabe der exekutiven Gewalt in Bolivien

167

Das Vorhaben der Analyse sollte von drei Säulen getragen werden, wobei die innere dynamische Entwicklung der Rechtsordnung, die Bildung der Normen, eine konsequente Evaluation ihrer Gültigkeit sowie hierarchische und chronologische Vorgaben berücksichtigt werden. Bei den drei Säulen handelt es sich im Einzelnen um folgende: Säule 1 Schaffung eines Leitfadens für die Gestaltung von Rechtsvorschriften. Säule 2

Entwurf einer angemessenen Methode für die chronologisch retrospektive Analyse der Regelung der Rechtsetzung.

Säule 3

Umsetzung dieser Methode für die chronologisch retrospektive Analyse von Rechtsvorschriften in der Praxis durch die Anwendung auf die Rechtsnormen der Periode 1825–2008.

Die verfolgten Ziele der vorliegenden Analyse sind: Die Implementierung der Gesetzgebungstechnik im Rechtsetzungsprozess der Exekutive und die Regulierung der Rechtsnormen (Periode 1825–2008 chronologisch retrospektiv). Die notwendigen Aktivitäten dafür sind: • Aufnahme des Ergebnisses der Normenanalyse und deren Konstituierung innerhalb des bolivianischen Rechtssystems • Festlegung der Kriterien, um eine Vereinheitlichung der neu verabschiedeten Rechtsnormen zu erreichen • Verbesserung des Rechtsetzungsprozesses der Exekutive • Klassifizierung der Normen durch rechtliche Kriterien, welche eine Überprüfung der Gültigkeit von Gesetzen und Rechtsverordnungen ermöglichen • Entwurf einer angemessenen Methode für die chronologisch retrospektive Analyse der Regelung der Rechtsetzung Das als Verordnung erlassene Manual de Técnicas Normativas (Handbuch für Gesetzgebungstechnik) könnte als Leitfaden für die Gestaltung der Gesetzentwürfe und der Vorschriften für die Exekutive fungieren, um eine erste Stufe der Vereinheitlichung der rechtlichen Kriterien zu erreichen. Die entsprechenden Arbeiten sollten in der Verabschiedung des „Manual de Análisis, Clasificación y Ordenamiento Normativo“ (Handbuch für die Analyse, Klassifizierung und Konsolidierung der Rechtsnormen) gipfeln, welches die folgenden wesentlichen Punkte enthalten sollte: • Die Organisation von Arbeitsgruppen und die Aufsicht der staatlichen Organe (z. B. die Zusammensetzung eines Expertenausschusses aus dem Parlament, der Exekutive und den Universitäten) über die Anwendung dieses Leitfadens sowie die Entscheidung über die Annahme neuer Kriterien bezüglich des Vollzugs des Vorhabens.

168

4. Kap.: Praxis der exekutiven Normsetzung in Bolivien

• Der Entwurf einer tabellarischen Erfassung der Daten, welche die Übertragung auf ein Computersystem ermöglichen sollte. • Diese Tabelle sollte eine Klassifizierung der Normen nach rechtlichen Kriterien enthalten, um eine Überprüfung der Gültigkeit der Gesetze und Rechtsverordnungen zu ermöglichen. • Die rechtliche Analyse beinhaltet den Zeitraum von 1825 bis 2008 retrospektiv. Aus praktischen Gründen wurde 2008 gewählt, da von diesem Zeitpunkt an die „Gaceta Oficial de Bolivia“ seit dem Inkrafttreten der neuen Verfassung am 25. Januar 2009 wieder mit Nr. 1 beginnen. Die Arbeitsmethode sollte durch einen praktischen Erfahrungsaustausch bereichert werden. Im regelmäßigen Abstand sollten Tagungen für Praktiker stattfinden, an denen Justizreferentinnen bzw. -referenten der verschiedenen Ministerien sowie unmittelbar oder mittelbar am Rechtsetzungsprozess in der Exekutive beteiligte Personen teilnehmen sollten. Die beteiligten Gruppen sollten zu gemeinsamen Schlussfolgerungen kommen, wodurch u. a. auch eine Einigung über die Verwendung rechtlicher Begriffe erzielt werden konnte. Das Ergebnis könnte sodann in einer Verordnung verankert werden.

Fünftes Kapitel

Schlussfolgerungen und zusammenfassende Thesen I. Schlussfolgerungen Die vorliegende Untersuchung setzte sich zum Ziel, die Normsetzungsbefugnis der Exekutive am Beispiel Boliviens zu erforschen. Der Gegensatz zwischen der modernen Rechtsauffassung der Funktion einer Verordnung in einem Präsidialsystem einerseits und einem überkommenem kulturellem Rechtsverständnis von der Funktion dieser Normkategorie in der Rechtspraxis anderseits, führte zu dieser Forschungsfrage. Der wechselseitige Einfluss zwischen der schriftlichen Rechtskultur der spanischen Kolonialverwaltung und der mündlichen Überlieferung der Traditionen in den indianischen Kulturen führte zu einer kulturellen Verschmelzung, die nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Das heißt, in der schriftlichen Niederlegung ist der Formalismus des Rechts in Bolivien begründet. Mit der Schriftlichkeit fängt auch die Geschichte der Entwicklung und Nachvollziehung der exekutiven Normsetzung an, die inzwischen auch in den indianischen heute indigen genannten Rechtskulturen verwurzelt ist. Die vorliegende Arbeit zeigt, dass sich die uneinheitliche, bisweilen zerrissene Rechtsetzung der über Jahrhunderte konkurrierenden iberischen Territorien und Rechtsinstitutionen in den kolonialspanischen Gebieten Lateinamerikas widerspiegelt. Dieses Phänomen eines uneinheitlichen, oft zerrissenen Rechtsetzungsprozesses zieht sich durch die gesamte Kolonialzeit hindurch. Der Krone oblag de iure die Macht, de facto wurde sie jedoch von den örtlichen Konquistadoren ausgeübt und durch eine Anzahl traditionell-indigener Institutionen relativiert. Das Recht der Krone verschmolz mitunter derartig mit der ausübenden Gewalt der Konquista und den bewährten präkolonialen Rechtsstrukturen, dass die Landbevölkerung häufig an Gesetzen auch nach deren Aufhebung festhielt und die sich daraus ergebenden Belastungen freiwillig weitertrug. So konnte der soziale und rechtliche status quo aufrecht erhalten werden. Der spanischen Krone blieb die Eigenmächtigkeit ihrer Statthalter ein ständiges Ärgernis. Sie versuchte mittels entsprechender Kontrollmechanismen und dem Privileg der Personalernennung dem Machtmissbrauch entgegenzuwirken. Trotz der sich daraus zwangsläufig ergebenden Spannungen und bürokratischen Überregulierung blieb die Krone doch stets das einende Symbol für alle institu-

170

5. Kap.: Schlussfolgerungen und zusammenfassende Thesen

tionell gefassten Gruppen in den überseeischen Provinzen; auch für die an Macht hinzugewinnenden Kreolen und einheimischen indigenen Völker. Die herkommliche historische Überlieferung einer ausufernden Bürokratisierung aller Rechtsvorgänge und eines vielköpfigen, aufgeblähten Behördenapparates lässt oft außer Acht, dass es sich auf kommunaler Ebene häufig um ein effektives, tradiertes Munizipalwesen handelte, welches durch die Insuffizienz der Zentralverwaltung an Bedeutung gewann. Im Hinblick auf die Geschichte Boliviens uferte dies jedoch mehrfach aus und gipfelte in zahlreichen Staatsstreichen und Diktaturen, extremen Formen einer unkontrollierbaren exekutiven Gewalt. Um ihre Gewaltherrschaft zu legitimieren, traten zunächst die spanischen Eroberer bei der Inbesitznahme des südamerikanischen Subkontinents als Verbündete der katholischen Kirche auf, mit der Folge, dass sie neben der königlichen Legitimation zudem über die göttliche Absolution zu verfügen vorgaben. Dies wiederum sicherte dem Klerus im Gegenzug eine spirituelle und materielle Beteiligung an der Erschließung der neuen Welt. Als infolge der Unabhängigkeit Boliviens 1825 die spanische Krone ihr Handelsmonopol verlor, kam es zu multilateralen Beziehungen, welche für die Gründung Boliviens von Vorteil waren. Intern traten jedoch parallel zu dieser Entwicklung auch die sozioökonomischen und politischen Gegensätze offener zutage. In Bolivien ersann Simón Bolívar seine Idealvorstellung von vereinigten südamerikanischen Staaten, welche Antonio José de Sucre allerdings nach dem Sieg über die Spanier dahingehend abänderte, dass Sucre Bolivien zu einem stabilen Kernland der Unabhängigkeitsbewegung hinführen wollte. Dadurch kam es, dass der erste konstitutive Akt der neuen Republik Bolivien in einem Dekret von Sucre verfasst wurde. Die von Bolívar entworfene Präsidialverfassung mit einem einflussreichen Staatsoberhaupt an der Spitze, wurde von Andrés de Santa Cruz modifiziert und schließlich in der Weise umgesetzt, dass Präsident und Vizepräsident durch das Volk (wobei zunächst nur ein Bruchteil der Bevölkerung wahlberechtigt war) direkt gewählt und das Kabinett durch das Parlament kontrolliert wurden. Weder die direkte Wahl des Präsidenten und Vizepräsidenten noch die Kontrolle des Kabinetts durch das Parlament konnten jedoch den Missbrauch der Verfassung durch die „Caudillos“ verhindern. Erst um 1900 kam es zu einer systematischen Organisation der Exekutive, welche mit der Einführung gut strukturierter Präfekturen einherging, welche letztlich nicht zu einer besseren Regierbarkeit, sondern in Wahrheit zu einer Entmachtung auf Kommunalebene führten. Dieses politische Kalkül ging jedoch nicht auf, sondern führte stattdessen zur generalisierten Entstehung von diversen Keimzellen des Widerstandes gegen die konzentrierte Macht der Zentralregierung und zur Instrumentalisierung der Staatsorganisation.

I. Schlussfolgerungen

171

Obwohl zunächst nur drei Prozent der Bevölkerung Anfang des 20. Jahrhunderts wahlberechtigt waren, gelangten aufgrund des Unvermögens der Zentralregierung, Wahlregister zu erstellen, und wegen der Unklarheit auf kommunaler Ebene, wer Bürger ist, erheblich mehr Wähler auf die Wahllisten als beabsichtigt. Die Zentralregierung reagierte zum einen mit Annulation und zum anderen mit der Entsendung von Präfekten, welche die Wahlregister verwalten sollten. Dieses wenig transparente Vorgehen setze sich bis zur Revolution von 1952 fort, welche neben Landreformen und Verstaatlichungen, zumindest pro forma ein allgemeines Wahlrecht bewirkte, aber auch zu einer Expansion des Staatsapparates führte, u. a. zu Gunsten der Parteimitglieder des „Movimiento Nacional Revolucionario“. Die zwölfjährige Herrschaft dieser Partei hat zwar grundlegende Veränderungen in der bolivianischen Gesellschaft herbeigeführt, jedoch die Voraussetzungen des Landes für die Überwindung von Unterentwicklung und Abhängigkeit nicht wesentlich verbessert. Mit dem Sturz des „Movimiento Nacional Revolucionario“ durch den Staatsstreich von General René Barrientos Ortuño 1964 setzte eine lang anhaltende, durch autoritäre und repressive Militärherrschaft gekennzeichnete politische Phase ein, deren Höhenpunkte die drei Amtszeiten von General René Barrientos, dem selbsternannten General Hugo Banzer Suárez und dem Diktator General Luis Garcia Meza waren und die mit wenigen Unterbrechungen von demokratischen Öffnungsversuchen bis Oktober 1982, andauerte. So ergaben sich weder während der Regierungszeit des „Movimiento Nacional Revolucionario“, noch in den nachfolgenden Diktaturen wesentliche strukturelle Verbesserungen des Sozialgefüges oder im Bereich der wirtschaftlichen Unabhängigkeit Boliviens. In der Diktaturzeit unter Banzer Suárez kamm es zu einer durchgreifenden organisatorischen Reform der Exekutive, die freilich vornehmlich darauf abzielte, die Macht effektiv zu verwalten und in wenigen Händen abzusichern. Die Unterscheidung zwischen formal und informal in Bezug auf die Institutionen in Bolivien zeigt kaum einen dogmatischen Gehalt und kaum eine rechtliche Erfassung dieser Phänomene als Kategorien. Die Dualität zwischen formal und informal drückt das Problem des Aufeinandertreffens unterschiedlicher Handlungslogiken in Bolivien aus. Die Art von Normativität der formalen Institutionen, die schwächer als eine Rechtsregel ist, findet man in Bolivien bei den sogenannten „sindicatos“. Wörtlich übersetzt bedeutet dies „Gewerkschaften“. Aber anders als im rechtswissenschaftlichen Sprachgebrauch verschmelzen hier die Elemente des üblichen Verständnisses für formale und informale Institutionen. Die „Gewerkschaft“ nach bolivianischen Verständnissen spiegelt die Komplexität zwischen formalen und informalen Strukturen wider. Sie verkörpert diese Verschmelzung von zwei unterschiedlichen Handlungslogiken: das Verständnis von Gewerkschaften mit der indigenen Kulturtradition. Diese unterschiedlichen Handlungslogiken sind zu berücksichten, wenn es darum geht, den Inhalt und die Form in Einklang zu bringen. Die Normsetzung der exekutiven Gewalt in Bolivien ist in dieser politischen Kultur verwurzelt.

172

5. Kap.: Schlussfolgerungen und zusammenfassende Thesen

Als Grundform der exekutiven Rechtssetzung wird hier das Spektrum bezeichnet, das den Grad der Bindung und Eigenständigkeit der Rechtsetzungsbefugnisse zur exekutiven Gewalt in Bezug auf das Gesetz bestimmt. Die theoretischen Modelle der deutschen und französischen Verfassungsstrukturen, hier als Grundformen der exekutiven Normsetzung bezeichnet, sind für die bolivianische Rechtsordnung und überhaupt für die lateinamerikanischen Verfassungen insgesamt insofern besonders wichtig, weil sie für zwei unterschiedliche rechtsdogmatische Lösungen stehen, die mit dem demokratisch-rechtstaatlichen Formenkreis vereinbar sind. Als Beispiel für eine gebundene Grundform der Normsetzung der exekutiven Gewalt steht die Bundesrepublik Deutschland. Die Bundesregierung erlässt ihre Verordnungen auf der Grundlage eines Gesetzes, hat aber keine selbständige Rechtssetzungsgewalt. In der französischen Verfassungsordnung manifestiert sich hingegen diejenige Grundform der exekutiven Normsetzung, die durch eigenständige Normsetzungsbefugnisse der Exekutive gekennzeichnet ist. Hier gibt es Regelungen für bestimmte Bereiche, die entweder per Verordnung oder per Gesetz erlassen werden können. Eine gebundene Grundform zeigt sich lediglich in einer gemäßigten Ausprägung in Peru, Venezuela, Brasilien und Argentinien. Dagegen folgen Bolivien und Chile der Grundform der Eigenständigkeit der Rechtsetzungsbefugnisse. Nichtdestoweniger sollten die Rechtskategorien Boliviens in der Verfassung oder die Rahmenbedingungen mindestens in einem Verfassungsgesetz festgelegt werden. Dieser Grundform der exekutiven Gewalt entsprechen die strengen verfassungsrechtlichen Grenzen für die Verordnungsgebung, da die Verordnungen in Deutschland durch Gesetz ergehen. Die Kriterien Inhalt, Zweck und Ausmaß stellen sichere und ausreichende Maßstäbe dar, um die Normsetzung der Exekutive zu umgrenzen. Das Bestimmtheitsgebot könnte sich in Bolivien auf die Festlegung des Zwecks als verfassungsrechtlich ausreichendes Kriterium beschränken. Löwenstein bezeichnete als „Intraorgan-Kontrolle“ die Kontrolle, welche innerhalb einer Staatsgewalt stattfindet, so z. B. im Fall der exekutiven Gewalt, deren Kontrolle durch den Ministerialrat oder den Kabinettschef erfolgt. Die Verordnungen, welche durch „Oberste Dekrete“ (Decretos Supremos) erlassen werden, sind Verordnungen welche von der gesamten Exekutive, Präsident und Minister unterschrieben werden müssen. Daher wird der normative Inhalt des „Obersten Dekretes“ an die Spitze der Normenhierarchie der Verordnungsgebung durch die Exekutive gesetzt. Die Verordnungen, die als „Präsidial-Dekrete“ (Decretos Presidenciales) erlassen werden, sind Verordnungen, welche durch die Spitze der Exekutive, d. h. durch den Präsidenten oder durch den Präsidenten zusammen mit zwei oder drei Ministern unterschrieben werden. Die Qualifikation als Rechtsnorm ist jedoch

I. Schlussfolgerungen

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umstritten, denn in der Regel verfügt das „Präsidial-Dekret“ über keine abstrakte und generelle Wirkung. Es handelt sich um einen Verwaltungsakt. Unter „Verwaltungsverordnungen“ (Reglamentos Administrativos) im weiteren Sinne versteht man Verordnungen, die von unterschiedlichen Verwaltungsbehörden, die hierarchisch unterhalb der Ministernebene stehen, erlassen werden. So gibt es Verwaltungsverordnungen, welche durch den Beschluss des Präfekten, des Ministers oder mehrerer Minister zustandekommen. Verwaltungsverordnungen im engeren Sinne richten sich grundsätzlich an die Verwaltungsbehörden und sind vor allem für den verwaltungsinternen Gebrauch bestimmt. Sie dienen oft als generelle Dienstanweisungen innerhalb der Verwaltungshierarchie ohne direkte Schaffung von Rechten und Pflichten beim Bürger. Nach der herrschenden Lehre sind sie keine Rechtssätze. Sie haben geringe normative Kraft. Verwaltungsverordnungen können aber auch Außenwirkungen haben, in dem sie die Rechtstellung des Bürgers indirekt betreffen. Dann werden sie wie Rechtsverordnungen behandelt. „Parlamentsverordnungen“ (resoluciones congresales) sind Verordnungen, die vom Parlament durch Beschluss ohne Mitwirkung des Volkes oder der Exekutive in eigener Kompetenz erlassen werden. Es gibt Kammerverordnungen oder Zweikammerverordnungen. Die Hauptfunktion der Gerichte ist die Rechtsprechung. Ausnahmsweise setzen auch die Gerichte Recht im Sinne von generell-abstrakten Normen, welche Gerichtsverordnungen genannt werden. Der Gesetzgeber ist der Ansicht, dass der Oberste Gerichtshof und das Verfassungsgericht im Justizverfahren besser geeignet sind, generell-abstrakte Normen für nahstehende Sachbereiche vorzuschlagen oder sogar zu erlassen. Rechtsverordnungen enthalten Rechtssätze, welche Rechte und Pflichten der Bürger begründen oder die Organisation und das Verfahren vor Behörden regeln. Sie sind allgemeinverbindlich. Wird in allgemeiner Weise von Obersten Dekreten gesprochen, so ist damit nicht immer eine Rechtsverordnung gemeint. Das gilt auch für Gesetze, denn es gibt Fälle, in denen Gesetze einzelne Akte regeln. Funktionell betrachtet ist es Aufgabe der Verordnung, das Gesetz nach dessen Inkrafttreten zu konkretisieren und damit dessen Vollzugsfähigkeit zu bewirken. Durch ihre Detailvorschriften erfüllt die Verordnung das Bedürfnis der Rechtsadressaten nach Rechtskonkretisierung. In Bolivien, wie auch in vielen anderen Staaten Südamerikas, besteht die Notwendigkeit, die Grunsätze guter Gesetzgebung zu implementieren. Die bestehenden Gesetzesreformtechniken dieser Länder, besonders in Bolivien, zeigen einerseits zahlreiche Defizite, wie die unzureichende Publizität von Gesetzestexten, einen sehr bürokratischen Rechtsetzungsprozess und eine fehlende dogmatische Einordnung der Normkategorien. Anderseits besteht in diesen Ländern die politi-

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5. Kap.: Schlussfolgerungen und zusammenfassende Thesen

sche Bereitschaft, eine strukturierte Rechtsreform durchzuführen. Ein herrvorragendes Beispiel für diese Bereitschaft ist das im „Decreto Supremo Nr. 25350“ Boliviens für verbindlich erklärte „Manual de Técnicas Normativas“, welches das erste rechtliche Instrument in der Form eines Leitfadens für die Gestaltung von Rechtsvorschriften in Lateinamerika darstellt.

II. Zusammenfassende Thesen These 1: Die heutige exekutive Normsetzung in Bolivien ist nur mit der Kenntnis des kulturhistorischen Hintergrundes zu verstehen. Sie erklärt sich nicht nur aus der Verfassungsgeschichte allein. Die Bildung von Staatlichkeit im kolonialen Hispanoamerika steht zwar im Zusammenhang mit der Expansion der spanischen Krone nach Amerika. Die Herrschaft des spanischen Überseeimperiums stellte sich aber nicht als Einheit und damit nicht als zentralisierte Macht dar. Der Prozess von Staatlichkeit und Expansion der spanischen Krone nach Amerika war vielmehr auf private Initiative angewiesen. Daraus folgt, dass die Ausprägung der Rechtsetzung verhandelbar war. Das von der Krone gesetzte Recht wurde entweder in einer jeweils lokal angepassten Form ausgeführt oder durch selbstständige Normsetzung der von der Krone wohl designierten lokalen Autoritäten. Sowohl der König als auch der Vizekönig setzten Recht in Übersee. In dieser Zeit begann die Vermischung, Verflechtung und Überschneidung der Kompetenzen und Funktionen verschiedener lokaler Machtstrukturen. These 2: Die nachvollziehbare Entwicklung der exekutiven Normsetzung in Bolivien geht auf den Zeitpunkt zurück, als die indianischen und spanischen Rechtstraditionen aufeinander trafen. Obgleich die spanische Rechtstradition vorherrschend war, duldete bzw. übernahm sie die indianischen Institutionen, die bereits vor der spanischen Landeroberung existierten. Bestimmte Teile dieser indigenen Staatsgebilde überdauerten die gesamte Kolonialzeit bis hin zur heutigen Zeit, je nach Grad und Stand der Organisation der indigenen Bevölkerung. Die Machtbeschränkung der Krone ist klar sichtbar im Nebeneinander eines indianischen und eines spanischen Gemeinwesens mit voneinander getrennten Verwaltungen auf lokaler Ebene, wobei ersteres unter der Aufsicht des letzteren stand. Die koloniale Verwaltung erwies sich als sehr undurchsichtig: Sie war nicht mit einem klar umrissenen Territorialprinzip für Amtsfunktionen verbunden, so dass die Jurisdiktionsbezirke der einzelnen Autoritäten sich ständig überschnitten.

II. Zusammenfassende Thesen

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These 3: Mit der Gründung Boliviens gibt es eine erste konstitutionelle und innovative Form der Exekutiven, jedoch mit autoritären Ausprägungen. Den Grundstein für die Republik Bolivien legte Mariscal José Antonio Sucre mit einem Dekret vom 9. Februar 1825; anfänglich gegen den Willen des bedeutenden Generals der lateinamerikanischen Unabhängigkeitsbewegung, Simón Bolívar. Dieser erfüllte jedoch 1826 den Auftrag der Verfassung zu entwerfen, und wurde selbst der erste Präsident des Landes. Der Kern der exekutiven Gewalt in der Verfassung von 1826 bestand aus einem Präsidenten auf Lebenszeit, einem Vizepräsidenten und drei Ministern. Die exekutive Gewalt sollte vom Vizepräsidenten und den Ministern durch Órdenes ausgeübt werden. Die Verfassungsgeschichte von der zweiten bolivianischen Verfassung bis zur Verfassung von 2009 schuf zwar die Institution des Präsidenten auf Lebenszeit ab, sah jedoch keine zusätzliche Kontrolle für die Órdenes der exekutiven Gewalt vor. These 4: Trotz gemeinsamer Verfassungstraditionen bei der Regelung der exekutiven Normsetzung und den überwiegend vorhandenen Präsidialsystemen in vielen Lateinamerikanischen Ländern unterscheidet sich die bolivianische Verfassung in grundlegenden Punkten. In den letzten Jahren wurden die Verfassungsreformen in vielen lateinamerikanischen Ländern durch Einberufung von verfassungsgebenden Versammlungen durchgeführt. Sie erzielten eine Reform der exekutiven Gewalt, die eher eine Machtausdehnung als eine Machtbeschränkung des Präsidentenamtes zu Folge hatte. In der Verfassungsgeschichte wurde angestrebt, der Rechtsetzung der exekutiven Gewalt Grenzen in der Verfassung zu setzen. Dabei wird der Legislative eine Delegation der Rechtsetzung an die Exekutive verboten. Dem Verbot wird durch „ratio materiae“, Fristen und Rechtskategorien in Lateinamerika ausgewichen. These 5: Die exekutive Rechtsetzung in Bolivien bedarf Grenzen, die in der Verfassung geregelt sind. Die normative Frage der Ausgestaltung und Grenzen der exekutiven Normsetzung in der Verfassung setzt voraus, dass das Rechtssystem der exekutiven Gewalt Rechtsetzungsbefugnisse einräumt. Die Verfassungsgeschichte Boliviens bis heute gibt keine klare Antwort auf die Frage, welche inhaltlichen Kategorien den jeweiligen Rechtssubjekten, Rechtsetzungsverfahren und Stufen der Verfassungsnormenhierarchie im Fall der exekutiven Rechtsetzung zuzuordnen sind. Ordnet man die exekutive Normsetzung Boliviens in der Grundform der selbständigen Rechtsetzung ein, erfolgt dies weder auf einer verfassungsrechtlichen noch auf einer gesetzlichen Grundlage. Die Grundlage ist der normative Inhalt

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5. Kap.: Schlussfolgerungen und zusammenfassende Thesen

der exekutiven Dekrete selbst. Der Präsident hat das Organisationsrecht der exekutiven Gewalt und die direkte Durchsetzung der Verfassung an sich gebunden. These 6: Das Problem der rechtlichen Begrenzung exekutiver Normsetzung wird in der Praxis in Bolivien als solches nicht erkannt. Die demokratische Entwicklung Boliviens wurde zunächst gekennzeichnet durch Koalitionsregierungen. Seit den Wahlen 2005 ist jedoch die hegemoniale Macht des Präsidenten mit absoluter Mehrheit in beiden Kammern des Kongresses erreicht. In dieser neuen politischen Situation wird deutlich, dass die verfassungsrechtlichen Grenzen ungenügend sind. Innerhalb der exekutiven Gewalt wurde festgestellt, dass die Normsetzungsverfahren für Rechtsvorschriften wenig Akzeptanz und Wirksamkeit aufwiesen. So bei der Frage der Zuständigkeit kommt es oft zu Konflikten zwischen den Ministerien. These 7: Verfassung und Rechtliche Normen waren und sind in der bolivianischen Gesellschaft nur ungenügend akzeptiert. Die große Ungleichheit der bolivianischen Gesellschaft zeigt sich markant zwischen Land und Stadt und in den kulturellen Merkmalen. Die indigene Bevölkerung wohnt hauptsächlich auf dem Land und stellt die Mehrheit der Gesellschaft dar. Sie zeigt eine bemerkenswerte hohe Beteiligung an den traditionellen Institutionen. Dies zeigt aber auch, dass je mehr das Vertrauen zu den lokalen indigenen Autoritäten und Traditionen wächst, desto größer wird das Misstrauen gegenüber den staatlichen Behörden. Durch die Vielfalt der Sprachen wird das Verständnis der Verfassung und der rechtlichen Normen schwer zugänglich für die Mehrheit der bolivianischen Bevölkerung. In Bolivien hat sich im Staat und der Gesellschaft das Bewusstsein durchgesetzt, dass die indigenen Völker das Recht haben, ihre eigene Lebensart in allen Bereichen zu entfalten. Das bedeutet de jure und de facto auch eine interne Justiz, Rechtsetzung und Verwaltung in ihren Gebieten und für ihre Mitglieder.

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Sachwortverzeichnis Abstammung 76 – indianische 65 – spanische 32 Agrarrevolution 27, 46, 65 siehe auch dazu unter Revolution Amtssprachen 99 Andenländer 69, 75, 77, 100, 123 Arbeiter 45, 48 – Arbeitnehmer 69 – Minenarbeiter 59, 65, 71 – Saisonarbeiter 95 Arbeiterpartei 128 Arbeitgeber 69 Arbeitsgesetzbuch 45 Audienz von Charcas 40 Aufsichtsorgane 57 Aufträge 55, 57 ff. – öffentliche 57 ff. Ausführungsgesetz 100, 158, 160 Ausführungsverordnungen 115 f. Auslandsschulden 59 Ausnahmezustand 28, 52, 60, 113, 125, 136, 156 f., 165 Autonomiestatuten 99, 102, 142 f. Autorität 34, 36, 41, 67, 72, 83, 156 f., 165 – Aymara 73 – indigene 67, 84, 28, 102 – individuelle 82 – natürliche 92 – Quechua 93 Autoritätsstrukturen 67 Ayllus 37, 67, 70, 90 f. siehe auch dazu unter indianische Gemeinden

Beamtenschaft 35 Befehlsgewalt 30 Befehlshierarchie 53 – Befehl (Órden) 43 Beschlüsse 25, 58, 96 – des Vizekönigs 34 – gerichtliche 102 – legislative 63 – Ministerial 160 – oberste 57 f., 64 Beständigkeit 84 Bürgerschaft 46 Cabildos 32, 46 siehe auch dazu unter Versammlung „Capitán Comunal“ 97 „Capitán Grande“ 96 Caudillos 16, 21, 44 – gebildete 22 – ungebildete 22 Charta 43 – Organcharta 142, 149, 151 Cocabauern 71 „Decreto-Ley“ 50 f. siehe auch dazu unter „Gesetzes-Dekret“ Dekret 126, 129, 135, 136, 140, 153 ff. – delegierte 126, 128, 132 – föderale 126 – Notdekrete 52, 129, 130 – Oberstes (Decreto Supremo) 18 ff. – präsidentielles 132 f. Dekrete mit Gesetzeskraft (Decretos de emergencia) 52, 137, 138 Dekretkompetenz 124 Dekretrecht 106, 125

Sachwortverzeichnis Delegation 62, 107, 111 ff., 123, 131 ff., 137, 139, 140 – Delegationsverbot 108, 112 – legislative 25 Demokratie 23, 28, 44, 47, 55 ff., 69, 80, 83, 86, 90, 148, 163 – Demokratieformel 42 – Parteiendemokratie 68 Departments 47, 62 siehe auch dazu unter Präfekturen Dezentralisierung 73 – Dezentralisierungspolitik 45 – kommunale 73, 77 Dringlichkeitsdekret 131, 133, 138, 141 Dualität 18, 30, 67 Eigentum 84, 110, 114 – kollektive 37 – Recht auf Eigentum 15 Eigentumstitel 48, 95 Eingeborene Gerichtsbarkeit 101 ff. siehe auch dazu unter indigene, bäuerliche Gerichtsbarkeit, justicia comunitaria Eingeborenenrecht 88 f. Einheit 22, 30, 41, 84 ff., 99 f., 123, 156 Einheit der Rechtsordnung 19 Einheitlichkeit 84, 161 Entwicklungsgrad 23, 79 Entwicklungshilfe 77 Entwicklungspolitik 79 Exekutive 17 ff., 22, 25 ff., 35, 43 ff., 50 ff., 106 ff., 114 ff., 139 125, 137, 139 f. – Exekutive Gewalt 50 ff., 105 ff., 126, 130 f. – Exekutive Normsetzung 65, 76, 106 f. siehe auch dazu unter Rechtsetzung der Exekutiven Feudalsystem 31 Formal 67 – formale Institutionen 30, 67 ff. – Formalisierung 26, 97

191

– Formalitäten 26, 103 – informale Institutionen 67 ff. – Rechtsformalitäten 32, 37, 39, 48, 57 Formelle Gesetze 111, 115 f., 149 Freiheiten 31, 34, 43 Frieden 33, 40 Funktion 18, 23 f., 26, 29, 39, 49, 59, 63, 67, 69, 78, 85, 107, 112, 114, 119, 124, – funktionelle Methode 20 Gemeinden 96, 82, 127 f. – indianische (Ayllu) 37 – indigene 96, 98 siehe auch dazu unter Munizipien (Municipios) 46, 47, 61 f. Gemeinschaften 95, 98 – comunidades 48 – indianische Dorfgemeinschaften 48, 91 – indigene 86, 88, 93 ff. Generalkapitän (Capitán General) 34, 50 Generalstreik 59 Gerechtigkeit 39, 86 – soziale 15 f. – Ungerechtigkeit 82 Gerichtsbarkeit 100, 109, 159 – indigene 18 – Sondergerichtsbarkeiten 62 – Verfassungsgerichtsbarkeit 112, 131 – Verwaltungsgerichtsbarkeit 18 – Wahlgerichtsbarkeit 150 Gesellschaft 74, 59, 119 – multikulturelle, pluralistische 24 – Zivilgesellschaft 15 Gesetz – der Gerichtlichen Abgrenzung 149 – Parlamentsgesetze 18, 111 – über die Erklärung der notwendigen Verfassungsreform 144 – Verwaltungsverfahrensgesetz 62 – Wahlgesetze 46 – zur Organisation der exekutiven Gewalt 44, 153

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Sachwortverzeichnis

– zur Verfassungsteilreform 144 Gesetzbücher 29, 49 f. „Gesetzes-Dekret“ 50 ff., 106 siehe auch dazu unter „Decreto-Ley“ Gesetzesdelegation 114, 116 Gesetzesentwürfe 53, 61 f. Gesetzesergänzende Rechtsverordnungen 115 Gesetzesinitiative 124, 158 Gesetzesverordnungen 152 siehe auch dazu unter Notverordnungen Gesetzesvertretende Rechtsverordnungen 111, 116 Gesetzesvorbehalt 18, 115 Gesetzgebung 57, 106 ff. – vereinfachte 112 Gesetzgebungsbefugnis 113 Gesetzgebungsnotstand 108, 113 Gesetzgebungstätigkeit 113 Gesetzgebungstechnik 26, 56 Gesetzgebungsverfahren 110 f., 123 „Gesetzliches Dekret“ (Decreto Legislativo) 48, 106, 141 Gewaltenteilung 18 f., 107, 113 f., 121 f., 166 – funktionelle 123 – personelle, subjektive 122 Gewaltenteilungsdogma 123 Gewaltenteilungslehre 123 Gewaltenteilungsprinzip 25, 63, 121, 122 Gewaltmonopol 31 Gewerkschaft 68, 93, 109 Gewohnheiten 37 Gewohnheitsrecht 75 Gouverneur 34 siehe auch dazu unter Präfekten Großgrundbesitz 48, 49 Grundkonzeption 18, 105, 107 Grundprinzipien 22 Grundrechte 59, 109, 112, 143 Grundstein 40, 59, 61 Guaraní 95

Hochland 65 – Tiefland 70, 76, 83 ff. Identität 15, 71, 79 f., 98, 166 – kulturelle 75, 79 Indianische Dorfgemeinschaften, Indianisches Recht 30 Indianische Gemeinden 37 Indienrat – oder „Consejo de Indias“ 30, 34, 38 „Indígenas“ 37, 65 „Indios“ 26, 38, 48, 65 Inflation 59 Informal 67 Instabilität 21, 41, 44, 85 Institutionen 25 f. , 33, 35, 37, 39, 44, 46, 54, 64, 67, 166 – formale 30 f. „instrucciones“ und „ordenanzas“ 31, 36 Integrationssymbol 33 Integrität 100 – territoriale 100 Intendencias 47 Internationale – Abkommen 37, 142, 149, 157 – Arbeitsorganisation (ILO) 75 siehe auch dazu unter Entwicklungshilfe, Entwicklungspolitik – Zusammenarbeit 63 Isolation 49, 66 Justicia Comunitaria 88 Kabinett 50, 57, 61, 153 Kaskadenprinzip 58 „Katarismus“ 71 Klassifizierung 21, 22, 29, 78, 166 ff. Kodifizierung 56 Kolonialisierung 87 Kolonialzeit 22, 24, 26, 27, 29 ff., 44, 46 ff., 79 Kompetenzdelegation 114 Konflikt 15, 40, 47, 84, 166

Sachwortverzeichnis Konfliktparteien 85 Konsolidierungsprozess (Digesto) 21, 23, 160 f. Konstitutionalismus 21 f., 39, 42, 78 „Korregidor“ 93 Kreditbanken 61 Kredite 58 Kulturtradition 69 Lebenszeit 34, 41 ff. – auf 41 ff. Legalität 37, 47 ff., 60, 82 Legislative Rechtsetzung 62 Legitimation 17, 23 f., 27, 29, 30 ff., 37, 44, 48, 50, 74, 90 Legitimationskrise 32 Legitimationsprozess 24 Legitimationsverständnis 24 Legitimität 17, 24, 27, 36, 48, 86 Machtausübung 30, 35 Machterhalt 33, 44 Machtstruktur 30 f., 33, 39 Materielle Gesetze 53, 151 Menschenrechte 59, 142 f. – individuelle 79 Militärsozialismus 45 Munizipien 26 Nation 15, 42, 55 Nationalwahlen 72 Normenhierarchie 19, 57, 142, 143, 149, 162 Normkategorie 51 f., 105, 141 Normsetzung der Exekutive 22 f., 57, 62, 105, 106, 107, 112, 122, 131, 143, 152 Normsetzungsbefugnis 17, 23, 52, 60, 62, 109, 140 Normsetzungskompetenz 135, 139 Normsetzungsprozess 60 Notdekrete 140

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Notverordnungen 52, 106, 139, 152 Notverordnungsrecht 131 Oberstes Dekret (Decreto Supremo) 112, 140, 153 Oberverwaltungsgericht 112 Öffentliche Ausschreibungen 56 ff. Ordnungen 58 Organgesetz 150 Organstreitigkeiten 102 Partizipation 69 Pazifizierung 38 Personalverwaltung 35, 57 Planungsbehörden 49 Polizeinotverordnungen 115 Präfekten 18, 45, 47, 55 siehe dazu auch unter Gouverneur Präfekturen 26, 47, 61 siehe dazu auch unter Departements Präsident der Audienzen 34 Präsidentenamtszeit 22 Präsidentschaft 41 f, 44, 50, 144, 155, Präsidialsystem 106, 107, 115, 116, 117, 118, 119, 120, 123, 128 Präsidialsysteme 117, 120, 126 Prinzipien 18, 38, 40, 44, 50, 57, 143, 145, 40 Provinzen 34, 39, 153 siehe auch dazu unter Departements Quechuas 93 siehe auch dazu unter indigene Völker Quellen – Rechtsquellen 17 f., 52, 142 f., 152, 160 – Rechtsquellensystem 142 f., 160 Rangfrage 18 Rechnungshof 45, 58, 64, 156 f. Recht auf Leben 101 Rechtsabteilung 63

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Sachwortverzeichnis

Rechtsakte 26, 164 – notarielle 26 Rechtsbereinigung 160, 166 Rechtsbewusstsein 27, 47, 60, 79 Rechtsdogmatik 105 f., 142 Rechtsetzung 20, 56, 58, 62, 83, 107, 113, 130, 153 – Bessere 3 – der Exekutiven 76, 80 siehe auch dazu unter Exekutive Normsetzung Rechtsetzungsbefugnis 18, 23, 25, 50, 52, 107 f., 116, 125 Rechtsetzungsgewalt 108 Rechtssetzungsorgane 105 f. Rechtsfamilie 78 Rechtsgeschichte 21, 28, 30, 163 Rechtskategorie 28 Rechtskultur 27, 29, 35, 38, 48, 70,79 Rechtslehre 52, 78, 105, 106 – siehe Staatsrechtslehre 20 Rechtspluralismus 75 Rechtsreformen 61 Rechtssicherheit 15, 19, 26, 56, 58, 159, 161 Rechtssoziologie 79, 81 Rechtsstaat 19, 26 f., 144, 161 Rechtsstaatsprinzip 90 Rechtssystem 76, 105, 142 – bolivianisches 22, 163, 167 – lateinamerikanisches 78, 119 Rechtsstaatlichkeit 69 Rechtstheorie 79 Rechtsverordnung 105, 108, 110, 111, 113 Rechtsverordnungen 108, 110, 111, 112, 115, 119, 167 f. Referendum 45, 98, 144, 147 ff., 151 Regierungschef 61 Regierungsperiode 21 ff., 49, 59, 61 Regierungsstruktur 33, 61 Regulierungsbehörde 17, 57

Republik 17, 22 f., 27, 39 f., 42, 44 ff., 62 – unitarische 144 f. Reserverichter 103 Revolution 97 – legale 97 siehe dazu unter Agrarrevolution Rohstoffe 15, 45 Saisonarbeiter 95 Selbstbestimmungsrecht 75 – interne 100, 102 Selbstbindung der Verwaltung 58 Selbstverwaltung 31, 45, 109 – kommunale 31, 83 Sezession 100 Souveranität 28, 32, 44, 99, 147 Staatliche Unternehmen 61 Staatlichkeit 29 f., 35, 69 Staatsbildung 17, 30 f., 33, 80 Staatsorganisation 17, 26 Staatsorganisationsrecht 69 Staatsrechtslehre 20, 108 Staatsziele 24 Staatszwecke 24 Stempelpapiersteuer (papel sellado) 35 Steuersystem 39 Struktur der Exekutiven 45, 85 – der Verwaltung 63 Stufenbau 106 Systematik 17, 57, 162 Systematisierung 20 f. Systemzugehörigkeit 78 Universitäten 55, 167 – lateinamerikanische 79 Verfassungsänderungen 144, 146 Verfassungsgericht 143, 145 Verfassungsgeschichte 22 f., 25, 41, 44 Verfassungsmodifikationen 148 „Verfassungsrechtlicher Block“ 143 Verfassungsrechtslehre 16, 97

Sachwortverzeichnis Verfassungsreform 60, 141, 144, 146 Verfassungsschöpfer 41 ff. Verfassungstradition 21 f. Verfassungswandel 146 Verordnung 18, 23 f., 62 f., 96, 105 ff., 111 f., 153 Verordnung mit Gesetzeskraft 152 Verordnungsarten 115 Verordnungsbefugnis 136 Verordnungsbegriffe 106 Verordnungscharakter 110 Verordnungsdekret 45 Verordnungserlass 115 Verordnungsermächtigung 107, 108, 109 Verordnungsgeber 108, 116 Verordnungsgebung 109, 112, 123 Verordnungsgewalt 107, 110 Verordnungskompetenz 108, 114, 123 Verordnungskompetenzen 125, 132 Verordnungsrecht 108, 113, 114, 115, 126, 134, 152 Verordnungsvorbehalt 133 Verordnungswege 110, 113 Versammlung 40, 46, 96 f., 156 ff. – konstituierende 39 f. – verfassungsgebende 74, 144, 146 ff. siehe auch dazu unter Cabildo Verstaatlichung 45, 48 f. Verwaltung 92, 98, 105, 133 f. – öffentliche 17, 105, 156, 160, 162

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Verwaltungsaufgaben 132 Verwaltungsbeschluss 63 Verwaltungsgerichtsbarkeit 18 Verwaltungskultur 26, 37, 70 Verwaltungspersonal 32, 63 Verwaltungsstab 50 Verwaltungsstruktur 25, 27, 32, 35, 47, 54 Verwaltungssystem 21, 26, 32, 35, 38, 47, 54 Verwaltungsverfahrensgesetz 62 Verwaltungsvorschrift 63 Vielfalt 84, 91 Völker (indigene, indianische, eingeborene, bäuerliche) 15, 28, 38, 65, 69, 72, 74 ff., 81, 86, 91, 95, 145 – Aymara 65 – Ayoreo 65 – Chiquitano 65 – Guaraní 65 – Quechua 65, 93 f. Völkerrechtliches Prinzip – Selbstbestimmungsrecht 75 – „uti possidetis“ 40 Wahlen 55, 59, 148, 155 Wandel 84 Weltbild 91 Zentralregierung 55, 71, 160 Zuständigkeiten des Präsidenten 154, 156